Geschichte als Anthropologie 9783412508227, 9783412505219

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Geschichte als Anthropologie
 9783412508227, 9783412505219

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Wolfgang Reinhard

GESCHICHTE ALS ANTHROPOLOGIE Herausgegeben von Peter Burschel unter Mitarbeit von Marie von Lüneburg

2017

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: René Magritte: »The Two Mysteries«, 1966, Oil on canvas, 65 × 80 cm. Lage: Privatsammlung. © akg-images/Album/Oronoz. © VG-Bildkust, Bonn 2017.

© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Rebecca Wache, Castrop-Rauxel Satz: Michael Rauscher, Wien Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Druck und Bindung  : Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50521-9

Inhalt

  7 Am Anfang war Ruth Benedict – Vorwort   11 Fundamentalistische Revolution und kollektive Identität   45 Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens   79 Historische Anthropologie politischer Architektur 105 Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife



Plädoyer für eine materialistische Anthropologie

123 Symbol und Performanz zwischen kurialer Mikropolitik und kosmischer

Ordnung 141 Geheimnis und Fiktion als politische Realität 169 Die Anthropologische Wende der Geschichtswissenschaft 193 Die hermeneutische Lebensform des Abendlandes 255 Kulturelle Gemeinsamkeiten Europas 273 Die Nase der Kleopatra



Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung. Ein Versuch

309 »Kein hochgemuter Mensch auf dem Erdenrund kennt nicht von klein



auf Gier« Zur anthropologischen Kritik der ökonomischen Vernunft

333 Von Affen und Menschen



Anthropologie zwischen Biologie und Geschichte

355 Kritik der hermeneutischen Vernunft



Ein Erfahrungsbericht

369 Vom Sinn des Unsinns



Ein Versuch

387 Bibliographie Wolfgang Reinhard (Stand 2016) 430 Betreute Arbeiten 439 Publikationsnachweis

Am Anfang war Ruth Benedict Vorwort

Am Anfang war Ruth Benedict. Als der Verlag C. H. Beck seine Autorinnen und Autoren nach dem Buch fragte, das ihr Leben in besonderer Weise ver­ ändert habe, antwortete Wolfgang Reinhard  : »Patterns of Culture« von Ruth Benedict.1 Es sei dieses Buch gewesen, das ihm in den späten sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Weg gewiesen habe, den »Weg zum eth­ nologischen Blick auf die Geschichte«. Das Buch der amerikanischen Kultur­ an­thropologin habe ihm geholfen, ein Phänomen zu verstehen, auf das er während seiner Forschungen zur Kirchengeschichte des 16. Jahrhunderts im päpstlichen Comtat Venaissin gestoßen sei. Wie war es möglich, dass untade­ lige, ja, im Ruf der Heiligkeit stehende Kirchenmänner allem Anschein nach kein Problem damit hatten, Verwandte wie Freunde in einer Weise zu prote­ gieren, die man heute als durch und durch korrupt bezeichnen würde  ? Indem Ruth Benedict Ethnologie als »Wissenschaft von Sitten« entwarf, von Sitten, die kulturell erheblich variieren – und zwar synchron wie diachron –, ohne deshalb allgemeinverbindlich taxiert werden zu können, habe sie ihm die Au­ gen geöffnet  : »… wenn ich meine Italo-Provençalen des 16. Jahrhunderts ein­ fach als einen fremden Stamm betrachtete, der andersartigen, für uns unver­ ständlichen oder sogar verwerflichen Sitten huldigte, dann war mein Problem gelöst bzw. es hatte sich als Scheinproblem, nämlich als bloßes Produkt unserer eigenen kulturellen Borniertheit erwiesen und verflüchtigt. Ein Heiliger des 16. Jahrhunderts konnte Nepotismus und Patronage pflegen, er mußte das so­ gar tun, weil er weiterreichende Pflichten gegen Verwandte und Freunde hatte als wir heutigen, aber er durfte dabei nicht exzessiv auf Kosten Dritter handeln. Tatsächlich fanden sich Texte in der Moralphilosophie des Thomas von Aquin, die genau dieses Verhalten vorschrieben.«2

1 Erstmals 1934 erschienen, lag das Buch seit 1949 auch in deutscher Übersetzung vor. Es darf als eines der meistverkauften und einflussreichsten ethnologischen Bücher des 20. Jahrhun­ derts gelten. 2 Wolfgang Reinhard, Der Weg zum ethnologischen Blick auf die Geschichte, in  : Ein Buch, das mein Leben verändert hat, hrsg. von Detlef Felken, München 2007, S. 325–328, hier S. 326.

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Es war nicht das erste Mal, dass Wolfgang Reinhard auf diese Lektüreerfah­ rung hinwies. Bereits im Vorwort zu den »Ausgewählten Abhandlungen«, die 1997 anlässlich seines 60. Geburtstags erschienen, hatte er von der »kulturan­ thropologischen Inspiration« gesprochen, die er Ruth Benedicts Buch verdan­ ke.3 Und in einem autobiographischen Essay von 2003 heißt es lapidar  : »Die Lektüre von Benedict lehrte mich den ethnologischen Blick auf die europäi­ sche Kultur der frühen Neuzeit – seit damals verstehe ich mich als historischer Anthropologe.«4 In den »Lebensformen Europas« von 2004 war dann sogar von einem »anthropologischen Erweckungserlebnis« die Rede.5 Aber auch spä­ ter noch fand die Ethnologin bei Reinhard retrospektive Erwähnung, zuletzt 2016 in einem autobiographischen Beitrag im »Jahrbuch des italienisch-deut­ schen historischen Instituts in Trient«.6 Wie auch immer man mit solchen autobiographischen Erweckungsnarra­ tiven umgeht, fest steht, dass Wolfgang Reinhard die »Kategorie Sitte« seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den Mittelpunkt seiner Forschungen gestellt hat, wobei er Sitte, auch darin Benedict folgend, als kul­ turell geregeltes menschliches Verhalten versteht. Kulturen wiederum können auf diese Weise als mehr oder weniger kohärente Organisationsformen dieses Verhaltens betrachtet werden.7 Die Einsicht, dass es kulturelle Muster gibt, die das menschliche Verhalten bestimmen, »und zwar umso wirkungsvoller, je we­ niger sie bewußt sind und reflektiert werden«,8 gerät damit zum Fluchtpunkt 3 Wolfgang Reinhard, Macht und Menschlichkeit. Autobiobibliographisches Vorwort, in  : ders., Ausgewählte Abhandlungen (Historische Forschungen 60), Berlin 1997, S. 7–10, hier S. 8. 4 Wolfgang Reinhard, Querkopf. Ein Historiker im Übergang zur Kulturanthropologie, in  : Freiburger Universitätsblätter 161 (2003), S. 45–61, hier S. 52. 5 Wolfgang Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 14 f. – Justin Stagl griff diese Bezeichnung in seiner Laudatio zum 70. Geburtstag Reinhards wieder auf. Reinhard und Stagl hatten zehn Jahre lang den Vorsitz des Freiburger Instituts für Historische Anthropologie inne  : Justin Stagl, Wolfgang Reinhard. Historischer Anthropologe, in  : Die Anthropologie von Macht und Glauben. Das Werk Wolfgang Rein­ hards in der Diskussion, hrsg. von Hans Joas, Göttingen 2008, S. 19–30, hier S. 22. 6 Wolfgang Reinhard, Kontingente Kirchenhistorie. Autobiographische Rekonstruktion als historische Dekonstruktion, in  : Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient 42 (2016), S. 111–123, hier S. 113. 7 Reinhard zitiert Ruth Benedict mit dieser Definition in seiner Antwort auf die Frage des Ver­ lags C. H.Beck  : Reinhard, Der Weg zum ethnologischen Blick auf die Geschichte (wie Anm. 2), S. 326. Vgl. auch Ruth Benedict, Patterns of Culture, Boston und New York 2005, S. 56  : »cultures … as coherent organizations of behaviour«. 8 Wolfgang Reinhard, Antrittsrede, in  : Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaf­ ten für 1998, Heidelberg 1999, S. 131–135, hier S. 133.

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des historischen Denkens und Arbeitens von Wolfgang Reinhard. Geschichte wird zur Anthropologie – und als historische Anthropologie nach und nach umfassend ausdifferenziert  : so zum Beispiel als politische bzw. mikropolitische historische Anthropologie in der »Geschichte der Staatsgewalt« von 19999 oder in »Paul V. Borghese« von 2009  ;10 aber auch als historische Kulturanthropo­ logie11 oder als historische Wirtschaftsanthropologie  ;12 als historische Anthro­ pologie interkultureller Begegnungen ebenso13 wie als historische Anthropolo­ gie heiliger Texte.14 Am Anfang war Ruth Benedict – gewiss. Aber ist damit das Werk Wolfgang Reinhards historisch-anthropologisch bereits adäquat auf den Punkt gebracht  ? Wenn diese Frage hier gestellt wird, dann geht es weniger um das Plädoyer Reinhards für eine »materialistische historische Anthropologie« in bewuss­ ter – wenn auch keineswegs ausschließender – Distanz zu den deutungsmäch­ tigen hermeneutischen Varianten von historischer Anthropologie.15 Varianten, die bekanntlich zumeist auf den Ethnologen Clifford Geertz zurückgehen.16 Und auch nicht um eine Verhältnisbestimmung von Anthropologie, Biologie und Geschichte, die Reinhard bis heute umtreibt.17 Die Frage zielt vielmehr auf ein Problem, das er in seinem autobiographischen Lektüre­geständnis so formu­liert hat  : »Heutzutage wird auch Kultur als Prozeß definiert, als ein im ständigen Wandel begriffenes, relativ offenes Ensemble verschiedenartiger Elemente, die sich durchaus auch widersprechen können, nicht zuletzt, weil   9 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. 10 Wolfgang Reinhard, Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropolitische Papstgeschichte (Päpste und Papsttum 37), Stuttgart 2009. 11 Wie in den »Lebensformen Europas« (wie Anm. 5). 12 Ein Beispiel  : Menschen und Märkte. Studien zur historischen Wirtschaftsanthropologie, hrsg. von Wolfgang Reinhard und Justin Stagl (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V. 9), Wien, Köln und Weimar 2006. 13 Was durchaus auch die vierbändige »Geschichte der europäischen Expansion« erkennen lässt, deren historisch-anthropologische Grundierung bislang kaum beachtet wurde  : Stuttgart 1983, 1985, 1988 und 1990. 14 Vgl. vor allem  : Sakrale Texte. Hermeneutik und Lebenspraxis in den Schriftkulturen, hrsg. von Wolfgang Reinhard, München 2009. 15 Wie auch pointiert im vierten und im siebten Beitrag dieses Bandes. 16 Reinhard, Lebensformen Europas (wie Anm. 5), S. 14–20. In anderer Perspektivierung  : Peter Burschel, Wie Menschen möglich sind. 20 Jahrgänge »Historische Anthropologie«, in  : Histo­ rische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 20 (2012), S. 152–161. 17 So auch im 12. Beitrag dieses Bandes. Vgl. zudem Reinhard, Lebensformen Europas (wie Anm. 5), S. 34–39.

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sie von nicht-intendierten Nebenwirkungen menschlichen Handelns geprägt sind.«18 Was Reinhard hier ausspricht, nimmt seiner Bestimmung von Kultur als Ver­ haltens-Ordnung nichts an Bedeutung, weist aber – so die These des Heraus­ gebers – auf eine spezifische (um nicht zu sagen  : eigen-sinnige) Qualität seines Werks, die noch zu entdecken ist  : auf die Einsicht in die produktive Kraft von Verhalten, das sich den etablierten »patterns of culture« entzieht – und sei es auch noch so unbeabsichtigt.19 Denn nicht nur, dass Reinhard zeigt, wie die­ ses Verhalten immer wieder Verhaltensmuster schafft, die durchaus »effektiver« und »stabiler« sein können als die alten, und damit »Kultur« verändert, mögli­ cherweise sogar bis zu deren Zerstörung. Sein Werk führt auch vor Augen, wie diese Muster ihrerseits kulturelle Grenzverletzungen überhaupt erst möglich machen – und sei es im Spiel – und wie in der Wechselwirkung zwischen Verhaltenskontrolle oder doch Verhaltensregulierung und der Grenzverletzung, dem Zwischenruf, dem Ausbruch, dem Chaos, der Handlung, deren Folgen nicht beabsichtigt waren, Geschichte entsteht  : Geschichte als Anthropologie. Und das heißt auch  : Geschichte im Guten wie im Bösen. Der vorliegende Band versammelt 14 Texte von Wolfgang Reinhard zur his­ torischen Anthropologie, die chronologisch angeordnet sind. Der älteste von ihnen erschien erstmals 1995, der jüngste 2014. Drei Texte sind bislang un­ veröffentlicht. Sie beschließen den Textteil. Das Schriftenverzeichnis kann als historisch-anthropologische Biobibliographie gelesen werden. Die Auswahl der Texte hat Wolfgang Reinhard in Zusammenarbeit mit dem Herausgeber vorge­ nommen. Die Texte erscheinen anlässlich seines 80. Geburtstags am 10. April 2017. Ohne die Hilfe von Julia Beenken, Jörg Busse-Hagen, Nejla Demirkaya, Mi­ chael Leemann, Marie von Lüneburg, Elena Mohr, Dorothee Rheker-Wunsch und Timo Steyer hätte der vorliegende Band nicht entstehen können. Ihnen allen möchte ich herzlich danken. Peter Burschel Wolfenbüttel, im Januar 2017 18 Reinhard, Der Weg zum ethnologischen Blick auf die Geschichte (wie Anm. 2), S. 328. 19 Das Thema der unbeabsichtigten »Nebenwirkungen« von Handlungen darf als eines der Leit­ motive im Werk Wolfgang Reinhards gelten.

Fundamentalistische Revolution und kollektive Identität

Seit einiger Zeit zeigen Gesellschaften, Staaten, Kirchen und andere Großgrup­ pen weltweit deutliche Auflösungserscheinungen, denn ihre Mitglieder neigen dazu, sich nicht mehr mit ihnen, sondern mit kleineren Einheiten, Gruppen und Bewegungen zu identifizieren, sich nicht mehr als Algerier, sondern als Moslem, nicht mehr als US-Amerikaner, sondern als Afroamerikaner, nicht mehr als Franzose, sondern als Elsässer, nicht mehr als Mensch, sondern als Frau zu definieren. Dieser offensichtliche Fundamentalprozeß unserer Zeit soll hier generalisierend als Die fundamentalistische Revolution der Geschichte bezeichnet werden. Natürlich ist der Sammelbegriff Fundamentalismus überhaupt und erst recht diese bisher unerhörte Ausweitung seiner Verwendung höchst anfechtbar und geeignet, den Abscheu jedes wissenschaftlichen Puristen zu erregen. Nichts­ destoweniger erweist er sich für die Zwecke eines Vergleichs in diagnostischer Absicht als gut geeignet, handelt es sich doch trotz aller wichtigen Unterschiede im einzelnen überall um Bewegungen, die Selbstverständlichkeiten einer kul­ turellen Praxis wie den modernen Nationalstaat oder die Rollenverteilung zwi­ schen den Geschlechtern oder den Gebrauch des Autos radikal in Frage stellen und die kulturelle Identität entschlossen auf ein neues oder altes, in jedem Fall aber radikal anderes Fundament stellen wollen. Da es sich durchweg um mehr oder weniger militante Bewegungen handelt, deren Ziel eine Veränderung der politischen Machtverhältnisse bedeutet, ist auch die Verwendung des Begriffs Revolution angebracht  ; schließlich hat es in manchen Fällen wie im Iran be­ reits eine revolutionäre Machtergreifung solcher Bewegungen gegeben und die Durchsetzung ihrer Ziele in anderen Fällen würde ebenfalls zu revolutionären Veränderungen von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft führen. Es handelt sich um separatistische oder besser partikularistische Bewegungen, die Identität auf Differenz gründen. Da Fundamentalismus ursprünglich ein Phänomen der bunten Szene des nordamerikanischen Protestantismus bezeich­ net, könnte man die Behauptung wagen, die fundamentalistische Revolution mache alle Menschen zu Sektierern, denn die Sekte im Sinne der Religionsso­ ziologie werde von der Ausnahme zum Regelphänomen der Gesellschaft.1 Fak­ tischer Separatismus braucht dabei allgemeinen Machtwillen nicht auszuschlie­ 1 Vgl. Bryan R. Wilson  : The Social Dimensions of Sectarianism. Sects and New Religious Move­ments in Contemporary Society. Oxford 1990.

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ßen, ist es doch durchaus üblich, daß Radikale zunächst nach der ganzen Macht streben und sich nach dem Scheitern des ersten Anlaufs in einen Separatismus zurückziehen, der aber im Hinblick auf einen chiliastischen »Endsieg« stets als vorläufig verstanden wird.2 Doch wenn sie Identität radikal auf Differenz gründen, brechen sie mit dem auf Einheitlichkeit gerichteten Universalismus der Neuzeit, der eben erst mit der Herstellung einer weitgehend einheitlichen Weltkultur, einer weltweiten Gemeinschaft aller Menschen sein Telos erreicht zu haben schien. Die Vielzahl der real existierenden Staaten brauchte dem nicht zu widersprechen, solange sie fast durchweg in Struktur und Ideologie dem uni­ versalen Modell des modernen Nationalstaates europäischer Herkunft zu folgen schienen. Heute aber gilt dieser Universalismus als Gegenstück des Kolonialis­ mus, als ein Produkt des Abendlandes, das mit seinen Spielarten Christentum, Wissenschaft, moderner Staat zur Expansion einer Kultur auf Kosten anderer ge­ führt hat.3 Postmoderne Philosophie hat den Pluralismus umgehend als wesent­ lich für das neue Zeitalter nach dem Ende der Moderne erkannt und legitimiert.4 Allerdings gehen Pluralität und Differenz nicht so problemlos zusammen, wie es dort den Anschein hatte, denn das Bekenntnis zur radikalen Alterität geht dabei in ethnozentrische Xenophobie über, für die Kommunikationsabbruch, Assimi­ lationsverbot, Ausgrenzung, Unterdrückung, Verfolgung des Anderen selbstver­ ständliche Postulate werden.5 Der zugrunde liegende Mechanismus ist bereits aus der Geschichte westlicher Gesellschaften bekannt, wo Minderheitenrechte, einmal erkämpft, dazu neigen, zäh verteidigte Gruppenprivilegien auf Kosten anderer zu werden. Ganz allgemein ist eben Identität kaum je inhaltlich zu defi­ nieren, sondern nur in einem Feld von Bezügen und Gegensätzen.6 Identität lebt von Alterität, und zwar in der Theorie wie in der Praxis  ! Der Wille zur Macht will Macht über die Sprache, denn Macht über die Sprache könnte Macht über die Dinge bedeuten. »Wenn ich ein Wort verwende«, sagte Humpty Dumpty ziemlich streng, »dann be­ deutet es genau das, was ich möchte, daß es bedeutet – weder mehr noch weniger.« 2 Dieser Sachverhalt läßt sich z. B. glänzend an der gründlich erforschten radikalen Reforma­ tion, der Täuferbewegung des 16. Jhdts. studieren. 3 Vgl. Aleida Assmann  : Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in  : Le­ viathan 21 (1993), S. 238–253, hier S. 249. 4 Vgl. ebd., S. 250 und Wolfgang Welsch  : Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 21988. 5 Assmann S. 250. 6 Elizabeth Tonkin/Maryon McDonald/Malcolm Chapman (Hg.)  : History and Ethnicity. Lon­ don 1989, S. 16 f.

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»Die Frage ist«, sagt Alice, »ob du Wörter so viele verschiedene Dinge bedeuten lassen kannst.« »Die Frage ist«, sagte Humpty Dumpty, »was Muster sein soll – das ist alles.«7

Die Folge ist unter anderem die bisweilen groteske Entwicklung der Sprache der Political Correctness an den Hochschulen der USA und der entsprechende penetrante Euphemismus der politischen Sprache Deutschlands.8 Die Waffe aber ist die Geschichte.9 Zur neuen kollektiven Identität gehört ein passendes Bild der eigenen Geschichte, die unter Umständen sogar ganz neu geschaffen werden muß. Aber die Nationalstaaten haben die planmäßige Fabrikation von Geschichtsbildern bereits bis ins einzelne vorgemacht.10 Theo­ retisch möchte die moderne Geschichtswissenschaft zwar nicht dem Selbstbe­ wußtsein von Gruppen dienen, sondern dem Verstehen der Welt durch ihre Vergangenheit, leidenschaftsloser Urteilsbildung, der Weckung des Respekts für das Fremde und der allgemeinen Verbreitung der Ideen von Toleranz, De­ mokratie und Menschenrechten, die die Bedingung der Möglichkeit freier For­ schung darstellen, kurzum nicht der Absicherung von Identität, sondern dem Begreifen von Komplexität.11 Freilich kann dieses moderne Ideal westlicher Wissenschaft seine, wenn auch distanzierte Bindung an das kollektive Gedächtnis unserer westlichen Kultur auch dort nicht verleugnen, wo die Fähigkeit zu kritischer Distanzierung als universales intellektuelles Qualitätsmerkmal postuliert wird. Aber im Einzelfall räumt auch westliche Wissenschaft nicht   7 Lewis Carrol  : Through the Looking Glass (1872). Harmondsworth 1962, S. 274 [übersetzt vom Verfasser].   8 Vgl. Arthur M. Schlesinger Jr.: The Disuniting of America. Reflections on a Multicultural Society. Knoxville 1991  ; Christine Brinck  : Multi-kultureller Joghurt. In amerikanischen Uni­ versitäten greift ein neuer Sprach-Terror um sich, in  : Süddeutsche Zeitung 2./3.11.91, S. II  ; Dieter E. Zimmer  : PC oder  : Da hört die Gemütlichkeit auf, in  : Die Zeit 22.10.93, S. 59 f.   9 Schlesinger S. 45–72. 10 Man vgl. z. B. das im einzelnen durchaus anfechtbare Buch von Marc Ferro  : Geschichtsbilder. Wie die Vergangenheit vermittelt wird. Stuttgart 1989, oder Guy P. Marchal/Aram Mattioli (Hg.)  : Erfundene Schweiz/La Suisse imaginée. Zürich 1992  ; Nicolas Shumway  : The Inven­ tion of Argentina. Berkeley 1991, zur Herstellung nationaler Identität allgemein Bernhard Giesen (Hg.)  : Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Frankfurt 1991  ; Manfred Hanisch  : Für Fürst und Vaterland. Legitimationsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991. 11 Schlesinger S. 72, 99.

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immer der theoretischen Neugier den Vorrang vor der Aufgabe der Identitätssicherung ein, sondern stellt sich oft genug in den Dienst des kollektiven Ge­ dächtnisses der eigenen Kultur oder Gruppe. Die Produktion des kollektiven Gedächtnisses aber kann sich auf einem breiten Spektrum von Möglichkeiten zwischen legitimem Perspektivewechsel und massiver Geschichtsfälschung be­ wegen. Unter selektiver Nutzung der Vergangenheit werden die eigenen Ziele legitimiert und emotionalisiert, wobei die Aktualisierung der Historie nie zur Ruhe kommt. Kompromißlose, geradezu sektiererische Verengung auf das ei­ gene Erbe kann so weit getrieben werden, daß korrigierende Realität ausge­ blendet und nicht mehr wahrgenommen wird, so daß schließlich die eigene Gruppe mit dem Wahren, Ganzen, ja Wirklichen schlechthin identifiziert wer­ den kann.12 Ausgangspunkt unserer Untersuchungen waren die Anstrengungen der ehe­ mals Kolonisierten, in und nach der Dekolonisation ihre eigene Identität in Auseinandersetzung mit einer von den Kolonialherren oktroyierten Identität wiederzugewinnen. Überall treten Bewegungen auf, die der Übermacht der fremden Kultur die Authentizität der eigenen Kultur entgegenstellen wollen, um dadurch die verloren geglaubte eigene Identität wiederzugewinnen. Kultur wird dabei vielfach religiös definiert  ; dann handelt es sich um die sogenann­ ten Fundamentalismen im engeren Sinn. Vor allem in Afrika gibt es aber auch nicht-religiöse kulturelle Authentizitätsbewegungen, für die dann die Entdec­ kung der eigenen Geschichte eine um so größere Rolle spielt. Wo die eigene Geschichte nicht die einer großen Religionsgemeinschaft ist, tritt die eigene Ethnie in den Vordergrund, wobei die kontinuierliche Besetzung desselben Siedlungsraums einen wichtigen Anhaltspunkt darstellt. Es bedarf gar nicht der Rede vom inneren Kolonialismus, etwa auf den Britischen Inseln,13 um die offensichtlichen Parallelen zu den ethnischen Bewegungen und dem Ethnoregionalismus innerhalb der westlichen Welt einsichtig zu machen. Und es bedarf auch nicht der polemischen Rede von der »Kolonisierung der Frauen durch die Männer«, um weitere offensichtliche Parallelen auch bei einer neuen sozialen Bewegung wie dem Feminismus auszumachen, die in ih­ ren radikaleren Varianten ähnliche Wege geht wie kulturelle und ethnische Authentizitätsbewegungen. Sprachreinigung ist üblich, die Revision des Ge­ 12 Vgl. Martin Greschat  : Die Bedeutung der Sozialgeschichte für die Kirchengeschichte, in  : Historische Zeitschrift 256 (1993) S. 67–103, hier 71, 101 f. 13 Michael Hechter  : Internal Colonialism. The Celtic Fringe in British National Development, 1536–1966. London 1975.

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schichtsbildes im Gange und weibliche Sub- oder gar Gegenkulturen blühen. Wenn Frauen dezidiert alle Probleme mit Bezug auf Frauen sehen, beurteilen und lösen wollen, unterscheiden sie sich dann in dieser Hinsicht von funda­ mentalistischen oder ethnischen Bewegungen  ? Lehrreich ist der Zusammen­ stoß konkurrierender Identitätsdefinitionen. Als auf dem Frauenkongreß von Zagreb Anfang Februar 1993 die Massenvergewaltigungen in Bosnien von den Bosnierinnen und Kroatinnen ethnisch gedeutet wurden, von den zugereisten Feministinnen aber sexistisch, scheiterte der Kongreß.14 Noch einmal sei vorsorglich festgehalten, daß selbstverständlich jede ein­ zelne der angesprochenen Bewegungen ihre je spezifischen Rahmenbedingun­ gen, Ursachen, Mitglieder, Aktionsformen und Ziele hat. Aber nicht dieses ist unser Problem, sondern die Auseinandersetzung mit der Beobachtung, daß der Vergleich zeigt, wie ähnlich Rahmenbedingungen, Ursachen, Mitglieder, Aktionsformen und Ziele trotz allem ausfallen können, und vor allem, daß mit analogen Folgeerscheinungen zu rechnen ist. Kurzum, wir sind der Meinung, daß wir uns mit dem Versuch, innere Zusammenhänge all dieser Bewegungen zu erhellen, auf der Spur eines zentralen sozialen und politischen Wandlungs­ prozesses der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart befinden.

Fundamentalismen

Die Verwendung des Begriffs Fundamentalismus zur Bezeichnung der allen die­ sen Bewegungen gemeinsamen Tendenzen sieht sich natürlich dem ­Vorwurf ausgesetzt, einer modischen Konjunktur zu folgen und der inflationären Ver­ wendung dieses Begriffs zu erliegen. Derartige Konjunkturen zeigen aber neben einer intellektuellen Mode auch so etwas wie ein geschärftes Problembewußt­ sein an, so daß es sinnvoller sein dürfte, sich um Präzision des Begriffsinhalts zu bemühen, als einen puristischen Abwehrkampf gegen einen angeblich un­ sauberen Allgemeinbegriff zu führen, der sich doch nicht mehr umgehen läßt. Fundamentalismus bezeichnet von Haus aus eine antimodernistische Be­ wegung im nordamerikanischen Protestantismus, die ihren Namen von einer 1910–1915 publizierten Schriftenreihe »The Fundamentals – A Testimony to the Truth« herleitet. Die Sache selbst ist älter und reicht ins 19. Jhdt. zurück, handelte es sich doch um die Abwehr von Erkenntnissen der modernen Natur-, 14 Annette Goebel  : Mehr Streit als Solidarität – und keine Resolution, in  : Badische Zeitung 9.2. 1993, S. 3.

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Sozial- und Geschichtswissenschaften, die geeignet erschienen, die Grundlagen des christlichen Glaubens zu untergraben. Der Mensch durfte nicht vom Tier abstammen und die Heilige Schrift nicht behandelt werden wie eine beliebige literarische Geschichtsquelle. Im Unterschied zu anderen orthodoxen Traditio­ nalisten beschränkten sich die Fundamentalisten aber nicht auf individuelle Ablehnung des Modernismus und passiven Widerstand, sondern organisierten sich zu einer militanten Bewegung, die sich gekonnt der modernen Massen­ medien zu bedienen wußte und weiß. Schon auf den ersten Blick zeichnet sich neben der notorischen Militanz eine merkwürdige Verbindung von Anti-Mo­ dernismus und Modernität als charakteristische Eigenschaft des Fundamenta­ lismus ab. Er ist keineswegs als ausschließlich rückwärtsgewandt zu charakteri­ sieren. Kennzeichnend für ihn sind. –– das Bestehen auf der wörtlichen Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift, –– die Ablehnung der modernen Wissenschaft und Kultur, die der Bibel wider­ sprechen, und zwar auch außerhalb der Theologie, –– die separatistische Abgrenzung gegen alle, die diese Überzeugung nicht teilen, die dazu tendiert, von defensiver Abgrenzung der eigenen Gruppe in offen­ sive Ausgrenzung der Anderen umzuschlagen  : wer unsere Überzeugungen nicht teilt, ist kein Christ mehr, –– das wird brisant, weil damit der Wille zur Macht, zur Gestaltung der Politik im fundamentalistischen Sinn verbunden ist  : Der Staat soll dazu benutzt werden, um vor allem im Recht und in der Erziehung fundamentalistische Überzeugungen zu verwirklichen, –– die Geschichte wird nämlich als Kampf zwischen Gott und Satan gesehen, der in Kürze unter aktiver Mitwirkung der Rechtgläubigen im Tausendjäh­ rigen Reich des Messias kulminieren wird. An diesem Punkt weichen die Fundamentalisten bezeichnenderweise von ihrem sonst so streng durchge­ haltenen Glauben an den Buchstaben der Bibel ab.15 Sogar die Mormonenkirche hat ihre Fundamentalisten,16 obwohl man doch die Mormonen selbst als eine proto-fundamentalistische Variante des amerika­ 15 Vgl. u. a. Gottfried Küenzlen  : Feste Burgen. Protestantischer Fundamentalismus und die säkulare Kultur der Moderne, in  : Aus Politik und Zeitgeschichte 1992, Bd. 33, S. 3–10  ; Nancy T. Ammerman  : North American Protestant Fundamentalism, in  : M. E. Marty/R. S. Appleby (Hg.)  : Fundamentalism Observed. Chicago 1991, S. 1–65, bes. S. 4–8, 14. 16 D. Michael Quinn  : Plural Marriage and Mormon Fundamentalism, in  : M. E. Marty/R. S. Appleby (Hg.)  : Fundamentalism and Society. Chicago 1993, S. 240–293.

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nischen Protestantismus betrachten könnte. Sie stellen ja den latent weitver­ breiteten »amerikanischen Glauben« ausdrücklich auf das solide Fundament einer originär amerikanischen Heiligen Schrift, die eine autochthone und da­ mit authentische amerikanische Heilsgeschichte dokumentiert.17 Im Hinblick auf einen spezifisch amerikanischen Chiliasmus forcieren sie den Nachweis von Auserwähltheit durch Leistung, den Kult der Familie durch Vielehe und die Suche nach den europäischen Wurzeln durch rückwirkende Rettung der Vorfahren. Das für den vollentwickelten Fundamentalismus charakteristische gespaltene Verhältnis zur Moderne scheint mir allerdings hier noch zu fehlen. Der konsequente Fundamentalismus ist jüngeren Datums. Wohl wissend, daß die Ausweitung des Begriffs Fundamentalismus höchst anfechtbar erscheint, aber auch, daß dieser Begriff der einzige ist, der für einen sinnvollen Vergleich in Frage kommt, wurde er dem großangelegten amerika­ nischen »Fundamentalism Project« zugrunde gelegt.18 Er wird dort angewen­ det auf entsprechende Bewegungen bei Katholiken, Juden, sunnitischen und schiitischen Moslems, Hindus, Sikhs, Theravada-Buddhisten sowie auf kon­ fuzianische und nationaljapanische Bewegungen, denen der in den anderen Fällen grundlegende religiöse Charakter abgeht. Vor allem unter dem Aspekt der Modernitätskrise könnte man im Katho­ lizismus bereits den Ultramontanismus des 19. und frühen 20. Jhdts. als Proto-­­Fundamentalismus bezeichnen.19 Seither ist aber vor allem die innere Entwicklung der katholischen Kirche im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils zum Stein des Anstoßes geworden. Allerdings bietet der katholische Fundamentalismus paradoxerweise ein bunteres Bild als der protestantische, m. E. weil es sich hier nicht um strikten Biblizismus handeln kann, sondern das Papsttum und eine ganze Reihe spezifischer Frömmigkeitsformen (Marien­ verehrung, tridentinische Meßliturgie) als Kriterien in den Vordergrund treten. Gerne wird an das konfessionelle Zeitalter des 16. und 17. Jhdts. angeknüpft, das ja nicht nur die Katholiken aus eher lässigen Mitgliedern einer eher exten­ siv (des)organisierten Christenheit zu stramm disziplinierten und reglemen­ tierten Mitgliedern straff organisierter Konfessionskirchen gemacht hat. Die 17 The Book of Mormon. Another Testament of Jesus Christ. Salt Lake City 1985. 18 M. E. Marty/R. S. Appleby (Hg.)  : Fundamentalism Observed. Chicago 1991  ; dies. (Hg.)  : Fundamentalism and Society. Reclaiming the Sciences, the Family and Education. Chicago 1993  ; dies. (Hg.)  : Fundamentalism and the State. Remaking Politics, Economics, and Mili­ tance. Chicago 1993 (The Fundamentalism Project 1–3). 19 Christoph Weber  : Ultramontanismus als katholischer Fundamentalismus, in  : Wilfried Loth (Hg.)  : Deutscher Katholizismus im Umbruch zur Moderne. Stuttgart 1991, S. 20–45.

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dabei entwickelte »Lagermentalität« der Konfessionen ist derjenigen moderner Fundamentalisten eng verwandt. Das Repertoire der damals zur Stiftung neuer religiös-kultureller Identitäten eingesetzten Sozialtechniken einschließlich der Fabrikation von Geschichtsbildern mutet ebenfalls recht vertraut an. Ausgren­ zung des Anderen bis zur Auslösung massiver Aggressionen gehörte auch schon dazu.20 Selbst das ambivalente Verhältnis zur Moderne, wie es heutzutage für die äußerst effiziente Elitebewegung des »Opus Dei« charakteristisch ist, läßt sich schon in der Frühneuzeit nachweisen.21 Ähnlich wie im Katholizismus erscheint auch im Judentum der Fundamen­ talismusbegriff gemessen an seinem protestantisch-biblizistischen Ursprung zunächst eher unangebracht, erweist sich aber angesichts der realen Phäno­ mene dann doch als sinnvoll. Binnenjüdisch macht die Frage nach den Funda­ menten Schwierigkeiten, nach außen ist von traditionellen antijüdischen Kon­ notationen des Fundamentalismusbegriffs die Rede, der selbstverständlichen negativen Beurteilung des Festhaltens am »Alten« Testament nach dem Auf­ treten des Christentums. Faktisch aber gibt es mindestens zwei Strömungen, die angesichts ihres Verhältnisses zu modernen Entwicklungen, ihres messiani­ schen Glaubens und ihrer identitätsstiftenden Rolle für verunsicherte Israelis die Bezeichnung fundamentalistisch verdienen. Die traditionale, antizionisti­ sche Orthodoxie chassidischer Herkunft hält eher Distanz zum Staat Israel, während die radikalen religiösen Zionisten der »Gush Emunim« Landnahme und Siedlung in den besetzten Gebieten mit Verheißungen aus der Bibel be­ gründen und mit erheblicher Militanz die Politik in ihrem Sinne zu bestimmen versuchen.22 Im Islam scheint auf den ersten Blick eine geradezu protestantische Klarheit der Verhältnisse zu herrschen, gibt es doch eine Heilige Schrift, den Koran, so daß als Fundamentalist zu definieren wäre, wer sich in Reaktion auf die west­ lich-kolonialistische Moderne als konsequenter Skripturalist (Geertz) strikt an 20 Vgl. dazu Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (Hg.)  : Die Katholische Konfessionalisierung, Münster 1995. 21 Zum katholischen Fundamentalismus vgl. u. a. Michael N. Ebertz  : Wider die Relativierung der heiligen Ordnung, in  : Aus Politik und Zeitgeschichte 1992, Bd. 33, S. 11–22  ; Chri­ stian J. Jäggi/David J. Krieger  : Fundamentalismus. Ein Phänomen der Gegenwart. Zürich 1991, S. 81–90  ; Gilles Kepel  : Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden. München 1991. 22 Vgl. Daniel Krochmalnik  : Fundamentalismus und Judentum, in  : Aus Politik und Zeitge­ schichte 1992, Bd. 33, S. 31–43  ; Gideon Aran  : Jewish Zionist Fundamentalism, in  : Marty/ Appleby, Bd. 1, S. 265–344.

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seinen Buchstaben sowie allenfalls noch an die authentische älteste Überliefe­ rung vom Propheten hält. Theoretisch müßten allerdings die meisten Moslems unter diesen Fundamentalismusbegriff fallen, so daß zusätzliche Qualifikatio­ nen nötig sind, analog, aber nicht deckungsgleich mit dem Protestantismus. Mit solchen Qualifikationen haben auch Islamwissenschaftler nichts mehr ge­ gen die Verwendung des Begriffs einzuwenden. Danach zeichnen sich islami­ sche Fundamentalisten im Gegensatz zu bestimmten mystischen Strömungen durch einen betont transzendenten Gottesbegriff aus, sie messen der Einheit des Islam große Bedeutung bei und verwerfen seine heutige Vielgestalt, sie be­ mühen sich daher besonders um Wiederherstellung seiner authentischen Ge­ stalt und um Abwehr der von außen kommenden Einflüsse, schließlich legen sie großen Wert auf die Gleichheit aller Gläubigen.23 Wichtig sind aber nicht jene Gruppen, die in diesem Sinn bis in die Einzelheiten der Lebensführung die archaischen Zustände der Urgemeinde des Propheten zu reproduzieren trachten  ; diese Leute spielen nur eine marginale Rolle. Verwirrend für westli­ che Beobachter ist vielmehr, daß die Fundamentalisten bis zu einem gewissen Grad und in unterschiedlichem Umfang auch Modernisten sind, nach dem Motto  : zurück zum Koran und vorwärts in die Moderne, sofern sie der ein für alle Mal festgelegten göttlichen Offenbarung nicht widerspricht. Deswegen möchten manche Autoren die Bezeichnung Fundamentalisten für die erwähn­ ten radikalen Traditionalisten reservieren und ansonsten lieber von Islamisten und Re-Islamisierung sprechen.24 Uns hingegen ist das für Fundamentalisten typische, gespaltene Verhältnis zur Moderne durchaus vertraut. Islamischer Fundamentalismus ist eben kein konsequenter Konservatismus, der die beste­ hende Ordnung verteidigen möchte. Im Gegenteil, er möchte Wandel, weil diese bestehende Ordnung nicht mit den reinen und ursprünglichen Grund­ sätzen des Islam übereinstimmt. Daher seine politische Militanz. »In einer Gesellschaft, in der Politik und Religion keine klar voneinander geschie­ denen Begriffe sind, und wo die Religion alle anderen ideologischen Bereiche be­ herrscht, äußern sich politische und soziale Oppositionen gewöhnlich in der Form religiöser Opposition. Der Ruf nach der Anwendung der wahren islamischen Vor­ schriften ausschließlich auf der Grundlage des Koran und der sunna übt Anzie­ 23 Rudolph Peters, in  : Werner Ende/Udo Steinbach (Hg.)  : Der Islam in der Gegenwart. Mün­ chen 21984, S. 91 f. 24 Peter Heine  : Fundamentalisten und Islamisten. Zur Differenzierung der Re-Islamisierungsbe­ wegungen, in  : Aus Politik und Zeitgeschichte 1992, Bd. 33, S. 23–30.

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hungskraft auf diejenigen aus, die die bestehenden politischen und sozio-ökonomi­ schen Verhältnisse mißbilligen und die bestehende Ordnung zum Besseren hin verändern wollen.«25

Daraus ergibt sich ein spezifischer universaler Ansatz bis hin zu panislamischen Idealen. Faktisch kann der islamische Fundamentalismus im Rahmen eines nach westlichem Muster geschaffenen Nationalstaats zwar als partikularistische Bewegung auftreten, theoretisch aber vermag er diesen Staat zugleich univer­ salistisch durch das Konzept der religiös-politischen Gemeinschaft aller Recht­ gläubigen in Frage zu stellen.26 Im Falle des Hinduismus wird der Begriff Fundamentalismus aus dem ent­ gegengesetzten Grund abgelehnt. Es gibt zwar heilige Schriften in Indien, aber keinen allgemeinverbindlichen Lehrkanon. Mit guten Gründen wird neuer­ dings sogar die Existenz einer Religion »Hinduismus« überhaupt bestritten  ; es handle sich um ein Konstrukt, einen Kunstbegriff, der von westlicher Seite einer Reihe miteinander verwandter indischer Religionen übergestülpt worden sei. Wenn der Hinduismus aber in diesem Sinne kein »Fundament« hat, dann kann es logischerweise auch keinen Hindufundamentalismus geben. Als reli­ giös-kulturelle Lebensform, die sich in volkstümlichen Traditionen und Riten artikuliert, existiert der Hinduismus aber ohne Zweifel. Und in diesem Sinne erlebte er in jüngster Zeit eine erschreckend eindrucksvolle Wiederbelebung unter massivem Medieneinsatz. Es handelte sich nicht um eine Vertiefung von Religiosität – wobei man natürlich fragen könnte, ob dies bei den anderen bis­ her behandelten Fundamentalismen der Fall war –, sondern um eine politische und kulturelle Selbstbehauptung der Hindus gegenüber dem nachkolonialen, säkularen indischen Staat und den angeblich von diesem bevorzugten Moslems fast in der Art einer Interessengruppe. Bedenkt man aber, daß eine religiös definierte Lebensform mit ihren Symbolen (z. B. die heiligen Kühe, die gegen Moslems geschützt werden müssen) das Kriterium bildet, bedenkt man die hochgradig emotionalisierte Abwehrhaltung gegen die Moderne bei gleichzei­ tigem Einsatz modernster Medien und Propagandatechniken, bedenkt man 25 Peters S. 95. 26 Vgl. Hamid Enayat  : Modern Islamic Political Thought. London 1982, bes. S. 69–110  ; Clif­ ford Geertz  : Religiöse Entwicklungen im Islam. Frankfurt 1991 (engl. 1968), bes. S. 106 f.; Arnold Hottinger  : Islamischer Fundamentalismus. Paderborn 1993  ; Jacob M. Landau  : The Politics of Pan-Islam. Oxford 1990  ; Louis L. Snyder  : Macro-Nationalismus  : A History of Pan-Movements. Westport 1984, S. 129–143  ; Bassam Tibi  : Die Krise des modernen Islam. Frankfurt 21991.

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die partikularistische Praxis mit massiver Ausgrenzung der Anderen bei gleich­ zeitigem universalem Anspruch mit Griff nach der Macht, um einen Staat im Sinne der eigenen Gruppe zu errichten, dann ist der fundamentalistische Cha­ rakter dieses neuen Hinduismus nicht mehr zu bestreiten.27 In Sri Lanka, Thailand und Burma sind strukturell ähnliche Bewegungen im Theravada-Buddhismus zu beobachten, die als Reaktion auf nachkoloniale Desintegrationsvorgänge verstanden werden können. Insofern hat man sie als modern und postmodern zugleich bezeichnet  : Modern wären sie als im wörtli­ chen Sinn »reaktionärer« Bestandteil des Desintegrationsprozesses der tradi­ tionalen Gesellschaften durch Modernisierung, postmodern eben als Reaktion auf frühere Arrangements dieser Gesellschaften mit der westlichen Moderne.28 Zumindest in Sri Lanka ist die ethnische Komponente nicht zu übersehen, handelt es sich doch offensichtlich um einen Versuch der Singhalesen zur Ver­ stärkung ihrer Gruppenidentität gegenüber den Tamilen, die nicht wie die Singhalesen Buddhisten, sondern Hindus oder bisweilen sogar Moslems sind. Die neo-konfuzianischen Bewegungen in Japan, Korea und Taiwan werden ebenfalls als Reaktionen auf die westliche Form von Modernität und ihre Fol­ gen angesehen und lassen sich daher ebenso wie nationalkulturelle Wiederbele­ bungsversuche in Japan – die aber möglicherweise von der für alles Japanische hypersensiblen amerikanischen Forschung überschätzt werden – als Anläufe begreifen, neue Identität durch kulturelle Authentizität zu gewinnen. Insofern würden auch sie in den Rahmen der als fundamentalistisch definierten An­ strengungen gehören, eine alt-neue Grundlage für das soziale und politische Leben zu finden. Mir scheint allerdings, daß Separatismus und Militanz hier schwächer entwickelt sind als in den anderen Fällen. Sollte das daran liegen, daß es sich nicht um Religionen im strengen Sinn handelt  ?29 27 Jürgen Lütt  : Der Hinduismus auf der Suche nach einem Fundament, in  : Hermann Kochanek (Hg.)  : Die verdrängte Freiheit. Fundamentalismus in den Kirchen. Freiburg 1991, S. 218– 239  ; zur Vorgeschichte Kenneth W. Jones  : Socio-Religious Reform Movements in British India (The New Cambridge History of India III,1). Cambridge 1991  ; S. Kumar Mitra  : Dese­ cularizing the State  : Religion and Politics in India after Independence, in  : CSSH 33 (1991) S. 755–777  ; Daniel Gold  : Organized Hinduisms  : From Vedic Truth to Hindu Nation, in  : M. E. Marty/R. S. Appleby (Hg.)  : Fundamentalism Observed (The Fundamentalism Pro­ ject 1). Chicago 1991, S. 530–593  ; Robert E. Frykenberg  : Hindu Fundamentalism and the Structural Stability of India, in  : M. E. Marty/R. S. Appleby (Hg.)  : Fundamentalism and the State (The Fundamentalism Project 3). Chicago 1993, S. 233–255. 28 Donald K. Swearer  : Fundamentalistic Movements in Theravada Buddhism, in  : Marty/Ap­ pleby, Bd. 1, S. 628–690, bes. S. 677. 29 Tu Wei-ming  : The Search for Roots in Industrial East Asia  : the Case of the Confucian Revival,

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Ethnische und regionalistische Bewegungen

Religion und Kultur gehören neben Sprache und geschlossenem Siedlungs­ raum zu den wesentlichen Unterscheidungsmerkmalen ethnischer Identitäten,30 das vermag der bosnische so gut wie der singhalesische Fall zu lehren. Die Wiederbelebung solcher Identitäten in den letzten Jahrzehnten verlief parallel zur religiösen und kam nicht weniger überraschend. Dabei kann es sich wie bisweilen bei religiösen Fundamentalismen um bessere Interessengruppen han­ deln, »Pressure Groups with a Noble Face«, die man ebenso wie die Religion auch einmal wechselt, wenn es sich lohnt und man die Gelegenheit dazu be­ kommt.31 Möglicherweise sind die Zielvorstellungen ethnischer Bewegungen inhaltlich weniger radikal als diejenigen religiöser Bewegungen, insofern sie die Macht zur Durchsetzung ihrer Gruppeninteressen und nicht zur Erneuerung des gesamten Gemeinwesens erstreben. Aber dessen ungeachtet verlegen im­ mer mehr Menschen ihre primäre, emotional tief verankerte Identität von Staat und Staatsnation auf ihre ethnische Gruppe, fühlen sich umgekehrt zu früher zuerst als Flamen und dann erst als Belgier, oder zuerst als Waliser und danach erst, wenn überhaupt noch, als Briten.32 Dabei hatte der Nationalismus des staatstragenden Volkes eine Schrittmacherfunktion  ; die zahllosen ethnischen Mini-Nationalismen33 sind ohne ihn schwer vorstellbar.34 Von dieser Staats­ nation und ihrem inneren Kolonialismus will man sich emanzipieren, weltweit in ähnlicher Weise, wenn auch unter höchst unterschiedlichen Bedingungen. In Afrika vermochten die meisten der nachkolonialen Staaten von vorneher­ ein nicht genug Integrationskraft zu entfalten, so daß ihren Bürgern gar nichts anderes übrig blieb, als sich an ihre ethnischen Gruppen zu halten, selbst wenn diese ihrerseits häufig ebenfalls Kreationen der Kolonialmächte gewesen waren. Anders ließen sich ihre praktischen wie ihre emotionalen Bedürfnisse einfach in  : Marty/Appleby, Bd. 1, S. 740–781  ; Winston Davis  : Fundamentalism in Japan  : Religious and Political, in  : ebd., S. 782–813. 30 Vgl. Max Engmann/Abo Akademi u. a. (Hg.)  : Ethnic Identity in Urban Europe. Aldershot 1991, S. 2. 31 Eugeen E. Roosens  : Creating Ethnicity. The Process of Ethnogenesis. Newbury Park 1989, S.  13 f. 32 Vgl. Reiner Luyken  : Die Söhne des Glendower, in  : Die Zeit 29.1.1993, S. 80. 33 Vgl. Louis L. Snyder  : Global Mini-Nationalisms  : Autonomy or Independence. Westport 1982. 34 Anthony D. Smith  : The Ethnic Revival in the Modern World. Cambridge 1981, S. 18 f. sowie Eric J. Hobsbawm  : Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt 1991, bes. S. 59–96.

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nicht befriedigen. So fühlt man sich weit eher als Bakongo oder Kikuyu denn als Bürger von Zaire oder Kenia.35 Lateinamerika wurde zwar im Gegensatz zu Afrika schon vor bald zwei­ hundert Jahren dekolonisiert, aber die nachkolonialen Staaten blieben Sache kreolischer oder mestizischer Eliten. Die in den meisten von ihnen vorhan­ dene, zahlenmäßig große indianische Unterschicht blieb ohne Einfluß und hatte wenig Gelegenheit, sich mit dem jeweiligen Staat zu identifizieren. Da­ bei hatten sie und ihre nach Bedarf zurechtgemachte Geschichte den Eliten der neuen Staaten zur Legitimation ihres Unabhängigkeitsanspruchs von der spanischen »Tyrannei« dienen müssen.36 Selbst der Indigenismo dieses Jahr­ hunderts funktionalisierte den Indio für die Nation und lief günstigstenfalls auf eine Entwicklungspolitik hinaus, die ihn letztendlich im Staatsvolk aufge­ hen lassen sollte. Der Franzose Robert Jaulin hat für solche mehr oder weniger erzwungene Assimilation 1970 den Begriff Ethnozid geprägt, was sinngemäß mit »Ausrottung einer Kultur« wiedergegeben werden muß. Aber auch hier hat sich in den letzten zwanzig Jahren eine revolutionäre Entwicklung vollzo­ gen, die man auf die Formel Del indigenismo a la indianidad gebracht hat.37 Die Indios beanspruchen ein autonomes Lebensrecht für ihre Ethnien und deren Sprachen und Kulturen, mögen diese als Subkulturen überlebt haben oder mit anthropologischem Sukkurs wiederbelebt worden sein. Indianische Authentizität wird aus bloßer Touristenattraktion zum Kristallisationspunkt von Gruppenidentität und zum politischen Programm. Dergleichen stößt al­ lerdings dort auf Probleme, wo die verschiedenen Ethnien keine geschlossenen Territorien bewohnen, sondern in Gemengelage, vielleicht sogar mit Ladinos, siedeln.38 35 Vgl. Dirk Berg-Schlosser  : Probleme der nationalen Integration eines Vielvölkerstaates am Bei­ spiel Kenias, in  : Politische Studien, Sonderheft 1 (1981) S. 88–110. 36 Vgl. Hans-Joachim König  : Die Mythisierung der »Conquista« und des »Indio« zu Beginn der Staats- und Nationbildung in Hispanoamerika, in  : Karl Kohut (Hg.)  : Der eroberte Konti­ nent. Frankfurt 1991, S. 361–375. 37 Jose Alcina Franch und Oscar Arze Quintanilla in Jose Alcina Franch (Hg.)  : Idianismo e indigenismo en America. Madrid 1990. S. 12, 18–33. 38 Neben Alcina Franch vgl. Dieter Goetze  : Variationen des Indigenismus in Hispanoamerika, in  : Zeitschrift für Lateinamerika 1985, S. 35–54  ; Die Wilden und die Barbarei (Jahrbuch La­ teinamerika 16) 1993  ; Günther Maihold  : Kontinuität und Wandel des indigenistischen Den­ kens in Mexiko, in  : Ibero-amerikanisches Archiv 12 (1986) S. 49–71  ; ders.: Identitätssuche in Lateinamerika. Das indigenistische Denken in Mexiko. Saarbrücken 1986  ; ders.: José Carlos Mariátegui  : Nationales Projekt und Indio-Problem. Zur Entwicklung der indigenistischen Bewegung in Peru. Frankfurt 1988.

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In den USA und Kanada sind die vergleichsweise weniger zahlreichen In­ dianer sehr viel stärker marginalisiert. Sie haben aber in den USA, soweit sie nicht ausgerottet wurden, infolge ihrer in Reservaten bewahrten Iden­ tität als »autonome Nationen« keine schlechte Ausgangsposition, um ihre ethnischen Rechte vor Gericht zu erstreiten, während sie in der kanadischen Verfassung nur pauschal als »Indianer« berücksichtigt werden, obwohl auch dort die Stämme intakt geblieben sind.39 Natürlich ist jede Ethnie für sich genommen immer in einer Minderheitenposition gegenüber der Staatsna­ tion – was immer das sein mag. Aber in Lateinamerika ist die gebündelte Macht der ethnischen Bewegungen dann doch recht eindrucksvoll, was für Nordamerika nicht gelten kann. Doch hat sich die Lage auch dort insofern geändert, als beträchtliche Teile der nicht-indianischen Bevölkerung, ins­ besondere der Afro- und Hispano-Amerikaner sich nicht mehr als assimi­ lierte oder assimilationswillige Amerikaner – »e pluribus unum« lautet die Inschrift des Staatswappens –, sondern primär als Angehörige einer ethni­ schen Gruppe betrachten. Die sogenannten »Bindestrich-Amerikaner« eu­ ropäischer Abstammung (Deutsch-Amerikaner, Irische Amerikaner, ItaloAmerikaner, (ost-)jüdische Amerikaner usf.) haben ihre ethnische Identität bisher vor allem als religiöse Angelegenheit und als Folklore behandelt und die Überwindung ihrer Diskriminierung durch die WASPs (White AngloSaxon Protestants) der Zeit überlassen  : irgendwann einmal wird auch der erste Jude Universitätsprofessor und der erste Katholik irischer Abstammung Präsident. Dieser Integrationsmechanismus funktioniert zwar weiter, aber die Verlagerung des individuellen Identitätsfokus von der Nation auf die Ethnie hat dazu geführt, daß man nicht mehr bereit ist, sich mit der Integration der jeweiligen ethnischen Eliten zu begnügen und die weitere Diskriminie­ rung der Mehrheit der eigenen Ethnie hinzunehmen bzw. ihre Überwindung zukünftiger Assimilation zu überlassen. Man setzt weithin überhaupt nicht mehr auf Assimilation. Grund genug für Angehörige der alten, wenn auch inzwischen um Nicht-WASPs erweiterten US-Elite, das Horrorszenario einer ethnischen Desintegration der USA – vom assimilatorischen »Melting Pot« zur multikulturellen »Salad Bowl« – zu entwerfen.40 Anscheinend haben aber die Einwanderer ostasiatischer Herkunft trotz oder vielleicht sogar wegen der 39 Vgl. Brigitte Fleischmann  : Indianische Souveränität, in  : Wolfgang Reinhard/Peter Waldmann (Hg.)  : Nord und Süd in Amerika, Bd. l, Freiburg 1992, S. 442–453. 40 Arthur M. Schlesinger Jr.: The Disuniting of Amerika. Reflections on a Multicultural Society. Knoxville 1991.

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Vorbehalte, mit denen man ihnen mancherorts begegnet, weniger Probleme mit der Verbindung von ethnischer Identität und nationaler Assimilation. Hier scheint der alte Mechanismus der Assimilation über das BindestrichAmerikanertum noch zu funktionieren. Die ethnischen Bewegungen der Indianer sind ebenso wie diejenigen der Afrikaner Spätfolgen des Kolonialismus. Die ehemals Kolonisierten oder ihre Nachkommen rebellieren gegen die Nachfahren oder Nachfolger ihrer Kolo­nialherren. Im Falle Chinas könnte man sogar von einer ethnischen Re­ bellion gegen weiterbestehende Kolonialherrschaft sprechen. Im Hinblick auf die langfristig gesehen kontinuierliche Expansion des »Staatsvolks« der Han-Chinesen und deren fortdauernde Dominanz über die Minderheiten im Innern und vor allem in den Randgebieten Tibet, Xinjiang und Mongolei ließe sich China durchaus als die älteste und letzte Kolonialmacht der Welt betrachten (nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des südafrika­ nischen Apartheid-Regimes). Bezeichnenderweise legitimiert China das Wei­ terbestehen seines traditionellen Vielvölkerreiches unter Dominanz der hanchinesischen Mehrheit mit einem Nationbegriff, der an die Kontinuität der territorialen Kontrolle anknüpft. Aber auch hier lassen sich die ethnischen Identitäten längst nicht mehr in den folkloristischen oder höchstens noch re­ ligiösen Bereich abdrängen. Am bekanntesten ist der Fall Tibets, weil dieses Land vor seiner gewaltsamen Unterwerfung und weitreichenden Sinisierung stets eine eigene politische Einheit darstellte, die sich in eher lockerer Abhän­ gigkeit von China befand. So vermag der exilierte Dalai Lama den Anliegen der Tibeter wenigstens eine begrenzte Aufmerksamkeit in der Weltöffentlich­ keit zu verschaffen. Das gilt nicht für die Ethnien Xinjiangs und der inneren Mongolei, aber sie können an die Vorgänge jenseits der Grenzen anknüpfen, an die jüngst erfolgte Dekolonisation Russisch-Mittelasiens und an die Exi­ stenz einer inzwischen nicht mehr nur nominell unabhängigen äußeren Mon­ golei. Doch die ethnischen Bewegungen der Randvölker Chinas lassen sich nicht allein mit solchen politischen Umständen erklären. Sie müssen auch als Reaktion auf wachsenden Modernisierungsdruck in Verbindung mit massi­ vem Vordringen chinesischer Siedler gesehen werden. Generell haben Ethnien mit territorialer Identität wohl die besseren Selbst­ behauptungs- und Durchsetzungschancen. Traditionell wird ethnische Streuoder Mischsiedlung nur ausnahmsweise akzeptiert. Üblich sind vielmehr eth­ nische »Chinatowns« und »Kreuzbergs« sowie bei ethnischen Konflikten die ethnische Säuberung des Territoriums, wie sie derzeit in Bosnien vorgeführt wird. Selbst in der so stabilen Schweiz mit ihren vier Sprachen und – cum

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grano salis – Kulturen hat die Wiedergewinnung der rätoromanischen Identi­ tät41 und die Bildung des neuen Kantons Jura gezeigt, wie wichtig die »Kon­ trolle« eines Territoriums für eine Minderheit ist. Selbst in Bayern können die geschlossen siedelnden Franken sehr viel mehr Ressentiment gegen München pflegen, bis hin zu separatistischen Gelüsten, als die zerstreut lebenden Ange­ hörigen des »vierten bayerischen Stammes« der Sudetendeutschen, trotz der vollmundigen ethnischen Ideologie.42 Es bedarf schon sehr deutlich ausgepräg­ ter Alterität wie der Hautfarbe bei den Afro-Amerikanern oder der Zugehörig­ keit zu einer potentiell feindlichen kulturellen Außenwelt wie bei den israeli­ schen Arabern, um die ethnische Identität stabil zu erhalten. Dabei haben die Araber in Israel immerhin eindeutige Siedlungsschwerpunkte.43 Der Grund liegt paradoxerweise im künstlichen und vorübergehenden Charakter vieler Ethnien  ; der Begriff Ethnizität entzieht sich ebenso einer allgemeingültigen, objektiven Definition wie der Begriff Identität.44 Keiner der gängigen Faktoren Sprache, Religion, Folklore, organisatorische und territoriale Geschlossenheit ist ein überall anwendbares Kriterium, Kombinationen dieser Faktoren sind es ebensowenig.45 Die Forschung scheint aber dahin zu tendieren, doch den dank des historischen Trägheitsprinzips stabileren und damit wissenschaftlich »här­ teren« institutionellen und territorialen Faktoren größeres Gewicht zuzubilli­ gen als früher. Historiker können heute lakonisch feststellen  : »Ethnogenesen sind keine Angelegenheit des ›Blutes‹, sondern sie sind verfassungsgeschichtli­ che Ereignisse«.46 Nicht »Völker« sind in der »Völkerwanderungszeit« gewan­ dert, sondern poly-ethnische Kriegerverbände, aus denen sich dann, wenn sie einmal seßhaft wurden, dank kontingenter historischer Ereignisse und Insti­ tutionen neue Ethnien bilden konnten.47 Erstaunlicherweise wurde sogar für 41 R. H. Billigmeier  : A Crisis in Swiss Pluralism. The Romansh and their Relations with the German- and Italian-Swiss. Den Haag 1979. 42 Eugen Wirth  : Franken gegen Bayern – ein nur vom Bildungsbürgertum geschürter Konflikt  ?, in  : Berichte zur deutschen Landeskunde 61 (1987) S. 271–297. 43 Zu deren zweitklassigem, aber entwicklungsfähigem Status vgl. Y. Peled  : Ethnic Democracy and the Legal Construction of Citizenship  : Arab Citizens of the Jewish State, in  : American Political Science Review 86 (1992), S. 432–443, dessen Folgerungen man sich aber nicht an­ schließen muß. 44 Tonkin/McDonald/Chapman S. 16 f. 45 Thomas O. Höllmann  : Kritische Gedanken zum Ethnos-Begriff in der Völkerkunde, in  : Tri­ bus 41 (1992), S. 177–186, bes. S. 182, vgl. aber Hobsbawm S. 59–96. 46 Herwig Wolfram, in  : H. Wolfram/W. Pohl (Hg.)  : Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern, 2 Bde. Wien 1990, Bd. 1, S. 30. 47 H. Fröhlich, in  : ebd., Bd. 2, S. 351–358.

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eine mit so viel Militanz erneuerte ethnische Identität wie diejenige der Waliser festgestellt, daß die Bedeutung der traditionellen Merkmale zurückgehe, vor allem nehme die Zahl der Sprecher des mit so viel Aufwand gepflegten Welsh trotz allem ab, so daß langfristig die Identität von Wales nur mittels eigener Institutionen zu gewährleisten sei.48 Insofern läßt sich auch das Zerbrechen Ju­ goslawiens weniger auf ein in seiner plötzlichen Spontanität etwas rätselhaftes Wiederaufbrechen historischer Kultur- und Religionsgegensätze zurückführen als auf handfeste Interessenkonflikte zwischen den kommunistischen Eliten der Republiken und Regionen, die sich aus den Regeln des institutionalisierten politökonomischen Regionalismus Jugoslawiens ergeben haben. Die Reaktivie­ rung traditioneller Gegensätze war der zweite, nicht der erste Schritt.49 Wenn diese Sicht der ethnischen Bewegungen zutrifft, dann ergibt sich dar­ aus aber nicht nur, daß Ethnoregionalismus ihre erfolgversprechendste Variante darstellt, sondern darüber hinaus die Möglichkeit, daß sich in umgekehrter Reihenfolge aus bloßen regionalistischen Bewegungen ethnische entwickeln können, der Regionalismus also bisweilen die Vorstufe von Ethnoregionalis­ mus sein könnte. Wenn man die allerorten in Europa aktiven Regionalbewe­ gungen50 in diesem Sinne betrachtet, könnte man versucht sein zu unterstel­ len, daß den Staaten Europas ein ähnlicher ethnischer Desintegrationsprozeß bevorstehe wie den USA, nur mit stärker regionaler Orientierung. Ob sich der Trend mittels mehr oder weniger aufrichtigen Dezentralisierungsmaßnahmen der Zentralregierungen,51 die sogar in Frankreich bereits eine historische Tra­ 48 R. M. Jones  : Beyond Identity  ? The Reconstruction of the Welsh, in  : Journal of British Stu­ dies 31 (1992) S. 330–357. 49 Stefan Plaggenborg  : Wirtschaftsreformen und Nationalismus in Jugoslawien 1945–1974 (Freiburger Antrittsvorlesung 1994). 50 Vgl. J. Blaschke (Hg.)  : Handbuch der westeuropäischen Regionalbewegungen. Frankfurt 1980  ; K. Duwe (Hg.)  : Regionalismus in Europa. Frankfurt 1987  ; Rainer S. Elkar (Hg.)  : Europas unruhige Regionen. Geschichtsbewußtsein und europäischer Regionalismus. Stutt­ gart 1981  ; W. Lang  : Der internationale Regionalismus. Wien 1982  ; Günther Lottes (Hg.)  : Region, Nation, Europa. Regensburg 1992  ; F. Veitl/G. Doeker  : Regionalismus und regionale Integration. Frankfurt 1980  ; dazu auch  : Meic Stephens  : Minderheiten in Westeuropa. Hu­ sum 1979  ; Georgina Ashworth  : World Minorities in the Eighties. Sunbury 1980  ; Louis L. Snyder  : Global Mini-Nationalismus  : Autonomy or Independence. Westport 1982  ; Donald Kerr u. a. (Hg.)  : Religion, State and Ethnic Groups. Aldershot 1992  ; Sergij Vilfan u. a. (Hg.)  : Ethnic Groups and Language Rights. Aldershot 1992, wobei die letzten beiden Titel aus dem Projekt Comparative Studies on Governments and Non-Dominant Ethnic Groups in Europe (1850–1940) der European Science Foundation hervorgegangen sind. 51 Vgl. L. J. Sharpe (Hg.)  : Decentralist Trends in Western Democracies. London 1979 (wo die deutsche »Dezentralität« allerdings überschätzt wird).

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dition haben,52 auffangen und kanalisieren lassen oder sich eher verstärken wird, muß offenbleiben. Mit anderen Worten  : ist die Franche-Comté auf dem Weg von einer identité comtoise zur ethnicité comtoise  ?  53 Deutschland könnte dabei bis zu einem gewissen Grad als Vorbild dienen, denn hier wurden von den neugeschaffenen Mittelstaaten wie Baden oder Bayern im 19. Jhdt. durch planmäßige Integrationspolitik neue regionale Identitäten geschaffen, die dann nach 1945 als Elemente eines traditionellen Föderalismus ausgegeben und für den – möglicherweise inzwischen gescheiterten – Versuch benutzt werden konnten, die staatliche Identität der Bundesrepublik Deutschland re­ gional vermittelt zu konstituieren.54 Zwar war diese Sorte Regionalismus auch damals wie heute in Frankreich von oben verordnet, wurde aber im Interesse der hier im Gegensatz zu Frankreich mehrfach vorhandenen Staatsgewalt for­ ciert gefördert. Freilich, beim Studium der ethnischen Bewegungen und erst recht des eu­ ropäischen Regionalismus wähnt man sich weit entfernt von den religiösen Fundamentalismen und ist geneigt, die brisante Mischung von Religion und Kultur mit Ethnoregionalismus in der jugoslawischen oder nordirischen Art als Ausnahme abzutun und sich darin auch von der zeitweise notorischen Militanz baskischer, jurassischer, südtirolischer oder walisischer Regionalsten nicht irre machen zu lassen. Zu Unrecht, wie sich zeigt, wenn die Faustformel politische Identität durch kulturelle Authentizität sich hier wie dort anwenden läßt,55 wenn Authentizität hier wie dort durch historische Mythenbildung verstärkt wird,56 wenn dem regionalen Identifikationspotential nachgesagt werden kann, es sei möglicherweise geeignet, den Mangel an individuellen und kollektiven Identifikationsangeboten unserer Gesellschaft zu kompensieren,57 wenn bei 52 Vgl. den Klassiker von Hedwig Hintze  : Staatseinheit und Föderalismus im alten Frankreich und in der Revolution. Stuttgart 1928 sowie aus der neueren Literatur Rainer Riemenschnei­ der  : Dezentralisation und Regionalismus in Frankreich um die Mitte des 19. Jhdts. Bonn 1985. 53 Jean-Philippe Leresche  : La Franche-Comté réinventée. Frankfurt 1991. 54 Helmut Berding  : Staatliche Identität, nationale Integration und politischer Regionalismus, in  : Blätter für deutsche Landesgeschichte 121 (1985) S. 371–393  ; Manfred Hanisch  : Für Fürst und Vaterland. Legitimationsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit. München 1991  ; Hobsbawm S. 97–119. Vgl. auch Detlef Briesen/Rüdiger Gans  : Re­ gionale Identifikation als »Invention of Tradition«. Wer hat und warum wurde eigentlich das Siegerland erfunden  ?, in  : Berichte zur deutschen Landeskunde 66 (1992) S. 61–73. 55 Vgl. Duwe  : Regionalismus S. 15–39. 56 Vgl. Elkar  : Regionen S. 73f. 57 Vgl. Leresche  : Franche–Comté S. 442.

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vielen ethnischen und regionalen Bewegungen ebenfalls ein direkter oder in­ direkter Zusammenhang mit Modernisierungsdruck auf die Gesellschaft nach­ zuweisen ist und der moderne Staat als Hauptagent solcher Modernisierung und der wichtigste Gegner der Bewegungen in Erscheinung tritt. Die Folge ist eine hochgradige Emotionalisierung, die auch hier zu fanatischer Militanz führen kann. War es die »Sehnsucht nach subjektiver Partizipation«,58 die in Deutsch­ land in diesem Zusammenhang zur Wiederbelebung des Sinnes für Heimat geführt hat  ? Alles, was mit Heimat zu tun hatte, war lange nicht ohne Grund als faschistoid verschrien, schien »Blut und Boden« zu dampfen, diskreditiert durch die Sonntagsreden unbelehrbarer »Heimatvertriebener«. Doch statt im Zeichen einer immer egalitärer werdenden Gesellschaft endgültig abzusterben, feierte Heimat eine linke Auferstehung. Wieder einmal bieten Sprachkonven­ tionen einen zuverlässigen Indikator  : Der Gebrauch von Mundart, der vor noch nicht langer Zeit verpönt war, gilt heute auch bei linken Intellektuellen als politically correct, bis hin zu nicht immer gelungenen Imitationsversuchen. Und es ist sicher nicht nur der Wettbewerb um Stellen im bis vor kurzem noch expandierenden Heimatpflege- und Museumsbetrieb, was u. a. Geschichtsstu­ denten veranlaßt, sich vermehrt der Alltagsgeschichte zuzuwenden (um das ne­ gativ besetzte Wort Heimatgeschichte zu vermeiden). Selbst wenn es sich bloß um eine Nostalgiewelle handeln sollte, dann zeigt nostalgische Flucht in die Vergangenheit (ungeachtet ihrer unverzüglichen Vermarktung) Verzweiflung an der Zukunft der Gegenwart an. Auf die emotionale Frage »Wieviel Hei­ mat braucht der Mensch  ?« wäre wohl zu antworten, daß Territorialität zwar zur biologischen Grundausstattung auch des Menschen gehören dürfte, deren konkrete Realisierung aber von den kulturellen Rahmenbedingungen abhängt. Wenn also »Der Mensch auf der Suche nach Identität« (A. Strauss/R. Hemegger) bevorzugt bei der Heimat ankommt, dann mag das anzeigen, daß seine Ent­ fremdung anderswo so weit gediehen ist, daß er sich im wirtschaftlichen, poli­ tischen und gesellschaftlichen Leben seiner Welt nicht mehr selbstverständlich zuhause fühlt.59 Insofern wäre Identifikation mit Heimat Ergebnis der NichtIdentifikation mit Staat, Nation, Gesellschaft, Wirtschaft.

58 Elkar S. 50. 59 Ina-Maria Greverus  : Auf der Suche nach Heimat. München 1979, bes. S. 19–34, 161–197.

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Neue soziale Bewegungen

Beim Mikro-Regionalismus der neuen Heimatbewegung wird die enge Ver­ wandtschaft mit alternativen Lebensentwürfen der neuen sozialen Bewegun­ gen deutlich. Aber auch bei der Beschäftigung mit der angeblichen oder wirk­ lichen ethnischen Desintegration der USA trifft man ganz selbstverständlich und unreflektiert neben den »Stämmen« der Navajo und Oglala, der Afro- und Hispano-Amerikaner auf die »Stämme« der Homosexuellen und der Feminis­ tinnen, die wie die anderen auch ihre Rechte einklagen und Forderungen bis hin zur Anerkennung ihrer autonomen Subkultur stellen. An und für sich ist das unter den Bedingungen der »Coca-Cola-Kultur der Megamaschine« ohne weiteres möglich, weil »in deren Rahmen dann jeder seiner eigenen (Freizeit-)Kultur frönen kann. So lange Input und Output funktionieren, spielt es gar keine Rolle, ob die Leute noch ›die gleiche Sprache sprechen und einander verstehen‹ oder nicht. Tatsächlich besteht die ganze Gesellschaft aus lauter Subkulturen«,

allerdings durchaus noch schichtspezifischen und solchen, die allgemein akzep­ tiert werden, gegenüber solchen, die marginalisiert sind.60 Eine neue Untersu­ chung des sozialen Wandels in Westdeutschland 1988–1992 hat eine Zunahme des Gewichts modernisierter oder teilmodernisierter Sozialmilieus von 52% auf 65% festgestellt. Der Rückgang der traditionellen Milieus geht weniger auf Kosten der konservativen oder der technokratisch-liberalen Oberschicht als des Kleinbürgertums und des traditionellen Arbeitermilieus. Der Modernitätszu­ wachs findet statt bei den Aufsteigern und im hedonistischen Milieu der Mit­ telklassen sowie bei den neuen Arbeitnehmern, aber auch im traditionslosen Arbeitermilieu. Das alternative Milieu der Oberklassen hat sich demgegenüber halbiert.61 Die schematische Vereinfachung noch weiter treibend könnte man behaupten, daß die Modernisierung zwar eher die systembejahenden Kräfte, sekundär aber auch die systemverneinenden auf Kosten der traditionellen ge­ stärkt hat. 60 Joseph Huber  : Wer soll das alles ändern  ? Die Alternativen der Alternativbewegung. Berlin, 1. Aufl. 1980, S. 69. 61 Michael Vester/Peter von Oertzen/Heiko Geiling/Thomas Hermann/Dagmar Müller  : Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Köln 1993, bes. S. 16.

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Konkret bedeutet das, daß in Deutschland wie den USA und mit graduellen Unterschieden in allen entwickelten westlichen Ländern, aber nicht nur dort, ein breites Spektrum mehr oder weniger radikaler alternativer Gruppen im Schoße der von ihnen abgelehnten »Megamaschine« an einer postmodernen Gegengesellschaft arbeitet, was man seit den 1980er Jahren als neue soziale Bewegungen bezeichnet. Neu sind nicht alle ihre Anliegen, aber neu ist unter anderem die Vielzahl gegenüber früher, als die Arbeiterbewegung mehr oder weniger als die soziale Bewegung schlechthin gelten konnte. Im engeren Sinne politisch sind die auf Mitbestimmung über die verschiedensten konkreten Ge­ genstände gerichteten Bürgerinitiativen und die Friedensbewegungen, aber letztendlich hat die ökologische, wirtschaftskritische Bewegung zumindest in Deutschland als einzige neue politische Parteien ins Leben gerufen, die aller­ dings inzwischen auf einen Teil ihrer alternativen Politikvorstellungen verzich­ tet haben. Wirtschafts- und Gesellschaftskritik hat die bunteste Vielfalt von Gruppen und Grüppchen mit alternativem Lebensstil hervorgebracht, wobei in diesem Falle im Lebensstil Weg und Ziel häufig zusammenfallen  : Kom­ munarden und Stadtflüchtlinge, städtische und ländliche Produktions- und Kreditgenossenschaften, jugendliche Protestbewegungen der verschiedensten Art, wobei das Zubehör zu deren Lebensstil längst erfolgreich vermarktet wird. Den organisierten männlichen Homosexuellen stehen im Rahmen der Frauen­ bewegung die organisierten lesbischen Frauen nahe  ; weiter wäre in diesem Zu­ sammenhang die Bewegung für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts zu nennen, der vor allem in den USA eine fanatisierte Phalanx von Abtreibungs­ gegnern fundamentalistischen Zuschnitts gegenübersteht. Neue Initiativen in bisher noch tabuisierten Bereichen kündigen sich an  ; zu nennen wären die Euthanasiebewegung und erste Versuche der Päderasten, in die Fußstapfen der Homosexuellen zu treten. Gemeinsam ist ihnen allen kritische Distanz zu den bestehenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnissen, die sich zu vehementem Protest steigern kann, wobei freilich der Militanz durch die weitverbreitete basisdemokratische Spontanität und den daraus folgenden geringen Organisationsgrad Grenzen gesetzt sind.62 Nicht nur ihre Mitglieder sehen in ihnen die Vorhut neuer Gesellschaftsordnungen. Ein linker Theoretiker wie André Gunder Frank, der lange auf die Revolution als 62 Karl-Werner Brand/Detlef Büsser/Dieter Rucht  : Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik. Frankfurt, 3. Aufl. 1986  ; Karl-Werner Brand (Hg.)  : Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA. Frankfurt 1985  ; Roland Roth u. a. (Hg.)  : Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt 1987.

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einzige Chance der Dritten Welt, aus dem Teufelskreis der Unterentwicklung auszubrechen, gesetzt hatte, baut heute auf die neuen sozialen Bewegungen  : »So erscheinen soziale Bewegungen, weitaus eher als politische Parteien […], immer stärker als die Vehikel und Formen eines freiwilligen transformativen Fortschritts hin zu einem ›Sozialismus‹, wenn überhaupt.«63

In westlichen Industriestaaten rekrutieren sich die Mitglieder vor allem aus Dienstleistungsberufen der Mittelschichten mit ihrer eigentümlichen »Gesin­ nungsethik« (um mit Max Weber zu sprechen), wodurch eine neuartige Ver­ bindung von öffentlicher und privater Welt zustande kommt, die eine mög­ lichst herrschaftsfreie Alltagspraxis einschließen soll. Allem Anschein nach wird Gesinnungsgemeinschaft angestrebt, die ein Modell für eine Art von Ge­ genkultur werden könnte.64 Konsequenterweise neigt man dazu, unter sich zu bleiben, ein Separatismus der richtig Gesinnten und Lebenden bürgert sich ein, dem durchaus auch etwas von einer Sekte anhaften kann. So ist man z. B. in Berlin im SSV, dem Schwulen Sport Verein, unter sich und in Freiburg bei der separaten Eucharistiefeier für Frauen (allerdings derzeit noch mit männli­ chem Priester, aber dennoch in Widerspruch zum einheitsstiftenden Sinn des Sakraments – aber in Indien hat es auch getrennte christliche Kirchen für ver­ schiedene Kasten gegeben  !). Ihre generelle Erklärung als Reaktion auf die krisenhaften Folgen der ge­ sellschaftlichen und politischen Entwicklung im derzeitigen Stadium des Ka­ pitalismus läßt sich in zwei Richtungen konkretisieren. Zum einen lassen sie sich als nicht individualistische, sondern kollektive solidarische Strategien zur Ressourcenmobilisierung und für Verteilungskämpfe verstehen, denen durch innovative Originalität Erfolge beschieden sind – was sich in umgehender Ver­ marktung der von ihnen entwickelten Ausdrucksformen niederschlagen kann. Da das Bewußtsein von der kritischen Entwicklung unserer Welt in den ent­ wickelten Industrieländern von einem hohen Sockel materieller Sättigung und Konsumdifferenzierung aus einsetzt, ist viel Raum für zentrifugales Potential. Dem Durchbruch einer hedonistischen Ethik entspricht eine von Wirtschaft und Staat produzierte Anspruchsdynamik oder Anspruchsinflation. Tendenzi­ ell sind die Menschen der westlichen Gesellschaften nicht mehr so sehr vom 63 Zitiert nach Renate Rott  : Soziale Bewegungen im interkulturellen Vergleich, in  : Reinhard/ Waldmann  : Nord und Süd, Bd. 1, S. 454–469, hier 454. 64 Ebd., S. 458.

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Streben nach Lebenssicherheit oder sogar nach Lebensstandard bewegt, son­ dern vom Verlangen nach dem sehr viel knapperen Gut der subjektiven Be­ friedigung. Der Platz in der Gesellschaft wird nicht mehr durch Herkunft, Bil­ dung und dgl. festgelegt, sondern durch den subjektiven Lebensentwurf und seine Realisierungsversuche. Dafür besteht aber ein unübersehbares Angebot auf dem Markt der Möglichkeiten, mit hohem Enttäuschungsrisiko als Folge. Also bilden sich neue Gruppen nicht mehr nur aus bestimmten Situationen, sondern auch auf der Grundlage gemeinsamer Wahl eines spezifischen Selbst­ verwirklichungsprogramms. Relativ homogene Erlebnismilieus entstehen.65 Gesamtgesellschaftlich gesehen, würden die neuen sozialen Bewegungen da­ mit zu einer Art von Luxusphänomen, das sich anscheinend nur Überflußge­ sellschaften leisten können. Aber bereits das Vorkommen einer Reihe dieser Bewegungen auch in weniger entwickelten Ländern66 müßte uns eines bes­ seren belehren. Die mit dem Kampf für neue Ziele verbundene Suche nach Lebenssinn erweist sich als Reaktion auf den »Diebstahl von Identität« durch ökonomische Konzentration und politische Zentralisation, durch Verrechtli­ chung und Bürokratisierung aller Lebensbereiche, die ein kollektives Gefühl der »politischen Deprivation« auslöst, von enttäuschten Erwartungen von Möglichkeiten zur Selbstbestimmung. Frustriertes Anspruchsdenken, gewiß, aber eben nicht, oder nicht nur, von hedonistischen Ansprüchen. Habermas hat die Verhältnisse, gegen die die neuen sozialen Bewegungen reagieren, als »Kolonisierung der Lebenswelt« bezeichnet.67 Diese Metapher ist mehr als eine Metapher, meint sie doch das Grundphänomen der massiven Fremdbestim­ mung des Menschen, das genau so den politischen Zentralismus und »inneren Kolonialismus« charakterisiert, gegen den die ethnischen und regionalistischen Bewegungen rebellieren, wie die postkolonialen Verhältnisse in den ehema­ ligen Kolonien, gegen die eine Reihe fundamentalistischer Bewegungen an­ kämpfen. Offensichtlich gibt es eben doch einen gemeinsamen Nenner, den Kampf gegen den Modernisierungsdruck, und einen gemeinsamen Gegner, den modernen Staat, von dem dieser Druck nicht zuletzt ausgeht  !

65 Vgl. Gerhard Schulze  : Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt 1992. 66 Rott  : Soziale Bewegungen. 67 Vgl. Karl-Werner Brand  : Neue soziale Bewegungen. Entstehung, Funktion und Perspektive neuer Protestpotentiale. Opladen 1982, S. 28, 30 f., 63–86, 97, 101 f.

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Fundamentalistische Revolution

Revolutionär sind fundamentalistische, ethnische und neue soziale Bewegun­ gen, weil es ihr erklärtes oder selbstverständliches stillschweigendes Ziel ist, den modernen Staat partikularistisch zu dekonstruieren. Die terroristischen Gruppen, die es in allen drei Richtungen gibt, stellen insofern nur die Spitze des Eisbergs dar. Zum modernen Staat gehört es, daß eine einheitliche Staats­ gewalt die äußere und innere Souveränität über ein einheitliches Staatsvolk ausübt, das ein einheitliches Territorium bewohnt. Dabei ist ein wesentliches Kriterium, daß für alle dasselbe Recht gilt, daß alle dieselben Rechte besit­ zen oder – im Extremfall – wenigstens gleich rechtlos sind. Dieser Zustand ist keineswegs selbstverständlich, sondern Ergebnis einer langen historischen Entwicklung. Noch in der europäischen Frühneuzeit erschien der Gedanke der Rechtsgleichheit eher absurd, denn von Haus aus hatte jeder Mensch ei­ nen anderen, nämlich seinen persönlichen Rechtsstatus, freilich weniger als Individuum, denn als Mitglied einer Korporation oder Gruppe. Insofern war Recht prinzipiell ein Vorrecht, ein Privileg. Es gehörte zu seinem Wesen, daß andere sich nicht seines Genusses erfreuten. Und genau dieser Zustand wird schon im Vorfeld der fundamentalistischen Revolution durch die zunehmende, auf lange Sicht erschöpfende Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Interessen­ gruppen wiederhergestellt. Nicht nur die politischen Parteien, sondern auch die Kirchen gleichen ihr soziales Profil dem der Interessengruppen an. Und die historisch als einheitliche Organisation überkommene Universität, ideologisch als »Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden« beschrieben, wurde dem Selbstbild der Gesellschaft angepaßt und in die, einstweilen noch ungleich­ gewichtige, Gruppenuniversität verwandelt. Kurzum, die immerhin noch in Geltung befindliche rechtliche Grundausstattung des Staatsbürgers ist in den entwickelten Ländern des Westens weitgehend uninteressant geworden. Was in der aufkommenden Neo-Privilegiengesellschaft wirklich zählt, sind die Vor­ rechte, die man als Angehöriger der einen oder anderen privilegierten Gruppe zusätzlich besitzt, und sei es nur ein reservierter Parkplatz, den andere nicht haben. Wo wir statt Interessengruppen entschlossene partikularistische Bewe­ gungen einer der drei fundamentalistischen Richtungen vor uns haben, muß sich dieser Trend noch erheblich verschärfen. Der moderne Staat wird dekonst­ ruiert, entweder indem eine Fülle von Bewegungen die primäre Loyalität seiner Bürger gruppenweise an sich bindet oder indem eine solche Bewegung zwecks Durchsetzung ihrer Ziele die Macht übernimmt und den Staat entsprechend umgestaltet. Aus der Perspektive der betreffenden Gruppe mögen diese Ziele

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universalen Charakter haben, aus der Sicht des modernen Staates sind sie ein­ deutig partikularistisch. Denn der westliche moderne Staat erschöpft sich auf seinem im 20. Jhdt. erreichten Entwicklungsstand ja nicht mehr in formaler Gleichheit und Ein­ heitlichkeit, sondern beruht auf einem bestimmten Kodex von Werten und Normen, die gerne auf die Kurzformel Menschenrechte gebracht und mit der Aufklärung und der Französischen Revolution assoziiert werden, obwohl sie auf eine lange Geschichte zurückblicken können. Man könnte sie auf den Zentralbegriff der Menschenwürde reduzieren, die in dem unaufhebbaren An­ spruch des Menschen auf Selbstbestimmung besteht. Daraus ergibt sich als Grenze der eigenen Selbstbestimmung der Respekt vor der Selbstbestimmung des Anderen, d. h. aber Toleranz als grundlegendes Verfahrensprinzip der west­ lichen politischen Kultur. Weiter folgt daraus ein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber jeder Ausübung von Macht über den Menschen, ist doch Macht definitionsgemäß als Fremdbestimmung eigentlich eine Verletzung der für die Menschenwürde grundlegenden Selbstbestimmung. Diese politischen Ideale des modernen Staates erheben einen universalen Geltungsanspruch jenseits jedes kulturellen Identitätsbewußtseins. Sie leben von der Behauptung, alle Partikularismen und Fundamentalismen ein für alle Mal mit für alle Menschen gleichermaßen geltenden Werten und Normen überwunden zu haben. Ihren Verfechtern will nicht einleuchten, warum z. B. eine Frau im Islam es vorziehen mag, ihren Mann mit drei Gefährtinnen zu teilen und sich der Öffentlichkeit durch ihren Schleier zu entziehen. Sie vermögen nicht einzusehen, daß ihre Ideale mehr, als sie glauben, in der spezifischen westlichen Kultur verwurzelt sind und daß sie sich mit ihrer kompromißlosen Verfechtung möglicherweise eines gegen den Fundamentalismus gerichteten Fundamentalismus schuldig machen, wenn wir Fundamentalismus begreifen als einen Geisteszustand, in dem eine Gruppe um eines wie immer gearteten »höheren« Auftrags willen nach der Macht strebt oder die Macht behaupten möchte. Fundamentalistisch wird die partikularistische Dekonstruktion des mo­ dernen Staates durch den fanatischen Exklusivitätsanspruch ihres Rückgriffs auf das, was die jeweilige Bewegung für die tiefsten Wurzeln der menschli­ chen Existenz hält und was demnach die Identität des Menschen ausmachen soll. Diese Wurzeln stehen nicht zur Diskussion. Sie müssen nicht unbedingt göttlichen Ursprungs sein, bleiben aber verabsolutierte Wahrheit und nicht hinterfragbares Tabu. Es kann sich also um Religionen so gut wie um QuasiReligionen oder »säkulare Religionen« handeln  ; entscheidend ist, daß in jedem Falle Wertvorstellungen und Verhaltensnormen als nicht hinterfragbar und

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bedingungslos gültig vermittelt und angenommen werden. Hohe emotionale Besetzung macht sie gegen Einwände immun. Diese Emotionalisierung rührt daher, daß es sich für die beteiligten Menschen um nicht weniger als ihre Iden­ tität handelt, denn nicht ihre Rolle als Bürger eines modernen Staates, sondern ihre Rolle als Mitglied einer in diesem Sinne fundamentalistischen Bewegung ist für sie die Lebensmitte. Das bedeutet aber  : »Jede Weltanschauung kann grundsätzlich fundamentalistischen Charakter annehmen, wenn sie von ihren Vertretern nicht – oder nicht mehr – reflektiert wird.«68 Das Reflexionsverbot für das Denken wie der Fanatismus des Verhaltens mögen häufig genug in Ver­ unsicherung angesichts der geschichtlichen Entwicklung, oft schlicht in Angst vor der Moderne gründen. So konnte der Fundamentalismus als Aufschrei ei­ nes zutiefst verwundeten Glaubens bezeichnet werden, anders ausgedrückt, als Glaube, der um seine eigene Beliebigkeit weiß und doch nichts davon wissen will, weil dies Unglaube bedeuten würde. Fundamentalismus als Unglaube, der sich nicht wahrhaben will  ?69 Wo aber der Anspruch auf Durchsetzung der Wahrheit, in deren Besitz man sich weiß, an die Stelle von Toleranz und der Partikularismus, eine der drei Richtungen des Fundamentalismus, an die Stelle des Universalismus der west­ lichen politischen Kultur tritt, da ist der moderne Staat in seiner herkömmli­ chen Gestalt in Frage gestellt. Die Durchsetzung des Anspruches bedeutet Re­ volution, die fundamentalistische Revolution, die wir an der einen oder anderen Stelle bereits erleben konnten. Der Begriff der fundamentalistischen Revolution gewinnt an Plausibilität, wenn wir mit Eisenstadt auch und gerade den religiösen Fundamentalismus trotz seiner rückwärts gewandten Ideologie als eine durch und durch moderne, als eine jakobinische Bewegung verstehen. Damit ist der totalitäre Wille zu ei­ ner utopischen Neugestaltung der Welt gemeint, der ungeachtet reaktionärer Parolen eo ipso als zukunftsgewandt und in seinem Einheitlichkeitswillen als modern gelten muß.70 In den beiden anderen Zweigen des Fundamentalismus, dem ethnischen und dem sozialen, mag der totalitäre Anspruch geringer ent­ wickelt sein, aber dafür dürften die jeweiligen Ideologien weniger »reaktio­ nären« Charakter besitzen. Es fehlt nicht an Anzeichen dafür, daß sich die 68 Christian J. Jäggi/David J. Krieger  : Fundamentalismus. Ein Phänomen der Gegenwart. Zü­ rich 1991, S. 15–17, 188f. 69 Vgl. Christoph Türcke  : Die pervertierte Utopie. Warum der Fundamentalismus im Vor­ marsch ist, in  : Die Zeit 10.4.1992, S. 67 f. 70 Shmuel Noah Eisenstadt  : Fundamentalism as a Modern Jacobin Movement. (Unveröffent­ lichtes Manuskript, das mir Herr Eisenstadt freundlicherweise zugänglich gemacht hat.)

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Kader aller drei Richtungen aus demselben Milieu rekrutieren, den sozial und politisch frustrierten, »modern« Gebildeten der Mittelschicht. Es ist aber noch zu früh für den Versuch, sämtliche Spielarten des revolutionären Fundamenta­ lismus als Ergebnis von (Fehl-)Leistungen des westlichen Bildungssystems und seines weltweiten Exports zu deklarieren.

Kollektives Gedächtnis

Wenn die Führer auch bei den religiösen Fundamentalisten nicht oder nicht nur aus dem Kreis der traditionalen Autoritäten stammen, sondern durch­ aus »modern« gebildet sind, erklärt sich auch die »selective appropriation of tradition in a manner which is simultaneously revivalist and futurist«.71 So kommt Traditionalismus im Sinne von Rothermund zustande, d. h. nicht unre­ flektiertes Leben nach einer Tradition, sondern Ideologie, selektive Interpreta­ tion von Tradition, die Solidaritäts- und Identitätsstiftung zum Ziel hat und deshalb solche Elemente der realen Tradition, die mit diesem Ziel nicht zu vereinbaren sind, entweder schlicht verleugnet oder apologetisch umzudeuten versucht, wie z. B. die indischen Nationalisten das ihren Vorstellungen von Indien widersprechende Kastenwesen.72 Wie selbst wissenschaftliche Histo­ riographie das Prinzip des Verschweigens oder der »Vermeidung« praktiziert, wurde gerade wieder an der Geschichte Syriens unter französischer Kontrolle demonstriert.73 So wurde und wird in China versucht, die Geschichte der in­ nerasiatischen Völker zu verschweigen, denn es gehört offensichtlich zu einer erfolgreichen fundamentalistischen, ethnischen und sogar sozialen Bewegung, eine authentische, zur Identitätsstiftung geeignete Geschichte zu haben. Selbst Historiker, die sich zum Prinzip unparteiischer Wahrheitssuche bekennen und sogar subjektiv davon überzeugt sein mögen, diesem ihrem Prinzip gerecht geworden zu sein, sind nicht über jeden Zweifel erhaben, wie jüngst wieder an Spitzenleistungen der britischen Historiographie des 18. Jhdts. demonstriert

71 T. N. Madan  : The Double-Edged Sword  : Fundamentalism and the Sikh Tradition, in  : Marty/ Appleby, Bd. 3, S. 594–627, hier 619. 72 Dietmar Rothermund  : Der Traditionalismus als Forschungsgegenstand für Historiker und Orientalisten, in  : Saeculum 40 (1989) S. 142–148. 73 Birgit Schäbler  : Das Prinzip der »Vermeidung«  : der Große Syrische Aufstand 1925–1927 gegen das französische Mandat in der französischen und syrischen Geschichtsschreibung, in  : Saeculum 45 (1994) S. 195–212.

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wurde.74 Heutzutage diskutiert man ganz offen über die Zweckmäßigkeit von bestimmten Bausteinen des Geschichtsbildes. Soll man im Nahen Osten z. B. die kurdische Abstammung des großen Sultans Saladin aus dem 12. Jhdt. er­ wähnen und damit möglicherweise dem kurdischen Nationalismus und Se­ paratismus Vorschub leisten  ? Soll man seinen Eifer als Moslem herausstellen und damit einen Beitrag zur ideologischen Ausgrenzung der Christen aus dem Gemeinwesen der Gegenwart leisten  ? Oder soll man schlicht die Themati­ sierung von Gruppen- und Religionszugehörigkeit verbieten, wie in Syrien geschehen  ?75 Im besonderen Maße konstitutiv ist die »Erfindung von Tradi­ tion« für ethnische Bewegungen,76 die sich dafür am Vorbild der Nationalbe­ wegungen seit dem 18. Jhdt. orientieren können.77 Im Falle der schottischen Geschichte war der Romancier »Scott the inventor«.78 Im Falle Argentiniens wurde die alte, gelehrte Latinisierung von »rioplatense« durch eine Sieges­ hymne der Unabhängigkeitszeit populär.79 Sogar die Schweiz scheint solche Konstruktionen nötig zu haben.80 Ähnliche Vorgänge lassen sich in der – wie wir sahen – ziemlich brüchigen Welt der nachkolonialen Nationalstaaten beobachten, in Indien81 oder in Afrika,82 wobei unsere besondere Aufmerk­ samkeit natürlich dem Verhältnis von wissenschaftlicher, abermals unserem westlichen Ethos mit universalistischem Anspruch verpflichteter Historie zur 74 Vera Nünning  : »In Speech an Irony, in Fact a Fiction«. Funktionen englischer Historiographie im 18. Jhdt. im Spannungsfeld von Anspruch und Wirklichkeit, in  : ZHF 21 (1994) S. 37–63. 75 Vgl. Ulrike Freitag  : Entwicklung und Probleme nationaler arabischer Geschichtsschreibung am Beispiel syrischer Historiker, in  : Saeculum 45 (1994) S. 179–194, hier 190 f. 76 Smith  : Ethnic Revival S. 87–90  ; Geoffrey M. White  : Identity through History. Living Stories in a Solomon Islands Society. Cambridge 1991. 77 Vgl. Marc Ferro  : Geschichtsbilder. München 1989  ; Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.)  : The Invention of Tradition. Cambridge 1983  ; Tonkin u. a.: History and Ethnicity. 78 Murray Pittock  : The Invention of Scotland. The Stuart Myth and the Scottish Identity 1638 to the Present. London 1991. 79 Nicolas Shumway  : The Invention of Argentina. Berkeley 1991. 80 Vgl. Guy P. Marchal/Aram Mattioli (Hg.)  : Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität. Zürich 1992. 81 Vgl. u. a. G. Prakash  : Writing Post-Orientalist Histories of the Third World  : Perspectives from Indian Historiography, in  : Comparative Studies in Society and History 32 (1990) S. 383– 408  ; S. Sarkar  : Many Worlds  : the Construction of History in Modem India, in  : Storia della storiografia 19 (1991) S. 61–72. 82 Vgl. B. Jewsiewicki/D. Newbury (Hg.)  : African Historiographies. What History for Which Africa  ? London 1986  ; Caroline Neale  : Writing »Independent« History  : African Historiography, 1960–1980  ; dazu eher subjektiv A. A. Mazrui  : Political Values and the Educated Class in Africa. London 1978, bes. S. 91–94 und Leopold Sedar Senghor  : Mein Bekenntnis. Leipzig 1991.

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volkstümlicheren Produktion des kollektiven Gedächtnisses gehört. Ist Hopkins tatsächlich ein besserer Historiker Westafrikas als Rodney, weil er behandelt, was war, und nicht, was nicht war, aber hätte sein sollen, und nichts ver­ schweigt, was seiner Auffassung widerspricht  ?83 Immerhin reduziert er die für das populäre kollektive Gedächtnis kennzeichnende Willkür der Auswahl. So wurde zu dem für das kollektive Gedächtnis der Afroamerikaner bedeutsamen Beitrag Alex Haleys bemerkt, daß er nicht im afrikanischen Gambia, sondern im europäischen Irland gelandet wäre, wenn er statt der »roots« seiner Mutter diejenigen seines Vaters gesucht hätte.84 Aber wo quellenkritische Historie des eigenen Landes fehlt, fällt der Litera­ tur die zentrale Rolle als Medium der Selbstvergewisserung zu. Ihr Geschichts­ bild kann freilich nur eklektisch und mythisch sein, der Legende den Vorzug vor der Historie geben, denn die Legende erweist sich als »wahrer« und großzü­ giger als die Geschichte. So avanciert z. B. der antike Numidier Jugurtha zum ersten Algerier und schon 1948 führt Ait Achmed in einem Bericht vor dem Zentralkomitee der PPA die Tradition des Volkskrieges gegen die Invasoren auf ihn zurück.85 Man sollte sich freilich hüten, mit dem Begriff des vom kollektiven Gedächtnis produzierten Mythos von vorneherein die Vorstellung von Unwahrheit zu verbinden. Die Wahrheit des Mythos ist eine andere als Wahrheit im Sinne experimentell nachprüfbarer Richtigkeit. Der Mythos disponiert auch über solche Wahrheit, aber er reduziert dabei Komplexität, verarbeitet sie zu an­ schaulichen Gesamtvorstellungen des kollektiven Gedächtnisses. So kann an der Tatsächlichkeit der administrativen Massenvernichtung der Juden durch die deutschen Nationalsozialisten kein Zweifel bestehen. Aber ins kollektive Gedächtnis der Deutschen scheint sie erst vollständig aufgenommen worden zu sein, als sie mit dem der antiken Mythologie entnommenen Begriff »Holo­ caust« (»holocaustum« = »Brandopfer«) und dem gleichnamigen Film zu einer Art Gesamtvorstellung geworden war. Umgekehrt war sie von Anfang an ein Gründungsmythos des Staates Israel, dessen multimedial geförderte identitäts­ stiftende Wirkung dort besonders deutlich wird, wo israelische Nachkommen jemenitischer Juden, deren Vorfahren vermutlich nie etwas von der Existenz 83 Neale S. 172f. 84 Schlesinger S. 85. 85 Henning Krauss  : Revolutionsmythen im Algerienkrieg, in  : Dietrich Harth/Jan Assmann (Hg.)  : Revolution und Mythos. Frankfurt 1990, S. 289–312, bes. 293 f., vgl. auch Maria Luisa Nunes  : Becoming True to Ourselves. Cultural Decolonization and National Identity in the Literature of the Portuguese Speaking World. Westport 1987.

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Deutschlands gehört hatten, beim Studium in Deutschland ihre Identität aus der Vorstellung vom Holocaust beziehen. Angeblich taucht bei Israelis der drit­ ten und vierten Generation heute eine Abneigung gegen diesen allzu negativ empfundenen Gründungsmythos auf. »Holocaust« ist zugleich der wichtigste Fall spiegelbildlicher Geschichtsmy­ then, die bei zwei Gruppen auftauchen, aber bei der einen zum positiven Be­ stand des kollektiven Gedächtnisses gehören, bei der anderen zum negativen. Allerdings ist es die Art des kollektiven Gedächtnisses, solche Negativbilder möglichst nicht wahr haben zu wollen, sie zu eliminieren und zu verschweigen. Franz Josef Strauß wurde auf diese Weise zum prominentesten Sprachrohr des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen. Spiegelbildliche Mythen dieser Art spielen heutzutage vor allem in der postkolonialen Diskussion eine Rolle und sind insofern konstitutiv für manche der hier untersuchten Bewegungen. Wir möchten hoffen, daß unsere kritische Auseinandersetzung damit nicht als Ex­ kulpationsstrategie im Sinne einer postkolonialen Säuberung des westlichen kollektiven Gedächtnisses mißverstanden wird. Aber sowenig Historiker sich jemals vom kollektiven Gedächtnis ihrer eigenen Kultur zu lösen vermögen, sowenig können ihnen ständige Anstrengungen erspart bleiben, diese Abhän­ gigkeit ins Bewußtsein zu heben und damit wenigstens teilweise zu vermindern.

… und die Folgen  ?

Der 1906 geborene Leopold Sedar Senghor war ein maßgebender Vertreter der négritude, einer kulturellen Authentizitätsbewegung schwarzer Intellektuel­ ler vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. In diesem Sinn proklamierte er die négritude als besondere Art, Mensch zu sein  : mehr Seele als Denken. Aber er artikuliert dies nicht nur in französischer Sprache, sondern ist als Mitglied der Académie Française überzeugter Anhänger der Frankophonie und der von Frankreich verkörperten »universalen Kultur«.86 Doch heutzutage wirkt er mit diesen Auffassungen seiner Generation wie ein Fossil des modernen Universa­ lismus in einer Welt des postmodernen Partikularismus. Was heute von der fundamentalistischen Revolution angesagt wird, ist die plural society älterer Kolonialhistoriker,87 die multikulturelle Gesellschaft der 86 Senghor  : Bekenntnis. 87 Vgl. J. S. Furnivall  : Netherlands India. A Study of a Plural Economy. Cambridge 1944  ; M. G. Smith  : The Plural Society in the British West Indies. Berkeley 1965.

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westlichen Diskussion, in der mehrere kulturelle und soziale Einheiten neben­ einander (nicht unbedingt gleichberechtigt  : vgl. Israel) existieren, ohne sich zu vermischen. Jede hat ihre eigenen Werte und Ziele, ist kulturell autark. Die Ge­ sellschaft als Ganzes, sofern man von einer solchen überhaupt noch sprechen will, hat keinen gemeinsamen sozialen Willen mehr und wird nur noch durch die Macht des Staates und etliche ökonomische Interessen zusammengehal­ ten  : ihre Bestandteile begegnen sich nur noch auf dem Markt. Die politische Identitätsphilosophie der Volkssouveränität ist als Fiktion entlarvt und durch konkurrierende Gruppenidentitäten ersetzt. Gegen diese Entwicklung wäre nichts zu sagen, wenn sie nicht, wie die Er­ fahrung zeigt, zwei höchst bedenkliche Folgen mit sich brächte. Zum einen kennt der Prozeß der Dekonstruktion des modernen Staates, einmal in Gang gesetzt, keine Grenzen. Es ist prinzipiell nicht einzusehen, weshalb nicht stän­ dig neue Gruppen auftreten und ihre Ansprüche auf Kosten jener anmelden sollten, die bisher erfolgreich gewesen sind. Die partikularistische Fragmentie­ rung läßt sich feist bis ins Unendliche fortsetzen. Noch bedenklicher erscheint die gewollte Borniertheit der partikularistischen Bewegungen, vor allem wenn sie bewußt auf vormoderne Kulturtradition zurückgreifen. »Der Rückgriff auf autochthone Kulturelemente und ihre Revitalisierung als Ant­ wort auf die Krise verschärfen die kulturelle Fragmentierung in der heutigen Welt. Wo kulturelle voraufklärerische Partikularitäten vorherrschen […], gibt es keinen weltweit verbindlichen universalen Diskurs mehr.«88

Mit anderen Worten, die Selbstghettoisierung der fundamentalistischen Bewe­ gungen ist nur der Ausdruck eines generellen Rückfalls hinter den mühsam errungenen Entwicklungsstand der intellektuellen und politischen Kultur. Durch einfache Erklärung bedrohlicher komplexer Sachverhalte definiert die fundamentalistische Gruppe Identität und produziert Solidarität. Dabei spielt die Ausgrenzung Dritter eine große Rolle, die Stützung der eigenen Iden­ tität durch ein negatives Bild Außenstehender, kurzum, die Präsentation eines Gegners. Selbstbilder leben von Feindbildern, Identität lebt von Alterität. Das Weltbild der Gruppe ist ja ebenso geschlossen wie diese selbst  ; es ist schlicht und zweigeteilt. Es gibt die Guten – das sind wir – und die Bösen – das sind die Anderen. Streng dualistisch hat nur die Wahrheit Existenzberechtigung. Daraus ergibt sich dann Dialogverweigerung, ja Dialogunfähigkeit und konsequente 88 Bassam Tibi  : Die Krise des modernen Islam S. 267.

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Intoleranz. Natürlich wird der Endsieg dem Guten und Wahren, sprich der eigenen Gruppe gehören müssen – Endzeitmythen tauchen auf. Nach innen unterwirft sich die Gruppe in vielen Fällen strenger gegenseitiger Kontrolle bis zu totalitären Tendenzen. Gruppenkult steigert die Kohärenz, bisweilen auch der Kult eines charismatischen Führers. Hochgradige Emotionalisierung im Guten wie im Bösen ist ja selbstverständlich. Dabei sind Symbole und sym­ bolische Inszenierungen von hohem Wert. Kostümzwang kommt vor, bis hin zur Uniformierung. In Geschichte wie Gegenwart hat häufig die Barttracht hohen Identifikationswert für männliche Gruppenmitglieder – und ihre Geg­ ner. Nachweislich ist auch regionales Brauchtum oft alles andere als »urwüch­ sig«, sondern relativ jungen Ursprungs und sorgfältig inszeniert. Wenn es sich um Anti-Aufklärung handelt, ist auch das Geschichtsbild nicht von wissen­ schaftlicher Neugier und kritischer Vernunft geprägt, sondern mit Werten und Emotionen besetzt. Die Rehabilitation des Vorurteils wird aus einem herme­ neutischen Kunstgriff zur politischen Tugend. Das kollektive Gedächtnis der Gruppe weiß intellektuelle und emotionale Legitimation von Gruppenzielen aus der Geschichte zu erheben und zu diesem Zweck die Vergangenheit nach selektiver Sichtung immer neu zu aktualisieren. Kann man von dieser Entwicklung andere als negative Ergebnisse erwarten  ? Wo eine derartige Gruppe die Macht übernimmt, ist günstigstenfalls mit Miß­ achtung des oft noch gar nicht durchgesetzten Grundsatzes der Rechtsgleich­ heit zu rechnen, ungünstigstenfalls mit nacktem Terror. Der Weg von algeri­ schen zu iranischen Verhältnissen ist nicht zu verkennen. Wo es bei einer sich steigernden Rivalität einer Mehrzahl derartiger Identitätsmuster bleibt, sind fortschreitende Polarisierung der Gesellschaft und Desintegration des Staates zu erwarten. Der Weg von nordirischen zu bosnischen Verhältnissen ist nicht zu verkennen. Das Problem liegt nicht nur in der Fixierung unseres Bewußt­ seins auf die universalistischen Modelle der Aufklärung und des modernen Staates, sondern auch darin, daß die praktischen Erfahrungen mit der funda­ mentalistischen Revolution bislang fast nur negativ gewesen sind. Theoretisch sind die Perspektiven an sich gar nicht so ungünstig. Man braucht sich nicht damit zu trösten, daß die Chancen für eine Machtergrei­ fung islamischer Fundamentalisten in der Mehrzahl der betreffenden Länder weniger gut stehen, als uns Presseberichte glauben machen möchten. Man kann sich auch zu einem Perspektivewechsel bewegen lassen und den moder­ nen Staat, gegen den die fundamentalistischen Bewegungen rebellieren, statt als Verwirklichung aufgeklärter Ideale als Leviathan, als menschenverachtendes Ungeheuer, betrachten, auch wenn er nicht überall so harsch vorgeht wie in

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China. Sind die fundamentalistischen Bewegungen nicht großenteils aus der alten anarchistischen Sehnsucht des Menschen geboren, die in Sinngebung und Lebenspraxis statt anonymer Fremdbestimmung durch undurchschaubare Rie­ senorganisationen endlich Selbstbestimmung in überschaubaren und vom Be­ troffenen selbst kontrollierbaren Einheiten haben möchte  ? Erstaunlicherweise scheinen sie auf das von der alten katholischen Soziallehre verkündete – und von der katholischen Kirche stets gründlich mißachtete – Subsidiaritätsprinzip hinauszulaufen, nach dem größere Organisationen streng genommen nur dort berechtigt sind und eingreifen dürfen, wo einzelne und kleinere Einheiten ihre Aufgaben nicht aus eigener Kraft bewältigen können. Aber die theoretische Perspektive mag noch so eindeutig ausfallen, es mag z. B. sogar genau zu berechnen sein, wie das nachkoloniale Sprachenproblem in Afrika zu bewältigen ist,89 das Modell einer dezentralen, pluralistischen multikulturellen Gesellschaft mag noch so überzeugend aussehen – angesichts der gegebenen Verhältnisse und der normalen menschlichen Schäbigkeit er­ scheinen die praktischen Probleme schwer zu bewältigen.90 Kann man z. B. die hergebrachten Grundsätze menschenwürdiger Behandlung ignorieren, wenn es um das Verhältnis der einzelnen Gruppen zu ihren Mitgliedern geht  ? Kann man sich wirklich darauf verlassen, daß Marktmechanismen zur Regulierung der Beziehungen zwischen Gruppen ausreichen  ? Kann man es sich leisten, die Bedürfnisse der Mehrheit, wo es eine gibt, nach Sicherung ihres Status und ihrer Identität außer Acht zu lassen  ? Bereits das anscheinend so simple Pro­ blem eines Minimalkonsenses für Verhaltensnormen kann unüberwindliche Schwierigkeiten schaffen, denn sobald eine bestimmte kulturelle Praxis einer Gruppe anderen Gruppen untragbar erscheint und kritisiert wird, entwickelt sie sich unausweichlich zu einem Palladium der betreffenden Gruppenidenti­ tät. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, daß schon das unabdingbare Mini­ mum pragmatischer Verständigungsbereitschaft zwischen den Gruppen nicht zum moralischen Nulltarif zu haben ist, sondern bereits die Orientierung aller an einem übergeordneten Prinzip voraussetzt  !

89 David D. Laitin  : Language Repertoires and State Construction in Africa. Cambridge 1992, bes. S. 117 f. 90 Vgl. Harry Goulbourne  : Ethnicity and Nationalism in Post-Imperial Britain. Cambridge 1991, bes. S. 234–242.

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Wenn ich bedenke, was ich täglich für unerbetene E-Mails erhalte, dann scheint mir, daß es für unsere Zeitgenossen vor allem zwei Werte gibt, nämlich Geld und Sex, beides ziemlich gewöhnliche Dinge. Nun besteht die Welt zwar nicht nur aus Spam, aber auf etwas höherem Niveau handelt es sich beim in Geld ge­ messenen beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg sowie bei der Liebe tatsäch­ lich um zentrale Werte unserer Kultur und Gesellschaft, freilich solche, die so gewöhnlich und alltäglich sind, daß sie als Werte, an denen wir uns orientieren, kaum noch wahrgenommen werden. Daß es sich dennoch um solche, und zwar von zentraler Bedeutung, han­ delt, wird uns aber sofort klar, wenn wir unsere Kultur und Gesellschaft dem Kontrast eines historischen Längsschnitts und kulturanthropologischen Quer­ schnitts aussetzen. Dann stellt sich nämlich heraus, daß die gewöhnliche Pro­ duktion und Reproduktion des Menschen selbstverständlich überall ihre wich­ tige Rolle spielten und spielen, aber nicht in derselben Weise wertbesetzt waren und sind wie bei uns. Offensichtlich handelt es sich um eine Besonderheit der Wertordnung unserer Kultur, einen grundlegenden Unterschied von anderen und einen mit weitreichenden Folgen. Jemand, der erfolgreich ein Produkt zur Marktherrschaft geführt oder eine erfolgreiche Firma geschaffen hat, kann hierzulande unbefangen und zu Recht stolz darauf sein, damit etwas Wertvolles vollbracht zu haben. Jemand wie ich, der als Denkbeamter im Staatsdienst ein bescheidenes wis­ senschaftliches Ansehen und ein winziges Familienvermögen akkumuliert hat, kann ebenfalls beanspruchen, etwas geleistet zu haben, was in unserer Gesell­ schaft als wertvoll gilt. Jemand, der frühzeitig arbeitslos wurde, fühlt sich nach unseren Wertmaßstäben zu Recht unglücklich und ohne Lebenssinn, vielleicht sogar diskriminiert und als Versager. Im europäischen Mittelalter war die Situation, was die Wertung solcher Sachverhalte angeht, eine völlig andere. Erfolgreich zu wirtschaften, strebsam einem Beruf nachzugehen, Arbeit zu haben war selbstverständlich auch damals üblich und notwendig. In die Wertwelt der damaligen Kultur konnte man damit aber nicht vorstoßen.

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Ein erfolgreicher Geschäftsmann hätte zu diesem Zweck ein Kloster, ein ge­ meinnütziges Spital oder ein Kunstwerk stiften müssen, wie es deshalb oft genug geschah, ein Beamter hätte seinem Fürsten einen Krieg gewinnen und dessen Tochter heiraten müssen – wie im Märchen –, ein Arbeiter brauchte unter Ar­ beitslosigkeit und Armut nicht zu leiden, weil sie religiös verklärt waren. Wenn er unverheiratet war, hätte er einem Bettelorden beitreten und ein Heiliger wer­ den können, das hieß im Hinblick auf Werte sogar alle anderen überholen. Es geht also bei der Beschäftigung mit Werten nicht so sehr um die Lebens­ wirklichkeit als solche, sondern um die Bedeutung, die ihr jeweils von den Menschen gegeben wurde. Denn gewirtschaftet, gearbeitet und geliebt wurde natürlich immer, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Das muß von vorn­ herein klargestellt werden. Daß diese Tätigkeiten aber nicht mehr nur als un­ vermeidliche Notwendigkeiten, sondern als ausgesprochen wertvoll angesehen wurden und werden, das war alles andere als selbstverständlich. Natürlich hat ein derartiger Wertewandel anschließend auf die Art und Weise der Ausübung dieser Tätigkeiten und damit auf Kultur und Gesellschaft zurückgewirkt. Auch davon soll die Rede sein. Zunächst aber besteht die gestellte Aufgabe darin, Ihnen unter dem vom Phi­ losophen Charles Taylor formulierten Thema1 darzulegen, wie und warum sich die Bewertung des gewöhnlichen Lebens, der produktiven und reproduktiven Aktivitäten der Menschen zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert in Süd-, Mittel- und Westeuropa so grundlegend gewandelt hat. Allerdings muß ich froh sein, wenn ich dem Wie einigermaßen gerecht werden kann, denn über das Warum streiten sich die Gelehrten nach wie vor, nicht nur wegen ihrer notorischen Streitsucht, sondern weil es nicht ganz einfach ist, einen so komplizierten Sach­ verhalt wie gesamtgesellschaftlichen Wertewandel logisch zwingend zu erklären. Hier haben es die Kulturwissenschaften schwerer als die Naturwissenschaften und müssen sich oft genug mit der Feststellung begnügen  : Eine gute Beschrei­ bung ist immer noch die beste Erklärung, die wir zu bieten haben.

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In diesem Sinne behandle ich zunächst die Ausgangslage, von der dieser Werte­ wandel seinen Anfang genommen hat, den Hintergrund, der die Vorgänge, 1 In  : Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt 1996.

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die ich zu schildern habe, erst richtig kontrastscharf hervortreten läßt. Welt­ geschichtlich wie im Kulturvergleich war die allerorten übliche Wertordnung nämlich eine andere als bei uns  ; das ist andeutungsweise schon bei unserem kurzen Blick auf das europäische Mittelalter deutlich geworden. Beginnen wir mit dem Bereich des menschlichen Wirtschaftens, wobei es sich empfiehlt, Wirtschaft im Sinne von Geld- und Marktwirtschaft, vor al­ lem von groß angelegter, von Großproduktion und Welthandel, zu unterschei­ den von körperlicher Arbeit in Landwirtschaft und Gewerbe, erstens weil die Geldwirtschaft viel jünger ist als die körperliche Arbeit, die den Menschen seit seinen Anfängen begleitet hat, und weil wir uns auch keineswegs darüber einig sind, ob es immer und überall Märkte im modernen Sinn gegeben hat, zweitens weil aus diesem Grund körperliche Arbeit und Geldwirtschaft lange Zeit getrennten Bevölkerungsgruppen zugeordnet waren. In den Stände- und Kastengesellschaften Ostasiens, Indiens und des europäischen Mittelalters wa­ ren Bauern, Handwerker und Kaufleute getrennte soziale Gruppen mit ver­ schiedenem sozialen Status  ; ein Wechsel zwischen ihnen war schwierig und wurde auf alle Fälle nicht gern gesehen. Damit stoßen wir auf einen wesentlichen Unterschied der vormodernen von der modernen Wertordnung. In allen vormodernen Gesellschaften waren die gesamtgesellschaftlich am höchsten bewerteten Lebensformen und jene Bestandteile der Kultur, die als Werte an sich galten, Eigentum der oberen Gruppen und Schichten der Gesellschaft. Arbeit gehörte nicht dazu. Natürlich waren sich die alten Griechen und Römer ebenso wie die Eliten anderer Hoch­ kulturen über die Notwendigkeit menschlicher Arbeit im klaren und wußten deren Ergebnisse durchaus zu würdigen, aber es wäre ihnen nie eingefallen, sie in ihrer alltäglichen Banalität als Dasein erfüllende Selbstverwirklichung zu verstehen. Damals galt nicht der bürgerliche Grundsatz Arbeit adelt, sondern viel eher die Formel Arbeit macht gemein. In vielen Ländern Europas verlor ein Adeliger, der es sich hätte einfallen lassen, Bauern- oder Handwerkerarbeit auszuüben oder einen Kramladen zu betreiben, automatisch seine Standeszu­ gehörigkeit, wurde zum gemeinen Mann, wie es noch im deutschen 16. Jahr­ hundert hieß. Das Mittelalter wußte nur zu gut, daß Gott den Mann zur Strafe für den Sündenfall zur Arbeit verflucht hatte, die Frau entsprechend zu den Leiden der Schwangerschaft und der Geburt (Genesis 3,16–19). Im Mittelhochdeutschen kam das Wort arebeit eher selten vor, denn es bedeutete Mühsal und Plage, so etwa im Nibelungenlied. Das französische travail leitet sich angeblich sogar vom spätlateinischen tripalium her  ; das war ein Folterinstrument. Demgemäß

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wurde Arbeit noch 1724 von einem französischen Wörterbuch schlicht als an­ strengende und ermüdende Tätigkeit definiert. Zwar galt in den Benediktiner­ klöstern der Grundsatz ora et labora, bete und arbeite, aber die Arbeit war auch dort nicht Lebensinhalt, sondern Buße. Allerdings konnte sie auf diese Weise eine gewisse spirituelle Würde, einen Wert erhalten. Der Apostel Paulus hat die Faulheit gerügt und den berühmten Grundsatz propagiert  : Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen (2 Thessalonicher 3,10), aber das bedeutete noch kein Lob der Arbeit. Denn Jesus, der Sohn des Zim­ mermanns, wird nie bei einer Arbeit beschrieben. Er scheint eine Art Ausstei­ ger-Leben geführt zu haben, schätzte die nachdenkliche Maria höher ein als die umtriebige Martha (Lukas 10,38) und pries die Vögel des Himmels und die Lilien des Feldes, die nicht arbeiten und spinnen, und doch vom himm­ lischen Vater versorgt besser gekleidet sind als Salomo in seiner Herrlichkeit (Matthäus 6,25). Demgemäß hat auch der führende Theologe des hohen Mittelalters Thomas von Aquin keine ideale, sondern eine äußerst prosaische Vorstellung von Arbeit. Sie hat seiner Meinung nach vier höchst handfesten Zielen zu dienen, erstens dem Erwerb des Lebensunterhalts – beachten Sie, noch nicht der Vermehrung des Wohlstandes, dieses Motiv taucht erst mit der Anerkennung sozialer Mo­ bilität gegen Ende des Mittelalters auf –, zweitens der Vermeidung des Müßig­ gangs, aus dem bekanntlich viele Laster entstehen, drittens, auf derselben Linie, der Zügelung fleischlicher Begierden, weil Arbeit die Lüsternheit des Körpers schwächt, viertens dem Erwerb der nötigen Mittel, um Almosen geben zu kön­ nen (Summa Theologiae 2 II, q. 187, a. 3). Demgegenüber bestand für ihn der höchste Wert schlechthin, nämlich die ewige Seligkeit im Jenseits, in der Visio beatifica, in der ständigen Anschauung Gottes, also einer Art von ewigem Mu­ ßezustand der Kontemplation. Im Gegensatz zu dem bekannten Münchener im Himmel konnte sich der mittelalterliche Dichter Dante Ali­ghieri in seiner Göttlichen Komödie darunter durchaus etwas vorstellen. Diese Wertordnung ent­ sprach völlig derjenigen der damaligen europäischen Kultur und, entsprechend modifiziert, der meisten vormodernen Hochkulturen, nicht zuletzt auch der antiken der Griechen und Römer, deren Gedankenwelt die europäische Ge­ schichte, das Christentum inbegriffen, bekanntlich entscheidend geprägt hat. Und die jeweiligen Sozialordnungen, die jeweilige soziale Schichtung, spiegelte, wie schon gesagt, diese Wertordnung getreulich wider. Der erste Stand der alteuropäischen Gesellschaft war die Geistlichkeit. Ihr, vor allem den Mönchen in den Klöstern, war Muße zugedacht zum Gebet, zur Meditation, und dann auch zur geistigen Tätigkeit, zum Bücher schreiben

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und abschreiben, wovon sich letztlich die moderne Wissenschaft herleitet, die bis vor kurzem auch noch am Prinzip der kreativen Muße orientiert war. Der zweite Stand, der Adel, war von Haus aus der Kriegerstand, dazu bestimmt, durch Tapferkeit Ehre zu gewinnen. Freilich, von der kriegerischen Aktivität abgelöst und als zweithöchster Wert des Abendlandes zum Selbstzweck ge­ worden, konnte die Standesehre steril und zum moralischen Problem werden. Nicht zufällig galt die superbia, der Stolz oder Hochmut, im hohen Mittelalter als die Hauptsünde schlechthin. In Indien waren analog die Opferer, die Brahmanen, die oberste Kasten­ gruppe, die Krieger und Herrscher die zweite, mit entsprechenden Tätigkeiten. Höchste Wertvorstellung schlechthin, an der Stelle der jenseitigen Visio beatifica des Christentums, aber strukturell dieser nicht ganz unähnlich, war der Verzicht auf jede Tätigkeit, ja selbst auf mentales Engagement, und das Aus­ löschen des Selbst, das Aufgehen in der Weltseele oder im Nirwana. In Japan mußten die buddhistischen Mönche hinter der Kriegerkaste der Samurai als erstem Stand zurückstehen, während in China wiederum eine unreligiöse und höchst prosaische Form der Muße an oberster Stelle der Wertordnung stand, die Gelehrsamkeit der konfuzianischen Elite, aus der die Beamten rekrutiert wurden, die das Reich regierten. Ohne daß es eine ähnlich ausgeprägte Stän­ dehierarchie gegeben hätte, war auch bei den Griechen und in ihrem Gefolge den Römern der gelehrten Theoria, der Reflexion über Gott und die Welt, der höchste Platz in der Wertordnung zugedacht. Zumindest in klassischer Zeit, als sie noch nicht von ihren Monarchen entmündigt waren, gehörte zum guten Leben antiker Männer aber noch ein Zweites, die politische Tätigkeit, die höchst aufwendige Teilnahme am Leben der Polis, des Gemeinwesens. Zu beidem war viel Muße, viel freie Zeit nötig, so daß der klassische Polisbürger wirtschaftlich gesehen höchstens ein Teilzeitarbeiter sein konnte. Die schwere Arbeit taten in allen Fällen die anderen, in der klassischen An­ tike vor allem die Sklaven, anderswo die Bauern und die städtischen Unter­ schichten. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß die Bauern in China und Japan, mochte ihre Lage in der Praxis noch so ungünstig sein, in der Theorie der gesellschaftlichen Wertehierarchie ihren Platz unmittelbar nach der Elite hatten. Im alten China waren die Krieger im Gegensatz zum Abendland und zu Japan kein besonders geschätzter Stand. Und die Kaufleute, sie moch­ ten so reich sein wie sie wollten, waren in China und Japan der niedrigste, verachtete Stand der Gesellschaft. Auch im Abendland hatten Handel und Kreditgeschäft einen schlechten Ruf, der keineswegs rein christlichen Ursprungs war, sondern abermals auf die

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Antike, insbesondere Aristoteles zurückging. Erstens galten Geschäfte über den unmittelbaren Bedarf des eigenen Haushalts hinaus tendenziell als unmora­ lisch  ; wer sie betrieb, war automatisch dem Verdacht ausgesetzt, sich mit Wu­ cherpreisen unbillig zu bereichern. Das hing zweitens damit zusammen, daß die gehandelten Güter großenteils nicht unmittelbar lebensnotwendiger Luxus waren – mit billigeren lohnte sich nämlich der Handel nicht –, ihr Vertrieb infolgedessen ein Rüchlein von Verführung zur Sünde einerseits, von unverant­ wortlicher Verschwendung knapper Ressourcen andererseits an sich hatte. Und was drittens Kredit gegen Zins angeht, so war nicht klar, aus welchem Grund Geld sich auf diese Weise ohne irgendeine Tätigkeit seines ursprünglichen Be­ sitzers vermehren sollte, von biblischen Verboten ganz abgesehen. Beachten Sie in diesem Zusammenhang, daß strenge Moslems heute noch das Zinsnehmen ablehnen und in manchen islamischen Ländern ein alternatives Bankwesen aufgebaut haben. Insgesamt wurden Arbeit und Marktwirtschaft in der Vormoderne zwar als unvermeidlich akzeptiert, aber überwiegend als notwendige Übel, weit davon entfernt, mit irgendwelchen Werten besetzt zu sein. Und wo es Ansätze dazu gab, etwa beim klösterlichen Prinzip des Ora et labora, da waren sie ande­ ren Ursprungs, nicht auf diese Tätigkeit selbst bezogen, sondern auf einen ihr fremden höheren Zweck, im Falle der Mönche die Buße. Auch zahlreiche griechische Polisbürger begnügten sich nicht damit, durch Produktion und Handel reich zu werden und allenfalls das Leben zu genie­ ßen. Vielmehr stand einem durchaus marktwirtschaftlichen Verhalten auf der Einnahmenseite ein für unsere Begriffe absurdes Verschleudern der Mittel auf der Ausgabenseite gegenüber. Unsummen wurden für öffentliche Einrichtun­ gen der eigenen Stadt, etwa Bauwerke, ausgegeben, die anders nicht zustande gekommen wären, mit dem einzigen Zweck, durch Gemeindebeschluß zum Dank eine ehrende Inschrift oder gar eine Ehrenstatue gewidmet zu bekom­ men. Abermals begegnet uns die Ehre als höchster oder zweithöchster, völ­ lig wirtschaftsfremder Wert. Die Völkerkunde hat uns gelehrt, daß derartiges Verhalten keineswegs außergewöhnlich war. Berühmt war vor allem der soge­ nannte potlatch bei den Indianern der Nordwestküste Nordamerikas, das waren regelrechte Orgien des Verschenkens und Zerstörens wertvoller Güter mit dem alleinigen Zweck, Ansehen zu gewinnen und Rivalen zu demütigen, die sich so etwas nicht leisten konnten. In begrenzterem Umfang war solches Verhal­ ten auch für den europäischen Adel einschließlich vieler Monarchen selbstver­ ständlich. Zwar wurde das Geld häufig bereits mit relativ modernen Methoden erworben, aber ausgegeben wurde es mit hemmungsloser Großzügigkeit, um

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die Fürsten- und Aristokratentugend liberalitas, Freigiebigkeit, zu praktizieren und auf diese Weise Ehre zu erwerben. Ganz ähnlich wie Arbeit und Wirtschaft war auch die Liebe als solche nicht wertbesetzt, sondern stand im Dienste anderer, höherer Werte. Ich wiederhole  : Selbstverständlich gab es schon immer Sexualität mit allen ihren ungewöhn­ lichen Spielarten, selbstverständlich gab es schon immer Liebespaare, sich lie­ bende Eheleute und auch die elterliche Liebe für die Kinder, ungeachtet kul­ tureller Unterschiede im Detail. Aber das alles war kein Wert an sich, sondern entweder nur Mittel zum Zweck oder allenfalls mehr oder weniger geduldete Praxis ohne eigene Bedeutung. Zweck der Fortpflanzung und maßgebender Wert, an dem sich in diesem Bereich alles orientierte, war die Familie, deren Er­ haltung und Weiterleben in der Zukunft. Wie bereits angedeutet, waren auch Arbeiten und Wirtschaften darauf ausgerichtet  ; Gewinne wurden nämlich in dem Augenblick verdächtig, in dem sie über das für den Unterhalt der Familie nötige Maß, über die sogenannte Hauswirtschaft hinausgingen. Geschichte und Völkerkunde haben von zahlreichen verschiedenen Fami­ lien- und Haushaltsformen zu berichten. In der überwiegenden Zahl der Fälle handelt es sich dabei aber um männlich dominierte Familien. Die weltweit übliche und erst heute hinfällig gewordene Arbeitsteilung der Geschlechter, die der Frau die »Innenpolitik«, dem Mann die »Außenpolitik« des Haushalts zuwies, wobei zur »Außenpolitik« nicht zuletzt auch die Politik im eigentlichen Sinn und die kriegerischen Aktivitäten zählten, lief zwar keineswegs grundsätz­ lich und überall auf völlige Unterdrückung und Entmündigung der Frau durch das Patriarchat hinaus, wie uns radikale Feministinnen weismachen wollten. Zumindest im vormodernen Europa konnte die Hausfrau durchaus die starke Stellung eines second in command erlangen. An der männlichen Vorherrschaft bestand aber auch hier kein Zweifel. Das bedeutet aber, daß die Aufwertung der Liebe als eines partnerschaft­ lichen Verhältnisses auf Gegenseitigkeit ein gewisses Maß von Emanzipation der Frau voraussetzt. Das war schwieriger, als zu einer Aufwertung der wirt­ schaftlichen Aktivitäten der Männer zu gelangen. Aus diesem Grund stieß die Aufwertung der Liebe auf mehr Widerstand und brauchte länger, so daß ich für das 14. bis 17. Jahrhundert auch weniger davon zu berichten habe. Es heißt zwar, die Liebe als wertbesetztes Phänomen sei im 12. Jahrhundert erfunden worden, und zwar an zwei Stellen, als mystische Gottesminne mit recht handfester Sexualsymbolik in den Klöstern und als literarisch verklärter Frauenkult bei den Minnesängern, den Troubadouren, also in beiden Fällen mit einer gewissen Emanzipation von Frauen verbunden. Gerade deshalb wird

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aber auf den ersten Blick klar, daß es sich hier um elitäre Ausnahmeerscheinun­ gen handelt und von Aufwertung des gewöhnlichen Liebeslebens ganz und gar nicht die Rede sein kann. Im Gegenteil, vom normalen Ehemann wurde gerade nicht erwartet, daß er seine Frau leidenschaftlich liebte. Leidenschaft galt als Hurerei und blieb gegebenenfalls außerehelichen Beziehungen Vorbehalten, die aber gerade nicht als wertvoll, sondern als verwerflich galten. Keineswegs zufällig hatte der legale und akzeptierte Geschlechtsverkehr den schönen Namen die eheliche Pflicht. Selbst ein so »aufgeklärter« Zeitgenosse wie der französische Skeptiker Michel de Montaigne gegen Ende des 16. Jahrhunderts blieb ausdrücklich bei dieser Sicht der Dinge und war damit nicht allein.

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Meine bisherigen Ausführungen sollten also gezeigt haben, daß die Bejahung des gewöhnlichen Lebens, die hohe Bewertung der alltäglichen Produktion und Reproduktion, historisch gesehen, alles andere als selbstverständlich ist. Nicht sie war die Regel, sondern das Gegenteil, eine ganz andere Wertwelt, die ich Ihnen kurz geschildert habe. Deshalb ist strenggenommen unsere Bewer­ tung erklärungsbedürftig und nicht diejenige der anderen, denn jene ist gewis­ sermaßen »normal«, die außerordentliche folgenreiche Bejahung des gewöhn­ lichen Lebens aber der Ausnahmefall. Sie sind vielleicht erstaunt zu hören, daß wir heute die Wurzeln dieser Ent­ wicklung eher in der Entfaltung der christlich-jüdischen Tradition zwischen dem 14. und dem 17. Jahrhundert suchen und nicht so sehr in der gleichzeiti­ gen Wiederbelebung des klassischen Altertums, die man mit den Begriffen Hu­ manismus und Renaissance verbindet. Nach dem, was über die theorie- und mußeorientierte Kultur der Antike gesagt wurde, sollte aber klar sein, warum der entscheidende Anstoß nicht von dort kommen konnte. Nebenbei auch deswe­ gen, weil es sich bei Humanismus und Renaissance abermals um ausgesprochen elitäre Phänomene handelte, deren Errungenschaften nicht ohne weiteres allge­ meine Geltung erlangen konnten. Im Gegensatz dazu ging das Christentum da­ mals ganz selbstverständlich noch alle an und alle waren ganz selbstverständlich von seinen Veränderungen betroffen, die üblicherweise als spätmittelalterliche Kirchenreform, Reformation und Gegenreformation bezeichnet werden, obwohl diese traditionellen Begriffe nicht mehr ganz dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion entsprechen. Aber das ist heute nicht unser Problem.

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Die christlichen Wurzeln dieser Werterevolution stehen nur scheinbar zu der allgemein bekannten Tatsache in Widerspruch, daß es sich inzwischen längst um vollständig säkulare Werte handelt. Die moderne Bewertung der Arbeit und der Sexualität wird sogar in ihrer säkular weiterentwickelten Gestalt ge­ rade erst wieder in die Kirchen zurückimportiert. Der scheinbare Widerspruch verschwindet aber, wenn wir uns klarmachen, daß Geschichte meist nicht li­ near, sondern dialektisch verläuft. Das heißt, daß sich Säkulares nicht nur aus Säkularem und Christliches nicht nur aus Christlichem herleiten läßt, sondern daß durch unbeabsichtigte Nebenwirkungen des menschlichen Handelns et­ was der ursprünglichen Absicht Fremdes, ja sogar Entgegengesetztes entstehen kann. So wollten die Calvinisten nach Meinung des Soziologen Max Weber Gewißheit über ihr ewiges Heil haben und hätten dabei den Kapitalismus her­ vorgebracht, ohne daß dies auch nur im entferntesten in ihrer Absicht gelegen hätte. Wir benötigen die Denkfigur Dialektik, um zu verstehen, warum paradoxer­ weise ausgerechnet die erhabene christlich-jüdische Gottesvorstellung in letzter Instanz die Ur-Sache der Aufwertung des gewöhnlichen Lebens und damit un­ serer heutigen säkularen Wertwelt geworden ist. Nebenbei  : Mit christlich-jü­ disch ist gemeint, daß die Grundlagen zwar vom Judentum gelegt, Europa aber nicht direkt von dort, sondern hauptsächlich durch das Christentum vermittelt wurden. Der christlich-jüdische Gott ist seinem Wesen nach transzendent, das heißt er gehört nicht zur Welt, sondern befindet sich jenseits von ihr und hat sie von sich getrennt aus dem Nichts geschaffen. Während die Welt anderer Religionen von göttlichen Wesen bewohnt und besetzt oder sogar selbst Gott ist, hat die christlich-jüdische Welt eine gewisse Autonomie, ist Gott nur noch indirekt unterworfen, kann schließlich sogar als gottlos gedacht werden, wie es heute der Fall ist. Die Welt wird entzaubert, wie Max Weber geschrieben hat. Das bedeutet unter anderem, daß die Welt ihren eigenen Gesetzen folgen und ihre eigenen weltlichen Werte entwickeln kann, die zunächst noch einer indirekten Gottesherrschaft unterstellt werden, aber durchaus die Tendenz zur völligen Verselbständigung in sich enthalten. Genau dies ist, abstrakt ausge­ drückt, der Prozeß, um den es uns geht. Natürlich erhebt sich jetzt sofort die Frage, warum sich die Weltbejahung des gewöhnlichen Lebens erst durchsetzen mußte, wenn sie doch von Anfang an bereits angelegt war. Nach dem Philosophen Charles Taylor liegt das an der Überlagerung der ursprünglichen christlichen Botschaft durch griechi­ sches Denken, sprich griechische Wertvorstellungen, nachdem die für die frü­ hen Christen grundlegende Erwartung, das Weltende mit Christi Wiederkunft

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stehe unmittelbar bevor, enttäuscht worden war. Eine der griechischen Wert­ vorstellungen kennen wir schon, die Hochschätzung der theoretischen Welt­ schau mit gleichzeitiger Geringschätzung der gewöhnlichen aktiven Lebens­ praxis. Die andere besteht in der verschleierten Rückkehr der Gottbewohntheit der Welt durch das Eindringen der neuplatonischen Vorstellung einer aller­ orten anwesenden komplizierten Hierarchie halbgöttlicher Wesen, der Engel, oder der stoischen Idee von Gott als einer Art von Weltseele. Auf der anderen Seite heißt das aber auch, daß Ansätze zur Bejahung des gewöhnlichen Lebens in der christlichen Botschaft von vornherein bereits vorhanden waren und nur noch entfaltet werden mußten.

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Ich beginne mit dem am besten erforschten Bereich Wirtschaft, zunächst mit der Arbeit und dem damit zusammenhängenden Übergang zur Hochschätzung eines aktiven Lebens anstelle des traditionellen Ideals der kontemplativen Muße. Bei Augustinus und anderen Kirchenvätern der Spätantike galt die Arbeit des Menschen durchaus noch als freudige Fortsetzung des göttlichen Schöp­ fungswerkes und keineswegs nur als elende Schinderei infolge des göttlichen Fluches. Aber dieser Gesichtspunkt trat in den Hintergrund, als sich mit der ständischen Unterscheidung zwischen Klerus und Laien die Aufwertung des kontemplativen Lebens der Geistlichen, vor allem der Mönche, und die ent­ sprechende Abwertung des aktiven Lebens der Laien durchsetzte. Die mittel­ alterliche Theologie war eine Theologie des Klerus und des Ordensstandes und befaßte sich kaum mit den Laien. Wer die sogenannten »evangelischen Räte« Armut, Keuschheit und Gehorsam befolgte und gar noch von der bösen Welt getrennt im Kloster lebte, befand sich automatisch im Stande der Vollkom­ menheit. Etwas boshaft ausgedrückt, die Theologen, die im Besitz der Deu­ tungshoheit über die christliche Lehre waren, übten dieselbe hier zugunsten des eigenen Standes aus. Es kostet daher etwas Mühe, die ebenfalls vorhandene, einfache theologische Feststellung auszugraben, daß die Berufung zum ewigen Heil für alle gilt, auch wenn die Ordensleute es dank ihrer Lebensform da­ bei leichter haben mögen. Doch wenn die Weltleute, die nun einmal arbeiten müssen, diese Arbeit getreu verrichten, dann ist auch sie Gottesdienst und, weil auch sie zum ewigen Heil berufen sind (per vocationem), ihr göttlich legiti­ mierter Beruf. Nützliche und ehrliche Arbeit ist auch Gott wohlgefällig, predigte Berthold von Regensburg schon im 13. Jahrhundert.

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Die Reformatoren, allen voran Martin Luther, haben also mit der Beto­ nung dieses Gedankens keineswegs erstmals die Berufsarbeit geheiligt und durch diese Aufwertung der alltäglichen Arbeit den modernen Berufsbegriff geschaffen, wie es hieß, sondern im Grunde nur eine längst vorhandene Lehre verkündigt. In gewisser Hinsicht haben sie diese Bejahung des gewöhnlichen Lebens durch die Radikalität ihrer Theologie sogar sofort wieder zurückge­ nommen. Denn die Arbeit ist ein Kreuz, das der Christ im Glaubensgehorsam auf sich nehmen muß, ohne daß er dadurch irgendetwas zu seinem Heil bei­ tragen könnte. Gott allein ist die Ursache, der Mensch nur eine Marionette Gottes. Dieser klaren Lehre stand die etwas verschwommene der alten Kirche gegenüber, nach der Gott zwar ebenfalls die erste Ursache (causa prima) ist, der Mensch aber immerhin Zweitursache (causa secunda) und als solche kraft seines freien Willens zu seinem und der Welt Heil beitragen kann. Zwar wußte niemand zu sagen, wie das konkret funktionieren sollte, aber als Denkfigur war es dennoch grundlegend für die Aufwertung der Berufsarbeit. Die Reformation hat zu dieser Aufwertung aber auf andere Weise entschei­ dend beigetragen, nämlich durch die theologische und dann auch praktische Beseitigung des geistlichen Standes im allgemeinen und des Ordensstandes im besonderen. Die Rechtfertigung durch den Glauben allein, vermittelt durch Direktzugang zur Heiligen Schrift, machte den gesamten kirchlichen Heils­ apparat und sein umfangreiches Personal überflüssig. Auch das Ordensleben berief sich nach Auffassung der Reformatoren zu Unrecht auf die evangelischen Räte, sondern war in Wirklichkeit Gott ganz und gar nicht wohlgefällig. Damit konnte die alte Lehre, daß jede gut ausgeübte Tätigkeit ein Gott wohlgefälliger Beruf sei, endgültig die Oberhand gewinnen. Die polemische Stoßrichtung gegen die faulenzenden Mönche und Pfaffen brachte dabei eine Aufwertung der Handarbeit von Bauern und Handwerkern hervor. Diese blieb zwar vorübergehend, denn auch in den evangelischen Kir­ chen waren die Pfarrer bald wieder die nicht handarbeitende Führungsgruppe, traf aber mit dem gewachsenen Selbstbewußtsein der arbeitenden Bevölkerung zusammen und entfaltete insofern eine beträchtliche Wirkung. Denn neben der herkömmlichen Arbeit der Bauern waren in den Städten neue Arbeits­ formen entstanden, gewerbliche, aber auch kaufmännische und intellektuelle. Neben den verschiedenen Dienstboten in adeligen, städtischen und ländlichen Haushalten gab es jetzt die Gesellen und Lehrlinge samt den mithelfenden Familienangehörigen der Handwerker sowie die neue Form der Lohnarbeit ohne Ausbildungsverhältnis und Aufstiegsmöglichkeit, schließlich die ländli­ che Heimarbeit vor allem auf dem Textilsektor.

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Die übliche Verachtung und Verspottung des Bauern schlug in die Vorstel­ lung um, statt dem Müßiggang des Mönchs sei die Handarbeit des Bauern die vollkommenste Lebensform. Luthers Kollege in Wittenberg, Professor Andreas Karlstadt, gab demgemäß seinen Lehrstuhl auf und wurde Bauer. Der gewitzte Bauer war eine evangelische Standardfigur in den Flugschriften der Reformati­ onszeit. Vor allem die Schweizer stellten den bäuerlichen Tugenden gerne die adeligen Laster gegenüber. Die Stoßrichtung der bäuerlichen Bewegung, die im Bauernkrieg 1525 ihren Höhepunkt erreichen sollte, richtete sich nicht nur ge­ gen die Pfaffen, sondern auch gegen den Adel. Aber die bürgerliche Adelskritik ließ auch nichts zu wünschen übrig, vor allem was die Spitze gegen den Müßig­ gang und die Wertschätzung der Handarbeit anging. Als Adam pflügte und Eva spann/wo war da der Edelmann hieß es, und in der Fabel von der faulen Grille und der fleißigen Ameise redete die Ameise die Grille bisweilen als Junker an, das heißt als Adeligen. Wer diese Fabel kritisch einsetzte, konnte sich immerhin auf die Bibel berufen, wo es im Buch der Sprichwörter (5,6–11) heißt  : Geh zur Ameise, du Fauler, betrachte ihr Verhalten und werde weise. Sie hat keinen Meister, keinen Aufseher und Gebieter, und doch sorgt sie im ­Sommer für Futter, sammelt sich zur Erntezeit Vorrat. Wie lange, du Fauler, willst du noch daliegen […]  ? Da kommt schon die Armut wie ein Dieb über dich […].

Der Bauernkrieg ging vorüber, aber die Aufwertung der Handarbeit hielt sich so weit, daß stets darauf zurückgegriffen werden konnte, zum Beispiel in einem Buch über die Landwirtschaft von 1596, aus dem ich Ihnen eine Abbildung (S. 57) vorführen möchte.2 Denn diese ist insofern ein ganz besonderes Beispiel für die Bejahung des gewöhnlichen Lebens, als sie einen ganz und gar nicht gewöhnlichen Gegenstand der antiken Mythologie, der so gut wie nichts mit ländlicher Arbeit zu tun hat, zu deren Symbol umdeutet und damit zu ihrer Aufwertung benutzt. So etwas wäre 100 Jahre früher zumindest in Deutschland kaum denkbar gewesen. Eigentlich handelt es sich um das Kultbild des Gottes Mithras, das in ziem­ lich ähnlicher Form in unzähligen Kultstätten, sogenannten Mithreen, überall in Europa gefunden wurde. Denn der Mithraskult erfreute sich vor allem beim römischen Militär der Spätantike so großer Beliebtheit, daß man sogar speku­ liert hat, ob er nicht der gefährlichste Rivale des Christentums als zukünftige 2 Entnommen aus  : Konrad Wiedemann, Arbeit und Bürgertum. Die Entwicklung des Arbeits­ begriffs in der Literatur Deutschlands an der Wende der Neuzeit, Heidelberg 1979, S. 298.

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Reichsreligion gewesen sei. Doch wie dem auch sei, der ursprünglich persi­ sche Gott wurde im römischen Reich in einen Sonnengott verwandelt und als kosmischer Heilsbringer verehrt. In dieser Rolle stellt ihn das vorliegende Standard-Kultbild dar, dessen Details wegen des geheimen Charakters dieser Religion aber keineswegs völlig klar sind. Oben haben wir links den Sonnen­ gott, rechts die Mondgöttin auf ihrem Wagen, dazwischen sieben Altäre, die vielleicht die drei Tageszeiten und die vier Mondphasen verkörpern sollen. Die beiden Fackelträger links stellen oben den Tag, unten die Nacht dar, an der Haltung ihrer Fackel zu unterscheiden. Das Hauptbild zeigt wie immer den Gott Mithras, der auf einem Stier kniet, ihn beim Maul faßt und mit einem Stich in den Hals tötet, wobei kräftig Blut fließt. Ein Hund, ein Löwe und eine Schlange sind beteiligt, ein Skorpion zwickt den armen Stier in die Ge­ schlechtsteile, ein Vogel, vermutlich ein Rabe, schaut von oben zu. Die mytho­ logische Bedeutung der verschiedenen Tiere ist nicht völlig bekannt. Aber für uns kommt es sowieso nur darauf an, wie unser Autor durch seine Legende diese Vorlage auszudeuten beliebt. Sie drückt für ihn symbolisch die pflichtgemäße Tätigkeit des guten Landwirts aus (officium boni coloni exprimentis). Mithras mutiert zum besten und sorgfältigsten Bauern (K = terrae colonus, optimus et diligens agricola), der Stier (L) stellt die zu bearbeitende Erde dar, das Schwert (M) unser Thema, nämlich die Arbeit, die der Bauer einbringt, das Blut (N) die dadurch hervorgerufene Befruchtung der Erde, während die verschiedenen Tiere vor allem gute Eigenschaften des trefflichen Landwirts verkörpern sollen, der Rabe die Sorgfalt, der Hund die Liebe und Treue, die Schlange die Voraussicht usf. An der Wertschätzung der bäuerlichen Arbeit durch unseren Autor kann also kein Zweifel bestehen. Neben der bäuerlichen wurde auch die handwerkliche Arbeit, ja die ganze Lebensform des Handwerkers aufgewertet, etwa in den Texten des Nürnber­ gers Hans Sachs. Neben dem adeligen Ehrbegriff gab es jetzt eine spezifische deutsche Handwerkerehre. Dazu gehörten Fleiß und solide Arbeit, Sparsam­ keit, Mäßigkeit im Essen und Trinken sowie eine strenge Sexualmoral. Zum Beispiel wurden Uneheliche in einer Weise diskriminiert, die anderswo nicht üblich war. Natürlich waren die Handwerker auch vorher fleißig und haben nicht liederlicher gelebt als andere Leute. Aber jetzt wird eine ausdrückliche Wertordnung daraus. Dank Lyndal Roper wissen wir heute, daß diese spätmit­ telalterliche kleinbürgerliche Wertwelt durch die Reformation ihre Legitima­ tion und Bestätigung erhalten hat.3 3 Lyndal Roper, Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt a. M. 1995.

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Bekannter ist freilich der Zusammenhang, den Max Weber 1904/05 zwi­ schen dem Calvinismus und dem eher großbürgerlichen Kapitalismus herge­ stellt hat, in dem berühmten Aufsatz Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Nach Calvin könnte Gott die Welt auch direkt lenken, aber ganz im Sinne dessen, was ich vorher über Gottes Transzendenz ausgeführt habe, will er sich dabei des Menschen als Werkzeug bedienen. Darin besteht die Würde der Arbeit, auch wenn der Mensch dabei wie bei Luther eine bloße Ma­ rionette Gottes bleibt. Denn im Sinne der unerbittlichen Vorherbestimmungs­ lehre (Prädestination) ist bereits seit Ewigkeit entschieden, wer gerettet und wer verdammt wird. Die Entscheidung ist zwar gefallen und es ist insofern völlig egal, was der Gläubige tut, doch wenn er einen tugendhaften Lebenswandel führt und gute Werke verrichtet, dann könnte das ein Hinweis darauf sein, daß er zu den Erwählten gehört. Insofern war es sinnvoll, wenn Calvinisten über die alltäglichen Werke des eigenen gewöhnlichen Lebens regelrecht Buch führten, denn das war nichts anderes als die Verschriftlichung ihrer zwecks religiöser Selbstvergewisserung rational-kontrollierten Lebensführung. Nicht Calvin selbst, sondern seine Epigonen, denen die selbstbewußte Gott­ ergebenheit des Reformators fehlte, haben sich dieser Überlegung bedient, um mittels einer rational gestalteten, tugendhaften Lebensführung die Gewißheit ihrer Erwählung bereits innerweltlich zu ertrotzen. Denn die besondere Tu­ gendhaftigkeit der mönchischen Weltflucht war ja abgeschafft. Weil das Gelin­ gen dieser innerweltlichen Art asketischer Lebensführung laut Weber vor allem am wirtschaftlichen Erfolg abgelesen worden sei, habe dies den unternehmeri­ schen Gütererwerb zwar von den traditionellen, vorher erwähnten Gewissens­ vorbehalten befreit, aber nicht zum Genuß des Erworbenen, sondern nur für entsagungsvolle weitere Akkumulation. Als der religiöse Impuls zurückgegan­ gen und schließlich verschwunden war, sei kraft Verhalten prägender Gewohn­ heit nur der kapitalistische Geist als Zwang zum Erwerb um seiner selbst willen übriggeblieben. In Webers eigenen Worten  : Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein. Nun ist diese Überlegung Webers zwar in sich schlüssig und daher manchen Kapitalisten calvinistischer Herkunft immer noch hochwillkommen zur histo­ rischen Begründung ihrer Tätigkeit. Aber leider ist sie empirisch nicht zu hal­ ten. Erstens hat man Weber Fehldeutungen der theoretischen Texte nachgewie­ sen, auf die er sich bei seiner Argumentation stützt, zweitens waren die meisten Calvinisten weit entfernt davon, den Erfolg ihrer innerweltlichen Askese mit wirtschaftlichem Erfolg zu identifizieren. Das Gegenteil ist richtig. Bankiers, die Geld gegen Zins verliehen, wurden in den angeblich hochcalvinistischen

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Niederlanden bisweilen als Sünder vom Abendmahl ausgeschlossen, was im katholischen Italien eher Heiterkeit erregt hätte. Wir können Weber zwar nach wie vor folgen, soweit es um die theologische Begründung einer rationalen und arbeitsamen Lebensführung geht, aber nicht mehr, wo es sich um die Begründung des Kapitalismus handelt, die damit ja nicht identisch ist. Wo sich Protestanten ceteris paribus (wie die Ökonomen sagen) dennoch Katholiken wirtschaftlich überlegen erwiesen haben, dürfte dies eher eine nicht beabsichtigte Nebenwirkung ihrer besonders ausgeprägten Bejahung eines asketischen Arbeitslebens gewesen sein, verbunden mit der Ge­ wohnheit, in Sachen des ewigen Heils für sich selbst zu sorgen, was sich leicht auf das irdische Leben übertragen ließ. Solche Zusammenhänge lassen sich nachweisen. Vor allem aber läßt sich nachweisen, daß es eine gleichzeitige katholische Bejahung des gewöhnlichen Lebens gab, und zwar eine höchst prominente, die bemerkenswerterweise ihre Wurzeln in theologischen Versuchen aus der alten Kirche hat, den Anliegen der Reformatoren entgegenzukommen. Ihr wohl prägnantester Ausdruck ist der Aphorismus Nr. 251 in dem moralischen Handorakel des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián von 1647, wo es heißt  : Man muß die menschlichen Mittel so einsetzen, als ob es keine göttlichen gäbe, und [zugleich] die göttlichen so, als ob es keine menschlichen gäbe (Hanse de procurar los medios humanos como se no hubiese divinos, y los divinos como se no hubiese humanos). Dahinter steht der theologische Entwurf der sogenannten doppelten Gerechtigkeit, nämlich zunächst durch Gottes unverdiente Gnade und danach durch im Gnadenzustand verrichtete gute Werke. Eine gewisse Verwandtschaft mit dem Denken Calvins ist nicht zu verkennen. Demgemäß hat das Konzil von Trient diese Lehre zwar verworfen, aber sie lebte hundert Jahre später of­ fensichtlich immer noch weiter. Bezeichnenderweise stoßen wir auch hier auf die Praxis, über die eigenen Werke Buch zu führen, die uns bei den Calvinisten begegnet ist. Es ist eine katholische Theologie des Lebens in der Welt, wie sie auf andere Weise ebenso orthodox wie pragmatisch bereits François de Sales 1609 in seiner Anleitung zum frommen Leben für Weltleute gelehrt hatte. Seine Zielgruppe waren vor allem vornehme Weltleute einschließlich adeliger Damen, aber seine Lehre war allgemein anwendbar. Auch er bekämpft die irrige Vorstellung, man könne nur als Priester, Mönch oder Nonne wirklich fromm sein, ganz wie die Reformatoren, aber als katholischer Bischof, der er war, natürlich weniger radi­ kal. In seinen eigenen Worten  : Verträgt [die Frömmigkeit] sich nicht mit einem rechtschaffenen Beruf, dann ist sie gewiß nicht echt. […] Die echte Frömmigkeit

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schadet keinem Beruf und keiner Arbeit  ; im Gegenteil, sie gibt ihnen Glanz und Schönheit. […] Die Sorge für die Familie wird friedlicher, die Liebe zum Gatten echter, der Dienst am Vaterland treuer und jede Arbeit angenehmer und liebenswerter. […] Das eine wie das andere ist ja Gottes Wille […] Unter den Tugenden müssen wir jene vorziehen, die den Pflichten unseres Berufs entsprechen, [… Denn jeder] Beruf verlangt seine besonderen Tugenden. […] Lassen wir die Erhabenheit den erhabenen Seelen  ; wir […] wollen uns überglücklich schätzen, wenn wir [im Dienste Gottes] in der Küche oder Bäckerei arbeiten, seine Lakaien, Packträger und Diener sein dürfen. Die großen Gelegenheiten, Gott zu dienen, sind selten  ; kleine gibt es immer. Wer aber im kleinen treu ist, sagt der Heiland (im Gleichnis von den Talenten Matthäus 25,21), den wird man über Großes setzen. Verrichte also alles im Namen Gottes (Kolosser 3,17) und es wird gut getan sein. Ob du ißt oder trinkst (1 Korinther 10,31), dich erholst oder am Herd stehst  : wenn du deine Arbeit gut verrichtest, wirst du großen Nutzen vor Gott haben, wenn du alles tust, weil Gott es von dir verlangt.4 Freilich, ob lutherisch, reformiert oder katholisch, überall liegt der neue Wert der Arbeit nicht in dieser selbst, deren Inhalt deshalb im Grunde gleich­ gültig ist – das ist der Punkt, an dem Max Weber irrte –, sondern in der Ein­ sicht, daß durch sie Gottes Wille erfüllt wird. Hier waren italienische Hu­ manisten seit dem späten 15. Jahrhundert bereits weiter gegangen, indem sie die menschliche Kreativität, also den Inhalt der Arbeit selbst, zur Fortsetzung von Gottes Schöpfungswerk erklärten. Die bekannteste Stimme ist Giovanni Pico della Mirandola, dessen Traktat Von der Würde des Menschen (De hominis dignitate) von 1487 in seinem grandiosen Optimismus in bewußtem Gegen­ satz zu dem anthropologischen Pessimismus steht, der nicht nur die kirchliche Tradition des Mittelalters, sondern auch die Theologie der Reformatoren kenn­ zeichnete. Mittelalterliche Traktate hießen Vom Elend des Menschen (De miseria hominis). Pico ging sogar so weit, den Menschen als Abbild des Schöpfergottes nicht nur zum Gestalter der Welt, sondern sogar zum Schöpfer seiner selbst zu erklären – das moderne Prinzip der Selbstverwirklichung durch Tätigsein taucht auf. Solche Gedanken mögen bei Theologen verschiedener Herkunft Anstoß erregt haben, sie waren aber deswegen keineswegs unchristlich und rein säkular im Sinne der früheren Deutung der Renaissance. Sie waren nämlich nicht antiken, sondern gut christlichen Ursprungs. Sogar bei Calvin finden sich einschlägige Andeutungen. 4 Franz von Sales (François de Sales), Philothea. Einführung in das religiöse Leben (Introduction à la vie dévote), Eichstätt/Wien 1981.

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Daraus ergab sich auf praktischer Ebene ein Lob der Technik als Mittel des Menschen, die Natur durch seine Arbeit in den Dienst des guten Lebens zu stellen. Der Architekt Leon Battista Alberti hatte schon 1450 ähnliches ver­ lauten lassen. In diesem Sinne verkündete der Elsässer Johann Fischart 1576 grenzenloses Vertrauen in die Macht menschlicher Arbeit, wenn er reimte, al­ lerdings etwas holprig  : Dann nichts ist also schwer und scharff Das nicht die arbeit unterwarf Nichts mag kaum sein so ungelegen Welchs nicht die arbeit bringt zuwegen Was die Faulheit halt für unmöglich Das überwind die Arbeit füglich.

Obwohl Protestant, ging Fischart mit seinem Vertrauen in Arbeit und Technik weiter als alle seine Zeitgenossen, unter anderem auch darin, daß er Gott für sein Lob der Arbeit nicht mehr benötigte. Weil Arbeit nicht mehr Kreuz und Leid war wie noch bei den Reforma­ toren, sondern freudige und kreative Tätigkeit, konnte sich auch der uralte und selbstverständliche Zusammenhang von Arbeit und Armut auflösen, grob vereinfacht ausgedrückt, gearbeitet wurde bis dahin nur von dem, der es nö­ tig hatte. Natürlich wurde diese Entwicklung dadurch begünstigt, daß Arbeit längst nicht mehr ausschließlich Handarbeit war. Die selbstverständliche Zu­ weisung der Arbeit an bestimmte Schichten löste sich ebenso auf wie die damit zusammenhängende selbstverständliche Vorstellung, daß das gute Leben ein Leben in Muße sein müsse, das fromme Leben ein Leben der Betrachtung. Wir sahen bereits, daß sich noch François de Sales Anfang des 17. Jahrhunderts mit dieser Vorstellung auseinandersetzen mußte. Dabei hatte sich bereits Antonino Pierozzi, ein einflußreicher Prediger des Dominikanerordens und Erzbischof im Florenz der Medici, im 15. Jahrhun­ dert erfolgreich mit dem Problem herumgeschlagen, wie denn ein aktives Arbeitsleben gegenüber dem bisherigen kontemplativen Ideal theologisch zu rechtfertigen sei. In Florenz, einem Brennpunkt des Großgewerbes und des Frühkapitalismus, blieb ihm offensichtlich gar nichts anderes übrig. Selbstver­ ständlich griff auch er erst einmal auf die sprichwörtliche Ameise der Bibel zurück. Aber er ließ sich mehr einfallen, proklamierte zunächst einmal eine gemischte Lebensform nach dem Muster Jesu Christi, der bekanntlich immer wieder in die Einsamkeit ging, um zu beten, aber dann wieder herumrannte, wie Antoninus wörtlich schreibt (discurrebat), um zu predigen, Kranke zu hei­ len, Brot zu vermehren usf. Der Grund liegt für ihn darin, daß die Menschwer­ dung von Gottes Sohn nichts anderes war als Gottes Aktivwerden in der Welt.

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Die menschliche Arbeit deutet er mit der Auslegung des Psalmverses Nun geht der Mensch hinaus an sein Tagwerk, an seine Arbeit bis zum Abend (Psalm 104, 23) wie folgt  : Der Mensch verwirklicht sich mit Bezug zu seiner Arbeit und was er bis zum Abend, das heißt bis zu seinem Lebensabend, produziert.5 Es ist überaus bezeichnend für die veränderte Einstellung zur Aktivität, daß der wichtigste neue Orden, den die katholische Kirche in ihrer Auseinanderset­ zung mit der neuen Zeit hervorbrachte, die Gesellschaft Jesu, von vornherein im Gegensatz zur uralten Tradition des Ordenslebens auf ein aktives Leben in der Welt angelegt war. Die Jesuiten waren durch intensive spirituelle und psy­ chologische Formung sowie strenge Disziplin geprägt und nicht mehr durch lebenslange Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft am selben Ort mit einem gleichbleibenden, bis ins Detail geregelten Tageslauf. Soviel Freiheit zur Akti­ vität in der Welt wurde den Jesuiten von den kirchlichen Oberen nicht ohne Bedenken gewährt, sie wurde aber allen Frauen unerbittlich verweigert, die versuchten, analog dazu weibliche Orden ohne Klausur zu schaffen. Auch hier brauchte die Bejahung des gewöhnlichen Lebens für die Frauen mehr Vorlauf­ zeit. Aber die katholische Kirche hat dennoch das Ihrige zur Aufwertung des im weltlichen Alltag aktiven Berufsmenschen beigetragen. Die Auflösung der ständischen Ordnung hatte in England am frühesten eingesetzt  ; hier entstand nicht nur ein Markt für die Lohnarbeit ungebunde­ ner Individuen, sondern dieser wurde auch als solcher wahrgenommen. Es ist daher kein Zufall, daß im Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs Ende des 17. Jahrhunderts in diesem Milieu aus der bisherigen Aufwertung der mensch­ lichen Arbeit von John Locke 1690 ein moderner Arbeitsbegriff geformt wurde. Er kombinierte ihn mit dem zweiten Zentralbegriff modernen Wirtschaftens, dem Eigentum. Der Mensch wird jetzt als autonomes Individuum gesehen und gilt daher zunächst einmal als Eigentümer seiner selbst. Infolgedessen sind seine Arbeit und deren Ergebnis, das er durch Bearbeitung des von der Na­ tur gelieferten Rohstoffs erzielt, unbestreitbar ebenfalls sein Eigentum und der Verfügung Dritter entzogen. Arbeitskraft wurde zum unveräußerlichen persön­ lichen Besitztitel und zur Grundlage einer unabhängigen, auf Arbeit gegründe­ ten Existenz – eine wirtschaftsanthropologische Revolution. Bald konnte man sogar in einem Andachtsbuch für das weibliche Geschlecht6 lesen  : Du hast uns alle zu einem gemeinnützigen Leben, o Gott, zu Arbeit und 5 Peter Francis Howard, Beyond the Written Word. Preaching and Theology in the Florence of Archbishop Antoninus, 1427–1459, Florenz 1995, S. 245. 6 Von J. G. Marezoll, Leipzig 1798, nach Wiedemann (wie Anmerkung 2) S. 30.

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Glückseligkeit hast du uns geschaffen […] die Arbeitsamkeit ist ja wohl eine der großen Absichten, zu welchen du mich ins Dasein berufen [»] und mir mein vernünftiges Leben gegeben hast. Nur Tätigkeit ist Leben [«]. Denn der neue Arbeitsbegriff der Aufklärung, der letztlich die Würde jedes Menschen von einer angemessenen und selbst verantworteten Arbeit abhän­ gig machte, kam dem aufstrebenden Bürgertum wie gerufen. Dank der Auf­ wertung des gewöhnlichen Lebens konnte jetzt die weiterlebende Arroganz adeliger Arbeitsverachtung mit der Verachtung adeligen Müßiggangs erwidert werden, die durch eigene Arbeitsleistung legitimiert wurde. In diesem Sinne schrieb Friedrich Schiller im Lied von der Glocke  : Arbeit ist der Bürger Zierde, Segen ist der Mühe Preis  ; Ehrt den König seine Würde, Ehret uns der Hände Fleiß.

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Von geldwirtschaftlichen Aktivitäten, insbesondere dem Groß- und Fern­ handel sowie dem Geldgeschäft war bisher noch kaum die Rede. Wir waren sogar gezwungen, den Zusammenhang, den Max Weber zwischen Theologie und Kapitalismus hergestellt hatte, als unzutreffend wieder zu kappen. Es war eben, historisch gesehen, sehr viel schwieriger, diese Tätigkeiten zu bejahen als die Arbeit und die innerweltliche Aktivität allgemein. Der Grund liegt nicht nur allgemein darin, daß für Handel und Geldgeschäft in den Wertwelten der Hochkulturen nirgendwo Platz war, sondern auch in der besonderen Vorge­ schichte Europas, wo Griechen wie Christen gleichermaßen nicht allzuviel da­ für übrig hatten. Wenn Martin Luther die Handarbeit preist, dann polemisiert er damit nicht nur gegen den Müßiggang der Mönche, sondern ebenso gegen die ohne eigene Anstrengung erzielten Gewinne der Kaufleute, die er ganz traditionell im Verdacht des Wuchers hatte. Dabei finden sich bereits im Italien des 13. Jahrhunderts große Handelsund Bankfirmen kapitalistischen Zuschnitts. Denn noch lange gaben Fern­ handel und Geldgeschäft den Ton an  ; erst im 18./19. Jahrhundert sollte die Güterproduktion in den Vordergrund der Wirtschaftsentwicklung treten. Sie wurden selbstverständlich als Teil der Wirklichkeit akzeptiert, blieben aber aus der Sicht der Wertordnung deutlich negativ besetzt. Der maßgebende hoch­

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mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin behandelte solche Geschäfte als Sünden gegen die Gerechtigkeit (Summa Theologiae 2 II, q. 118  ; 1 II q. 77, a. 4, q. 78), unter dem Stichwort avaritia (Habsucht  ; die alternative deutsche Übersetzung Geiz bedeutet im alten Deutsch ebenfalls Habsucht). Denn an­ stelle der adeligen superbia, dem Stolz oder Hochmut, war inzwischen die bürgerliche avaritia, die Habsucht, zum wichtigsten Laster der Gesellschaft aufgerückt. Habsüchtiges Gewinnstreben ist Sünde, weil es gegen das rechte Maß ver­ stößt, das in dem besteht, was zu einem dem eigenen Stand in der sozialen Hierarchie entsprechenden Leben notwendig ist. Dieses Maß ist deswegen not­ wendig, weil der eine nicht Überfluß haben kann, ohne daß der andere Mangel leidet. Die Vorstellung vom wirtschaftlichen Wachstum war noch unbekannt  ; die Güter wurden als ein Kuchen von gleichbleibender Größe angesehen, den es zu verteilen galt. Handel, der notwendiger Versorgung und durch maßvollen Gewinn dem eigenen Lebensunterhalt dient, ist nach Thomas erlaubt, Han­ del mit unbegrenztem Gewinnstreben und Spekulation sind ebenso sündhaft wie Zinsnehmen. Denn der rechte Gebrauch des Geldes liegt in seinem Ver­ brauch durch Erwerb lebensnotwendiger Güter. Scholastische Kasuistik fand viele Wege, um die frühkapitalistische Praxis mit diesen strengen Grundsät­ zen einigermaßen in Einklang zu bringen. Schließlich war das Papsttum selbst eine Finanzmacht, die erfolgreich ein recht modernes Kreditwesen entwickelte. Aber das alles hieß eben nicht Bejahung, sondern Duldung. Dabei ist es in der römischen Kirche bis ins 20. Jahrhundert geblieben. Und wir sahen be­ reits, daß auch die Reformatoren alles andere als Protagonisten des modernen Kapitalismus gewesen sind. Sogar bei Max Weber wären sie es ja gegen ihre eigentliche Absicht geworden. Hier bot das Christentum kaum Ansatzpunkte zur Bejahung des gewöhnlichen Lebens, hier mußte der Anstoß aus dem welt­ lichen Bereich kommen, konnte sich allenfalls an die Bejahung der Arbeitswelt anzuhängen versuchen, die ich behandelt habe. 1428 schrieb der Humanist Poggio Bracciolini in Florenz, dem Zentrum des Frühkapitalismus, einen Dialog gegen die Habsucht (Dialogus contra avaritiam). Dieser enthält eine Verteidigung der Habsucht, die zwar pflichtschuldigst wi­ derlegt wird, aber der Leser bekommt doch den Eindruck, daß, wie häufig in den Dialogen der Humanisten, die Sympathien des Autors auf der Gegen­ seite zu suchen sind. Habsucht ist nämlich natürlich, nützlich und notwendig, weil sie den Menschen erst dazu veranlaßt, sich mit den lebensnotwendigen Gütern zu versorgen. Dabei streben alle Menschen, und gerade die Großen der Geschichte, danach, mehr zu haben, als sie brauchen (das ist die klassi­

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sche Definition der Habsucht nach Augustinus), kaum einer richtet sich nach dem Gemeinwohl. Aber nur dieser Überschuß erlaubt Almosen, Geselligkeit, Kunstwerke, die Verschönerung der Städte und die Aufrechterhaltung des Ge­ meinwesens. Erster offener Verteidiger des Handelskapitalismus wurde der Augsburger Humanist Conrad Peutinger, als die Geschäfte der Augsburger Großfirmen – er war mit Margarete Welser verheiratet – 1530 durch ein von der Nürnberger Konkurrenz geschickt lanciertes Projekt eines Antimonopolgesetzes bedroht waren. Vorgesehen waren ein Verbot bestimmter Geschäfte, eine Höchstgrenze des Firmenkapitals und eine regelmäßige öffentliche Kontrolle. Ausdrücklich wurde darauf Bezug genommen, daß statt einer Großfirma 20 bis 30 kleinere Geschäftsleute ein Auskommen finden könnten. Peutinger bestritt die Vor­ würfe gegen die Großfirmen, um dann mit der Behauptung zum Gegenangriff überzugehen, deren risikoreiche Tätigkeit und hoher Kapitaleinsatz trügen we­ sentlich zum allgemeinen Wohlstand und zum Steueraufkommen, das heißt aber zum Gemeinwohl bei. Deswegen müßten die Geschäfte unbehindert blei­ ben, denn wer würde noch ein Risiko eingehen wollen, wenn kein Gewinn winkte  ? Immerhin sicherte er das Gewinnstreben durch Hinweis auf seinen Wert für das Gemeinwohl noch gegen den Vorwurf verwerflichen Eigennutzens ab. Doch schon 1564 verzichtete Leonhard Fronsperger, von Haus aus Mili­ tärschriftsteller, in seinem Büchlein Von dem Lob deß Eigen Nutzen auf diese Pflichtübung und behauptet einfach, es gäbe keinen Gemeinnützen, sondern die ganze Welt, Ehe und Familie, Wirtschaft und Wissenschaft, werde vom Eigennützen in Gang gehalten  : der Eigen Nutz schafft und wirckt, daß nichts auff Erdtrich mangelt. Auch die Religion beruht auf Eigennützen, nämlich der Hoffnung, so in den Himmel zu kommen. Nur am Nutzen des Mitmenschen, also an dessen Eigennützen, finde der Eigennützen seine Grenze. Das blieb freilich zunächst eine vereinzelte Stimme. Die endgültige Umkehr der uralten Wertordnung, die Bejahung des gewöhnlichen wirtschaftlichen Gewinnstrebens, fand erst im 18. Jahrhundert statt. In seiner allegorischen Bienenfabel schilderte ein gewisser Bernard Mandeville 1714 einen Bienenstock7, in dem Eitelkeit und Luxus, Korruption und andere Laster herrschten, in de­ ren Akzeptanz man sich bei allen sonstigen Konflikten stets einig blieb, denn allgemeiner Wohlstand war ihre Folge. Als sich durch ein Wunder plötzlich Redlichkeit verbreitete, waren die Folgen katastrophal  : 7 Bernard Mandeville, Die Bienenfabel, oder private Laster, öffentliche Vorteile, Frankfurt 1998.

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Da man auf Luxus jetzt verzichtet, so ist der Handel bald vernichtet. Manch Handwerk mehr und mehr verfällt, Betriebe werden eingestellt. Darnieder liegt Kunst und Gewerb. Sie aller Strebsamkeit Verderb, Zufriedenheit, läßt sie genießen ihr Weniges und nichts vermissen.

Verarmung, Niedergang, politische Ohnmacht waren die Folgen. Die einzig angemessene Schlußfolgerung muß daher lauten  : Stolz, Luxus und Betrügerei muß sein, damit ein Volk gedeih.

In der Tat, um dieselbe Zeit, als die Arbeit, wie gesagt, ihre anscheinend na­ turgegebene Verbindung mit der Armut verlor, kam man auch von der alther­ gebrachten Ächtung des Luxus ab. Die Nachfrage nach überflüssigen Dingen galt nicht mehr als Verschwendung, sondern wurde als Antrieb für Handel und Gewerbe und damit als Quelle des Volkswohlstandes entdeckt. Nachdem die sogenannten Physiokraten im 18. Jahrhundert erstmals die Produktion, wenn einstweilen auch die landwirtschaftliche, zur Quelle des Volkswohlstandes er­ klärt hatten, konnte Adam Smith 1776 in seinem Buch The Wealth of Nations (Der Wohlstand der Nationen) das moderne Wirtschaftsverhalten theoretisch begründen. Es beruht darauf, daß alle Menschen zwar ihre eigenen Interessen wahrnehmen, dabei aber durch die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und des Gütertauschs durch die Gesetze von Angebot und Nachfrage wie durch eine unsichtbare Hand allgemeine Wohlfahrt und nationaler Wohlstand zustande kommt. Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, daß sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen, lautet der vielleicht berühmteste Satz jenes Buches. Selbstver­ ständlich dienen nach Smith auch die Reichen, die Tausende beschäftigen, da­ mit nur ihrer eigenen Gier, aber sie fördern auf diese Weise unbeabsichtigt das Wohlergehen ihrer Arbeitnehmer und der ganzen Volkswirtschaft. Damit war das gewöhnliche Wirtschaftsleben endgültig bejaht, legitimiert und unter bestimmten Voraussetzungen sogar zum Bestandteil der Wertord­ nung geworden. Smith war nämlich weit davon entfernt, moralfreie Wirt­ schaftsgesetze zu entdecken oder gar unmoralisches Handeln à la Mandeville zur neuen Sittlichkeit zu erklären. Im Gegenteil, als Moralphilosoph, der er war, wollte er aufbauend auf seiner Theorie der moralischen Gefühle (The Theory of Moral Sentiments) von 1759 statt dessen gerade zeigen, daß die angebliche

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Amoral des Wirtschaftslebens im Bienenstock Mandevilles genauer besehen auf das Zusammenspiel einer wohlgeordneten Natur der Welt mit einem von moralischem Empfinden geleiteten und – was gerne übersehen wird – von staatlicher Gesetzgebung korrigierten Menschen hinausläuft.

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Am längsten brauchte die allgemeine Bejahung der Liebe, die aus den bereits genannten Gründen zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert, wo der Schwer­ punkt unserer Darstellung liegt, über erste Schritte kaum hinausgekommen ist. Vor allem die Einschätzung der Sexualität blieb restriktiv und von einer Betrachtung als Wert weit entfernt. Realistische Hinnahme und etliche Zu­ geständnisse an die menschliche Schwäche waren noch lange das höchste der Gefühle. Die Ansatzpunkte zu einem partnerschaftlichen Verhältnis von Mann und Frau, die in der jüdisch-christlichen Tradition und sogar in der mittelal­ terlichen Theologie durchaus vorhanden waren, werden zum Teil erst heute richtig gewürdigt. Denn neben der Geschichte von der Erschaffung der Frau aus der Rippe des Mannes (Genesis 2,21–22), die Stoff zu unzähligen Herrenwitzen geboten hat, enthält das Buch Genesis auch eine andere Version der Erschaffung der Menschen, wo es lapidar und egalitär heißt  : als Mann und als Frau erschuf er sie (Genesis 1,27). Vor allem aber gelangten mittelalterliche Theologen und Kirchenrechtler zu der für die Verhältnisse der Zeit unwahrscheinlichen Erkenntnis, daß eine rechtsgültige sakramentale und damit unauflösliche Ehe nach der Bibel aus­ schließlich durch Geschlechtsverkehr im freien gegenseitigen Einverständnis der Partner zustande kommt  ; strenggenommen hatten weder die Familie noch die Kirche dabei mitzureden. Das war ein unbeabsichtigter, aber folgenreicher Schlag gegen das vormoderne Sozialsystem, wo der Mensch nicht für sich leben und schon gar nicht heiraten durfte, sondern nur im Dienst seiner Familie (wie man abermals bei dem Freigeist Michel de Montaigne nachlesen kann). Die Folgen waren unzählige umstrittene heimliche Ehen und schwere Familien­ konflikte, seit Shakespeare das Romeo-und-Julia- oder neuerdings, seit Gene A. Brucker, das Giovanni-und-Lusanna-Syndrom.8 8 Gene A. Brucker, Giovanni und Lusanna. Die Geschichte einer Liebe im Florenz der Renaissance, Hamburg 1988.

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Die Kirchen sind denn auch zurückgerudert. Die katholische führte auf dem Konzil von Trient die Formpflicht ein, nach der eine gültige Ehe künftig nur vor einem Pfarrer und zwei Zeugen geschlossen werden konnte. Die evan­ gelischen erklärten die Ehe zu einem weltlichen Geschäft und unterwarfen sie damit de facto der Gewalt der Eltern und der Obrigkeit. Daß auf diese Weise die Ehescheidung möglich wurde, stellte bezeichnenderweise nur in der Theo­ rie eine Errungenschaft dar, denn empirische Untersuchungen haben gezeigt, daß alle evangelischen Obrigkeiten lange Zeit extrem zurückhaltend mit Schei­ dungen blieben. Was sich in der Reformationszeit aber immerhin abzeichnete, war eine be­ grenzte Aufwertung der ehelichen Partnerschaft gegenüber dem dominieren­ den Ehezweck der Erzeugung von Nachkommenschaft. In diesem Rahmen konnte die bisher selbst in der Ehe argwöhnisch betrachtete sexuelle Lust nicht gerade als Wert betrachtet, aber wenigstens legitimiert werden. Möglicherweise hat das evangelische Pfarrhaus mit der alltäglichen Gegenwart seines zumindest dem Anspruch nach vorbildlichen, aber durchaus auch gewöhnlichen christli­ chen Familienlebens zur Stärkung der partnerschaftlichen Perspektive beigetra­ gen, trotz seiner notorisch hohen Kinderzahl. Es fehlt nicht an einschlägigen Studien über Luther, Calvin und vor allem über die puritanische Familie. Allerdings war auch diese Entwicklung kein protestantisches Monopol, wie häufig angenommen wird, trotz der Einschärfung des Zölibats auf katholischer Seite. Durch die Forschungen von Louis Châtelier wissen wir, daß ausgerech­ net in den von den Jesuiten europaweit verbreiteten Vereinen zur Marienvereh­ rung, den Marianischen Kongregationen, ein partnerschaftliches Familienideal propagiert wurde, das einer modernen Familie näher stand als dem herkömm­ lichen Patriarchat.9 Und auch der bereits vorgestellte François de Sales schrieb Dinge, die sich aus heutiger Sicht vielleicht eher komisch ausnehmen, auf dem Hintergrund traditioneller Auffassungen von Geschlechtlichkeit aber geradezu als revolutionär gelten müssen. Es ist [zwar] ungebührlich, aber keine Sünde, am Kommuniontag den ehelichen Verkehr zu fordern, aber es ist nicht ungebührlich, sondern sogar verdienstlich, ihn zu leisten, wenn er gefordert wird. Denn die rechtmäßige gegenseitige Befriedigung der Gatten in der Ehe ist nicht nur richtig, sie ist sogar Pflicht, Enthaltung ist strenggenommen nur mit Zustimmung des Partners zulässig. Denn in der rechtmäßigen Ehe – allerdings nur dort – ist der sinnlichen Lust Raum gegeben. Ihre Heiligkeit vermag das seelische Abgleiten 9 Louis Châtelier, The Europe of the Devout. The Catholic Reformation and the Formation of a New Society, Cambridge 1989.

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auszugleichen, das die sinnliche Freude verursacht. Es gilt Kontrolle zu behalten, das ist eheliche Keuschheit, die schwieriger ist als die vielgepriesene Jungfräu­ lichkeit, der hier keineswegs ausdrücklich der übliche höhere Rang eingeräumt wird. Außerdem ist bei ihm nirgends von dem obligatorischen Kindersegen die Rede, der bis vor kurzem durch alle katholischen Äußerungen zum Thema spukte. Natürlich gab es alternative Praktiken zur kirchlichen Ehelehre, aber dabei ging es nicht um Werte. Natürlich gab es auch alternative Werte, in der schönen Literatur kann man fündig werden, aber diese haben noch lange elitären Ausnahmecharakter. Für das gewöhnliche Leben gaben die Kirchen den Ton an, und diese ließen immerhin etliche verheißungsvolle Neuerungen erkennen, an die später die partnerschaftliche Liebe als zentraler Wert des ge­ wöhnlichen Lebens anknüpfen konnte.

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Wir haben die Entwicklung von der mehr oder weniger widerwilligen Hin­ nahme der Arbeit, des Handels und Geldgeschäfts und der Sexualität bis zur Bejahung dieser wesentlichen Bestandteile des gewöhnlichen Lebens verfolgt. Halten wir einen Augenblick inne und versuchen wir einen gemeinsamen Nen­ ner für diese drei Prozesse zu finden, die auf den ersten Blick wenig miteinan­ der zu tun haben. Und prüfen wir dabei, ob sich daraus vielleicht so etwas wie eine Antwort auf die Frage nach dem Warum dieses weitreichenden Wertewan­ dels ergibt  ! Ich behaupte, daß Werte immer den Bedürfnissen sozialer Gruppen ent­ sprechen, was nicht heißen soll, daß sie schiere Gruppenideologie wären  ; so einfach liegen die Dinge nicht. Aber wir tun gut daran zu fragen, wer wohl ein Interesse daran hatte, das eigene alltägliche Handeln als wertvoll anzusehen. Wenn wir so fragen, liegt die Antwort auf der Hand. Es handelt sich um die Emanzipation der Laien von den Klerikern. Denn dazu gehört, daß typische Laienaktivitäten wertvoll werden, die für das Leben der Kleriker irrelevant wa­ ren und daher von diesen höchstens toleriert, wenn nicht abgewertet wurden  : arbeiten, Geld verdienen, lieben. Im Früh- und Hochmittelalter war die Bildung ein Monopol der Kirche. Im modernen Jargon gesprochen, die Kirche war die Herrin der Diskurse, das heißt alle Bereiche des Denkens, Naturwissenschaft und Moral, politische Theorie und Wirtschaftstheorie, wurden theologisch angegangen oder waren sogar Teile der Theologie. Eine andere Möglichkeit bestand überhaupt nicht. Daraus

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ergab sich, abermals im modernen Jargon formuliert, die Deutungshoheit der Kleriker über die Wirklichkeit, mit der Folge, daß die Wertordnung der Welt den Werten der Klerikergesellschaft entsprach. Das war keine klerikale Tücke, sondern es gab ganz einfach keine andere Möglichkeit. Daneben existierte zwar auch die an der Ehre orientierte Wertwelt des Adels. Aber diese geriet nicht selten mit der kirchlichen in Konflikt und zog dabei den kürzeren, war sie doch allzu gruppenspezifisch, konnte keine umfassende Weltdeutung anbieten und sich obendrein nicht breitenwirksam artikulieren, solange der Adel als alternative Elite zur Geistlichkeit wie der Rest der Gesellschaft hauptsächlich aus Analphabeten bestand. Das änderte sich mit dem Aufkommen der Städte. Jetzt entwickelte sich eine Laienelite mit eigener Laienbildung. Von Italien ausstrahlend haben Hu­ manismus und Renaissance wesentlich dazu beigetragen. Diese Laien waren in der Lage, über ihr Leben nachzudenken und das Bedürfnis zu artikulieren, ihr Handeln an eigenen Werten zu orientieren statt es wie bisher verachtet oder wenigstens ignoriert zu sehen. Deswegen spielten sich die geschilderten Prozesse in erster Linie im alteuropäischen Städtegürtel zwischen Mittelitalien und den Niederlanden ab. Es sollte aber hinreichend deutlich geworden sein, daß diese Emanzipation der Laien nicht, wie man früher meinte, eine erste Welle der modernen Säkularisierung mit antichristlicher Stoßrichtung gewe­ sen ist. Im Gegenteil, ich hoffe gezeigt zu haben, daß ihr wertschöpferisches Denken nicht selten auf jüdisch-christliche Vorgaben zurückgreifen konnte, die im Weltbild des Klerus von griechischem Spiritualismus verdrängt worden waren. Neue Werte sind ja nie vollständig neu. Wertschöpferisches Denken geht von Bedürfnissen des Lebens aus und bedient sich zu ihrer Befriedigung zu­ nächst einmal des vorhandenen Rohstoffs an Ideen, die möglicherweise bis zu diesem Zeitpunkt durchaus vorhanden waren, aber brachlagen. Daraus wird dann Neues gebastelt, das seinerseits auf die Wirklichkeit zurückwirken kann. Menschen entlassen ihr Denken und Handeln aus sich, externalisieren es, wie die Soziologen sagen, es liegt dann sozusagen objektiv herum und wartet darauf, von anderen Menschen neu aufgegriffen, internalisiert zu werden, woraufhin alles von neuem beginnen mag Das Ganze ist also kein einfaches lineares Ver­ hältnis von Ursache und Wirkung, kein geradliniger linearer Ablauf mit Anfang und Ende, sondern ein zirkulärer oder besser ein spiralförmiger Prozeß, weil der Kreis sich im Ablauf nicht schließt, sondern auf einem neuen Niveau ankommt. Dazu können unterwegs noch zusätzliche Einflüsse (input) von außen kommen oder es gibt Abzweigungen, die nicht selten in Sackgassen münden.

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So gesehen ist es nicht weiter erstaunlich, daß der Aufstand der Laien, wie ich jetzt etwas provozierend formulieren möchte, nicht ohne Hilfe aus den Rei­ hen der Klerikergesellschaft stattfand. Es gab genug Geistliche, die die neuen Bedürfnisse der Laien erkannten und bereit waren, es sogar für ihre Pflicht hiel­ ten, darauf einzugehen. Wenn wir an einem seiner Gipfelpunkte, der Reforma­ tion, einen Blick auf die fünf wichtigsten Reformatoren werfen, dann erhalten wir ein nicht untypisches Profil  : zwei Ordensleute, der Augustiner Luther und der Dominikaner Butzer, ein Weltpriester, Zwingli, zwei Laien, nämlich ein humanistischer Philologe, Melanchthon, sowie ein Jurist und Humanist, Cal­ vin. Aber auch in der alten Kirche gab es genug Leute, die die Zeichen der Zeit erkannten und sich auf die Bedürfnisse der Laien einließen, nicht zuletzt die Jesuiten.

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Gemeinsamer Nenner, das hieß aber nicht nur, Werte des gewöhnlichen Le­ bens entdecken. Er läuft vielmehr fast notwendig auf eine neue Art zu denken hinaus, die im Zuge dieser Entdeckung entstand, wenn sie ihr nicht sogar vor­ angegangen ist und sie vielleicht nicht hervorgebracht, wohl aber erleichtert hat. Diese Art zu denken prägt unser Verhältnis zur Wirklichkeit bis heute. Damit komme ich zu den immer noch aktuellen Folgen der Bejahung des gewöhnlichen Lebens. Obwohl ich damit meine fachliche Zuständigkeit als Historiker überschreite und mich auf das Glatteis der Philosophie, der Lite­ raturwissenschaft und der Soziologie begebe, halte ich es doch für angebracht, dazu noch einige Bemerkungen zu machen. Die damals neue, uns heute hingegen selbstverständliche Art zu denken, beruht nämlich auf nichts anderem als einer Schwerpunktverschiebung des Interesses vom Grandiosen zum Gewöhnlichen, anders ausgedrückt, vom All­ gemeinen zum Besonderen oder vom Abstrakten zum Konkreten. Die alten Griechen, in deren Fußstapfen das mittelalterliche Denken ebenso wandelte wie noch ein großer Teil des neuzeitlichen, waren nicht nur großartige Forscher und Denker, sondern haben auch allerhand technische Errungenschaften her­ vorgebracht. Dennoch haben sie die entscheidende Schwelle zur experimen­ tellen Naturwissenschaft und Technik, die mehr als alles andere ein Kennzei­ chen der Moderne ist, nie überschritten. Ich behaupte, nicht weil sie das nicht gekonnt hätten, sondern weil sie es nicht wollten. Sie interessierten sich zwar ebenfalls für alles in der Welt, aber stets aus systematischer Perspektive. Theo-

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ria bedeutete Gesamtschau, nicht Einzelanalyse. Eine Einzelbeobachtung war dann richtig, wenn sie sich ins System fügte. Das konnte zu grandiosen Fehl­ deutungen führen, zum Beispiel was den anatomischen und physiologischen Unterschied zwischen Männern und Frauen angeht. Das änderte sich nicht sofort und weniger im Zuge als im Gefolge der ge­ schilderten Aufwertung des Gewöhnlichen, aber es änderte sich. Eine Wissen­ schaft setzte sich durch, die am Konkreten interessiert war. Über Richtigkeit entschied künftig die empirische Verifizierung durch kontrollierte, das heißt nachvollziehbare Beobachtung oder durch Experiment. Die meisten Griechen hätten das unter ihrer Denkerwürde gefunden. Um 1600, als die von uns be­ handelte Bejahung des gewöhnlichen Lebens schon weit fortgeschritten war, hat Francis Bacon das Programm dieser Wissenschaft des Gewöhnlichen for­ muliert. Das klassische Streben nach einer Gesamtschau wurde zu einem im doppelten Sinne eitlen Unterfangen erklärt, es galt nun als ebenso anmaßend wie vergeblich. Worauf es künftig ankommen sollte, war zu erkunden, wie die konkreten Dinge im einzelnen funktionierten, und zwar nicht zuletzt im Hinblick darauf, was das Wissen darum der Menschheit nützen könnte. Damit standen Naturwissenschaft und Technik vor der Tür. Zwar haben viele Philosophen noch bis ins 19. Jahrhundert ihren Ehrgeiz in das Entwerfen grandioser Systeme gesetzt, aber selbst Hegel war sich dabei im klaren, daß das Allgemeine immer nur als Besonderes vorkommt, vereinfacht ausgedrückt, daß es den Menschen als solchen nicht gibt, sondern nur als ge­ meinsame Eigenschaft von Männern und Frauen, Deutschen und Franzosen usf. Bezeichnenderweise kündigt sich diese Einsicht aber bereits bei spanischen Denkern des 16./17. Jahrhunderts an, die eigentlich in der Tradition des gro­ ßen mittelalterlichen Systematikers Thomas von Aquin standen. Von der Pra­ xis her hatte der Dominikaner Francisco de Vitoria die imposanten Systeme päpstlicher oder kaiserlicher Weltherrschaftsentwürfe zerfetzt und den konkre­ ten Einzelstaat zum Inbegriff von Politik erhoben. Nebenbei wurde er auf diese Weise zum Vater des Völkerrechts. Und im philosophisch-theologischen Sy­ stem des Francisco Suarez können wir einige Jahrzehnte später beobachten, wie er zwar das Denken des Thomas von Aquin aufgreift, aber nichtsdestoweniger nicht mehr das universale Was (Quidditas) der Dinge zum ersten Gegenstand der menschlichen Erkenntnis erklärt, sondern statt dessen ihr individuelles Dies (Haecceitas). Das ist sicher noch keine moderne Empirie, aber doch ein Versuch, dem offensichtlich drängenden Problem der Erkenntnis des Konkre­ ten besser gerecht zu werden.

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Im Zuge dieser Wende zum Konkreten konnte auch der konkrete Einzelmensch interessant und wertvoll werden, vollmundig formuliert, die Bejahung des ge­ wöhnlichen Lebens kulminierte in der Bejahung des gesamten gewöhnlichen Menschen in seiner Alltäglichkeit, das heißt nicht zuletzt in seinem Arbeiten und Lieben. Die Aktualität gerade dieses Interesses kommt nicht nur in so merkwürdi­ gen Erscheinungen wie Talkshows und Big-Brother-Containern zum Ausdruck, sondern zum Beispiel auch in der als Mikrohistorie bezeichneten Tendenz der heutigen Geschichtswissenschaft, sich mit der liebevollen Rekonstruktion der gewöhnlichen Alltagswelt gewöhnlicher Menschen zu befassen, mit der Ge­ schichte eines bayerischen Dorfes, mit Salzburger Wilderern oder, wie jüngst geschehen, mit dem Leben eines nach dem Zufallsprinzip aus den Akten eines Archivs ausgewählten französischen Arbeiters des 19. Jahrhunderts, eigentlich einer ausgesprochenen Unperson. Geschichtswissenschaft nähert sich damit der Literatur, wo wir schon seit dem 18. Jahrhundert Romane haben, die insofern »modern« sind, als sie nicht mehr wie ihre Vorgänger und die traditionelle Epik seit Homer herausragende Ausnahmepersonen und Ausnahmeereignisse schildern wollen. Nach traditio­ nellen Maßstäben sind ihre »Helden« und jetzt auch »Heldinnen« eigentlich gar keine, denn sie lieben und leiden höchst unheldisch und alltäglich. Entsprechendes gilt für die Gattungen Biographie und Autobiographie, die bis dahin thematisch zwischen der Vita Caroli Magni, dem Leben Karls des Großen, von Einhard und den Confessiones, den Bekenntnissen, des Aurelius Augustinus angesiedelt blieben. Das heißt, es mußte sich entweder um eine Persönlichkeit von Rang handeln oder aber um eine religiös erbauliche Ge­ schichte, etwa einen Bericht von der eigenen Bekehrung. Im Zusammenhang derartiger Heiligenleben ist die Beobachtung von In­ teresse, daß auch die soziale Zusammensetzung der Heiligen der katholischen Kirche dem von uns beobachteten Trend folgt. Bis weit ins 19. Jahrhundert blieb der Himmel hauptsächlich von Geistlichen und Nonnen sowie etlichen Fürstlichkeiten und anderer irdischer Prominenz bevölkert. Ausnahmen wur­ den allenfalls für Märtyrer gemacht. Das Bedürfnis zur Bejahung des gewöhn­ lichen Lebens hat sich erst spät in der Neigung niedergeschlagen, auch ge­ wöhnliche Männer und Frauen, die eines natürlichen Todes gestorben waren, zur Ehre der Altäre zu erheben.

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Dennoch ist auch das Interesse am gewöhnlichen Einzelmenschen letzt­ lich auf die Werte der jüdisch-christlichen Tradition gegründet. Es wäre nicht denkbar gewesen ohne die Lehre vom sittlich vor seinem Gewissen verant­ wortlichen Einzelmenschen, der eine unsterbliche Seele besitzt und den Gott ganz persönlich und individuell zum ewigen Heil berufen oder vielleicht, nach Calvin, zur ewigen Verdammnis bestimmt hat. Damit wurden nicht nur Mög­ lichkeiten für eine religiös begründete persönliche Identität geschaffen, son­ dern darüber hinaus die weltgeschichtlich einmalige Praxis ermöglicht, diese Identität iterativ zum Gegenstand der Reflexion zu machen, also nicht nur über die eigene Individualität nachzudenken, sondern auch darüber, wie diese Individualität überhaupt möglich ist. Angehörigen anderer Kulturen dürfte dergleichen kaum in den Sinn gekommen sein. Das neuartige christliche Grundmotiv des individuellen Seelenheils einzig­ artiger Persönlichkeiten macht persönliche Lebensgeschichten überhaupt erst interessant – der letzte Schrei in dieser Hinsicht, Anthony Giddens’ säkulares reflexive project of the self, nach dem wir nie fertig sind, sondern lebenslang nicht nur an neuen Kapiteln, sondern sogar an Neuauflagen, sprich neuen Gesamtdeutungen, unserer Biographie arbeiten müssen, setzt die religiösen Confessiones des Aurelius Augustinus voraus. Die Vermittlung übernahmen die Confessions des Jean-Jacques Rousseau. Ursprünglich erfuhr sich menschliche Subjektivität als unvollkommen, als abhängig von ihrem Schöpfer, nahm aber zugleich damit im Kontrast die Eigenschaften sich gleichbleibender Identität als Prädikate von dessen göttlicher Vollkommenheit wahr  : Autonomie, Un­ wandelbarkeit, Ewigkeit, Allwissenheit, Schöpfertum, in dem Maße, wie der Mensch dem Ziel seiner Autonomie zustrebte und sein wahres Selbst in der eigenen Identität zu begründen begann, statt es im fremden Du seines Schöpfergottes zu suchen, bemächtigte sich die ästhetische Erfahrung der Prädikate der göttlichen Identität und münzte sie zu Normen einer Selbsterfahrung aus, die sich literarisch in den Formen und Ansprüchen der modernen Autobiographie manifestierte.10 Rousseau behauptete die Unwandelbarkeit seines autonomen Selbst, das alles über sich selbst weiß oder wenigstens wissen will und im Prozeß des Erinnerns unvergänglich wird. Schließlich wurde der Mensch zum Schöpfer seiner eige­ nen Identität  ; bei Goethe waren Welt und Mitmensch nur noch Rohstoff, aus dem das Genie seine einzigartige Persönlichkeit bildete, um aus dem eigenen Leben ein Kunstwerk zu machen. Freilich, das Niveau ist seither abgesunken, 10 Hans Robert Jauss in  : Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.), Identität, München 1979, S. 709.

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denn was einst eine hochelitäre Leistung war, ist in der pluralen Gesellschaft je­ dem aufgegeben, das heißt, die philosophische Lebensform ist trivial geworden. Die Reformation hatte gerade diese Seite des Christentums besonders be­ stärkt, weil sie den kirchlichen Heilsapparat beseitigte, den einzelnen Men­ schen damit in ganz neuer Weise auf sich allein stellte und voll und ganz für sein eigenes Heil verantwortlich machte. Der Protestant war und ist daher ganz besonders darauf angewiesen, sich selbst zu beobachten, zu deuten und zu rechtfertigen. Er ist gewissermaßen der geborene Autobiograph. Und weil ihm das Heil durch die Schrift vermittelt wird, lebt er gewohnheitsmäßig vom Text und ist auch aus diesem Grund geneigt, neue Texte über seine persönliche Geschichte zu produzieren. Eine einschlägige Gattung kennen Sie vermutlich alle, ich meine die weitverbreiteten »Familienrechenschaftsberichte«, die viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu Weihnachten zu versenden pflegen. Cal­ vin hat die in dieser Sicht der Dinge angelegte Tendenz zur Egozentrik durch kühle Distanz gebändigt und auf die äußere Lebensgeschichte abgelenkt. Auch was ihn selbst angeht, wissen wir kaum etwas über sein inneres religiöses Leben und nur wenig über seine Berufung zum Reformator. Wir sahen bereits, wie die Calvinisten in diesem Sinn durch einen vorbildlichen äußeren Lebenswan­ del Heilsgewißheit zu erlangen versuchten. Luther hingegen hat seine innere Erfahrung konsequent als Schauplatz des Heilsgeschehens behandelt und uns demgemäß eine Menge darüber berichtet. Es gibt infolgedessen wenige Individuen der Frühen Neuzeit, über die soviel bekannt ist wie über Martin Luther. Doch weil bei ihm und dem von ihm geprägten lutherischen Menschentyp nur das innere Handeln wichtig ist, wird das äußere abgewertet, kann sogar unterbleiben. Allenfalls genügt ein äuße­ res Gesinnungssignal, um zu zeigen, daß man richtig empfindet. Als Verhal­ tensmuster gewöhnlicher Menschen lief dies auf die wohlbekannte deutsche Innerlichkeit hinaus, verbunden mit dem, was man neuerdings die deutsche Betroffenheitskultur genannt hat. Doch damit sind wir bereits bei der Gegen­ wart, auf die ich noch einen Blick werfen möchte, um zu sehen, wohin uns die Bejahung des gewöhnlichen Lebens bis heute geführt hat. Während das Subjekt der Offenbarung, der mit seinem Gott ringende Luther, inzwischen zur Offenbarung des Subjekts verkommen ist, zur Trivialität alltäglicher Selbst­ entblößung im Fernsehen, beschert uns der empirische Umgang mit den Ein­ zelheiten der gewöhnlichen Welt einen wissenschaftlich-technischen Triumph nach dem anderen. Die Bejahung der Liebe in der sexuellen Partnerschaft ist konsequent verwirklicht, auf Kosten der Familie, die sie einst geknebelt hatte. Die Geldwirtschaft bedarf zum Teil nicht einmal mehr der realen Grundlage

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von Gütern, um dank neuer Technologie so glänzend zu funktionieren wie noch nie. Die Arbeit dürfte für die Mehrzahl der westlichen Menschheit zum höchsten Wert schlechthin geworden sein, denn ihr Besitz entscheidet über Sein oder Nicht-Sein im moralischen und oft genug auch im physischen Sinn. Mir scheint also, im Gegensatz zur Zeit ihrer Entstehung hat sich die Beja­ hung des gewöhnlichen Lebens völlig verselbständigt und von so ziemlich jeder Bindung an andere Werte gelöst. Zwar hatte der transzendente Gott, wie ich eingangs ausführte, die Welt in ihre Autonomie entlassen, sich aber nichtsde­ stoweniger eine indirekte Kontrolle und eine Art Vetorecht, vermittelt durch den Dienst der Menschen, vorbehalten. Noch Francis Bacon sah seine neue empirische Wissenschaft nicht nur im Dienst des menschlichen Nutzens, son­ dern auch dazu bestimmt, die Absichten Gottes mit der Welt genauer als bisher zu erkunden. Doch Gott ist bekanntlich tot, und mit anderen Rückkoppelun­ gen an höhere Werte scheint es nicht weit her zu sein. Aus den moralischen Ge­ fühlen und der Gemeinwohlbindung des Adam Smith ist nicht viel geworden. Die Marktwirtschaft hat sich nicht nur von allen Bindungen gelöst, sondern tritt heute ihrerseits als Wertmaßstab auch für nicht wirtschaftliche Bereiche auf. Sie erfüllt unsere Sprache  ; ob wir von der Liebe oder vom Sport, von der Wissenschaft oder von der Religion reden – wir benutzen ökonomische Kategorien. Das heißt, die Wirtschaft ist heute Herrin der Diskurse wie es im Mittelalter die Theologie war. Früher glaubten wir an Gott, heute glauben wir an den Markt. Und es bleibt uns gar nichts anderes übrig.

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Wer in den Hinterlassenschaften der Geschichte nach symbolischer Macht und inszenierter Staatlichkeit sucht, stößt unausweichlich auf politische Architektur, vor allem in Hauptstädten wie Berlin, wo sie – wie heute allgemein in Deutschland – oft als problematisch empfunden wird.1 Wie man sich diesem Thema mittels aktueller Fragestellungen der Geschichtswissenschaft nähern kann, soll versuchs­ weise an einigen Beispielen und Hinweisen demonstriert werden. Vorher ist es allerdings erforderlich, die umstrittenen Kategorien der politischen Architektur und historischen Anthropologie, vor allem aber ihre ungewöhnliche Verknüpfung unter einer politikgeschichtlichen Fragestellung zu klären. Bis vor kurzem haben die Historische Anthropologie und andere mikrohistorische Richtungen einen Bogen um die Politik geschlagen, ganz wie die alte Kultur- und Sozialgeschichte, von der sie sich eigentlich abheben wollten. Doch auch die neuen Teildisziplinen betreiben allzu oft Geschichte unter Ausschluss der Politik.2 Wenn Architektur die Materialisierung von Kultur ist, weil sie konkretmaterielle Objektivationen dieser Kultur hervorbringt, dann ist politische Ar­ chitektur nichts anderes als die Materialisierung von politischer Kultur, von politischen Werten und Normen oder einfach  : von politischem Verhalten.3 »Politisch« bezieht sich zwar auf Macht, nicht aber auf alle gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die jeweils einen eigenen architektonischen Ausdruck finden können wie das »Herrenzimmer« des bürgerlichen Patriarchats oder die Dienst­ botenkammern von Villen und Palästen. »Politisch« bezieht sich auf die Macht­ verhältnisse organisierter Gemeinwesen, kurz  : auf Herrschaftsverhältnisse. Normalerweise ist für architektonische Objekte die Kunstgeschichte zustän­ dig, in der es lange als Tabu galt, Kunstwerke als Bedeutungsträger einer Kultur zu betrachten.4 Kunstwerke hatten für sich selbst zu stehen oder höchstens im Kontext einer autonomen künstlerischen Entwicklung. Seit Aby Warburg 1 Helmut Quaritsch, Probleme der Selbstdarstellung des Staates, Tübingen 1977, S. 19–23. 2 So noch George Macaulay Trevelyan, English Social History, 3. Aufl., London 1945. 3 Vgl. Walter Gottschall, Politische Architektur. Begriffliche Bausteine zur soziologischen Analyse der Architektur des Staates, Bern 1987. 4 Martin Warnke (Hrsg.), Politische Architektur in Europa vom Mittelalter bis heute – Reprä­ sentation und Gemeinschaft, Köln 1984, S. 7, sowie die Auseinandersetzung um Günter Band­ mann, Mittelalterliche Architektur als Bedeutungsträger, Berlin 1951 – inzwischen kann man das Buch in der 11. Auflage von 1998 benutzen.

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und Erwin Panofsky gibt es jedoch eine Alternative  : ein Dreischritt-Verfahren, das von der vor-ikonographischen Bildbeschreibung (Was sehen wir  ?) über die ikonographische Analyse (Worum handelt es sich im Lichte dokumentierter künstlerischer und historischer Tradition  ?) zur ikonologischen Interpretation führt, durch die der Betrachter mittels synthetischer Intuition den Sinn des Kunstwerks in seiner Zeit herausfindet.5 Der Politikwissenschaftler Klaus von Beyme, der sich viel mit dem Verhältnis von Politik und Kunst beschäftigt hat, schwört auf diese von der Kunstwissenschaft beglaubigte ikonologische Me­ thode, um das lose Gerede über politische Architektur zu vermeiden und von den Kunstwissenschaftlern ernst genommen zu werden.6 Damit aber fangen die methodischen Probleme erst richtig an. Eine soziologische Analyse politischer Architektur unterscheidet zwischen der Dingfunktion auf sozio-struktureller Ebene, die in der Regel ausdrücklich hervorgehoben (denotiert) wird, und der Symbolfunktion auf sozio-kulturel­ ler Ebene, die einen eher impliziten Verweis (Konnotat) darstellt. Durch die Dingfunktion der Architektur werden Bedürfnisse politischer Eliten befriedigt, während die Symbolfunktion Werte und Normen vermittelt. Um die Symbolfunktion zu entschlüsseln, muss sie einer semiotischen Ana­ lyse unterzogen werden.7 Dabei lassen sich drei Arten symbolischer Bedeutung unterscheiden8  : 1. Die immanente Symbolik, wenn zum Beispiel die Bauform »Tempel« die Bauform »Haus« abbildet. 2. Die metaphorische Allegorie, wenn die Bauform »Stadt« für die »Gemeinschaft Kirche« steht oder umgekehrt die Bauform »Kirche« für die »Gemeinde Stadt«. 3. Die historisch entstandene, kontextuelle Bedeutung, wenn zum Beispiel die Bauform »Pentagon« fünfec­ kige Bastionen »zitiert« und damit Wehrhaftigkeit und Sicherheit signalisiert.9 Die Entzifferung von Symbolen ist die selbstgewählte Hauptaufgabe der heute dominierenden Richtung der Historischen Anthropologie, die einen semiotischen Kulturbegriff proklamiert und mit dem Ethnologen Clifford Geertz Kultur als ein »selbstgesponnenes« symbolisches »Bedeutungsgewebe« definiert, in das der Mensch verstrickt ist. Die interpretierende Suche nach 5 Nach Rainer Wohlfeil, Methodische Reflexionen zur Historischen Bildkunde, in  : Brigitte Tolke­ mitt/Rainer Wohlfeil (Hrsg.), Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele, Berlin 1991, S. 17–35. 6 Klaus von Beyme, Die Kunst der Macht und die Macht der Kunst. Studien zum Spannungsverhältnis von Kunst und Politik, Frankfurt 1998, S. 307. 7 Gottschall. 8 Bandmann, S. 35. 9 Gottschall, S. 102.

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Abb. 1  : Schema einer kreisförmigen, orientalischen Stadt auf einem assyrischen Basisrelief, gefunden bei den Ausgrabungen bei Nimrod.

Bedeutungen durch die sogenannte »dichte Beschreibung« will verschiedene übereinander gelagerte Bedeutungsebenen historischer Phänomene herausar­ beiten und sich – anders als die herkömmliche historische Hermeneutik – da­ bei bewusst bleiben, dass unsere Aussage darüber, wie Menschen ihr eigenes Handeln deuten, wiederum nur eine Deutung dieser Deutung ist.10 Spätestens hier stoßen wir auf ein methodisches Grundproblem der histo­ risch-anthropologischen Deutungspraxis von politischer Architektur, nämlich 10 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, Frankfurt 1983 (amerikanisch 1973), S. 9, 14f.

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die generelle Mehrdeutigkeit von Zeichen und Symbolen. Eine zwingende Aussage über die intendierte Bedeutung eines Bauwerks können wir nur dann machen, wenn uns schriftliche Aussagen des Bauherrn, des Architekten oder eines involvierten Programmatikers vorliegen.11 Bereits die Texte Dritter, die ihre Wahrnehmung des Bauwerks beschreiben, können auf eine nicht-inten­ dierte Bedeutung hinauslaufen – die historisch durchaus »richtig« sein mag, etwa wenn eine zur Herrschaftssicherung nach außen errichtete Festung als Instrument innerer Unterdrückung gedeutet wird. Die notorische historischpolitische Unschärfe des Zeichencharakters von Architektur12, die unter Um­ ständen mehrere legitime Deutungen gestattet, ist insofern keine Schwäche, sondern eine Stärke des Verfahrens, das ein buntes Spektrum historischer Be­ deutungen ans Licht bringt – sofern es einer kritischen Kontrolle unterliegt. »We read meaning into what other men do«,13 aber wir dürfen dabei keines­ wegs willkürlich mit den Tatsachen umgehen. Interpretationen dürfen nämlich in keinem Fall beliebig sein  ; selbst verwe­ gene Hypothesen brauchen eine Begründung. Und es fehlt nicht an Techni­ ken kontrollierter Schlussfolgerung, die in diesem Sinne plausible Deutungen ermöglichen. Auch wenn wir zum Beispiel keine explizite Aussage über die Absichten des Auftraggebers haben, so steht doch die Tatsache fest, dass er sich gerade für diese Lösung und keine andere entschieden oder sie zumindest akzeptiert hat, was vor allem mit dem Blick auf mögliche Alternativen durch­ aus legitime Schlussfolgerungen erlaubt.14 Möglicherweise hat er zum Beispiel auch die Vorstellungen und Erwartungen der Rezipienten, des zeitgenössi­ schen Publikums, berücksichtigt. Doch in erster Linie spielen die Assoziatio­ nen des kreativen Interpreten eine Rolle. Entweder gelingt es ihm, aufgrund seiner Kennerschaft von Architektur- und Kulturgeschichte architektonische 11 Vgl. Beyme, Kunst, S. 317. Ein Fall, in dem die Interpretation eines Gemäldezyklus in Schloss Eschwege als territorialstaatliche Selbstdarstellung aller Skepsis zum Trotz durch einen nachträglichen Textquellenfund glänzend bestätigt wurde  : Heiner Borggrefe, »Der PoliceyTugende … mit schönen Bildern und Historien abmahlen lassen. Reformierte Bildpraxis und funktionalisierte Ikonographie am Hofe des Landgrafen Moritz von Hessen. Ein Quellenfund, in  : Kunstchronik 52, 1999, S. 229–232. 12 Winfried Nerdinger, Politische Architektur. Betrachtungen zu einem problematischen Begriff, in  : Ingeborg Flagge/Wolfgang Jean Stock (Hrsg.), Architektur und Demokratie. Bauten für die Politik von der amerikanischen Revolution bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Ostfildern-Ruit 1996, S. 10–31, hier  : S. 13. 13 Edward T. Hall 1959 nach Mari-José Amerlinck, The Meaning and Scope of Architectural Anthropology, in  : dies. (Hrsg.), Architectural Anthropology, Westport 2001, S. 1–26, hier  : S. 4. 14 Bandmann, S. 37.

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»Zitate« zu identifizieren oder er schafft dies mit Hilfe von planmäßigen Ver­ gleichen. Dabei kann die Historische Anthropologie politischer Architektur in me­ thodischer Hinsicht weiter gehen als die kunstgeschichtliche Ikonologie, von der sie vielleicht bei unseren bisherigen Überlegungen nicht immer deutlich zu unterscheiden war. Auch ist sie im Ergebnis ertragreicher. Vor allem dann, wenn man sich bei der Analyse politischer Architektur nicht allein auf das Ent­ ziffern von Symbolen beschränkt, sondern die Untersuchung aller Aktivitäten einbezieht, durch die der Mensch zum Kulturwesen wird, das heißt durch die er die elementaren Herausforderungen seiner individuellen Existenz, seiner so­ zialen Existenz und seiner Umwelt bewältigt und es außerdem noch schafft, die dabei gewonnenen Erfahrungsregeln als Normen weiterzugeben. Die Ding­ funktion der Architektur ist dann nicht nur in die Analyse miteinbezogen, sondern wird zum Ausgangspunkt für eine Historische Architekturanthropologie. Deren Aufgabe ist es, die kulturelle Konstruktion des Raumes durch den Men­ schen im wörtlichsten Sinne zu untersuchen, nämlich die Tätigkeit des Bauens und seine Ergebnisse. Denn diese sind auf allen Ebenen kulturell durchtränkt, auf der materiellen, sozialen und symbolischen. Bauwerke sind Produkte und Produzenten von Kultur zugleich.15 So mag der Standort eines Gebäudes zwar funktional bedingt sein, er bedeutet aber auch eine spezifische Art der symbo­ lischen Besetzung des Raumes durch den Menschen.16 So war es schon bei den Buschleuten mit ihren »Windschirmen«, die sich von einem »technisch« möglicherweise viel imposanteren Termitenbau bereits durch die Anordnung auf dem Wohnplatz unterscheiden, denn diese sagt etwas über Verwandtschaftsverhältnisse, Kommunikation und Interaktion, Privatheit und Gemeinschaftsleben aus.17 Andererseits ist die Veränderung der Häuser und Wohnsitten im ländlichen Portugal von heute nicht nur das Ergebnis eines höheren Lebensstandards, sondern vor allem Ausdruck der damit zusammen­ hängenden sozio-kulturellen Modernisierung.18 Die politische Dimension der Raumbesetzung durch den Menschen vor vielen tausend Jahren kam in Gestalt der Stadt mit ihren politischen Bauwerken  : Kultstätten, Herrscher-Residenzen und Stadtmauern. 15 Amerlinck, bes. S. 2–8. 16 Gottschall, S. 92f. 17 Irenäus Eibl-Eibesfeld, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, 3. Aufl., Weyarn 1997, S. 861. 18 Denise Lawrence-Zúniga, From Bourgeois to Modern  : Transforming Houses and Family Life in Rural Portugal, in  : Amerlinck, S. 171–200.

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Die Primärfunktion einer Stadtmauer besteht im Schutz gegen eine äußere Bedrohung. Nicht alle Städte haben sich Mauern leisten können, doch waren sie in der Vormoderne immerhin so häufig, dass die »Mauer« zum Inbegriff von »Stadt« wurde. Altorientalische Städte wurden schon früh durch ein Ach­ senkreuz und eine Ringmauer dargestellt, folglich als eine umschlossene, vier­ geteilte Kreisfläche. Das ägyptische Schriftzeichen für »Stadt« besteht aus eben diesem Symbol.19 ln der europäischen Praxis spielte ein derartiger Stadtplan nur selten eine Rolle, dafür in der Mythologie umso häufiger, wie im Falle des himmlischen Jerusalems der Apokalypse (21,1–22) und des Kirchenlieds. Dementsprechend wurde das irdische Jerusalem als religiöser Mittelpunkt der Welt stilisiert und abgebildet20 – gelegentlich sogar mit kleinen Zugeständnis­ sen an die Realität. Der Kreis galt als vollkommene geometrische Figur. Dar­ aus leitete sich wiederum die Neigung ab, das Universum in konzentrischen Kreisen und Kugelschalen zu denken, eine Vorstellung, die erst von Johannes Kepler korrigiert wurde. Es ist von erheblicher anthropologischer Signifikanz, dass wir am »anderen Ende der Welt«, in China, auf eine besonders stabile Variante desselben kul­ turellen Sachverhalts stoßen. Das Zeichen cheng bedeutet sowohl »Mauer« als auch »Stadt« und enthielt ursprünglich ein Abbild der Stadtmauer, die hier allerdings immer viereckig war21. Nicht das riesige Verteidigungssystem an der Nordgrenze verkörperte die obsessive Vorliebe der Chinesen für Mauern, denn die »Große Mauer«, die in Wirklichkeit kein zusammenhängendes Gebilde darstellt, ist ein westliches Konstrukt  ; in China selbst wurde sie als Gesamt­ bauwerk erst unter westlichem Einfluss seit dem 19. Jahrhundert wahrgenom­ men.22 Die eigentliche chinesische Mauer war die Stadtmauer. Seit Jahrtau­ senden schon umbauten die Chinesen ihre Städte und stellten sie künstlerisch in verschiedenster Weise dar, wenn auch immer nach demselben Muster  : ein zinnenbewehrtes regelmäßiges Viereck mit Toren nach den vier Himmelsrich­ tungen, bisweilen mit Türmen an den Ecken. Selbst da, wo deren abgerundete 19 Virgilio Vercelloni, Europäische Stadtutopien. Ein historischer Atlas, München 1994. 20 Ebda., S. 25. 21 Geoffrey Parker, The Artillery Fortress as an Engine of European Overseas Expansion, 1480–1750, in  : James D. Tracy (Hrsg.), City Walls. The Urban Enceinte in Global Perspective, Cambridge 2000, S. 386–416, hier  : S. 409 Anm. 72  ; Nancy Shatzman Steinhardt, Representations of Chinese Walled Cities in the Pictorial and Graphic Arts, in  : ebda., S. 419–460, hier  : S. 412  ; Edward L. Farmer, The Hierarchy of Ming City Walls, in  : ebda., S. 461–487, hier  : S. 463. 22 Farmer, S. 462f. nach Arthur Waldron, The Great Wall of China  : from History to Myth, Cam­ bridge 1990.

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Abb. 2  : Stadt in Nordchina.

Gestalt indisch-buddhistischen Einflüssen unterlag, setzte sich das traditionelle chinesische Bild durch. Vielerorts haben sich Stadtmauern, die diesem Muster entsprechen, bis heute erhalten.23 Selbst der alte Plan von Peking lässt trotz der komplizierten Stadtentwicklung Anklänge an dieses kulturelle Schema er­ kennen.24 Eine ummauerte Stadt bedeutete Sicherheit, sie symbolisierte aber auch das kaiserliche Herrschaftssystem, und ihr kam ein ritueller Charakter zu. Denn als Teil der baulichen Hierarchie, in der sie stand, war sie ein Abbild der Erde, die in China viereckig ist, unter einem runden Himmel – eine Art Re­ präsentation der kosmischen Ordnung. Dass Mao die äußeren Mauern Pekings einreißen ließ, war daher keineswegs nur eine praktische Maßnahme, sondern eine symbolische politische Handlung, die besagte  : Die Weltordnung des alten

23 Steinhardt  ; Farmer. 24 Farmer, S. 475–478.

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China ist zu Ende.25 Dass er es mit den Mauern der inneren Palaststadt anders hielt, wäre demgegenüber als Ausdruck einer sich abzeichnenden Kontinuität in den Herrschaftsverhältnissen einzuschätzen. Aus der Geschichte europäischer Städte ist bekannt, dass Mauern nicht nur Schutz nach außen, sondern auch Kontrolle nach innen ermöglichten. Auch die Erhebung von Abgaben wie der Akzise spielte eine Rolle. Mit all dem war in erster Linie die Vorstellung kommunaler Autonomie verbunden. So war es vermutlich nicht nur der praktischen Notwendigkeit einer Stadterweiterung geschuldet, dass im 19. Jahrhundert allerorten die Stadtmauern geschleift wur­ den  ; im Zeitalter der Verstaatlichung der Gemeinden sind sie politisch obsolet geworden. Als Kontrollinstrument von Bevölkerungsbewegungen erlebten sie hingegen im illiberalen 20. Jahrhundert eine Auferstehung von Staates wegen, zum Beispiel an der Südgrenze der USA und im geteilten Deutschland, wo der praktische Zweck, die Abwanderung von Bürgern aus der DDR zu verhindern, symbolisch hoch aufgeladen wurde. Unzählige Schulklassen pilgerten in einer Art Anti-Wallfahrt nach Berlin an die »Schandmauer«, deren Öffnung für die Massen zum Fest der deutschen Einheit wurde. Natürlich lassen sich seitdem – wie könnte es heutzutage auch anders sein – Mauerstücke gewinnbringend als symbolgeladene Souvenirs verkaufen. Nach der Stadtmauer läge es nahe, sich der politischen Symbolik von Stadt­ planung zuzuwenden, inklusive jener Versuche, eine Utopie in die Wirklich­ keit umzusetzen.26 Dieser Gegenstand ist aber recht gut erforscht, um nicht zu sagen überforscht, wie auch die Schlösser und Paläste der Herrschenden in und außerhalb von Städten. Anregender erscheint mir der Versuch, von der Urfunktion der Stadt als religiöses Zentrum auszugehen und anhand eines konkreten Beispiels einen Blick auf die politische Bedeutung zu werfen, die bis heute von religiöser Architektur ausgeht. Weltweit siedelten Menschen in der Nähe von Gotteshäusern. Das Bild antiker Städte wurde bisweilen fast ebenso stark von Tempeln do­ miniert wie mittelalterliche Städte und Dörfer von Kirchen. Dabei spielten hier wie dort religiöse und politische Zentralität in aufschlussreicher Weise zusammen. Wo politische und religiöse Macht in einer Hand lagen, konnte das ganze Stadtbild auf Kultstätten zentriert werden. So verlaufen die geraden Durchgangsstraßen der Innenstadt von Rom seit dem späten 16. Jahrhundert 25 Steinhardt, S. 422. 26 Vgl. u a. Hanno-Walter Kruft, Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit, München 1989.

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Abb. 3  : Sankt Peter und Petersplatz, Stich von Guiseppe Vasi, 1774.

zwischen den Hauptkirchen, womit man – ebenso wie mit den letzten großen Baumaßnahmen des 17. Jahrhunderts – die Pilger beeindrucken und ihren Glauben stärken wollte, vor allem bei den Wallfahrten, die bis heute regelmä­ ßig während der »Heiligen Jahre« stattfinden. Beeindrucken wollte man aber auch die protestantischen Touristen aus dem Norden und sie, wenn möglich, für den Katholizismus gewinnen, was bisweilen sogar gelang.27 Das wichtigste Bauwerk in diesem Zusammenhang war und ist der Peters­ dom, mit dem vorgelagerten Platz, den Kolonnaden und der imposanten Kuppel, dem architektonisch epochemachenden Meisterwerk Michelangelos – auch wenn sie erst 1590, nach dem Tod des Künstlers, vollendet und durch ein Langhaus und eine Fassade, die man bis 1626 hinzufügte, in ihrer Wir­ kung etwas beeinträchtigt wurde. Als der erste Humanistenpapst, Nikolaus V. (1447–1455), sich für einen Neubau der Petersbasilika entschieden hatte, ging es nicht nur um praktische Bedürfnisse, sondern auch darum, Rom im Dienste 27 Vgl. Jean Delumeau, Vie économique et sociale de Rome dans la seconde moitié du XVIe siècle, Bd. 1, Paris 1957, S. 223–363  ; Richard Krautheimer, The Rome of Alexander VII. 1655–1667, Princeton 1985.

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des Glaubens wieder zu einer eindrucksvollen Hauptstadt der Kulturwelt zu machen. Wahrscheinlich stand Nikolaus unter dem Einfluss des maßgebenden Architekturtheoretikers der Renaissance, Leon Battista Alberti. Dennoch gab es unter den verschiedenen Päpsten lange Auseinandersetzungen darüber, wie das Vorhaben auszuführen sei. Sie endeten erst, als der kuppelgekrönte Zentralbau Bramantes und Michelangelos verwirklicht war. Kuppeln und Zentralbauten – obwohl der Antike und dem Mittelalter gleichermaßen vertraut – spielten da­ mals keine besondere Rolle in der Architektur. Es blieb den neuplatonischen Spekulationen der Renaissance Vorbehalten, von Kreis und Kugel als perfekten Formen ausgehend, den kuppelgekrönten Zentralbau zum architektonischen Ideal zu erheben.28 Auch die Barockzeit schätzte ihn, obwohl oder gerade weil ihre Architektur weniger spekulativ als vielmehr auf eine Wirkung bedacht war.29 Auf diese Weise wurde die Kuppel zum Inbegriff dessen, was Beyme »Beeindruckungs-« oder auch »Einschüchterungsarchitektur« genannt hat, ein visueller Beitrag der Erziehung des Menschen zum Untertanen des modernen Staates30, und deshalb ein zentraler Sachverhalt der politischen Anthropologie der Neuzeit. Damit war die politische Karriere der Peterskuppel gesichert, wenn auch nicht ohne den Einfluss kirchenpolitischen Konkurrenzdenkens. Kaum hatte das große Feuer des Jahres 1666 in London die gotische St. Paul’s Cathedral zerstört, da schuf die protestantische Vormacht des Nordens zwischen 1673 und 1711 an derselben Stelle ein von Sir Christopher Wren entworfenes, im­ posantes und möglicherweise ästhetisch gelungeneres Anti-St.-Peter. In Berlin diskutierte man das ganze 19. Jahrhundert hindurch über einen re­ präsentativen Neubau an der Stelle des Doms, der 1750 fertig gestellt und von Karl Friedrich Schinkel nach Meinung seiner Zeitgenossen allzu bescheiden umgebaut worden war. In St. Petersburg entstand ja zwischen 1818 und 1858 die Isaaks-Kathedrale, das orthodoxe Exemplar einer Renaissance-Kuppelkir­ che in ziemlich strengen Formen. Den preußischen Königen ging es zwar in erster Linie um eine angemessene evangelische Hof- und Hauptkirche, doch wurde das Projekt immer auch als protestantisches St. Peter gedeutet, sogar ausdrücklich mit der Absicht, die Papstkirche architektonisch zu übertrump­ 28 Adolf Reinle, Zeichensprache der Architektur. Symbol, Darstellung und Brauch in der Baukunst des Mittelalters und der Neuzeit, Zürich etc. 1976, S. 113f. 29 Bandmann, S. 26. 30 Klaus von Beyme, Erziehung zum Untertanen. Erhebung und Einschüchterung in der Architektur, in  : ders., Kunst, S. 239–251.

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Abb. 4  : Ansicht des Berliner Doms von Nordwesten, 1905.

fen. Das war im Jahre 1868 – bald sollte der Kulturkampf beginnen. Nach der schönsten gotischen Kirche der Welt in Köln sollte Deutschland jetzt auch die schönste Renaissancekirche der Welt in Berlin bekommen31, selbstverständlich mit einem kuppelgekrönten Zentralbau. Denn »dem Vorbild der italienischen Hochrenaissance wohnt unter anderem die Fähigkeit inne, dem Imponieren und Auftrumpfen zu dienen.«32 Es ist nicht weiter erstaunlich, dass der gel­ tungssüchtige junge Kaiser Wilhelm II. sich 1888 sofort für den neubarocken Entwurf von Julius Raschdorff entschied, der mit Abänderungen bis 1905 ver­ wirklicht wurde. Trotz zahlreicher Kriegsschäden hat man den Dom im Ge­

31 Carl-Wolfgang Schürmann, Der Berliner Dom im 19. Jahrhundert, Berlin 1980, S. 113, 144  ; Karl-Heinz Klingenburg, Der Berliner Dom. Bauten, Ideen und Projekte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Berlin 1992, S. 150–157. 32 Ebda., S. 152.

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gensatz zum Schloss nicht abgerissen.33 Bereits in der DDR wurde mit seiner Restaurierung begonnen, die heute abgeschlossen ist. Der Bau musste sich al­ lerdings nicht nur als ästhetisch misslungen kritisieren lassen, sondern wurde von vorneherein als politische Architektur denunziert. Die »Reichsrenommier­ kirche« sei »der größte Propagandabau des Wilhelminischen Deutschland«.34 Inzwischen ist ein weiteres Neu-St. -Peter an unerwarteter Stelle entstan­ den, zur Abwechslung ein katholisches  : nämlich Notre-Dame-de-la-Paix in Yamoussoukro, an der Elfenbeinküste in Westafrika. Felix Houphouet-Boigny, lebenslanger Herrscher und Staatschef, der erst in den späten 1980ern politisch angefochten wurde, hatte sein Heimatdorf Yamoussoukro 1984 zur neuen Lan­ deshauptstadt erklärt. Im Zuge des daraufhin anbrechenden Baubooms stiftete Houphouet-Boigny diese imposante Basilika als Ausdruck seines persönlichen Glaubens und zum Dank für Frieden. Dass es sich um eine Imitation von St. Peter handelt, wird an der Kuppel aus Stahl und Aluminium deutlich. Sie dominiert das Bauwerk sehr viel stärker als es beim römischen Original der Fall ist und gilt mit 158 Metern als höchste Konstruktion dieser Art in der Welt – St. Peter misst nur 132,50 Meter. Vor allem aber ist Notre-Dame-de-la-Paix die einzige Nachfolgekirche, die zwar insgesamt kleiner ausfällt als ihr Vorbild, aber um sich herum genug Raum zur Verfügung hat, um den Petersplatz mit Berninis Kolonnaden – als Symbol der Kirche, die die Menschen umarmt – nachzubilden. Der Stil ist weniger Barock als klassizistisch, die Ausstattung aber hat viele afrikanische Elemente aufgenommen.35 Der unvermeidliche Besuch des letzten Papstes in Yamoussoukro wirft aus historisch-anthropologischer Sicht die interessante Frage auf, ob das Christen­ tum inzwischen nach Afrika ausgewandert ist. Denn für den Rest der Welt stellt die dortige Basilika eher einen Anachronismus dar. Seit der Französi­ schen Revolution sind Kuppelbauten säkulare Machtzeichen geworden, Sym­ bole staatlicher Würde, wenn nicht sogar eines imperialen Anspruchs. Sie sind das ausschlaggebende Element politischer Beeindruckungsarchitektur.36 Man könnte den Invalidendom in Paris, der von einer Kirche zur säkularen Helden­ gedenkstätte umfunktioniert wurde, als Wendemarke nehmen. Aber als Mo­ dell für alles Weitere darf das Mitte des 19. Jahrhunderts vollendete Kapitol 33 Godehard Hoffmann, Architektur für die Nation. Der Reichstag und die Staatsbauten des Deutschen Kaiserreichs 1871–1918, Köln 2000, S. 197–202. 34 Klingenburg, S. 204. 35 http://basilique.free.fr/basilica/ (zuletzt am 12.1.2017). 36 Reinle, S. 125  ; Nerlinger, S. 14 nach E. Baldwin Smith, The Dome, Princeton 1950  ; Beyme, Kunst, S. 240.

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in Washington gelten, Vorbild für unzählige Parlamentsgebäude in Nord- und Süd­amerika. Nun hatten allerdings die parlamentarismusfeindlichen und an­ tidemokratischen Nationalsozialisten einen ähnlichen Geschmack   : Albert Speers große Halle im geplanten neuen Berlin hätte mit 290 Metern Kuppel­ höhe und 180.000 Menschen Fassungsvermögen alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt. Seit der Zeit der ägyptischen Pyramiden lebt Beeindruc­ kungsarchitektur nicht selten von ihrer schieren Masse und ihren gigantischen Abmessungen. Ohne Kuppel ging es auch beim Berliner Reichstag oder der Bayerischen Staatskanzlei in München nicht. Ministerpräsident Max Streibl begründete die Integration des kuppelgekrönten Armeemuseums in den Neu­ bau der Staatskanzlei seinerzeit mit den Worten  : »… damit der Bürger den Staat nicht aus den Augen verliert.«37 Beeindruckungsarchitektur lebte aber nicht nur vom Klassizismus oder der Neo-Renaissance, die im 19. Jahrhundert von der Pariser École des Beaux-Arts propagiert wurde.38 Das zeigte sich vor allem dann, wenn im Gegensatz zu die­ sen Stilrichtungen, die eine internationale und überzeitliche Verbreitung fan­ den, bewusst ein nationaler Baustil gesucht war. Im Kaiserreich beispielsweise kam die Gotik nicht in Frage, weil sie französischer Herkunft war. Also verfiel man um 1890 auf die Romanik als Baustil der mittelalterlichen Kaiserherr­ lichkeit, eine Vorstellung, die der in Kunstfragen durchaus kompetente Wil­ helm II. begeistert aufgriff.39 In seiner Rolle als preußischer König bevorzugte er Neu-Barock, als Deutscher Kaiser hingegen Neu-Romanik – sofern er selbst die Entscheidung treffen durfte, denn die Reichsbauverwaltung operierte un­ abhängig und relativ unideologisch, und sie praktizierte einen historistischen Eklektizismus.40 Seine neoromanischen Vorstellungen als Bauherr konnte der Kaiser hingegen in Jerusalem verwirklichen, an der evangelischen Erlöserkir­ che, der katholischen Dormitio, der Kaiserin-Auguste-Victoria-Stiftung auf dem Ölberg sowie im Kaiserschloss von Posen, dem größten neu-romanischen Gebäude auf Reichsboden, das zwischen 1905 und 1910 errichtet wurde.41 Durch neue Forschungen des Freiburger Historikers Heinrich Schwende­ mann wurde dieses Posener Schloss zu einem besonders aufschlussreichen, ja brisanten Fall politischer Architektur, weil Hitler es von 1940 bis 1944 zu sei­ 37 Nerlinger, S. 12. 38 Hoffmann, S. 51–53. 39 Martin Stahter, Die Kunstpolitik Wilhelms II., Konstanz 1994, S. 35–40. 40 Michael Bringmann, Studien zur neuromanischen Architektur in Deutschland, Diss. phil. Hei­ delberg 1968, bes. S. 318  ; Hoffmann, passim. 41 Hoffmann, S. 225–230, 233–238.

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ner Residenz in der Hauptstadt des NS-Musterterritoriums Warthegau aus­ bauen ließ.42 Dieser Sachverhalt ist bereits als solcher von hoher politischer Symbolik. Bezeichnenderweise trägt eine erste Presseveröffentlichung darüber den Titel »Inszenierte Macht«.43 Posen, seit der zweiten polnischen Teilung 1793 preußisch, war im Kai­ serreich ein Brennpunkt des deutsch-polnischen Nationalitätenkonflikts. Als 1902 die alten Festungsanlagen abgerissen wurden, stellte man der zur Stagna­ tion verurteilten polnischen Altstadt im Osten ganz gezielt eine großzügige deutsche Neustadt gegenüber, mit einem ausgedehnten Komplex deutscher Herrschaftsarchitektur in verschiedenen Stilen  : Akademie, Theater, Ansied­ lungskommission, Banken, evangelisches Gemeindehaus, ein Bismarck-Denk­ mal und als Kern die neu-romanische Kaiserpfalz. Wie den unzuverlässigen Elsässern mit der Hohkönigsburg gezeigt werden sollte, wer der Herr im Hause war, so wollte man es den widerspenstigen Polen mit dieser Zwingburg zeigen  : Schon 1902 ließ Wilhelm II. sich deshalb in der Marienburg des Deutschen Ordens als Erbe der Ordensritter feiern  ; die Einweihung des Posener Schlosses 1910 wurde dann gezielt als Revanche für die Niederlage des Ordens bei Tan­ nenberg im Jahre 1410 und als Gegenfeier zu den polnischen Gedenkveranstal­ tungen inszeniert. Der Architekt schrieb aus diesem Anlass  : »Als Wahrzeichen für die Kraft des Deutschtums soll der Bau wirken, sein Gepräge soll diesem auch äußerlich Rechnung tragen  ; deshalb wurden seine Bauformen ro­ manisch gewählt.«44

Der Bau nach dem Vorbild einer mittelalterlichen Kaiserpfalz wurde freilich mit nordischen und imperialen Symbolen angereichert, die den Kaiser an­ derswo beeindruckt hatten. Zu einer altdeutsch-nordischen Innenausstattung in dunkler Eiche kam ein byzantinischer Thronsaal hinzu, der größer war als derjenige des Berliner Schlosses, sowie eine Kapelle im Turm, die sich am Vor­ bild der Cappella Palatina des normannischen Palastes in Palermo orientierte. Auf einem der Bilder erhält ein kniender Kaiser durch einen Engel seine Krone von Christus – Wilhelm II. blieb bis zum Schluss von seiner Macht qua Gottes­

42 Heinrich Schwendemann/Wolfgang Dietsche, Hitlers Schloss. Die Führerresidenz in Posen, Ber­ lin 2003, S. 9–13, 17f., 27–38, 38–56, 68–70, 95, 107–153, 177. 43 Elisabeth Kiderlen in  : Badische Zeitung v. 8. Februar 2002. 44 Hoffmann, S. 235.

Historische Anthropologie politischer Architektur  Abb. 5  : Posener Schloss (Gartenfassade) – nach alter Postkarte.

Abb. 6  : Altdeutsch-nordische Innenausstattung des Posener Schlosses unter Wilhelm II.

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Abb. 7  : Neuauskleidung des Posener Schlosses in der NS-Zeit.

gnadentum überzeugt.45 Der 75 Meter hohe, vom Preußenadler gekrönte Turm besaß eine Uhr, deren überall zu vernehmende Glocke den Polen verkündete, wem die Stunde geschlagen hat. Die Zifferblätter wurden von Ordensrittern flankiert, und von der Fassade blickten Karl der Große und Friedrich Barba­ rossa auf die Passanten herab, wobei Karl die Züge Wilhelms II. trug. Nach 1918 hat man nur wenig verändert. Bismarck-Denkmal und Preu­ ßenadler verschwanden, die Kapelle wurde katholisch und das Gebäude von der Universität genutzt. 1939 aber entschied Hitler sich für eine »Führerresi­ denz Posen«, mit der er demonstrativ an die jetzt brutal auf die Spitze ge­ triebene Germanisierungspolitik des Kaiserreichs anknüpfte. Obwohl er das Gebäude nie besucht hat, richteten sich seine Architekten unter Speers Ober­ leitung detailliert nach seinen Wünschen, so dass die »ausgereifteste« aller Füh­ rerresidenzen zustande kam. Die nötigen Mittel für den Bau, den die Firma Holzmann durchführte, wurden trotz Krieg und Materialknappheit bis Juli 1944 rücksichtslos beschafft. Das neu-romanische Gebäude wurde im Innern völlig entkernt, Zimmer, Flure und Treppen völlig umgestaltet. Alles, was an die Kaiserherrschaft erinnerte und alle religiösen Symbole mussten weichen. 45 Ebda., S. 236.

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Abb. 8  : Relief am Posener Schloss, 1944.

Bezeichnenderweise hat man die Kapelle im Turm durch ein 130 m2 großes Ar­ beitszimmer mit einem Führerbalkon ersetzt, auf dem sich Hitler den Massen zeigen sollte – der Kontrast könnte kaum größer sein  : Statt des Kaisers altdeut­ scher Eiche wurde eine antikisierende Auskleidung in Marmor und anderem kostbarem Material geschaffen, die Privaträume mit Edelholzvertäfelung im Stile großer Hotels und Luxusdampfer ausgestattet. Reliefs germanischer Mus­ kelmänner gaben einen rassischen Beiklang. Vier- bis fünfhundert polnische Arbeiter waren vier Jahre lang mit dem Bau beschäftigt. Die deutsche Bevölkerung nahm Anstoß an dem Aufwand, für den sie allerdings in erster Linie Gauleiter Greiser verantwortlich machte. In seinen 1969 erschienenen »Erinnerungen« erwähnt Speer das Posener Projekt nicht. Heute befinden sich ein Kulturzentrum und eine Computerfirma in dem Ge­ bäude, das im Wesentlichen unverändert geblieben ist. Posen, das war politische Architektur für eine Fremdherrschaft. Man könnte zum Vergleich die aufwendigen Bauten des Kaiserreichs im Elsass, vor allem in Straßburg heranziehen und nach der Botschaft fragen, die sie vermitteln sollten.46 Der Inbegriff von Fremdherrschaft in der neueren Geschichte ist al­ 46 Ebda., S. 160–185.

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lerdings die Kolonialherrschaft, insbesondere die europäische. Es erscheint also angebracht, auch einen Blick auf Beispiele von kolonialer und nachkolonialer Architektur zu werfen. Was private Bauten angeht, so dürfte inzwischen fest­ stehen, dass sie nicht mehr ausschließlich auf anpassungsfähige und kreative Kolonialpioniere zurückgehen, sondern ein Ergebnis komplizierter Kulturkon­ takte darstellen, zu denen die unterschätzten Westafrikaner in Amerika das Ih­ rige beigetragen haben. Analog zur Sprachentwicklung könnte man von einer »Kreolisierung« der Architektur sprechen. Die Kreolisierung würde sich damit als ein übertragbares anthropologisches Muster erweisen.47 Anders verhält es sich mit der Herrschaftsarchitektur der Kolonialmächte, die nur in Ausnahmefällen Elemente der einheimischen Kultur aufgriff, diese aber stets den eigenen Vorstellungen ein- und unterordnet. Das zeigt sich sogar in Britisch-Indien mit seiner grandiosen einheimischen Bautradition, deren Erben den Briten freilich als dekadent galten. Außerdem wurde strikt zwischen Hindus und Moslems unterschieden, wobei die letzteren mit Bogen und Kup­ pel zwei Bauelemente einsetzten, die auch den Europäern vertraut waren, so dass sie sich sogar zur Bewunderung des Taj Mahal oder des Palastkomplexes von Fatehpur Sikri aufschwingen konnten.48 Wenn daher in Indien überhaupt architektonischer Synkretismus stattfand, dann in erster Linie mit der Bau­ kunst der Moslems. Das gigantische neue Regierungsviertel für Indien, das zwischen 1912 und 1931 errichtet wurde, stellt nicht nur ein herausragendes Beispiel für Ein­ schüchterungsarchitektur dar, sondern bedient sich ganz überwiegend der Formensprache des neopalladianischen Allerweltsklassizismus, wie er überall anzutreffen ist. Bezeichnenderweise bildet der riesige Palast des Vizekönigs das Zentrum, symmetrisch flankiert von den Verwaltungsgebäuden, während das Parlamentsgebäude bewusst auf einen Nebenschauplatz verbannt bleibt. Selbstverständlich bildet eine 65 Meter hohe Kuppel das Herzstück des von Edwin Lutyens entworfenen Vizekönigspalastes, der nur im Detail Zitate aus dem Roten Fort und Fatehpur Sikri aufweist. Das kreisrunde Parlamentsge­ bäude von Herbert Baker hingegen ist rein klassizistisch und scheint dem Pa­ last Kaiser Karls V. in Granada nachempfunden zu sein. Klassizistisch sind 47 Jay D. Edwards, Architectural Creolization  : the Importance of Colonial Architecture, in  : Amer­ linck, S. 84–120, der auf die wegweisende, aber ergänzungsbedürftige Studie von Anthony King, The Bungalow  : the Production of a Global Culture, 2. Aufl., New York 1995 verweist. 48 Thomas R. Metcalf, Architecture in the British Empire, in  : The Oxford History of the British Empire, Bd. 5. Oxford 1999, S. 584–595.

Historische Anthropologie politischer Architektur  Abb. 9  : Ost-Portal des Palasts des Vize­ königs in New Delhi.

Abb. 10  : Das Parlamentsgebäude in New Delhi.

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auch die Verwaltungsgebäude von Baker und anderen, die übrigens denen, die Baker in Pretoria errichten ließ, zum Verwechseln ähnlich sehen.49 Die problemlose Übernahme der britischen Gebäude durch die Regierung des unabhängigen Indien und die Ähnlichkeit des Stils bei späteren baulichen Ergänzungen entspricht dem üblichen Modernitätswillen nachkolonialer Re­ gimes. Dennoch hat sich die klassizistische Herrschaftsarchitektur trotz Ya­ moussoukro nicht weltweit durchgesetzt. Es gibt bemerkenswerte Ausnahmen, und zwar nicht nur das rückhaltlose Bekenntnis zur architektonischen Avant­ garde der 1950er Jahre in der von Le Corbusier entworfenen Stadt Chandigarh, der Kapitale der indischen Bundesstaaten Punjab und Haryana, oder im Bra­ silia von Costa und Niemeyer. Aufschlussreicher für die politische Anthropo­ logie sind Amalgame von kulturellen Elementen verschiedener Herkunft, wie wir sie in islamischen Ländern finden und an mindestens einer Stelle in China, nämlich in dem 1976/77 binnen eines Jahres von 700.000 Menschen errichte­ ten Grabmal Mao Zedongs.50 Mit dieser »Gemeinschaftsleistung« wurde erfolgreich die Einheit des Volkes zelebriert, was dringend geboten war angesichts der Naturkatastrophen von 1976, die offiziell mindestens 650.000 Tote gefordert hatten, sowie der drohen­ den Führungskämpfe mit der berühmten »Viererbande«. Für Hua Guofeng, Maos Nachfolger, war die gekonnte Verfügung über dessen Leichnam ein uner­ setzliches Unterpfand seiner legitimen Macht. Es war keineswegs ausgemacht, dass die Einbalsamierung und öffentliche Zurschaustellung im Sinne des »Gro­ ßen Vorsitzenden« war. Aber die Inszenierung erfüllte ihren Zweck. Die quadratische Gedenkhalle von erdbebensicherer Solidität steht im Süd­ teil des »Platzes des himmlischen Friedens«, der wiederum auf der Nord-SüdAchse der Stadt liegt. Das Monument ruht auf einer 105,5 Meter langen Ter­ rasse aus rotem Granit, der die ewige Dauer des rotchinesischen Sozialismus symbolisieren soll. Der Kernbau ist von einer Galerie aus granitverkleideten, schlanken Betonpfeilern von 17,5 Metern Höhe umgeben. Durch eine Vor­ halle gelangt man in den aufwendig gestalteten großen Nordsaal, an dessen Südwand ein 24 Meter langer und 7 Meter hoher Wandteppich »Die große Landschaft des Vaterlandes« darstellt. Davor ist eine strahlend weiße Sitzstatue 49 Robert Grant Irving, Indian Summer. Lutyens, Baker, and Imperial Delhi, New Haven etc. 1981. 50 Ich folge der Interpretation von Lothar Ledderose, Die Gedenkhalle für Mao Zedong. Ein Beispiel für Gedächtnisarchitektur, in  : Jan Assmann/Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt 1988, S. 311–339.

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Abb. 11  : Die Gedenkhalle für Mao Zedong auf dem Platz des himmlischen Friedens von Norden.

Mao Zedongs platziert, die den Besucher freundlich anlächelt. Südlich davon gelangt man in die Grabkammer, wo Maos Leiche in einem Sarg mit Glasdec­ kel, bis zur Brust von einer roten Fahne bedeckt, zu sehen ist. An der Nord­ wand des anschließenden Südsaals ist ein Mao-Gedicht über den Endsieg der Revolution eingemeißelt. Neben den Wirtschaftsräumen enthält das Gebäude noch vier Aufenthaltsräume. Hier konvergieren verschiedene Traditionslinien politischer Architektur, westliche und chinesische, moderne und traditionelle. Dieses Amalgam ist ge­ eignet, etwas über die politische Kultur Chinas auszusagen. Bereits die Stand­ ortwahl erscheint bedeutsam. Der heutige »Platz des himmlischen Friedens« erhielt seinen Namen nach jenem Südtor des nördlichen Palastbezirks, wo Mao 1949 die Volksrepublik proklamiert hatte. Das Tor ist Bestandteil des chinesi­ schen Staatswappens geworden. So knüpfte Chinas Regierung an Traditionen der Kaiserzeit an – eigentlich, um sie zu überwinden. Doch erreichte man damit, dass sie nun erst recht im Gedächtnis haften blieben. Vor dem Tor be­ fand sich ursprünglich nur die Nord-Süd-Straße. Ab 1949 wandelte man sie in einen freien Platz um, der für den Aufmarsch von einer Million Menschen ausgelegt war und von den neuen Kolossalbauten des Volkskongresses und Hi­ storischen Museums flankiert wurde. In seiner Mitte kam eine Gedenkstelle für die Helden der Revolution zu stehen. Mit der Errichtung des Mausoleums wurde das Konzept ungeheurer Massenaufmärsche und der politischen An­ wesenheit des Volkes zumindest teilweise in Frage gestellt. Mit der Schaffung eines freien Platzes vor dem Zentrum der Macht übernahmen die chinesischen

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Städtebauer an und für sich ein Konzept der westlichen Urbanistik. Es ist uns aus Paris, Berlin, Moskau oder – am deutlichsten – aus Washington bekannt, wo eine Achse vom Kapitol zum Lincoln Memorial führt, mit dem Washing­ ton-Obelisken in der Mitte. Die Unterbrechung der Nord-Süd-Achse durch Bauten ist ebenso unchinesisch wie die Tatsache, dass Maos Sitzstatue nach Norden blickt und dem Kaiser, dessen Tradition er doch in mancher Hinsicht fortgeführt hatte, sozusagen die Stirn bietet. Mausoleen und Gedenkhallen, in denen Helden als Statuen präsent sind, gehören zur Tradition der politischen Architektur des Abendlandes, sind dort aber weitgehend aus der Mode gekommen. Mausoleen entstanden im 20. Jahr­ hundert vor allem in Randzonen des westlichen Kulturraums, etwa in Ankara für Atatürk (1938) und natürlich in Moskau für Lenin. Das Lenin-Mausoleum in Moskau, mit seiner Platzierung, seinem roten Granit und der Präsentation des mumifizierten Leichnams, diente China in vieler Hinsicht als Vorbild. Da­ mals wollte Peking ja auch noch den Anspruch aufrechterhalten, mit Moskau um die Macht und Führung in der kommunistischen Welt zu konkurrieren. Kirchen, die man zu Kollektivgrabstätten mit Denkmälern umfunktioniert hat, wie das Pantheon und der Invalidendom in Paris, oder Westminster in London, bilden den Übergang zu einem Typ von Gedenkhalle, den Leo von Klenzes Walhalla, das zwischen 1830 und 1842 bei Regensburg gebaut wurde, wohl am reinsten verkörpert. Als 1922 in Washington das auf den Fünf-Dollar-Noten abgebildete Lin­ coln Memorial vollendet wurde, galt dergleichen in Europa schon nicht mehr als zeitgemäß. »Die Ähnlichkeit mit der Gedenkhalle für Mao Zedong ist frappant. Das Lincoln Memorial hat ebenfalls einen oben flach abgeschlossenen Kernbau, der über einen auf den vier Seiten herumgeführten Pfeilerumgang hinausragt. Selbst die Zahl der zwölf Stützen in der Fassadenfront ist identisch. Auch das Lincoln Memorial betritt der Besucher durch das mittlere Joch, um sich einer überlebensgroßen Sitzstatue des Verehrten gegenüberzusehen, und außerdem schmücken auch hier seine in Stein gemeißelten Texte die Wände, nämlich die Gettysburg Address und die Second In­ augural Address.«51

Es handelt sich in Peking also um die Verbindung zweier obsoleter westlicher Bautypen, der Gedenkhalle und des Mausoleums, die außerdem weder in Eu­ 51 Ebda., S. 330.

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Abb. 12  : Fünf-US-Dollar-Note mit Lincoln Memorial.

ropa noch in den USA in dieser Kombination zu finden sind. Hier kommt die reiche chinesische Mausoleumstradition ins Spiel. Wie chinesische Paläste in einen vorderen Audienz- und einen hinteren Privatteil gegliedert sind, so ver­ fügen chinesische Mausoleen über eine vordere Gedenkhalle und eine hintere Grabkammer. Auch die für westliche Begriffe unangebrachten Aufenthalts­ räume rechts und links der Hauptachse gehören zur chinesischen Architektur­ tradition. Die Fortsetzung dieser Tradition mit einer Art Kaisergrab für Mao ergab sich unter anderem daraus, dass auch der Führer der Revolution von 1911, Sun Yatsen, ein solches erhalten hatte, und zwar unmittelbar neben dem des ersten Ming-Kaisers und Gründers der letzten »nationalen« Dynastie. Die Sitzstatue Maos scheint auf den ersten Blick ganz und gar in die west­ liche Tradition zu gehören  ; abermals sei an Lincoln erinnert. Doch das Feh­ len jeglicher Attribute und das entspannt-freundliche Lächeln sind in China Kennzeichen, die den allerhöchsten Wesen wie dem Buddha beigemessen wer­ den. Auch das Landschaftsbild hinter der Statue, das den Kosmos abbilden soll, gehört als altes kaiserliches Hoheitssymbol in die chinesische Tradition. Sogar die Einbalsamierung des Leichnams ist nicht allein mit dem westlichen Vorbild Lenins zu erklären, sondern steht im Kontext chinesischer Heiligenverehrung und Unsterblichkeitsvorstellungen. Das Mao-Zedong-Mausoleum macht deutlich, wie politische Macht sym­ bolisch inszeniert werden kann und wie es diese Inszenierung versteht, viel­ fältige anthropologisch zu deutende kulturelle Muster zu nutzen. Eines frei­ lich hat unser Überblick nicht erbracht  : eine grundsätzliche Differenzierung politischer Architektur nach den unterschiedlichen Verfassungskulturen. Ins­ besondere die klassizistische Beeindruckungsarchitektur samt Kuppelbauten

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Historische Anthropologie politischer Architektur Abb. 13  : Sitzstatue Mao Zedongs in der Gedenkhalle.

erfreut sich in den unterschiedlichsten Regimes großer Beliebtheit. Offensicht­ lich neigen Bauherren wie Architekten dazu, Aufgaben politischer Architektur mit Hilfe traditioneller Formen, die ihnen vertraut sind, zu lösen. Das mag mit dem allgemeinen Befund der Architekturanthropologie zusammenhängen, »that Homo architectonis is a remarkable conservative creature«.52 Es könnte aber auch auf die Schlussfolgerung hinauslaufen, dass nicht die verschiedenen Verfassungsformen die Welt in je verschiedener Weise prägen und gestalten, sondern dass vielmehr die politische Macht und der Staat als solche, unge­ achtet des Charakters der verschiedenen Regimes, überall ziemlich ähnliche Spuren hinterlassen.

52 Edwards, S. 94.

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Bildnachweise Abb. 1  : Virgilio Vercelloni, Europäische Stadtutopien, München 1994, Tafel 1. Abb. 2  : Thomas Handforth, Mei Li. Garden City, New York 1931, Innenseite des rückwärtigen Einbandes. Abb. 3  : British Museum, Dept. of Prints  ; Foto  : John Freeman. Abb. 4  : Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege, Meßbildarchiv. Abb. 5  : Dr. Heinrich Schwendemann, Historisches Seminar der Universität Freiburg. Abb. 6  : Dr. Heinrich Schwendemann, Historisches Seminar der Universität Freiburg. Abb. 7  : Dr. Heinrich Schwendemann, Historisches Seminar der Universität Freiburg. Abb. 8  : Dr. Heinrich Schwendemann, Historisches Seminar der Universität Freiburg. Abb. 9  : Robert Grant Irving. Abb. 10  : Robert Grant Irving. Abb. 11  : Klinger. Abb. 12  : Klinger. Abb. 13  : Mao zhuxi jiniantang gihua sheji, in  : Jianzhu xuebao 1977/4, S. 3–47.

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Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife Plädoyer für eine materialistische Anthropologie*

Der Titel, unter dem ich einige kritische Überlegungen zur aktuellen anthro­ pologischen Methodologie vortragen möchte, bezieht sich auf eine Bemerkung des allzu früh verstorbenen Robert Scribner, der entschieden feststellte, dass sich nicht alles und jedes in einer Kultur symbolisch deuten lasse, sondern oft genug keinen anderen als einen bloßen materiellen und – so füge ich hinzu – trivialen Charakter habe. Vielleicht nicht immer, aber oft genug ist eine Pfeife daher wirklich nur eine Pfeife,1 das heißt ein praktisches Gerät zum Tabakkon­ sum und sonst nichts. Obwohl Scribner aktuelle anthropologische Verfahren beherrschte und schätzte, ist er mit dieser Bemerkung seinem Ursprung als Sozialhistoriker treu geblieben. Da er offensichtlich auf einen berühmten Text Michel Foucaults von 1973 anspielt,2 dürfen wir durchaus unterstellen, dass er nicht nur die selbstverständlich angenommene Symbolik des Rauchgeräts im Auge hatte, sondern nicht minder seinen ebenfalls selbstverständlich behaup­ teten Charakter als bloßes sprachliches Konstrukt, das nur als Text existiert. Denn Foucault kommentiert in diesem Sinn zwei Bilder des Surrealisten René Magritte (1898–1967), von denen das erste schon 1926 entstanden sein dürfte. Dort tragen penibel genaue Zeichnungen von Pfeifen die paradoxe Unterschrift Ceci n’est pas une pipe/Dies ist keine Pfeife. Magritte griff nicht auf Traumwelten zurück wie andere Surrealisten, sondern verfremdete banale Dinge des Alltags bis zur Groteske, indem er sie zwar technisch perfekt naturalistisch wiedergab, aber durch irreale Zusammenfügung in Frage stellte. Das sollte auf die Dialek­ tik von Abbild und Wirklichkeit hinweisen, das Vertraute unvertraut werden lassen und so ein neues Sehen lehren, dessen Inhalte freilich offen bleiben. Dass Magritte sich in diesem Fall zur Verfremdung einer Unterschrift bediente, gab Foucault Gelegenheit, die Sprachdimension hinzuzufügen oder zumindest aus­ zureizen und die Bilder dadurch noch mehrbödiger zu machen. * Vortrag, gehalten auf der von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Tagung »Anthropologien im Gespräch« in Freiburg, 27.–30. November 2003. 1 Robert W. Scribner, Historical Anthroplogy of Early Modern Europe, in  : Ronnie Po-chia Hsia/ Robert W. Scribner (Hg.), Problems of the Historical Anthropology of Early Modern Europe, Wiesbaden 1997, 11–34, hier 20. 2 Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife, München 1974, franz. 1973.

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Er unterstellt, Magritte habe den Entwurf eines Gesamtkalligramms dekon­ struiert zu einer Zeichnung, die keine Pfeife, sondern die Zeichnung einer Pfeife ist, und zu einem Satz, der keine Pfeife ist, sondern ein Satz, der sagt, dass dies keine Pfeife ist, ein autonomer Text, der sagen will  : Ich bin nichts als diese Wörter. Der Satz »Dies ist keine Pfeife« war das Einschneiden des Diskurses in die Form der Dinge, meint Foucault.3 Auf diese Weise werde die Festigkeit des Bildes mit Wörtern ausgehöhlt und zunächst in Unordnung, dann aber in neue Ordnung gebracht. Magritte spiele mit seinen Pfeifen die Gleichartigkeit gegen die Ähnlichkeit der herkömmlichen künstlerischen Mimesis aus, ähnlich wie die seriellen Bilder der späteren Pop-Art. Statt um das Wiedererkennen des Sichtbaren soll es um das Sehen dessen gehen, was die vertrauten Gegenstände nicht sehen lassen. Eine Stimme ohne Ort sagt daher  : »Nichts von all dem ist eine Pfeife  ; sondern ein Text, der einen Text simuliert  ; ein Pfeifenbild, das ein Pfeifenbild simuliert  ; eine Pfeife (gezeichnet, als ob sie eine Zeichnung wäre), die das Trugbild einer Pfeife ist (gezeichnet in der Art einer Pfeife, die keine Zeichnung sein will).« Dazu dann die Stimme Foucaults  : Sieben Diskurse in einer einzigen Aussage. Sie sind aber notwendig, um die Festung niederzureißen, in der die Gleichartigkeit die Gefangene der Ähnlichkeitsbehauptung war.4 Was es hinter der Ähnlichkeit der vertrauten Gegenstände dank Ausspielen der Gleichartigkeit anstelle der Pfeife zu sehen geben könnte, erfahren wir frei­ lich nicht. Und mehr noch als hinter dem surrealistischen Bluff Magrittes ist das reale Rauchgerät hinter den Wortkaskaden Foucaults verschwunden. Damit sind wir bei unserem Problem. Denn es könnte ja sein, dass Scribner sich geirrt hat, dass es um das Verschwinden der Pfeife, das heißt der Realität, auch der historischen Realität, gar nicht schade ist, dass wir sehr viel besser daran tun, uns stattdessen um Texte, Zeichen und deren Bedeutung zu kümmern, weil die Bedeutung von Geschichte ohnehin auf die Geschichte von Bedeutung hin­ ausläuft. Dem möchte ich heute widersprechen. Um wohlfeilen Missverständ­ nissen vorzubeugen und den üblichen Aggressionen den Wind aus den Segeln zu nehmen, soll vorab ausdrücklich festgestellt werden, dass ich keineswegs beabsichtige, die methodologischen Errungenschaften der symbolischen Anth­ ropologie und der linguistischen Wende insgesamt in Frage zu stellen – ich bin schließlich nicht größenwahnsinnig. Ich wende mich nur gegen den daraus ab­ geleiteten aktuellen Reduktionismus mit seinem wissenschaftsimperialistischen Anspruch auf Deutungshoheit – damit habe ich bereits genug zu tun. 3 Ebd., 32. 4 Ebd., 45 f.

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Bekanntlich hat die deutsche Geschichtswissenschaft das struktur-funkti­ onalistische Paradigma westlicher Sozialwissenschaften nicht akzeptiert. Man hielt und hält sich hierzulande lieber an Max Webers verstehende Soziologie. Die historische Sozialwissenschaft Bielefelder Art wurde damit zum Inbegriff geschichtswissenschaftlicher Innovation. Im ersten Band der Bielefelder Zeit­ schrift Geschichte und Gesellschaft äußerte sich 1975 der Soziologe Wolf Lepe­ nies programmatisch über Geschichte und Anthropologie. Er ging dabei deutlich auf Distanz und ließ Historische Anthropologie nur zu als hermeneutisch ver­ standene histoire des mentalités mit der Aufgabe, z. B. Sexualverhalten durch Rekurs auf Mentalitäten zu erklären.5 Die hermeneutische Welt der deutschen Wissenschaft blieb heil, weil sie energisch heil gehalten wurde  ! Im Gegenteil, die Ethnologie erlebte ihre Bekehrung zur Hermeneutik. Maßgebend wurde die symbolische Anthropologie nach Victor Turner und vor allem nach Clifford Geertz, dessen Aufsatz Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur (Thick Description. Toward an Interpretative Theory of Culture) von 1973, deutsch bezeichnenderweise bei Suhrkamp und erst 1983 veröffentlicht, heute eine Art Manifest der Historischen Anthro­ pologie geworden ist. Es wird darin ein semiotischer, d. h. zeichenwissenschaft­ licher Kulturbegriff proklamiert und unter Berufung auf Max Weber Kultur definiert als das selbstgesponnene Bedeutungsgewebe, in das der Mensch verstrickt ist. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht (wie die bisherige Ethnologie naturwissenschaftlicher Observanz), sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Das vollbringt sie mit der Technik der dichten Beschreibung, die verschiedene übereinander gelagerte Bedeutungsstrukturen eines beobachteten Phänomens interpretierend heraus­ arbeitet und sich dabei zusätzlich bewusst bleibt, dass unsere Aussage über die Auslegung, die beobachtete Menschen ihrem Tun geben, bereits wieder unsere Auslegung dieser Auslegung ist.6 Die alte, bei Historikern wie Ethnologen verbreitete Vorstellung, man könne sich quasi unter Auslöschung des eigenen Selbst vollständig in eine fremde oder eine vergangene Kultur einfühlen, wird damit wieder einmal als Illusion entlarvt. Auslegung kultureller Phänomene wird für Geertz dadurch möglich, dass Kultur im Sinne seiner semiotischen Definition aus ineinander greifenden Sys­ 5 Wolf Lepenies, Geschichte und Anthropologie. Zur wissenschaftshistorischen Einschätzung eines aktuellen Disziplinkontakts, in  : Geschichte und Gesellschaft 1 (1975) 325–343. 6 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, 2. Aufl., Frankfurt 1991, 9, 14 f.

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temen auslegbarer Zeichen oder Symbole besteht, die es zu entschlüsseln gilt. Auch Geertz muss also an der Geschlossenheit von Kulturen festhalten, weil ohne einen überindividuellen Code von Bedeutungen Auslegung überhaupt nicht möglich wäre. Aber diese Kohärenz ist eine bloß relative, der Code ist nicht zwingend, weil Kultur den Charakter eines sozialen Diskurses mit rela­ tiv offenem Ausgang hat. Deswegen muss die ethnographische Beschreibung notwendigerweise mikroskopisch sein. Sie lehnt groß angelegte Konzepte wie Kulturen, Prozesse, Epochen keineswegs ab, im Gegenteil, sie weiß, dass ihr Tun ohne solche sinnlos wäre. Aber sie ist gezwungen, sich ihnen von der sehr intensiven Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen her zu nähern. Das gut historisti­ sche Problem dabei liegt darin, dass sich auf diese Weise gefundene Deutungen nicht ohne weiteres verallgemeinern lassen. Es kann also nicht darum gehen, eine Reihe von Beobachtungen einem beherrschenden, offensichtlich vorher vorhandenen Gesetz unterzuordnen, sondern ungleich bescheidener zu versu­ chen, einen verständlichen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen. Des­ halb heißt es  : Die Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig.7 Bereits beim Vater des symbolischen Interaktionismus, dem Sozialpsycho­ logen George Herbert Mead, wird Sprache als Symbolsystem gedeutet.8 Daher ist der Ethnologe bei Geertz nicht nur ein Produzent von Texten, sondern seine Symbole deutende Tätigkeit gleicht dem Entziffern eines schwer lesbaren Manuskripts.9 In seiner berühmten Interpretation eines balinesischen Hah­ nenkampfes schrieb Geertz 1972  : Die Kultur eines Volkes ist ein Ensemble von Texten, die ihrerseits Ensembles sind  ; der Anthropologe bemüht sich, sie zu lesen, indem er denen über die Schulter schaut, denen sie eigentlich gehören (The culture of a people is an ensemble of texts, themselves ensembles, which the anthropologist strains to read over the shoulders of those to whom they properly belong).10 Geertz billigt übrigens an derselben Stelle dem Funktionalismus neben der symboli­ schen Interpretation eine legitime Rolle zu und in Dichte Beschreibung operiert er selbst mit der Kategorie Verhalten, wenn er vom Beobachtungsgegenstand spricht.11 Alternative Auffassungen von Historischer Anthropologie bleiben also bei etwas gutem Willen mit der seinigen durchaus vereinbar.   7 Ebd., 30, 37, 41.  8 George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt 1973 (eng. 1934), 110 f., 117 f.  9 Geertz, 51. 10 Nach Chandra Mukerji/Michael Schudson (Hg.), Rethinking Popular Culture, Berkeley 1993, 269, Übersetzung und Hervorhebung W. R. 11 Geertz, 16.

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Obwohl mit der Deutung von Kultur als Text ein Anknüpfungspunkt für postmodernen Dekonstruktivismus gegeben ist und auch genutzt wurde, mutet den Historiker doch das meiste, was Geertz ausführt, nicht besonders originell an, denn es läuft weithin auf wohlbekannte hermeneutische Grundsätze und Verfahren der älteren Geschichtswissenschaft hinaus. Wir sollten eben nicht vergessen, dass Geertz nicht zur Belehrung von Historikern schreibt, sondern eine Ethnologie in Frage stellen möchte, die sich – vergebens – am natur­ wissenschaftlichen Exaktheitsideal zu orientieren versuchte. Das änderte aber nichts daran, dass mit der Geertz-Rezeption der Aufschwung der Historischen Anthropologie in Deutschland einsetzte. Der Grund dafür ist offensichtlich. Wie Soziologie für deutsche Historiker nur in der hermeneutischen Variante Max Webers akzeptabel war, so Anthropologie ebenfalls nur in der hermeneu­ tischen Variante von Clifford Geertz  ! Der mikroskopische Blick nach Geertz wird von den Mikro- und Alltagshistorikern mit verschobener Perspektive angewandt. Beide bezogen ursprünglich die Position der Unterschichten, um implizit oder sogar explizit historische Kritik an den damaligen wie den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen ein­ schließlich der aktuellen Geschichtswissenschaft zu üben, aber im Gegensatz zur kritischen Sozialgeschichte früherer Jahre nun nicht mehr vom Standpunkt eines Kollektivs aus, sondern eines einzelnen, quellenmäßig fassbaren Men­ schen. Es handelte sich um die Wiederentdeckung des handelnden histori­ schen Subjekts durch die deutsche und die amerikanische Linke. Schon 1978 wurde erstaunlicherweise in der DDR von dem Philosophen Lothar Kühne die Unzufriedenheit mit wissenschaftlichen Kollektivsubjekten formuliert  : Eine soziale Klasse als gesellschaftliches Subjekt isst, singt und schläft nicht, und selbst zu einer ihr befreundeten Klasse tritt sie nicht in sexuelle Beziehungen.12 Das war die Reaktion auf eine Sozialgeschichte, die quantifizierend arbeitete und sich in erster Linie für anonyme Strukturen und Entwicklungsprozesse interessierte, etwa die viel diskutierte Modernisierung, die in Bielefeld eine so große Rolle spielte. Der Einzelmensch verschwand auf diese Weise aus der Geschichte bzw. war nur als statistische Nummer interessant. Sein Handeln oder Nicht-Handeln, soweit es den Sozialhistoriker interessierte, folgte als Marionette anonymer Kräfte sowieso strukturellen Zwängen und war daher im Einzelfall höchstens als typisches Beispiel von Interesse. Damit ging eine semantische Täuschung einher, die sich daraus ergab, dass die historische So­ 12 Nach Albert Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700, Liestal 1992, 15.

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zialwissenschaft die narrative Struktur und den am bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts orientierten Erzählstil der von ihr entthronten Politikhistori­ ker teilweise beibehalten hatte. So wie dort »Deutschland« oder »Frankreich« als handelnde Subjekte auftraten, so hier die Klassen und Gruppen oder gar die Gesellschaft als Ganze. Das läuft auf eine Reifizierung historischer Konst­ rukte hinaus,13 weil die Sprache uns die Vorstellung unterschiebt, dass diese zu handeln vermögen, was selbstverständlich nicht der Fall ist. Außerdem gelten große Erzählungen jeder Art nach der hermeneutischen Wende sowieso als un­ möglich, so dass Carlo Ginzburg, Natalie Zemon Davis, Robert Darnton und im deutschen Sprachraum Norbert Schindler neben anderen die kleine Erzählung in den Mittelpunkt der historischen Forschung rücken konnten. Die Schnittmenge der methodologischen Errungenschaften der verschiede­ nen unter Historischer Anthropologie im weiteren Sinn versammelten Rich­ tungen läuft also auf Folgendes hinaus  : 1. Am wichtigsten ist m. E. die prinzipielle Uneinheitlichkeit und Diskontinuität, die bereits in der bunten Vielfalt der Richtungen und der Überschneidung der Fachgrenzen zum Ausdruck kommt. Vor allem aber gilt die Geschichte selbst als uneinheitlich und diskontinuierlich. Da Einheit und Einheitlichkeit eine fixe Idee der Moderne gewesen ist, kann man ihre Überwindung guten Gewissens als postmodern bezeichnen, aber nur als Negation, denn die Un­ terstellung einer neuen Einheitlichkeit der Uneinheitlichkeit wäre ein Wider­ spruch in sich. Dazu gehören auch die Vorbehalte gegenüber großen Theorien, seien es synchrone Strukturen oder diachrone Prozesse. Man hat nicht nur et­ was gegen die Moderne, sondern auch gegen die Modernisierungstheorie. Jede Art von Teleologie wird in Frage gestellt, auch wenn sie ex post unschwer zu konstruieren sein mag. Zwar besteht die Geschichte geradezu aus Interdepen­ denzen ihrer Akteure und Phänomene, aber gerade wegen deren Fülle lassen sich diese nicht holistisch auf eine Ganzheit, eine Kultur oder Epoche und dgl., reduzieren. Kategorien dieser Art bleiben grundsätzlich vorläufig und offen. 2. Dem entspricht die Wiederentdeckung des Subjekts oder besser der Subjekte, und zwar ausdrücklich nicht nur der einzelnen großen, sondern gerade der zahllosen kleinen Subjekte. Darin steckt viel vom humanistischen Pathos der europäischen Linken, was gelegentlich sogar zu einer sozialromantischen Verzeichnung dieser neuen HeldInnen der Geschichte führen mag. Als der Strukturalismus nebst dem Foucault der 60er und 70er Jahre ebenso wie die historische Sozialwissenschaft das Subjekt verschwinden lassen wollte, wurde 13 Ebd., 16 f.

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ihnen von marxistischer Seite mit Recht vorgehalten, dass diejenigen, die von der Kritik des Subjekts sprechen, genau die sind, die sich den Luxus eines Subjekts leisten konnten.14 Nicht zufällig kehrt beim späten Foucault das Subjekt im doppelten Sinne mit Macht zurück. 3. Aus der Distanz zur abstrakten Großtheorie und der Aufwertung des Sub­ jekts ergibt sich mit Notwendigkeit, dass anonyme Strukturen und unbewusste Prozesse an Erklärungswert verlieren, ja dass das sozialwissenschaftliche Modell der kausalen Erklärung überhaupt in den Hintergrund tritt. Das neu aufge­ wertete intentionale Handeln der Subjekte, sei es noch so bescheiden, verlangt hermeneutische Verfahren der Interpretation. Die Rückkehr zur modifizierten Hermeneutik darf als drittes Leitprinzip der historisch-anthropologischen Rich­ tungen gelten. Modifiziert ist sie nicht nur durch bewusstes Einbeziehen der weiter bestehenden Fremdheit des auszulegenden Gegenstandes, sondern au­ ßerdem durch die Notwendigkeit, neben Texten auch Handlungen auszulegen. Kleine Leute haben uns nur selten Texte über die Intentionen ihres Handelns hinterlassen, wir können sie oft genug nur durch Entzifferung der Logik ihrer Praxis verstehen. Deshalb spielt Pierre Bourdieus Theorie der Praxis (deutsch 1972) eine so große Rolle. Die Aufwertung des gewöhnlichen menschlichen Subjekts mit seinen An­ eignungs- und Deutungsaktivitäten bleibt allerdings für die Wissenschaft nicht ohne Folgen. Sie impliziert nämlich eine Legitimation des wissenschaftlich bis­ her weithin als unseriös geltenden argumentum ad hominem.15 Es ist hinfort kei­ neswegs mehr irrelevant, dass Foucault homosexuell war und Derrida Jude ist, sofern damit keine Wertungen verbunden werden. Eigentlich ist sogar eine Re­ habilitation des wichtigsten Aneignungsorts von Deutungen durch gewöhnliche Subjekte, des Stammtisches, angesagt. Der maßgebende Philosoph der Herme­ neutik Hans Georg Gadamer hat einst das Vorurteil rehabilitiert, aber vermut­ lich war damit das gepflegte Vorurteil der Vertreter hoher Kultur gemeint. Uns bleibt aber, wenn wir als Anthropologen konsequent sein wollen, gar nichts an­ deres mehr übrig, als bis zu einem gewissen Grad das ganz gewöhnliche Vorurteil des Stammtischs ernst zu nehmen. Denn es ist von zentraler Bedeutung für die politische Kultur, dass die Stammtische überwiegend alle Politiker für Gauner halten, hingegen mit den lokalen und nationalen Sportstars siegen und leiden. 14 Gayatri Spivak 1988 nach Roger Bromley/Udo Göttlich/Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies, Lüneburg 1999, 308. 15 Wie sie Lutz Niethammer, Kollektive Identität, Reinbek 2000 für seine »Kronzeugen« durch­ geführt hat.

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Wir stehen damit vor der für unser Tun zentralen, gewissermaßen meta-an­ thropologischen Frage, was der Wandel der historischen Kultur durch die Historische Anthropologie historisch zu bedeuten hat. Wenn wir von den Er­ fahrungen der Subjekte, das heißt aber auch unseren eigenen ausgehen, dann wäre folgende Deutung möglich  : Geschichte hat sich stets als Legitimations­ wissenschaft erwiesen, indem sie das zum jeweiligen politischen und kultu­ rellen Weltbild passende Geschichtsbild produzierte. In diesem Sinn war die historische Sozialwissenschaft eine Legitimationswissenschaft der optimisti­ schen Technokratengesellschaft des großen Aufschwungs. Man glaubte daran, dass sich Gesellschaft machen ließe, und entdeckte daher in der Geschichte ebenfalls die Macher von Gesellschaft, die z. B. den Modernisierungsprozess in Gang gesetzt hatten. Oder man fand, dass es an bestimmten Stellen der deutschen Geschichte falsch gemacht worden sei und es jetzt gelte, es richtig zu machen. Demgegenüber wäre die Historische Anthropologie eine Legitimati­ onswissenschaft der Single-Gesellschaft, die nicht mehr glaubt, dass man etwas machen kann außer dem eigenen kleinen Glück durch geschickte Aneignung der anonymen Vorgaben. Nicht zufällig wurde Michel Foucault so populär, der die anonymen Machtprozesse beschrieben hat, die kein Zentrum mehr haben, das man treffen und schlagen kann. Und der schließlich zur Würde des Sub­ jekts zurückgefunden hat. In diesem Zusammenhang wäre dann die Reduktion der Bedeutung von Geschichte auf die Geschichte von Bedeutung als ein Versuch zu verstehen, die Sinnlosigkeit des eigenen Lebens mittels historischer Stellver­ treterInnen zu bekämpfen, die ihrem Handeln Sinn zu geben wussten  : symbolische Sicht aus Sehnsucht nach Sinn  ! Soweit erscheint die historisch-anthropologische Vorgehensweise nach der hermeneutisch-linguistischen Wende und der Wiederentdeckung des handeln­ den Subjekts ungeachtet ihrer soeben vorgenommenen historischen Relativie­ rung methodologisch unanfechtbar. Genauer besehen, weist sie aber gefähr­ liche Einseitigkeiten auf, die meine Kritik und meine Forderung nach einer materialistischen Alternative herausgefordert haben. Wenn wir uns weitgehend mit der Interpretation von Praxis statt mit der Auslegung von Texten befassen müssen, spielen Symbole automatisch eine zentrale Rolle, denn oft genug bekommt Praxis nur durch sie intersubjektive Bedeutung. Es ist deshalb sinnvoll, Symbole und symbolisches Verhalten zu einem zentralen Gegenstand der Historischen Anthropologie zu machen. Tri­ viale Routinehandlungen und Rituale können eine bedeutende Rolle zur Auf­ rechterhaltung einer bestimmten Weltsicht spielen. Es ist wichtig, nach der Bedeutung der Kleider zu fragen, die Leute tragen, der Speisen, die sie essen,

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wie sie sich grüßen und gehen, nach ihrer Körperhaltung und ihren Gesten. Schon Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen (1923–29), hat dafür Grundlagen gelegt. Die Schwierigkeit, dass Symbole häufig nicht nur eine Bedeutung haben und keine direkte, repräsentierende Beziehung zwischen Zeichen und Bezeich­ netem vorliegen muss, mag mit wissenschaftlicher Disziplin gerade noch zu bewältigen sein, obwohl dadurch natürlich interpretatorische Willkür erleich­ tert wird. Doch wenn die gesamte Kultur auf ein Symbolsystem und ihre In­ terpretation auf die Deutung von Symbolen reduziert werden soll, wird die Sache wie bei jedem Reduktionismus erstens falsch und zweitens gefährlich. Falsch, weil es im Bereich der materiellen Kultur viele Dinge gibt, die wirklich nur eine praktische Funktion haben – manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife. Gefährlich, weil auf diese Weise die einst dominierende Geistes­ geschichte, die mittels materialistischer Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf den ihr gebührenden begrenzten Platz verwiesen wurde, als historische Anth­ ropologie maskiert durch die mikrohistorische Hintertür wiederkehren und die Geschichtswissenschaft erneut in ein idealistisch halbiertes, jetzt als Sym­ bolgeschichte drapiertes Unternehmen verwandeln könnte. In Verbindung mit linguistischem Reduktionismus scheint mir dergleichen bereits Wirklichkeit zu werden, mit der fatalen Folge einer verstärkten Abschottung gegen die Er­ kenntnisse der Naturwissenschaft vom Menschen. Sprach- und Literaturwissenschaft haben uns zwar zu Recht daran erinnert, dass erstens auch Geschichtsschreibung den Regeln sprachlicher Artefakte un­ terliegt und dass zweitens unser Wissen von Geschichte selten unmittelbaren Charakter hat, sondern stets durch Texte im weiteren Sinn vermittelt ist. Über­ trieben formuliert, wissen wir nichts über Geschichte, sondern nur etwas über Texte, die von Geschichte handeln, und produzieren keine Untersuchungen über historische Wahrheit, sondern nur neue Texte über andere Texte. Wieder­ belebung der Geschichtsdarstellung als Kunstwerk und radikale Verschärfung unseres textkritischen Bewusstseins sind unzweifelhaft erfreuliche Errungen­ schaften. Ebenso unzweifelhaft besteht aber die Gefahr, dass in einer auf Text(e) re­ duzierten Welt die Geschichte als Wissenschaft dekonstruktivistischer Belie­ bigkeit zum Opfer fällt. Schon vor Jahren hat Michael Maurer detailliert nachgewiesen, wie die angebliche Strenge mikrohistorischer Interpretation bei führenden VertreterInnen dieser Richtung auf extrem willkürlichen Um­ gang mit den Quellen und streckenweise auf schlichte Erfindung von guten Stories hinausläuft, die mittels raffinierter literarischer Strategien gegen Kritik

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immunisiert werden.16 Ausgesprochen erfrischend wirkt die jüngste Polemik von Egon Flaig, die zeigt, wie Hayden White mit der Vorstellung, dass Fakten nur sprachliche Existenz haben, am harten Faktum der Schoah gescheitert ist. Anschließend stellt Flaig Derridas hermeneutische Kunststücke zur Rechtfer­ tigung seines antisemitischen Freundes De Man bloß – man könnte noch den Umgang mit dem verehrten Heidegger hinzufügen. Es ist zwar nicht nur für Flaig nichts Neues, dass Historiker keinen unmittelbaren Zugriff auf die Ver­ gangenheit haben, sondern sie immer für sich konstruieren müssen. Aber das ist nur die eine Hälfte der Geschichte – im doppelten Sinn des Wortes. Denn diese Konstruktion erfolgt nicht beliebig, sondern nach strengen Regeln und mit der strengsten Kontrolle, die es gibt, dem Vetorecht der Quellen, das nicht nur in der professionellen Gewissenhaftigkeit des Historikers begründet ist, sondern vor allem darin, dass ihre Auswertung unter den neidischen Augen der Kollegen erfolgen muss. Die elementarste Formaldefinition von Wissenschaft lautet bekanntlich  : Wissenschaft stellt nachprüfbare Aussagen auf. Wo Aussa­ gen beliebig werden, endet die Wissenschaft. Auch der Sprachgebrauch unter­ liegt sozialen Regeln, die spätestens seit Berger/Luckmann (1975) und Bour­ dieu (1991) ebenfalls bekannt sind. Nicht die Diskurse bringen die Geschichte hervor, sondern die Geschichte die Diskurse. Die Vertreter der entgegengesetz­ ten Auffassung enden laut Flaig ebendort, wo ich soeben die symbolistischen Reduktionisten landen sah  : Sie sind in die alte Geistesgeschichte zurückgefallen, verwenden aber ein Vokabular, welches diesen Rückfall verdeckt.17 Drei Beispiele sollen zeigen, wohin symbolistisch und dekonstruktivistisch legitimierte Deutungshoheit führen kann. Das erste entstammt einem erfolg­ reichen und insgesamt untadeligen Buch eines angesehenen und an und für sich auch von mir hochgeschätzten Mikrohistorikers. Es geht in dieser kleinen Geschichte um die Entdeckung einer sorgfältig versteckten Wildererausrüstung durch die zuständigen Behörden. Dabei erweist sich aber der Fund einer Perruque mit einer geistlichen Krone für die Interpretation als ausgesprochen sperrig. Zwar gehörten Perücken durchaus zur Standardausrüstung jener Wilderer, aber was sollte dabei eine geistliche Krone  ? Mag sie nun aus den Sternsingerrequisiten der Pfarrkirche stammen oder eher selbst gebastelt sein, der Sinn dieses Sym­ bols lässt sich für unseren Autor leicht entziffern  : 16 Michael Maurer, Geschichte und Geschichten, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unter­ richt 42 (1991) 674–691. 17 Egon Flaig, Kinderkrankheiten der Neuen Kulturgeschichte, in  : Rechtshistorisches Journal 18 (1999) 458–476, hier 472.

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Die Idee, die Perücke mit einer geistlichen Krone aus Pappe zu zieren, ergab sich aus dem ungemein populären Erscheinungsbild der Heiligen drei Könige nahezu von selbst. Wie die Herren von eigenen Gnaden, jedenfalls aber mit demselben Recht wie sie begaben sich die Bauern auf die ihnen verbotene Wildbahn. Und dennoch war ihnen die »gekrönte« Selbsterhöhung, das Gleichziehen mit den Herrschaftsrechten der Großen nicht das Wichtigste. Wer die bäuerliche Mentalität und ihre theatralischen Affinitäten auch nur ein wenig kennt, wird sogleich vermuten, dass die imaginäre Selbstkrönung gleichsam spielerisch die höhere Wahrheit des biblischen Geschehens herbeizitierte und sich auf diese gekonnt inszenierte Art und Weise spöttisch gegen höhere Machtansprüche richtete. Die drei Könige … huldigten bekanntlich einem König, der für die Machthaber des römischen Imperiums umso gefährlicher war, als sein Reich nicht von dieser Welt zu sein beanspruchte. Die seit dem Spätmittelalter bezeugten Sternsinger-Bräuche erinnerten an dieses Ereignis und stellten es zugleich in der »Verkehrten Welt«-Tradition auf den Kopf, indem sich die Armen die Krone auf den Kopf setzten … Mit dieser populären Aneignung eines wuchtigen religiösen Bildes spielte die bäuerliche Travestie nun ihr Augurenspiel. Wo immer die aus der Ferne kommende Krone auftauchte, da folgte sie dem Stern und kündigte den realen Machthabern das nahe Ende ihrer Herrschaft an.18

In der Tat stand die Französische Revolution vor der Tür. Aber die geistliche Krone hatte dennoch keinerlei tiefsinnige symbolische Bedeutung, sondern nur eine rein praktische, denn es handelt sich einfach um die Übersetzung eines Terminus technicus der Kirche  : Corona clericalis, im Klartext Tonsur. Unser Wil­ derer hatte also nicht mehr im Sinn, als sich mit dieser Perücke als Geistlicher zu maskieren – manchmal war eine Perücke nichts als eine Perücke  ! Hier geht es immerhin noch um mikrohistorische Quelleninterpretation, die sich an der Quelle überprüfen und falsifizieren lässt. Entsprechende ma­ krohistorische Bedeutungsentwürfe, die dazu noch schwer mit Literaturnach­ weisen gepanzert sind, auch wenn deren Autoren möglicherweise mit dieser Verwendung gar nicht einverstanden wären, lassen sich nicht mehr durch sol­ che Überprüfung widerlegen. Entweder man glaubt daran oder nicht – oder man verlangt Beweise für die zugeschriebene Bedeutung und lässt sie daran scheitern. So im Falle eines wissenschaftlichen Manuskripts, nach dem diverse gesellschaftliche Bereiche der nordniederländischen Republik in der Mitte des 17. Jahrhunderts von einem ozeanischen Gefühl geprägt gewesen sein sollen. Die Arbeit will mit Komplexitätsreduktion arbeiten, vom Einzelfall abstrahie­ ren und versuchen, den kultursemiotischen Sachverhalt generalisierend und 18 Norbert Schindler, Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution, München 2001, 13 f.

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vereinfachend darzustellen. Dabei kann sie in den divergierendsten Kontexten ganz ähnliche Strategien der Perzeption erkennen, wie sie mit der Konstitu­ tion männlichen Selbstverständnisses einhergehen. Das führt zu Feststellungen wie der folgenden  : Ausdehnung ist das Äquivalent der männlichen Fantasie für Ejakulation.19 Ich möchte bezweifeln, dass selbst Psychoanalytiker jemals der­ gleichen behauptet haben. Doch wie dem auch sei, die Forderung nach einem Beweis erledigt diese Deutung auf der Stelle – wie manche andere auch. Dieses Mal bleibt nicht einmal eine wirkliche Pfeife als Rest übrig. Das kann allerdings schwierig werden, wo politisches Interesse Deutung immunisiert und Deutungshoheit legitimiert. So jüngst in der Fotoausstel­ lung eines berühmten Berliner Museums, die demonstrieren wollte, dass der Skulpturenschmuck romanischer Kirchen, insbesondere an den Kapitellen der Säulen und Pfeiler, großenteils eine gezielte Diffamierung des Islam und der Moslems darstelle. Selbstverständlich gibt es Bildwerke, bei denen diese Ab­ sicht zu erkennen ist. Aber worin besteht der angeblich feindliche Charakter der neutralen Darstellung eines Kamelreiters  ? Vor allem bleibt der Autor den Nachweis für seine zentrale Behauptung schuldig, die unzähligen Darstellun­ gen von fantastischen Obszönitäten, die Kunsthistoriker schon lange fasziniert haben, seien gegen wirkliche oder angebliche sexuelle Praktiken der Moslems gerichtet. Weiter meint er, ein Harfe spielender Esel sei eine Verhöhnung Kö­ nig Davids. Doch selbst, wenn das zuträfe, wäre der Hohn doch wohl eher gegen die Juden als gegen die Moslems gerichtet. In Wirklichkeit handelt es sich aber nur um ein altes Fabelmotiv.20 Als Zwischenergebnis wäre also erstens auf die nicht ganz neue Regel zu verweisen, dass besonders weitreichende Deutungen nach den bisher gültigen Spielregeln der Wissenschaft auch besonders gründliche, und das heißt vor al­ lem nachprüfbare, Nachweise brauchen. Zweitens sollte der ebenfalls nicht be­ sonders revolutionäre Grundsatz gelten, vor dem Abheben zu den spirituellen Höhenflügen symbolischer Bedeutungssuche erst einmal nach näherliegenden materiellen Erklärungen Ausschau zu halten, auch wenn diese in ihrer Triviali­ tät den BedeutungshistorikerInnen kaum ein Nasenrümpfen wert sein mögen. Obwohl diese die elaborierte Symbolwelt der sogenannten hohen Kultur eher 19 Manuskript Die Eroberung des Horizonts. Utopie und Praxis des Ozeanischen in den Niederlan­ den Mitte des 17. Jahrhunderts, das mir ohne Autorennachweis zur Begutachtung für die Zeit­ schrift Saeculum vorlag. Dem Vernehmen nach ist die Verfasserin eine Philosophin aus Berlin. Es wurde abgelehnt. 20 Claudio Lange, Islam in Kathedralen – Bilder des Antichristen in Kathedralen (Fotoausstel­ lung im Museum für Islamische Kunst, Berlin, Sommer 2003).

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vernachlässigen und sich sehr bewusst in der mentalen Welt sogenannter ge­ wöhnlicher Menschen tummeln, läuft ihr Vorgehen paradoxerweise ebenfalls auf streng exklusive Beschäftigung mit der Res cogitans hinaus, die sich auch in ihrer Dünkelhaftigkeit kaum von der einstigen Geistesgeschichte unterscheidet. Sollte der Hauptunterschied darin bestehen, dass die alte geistesgeschichtliche Interpretation an Texte gebunden war und damit wenigstens einigermaßen fal­ sifizierbar blieb, während das praxeologische Verfahren der sogenannten Ent­ zifferung der Bedeutung von Alltagshandeln beliebiger Interpretation durch die InhaberInnen der Deutungshoheit Tür und Tor öffnet  ? Hat nicht Natalie Zemon Davis ausdrücklich erklärt, sie wolle darstellen, was historisch möglich gewesen sei  ? Seit Aristoteles aber ist der Bereich des Möglichen die Spielwiese der Poesie, während Geschichte es mit dem Wirklichen zu tun hat. Ich schlage vor, bei dieser Unterscheidung zu bleiben und weiter darauf zu bestehen, dass es historische Wirklichkeit gibt und dass diese nicht auf Bedeu­ tungen beschränkt werden darf, die Menschen der Vergangenheit wirklich oder angeblich ihrer Welt gegeben haben. Im Gegenteil, ich meine gezeigt zu haben, dass fehlende Berücksichtigung der Trivialbereiche des materiellen Lebens not­ wendigerweise in die Irre führen muss und daher schon rein epistemologisch nicht vertretbar ist. Wir müssen z. B. zunächst wissen, unter welchen realen materiellen Bedingungen die Menschen sich ernährt und reproduziert haben, bevor wir ihre Tischkultur, ihre sexuellen Sitten und ihre Familienorganisation einer symbolischen Deutung unterwerfen und den möglichen Rückwirkungen dieser Symbolik auf jene materielle Welt nachgehen können. Darüber hinaus sollte nicht nur in der Methode, sondern auch in der Sa­ che das Ende des abendländischen Dualismus von Geist und Stoff längst zur Binsenweisheit geworden sein. Wir wussten zwar schon immer, dass Menschen keine reinen Geistwesen sind, aber dass die dualistische Trennung von Fleisch und Geist eine anmaßende Behauptung unseres Gehirns darstellt, dass wir statt dessen ein untrennbares Ganzes und in gewisser Hinsicht ganz Körper sind, ist eine Erkenntnis, die anthropologisch erst noch berücksichtigt werden muss. Auch die bio-philosophische Perspektive bleibt m. E. in erster Linie philoso­ phisch und bedient sich beliebig ausgewählter biologischer Versatzstücke für ihre philosophische Argumentation. Ich plädiere daher aus methodologischen wie anthropologischen Grün­ den für eine ganzheitliche Anthropologie mit energischer Berücksichtigung der materiellen Dimension des menschlichen Lebens. Im Einklang mit ei­ ner Tradition, die bis auf Herodot zurückgeht und in Aufklärungshistorikern wie Voltaire einen Gipfelpunkt erreicht hat, möchte ich zu diesem Zweck die

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Kategorie Sitte in den Mittelpunkt stellen, verstanden als kulturell geregeltes menschliches Verhalten, das sich beobachten oder quellenmäßig nachweisen lässt. Hier ist für die materielle Basis ebenso Platz wie für den symbolischen Überbau und für komplizierte Interaktionsprozesse von beiden. Auf der Grundlage dieser binnenhistorischen Zwischenbilanz lässt sich schließlich ein weiterer Kritikpunkt angehen, das Verhältnis oder, genauer ge­ sagt, das Nicht-Verhältnis von Historischer und Biologischer Anthropologie. Allen anders lautenden Beteuerungen zum Trotz scheint auch für die Histori­ sche Anthropologie mehr denn je die alte Formel des Anglisten C. P. Snow zu gelten, der 1959 von den zwei Kulturen schrieb, die nichts mehr miteinander zu tun haben, der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen, obwohl aus heutiger Sicht Natur und Geist längst nicht mehr reinlich zu tren­ nen sind. Nichtsdestoweniger wird Biologische Anthropologie in den maßge­ benden Einführungen und Zeitschriften der Historischen Anthropologie nicht einmal erwähnt. Das ist kein Zufall. Es hat methodologische, kulturelle und politische Gründe. Hinsichtlich der Methodologie sollte bereits deutlich geworden sein, dass es paradoxerweise gerade die modernsten Richtungen wie symbolistische Herme­ neutik und Dekonstruktivismus sind, die dem alten Geist in neuer Gestalt wie­ der zur Herrschaft verholfen und den Graben zwischen den beiden Kulturen weiter vertieft haben. Angeblich haben viele jüngere Naturwissenschaftler seit der Affäre Sokal die Geisteswissenschaftler als hoffnungslose Fälle abgeschrie­ ben. Der Physiker Sokal hatte einen mit dekonstruktivistischen Autoritäten schwer gepanzerten Aufsatz geschrieben, in dem er die kulturell-sprachliche Begründung eines Teiles der Physik zu beweisen vorgab, und denselben in ei­ ner angesehenen Zeitschrift postmoderner geisteswissenschaftlicher Observanz anstandslos gedruckt bekommen – nur um das dekonstruktivistische Wortge­ klingel hinterher erbarmungslos als Ulk bloßzustellen.21 Was wir vor uns haben, ist eine sich m. E. zunehmend verschärfende gegen­ seitige Abschottung mittels reduktionistischer Theorien, allem Geschwätz von Transdisziplinarität zum Trotz. Zwar würden heute Biologen wie Geisteswis­ senschaftler sofort dem Satz zustimmen, dass es die Natur des Menschen sei, Kulturwesen zu sein, anders gewendet, dass menschliche Natur nur als Kultur vorkommt. Sie ziehen aber entgegengesetzte Schlussfolgerungen daraus, von denen die eine so reduktionistisch ist wie die andere. 21 Alan D. Sokal/Jean Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie Denker der Postmoderne die Wissen­ schaften missbrauchen, München 1999.

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Für den biologischen Reduktionismus läuft das Ganze darauf hinaus, dass die Grundlagen aller Kulturphänomene biologisch zu erklären sind oder in Zu­ kunft zu erklären sein werden – platt und verkürzt  : Johann Sebastian Bach aus seinen Genen. Eine besondere Rolle hat dabei die Soziobiologie gespielt, nach der das Verhalten des Individuums maßgebend vom Ziel bestimmt ist, den Reproduktionserfolg der eigenen Gene zu optimieren. Deswegen lohne sich z. B. Selbstlosigkeit gegenüber Verwandten und erkläre sich auf diese Weise.22 Für den geisteswissenschaftlichen Reduktionismus hingegen bedeutet es, dass die Kultur die Natur völlig aufgesaugt hat und ohne irgendwelche natur­ wissenschaftlichen Erkenntnisse erklärt werden kann. In der Empirie kommt es allerdings gelegentlich zu Pannen. So berichtet ein Ethnologe, wie er dem Fehlen von Brustwarzen bei Mitgliedern einer afrikanischen Gruppe in Kame­ run mit der üblichen symbolischen Deutung beizukommen versuchte und sich auf die Suche nach einer rituellen Amputation machte, bis ihm aufging, dass es sich schlicht um einen ererbten genetischen Defekt handelte.23 Freilich erwei­ sen sich wissenschaftliche Paradigmata nicht selten als immun gegen derartige empirische Falsifizierung  ! Die Biologie hat es leicht. Sie ist in Expansion begriffen und hat als Zu­ kunftswissenschaft des 21. Jahrhunderts nichts zu verlieren. Die historischen Anthropologen hingegen sind als Kulturwissenschaftler in der Defensive und fühlen sich bedroht, was zu irrationalen und bisweilen hysterischen Reaktio­ nen führt. Die Geisteswissenschaftler haben immerhin nolens volens die jüdisch-christ­ liche Doppelexistenz von Geistseele und Leib zu verteidigen, den Inbegriff abendländischer Kultur, den Descartes’ Unterscheidung von Res cogitans und Res extensa für die westliche Wissenschaft konserviert hat. Geistige Güter kön­ nen durch eine angebliche materielle Dimension nur beschmutzt werden. Selbst der marxistische Materialismus war daher kein unmittelbarer, sondern ein dialektischer  ! Dazu kommt die naheliegende politische Immunisierung wie gerufen. Die Gräuel des nationalsozialistischen Rassismus und die aktuellen Probleme des US-amerikanischen und postkolonialen Rassismus führen zu einem wissen­ 22 Dagegen Holmes Rolston, Genes, Genesis and God. Values and Their Origins in Natural and Human History, Cambridge 1999  ; Steven Rose, Darwins gefährliche Erben. Biologie jenseits der egoistischen Gene, München 2000. 23 Nigel Barley, Die Raupenplage. Von einem, der auszog, Ethnologie zu betreiben, Stuttgart 1989.

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schaftlich fatalen Zwang zur Political Correctness. Weil die Biologische Anthro­ pologie als Rassenlehre grausam missbraucht wurde, darf es keine Rassenkunde mehr geben, und der Einfachheit halber gleich gar keine Rassen mehr. Gerne wird darauf hingewiesen, dass die genetische Ausstattung der verschiedenen Menschengruppen fast restlos identisch sei. Aber unser Erbgut stimmt auch zu 98,8 % mit dem des Schimpansen überein und selbst dem Regenwurm stehen wir in dieser Hinsicht sehr nahe. Nicht, ob es Rassen und sogar Unterschiede zwischen ihnen gibt, ist das wirkliche politische Problem, sondern ob solche Unterschiede bewertet und zur Diskriminierung von anderen Menschen ein­ gesetzt werden. Die biologische vergleichende Verhaltensforschung lehrt uns auch, dass die Evolution bei sozial lebenden Arten Gruppensolidarität zwischen Blutsver­ wandten und Adoptierten hervorgebracht hat, die mit mehr oder weniger ausge­ prägter Abneigung gegen Fremde einherzugehen pflegt, aber nicht automatisch in Aggression umschlagen muss. Ein Ethnologe hat dazu geschrieben  : Es gehört zu den deprimierendsten Seiten des Ethnologenberufs, entdecken zu müssen, dass fast alle Volksgruppen ihre unmittelbaren Nachbarn hassen, fürchten und verachten.24 Das historische Problem besteht darin, ob der Mensch als Kulturwesen seine natürliche Xenophobie kulturell zum Atomkrieg weiterentwickelt oder als Herausforderung zu ihrer Bändigung durch humane Verhaltensstandards versteht. Die Biologie lässt uns als optimale Lösung eine Mischstrategie er­ warten, den Versuch, überlebensnotwendigen Gruppenegoismus und gemein­ menschliche Solidarität zu kombinieren.25 Wir sind damit bereits bei Möglichkeiten angekommen, wie Biologische und Historische Anthropologie konkret zusammenwirken könnten.26 Die Bio­ logische Anthropologie wird heute wie die ganze Biologie von der Genetik dominiert, zu der eine unmittelbare Verbindung seitens der Historischen An­ thropologie kaum herzustellen ist. Bereits einfache menschliche Phänomene werden durch Zusammenwirken verschiedener Gene erklärt und menschliches Verhalten durch ein kompliziertes Zusammenspiel verschiedenster genetischer Faktoren und Umwelteinflüsse. Deswegen sind ja die Erwartungen und Ängste angesichts der Entzifferung des menschlichen Genoms ziemlich unbegründet. 24 Ebd., 89. 25 Mohr in Peter Sitte (Hg.), Jahrhundertwissenschaft Biologie. Die großen Themen, München 1999, 189 f. 26 August Nitschke (Hg.), Die Bedeutung der Biologie für eine Historische Anthropologie, in  : Saeculum 36 (1985) 3–111.

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Vielversprechender ist die biologische Untersuchung menschlichen Verhaltens im Vergleich mit verschiedenen Tierarten, insbesondere von Primaten,27 die al­ lerdings seitens der Historischen Anthropologie auf heftigen Widerstand stößt. Wer als Historiker auf diese sogenannte Humanethologie zurückzugreifen wagt, wird von deutschen Kollegen unverzüglich des kruden Biologismus verdächtigt. Dabei gibt es hier unglaublich spannende Möglichkeiten, Gemeinsamkeiten und Differenzen zu entdecken und zu deuten. Die weibliche Partnerwahl erweist sich z. B. auch beim Menschen als aus­ gesprochen stammesgeschichtlich bedingt, zumindest, solange es sich dabei potentiell noch um Fortpflanzung handelt. Männer mit besonders reichen Ressourcen werden bevorzugt, Verbindungen mit solchen haben die meisten Nachkommen.28 An der Historischen Anthropologie wäre es nun herauszufin­ den, welchem Wandel dieser »Ressourcenkorb« in der Geschichte unterlag und warum, und ob, dieses Muster durch die sexuelle Revolution des 20. Jahrhun­ derts kulturell überwunden wurde. Man hat die enorme Entwicklung des Gehirns, die den Menschen auszeich­ net und zum Kulturwesen macht, lange mit dem Werkzeuggebrauch in Zu­ sammenhang gebracht. Mit einer eigentümlichen Inversion wurde aber auch der Versuch unternommen, die machiavellistische Intelligenz, d. h. die Fähigkeit, im sozialen Leben den Anderen im eigenen Interesse zu übervorteilen, dafür verantwortlich zu machen, weil sie sich bei Menschenaffen lange vor jedem Werkzeuggebrauch nachweisen lässt.29 Die Hirnforschung weist derzeit ohnehin die spannendste und für die geist­ bestimmte Menschenwürde im traditionellen kulturellen Verständnis bedroh­ lichste Entwicklung auf, die aber anscheinend kaum zur Kenntnis genommen wird. Es gibt Experten auf diesem Gebiet, die mit der baldigen Verabschie­ dung des Leib-Seele-Problems und der Willensfreiheit sowie mit einem neuen Selbstverständnis des Menschen als Folge rechnen.30 Möglicherweise ist das süd- und ostasiatische Verständnis der Rolle des Menschen in der Welt damit leichter in Einklang zu bringen als das westliche. Erfreulicherweise gibt es weniger problematische Felder rein praktischer Kooperation zwischen Biologischer und Historischer Anthropologie, etwa das 27 James D. Loy/Calvin B. Peters (Hg.), Understanding Behavior. What Primate Studies Tell Us About Human Behavior, New York 1991. 28 König in Sitte, 172. 29 Richard W. Byrne u. a. (Hg.), Machiavellian Intelligence. Social Expertise and the Evolution of Intellect in Monkeys, Apes, and Humans, Oxford 1988. 30 Singer in Sitte.

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interdisziplinäre Fach der Historischen Demographie. Oder die angewandte Anthropologie im Dienste der Archäologie, und zwar nicht nur der vorge­ schichtlichen, sondern auch zur Bestimmung des Gesundheitszustands und der Todesursachen afrikanischer Sklaven, deren Skelette auf alten Friedhöfen der Karibik ausgegraben werden. Oder die statistische Untersuchung des mensch­ lichen Längenwachstums und des veränderten Zeitpunkts der Geschlechtsreife im Kontext der allgemeinen Kulturentwicklung. Auf solchen Feldern sind es oft empirische Befunde der einen Richtung, die neue Erkenntnisse der ande­ ren erst möglich machen, wobei ein solcher Transfer keineswegs nur von der Natur- zur Kulturwissenschaft stattfindet, sondern ebenso auch in umgekehr­ ter Richtung. Darum mein Plädoyer für eine in diesem Sinn materialistische Anthropologie  !

Symbol und Performanz zwischen kurialer Mikropolitik und kosmischer Ordnung Wenn man sich in Rom in eine Messe verirrt, kann man die kosmische Spann­ weite der vormodernen Wertwelt immer noch hautnah erleben. Nachdem man im Gottesdienst die Anrufung »Signore pietà« an einen jenseitigen Adressaten gerichtet hat, wird man beim Verlassen des Gotteshauses vom üblichen Bettler mit denselben Worten um geldwertes menschliches Mitgefühl gebeten  : »Si­ gnore pietà.« Und zumindest noch im 20. Jahrhundert – für das 21. fehlen mir die Belege – entsprach dem himmlischen Heiligen, dessen protezione man erflehte, der irdische santo, der bisweilen mafiose padrone einer Klientel, des­ sen protezione ebenso wichtig war.1 Doch, was soll dieser Zusammenhang von Frömmigkeit und Korruption, was ist diese pietà, die beides zusammenhält  ? Pietas ist von Haus aus keine christliche Tugend, aber durchaus eine religi­ öse, insofern sie Wohlverhalten nicht nur gegenüber diesseitigen, sondern auch gegenüber jenseitigen Verpflichtungen einschließt. Demgemäß gehört sie auch bei Thomas von Aquin nicht zur Welt des Glaubens, sondern zu den Folgeer­ scheinungen der Gerechtigkeit.2 Bei den Römern lief sie auf Pflichterfüllung gegenüber Eltern und Kindern, gegen Familie und Sippe hinaus. Weil zum Familienverband aber auch die Ahnen, die di parentes gehörten, erschöpfte sich pietas nicht in Ehrfurcht vor lebenden Familienangehörigen und der Sorge um sie, sondern schloß auch die kultische Verehrung der verstorbenen mit ein. Da das römische Gemeinwesen, die patria, als erweiterter Sippenverband betrach­ tet werden konnte, wurde auch das rechte Verhältnis zur res publica als pietas bezeichnet, einschließlich ihrer di parentes, der Staatsgötter. Wenn schließlich der Herrscher als pater patriae bezeichnet wurde, dann erhielt das richtige Ver­ halten des Bürgers und Soldaten ihm gegenüber ebenfalls den Charakter von pietas. Umgekehrt hatte aber auch dieser die Pflicht, fürsorgliche pietas gegen die Untertanen zu üben und sich so gegebenenfalls den ruhmvollen Beinamen eines pius zu verdienen.3 Bei den lateinischen Kirchenvätern ebenso wie im 1 Jeremy Boissevain, Friends of Friends. Networks, Manipulators and Coalitions, Oxford 1974, S. 80, 124, aber auch 243. 2 Summa Theologiae 2 II q. 101. 3 Theodor Klauser, Studien zur Entstehungsgeschichte der christlichen Kunst 2, in  : Jahr­ buch für Antike und Christentum 2, 1959, S. 115–145, hier 117f.

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römischen Recht war pietas noch in der ganzen Breite ihres antiken Sinngehalts lebendig.4 Selbst wenn im Frühmittelalter eine religiöse Begriffsverengung ein­ getreten sein sollte5 – bei Thomas von Aquin ist sie wieder im ganzen Umfang vorhanden und wird breit behandelt als »protestatio [Erweis] caritatis, quam quis habet ad parentes et patriam«.6 Dabei schließt der cultus parentum aber denjenigen aller Blutsverwandten mit ein, derjenige des Vaterlandes denjeni­ gen aller Mitbürger. Erst in zweiter Linie bezieht sich laut Thomas pietas auf Gottesverehrung und nur im Sprachgebrauch des Volkes ist wohltätige Barm­ herzigkeit damit gemeint – wie bei unserem Bettler.7 Offensichtlich bestand bis weit in die Neuzeit hinein ein diskursives Dispositiv pietas. In einem maß­ gebenden Wörterbuch von 1502 heißt es demgemäß lakonisch »Pietas […] est debitus cultus erga Deum, patriam et parentes, eosque qui nobis parentum loco sunt«, wobei Augustinus, Cicero, Plinius, Terenz und Vergil als Zeugen genannt werden.8 Derartige diskursive Selbstverständlichkeit läßt den Nepotismus und campanilismo der vormodernen Päpste nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten erscheinen. Die Förderung von Verwandten, Landsleuten oder anderen Her­ kunftsgruppen, etwa Mitgliedern des Ordens, aus dem der Papst hervorgegan­ gen war, galt als Pflicht, auf deren Erfüllung seitens der in Frage kommenden Personen geradezu ein Anspruch bestand. Es erregte zunächst Erstaunen, dann Ressentiments, als Papst Paul V. Borghese (1605–1621) seine Gunst anders als lange Zeit üblich nicht nach dem »Gießkannenprinzip« auf einen breiten Kreis von Verwandten und Landsleuten aus Siena herabregnen ließ, sondern sich vor allem auf die Förderung des Aufstiegs seiner engeren Familie konzentrierte.9 Anderthalb Jahrhunderte zuvor hatte sich ein anderer Papst aus Siena, Pius II.

4 Walter Dürig, Pietas liturgica. Studien zum Frömmigkeitsbegriff und zur Gottesvorstellung der abendländischen Liturgie, Regensburg 1958, S. 32f., 115f.; Paul Keseling, Familiensinn und Vaterlandsliebe in der Pflichtenlehre des hl. Ambrosius, in  : Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 5, 1952, S. 367–372. Im Kommentar zu Lukas 4,24 entschuldigt Ambro­ sius Jesus für Mangel an pietas, weil er in seiner Heimatstadt keine Wunder wirkte. 5 Klauser (wie Anm. 3), S. 118. 6 Summa Theologiae 2 II q. 101 a. 3. 7 Ebd., a. 1. 8 Ambrosii Calepini, Dictionarium […], Venedig 1553, 441v, 444v. Das Wörterbuch wurde 1502 zum ersten Mal gedruckt. 9 Wolfgang Reinhard, Ämterlaufbahn und Familienstatus. Der Aufstieg des Hauses Bor­ ghese 1537–1621, in  : Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliothe­ ken 54, 1974, S. 328–427, hier 406–410.

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Piccolomini (1458–1464), noch ganz anders verhalten.10 Und 1514 hatte eine Bulle Leos X. erklärt, es schicke sich nicht »affines et consanguineos praesertim benemeritos, et ope indigentes negligere, sed illis providere iustum et laudabile sit«.11 Soweit die Verwandten und Landsleute. Von einer dritten Gruppe, den Klienten, die durch ungleichen Tausch an ihren Patron gebunden waren, das heißt durch dessen vergangene oder in Zukunft von ihm erwartete Leistungen, war hingegen nur selten ausdrücklich die Rede, vermutlich weil diese Gruppe nicht durch klare Zugehörigkeitskriterien definiert und stabilisiert werden konnte. Einen Patron konnte man wechseln, einen Onkel nicht. Doch läßt die erwähnte selbstverständliche Analogie von irdischem und himmlischem Patron zweifelsfrei erkennen, daß auch sie unter das diskursive Dispositiv pietas fielen. Doch wenn die moderne Kritik des päpstlichen Nepotismus, Campanilis­ mus und Klientelismus nichts als anachronistische Ahnungslosigkeit unhisto­ risch denkender Historiker zum Ausdruck bringt, warum ist dann selten ex­ plizit von derartigen Übungen der pietas die Rede, warum werden sie gerne diskret verschleiert, warum stoßen sie gelegentlich durchaus auch bei Zeitge­ nossen auf Kritik  ? Der Grund ist in einem ständigen Wertekonflikt zu suchen, denn der pietas-Diskurs konkurriert seit alters mit dem Gemeinwohl-Diskurs. Zwar hatte Thomas von Aquin gelehrt, weil von Verwandten und Landsleuten größere Zuverlässigkeit zu erwarten sei, dürften sie bei der Stellenbesetzung bevorzugt werden, freilich unter zwei Bedingungen  : Erstens müßten sie ebenso qualifiziert sein wie die anderen Anwärter – wie bei der heutigen Frauen- und Behindertenförderung –, zweitens müßten scandalum und malum exemplum vermieden werden.12 Letzteres konnte durch Verletzung des erstgenannten Grundsatzes zustande kommen, vor allem aber durch Überschreiten des rech­ ten Maßes bei den Zuwendungen. Dieses rechte Maß war aber bis weit in die Neuzeit hinein strittig, während auf der anderen Seite offensichtlich so schnell kein Papst bereit war, die Eignung seiner Verwandten in Zweifel zu ziehen. Die Folge ist, daß, wie gesagt, die Wertdimension des fundamentalen päpst­ lichen Verhaltensmusters Nepotismus–Campanilismus–Klientelismus selten direkt verbal zum Ausdruck gebracht wird, sondern wir weitgehend auf das 10 Wolfgang Reinhard, Papa Pius. Prolegomena zu einer Sozialgeschichte des Papsttums, in  : Remigius Bäumer (Hg.), Von Konstanz nach Trient. Beiträge zur Geschichte der Kirche von den Reformkonzilien bis zum Tridentinum. Festgabe für August Franzen, Paderborn 1972, S. 261–299, hier 266f., und gekürzt in  : Wolfgang Reinhard, Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 1997, S. 13–36, hier 17f. 11 Magnum Bullarium Romanum, Luxemburg 1727, Bd. 2, S. 545. 12 Summa Theologiae 2 II q. 63 a. 2 ad 1.

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Entziffern einschlägiger Symbolik angewiesen sind. Allerdings verhält es sich nicht so, daß wegen der fehlenden Textualisierung von Protektionskultur so­ fort und ausschließlich zur Interpretation kultureller Konfigurationen als Quasi-Texte mittels der sogenannten »dichten Beschreibung« übergegangen werden müßte. Vielmehr liegen durchaus Sprech- und Schreibakte vor, die durch Bezug auf das päpstliche Protektionssystem symbolisch aufgeladen sind, meistens zusätzlich zu anderen Bedeutungen. Illokutionäre Akte können nach Austin ja grundsätzlich mehrdeutig sein und mehrere perlokutionäre Ziele ver­ folgen.13 Zwar wäre dem mit dem Gebrauch performativer Verben abzuhelfen gewesen, die anzeigen, welche Handlung mit dem Sprechakt beabsichtigt ist. Aber genau darauf verzichten die Päpste, wenn es sich um ihr Protektionssys­ tem handelt, zunächst vermutlich aus dem oben bereits genannten Grund. Dazu kommt bei Pius II. (1458–1464) ein humanistischer Hintergrund, wo kunstvolle Mehrdeutigkeit um ihrer selbst willen kultiviert wurde. Denn dieser Pius II. erweist sich als Verfasser zahlreicher humanistischer Texte und durch verschiedene typische Sprechakte seines Pontifikats als besonders geeig­ neter Ausgangspunkt zur Entzifferung des Symbolsystems vormoderner Päpste. Der illokutionäre Akt der Wahl des Papstnamens Pius läßt bewußt mehrere perlokutionäre Ziele offen, darunter offensichtlich auch die Orientierung des Pontifikats am Ideal der pietas. »Interrogatus quo nomine vellet notari, pio respondit«, schreibt er in seinen autobiographischen »Commentarii«.14 Wie andere Päpste der Renaissance wollte er damit bei der Urkirche anknüpfen. Auf einer von ihm in Auftrag gegebenen Altartafel in der von ihm geschaffenen Stadt Pienza ließ er den heiligen Papst Pius I. darstellen, bezeichnenderweise zusammen mit Calixtus I., denn Calixtus III. verdankte er den entscheidenden Schritt seiner Karriere, die Erhebung zum Kardinal.15 Doch damit nicht genug der pietas. Schließlich war sein Taufname Enea Silvio, was er als Humanist ganz selbstverständlich auf den pius Aeneas Vergils, den Gründer Roms und Urtyp römischer pietas bezogen sehen wollte.16 Das berühmte »Aeneam reiicite,

13 John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart 1972, Vgl. Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 2, Stuttgart 71986, S.  64–85  ; Karsten Neumann, Das Wort als Waffe. Politische Propaganda im Aufstand der Katalanen 1640– 1652, Herbolzheim 2003, S. 9–11. 14 BAV Regin. lat. 1995 fol. 59. Da mir die beiden kritischen Ausgaben der »Commentarii« nicht zur Verfügung standen, zitiere ich das Originalkonzept. 15 Enzo Carli, Pienza, la città di Pio II, Rom 1966, S. 101 und Tafel XV. 16 BAV Regin. lat. 1995 fol. 60.

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Pium recipite« seiner »Retractatio« von 146317 beabsichtigte Distanzierung von seinem ungeistlichen Vorleben, aber gerade nicht vom Ideal der pietas. Das Gegenteil ist richtig, auch wenn er sich nur in mehrdeutigen Aussagen dazu bekannte, etwa im Schlußsatz des Epitaphs auf dem von ihm errichteten neuen Grabmal seiner Eltern »Filius hoc clausit marmore papa Pius«.18 Denn pius ist in diesem Satz sowohl der Sohn wie der Papst. Bauprogramme wie die Neugestaltung des Fleckens Corsignano, wo Pius ge­ boren wurde, zur nach ihm benannten Renaissancestadt Pienza bieten ebenso wie Kunstwerke aller Art reiches Material für den symbolischen Niederschlag der römischen Wertwelt. Für die Tugend der pietas sind vor allem Grabmäler sehr aufschlußreich. Es handelt sich ja um lieux de mémoire, die nicht zuletzt durch die symbolische Bedeutung charakterisiert sind, die ihre Schöpfer oder die historische Tradition ihnen gegeben haben.19 Aber dieser Bereich wird von berufenerer Seite bearbeitet, so daß ich ihn hier ausklammern kann.20 Es soll aber wenigstens festgehalten werden, daß es sich ungeachtet aller Variationen auch in diesem Bereich um eine Art von Standardverhalten frühneuzeitlicher Päpste, ihrer Familien und Klienten handelt, das durch mimetische Prozesse zustande gekommen ist. Durch kreative Nachahmung eignen sich Menschen bestimmte Weltvorstellungen erneut für sich an und erzeugen oder verändern auf diese Weise Kultur. Denn »ohne Bezug auf Vorangegangenes ist keine ei­ genständige Entwicklung möglich«.21 Auch bei der mimetisch etablierten Wahl eines Papstnamens ist der illokuti­ onäre Akt des Namenswechsels bei allen Päpsten mit dem perlokutionären Ziel verbunden, damit ein Bekenntnis zu bestimmten Werten abzulegen. Zwar hat kaum ein Papst die Gründe für seine Namenswahl ausdrücklich offen gelegt. Aber das schadet nichts  ; vielmehr ist es in unserem Zusammenhang sogar be­ sonders aufschlußreich, daß und wie sich die Zeitgenossen unverzüglich an die Entzifferung der ihnen in Gestalt des neuen Namens vorgelegten symbolischen Chiffre gemacht haben, eine Tätigkeit, die in der Gattung der sogenannten Conclave-Berichte ihren Niederschlag gefunden hat. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert sollte die Mehrzahl der Papstnamen in der einen oder ande­ 17 Bullarium Romanum, Bd. 5, Turin 1860, S. 175. 18 BAV Regin. lat. 1995 fol. 92v. 19 Vgl. Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 1, Paris 1984, S. VII, XXIV. 20 Durch das Projekt »REQUIEM – Die römischen Papst- und Kardinalsgrabmäler der Frühen Neuzeit«, das von Horst Bredekamp und Volker Reinhardt geleitet und von Arne Karsten und Philipp Zitzlsperger betrieben wird. 21 Christoph Wulf, Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie, Reinbek 2004, S. 15.

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ren Weise pietas symbolisieren. Man nannte sich nach einem Papst aus dersel­ ben Familie wie Pius III. nach seinem Onkel Pius II.22 oder wie Paul V. nach gleich zwei Päpsten, Paul III. und Paul IV., die dem Aufstieg seiner Familie den Weg geebnet hatten,23 oder wie Gregor XIV. nach Gregor XIII., dem er die Erhebung zum Kardinal zu verdanken hatte,24 was bekanntlich der ent­ scheidende Schritt einer Kurienkarriere war. Gregor XV. schwankte, ob er sich nach seinem Landsmann und Wohltäter Gregor XIII. nennen sollte, der ihm die Kurienkarriere eröffnet hatte, oder nach Paul V., der ihn zum Kardinal ge­ macht hatte.25 Aber die Heimat spielte eben eine wichtige Rolle, z. B. auch bei Alexander VII., der an seinen großen Landsmann aus Siena Alexander III. erin­ nern wollte.26 Herkunft konnte sich bei den eher seltenen Ordensleuten unter den Päpsten auch auf den Orden beziehen, bei Sixtus V. auf den Konventualen Sixtus IV.,27 bei Benedikt XIII. auf den Dominikaner Benedikt XI.28 Auch wo pietas mehr mit Frömmigkeit zu tun hatte, ist der Zusammenhang mit Pro­ tektionsverhältnissen nicht zu übersehen. Man wußte sich dem Heiligen des Wahltags verpflichtet wie Martin V. oder einem anderen Heiligen, zu dem ein besonderes Schutzverhältnis bestand. Gregor XIII. war am Fest Gregors des Großen Kardinal geworden,29 Leo X. hingegen war am Tag des hl. Leo in der Schlacht von Ravenna gefangen genommen worden, aber alsbald wieder ent­ kommen.30 Leo XI. Medici wiederum wollte nicht nur an diesen Papst aus der eigenen Familie erinnern, sondern begründete seine Entscheidung zusätzlich damit, daß er an der Vigil des hl. Franz von Paula gewählt wurde, den wiede­ rum Leo X. heilig gesprochen hatte.31 Clemens XI., der am Fest des hl. Cle­ mens gewählt wurde, griff gleichzeitig auf die alte Sitte zurück, sich nach dem

22 Alfred A. Strnad, Francesco Todeschini-Piccolomini, in  : Römische Historische Mitteilun­ gen 8/9, 1964/65–1965/66, S. 101–425, hier 105f. 23 F. Petrucelli della Gattina, Histoire diplomatique des conclaves, Paris 1864–1866, Bd. 2, S. 485. 24 ASV Armarium 44, S. 35. 25 ASV Archivio Concistoriale, Conclavi tomo IV, Gregorio XV fol. 37. 26 Maria Franca Mellano, L’elezione di Alessandro VII in alcune lettere di Pompeo Salvio, in  : Rivista di storia della chiesa in Italia 13, 1959, S. 88–101, hier 99, Anm. 41. 27 Conclavi (wie Anm. 25), tomo II, Sisto V fol. 58. 28 Ludwig von Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 15, Frei­ burg 1930, S. 467. 29 ASV Archivio Concistoriale, Conclavi di vari Pontefici fol. 463. 30 Il Diario di Leone X di Paride de Grassi, Rom 1884, Bd. 1, S. 95, Anm. 2. 31 Conclavi (wie Anm. 29), fol. 662v.

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Patron seiner bisherigen Titelkirche zu nennen.32 Insgesamt verhielten sich die Päpste bei ihrer Namenwahl aber kaum anders als die übrigen Zeitgenossen, wo ebenfalls die Nachbenennung nach Vorfahren und Wohltätern sowie nach Heiligen dominierte.33 Im Rahmen päpstlicher Symbolpolitik und Appräsentation von pietas34 ist ein rein illokutionärer Akt wie die Wahl des Papstnamens allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Denn selten beschränkt sich der Papst auf das Spre­ chen, vielmehr geht meistens Sprechen mit Handeln einher oder das Symbol besteht sogar in einer Handlung beziehungsweise im Ergebnis einer Hand­ lung. Wie bei der Erwähnung von Bauprogrammen und Kunstwerken schon angedeutet wurde, greift die Beschränkung auf Textquellen ebenso zu kurz wie das rein analoge Verständnis der kurialen Welt als Text, der durch »dichte Be­ schreibung« hermeneutisch entziffert werden muß. Denn oft genug liegt die Symbolik im Vollzug der Handlung selbst, vor allem in ihrer Performativität, das heißt in ihrem Inszenierungs- und Aufführungscharakter, und nicht erst im Ergebnis. Natürlich hat auch Sprache performativen Charakter, ist es doch das Wesen des Sprechakts, Handlung zu sein. Aber dieser Zusammenhang ist nicht umkehrbar. Die Performativität des Handelns läßt sich nicht auf Sprache und Diskurs reduzieren, sondern enthält durch Einbeziehung der Körperlich­ keit der Handelnden ein Mehr von Momenten, die unmittelbar vom Vollzug der Handlung und nicht von der Rede leben. Wir dürfen diesen Sachverhalt aber nicht mit der Notwendigkeit verwechseln, als posthume Zuschauer des römischen Theaters die Performanz auf jener Bühne analytisch zur Sprache zu bringen.35 Pius II. freilich erleichtert uns abermals den Zugang, indem er seine Perfor­ manz in einem ebenso paradigmatischen wie unverfänglichen Fall von pietas mit seinen autobiographischen »Commentarii« ausdrücklich in diesem Sinne präsentiert. Als die Osmanen die Peloponnes ihrem Reich einverleibten, brachte 32 Conclavi (wie Anm. 25), tomo IX, Clemente XI fol. 82f. 33 Michael Mitterauer, Ahnen und Heilige. Namengebung in der europäischen Geschichte, München 1993. 34 Hans-Georg Soeffner, Protosoziologische Überlegungen zur Soziologie des Symbols und des Rituals, in  : Rudolf Schlögl, Bernhard Giesen und Jürgen Osterhammel (Hgg.), Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärti­ gen Gesellschaften, Konstanz 2004, S. 41–72, hier S. 48f. 35 Wulf (wie Anm. 21), S. 15, 173f. Für »Darstellung« wird normalerweise das englische Wort »performance« verwendet  ; ich versuche es einzudeutschen, indem ich dem deutschen »Perfor­ manz«, das eher »erbrachte Leistung« bedeutet, diese weitere Bedeutung überstülpe.

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der Despot Thomas von Morea eine besonders kostbare Reliquie, das Haupt des Apostels Andreas, aus Patras nach Italien in Sicherheit. Seit eh und je hat­ ten Reliquien eine zentrale Rolle in der christlichen Körpersymbolik gespielt. Pius lobte diesen Fürsten ob seiner pietas und hielt beim sorgfältig inszenierten Empfang des Andreashauptes in Rom 1462, der eine gewaltige Demonstration für den geplanten Türkenkreuzzug sein sollte, eine Rede, deren Metaphorik den für uns wesentlichen symbolischen Gehalt der Performanz überdeutlich zum Ausdruck bringt. »Zu deinem Bruder, dem Apostelfürsten [Petrus], bist du als Exulant geflüchtet«, redete der Papst das Haupt des Apostels an, »es wird dir an deinem Bruder nicht fehlen, [denn] dies ist die alma Roma, dem kostba­ ren Blut deines Bruders geweiht, dieses Volk haben dein Bruder und mit ihm St. Paulus für Christus den Herrn gewonnen. Deine Neffen von Bruderseite sind die Römer, sie verehren dich alle als Onkel und Vater, und zweifeln dafür nicht an deiner Fürsprache vor dem großen Gott.«36 In erster Linie betrachteten sich allerdings Pius selbst und seine Familie, die Piccolomini, als die Klienten (oder sollten wir sagen als die Eigentümer  ?) des hl. Andreas. Pius errichtete eine Andreaskapelle in St. Peter, wo das Andreas­ haupt in einem neuen Reliquiar deponiert wurde. Das alte mit einem Partikel der Reliquie gab er an die Kathedrale seiner Gründung Pienza weiter. In der neuen Kapelle wurden Pius II. und sein Nepot, der spätere Papst Pius III., bestattet. In einem Relief auf dem Grabmal Pius’ II. ist die Entgegennahme des Andreashaupts verewigt. Andreas wurde zum Patron des Hauses Picco­ lomini. 1582 schenkte Costanza Piccolomini den ehemaligen Kardinalspalast Pius’ III. den Theatinern zur Errichtung einer Niederlassung und einer Kirche mit der Auflage, S. Andrea de »piccol’hominibus« zum Kirchenpatron zu ma­ chen. 1612 wurden im Zuge des Neubaus von St. Peter die beiden Grabmäler Pius’ II. und Pius’ III. in diese Kirche S. Andrea della Valle übertragen. Das Andreashaupt allerdings hat Paul VI. 1964 mit dem alten Reliquiar nach Patras zurückgegeben.37 Die Stiftung eines derartigen ins Jenseits reichenden Klientelverhältnisses beziehungsweise die Aneignung von Heiligen in symbolischer Absicht durch 36 »Ad fratrem tuum apostolorum Principem confugisti exulans, non deerit germanus tuus tibi […]. Haec est alma Roma […] precioso tui germani sanguine dedicate, hanc plebem […] frater tuus […] et cum eo […] Sanctus Paulus Cristo domino regeneravit. Nepotesque tui ex fratre Romani sunt, omnes te veluti patruum, patremque suum venerantur, colunt, observant, et tuo se uti patrocinio in conspectu magni dei non dubitant« (BAV Regin. lat. 1995 fol. 353). 37 Roma, Archivio storico capitolino, sezione I, volume 263, Notariatsinstrument 1582 Juni 6  ; Strnad (wie Anm. 22), S. 104f., 108f.; Carli (wie Anm. 15), S. 115, 134f.

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einen Papst kam immer wieder vor. Paul V. Borghese hatte 1608 Francesca Ro­ mana und 1610 Carlo Borromeo heilig gesprochen. Dadurch wurde ein dau­ erndes Pietätsverhältnis des Hauses Borghese zu diesen neuen Heiligen geschaf­ fen. Die beiden Seitenaltäre in der neuen Familienkapelle in S. Maria Maggiore wurden ihnen geweiht.38 Vermutlich lag dem wie einst bei St. Andreas und den Römern ein für unsere Begriffe sehr irdisches do-ut-des-Kalkül zugrunde. Von den neuen Heiligen wurde erwartet, daß sie sich für ihre Erhöhung zur Ehre der Altäre kraft päpstlicher Machtvollkommenheit durch gezielte Für­ bitte, ebenfalls patrocinio genannt, bei Gott erkenntlich zeigen würden. Be­ denkt man die programmatische Inschrift über dem Hauptportal von St. Peter »Paulus V Burghesius Romanus«, dann erweist sich die Kanonisation der vom römischen Volk hoch verehrten S. Francesca außerdem als Akt der pietas gegen­ über der römischen Wahlheimat der Borghese und als gezielte Demonstration der romanità dieser Parvenüs. Symbolpolitik durch die Performanz von Heiligsprechungen war ja schon immer üblich, auch wenn sie heutzutage durch Massenhaftigkeit an Performa­ tivität verloren haben mag. Dabei spielten in der Vormoderne immer wieder pietas-Konfigurationen der genannten Art ihre Rolle. Pius II. nahm auf Bitten seiner Vaterstadt die von der franziskanischen Konkurrenz behinderte Heilig­ sprechung der Dominikanerin Caterina von Siena in die Hand und führte sie zu einem guten Ende. Ausdrücklich gab er seiner Freude Ausdruck, daß dies ihm als Landsmann vergönnt war und dichtete als Humanist gleich noch einen lateinischen Hymnus zu ihren Ehren.39 Der Franziskaner Sixtus IV. kanoni­ sierte sechs seiner Ordensbrüder,40 Urban VIII. seinen Florentiner Landsmann Andrea Corsini,41 mit ausdrücklichem Hinweis auf die gemeinsame Heimat.42 Clemens X., der lange Bischof von Camerino gewesen war, drängte durch Ein­ fügung ins Missale den Kult des dortigen Stadtpatrons Venantius der Gesamt­ kirche auf.43 Von einer ganzen Kette mikropolitischer Solidarität profitierte der venezianische Patrizier und Bischof von Padua Gregorio Barbarigo, der 1697 gestorben war. 1724 wurde er von seinem Neffen und zweiten Nachfolger 38 Wolfgang Reinhard, Papstfinanz und Nepotismus unter Paul V. (1605–1621), Stuttgart 1974, S. 154. 39 Alfonso Capecelatro, Storia di S. Caterina da Siena e del papato di suo tempo, Neapel 1856, S. 47f. 40 Bibliotheca Sanctorum, 12 Bde. und Index, Rom 1961–1970, Bd. 2, Sp. 1271  ; Bd. 3, Sp. 255. 41 Ebd., Bd. 1, Sp. 1158. 42 Oratio des Konsistorialadvokaten Antonio Montecatini, Rom 1629, S. 12. 43 Bibliotheca Sanctorum (wie Anm. 40), Bd. 12, Sp. 972.

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exhumiert, der Prozeß führte zur Seligsprechung durch den Venezianer Papst Clemens XIII., Pius X., ehemals Patriarch von Venedig, verfügte die Wieder­ aufnahme des Prozesses mit dem Ziel der Heiligsprechung, Johannes XXIII., ebenfalls früherer Patriarch von Venedig, vollzog diese 1960 im summarischen Verfahren.44 Pius II. hatte seinen Geburtsort Corsignano zur Renaissancestadt Pienza ausgebaut und zum Bischofssitz erhoben. Aber auch seine Heimatstadt Siena erhielt nicht nur die päpstliche Auszeichnung der Goldenen Rose,45 sondern wurde zum Erzbistum einer neu geschaffenen Kirchenprovinz bestimmt,46 von der Begünstigung zahlreicher Landsleute im einzelnen durch Pius ganz ab­ gesehen. Bologna wurde von Gregor XIII. ebenfalls zum Erzbistum erhoben, quod erat patria pontificis.47 Sixtus V. verlieh seiner Vaterstadt Montalto ein Bistum und machte es zum Suffragan des für seine Heimat, die Marche, neu geschaffenen Erzbistums Fermo.48 Noch 1882 zeichnete Leo XIII. Perugia, wo er jahrzehntelang Bischof gewesen war, durch Erhebung zum Erzbistum aus.49 Raumbezogene Performanz von Pietät war schließlich auch beim Umgang mit römischen Titelkirchen möglich.50 Seit Innozenz III. läßt sich die Sitte nachweisen, daß der Papst seinen bisher innegehabten Kardinalstitel einem Nepoten verlieh. Vor allem 1417–1669 folgten 72% der Päpste dieser Regel. Auch S. Grisogono ging nach der Papstwahl Camillo Borgheses auf Scipione Caffarelli-Borghese über, nachdem ein Zwischeninhaber nach gut zwei Mona­ ten weiter verschoben worden war. Und nach dem Tod Scipiones 1633 »erbte« der zweite Borghesekardinal Pier Maria den Titel.51 Freilich konnte solchen Operationen im Wege stehen, daß Onkel und Neffe verschiedenen ordines an­ gehörten. Denn bisweilen war es von Vorteil, wenn der Nepot Kardinaldiakon blieb, möglicherweise sogar ohne jede Weihe, weil ihm dann im familienpo­ litischen Bedarfsfall die Rückkehr in die Welt und die Heirat möglich waren. Außerdem erhielten Nepoten nicht selten die ertragreiche Stelle eines Vize­ kanzlers der Kirche, mit der San Lorenzo in Damaso als Kardinalstitel fest ver­ bunden war. Mit dem institutionalisierten Nepotismus verschwand die Sitte. 44 Ebd., Bd. 7, Sp. 387. 45 BAV Regin. lat. 1995 fol. 88v. 46 Bullarium Romanum (wie Anm. 17), Bd. 5, S. 150–152. 47 Hierarchia catholica, Bd. 3, Münster 1923, S. 136. 48 Ebd., S. 196, S. 248. 49 Leonis Pont. Max. Acta III, Rom 1884, S. 35–41. 50 Hierarchia catholica, passim. 51 Hierarchia catholica, Bd. 4, Münster 1935, S. 41.

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Letztmals verlieh Benedikt XIII. 1724 dem zum Kardinal erhobenen General seines Ordens den eigenen Titel.52 Symbolische Politik konnte auch mit Wappen gemacht werden. Im Zeitalter des auf der römischen Bühne ausgetragenen Machtkampfes zwischen der spa­ nischen und der französischen Krone war es bedeutsam und unter Umständen höchst folgenreich, welche Kardinäle und römischen Barone das französische oder das spanische Wappen an ihren Häusern anbrachten.53 Kurienintern spielte Mikropolitik mittels Wappen zwar ebenfalls eine Rolle, doch lassen sich bisher nur ihre Ergebnisse identifizieren. Seit Ende des 15. Jahrhunderts hatten sich die Familienwappen im Wappenbrauch der Kurialen durchgesetzt. Wenig später läßt sich in Rom die Übernahme des päpstlichen Familienwappens in heraldisch vornehmer Position in den halbierten oder quadrierten Schild sowie als Herz-, Haupt- oder Oberschild nachweisen, allerdings kaum bei jenen Fa­ miliarengruppen, denen dieses Privileg ausdrücklich verliehen wurde, als viel­ mehr bei den Kardinälen, die damit offensichtlich von sich aus die Bindung an ihren Kreator symbolisieren wollten, denn eine päpstliche Verleihung ist für sie nicht nachzuweisen. Von Paul III. bis Clemens VIII. führten zahlreiche, bisweilen bis zu 80% der neu kreierten Kardinäle solche Devotionswappen, al­ lerdings oft gleichzeitig mit anderen Wappen. Unter Paul V. ging die Zahl aber schlagartig zurück und blieb von nun an auf einem niedrigeren Niveau. Die 15 von den 60 Kardinälen des Borghese-Papstes, die Devotionswappen führten, waren mit Ausnahme des ungarischen Kardinals Forgach durchweg Personen, die sich des besonderen Vertrauens von Papst und Kardinalnepot erfreuten  ; es fehlt kaum jemand aus dem Zentrum der Macht.54 Sollte es sich um den sym­ bolischen Niederschlag bürokratischer Machtkonzentration handeln  ? Inzwischen sind Papstwappen keine Familienwappen mehr, sondern ähnlich wie die Devise Ausdruck der persönlichen Programmatik des Pontifex. Nichts­ destoweniger haben sich am Rande Spuren traditioneller pietas gehalten, mit dem Wappen der Heimat- bzw. Bischofsstadt des Papstes oder gegebenenfalls demjenigen seines Ordens als Schildteil.55 52 Ebd., Bd. 5, Padua 1952, S. 36. 53 Dietrich Erben, Paris und Rom. Die staatlich gelenkten Kunstbeziehungen unter Lud­ wig XIV., Berlin 2004, S. 280–291. 54 Wolfgang Reinhard, Sozialgeschichte der Kurie in Wappenbrauch und Siegelbild. Ein Ver­ such über Devotionswappen frühneuzeitlicher Kardinäle, in  : Erwin Gatz (Hg.), Römische Kurie. Kirchliche Finanzen. Vatikanisches Archiv. Studien zu Ehren von Hermann Hoberg (Miscellanea Historiae Pontificiae 46), Rom 1979, Bd. 2, S. 741–772. 55 Donald Lindsay Galbraith, Papal Heraldry, Cambridge 1930, S. 87, 89, 103–105.

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Daß wir beim Wappenbrauch auf das Entziffern von Symbolen angewiesen blieben und keinerlei rechtliche Regelung der Devotionswappen anzutreffen ist, erscheint einigermaßen verblüffend angesichts der Regelungswut, die das Papsttum in der frühen Neuzeit erfaßt hat. Während mittelalterliche liturgische ordines sich im wesentlichen darauf beschränkt hatten festzuhalten, welche Ri­ ten und vor allem welche Texte an den verschiedenen Festtagen des Kirchen­ jahres fällig waren,56 beginnt nun eine Zeit, in der die Rubriken selbst win­ zigste Gesten der Liturgie detailliert und verbindlich vorschreiben57 und diese Vorschriften für im Gewissen verpflichtend, Verstöße dagegen zur Sünde er­ klärt werden.58 Zwar hatten die Päpste wie alle Bischöfe für den Hausgebrauch schon lange Zeremonienmeister gehabt, aber 1588 wurde deren Rangältester als Sekretär in die neu geschaffene Sacra Congregatio pro sacris ritibus et caeremoniis integriert und dadurch mit ganz neuen Befugnissen ausgestattet. Denn neben den Heiligsprechungen war diese Behörde hinfort für die Liturgie der gesamten Kirche, für das Zeremoniell des päpstlichen Hofes und der Kardinäle sowie für Rechtsprechung bei Rang- und Präzedenzstreitigkeiten zuständig.59 Nicht nur hier gehören Ritual und Zeremoniell zusammen, sind sie doch noch heute inhaltlich kaum zu trennen, schon gar nicht, seit alle möglichen regelmäßig wiederkehrenden Alltags- und Zwangshandlungen wie das Zähne­ putzen und Händewaschen mit dem Etikett »Ritual« versehen wurden. Das muß wohl so sein, wenn Erkenntnis der Wirklichkeit nicht unmittelbar, son­ dern nur vermittelt durch Symbole möglich sein soll.60 Für unsere Zwecke böte sich allerdings in Anlehnung an den römischen Sprachgebrauch die Ver­ wendung von »Ritual« einerseits als Oberbegriff, andererseits als Bezeichnung 56 So das Ergebnis der Durchsicht eines runden Dutzends von Editionen mittelalterlicher ordines. 57 Zum Beispiel heißt es bei Josef Pfab, Kurze Rubrizistik, Paderborn 21961, S. 199, vom Priester nach der Konsekration in der Messe  : »Zeigefinger und Daumen hält er von jetzt an immer geschlossen – ausgenommen wenn er die konsekrierte Hostie berührt – und zwar bis zur Ablution nach der Kommunion.« Vgl. auch Joseph Baldeschi, Ausführliche Darstellung des Römischen Ritus, Regensburg 1856, und Josef Andreas Jungmann, Missarum Solem­ nia, Wien/Freiburg/Basel 51962, Bd. 1, S. 168–211. 58 Anton Stiegler, Rubriken, in  : Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg 21964, S. 82f. 59 Niccolò del Re, La curia romana, Rom 31970, S. 135–148, 429–432, 435–442, wobei nicht ganz klar wird, wann und wie weit eine Riten- und eine Zeremonialkongregation getrennt operiert haben. 60 Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde. (Gesammelte Werke 11– 13) Darmstadt 2001–2002.

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gottesdienstlicher Abläufe an, während »Zeremoniell« auf den höfisch-weltli­ chen Bereich beschränkt bliebe. Nicht-sprachliche Symbole transzendieren das Sprachsystem, weil sie auf ei­ ner vorargumentativen Ebene angesiedelt sind. Sie können als besondere Kom­ munikationsform oder auch als Kommunikationsersatz betrachtet werden, die unter Ausschaltung der Vernunft Welten konstituieren, die sich der Kontrolle des Verstandes entziehen. Das Ritual ist die Aktionsform des Symbols, erfor­ dert Tätigkeit, wo jenem ein fixiertes Zeichen genügt. Ein Ritual verknüpft symbolische Gesten und Einzelhandlungen zu gleich bleibenden, durch inne­ ren Strukturzusammenhang immer schon vorher geordneten Handlungsket­ ten. Durch Standardisierung von Verhalten reduzieren Rituale Komplexität, generalisieren Verhaltenserwartung, verschaffen Sicherheit im Verhalten und Empfinden. Sie schaffen Distanz zu spontanem Handeln, können und sollen aber auf der anderen Seite wohl konditionierte Emotionen erzeugen, mit Ehr­ furcht erfüllen oder zur Gewalt reizen. Hier vor allem ist der Ort des Perfor­ mativen, denn hier vor allem kommt der ganze Körper auf nicht-sprachliche Weise ins Spiel. Hier wird inszeniert und aufgeführt, hier spielt die nicht-ver­ bale Anziehungskraft ästhetischer Arrangements eine ausschlaggebende Rolle. Rituale stiften Ordnung und Gemeinschaft, ihr Studium kann als Fenster in die kulturelle Struktur einer Gesellschaft dienen. Machtverhältnisse werden geschaffen und dargestellt, denn im Ritual wird der interaktive Austausch von Kommunikations- und Handlungspartnern durch Unterwerfung unter ein Handlungsschema ersetzt. Je weiter ein Ritual von seiner Entstehungssituation entfernt ist, je weniger sein symbolischer Sinn unmittelbar einleuchtet, um so mehr Disziplin oder sogar Zwang sind erforderlich, desto strenger müssen die mimetischen Prozesse seiner Weitergabe kontrolliert werden. Daher beschäfti­ gen hoch ritualisierte Gesellschaften wie die römische Kurie professionelle Ritu­ alspezialisten, die dafür zu sorgen haben, daß mit der Einheit des Handelns die Einheit des Glaubens aufrecht erhalten wird. Es ist klar, warum totalitäre Regi­ mes wie die Faschismen oder Kommunismen, wie die römische Kurie oder die strengen Moslems zur Hyperritualisierung neigen. Ebenso, warum umgekehrt Humanisten, Reformatoren und andere Zeitgenossen, die sich vorübergehend außerhalb des sozialen Rahmens positionieren, Ritualkritik üben und warum Ritualisierung sich schlecht mit Pluralismus verträgt.61 Auf der anderen Seite besteht der Triumph erfolgreicher Ritualisierung im Eindruck oder sogar in der 61 Soeffner (wie Anm. 35), S.  57–66  ; Wulf (wie Anm. 21), S. 15, 152, 178, 182, 193f., 197– 208.

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Verwirklichung vollständiger zwangloser Natürlichkeit,62 ganz im Sinne des früh­ neuzeitlichen honnête homme, »der über eine so perfekte Kontrolle seines Kör­ pers und Verhaltens verfügte, daß er sich eine vollkommene Nonchalance leisten konnte. Der Eindruck vollkommener Natürlichkeit beruhte auf Perfektion der Künstlichkeit – der Mensch als Kunstwerk  !«63 Das bedeutet aber, Ritualisierung als körperliche Performanz wird den Körpern der Beteiligten eingeschrieben. Es müßte also eigentlich so etwas wie den typischen römischen Prälatenkörper oder auch nur das typische Prälatengesicht gegeben haben und noch geben  ? Lunadoros »Relatione della Corte di Roma« vom Januar 161164 weiß natür­ lich darüber noch nichts zu sagen, obwohl sie sich zu zwei Dritteln mit Riten und Zeremonien befaßt, im Sinne unserer Unterscheidung sogar überwiegend mit den letzteren. Und zwar geht es dabei weniger um den Papst als um das zeremoniell korrekte Verhalten der Kardinäle, bis hin zu einer Liste der Trink­ gelder, die ein neu kreierter Kardinal nach dem öffentlichen Konsistorium zu entrichten hatte, genau gestaffelt von 100 Kammerdukaten für die vier Zere­ monienmeister bis zur 4 Kammerdukaten für die vier päpstlichen Geheimkeh­ rer,65 deren Rolle bei der Kardinalspromotion vermutlich hauptsächlich in der Entgegennahme dieses Geldes bestand. Auch die mikropolitische Dimension ist noch keineswegs abwesend, sondern kommt in der besonderen Rolle der päpstlichen Verwandten im Zeremoniell und des Kardinalnepoten bei der Kar­ dinalspromotion sogar besonders deutlich zum Ausdruck. Sollen Leute zu Kardinälen erhoben werden, die sich an der Kurie aufhalten, erhält der Nepot vom Papst deren Liste. Darauf läßt dieser sie von seinem Maestro di Camera in seiner Kutsche zu sich holen und in seinen Gemächern von seinen Kämmerern in die violetten Kardinalsgewänder einkleiden. Für die bei dieser Gelegenheit neu geschnittene Tonsur schulden sie dem Barbier des Nepoten 25 scudi. Nach einem Essen mit dem Nepoten begeben sie sich zum 62 Wulf (wie Anm. 21), S. 153. 63 Wolfgang Reinhard, Lebensformen Europas, München 2004, S. 517. 64 ASV Segreteria di Stato, Misc. Arm. II 108 A fol. 426–502  : »Relatione della Corte di Roma, et de Riti da osservarsi in essa, et de suoi Magistrati, et Offitii, con la loro distinta giurisdizione, fatta dell’anno 1611 di Gennaro«, von Girolamo Lunadoro, der Sekretär des gescheiterten Kardinalnepoten Cinzio Aldobrandini gewesen war, sich aber anscheinend auch mit Kardinal Borghese gut verstand. Die »Relatione« wurde immer wieder gedruckt, zuerst angeblich Padua 1635 zusammen mit den Briefen des Staatssekretärs Pauls V. Kardinal Margotti (Pastor [wie Anm. 28], Bd. 12, S. 55, Anm. 3), dann Bracciano 1641, Venedig 1660 und 1702, Rom 1765 und 1826, aber zumindest seit 1660 stark erweitert und überarbeitet, 1826 schließlich zum Nicht-Wiedererkennen. Ich benütze die authentische Manuskriptfassung von 1611. 65 Ebd., fol. 500.

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geheimen Concistorium, wo der Papst sie einzeln beim Namen ruft, ihnen mit den Worten »Esto Cardinalis« das Birett aufsetzt und sie segnet. Anschließend ist der erste Besuch bei den weltlichen Verwandten des Papstes fällig.66 Ein auswärtiger Auserwählter erhält die erste Nachricht von der beabsichtig­ ten Promotion mit einem Schreiben des Nepoten durch einen Kurier, der na­ türlich Anspruch auf ein schönes Trinkgeld hat. Er kann sich ab sofort Kardinal nennen und die entsprechenden Gewänder anlegen, nachdem er ebenfalls eine neue Tonsur erhalten hat. Inzwischen bringt ihm ein päpstlicher Kämmerer das Birett zusammen mit einem Breve. An diesen sind 110 Kammerdukaten fällig plus 10 für den päpstlichen Guardarobba für das Birett selbst. Der nächste päpstliche Nuntius, falls ein solcher fehlt, der nächste Bischof setzt ihm das Birett auf. Nun reist er zum Empfang des roten Hutes nach Rom, wo er in einer Vigna vor den Toren die Kardinalsgewänder anlegt. Dann läßt ihn der Nepot in seiner Kutsche zu sich holen und bringt ihn nach den debiti complimenti zum Papst, von dem er in der bereits geschilderten Weise das Birett erneut aufge­ setzt bekommt. Dann geht es zurück zum Nepoten und zum Besuch bei den übrigen Mitgliedern der Papstfamilie.67 Die Rollen des Kardinalnepoten im Zeremoniell und als Patron der päpstlichen Klientel müssen nicht ausdrücklich erklärt werden, sie sind evident  ! Die neuen Kardinäle müssen nun zunächst zuhause bleiben, bis sie im nächsten öffentlichen Concistorium den roten Hut erhalten haben. Anschlie­ ßend gibt ihnen der Nepot ein Bankett und sie beginnen beim Kardinalde­ kan ihre Antrittsbesuche bei sämtlichen Kardinälen und Botschaftern, deren sonstige Reihenfolge erstaunlicherweise beliebig ist, erstaunlicherweise, weil unser Text der Präzedenz an und für sich viel Aufmerksamkeit widmet.68 Im nächsten geheimen Concistorium erfolgt dann die Zeremonie der Schließung des Mundes, die mit vorübergehendem Verlust des aktiven und passiven Wahl­ rechts verbunden ist, im übernächsten die Öffnung des Mundes und die ritu­ elle Vermählung mit der bei dieser Gelegenheit zugewiesenen Titelkirche mit­ tels eines Goldrings mit Saphir, aber von geringem Wert. Allerdings sind die Erben eines Kardinals verpflichtet, für diesen Ring 500 Kammerdukaten zu entrichten, eine Abgabe, deren Ertrag Gregor XIII. dem Collegium Germani­ cum zugewiesen hat.69 66 Ebd., fol. 496. 67 Relatione (wie Anm. 64), fol. 496v–498. 68 Ebd., fol. 491v–493v. 69 Ebd., fol. 498–499v.

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Das Zeremoniell vermittelt das Bild einer wohlgeordneten Welt, deren Ord­ nungsprinzipien Rang und Macht sind. Wie weit und mit welchen Begleitern geht ein Kardinal einem Papstnepoten, Kardinal, souveränem Fürsten oder Botschafter eines solchen entgegen, wie weit einem römischen Baron oder blo­ ßen Vertreter von Bologna oder Ferrara  ? Wie weit gibt er ihnen beim Abschied das Geleit  ? Ein Zimmer weit, bis zur halben Treppe, bis zum Eingang  ?70 Wie viele Kerzen brennen bei der Messe  ? Wenn ein bloßer Hauskaplan zelebriert, zwei, bei einem Prälaten vier, beim Kardinal selbst sechs.71 Und keiner wage es, am Tisch des Kardinals zu trinken, bevor dieser selbst nicht zum ersten Mal getrunken hat. Dann kann auch der Caudatario seine geistliche Tischlesung abbrechen.72 Wer darf bei der Papstaudienz, wer bei Verhandlungen mit dem Nepoten, wer beim Besuch bei einem Kardinal die Kopfbedeckung aufsetzen, wer erhält einen Stuhl mit Lehne, wer einen Hocker ohne, wer wird im Ste­ hen abgefertigt  ?73 Und wenn zwei Kardinalskutschen zusammentreffen, wer spricht zuerst, wer hat die ›Vorfahrt‹  ? Natürlich der ältere.74 Bereits die Kleidung der Kardinäle kann Machtanspruch zum Ausdruck bringen. So treten sie in Rochett75 und Mozzetta76 nur bei Kongregationssit­ zungen auf sowie öffentlich bei der Sedisvakanz, wenn sie die Kirche regieren, denn diese anscheinend sonst dem Papst vorbehaltene Kombination demonst­ riert padronanza et giurisdittione. Bei der Sedisvakanz übrigens mit dem feinen Unterschied, daß die Kreaturen des verstorbenen Papstes diese Gewänder in reinem Violett tragen, die übrigen Kardinäle aber mit roten Nähten und Auf­ schlägen.77 Ein Kardinal, der im Papstpalast wohnt, darf seine Gäste höchstens bis zur letzten Tür seines Appartements begleiten. Weiter zu gehen, was in anderen Fällen höflich wäre, dimostrarebbe superiorità und würde als superbia betrachtet.78 Ein Kardinallegat a latere wird zwar pompös verabschiedet, darf sich aber erst 40 Meilen außerhalb Roms das Legatenkreuz als Symbol seiner 70 Ebd., fol. 472–476. 71 Ebd., fol. 470v. 72 Ebd., fol. 480f. 73 Ebd., fol. 461v–464, 474–475. 74 Ebd., fol. 476v. 75 Engärmeliges, bis zu den Knien reichendes Leinengewand von Prälaten, nicht liturgisch (Le­ xikon für Theologie und Kirche2 Bd. 8, Sp. 1346). 76 Schulterumhang bis zum Ellenbogen für Inhaber höherer Jurisdiktion, über dem Rochett zu tragen (Lexikon für Theologie und Kirche2 Bd. 7, Sp. 669). 77 Relatione (wie Anm. 64), fol. 464vf. 78 Ebd., fol. 465v.

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Vollmachten vorantragen lassen.79 Symbol und Performanz zeigen, wie überaus sorgfältig Rang und Macht dosiert sind. Mafiose Korruption in einer abstrusen Theaterwelt – war es das  ? Keineswegs. Wir sollten uns als Historiker nicht solchen kurzschlüssigen Schlußfolgerungen unseres gesunden Volksempfindens überlassen, sondern unsere Bedeutung be­ kanntlich in der Aufgabe sehen, die Bedeutung von Bedeutung zu entziffern. Das heißt aber, auch nicht der entgegengesetzten Tendenz zur selbstverständ­ lichen, durch die kulturalistische Wende neu belebten reduktionistischen Ak­ zeptanz der normativen Kraft des Faktischen zu erliegen. Denn danach wäre Ritualkritik sinnlos, denn Rituale sind unvermeidlich und müssen deshalb »gut« sein, ohne daß wir uns weiter darum kümmern müßten, wozu sie gut sind. Ich hingegen will versuchen, abschließend nach der anthropologischen Funktion der symbolischen Performanz an der römischen Kurie zu fragen. Un­ ter diesem Gesichtspunkt hätten wir erstens mit der römischen Mikropolitik Varianten eines bewährten traditionalen Verfahrens zur Sicherung der mensch­ lichen Existenz in der Welt vor uns, das zweitens in ein großes Welttheater eingebettet ist (wobei dieser Begriff hier nicht auf einem Lesefehler beruht wie weiland bei Winfried Schulze). Das erste dürfte kaum strittig sein, was aber bedeutet das zweite  ? Mein Vor­ schlag läuft darauf hinaus, die symbolischen und performativen Aktivitäten auf der römischen Bühne als grandiosen und wahrscheinlich sogar gelungenen Versuch zur Domestizierung, vielleicht sogar zur »Entzauberung« des Sakralen zu betrachten. Bernhard Giesen hat jüngst darauf hingewiesen, daß es eine wesentliche Leistung von Kultur ist, durch soziale Kommunikation das stets vorhandene Gegenteil der sinnhaften Ordnung, die Unterwelt des Sinnlosen und Absurden, zurückzudrängen und latent zu halten.80 Nach dem, was vor­ hin zur Macht des Performativen gesagt wurde, sind Symbol und Ritual we­ gen ihrer ganzheitlichen und teilweise vorsprachlichen Wirkung dafür beson­ ders geeignet. Das überaus kohärente römische Welttheater bringt mit ihrer Hilfe in diesem Sinne eine erfolgreiche Entschärfung und Veralltäglichung der Transzendenz zustande. Die kosmischen Gewalten, Gott selbst, seine Engel und Heiligen werden so auf kalkulierbare, ja manipulierbare Größen des mensch­ lichen Daseins, auf Bestandteile einer menschlichen Ordnung reduziert. Das beginnt in den Sakramenten und anderen Riten der Kirche und endet mit den 79 Ebd., fol. 483f. 80 Bernhard Giesen, Latenz und Ordnung. Eine konstruktivistische Skizze, in  : Schlögl, Giesen und Osterhammel (wie Anm. 34), S. 73–100, hier 76.

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kleinen Regeln des Zeremoniells. An dieser Stelle sei noch einmal darauf hin­ gewiesen, daß die Ästhetik von Performanzen und Symbolen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Die Abbildung des Unbegreiflichen macht es begreiflich, die Schönheit der Bauten, Bilder und Gewänder, die Choreogra­ phie der Liturgie, der Prozessionen, des Zeremoniells, der Zauber der Musik gewinnen die Gefühle für die Richtigkeit des Weltbildes. Unvertrautes und Geheimnisvolles wird domestiziert, indem man es mit Vertrautem identifi­ ziert. Die gewohnte pietas gegen Verwandte, Freunde und Klienten wird in römischer Tradition durch die beruhigende Unterstellung ins Jenseits verlän­ gert, daß Gott und sein himmlischer Hofstaat denselben Regeln folgen wie die Mächtigen dieser Welt. Denn pietas ist das Ordnungsprinzip des Kosmos.

Geheimnis und Fiktion als politische Realität

Im Juli 2003 erfuhr der Freiburger Stadtrat Hendrijk Guzzoni in seiner Eigen­ schaft als Mitglied des Aufsichtsrats der Stadtbau GmbH, dass diese Firma ca. 32.000 Euro für eine Stele zu Ehren des Ex-Oberbürgermeisters Rolf Böhme im Konzerthaus Freiburg ausgeben werde – in einer Zeit drastischer Einspa­ rungen auf allen Gebieten. Er gab diese Information an die Presse weiter und wurde daraufhin vom Oberbürgermeister Dieter Salomon als Vorsitzendem im Namen des Aufsichtsrats wegen Verletzung der Verschwiegenheitspflicht nach GmbH-Gesetz formell gerügt.1 Guzzoni zog vor das Landgericht, das im De­ zember 2004 den Widerruf der Rüge verfügte, u. a. mit der Begründung, hätte die Gemeinde nicht die privatrechtliche Form einer GmbH gewählt, wäre die Angelegenheit öffentlich im Gemeinderat verhandelt worden. Die Stadt Freiburg sei aber nicht berechtigt, die gesetzlich vorgesehene Öffentlichkeit dadurch zu umgehen, dass sie die Verschwiegenheitspflicht des Kapitalgesell­ schaftsrechts für politische Maßnahmen in Anspruch nehme.2 Diese Geschichte demonstriert an einem einfachen Fall das funktionale Zusammenspiel von Geheimnis und Fiktion in der Politik. Die öffentlichen Hände bedienen sich zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben der Fiktion privat­ rechtlicher Kapitalgesellschaften einerseits, um bei den Beschäftigten das Recht des öffentlichen Dienstes zu umgehen, anderseits, um die Entscheidungspro­ zesse und die Budgetkontrolle der politischen Öffentlichkeit zu entziehen und geheim zu halten. Fiktiv sind diese Scheinprivatisierungen, solange die öffent­ lichen Hände mindestens die Mehrheit der Anteile halten.3 Freilich, nicht immer werden Geheimnisse durch Fiktionen aufrechterhal­ ten, nicht immer besteht ein direkter politischer Zusammenhang von Geheim­ 1 In der Tat kennt die juristische Literatur nur den Konflikt zwischen der privatrechtlichen Schweigepflicht des Aufsichtsratsmitglieds und der Auskunftspflicht gegenüber den städti­ schen Gremien, die es in diese Aufgabe delegiert haben. Dabei entfällt die Verschwiegenheits­ pflicht nur bei Anforderung seitens der Stadt. Vgl. Brigitte Strobel  : Verschwiegenheits- und Auskunftspflicht kommunaler Vertreter im Aufsichtsrat öffentlicher Unternehmen, Baden-Ba­ den 2002, S. 159 f., 208 f., 218–222  ; Hanspeter Knirsch  : Information und Geheimhaltung im Kommunalrecht, Stuttgart 1987, S. 52–58. 2 Berichte der Badischen Zeitung 4. Mai und 24. Dezember 2004. 3 Laut Strobel (wie Anm. 1) stieg der Anteil privatrechtlicher Kapitalgesellschaften allein an kommunalen Unternehmen von 5 % 1952 auf 35 % 1990. Heute dürfte der Anteil noch erheblich höher liegen.

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nis und Fiktion. Doch obwohl es sich auf weite Strecken um getrennte Poli­ tikfelder handelt, kann es jederzeit zu Überschneidungen der geschilderten Art kommen. Denn Geheimnis und Fiktion sind zentrale Elemente jener Grauzone verschleierter Politik, die vormodernen Verhältnissen angemessen gewesen sein mag, zum Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie und dem Sachgerech­ tigkeitsprinzip moderner Regierung und Verwaltung aber in offenkundigem Widerspruch steht. Nichtsdestoweniger wird mit einigem Recht behauptet, auch demokratische Gemeinwesen könnten ohne sie nicht funktionieren. Das würde allerdings bedeuten, dass Demokratie, wenn sie auf Nichtöffentlichkeit angewiesen bleibt, selbst eine Fiktion ist  !

1. Geheimnis

Dabei ist Geheimnis an und für sich nichts Verwerfliches, sondern als Grundlage von Gesellschaft und Kultur eine wichtige Errungenschaft der Menschheit. »Wird die menschliche Vergesellschaftung durch das Sprechenkönnen bedingt, so wird sie – was freilich nur hier und da hervortritt – durch das Schweigenkönnen ge­ formt«, schrieb bereits Georg Simmel,4 während Friedrich Nietzsche feststellte  : »Jede Art von Kultur beginnt damit, dass eine Menge von Dingen verschleiert werden.« Geheimnis schafft Grenzen im sozialen Raum, drückt gegenseitigen Re­ spekt aus und macht damit kultiviertes Zusammenleben erst möglich.5 Insofern ist es ein Apriori indirekter Kommunikation und selbst eine Art von Kommu­ nikation.6 »Ein Geheimnis ist eine nur einem geschlossenen oder schließbaren Personenkreis bekannte Tatsache, an deren Geheimhaltung ein – nicht notwendig berechtigtes – Interesse besteht«, definiert ein Jurist.7 Der Kreis kann aus einer Person bestehen, die etwas für sich behält  ; dann handelt es sich um Nicht-Kom­ munikation.8 Oder es handelt sich um das Wissen einer Gruppe, von der ich weiß,

4 Nach Jürgen Thorwart  : Berufliche Verschwiegenheit. Juristische, beziehungsdynamische und praktische Aspekte der innerinstitutionellen Schweigepflicht in psychosozialen Institutionen, Wien 1998, S. 11. 5 Aleida und Jan Assmann (Hg.)  : Schleier und Schwelle. Archäologie literarischer Kommunika­ tion, 3 Bde., München 1997–99, Bd. 1  : Geheimnis und Öffentlichkeit, S. 1 (Einleitung). 6 Burkard Sievers  : Geheimnis und Geheimhaltung in sozialen Systemen, Opladen 1974, S. 19 f. 7 Peter Düwel  : Das Amtsgeheimnis, Berlin 1965, S. 232. 8 Alois Hahn  : Geheim, in  : Gisela Engel u. a. (Hg.)  : Das Geheimnis am Beginn der europäi­ schen Moderne (Zeitsprünge 6,1–4), Frankfurt 2002, S. 21–42.

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dass sie etwas weiß, was ich nicht weiß,9 um eine Art von künstlicher Informati­ onsverknappung,10 aber durchaus um Kommunikation, insofern ich erfahre, dass es etwas zu wissen gibt, und es oft genug selber wissen möchte. Insofern konnte von der Erfindung »des Geheimnisses durch die Neugier« gesprochen werden.11 Denn es ist auch reflexive Geheimhaltung möglich, das heißt geheim halten, dass es überhaupt ein Geheimnis gibt. Sie entlastet von Dissens und Umwelt­ druck und steigert die internen Handlungsmöglichkeiten des schweigenden Systems. Deswegen ist sie nicht nur bei Politikern und Bürokraten beson­ ders beliebt, weil sie Machtausübung ohne Verantwortlichkeit ermöglicht,12 sondern auch überall dort, wo es inkorrektes oder kriminelles Verhalten zu verbergen gibt. Sie lässt sich allerdings oft nur mit Lügen aufrechterhalten.13 Nicht alle Geheimnisse sind verwerflich, aber wer Verwerfliches tut, strebt fast immer nach Geheimhaltung.14 Allerdings ergibt sich bei Organisationen von geheimbündischem Charakter mit Initiationsriten, Vereidigung und bisweilen blindem Gehorsam der Mitglieder wie den Freimaurern oder dem Opus Dei automatisch der Verdacht auf verwerfliche Aktivitäten, der keineswegs immer berechtigt ist. Sofern damit nicht einfach ungestörte Tätigkeit angestrebt wird, handelt es sich bisweilen um schlichte Wichtigtuerei.15 Die Liste der als legitim geltenden Geheimnisse ist lang,16 obwohl es selbstverständlich kulturelle Unterschiede gibt zwischen ausgesprochenen Geheimniskrämern wie den Chinesen und den Öffentlichkeitsfanatikern in Amerika und Europa, wobei man sich aber auch bei uns nicht täuschen lassen darf. Denn »die mediale Daueröffentlichkeit wirkt entgegen ihrem Anspruch wie ein Schleier, hinter dem sich die Realität umso besser verstecken kann«.17   9 Ulrich Rösch  : Geheimhaltung in der rechtsstaatlichen Demokratie. Demokratietheoretische Überlegungen zum Informationsverhältnis zwischen Staat und Bürger sowie zwischen den Staatsgewalten, Baden-Baden 1999, S. 26. 10 Sievers (wie Anm. 6), S. 58 f. 11 Assmann (wie Anm. 5), Bd. 3  : Geheimnis und Neugierde (1999), S. 7–11. 12 Sissela Bok  : Secrets. On the Ethics of Concealment and Revelation, New York 1982, S. 102– 115. 13 Sievers (wie Anm. 6), S. 26–34, 73, 84–86. 14 Bok (wie Anm. 12), S. 26. 15 Bok (wie Anm. 12), S. 45–58  ; Alain Bauer  : Les secrets maiçonniques, in  : Jean-Denis Bredin u. a.: Transparence et secret (Pouvoirs 97), Paris 2001, S. 91–97. 16 Vgl. Bok (wie Anm. 12)  ; Sievers (wie Anm. 6)  ; Albert Spitznagel (Hg.)  : Geheimnis und Ge­ heimhaltung. Erscheinungsformen – Funktionen – Konsequenzen, Göttingen/Bern 1998. 17 Otto Depenheuer (Hg.)  : Öffentlichkeit und Vertraulichkeit. Theorie und Praxis der politi­ schen Kommunikation, Wiesbaden 2001, S. 15.

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Die religiösen Geheimnisse, das Mysterium und andere Imaginationen des Unergründlichen, die einst weltweit eine große Rolle spielten, haben in un­ serer sich entzaubert gebenden Welt an Bedeutung verloren.18 Stattdessen ist seit der Aufklärung für uns das Menschenrecht auf Geheimnis, der Anspruch auf Schutz unserer Privatsphäre vor der gesellschaftlichen und politischen Öf­ fentlichkeit in den Vordergrund getreten.19 Aber die Verschwiegenheitspflicht der Ärzte geht angeblich bereits auf die Antike zurück20 und das Beichtge­ heimnis kam seit dem 9. Jahrhundert auf und wurde 1215 im Kanon 21 des 4. Laterankonzils zusammen mit der Beichtpflicht eingeschärft.21 Doch die berufliche Verschwiegenheitspflicht wurde im Lauf der Zeit ausgeweitet auf Anwälte22, Notare, Bankiers, Steuerbeamte, Wirtschaftsprüfer, Versicherer, Architekten, Psychiater23, Sozialarbeiter, Lehrer, Gewerbeaufsichtsbeamte24, Arbeitgeber und Arbeitnehmer25. Damit unterliegt ihr ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in der einen oder anderen Weise. Ärzte, Geistliche, Rechts­ anwälte, Datenschutzbeauftragte und eine Reihe weiterer Gruppen, insbe­ sondere auch Journalisten, besitzen darüber hinaus in unterschiedlichem Umfang ein Zeugnisverweigerungsrecht vor Gericht.26 Außerdem besteht eine Anonymisierungspflicht für amtliche und wissenschaftliche statistische 18 Assmann (wie Anm. 5), Bd. 2  : Geheimnis und Offenbarung (1998)  ; Kees W. Bolle (Hg.)  : Secrecy in Religions, Leiden 1987. Allerdings meint Johannes Süßmann  : Vom Geheimnis zur Hieroglyphe. Das Geheimnis der frühneuzeitlichen Staaten im Geschichtsdenken Leopold von Rankes, in  : Engel (wie Anm. 8), S. 496–509 bei Ranke stattdessen Staatengeschichte als quasi-religiöses Mysterium identifizieren zu können. 19 Gisela Engel/Heide Wunder  : Einleitung, in  : Engel (wie Anm. 8), S. 3–11. 20 Marie-Hélène Mouneyrat  : Éthique du secret et secret médical, in  : Bredin (wie Anm. 15), S. 47–61  ; Pierre Lambert  : Le secret professionnel, Brüssel 1985, S. 143–177  ; Raymond Vil­ ley  : Histoire du secret médical, Paris 1986  ; Bernhard Wiebel  : Das Berufsgeheimnis in den freien Berufen. Untersuchungen zur Soziologie und Geschichte der Berufe des Arztes, des Rechtsanwalts und Strafverteidigers, Opladen 1970, bes. S. 82. 21 Karma Lochrie  : Covert Operations. The Medieval Uses of Secrecy, Philadelphia 1999, S. 26  ; Wiebel (wie Anm. 20), S. 76. 22 Wiebel (wie Anm. 20). 23 Thorwart (wie Anm. 4). 24 Gerhard Knorr  : Geheimhaltung und Gewerbeaufsicht. Umfang und Geltungsbereich der Ge­ heimhaltungspflichten, Berlin 1982. 25 Bok (wie Anm. 12), S. 136–152  ; Denis Kessler  : L’entreprise entre transparence et secret, in  : Bredin (wie Anm. 15), S. 33–46. 26 Vgl. Lambert (wie Anm. 20)  ; Marie-Theres Tinnefeid/Eugen Ehmann/Rainer  W. Gerling  : Einführung in das Datenschutzrecht. Datenschutz und Informationsfreiheit in europäischer Sicht, 4. Aufl., München 2005, S. 183, 617.

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Erhebungen.27 Schließlich wurde auch die keineswegs von Anfang an beste­ hende geheime Stimmabgabe bei Wahlen allgemein durchgesetzt. Offensichtlich ist der sensibelste Bereich der politische, wo die Geheim­ nisse der Individuen und die Neugier der Herrschenden ebenso miteinander in Konflikt geraten wie die Geheimnisse der Herrschenden und die Neugier der Bürger. Freilich ist das Ergebnis des Konflikts durch die Machtverhältnisse weitgehend vorprogrammiert. Die Herrschenden haben es leichter, ihre Ge­ heimnisse zu bewahren und ihre Neugier zu befriedigen, als die Beherrschten. 1.1 Geheimnisse der Herrschenden Weil Geheimhaltung die unkontrollierte Ausübung von Macht ebenso er­ leichtert wie das ungestörte Funktionieren von Organisationen, ist sie ein selbstverständliches Bedürfnis aller Herrschenden. Daher »ist jede auf Konti­ nuierlichkeit eingerichtete Herrschaft an irgendeinem entscheidenden Punkt Geheimherrschaft«.28 Dieses Bedürfnis nimmt mit der Macht und dem Or­ ganisationsgrad von Herrschaft zu. Die Aussage ist umkehrbar, denn solange Herrschaft hauptsächlich Rechtsprechung und kaum organisiert war sowie mündlich in direkter Kommunikation stattfand, war Geheimhaltung weder sinnvoll noch möglich. Bezeichnenderweise fehlte auch der Gegenbegriff, die moderne Vorstellung von Öffentlichkeit. Erst mit dem Aufkommen des schrift­ lichen Inquisitionsprozesses in der Justiz und der nun ebenfalls zunehmend schriftlich tätigen fürstlichen und städtischen Beamten wurden Amtsträger al­ ler Art immer häufiger zur Verschwiegenheit verpflichtet.29 Bei der kirchlichen Inquisition und dem venezianischen Rat der Zehn entwickelte sich das Ge­ heimnis schließlich frühzeitig zu einem ausgesprochenen Einschüchterungs-, wenn nicht sogar Terrorinstrument.30 Politik wurde auch sonst mehr und mehr zur geheimen Angelegenheit, nicht nur, um allerhand dubiose Praktiken zu verbergen, den skrupellosen Einsatz von Macht, von Heuchelei und Hinterlist im Sinne Machiavellis, sondern auch 27 Statistisches Bundesamt  : Methoden zur Sicherung der statistischen Geheimhaltung, Stuttgart 1999. 28 Max Weber nach Depenheuer (wie Anm. 17), S. 18. 29 Wiebel (wie Anm. 20), S. 62  ; Lucian Hölscher  : Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine be­ griffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979. 30 Leonida Tedoldi  : Secrecy, Justice, and Courts. The Venetian Inquisitorial System of the Council of Ten, in  : Engel (wie Anm. 8), S. 142–158.

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ganz allgemein zum Schutz der Exklusivität des Herrschaftswissens der zur Herrschaft Berufenen.31 Auch die Verhandlungen des englischen Parlaments waren bis ins 18. Jahrhundert geheim, Informationen darüber mit Strafe be­ droht.32 Diese verborgenen Seiten der Macht, die Geheimnisse der Herrschafts­ ausübung, waren als Arcana Imperii ein zentraler Bestandteil der frühneuzeit­ lichen Staatsräson, der Ratio Status. Das Staatsgeheimnis war geboren. Noch 1999 konnten Juristen allen Ernstes darüber diskutieren, ob verfassungs- und rechtswidriges Staatshandeln als Staatsgeheimnis respektiert werden müsse.33 Dabei kannte doch bereits die politische Wissenschaft des 17. Jahrhunderts die relativierende Unterscheidung von Staatsgeheimnissen (Arcana Imperii) und Regierungsgeheimnissen (Arcana Dominationis).34 Weil die im Prinzip nebenamtlichen und daher relativ unabhängigen Räte aus Adel und Geistlichkeit von berufsmäßigen aus dem dritten Stand abgelöst wurden, die Existenz und Aufstiegschancen allein dem Fürstendienst verdank­ ten, konnte das Geheimhaltungsbedürfnis neben dem Herrscher problemlos auch sein Regierungspersonal erfassen. Unter den Fürstendienern, den Ministri, wurden die Secretarii immer wichtiger, die für die vertrauliche Korrespondenz und andere geheime Geschäfte zuständig waren. Besondere Chiffrensekre­ täre waren mit der Verschlüsselung und Entschlüsselung der allergeheimsten Schriftstücke befasst. Nicht weil er von Anfang an unter Tyranneiverdacht stand35, kam der Begriff Arcana Imperii um 1700 außer Gebrauch, sondern weil das Amtsgeheimnis im inzwischen entstandenen Regierungsapparat zur Routine geworden war, so selbstverständlich, dass es im Register der 1983–88 veröffentlichten fünfbändigen Deutschen Verwaltungsgeschichte überhaupt nicht auftaucht, auch nicht unter anderem Namen.36 Zumindest in Deutschland war auch keine eindeutige flächendeckende Regelung erforderlich. Erst das Bun­ 31 Hölscher (wie Anm. 29), S. 130–134  ; Robert A. Schneider  : Disclosing Mysteries. The Contra­ dictions of Reason of State in Seventeenth-Century France, in  : Engel (wie Anm. 8), S. 159–178. 32 Carl J. Friedrich  : Pathologie der Politik. Die Funktion der Missstände  : Gewalt, Verrat, Kor­ ruption, Geheimhaltung, Propaganda, Frankfurt 1973, S. 144  ; Jonathan M. Elukin  : Keeping Secrets in Medieval and Early Modern England, in  : Engel (wie Anm. 8), S. 111–129. 33 Jörn Hans Peter Ahrens  : Der Begriff des Staatsgeheimnisses im deutschen und ausländischen Staatsschutzrecht, Hamburg 1966  ; Harald Barnert  : Das illegale Staatsgeheimnis, München 1978  ; Rösch (wie Anm. 9), S. 94–97. 34 Arnold Clapmarius  : De arcanis rerum publicarum libri sex, Bremen 1605, mit 13 Auflagen bis 1673, nach Michael Stolleis  : Arcana imperii und Ratio status. Bemerkungen zur politi­ schen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, Göttingen 1980, S. 18. 35 Hölscher (wie Anm. 29), S. 134  ; Stolleis (wie Anm. 34), S. 9 f. 36 Deutsche Verwaltungsgeschichte, 6 Bde., Stuttgart 1983–1988.

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desbeamtengesetz von 1953 führte offiziell die allgemeine Verschwiegenheits­ pflicht ein, angeblich um der Rechtsunsicherheit abzuhelfen.37 An Einzelbestimmungen fehlte es freilich nicht. Der Freiburger Stadtschrei­ ber musste schon 1494 schwören, Akten nur auf Weisung seiner Oberen zu­ gänglich zu machen, Neugierige aus der Kanzlei fernzuhalten und vor allem »Item alles das, so ir im rat verstand oder darin geredt wird, och alles das, so ir lesen, das ein rat oder ein statt berürt, es sein fryheit oder annders, das sollen ir ewiglich hälen und verswigen getrüwlich unnd ongeverd.«38

Umfassend wird die Amtsverschwiegenheit 1768 in Artikel 66 der österreichi­ schen Constitutio Criminalis Theresiana unter dem Titel Von Verrathung der Raths- und Amtsgeheimnissen geregelt  : »§ i. Dieß Verbrechens wird sich von jenen schuldig gemacht, die zu ihrem Amt mit Eydespflicht, folgsam zu Geheimhaltung der Amtssachen verbunden sind, als Unse­ re Räthe, und Beamte, Rathsglieder, Gerichtsbeysitzer, Stadt- und Gerichtsschreiber, und derley Personen, wie auch andere geschworene Leute, wenn sie sich unterfangen würden, wider ihren gethanen Eyd die Raths- und Amtsgeheimnissen zu offenba­ ren, unpublicirte Zeugnissen, Urtheile, und andere wichtige Sachen, durch deren Veroffenbarung entweder Uns, oder dem Amt, oder einer, oder der anderen Parthey etwas könnte geschadet werden, auszuschwätzen, oder kündbar zu machen, oder vermittelst solch-wissender Geheimnissen Rath, und Belehrung zu geben, oder sol­ ches dem Gegentheil zu entdecken. § 2. Gegen derley pflichtwidrig handlende Personen solle nebst der schuldigen Genugthuung für allen durch ihre Veroffenbarung verursachten Schaden, wenn solche Misshandlung nach Gestalt deren darzu stossenden Umständen in ein an­ deres schweres Verbrechen, zum Beyspiel  : in einen vorsetzlichen Meineyd, Lan­ desverrätherey, und sofort ausartete, die auf solch-letzteres Verbrechen ausgesetzte Todesstraffe verhänget  ; bey vorkommend-milderenden Umständen aber mit einer willkührigen Straffe, und zwar ansehnlicher Personen mit Arrest, Geldstraffe, und dergleichen  ; geringere Personen hingegen mit Landesverweisung, oder Abschaffung, und gemessener Leibsstraffe abgebüsset werden. 37 Wolfgang van Rienen  : Frühformen des Datenschutzes  ? Die historische Entwicklung der Amtsverschwiegenheit vom Beginn der Neuzeit bis zur Datenschutzgesetzgebung als Beispiel einer Beschränkung der verwaltungsinternen Informationsweitergabe, Bonn 1984, S. 183 f. 38 Van Rienen (wie Anm. 37), S. 94.

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§ 3. Und gleichwie auch der Rechtsfreunden, Sachwaltern, und alljener, so die Rechtsangelegenheiten, und andere Geschäften zu besorgen haben, ihre Pflicht mit sich bringet, dass sie von Auskundschaftung deren im Rath abgelegten Stimmen, und anderen Raths- und Amtsgeheimnissen sich enthalten, sonderlich der Räthen, und nachgesetzten Gerichtsbeamten Privat-Gunst für ein- oder andere Parthey zu gewinnen nicht trachten, am allerwenigsten aber durch Gab, Verheissungen, und andere verbotene Wege was geheimes auszuforschen sich unterstehen, noch auch durch sich, oder andere den Anlaß, Hülff, Rath, oder That in einerley Weise darzu geben sollen, so ordnen Wir, dass dergleichen gefährliche Advocaten, und Sachwal­ ter, welche solch-ihren Pflichten boshaft zuwiderhandeln, nicht allein ihres Amts ensetzt, und zu anderen Diensten für unfähig erkläret, sondern auch wenn beschwe­ rende Umstände unterlaufen, mit vorbemeldten Straffen gleich denen, so das Ge­ heimniß verrathen, beleget werden sollen. § 4. Beschwerende Umstände sind  : Erstlich  : Wenn die Entdeckung des Geheimnisses zu Unseren, oder des Staaths Nachtheil gereichete, oder sonst von grosser Wichtigkeit wäre  ; oder Andertens  : Wenn den Feinden hievon Nachricht gegeben worden  ; oder auch Drittens  : Sonst aus dessen Veroffenbarung Privat-Personen grosser Schaden er­ wachsen wäre. Viertens  : Wenn sich jemand zu Verrathung des Geheimnisses durch Geld beste­ chen lassen. Fünftens  : Wenn solche Untreu durch lange Zeit getrieben worden. § 5. Mildernde Umstände hingegen sind  : Erstlich  : Wenn die voreilige Entdeckung der Raths- oder Amtssachen von keiner besonderen Wichtigkeit gewesen  ; Andertens  : Wenn dadurch Niemanden ein Schaden, und Nachtheil zugezogen worden. Drittens  : Wenn solche Offenbarung nicht vorsetzlich, und aus böser Absicht, sondern vielmehr aus Einfalt, Unvorsichtigkeit, und unüberlegter Schwätzhaftigkeit beschehen.«39

Da solche Regelungen vor allem in der Justiz auch dem Schutz der Privat­ sphäre dienen konnten, hat man die Amtsverschwiegenheit zur Vorgeschichte des Datenschutzes machen wollen,40 m. E. nicht ganz zu Recht. Denn erstens fehlten die heute vorgesehenen Möglichkeiten zur Kontrolle seitens der Betrof­ 39 Van Rienen (wie Anm. 37), S. 189 f. 40 Van Rienen (wie Anm. 37).

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fenen, zweitens war immer das Interesse der Herrschenden mit im Spiel, und sei es nur am korrekten Funktionieren ihres Justizapparats. Wenn 1965/66 in Baden-Württemberg in einer Nacht- und Nebelaktion die Entnazifizierungs­ fragebögen aus den Personalakten entfernt wurden, so mochte dies zwar auch im Interesse der Betroffenen liegen, stellte aber ebenso einen Schachzug wohl­ kalkulierter Geschichtspolitik dar.41 Die Manipulation oder sogar die Vernich­ tung von Archivalien dient seit den Anfängen des Aktenzeitalters dem Ge­ heimhaltungsbedürfnis und der Geschichtskonstruktion der Herrschenden.42 Inzwischen spielen Staatsgeheimnisse überhaupt keine große Rolle mehr. Haupttummelplatz des Geheimhaltungsbedürfnisses der Herrschenden ist stattdessen das Amtsgeheimnis der gewaltig angewachsenen Bürokratie, das durch Verweigerung von Auskünften, von Aussagegenehmigung vor Parlamen­ ten und Gerichten, von Akteneinsicht durch die Betroffenen aufrechterhalten wird.43 Denn »das Fachwissen allein begründet nicht die Beamtenmacht. Dazu tritt die durch die Mittel des amtlichen Apparates nur dem Beamten zugängliche Kenntnis der für sein Verhalten maßgebenden konkreten Tatsachen  : das Dienstwissen. Nur wer sich diese Tatsachenkenntnis unabhängig vom guten Willen des Beamten beschaffen kann, vermag im Einzelfall die Verwaltung wirksam zu kontrollieren. Je nach den Umständen kommen Akteneinsicht, Augenscheinnahme, äußerstenfalls aber wie­ derum  : das eidliche Kreuzverhör der Beteiligten als Zeugen vor einer Parlaments­ kommission in Betracht. Auch dieses Recht fehlt dem Reichstag. Er ist geflissentlich außerstande gesetzt, sich die zur Verwaltungskontrolle erforderlichen Kenntnisse zu beschaffen, also, außer zum Dilettantismus, auch zur Unkenntnis verurteilt. Aus schlechthin keinen sachlichen Gründen. Sondern ausschließlich deshalb, weil das wichtigste Machtmittel des Beamtentums die Verwandlung des Dienstwissens in ein Geheimwissen durch den berüchtigten Begriff des ›Dienstgeheimnisses‹ bildet  : letztlich lediglich ein Mittel, die Verwaltung gegen Kontrolle zu sichern.« 41 Es ist mir bisher nicht gelungen, für diese Aktion, von der ich damals als Behördenmitarbeiter zufällig Kenntnis erhielt, eine Rechtsgrundlage oder auch nur einen amtlichen Nachweis zu entdecken. Vergebens konsultiert wurden Akten zur Regelung des Geschäftsgangs im Ober­ schulamt Südbaden, das Amtsblatt Kultus und Unterricht, das Gesetzblatt für Baden Württemberg und der Staatsanzeiger für 1964–66. Bei einer Stichprobe von acht Personalakten fand sich nur in einer Akte ein Fragebogen, weil er möglicherweise an der falschen Stelle abgeheftet worden war  ; allerdings war nur eine der acht Akten korrekt durchpaginiert. 42 Leider ist es mir nicht gelungen, einen Archivar für einen Vortrag zu diesem Thema zu gewinnen. 43 Düwel (wie Anm. 7).

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Max Weber, der dies 1918 schrieb,44 hatte bekanntlich seinen Idealtyp des modernen Berufsbeamten am besonders ausgeprägten deutschen Bürokraten entwickelt. Denn es gab und gibt auch innerhalb der westlichen Welt unterschiedli­ che Geheimniskulturen und vor allem in jüngster Zeit einen bemerkenswerten Wandel der politischen Kultur in dieser Hinsicht.45 »Kaum etwas kennzeichnet einen Staat so wie sein Verhältnis zum Geheimnis«, schrieb Adolf Arndt schon 1960.46 In Schweden hat sich schon seit dem Pressefreiheitsgesetz von 1766 ein genereller Anspruch auf Informationsfreiheit mit Verfassungsrang entwi­ ckelt, während Geheimhaltung als Ausnahme besonderer Begründung bedarf und nur Gesetzesrang hat. Nationale Sicherheit, Finanzpolitik, Verbrechens­ bekämpfung und behördeninterne Meinungsbildung genießen weitgehenden Geheimnisschutz, außerdem vermögen sich lokale Korporationen und privati­ sierte Staatsbetriebe anscheinend immer noch erfolgreich der Öffentlichkeit zu entziehen.47 In den USA hatte erstmals ein Gesetz 1946 »free access to docu­ ments except for those that must be kept secret« verfügt – mit der Folge, dass Beamte Millionen Akten mit dem Geheimstempel versehen haben. Der Kalte Krieg begünstigte diese culture of secrecy, die aber spätestens nach Watergate 1972–74 von einer culture of openness abgelöst wurde. Die novellierte Freedom of Information Act etablierte 1974 ebenfalls Zugänglichkeit als Regel, Geheim­ haltung als Ausnahme, sah allerdings für Letztere umfassendere Kategorien vor als Schweden.48 Ausgerechnet im Mutterland der Demokratie, in Großbritannien, behaup­ tete sich bis heute »a powerful and persistent culture of secrecy reflecting the basic assumption that good government is closed government«.49 Bis vor kur­ zem war es hier wie in Deutschland50 in das Ermessen der Regierung gestellt, ob sie auf die Anfrage von Abgeordneten überhaupt Auskunft geben wollte.51 44 Max Weber  : Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in  : Siegmund Hell­ mann (Hg.)  : Die innere Politik, 1918, S. 236. 45 Daniel E Moynihan  : Secrecy. The American Experience, New Haven 1998  ; Ken G. Robert­ son  : Public Secrets. A Study in the Development of Government Secrecy, New York 1982  ; Donald C. Rowat (Hg.)  : Administrative Secrecy in Developed Countries, New York 1979  ; David Vincent  : The Culture of Secrecy. Britain 1832–1998, Oxford 1998. 46 Adolf Arndt  : Das Geheimnis im Recht, in  : Neue Juristische Wochenschrift 1960, S. 2040. 47 Nach Rowat (wie Anm. 45), S. 1–14, 29–50. 48 Nach Rowat (wie Anm. 45), S. 15–17, 309–356  ; Moynihan (wie Anm. 45). 49 Vincent (wie Anm. 45), S. 10. 50 Rösch (wie Anm. 9), S. 140. 51 Rowat (wie Anm. 45).

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In Deutschland ist in einer einschlägigen Untersuchung von 1998 zu lesen  : »Die Verwaltung hat ein besonderes Interesse an der Geheimhaltung. Behör­ deninternes Wissen soll nicht in die Öffentlichkeit gelangen. Dies dient dem Schutz privater oder öffentlicher Interessen und fordert das Machtinteresse der Bürokratie.«52 1999 hieß es vornehmer  : »Der Staat ist vehement bestrebt, die Informationsverteilung zu seinen Gunsten zu beeinflussen.«53 Auch 2002 wird noch festgestellt, dass die Tätigkeit der deutschen Exekutive von einem tief verwurzelten Negativverhältnis zu Transparenz und Publizität geprägt sei, den Bürger gehe es nichts an, was sich in den Amtsstuben abspiele. Infolgedessen gelte nach wie vor das Amtsgeheimnis als Regelfall, allerdings nicht mehr un­ eingeschränkt. Immerhin geht § 29 des Bundesverwaltungsverfahrensgesetzes von 1976 nicht mehr davon aus, dass die Einsicht des Bürgers in über ihn geführte Akten der Begründung bedarf, sondern umgekehrt die Geheimhal­ tung durch die Behörde. Dennoch gilt nach wie vor  : »Der Verwaltung soll es möglich sein, über Privatpersonen Informationen zu erheben und zu spei­ chern, ohne dass selbst im Weg über die Datenschutzgesetze dem Bürger diese grundsätzlich offengelegt werden müssten.« Denn das Bundesdatenschutzge­ setz enthält keine über die bisherigen, ziemlich engen Rechte hinausgehenden Ansprüche auf Akteneinsicht.54 Allerdings bläst dem deutschen Obrigkeitsstaat der wind of change ins Ge­ sicht, denn zumindest im Westen gilt Wahrhaftigkeit als letzte Tugend, die sich noch nicht als Illusion erwiesen hat, Transparenz als ihre politische Variante.55 Das kann bisweilen zu einem geradezu manischen Transparenzbedürfnis füh­ ren.56 Inzwischen sind fast alle Länder, auch Großbritannien, 1978 sogar die autoritäre Demokratie Frankreich57, nach schwedischem und amerikanischem Vorbild durch Gesetz zum Informationsfreiheitsprinzip übergegangen und ha­ ben im Gegensatz zu Deutschland Geheimhaltung zur besonders begründungs­ bedürftigen Ausnahme gemacht.58 Im Sommer 2005 ist auch in Deutschland 52 Giorgios Trantas  : Akteneinsicht und Geheimhaltung im Verwaltungsrecht. Eine ­vergleichende Untersuchung zum deutschen und französischen Verwaltungsverfahrensrecht, Berlin 1998, S. 1. 53 Rösch (wie Anm. 9), S. 77. 54 Imke Höffler  : Akteneinsichtsrechte des Bürgers bei deutschen Verwaltungsbehörden, Berlin 2002, S. 15, 149, 202–214, 239, 241. 55 Jean-Denis Bredin  : Secret, transparence et démocratie, in  : Bredin (wie Anm. 15), S. 5–15. 56 Guy Carcassonne  : Le trouble de la transparence, in  : Bredin (wie Anm. 15), S. 17–23. 57 Trantas (wie Anm. 52), S. 611. 58 Tinnefeid u. a. (wie Anm. 26), S. 83–86.

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ein Bundesinformationsfreiheitsgesetz in Kraft getreten  ; in einigen nördlichen Bundesländern gab es bereits einschlägige Landesgesetze. Allerdings werden die vorgesehenen Einschränkungen als zu weitgehend kritisiert.59 Die Ableitung des Anspruchs auf Öffentlichkeit im Allgemeinen und freien Zugang zur Information im Besonderen aus der Volkssouveränität wurde in Deutschland mit dem Argument abgewehrt, das Volk dürfe seine Souveränität nur durch Wahlen ausüben.60 Doch wenn die Wahlen echte Sachentscheidun­ gen beinhalten sollen, dann müssen die wesentlichen Fragen des Gemeinwesens öffentlich verhandelt werden, weil der Wähler nur so eine begründete Entschei­ dung treffen kann.61 Die erforderliche Prüfung möglicher Alternativen lässt sich nur in öffentlicher Diskussion vornehmen.62 Insofern bleibt Demokratie eine Staatsform, die sich für Geheimhaltung rechtfertigen muss.63 »Geheim­ haltung steht grundsätzlich im Widerspruch zur demokratischen Politik, und dieser Widerspruch lässt sich durch keine noch so subtilen Gegenargumente aufheben.«64 Nichtsdestoweniger ist sie funktional notwendig und daher unver­ meidlich, erstens in bestimmten sensiblen Bereichen wie der nationalen Sicher­ heit, der Strafverfolgung und dem Schutz wirtschaftspolitischer Maßnahmen vor Spekulanten, zweitens durch Vertraulichkeit beim Zustandekommen von Gremienentscheidungen, die bei Öffentlichkeit einfach in andere, informelle und nicht-öffentliche Gremien verlegt würden. Insofern wird Geheimhaltung und Lüge geradezu zur Erfolgsbedingung der Demokratie.65 Wir kennen das alle nicht nur aus der Hochschulpolitik, sondern auch vom Erfolg der vertrau­ lichen Gespräche in Oslo zwischen Israelis und Palästinensern 1992, nachdem die öffentlichen Verhandlungen 1991 gescheitert waren. Es käme also auf das rechte, das heißt unter demokratischen Gesichtspunkten vertretbare Maß an Geheimhaltung an.66 Allerdings hat es sich als unmöglich erwiesen, diese ange­ 59 Badische Zeitung 28. Januar 2005  ; Matthias Rossi  : Informationsfreiheit und Verfassungs­ recht. Zu den Wechselwirkungen zwischen Informationsfreiheitsgrenzen und der Verfassungs­ ordnung in Deutschland, Berlin 2004. 60 Höffler (wie Anm. 54), S. 36. 61 Rösch (wie Anm. 9), S. 49, 55 f. 62 Depenheuer (wie Anm. 17), S. 12. 63 Matthias Jestaedt  : Das Geheimnis im Staat der Öffentlichkeit. Was darf der Verfassungsstaat verbergen  ?, in  : Archiv des öffentlichen Rechts 126 (2001) S. 204–243, hier S. 222, auch in  : Depenheuer (wie Anm. 17), S. 67–110. 64 Friedrich (wie Anm. 32), S. 145. 65 Simone Dietz  : Die Kunst des Lügens. Eine sprachliche Fähigkeit und ihr moralischer Wert, Reinbek 2003, S. 166 f. 66 Jestaedt (wie Anm. 63), S. 243.

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messenen Grenzen auch nur einigermaßen genau festzulegen.67 Die Herrschen­ den werden also ihre Geheimnisse weiter behaupten können. 1.2 Neugier der Herrschenden »Wissen ist Macht« (Francis Bacon), daher will Macht wissen, und zwar mög­ lichst alles. So wurde das Sammeln und Auswerten von Informationen für Machthaber zum »Zweitältesten Gewerbe« der Welt.68 Im alten China und Indien ebenso wie bei Alexander dem Großen und Hannibal lassen sich bereits Nachrichtendienste nachweisen.69 Es hat sie im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Europas gegeben.70 Besonders gefürchtet war der bereits erwähnte Rat der Zehn von Venedig mit seinen Staatsinquisitoren.71 Hier blühten nicht nur Bespitzelung und Denunziation, sondern Venedig war auf der anderen Seite auch ein Zentrum für die zuerst in Italien aufkommenden professionellen Informanten und Nachrichtenhändler. Die großen Mächte hatten selbstver­ ständlich ihre Geheimdienste, wobei England seit dem späten 16. Jahrhundert führend war. Krisenzeiten wie die Epoche der Französischen Revolution und Napoleons und das Zeitalter der Weltkriege waren Blütezeiten. Sogenannte »schwarze Kabinette« beschäftigten sich überall mit dem plan­ mäßigen Öffnen diplomatischer und privater Briefe. Denn zur Geheimhaltung von Kommunikation aller Art, von Geheimdienstberichten, diplomatischer Korrespondenz und militärischen Informationen und Befehlen, gehörte seit alters die Geheimschrift und die entsprechende Aktivität des Codebrechens.72 67 Friedrich (wie Anm. 32), S. 183. 68 Wolfgang Krieger (Hg.)  : Geheimdienste in der Weltgeschichte. Spionage und verdeckte Ak­ tionen von der Antike bis zur Gegenwart, München 2003, S. 7–17  ; Wolfgang Reinhard  : Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den An­ fängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl., München 2003, S. 385–387. 69 Jakob Seibert  : Der Geheimdienst Alexanders des Großen (336–323 v. Chr.), in  : Krieger (wie Anm. 68), S. 19–29  ; Pedro Barceló  : Hannibals Geheimdienst, in  : ebd., S. 30–43  ; Helwig Schmidt-Glintzer  : Spionage im Alten China, in  : ebd., S. 56–69  ; Friedrich Wilhelm  : Königs­ indisch – eine Variante im großen Spiel der Geheimdienste, in  : ebd., S. 70–85. 70 Vgl. Reinhard (wie Anm. 68), und Johannes Kleinpaul  : Das Nachrichtenwesen der deutschen Fürsten im 16.–17. Jahrhundert, Leipzig 1930. 71 Paolo Preto  : I servizi segreti di Venezia, Mailand 1994. 72 Wolfgang Kuhoff  : Kryptographie und geheime Nachrichtenübermittlung in griechisch-rö­ mischer Zeit, in  : Krieger (wie Anm. 68), S. 44–53  ; Stefan Weiß  : Das Papsttum und seine Geheimdiplomatie, in  : ebd., S. 86–96, hier S. 94 f.; Jürgen Rohwer  : Die ENIGMA-Schlüs­ selmaschine, in  : ebd., S. 182–200.

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1665 galten die Briten als die geschicktesten Brieföffner. Die Decyphering Branch ihres Secret Office war erbliches Unternehmen einer Familie Willes, die ihre Künste auch vor der mathematischen Neugier eines Gottfried Wilhelm Leibniz geheim hielt. Dass Großbritannien nach dem Mazzini-Skandal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne das Öffnen von Briefen auskom­ men musste und der amerikanische Außenminister Henry L. Stimson die ent­ sprechende Dienststelle mit der Begründung schloss »Gentlemen do not read each other’s mail«, blieben vorübergehende Episoden. Die Existenz von Ge­ heimdiensten ist offenbar unabhängig vom Charakter des politischen Systems. Selbst urwüchsige Demokratien wie die Schweiz kommen bekanntlich nicht ohne sie aus. Auch Demokratien haben ihre Geheimniskultur.73 Es kann sich um Überwachung des eigenen Herrschaftsapparats und vor allem der Untertanen handeln, wobei der Unterschied zwischen Kriminellen und Personen, die dem jeweiligen Regime kritisch gegenüberstehen, bisweilen verschwimmt oder gezielt zum Verschwimmen gebracht wird. Augenfälliger freilich ist die Beschaffung von Information über andere Gemeinwesen, und zwar vorzugsweise solches Wissen, das jene geheim zu halten wünschen. In bei­ den Fällen muss es sich um eine verborgene Tätigkeit handeln, die in der Wahl ihrer Mittel nicht wählerisch ist. Täuschung ist das Mindeste, aber Erpressung und Gewalt sind ebenfalls üblich. Wenn irgendwo, dann heiligt hier der angeb­ liche gute Zweck die dubiosen Mittel. Allerdings ist geheim beschaffte Information oft fragmentarisch und muss erst einmal interpretiert werden. Sie bedarf daher eines Kontextes von offen beschaffter Information, heutzutage vor allem aus Druckerzeugnissen und elektronischen Medien. Doch vor allem muss die Information rechtzeitig an die politischen oder militärischen Entscheidungsträger gelangen und von die­ sen auch genutzt werden, was bekanntlich keineswegs selbstverständlich ist, wie die Untersuchung der Vorgeschichte des 11. September 2001 in den USA lehrt.74 Denn politische Entscheidungen wurden und werden weitgehend nach an­ deren Gesichtspunkten getroffen, bisweilen nach höchst irrationalen ideologi­ schen oder religiösen. Noch heute befragen moderne Politiker zwar nicht mehr das delphische Orakel, wohl aber Astrologen. Gerade besonders misstrauische 73 Rosamund M. Thomas  : Espionage and Secrecy. The Official Secrets Acts 1911–1989 of the United Kingdom, London 1991. 74 Wolfgang Krieger  : Der 11. September  : ein Versagen der Geheimdienste  ?, in  : Krieger (wie Anm. 68), S. 324–344.

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Politiker wie Josef Stalin misstrauten auch dem eigenen Geheimdienst – in seinem Fall zum eigenen Schaden. Neben die Informationsbeschaffung kann direktes Eingreifen in das geg­ nerische Gemeinwesen durch verdeckte Aktionen treten, angefangen mit ge­ zielter Desinformation über Bestechung und Erpressung wichtiger Personen bis zur Ausschaltung solcher Leute durch Mord und schließlich regelrechten Militäraktionen mit eigenen oder angeheuerten fremden Kräften, etwa Partisa­ nen.75 Vor allem der israelische Mossad ist führend in der mehr oder weniger diskreten Beseitigung politischer Gegner.76 Bereits im indischen Staatslehrbuch des Kautilya gehörte der Auftragsmord zum etablierten geheimdienstlichen In­ strumentarium, denn missliebige Personen im Inland können auf diese Weise ohne Gerichtsverfahren beseitigt werden, ebenso auswärtige Gegner.77 Bis ins 17. Jahrhundert schrieben sich auch europäische Obrigkeiten das Recht zu, gefährliche innere und äußere Gegner im Interesse des Gemeinwohls ermor­ den zu lassen.78 Schließlich sind die politischen, finanziellen und menschli­ chen Kosten eines Mordes viel niedriger als diejenigen eines Krieges. Seit Hugo Grotius gilt politischer Mord zwar als völkerrechtswidrig, ob er deswegen aber seltener oder nur diskreter stattfindet, weiß man nicht. Grundsätzlich will der Auftraggeber nach außen hin mit solchen Aktivitäten nichts zu tun haben und die Verantwortung scheinbar guten Gewissens ableugnen können. Daher wird auch kein eigenes Militär eingesetzt. Es darf kein Kriegsgrund aus solchen Ak­ tionen entstehen. Natürlich haben sich die eingesetzten Mittel seit dem Altertum radikal ge­ wandelt. Geheimdienste als riesige Behörden – die CIA hatte schon im Jahr 2000 ca. 16.000 Mitarbeiter und ein Budget von 30 Mia. $79 – sind erst im voll entwickelten modernen Staat möglich. Außerdem wurden und werden manche geheimdienstlichen Aktivitäten auch im Dienste anderer Institutionen ausgeübt, für die Kirche und vor allem heutzutage für große Wirtschaftsun­ ternehmen, wobei sich die angelsächsische Wirtschaftsspionage auf staatliche

75 Vgl. Loch K. Johnson  : Verdeckte Aktionen und die CIA  : Amerikas geheime Außenpolitik, in  : Krieger (wie Anm. 68), S. 260–274, bes. S. 270. 76 Shlomo Shpiro  : Eichmann und der Mossad, in  : Krieger (wie Anm. 68), S. 298–313, hier S. 305, 312. 77 Wilhelm (wie Anm. 69), S. 79. 78 Walter Platzhoff  : Die Theorie von der Mordbefugnis der Obrigkeit im 16. Jahrhundert, Berlin 1906. 79 Krieger (wie Anm. 74), S. 339.

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Hilfe verlassen kann.80 Der technische Fortschritt auf diesem Gebiet ist gewal­ tig. Aber die Spielregeln der Politik im Allgemeinen und der geheimdienstli­ chen Tätigkeit im Besonderen sind weitgehend dieselben geblieben, beruhen sie doch auf der Ausbeutung der fundamentalen menschlichen Schäbigkeit. Allerdings nicht ausschließlich. Eine große Rolle für die Geheimdienstarbeit spielt die ethnische, religiöse, nationale oder ideologische Loyalität bestimmter Gruppen auf der Gegenseite. Manche Spione betrachteten ihre Tätigkeit als ei­ nen geradezu heroischen Kampf für eine gerechte Sache. Wie die Sowjetunion sich der Edelkommunisten von Cambridge bediente,81 so konnte der Geheim­ dienst Elisabeths I. auf die protestantische Internationale zurückgreifen, die vor allem die gefährlichen katholischen Emigranten im Auge behielt. Dazu un­ terhielt er hauptamtliche Agenten im Landesinnern, die auf das Aufspüren der aus dem Ausland eingeschleusten Priester spezialisiert waren. Von Verhafteten erpresste man durch Folter weitere Informationen. Der größte Erfolg war die Aufdeckung von Verschwörungen um die in England inhaftierte Mary Stuart, die 1587 die Hinrichtung dieser gefährlichen Rivalin der Königin ermöglichte. Im Zeichen des dominierenden Transparenzprinzips machen manche mo­ derne Demokratien Versuche, auch die Geheimdienste dem Rechtsstaatsprin­ zip und einer Art von parlamentarischer Kontrolle zu unterwerfen, die aber angesichts der Spielregeln dieses Geschäfts nicht erfolgreich verlaufen können, wie der französische82 und der amerikanische Fall überdeutlich lehren. Statt­ dessen hat sich international so etwas wie eine stillschweigende Legalisierung geheimdienstlicher Aktivitäten eingebürgert, beginnend bereits mit der Ein­ richtung der Militärattachés seit den 1860er Jahren. Die Grenze zwischen Dip­ lomaten und Spionen war ohnehin stets unscharf  ; außerdem wurde dem Aus­ tausch militärischer Informationen Frieden erhaltende Wirkung zugeschrieben. Aus den Zeiten des Kalten Krieges ist der fast selbstverständliche Austausch enttarnter Spione zwischen Ost und West wohlbekannt. Unter allerhand Vorwänden, nicht zuletzt unter Verweis auf die internatio­ nale organisierte Kriminalität und den Terrorismus, wird nicht nur in Deutsch­

80 Durch Abhören des Fernmeldeverkehrs mittels des von den USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland betriebenen Echelon-Systems, vgl. http://www.cyber-rights.org// interception/echelon (zuletzt 10.11.2016). 81 Thomas Noetzel  : Anthony Blunt – Der britische Edelspion, in  : Krieger (wie Anm. 68), S. 201–215. 82 Maurice Vaïsse  : Die »Rainbow-Warrior«-Affäre, in  : Krieger (wie Anm. 68), S. 314–323  ; vgl. Pierre Péan  : Secret d’état. La France du secret – les secrets de la France, Paris 1986.

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land die innere Überwachung ständig ausgeweitet.83 Zwar gibt es formal eine aufwendige rechtsstaatliche Kontrolle und den Datenschutz, der sich an dem vom Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil von 1983 geschaffenen Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu orientieren hat. Damit ist »eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht ver­ einbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann bei welcher Gelegenheit über sie weiß«.84 Aber die Polizei hält den Datenschutz für Täter­ schutz85 und der technische Vorsprung der Staatsorgane lässt eine wirksame Kontrolle ohnehin illusorisch erscheinen. Auf deren guten Willen zur Selbstbe­ schränkung sollte man sich jedenfalls nicht verlassen. Zum Beispiel wurden nur 15 % der Betroffenen nachträglich vom Abhören ihres Telefons informiert, wie es das Gesetz eigentlich vorsieht.86 Erst recht sind geheime Bereiche für seriöse wissenschaftliche Forschung naturgemäß besonders schwer zugänglich. Hier mehr als anderswo behalten Insider stets einen Wissensvorsprung und können den Wissenschaftlern Ahnungslosigkeit bescheinigen, eine Behauptung, die sie aber nicht beweisen müssen. Dennoch gibt es eine kleine Gemeinde von Ge­ heimdiensthistorikern, die inzwischen sogar über das Statussymbol eines etab­ lierten Teilfachs, eine eigene Zeitschrift, verfügt.87 83 Aurangzeb Khan  : Der Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnik im Rahmen der Verbrechensbekämpfung in Deutschland am Beispiel des Bundeskriminalamtes, Frankfurt 2004  ; Christiane Schulzki-Haddouti  : Im Netz der Inneren Sicherheit. Die neuen Methoden der Überwachung, Hamburg 2004  ; Bettina Sokol (Hg.)  : Der gläserne Mensch. DNA-Ana­ lysen, eine Herausforderung an den Datenschutz, Düsseldorf 2003  ; Ewald Wiederin  : Privat­ sphäre und Überwachungsstaat. Sicherheitspolizeiliche und nachrichtendienstliche Datener­ mittlungen im Lichte des Art. 8 EMRK und der Art. 9–10a StGG, Wien 2003  ; Hans-Jörg Albrecht/Claudia Dorsch/Christiane Krüpe  : Rechtswirklichkeit und Effizienz der Überwa­ chung der Telekommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO und anderer verdeckter Ermitt­ lungsmaßnahmen, Freiburg 2003  ; Christiane Krüpe-Gescher  : Die Überwachung der Tele­ kommunikation nach den §§ 100a, 100b StPO in der Rechtspraxis, Freiburg 2005  ; Claudia Dorsch  : Die Effizienz der Überwachung der Telekommunikation nach §§ 100a, 100b StPO, Freiburg 2005  ; Hannes Meyer-Wieck, Der Große Lauschangriff. Eine empirische Untersu­ chung zu Anwendung und Folgen des § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO, Freiburg 2005. 84 Tinnefeld u. a. (wie Anm. 26), S. 145, 316  ; Petra Velten  : Befugnisse der Ermittlungsbehör­ den zu Information und Geheimhaltung. Über Umfang und Kontrolle daraus resultierender Macht, Berlin 1995  ; Jürgen Wohlfahrt/Helmut Eiermann/Michael Ellinghaus  : Datenschutz in der Gemeinde. Recht, Informationstechnik, Organisation, Baden-Baden 2004. 85 Khan (wie Anm. 83), S. 354. 86 Schulzki-Haddouti (wie Anm. 83), S. 113. 87 Das seit 2001 erscheinende Journal of Intelligence History. Vgl. Krieger (wie Anm. 68), S. 345 Anm. 1.

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Die Neugier der Herrschenden ist also nach wie vor kaum zu zügeln, zu­ mal sie über allerhand griffige Argumente zu ihrer Legitimation verfügt. Wer will schon Kriminelle oder Terroristen verteidigen  ? Und sogar die Tätigkeit der Auslandsgeheimdienste ist bisweilen nicht überflüssig und vergebens, sondern ausgesprochen nützlich. Denn ihre unkontrollierten diskreten Aktivitäten sind oft leichter zu handhaben als politische, die sich in der Öffentlichkeit abspielen müssen. So war die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Bundesrepublik mit Israel 1965 zwar eine schwierige und umstrittene Operation, aber intensive geheimdienstliche und verdeckte militärische Zusammenarbeit, über die auch ein beträchtlicher Anteil der deutschen Wiedergutmachungsleistungen abgewi­ ckelt wurde, hatten ihr damals schon fast zehn Jahre lang den Weg bereitet.88

2. Fiktion

Das politische Geheimnis ist zwar nach wie vor in Kraft, aber im Zeitalter des Transparenzprinzips immerhin so umstritten, dass es zu diesem Thema Fluten von Veröffentlichungen gibt. Anders im Falle der politischen Fiktion. Sollte sie mit der Verschleierung politischer Wirklichkeit nach wie vor so erfolgreich sein, dass sie als anthropologische Selbstverständlichkeit kaum reflektiert wird  ? Fiktion bezeichnet umgangssprachlich etwas, das nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in der Vorstellung existiert, besonders etwas Erfundenes oder Er­ dachtes. Angesichts ihres komplizierten Verhältnisses zur Wirklichkeit sind Philosophie und Jurisprudenz vorsichtiger und genauer. Philosophisch ist ein Sachverhalt fiktiv, von dem noch nicht gesagt werden kann, ob die Aussage über ihn wahr oder falsch ist, z. B. eine wissenschaftliche Hypothese, juristisch ein Sachverhalt, der in Wirklichkeit nicht besteht, aus dem aber sonst nicht mögliche Rechtsfolgen abgeleitet werden können. Fiktionen dieser Art sind nicht widerlegbar.89 Eine Täuschungsabsicht braucht mit einer Fiktion nicht verbunden zu sein, obwohl dies angesichts der Tatsache, dass es sich um eine objektive Täuschung über einen Sachverhalt handelt, durchaus der Fall sein kann. Auf der anderen Seite ist sogar die Möglichkeit denkbar, dass Fiktionen durch Akzeptanz eine Art von Wirklichkeit gewinnen. Denn als Modus über­ wiegend sprachlicher Kommunikation schließt Fiktion als eine Form uneigent­ 88 Wolfgang Krieger  : »Dr. Schneider« und der BND, in  : Krieger (wie Anm. 68), S. 230–247, hier S. 245  ; Shpiro (wie Anm. 76), S. 308. 89 »Fiktion« in  : Brockhaus Enzyklopädie. 19. Aufl., Bd. 7, Mannheim 1988, S. 278 f.

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licher Rede den Mythos ein, als nicht sprachliche Kommunikation das Symbol. Jeder Mythos und jedes Symbol sind eine Fiktion, aber nicht jede Fiktion ist ein Mythos oder ein Symbol. Eine Art von negativer Fiktion ist das Tabu, die eng mit dem Geheimnis ver­ wandte Vorstellung, dass ein in Wirklichkeit gegebener Sachverhalt nicht gege­ ben sei oder zumindest ignoriert werden müsse, z. B. dass Drogen wie Alkohol und Nikotin akzeptiert und besteuert werden, während Besitz und Vertrieb von anderen wie Haschisch und Kokain verboten sind. Politische Tabus im engeren Sinn betreffen z. B. das Grundgesetz im Allgemeinen und das Sozial­ staatsprinzip im Besonderen, das Folterverbot, die Friedlichkeit der deutschen Außenpolitik und ein ganzes Bündel von Denkverboten im Umkreis des Nati­ onalsozialismus.90 Doch legen gerade die Letzteren, die umso mehr verschärft werden, je länger das »Dritte Reich« vergangen ist, die Vermutung nahe, dass Tabus wie Fiktionen für ein politisches System möglicherweise unentbehrlich sind. Schon Tocqueville hatte sogar die Union der Vereinigten Staaten von Amerika für eine Fiktion erklärt, »die sozusagen nur in den Köpfen besteht«, weil sich ihre Ausdehnung damals der konkreten Erfahrung entzog.91 Fiktionen werden heutzutage vor allem durch kreativen Umgang mit der Spra­ che erzeugt, zum Beispiel zwecks politischer Bewältigung der Arbeitslosigkeit  : »Vor allem durch das kreative Auslegen d[ies]er Bestimmung, dass nur der als Ar­ beitsloser zählt, wer dem Arbeitsmarkt auch zur Verfügung steht, haben es etwa die Niederländer geschafft, ihre international bewunderte Arbeitslosenquote von weni­ ger als 4 % zu erzeugen  : Von einer Kündigung bedrohte Arbeitnehmer werden kurz vor der Entlassung erwerbsunfähig geschrieben und die Arbeitslosenversicherung wird in ›Erwerbsunfähigkeitsversicherung‹ umbenannt. Damit ist die Arbeitslosig­ keit verschwunden. Mittlerweile ist jeder zehnte Niederländer im erwerbsfähigen Alter als erwerbsunfähig eingestuft und damit gegen Arbeitslosigkeit geimpft.«92

Es gibt fünf verschiedene Möglichkeiten, auf diesen kommunikativen Umweg zu reagieren, die man auch an Mythen wie der Schöpfungsgeschichte des Bu­ ches Genesis (Gen 1–2,3) demonstrieren könnte  : 1. Wir glauben im wörtlichen 90 Josef Isensee  : Tabu im freiheitlichen Staat. Jenseits und diesseits der Rationalität des Rechts, Paderborn 2003. 91 Alexis de Tocqueville  : Über die Demokratie in Amerika, Zürich 1987, S. 186. 92 Walter Krämer  : Lügen auf ökonomischen und wissenschaftlichen Informationsmärkten, in  : Robert Hettlage (Hg.)  : Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft, Konstanz 2003, S. 159–172, hier S. 166.

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Sinne daran, was ich im niederländischen Fall im Gegensatz zur Schöpfungsge­ schichte tatsächlich bis vor kurzem getan habe. 2. Wir akzeptieren die Aussage als metaphorische oder mythische über eine Art Wirklichkeit zweiten Grades, über eine Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht, oder über eine bestimmte kosmi­ sche Ordnung. Ein derartiges Verhalten ist ebenso wie der Glaube geeignet, Fik­ tionen in eine Art von Wirklichkeit zu verwandeln. Der klassische Fall einer po­ litischen Fiktion, die sich durch Glauben und Akzeptanz in Realität verwandelt, ist die Nation, die bekanntlich nach einhelliger Meinung der neueren Forschung »erfunden« wird.93 3. Wir betrachten die Aussage als ein normatives Konstrukt, wie es Juristen schaffen, um komplexe Sachverhalte zu bewältigen, eine Sicht der Dinge, die oft mit einem gehörigen Schuss Zynismus verbunden ist. Die Schöp­ fungsgeschichte z. B. würde in diesem Sinn die Sieben-Tage-Woche legitimieren. 4. Wir halten beides schlicht für eine Täuschung, im niederländischen Fall sogar für eine Lüge. 5. Wir analysieren Verfahren und Funktion dieses kommunika­ tiven Umwegs im Hinblick auf seine Entbehrlichkeit oder Unentbehrlichkeit. Diese Aufgabe fällt uns bei der niederländischen Arbeitslosigkeit leicht, nicht aber bei komplexeren politischen Fiktionen, denen in unserem poli­ tischen System eine tragende Rolle zukommt und die gerade deswegen der Durchleuchtung bedürfen. Abermals handelt es sich um zwei komplementäre Fiktionen, die das Grundproblem jeder Politik betreffen, nämlich das Verhält­ nis von Herrschenden und Beherrschten. Denn unser politisches System steht und fällt einerseits mit dem Prinzip, dass das Volk souverän ist, andererseits mit der Unterstellung, dass die von ihm bestellten Politiker ihre Herrschaft kompe­ tent, sachlich und gemeinwohlorientiert ausüben. Beides sind Fiktionen, aber die letztere ist so selbstverständlich, man könnte auch sagen, so wirkungsvoll tabuisiert, dass dafür sogar ein gängiger Begriff fehlt, den man der Volkssou­ veränität gegenüberstellen könnte. Ich wähle ersatzweise die Luhmann’sche Kategorie »Zweckrationalität«. Trotz ihrer langen Vorgeschichte sind beides Fiktionen unserer modernen Demokratie, denen in der Vormoderne andere entsprachen, nämlich einerseits das Gottesgnadentum, andererseits die erst seit Machiavelli gründlich in Frage gestellte Vorstellung, sittlich gutes Handeln sei auch das bestmögliche politische Handeln. 93 Aliqua figura veritatis (Augustinus) nach Thomas Meier in Oliver Hochadel/Ursula Kocher (Hg.)  : Lügen und Betrügen. Das Falsche in der Geschichte von der Antike bis zur Moderne, Köln 2000, S. 47  ; Hans-Ulrich Wehler  : Nationalismus, 2. Aufl., München 2004, S. 8 f., 13 und als Beispiel Bärbel Braun  : Nationalstaat als politische Fiktion und Realität. Antikoloni­ ale Nationalbewegung, koloniale und postkoloniale Staatsformation in Indonesien, Frankfurt 1995.

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2.1 Volkssouveränität Die Formel von der Souveränität des Volkes ist seit ihrer Proklamation in der Französischen Revolution der Grundstein fast aller Verfassungen. Aber es gibt keinen Staat, in dem das Volk »im blanken und einfachen Sinn des Wortes als Souverän herrscht«. Es gibt nicht einmal einen Entwurf der politischen Theorie, wie man dem Anspruch der Volkssouveränitätsformel in der Praxis gerecht werden könnte. »Im Grunde weiß das jedermann.« Daher wird im­ mer ein Zusatz gemacht  : Volkssouveränität sei natürlich nicht wörtlich zu nehmen.94 Artikel 20,2 des Grundgesetzes lautet  : »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.« Der Standardkommentar bekennt sich ausdrücklich zur Volks­ souveränität, obwohl diese streng genommen auch nach diesem voraussetzen würde, dass das Volk in direkter Demokratie die anstehenden Fragen selbst entscheidet. Doch sei auch die mittelbare Demokratie im Sinne von Volks­ souveränität legitim, weil durch Wahlen sichergestellt werde, dass material der Wille des Volkes vollzogen werde, und zwar formal durch von ihm bestellte Vertreter.95 Allerdings geht es in Wahlen bekanntlich kaum mehr um die Fest­ stellung des Volkswillens zu Sachfragen. Und die Volksvertreter neigen dazu, sich selbst als souverän zu betrachten, das heißt die Volkssouveränität auf Par­ lamentssouveränität zu reduzieren96 wie in der angelsächsischen Welt, wo den vordemokratischen Repräsentativversammlungen einfach die Volkssouveräni­ tät unterschoben und unterstellt wurde, durch Wahlen sei ihr Genüge getan.97 Geschichte wie Theorie lassen es bei genauerem Zusehen allerdings höchst fraglich erscheinen, »ob das Prinzip der Volkssouveränität als brauchbare Um­ schreibung der Bedingungen demokratischer Legitimität gelten kann«.98 Be­ reits Souveränität als solche ist eine Fiktion, die ebenso wie ihre Übertragung auf das Volk unter bestimmten Bedingungen der europäischen Geschichte zu­

94 Peter Graf Kielmansegg  : Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demokrati­ scher Legitimität, 2. Aufl., Stuttgart 1994, S. 9. 95 Theodor Maunz/Günter Dürig u. a.: Grundgesetz. Kommentar, Bd. 3, Lieferung 18, Mün­ chen 1978, S. 45 f., 49 f. 96 Einblicke – Ausblicke. Ein Rundgang durch den deutschen Bundestag, Berlin 2000, S. 8. 97 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 158–160. 98 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 9–15.

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stande kam.99 Diese Übertragung steigerte ihren fiktiven Charakter noch wei­ ter. Infolgedessen erweist es sich als unmöglich, die Idee der Volkssouveränität in widerspruchsfreie und realisierbare Handlungsanweisungen umzusetzen.100 Im Mittelalter wirkte die Gesamtheit dem Anspruch nach und bis zu einem gewissen Grad auch real an der Ausübung der Herrschaft mit. Durch diese Mitwirkung wurde die Rechtsbindung des Herrschers gewährleistet. Aber die Herrschaftsordnung erhielt nicht dadurch ihre Rechtmäßigkeit, sondern weil sie Teil einer von Gott geschaffenen kosmischen Ordnung war, die mensch­ licher Verfügung entzogen blieb. Die Universitas Populi wurde dabei als ein ontologisch vorrangiges Ganzes begriffen, aus dem die Individuen als Glieder hervortraten, d. h., das Ganze war vor seinen Teilen da.101 In der frühen Neuzeit meinte die Idee von der Gesamtheit als Trägerin der Herrschaftsgewalt nicht mehr die tatsächliche Teilhabe am Herrschaftsprozess, sondern die Legitimierung der Herrschaftsordnung durch die Gesamtheit. Es ist ein Widerspruch im rationalistischen Naturrecht, dass das Verfügungsrecht der Gesamtheit über sich selbst zur Geltungsprämisse der Herrschaftsordnung erklärt wird, ohne dass dieses Verfügungsrecht in die Herrschaftspraxis einge­ baut würde. Die Gesamtheit ist nur noch Bezugspunkt des Denkens, vor allem wenn die Legitimität der Ordnung aus einer fiktiven Ursprungsvereinbarung abgeleitet wird, einer Art säkularisierter Schöpfung, die der neuen Vorstellung gerecht werden möchte, dass die soziale und politische Ordnung aus mensch­ licher Entscheidung hervorgeht. Zwar hat jetzt das Individuum anstelle des Ganzen die Priorität, aber nur theoretisch, denn diese Priorität wird in einen imaginären Vor- oder Urzustand der Freiheit und Gleichheit verwiesen. Die vorgefundene hierarchische Gliederung der Gesellschaft wird nämlich immer noch als vorgegebene Ordnung anerkannt. Auf diese Weise verwandelt sich in der konfessionellen Krise Europas die suprema Potestas bei Bodin aus der Wur­ zel aller Herrschaftsgewalt in die Summe aller Herrschaftsgewalt, die nur als einheitliche möglich ist, in die Souveränität.102 Die Moderne inthronisierte schließlich das autonome Individuum. Legi­ timiert wird zwar durch die Gesamtheit, aber in letzter Instanz durch seine Entscheidung, »und da es im Wesen dieser Autonomie liegt, dass es nie eine  99 Bertrand Badie  : Souveränität und Verantwortung. Politische Prinzipien zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Hamburg 2002 (franz. 1999), S. 19, 37–70  ; Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 90–92. 100 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 12, 15. 101 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 16–58. 102 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 59–98.

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endgültige Entscheidung gibt, muss Legitimität ständig neu durch den Herr­ schaftsprozess selbst hervorgebracht werden« – auch das ist ein Wesenszug der Demokratie. Der vor-staatliche und ur-gesellschaftliche Naturzustand dient bei Hobbes und Spinoza, bei Locke und Rousseau mehr denn je zur argumen­ tativen Begründung der Rolle des Individuums.103 Aus dieser Entwicklung ergeben sich die Grundlagen des Entwurfs der Volks­ souveränität durch Rousseau  : 1. Die freie Verfügung des Individuums über sich selbst geht aller sozialen Organisation voraus, weshalb alle legitime Herrschaft letztlich auf sie zurückgeführt werden muss. Gesamtheit als Träger der Herr­ schaft bekommt dadurch neue Bedeutung. 2. Die als Antwort auf verheerende Konflikte entwickelte Vorstellung der Souveränität, die besagt, dass Gemein­ wesen nur Bestand haben, wenn Herrschaft in der Hand eines einzigen Trägers liegt. »Die Vorstellung, es könne Rechte auf Teilhabe an der Herrschaft geben, die unabhängig voneinander begründet sind, ist mit dem Gedanken der Souve­ ränität nicht zu vereinbaren.« 3. Legitimität begründen heißt daher den Träger der Souveränität ausfindig machen, was zwar vom Monarchen her gedacht ist, aber theoretisch auch vom Volk ausgefüllt werden kann. 4. Herrschaft hat nicht mehr die Aufgabe, eine unabhängig von ihr geltende Gerechtigkeitsordnung zu bewahren, sondern Herrschaft ist Rechtsschöpfung. Die Geltung des Rechts beruht nicht mehr auf seinem Gehalt an Gerechtigkeit, sondern auf der herr­ schaftlichen Setzung, von der höchstens Vernünftigkeit erwartet wird. Macht ist nicht mehr dem Recht, sondern das Recht künftig der Macht unterworfen.104 Rousseaus Contrat social konstruiert eine legitime Gesellschaftsordnung, in der sich die Selbstbestimmung des Menschen verwirklicht, weil er nur seinem eigenen Willen unterworfen bleibt. Denn in seiner Eigenschaft als Untertan muss er nur Gesetzen gehorchen, die er sich zuvor in seiner Eigenschaft als Bürger selbst gegeben hat (Contrat social I 6). Das ist das entscheidende Prinzip, das sich allerdings nur mit einer quasi-mystischen Einheit des Ganzen vorstel­ len lässt. Denn die Realität des Ganzen wird in einem eigenen, nur dem Gan­ zen zurechenbaren Willen gesucht, der formal als volonté générale, inhaltlich aber als das vernünftige Gemeinwohl bestimmt ist, gar nicht anders bestimmt werden kann, also tautologisch ist. Der Mehrheitswille kann die volonté générale aber nur treffen, wenn die Mehrheit im politischen Sinne tugendhaft ist. Damit ist gemeint, dass sie sich am Gemeinwohl orientiert.105 103 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 99–167. 104 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 137 f. 105 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 148–156.

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Volkssouveränität im strengen Sinn ist nach Rousseau allerdings nur in Kleinstaaten möglich, ebenso Politik im Sinne von auf die Polis bezogener Be­ stimmung des Bürgers über das, was ihn unmittelbar angeht. In Großstaaten ist beides delegiert und damit nur noch fiktiv, wobei zu beachten ist, dass Sachzwänge und/oder Interessen der politischen Klassen eventuell vorhandene Elemente direkter Demokratie unterdrücken oder nur dann dulden, wenn die Politikverdrossenheit der Bürger das System zu bedrohen beginnt  ; ihr Ideal ist die zentralisierte Demokratie wie in Frankreich. Aus diesem Grund hat es die Demokratietheorie offenbar unausweichlich mit der stets enttäuschenden Konfrontation von fiktiver Partizipationsnorm und em­ pirischer Wirklichkeit zu tun. Realistische Systemtheoretiker schreiben ihr deshalb nur noch die Funktion zu, gegen die ständige Reduktionstendenz laufender poli­ tischer Maßnahmen einen weiten Selektionsbereich für künftige Entscheidungen offen zu halten. Politische Partizipation als Realisierung individueller Freiheit zu betrachten, heiße Frustration zum Prinzip zu erheben, meinte Luhmann.106 Die Frage nach der rationalen Tragfähigkeit des Volkssouveränitätskonzepts wird über­ haupt nicht gestellt.107 Zu Recht, denn sie ist nach der gründlichen Untersuchung von Peter Graf Kielmansegg sowieso nur negativ zu beantworten.108 Denn Volkssouveränität war gewiss ein für die Durchsetzung der Demokra­ tie nützlicher Kampfbegriff  ; die Übertragung der Souveränität vom Monarchen auf das Volk insofern historisch angemessen. Logisch allerdings handelt es sich um einen folgenreichen Irrweg, der auf Rousseaus Identitätsfiktion zurückgeht. »Das Recht des Kollektivs, über den Einzelnen zu verfügen, ist so wenig mit dem Recht des Einzelnen, über sich selbst zu verfügen, identisch, wie es das Verfü­ gungsrecht irgendeines Dritten [etwa des Monarchen] wäre.« Die Denkfigur des Souveräns vermag keinesfalls die private Verfügungsgewalt des Einzelnen über sich selbst mit der öffentlichen Verfügungsmacht aller über alle zu verknüpfen.109 Aber auch die bereits angesprochene alternative Reduktion von Volkssou­ veränität auf Teilnahme an der Mehrheitsherrschaft durch Wahlen wird dem Anspruch nicht gerecht und erweist sich ebenfalls als Fiktion. Gleicher Einfluss 106 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 217. 107 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 168–229. 108 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 230–268. Übrigens ist heute nicht nur die jüngere staats­ rechtliche Volkssouveränität, sondern auch die ältere völkerrechtliche Staatssouveränität fragwürdig geworden. Es gibt kaum noch Staaten, die uneingeschränkte Souveränität im klassischen Sinn besitzen  ; dazu neben Badie (wie Anm. 99), u. a. Robert H. Jackson  : Quasi-­ states. Sovereignty, International Relations, and the Third World, Cambridge/MA 1990. 109 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 243.

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führt nämlich zu geringerer Rationalität, weil diese für den Durchschnittsbür­ ger nur im Bereich seiner unmittelbaren Erfahrung herzustellen ist. Volkssou­ veränität verlangt Öffentlichkeit, ihr fiktiver Charakter hingegen Geheimhal­ tung. Außerdem sind der Einfluss des einzelnen Bürgers und der Anteil seiner Interessen, die berücksichtigt werden können, minimal. »Es gibt keinen Be­ teiligten mehr, für den die Bedeutung seines Engagements noch evident wäre. Partizipation hat sich gewissermaßen selbst ihres eigenen Sinnes beraubt.«110 Für die Staatsgewalt erweist es sich jedoch als überaus nützlich, an der Iden­ titätsfiktion der Volkssouveränität festzuhalten, denn sie wurde dadurch zur Selbstlegitimation befähigt und hat die Kompetenzenkompetenz (Georg Jellinek) gewonnen, das heißt, sie kann, ohne Widerstand befürchten zu müssen, über ihre eigene Rechtmäßigkeit und Zuständigkeit entscheiden. Damit ist Bin­ dung an das Recht zwar nicht ausgeschlossen, aber diese ist selbst hinsichtlich der Grund- und Menschenrechte nur noch als Selbstbindung möglich.111 Für das Volk hingegen – wer immer das konkret sein mag – bleibt die Fiktion der Volkssouveränität »eine Frage an alle Herrschaft, […] ein großer dynamischer Vorbehalt der Freiheit«.112 2.2 Zweckrationalität Die grundlegende Vorstellung vom modernen Staat im Allgemeinen und dem demokratischen Verfassungsstaat im Besonderen läuft auf Zweckrationalität hin­ aus. Demnach suchen Politiker, Bürokraten und andere Amtsinhaber nach sach­ gerechten Lösungen für die auftretenden Probleme und verfügen über die nötige Kompetenz für diese ihre Hauptaufgabe. Diese Kompetenz besitzen sie, weil sie von den Parteien, vom Wähler, von ihren Vorgesetzten oder von Berufungskom­ missionen nach bestem Wissen und Gewissen gemäß ihrer Qualifikation ausge­ wählt wurden. Richter, Abgeordnete und andere Amtsträger treffen daher ihre Entscheidungen unparteiisch und ebenfalls nach bestem Wissen und Gewissen.113 Sie sind ja durch die Verfassung dazu verpflichtet. Das alles ist möglich, weil sie ihr Handeln an dem orientieren, was sie für das Gemeinwohl halten. Insofern sind sie in der Regel glaubwürdig und verdienen Vertrauen. Politik ist nicht nur ein wichtiges, sondern auch ein seriöses und ernsthaftes Geschäft. Diese Vorstel­ 110 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 253. 111 Kielmansegg (wie Anm. 94), S. 237–239. 112 Walter Leisner  : Das Volk, Realer oder fiktiver Souverän  ?, Berlin 2005, S. 268. 113 Isensee (wie Anm. 90), S. 42–44.

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lungen beruhen keineswegs auf blauäugigem Glauben an das Gute im Menschen, sondern auf der Unterstellung, dass Menschen im Allgemeinen wie Politiker im Besonderen ihre Entscheidungen rational zwecks Erfolgsmaximierung im Sinne ihrer Interessen treffen und dass die gegenseitige Kontrolle im politischen System sowie die Kontrolle durch die Medien und durch die Wähler dazu führen, dass ihren Interessen am besten mit dem geschilderten Verhalten gedient ist. Nun hat aber die empirische Forschung längst gezeigt, dass politische Ins­ titutionen und Prozesse sich keineswegs an der vom demokratischen Staat ge­ forderten Zweckrationalität orientieren. Auch die Rational-Choice-Theorie hat sich ihrerseits als kommunikative Fiktion erwiesen.114 Zwar ist dem Verhal­ ten der Politiker und Bürokraten Zweckrationalität nicht abzusprechen, aber es handelt sich um eine andere Zweckrationalität, die nicht am Gemeinwohl, sondern an der Systemerhaltung orientiert ist, grob vereinfacht am Willen, an die Macht zu kommen und an der Macht zu bleiben. Gemeinwohlorientierte Sachentscheidungen und die Auswahl kompetenter Amtsinhaber sind zwar kei­ neswegs ausgeschlossen, aber sie kommen allenfalls als eine Art Zufallsergebnis oder als Nebenprodukt der komplizierten Auseinandersetzung zwischen parti­ kularen Interessen zustande. Nach allgemeiner Überzeugung geht es Politikern in erster Linie um Geld und Macht. Die Forschung hat seit langem offengelegt, welche wichtige Rolle informelle Beziehungen dabei spielen. Patronage-Klien­ tel-Beziehungen und politische »Freundschaften« sind keineswegs nur typisch für sogenannte »rückständige« Gemeinwesen, sondern in anderer Form auch in modernen Gesellschaften von zentraler Bedeutung.115 Von Organisationen im Allgemeinen und von Behörden im Besondern wissen wir außerdem in­ zwischen, dass sie bei strikter Einhaltung der formal für sie geltenden Regeln überhaupt nicht funktionieren könnten, sondern auf informellen Netzwerken und Strukturen aufbauen müssen, wobei wie bei den Politikern die Grenze zur kleinen oder großen Korruption ebenfalls leicht zu überschreiten ist.116 Da unter solchen Umständen die Sachhaltigkeit von Politik gering ist, wächst ersatzweise die Bedeutung des politischen Rituals. Moderne Medien bieten dazu enorme Möglichkeiten, allerdings mit einer merkwürdigen Spaltung. Während 114 Michael Hutter/Günther Teubner  : Der Gesellschaft fette Beute. Homo juridicus und Homo oeconomicus als kommunikationserhaltende Fiktionen, in  : Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hg.)  : Der Mensch – das Medium der Gesellschaft  ?, Frankfurt 1994, S. 110–145. 115 Was auch der ehemalige Mitarbeiter Helmut Kohls unverblümt zugibt  : Günter Winands  : Ist Wissen Macht  ? Wert und Unwert des Staatsgeheimnisses. Erfahrungen aus dem Leitungsbe­ reich des Bundeskanzleramtes, in  : Depenheuer (wie Anm. 17), S. 111–124, hier bes. S. 118 f. 116 Sievers (wie Anm. 6), S. 69–73.

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die Presse einschließlich der »Bildzeitung« mit der Entlarvung von Politikern Geschäfte macht, ist das Fernsehen die eigentliche Bühne des postmodernen Theaterstaats geworden. Natürlich ist erfolgreiche Selbstdarstellung des Staates notwendig, um gemeinwohlorientierte Kohärenz zu demonstrieren oder gar erst zu erzeugen, wobei die hinter den Kulissen wirksamen Interessen und Entschei­ dungsprozesse verschwiegen werden müssen.117 Aber dabei kommen inzwischen immer weniger echte Sachfragen zur Sprache, die Entwicklung verläuft »vom Kampf der Ideen zum Theater der Personen«.118 Da für den Bürger die Chance zur politischen Primärerfahrung und für das Durchschauen komplizierter poli­ tischer Konstellationen immer geringer wird, muss die Bedeutung der Inszenie­ rung symbolischer politischer Akte steigen. Statt rationaler Problembearbeitung ist telegene emotionalisierte und personalisierte Reduktion von Komplexität an­ gesagt.119 Da das politische Personal in diesem Milieu sozialisiert wird, neigt es dazu, Sachkompetenz für sekundär zu halten. Was es an Zweckrationalität noch gibt, zieht sich hinter die Kulissen zurück. Die Inszenierung verselbständigt sich. Abermals wird Fiktion zur Wirklichkeit, denn symbolische Politik stellt nicht etwa Politik dar, symbolische Politik ist Politik. Bisweilen allerdings schlägt die politische Substanz zurück, wenn sich Problemdruck nicht weginszenieren lässt und sogar neue politisch korrekte Sprachregelungen nicht mehr greifen.120 Wie die Volkssouveränität erweist sich auch die Zweckrationalität politischer Akteure als Fiktion, die eine tiefe Kluft von der Wirklichkeit trennt. Dabei ist dieser Sachverhalt keineswegs eine vorübergehende Abweichung vom rechten politischen Weg, sondern strukturell bedingt und damit unausweichlich. Wäh­ rend Geheimhaltung von Staats wegen und Befriedigung staatlicher Neugier zwar ebenfalls unvermeidlich sind, aber zumindest theoretisch ohne Schaden für das Gemeinwesen in engen Grenzen gehalten werden könnten, ist die Auf­ rechterhaltung der politischen Fiktionen Volkssouveränität und Zweckrationa­ lität für den demokratischen Staat lebenswichtig. Institutionen vertragen die Offenlegung ihres wirklichen Funktionierens nicht.121 »Offen darstellbar ist in Organisationen allein solches Verhalten, das keinen Zweifel daran entstehen 117 Jestaedt (wie Anm. 63), S. 233–236. 118 Heinrich Oberreuter  : Image statt Inhalt  ? Möglichkeit und Grenzen inszenierter Politik, in  : De­ penheuer (wie Anm. 17), S. 145–157, hier S. 148  ; Christoph Joseph Ahlers  : Zur Kultur der po­ litischen Rede – Paradigmenwechsel in der öffentlichen Kommunikation, in  : ebd., S. 159–184. 119 Hans Mathias Kepplinger/Marcus Maurer  : Abschied vom rationalen Wähler. Warum Wah­ len im Fernsehen entschieden werden, Freiburg 2005. 120 Oberreuter (wie Anm. 118). 121 Niklas Luhmann  : Funktionen und Folgen formaler Organisation, 2. Aufl., Berlin 1972, S. 278.

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lässt, dass alle formalen Erwartungen exakt und sinngemäß erfüllt werden.«122 Daher sind fiktive Unterstellungen erforderlich. Die Welt ist zwar im Schein befangen, aber die darauf gegründeten Meinungen sind gesund, weil sie funk­ tionieren. Die Leute denken falsch und handeln richtig – darauf beruht die ge­ sellschaftliche und politische Ordnung, die man deshalb nicht durch kritische Analyse der Fiktionen auflösen darf. Der Unwissenheit der Masse entspricht das Nicht-wissen-Wollen des Weisen, während der Aufklärer in gefährlichem Pseudowissen endet. Diese Gedanken Blaise Pascals123 nehmen die Deutung des heutigen Zustands vorweg. Denn für jeden Bürger ist inzwischen dank eifriger Aufklärung die Volkssouveränität selbst in ihrer Kümmerform, der Wahlbeteiligung, als Farce entlarvt. Wie das angeblich gemeinwohlorientierte und zweckrationale politische Geschäft wirklich funktioniert, ist wenigstens in groben Zügen ebenfalls bekannt. Der enttäuschte Bürger reagiert mit der viel berufenen Politikverdrossenheit oder hört sogar überhaupt auf, an seinen Staat zu glauben. Wenn in diesem Zusammenhang auch noch die beliebten Staatsleistungen ausbleiben, ist die Krise des demokratischen Staates da. Hat die Wissenschaft insofern der Politik einen Bärendienst erwiesen  ? Hätten wir es unterlassen sollen, vom Baum der Erkenntnis zu essen  ? Ganz da­ von abgesehen, dass wissenschaftliche Neugier sich nicht aufhalten lässt, könnte das gewonnene Wissen, das so viel Schaden angerichtet hat, auch zur Schadens­ begrenzung genutzt werden, und zwar nicht nur hinsichtlich der Korrektur offen­ bar gewordener Exzesse. Wir haben nämlich gelernt, dass die Unentbehrlichkeit von Geheimnis und Fiktion in der Politik in letzter Instanz auf die Entstehung politischer Großorganisationen wie vor allem des modernen Staates zurückzufüh­ ren ist. Rousseaus Volkssouveränität konnte, wenn überhaupt, nur im Stadtstaat, in der Polis, funktionieren. Wir sollten nicht vergessen, dass Politik von Haus aus nicht die komplizierte Steuerung von Großorganisationen bedeutete, sondern die Befassung des Stadtbürgers mit Fragen, die ihn unmittelbar angingen. In diesem Sinne die Chancen des Bürgers für umfassende politische Primärerfahrung und Primärpartizipation zu stärken, und zwar ohne dass dies in der Hand der Staatsge­ walt sofort wieder zur Fiktion und zur Farce gerät, könnte sich als Erfolg verspre­ chende Therapie für unser kränkelndes politisches System erweisen.

122 Sievers (wie Anm. 6), S. 69. 123 Nach Norbert Bolz  : Eine kurze Geschichte des Scheins, 3. Aufl., München 2000, S. 35–37.

Die Anthropologische Wende der Geschichtswissenschaft

Warum habe ich diesen Vortrag* nicht als Die kulturelle Wende der Geschichtswissenschaft angekündigt, oder genauer, von der Sach- auf die Methodenebene verschoben, als Die kulturalistische Wende der Geschichtswissenschaft  ? Viele Kol­ leginnen und Kollegen würden das vorziehen. Schließlich wird begrifflich auf den ersten Blick kein Zugewinn an Genauigkeit erzielt, denn Anthropologie ist eine ebenso vieldeutige Angelegenheit wie Kultur. Vor der Aufgabe kapitulie­ rend, zu definieren, was Historische Anthropologie ist, habe ich selbst einmal schreiben müssen  : Historische Anthropologie ist das, was diejenigen Leute, die behaupten, Historische Anthropologie zu treiben, gerade machen.1 Wenn ich aber überlege, was ich als Historischer Anthropologe mache, machen möchte oder möchte, dass es gemacht wird, dann ergibt sich eine erhebliche und wichtige Bedeutungsdifferenz zwischen Anthropologie und Kultur, vor allem, wenn man oder frau dem derzeit vorherrschenden symbolistisch reduzierten Kulturbegriff anhängt, der auch manche Historischen Anthropologen erfasst hat. Im Gegen­ satz zu diesen sehe ich für historisch-anthropologische Fragestellungen weit da­ rüber hinausreichende Möglichkeiten der Erkenntnis durch Zusammenwirken der Historie mit anderen Fächern, nicht zuletzt auch mit Naturwissenschaften. Dieser Befund hängt einerseits mit der Entwicklung des Faches Geschichte zu­ sammen, von der ich zunächst sprechen möchte, andererseits mit meiner Au­ ßenseiterrolle in diesem Fach, die sich in meiner daran anschließenden Kritik dieser Entwicklung und den abschließenden Vorschlägen für Alternativen nie­ dergeschlagen hat. Im Grunde handelt es sich heute um zwei »Wenden«, eine erste, die bereits stattgefunden hat und von der Sie in dieser Reihe schon viel gehört haben und noch viel hören werden, und eine zweite, die sich abzeichnet und in die Leute wie ich große Hoffnungen setzen. Der klassische deutsche Historismus, dem noch die Generation meiner akademischen Lehrer nach dem Zweiten Weltkrieg anhing, lehnte mit Ranke und Droysen, mit Dilthey und Meinecke allgemeingültige historische Gesetz­ mäßigkeiten ab und setzte auf die Einmaligkeit der historischen Phänomene, deren Individualität durch das beabsichtigte Handeln freier und kreativer In­ * Überarbeiteter Text eines Vortrags, der im Januar 2008 beim Studium generale der Universität Mainz gehalten wurde. 1 W. Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004.

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dividuen, besonders großer Männer, seltener Frauen, zustande kommt und deshalb nicht kausal erklärt, sondern nur hermeneutisch verstanden werden kann. Hermeneutik bedeutete einerseits methodisch penibles Auslegen von Quellentexten, andererseits kongeniales Sich-Einfühlen in historische Perso­ nen und Situationen, was durchaus mit dem Basispostulat in Konflikt geraten kann, Wissenschaft bestehe im Aufstellen nachprüfbarer Aussagen. Denn wem die nötige Kongenialität fehlt, der kann’s auch nicht nachprüfen … Darin ste­ cken verschiedene selbstverständliche Prämissen, die lange Zeit nicht hinter­ fragt wurden. Grundlegend war nicht nur die Gewissheit, dass der Sinn von Texten und von individuellem Handeln verstanden werden könne, sondern dass die historische Welt und die auf ihr aufbauende Gegenwart insgesamt sinn- und wertvoll sei. Die Individuen und die historischen Individualitäten zweiter Ordnung, vor allem die Staaten und Nationen, galten als sittliche Grö­ ßen  ; für Ranke waren Staaten Gedanken Gottes. Deswegen lohnte es sich nicht nur, ihre Geschichte und die dahinter wirksamen Ideen zu kennen, sondern es war geradezu eine sittliche Pflicht. Geschichte war die Bildungsmacht, biswei­ len geradezu die Bildungsreligion des Bildungsbürgertums. Ihr Königsweg war die Erforschung der Ideen, von denen die Geschichte bestimmt und gestaltet wurde, die deutsche »Geistesgeschichte«. Durch die so genannte »Deutsche Katastrophe« wurde diese heile Welt gründlich in Frage gestellt. Maßgebendes neues Paradigma wurde längerfris­ tig aber nicht die zur »Strukturgeschichte« entnazifizierte »Volksgeschichte« etlicher Historiker der mittleren Generation, sondern die »Historische Sozi­ alwissenschaft« einer neuen Altersgruppe, die in offen bekannter politischer Absicht mit sozialwissenschaftlich inspirierten Verfahren die Ursachen des verhängnisvollen »deutschen Sonderwegs« zu erhellen gedachte. Da man nicht mehr nur Handlungen verstehen, sondern auch Handlungsspielräume erklä­ ren wollte, wandte man sich von der politischen Geschichte von Ereignissen und Personen ab und der sozioökonomischen Geschichte von Strukturen und Prozessen zu. Karl Marx und vor allem Max Weber lieferten theoretische An­ sätze, denn jetzt wurde demonstrativ antihistoristisch und entgegen der Spra­ che der Quellen, die man als irreführend entlarvte, mit scharf definierten Ka­ tegorien und Theorien gearbeitet. Auch die Geschichte wurde dem Kriterium moderner Wissenschaftlichkeit, dem quantifizierenden Zählen und Messen unterworfen. Das »Erkenntnisinteresse« – auch ein Begriff jener Zeit – lief darauf hinaus, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und eine bessere Zukunft schaffen zu helfen, denn man glaubte an die politische Machbarkeit von Gesellschaft.

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Aller Hinwendung zur Sozialwissenschaft zum Trotz hat die deutsche Ge­ schichtswissenschaft aber das strukturfunktionalistische Paradigma des Wes­ tens dabei nicht akzeptiert. Man hielt und hält sich hierzulande lieber an Max Webers verstehende Soziologie. Entsprechend blieb es bei Vorbehalten gegen­ über der strukturfunktionalistisch inspirierten westlichen Kulturanthropologie. Im ersten Band der Bielefelder Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft äußerte sich 1975 der Soziologe Wolf Lepenies programmatisch über das Verhältnis von Geschichte und Anthropologie. Er ging dabei deutlich auf Distanz und ließ Historische Anthropologie nur zu als hermeneutisch verstandene histoire des mentalités mit der Aufgabe, z. B. Sexualverhalten durch Rekurs auf Mentalitä­ ten zu erklären.2 Die hermeneutische Welt der deutschen Wissenschaft blieb heil, weil sie energisch heil gehalten wurde  ! Im Gegenteil, die ethnologische Anthropologie erlebte ihre Bekehrung zur Hermeneutik. Maßgebend wurde die symbolische Anthropologie nach Clifford Geertz, dessen Aufsatz Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur (Thick Description. Toward an Interpretative Theory of Culture) von 1973, deutsch bezeichnenderweise bei Suhrkamp und erst 1983 veröffentlicht, heute eine Art Manifest der neuen Kulturgeschichte wie der Historischen Anthropologie geworden ist. Es wird darin ein semio­ tischer, d. h. zeichenwissenschaftlicher Kulturbegriff proklamiert und unter Berufung auf Max Weber Kultur definiert als das selbstgesponnene Bedeutungsgewebe, in das der Mensch verstrickt ist. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht (wie die bisherige Ethnologie naturwissenschaftlicher Observanz), sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Das vollbringt sie mit der Technik der dichten Beschreibung, die verschiedene übereinander gelagerte Bedeutungsstruktu­ ren eines beobachteten Phänomens interpretierend herausarbeitet und sich dabei zusätzlich bewusst bleibt, dass unsere Aussage über die Auslegung, die beobachtete Menschen ihrem Tun geben, bereits wieder unsere Auslegung dieser Auslegung ist.3 Die alte, bei Historikern wie Ethnologen verbreitete Vorstellung, man könne sich quasi unter Auslöschung des eigenen Selbst vollständig in eine fremde oder eine vergangene Kultur einfühlen, wird da­ mit als Illusion entlarvt. 2 W. Lepenies, Geschichte und Anthropologie. Zur wissenschaftshistorischen Einschätzung eines aktuellen Disziplinkontakts, in  : Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), 325–343. 3 C. Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt 2 1991, 9, 14f.

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Auslegung kultureller Phänomene wird für Geertz dadurch möglich, dass Kultur im Sinne seiner semiotischen Definition aus ineinandergreifenden Sys­ temen auslegbarer Zeichen oder Symbole besteht, die es zu entschlüsseln gilt. Auch Geertz muss also an der Geschlossenheit von Kulturen festhalten, weil ohne einen überindividuellen Code von Bedeutungen Auslegung überhaupt nicht möglich wäre. Aber diese Kohärenz ist eine bloß relative, der Code ist nicht zwingend, weil Kultur den Charakter eines sozialen Diskurses mit rela­ tiv offenem Ausgang hat. Deswegen muss die ethnographische Beschreibung notwendigerweise mikroskopisch sein. Sie lehnt groß angelegte Konzepte wie Kulturen, Prozesse, Epochen keineswegs ab, im Gegenteil, sie weiß, dass ihr Tun ohne solche sinnlos wäre. Aber sie ist gezwungen, sich ihnen von der sehr intensiven Bekanntschaft mit äußerst kleinen Sachen her zu nähern. Das gut historisti­ sche Problem dabei liegt darin, dass sich auf diese Weise gefundene Deutungen nicht ohne weiteres verallgemeinern lassen. Es kann also nicht darum gehen, eine Reihe von Beobachtungen einem beherrschenden, offensichtlich vorher vorhandenen Gesetz unterzuordnen, sondern ungleich bescheidener zu versu­ chen, einen verständlichen Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen. Des­ halb heißt es  : Die Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig.4 Bereits beim Vater des symbolischen Interaktionismus, dem Sozialpsycho­ logen George Herbert Mead, wird Sprache als Symbolsystem gedeutet.5 Da­ her ist der Ethnologe bei Geertz nicht nur ein Produzent von Texten, sondern seine Symbole deutende Tätigkeit gleicht dem Entziffern eines schwer lesbaren Manuskripts.6 In seiner berühmten Interpretation eines balinesischen Hahnen­ kampfes schrieb Geertz 1972  : Die Kultur eines Volkes ist ein Ensemble von Texten, die ihrerseits Ensembles sind  ; der Anthropologe bemüht sich, sie zu lesen, indem er denen über die Schulter schaut, denen sie eigentlich gehören (The culture of a people is an ensemble of texts, themselves ensembles, which the anthropologist strains to read over the shoulders of those to whom they properly belong).7 Geertz billigt übrigens an derselben Stelle dem Funktionalismus neben der symbolischen In­ terpretation eine legitime Rolle zu und in Dichte Beschreibung operiert er auch mit der Kategorie Verhalten, wenn er vom Beobachtungsgegenstand spricht.8 4 Ebd., 30, 37, 41. 5 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frank­ furt 1973 (eng. 1934), 110f., 117f. 6 Geertz, 51. 7 Nach C. Mukerji/M. Schudson (Hg.), Rethinking Popular Culture, Berkeley 1993, 269, Übersetzung und Hervorhebung W. R. 8 Geertz, 16.

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Alternative Auffassungen von Historischer Anthropologie bleiben also bei etwas gutem Willen mit der seinigen durchaus vereinbar. Obwohl mit der Deutung von Kultur als Text ein Anknüpfungspunkt für postmodernen Dekonstruktivismus gegeben ist und auch genutzt wurde, mutet den Historiker doch das meiste, was Geertz ausführt, nicht besonders originell an, denn es läuft weithin auf wohlbekannte hermeneutische Grundsätze und Verfahren der älteren Geschichtswissenschaft hinaus. Wir sollten eben nicht vergessen, dass Geertz nicht zur Belehrung von Historikern schreibt, sondern eine Ethnologie in Frage stellen möchte, die sich – vergebens – am natur­ wissenschaftlichen Exaktheitsideal zu orientieren versuchte. Das änderte aber nichts daran, dass mit der Geertz-Rezeption der Aufschwung der Historischen Anthropologie in Deutschland einsetzte. Der Grund dafür ist offensichtlich. Wie Soziologie für deutsche Historiker nur in der hermeneutischen Variante Max Webers akzeptabel war, so Anthropologie ebenfalls nur in der hermeneu­ tischen Variante von Clifford Geertz  ! Der mikroskopische Blick nach Geertz wird von den Mikro- und Alltagshistorikern mit verschobener Perspektive angewandt. Beide bezogen ursprünglich die Position der Unterschichten, um implizit oder sogar explizit historische Kritik an den damaligen wie den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen ein­ schließlich der aktuellen Geschichtswissenschaft zu üben, aber im Gegensatz zur kritischen Sozialgeschichte früherer Jahre nun nicht mehr vom Standpunkt eines Kollektivs aus, sondern eines einzelnen, quellenmäßig fassbaren Men­ schen. Es handelte sich um die Wiederentdeckung des handelnden histori­ schen Subjekts durch die deutsche und die amerikanische Linke. Schon 1978 wurde erstaunlicherweise in der DDR von dem Philosophen Lothar Kühne die Unzufriedenheit mit wissenschaftlichen Kollektivsubjekten formuliert  : Eine soziale Klasse als gesellschaftliches Subjekt isst, singt und schläft nicht, und selbst zu einer ihr befreundeten Klasse tritt sie nicht in sexuelle Beziehungen.9 Das war die Reaktion auf eine Sozialgeschichte, die sich in erster Linie für quantifizierbare anonyme Strukturen und Entwicklungsprozesse interessierte, etwa die viel diskutierte Modernisierung, die in Bielefeld eine so große Rolle spielte. Der Einzelmensch verschwand auf diese Weise aus der Geschichte bzw. war nur als statistische Nummer interessant. Sein Handeln oder Nicht-Han­ deln, soweit es den Sozialhistoriker interessierte, folgte als Marionette ano­ nymer Kräfte sowieso strukturellen Zwängen und war daher im Einzelfall 9 Nach A. Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700, Liestal 1992, 15.

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höchstens als typisches Beispiel von Interesse. Damit ging eine semantische Täuschung einher, die sich daraus ergab, dass die historische Sozialwissenschaft die narrative Struktur und den am bürgerlichen Roman des 19. Jahrhunderts orientierten Erzählstil der von ihr entthronten Politikhistoriker teilweise bei­ behalten hatte. So wie dort »Deutschland« oder »Frankreich« als handelnde Subjekte auftraten, so hier die Klassen und Gruppen oder gar die Gesellschaft als Ganzes. Das läuft auf eine Reifizierung historischer Konstrukte hinaus,10 weil die Sprache uns die Vorstellung unterschiebt, dass diese zu handeln ver­ mögen, was selbstverständlich nicht der Fall ist. Außerdem gelten Große Erzählungen jeder Art nach der hermeneutischen Wende sowieso als unmöglich, so dass Carlo Ginzburg, Natalie Zemon Davis, Robert Darnton und im deutschen Sprachraum Norbert Schindler neben anderen die Kleine Erzählung in den Mit­ telpunkt der historischen Forschung rücken konnten. Die Schnittmenge der methodologischen Errungenschaften der verschiede­ nen unter Historischer Anthropologie im weiteren Sinn versammelten neuen Richtungen läuft also auf Folgendes hinaus  : 1. auf prinzipielle Uneinheitlichkeit, Diskontinuität und Offenheit der For­ schung wie ihrer Gegenstände. Da Einheit und Einheitlichkeit eine fixe Idee der Moderne gewesen ist, kann man ihre Überwindung guten Gewissens als postmodern bezeichnen. Dazu gehören auch die Vorbehalte gegenüber großen Theorien. Man hat nicht nur etwas gegen die Moderne, sondern auch gegen die Modernisierungstheorie. 2. auf die Wiederentdeckung des Subjekts oder besser der Subjekte, und zwar ausdrücklich nicht nur der einzelnen großen, sondern gerade der zahllosen kleinen Subjekte. Darin steckt viel vom humanistischen Pathos der europä­ ischen Linken, was gelegentlich sogar zu einer sozialromantischen Verzeich­ nung dieser neuen HeldInnen der Geschichte führen mag. 3. Aus beidem ergibt sich mit Notwendigkeit, dass kausale Erklärung durch anonyme Strukturen und unbewusste Prozesse an Wert verliert. Das neu auf­ gewertete intentionale Handeln der Subjekte, sei es auch noch so bescheiden, verlangt die Rückkehr zur modifizierten Hermeneutik als drittes Leitprinzip, modifiziert nicht nur durch bewusstes Einbeziehen der weiter bestehenden Fremdheit des auszulegenden Gegenstandes, sondern auch durch die Not­ wendigkeit, neben Texten auch Handlungen auszulegen. Kleine Leute haben uns nur selten Texte über die Intentionen ihres Handelns hinterlassen, wir können sie oft genug nur durch Entzifferung der Logik ihrer Praxis verstehen. 10 Ebd., 16f.

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Deshalb spielt Pierre Bourdieus Theorie der Praxis (deutsch 1972) eine so große Rolle. Was aber hat diese anthropologische Wende der Geschichtswissenschaft ih­ rerseits historisch und anthropologisch zu bedeuten  ? Denn auch sie gehört wie die beiden vorangegangenen Phasen der Geschichtswissenschaft in einen zeitgeschichtlichen Kontext, in unseren eigenen. Geschichte hat sich stets als Legitimationswissenschaft erwiesen, indem sie das zum jeweiligen politischen und kulturellen Weltbild passende Geschichtsbild produzierte. In diesem Sinn war die historische Sozialwissenschaft eine Legitimationswissenschaft der optimistischen Technokratengesellschaft des großen Aufschwungs. Man glaubte daran, dass sich Gesellschaft machen ließe, und entdeckte daher in der Geschichte ebenfalls die Macher von Gesellschaft, die z. B. den Modernisie­ rungsprozess in Gang gesetzt hatten. Oder man fand, dass es an bestimmten Stellen der deutschen Geschichte falsch gemacht worden sei und es jetzt gelte, es richtig zu machen. Demgegenüber wäre die Historische Anthropologie eine Legitimationswissenschaft der Single-Gesellschaft, die nicht mehr glaubt, dass man etwas machen kann außer dem eigenen kleinen Glück, indem man sich anonyme Vorgaben clever aneignet. Nicht zufällig wurde Michel Foucault so populär, der die anonymen Machtprozesse beschrieben hat, die kein Zen­ trum mehr haben, das man treffen und schlagen kann. Und der schließlich zur Würde des Subjekts zurückgefunden hat. In diesem Zusammenhang wäre dann die Reduktion der Bedeutung von Geschichte auf die Geschichte von Bedeutung als ein Versuch zu verstehen, die Sinnlosigkeit des eigenen Lebens mittels historischer StellvertreterInnen zu bekämpfen, die ihrem Handeln Sinn zu geben wussten. *** Soweit erscheint die historisch-anthropologische Vorgehensweise nach der her­ meneutisch-linguistischen Wende und der Wiederentdeckung des handelnden Subjekts ungeachtet ihrer soeben vorgenommenen historischen Relativierung methodologisch unanfechtbar. Genauer besehen, weist sie aber gefährliche Einseitigkeiten auf. Wenn wir uns weitgehend mit der Interpretation von Pra­ xis statt mit der Auslegung von Texten befassen müssen, spielen Symbole und symbolisches Verhalten automatisch eine zentrale Rolle, denn oft genug be­ kommt Praxis nur durch sie intersubjektive Bedeutung. Triviale Routinehand­ lungen und Rituale können eine bedeutende Rolle zur Aufrechterhaltung einer bestimmten Weltsicht spielen. Es ist wichtig, nach der Bedeutung der Kleider

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zu fragen, die Leute tragen, der Speisen, die sie essen, wie sie sich grüßen und gehen, nach ihrer Körperhaltung und ihren Gesten. Die Schwierigkeit, dass Symbole häufig nicht nur eine Bedeutung haben und keine direkte, repräsentierende Beziehung zwischen Zeichen und Bezeich­ netem vorliegen muss, mag mit wissenschaftlicher Disziplin gerade noch zu bewältigen sein, obwohl dadurch natürlich interpretatorische Willkür erleich­ tert wird. Doch wenn die gesamte Kultur auf ein Symbolsystem und jede Interpre­ tation auf die Deutung von Symbolen reduziert werden soll, wird die Sache wie bei jedem Reduktionismus erstens falsch und zweitens gefährlich. Falsch, weil es im Bereich der materiellen Kultur viele Dinge gibt, die wirklich nur eine praktische Funktion haben – manchmal ist eine Pfeife eben wirklich nur eine Pfeife und weder ein bloß diskursives Phänomen noch ein Penissymbol. Gefährlich, weil auf diese Weise die einst dominierende Geistesgeschichte, die mittels materialistischer Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf den ihr gebührenden begrenzten Platz verwiesen wurde, als Historische Anthropo­ logie maskiert durch die mikrohistorische Hintertür wiederkehren und die Geschichtswissenschaft erneut in ein idealistisch halbiertes, jetzt als Symbol­ geschichte drapiertes Unternehmen verwandeln könnte. In Verbindung mit linguistischem Reduktionismus scheint mir dergleichen bereits Wirklichkeit zu werden, mit der fatalen Folge einer verstärkten Abschottung gegen die Er­ kenntnisse der Naturwissenschaft vom Menschen. Sprach- und Literaturwissenschaft haben uns zwar zu Recht daran erinnert, dass erstens auch Geschichtsschreibung den Regeln sprachlicher Artefakte un­ terliegt und dass zweitens unser Wissen von Geschichte selten unmittelbaren Charakter hat, sondern stets durch Texte im weiteren Sinn vermittelt ist. Über­ trieben formuliert, wissen wir nichts über Geschichte, sondern nur etwas über Texte, die von Geschichte handeln, und produzieren keine Untersuchungen über historische Wahrheit, sondern nur neue Texte über andere Texte. Wieder­ belebung der Geschichtsdarstellung als Kunstwerk und radikale Verschärfung unseres textkritischen Bewusstseins sind unzweifelhaft erfreuliche Errungen­ schaften. Ebenso unzweifelhaft besteht aber die Gefahr, dass in einer auf Text(e) redu­ zierten Welt die Geschichte als Wissenschaft dekonstruktivistischer Beliebigkeit zum Opfer fällt. Schon vor Jahren hat Michael Maurer nachgewiesen, wie die an­ gebliche Strenge mikrohistorischer Interpretation bei führenden VertreterInnen dieser Richtung auf extrem willkürlichen Umgang mit den Quellen und strecken­ weise auf schlichte Erfindung von guten Stories hinausläuft, die mittels raffinier­

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ter literarischer Strategien gegen Kritik immunisiert werden.11 Ausgesprochen er­ frischend wirkt die jüngere Polemik von Egon Flaig, die zeigt, wie Hayden White mit der Vorstellung, dass Fakten nur sprachliche Existenz haben, am harten Fak­ tum der Schoah gescheitert ist. Es ist zwar nichts Neues, dass Historiker keinen unmittelbaren Zugriff auf die Vergangenheit haben, sondern sie immer für sich konstruieren müssen. Aber das ist nur die eine Hälfte der Geschichte – im dop­ pelten Sinn des Wortes. Denn diese Konstruktion erfolgt nicht beliebig, sondern nach strengen Regeln und mit der strengsten Kontrolle, die es gibt, dem Veto­ recht der Quellen, das nicht nur in der professionellen Gewissenhaftigkeit des Historikers begründet ist, sondern vor allem darin, dass ihre Auswertung unter den neidischen Augen der Kollegen erfolgen muss. Die elementarste Formalde­ finition von Wissenschaft lautet bekanntlich  : Wissenschaft stellt nachprüfbare Aussagen auf. Wo Aussagen beliebig werden, endet die Wissenschaft. Auch der Sprachgebrauch unterliegt sozialen Regeln, die spätestens seit Berger/Luckmann (1975) und Bourdieu (1991) ebenfalls bekannt sind. Nicht die Diskurse brin­ gen die Geschichte hervor, sondern die Geschichte die Diskurse. Die Vertreter der entgegengesetzten Auffassung enden laut Flaig ebendort, wo ich soeben die symbolistischen Reduktionisten landen sah  : Sie sind in die alte Geistesgeschichte zurückgefallen, verwenden aber ein Vokabular, welches diesen Rückfall verdeckt.12 Ein Beispiel kann verdeutlichen, wohin symbolistisch und dekonstruktivis­ tisch legitimierte Deutungshoheit führen kann, auch wenn es sich nur um einen einmaligen Ausrutscher eines führenden Mikrohistorikers handelt. Es geht in seiner kleinen Geschichte aus dem späten 18. Jahrhundert um die Ent­ deckung einer sorgfältig versteckten Wildererausrüstung durch die zuständigen Behörden. Dabei erweist sich aber der Fund einer Perruque mit einer geistlichen Krone für die Interpretation als ausgesprochen sperrig. Zwar gehörten Perücken durchaus zur Standardausrüstung jener Wilderer, aber was sollte dabei eine geistliche Krone  ? Mag sie nun aus den Sternsingerrequisiten der Pfarrkirche stammen oder eher selbst gebastelt sein, der Sinn dieses Symbols lässt sich für unseren Autor leicht entziffern  : Die Idee, die Perücke mit einer geistlichen Krone aus Pappe zu zieren, ergab sich aus dem ungemein populären Erscheinungsbild der Heiligen drei Könige nahezu von 11 M. Maurer, Geschichte und Geschichten, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42 (1991), 674–691. 12 E. Flaig, Kinderkrankheiten der Neuen Kulturgeschichte, in  : Rechtshistorisches Journal 18 (1999), 458–476, hier 472.

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selbst. Wie die Herren von eigenen Gnaden, jedenfalls aber mit demselben Recht wie sie begaben sich die Bauern auf die ihnen verbotene Wildbahn. Und dennoch war ihnen die »gekrönte« Selbsterhöhung, das Gleichziehen mit den Herrschafts­ rechten der Großen nicht das Wichtigste. Wer die bäuerliche Mentalität und ihre theatralischen Affinitäten auch nur ein wenig kennt, wird sogleich vermuten, dass die imaginäre Selbstkrönung gleichsam spielerisch die höhere Wahrheit des bib­ lischen Geschehens herbeizitierte und sich auf diese gekonnt inszenierte Art und Weise spöttisch gegen höhere Machtansprüche richtete. Die drei Könige […] hul­ digten bekanntlich einem König, der für die Machthaber des römischen Imperiums umso gefährlicher war, als sein Reich nicht von dieser Welt zu sein beanspruchte. Die seit dem Spätmittelalter bezeugten Sternsinger-Bräuche erinnerten an dieses Ereignis und stellten es zugleich in der »Verkehrten Welt«-Tradition auf den Kopf, indem sich die Armen die Krone auf den Kopf setzten […]. Mit dieser populären Aneignung eines wuchtigen religiösen Bildes spielte die bäuerliche Travestie nun ihr Augurenspiel. Wo immer die aus der Ferne kommende Krone auftauchte, da folgte sie dem Stern und kündigte den realen Machthabern das nahe Ende ihrer Herrschaft an.13

In der Tat stand die Französische Revolution vor der Tür. Aber die geistliche Krone hatte dennoch keinerlei tiefsinnige symbolische Bedeutung, sondern nur eine rein praktische, denn es handelt sich einfach um die Übersetzung eines Terminus technicus der Kirche  : Corona clericalis, im Klartext Tonsur. Unser Wil­ derer hatte also nicht mehr im Sinn, als sich mit dieser Perücke als Geistlicher zu maskieren – manchmal war eine Perücke eben nichts als eine Perücke  ! Als Zwischenergebnis wäre also erstens auf die nicht ganz neue Regel zu verweisen, dass besonders weit reichende Deutungen nach den bisher gültigen Spielregeln der Wissenschaft auch besonders gründliche, und das heißt vor al­ lem nachprüfbare, Nachweise brauchen. Zweitens sollte der ebenfalls nicht be­ sonders revolutionäre Grundsatz gelten, vor dem Abheben zu den spirituellen Höhenflügen symbolischer Bedeutungssuche erst einmal nach näherliegenden materiellen Erklärungen Ausschau zu halten, auch wenn diese in ihrer Triviali­ tät den BedeutungshistorikerInnen kaum ein Nasenrümpfen wert sein mögen. Obwohl diese die elaborierte Symbolwelt der so genannten hohen Kultur eher vernachlässigen und sich sehr bewusst in der mentalen Welt so genannter ge­ wöhnlicher Menschen tummeln, läuft ihr Vorgehen paradoxerweise ebenfalls auf streng exklusive Beschäftigung mit der Res cogitans hinaus, die sich auch in 13 N. Schindler, Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution, München 2001, 13f.

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ihrer Dünkelhaftigkeit kaum von der einstigen Geistesgeschichte unterschei­ det. Sollte der Hauptunterschied darin bestehen, dass die alte geistesgeschicht­ liche Interpretation an Texte gebunden war und damit wenigstens einigerma­ ßen falsifizierbar blieb, während das praxeologische Verfahren der sogenannten Entzifferung der Bedeutung von Alltagshandeln beliebiger Interpretation durch die InhaberInnen der Deutungshoheit Tür und Tor öffnet  ? Hat nicht Natalie Zemon Davis ausdrücklich erklärt, sie wolle darstellen, was historisch möglich gewesen sei  ? Seit Aristoteles aber ist der Bereich des Möglichen die Spielwiese der Poesie, während Geschichte es mit dem Wirklichen zu tun hat. Ich schlage vor, bei dieser Unterscheidung zu bleiben und darauf zu beste­ hen, dass es historische Wirklichkeit gibt und dass diese nicht auf Bedeutun­ gen beschränkt werden kann, die Menschen der Vergangenheit wirklich oder angeblich ihrer Welt gegeben haben. Im Gegenteil, die fehlende Berücksich­ tigung der Trivialbereiche des materiellen Lebens muss notwendigerweise in die Irre führen und ist daher schon rein epistemologisch nicht vertretbar. Wir müssen z. B. zunächst wissen, unter welchen realen materiellen Bedingungen die Menschen sich ernährt und reproduziert haben, bevor wir ihre Tischkul­ tur, ihre sexuellen Sitten und ihre Familienorganisation einer symbolischen Deutung unterwerfen und den möglichen Rückwirkungen dieser Symbolik auf jene materielle Welt nachgehen können. Darüber hinaus sollte nicht nur in der Methode, sondern auch in der Sa­ che das Ende des abendländischen Dualismus von Geist und Stoff längst zur Binsenweisheit geworden sein. Wir wussten zwar schon immer, dass Menschen keine reinen Geistwesen sind, aber dass die dualistische Trennung von Fleisch und Geist eine anmaßende Behauptung unseres Gehirns darstellt, dass wir statt dessen ein untrennbares Ganzes und in gewisser Hinsicht ganz Körper sind, ist eine Erkenntnis, die anthropologisch erst noch berücksichtigt werden muss. Auch die bio-philosophische Perspektive der Berliner Richtung der Histori­ schen Anthropologie bleibt m.E. in erster Linie philosophisch und bedient sich beliebig ausgewählter biologischer Versatzstücke für ihre philosophische Argumentation. Denn am derzeitigen Verhältnis oder, genauer gesagt, Nicht-Verhältnis von Historischer und Biologischer Anthropologie ändert sich dadurch nichts. Allen anders lautenden Beteuerungen zum Trotz scheint auch für die Anthropologie mehr denn je die alte Formel des Anglisten C. P. Snow zu gelten, der 1959 von den zwei Kulturen schrieb, die nichts mehr miteinander zu tun haben, der na­ turwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen, obwohl aus heutiger Sicht Natur und Geist längst nicht mehr reinlich zu trennen sind. Nichtsdes­

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toweniger wird Biologische Anthropologie in den maßgebenden Einführungen und Zeitschriften der Historischen Anthropologie nicht einmal erwähnt. Das ist kein Zufall. Es hat methodologische, kulturelle und politische Gründe. Hinsichtlich der Methodologie sollte bereits deutlich geworden sein, dass es paradoxerweise gerade die modernsten Richtungen wie symbolistische Herme­ neutik und Dekonstruktivismus sind, die dem alten Geist in neuer Gestalt wie­ der zur Herrschaft verholfen und den Graben zwischen den beiden Kulturen weiter vertieft haben. Angeblich haben viele jüngere Naturwissenschaftler seit der Affäre Sokal die Geisteswissenschaftler als hoffnungslose Fälle abgeschrie­ ben. Der Physiker Sokal hatte einen mit dekonstruktivistischen Autoritäten schwer gepanzerten Aufsatz geschrieben, in dem er die kulturell-sprachliche Begründung eines Teiles der Physik zu beweisen vorgab, und denselben in ei­ ner angesehenen Zeitschrift postmoderner geisteswissenschaftlicher Observanz anstandslos gedruckt bekommen – nur um das dekonstruktivistische Wortge­ klingel hinterher erbarmungslos als Ulk bloßzustellen.14 Was wir vor uns haben, ist eine sich m.E. zunehmend verschärfende gegen­ seitige Abschottung mittels reduktionistischer Theorien, allem Geschwätz von Transdisziplinarität zum Trotz. Zwar würden heute Biologen wie Geisteswis­ senschaftler sofort dem Satz zustimmen, dass es die Natur des Menschen sei, Kulturwesen zu sein, anders gewendet, dass menschliche Natur nur als Kultur vorkommt. Sie ziehen aber entgegengesetzte Schlussfolgerungen daraus, von denen die eine so reduktionistisch ist wie die andere. Für den biologischen Reduktionismus läuft das Ganze darauf hinaus, dass die Grundlagen aller Kulturphänomene biologisch zu erklären sind oder in Zukunft zu erklären sein werden – platt und verkürzt  : der Irakkrieg aus elektrischen Im­ pulsen im Gehirn von George Bush bzw. die Musik Johann Sebastian Bachs aus seinen Genen. Eine besondere Rolle hat dabei die Soziobiologie gespielt, nach der das Verhalten des Individuums maßgebend vom Ziel bestimmt ist, den Re­ produktionserfolg der eigenen Gene zu optimieren. Deswegen lohne sich z. B. Selbstlosigkeit gegenüber Verwandten und erkläre sich auf diese ­Weise.15 Für den geisteswissenschaftlichen Reduktionismus hingegen hat die Kultur die Natur völlig aufgesaugt und kann daher ohne irgendwelche naturwissen­ 14 A. D. Sokal/J. Bricmont, Eleganter Unsinn. Wie Denker der Postmoderne die Wissen­ schaften missbrauchen, München 1999. 15 Dagegen H. Rolston, Genes, Genesis and God. Values and Their Origins in Natural and Human History, Cambridge 1999  ; S. Rose, Darwins gefährliche Erben. Biologie jenseits der egoistischen Gene, München 2000.

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schaftlichen Erkenntnisse erklärt werden. In der Empirie kommt es allerdings gelegentlich zu Pannen. So berichtet ein Ethnologe, wie er dem Fehlen von Brustwarzen bei Mitgliedern einer afrikanischen Gruppe in Kamerun mit der üblichen symbolischen Deutung beizukommen versuchte und sich auf die Su­ che nach einer rituellen Amputation machte, bis ihm aufging, dass es sich schlicht um einen ererbten genetischen Defekt handelte.16 Freilich erweisen sich wissenschaftliche Paradigmata nicht selten als immun gegen derartige em­ pirische Falsifizierung  ! Die Biologie hat es leicht. Sie ist in Expansion begriffen und hat als Zu­ kunftswissenschaft des 21. Jahrhunderts nichts zu verlieren. Die historischen Anthropologen hingegen sind als Kulturwissenschaftler in der Defensive und fühlen sich bedroht, was zu irrationalen und bisweilen hysterischen Reakti­ onen führt. Die Geisteswissenschaftler haben immerhin nolens volens die jü­ disch-christliche Doppelexistenz von Geistseele und Leib zu verteidigen, den Inbegriff abendländischer Kultur, den Descartes’ Unterscheidung von Res cogitans und Res extensa für die westliche Wissenschaft konserviert hat. Geistige Güter können durch eine angebliche materielle Dimension nur beschmutzt werden. Selbst der marxistische Materialismus war daher kein unmittelbarer, sondern ein dialektischer  ! Dazu kommt die naheliegende politische Immunisierung wie gerufen. Die Gräuel des nationalsozialistischen Rassismus und die aktuellen Probleme des US-amerikanischen und postkolonialen Rassismus führen zu einem wissenschaft­ lich fatalen Zwang zur Political Correctness. Weil die Biologische Anthropologie als Rassenlehre grausam missbraucht wurde, darf es keine Rassenkunde mehr ge­ ben, und der Einfachheit halber gleich gar keine Rassen mehr. Gerne wird darauf hingewiesen, dass die genetische Ausstattung der verschiedenen Menschengrup­ pen fast restlos identisch sei. Aber unser Erbgut stimmt auch zu 98,8 % mit dem des Schimpansen überein und selbst dem Regenwurm stehen wir in dieser Hin­ sicht sehr nahe. Nicht, ob es Rassen und sogar Unterschiede zwischen ihnen gibt, ist das wirkliche politische Problem, sondern ob solche Unterschiede bewertet und zur Diskriminierung von anderen Menschen eingesetzt werden. Die biologische vergleichende Verhaltensforschung lehrt uns auch, dass die Evolution bei sozial lebenden Arten Gruppensolidarität zwischen Blutsver­ wandten und Adoptierten hervorgebracht hat, die mit mehr oder weniger ausge­ prägter Abneigung gegen Fremde einherzugehen pflegt, aber nicht automatisch in Aggression umschlagen muss. Ein Ethnologe hat dazu geschrieben  : Es gehört 16 N. Barley, Die Raupenplage. Von einem, der auszog, Ethnologie zu betreiben, Stuttgart 1989.

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zu den deprimierendsten Seiten des Ethnologenberufs, entdecken zu müssen, dass fast alle Volksgruppen ihre unmittelbaren Nachbarn hassen, fürchten und verachten.17 Das historische Problem besteht darin, ob der Mensch als Kulturwesen seine natürliche Xenophobie kulturell zum Atomkrieg weiterentwickelt oder als Herausforderung zu ihrer Bändigung durch humane Verhaltensstandards versteht. Die Biologie lässt uns als optimale Lösung eine Mischstrategie er­ warten, den Versuch, überlebensnotwendigen Gruppenegoismus und gemein­ menschliche Solidarität zu kombinieren.18 *** Ich plädiere daher aus methodologischen wie anthropologischen Gründen für eine dritte Variante Historischer Anthropologie, eine ganzheitliche mit energi­ scher Berücksichtigung der materiellen Dimension des menschlichen Lebens. Sie stellt die Kategorie Sitte in den Mittelpunkt, verstanden als kulturell gere­ geltes menschliches Verhalten, das sich beobachten oder quellenmäßig nach­ weisen lässt. Hier ist für die materielle Basis ebenso Platz wie für den symbo­ lischen Überbau und für komplizierte Interaktionsprozesse von beiden. Diese Fragestellung ist freilich nicht besonders neu. Sie geht bis auf Herodot zurück und erreichte später bei Aufklärungshistorikern wie Voltaire einen Gipfel­ punkt. Dabei kann es sich heute zunächst um das Programm des ethnologisch verfremdeten Blicks auf unsere eigene Kultur und deren Geschichte handeln, wie ich selbst ihn mehrfach zu praktizieren versuchte und versuche.19 Sein volles wissenschaftliches Potential entfaltet dieser dritte Ansatz aber erst in Verbindung mit einem vierten, der auf das schon 1975 gegründete Institut für Historische Anthropologie Freiburg e.V. zurückgeht. Denn dort wird anthropologische Vielfalt konsequent durch Kulturvergleich in Längs- und Querschnitten aufgearbeitet, seien es körpernahe Grunderfahrungen aller Menschen wie Tod und Töten,20 seien es weniger elementare Kulturphäno­ 17 Ebd., 89. 18 Mohr in  : P. Sitte (Hg.), Jahrhundertwissenschaft Biologie. Die großen Themen, München 1999, 189f. 19 In Reinhard, Lebensformen (wie Anm. 1) und schon vorher in meinen Forschungen zur Kultur- und Sozialgeschichte des älteren Papsttums sowie jüngst in W. Reinhard (Hg.), Krumme Touren. Anthropologie kommunikativer Umwege, Wien 2007. 20 H. von Stietencron/J. Rüpke (Hg.), Töten im Krieg, Freiburg i. Br. 1995  ; J. Ass­mann/ R. Trauzettel (Hg.), Tod, Jenseits und Identität, Freiburg i. Br. 2002 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V., Bd. 6 u. 7).

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mene wie der unterschiedliche Charakter von Märkten unter verschiedenen kulturellen Rahmenbedingungen.21 Hier wird transdisziplinär gearbeitet und zwar je länger desto mehr hoffentlich unter Einbeziehung auch von Naturwis­ senschaften. Dergleichen stößt allerdings auf zwei grundlegende Schwierigkeiten, einer­ seits den unterschiedlichen Allgemeinheitsgrad der fachspezifischen Fragestel­ lungen, andererseits die generellen Probleme der Kommunikation zwischen wissenschaftlichen Disziplinen. Von den Materie- und Energiewissenschaften über die Lebenswissenschaften und die Sozialwissenschaften bis zu den Geschichtswissenschaften herrscht ein abnehmender Grad von Allgemeinheit bzw. zunehmendes Interesse an Singu­ laritäten. Gemeinsame Fragestellung wird dadurch zwar nicht unmöglich, aber die jeweiligen Antworten fallen dann aus der Sicht des je anderen Faches allzu oft banal und überflüssig aus. Nehmen wir als historisches Beispiel den An­ fang des Dreißigjährigen Krieges, den Prager Fenstersturz 1618, als böhmische Rebellen die kaiserlichen Statthalter demonstrativ aus dem Fenster der Prager Burg warfen, wobei die Opfer deswegen mit dem Leben davonkamen, weil sie 17 m tiefer auf einem Misthaufen landeten. Die Wirkungen der Schwerkraft, die Weichheit der Materie Mist, die rituelle Aggressivität menschlicher Männ­ chen sind korrekte physikalische, chemische und biologische Erklärungen des Vorgangs, aber für Historiker Binsenweisheiten ohne Interesse. Umgekehrt bringt die Untersuchung der konkreten personellen und politischen Zusam­ menhänge oder das Wissen darum, dass es in Böhmen eine gewisse Tradition der Defenestration gab, wie man dieses auch in anderen Fällen, zuletzt wahr­ scheinlich 1948, angewendete politische Ritual nannte, keinerlei Erkenntnis, die für Physik, Chemie oder Biologie von Interesse wäre. Für erfolgreiche Zusammenarbeit wäre aber naturwissenschaftliches Inter­ esse an (relativen) Singularitäten ebenso erforderlich wie kulturwissenschaft­ liches Interesse an (relativen) Generalitäten. Der Hirnforscher Singer hat allerdings darauf hingewiesen, dass Neuro- und Kognitionswissenschaften in traditionell von Geisteswissenschaften verwaltete Gebiete eindringen, während die letzteren sich aus den oben genannten Gründen schwer damit tun, den überfäl­ ligen Paradigmenwechsel zu vollziehen.22 Damit ist keine Anbiederung an die Naturwissenschaften gemeint, sondern etwas Einfacheres und zugleich Schwie­ 21 W. Reinhard (Hg.), Menschen und Märkte. Studien zur historischen Wirtschaftsanthropo­ logie (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V., Bd. 9). 22 Singer (wie Anm. 2), 230.

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rigeres  : Historiker sind neugierig und wissen, dass andere Leute Dinge wissen, die sie gerne wissen möchten, aber wegen der begrenzten Möglichkeiten ihres Faches nicht wissen können. Damit wären wir auch schon beim zweiten Problem, demjenigen der Kom­ munikation zwischen den Fächern, die nicht nur ihre sorgfältig getrennten sozialen Netzwerke haben, sondern auch andersartige Denkmuster und eine gepflegte und meist ziemlich esoterische Fachsprache. Sie erscheint initiierten Mitgliedern der Fachgemeinde ebenso selbstverständlich wie Außenstehenden fremdartig. Kurzum, jedes Fach hat seine eigene Kultur, die wie alle Kulturen ihre Identität nicht zuletzt von der Abgrenzung gegen andere Kulturen bezieht. Interkulturelle Kommunikation ist also auch zwischen bloßen Fachkulturen zumindest schwierig, nach Auffassung mancher Pessimisten sogar unmöglich. Sie bedarf auf jeden Fall erheblicher bewusster Anstrengung. Daraus ergeben sich zwei weitere Voraussetzungen erfolgreicher Interdiszi­ plinarität. Zum einen muss interdisziplinäre Kommunikation immer transdis­ ziplinär im Kopf des einzelnen Wissenschaftlers stattfinden. Denn auch wenn man Fachleute verschiedener Disziplinen zum selben Gegenstand vortragen lässt, ist ja nichts gewonnen, solange nicht eine »Übersetzung« in den Gehir­ nen des Auditoriums stattfindet. Daraus folgt zum anderen, dass erfolgreiche interdisziplinäre Kommunikation von beteiligten Fachleuten unbedingt die Beherrschung der schwierigen Kunst der Elementarisierung oder didaktischen Reduktion verlangt, die sie eigentlich im Umgang mit Studierenden erworben haben sollten. Sie dürfen es nicht unter ihrer Würde finden, Probleme ihres Fachs Kollegen anderer Fächer auf Anfängerniveau zu präsentieren und auf deren Verständnisschwierigkeiten unter Verzicht auf die Arroganz des Besser­ wissers einzugehen. Dann brauchen jene sich ihres Nicht-Wissens nämlich nicht mehr zu schämen. Immerhin fehlt es nicht an Fällen, in denen fremde Fächer in historisch-an­ thropologischer Absicht zur Problemlösung in anderen Wissenschaften beitra­ gen, wobei der gebende und der nehmende Teil sowie die Beschaffenheit der jeweiligen Leistungen höchst überraschend ausfallen können. Ich stelle Ihnen einige Beispiele dieser eindrucksvollen Praxis vor. Die soeben entstehende neue Fachrichtung Architekturanthropologie lässt erkennen, wie fruchtbar Austausch in anthropologischer Absicht bereits zwi­ schen Kulturwissenschaften sein kann. Bauen ist kulturelle Konstruktion des Raums durch den Menschen, die angefangen mit der Schaffung von Wohn­ räumen neben der Sachfunktion immer auch eine symbolische Funktion be­ sitzt. Das gilt in besonderem Maße für die Bauten, die eine Gesellschaft ih­

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ren gemeinsamen sozialen, politischen und kulturellen Zwecken widmet. Als besonders bedeutsame Manifestationen einer Kultur sind sie Gegenstand der Kunstwissenschaft geworden, deren Erkenntnisse die Architekturanthropolo­ gie dankbar übernimmt, aber mit fachfremden politikgeschichtlichen Deutun­ gen fruchtbar erweitert.23 Nehmen wir die Kuppel als besonders augenfälliges Beispiel. Kuppeln und Zentralbauten waren in der Antike und im Mittelalter technisch möglich und bekannt, spielten aber keine große Rolle in der Architektur. Erst die neuplato­ nische Spekulation der Renaissance über Kreis und Kugel als perfekte Formen erhob den kuppelgekrönten Zentralbau zum architektonischen Ideal. Seine perfekte Verwirklichung im römischen St. Peter hatte daher eine große Karri­ ere vor sich. Im 17. Jahrhundert in London, im neunzehnten in St. Petersburg, im frühen zwanzigsten in Berlin, im späten zwanzigsten in Yamoussoukro in Elfenbeinküste entstanden anglikanische, orthodoxe, protestantische und afri­ kanische Nachbildungen, meist dank der betreffenden politischen Machthaber. Imponieren war Trumpf, so dass der Berliner Dom den Spitznamen »Reichsre­ nommierkirche« erhalten konnte. Kuppelbauten wurden daher seit der Französischen Revolution auch rein sä­ kulare Machtzeichen. Wichtigstes Vorbild war das Mitte des 19. Jahrhunderts fertig gestellte Kapitol in Washington. Aber am anderen Ende des politischen Spektrums herrschte derselbe Geschmack. Albert Speers für Berlin geplante große Halle hätte mit 290 m Höhe und Raum für 180.000 Menschen alle bis­ herige Beeindruckungs- und Einschüchterungsarchitektur in den Schatten ge­ stellt. Auch für den jüngsten Umbau des Reichstags war wie für die neue baye­ rische Staatskanzlei die Kuppel in dieser politisch-anthropologischen Funktion immer noch unverzichtbar. In verschiedenen archäologischen und historischen Wissenschaften hat sich die Zusammenarbeit von Natur- und Kulturwissenschaften längst bewährt. Dabei geht es den Osteologen nicht mehr nur um die Deutung vorgeschicht­ lichen Skelettmaterials, sondern sogar die neuere Geschichte gewinnt dadurch neue Erkenntnisse. Die Untersuchung des Skeletts König Eriks XIV. von Schweden bei Öffnung seines Grabes im Dom von Västerås im Jahre 1958 ließ z. B. eine so kräftige Anreicherung von Arsen erkennen, dass die Nachricht von seiner Vergiftung im Jahre 1577 als bewiesen gelten darf – ob allerdings 23 W. Reinhard, Historische Anthropologie politischer Architektur, in  : P. Brandt/A. Schle­ gelmilch/R. Wendt (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. »Verfassungs­ kultur« als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, 17–40.

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tatsächlich durch seinen Bruder und Nachfolger Johann III. lässt sich natur­ wissenschaftlich nicht ermitteln.24 Ausgrabungen auf Friedhöfen in der Karibik und in Nordamerika haben erkennen lassen, dass dort viele Menschen an Bleivergiftung gelitten haben dürften. Das wird auf den Genuss von Rum zurückgeführt, der in Brennereien erzeugt wurde, die mit Bleiröhren ausgestattet waren. Weiter wurde das poli­ tisch unkorrekte Ergebnis gewonnen, dass die afrikanischen Sklaven in der Ka­ ribik zwar schlecht, aber immer noch besser ernährt waren als ihre Zeitgenos­ sen im heimatlichen Afrika, die nordamerikanischen Sklaven wiederum besser als die karibischen, vermutlich wegen besserer Versorgung mit Protein.25 Aber vielleicht ist Unterernährung in Freiheit dennoch der Sklaverei vorzuziehen. Eine breite Palette natur- und kulturwissenschaftlicher Verfahren wurde kürzlich herangezogen, um die Frage zu klären, warum Männer nicht nur sta­ tistisch gesehen gewalttätiger sind als Frauen, sondern vor allem der in fast al­ len Kulturen anzutreffende Krieg nahezu ausschließlich Männersache gewesen ist.26 Gewesen ist, denn das Problem gewinnt dadurch an anthropologischer Aktualität, dass dieses Männermonopol derzeit erstmals in der Geschichte vom Drang der Frauen nach Beteiligung an der staatlich organisierten Gewaltaus­ übung durch Polizei und Militär gebrochen wurde. Individualbiologisch lässt sich kein männerspezifisches Aggressivitätsgen ausmachen. Theoretisch supermännliche Männer mit zwei Y-Chromosomen sind zwar überdurchschnittlich kriminell, aber gerade nicht gewalttätig, son­ dern anscheinend nur dümmer. Ein hohes Niveau des Sexualhormons Testos­ teron korreliert zwar mit hoher männlicher Aggressivität, aber die Befunde sind nicht eindeutig. Es hat den Anschein, als handle es sich vor allem um Aggressivität innerhalb der Gruppe, um Rangstreitigkeiten und dgl., also ge­ rade nicht um Krieg. Dabei steht eine Konflikterfahrung am Anfang, denn erst sie führt dazu, dass vom Gehirn ein Befehl zur Testosteronausschüttung an die Keimdrüsen gelangt. Es bleibt die eher banale Feststellung, dass Männer statistisch gesehen größer und stärker und infolgedessen für den Kampf bes­ ser geeignet seien, obwohl die wenigen historischen Gegenbeispiele weiblicher Kampftruppen in Dahomey und bei den Zulus beweisen, dass das keineswegs 24 Vgl. A. von Brandt, in  : Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 3, Stuttgart 1971, 982 u. Anm. 27. 25 Vgl. K. F. Kiple, The Caribbean Slave. A Biological History, Cambridge 1984, 37, 58, 66, 69f., 76, 100, 210 Anm. 6, 228 Anm. 80, 232. 26 J. S. Goldstein, War and Gender. How Gender Shapes the War System and Vice Versa, Cambridge 2001.

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der Fall sein muss. Weiter gibt es begrenzte Unterschiede in der Hirnentwick­ lung mit der Folge, dass Frauen bessere verbale Fähigkeiten besitzen, Männer hingegen einen besseren Raumsinn. Letzteres dürfte für die Zwecke des mo­ dernen Kriegs bedeutsamer sein als ersteres. Außerdem führt vorgeburtliche Zufuhr von Testosteron dazu, dass männliche Junge des Menschen und anderer Säugetiere eine gewisse Neigung zu rauen Raufspielen aufweisen,27 die man als biologische Vorübung für den Krieg gedeutet hat. Das Ergebnis einer verhaltensbiologischen Untersuchung fällt auch nicht deutlicher aus. Der Vergleich mit dem Verhalten der nächsten Verwandten des Menschen, den Schimpansen und den zentralafrikanischen Bonobos, falsifiziert zwar die von Konrad Lorenz angeregte Theorie der Pseudospezifikation. Danach töten Tiere angeblich keine Artgenossen, sondern nur Artfremde, während der Kampf zwischen Artgenossen durch Unterwerfungssignale automatisch abgebro­ chen wird. Menschen hingegen besitzen die Fähigkeit, Angehörige einer anderen Menschengruppe als andere Spezies, als andere biologische Art, umzudefinieren und dadurch das natürliche Tötungsverbot kulturell außer Kraft zu setzen. In­ zwischen hat sich aber herausgestellt, dass Schimpansen gegen andere Schim­ pansenhorden blutige Kriege führen, genau wie die menschlichen Jäger- und Sammlergruppen, die ebenfalls lange zu Unrecht als friedlich gegolten hatten. Jetzt hat sich unsere Sehnsucht nach friedlichen Ahnen auf die Bonobos kon­ zentriert, bei denen in der Tat Zusammentreffen konkurrierender Gruppen eher friedlich enden, gefördert durch wechselseitigen Geschlechtsverkehr, übrigens auch gleichgeschlechtlichen zwischen Weibchen der verschiedenen Gruppen. Nur, generell scheint diese Regel nicht zu gelten, und auch bei den Schimpansen wurden höchst unterschiedliche Verhaltensmuster beobachtet, mit männlichem Übergewicht bei Gewaltanwendung, aber keineswegs eindeutigem Ergebnis. Die in der Regel territorial fixierte Integrität einer Horde geht bei Men­ schen wie Schimpansen anscheinend notwendigerweise mit Xenophobie gegen die Alterität der fremden Horde einher – Ausländerfeindlichkeit dürfte also eine solide verhaltensbiologische Grundlage haben, was sie freilich keineswegs besser macht. Männer tun sich dabei aber nur bedingt mit Gewaltanwendung hervor, Frauen sind ebenfalls beteiligt, unter Umständen mit anderen Formen der Gewalt. So waren in Dahomey und bei den Apachen die Frauen darauf spe­ 27 Damit korrelieren Freiburger ophthalmologische Befunde, dass Augenverletzungen im Kin­ desalter überwiegend bei Jungen und großenteils bei Spielen auftreten  ; ich danke Kollegen Dieter Schmidt für den Hinweis. Vgl. D. Schmidt/A. Bernsdorff, Augenverletzungen im Kindesalter, in  : tägl. prax. 32 (1991), 121–134.

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zialisiert, die Gefangenen zu Tode zu foltern. Selbst die offenkundige Tendenz von Jungen und Mädchen, von klein auf getrennte Spielgruppen zu bilden, wird erst dann zur Vorschule des Krieges, wenn sie kulturell dazu gemacht wird, die Kampfspiele der Jungen von Eltern und Lehrern zur Vorbereitung auf den Krieg gefördert werden. Es gibt also nur geringfügige natürliche Ansätze für das männliche Kriegs­ monopol. Offensichtlich handelt es sich bei ihm um ein Ergebnis der gene­ rellen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen, das dann kulturell als Männerrolle festgeschrieben und mittels Heldentum und Heldenverehrung für politisch-militärische Zwecke nutzbar gemacht wurde. Die Interaktion zwischen verschiedenen Fächern in anthropologischer Ab­ sicht bringt aber nicht nur Dekonstruktion kulturwissenschaftlicher Mythen durch die Natur- und Sozialwissenschaften hervor. Die historische Dekonstruk­ tion von Mythen der Natur- und Sozialwissenschaften ist nicht minder bedeut­ sam, stößt aber immer wieder auf die Schwierigkeit, dass deren wissenschaftli­ che Konstrukte durch Anspruch auf empirische Unanfechtbarkeit gegen Kritik immunisiert werden. Nehmen Sie als uns allen nur zu gut vertrautes Beispiel die derzeitige, wissenschaftlich legitimierte rücksichtlose Verwirklichung einer angebotsorientierten Marktwirtschaft und ihre Vollendung in der so genannten Globalisierung. Seit die sozialistische Alternative buchstäblich Pleite gemacht oder sich in eine besonders niederträchtige Form von Kapitalismus verwandelt hat, ist marktwirtschaftliches und renditeorientiertes Denken dieser Art zu ei­ ner Art Religion für die Massen geworden. Nicht nur, dass wir nicht mehr das ewige, wohl aber das zeitliche Heil ausschließlich vom Markt erwarten. Der Markt dominiert auch unsere Diskurse. Ob wir von der Kunst oder der Wis­ senschaft, von der Liebe oder der Religion sprechen, immer greifen wir auf die Sprache des Marktes zurück, sogar im Kirchenlied, wo es z. B. heißt  :28 Kleine Münze Hoffnung, mir umsonst geschenkt, werde ich dich teilen, dass du Zinsen trägst  ?

Der expandierende sprachliche Bereich ist eben immer derjenige mit der höchs­ ten psychischen Energie, das heißt nicht zuletzt derjenige mit dem höchsten Sozialprestige, das heutzutage unzweifelhaft der Wirtschaft zukommt. 28 Beiheft zum Gotteslob für das Erzbistum Freiburg, Freiburg i. Br. 1985, 52.

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Aus historischer und historisch-anthropologischer Perspektive freilich zeigt sich als erstes, dass dies alles keine quasi-natürliche Entwicklung ist, wie man uns glauben machen möchte, sondern gezielt herbeigeführt wurde, durch die Deregulierungs- und Privatisierungspolitik einer Politikergeneration unter dem Einfluss der Ökonomenschule von Chicago. Nebenbei entlarvt sich die damit einhergehende Verwandlung des Westens in eine Dienstleistungsgesellschaft insofern als eine halbe Illusion, als diese Entwicklung auf der globalen Auslage­ rung der Produktion in Länder mit billigerer Arbeitskraft beruht.29 Zweitens erweist sich das Ganze als ein Produkt der US-amerikanischen Kultur, beson­ ders die damit zusammenhängende Rational-Choice-Theorie, nach der nicht nur wirtschaftlichen Entscheidungen, sondern im Grunde allen Handlungen des Menschen ein Kosten-Nutzen-Kalkül zur Maximierung des Nutzens zu­ grunde liegt.30 Zwar besitzt die Theorie eines rational kalkulierenden Homo oeconomicus als formales Erklärungsmodell allen menschlichen Handelns ei­ nen hohen Grad von Plausibilität, wenn man »Nutzen« und »Präferenzen« ent­ sprechend weit definiert und auf diese Weise Emotionen und unterbewusste Antriebe hineinmogelt. Aber die Formalkategorie »Nutzen« kann allzu leicht als materieller Profit missverstanden werden. Kommt dann weiter hinzu, dass im wissenschaftlichen Zeitalter deskriptive Ergebnisse gerne in normative Re­ geln transformiert werden, will heißen, dass die Menschen dazu neigen, sich so zu benehmen, als ob die wissenschaftliche Beschreibung des statistisch am weitesten verbreiteten Verhaltens ihnen dieses Verhalten vorschriebe oder es mindestens legitimiere, dann kann sich die ökonomische Theorie als hilfreich zur Rechtfertigung des brutalsten sozialdarwinistischen Egoismus erweisen. Wenn wir zeitlich und räumlich weiter ausholen, müssen wir allerdings er­ kennen, dass die Marktgesetze zwar überall gegolten haben mögen, überwie­ gend jedoch in wechselndem Mischungsverhältnis mit anderen Regeln wirt­ schaftlichen Verhaltens, häufig solchen der Reziprozität oder Gegenseitigkeit. Erst neuerdings wurde ihnen erlaubt, die Wirtschaft ohne Rücksicht auf politi­ sche und sittliche Maßstäbe total zu dominieren. Selbst Adam Smith erwartete nicht das ganze Heil vom Markt  ; schließlich war er Moralphilosoph und nur nebenbei Ökonom. Bis weit in die Neuzeit hinein war die Wirtschaft in Eu­ ropa zur angemessenen Versorgung und nicht zur Profitmaximierung da. Gier 29 Vgl. W. Greider, Endstation Globalisierung. Der Kapitalismus frisst seine Kinder, München 1998. 30 Vgl. G. S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübin­ gen 1982  ; B.-T. Ramb/M. Tietzel (Hg.), Ökonomische Verhaltenstheorie, München 1993.

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galt als Hauptsünde, sogar bei den angeblich so kapitalistischen Calvinisten, und wurde erst im 18. Jahrhundert zur sozial wertvollen Tugend erklärt. Der sozialdarwinistische Charakter des modernen Wirtschaftsverhaltens ist historisch gesehen nicht weiter erstaunlich, weil Darwins grundlegende Evo­ lutionstheorie ebenso wie die moderne, mit genetischen und verhaltensbio­ logischen Erkenntnissen unterfütterte Soziobiologie des »egoistischen Gens« ihrerseits auf die liberale bzw. neo-liberale Wirtschaftstheorie zurückgehen. Denn die Ordnung der Natur beruht nach beiden Modellen auf maximalem Wettbewerb um Überleben und Fortpflanzung.31 Charles Darwin brachte seine empirischen Erkenntnisse auf den Begriff der Evolutionstheorie, nachdem er 1838 das bevölkerungstheoretische Hauptwerk des Ökonomen Malthus ge­ lesen hatte, der von der Wirtschaftsentwicklung zwar einen Anstieg der Re­ allöhne erwartete, aber davon ausging, dass die Bevölkerungsexplosion solche Gewinne unverzüglich aufzehren werde. Leben ist also Kampf ums Dasein, wobei günstige Mutationen Wettbewerbsvorteile verschaffen und die Chancen zur Fortpflanzung erhöhen. Auf diese Weise entstehen durch natürliche Selek­ tion neue Arten. Die Ergebnisse der Genetik, von der Darwin noch keine Ah­ nung hatte, konnten im selben Sinn gelesen werden. Sogar altruistisches Ver­ halten ließ sich wettbewerbstheoretisch erklären, wenn es sich auf Verwandte bezog, was ethnologisch am wahrscheinlichsten ist. Denn das egoistische Gen sichert auf diese Weise die eigene Weitergabe, weil sein Träger scheinbar selbst­ los anderen Individuen zur Fortpflanzung verhilft, aber eben solchen, in denen es ebenfalls vorhanden ist.32 Die historische Demographie ist ein Zweig der Geschichtswissenschaft, der zunächst unter rassistischem, dann unter sozialhistorischem Vorzeichen ent­ stand, im Grunde aber als Geschichte des menschlichen Fortpflanzungsver­ haltens bereits interdisziplinäre historische Anthropologie als Sittengeschichte verkörperte. Denn die Menschen haben die elementare Tätigkeit der Arterhal­ tung hochkomplex kulturell modelliert, so dass die mit elaborierten Verfahren gewonnenen Daten der Bevölkerungs- und Familiengeschichte häufig nicht aus sich verständlich sind, sondern kultureller Erklärung bedürfen.33 Denn sie sind nicht nur von den jeweiligen ökonomischen Ressourcen und deren Ver­ teilung auf Nachwuchs produzierende Menschen abhängig, sondern auch von 31 B. Herrmann, Anthropologie, Ethnologie, Urgeschichte, in  : V. Winiwarter/H. Wilfing (Hg.), Historische Humanökologie, Wien 2002, 11–25, hier 19. 32 D. Young, Die Entdeckung der Evolution, Basel 1994, 130 u. ö. 33 A. E. Imhof, Einführung in die Historische Demographie, München 1977.

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den Regeln der Familien- und Erbsysteme, den Normen der Religionen und anderen kulturellen Faktoren. So weist z. B. ein Geburtentief neun Monate nach der Fastenzeit auf Respektierung kirchlicher Vorschriften hin. Wo unge­ teilte Vererbung des Familienvermögens angestrebt wurde, gab es zahlreiche Ordensleute und andere Unverheiratete, nicht selten mit unehelicher Nach­ kommenschaft in Reserve, falls der Hauptzweig des Hauses aussterben würde. Katholiken hatten häufig mehr Kinder, Protestanten dafür eine geringere Kindersterblichkeit, was auf ein unterschiedliches Verhältnis zum Wert des menschlichen Lebens zurückgeführt wird. Hingegen scheint die Ausbreitung der Geburtenkontrolle allgemeinen kommunikativen Regeln der Ausbreitung von Innovationen zu folgen, ohne regelmäßigen kausalen Zusammenhang mit sozialem Status und Weltanschauung ihrer Anwendung.34 Aber auf den Pillenknick der westdeutschen Geburtenkurve 1964 folgte 1968 ein zweiter Abwärtsknick, der sich mit einer neuen Sexualkultur in Zusammenhang brin­ gen lässt. Auf der anderen Seite führte die Zunahme der Lebensdauer zu der neuartigen kulturellen Erscheinung einer jahrzehntelangen nachelterlichen Lebensphase.35 Dazu hat der medizinische Fortschritt des letzten Jahrhunderts einiges bei­ getragen. Doch schon bevor die moderne Medizin seit dem 19. Jahrhundert zur hocheffizienten empirischen Naturwissenschaft wurde, hatte sie sich im Zeichen staatlich kontrollierter Professionalisierung zu einem Politikum mit erheblichen kulturellen Folgen gewandelt, das mit medizinischen Kategorien allein nicht zu erklären ist. Bereits im 18. Jahrhundert haben durchaus ver­ dienstvolle Ärzte im Vorgriff eine »vollständige medizinische Policey« entwor­ fen, die das gesamte menschliche Leben von der Zeugung bis zum Tode im Detail gesundheitspolizeilich regeln wollte. Dieser unvergleichliche politische Machtanspruch erreichte im Zeichen sozialdarwinistischen Denkens seinen Höhepunkt. 1925 entwarf Viktor Freiherr von Weizsäcker zur Ergänzung der Heilkunde eine medizinische »Vernichtungslehre«. Eine umfassende Sozialver­ waltung sollte Gesundheitswesen, Sozialpolitik und Arbeitsmarkt verknüpfen, mit dem Arzt als Richter über die Ressource Mensch. Wenig später kamen Mediziner tatsächlich in die Lage, bei der Selektion an der Rampe der Vernich­ tungslager über Leben und Tod zu entscheiden.36 34 Das legt zumindest die neuere Untersuchung von E. Benz, Fertility, Wealth and Politics in Three Southwest German Villages, 1650–1900, Boston 1999, nahe. 35 A. E. Imhof, Die gewonnenen Jahre, Stuttgart 1989. 36 A. Labisch, Homo Hygienicus. Gesundheit und Medizin in der Neuzeit, Frankfurt 1992.

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Die Krise des Sozialstaats dürfte bald wieder ähnliche Verhältnisse hervor­ bringen. Bereits heute entscheiden Ärzte darüber, für wen sich lebenserhal­ tende Maßnahmen rentieren und für wen nicht. Das ist deswegen besonders brisant, weil der Sinn- und Identitätsverlust der Postmoderne eine neuartige Abhängigkeit vom Arzt, eine ganz eigenartige Gesundheitskultur, hervor­ gebracht hat. Da Gesundheit der universale Wert schlechthin geworden ist, wurde die Medizin zur mächtigsten Institution der Moderne.37 Weil der Kör­ per heute im Zentrum unseres biographischen Projekts steht, ist es der dafür zuständige Arzt, der wie früher der Priester den Menschen von Lebensphase zu Lebensphase geleitet. An die Stelle des Seelenheils ist die Gesundheit getreten. Medizinische Prozeduren können dabei ausgesprochen symbolisch-rituellen Charakter annehmen. Die Kieferorthopädie wird zur Pubertätszeremonie, der Cholesterintest zum Memento mori. Statt der Priester verwalten die Ärzte für uns auch den Tod. Sie oder ihre Gehilfen begleiten unsere letzten Atemzüge, auch wenn dann und wann noch ein Pfarrer auftauchen mag. Aber generell haben die »Weißröcke« die kulturelle Rolle der »Schwarzröcke« übernommen. Unser Schluss drängt sich inzwischen von selbst auf  : transdisziplinäres an­ thropologisches Arbeiten, das die ganze Bandbreite unserer Existenz als We­ sen, dessen Natur es ist, Kulturmensch zu sein, im Auge behält, verspricht reichere Erkenntnis als neo-historistische Symbolforschung allein. In diesem Sinne möchte ich mit meinem Lieblingszitat schließen, das diesen Sachverhalt noch einmal prägnant auf den Punkt bringt. Da ich von Natur aus auch Kul­ turmensch bin, ist es altgriechisch und stammt von einem »orphischen Gold­ blättchen« des vierten vorchristlichen Jahrhunderts aus Unteritalien.38 Γής παίς είμι καί ούρανου αστεροέντος. Der Erde Kind bin ich und des sternenglänzenden Himmels.

37 A. Labisch, Gesundheit  : die Überwindung von Krankheit, Alter und Tod in der Neuzeit, in  : R. van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen, Wien 1998, 507–536. 38 G. Pfohl (Hg.), Griechische Inschriften, München o. J., 42.

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Griechisch hermeneuein, lateinisch interpretari bezeichnete eine Fülle sprach­ licher Mitteilungsformen von der Auslegung göttlicher Botschaften über das Erklären von Texten und Sachverhalten und das Übersetzen in andere Spra­ chen bis hin zur einfachen Mitteilung.1 Alle diese Aktivitäten der »Sender«, seien sie technisch hoch elaboriert oder alltäglich banal, sollen auf der Seite der »Empfänger« Verstehen erzeugen. Aus diesem Grunde wurde »Hermeneutik« im Laufe der Wort- und Denkgeschichte zur Bezeichnung für die Lehre vom Verstehen.2 Denn bereits in der Spätantike, vor allem aber im nachantiken Abendland erhielt das richtige Verstehen ausschlaggebende Bedeutung für die gesamte Kultur, weil deren zentrale Texte einerseits in großen Teilen inhaltlich wie sprachlich fremd geworden oder sogar fremder Herkunft waren, anderer­ seits aber an normativem Gewicht eher zugelegt hatten. Es gab keine wich­ tigere kulturelle Aufgabe, als die heiligen Schriften der Juden und Christen sowie die klassischen Texte der griechischen und römischen Literatur richtig zu übersetzen, auszulegen und zu verstehen. So entstand im Abendland eine besondere Besessenheit von der Sprache im Allgemeinen und dem richtigen Verstehen im Besonderen, die seine Kultur bis heute nachhaltig geprägt hat. Martin Heidegger hatte in einer frühen Vorle­ sung »die heutige Wut, geistige Gestalten zu verstehen« kritisiert3 und darauf­ hin diagnostiziert  : »In dieser Panarchie des Verstehens kommt das historische Bewusstsein der Gegenwart zu seinem schärfsten Ausdruck.«4 1989 konnte die These vertreten werden, Hermeneutik sei Ende des 20. Jahrhunderts die ge­ meinsame Sprache nicht nur der Philosophie, sondern der abendländischen Kultur überhaupt.5 Vielleicht ist sie durch so viel Verallgemeinerung philoso­ 1 Claus von Bormann, Hermeneutik I. Philosophisch-theologisch, in  : Theologische Realenzy­ klopädie, Band 15, Berlin 1986, 108–137, hier 108–112. 2 Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 2002, 7. 3 Begrifflich knüpft hier an  : Jochen Hörisch, Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Herme­ neutik, Frankfurt 1988, 2. Aufl. 1998. 4 Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 60, Abt. 2  : Vorlesungen 1919–1944), hg. v. Matthias Jung, Frankfurt 1995, 33. 5 Giovanni Vattimo, Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philo­

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phisch belanglos geworden, ihre kulturgeschichtliche Bedeutung konnte da­ durch aber erst richtig ins Licht treten. Hermeneutisches Verstehen erscheint geradezu als anthropologisches Universalphänomen – zumindest aus der Pers­ pektive der westlichen Kultur. Im Extremfall kommt es zu der Unterstellung, es gebe nichts außer der Spra­ che. Das Problem besteht dabei darin, dass diese nicht einmal ganz unzutref­ fende erkenntnistheoretische Aussage häufig aus Unkenntnis oder im Kampf der Schulen als ontologische behandelt wird. Eine derartige Obsession von der Sprache muss aber so oder so notwendigerweise eine besondere Lebensform ge­ nerieren  ; denn »eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen«, schrieb Wittgenstein.6 Zu dieser Lebensform gehört auch der klassische Anspruch abendländischer Hermeneutik, Texte und Gedanken besser zu verstehen als ihre Urheber. Dieser Anspruch ist bei Kant und Fichte nachgewiesen, wird von Schleiermacher in die allgemeine Hermeneutik eingeführt und von Dilthey kanonisiert.7 Er er­ scheint berechtigt, wenn dem Ausleger nachweislich einschlägiges Wissen zur Verfügung steht, über das der Autor nicht verfügte. Oft genug ist er aber nicht einmal in der Lage, dessen Absicht zu verstehen, so dass angebliches besseres Verstehen in eine Vielzahl von Auslegungen nach Belieben münden kann. Eine überholte Vorstellung von der Unbewusstheit geistiger und künstlerischer Kre­ ativität,8 dazu die Vulgärformen von Psychoanalyse und Diskursanalyse stel­ len ergänzend das wohlfeile Argument zur Verfügung, Autoren könnten sich über ihre unbewussten Motive und Voraussetzungen eo ipso nicht im Klaren sein, sondern bedürften der Nachhilfe durch einen Interpreten, der es besser weiß. Auf den ersten Blick erscheint eine derartige, von Textkultur geprägte Lebenspraxis als ausgesprochen elitäre philosophische Lebensform. Insofern lief bereits die historische Entwicklung der Textkultur selbst auf Lebenspraxis hinaus, zunächst unmittelbar beschränkt auf solche Gruppen, die dafür zustän­ dig waren, dann aber mittelbar nicht ohne Auswirkungen für die Mehrzahl der Angehörigen der westlichen Kultur. Die Auslegung der Theologen prägte den sophie, Frankfurt 1997, 13–15  ; V. hat diese These bereits 1989 aufgestellt. 6 Philosophische Untersuchungen §19, nach Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Ge­ genwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Bd. 1, 6. Aufl., Stuttgart 1978, 570. 7 Otto Friedrich Bollnow, Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selber ver­ standen hat  ? (1940), in  : ders., Studien zur Hermeneutik, Bd. 1  : Zur Philosophie der Geis­ teswissenschaften, Freiburg 1982, 48–72  ; Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 149. 8 Bollnow, Schriftsteller (Anm. 7), 54.

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Glauben der Christen, die Interpretation der Philologen den Unterricht in der Schule. Aber heutzutage ist die eigenständige Daseinsorientierung durch Deu­ tung der Welt infolge der »Trivialisierung der philosophischen Lebensform« jedem Einzelnen aufgegeben. Die Transformation von Textkultur in Lebens­ praxis hat aufgehört, eine Angelegenheit intellektueller Eliten zu sein.9 Das kann darauf hinauslaufen, dass Kommunikation mechanisiert und Ver­ stehen »zum unmittelbaren Vernehmen – einer Art Zwischenposition zwischen Wahrnehmen und auslegendem Verstehen« automatisiert wird.10 Dennoch ist unter dem Aspekt der lebenspraktischen Auswirkung der intellektuell wenig anspruchsvolle, halbschematische Verstehensakt der Massen bedeutsamer als die elaborierte Auslegung der Eliten, auch wenn er sich von letzterer herleiten mag. Weil wir unser Denken so oder so mittels der Sprache artikulieren müssen, ist auf einer epistemologischen Metaebene das Verstehen in allen Wissenschaften ebenso selbstverständliche Praxis11, wie es zum Vollzug unseres Alltagslebens gehört. »Ein Fisch ist sich seiner Fähigkeit zu schwimmen nicht weniger sicher als der Mensch seiner Fähigkeit zu verstehen«, meinte schon der amerikanische Semiotiker und Pragmatist Charles S. Peirce.12 Der alltägliche Umgang unter Menschen ist das Ergebnis einer Schulung in Auslegungstechniken, die einen wesentlichen Bestandteil unserer Sozialisation ausmacht. Wir erlernen dabei ei­ nerseits das von Anderen bereits Ausgelegte, andererseits eher unbemerkt und nebenher das Auslegen selber.13 »Alltägliches Verstehen – Alltagshermeneutik – vollzieht sich im alltäglichen Interaktionszusammenhang auf der Basis impliziten Wissens, von dem man eigentlich nicht sagen kann, dass die Deutenden es haben  : sie leben es. […] Alltägliches Verstehen vollzieht sich im Handeln […] – wissenschaftliche Aus­ legung bezieht sich auf die bereits abgeschlossene, dokumentierte Handlung«,   9 Vgl. Gernot Böhme in  : Christoph Wulf (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anth­ ropologie, Weinheim 1997, 686–697. 10 Emilio Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1967 (ital. 1955), 137. 11 Vgl. auch Otto Friedrich Bollnow, Die Methode der Geisteswissenschaften, in  : ders., Studien zur Hermeneutik, Bd. 1, Freiburg 1982, 114–138, hier 122. 12 Charles Sanders Peirce, Religionsphilosophische Schriften, hg. v. Hermann Deuser, Hamburg 1995, 373. 13 Hans-Georg Soeffner, Protosoziologische Überlegungen zur Soziologie des Symbols und des Rituals, in  : Rudolf Schlögl/Bernhard Giesen/Jürgen Osterhammel (Hg.), Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesell­ schaften, Konstanz 2004, 41–72, hier 46 f.

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ggf. auf einen Text.14 Selbstverständlich sind wissenschaftliches und alltägliches Verstehen nicht deckungsgleich.15 Hier kommt es aber nicht auf verschiedene Stufen und Varianten des Verstehens an,16 oder auf die philosophisch durchaus mögliche Unterscheidung von Verstehen und Hermeneutik,17 sondern auf die verschiedenen kulturellen Felder, wo Verstehen aller Stufen und Arten alias hermeneutische Lebenspraxis tatsächlich stattfindet. Während wir über das Verstehen in den Wissenschaften dank deren methodo­ logischer Reflexion eine Menge wissen und das menschliche Alltagsverhalten von verschiedenen Wissenschaften gründlich untersucht wird, wurde Alltag als her­ meneutische Lebensform noch kaum artikuliert, geschweige denn erforscht. Dem aus diesem Grunde drohenden Ungleichgewicht unseres Vorhabens kann aber mit der Feststellung begegnet werden, dass die Wissenschaften nicht nur selbst ein wesentliches Produkt der abendländischen hermeneutischen Lebensform sind, sondern deswegen auch im Alltag weithin den Ton angeben. Die hermeneutische Lebensform ist ihrem Wesen nach eine wissenschaftliche Lebensform. Der Versuch, iterativ das Verstehen als abendländische Lebensform zu ver­ stehen, soll sich aber ausdrücklich nicht auf die Inhalte, sondern auf die Vorgehensweise der Interpretation beziehen. Es soll im strengen Sinne um eine Geschichte des Denkens gehen, nicht um eine solche des Gedachten. Die Un­ tersuchung der verschiedenen Wissensfelder muss zwar aus dem genannten Grund von den jeweiligen Wissenschaften ausgehen, soll aber nichtsdestowe­ niger auch und gerade die damit zusammenhängenden Lebenswelten in den Blick nehmen. 14 Hans-Georg Soeffner, Hermeneutik. Zur Genese einer wissenschaftlichen Einstellung durch die Praxis der Auslegung, in  : ders., Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung, 2. Aufl., Konstanz 2004, 114–159, hier 115, 156 f.; Werner Schiffauer, Grenzen des ethnologischen Verstehens, in  : Gudrun Kühne-Bertram/Gunter Scholtz (Hg.), Grenzen des Verstehens. Phi­ losophische und Humanwissenschaftliche Perspektiven, Göttingen 2002, 231–246, hier 239. 15 Hans-Georg Soeffner, Alltagsverstand und Wissenschaft. Anmerkungen zu einem alltäglichen Missverständnis von Wissenschaft, in  : ders., Alltag (Anm. 14), 15–60, hier bes. 17. 16 Vgl. Karl Acham, Grenzen des Verstehens. Überlegungen im Anschluss an Max Weber, Karl Jaspers und Heinrich Gomperz, in  : Kühne-Bertram/Scholtz, Grenzen (Anm. 14), 197–216  ; Wulf Oesterreicher, Textlektüren. Historische Spielräume der Interpretation, in  : Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 125 (2003) 242–266  ; Wolfgang Raible, Ar­ ten des Kommentierens – Arten der Sinnbildung – Arten des Verstehens. Spielarten gene­ rischer Intertextualität, in  : Jan Assmann/Burkhard Gladigow (Hg.), Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV, München 1995. 17 Etwa bei Dilthey laut Jung, Hermeneutik (Anm. 2), 84, oder in der Praxis des Kunsthistori­ kers laut Oskar Bätschmann, Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik, 3. Aufl., Darmstadt 1988, 12, 57 f. u. ö.

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Verstehen durch Erklären ist aber nicht nur ein Verfahren, das unsere alltäg­ liche lebensweltliche Erfahrung verständlich macht, sondern in der einen oder anderen Weise die Basisoperation sämtlicher Wissenschaften.18 Auch philoso­ phische und andere wissenschaftliche Richtungen, die auf Distanz zur Herme­ neutik gehen, kommen letztlich nicht ohne methodisch geregeltes Verstehen aus.19 Das gilt auch und gerade für die heute dominierende sprachanalytische Philosophie, obwohl diese nicht hermeneutisch, sondern formal-logisch vorge­ hen will. Sogar Michel Foucaults Anspruch, Phänomenologie, Strukturalismus und Hermeneutik hinter sich zu lassen, sollte nur auf eine wirkungsvollere Art des Verstehens hinauslaufen.20 1981/82 sprach er über eine Hermeneutik des Selbst, die er mittels einer ziemlich traditionellen Auslegung antiker Texte und Praktiken in Angriff nahm.21 Die reinliche Trennung von Erklären und Verstehen, von nomothetischen Natur- und ideographischen Geisteswissen­ schaften, die in der älteren Geschichte der Wissenschaft unbekannt war und erst im 19. und 20. Jahrhundert erfunden wurde, kann sowieso aufgegeben werden.22 Schon Dilthey hegte in dieser Hinsicht Zweifel.23 Da meine Analyse in vergleichender Absicht erfolgt und unter anderem mit einer entsprechenden Untersuchung über Textkultur und Lebenspraxis im Judentum konfrontiert werden soll, ergibt sich ein Zurechnungsproblem hinsichtlich der zahlreichen jüdischen Beiträge zur abendländischen Kultur des Verstehens der Welt und des Menschen. Karl Marx und Sigmund Freud24 gehören in dieser Hinsicht in 18 Jung, Hermeneutik (Anm. 2), 133, 148  ; Axel Horstmann, Positionen des Verstehens – Her­ meneutik zwischen Wissenschaft und Lebenspraxis, in  : Friedrich Jaeger/Jürgen Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2  : Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart 2004, 341–363, hier 341 f. 19 Vgl. z. B. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Hermeneutik und Reflexion. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, Frankfurt 2000, 3 zur Phänomenologie oder Paul Ricœur, Der Konflikt der Interpretationen, Bd. 1  : Hermeneutik und Strukturalismus, München 1973 (franz. 1969), 27 und 79 zu Phänomenologie und Strukturalismus. 20 Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault jenseits von Strukturalismus und Herme­ neutik, 2. Aufl., Weinheim 1994, 14. 21 Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collegè de France (1981/82), Frankfurt 2004, 599. 22 Gerhard Schurz, Erklären und Verstehen  : Tradition, Transformation und Aktualität einer klassischen Kontroverse, in  : Jaeger/Straub, Handbuch (Anm. 18), 156–174, hier 157, 169, 172  ; vgl. Paul Ricœur, Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), Ham­ burg 2005, 103. 23 Jung, Hermeneutik (Anm. 2), 74. 24 Justin Miller, Interpretations of Freud’s Jewishness, 1924–1974, in  : Journal of the History of Behavioral Sciences 17 (1981) 357–374  ; John F. Toews, Historicizing Psychoanalysis  : Freud

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eine lange Reihe. Die sprachbesessenen Intellektuellen des Westens sind häufig Juden wie Ludwig Wittgenstein und Jacques Derrida.25 Sie alle gehören freilich ebenso oder sogar zuerst zur Geschichte des abendländischen Denkens und Handelns, so dass ich einstweilen auf die Frage nach spezifisch jüdischen Ele­ menten in ihren Werken verzichten bzw. sie kompetenterem Urteil überlassen kann. Ein derartig weit reichendes Feld, das sich bis zu jüdischen, griechischen und römischen Ursprüngen erstreckt, lässt sich freilich trotz zahlloser Lese­ früchte nicht mit abschließender wissenschaftlicher Akribie beackern, sondern nur eklektisch und oberflächlich vermessen. Ich hoffe dennoch, bei der an­ schließenden (II) diachronen und (III) synchronen Übersicht nicht in Plattitü­ den zu versinken, sondern trotz Verzichtes auf Absicherung durch imposantes Namedropping auf quasi-philosophische Weise meine Wahrnehmung unseres Weltverstehens zu einem sinnvollen Bild zu formen. Mit einem diachronen Durchgang zu beginnen, ist deswegen nötig, weil viele Phänomene der Gegen­ wart nur historisch zu erklären sind.

II

»Im Anfang war das Wort […] und das Wort war Gott« heißt es am Anfang des Johannesevangeliums, jener wegweisenden Synthese jüdischen und griechi­ schen Denkens aus dem ersten Jahrhundert, das sich im sinnbeladenen Begriff »Wort« trifft. In der Bedeutung von hebräisch dabar sind Wort, Sache und Geschehen noch beisammen wie ursprünglich auch im griechischen logos, ob­ wohl es dort nicht dabei bleiben sollte.26 Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts schrieb die atheistische französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir immer noch  : »Woher kommt diese außerordentliche Macht des Wortes  ? […] Zweifel­ los sind die Worte, die universellen, die ewigen Worte, alle in jedem einzelnen gegenwärtig und das einzige Transzendente, das ich anerkenne und das mich in His Time and for Our Time, in  : Journal of Modern History 63 (1991) 504–545, bes. 524–529. 25 Elisabeth Weber, Gedächtnisspuren. Jacques Derrida und die jüdische Tradition, in  : Wer­ ner Stegmaier (Hg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt 2000, 461–487. 26 Konrad Ehlich, dabar und logos. Kursorische Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Geschichte, in  : Jürgen Trabant (Hg.), Sprache der Geschichte (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 62), München 2005, 27–39.

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bewegt.«27 Ob es eine andere Kultur mit einer derartigen Sprachbesessenheit gibt wie die unsrige  ? Allerdings handelt es sich dabei um das geschriebene Wort. Und mit der schriftlichen Fixierung von normativen Texten wird das Problem des Verste­ hens erst richtig brisant. Denn infolge der »Festschreibung« des Textes besteht von nun an die Möglichkeit unterschiedlicher Auslegung. Das Problem ver­ schärft sich noch weiter, wenn es sich um völlig bzw. relativ abgeschlossene ka­ nonische bzw. klassische Textkorpora handelt. Denn mündliche Überlieferung wird fortentwickelt, gewöhnliche Texte werden fortgeschrieben, kanonische und klassische Texte hingegen können streng genommen nur noch interpre­ tiert werden.28 Grundsätzlich sind unsere Sprachen im Gegensatz zur Kunst­ sprache der Mathematik immer mehrdeutig, unterliegen dem Verdacht auf überschießenden Sinn, dessen Spielraum durch Verschriftlichung nur schein­ bar eingeengt wird. Auf der einen Seite lebt unsere Kultur vom Reichtum des überschießenden Sinnes, auf der anderen Seite entsteht Verunsicherung, die durch dogmatische Festlegung der richtigen Lesung überwunden werden will. Das Fehlen von Vokalzeichen in semitischen Alphabeten konnte bisweilen bereits das bloße Lesen der jüdischen Bibel zu einer Interpretationsleistung machen. Ähnliches gilt für ältere griechische und lateinische Texte, in denen Wortabstände ebenso fehlten wie Satzzeichen und Akzente.29 Auf diese Weise konnten Experten für Schrift zu Experten für Auslegung werden. Doch gerade weil die Bibel als ein für alle Mal vollkommener Text galt, konnte es keine al­ lein wahre Auslegung geben. Denn »das Wort geht den Dingen voran und ist wirklicher als diese«.30 Wenn in der zweiten Schöpfungsgeschichte des Buches Genesis, derjenigen des Jahwisten, alle Tiere von Adam ihre Namen erhalten, dann zeigt das, wie sich der Mensch mittels der Sprache die Welt aneignet. Zugleich schafft Adam damit die einheitliche Sprache des Paradieses, die Ursprache der Menschheit, nach der noch moderne Linguisten gesucht haben. Denn die Strafe Gottes für den Turmbau zu Babel war die sprachliche Vielfalt, 27 Simone de Beauvoir, Der Lauf der Dinge, Reinbek 1970, 616. Wahrscheinlich müsste man heute »Wörter« schreiben. 28 Bernd Springer, Die antiken Grundlagen der neuzeitlichen Hermeneutik, Frankfurt 2000, 28–30  ; Gerd Theissen, Die Entstehung des Neuen Testamentes als literaturgeschichtliches Problem, Heidelberg 2007, bes. 342. 29 Harald Haury, Grammatik und Rhetorik als universelle Propädeutik des Textumgangs (unver­ öffentlichtes Manuskript). 30 Günter Stemberger, Griechisch-römische und rabbinische Hermeneutik, in  : Communio Vi­ atorum 41 (1999) 101–115, hier 113.

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die Verurteilung zum Nicht-Verstehen. Demgegenüber läuft die unausrottbare europäische Vorstellung von Sprache darauf hinaus, dass sprachliche Einheit gut, sprachliche Vielfalt schlecht ist. Wir kennen die Folgen im Zeichen des Nationalismus. Und die Versuche, Nicht-Verstehen durch Verstehen zu korri­ gieren, gleichsam das Pfingstwunder künstlich zu reproduzieren, stößt auf die bis heute nicht völlig gelöste Frage, ob es sich nur um eine Verschiedenheit der Laute handelt oder um ein anderes Denken.31 Die Griechen, die unsere Logik, Grammatik und Rhetorik geschaffen haben, fanden darauf eine Antwort, die bis in die Neuzeit maßgebend blieb. Im Ge­ gensatz zum jüdischen Denken, das als historisch bezeichnet wird,32 ist griechi­ sches Denken analytisch. Die Eigenschaften eines Objekts werden eingeschätzt, um es einer Kategorie zuordnen zu können und damit die Regeln zu finden, die sein Verhalten leiten. Solche Regeln konnten hochabstrakt sein wie dieje­ nigen der Logik. Damit war außerdem die Vorstellung von Kontrolle über das Objekt verbunden. Schließlich entwickelte dieses Denken eine Tendenz zur Reflexivität  ; es fing an über sich selber und die Gründe für seine »Erfolge« und »Misserfolge« nach­ zudenken. Zur Kontrolle über die Gegenstände kam die Selbstkontrolle und damit ungeachtet des allgemeinen menschlichen Eigensinns die Möglichkeit zur Kurskorrektur. Der Triumph der westlichen Naturwissenschaft und Technologie beruht nicht zuletzt darauf, dass sie ihre Abläufe und Techniken nicht nur selbstver­ ständlich, quasi-handwerklich praktiziert und allenfalls fallweise erklärt hat, sondern sie stattdessen einer konsequenten Analyse unterwarf, dank deren sie planmäßig verbessert und theoretisch gelehrt werden konnten. Die wichtigste Veröffentlichung der französischen Aufklärung, die Encyclopédie, ist nicht zu­ letzt auch ein reich illustriertes technologisches Lehrbuch gewesen. Noch heute will die westliche Wissenschaft die ganze Welt ihrem einheitli­ chen logischen und mathematischen Gesetz unterwerfen, während asiatische Denkweisen angeblich dazu neigen, das Universum als gegeben hinzunehmen und die jeweiligen Befunde geschickt zum eigenen Nutzen einzufügen. Noch heute sucht westliches Denken durch vernünftige Argumentation, die sich an Prinzipien orientiert, nach der Wahrheit, während asiatische Denkweisen angeblich dazu neigen, vom Einzelfall auszugehen und Lösungen von Kon­ 31 Jürgen Trabant, Europäisches Sprachdenken von Platon bis Wittgenstein, München 2006, 16–23. 32 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 25.

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templation und Kommunikation zu erwarten. Man erstrebt dort angeblich Konsens statt den kreativen Konflikt zu pflegen.33 War die Folge das Fehlen von Reflexivität im westlichen Sinn  ? Oder gab es dort nur eine andere Art von Reflexivität  ? Oder ist dieser angebliche Gegensatz nichts als eine »orientalisti­ sche« Kreation des alteritätsfixierten Westens, einst von Überlegenheitsgefühl, heute von nostalgischem Neid getragen  ? Immerhin wäre mit diesem Unter­ schied zu erklären, warum in China Kommunismus und Kapitalismus zwar nicht spannungsfrei, aber doch mit beträchtlichen Synergieeffekten zusam­ menleben können. Chinesen haben offenbar ein sehr viel geringeres Bedürfnis, an einer derartigen Konstellation Anstoß zu nehmen als auf klare Verhältnisse erpichte Angehörige der westlichen Kultur. Doch wie dem auch sei, die Griechen gingen selbstverständlich von der Ein­ heit der Sprache aus, in der Praxis allerdings dadurch, dass sie sich nur für das Griechische interessierten. Es dürfte für die kulturelle Situation der Gegenwart überaus bezeichnend sein, dass auch unsere heutige Kognitionswissenschaft eine angeborene Denksprache, Mentalese genannt, konstruiert hat, deren Ei­ genschaften »natürlich« eine auffallende Verwandtschaft mit dem Englischen aufweisen.34 Den Griechen fiel diese Einstellung leicht, denn nach Aristoteles finden Denken und Erkenntnis sowieso ohne Sprache auf unmittelbare Weise statt. Sie haben daher universalen Charakter und sind bei allen Menschen gleich. Wörter sind nur Zeichen oder Symbole, aber nicht für die Sachen selbst, sondern für deren Abbilder in der Seele. Ihre Verschiedenheit kommt durch kontingente Setzung von Signifikanten zwecks Kommunikation zustande. Kognition und Kommunikation bleiben getrennt. Aristoteles’ Schrift über die Wahrheit im Aussagesatz Peri hermeneias (De interpretatione) war dafür auch im Mittelalter maßgebend. Danach erfolgt Verstehen durch sympatheia, indem der verstehen­ den Seele dasselbe widerfährt wie der Seele des Autors. Allerdings wurden sich 33 Shigeru Nakayama, Academic and Scientific Traditions in China, Japan, and the West, Tokyo 1984  ; Ary A. Roest Crollius, Prophet and Sages. Some Notes for a Typology of Religious Pluralism, in  : Francis X. D’Sa/Roque Mesquita (Hg.), Hermeneutics of Encounter. Essays in Honour of Gerhard Oberhammer, Wien 1994, 191–202, hier 199  ; Stefan Strohschneider, Denken Inder anders  ? Über die Kulturabhängigkeit strategischen Denkens, in  : Forschung & Lehre 7 (2001)  ; G. E. R. Lloyd, The Ambitions of Curiosity. Understanding the World in Ancient Greece and China, Cambridge 2002, 65 f., 96 f., 116 f., 122 f.; Richard E. Nisbett/ Takahiko Masuda, Culture and Point of View, in  : Proceedings of the National Academy of Sciences (USA) 100/19 (2003) 11163–11170. 34 Vgl. Jerry A. Fodor, In Critical Condition  : Polemical Essays on Cognitive Science and the Philosophy of Mind, Cambridge/MA/London 1998, 63–74. Hinweis von Matthias Jung.

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verschiedene antike Philosophen im Lauf der Zeit der Schwierigkeiten, die bei Abwesenheit des Autors und infolge sprachlich-kultureller Differenz auftreten können, ebenso bewusst wie der Notwendigkeit von Wissen und interpretato­ rischer techne als Voraussetzungen des Verstehens.35 In der Poesie blieb der philosophische Wahrheitsanspruch suspendiert, aber sie erhielt ihre eigene Wahrheit. Aristoteles identifizierte unter anderem den Unterschied von wörtlicher und metaphorischer Rede.36 Die Griechen wollten nämlich auf die Göttermythen Homers und Hesiods nicht verzichten, obwohl diese inzwischen als anstößig galten. Also wurde ihnen durch Auslegung ein moralischer und rationaler Charakter verliehen, der sie auch mit dem Weltbild der Stoa vereinbar machte. Seit dem 1. Jahrhundert nach Christus wird dieses Verfahren »Allegorie« genannt.37 Auch beim performativen Sprachgebrauch des Redners, der zum Handeln bewegen will, braucht die Wahrheit nicht im Vordergrund zu stehen. Die Grie­ chen entwickelten hierfür eine Kunstlehre, die Rhetorik. Schließlich entstand als Hilfsmittel zur Lektüre der Klassiker im Hellenismus die Grammatik, die vor allem die Laute und die acht nach ihrer Stellung im Satz definierten Wort­ arten behandelte. Damit beginnt die abendländische Reflexion der Sprache auf sich selbst, die Sprachwissenschaft.38 Das römische Imperium kannte zwei Universalsprachen, das Griechische und das Lateinische, das nach dem Vorbild des Griechischen seine Grammatik erhielt. Diese sollte für beinahe zwei Jahrtausende für jede europäische Be­ schäftigung mit Sprache maßgebend werden. Aber Rom gab anders als Grie­ chenland nicht der semantisch-kognitiven Philosophie, sondern der pragma­ tisch-performativen Rhetorik das größere Gewicht.39 Das mündliche Moment der Sprache war hier wichtiger als z. B. in China.

35 Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991, 25  ; Arne Moritz, Verstehen als sympatheia  : zur aristotelischen Schrift Peri hermeneias und dem klas­ sischen Paradigma philosophischer Hermeneutik im Abendland (unveröffentlichtes Manu­ skript)  ; Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 23–34. 36 Lloyd, Ambitions (Anm. 33)  ; Springer, Grundlagen (Anm. 28), 89–99. 37 Grondin, Einführung (Anm. 35), 29–33  ; Jung, Hermeneutik (Anm. 2), 31 f.; Horstmann, Positionen (Anm. 17), 344  ; Henning Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung, 4 Bde., München 1990–2001, Bd. 1, 37–43. 38 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 36–38  ; Haury, Grammatik (Anm. 29)  ; Springer, Grund­ lagen (Anm. 28), 129–139  ; Rudolf Pfeiffer, Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, 2. Aufl., München 1978. 39 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 38–45.

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Aber die lateinische Rhetorik war mehr als eine sophistische techne. Sie konnte vielmehr auf die Stiftung menschlicher Vergemeinschaftung durch Kommunikation hinauslaufen und damit philosophisch-ethischen Charakter annehmen, wozu von Geschichtsschreibung und Biographie moralische Ex­ empel geliefert wurden,40 was bis weit in die europäische Neuzeit üblich blieb. Also hat nicht erst Ludwig Wittgensteins zweite Philosophie in der Vielfalt kommunikativen Handelns, den berühmten »Sprachspielen«, Philosophie und Rhetorik wieder zusammengeführt.41 Vielmehr leitet sich von der lateinischen Rhetorik eine philosophisch-pädagogische Vorstellung her, für die vollen­ dete Sprachbeherrschung ein grundlegender und unverzichtbarer Bestandteil menschlicher Vollkommenheit ist. Sie hat dank Renaissance-Humanismus und Neu-Humanismus im doppelten Sinn »Schule gemacht« und zu der viel kriti­ sierten Sprachlastigkeit europäischer Oberschullehrpläne geführt. Allerdings hat die europäische Tradition die Kritik daran von Anfang an mitgeliefert. Schon Platos Kratylos stellte fest, dass unser Geist zur Kenntnis der Sachen strebe, weil er vom Geschwätz der Wörter leer gelassen werde. Und so­ gar im Zeitalter des sprachsüchtigen Renaissance-Humanismus protestierte der Philosoph Pietro Pomponazzi gegen die Vergeudung der besten Jugendjahre durch das Sprachenlernen, das doch sowieso nur die niedere Verstandeskraft des Gedächtnisses anspreche.42 Zur sprachlichen Bildung Europas hat das zweisprachige Rom außerdem seine Kunst der Übersetzung beigetragen. Denn jetzt musste auf breiter Front übersetzt werden. Übersetzen wurde ein wichtiges Kulturphänomen und da­ her wie andere Aspekte der Sprache zum Gegenstand von Reflexion gemacht. Die Äußerungen von Marcus Tullius Cicero, Libellus de optimo genere oratorum, und von Quintus Horatius Flaccus, Epistola ad Pisones [De arte poetica], blie­ ben bis in die Gegenwart maßgebend mit der Parole, es gelte, nicht von Wort zu Wort, sondern von Sinn zu Sinn zu übersetzen. Allerdings wurde die Ho­ razstelle »nec verbum verbo curabis reddere fidus/interpres« zu Unrecht als Plädoyer für freies Übersetzen gelesen.43 Heutige Linguisten verstehen »unter Übersetzen die Translation eines fixier­ ten und demzufolge permanent dargebotenen bzw. beliebig oft wiederholbaren 40 Martin Corzillius, Antike Geschichtsschreibung (unveröffentlichtes Manuskript). 41 Wie Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 37 behauptet. 42 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 95 f. 43 Astrid Seele, Römische Übersetzer – Nöte, Freiheiten, Absichten. Verfahren des literarischen Übersetzens in der griechisch-römischen Antike, Darmstadt 1995, 89–101  ; Hans J. Vermeer, Skizzen zu einer Geschichte der Translation, Bd. 1, Frankfurt 1992.

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Textes der Ausgangssprache in einen jederzeit kontrollierbaren und wiederholt korrigierbaren Text der Zielsprache.« Translation dient dabei als Oberbegriff für schriftliches Übersetzen und mündliches Dolmetschen,44 die bei Luther be­ grifflich noch ungetrennt waren. Schleiermacher hingegen unterscheidet an­ ders als wir das mechanische Dolmetschen des Geschäftslebens, wo es keine Probleme mit Wortbedeutungen gibt, vom eigentlichen Übersetzen selbständi­ ger Gedanken, wo auch der Übersetzer ungeachtet seiner Befangenheit in der eigenen Sprache einen selbständigen Gebrauch davon machen muss.45 Über­ setzen und Verstehen sind offensichtlich nah verwandt, so dass sich Verstehen sogar als Übersetzen verstehen lässt, denn jeder Kommunikationsakt enthält Übersetzung. Auf der anderen Seite bleibt jede Übersetzung grundsätzlich un­ bestimmt.46 Daher gibt es in der Praxis einen beträchtlichen Spielraum zwischen wortgetreuer Übersetzung, bei der häufig der Sinn leidet (bei Cicero  : ut interpres), sinntreuer, die zu Formveränderungen zwingt, und wirkungstreuer, die zu freier Wiedergabe zwingen kann (bei Cicero  : ut orator). In jedem Fall ist aber der Zweck der Übersetzung maßgebend, der skopos der Theologen, und intratex­ tuelle wie intertextuelle Kohärenz anzustreben.47 Das Mittelalter neigte zur wortgetreuen Übersetzung, die frühe Neuzeit versuchte Texte freier in die ei­ gene Kultur einzufügen  ; bisweilen konnte der Übersetzer dabei geradezu zum kreativen Mitautor werden. Nach 1800 hingegen darf auch der übersetzte Text wieder fremd bleiben, denn im Sinne Schleiermachers soll nicht mehr der Text zum Leser, sondern der Leser zum Text gebracht werden.48 Dass Übersetzen und Auslegen zwei eng verwandte hermeneutische Aktivi­ täten sind, wird spätestens deutlich, wenn es um die Bewältigung sprachlich-­ 44 Katharina Reiß/Hans J. Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 2. Aufl., Tübingen 1991, 8. 45 Reiß/Vermeer, Grundlegung (Anm. 44), 16 f. 46 George Steiner, Nach Babel. Aspekte der Sprache und Übersetzung, Frankfurt 1981 (engl. 1975), 43, 47 u. ö.; Gabriele Cappai, Grundlagentheoretische und methodologische Bemer­ kungen zum Interpretieren und Übersetzen als interkultureller Operation. Für einen mögli­ chen Dialog zwischen analytischer Philosophie und Sozialwissenschaften, in  : Arnold Zingerle/ Gabriele Cappai (Hg.), Sozialwissenschaftliches Übersetzen als interkulturelle Hermeneutik, Mailand/Berlin 2003, 107–131, der sich vor allem mit W. O. Quine und seinen Nachfolgern auseinandersetzt. 47 Reiß/Vermeer, Grundlegung (Anm. 44), 35, 53, 95 f., 108–118  ; höchst anregend  : Umberto Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen, München 2006. 48 Peter Burke, Lost (and Found) in Translation  : a Cultural History of Translators and Transla­ ting in Early Modern Europe, Wassenaar 2005, 14f.

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kultureller Differenz geht. Wenn man eine Kultur verstehen will, gilt es laut Salman Rushdie, sich vor allem auf deren unübersetzbare Wörter zu konzen­ trieren49 – aber das stellt erhöhte Anforderungen an die Interpretation. Die elementaren Probleme mit Reim, Versmaß, Maßen und Gewichten, mit unter­ schiedlichen Regeln für dieselbe Textsorte, z. B. deutsche oder englische Briefe, sind bekannt. Es gibt aber noch subtilere Differenzen  : »Le général de Gaulle est mort. La France est veuve« ist mit »General de Gaulle ist tot. Frankreich ist Witwe« durchaus korrekt und verständlich über­ setzt. Ein Deutscher ohne Französischkenntnisse, der nicht weiß, dass »Frank­ reich« auf Französisch weiblich ist, könnte diese Übersetzung allerdings unan­ gemessen und lächerlich finden. Mit »General de Gaulle ist tot. Frankreich ist verwaist« stimmt für ihn die Metapher wieder,50 und zwar nicht nur gramma­ tikalisch, sondern auch politisch. Denn damit wird die französische politische Tradition der mystischen Ehe des Monarchen mit der Nation durch die einzig­ artige deutsche Vorstellung vom Landesvater ersetzt. Das Christentum hatte Probleme mit der Übersetzung seiner heiligen Schriften aus dem Griechischen und Hebräischen ins Lateinische. Der Kir­ chenvater Hieronymus als Autor der maßgebenden lateinischen Bibelüberset­ zung, der Vulgata, ging von der bisweilen eigenwilligen Übertragung der jüdi­ schen Bibel ins Griechische, der Septuaginta, als ursprünglicher Vorlage zum hebräischen Urtext über, plädierte aber für sinngemäße Übersetzung, obwohl er sich mit Rücksicht auf die Heiligkeit des Textes in Wirklichkeit eng an die Vorlage hielt.51 Der Umgang mit der jüdischen Bibel machte dem Christentum Schwierigkeiten, weil ihm vieles darin fremd war. Aber weil Jesus selbst sich ausdrücklich darauf bezogen hatte, musste es sie zu seinem »Alten Testament« machen. Doch Jesus hatte auch in Gleichnissen geredet, so dass es sich an­ bot, auf die allegorische Auslegung zurückzugreifen, mit der sich bereits der Jude Philo von Alexandria von der rabbinischen Auslegung der Thora getrennt hatte.52 Der Apostel Paulus selbst legt (Gal 4,21–24) die Geschichte der zwei 49 Burke, Translation (Anm. 48), 6  ; vgl. Martin J. Sattler, »Nicht-Übersetzen« als Möglichkeit prägnanter Wiedergabe. Übersetzungsprobleme bei einem Autor wie Eric Voegelin, in  : Zin­ gerle/Cappai, Übersetzen (Anm. 46), 401–407. 50 Reiß/Vermeer, Grundlegung (Anm. 44), 215. 51 Seele, Übersetzer (Anm. 43), 90  ; Reventlow, Epochen (Anm. 37), Bd. 2, 39–52. 52 Reventlow, Epochen (Anm. 37), Bd. 1, 44–49  ; Hans Weder, Abschied von der Welt und Ausdehnung des Ich. Die Allegorese bei Philo von Alexandrien und die Schriftauslegung der Gnosis, in  : Paul Michel/Hans Weder (Hg.), Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik I, Zürich 2000, 93–113.

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Frauen und Söhne Abrahams als Allegorie des Alten und des Neuen Bundes aus. Doch wenn bei Philo wörtlicher und allegorischer Sinn dem Verhältnis von Körper und Seele entsprechen, dann ergab sich daraus eine Neigung zur Esoterik, die den geheimen »wirklichen« Sinn für eine kleine Elite reservierte. Diese Tendenz findet sich auch bei Origenes, dem systematischen Begründer der christlichen Allegorese, der einen körperlichen, seelischen und geistlichen Schriftsinn unterschied und dieses Verfahren auch auf das Neue Testament anwandte. Das ging manchen Theologen zu weit, vor allem der sogenannten Schule von Antiochia. Freilich handelte es sich in der Praxis auch bei Orige­ nes hauptsächlich um einen doppelten Schriftsinn, den wörtlichen und den sogenannten typologischen, der die Schrift auf den skopos Christus bezog und überall dessen Vor-Bilder (typoi) entdeckte. So bedeuten z. B. die drei Tage des Propheten Jona im Bauche des Walfischs die drei Tage der Grabesruhe Christi. Auf den Schultern des Origenes steht die Theorie vom vierfachen Schrift­ sinn, die vom 5. Jahrhundert an runde 1000 Jahre vorherrschte, in den Worten eines spätmittelalterlichen Merkverses  : Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia.

Zum wörtlichen, allegorischen und moralischen Schriftsinn kommt die End­ zeitperspektive des anagogischen  ; das historische Jerusalem bedeutet demnach zugleich die streitende Kirche, das neue Leben des Getauften und die trium­ phierende Kirche der Endzeit.53 Aurelius Augustinus, der Kirchenlehrer des Abendlandes, von dem sich nicht nur Martin Luther, sondern auch Martin Heidegger und Hans-Georg Gada­ mer bei ihren hermeneutischen Überlegungen inspirieren ließen, schränkte die Anwendung des mehrfachen Schriftsinns auf die wenigen Fälle ein, wo die Bibel eindeutig dunkel ist, vor allem im Alten Testament. Im Gegensatz zu Origenes war für ihn »die Allegorese nicht das erste, sondern das letzte Mittel 53 Grondin, Einführung (Anm. 35), 33–42  ; Jung, Hermeneutik (Anm. 2), 33–38  ; Harald Haury, Die Bibelauslegung der Antike  : Kanon und Theologie – Auslegung zwischen paganer Routine und christologischer Hermeneutik (unveröffentlichtes Manuskript)  ; ders., Die Bibel­ auslegung des Mittelalters  : Tradition und Entwicklung – Textform und Schriftsinn (unveröf­ fentlichtes Manuskript)  ; Reventlow, Epochen (Anm. 37), Bd. 1, 170–193  ; Springer, Grundla­ gen (Anm. 28), 208–233  ; Theresia Heither, Origenes als Exeget. Ein Forschungsüberblick, in  : Georg Schöllgen/Clemens Schölten (Hg.), Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum. Festschrift für Ernst Dassmann, Münster 1996, 141–153  ; Henning Brink­ mann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, 226–256.

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der Bibelexegese«.54 Denn im Regelfall ist die Schrift auch für einfache Ge­ müter auf Anhieb verständlich. Für die Auslegung schwieriger Stellen ist aber nicht nur Sprachkenntnis einschließlich der rhetorischen Figuren erforderlich, sondern eine spezielle, vom Geist der Liebe geleitete Herangehensweise. Sie läuft auf den behutsamen Respekt vor dem Text hinaus, der dem principle of charity der modernen Sprachphilosophie verwandt ist, das ist die außersprach­ liche Unterstellung, dass ein Sprecher eine wie immer geartete Wahrheit zum Ausdruck bringen möchte. Sprachphilosophisch bleibt Augustinus bei der Innerlichkeit der Erkenntnis und dem bloßen Zeichencharakter der geäußerten Wörter, aber dennoch ist seine Erkenntnis anders als bei Aristoteles ebenfalls Wort, analog zum göttli­ chen logos. Doch das geäußerte Wort ist stets nur ein unvollkommenes Abbild des sprachlosen inneren Wortes des Herzens. Daraus ergibt sich eine unaufheb­ bare Unvollkommenheit der Wahrheitsartikulation, aus der Gadamer später den dialogischen Charakter seiner Hermeneutik abgeleitet hat, wo das Gesagte unaufhörlich nach dem Gemeinten fragt.55 Sollte es eine relative Aufwertung der Wörter durch christliche Wortmystik gegeben haben  ? Denn ein Nebenzweig des Auslegens erhielt jetzt ebenfalls Auftrieb, die inverse Semantik der älteren Etymologie. Bereits in Platos Kratylos wurde ein natürlicher Zusammenhang von Wort und Sache oder von ver­ schiedenen Sachen diskutiert, wenn die entsprechenden Wörter ähnlich sind. Aus der Ähnlichkeit von griechisch soma (Körper) und sema (Zeichen, Grab) wurde gefolgert, dass der Körper Zeichen und Grab der Seele sei. Isidor von Sevilla präsentierte das Wissen seiner Zeit in derartigen etymologischen Zu­ sammenhängen. Erst die moderne Wortgeschichte hat diese Volksetymologie verabschiedet – aber nicht vollständig, denn Heidegger greift gelegentlich da­ rauf zurück.56 Auf dieser jüdischen, griechisch-römischen und christlichen Grundlage ar­ beitete das Mittelalter an der Auslegung der christlichen und antiken auctoritates. Die Bibel stand dabei weit mehr im Mittelpunkt, als oft angenommen 54 Ronald Kurt, Hermeneutik. Eine sozialwissenschaftliche Einführung, Konstanz 2004, 62. 55 Grondin, Einführung (Anm. 35), 42–52  ; Jung, Hermeneutik (Anm. 2), 41 f.; Trabant, Sprachdenken (Anm. 28), 45–52  ; Haury, Bibelauslegung der Antike (Anm. 53)  ; Arne Moritz, Christianisierter logos und christianisierte sympatheia  : Philosophische Hermeneutik inner­ halb der christlichen Philosophie des Mittelalters (unveröffentlichtes Manuskript)  ; Reventlow, Epochen (Anm. 37), Bd. 2, 85–104  ; Springer, Grundlagen (Anm. 28), 303–343. 56 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 27, 42, 50  ; Reventlow, Epochen (Anm. 37), Bd. 2, 114– 118  ; Stephen A. Barney u. a. (Hg.), The Etymologies of Isidor of Seville, Cambridge 2006.

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wurde. »Die Sprache und Bildwelt der Intellektuellen war von ihr geprägt.«57 Mittelalterliches Denken lässt sich insofern als eine einzige gigantische herme­ neutische Anstrengung begreifen, wobei im Einzelnen durchaus theoretische Fortschritte erzielt wurden.58 Dabei wurde der Einzugsbereich der Hermeneutik zwischenzeitlich auf das Recht ausgeweitet, weil es damals im Abendland zu einer folgenreichen Abwei­ chung vom rechtsethnologischen Normalfall kam. Jener bestand entweder in der mündlichen Überlieferung von Rechtsgewohnheiten oder höchstens in der Fortbildung des Rechts anhand der Entscheidung von Einzelfällen. Systematik lief auf deren Sammlung und Ordnung hinaus. Späteres europäisches Rechts­ bewusstsein hat anmaßend von endemischer Rechtlosigkeit außereuropäischer Kulturen gesprochen.59 Selbstverständlich gab es auch dort Auslegungsregeln, aber diese waren selten explizit und eher unsystematisch. Das gilt auch für das antike Römische Recht. Doch als dessen spätantike Sammlung im 11. Jahrhundert wiederentdeckt wurde, betrachtete man sie als Korpus geltenden Rechts, das der Auslegung be­ durfte, analog zur theologischen Auslegung der Bibel. Dabei dürfte weniger die juristische Bibelauslegung der jüdischen Rabbinen60 als das biblisch gespeiste Kirchenrecht den Schrittmacher gespielt haben. Durch Ansiedlung an den so­ eben entstehenden Universitäten wurde das Verfahren standardisiert und pro­ fessionalisiert. Seine Systematisierung ließ freilich noch auf sich warten. Das stand bemerkenswerten Interpretationsleistungen nicht im Wege, etwa der ele­ ganten Heranziehung privatrechtlicher Bestimmungen zur Begründung poli­ tischer Souveränität.61 Insgesamt allerdings scheinen Theorie und Praxis des Verstehens aber erst im Zeichen des Renaissance-Humanismus und der Kirchenspaltung wieder einen deutlichen Entwicklungsschub erlebt zu haben. Mit dem Renaissance-Huma­ nismus gewann die Präsenz der antiken Texte eine neue Qualität. Sie wurden nicht mehr als selbstverständlicher Bestandteil der eigenen Kultur empfunden, sondern als historisch, bis zu einem gewissen Grad sogar als fremd wahrgenom­ 57 Haury, Bibelauslegung des Mittelalters (Anm. 53), 1. 58 Moritz, Christianisierter logos (Anm. 55)  ; Brinkmann, Hermeneutik (Anm. 53). 59 Nach Hans Albert, Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens, Tübingen 1994, 165. 60 Stemberger, Hermeneutik (Anm. 30), 103–105. 61 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Vergleichende Verfassungsgeschichte Euro­ pas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 35–37, 282–286  ; Martin Corzillius, Rechtsausle­ gung  : Mittelalter/Frühe Neuzeit (unveröffentlichtes Manuskript).

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men, gerade weil sie auf ganz neue Weise zum idealen Vorbild und kritischen Maßstab für die unzulängliche Gegenwart aufrückten. Das begann mit der »Reinigung« der europäischen Kultursprache, des La­ teins, mit dem nun im Gegensatz zu seiner bisherigen selbstverständlichen Be­ nutzung ein regelrechter Kult getrieben wurde.62 Zugleich wurde man sich der historischen Rolle des Lateins als Sprache des Imperiums neu bewusst. Sprache wurde als Machtinstrument identifiziert, was sich auf Volkssprachen übertragen ließ, nicht zufällig zuerst auf das Kastilische, das zu diesem Zweck analog zum Lateinischen durch seine erste Grammatik diszipliniert und verfügbar gemacht wurde.63 Damit war auch eine Neubewertung der Rhetorik verbunden. Rhetorik als Philosophie wurde möglich, und mit Lorenzo Valla tauchte erstmals ein Sprachtheoretiker auf, der von der herrschenden Auffassung abwich, Sprache sei eine Art Repräsentation von Sachen. Laut Valla wird Realität von der Spra­ che nicht repräsentiert, sondern konstituiert. Mit dem von der Natur gegebe­ nen Rohstoff an Lauten erfindet der Mensch Neues in Gestalt von Wörtern und deren Bedeutung. Die Welt wird von ihm auf diese Weise zum zweiten Mal erschaffen.64 Demgemäß lehrten humanistische Juristen anstelle der üb­ lichen Unterscheidung von verba und mens der Rechtstexte, die sich an der theologischen Unterscheidung des mehrfachen Schriftsinns orientierte, dass der Sinn einer Vorschrift sich immer aus den Wörtern ergebe und Interpre­ tation auf Ermittlung der Wortbedeutung hinauslaufe.65 Das bedeutet aber, dass die Sprache nicht so folgenlos für das Denken ist, wie man im Gefolge der Griechen geglaubt hatte. Die Kraft der überlieferten oder selbsterfunde­ nen Wörter kann sich gegen den Verstand wenden. Deswegen muss im Inte­ resse der neuen Erfahrungswissenschaft Sprachkritik und die Reinigung des Verstandes von Vorurteilen (idola) stattfinden. Mit diesen Forderungen, die Francis Bacon 1620 erhob, kündigt sich die analytische Sprachphilosophie an.66 Die Reformation baut auf der Philologie der Humanisten auf – ohne Erasmus’ Bibelausgabe keine Bibelübersetzung Luthers. Sie rückt die Sprache aber auch aus theologischen Gründen auf neue Weise in den Mittelpunkt, 62 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 76 f. 63 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 114. 64 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 78. 65 Maximiliane Kriechbaum, Verba und mens in den Interpretationslehren des Humanismus, in  : Jan Schröder (Hg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechts­ wissenschaft, Philosophie, Theologie (Contubernium 58), Tübingen 2001, 47–72. 66 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 105, 125.

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denn die Rechtfertigung sola fide erfolgte sola scriptura. Die »Schrift« war hin­ fort einzige Glaubensquelle. Für Peter Burke hängt damit der Aufstieg des buchstabengetreuen Denkens gegenüber dem bisher dominanten symbolischen zusammen. Möglicherweise sind die Bilderstürme der Reformationszeit damit zu erklären, dass man das Volk lehrte, die Bilder nicht mehr als Symbole, sondern wörtlich zu nehmen, als »Götzen«. Aber vielleicht war wörtlich nehmen seit eh und je eine Eigen­ tümlichkeit des volkstümlichen Denkens gewesen  ? Luther bevorzugte den wörtlichen Schriftsinn, aber er und seine Kollegen griffen in Anlehnung an Augustinus durchaus auch auf metaphorische Ausle­ gung zurück, wenn es für ihr theologisches Konzept erforderlich war. In der Abendmahlsfrage bestand Luther auf dem wörtlichen »Das ist mein Leib« (est) gegenüber Zwinglis symbolischem »bezeichnet« (est=significat).67 Auch den symbolischen Ritualen der Kirche wurde nur noch geringe Bedeutung zu­ gemessen. Sie wurden von Calvin verworfen, von Melanchthon als beliebig (adiaphora) betrachtet und von Luther nur im Hinblick auf ihren volkspäd­ agogischen Wert beibehalten. Selbst im Schoße des Katholizismus hatte man bisweilen Schwierigkeiten damit, sie zu verstehen.68 Von den humanistischen Theologen kannte Erasmus von Rotterdam noch den vierfachen Schriftsinn, bezog sich aber in der Regel nach dem Vorbild des Origenes nur auf den geistlichen. Zu diesem Zweck entwickelte er eine Theorie der Metapher  ; die Allegorie besteht demnach aus einer Kette von Metaphern.69 Melanchthon hingegen legte den Römerbrief entlang der rhetorischen und dia­ lektischen Kunstfiguren aus, die er darin zu identifizieren meinte.70 Martin Luther hat die zu seiner Zeit bereits ausgeleierte Formel, dass »nicht von Wort zu Wort, sondern von Sinn zu Sinn« zu übersetzen sei, mit neuem Inhalt versehen. Wenn er manchmal großzügig mit dem Buchstaben der Vorlage umgeht – bekannt ist die Einfügung des »allein« in Römer 3,28 –, ein andermal seinem hochentwickelten Sprachgefühl zum Trotz am Buchstaben festhält, dann, 67 Pierre Bühler, Allegorese und Sensus literalis in Luthers Hermeneutik. Mit einem Blick auf den Abendmahlsstreit, in  : Michel/Weder, Sinnvermittlung (Anm. 52), 497–513. 68 Vgl. Peter Burke, Der Aufstieg des buchstabengetreuen Denkens, in  : Freibeuter 57 (Oktober 1993) 19–36. 69 Peter Walter, Erasmus von Rotterdam und der mehrfache Schriftsinn, in  : Margot Schmidt/ Fernando Dominguez Reboiras (Hg.), Von der Suche nach Gott. Helmut Riedlinger zum 75. Geburtstag, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 447–462. 70 Rolf Schäfer, Melanchthons Hermeneutik im Römerbriefkommentar von 1532, in  : Zeitschrift für Theologie und Kirche 60 (1963) 216–235  ; Reventlow, Epochen (Anm. 37), Bd. 3, 90–97.

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weil sich diese Notwendigkeit aus dem skopos des Textes ergibt, das ist die Erlö­ sung durch den Glauben an Christus. Man kann die Schrift nur richtig überset­ zen und verstehen, wenn man dank des Heiligen Geistes darüber Bescheid weiß. Man weiß darüber aber nur Bescheid, weil der Heilige Geist dieses Wissen durch dieselbe Schrift bewirkt. Deutlicher als bei Augustinus kommt dieser hermeneu­ tische Zirkel hier deshalb zur Geltung, weil Luther seine Textinterpretation aus dem sozialen Zusammenhang der historischen Auslegungstradition gelöst und radikal auf sich allein gestellt hat. Eher lässt er noch die Geschichtlichkeit des Textes gelten als die seiner Auslegung.71 Die Gewissheit, dabei auf dem richtigen Weg zu sein, gewann Luther aus seiner persönlichen Heilserfahrung. Sie war für ihn der Schlüssel zur Heiligen Schrift. Deswegen ließ sich seine neuartige Her­ meneutik nicht lehren, sondern nur nacherleben. Umso folgenreicher war ihre unterschwellige Weitergabe. Am Beispiel der Geschichtswissenschaft ließ sich nämlich zeigen, dass deutsche Denker mehr als andere ganz im Sinne Luthers dazu neigen, ihre persönliche existentielle Erfahrung zum Maßstab für die Rich­ tigkeit des eigenen wie des fremden Denkens zu machen.72 Johannes Calvin denkt anders. Zwar sind auch bei ihm der reformatorische skopos und der hermeneutische Zirkel aus Klarheit des Textes und Einheit des Schriftsinns vorhanden, aber er verlässt sich mehr als Luther auf eine breite Grundlage historischer und philologischer Wissenschaft. Die eigene Person nimmt er völlig zurück und betont stattdessen den sozialen Zweck der aedificatio ecclesiae.73 Dass radikal hermeneutisches Denken sich nicht im Anschluss an ihn, sondern an Luther entwickelt hat, nimmt nicht Wunder  ! 71 Karl Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst, in  : ders., Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I  : Luther, 6. Aufl., Tübingen 1932, 544–582  ; Birgit Stolt, Luthers Übersetzungstheorie und Übersetzungspraxis, in  : Helmar Junghans (Hg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, Göttingen 1983, 241–252, bes. 241 f., 244  ; Siegfried Rae­ der, Luther als Übersetzer und Ausleger der Heiligen Schrift, in  : ebd., 253–278, bes. 258–261, 268  ; Ulrich Köpf, Die Hermeneutik Martin Luthers, in  : Schröder, Theorie (Anm. 65), 15–29. 72 Wolfgang Reinhard, Martin Luther und der Ursprung der historistischen Geschichtswissen­ schaft in Deutschland, in  : ders., Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 1997, 311–344  ; vgl. Gerhard Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Her­ meneutik (1942), Darmstadt 1962, bes. 391–402, 452  ; Köpf, Hermeneutik (Anm. 71), 22  ; Hans-Georg Gadamer/Gottfried Boehm (Hg.), Seminar  : Philosophische Hermeneutik, Frankfurt 1976, 13, 18. 73 T. D. Parker, A Comparison of Calvin and Luther on Galatians, in  : Interpretation 17 (1963) 61–72  ; H.-J. Kraus, Calvins exegetische Prinzipien, in  : Zeitschrift für Kirchengeschichte 79 (1968) 329–341  ; Alexandre Ganoczy/Stefan Scheid, Die Hermeneutik Calvins, Wiesbaden 1983, 182–185  ; Reventlow, Epochen (Anm. 37), Bd. 3, 118–140.

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Freilich sind ausschließlich hermeneutisch gewonnene Erkenntnisse nie zwingend, es sei denn, sie werden dogmatisiert und zwingend gemacht. Das war im Zeitalter der Glaubensspaltung nur gruppenintern möglich, während die Kirchen nach außen nicht nur über die richtige Bibelauslegung stritten, sondern auch über die eigene historische Legitimation durch Anknüpfung an das Urchristentum. Im Grunde ging es in beiden Fällen um das Problem der Tradition. Die jeweilige eigene Position musste sich aber vor den Texten und vor der Vernunft behaupten lassen. Da beide Seiten immer noch über ein ho­ hes intellektuelles Potential verfügten, erwiesen sich die Konflikte als äußerst kreativ. Auf der einen Seite wurde mit der methodischen Kritik historischer Quellen das Fundament der modernen Geschichtswissenschaft gelegt,74 auf der anderen Seite die hermeneutische Praxis der Reformatoren seit Matthias Flacius Illyricus, Clavis scripturae sacrae (1567) zu einer lehrbaren Methode systematisiert. 1613 taucht der Begriff »Hermeneutik« in einem Lexikon, 1654 in einem Buchtitel auf. Auch Bibelexegese, die uns esoterisch anmutet und der Praxis moderner Sekten entspricht, wusste sich so überzeugend vernünf­ tig zu geben, dass selbst Isaac Newton in seinen exegetischen Schriften diesen Weg zum einfachen Sinn einschlagen konnte, denn Gott war für ihn ein Gott der Ordnung und nicht des Chaos. Dennoch unterschied sich sein exegeti­ sches Denken wahrscheinlich noch wenig von seinem mathematisch-physika­ lischen.75 Inzwischen war man sich längst bewusst, dass auch andere Texte, vor allem juristische, methodisch geregelten Verstehensoperationen unterworfen wurden. Ohne sie völlig von ihren theologischen Wurzeln abzulösen, wurde die Herme­ neutik seit dem 17. Jahrhundert erstmals zu einer universalen Auslegungskunst verallgemeinert.76 Johann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, 1742, ist heute vor allem durch seinen Perspektivismus bekannt  ; seine Sehepunkte sind sogar im Internet verewigt.77 74 Jean Bolland SJ, Acta Sanctorum, Bd. 1 ff., Antwerpen 1643 ff.; Jean Mabillon OSB, De Re diplomatica, Paris 1681  ; Ludovico Antonio Muratori, Rerum Italicarum Scriptores, Bd. 1 ff., Mailand 1723 ff. 75 Reventlow, Epochen (Anm. 37), Bd. 4, 11–21  ; Denis Thouard, Modus interpretandi. Cies et méthodes dans l’hermèneutique de la premiére modernite  : Matthias Flacius Illyricus, Joseph Mede et Isaac Newton, in  : SFB 573  : Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit, Mitteilungen 2/2006, 15–23  ; vgl. Kurt, Hermeneutik (Anm. 54), 68–72. 76 Lutz Danneberg, Logik und Hermeneutik im 17. Jahrhundert, in   : Schröder, Theorie (Anm. 65), 75–131  ; Bormann, Hermeneutik (Anm. 1), 112–117. 77 Sehepunkte. Rezensionsjournal für Geschichtswissenschaften (http://www.sehepunkte.de).

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Georg Friedrich Meier, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst, 1757, nimmt nicht nur mit der hermeneutischen Billigkeit abermals das moderne principle of charity vorweg, sondern steigert, vermutlich von Leibniz beeinflusst, die Her­ meneutik zu einer allgemeinen Zeichenlehre, zur Semiotik.78 Der nächste Schub gehört in den Kontext der deutschen Klassik und Ro­ mantik, der Philologie und des Historismus.79 Im 18. Jahrhundert hatte man gelernt, die Sprachenvielfalt als Reichtum zu betrachten und die historische Entwicklung von Sprachen zu berücksichtigen. Schließlich wurde die Sprache durch Johann Gottfried Herder im Gegensatz zur vorherrschenden Zeichen­ theorie verinnerlicht. Gedanke und Wort rücken näher zusammen, Sprache ist nicht mehr nur Laut, sondern Begriff. Sie dient auch nicht mehr nur der Kom­ munikation, sondern auch dem Denken  ; sie ist ein Organ des erkennenden Geistes. Erkennen ist aber kein Schauen mehr im Sinne der auf Plato zurück­ gehenden Tradition, sondern ein Hören. Herder ist von Haus aus evangelischer Theologe, der in den Spuren Augustins und Luthers denkt. Das schlägt auch in der geradezu ängstlichen Euphorie durch, mit der er die von ihm wirkungs­ mächtiger denn je legitimierte Vielfalt der Völker und ihrer Sprachen in pa­ radoxer Universalität wieder aufhebt  : Letztlich spricht die Menschheit doch dieselbe Sprache, weil ein einziger Geist sie eint – der Heilige Geist in säkularer Gestalt  ?80 Ihre transzendentalphilosophische Formulierung findet diese neue europäi­ sche Vorstellung vom unauflösbaren Zusammenhang von Sprechen und Den­ ken, von Wort und Bedeutung in den sprachwissenschaftlichen Arbeiten Wil­ helm von Humboldts.81 Denn inzwischen ist die moderne Sprachwissenschaft entstanden, als neues Feld des großen Projekts der europäischen Kultur, der Suche nach sicherem und klarem Wissen.82 Auch wenn das streckenweise zu 78 Grondin, Einführung (Anm. 31), 60–78  ; Jung, Hermeneutik (Anm. 2), 44–54  ; Kurt, Herme­ neutik (Anm. 54), 77–84  ; Manfred Beetz, Georg Friedrich Meiers semiotische Hermeneutik, in  : Manfred Beetz/Giuseppe Cacciatore (Hg.), Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung (Collegium Hermeneuticum 3), Köln 2000, 17–30. 79 Bormann, Hermeneutik (Anm. 1), 117–122  ; Joachim Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert, 3 Bde., Tübingen 1926–1933, Ndr. Hildesheim 1966  ; Manfred Riedel, Kunst als »Auslegung der Natur«. Naturästhetik und Hermeneutik in der klassischen deutschen Dichtung und Philosophie (Collegium Herme­ neuticum 5), Köln 2001. 80 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 217–229  ; Kurt, Hermeneutik (Anm. 54), 85–88. 81 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 263  ; Kurt, Hermeneutik (Anm. 54), 111–115  ; Wach, Verstehen (Anm. 79), Bd. 1, 227–266. 82 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 216.

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einem quasi-naturwissenschaftlichen Selbstverständnis der Linguistik geführt hat, wie schon bei Franz Bopp im frühen 19. Jahrhundert,83 so geht es ihr dennoch nach wie vor um Verstehen. August Boeckh hat dafür das umfassende Programm entworfen.84 Auch die von Leopold von Ranke unter dem Einfluss der Philologie neu begründete Geschichtswissenschaft will verstehend inter­ pretieren. Ihre hermeneutischen Grundsätze wurden von Boeckhs Schüler Jo­ hann Gustav Droysen in seinen Historikvorlesungen auf den Punkt gebracht.85 Schließlich findet zur selben Zeit auch die Rechtswissenschaft durch Fried­ rich Carl von Savigny den Anschluss an die neue deutsche Hermeneutik. Er ging nicht mehr von der paritätischen Teilhabe von Text und Ausleger an der zeitlosen Rationalität des Rechts aus.86 Stattdessen war das Verstehen über­ haupt erst durch einen Dialog zwischen Autor und Interpret herzustellen. Da­ bei konnte es durchaus zum besseren Verstehen beim Ausleger kommen, aber immer nur in Rückbindung an die Absicht des Autors. Während im englischen und französischen Rechtskreis die Auslegung eindeutiger Rechtstexte unzuläs­ sig und nur bei Unklarheiten gestattet ist,87 können seit Savignys Wendung zur neuen Hermeneutik auch klare Rechtstexte ausgelegt werden, weil nicht Verstehen, sondern Missverstehen als Normalfall gilt. Trotz engem Zusammen­ hang ist aber eine unmittelbare Abhängigkeit Savignys von der epochemachen­ den Hermeneutik Friedrich Schleiermachers nicht nachzuweisen.88 Denn mit diesem beginnt die philosophische Hermeneutik, der es um das Verstehen des Verstehens auf der Metaebene der Philosophie geht. Sie unter­ scheidet sich von der bisherigen Auslegungslehre, weil sie die Bedingungen der 83 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 246. 84 Grondin, Einführung (Anm. 35), 101–103  ; Kurt, Hermeneutik (Anm. 54), 115–119  ; Wach, Verstehen (Anm. 79), 168–226. 85 Johann Gustav Droysen, Historik, 4. Aufl., München 1960  ; Grondin, Einführung (Anm. 35), 103–110  ; Kurt, Hermeneutik (Anm. 54), 120–125  ; Wach, Verstehen (Anm. 79), Bd. 3, 89– 188. 86 Vgl. Jan Schröder (Hg.), Entwicklung der Methodenlehre in Rechtswissenschaft und Philo­ sophie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Tübingen 1998, bes. die Beiträge von Clausdieter Schott, Oliver R. Scholz und Axel Bühler. 87 Clausdieter Schott, »Interpretatio cessat in claris« – Auslegungsfähigkeit und Auslegungsbe­ dürftigkeit in der juristischen Hermeneutik, in  : Schröder, Theorie (Anm. 65), 155–189. 88 Joachim Rückert, Savignys Hermeneutik – Kernstück einer Jurisprudenz ohne Pathologie, in  : Schröder, Theorie (Anm. 65), 287–327  ; Axel Bühler, Rechtsauslegung und Rechtsfortbildung bei Friedrich Karl von Savigny, in  : ebd., 329–337  ; Stephan Meder, Missverstehen und Verste­ hen. Savignys Grundlegung der modernen Hermeneutik, Tübingen 2004, V, 41 f., 51, 58, 106, 227  ; Martin Corzillius, 19. Jahrhundert  : Gesetzesauslegung (Rechtstheorie) (unveröffentlich­ tes Manuskript).

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Möglichkeit von Verstehen überhaupt verstehen möchte.89 Nicht Verstehen, sondern Missverstehen ergibt sich von selbst, Verstehen ist »der rekonstruktive [Nach]Vollzug einer Produktion«, was darauf hinausläuft, »die Rede[.] zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber«. Verstehen hat eine grammatische und eine psychologische Seite, ist aber stets ein »divinatorischer«, nicht erzwingbarer, schöpferischer Akt.90 Diese Sicht der Dinge hängt mit der romantischen Vorstellung vom unbewussten Schaffen des Künstlers, des Ge­ nies zusammen, die wir heute nicht mehr teilen.91 Schleiermacher war vom Idealismus geprägt, stand unter Verdacht des Spinozismus und Pantheismus, Luther kommt bei ihm nicht vor.92 Aber Verstehen bleibt auch bei ihm not­ wendigerweise immer unvollkommen. Das im Irrtum befangene Individuum ist dafür auf den Dialog mit anderen angewiesen. Denn Verstehen ist nie ab­ geschlossen, eine Lehre, die erstmals Schleiermachers Freund, der Romantiker Friedrich Schlegel, vertreten hat.93 Schleiermacher verwandelte den hermeneu­ tischen Zirkel in eine Spirale  : Vorwissen führt zur Erkenntnis, das Ergebnis stellt Vorwissen für neue Erkenntnis dar.94 Bekannt gemacht, aber auch einseitig psychologistisch dargestellt wurde Schleiermacher erst von seinem Biographen Wilhelm Dilthey, der seinerseits ebenfalls eine Hermeneutik als Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften entwarf. Dabei suchte er zunächst durchaus nach deren Fundierung in der biologischen Wechselbeziehung des Organismus mit seiner Umwelt, ging aber im Spätwerk auf arbeitsteilige Distanz zur Naturwissenschaft.95 Seine Kritik 89 Heinz-Günther Stobbe, Hermeneutik – ein ökumenisches Problem. Eine Kritik der katholi­ schen Gadamer-Rezeption, Zürich 1981. 90 R. Feneberg, Der Begriff des Verstehens in der Literaturwissenschaft, in  : Zeitschrift für katho­ lische Theologie 91 (1969) 184–195. 91 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Herme­ neutik, 2. Aufl., Tübingen 1965 (1. Aufl. 1960), 196  ; F. Mussner, Geschichte der Herme­ neutik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (Handbuch der Dogmengeschichte 1/3 c/2), 2. Aufl., Freiburg 1976. 92 Gunter Scholtz, Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, 18, 46 f. 93 Hermann Beisler, Die Unergründlichkeit des Werks und die Unendlichkeit der Interpretation, in  : Schröder, Theorie (Anm. 65), 217–248. 94 Günter Meckenstock, Schleiermachers Bibelhermeneutik, in  : Schröder, Theorie (Anm. 65), 249–263  ; Oliver Robert Scholz, Jenseits der Legende – Auf der Suche nach den genuinen Leistungen Schleiermachers für die allgemeine Hermeneutik, in  : ebd., 265–285  ; Grondin, Einführung (Anm. 35), 88–99  ; Jung, Hermeneutik (Anm.  2), 65 f.; Kurt, Hermeneutik (Anm. 54), 88–111  ; Wach, Verstehen (Anm. 79), Bd. 1, 83–167. 95 Besonders Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers II 3  : Das hermeneutische System Schlei­ ermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik, in  : ders.,

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der historischen Vernunft hat drei Grundprinzipien  : 1. Die historische Er­ kenntnis ist Selbstbesinnung auf die Tatsachen des Bewusstseins, 2. das Ver­ stehen ist nicht gleich Erklären, ist keine rein rationale Funktion, sondern vollzieht sich mit allen emotionalen Kräften der Seele, mit allen Gemütskräf­ ten, 3. Verstehen ist eine Bewegung von Leben(serfahrung) zu Leben(serfah­ rung), denn die Wirklichkeit selbst ist ja Leben. Nur durch Zusammenwirken aller Gemütskräfte in mir begreife ich die Gesamtzusammenhänge.96 Wie bei Luther spielt das innere Erlebnis eine große Rolle. Im Dreischritt Erleben – Ausdruck – Verstehen objektiviert sich zunächst ein Inneres symbolisch, dann kann diese Objektivation als Ausdruck des Inneren verstanden werden.97 Ver­ stehen beruht von Haus aus auf persönlicher Genialität und kann daher ei­ gentlich nicht gelehrt werden. Es lässt sich aber zu einer Technik entwickeln, die sich durch Übung erwerben lässt. Geschichts- und Literaturwissenschaft werden dadurch freilich auf das reduziert, was sich auf diese Weise verstehen lässt, d. h. auf Ideengeschichte. Und radikale Fremdheit bleibt diesem Verste­ hen ebenso unzugänglich wie die Natur und die großen Rätsel der Welt und des Lebens.98 Was sich bei Dilthey ankündigt, vollziehen Martin Heidegger und später Hans-Georg Gadamer  : den Schritt von der philosophischen Untersuchung der Hermeneutik zum hermeneutischen Philosophieren. Auch die Phänomenolo­ gie Edmund Husserls ließe sich als Hermeneutik des Bewusstseins verstehen.99 Bei Heidegger geht es um Hermeneutik des Daseins, das bedeutet Analyse der Gesammelte Schriften, Bd. 14/2, Göttingen/Berlin 1966, 595–787  ; ders., Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), in  : ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Leipzig/Berlin 1922  ; ders., Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in  : ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Leip­ zig/Berlin 1924, 317–338  ; ders., Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswis­ senschaften, in  : ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Leipzig/Berlin 1927. Für berichtigende Hinweise zu meinen Ausführungen über Herder, Humboldt und Dilthey danke ich dem Phi­ losophen Matthias Jung, dessen vielfältige kritische Hinweise zum vorliegenden Text auch sonst aus der scharfen, aber fruchtbaren Kritik hervorragten, der er seitens vieler Fellows und Kollegiaten des Max-Weber-Kollegs Erfurt freundlicherweise unterworfen wurde. 96 I. M. Bochehski, Europäische Philosophie der Gegenwart, 2. Aufl., München 1951, 134. 97 Feneberg, Begriff (Anm. 90)  ; Grondin, Einführung (Anm. 35), 110–118  ; Matthias Jung, Dilthey zur Einführung, Hamburg 1996  ; Jung, Hermeneutik (Anm. 2), 71–91, bes. 83, 85  ; Kurt, Hermeneutik (Anm. 54), 125–140. 98 Hans-Ulrich Lessing, Das Verstehen und seine Grenzen in Diltheys Philosophie der Geistes­ wissenschaften, in  : Kühne-Bertram/Scholtz (Anm. 14), 49–67  ; Maria Nazare de Camargo Pacheco Amaral, Diltheys Erlebnisbegriff und die Grenzen des Verstehens, in  : ebd., 69–83. 99 Dieter Mersch (Hg.), Zeichen über Zeichen. Texte zur Semiotik von Peirce bis Eco und Der­ rida, München 1998, 126–142  ; Kurt, Hermeneutik (Anm. 54), 141–158.

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Existenz des Menschen als geschichtliches Wesen ohne transzendente Vorga­ ben.100 Das metahermeneutische Problem des Verstehens des Verstehens des Verste­ hens durch Heidegger wird dadurch weiter erschwert, dass dieser äußerst eigen­ willig, um nicht zu sagen gewalttätig mit der Sprache umgeht, auch wenn oder gerade weil er dabei den Spielregeln der alten Volksetymologie nahe kommt. Wie für Humpty Dumpty in Through the Looking Glass haben die Wörter für ihn genau den Sinn, den er ihnen geben will und keinen anderen.101 Wo Nietzsche die Eigenständigkeit des Sprachlichen (besonders seiner Semantik) gegenüber der Welt behauptet hat, kappt nun Heidegger gleichsam die Verbindung der Sprache zur Welt und macht die Wörter zur Welt. Das Denken entfaltet sich in der Sprache, es wühlt gleichsam in der Sprache herum, es deutet die Wörter, als ob sie die Sachen selbst wären. Dabei verfügt der denkende Meister völlig willkürlich über die Sprache  ; er sagt und bestimmt, was die Wörter bedeuten. Er ist der Meis­ ter, nicht die consuetudo, der verachtete ›Gebrauch‹ der verachteten ›Gesellschaft‹ […].102

In ihrer philosophischen Extremform erweist sich Hermeneutik hier endgültig als entschlossene Besserwisserei kraft gewaltsamer Umdeutung – soweit es sich nicht einfach um einen Extremfall von Imponierprosa handelt.103 Gadamers hermeneutische Philosophie kehrt von der abstrakten Geschicht­ lichkeit zur konkreten Geschichte des Menschen zurück und zwar am Leitfa­ den der Sprache. »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.«104 Trotz des Titels Wahrheit und Methode handelt es sich nicht um eine Methodologie der Geisteswissenschaften in der Art früherer Hermeneutiken, sondern um eine Untersuchung der spezifisch geisteswissenschaftlichen Wahrheit. Die Leistung der Geisteswissenschaften läuft immer auf Übertragung eines Sinnzusammen­ 100 Vgl. Bochenski, Philosophie (Anm. 96), 172, 174  ; Stegmüller, Hauptströmungen (Anm. 6), 138–166  ; Grondin, Einführung (Anm. 35), 119–137  ; Jung, Hermeneutik (Anm. 2), 91–111  ; Bormann, Hermeneutik (Anm. 1), 123 f.; Angel Xolocotzi, Der Umgang als »Zu­ gang«. Der hermeneutisch-phänomenologische »Zugang« zum faktischen Leben in den frü­ hen »Freiburger Vorlesungen« Martin Heideggers im Hinblick auf seine Absetzung von der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls, Berlin 2002. 101 Lewis Caroll, Through the Looking Glass and What Alice Found There (1872), Harmonds­ worth 1963, 274. 102 Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 315. 103 Albert, Kritik (Anm. 59), 1–35, 263–265. 104 Gadamer, Wahrheit (Anm. 91), 450.

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hangs aus einer anderen Welt in die eigene hinaus, eine Art von Übersetzungs­ leistung. Solches Interpretieren ist eine mit der Sprache gegebene Grundakti­ vität des Menschen, die keineswegs auf Texte beschränkt ist. Allerdings ist das Ziel des vollkommenen Einfühlens verabschiedet, denn Texte und andere Ob­ jektivationen sind nicht mehr nur geronnene Individualitäten, die darauf war­ ten, nachvollzogen zu werden. Versuche, sich in einen Autor hineinzuversetzen oder die ursprüngliche Bedeutung eines Textes zu ermitteln, sind sinnlos, weil Text wie Interpret unwiderruflich von der Traditionsgeschichte geprägt sind. Es handelt sich um einen Dialog der Vorverständnisse oder Vorurteile, der güns­ tigstenfalls zu einer Verschmelzung der aus Vorurteilen bestehenden Horizonte führen kann. Eine gelungene Verschmelzung geht ihrerseits in die Tradition ein – »klassisch ist, was der historischen Kritik gegenüber standhält«.105 Darin besteht der objektive Sinnzusammenhang der Geschichte als endloser Abfolge von Frage und Gespräch, was mehr mit Bildung als mit exakter Wissenschaft zu tun hat.106 Der Wirklichkeitsbezug dieses sprachlichen Universums wird kaum diskutiert, obwohl es durchaus hermeneutische Kriterien zur Unter­ scheidung besserer und schlechterer Vorurteile zu geben scheint, etwa die vier Kanones des juristischen Hermeneutikers Emilio Betti, und jüngst sogar Hans Krämers energische realistische Wende gegen Gadamers Hermeneutik und die neuere Interpretationsphilosophie zu verzeichnen war.107 Fremdheit des Gegenstandes oder künstliche Verfremdung durch den eth­ nologischen Blick auf die eigene Geschichte und Gesellschaft scheinen aller­ dings der eurozentrischen Voraussetzung einer grundsätzlichen Vertrautheit mit dem Gegenstand zu widersprechen, durch die Horizontverschmelzung im 105 Gadamer, Wahrheit (Anm. 91), 271. 106 Gadamer, Wahrheit (Anm. 91)  ; ders., Hermeneutik, in  : Joachim Ritter u. a. (Hg.), Histo­ risches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, 1061–1073  ; Reinhart Koselleck/ Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik und Historik, Heidelberg 1987  ; Hans-Georg Gadamer, Nachwort, in  : Emilio Betti, Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, Tübingen 1988, 93–98  ; Dominick LaCapra u. a. (Hg.), Geschichte denken. Neubestimmungen und Perspektiven europäischer Geistesgeschichte, Frankfurt 1988  ; Ben Vedder, Was ist Herme­ neutik  ? Ein Weg von der Textdeutung zur Interpretation der Wirklichkeit, Stuttgart 2000, 120, 148 f.; Grondin, Einführung (Anm. 35), 138–159  ; Jung, Hermeneutik (Anm. 2), 113– 132  ; Bormann, Hermeneutik (Anm. 1), 125–127. 107 Emilio Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 1972  ; Grondin, Einführung (Anm. 35), 162–166  ; zur Auseinandersetzung der philologischen mit der philosophischen Hermeneutik vgl. schon Thomas M. Seebohm, Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, Bonn 1972, vor allem aber  : Hans Krämer, Kritik der Hermeneutik. Interpretationsphilosophie und Realismus, München 2007, bes. 11–58.

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Sinne Gadamers überhaupt erst möglich wird. Doch sollte man diesen Ein­ wand nicht überschätzen, denn es handelt sich immer um eine Verbindung von Vorwissen und Nichtwissen zu einer weiterführenden Frage  ; Hermeneutik gründet immer auf der Polarität von Vertrautheit und Fremdheit.108 Gegen den keineswegs grundlosen Vorwurf Jacques Derridas, der Wille zum Verstehen laufe auf Willen zur Macht hinaus, setzen hermeneutische Philoso­ phen den eitlen und ihrem eigenen Denken widersprechenden Glauben, nicht sie bemächtigten sich der Wahrheit, sondern die Wahrheit ergreife von ihnen Besitz.109 Derridas Dekonstruktion der Wahrheit durch die Annahme, dass immer nur Zeichen aufeinander verweisen, sich aber nie endgültig ausmachen lässt, was sie sagen wollen, weist hingegen eine Tendenz zur Selbstaufhebung auf  : Auch Derrida will verstehen und verstanden werden.110 Wie Jürgen Ha­ bermas, der im Namen von Ideologiekritik und Psychoanalyse gegen Gada­ mer ins Feld zog,111 muss auch er sich im Rahmen einer Hermeneutik zweiter Ordnung oder »Tiefenhermeneutik« (Habermas) bewegen, denn auch Kritik der Hermeneutik ist nur hermeneutisch möglich. Hans Albert bescheinigt Ha­ bermas sogar einen Rückfall in eine naturwissenschaftsfeindliche Hermeneutik von der Art Heideggers und Gadamers, die er kritisieren wollte.112

III

Aus gutem Grund ist also in letzter Zeit eine Rückkehr des wissenschaftlichen Denkens zur Hermeneutik zu verzeichnen. Die alte hermeneutische Philoso­ phie kehrte auf dem Umweg über Amerika als linguistic turn nach Europa zurück,113 der freilich viel mit Sprache, jedoch wenig mit Linguistik zu tun

108 Andreas Rödder, Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne, in  : Historische Zeitschrift 283 (2006) 657–688, hier 670–675. 109 Grondin, Einführung (Anm. 35), 175 f. 110 Bormann, Hermeneutik (Anm. 1), 124. 111 Jürgen Habermas, Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik (1970), in  : ders., Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, Frankfurt 1973, 264–301. 112 Albert, Kritik (Anm. 59), 230–262. 113 Pierre Bourdieu, Schwierige Interdisziplinarität. Zum Verhältnis von Soziologie und Ge­ schichtswissenschaft, Münster 2004, 108  ; Francois Cusset, French Theory. Foucault, Der­ rida, Deleuze et Cie et les mutations de la vie intellectuelle aux Ètats-Unis, Paris 2003  ; Michele Lamont, How to Become a Dominant French Philosopher  : The Case of Jacques Derrida, in  : American Journal of Sociology 93 (1987) 584–622.

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hat.114 Aber er besteht auf der sprachlichen Vermittlung gegen alle Philoso­ phien des Unmittelbaren.115 Auch andere der verschiedenen modischen »Wen­ den« dürften weitgehend auf Wiederkehr der Hermeneutik hinauslaufen. Ein Ökonom hat sie daher als interpretive turn zusammengefasst, eine Kulturwis­ senschaftlerin als cultural turns.116 Besonders lehrreich ist der Fall der deutschen Geschichtswissenschaft und ihres Verhältnisses zu den Sozialwissenschaften. Denn die klassische hermeneu­ tische Aufgabe der Auslegung von Texten hatte sich schon immer überwiegend auf Texte aus der Vergangenheit bezogen. Daher gingen der Aufschwung von Hermeneutik und Historismus seit dem späten 18. Jahrhundert Hand in Hand. Die historisch-philologische Methode war der Inbegriff der hermeneutischen Verfahren, die jetzt alle Wissenschaften vom objektiven Geist beherrschten. Die deutsche Geschichtswissenschaft wurde zur Leitwissenschaft des Jahrhunderts. Damit war häufig der Anspruch verbunden, die Geschichte und ihre »Hel­ den« besser zu verstehen als deren jeweilige Zeitgenossen. Zum Beispiel be­ wertete Theodor Mommsen, einer der Väter der historischen Altertumswis­ senschaft, seine Quellen danach, ob sie in das von ihm konstruierte System des römischen Staatsrechts passten, das es wahrscheinlich nie gegeben hat. Er schrieb den Quellen eine juristische Exaktheit zu, die ihnen fremd war. Er bediente sich einer quellennahen Begriffssprache, gab den Begriffen dabei aber eine rechtstechnische Bedeutung, die in der Überlieferung nicht zu finden war. Selbst Cicero drückte sich für seine Begriffe nicht exakt genug aus. Kurzum, Mommsen leistete, was die römischen Juristen versäumt hatten und verstand die Römer besser als diese sich selber.117 Die maßgebenden Vertreter des Faches beharrten auch nach dem Zweiten Weltkrieg auf diesem Überlegenheitsanspruch, obwohl oder gerade weil sie in­ zwischen nicht nur aus politischen Gründen ins Hintertreffen geraten waren. Denn die intellektuellen Vorreiter fanden sich inzwischen in Frankreich, Eng­ land und Amerika. Diese hatten das Fach auf unterschiedliche Weise für sozi­ alwissenschaftliche Impulse geöffnet. Als das dank des Generationenwechsels, der mit einer Stellenvermehrung zusammentraf, um die 1970er Jahre schließ­ 114 Trabant, Sprache (Anm. 26), VIII–XII. 115 Ricœur, Text (Anm. 22), 34. 116 Don Lavoie, Economics and Hermeneutics, London/New York 1990  ; Doris Bachmann-Me­ dick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006. 117 Wilfried Nippel, Geschichte und System in Mommsens »Staatsrecht«, in  : Hans-Markus von Kaenel u. a. (Hg.), Geldgeschichte vs. Numismatik. Theodor Mommsen und die antike Münze, Berlin 2004, 215–228.

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lich auch in Deutschland möglich wurde,118 nahmen die Dinge aber eine höchst bemerkenswerte Wende. Zwar interessierten sich die Historiker jetzt nicht mehr für das, was Menschen wechselseitig intendiert hatten, sondern für sozio-ökonomische Makrostrukturen und -prozesse. Aber ihre sozialwissen­ schaftlichen Kronzeugen waren dabei nicht Strukturalisten und Funktionalis­ ten wie anderswo. Stattdessen erhielt die historisch angereicherte »verstehende Soziologie« des Max Weber in Deutschland strategische Bedeutung für die deutsche Historie. Sein Leitmotiv »Rationalisierung« wurde aktuell als »Mo­ dernisierung« gedeutet. Offensichtlich zog man es vor, im vertrauten methodo­ logischen Dunstkreis zu verharren. Mehr war offenbar nicht möglich.119 Obwohl Max Webers methodologische Äußerungen aus guten Gründen alles andere als eindeutig ausfallen, ist doch klar, dass für ihn Soziologie eine Wissen­ schaft ist, »welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will«120. Sie geht vom Indivi­ duum und dessen Intentionen aus, ist also Handlungstheorie. Dabei ist bezeich­ nenderweise keine Trennung von Verstehen und Erklären möglich. Allerdings ist der subjektiv gemeinte Sinn sozialen Handelns streng genommen nicht zu fas­ sen, obwohl Verstehen für Weber durchaus nicht nur ein intellektueller, sondern auch ein emotionaler Akt ist. Wie sich besonders deutlich an seiner »Protestan­ tischen Ethik« zeigen lässt, gründet es ganz im Sinne der lutherischen Verste­ henstradition auf persönlicher, nicht zuletzt emotionaler Erfahrung. Sein Werk wimmelt geradezu von Anläufen zur Einfühlung in emotionale Tiefenschichten. Er hat großes Zutrauen zu seiner eigenen, durch Erfahrung gespeisten Intuition, aber nur nach gründlicher Befassung mit dem Gegenstand und unter ständiger kritischer Reflexion. Allerdings war er auch extrem rechthaberisch. Sein Ideal­ typus als Konstrukt aus bestimmten, als typisch angesehenen Bestandteilen der Wirklichkeit stellt einen Kompromiss zwischen Individualität und Gesetzmäßig­ keit dar und soll den gemeinten Sinn des sozialen Handelns ermitteln helfen.121 M. E. handelt es sich dabei um eine Spitzenleistung hermeneutischen Denkens, weil Verstehen sich auf diese Weise ohne Rückgriff auf Dogmatisierung dennoch der Falsifizierung entzieht. Denn ein Idealtypus kann nie an irgendwelchen Tat­ sachen scheitern, er kann allenfalls unzulänglich, aber nie falsch sein  ! 118 Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Ten­ denzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003. 119 Reinhard, Martin Luther (Anm. 72), 341 f. 120 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, 542. 121 Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005, 195 f., 201, 317, 321, 408, 416 f., 617, 667, 670  ; Kurt, Hermeneutik (Anm. 54), 175–197.

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Nachdem Alfred Schütz weitere Begriffsarbeit an der verstehenden Soziolo­ gie geleistet hatte, erfreut sie sich heute größerer Beliebtheit denn je,122 sei es als Analyse von Alltagssituationen, wie sie inzwischen vor allem durch Inter­ views erfasst werden, etwa durch die missverständlich so genannte »objektive Hermeneutik«,123 sei es als kultursoziologische Makroanalyse, wie sie Max We­ ber begründet hat.124 Den universalhistorischen Perspektiven Max Webers zum Trotz blieb die »weberisierte« deutsche Geschichtswissenschaft aber national wie methodolo­ gisch gleich borniert. Vor allem weigerte sie sich, Anregungen aus der Eth­ nologie aufzugreifen, wie das anderswo längst selbstverständlich war.125 Erst als der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz anknüpfend an Max Weber gegen die naturwissenschaftlichen Tendenzen seines Faches mit seiner »dich­ ten Beschreibung« ausdrücklich ein modifiziertes hermeneutisches Verfahren proklamierte und anregte, Kulturen wie Texte auszulegen,126 wurde die An­ thropologie von einer neuen Historikergeneration als neue Kulturgeschichte

122 Kurt, Hermeneutik (Anm. 54), 213–234  ; Hans-Georg Soeffner, Verstehende Soziologie und sozialwissenschaftliche Hermeneutik, in  : Ronald Hitzler/Jo Reichertz/Norbert Schrö­ der (Hg.), Hermeneutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretation, Konstanz 1999, 39–50 und andere Beiträge zu diesem Band. 123 Ulrich Oevermann u. a., Die Methodologie einer »objektiven Hermeneutik« und ihre allge­ meine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in  : Hans-Georg Soeffner (Hg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, 352– 434  ; vgl. auch ders., Auslegung (Anm. 14) und Kurt, Hermeneutik (Anm. 50), 238–261  ; Werner Schneider, Gesagtes und Ungesagtes, Sagbares und Unsagbares. Beidseitige »(Un-) Aufrichtigkeit« im wissenschaftlichen Interview, in  : Wolfgang Reinhard (Hg.), Krumme Touren. Anthropologie kommunikativer Umwege, Wien 2007, 395–420. 124 Vgl. z. B. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirk­ lichkeit, 3. Aufl., Frankfurt 1972  ; Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 1982  ; Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 1992. 125 Z. B. versuchte der Verfasser in den 1970er Jahren vollkommen erfolglos, das inzwischen selbstverständliche sozialanthropologische Netzwerkkonzept unter anderem Namen in Deutschland einzuschmuggeln  : Wolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen. »Verflech­ tung« als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600, München 1979, gekürzt in  : ders., Abhandlungen (Anm. 72), 289–310  ; vgl. ders., Der Weg zum ethnologischen Blick auf die Geschichte, in  : Detlef Felken (Hg.), Ein Buch, das mein Leben verändert hat. Liber amicorum für Wolfgang Beck, München 2006, 322–325. 126 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frank­ furt 1987, 51 u. ö.

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begeistert aufgegriffen.127 Offensichtlich gilt nach wie vor  : In Deutschland macht nur Hermeneutik hoffähig. Obendrein lässt die traditionelle Unduld­ samkeit, mit der die neue Perspektive nach entsprechenden wissenschaftlichen »Erweckungserlebnissen« vertreten wird, deutlich erkennen, dass auch die auf Martin Luther zurückgehende erlebnisorientierte hermeneutische Kultur deut­ schen Denkens nach wie vor quicklebendig ist  ! Zu den von Geertz ausgehenden Anregungen gehörte es auch, Kultur als ein Geflecht von Symbolen zu deuten, die der Auslegung bedürfen.128 Auf diese Weise erlebte das fast vergessene symbolische Universum des Ernst Cas­ sirer seine Auferstehung129 und die allgemeine Lehre von den Zeichen, die Semiotik, gelangte durch Umberto Eco zum Welterfolg.130 Textlinguistik und Texthermeneutik rückten wieder zusammen.131 Denn Sprache ist aus dieser Sicht ein System von Symbolen oder Zeichen unter anderen. Doch nicht mehr nur die Sprache, sondern Kommunikation aller Art steht heute im Mittelpunkt des kulturwissenschaftlichen Interesses, allerorten geht es um das Verstehen des Verstehens, um Codierung und Decodierung von Zeichen, um Verschlüs­ selung und Entschlüsselung von Symbolen.132 Ein Problem dabei ist allerdings, dass Symbole wie Zeichen prinzipiell mehrdeutig sind, oft genug sogar eine endlose Reihe von Bedeutungszuweisungen gestatten. Wenn daher alles nur noch auf der Bedeutungsebene abgehandelt wird, dann gerät Geschichte zur poetischen Literatur, ihre Interpretation wird mehr oder weniger beliebig. Das wird durch die Tatsache begünstigt, dass Geschichte und Verstehen Narrativi­ tät als gemeinsame Grundstruktur aufweisen, so dass Historie unvermeidlich in die Nähe von Literatur rückt.133 Ursprünglich wurden auch Kunstwerke und Literatur nach den Regeln der historisch-philologischen Methode interpretiert, wobei die Klärung der Ab­ sichten ihres Urhebers eine zentrale Rolle spielte. Auf diesen Zugang von außen 127 Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 4. Aufl., Frank­ furt 2004. 128 Geertz, Beschreibung (Anm. 126), 9, 14f., 51. 129 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3. Bde., Leipzig 1923–1929  ; ders., Gesammelte Werke, Bde. 11–13, Hamburg 2001–2002, vor allem Bd. 11  : Die Sprache, 1–49. 130 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972 (italienisch 1968). 131 Wolfgang Klein/Ulrich Nassen in  : Ulrich Nassen (Hg.), Texthermeneutik. Aktualität, Ge­ schichte, Kritik, Paderborn 1979, 23–36. 132 Z. B. Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München 1996  ; vgl. auch Bätschmann, Einführung (Anm. 17), 45–48 u. ö. 133 Susanne Kaul, Narratio. Hermeneutik nach Heidegger und Ricœur, München 2003.

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folgte im 20. Jahrhundert der Zugang von innen, wobei das Kunstwerk als vom Autor abgelöster, eigenständiger ästhetischer Gegenstand betrachtet und nach den Regeln der jeweiligen Kunst auseinandergenommen wurde. Schließlich löste der Rückgriff auf die Lehre des Linguisten Ferdinand de Saussure von der Beliebigkeit der Signifikanten den rezeptionsästhetischen Dekonstruktivismus aus. Hinfort war der »Leser« ermächtigt, nach Belieben einen endlosen Strom von Sinn, von möglichen Lesarten zu erzeugen. Welt als Text produzierte Text als Welt. Wie Werke wirken, galt als irrelevante Frage. Stattdessen sollten wir uns ihrer nach Belieben für unsere verschiedenen Zwecke bedienen. Allenfalls wurde einmal angedeutet, es könne gute und weniger gute Zwecke geben.134 Das »offene Kunstwerk« galt als »Maschine zur Hervorbringung von In­ terpretationen«. Das uralte Prinzip der Mimesis wurde verabschiedet  ; damit wurde die entfesselte Kreativität moderner Kunst möglich. Es gibt auch kein »Gespräch« des Lesers, Betrachters, Hörers mit dem Kunstwerk mehr, denn dieses kann nicht »antworten«, weil es keine eindeutige Botschaft enthält, die es wahrzunehmen gelte. Stattdessen ist die Kreativität des Rezipienten gefragt.135 Die Kunst der Kunst, der Literatur, der Musik, des Feuilletons besteht jetzt darin, möglichst viele neue, unerwartete, geistreiche und komplizierte Sinn­ ebenen zu erfinden, während die Kunst der Kritik darauf hinausläuft, mög­ lichst viele Deutungen, Anti-Deutungen, vor allem dem jeweiligen Autor nicht bewusste Deutungen zu finden und zu erfinden. Ein literaturwissenschaftliches Habilitationskolloquium, in dem ein hervorragender Kandidat auf Augenhöhe mit den Koryphäen des Faches über die Interpretation eines Gedichts disku­ tierte, endete damit, dass er am Ende beim Gegenteil seiner ursprünglichen Deutung angelangt war, was alle Beteiligten höchlichst befriedigte.136 Aller­ dings gehört diese »postmoderne« Interpretation in einen uralten hermeneuti­ schen Strom, den hermetisch-gnostischen, der geheime Bedeutungen im Text sucht. Ein Text, der eindeutig sein will, ist in diesem Sinne bereits missglückt. 134 Umberto Eco u. a., Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, Mün­ chen 1994. 135 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt 2002 (zuerst 1977, ital. 1962)  ; Stefan Or­ gass, Auseinandersetzung mit musikalischer Vielfalt als Idealtypus einer kulturellen Praxis in Europa (Ms. des Beitrags zur Tagung Europa im Blick der Kulturwissenschaften, Erfurt 14–16. Dezember 2006, das mir Stefan Orgass freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat). 136 Freiburg 19. Dezember 2006  ; vgl. auch Manfred Fuhrmann/Hans Robert Jauss/Wolfhart Pannenberg (Hg.)  ; Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch (Poetik und Hermeneutik 9), München 1981, 247–364, 459–481.

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Aber sein Autor wusste sowieso nicht, was er sagte, weil die Sprache für ihn sprach. Der wahre Leser hingegen weiß es besser. Er weiß, dass der Text alles besagen kann, nur das nicht, was der Autor wollte. Auf Gegenstände bezogen, konnte das heißen  : Weil eine Orchidee zwei Knollen hat, die entfernt den Hoden ähneln, hat sie magische Wirkung auf die Geschlechtsorgane und heißt deshalb »Knabenkraut«.137 Doch im Gegensatz zum Knabenkraut kann der Text (oder die Partitur) »sich wehren«. Auch wenn es synchron wie diachron eine endlose Semiose (Charles S. Peirce) mit unbegrenztem Sinn (Hans-Georg Gadamer) gibt, auch wenn die intentio auctoris unwichtig ist, während sich die intentio operis und die intentio lectoris in einer endlosen dialektischen Spirale gegenseitiger Be­ fruchtung bewegen, dann braucht das alles dennoch nicht zu bedeuten, dass die Interpretation keinen Gegenstand hätte oder dass jede Interpretation er­ folgreich und gleichrangig sein müsse. »Häufig sagen Texte mehr, als ihr Verfas­ ser sagen wollte, aber weniger als sie nach den Wünschen vieler maßloser Leser sagen sollten.«138 Es gibt zwar kein Kriterium für die richtige Interpretation, aber durchaus Kriterien für misslungene. Sparsame Textökonomie, die un­ wahrscheinlichste Lesart, Bestätigung einer partiellen Deutung durch andere Teile des Textes gelten nach wie vor als Hinweise auf eine vielversprechende Interpretation. Vor allem darf aus einem Text nichts herausgelesen werden, was seinem Wortsinn widerspricht. Der Text kontrolliert die Interpretation und nicht umgekehrt wie bei Jacques Derrida. Die Quellen haben ein Vetorecht, auch in der Kunstgeschichte.139 Allerdings ist bereits die Herstellung des Wort­ sinns eine Interpretationsleistung, denn der Wortsinn befindet sich nicht au­ ßerhalb der hermeneutischen Spirale. Aus diesem Grund können die genann­ ten Kriterien nur zur Dekonstruktion falscher Interpretationen, nicht aber zur endgültigen Begründung von richtigen verwendet werden.140 137 Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, München 1992 (ital. 1990)  ; Eco, Autor (Anm. 134). In diesen beiden Büchern modifiziert Eco seine frühere Auffassung vom offenen Kunstwerk im genannten Sinn und setzt sich mit der hermetischen Interpretationstradition auseinander. 138 Eco, Grenzen (Anm. 137), 145. 139 Reinhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit, in  : ders.: Vergangene Zukunft, 1989, 176–207, hier 206  ; Bätschmann, Einführung (Anm. 17), 48–50, 57 f., 131, 160f. Matthias Jung hat mich auf die hochdifferenzierten Vorstellungen Ricœurs von der Rolle historischer Dokumente aufmerksam gemacht  : Paul Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, Mün­ chen 2004, 273–279. 140 Eco, Grenzen (Anm. 137), 51–55, 73–79.

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Nichtsdestoweniger ist »die Sorge um den rechten Text«141 nach wie vor sinnvoll und wegen ihrer gesteigerten Kontrollfunktion sogar mehr denn je angesagt. Im 4. Akt des 2. Teils seines »Faust« macht Goethe auf witzige Weise die im Höllenfeuer sitzenden Teufel zu Agenten der angeblich vulkanischen Entstehung der gebirgigen Erdoberfläche  : Die Teufel fingen sämtlich an zu husten, Von oben und von unten aus zu pusten  ; Die Hölle schwoll von Schwefel-Stank und Säure, Das gab ein Gas. Das ging ins Ungeheure, So dass gar bald der Länder flache Kruste, So dick sie war, zerkrachend bersten musste.

Die bisherigen Herausgeber haben an dieser Stelle drei Wörter, die Anstoß erregten, zusammengeschrieben  : Von oben und von unten auszupusten.

Das ergibt zwar keinen vernünftigen Sinn mehr, aber im Nationalheiligtum der deutschen Literatur durfte einfach nicht gefurzt werden.142 Paradoxerweise ergab sich aus der zentralen Stellung von Kommunikation in der Welt der Gegenwart aber nicht nur die Vorstellung weitgehender Be­ liebigkeit der Verwendung sprachlicher Zeichen und einer selbstreferentiellen Sprache, sondern auch die konträre einer Determination menschlicher Kom­ munikation und damit auch menschlichen Handelns durch die Sprache. Bevor Diskurs zum allgegenwärtigen Modewort verkam, war damit jener anonyme Denk-, Sprach- und Handlungszusammenhang gemeint, in dem alle Zeitge­ nossen unausweichlich befangen sind.143 Nicht nur im politischen, sondern sogar im wissenschaftlichen Jargon heißt es zum Beispiel ständig, »Deutsch­ land« oder »das Gesetz« oder »die Wirtschaft« tue dieses oder jenes, ein selbst­ verständlicher Sprachgebrauch, der die wirkliche Täterschaft verschleiert, die 141 Horst Fuhrmann, Die Sorge um den rechten Text, in  : Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 25 (1969) 1–16. 142 Albrecht Schöne, Vom philologischen Geschäft. Arbeitsbericht über eine neue »Faust«-Aus­ gabe, in  : Mitgliederversammlung des Stifterverbandes in München am 10. Mai 1990, 21–34, hier 25. 143 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt 1971  ; ders., Die Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973  ; ders., Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt 1974  ; Martin Corzillius, Postmoderne Geschichtsschreibung (un­ veröffentlichtes Manuskript).

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Frage nach der Verantwortung kupiert und damit das Verstehen der Vorgänge präjudiziert.144 Freilich ist diese Macht des Diskurses über die Menschen nicht vollkommen dezentral und anonym, wie ursprünglich angenommen wurde. Es lassen sich vielmehr durchaus Herren und Herrinnen von Diskursen identifi­ zieren, die Inhaber von »Deutungshoheit« sind. Gerade deswegen wird dem politisch korrekten Gebrauch der Sprache zusammen mit der Tabuisierung politisch inkorrekter Begriffe die Fähigkeit zugetraut, die Welt politisch zu ver­ ändern. »Afroamerikaner« sind im Gegensatz zu »Negern« angeblich bereits unterwegs zur Gleichberechtigung. Bezeichnenderweise ist derartiger Glaube an die Macht der Sprache bei Angehörigen von Bildungsberufen besonders verbreitet. Daraus ergibt sich für unseren Kontext ein Hinweis, dass und wie Textkultur der Eliten in Lebenspraxis der Massen transformiert wird. Politische Sprachkontrolle ist freilich nichts Neues  ; sie war und ist immer wichtig. Zur offensiven Sprachregelung, z. B. der »›sogenannten‹ DDR« seligen Angedenkens, gehörte schon immer die Defensivmaßnahme der Zensur, die keineswegs nur die katholische Kirche zu hoher Vollkommenheit entwickelt hatte.145 Auch im freien Deutschland darf man nicht alles sagen und schrei­ ben, von der Repression unter Diktaturen ganz abgesehen. Allerdings hat die Kontrolle nie richtig funktioniert. Unter anderem wurde sie vom politischen Witz erfolgreich ad absurdum geführt, häufig durch sprachliche Umcodierung. Aus »Heil Hitler. Haben Sie Marksknochen  ?« wird »Heil Marx. Haben Sie Hitlerknochen  ?«. Beim aktuellen Jargon politischer Korrektheit ist manchmal gar nicht mehr zu verstehen, ob es sich um witzige Parodie oder nicht weniger witzige unfreiwillige Selbstparodie handelt – »liebe MitgliederInnen« … Es wird aber medial heftig daran gearbeitet, uns zum richtigen Verstehen der Welt anzuleiten. Leitartikel machen ein gern akzeptiertes Deutungsange­ bot  ; »BILD dir deine Meinung« und das Fernsehen sind dafür noch wichtiger. Die Werbung nutzt den hermeneutischen Zirkel, um Weltbilder zu entwerfen, die einerseits Erwartungen des Publikums bedienen, um ihm andererseits die Unentbehrlichkeit bestimmter Güter zu suggerieren. Museen und Jubiläen,146 Denkmäler und »Erinnerungsorte« belehren uns pausenlos darüber, welche 144 Peter von Polenz, Über die Jargonisierung von Wissenschaftssprache und wider die Deagen­ tivierung, in  : Theo Bungarten (Hg.), Wissenschaftssprache. Beiträge zur Methodologie, the­ oretischen Fundierung und Deskription, München 1981, 85–110. 145 Dieter Breuer, Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland, Heidelberg 1982  ; Rein­ hard, Geschichte (Anm. 61), 390–395. 146 Winfried Müller u. a. (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Insze­ nierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004.

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Ausschnitte unserer Geschichte für unser Selbstverständnis wichtig sein sol­ len. Auch im Bereich der Wissenschaften ist die »Deutungshoheit« bestimmter Fachvertreter ein Sachverhalt von zentraler Bedeutung. Das in allen Fächern herrschende und immer weiter ausufernde Gutachterwesen kann ebenso wie die ehrwürdige Praxis der wissenschaftlichen Rezension als institutionalisiertes besser Verstehen und besser Wissen betrachtet werden – wenn es gut geht, im kreativen Sinne von Gadamers endlosem Gespräch, wenn es weniger gut geht, als neidische und eitle Besserwisserei schlimmster Sorte bis zur beruflichen Hinrichtung. Subtiler fallen bestimmte, in Wissenschaftlerkreisen weit verbreitete Rede­ gewohnheiten aus, die sich ebenfalls auf den Verstehensprozess beziehen lassen. Das allerorten beliebte Füllwort »sozusagen« dürfte im wissenschaftlichen Dis­ kurs auf die instinktive Angst davor verweisen, bekannte und unbekannte An­ sprüche auf Deutungshoheit zu verletzen, während die edle Kunst des Name­ droppings ihnen von vorneherein offensiv Reverenz zu erweisen versucht. Hermeneutik bleibt eben keineswegs auf die sogenannten »Geisteswissen­ schaften« beschränkt, wo es gilt, des objektiven Geistes durch Auslegung hab­ haft zu werden. Nicht nur historische Naturwissenschaften wie die Geologie und Teile der Biologie haben eine hermeneutische Infrastruktur, sondern sogar die experimentellen. Die Biologie erzählt Geschichten und die Physik ist voll von Metaphern.147 Zwar sind experimentelle Wissenschaften in erster Linie kausal bzw. formal-logisch, d. h. letztlich mathematisch strukturiert, und ge­ ben der Natur damit die Chance, den hermeneutischen Zirkel von Text und Interpretation aufzubrechen. Aber forschungsgeschichtlich war ihr Ausgangs­ punkt immer der Impuls, ein bestimmtes Phänomen verstehen zu wollen. Auch in ihrem aktuellen Forschungsprozess sind Verstehensmomente unver­ meidlich, denn man muss sich entscheiden, welche Fragen man stellen und welche Verfahren man aus welchen Gründen heranziehen möchte. Empirische Daten werden ja erst durch Betrachtung im Lichte von Theorien, die wir ge­ trost »Verstehen« nennen dürfen, zu wissenschaftlichen Fakten.148 Auch Ne­ belkammerfotos wollen interpretiert werden bzw. unterliegen bereits kraft der Versuchsanordnung einem einengenden Vorverständnis. Vor allem in vielen 147 Donald N. McCloskey, Storytelling in Economics, in  : Lavoie, Economics (Anm. 116), 61– 75, hier 61. 148 Wulf Oesterreicher, Über die Geschichtlichkeit der Sprache, in  : Trabant, Sprache (Anm. 26), 3–26, hier 8.

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Bereichen der Medizin bedürfen die empirisch und mit Apparaten erhobenen Ergebnisse einer diagnostischen Interpretation. Dazu kommen bisweilen medi­ zinische Befunde, die sich nicht ausschließlich naturwissenschaftlich, sondern nur unter Zuhilfenahme von Kulturwissenschaften erklären lassen. Warum ha­ ben Menschen Gelegenheit dazu bekommen, sich zu Tode zu rauchen oder zu saufen oder zu fixen, und warum tun sie es  ? Warum sterben finnische Männer früher als schwedische, ohne dass sich in den naturwissenschaftlich greifbaren Rahmenbedingungen irgendein signifikanter Unterschied ausmachen ließe  ?149 Es dürfte freilich keine Wissenschaft geben, die derzeit der Problematik des »richtigen« Verstehens mehr ausgesetzt ist, als die Theologie, was wiederum in einem engen Austauschverhältnis mit der religiösen Alltagspraxis der gläubi­ gen Christen steht. Wenn Theologie und Glaube heute in eine Krise geraten sind, dann handelt es sich unter anderem um die Folgen einer zur Tradition geronnenen zweitausendjährigen Interpretationspraxis, mit der religiöses Vor­ verständnis die Auslegung der heiligen Schriften festgeschrieben hat. Zwar tun sich Protestanten infolge der andersartigen Autoritätsstruktur ihrer Gemein­ schaften leichter mit der Revision als die zentralistisch geführten Katholiken, aber der Unterschied bleibt graduell und der Erfolg zweifelhaft, wo die Grund­ lagen des Glaubens in Frage stehen. Denn die meisten Aussagen des gemeinsamen christlichen Glaubensbe­ kenntnisses sind mit dem vulgärwissenschaftlich geprägten Welt- und Men­ schenbild der Gegenwart nicht zu vereinbaren. Die daseinsimmanente Lebens­ form unserer Zeit hat keinen Platz mehr für eine außerweltliche Transzendenz. Die christliche Tradition ist ein Haus, das von der Gesellschaft, die nicht mehr in ihm wohnt, verlassen wurde – schreibt der Jesuit Michel de Certeau.150 Grundaussagen wie die Existenz Gottes, die Erlösung durch Tod und Aufer­ stehung Jesu sowie das Leben nach dem Tode wurden so unwahrscheinlich, dass sie für den Menschen der Gegenwart wörtlich inakzeptabel sind. Sogar die Katholiken sind transsubstantiationsresistent geworden.151 Im Sinne Witt­ gensteins ist der Name »Gott« leer, weil ihm keine Wirklichkeit entspricht.152 Ohne es zu wollen, hat bereits der Apostel Paulus das Problem der heutigen Christen und ihrer Seelsorger auf den Punkt gebracht  : »Ist aber Christus nicht 149 Arthur E. Imhof, Der vorzeitige Tod in Australien und Neuseeland, in  : Zeitschrift für Bevöl­ kerungswissenschaft 12 (1986) 53–97, hier 88. 150 Michel de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt 1991, 285. 151 Thomas Rüster, Wandlung. Ein Traktat über Eucharistie und Ökonomie, Mainz 2006. 152 Stegmüller, Hauptströmungen (Anm. 6), 571.

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auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinn­ los« (1 Kor 15,14). Dabei hat zwar die Naturwissenschaft destruktiv gewirkt, paradoxerweise aber noch mehr die Hermeneutik selbst in Gestalt der histo­ risch-philologischen Methoden, sobald diese auf die Bibel und die kirchliche Tradition angewandt wurden. Was soll man z. B. mit dem Dogma der Jungfrau­ engeburt anfangen, wenn sich herausstellt, dass die Schlüsselstelle Jesaja 7,14 durch die griechische Übersetzung der Septuaginta von hebräisch »junge Frau« (almâ), die durchaus auch verheiratet sein konnte, ins semantische Gegenteil »Jungfrau« (parthénos) zustande kam  ?153 Die flankierenden Versuche, die »Brü­ der Jesu« (Matthäus 12,46) in entfernte Verwandte zu verwandeln, werden dadurch nicht glaubwürdiger. Doch »wo der Häretiker nein sagen würde, beginnt der Theologe zu inter­ pretieren«154. Der wohlfeile Ausweg, abermals auf die Hermeneutik zurückzu­ greifen, im Sinne traditioneller Verfahren einen geistlichen Schriftsinn zu un­ terstellen und die wörtlichen Aussagen, die Schwierigkeiten bereiten, als bloße Metaphern oder als Symbole für diesseitige Sachverhalte zu behandeln, stößt aber unter heutigen Bedingungen auf Schwierigkeiten. Denn es ist inzwischen eine Ermessensfrage, wo diese hermeneutische Entschärfung der Religion Halt machen und die Glaubensaussagen nach wie vor wörtlich nehmen muss oder ob sie überhaupt auf diese Möglichkeit verzichten will. Bei Theologen wie Karl Barth und Rudolf Bultmann kommt es nur noch auf die durch das Wort der Schrift bewirkte Annahme der Heilsbotschaft an  ; die historische Wahrheitsfrage ist demgegenüber irrelevant. Der nach Richtigkeit strebenden objektivierenden »Historie« steht die existentielle Begegnung her­ beiführende, faktisch aber vielleicht durchaus legendäre »Geschichte« gegen­ über. Nach Barth lassen sich Kerygma und Historie sowieso nicht mehr tren­ nen, während Bultmann eine Trennung vornimmt und das Neue Testament auf eine inhaltlich ziemlich magere existentielle Botschaft reduziert.155 Eckart 153 Jerusalemer Bibel, Freiburg 1968, 1040 f.; Alfred Rahlfs (Hg.), Septuaginta, Bd. 2, Stuttgart 1935, 575. 154 Walter Kaufmann, Der Glaube eines Ketzers (1959), München 1965, nach Hans Albert, Theologische Holzwege. Gerhard Ebeling und der rechte Gebrauch der Vernunft, Tübingen 1973, Titelblatt. Das Exemplar der UB Erfurt von Alberts Buch stammt aus der Bibliothek der einstigen Kirchlichen Hochschule Naumburg  ; laut Stempel war es dort sekretiert, sei es aus christlichem, marxistischem oder bibliothekarischem Kontrollbedürfnis. 155 Rolf Schäfer, Die Bibelauslegung in der Geschichte der Kirche, Gütersloh 1980, bes. 147 f.; Bormann, Hermeneutik (Anm. 1), 127–130  ; Reventlow, Epochen (Anm. 37), Bd. 4, 366– 391  ; vgl. Fuhrmann u. a., Text (Anm. 136), 13–127.

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Reinmuth reduziert Kreuzestod und Auferstehung Jesu ganz offen auf Meta­ phern.156 Und für Gerd Theissen haben das Neue Testament und der christli­ che Glaube denselben Charakter hypothetischer Vorläufigkeit wie unser Leben und unsere Wirklichkeit überhaupt157. Katholische Theologen, die genauer gesagt bekommen, was sie zu glauben haben, geraten bei ihren zeitgemäßen Reformulierungsversuchen deshalb in noch größere semantische Schwierigkei­ ten. Soweit die kirchliche Verkündigung sich noch auf die Bibel und die Glau­ benslehre einlässt, bewegt sie sich zirkulär in einem abgeschlossenen Bereich biblisch-traditioneller Semantik, ein kirchliches Sprachspiel, das mit dem Rest der Welt und des Lebens nicht mehr viel zu tun hat. Die Frage ist nicht müßig, wie weit die Prediger aller Konfessionen unter diesen Umständen noch beim Wort genommen werden können und wollen. Der kritische Rationalist Hans Albert sieht hier den Wunsch als Vater des Gedankens am Werk. Die hermeneutische Vernunft Hans Küngs werde im Dienste menschlicher Wünsche tätig, um dem geängstigten Gemüt einen Schleichweg zu Gott zu weisen, ohne den es nicht auskommen kann.158 In Wirklichkeit sei aber das traditionelle hermeneutische Sprachspiel »christlicher Glaube« längst am Ende, weil die hermeneutischen Anpassungsleistungen der Theologen und Seelsorger an das heutige Weltbild an den Grenzen ihrer Mög­ lichkeiten angekommen sind. Zwei alternative Sprachspiele zeichnen sich ab. Zum einen die faktische Re­ duktion der biblischen Botschaft auf die diesseitige Lebens- und Leidenserfah­ rung der Menschen,159 im Extremfall die Ersetzung des christlichen Glaubens durch eine christliche Ethik der Nächstenliebe im Sinne Albert Schweitzers. De facto haben sich die Kirchen längst mehr oder weniger weitgehend auf diese Botschaft umgestellt. An die Stelle des strengen Gottes, des Richters über die Sünder, der lange Zeit die Verkündigung beherrscht hat – man bedenke die Allgegenwart von Darstellungen des Jüngsten Gerichts in älteren Kirchen –, ist 156 Eckart Reinmuth, Eschatologie und Historik. Ein theologischer Beitrag zu 1 Kor 15, in  : Jens Schröter/Antje Eddelbüttel (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit. Beiträge aus ge­ schichtstheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive, Berlin/New York 2004, 221–235, hier 233. 157 Gerd Theissen/Annette Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1997, 175. 158 Hans Albert, Das Elend der Theologie. Kritische Auseinandersetzung mit Hans Küng, Ham­ burg 1979  ; vgl. auch ders., Holzwege (Anm. 154). 159 Silke Joneleit-Oesch/Miriam Neubert (Hg.), Interkulturelle Hermeneutik und lectura po­ pular. Neuere Konzepte in Theorie und Praxis (Beiheft 72 zur Ökumenischen Rundschau), Frankfurt 2002.

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der barmherzige und liebende Gott getreten. Gott wird für die Bedürfnisse der Zeit zurechtgemacht, ein Rollenwechsel zum Nichtwiedererkennen mit einem bisweilen ziemlich penetranten christlichen Liebesdiskurs im Gefolge. Zum anderen der Weg der Mystik. Halten wir uns an Wittgenstein, nach dem über die Rätsel des Lebens und der Wirklichkeit keine sinnvollen Aussa­ gen mehr möglich sind. Sie bilden nicht einmal mehr Gegenstände sinnvoller Fragen. »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich  ; es ist das Mys­ tische.«160 Oder an den katholischen Dogmatiker Herbert Vorgrimler, der die Gottesliebe mit den Worten ins Zentrum rückt  : »Die Mystik, in der allein der christliche Glaube seine Zukunftschance hat, wusste das immer.«161 Neben Theologie und Glaube sind Recht und Justiz seit alters bevorzugte Felder hermeneutischer Praxis. In Spätmittelalter und früher Neuzeit hatte sich vor allem an den juristischen Fakultäten so etwas wie eine gesamteuropäi­ sche juristische Hermeneutik entwickelt, die entgegen früheren Vorstellungen auch England einschloss. Sie unterschied grammatische, d. h. wörtliche, und logische, am Sinn des Textes orientierte Auslegung, wobei die letztere dekla­ ratorisch, extensiv oder restriktiv ausfallen konnte. Friedrich Carl von Savigny hat dazu die planmäßige Berücksichtigung des historischen Kontextes genauer ausgearbeitet.162 Heute blüht das Auslegen im Rechtswesen mehr denn je. Eine unüberseh­ bare Fülle von Verfassung(sänderung)en, Gesetzen, Verordnungen und Urtei­ len muss interpretiert werden und in atemberaubendem Tempo werden ständig neue Rechtstexte produziert, die unvermeidlich ihrerseits Auslegungen hervor­ rufen. Wenn irgendwo, dann wird hier die Welt zum Text und der Text zur Welt. Diese hektische Aktivität wird gerne mit den Sachzwängen unserer kom­ plexen Welt begründet, die der rechtlichen Ordnung bedürfe, um überhaupt erst ihre verstehende Bewältigung zu ermöglichen. Genauer besehen, lassen sich dahinter aber auch ganz andere Antriebe erkennen, die eine beträchtliche Ähnlichkeit zu den Verhältnissen im Bereich der Religion aufweisen. 160 Tractatus 6.522 nach Stegmüller, Hauptströmungen (Anm. 6), 559 f. 161 Herbert Vorgrimler, Und das ewige Leben. Amen, Münster 2007, 93. Diese aktuelle Tendenz wird u. a. auch deutlich in  : Daniel Bogner, Gebrochene Gegenwart. Mystik und Politik bei Michel de Certeau, Mainz 2000. 162 Jan Schröder, Zur gesamteuropäischen Tradition der juristischen Methodenlehre, in  : Aka­ demie-Journal 2 (2002) 37–41  ; Clausdieter Schott, Juristische Hermeneutik im Wandel, in  : Michel/Weder, Sinnvermittlung (Anm. 52), 71–90  ; Winfried Brugger, Konkretisierung des Rechts und Auslegung der Gesetze, in  : Archiv des öffentlichen Rechts 119 (1994) 1–34, hier 20–29, 34.

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Denn auch Recht lässt sich inhaltlich so, wie es ist, heutzutage im Gegen­ satz zur europäischen Tradition163 normativ überhaupt nicht mehr begrün­ den. Aber im Gegensatz zu den Theologen können die Juristen ungescheut auf zwei wirkungsvolle Auswege zurückkommen. Erstens wird hermeneutisch eine Gründungslegende geschaffen, die Erzählung von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, von der sich alles Recht herleiten lässt. Der bestehende Zu­ stand eines im Interesse des »kalten Krieges« von den Westmächten geförder­ ten und von Vertretern der deutschen Länder ausgehandelten Grundgesetzes, das dem deutschen Volk nie vorgelegt wurde, wird folgendermaßen interpre­ tiert  : »In seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, […] hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.« An dieser Fiktion ist buchstäblich nichts wahr, aber sie funktioniert durch Akzeptanz im Lauf der Zeit.164 Zweitens hat das Rechtswesen immer noch einen Vorteil, den die Religion längst verloren hat  : Es kann die Akzeptanz der »richtigen« Auslegung erzwin­ gen. Nach dem sogenannten Subsumtionsdogma war das konkrete Urteil der Justiz immer schon im Gesetz enthalten  ; der Richter hatte es nur zu »erken­ nen« und »zur Sprache zu bringen«. Daher konnte es grundsätzlich nur eine richtige Auslegung geben, was offensichtlich absurd, aber für die Entscheidung und damit die Rechtsordnung von grundlegender Bedeutung ist. Denn auch wenn heute die richterliche Rechtsschöpfung ernster genommen wird, so bleibt es doch dabei, dass es nur eine verbindliche Entscheidung gibt. In der Praxis fallen deren Herstellung und ihre Darstellung aber oft weit auseinander. Dabei erweist sich die »objektive Auslegungsmethode« als praktisch, nach der nicht die Absicht des seinerzeitigen Gesetzgebers maßgebend ist (die intentio auctoris der alten Hermeneutiker), sondern sein objektivierter Wille (die intentio operis). Damit wird man die Bindung an den historischen Kontext einer Regelung los und kann die Rechtsordnung durch Interpretation elastisch den Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart anpassen.165 Allerdings sind hier Kontroversen über die richtige Auslegung nicht auszu­ schließen. Entscheidend ist dabei, wer die offizielle, staatliche, oder die inof­ 163 Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, München 2006. 164 Otto Depenheuer, Recht als kommunikativer Umweg. Erscheinungsformen und Funktionen normativer Unwahrheiten, in  : Reinhard, Krumme Touren (Anm. 123), 293–314. 165 Depenheuer, Recht (Anm. 164)  ; vgl. Corzillius, 19. Jahrhundert (Anm. 88)  ; Martin Corzillius, 20. Jahrhundert  : Gesetzesauslegung (Rechtstheorie) (unveröffentlichtes Manuskript)  ; vgl. Fuhr­ mann u. a., Text (Anm. 136), 129–246, 409–412  ; Brugger (Anm. 162), 19 u. Anm. 47.

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fizielle, wissenschaftssoziologisch zu erklärende Deutungshoheit besitzt. Aber nicht nur im internen Betrieb, sondern auch im Verhältnis zur Bevölkerung immunisiert sich das Rechtswesen nicht nur durch staatliche, sondern auch mittels sprachlicher Deutungsmacht. Die juristischen Sprachspiele sind Nicht­ juristen weitgehend unzugänglich und die Juristen sorgen in stillschweigendem Einvernehmen dafür, dass es so bleibt.166 Es wurde schon angedeutet, dass religiöse Deutungsmacht im Abendland ursprünglich mit politischer Erzwingungsmacht abgesichert war. Dieser Sach­ verhalt hat sich auch im Verhältnis der Europäer zu anderen Religionen und Kulturen niedergeschlagen und in subtiler Form bis an die Schwelle der Gegen­ wart in der Art und Weise behauptet, wie der Westen andere Kulturen versteht. »Dass Wissen Macht ist, haben Eroberer und koloniale Herren immer schon verstanden.«167 Wie Adam seinen Herrschaftsanspruch über die Tiere, so hat Europa seinen Herrschaftsanspruch über die Welt bereits durch Namengebung angemeldet  : Amerika, Asien, Indien, Indonesien, Philippinen sind ebenso west­ liche Begriffsschöpfungen, manchmal durch Umkodierung, wie Hinduismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Daoismus und so fort. Für das Wissen waren dabei arbeitsteilig zunächst die christlichen Missio­ nare zuständig. Das Christentum war von Anfang an eine missionarische Reli­ gion  ; daher ging seine Expansion mit derjenigen Europas Hand in Hand und hat, wenn nicht deren ausschließlichen Impuls, so doch ihre ursprüngliche Le­ gitimation abgegeben.168 Für die biblisch gebotenen Anstrengungen der Mis­ sionare zur Bekehrung anderer Völker bildete die Kenntnis von deren Sprache die elementare Voraussetzung. Darüber hinaus war es strategisch von Vorteil, ihre bisherige Religion und Kultur genauer kennenzulernen, entweder wie ein Arzt die Krankheit, die er bekämpfen möchte, oder etwas anspruchsvoller, um vielleicht im indigenen kulturellen System Ansatzpunkte für die eigene Bot­ schaft zu finden. Bereits die erstgenannte Perspektive hat zwischen dem 16. und dem 18. Jahr­ hundert reiches Wissen über fremde Kulturen hervorgebracht. Bernardino de 166 Vgl. z. B. F. Haft, Der Dschungel um uns. Müssen Gesetze so kompliziert sein  ?, in  : Süddeut­ sche Zeitung 4./5. Februar 1984. 167 Jürgen Osterhammel, Wissen als Macht  : Deutungen interkulturellen Nichtverstehens bei Tzvetan Todorov und Edward Said (1997), in  : ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Na­ tionalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, 240–265, hier 240. 168 Wolfgang Reinhard, Globalisierung des Christentums (Schriften der Philosophisch-histori­ schen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 41), Heidelberg 2007.

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Sahagun verdanken wir den Grundbestand unseres Wissens über die Azteken, Bartholomäus Ziegenbalg die erste gründliche Information über die Tamilen. Die China-Missionare aus dem Jesuitenorden hatten mehr vor. Sie wollten den kanonischen und klassischen Büchern der Chinesen die Grundlagen für ein in­ digenes Christentum entnehmen. Da dieses Vorhaben vom universalistisch da­ herkommenden europäischen Ethnozentrismus bekämpft wurde und schließ­ lich kraft päpstlicher Entscheidungen daran scheitern sollte, überschwemmten sie Europa mit Informationen über China und lösten damit eine regelrechte China-Mode aus.169 Doch wie steht es dabei mit dem Verstehen, das hier als Extremfall von Fremdverstehen170 mit besonderen Schwierigkeiten rechnen muss  ? War das Missverstehen, das sich stets von selbst versteht, in diesen Fällen überhaupt zu überwinden  ? Welche Rolle spielte die Übermacht oder im frühneuzeitlichen Japan und China auch die Ohnmacht des Abendlandes für solche Verstehens­ prozesse  ? Bereits das Erlernen der fremden Sprachen, worin Missionare verschiedens­ ter Denominationen bis in die Gegenwart gewaltige Leistungen vollbracht ha­ ben,171 stellt unter bestimmten Umständen eine Art von Überwältigung dar. Soweit es sich um schriftlose Sprachen handelte, lief die Auswahl bestimm­ ter Varianten, ihre Kanonisierung in Wörterbüchern und die Erstellung von Grammatiken, die unbekannte Sprachen den als universal geltenden Regeln der lateinischen Grammatik unterwarfen, auf Disziplinierung der Sprachen und ihrer Sprecher hinaus. Aber auch Hochkultursprachen im Besitz einer Schrift erhielten ihre »lateinischen« Grammatiken  ; Bartholomäus Ziegenbalg identifizierte den Ablativ im Tamilischen.172 Doch sollte man nicht übersehen, 169 Wolfgang Reinhard, Gelenkter Kulturwandel im 17. Jahrhundert. Akkulturation in den Jesuitenmissionen als universalhistorisches Problem, in  : ders., Abhandlungen (Anm. 72), 347–399, hier 348, 350 f., 363–368, 371–377. 170 Peter J. Brenner, Interkulturelle Hermeneutik. Probleme einer Theorie kulturellen Fremdver­ stehens, in  : Peter Zimmermann (Hg.), Interkulturelle Germanistik. Dialog der Kulturen auf Deutsch  ? Frankfurt 1989, 35–55  ; Thomas Göller, Kulturverstehen. Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und der kulturellen Erkenntnis, Würzburg 2000 (Hinweis von Matthias Jung)  ; Stephan Schmidt, Die Herausforderung des Fremden. Inter­ kulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken, Darmstadt 2005. 171 Vgl. u. a. Reinhard Wendt (Hg.), Wege durch Babylon. Missionare, Sprachstudien und inter­ kulturelle Kommunikation (ScriptOralia 104), Tübingen 1998  ; ders. (Hg.), Sammeln, Ver­ netzen, Auswerten. Missionare und ihr Beitrag zum Wandel europäischer Weltsicht (Script­ Oralia 123), Tübingen 2001  ; Trabant, Sprachdenken (Anm. 31), 233–236. 172 Bartholomäus Ziegenbalg, Grammatica Damulica, Halle 1716, Ndr. Halle 1985.

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dass die Missionare keine andere Wahl als die bewährte lateinische Grammatik hatten, dass dieses Verfahren für das Sprachenlernen ihrer Mitbrüder zweck­ mäßig war, dass eine unbekannte Sprache auf diese Weise an der Würde des Lateinischen, der Sprache schlechthin, partizipieren konnte und dass schließ­ lich durchaus Versuche zu verzeichnen waren, aus dem lateinischen Käfig aus­ zubrechen.173 Die christlichen Missionare sind aber nicht nur als Philologen, sondern auch als Religions- und Kulturwissenschaftler die Vorläufer oder Begründer der Völ­ kerkunde und der meisten Zweige der Orientalistik geworden. Sie transpor­ tierten den christlichen exegetischen Apparat, der in der Auseinandersetzung mit der jüdischen Alterität entstanden war, in die neuen Welten. Orientalistik und Ethnologie wurden zu Arten der Exegese, die das Abendland mit dem versorgten, was es brauchte, um seine Identität mittels Bezug auf Alterität zu artikulieren.174 Demgemäß waren die Leistungen der Missionare vor allem auf diesem Gebiet durch Machtverhältnisse und Überlegenheitsbewusstsein ver­ zerrt. Denn in vielen Fällen galten ihnen einheimische Kulturen a priori als inferior, um nicht zu sagen barbarisch. Und auch wo dies nicht zutraf, son­ dern den einheimischen Kulturen mit großem Respekt begegnet wurde, wie seitens des Bartolomé de Las Casas in Mittelamerika175 und der Jesuiten in Japan, China und Indien, bestand keinerlei Zweifel an der Überlegenheit der einzig wahren christlichen Religion und der von ihr vertretenen Sittlichkeit, insbesondere der Sexualethik, sowie der griechisch geprägten abendländischen Philosophie als unverzichtbarer Grundlage.176 Bartholomäus Ziegenbalg be­ klagte noch im 18. Jahrhundert das Fehlen aristotelischer Kategorien im indi­ schen Denken.177 Bereits die unreflektierte Anwendung der abendländischen Kategorie »Religion« war geeignet, den Blick auf das anderswo Vorgefundene zu verengen. Unter anderem musste eine »richtige« Religion nach westlichen Vorstellungen eine heilige Schrift besitzen. Daher wurde die bunte religiöse 173 Wulf Oesterreicher/Roland Schmidt-Riese, Amerikanische Sprachenvielfalt und europäische Grammatiktradition. Missionarslinguistik im Epochenumbruch der Frühen Neuzeit, in  : lili. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 29/116 (1999) 62–99, hier 72 f. 174 De Certeau, Schreiben (Anm. 150), 152 f. 175 Vgl. Mariano Delgado, Abschied vom erobernden Gott. Studien zur Geschichte und Gegen­ wart des Christentums in Lateinamerika. Immensee 1996. 176 Vgl. Jan Assmann, Translating Gods  : Religion as a Factor of Cultural (Un)Translatability, in  : Sanford Budick/Wolfgang Iser (Hg.), The Translatability of Culture. Figurations of the Space Between, Stanford 1996, 25–36. 177 W. Caland (Hg.), Ziegenbalg’s Malabarisches Heidenthum, Amsterdam 1926, 234.

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Praxis fremder Polytheismen von vorneherein abgewertet und zum Beispiel ein so vielgesichtiges Phänomen wie der Daoismus auf Inhalte seiner zwei oder drei wichtigsten Schriften reduziert.178 Dennoch kam es dank Kompetenz und Sympathie bei Leuten wie Ziegen­ balg oder früher dem China-Jesuiten Matteo Ricci zu einem hohen Maß unbe­ fangener und zuverlässiger Fremdwahrnehmung samt Verständnis für störende Sitten. Ricci brachte im Lichte seines Wissens um die Seelenwanderungslehre sogar ein gewisses Verständnis für chinesische Kindstötungen auf179 wie einst Bartolomé de Las Casas für aztekische Menschenopfer.180 In Europa hingegen nahmen auch Groß-Intellektuelle, die sich zu einem interkulturellen commerce de lumières bekannten, eher sich selber als die An­ deren wahr. Gottfried Wilhelm Leibniz entdeckte in der neo-konfuzianischen Philosophie des Zhu Xi nicht nur einen Monotheismus, was nicht einmal die Jesuiten geschafft hatten, sondern sogar das spezifisch Leibniz’sche Verhältnis von Geist und Materie, indem er mit hermeneutischer Forschheit die Univer­ salkategorie Li kurzerhand mit »Geist« und »Gott« gleichsetzte. Und in den Hexagrammen des Yijing fand er seine eigene binäre Arithmetik samt deren apologetischen Anwendungsmöglichkeiten wieder.181 Voltaire bewunderte ei­ nen in Wirklichkeit aus Missionskreisen stammenden indischen Dialog, das Ezour Vedam, wegen seiner deistisch-vernünftigen Tendenzen als Ausdruck der indischen Urweisheit, während er die echten Veden schlicht abscheulich fand.182 Dass sich die bescheidenen Ansätze zur unbefangenen Wahrnehmung der Anderen mit der nunmehr eindeutigen weltweiten Übermacht des Westens seit dem 18. Jahrhundert weitgehend ersatzlos auflösten, nimmt nicht Wunder. Die Wissenschaften bekannten sich jetzt zwar ausdrücklich zur methodischen Strenge und hatten die Vorurteile ihrer missionarischen Vorgänger abgelegt, dafür aber gegen diejenigen des säkularen Eurozentrismus eingetauscht. Oft genug produ­ 178 J. J. Clarke, The Tao of the West. Western Transformation of Taoist Thought, London/New York 2000, 50. 179 Nicolas Trigault/Matteo Ricci, Historia von Einfüehrung der Christlichen Religion in das Königreich China durch die Societet Jesu, Augsburg 1617, 73. 180 Delgado, Abschied (Anm. 175), 129–137. 181 Reinhard, Kulturwandel (Anm. 165), 377 f.; Gottfried Wilhelm Leibniz, Zwei Briefe über das binäre Zahlensystem und die chinesische Philosophie, hg. v. Renate Loosen, Stuttgart 1968  ; ders., Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689–1714), hg. v. Rita Widmaier/ Malte-Ludolf Babin, Hamburg 2006. 182 Frank Neubert, Ezourvedam, in  : Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart 2006, 733–735.

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zierten Geographie, Philologie, Ethnologie und Orientalistik imperialistisches Herrschaftswissen. Schon im 16. Jahrhundert soll Hernán Cortes die Azteken an­ geblich deswegen überwältigt haben, weil er Elemente ihrer Kultur verstand und gezielt einsetzen konnte, während jene der seinigen ratlos gegenüberstanden.183 Nun ist die westliche Vorherrschaft inzwischen der Dekolonisation erlegen. Allerdings lebt sie in den Wissenschaften angeblich in subtiler Form weiter. Vor allem der Orientalistik wurde vorgeworfen, sie habe ihren jeweiligen Ori­ ent selbst erfunden und mit der arroganten Zuversicht konstruiert, sie sei in der Lage, die Asiaten besser zu verstehen als diese sich selber.184 Immerhin habe man die Anderen oft genug ihre eigenen klassischen Sprachen und ihre Geschichte erst richtig gelehrt und ihnen die richtige Lektüre ihrer wichtigen Texte beigebracht. Auch wenn der postmoderne Ethnologe andere Kulturen als Texte auffasst, so doch als korrumpierte Texte, die erst wieder zu einem sinnvol­ len Ganzen zusammengesetzt werden müssen.185 Diese Einstellung behaupte sich im Sinne der Diskurstheorie Foucaults »hinter dem Rücken« der Subjekte und sei demgemäß durch individuelle Anstrengungen, den Anderen »objektiv« und mit Sympathie zu begegnen, nicht zu überwinden.186 Von aller wohlfeilen Polemik abgesehen, wäre es in der Tat interessant zu erfahren, wie viele west­ liche Völkerkundler und Orientalisten nach wie vor offen oder insgeheim und vielleicht sogar mit Recht davon überzeugt sind, sie verstünden mehr von ih­ rem Gegenstand als einheimische Experten. Immerhin sind wissenschaftliche Anstrengungen zum kontrollierten Fremdverstehen die längste Zeit eine west­ liche Besonderheit gewesen und geblieben. Meines Wissens machte Japan seit dem 18. Jahrhundert den Anfang mit Spezialisten für Wissen über den Westen. Auf diesem Feld, wo Übersetzen und Interpretieren besonders eng zusam­ menhängen, ist zwar jeder dem anderen fremd und muss doppelt übersetzt wer­ den, es gibt aber auch zwischen Angehörigen von Kulturen, die einander fremd sind, Momente gemeinsamen instinktiv-emotionalen Einverständnisses.187 Wahrscheinlich haben die Azteken Cortes auf ihre Weise so gut oder schlecht verstanden wie umgekehrt.188 Die Unterstellung unvermeidlicher interkulturel­ 183 Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt 1985. 184 Jürgen Osterhammel, Über die Erkennbarkeit des Ostens. Theoretische und methodische Konsequenzen aus Edward Saids »Orientalismus« (unveröffentlichtes Manuskript). 185 Schiffauer, Grenzen (Anm. 14), 239. 186 Edward W. Said, Orientalism, London 1978. 187 Unni Wikan, The Power of Resonance, in  : Gisli Pälsson (Hg.), Beyond Boundaries. Under­ standing, Translation and Anthropological Discourse, Oxford 1993, 184–209. 188 Osterhammel, Wissen (Anm. 167), 151–153 nach Inga Clendinnen.

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ler Missverständnisse bedarf deutlicher Abschwächung, weil sie im Grunde auf die Vorstellung von Kulturen als abgeschlossenen und statischen Monaden und von ihrem Verstehen als kongenialem erkennendem Einfühlen in dort bereits Erkanntes zurückgehen. Die heutigen Vorstellungen vom Verstehen und von Kultur sind anderer Art. Kultur wird nicht mehr als geschlossenes System, son­ dern als offener Prozess gesehen.189 Das gilt auch für die Wissenschaftskulturen von Orientalistik und Völker­ kunde, die sich in einem Dreischritt angeblich entsprechend verändert haben  : 1. Im Zeitalter des Kolonialismus und des sogenannten »Orientalismus« war der Andere zwar anders, aber unterlegen. Die Beziehungen waren von Herr­ schaft oder Hegemonie des Westens geprägt, auch wenn dessen ethnozentri­ scher Diskurs universalistisch maskiert daherkam. 2. Mit der Dekolonisation verschwand der Andere  ; es gab nur noch Gleiche mit schwer zugänglichen autonomen Kulturen eigenen Rechts. Die Ethnologie verlor ihren Gegenstand und wurde zur Soziologie bzw. ein Teil der Sozialwissenschaft konvertierte in umgekehrter Richtung zur »europäischen Ethnologie«. Aber es handelt sich nur um eine scheinbare Inversion des Kolonialismus und des Orientalismus, denn der Andere wird nun zum Opfer seiner kulturellen Identität, die unter allen Umständen gepflegt werden muss, d. h. er wird ins Museum gesperrt. Es bleibt bei der westlichen Obsession von Alterität.190 3. Wenn es aber keine abgeschlossenen Kulturen, sondern nur Kontinuen (mit Verdichtungen) gibt und keine wissenschaftliche Position oberhalb von Kulturen, sondern nur spe­ zifische Wissenschaftskulturen, die mit den beforschten Kulturen in beiderseits prägendem Austausch stehen, dann ist ein living discourse angesagt, in dem man sich aufeinander einlässt, dabei die eigene Position reflektiert und die In­ teraktion gemeinsam aushandelt.191 Freilich handelt es sich wie bei dem damit verwandten »herrschaftsfreien Diskurs« des Jürgen Habermas um eine Utopie, um ein aktuelles Ideal interkulturellen Verstehens.

189 Andreas Wimmer, Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs, in  : Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48 (1996) 401–425  ; vgl. auch die empirisch begründeten Korrekturen am Orientalismus-Konzept bei C. A. Bayly, Empire and Information. Intelligence Gathering and Social Communication in India, 1780–1870, Cambridge 1996, 369–372. 190 Vgl. Sibylle van der Walt, Die Last der Vergangenheit und die kulturrelativistische Kritik an den Menschenrechten. Ursprung und Folgen der westlichen Alteritätsobsession, in  : Saecu­ lum 57 (2006) 231–253. 191 Pälsson, Introduction  : Beyond Boundaries (Anm. 187), 1–40.

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Denn auch wo im nachkolonialen Zeitalter verschiedene Arten Hinduismus und Buddhismus sowie neuerdings Islam und Daoismus im Westen Anhänger gewinnen, erhebt sich nach wie vor nicht nur die Frage, wieweit die jeweiligen asiatischen Missionare – soweit es sich überhaupt um solche handelt – ge­ zielt auf westliche Bedürfnisse eingehen, sondern vor allem wieweit westliches Denken sich asiatisches kreativ anverwandelt und es sich durch diesen Verste­ hensprozess abermals »neo-orientalistisch« unterwirft.192 Oder sollte es sich tatsächlich um eine Art von Selbstorientalisierung des Westens handeln, um eine wirkliche Unterwerfung durch den Osten  ? Besonders aufschlussreich ist der Umgang mit dem Daoismus, weil dieser einerseits erst spät wahrgenommen wurde, andererseits wegen seiner Vielge­ stalt bei geringer Institutionalisierung eine Fülle von verschiedenen Interpre­ tationsmöglichkeiten bietet. Die Jesuitenmissionare hatten ihn überwiegend als primitiven Götzendienst ignoriert, wobei sie aber nicht nur ihren eigenen Vorurteilen folgten, sondern auch denjenigen der von ihnen bewunderten chi­ nesischen Konfuzianer.193 Als er im 19. Jahrhundert im Westen besser bekannt wurde, entstand dort überhaupt erst der Sammelbegriff »Daoismus« für die verschiedenen Ideen und Praktiken, die wir heute darunter zusammenfassen – ein klassischer Fall »orientalistischer« Konstruktion. Denn jetzt wurde er von Theologen und Philosophen für allerhand wirkliche oder vorgebliche Alternati­ ven zu abendländischen Denktraditionen in Anspruch genommen. Heidegger hat sich seinem Einfluss geöffnet und »postmoderne« Philosophen haben eine enge Geistesverwandtschaft mit Derrida behauptet. Er wurde zu Recht oder Unrecht für vielerlei Esoterik ebenso bemüht wie für eine neue Mystik, für ein modernes naturwissenschaftliches Weltbild samt ökologischer Politik und eine rein diesseitige Weltanschauung ohne Transzendenz, für die Emanzipation der Frau, für Selbstverwirklichung als Lebensziel und anderes mehr. Vieles davon tut den real existierenden Varianten des chinesischen Daoismus ziemlich viel Gewalt an und könnte wegen dieser Vereinnahmung als neo-orientalistisch kri­ tisiert werden. Auf der anderen Seite ist es aber völlig legitim, bei allem Respekt vor einem Text oder einer Kultur diesen im Dialog Anstöße für die Weiterent­ wicklung des eigenen Denkens zu entnehmen.194 Interkulturelles Verstehen lässt sich wie theologisches und juristisches am Textverstehen festmachen, hat es aber darüber hinaus noch mehr als jene mit 192 Vgl. Wolfgang Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, Bd. 3, Stuttgart 1988, 216 f. 193 Reinhard, Kulturwandel (Anm. 169), 365. 194 Clarke, Tao (Anm. 178), 29, 88, 145, 164, 171–175.

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der höheren Abstraktionsebene der Auslegung menschlichen Verhaltens und Handelns zu tun, d. h. auch mit dem Versuch, Regeln für dieses praktische Verhalten und Handeln zu identifizieren und erklärend zu verstehen. Hand­ lungstheoretisch müssen solche Versuche aber streng genommen beim Indi­ viduum ansetzen. Oder sollte bereits diese Perspektive eine exklusiv westliche sein, insofern dem Individuum angeblich nur in unserer Kultur seit alters eine derartige zentrale Rolle zukommt  ? Jedenfalls ist das Verstehen von Individuen ein zentraler Bestandteil der abendländischen Verstehenskultur geworden. Nirgendwo sonst werden Tage­ bücher so wichtig genommen und nicht selten veröffentlicht, nirgendwo sonst spielen Autobiographie195 und Memoiren als Dokumentation des wirklichen oder vorgeblichen Selbstverständnisses eine so große Rolle und können von vorneherein einer großen Nachfrage sicher sein. Denn laut Dilthey ist »die Selbstbiographie […] die höchste und am meisten instruktive Form, in wel­ cher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt«196. Selbstverständlich erklärt auch der hermeneutische Philosoph Paul Ricœur seine autobiographischen Aufzeichnungen zum »Versuch, mich selbst zu verstehen«.197 Beim Sozialphi­ losophen Charles Taylor erscheint der Mensch schlechthin als das self-interpreting animal.198 Nirgendwo sonst werden so viele Biographien geschrieben, nirgendwo sonst genießt dieses zwischen Literatur und Historiographie ange­ siedelte Genre ähnliches Ansehen. Nirgendwo sonst hält man es für nötig, nicht nur das wissenschaftliche oder literarische Lebenswerk einer aus irgendwelchen Gründen als bedeutend geltenden Persönlichkeit zu sammeln, der kritischen »Sorge um den rechten Text« zu unterwerfen und aufwendig zu edieren, sondern sogar deren private Dokumente, vor allem die Korrespondenz bis hin zu Liebesbriefen.199 Die so­ genannte »kommentierende« Edition aus dem 19. Jahrhundert scheute sich bisweilen nicht, ihren Autor besser zu verstehen als er sich selber. Es sei nur an die posthume Komposition von Friedrich Nietzsches Wille zur Macht und 195 Georg Misch, Geschichte der Autobiographie, 4 Bde. In 5 Tln., 1.–4. Aufl., Frankfurt 1967– 1992. Misch war Dilthey-Schüler  ! Barbara Schmid, Schreiben für Status und Herrschaft. Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Zürich 2006. 196 Gadamer/Boehm, Seminar (Anm. 72), 198. 197 Ricœur, Text (Anm. 22), 3. 198 Charles Taylor, Self-Interpreting Animals (1977), in  : ders., Philosophical Papers, Bd. 1, Cambridge 1985, 45–76  ; vgl. ders., Quellendes Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt 1996. 199 Vgl. z. B. die im Entstehen begriffene Max-Weber-Gesamtausgabe.

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Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft erinnert. Die moderne »dokumentie­ rende« Edition übt demgegenüber größte Abstinenz, hat aber in Fällen wie den genannten Schwierigkeiten damit, den früher gestifteten hermeneutischen Traditionszusammenhang umzuorientieren. Fiktive oder teilweise fiktive Biographien gelten offensichtlich als beson­ ders geeignet, die Leser zum richtigen Verstehen der Geschichte anzuleiten. Einer der Musterafrikaner des 18. Jahrhunderts, Olaudah Equiano, hat, wie wir heute wissen, die Schilderung seiner Versklavung und Verschiffung über den Atlantik frei erfunden, aber sie gilt dennoch im höheren Sinne als authen­ tisch.200 Dasselbe wurde von den fiktiven Auschwitz-Memoiren des Binjamin Wilkomirski alias Bruno Dösseker behauptet.201 Selbstverständlich hat es auch in anderen Kulturen, besonders in China, Biographien und Autobiographien gegeben.202 Ob ihnen aber auch das liebe­ volle Eingehen auf die Entfaltung einer einzigartigen Individualität eignet wie den unsrigen  ? Gewiss, das Genre hat sich auch im Westen erst seit Rousseau voll entfaltet, geht aber auf die ursprünglichen jüdisch-christlichen und grie­ chischen Vorstellungen vom Individuum zurück und blüht dank abendländi­ schen hermeneutischen Deutungstechniken. Unter diesen Umständen fand nicht nur die Psychologie als Wissenschaft des Verstehens von Individuen günstige Entwicklungsbedingungen, sondern es konnte zusätzlich als spezifisch westliche Errungenschaft die Psychoanalyse entstehen und über ihren nicht unumstrittenen Erkenntnis- und Therapiewert hinaus zu einer Art Weltanschauung aufsteigen und eine Schlüsselstellung im individuellen wie kollektiven Selbstverständnis des Westens einnehmen. Sigmund Freud betrachtete die Psychoanalyse einerseits durchaus als Natur­ wissenschaft, auch wenn er die Erstellung eines entsprechenden experimentalpsy­ chologischen oder neurophysiologischen Modells der Zukunft überlassen musste. Sein grundlegendes Strukturmodell der Psyche (Es–Ich–ÜberIch) sollte jedenfalls kein derartiger Apparat sein. Andererseits sind die Datengewinnung durch Ge­ spräch, die Traumdeutung und das Arbeiten mit Symbolen ausgesprochen herme­ neutische Techniken zur Rekonstruktion der Geschichte des Patienten, was Freud ebenfalls klar war. Darüber hinaus tritt mit der emotionalen »Übertragung« vom 200 Werner Ustorf, Olaudah Equiano (1745–1797) – afrikanischer Christ, Publizist und Aboli­ tionist, in  : Periplus. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte 2006, 116–128. 201 Binjamin Wilkomirski, Bruchstücke  : aus einer Kindheit 1939–1948, Frankfurt 1995. 202 Wolfgang Bauer, Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesi­ schen Literatur von ihren Anfängen bis heute, München 1990. Hinweis von Michael Friedrich.

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Patienten auf den Therapeuten eine merkwürdige Umkehrung der »Einfühlung« im Sinne älterer hermeneutischer Richtungen auf, auch wenn sie letztlich abermals zur besseren Kenntnis des Patienten beitragen soll. Psychoanalyse ist eine »Deu­ tungskunst«, einschließlich der von Freud selbst durchaus erkannten Schwierigkeit der möglichen Mehrdeutigkeit von Symbolen und Träumen.203 Bezeichnenderweise hat der Philosoph Paul Ricœur, nachdem er sich mit der Hermeneutik von Symbolen befasst hatte, Sigmund Freud und der Psychoana­ lyse ein vielbeachtetes Buch gewidmet.204 In unserem Zusammenhang ist aber vor allem der Anspruch des Analytikers wichtig, kraft seines theoretischen Vor­ wissens und seiner Lehranalyse den Patienten besser zu verstehen als dieser sich selbst. Denn wenn alle menschlichen Lebensäußerungen durch Libido bestimmt sind bzw. alle Kulturäußerungen durch deren Sublimierung, ergibt sich daraus der weitreichende, um nicht zu sagen anmaßende Anspruch  : »Die Psychoanalyse vermag Auskunft zu geben über die Bedeutung aller Formen menschlicher Äuße­ rungen.«205 Aber auf diese Weise konnte sie für viele Zeitgenossen zum maßge­ benden Mittel der Daseinserhellung und Welterklärung werden – möglicherweise die einflussreichste Variante der hermeneutischen Lebensform überhaupt  ! Es passt dazu, dass sie als typisch westliche Erscheinung galt, weil sie sich angeblich auf typisch westliche Probleme bezog. Das ist nur teilweise richtig, aber ihre weltweite Ausbreitung gehört in den Zusammenhang der kulturellen Globalisierung westlichen Ursprungs. Seit den 1930er Jahren blüht sie auch in Japan, wo bezeichnenderweise eigenwillige, vom westlichen Hauptstrom abweichende Theorien entwickelt wurden. Vor allem drei Entwürfe, die im Gegensatz zum Oedipus-Komplex nicht den Vater-Sohn-Konflikt in den Mit­ telpunkt stellen, sondern die Mutter-Kind-Beziehung. Dabei bedienten sie sich nicht der Metaphorik der griechischen Mythologie wie der Gymnasialab­ iturient Sigmund Freud, sondern benutzten Versatzstücke aus buddhistischen Sutras oder aus der japanischen Folklore.206 203 Jörg Zimmermann, Hermeneutik und Psychoanalyse, in  : Freiburger Universitätsblätter 47 (1975) 59–73  ; Piet C. Kuiper, Die Verschwörung gegen das Gefühl. Psychoanalyse als Her­ meneutik und Naturwissenschaft, Stuttgart 1980 (ndl. 1976), 9, 21, 70–108, 144–190  ; Jo­ achim Nicolay, Die Form der psychoanalytischen Argumentation. Eine Untersuchung zur Bestimmung der Möglichkeiten und Grenzen einer tiefenpsychologischen Hermeneutik, Frankfurt 1983  ; Toews, Psychoanalysis (Anm. 24), 535–545. 204 Paul Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt 1969 (franz. 1965, ame­ rik. 1970)  ; vgl. ders., Konflikt (Anm. 19), 33. 205 Martin Treml, »Wildes Denken« als Theologie, in  : Trajekte 4/8 (2004), 47. 206 Andra Alvis, Psychoanalysis in Japan, in  : International Institute for Asian Studies (II AS) Newsletter 30 (2003) 9.

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Es fehlt allerdings nicht an Deutungsangeboten menschlichen Verhaltens und Handelns mit universalem Anspruch, die einfacher zu handhaben und daher noch populärer, dabei aber zu Recht nicht weniger umstritten sind. Sie stammen aus der Ökonomie. Für Karl Marx und den Marxismus spielten In­ dividuen zwar nur als Angehörige ihrer Klasse eine Rolle, aber da die gemein­ samen Klasseninteressen ökonomischer Natur waren, ergab sich daraus die be­ liebte vulgärmarxistische Praxis, alles Verhalten und Handeln von Menschen unmittelbar auf deren individuelle ökonomische Interessen zurückzuführen und so entlarvend zu »verstehen«. Diese Auffassung wurde passend zum Ende des Sozialismus und dem »End­ sieg« des Kapitalismus durch eine marktwirtschaftliche Variante ersetzt, die dif­ ferenzierter argumentiert und deshalb mehr Plausibilität beanspruchen kann. Sie geht von der Annahme aus, dass jeder Mensch gut marktwirtschaftlich versuche, durch rationales Kalkül nach seinen individuellen Präferenzen seinen individu­ ellen Nutzen zu maximieren.207 Obwohl die Ökonomie sich, streng genommen, überhaupt nicht mit dem Verhalten einzelner Individuen befassen möchte, son­ dern mit dessen statistisch erfassbaren Regeln, lässt sich die Grenze zur Ökonomi­ sierung des Individuums hier leicht überschreiten. Entscheidend ist die zentrale Annahme, dass Nutzen sich nicht in wirtschaftlichem Profit erschöpfe, sondern sich je nach Präferenzen auf alles und jedes beziehen könne, auf Ansehen, auf Freundschaft, auf Liebe208 und, wenn es sein muss, sogar auf das Leben nach dem Tode, wie ein Vorläufer dieser Theorie des aufgeklärten Egoismus schon 1564 festgestellt hatte.209 In Gestalt der Ökonomik existiert inzwischen eine besondere Wissenschaft von der Anwendung ökonomischer Modelle auf das übrige Leben. Man kann deren Deutungsangebot sogar als religiöses auffassen, denn der Glaube an das Walten der »unsichtbaren Hand« der Marktkräfte, die alles recht macht, ist der Vorsehungsglaube der Gegenwart, der Markt der Gott oder das Schicksal, die man fürchtet und auf die man hofft.210 Allerdings ist dieser Glaube 207 Gary S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, 2. Aufl., Tübingen 1993  ; Gebhard Kirchgässner, Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell in­ dividuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 2. Aufl., Tübingen 2000. 208 Gerard Radnitzky/Peter Bernholz (Hg.), Economic Imperialism. The Economic Approach outside the Field of Economics, New York 1987. 209 Leonhard Fronsperger, Von dem Lob deß Eigen Nutzen, Frankfurt 1364. 210 Vgl. Thomas Rüster, Der verwechselbare Gott. Theologie nach der Entflechtung von Chris­ tentum und Religion, 4. Aufl., Freiburg 2001, 124–142 nach Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion (1921).

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ebenso irrational begründet wie viele andere Entscheidungen des Menschen, die ganz und gar nicht durch rationales Kalkül zustande kommen. Das gilt sogar für ökonomische Entscheidungen im engeren Sinn. Selbst Kaufentscheidungen ori­ entieren sich oft genug nicht am erwarteten ökonomischen Nutzen, sondern am Verhalten von Bezugspersonen (peers).211 Hier irrte die Rational Choice Theory. Wenn wir den Spieß umdrehen und nicht mehr menschliches Verhalten öko­ nomisch interpretieren, sondern ökonomische Theorie hermeneutisch ange­ hen,212 dann zeigt sich, dass Marktteilnehmer gar nicht besonders rational han­ deln,213 sondern in ihren Präferenzen durch die Sprache, durch die Diskurse, in die sie eingebettet sind, bestimmt werden. Vielen ökonomischen Modellen kön­ nen streng genommen keine stabilen Annahmen zugrunde gelegt werden, denn sobald die Beteiligten den als Modell formalisierten Sachverhalt zu verstehen beginnen, ändert sich dessen Konstellation.214 Ökonomische Entscheidungen er­ folgen nicht mechanisch, sondern beruhen auf Sinngebung, die verstanden wer­ den muss – sonst könnte man die Wirtschaftspolitik einem Computer überlas­ sen. Ökonomische Fakten sind bereits ein Konstrukt, das beobachtetes Verhalten zahlreicher Personen interpretiert  ; sogar Statistiken stellen im Grunde Interpre­ tationen dar.215 Preise sind zwar quantitative Daten und Kommunikationssignale, aber sie entstehen durch Interpretationen seitens der Marktteilnehmer.216 Wirtschaft stand ursprünglich im Dienste des Konsums, weil die Güter ge­ nerell knapp waren. Heute hingegen steht der Konsum im Dienst der Wirt­ schaft. Denn für viele Menschen in hoch entwickelten Ländern sind die Güter nicht mehr knapp, aber um die Wirtschaft am Laufen zu halten, ist es dennoch wichtig, dass sie für knapp gehalten und aus diesem Grund erworben wer­ den.217 »Richtiges« Verstehen dieser Art ist für die Wirtschaft überlebenswich­ tig und muss daher von der Werbung suggeriert werden. 211 Vgl. dazu Amitai Etzioni, The Moral Dimension. Toward a New Economics, New York 1990, bes. 166–180. Hinweis von Bettina Hollstein. 212 Wie die Beiträge in  : Lavoie, Economics (Anm. 116). 213 Ralph A. Rector, The Economics of Rationality and the Rationality of Economics, in  : Lavoie, Economics (Anm. 116), 195–235. 214 Lawrence A. Berger, Self-interpretation, Attention, and Language, in  : Lavoie, Economics (Anm. 116), 262–284. 215 G. B. Madison, Getting beyond Objectivism, in  : Lavoie, Economics (Anm. 116), 34–58, hier 49. 216 Richard M. Ebeling, What Is a Price  ? Explanation and Understanding, in  : Lavoie, Econo­ mics (Anm. 116), 177–194. 217 Helmut Steiner, Der Kurzschluss der Marktwirtschaft. Instrumentalisierung und Emanzipa­ tion des Konsumenten, Berlin 1999.

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Auch im Denken von Ökonomen lassen sich nicht nur bei John Maynard Keynes hermeneutische Ansätze feststellen,218 sondern sogar Donald McClos­ key, Neoklassiker aus Chicago und wirtschaftshistorischer Cliometriker, besteht darauf, dass die Ökonomen auch heute, wenn genau besehen, überwiegend Geschichten erzählen.219 Demgemäß wurde inzwischen sogar die ausdrückli­ che Re-Historisierung ökonomischer Theoriebildung in Angriff genommen.220 Mit ökonomischen und psychoanalytischen Deutungsangeboten und dem alltäglichen Gebrauch, der davon gemacht wird, sind wir bereits tief in das Verstehen alltäglicher Lebenspraxis der Individuen eingetaucht, obwohl Reli­ gion und Recht natürlich ebenfalls unmittelbar damit zu tun haben. Der Be­ sessenheit vom Verstehen des Individuums entspricht aber das vom Verstehen besessene Individuum als angeblich höchste Hervorbringung der westlichen Kultur, als Spitzenleistung ihres Erziehungswesens. Denn die Hochschätzung der Sprache und des Textverstehens im Erziehungswesen prägt dessen Alltag und damit das ganze Leben der Europäer. Diese seit der römischen Rheto­ rik durch verschiedene Wellen von »Humanismus« vermittelte Praxis ist der ausschlaggebende Grund für die Dominanz der hermeneutischen Lebensform. Vor allem die deutsche »Bildung« darf geradezu als ihr Inbegriff gelten  ; deswe­ gen waren und sind die Deutschen immer noch ihre markantesten Vertreter, die deutschen Schullehrer und Professoren ihre einflussreichste Verkörperung. Zu fragmentarisch ist Welt und Leben – Ich will mich zum deutschen Professor begeben. Der weiß das Leben zusammenzusetzen, Und er macht ein verständlich System daraus  ; Mit seinen Nachtmützen und Schlafrockfetzen Stopft er die Lücken des Weltenbaus.221

Während Naturwissenschaftler das von den Philologen kontrollierte Abitur längst als Verbrechen an der Jugend bekämpften, bekannte sich der Soziologe 218 Ludwig M. Lachmann, Austrian Economics, in  : Lavoie, Economics (Anm. 116), 134–146, hier 143 f. 219 Donald N. McCloskey, Storytelling in Economics, in  : Lavoie, Economics (Anm. 116), 61– 75. 220 Gerold Blümle/Nils Goldschmidt (Hg.), Perspektiven einer kulturellen Ökonomik, Münster 2004. 221 Heinrich Heine, Buch der Lieder. Die Heimkehr 1823–1824, in  : ders., Werke, Bd. 1, Leip­ zig o. J., 98 (Nr. 60).

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Max Weber noch 1919 zu dem selbstverständlich auch von ihm absolvierten humanistischen Gymnasium. Die klassische Welt blieb ihm in Figuren und Zitaten lebenslang abrufbar.222 In Deutschland leitet sich die hermeneutische Lebensform weitgehend von der Praxis evangelischer Theologie her. Wie u. a. an den Historikern gezeigt werden konnte,223 stammten ihre führenden Vertreter überproportional häu­ fig aus evangelischen Pfarrhäusern und/oder begannen mit dem Studium der Theologie, bevor sie sich anderen »Geisteswissenschaften« zuwandten. Der andere Geist war derjenige des Neuhumanismus, der »griechischen Tyrannei über Deutschland«224, jener sterilen Reinheit einer erfundenen ästhetischen Idealwelt, die mit dem historisch-realen Hellas wenig zu tun hatte. Aber das Prestige von Bildung wächst mit der Distanz von der Wirklichkeit. Schließlich weiß keiner so recht, was Bildung ist, denn sie ist weder mit Erziehung noch mit Ausbildung identisch.225 Wie die römische Rhetorik glaubt sie an die Ver­ vollkommnung des Menschen durch die Sprache, indem der Schüler durch die Lektüre der klassischen Texte ein besserer Mensch und seinerseits dazu befähigt werde, alles zu verstehen – und Aufsätze darüber zu schreiben. Einem Buch wird unbesehen die Fähigkeit zugeschrieben, ein Leben zu verändern.226 Die Wahrheit befindet sich nämlich in bestimmten Büchern, die man nur herme­ neutisch aufzuschließen braucht, um in ihren Besitz zu gelangen.227 Daraus ergab sich »die deutsche Idee der Wahrheit«, d. h. eine Dogmati­ sierung der hermeneutischen Erkenntnis bei gleichzeitiger Abwertung empi­ risch-experimenteller Vorgehensweisen, unter der manche deutsche Naturwis­ senschaftler sehr zu Unrecht immer noch meinen, leiden zu müssen. Diese 222 Radkau, Max Weber (Anm. 121), 120. 223 Reinhard, Martin Luther (Anm. 68)  ; vgl. schon Thomas Nipperdey, Luther und die Bildung der Deutschen, in  : Hartmut Löwe/Claus-Jürgen Roepke (Hg.), Luther und die Folgen. Beiträge zur sozialgeschichtlichen Bedeutung der lutherischen Reformation, München 1983, 13–27. 224 Eliza M. Butler, The Tyranny of Greece over Germany. A Study of the Influence Exercised by Greek Art and Poetry over the Great German Writers of the 18th, 19th and 20th Centuries, Beacon Hill 1958 (zuerst 1935), deutsch, gekürzt  : Deutsche im Banne Griechenlands, Berlin 1948. 225 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, 335 f., 355 f. 226 Viele Zeugnisse für das ungebrochene Weiterleben dieses Selbstverständnisses der deutschen intellektuellen Elite in  : Felken, Ein Buch (Anm. 125). 227 Nach Herbert Schnädelbach, Morbus hermeneuticus – Thesen über eine philosophische Krankheit, in  : ders., Vernunft und Geschichte, Frankfurt 1987, 279–284 läuft dies auf Phi­ lologisierung der Philosophie und damit auf Philosophieverhinderung hinaus. Hinweis von Matthias Jung.

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Verstehenskultur ermöglichte Freiheit in Einsamkeit, denn ihre Erkenntnis entspringt aus Innerlichkeit lutherischen Ursprungs. Da Verstehen im Sinne Diltheys nicht allen gegeben ist, folgte daraus eine Elitetheorie der Wahrheit mit dem Geniekult als akademischer Institution.228 Sprachenlernen als zentrale propädeutische Aktivität lief auf eine bezeich­ nende dreifache Disziplinierung hinaus  : 1. Disziplinierung der Sprache, die geordnet und schematisiert wird. Dabei wird der Weg von der Beschreibung des Vorhandenen zu seiner Etablierung als Norm gewiesen, der als »normative Kraft des Faktischen« eine zentrale Rolle in der westlichen Hermeneutik spielt. 2. Disziplinierung des Denkens, dem Kategorien eingeprägt werden  ; entspre­ chende Leistungen des Lateinunterrichts sind ein pädagogischer Mythos, der sich besonders zäh am Leben hält. 3. Disziplinierung des Schülers, der die Sprache nicht durch das Leben, son­ dern durch einen geordneten Disziplinierungsprozess erwirbt. In dieser Hinsicht hat sich der Sprachunterricht allerdings gewandelt und teil­ weise von der traditionellen hermeneutischen Lebensform abgewandt  : Sprache wird inzwischen spielerisch durch Sprechen gelernt, das Ziel sind simulierte native speakers, die Kunst des Übersetzens ist nicht mehr gefragt. Man könnte geradezu von einer Re-Oralisierung sprechen – und an deren Defiziten die Unentbehrlichkeit der Hermeneutik demonstrieren. Der deutsche Besinnungsaufsatz wird aber immer noch geschrieben, ebenso wie der britische Essay und die französische Dissertation scolaire. In der einen oder anderen Weise bleibt bis auf weiteres jeder in die hermeneutische Le­ bensform einbezogen. Das sprachlich ausgerichtete Bildungswesen hat unsere Kultur zu einer Kultur des Lesens gemacht – auch der BILD-Zeitungsleser bleibt Leser. Oder unterläuft hier bereits das Bild die Sprache  ? Doch wie dem auch sei  : Unaufhörlich legen die Medien für uns die Welt aus, sei es affirmativ oder entlarvend. Allerdings haben elektronische Medien und der inzwischen kulturell selbst­ verständliche Umgang mit Computern über das Lesen hinaus zusätzliche Ver­ stehenstechniken erforderlich gemacht und offensichtlich neue Typen mentalen Verhaltens und mentaler Störungen, vielleicht sogar einen neuen Menschentyp hervorgebracht. 228 Dahrendorf, Gesellschaft (Anm. 225), 178–190.

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Ungeachtet solcher Veränderungen wird unser ganzer Lebensweg von der Zeugung bis zur Entsorgung unseres Leichnams nach wie vor von der Notwen­ digkeit praktischer Interpretation rechtlicher Regelungen begleitet. Auch wenn wir nicht vor Gericht ziehen müssen, um dort der Rechtsauslegung durch An­ wälte und Richter ausgesetzt zu sein, so besteht doch unser Alltag großenteils aus administrativer Anwendung von Recht, die wegen der Spannung zwischen dem ursprünglichen und dem aktuellen Sinn sowie zwischen der allgemeinen Norm und dem konkreten Fall häufig auf Interpretation hinausläuft,229 ob­ wohl die rein teleologische Auslegung von Recht auf Sinn und Zweck juristisch streng genommen nicht zulässig ist.230 Aber manchmal wären wir froh, wenn es darum ginge, statt um unsere Übervorteilung. Zum Beispiel haben wir zwar gesetzlichen Anspruch auf Entschädigung bei Verspätungen der Deutschen Bahn, erfahren aber, dass der Übergang aus dem Nahverkehr ausgeschlossen ist, wo sie besonders nötig wäre. So begleitet das sogenannte »Kleingedruckte« mit seinen Tücken als eine Form von Auslegung unseren Lebensweg. Ständig sind wir von sprachlichen Verstehenszumutungen umgeben, die manchmal echte Zumutungen darstellen, weil sie zur Sicherung von Herr­ schaftswissen nur angeblich Verstehen, in Wirklichkeit aber Nicht-Verstehen intendieren. Neben den Verfassern von Formularen, mit denen wir ständig kämpfen müssen, und anderen Juristen könnte man hier die Autoren von An­ leitungen für Computerbenutzer nennen. Freilich haben wir uns aber auch daran gewöhnt, ständig Piktogramme zu deuten, möglicherweise sogar eine interessante Erleichterung interkulturellen Verstehens in einer sprachlosen oder sprachlich verarmten Weltgesellschaft. Kündigt sich hier das Ende oder eine grundlegende Transformation der hermeneutischen Lebensform an  ? Aber vielleicht führt diese Schlussfolgerung allzu weit, denn wir mussten ja schon immer neben sprachlichen Mitteilungen auch körperliche Signale unserer Mit­ menschen interpretieren  : Was meint der Chef, wenn er sich räuspert – oder hat er nur eine Erkältung  ? Seit Augustinus und Thomas von Aquin uns gelehrt haben, dass Gott nicht nur Texte, sondern auch Dinge als Zeichen verwenden und ihnen einen Sinn für uns geben kann,231 ist die ausdrückliche Ausweitung unserer hermeneuti­ schen Anstrengungen von Texten auf Sachverhalte und Dinge legitimiert, was 229 Meder, Missverstehen (Anm. 88), 65, 220. 230 Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1  : Grundlagen. Öffentliches Recht, 9. Aufl., Berlin 2004, 269–377, 477 f. 231 Haury, Bibelauslegung des Mittelalters (Anm. 53), 11.

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unserem nicht reflektierten Alltagshandeln ohnehin selbstverständlich war. Denn Alltagskommunikation und Alltagshandeln funktionieren kraft selbst­ verständlicher Interpretationsmuster, die als habitualisierte nicht mehr explizit gemacht werden müssen. Freilich kann in den sedimentierten Wissens- und Erfahrungsbeständen, die ihnen zugrunde liegen, viel kulturelle Tradition ver­ borgen sein und der Praxis der hermeneutischen Lebensform eine ungeahnte Tiefe verleihen. Wenn wir z. B. unsere Argumentation instinktiv nicht in zwei oder vier, son­ dern in drei Punkte gliedern – huldigen wir dann nicht, ohne es zu wissen, dem trinitarischen Schema der griechischen Theologie  ? Kann es Zufall sein, dass sich sogar im trockenen wissenschaftlichen Werk von Charles S. Peirce, einem der Väter der Semiotik und des Pragmatismus, der aber gläubiger Christ war, ein Versuch findet, das Denken sämtlicher Wissenschaften von der Logik über die Philosophie, Psychologie, Biologie, Physik bis zur Theologie trichotomisch zu strukturieren  ?232 Denn in anderen Kulturen ohne trinitarische Gottheit wa­ ren andere Zahlen wichtiger.

IV

Die hoch entwickelte, allgegenwärtige Kultur des Verstehens gehört seit al­ ters zur mentalen Grundausstattung des westlichen Menschen und prägt seine kulturelle Praxis immer noch auf weite Strecken. Ihre Wurzeln liegen in der spezifischen Logozentrik der jüdischen und griechischen Vorläuferkulturen, die hier nicht näher begründet werden konnte. Weil das Christentum sich an­ schließend einer Mehrzahl widersprüchlicher normativer Texte ausgesetzt sah, deren Gegensatz nicht durch Entscheidung für die eine oder andere Seite, wie sie manche »Häretiker« versuchten, zu beseitigen war, wurden die Verfahren der sprachlichen Weltbewältigung durch systematische Auslegung beibehalten, weiterentwickelt und zwei Jahrtausende hindurch habitualisiert. Der Erfolg gab dem europäischen Abendland Recht. Seine durch die Spannung latenter oder manifester Pluralität stimulierte und durch eindrucksvolle intellektuelle 232 A Guess at the Riddle (1887/88), und [Trichotomic] (1888), in   : The Writings of Charles S. Peirce. A Chronological Edition, Volume 6 (1886–1890), Bloomington/Indi­ anapolis 2000, 165–215  ; Karl-Otto Apel, Das Denken von Charles S. Peirce. Eine Einfüh­ rung in den amerikanischen Pragmatismus, Frankfurt 1975, 269  ; Mersch, Zeichen (Anm. 99), 37, 43.

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Leistungen stabilisierte Kultur des Verstehens erwies sich langfristig im globa­ len Wettbewerb als überaus erfolgreich. Denn bereits das Interpretieren von Texten ist laut Friedrich Nietzsche eine Form des Willens zur Macht. »Der Wille zur Macht interpretiert […]. In Wahr­ heit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden […,] das Interpretieren selbst, als eine Form des Willens zur Macht«, ist »[…] Ver­ gewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen und was sonst zum Wesen allen Interpretierens gehört.«233 Der entfesselte Wille zum Verstehen beschränkte sich aber von Anfang an nicht auf Texte, sondern erfasste allmählich die ganze Welt und den Menschen. Er entwickelte dabei verschiedenartige Erklärungsverfahren, aber immer mit der Absicht systematischer Ordnung mittels der Sprache, gegebenenfalls sogar einer zu diesem Zweck geschaffenen künstlichen Sprache. Denn das abend­ ländische Verstehen war von Anfang an reflexiv. Das Denken dachte über sich selber nach und verstand es auf diese Weise, seine Verfahren zu kontrollieren und zu optimieren. Nachprüfbare und nachvollziehbare Verfahren des Verste­ hens machten das Denken zur Wissenschaft, der wichtigsten Errungenschaft der hermeneutischen Lebensform des Abendlandes. Wissen wurde auf diese Weise zum Weg, sich der Welt zu bemächtigen. Aber das Verstehen erschöpfte sich nicht darin, sondern transzendierte diese Praxis, indem es sich als Theorie zum Selbstzweck erklärte. Verstehen um seiner selbst willen wurde zur höchsten Form menschlichen Lebens, das in diesem Sinne vollkommene Individuum zum Zweck der hermeneutischen Le­ bensform. Zwar verdankt das Individuum seine einzigartige Bedeutung in der westlichen Kultur dem christlichen Glauben an den unmittelbaren Gottesbe­ zug jedes einzelnen Menschen. Aber erst mit dem allmählichen Ausrinnen der christlichen Transzendenz aus der abendländischen Kultur trat die Selbstver­ wirklichung des Individuums in deren Mittelpunkt. Jetzt wurde es endgültig am wichtigsten, den individuellen Menschen in seiner Geschichtlichkeit zu verstehen. Dieser neue, anthropozentrische Wille zum Verstehen brachte nicht nur eine neue Philologie und Historie hervor, sondern übernahm schließlich auch die Philosophie. Zugespitzt formuliert lassen sich die Postulate der Philosophischen Hermeneutik dahingehend zusammenfassen, dass jedes Interpretandum von einem gegebenen Standort aus im Prinzip jede Interpretation zulässt […] und dass es daher auch 233 Nach Hörisch, Wut, 2. Aufl. (Anm. 3), 80.

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keine Irrtümer und Falsifikationen gibt. Daraus folgt […], dass alle Interpretatio­ nen gleichwertig sind, lassen sich doch keine […] Kriterien – etwa in einem wider­ ständigen Interpretandum – ausmachen, die eine Interpretation vor der anderen auszeichnen könnte. Begründet wird dies […] von der Grundannahme der Philoso­ phischen Hermeneutik her, dass die verschiedenen Perspektiven in unauslotbarem Maße geschichtlich bedingt seien und dass daher diese Bedingtheiten grundsätzlich nicht rational und vergleichbar gemacht werden können.234

Demgegenüber hat Hans Krämer in seiner Kritik der hermeneutischen Ver­ nunft geltend gemacht, dass alle Interpretamente unausweichlich auf Reales verweisen müssen, und damit dem Interpretandum auch hier sein Eigenge­ wicht wiedergegeben. Bei ihm gilt wieder  : Erfahrung, Prüfung und Argument werden nicht wie im Interpretationismus von vor­ geordneten Instanzen abhängig gemacht und damit relativiert, sondern sie erhalten tendenziell ihr autonomes Gewicht in einer letzten Instanz zurück

– auch wenn ihr Vollzug hermeneutischen Wegen folgen muss.235 Zusätzlich brachte die vollständige Entgrenzung des Verstehens in der Le­ benspraxis neue Beschränkung durch Beschränktheit hervor, ein dialektisches Paradox. Denn bei unzureichender (Selbst)Kontrolle ergibt sich vor allem aus dem Anspruch, andere besser zu verstehen als sie sich selber, hermeneutische Arroganz, vulgo  : Besserwisserei, die nicht nur moralisch bedenklich ist, son­ dern auch das Verstehen behindert und das Missverstehen fördert. Besonders in Deutschland, wo die Hermeneutik seit dem 16. Jahrhundert entscheidend weiterentwickelt wurde, lässt sich deutlich der Anspruch auf besseres Wissen als Lebensform ausmachen. Einerseits im guten Sinn, weil hier tatsächlich das bessere Verstehen von Texten, Menschen und Konstellationen wissenschaftlich vervollkommnet wurde, andererseits in bedenklicher Weise, weil dank der auf die hermeneutische Lebensform ausgerichteten »Bildung« ein Volk von Besser­ wissern entstand. Dazu kommt als negative Spielart die hermeneutische Fähig­ keit des Menschen, unbequeme Tatsachen ebenso überzeugt wie überzeugend hinwegzuargumentieren, wie Morgensterns Palmström »schließt er messer­ scharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf«.236 234 Krämer (Anm. 107), 44. 235 Krämer (Anm. 107), 230. 236 Christian Morgenstern, Palmström, Wiesbaden 1949, 67.

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Ihren Höhepunkt erreicht deutsche hermeneutische Arroganz im Umgang mit der Sprache. Schon Ludwig Wittgenstein hatte seine »Philosophie als ei­ nen Kampf gegen die Verhexung des Verstandes durch die Mittel der Sprache« bezeichnet,237 durch eine Sprache, in der es »dunkelt und funkelt«.238 Deshalb hat er das Aufweisen von Paradoxa mittels seiner sokratischen Methode einge­ setzt, um zu lehren, »von einem nicht offenkundigen Unsinn zu einem offen­ kundigen überzugehen«.239 Denn oft genug entpuppt sich scheinbarer Tief­ sinn als hoch gestylter Unsinn. Schwierige Sprache soll Tiefsinn suggerieren oder schwer verständlichen Texten wird wie manchen chinesischen Klassikern deswegen Tiefsinn unterschoben, weil sie eben Klassiker sind. Deshalb müssen sie tiefsinnig sein. Sollte es Zufall sein, dass ausgerechnet Heidegger sich vom Daodejing und von Zhuangzi besonders angesprochen fühlte  ?240 Ernst Topitsch stellt auch Jürgen Habermas in die Tradition von Denkern wie Hegel und Kant, die angeblich das höhere, empirisch nicht überprüfbare Wissen der Vernunft gegenüber dem platten Rationalismus des Verstandes immunisieren, z. T. mit Imponierwörtern wie transzendental oder dialektisch, deren Bedeutungsgehalt inzwischen längst verdunstet sei. Denn es bestehe ja in erheblichen Teilen der deutschen Philosophie eine unverkennbare Tendenz, sich hinter einem Schleier wabernder Wortnebel jeder Überprüfung zu entziehen. Dem­ entsprechend suchen auch viele Leser in diesen Schriften [von Habermas] nicht nüchterne Information, sondern emotionale Ergriffenheit. Klarheit gilt als ›flach‹ oder ›platt‹, mystisches Raunen dagegen als ›tief‹. Heidegger hat raffiniert auf diese Lindenblattstelle der deutschen Seele gezielt und eine Tradition begründet, die zu­ mal über Gadamer auch Habermas beeinflusst hat  : die Hermeneutik. Dieser Aus­ druck, der ursprünglich eine Kunstlehre der Auslegung von Texten bedeutet hat, bezeichnet nun eine von einem stark (natur)wissenschaftsfeindlichen Affekt erfüllte Kunst, mangelhaft oder überhaupt nicht begründete Behauptungen jeder Begrün­ dung zu entziehen. Hans Albert bemerkt abschließend dazu  : ›Gadamer präsentiert seine Auffassung als eine auf Grund der in ihr enthaltenen Fragestellung überlegene Denkweise, ohne sie tatsächlich mit der Denkweise verglichen zu haben, der ge­ genüber sie sich als überlegen erweisen müsste.‹ Hier wie auch sonst […] geht es 237 Philosophische Untersuchungen § 109, nach Stegmüller, Hauptströmungen, Bd. 1 (Anm. 6), 607. 238 Stegmüller, Hauptströmungen, Bd. 1 (Anm. 6), 604. 239 Philosophische Untersuchungen §464, nach Stegmüller, Hauptströmungen, Bd. 1 (Anm. 6), 602. 240 Clarke, Tao (Anm. 178), 172 f.

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[Haber­mas] darum, argumentative Hilflosigkeit durch ein rhetorisches Imponierge­ habe zu überspielen.241

Diese in ihrer polemischen Schärfe sicherlich ungerechte, aber dennoch kei­ neswegs völlig unberechtigte kritische Sicht der Dinge sollte uns aber nicht daran hindern, die intellektuellen und pragmatischen Errungenschaften der hermeneutischen Lebensform anzuerkennen. Schließlich beruhen sowohl der Versuch, die hermeneutische Lebensform zu analysieren, als auch ihre kriti­ sche Einschätzung auf eben dieser Hermeneutik. Sie sind selbst Produkte der hermeneutischen Lebensform. Wie man Metaphysik nur von einer Art von metaphysischem Standpunkt aus in Frage stellen kann, so lässt sich Herme­ neutik nur hermeneutisch kritisieren.242 Es gibt eben kein Entkommen aus der hermeneutischen Spirale der Erkenntnis. Selbst die sogenannte negative Hermeneutik, der Kult des Nicht-Verstehen-Wollens,243 liefe als Extremform individualistischen Selbstverständnisses auf eine, zugegebenermaßen extreme, Variante der hermeneutischen Lebensform hinaus. Deswegen werden die ange­ sprochenen Veränderungen der zwischenmenschlichen Kommunikation vor­ aussichtlich auch nicht zu ihrem Verschwinden, sondern nur ihrer Transfor­ mation führen.

241 Ernst Topitsch, Die Himmelsstadt des Jürgen Habermas. Ein Kapitel zur politischen Theo­ logie, in  : ders., Im Irrgarten der Zeitgeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 2003, 93–129, hier 102. Vgl. Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, 5. Aufl. 1991  ; ders., Kritik (Anm. 59)  ; ders., Kritischer Rationalismus, Tübingen 2000. 242 Vgl. Donna Landry/Gerald MacLean (Hg.), The Spivak Reader. Selected Works of Gayatri Chakravorty Spivak, New York 1996, 7. 243 Robert Schurz, Negative Hermeneutik. Zur sozialen Anthropologie des Nicht-Verstehens, Opladen 1995.

Kulturelle Gemeinsamkeiten Europas

I. Der Gegenstand und seine Problematik

Was ist Europa, was ist Kultur und was davon ist Europa gemeinsam  ? Jede dieser drei Fragen ist höchst umstritten und hier nicht mit zwingender Ver­ bindlichkeit zu beantworten. Sie können aber durch die sachlich gebotene Entscheidung einer Antwort näher gebracht werden, die drei Bestandteile des Gegenstands nicht als gegebene Größen anzusehen, sondern sie zu historisie­ ren und zu prozessualisieren. Denn Europa, Kultur und Europas kulturelle Ge­ meinsamkeiten waren und sind in der Tat in ständigem Wandel begriffen. Un­ sere Aufgabe besteht also darin, den bisherigen Wandel und seine Ergebnisse nachzuzeichnen, aber mit dem Bewusstsein, dass dieser Wandel weitergeht und auch von einer europäischen Verfassung nicht stillgelegt werden kann. In diesem Sinne wäre europäische Kultur kein fester Bestand an intellektu­ ellen und künstlerischen Spitzenleistungen, sondern zuerst ein durch Sozialisa­ tion erlerntes gemeinsames Programm zur Regelung von Verhalten, eine Praxis, die sich in intellektuellen, künstlerischen und institutionellen Objektivationen niederschlägt, verstetigt und auf diese Weise konserviert werden kann. Euro­ päische politische Kultur wäre dann politische Praxis der Europäer, die sich in politischen Texten und Institutionen niedergeschlagen hat. Von den letzteren wäre der moderne Staat die wichtigste. (Politische) Kultur schließt also einen Vorrat von (politischen) Objektivationen ein, ist aber nicht damit identisch. Kulturelle Verhaltensregeln und Objektivationen stellen vielmehr ein Ange­ bot an Möglichkeiten dar, unter denen Einzelne oder Gruppen nach Bedarf wählen können. Durch Veränderung des Bedarfs und dementsprechend unter­ schiedliche Internalisierung unterschiedlicher Objektivationen findet ständiger Wandel statt, aber nicht nach Belieben, sondern im begrenzten Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten.1 1 P. L. Berger/T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 18. Aufl. 2001  ; U. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, 4. Aufl. 2004  ; P. Dinzelbacher (Hrsg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, 1993  ; T. Eagleton, Was ist Kultur  ? 2001  ; W. Köpke/B. Schmelz (Hrsg.), Das gemeinsame Haus Europa. Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte, 1999  ; W. Köpke/B. Schmelz (Hrsg.), Das gemeinsame Haus. Fundgrube Europa. Bibliographie zur europäischen Kulturgeschichte, 1999  ; W. Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, 2. Aufl. 2006  ; A. Wimmer,

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Europa selbst ist als kulturelle Objektivation solchem Wandel unterwor­ fen. Die Vorstellung, dass diese Halbinsel Asiens ihre angeblichen natürlichen Grenzen am Bosporus und am Ural haben soll, war Ergebnis kulturellen Wan­ dels im antiken Griechenland und im neuzeitlichen Russland. Historisch geht das heutige Europa auf den von der lateinischen Kirche geprägten Raum west­ lich der Linie St. Petersburg–Triest zwischen Finnland, Polen, Ungarn, Kro­ atien auf der einen Seite, Russland, Weißrussland, der Ukraine, Rumänien, Serbien auf der anderen zurück2. Das will aber nicht besagen, dass es dabei geblieben ist. Das griechisch-orthodox geprägte Europa hat sich spätestens seit dem Zeitalter der Aufklärung dazu geschlagen und von türkischer Seite wird seit den Reformen Atatürks ein ähnlicher Anspruch erhoben. Es gibt auch hier mehrere Möglichkeiten, wobei zusätzlich die politische Zweckmäßigkeit eine Rolle spielt. Denn angesichts des kulturell europäisierten Sibirien könnte man Europa bis zum Pazifik reichen lassen, was wenig sinnvoll erscheint. Auch wenn Europa keine Nation werden will und soll, so spielt sich doch ein ähnli­ cher Vorgang ab wie bei der Bildung mancher Nationen. Wie sich nicht Nati­ onen ihre Staaten geschaffen haben, sondern Staaten ihre Nationen3, so schafft sich nicht Europa seine Organisationsform, sondern eine politische Organisa­ tionsform, die EU, schafft sich ihr Europa. Historisch gesehen handelt es sich um kulturelle Expansion des lateinischen Europa nicht nur nach Übersee, sondern auch über Land nach Osten und Süd­ osten. Daher findet sich der Grundbestand an gemeinsamer kultureller Praxis und an kulturellen Objektivationen Europas in seinem älteren lateinischen Kern. Empirisch gibt es keine Wahl als davon auszugehen. Doch abermals handelt es sich um keine feste Größe, um keinen Grundbestand, der als solcher vorläge. Nein, es gibt ihn nur in räumlichen und zeitlichen Varianten. Europäische Kul­ tur kommt konkret nie als solche vor, sondern nur als west- und mitteleuropäi­ sche oder mediterrane, als britische oder deutsche, aber auch als flämische oder wallonische sowie als spätantik-frühmittelalterliche, als hochmittelalterliche, als frühneuzeitliche usf. Bei der Identifizierung des gemeinsamen Grundbestandes und der davon ausgehenden Entwicklung müssen wir uns stets bewusst bleiben, wie stark unsere Darstellung abstrahiert und generalisiert. Kultur. Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs, KZSS 48 (1996), S. 401–425. 2 Immer noch wegweisend E. Hassinger, Das Werden des neuzeitlichen Europa 1300–1600, Braunschweig 1959, S. XIV. 3 W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl. 2002, S. 440–453.

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II. Grundlagen

Die zeitlich wie sachlich erste gemeinsame Eigenschaft Europas ist seine Vielfalt, seine Vielgestalt. Im Gegensatz zu anderen Erdteilen weist Kerneuropa keine weiträumigen Tiefebenen und Hochländer auf, sondern besteht aus zahlrei­ chen kleinen und mittelgroßen natürlichen Einheiten verschiedener Art, deren Vielfalt bereits im stark gegliederten Küstenverlauf zum Ausdruck kommt. Der stetige politische Pluralismus Europas – nach Karl dem Großen hat es nie wie­ der ein europäisches Großreich oder auch nur eine stabile Harmonie gegeben – war vielleicht nicht geopolitisch determiniert, wurde aber von der Geographie begünstigt. Diese Geographie kam nämlich der Tendenz der in Spätantike und Frühmit­ telalter in Europa siedelnden, romanische und germanische, keltische und sla­ wische Sprachen sprechenden Gruppen entgegen, sich politisch kleinräumig in Adelsherrschaften und Geflechten von Adelsherrschaften zu organisieren, aus denen erst allmählich die Stämme und Völker Europas hervorgingen.4 Das ur­ sprüngliche kulturelle Erbe dieser Völker der Frühzeit ist aber wegen der star­ ken Überlagerung durch die lateinische Kultur nicht leicht zu identifizieren. Dass es immer wieder zur mythologischen Unterfütterung späterer nationaler Identitäten aufgebauscht wurde, hat seine Untersuchung eher erschwert als be­ günstigt. Aber auch diese nationalen Mythologien sind eine variantenreiche Gemeinsamkeit europäischer Kultur.5 Dabei hat die wichtigste und bis heute maßgebende Pluralität europäischer Kultur ihre Rolle gespielt  : die Sprachenvielfalt, die allerdings im Zuge der Staats- und Nationsbildung ihren Charakter gewandelt hat.6 Aus einer Vielzahl lokaler und regionaler, mehr oder weniger gleichrangiger Mundarten wurden Staats-, National- und Kultursprachen mit Monopolanspruch gemacht und in einem mancherorts bis in die Gegenwart anhaltenden Prozess durchgesetzt. Gegenläufige Tendenzen wie die Ersetzung des Kastilischen durch das Katala­ 4 T. Schieffer (Hrsg.), Europa im Wandel von der Antike zum Mittelalter (Handbuch der euro­ päischen Geschichte 1), 1976. 5 H. Berding (Hrsg.), Mythos und Nation, 1996  ; L. Colley, Britons. Forging the Nation, 1707– 1837, 1992  ; G. Elwert, Nationalismus und Ethnizität, KZSS 41 (1989), S. 440–464  ; M. Fla­ cke (Hrsg.), Mythen der Nationen  : ein europäisches Panorama, 1998  ; E. J. Hobsbawm. Nati­ onen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, 1991  ; J. Link/W. Wülfing (Hrsg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1991. 6 H. Haarmann, Soziologie und Politik der Sprachen Europas, 1975  ; K. J. Mattheier (Hrsg.), Ein Europa – viele Sprachen, 1991.

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nische oder die Pflege des Welsh neben dem Englischen sind relativ spät und folgen ihrerseits demselben Schema. Zur »Erfindung« einer Nation7 gehörte bisweilen die bewusste »Erfindung« einer nationalen Sprache. Entscheidend für die Durchsetzung nationaler Sprachen war erstens ihre Verschriftlichung, die im Mittelalter einsetzte und oft durch die Reformation mit ihren Bibelüber­ setzungen und volkssprachlichen Gottesdiensten den entscheidenden Schub erfahren hat, zweitens das politische und kulturelle Gewicht eines Zentrums des Landes.8 Denn bis dahin waren die Volkssprachen vom Lateinischen als der gemein­ samen Sprache der Kirche und der Gebildeten überlagert geblieben.9 Nicht unbedingt die politischen, wohl aber die religiösen und intellektuellen Eliten Europas hatten bis weit in die Neuzeit hinein eine gemeinsame Sprache, die problemlose Kommunikation gestattete. Auf den Schulhöfen der Gymnasien Alteuropas war bei Strafe Lateinisch zu sprechen. Aber die Volkssprachen Eu­ ropas wurden während ihrer Entwicklung vom Lateinischen und dem von ihm transportierten Bildungsstoff nicht nur überlagert, sondern unterschiedlich weitgehend penetriert und transformiert. Das gilt keineswegs nur von den romanischen Sprachen mit ihrer deutlichen Abhängigkeit vom Lateinischen, sondern auch von den übrigen, wo Einfluss auch auf Umwegen stattfinden konnte, so auf das Englische über das Französisch der normannischen Eroberer. Später folgte wie in anderen Sprachen eine Flut von Fremdwörtern humanisti­ schen und naturwissenschaftlich-medizinischen Ursprungs. Heute hingegen findet sprachliche Innovation in Europa ungeachtet des ela­ borierten Sprachenproporzes der EU überwiegend auf Englisch statt. In der Neuzeit hatten sich zunächst die jeweiligen Sprachen der politisch und kultu­ rell führenden Länder europaweiter Geltung erfreut, zuletzt bis ins 20. Jahr­ hundert das Französische als Sprache der Diplomatie und der feinen Lebensart. Diese Rolle wurde inzwischen vom Englischen übernommen, weniger, weil es angeblich leicht zu lernen ist, als unter dem Eindruck der politischen und technologischen Führung der USA. Die fundamentale Bedeutung des Latein als Sprache Europas beruht auf der weit reichenden Prägung der europäischen Kultur durch die griechisch-römi­ sche Antike einerseits, die jüdisch-christliche Religion andererseits, was beides 7 B. Anderson, Die Erfindung der Nation, 1988. 8 Vgl. H. van Goethem, La politique des langues en France 1620–1804, Revue du Nord 71 (1989), S. 437–460. 9 J. Marouzeau, Das Latein. Gestalt und Geschichte einer Weltsprache, 2. Aufl. 1970.

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jahrhundertelang durch die römische Kirche vermittelt wurde, die ein Bil­ dungsmonopol besaß und daher die Deutungshoheit auf allen Gebieten des intellektuellen Lebens ausüben konnte.10 Der politische wie der ökonomische Diskurs Europas fanden lange in der Sprache der Theologie statt, während sich Philosophie und Naturwissenschaft nur in deren Schatten entfalten konnten. Allerdings hatte das Denken der Christen, die als jüdische Sekte angefangen hatten, bereits im Zuge ihrer Ausbreitung über das Römische Reich eine mas­ sive Überformung durch griechische Philosophie und römisches Recht erlebt. Im Hochmittelalter fand dann durch arabische Vermittlung eine gründlichere Rezeption der Philosophie des Aristoteles statt, die erstmals die Entstehung au­ tonomer wissenschaftlicher Diskurse neben der Theologie ermöglichte, wenn auch zunächst noch unter Kontrolle von Theologen. Erst ein neuer Schub An­ tikerezeption im Zeichen des Renaissancehumanismus führte zur allmählichen Trennung des Denkens von der Theologie der Kirche, was freilich noch keine moderne Rationalität und Empirie bedeutete. Doch unter der Obhut der Kir­ che hat säkulares Bildungsgut der Antike überlebt, das hinfort aufklärerische Sprengkraft entfalten sollte. Europäische Kultur entstand also im Zuge eines von der Spätantike bis min­ destens ins 17. Jahrhundert währenden Übersetzungsprozesses, der zunächst unter der Kontrolle der Kirche, dann derjenigen säkularer Bildungseliten statt­ fand. Die zentralen autoritativen Texte der europäischen Kultur, die Bibel ei­ nerseits, das Korpus der griechisch-römischen Literatur andererseits, mussten über ein Jahrtausend lang aus dem Lateinischen, daneben auch dem Griechi­ schen und Hebräischen übersetzt werden. Selbst wenn wir Latein bis zu einem gewissen Grad damals als lebende Sprache betrachten dürfen, so blieb es doch bei der Aufgabe, die Aussagen der alten Texte in die ganz andere Kultur der damaligen Gegenwart zu übertragen. Vor allem das Alte Testament entsprach über weite Strecken nicht seinem neuen christlichen Kontext und konnte die­ sem oft nur mit beträchtlichen Auslegungskunststücken angepasst werden. Dieser Sachverhalt konnte für die europäische Kultur nicht ohne Folgen bleiben. Denn die Europäer wurden auf diese Weise bis in die frühe Neuzeit zu den besten Philologen der Welt und schufen sich außerdem eine hoch ent­ wickelte Auslegungskunst für fremdartige Texte. Diese besondere Wahrneh­ mungs- und Deutungsfähigkeit erwies sich als Vorteil bei der Begegnung mit fremden Kulturen im Zuge der neuzeitlichen europäischen Expansion. Denn die Europäer waren dadurch befähigt, Andere nicht nur physisch zu unterwer­ 10 N. Brox u. a. (Hrsg.), Die Geschichte des Christentums, Bd. 2–4, 1996–2001.

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fen, sondern sie durch Erschließung ihrer Sprache und Kultur auch mental zu überwältigen, selbst wenn dieses Verstehen bisweilen eher auf Missverstehen hinauslief. Hier liegen Wurzeln der modernen Kulturwissenschaften und ihrer Methoden, vor allem der Wissenschaften von der Geschichte und von fremden Sprachen und Völkern.11

III. Die Entdeckung der Transzendenz und ihre Folgen

Im Gegensatz zur vorgeschichtlichen Prägung europäischer Kultur lassen sich die jüdisch-christliche und die griechisch-römische samt ihren Folgen recht genau erfassen. Dabei erweist sich die Entdeckung des transzendenten Gottes durch Autoren der jüdischen Bibel sowie ihre Übernahme und weitere Ent­ faltung durch die Christen paradoxerweise als konstitutiv für die Säkularität, ja sogar für die heutige »Gottlosigkeit« der europäischen Kultur. Denn Kultur ist überall ihrem Ursprung nach zunächst Religion. Während aber in anderen Religionen Gott oder die Götter in der Welt wohnen, die Welt gotterfüllt oder mit Gott identisch ist, heißt der Gott der Juden und Christen transzendent, weil er unabhängig von der Welt existiert und die Welt nach seinem Belieben aus dem Nichts erschaffen hat. Die Welt kann infolgedessen ihren eigenen Ge­ setzen folgen, auch wenn zunächst unterstellt wurde, dass Gott diese Gesetze gegeben habe und gelegentlich den gesetzmäßigen Ablauf der Dinge durch Wunder korrigiere. Auf die Dauer konnte die Welt freilich auch ohne ihn ge­ dacht werden  ; radikale Transzendenz entband radikale Säkularität.12 So weit war es freilich noch lange nicht. Zumindest bis ins 18. Jahrhundert blieb die Welt wenigstens indirekt unter der Oberhoheit Gottes, nicht zuletzt deswegen, weil der europäische Mensch seine eigene Weltbemächtigung als göttlichen Auftrag verstand. Daraus ergab sich eine folgenreiche Dauerspannung zwischen religiösem und säkularem Weltverständnis, das die europäische, be­ sonders die lateinische Kultur von allen anderen unterschied.13 11 Vgl. W. Reinhard, Sprachbeherrschung und Weltherrschaft. Sprache und Sprachwissenschaft in der europäischen Expansion (1987), in  : ders., Ausgewählte Abhandlungen, 1997, S. 401– 433. 12 Vgl. E. W. Böckenförde, Kirche und modernes Bewusstsein, in  : Koslowski u. a. (Hrsg.), Mo­ derne oder Postmoderne  ? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, 1986, S. 103–129, hier S.  112 f. 13 Vgl. W. Reinhard, Die lateinische Variante von Religion und ihre Bedeutung für die politische Kultur Europas, Saeculum 43 (1992), S. 231–255.

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Aber bereits im hohen Mittelalter entwickelte sich ein »horizontales« Den­ ken, das für die Erkenntnis der Welt vom vertikalen Gottesbezug absah. Durch die Aristotelesrezeption, die gerade rechtzeitig stattfand, ergaben sich dafür ganz neue Möglichkeiten. Das Ergebnis war eine bestimmte Art von Rationa­ lität des Denkens und der Lebenspraxis, die der Soziologe Max Weber zum In­ begriff der westlichen Kultur erklärt hat.14 Allerdings tummelte sich das neue Denken noch lange vorzugsweise auf dem Feld der Theologie. Möglicherweise indirekt, infolge der dualen Spannung zwischen Gott und Welt, entwickelte abendländische Rationalität frühzeitig eine weitere kennzeichnende Eigen­ schaft  : die Reflexivität als Fähigkeit und Neigung, die eigene Position immer wieder selbst in Frage zu stellen. Die Eigengesetzlichkeit der Welt in Verbindung mit dem göttlichen Schöp­ fungsauftrag an den Menschen brachte außerdem eine im Kulturvergleich außergewöhnliche, für Europa aber ebenso kennzeichnende wie folgenreiche Bejahung des gewöhnlichen Lebens hervor, besonders des Arbeits- und Wirt­ schaftslebens. Wie in allen Hochkulturen war auch bei den Griechen und Rö­ mern das kulturell maßgebende Ideal des guten Lebens für die Oberschichten ein Leben in Muße. Arbeit und Erwerbsstreben galten als vulgär, letzteres un­ ter Umständen geradezu als unsittlich. Auch Klerus und Adel des Mittelalters pflegten diese Wertordnung. Demgemäß lief die Vorstellung von der ewigen Seligkeit auf die Gottschau in ewiger Muße hinaus. Doch gab es seit den Kirchenvätern eine christliche Unterströmung, der ein tätiger Mensch als Mitarbeiter des Schöpfers galt, so dass jede Berufsarbeit Gott wohlgefällig sein konnte. Die Reformatoren haben dieser Sicht der Dinge zur Vorherrschaft verholfen, denn die Reformation stellte ja einen Aufstand selbst­ bewusster christlicher Laien gegen den Klerus dar. Sogar die frühkapitalistische Profitmaximierung fand jetzt ihre Verteidiger unter städtischen Humanisten, denn auch eigennützige Habgier diene letztendlich dem Gemeinwohl.15 Praktizierte Innerweltlichkeit war besonders Erfolg versprechend, wenn sie diszipliniert erfolgte. Während Disziplin bisher auf mönchische Askese im Dienste des ewigen Heils hinausgelaufen war, wurde sie künftig immer mehr zum Regelverhalten des arbeitenden Menschen. Durch Uhren gesteuerte Zeit­ 14 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bde., 1920–1921. 15 K. Wiedemann, Arbeit und Bürgertum. Die Entwicklung des Arbeitsbegriffs in der Literatur Deutschlands an der Wende der Neuzeit, 1979  ; C. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 1996  ; W. Reinhard, Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens, in  : H. Joas/K. Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, 2. Aufl. 2005, S. 265–303.

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disziplin breitete sich aus. Schließlich gelang es, die Disziplinierungsinstanz in die menschliche Person hineinzuverlegen, Fremddisziplinierung in Selbstdisziplinierung zu verwandeln. Das industrielle und bürokratische Zeitalter konnte beginnen.16 Derartige Praxis verlangte auch ein neues Denken. Systematische Welter­ klärung um ihrer selbst willen, wie sie von griechischen, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rationalisten betrieben wurde, war dafür nicht von Nutzen. Statt dessen wurde jetzt auf die allumfassende denkerische Letztbegründung verzichtet und versucht herauszufinden, wie die Dinge funktionieren, um sie besser nutzen zu können. Die Empirie war geboren. Naturwissenschaft und Technik konnten ihren Siegeszug beginnen.17 Allerdings wurde auch diese neue Arbeits- und Wirtschaftskultur noch lange aus der Perspektive der Transzendenz in Frage gestellt. Denn mit dem Chris­ tentum kam nicht nur die Bejahung des gewöhnlichen Lebens in die Welt, sondern auch die Bejahung des gewöhnlichen, ja des elenden Menschen, weil Christus sich selbst mit ihm identifiziert hatte. An Stelle des überwiegend er­ barmungslosen Umgangs mit Armen, Kranken und Alten, die allenfalls von ihrer Familie Hilfe erhoffen konnten, trat eine Kultur des Mitleids, die schließ­ lich in die Pflicht der Gesellschaft, für ihre benachteiligten Mitglieder zu sor­ gen, münden sollte. Der moderne Sozialstaat ist nur auf diesem Hintergrund denkbar.18 Auch die Politik profitierte von der Eigengesetzlichkeit der Welt und der da­ raus entspringenden rationalen Welterklärung. Die von Griechen und Römern erfundene Politik konnte sich in Europa zwar nicht sofort, wohl aber auf lange Sicht als autonome politische Welt etablieren und rational legitimieren. Nur so konnte und kann sich der moderne Staat als rationales Konstrukt gebärden. Allerdings von Anfang an und bis heute nicht vollständig. Denn Herrschaft wurde zunächst weiter sakral begründet,19 die preußische Monarchie sogar bis ins 20. Jahrhundert. Aber dank der Trennung von Gott und Welt war dies nur noch indirekt möglich. Europäische Herrscher waren anders als antike nie gött­ lich oder persönlich heilig. Heilig waren sie nur durch ihren Herrschaftsauftrag »von Gottes Gnaden«. Aber auch nach Verschwinden dieses Anspruchs bleibt 16 P. Prodi (Hrsg.), Disciplina dell’anima, disciplina dei corpo e disciplina della società tra me­ dioevo ed età moderna, 1994  ; K. Härter, Sozialdisziplinierung, in  : A. Völker-Rasor (Hrsg.), Oldenburg Lehrbuch Geschichte. Frühe Neuzeit, 2000, S. 294–299. 17 C. Taylor, Quellen (Fn. 15). 18 W. Reinhard, Lebensformen (Fn. 1), S. 163–167. 19 W. Reinhard, Staatsgewalt (Fn. 3), S. 101 f.

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ein Rest von Sakralität, denn Staat und Nation wollen nach wie vor geglaubt werden20. Ein Staat, an den keiner mehr glaubt, ist zum Untergang bestimmt. Eine Schwäche der EU besteht darin, dass sie weder Nation noch Staat sein will und daher nicht Gegenstand des Glaubens ihrer Bürger sein kann. Vor allem stand weltliche Herrschaft samt ihrer Sakralität auf Grund der Dualität von Gott und Welt in Spannung zur geistlichen Herrschaft der Kirche, die als römische Rechtskirche erste Erbin des Imperium Romanum war und insofern einen institutionellen Vorsprung vor den werdenden Staaten Europas hatte. Das Ergebnis war eine klare Unterscheidung von »geistlich« und »welt­ lich« im Sachenrecht, von Klerus und Laien im Personenrecht, die schließlich auf den Gegensatz von Kirche und Staat hinauslief.21 Allerdings beanspruchte die Kirche kraft höheren Ranges ihrer Zuständig­ keit für Geistliches einen Oberhoheitsanspruch über den Staat, der aber im Zuge der europäischen Staatsbildung seit dem Mittelalter sukzessive abgebaut und ins Gegenteil verwandelt wurde, in das frühneuzeitliche Staatskirchen­ tum, schließlich in die Reduktion der Kirchen auf Körperschaften öffentlichen Rechts oder gar bloßer Kultvereine unter staatlicher Hoheit. Eine entschei­ dende Rolle fiel dabei der Reformation zu, weil sie den glaubenden Menschen gottunmittelbar und damit den institutionalisierten Heilsapparat der Kirche samt seinem Personal überflüssig gemacht hatte. Eigentlich handelte es sich um eine weitere Radikalisierung der christlichen Trennung von Gott und Welt, die aber paradoxerweise unter den Bedingungen des 16. Jahrhunderts in ver­ schärfte staatliche Kirchenherrschaft umschlug. In England und Skandinavien existieren noch heute Restbestände evangelischen Staatskirchentums, während das katholische Quasi-Staatskirchentum Spaniens und Italiens weitgehend auf der Strecke geblieben ist.22 Dieser institutionalisierte Dualismus von geistlicher und weltlicher Herr­ schaft ist eine weltgeschichtliche Besonderheit des lateinischen Europa, die bereits dem orthodoxen Europa ebenso unbekannt blieb wie anderen Weltre­ ligionen. Dieser ständige Gegensatz war eine notwendige Bedingung für die Entstehung des europäischen Freiheitsprinzips. Zwar kämpften Staat und Kir­ che nur um ihre eigene Freiheit und keineswegs um diejenige ihrer Unterta­ nen, aber dank der mittelalterlichen Parole »Libertas«23 trat dennoch der Frei­ 20 J.-P. Genet/B. Vincent (Hrsg.), État et église dans la genèse de l’état moderne, 1986, S. 309. 21 H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die katholische Kirche, 4. Aufl. 1964. 22 W. Reinhard, Staatsgewalt (Fn. 3), S. 259–281 23 Vgl. G. Tellenbach, Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits, 1936.

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heitsgedanke mit Macht in die europäische Geschichte ein. Zwar mögen sich Staat und Kirche oft genug zur repressiven Disziplinierung der gemeinsamen Untertanen verbunden haben. Aber bereits aus der Tatsache, dass bis weit in die Neuzeit hinein jeder Europäer zwei Herren dienen musste, ergab sich für ihn ein innerer und oft genug auch ein äußerer Freiheitsspielraum bis hin zur Legitimation von politischem Widerstand.

IV. Die Entdeckung der Politik und ihre Folgen

Selbstverständlich ist Politik als Regelung von Machtbeziehungen überall prä­ sent, wo Menschen leben. Aber Politik als organisierte Partizipation des Volkes und als sachlich, nicht personal organisierte Herrschaft, wie sie schließlich den europäischen Staat kennzeichnen sollte, wurde von den Griechen und Römern erfunden und als deren Erbe an Europa weitergegeben. Europa sollte sich zu seinem eigenen Besten daran erinnern, dass »Politik« von Haus aus nicht Management von Großorganisationen meint, sondern Entscheidung der Betroffenen über die gemeinsamen Angelegenheiten, die sie alle angehen. Wie der Name sagt, ist Politik ihrem Wesen nach kommunal, denn sie entstand in der »Polis«, dem griechischen Stadtstaat, und wurde im Mittelalter von den Kommunen des lateinischen Europa wieder aufgegriffen. Manche Städte konnten dabei ihre kommunale Autonomie bis zum Status un­ abhängiger Republiken steigern. Aber auch die Dörfer besaßen in vielen Teilen Europas mehr oder weniger weit reichende Selbstverwaltungsbefugnisse24. Das alles war bis zu einem gewissen Grad funktional notwendig, weil Adelsherr­ schaft und frühes Königtum kaum über Beamte verfügten, die entsprechende Verwaltungsaufgaben wahrnehmen konnten. Alteuropa war also politisch nicht nur pluralistisch, sondern sogar ausgesprochen dezentral organisiert. Man kann durchaus von einem »Europa der 1000 Könige und 10.000 Republiken« sprechen25. Selbstverständlich gab es auch in anderen Kulturräumen Gemeinden und Städte, bisweilen viel großartigere als in Europa. Aber die wirtschaftlich und politisch autonome Stadt ist eine spezifische Errungenschaft des lateinischen 24 P. Blickle, Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, 2 Bde. 2000 sowie zahlreiche weitere Veröffentlichungen Blickles. 25 J. H. Elliott, A Europe of Composite Monarchies, PP 137 (1992), S. 48–71  ; B. Marquardt, Das römisch-deutsche Reich als segmentäres Verfassungssystem, 1999.

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Europa bzw. seiner antiken Vorläufer und ein wesentlicher Baustein seiner (politischen) Kultur26. Selbst wenn dieser Exklusivitätsanspruch durch neu­ ere Forschungen in Frage gestellt wird27, so dürfte der Grad an Selbstbestim­ mung, den europäische Kommunen erreichten, nirgendwo sonst zu finden sein, ebenso wenig ihre rationale Begründung und Legitimierung, die mit den Philosophen der Antike beginnt. Niemand ist von Haus aus so sehr Republi­ kaner wie der Europäer  ! Politik alteuropäischer Städte lief nach außen auf Verteidigung ihrer Freiheit hinaus, notfalls im Bund mit anderen Kommunen. So kamen nicht nur im antiken Griechenland und Italien, sondern auch im mittelalterlich-frühneu­ zeitlichen Europa Staatenbünde und Bundesstaaten wie die Schweiz und die Niederlande zustande28. Nach innen übten die Städte eine dem Anspruch nach durch Konsens begründete, bisweilen fast totale Regulierung des Lebens ihrer Bürger29. In beiderlei Hinsicht waren die Städte Vorläufer und Modell des modernen Staates, der sie im Laufe der Neuzeit entmündigt und ihre Aufgaben an sich gezogen hat. Was heute in Europa an kommunaler Selbstverwaltung noch vorhanden ist, existiert von Staates Gnaden als eine Art von staatlicher Auftragsverwaltung. Zur Erfindung der Politik durch die Griechen gehört wesentlich auch die Erfindung des Amtes im modernen Sinn. Ein Amt war demnach nicht mehr nutzbares Eigentum seines Inhabers und oft genug auch seiner Familie, son­ dern ein mehr oder weniger klar umschriebener und häufig zeitlich befristeter Auftrag im Dienste des Gemeinwohls, für dessen Ausführung der Amtsinhaber rechenschaftspflichtig war30. Im mittelalterlichen Italien musste er sich nach Ablauf seiner Amtszeit einer gerichtlichen Untersuchung stellen. Nicht nur die gewählten Amtsträger moderner Demokratien leiten sich da­ von her, sondern schon vorher die Beamten des entstehenden Staates. Das Ergebnis war die bürokratische Herrschaft moderner Staaten, deren Idealtyp Max Weber nach dem preußischen Modell konstruiert hat. Dieser Beamte ist nicht den Bürgern eines konkreten Gemeinwesens, sondern einem abstrak­ 26 Max Weber Gesamtausgabe, Bd. 22/5  : Die Stadt, Hrsg. W. Nippel, 1999. 27 M. H. Hansen (Hrsg.), A Comparative Study of Thirty City-State Cultures, 2000  ; ders. (Hrsg.), A Comparative Study of Six City-State Cultures, 2002  ; P. Feldbauer/M. Mitterau­ er/W. Schwentker (Hrsg.), Die vormoderne Stadt. Asien und Europa im Vergleich, 2002. 28 W. Buchholz, Anfänge der Sozialdisziplinierung im Mittelalter. Die Reichsstadt Nürnberg als Beispiel, ZHF 18 (1991), S. 129–147. 29 W. Reinhard, Staatsgewalt (Fn. 3), S. 247–256. 30 M. van Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, 1999, S. 33–36.

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ten Staat verpflichtet und deshalb nicht seinen Mitbürgern, sondern seinen Dienstvorgesetzten Rechenschaft schuldig31. Dem institutionellen Vorsprung der römischen Kirche entsprechend war der erste Beamte Europas ihr Priester, der sein Amt nicht erbte, sondern durch Qualifikation erwarb, einer abstrak­ ten Institution diente und einen Dienstleistungsauftrag hatte32. Auch in der Weiterentwicklung des Ämterwesens ist die mittelalterliche Kirche dem Staat vorangegangen33. Das Wesen sachorientierter statt personenbezogener Herrschaft wurde bei den Griechen auf die Formel gebracht, dass nicht Menschen, sondern Gesetze herr­ schen sollen. Daraus hat sich letztendlich der moderne Rechtsstaat ergeben, mit dem zweideutigen Anspruch, einerseits dem Recht unterworfen, anderer­ seits zugleich Herr des Rechts zu sein34. Freilich war diese enge Verklammerung von Herrschaft und Recht im nachantiken Europa zunächst unbekannt. Herrschaft wurde am Maßstab »Gerechtigkeit« gemessen, vor allem bei der Ausübung ihrer Hauptaufgabe, Recht zu sprechen und Frieden zu sichern. Das Recht war nicht von Herr­ schaft geschaffen und unterlag auch nicht ihrer Verfügung. Es war Bestandteil der göttlichen Weltordnung und wurde nicht durch richterliche Entscheidung, sondern durch Konsens der Rechtskundigen ermittelt, mündlich und endgül­ tig. Ein Instanzenzug entlang einer Hierarchie staatlicher Gerichte war un­ bekannt. Enge Bindung an die Religion kam durch rituelle Formalisierung und die Möglichkeit einer Entscheidung durch Gottesurteil zum Ausdruck35. Trotz derartiger irrationaler Momente blieb die grundlegende Gewissheit, dass Macht und Recht nicht deckungsgleich sind, eine wichtige Hinterlassenschaft dieses archaischen Rechts an die europäische Kultur  ! Die Papstkirche allerdings besaß als Erbin Roms ihr geschriebenes kanoni­ sches Recht, das von ihren Autoritäten geschaffen und von der Hierarchie ihrer Amtsträger angewandt wurde. Deshalb gab die Kirche bei der »Juristischen Re­ volution« des Hochmittelalters zunächst den Ton an, als zusätzlich das vollstän­ 31 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1964, S. 160–166. 32 O. Hintze, Der Beamtenstand (1911), in  : ders., Soziologie und Geschichte, 1964, S. 67. 33 Feine, Rechtsgeschichte (Fn. 21). 34 J. A. Brand/H. Hattenhauer (Hrsg.), Der europäische Rechtsstaat, 1994, S. 3 f.; E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in  : J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1987, S. 987–1043  ; W. Reinhard, Rechtsstaat und Staats­ gewalt, in  : R. Kappel/H. W. Tobler/P. Waldmann (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, 2005, S. 33–48. 35 H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 1994.

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dige römische Recht wiederentdeckt wurde36. Das Recht wurde jetzt ebenso verschriftlicht wie der Prozess. Damit war statt Rechtsfindung künftig Rechts­ auslegung gefragt. Der Umgang mit dem Recht wurde professionalisiert und in die entstehenden Herrschaftsapparate integriert. Hierarchien von mit Berufs­ richtern besetzten Instanzen entstanden. In einem rationalen Verfahren waren hinfort Beweise zu erheben, nicht nur auf Klage hin, sondern von Amts wegen und notfalls mit Hilfe der Folter, die dem archaischen Recht unbekannt war37. Die vollständige Verstaatlichung von Recht und Justiz brauchte freilich noch Jahrhunderte. Zunächst beschränkte man sich darauf, einerseits alte Rechte aufzuzeichnen, andererseits neu erlassene Gesetze zu sammeln. Die Juristen wurden allmählich zur Herrschaftsklasse, aber die Richterkollegien erfreuten sich infolge der losen Struktur des entstehenden Staates noch lange beträchtli­ cher korporativer Unabhängigkeit, die sie sogar zum Widerstand gegen ihren Herrscher befähigte, vor allem, wenn ihre Interessen berührt wurden wie in der Englischen und der Französischen Revolution. Die moderne richterliche Un­ abhängigkeit und die richterliche Überprüfung der Gesetzgebung haben hier ihre Wurzeln38. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurden die selbständigen Juristenkorpo­ rationen beseitigt und die Richter in den modernen Staatsdienst überführt. Gleichzeitig fand zwischen dem ausgehenden 17. und dem frühen 20. Jahrhun­ dert mit Ausnahme Englands die europaweite Kodifikation von Staats wegen statt, die auf rationale Neukonstruktion des gesamten Rechtssystems in großen Gesetzbüchern von der Art der fünf Napoleonischen Codices hinauslief39. Auch die expandierende bürokratische Verwaltung als der moderne Alltag von Herrschaft hatte nun rechtlich geregelt stattzufinden. Statt durch Rituale wurde Staatshandeln jetzt durch Verfahren legitimiert40. Der Privilegienstaat41 wurde vom Rechtsstaat verdrängt, in dem Vorrechte kaum mehr respektiert wurden, sondern gleiches Recht für alle galt. 36 H. J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, 1991  ; vgl. z. B. A. Gouron, Royal Ordinances in Medieval France, in  : A. Padoa-Schioppa (Hrsg.), Legis­ lation and Justice (The Origins of the Modern State in Europe C), 1997, S. 57–71, bes. S. 67. 37 A. Padoa-Schioppa (Fn. 36)  ; E. Peters, Die Folter, 1991. 38 C. Holmes, The Legal Instruments of Power and the State in Early Modern England, in  : A. Padoa-Schioppa (Fn. 36), S. 269–289, hier S. 287. 39 S. Salmonowicz, Die neuzeitliche europäische Kodifikation, APH 37 (1978), S. 29–69. 40 N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969  ; B. Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen  ? (ZHF Bh. 35), 2005. 41 B. Dölemeyer/H. Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, 1997.

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V. Die Entdeckung des Individuums und ihre Folgen

Angeblich wurde etliche Jahrhunderte vor Christus in der so genannten »Ach­ senzeit« von den Konfuzianern in China, den Buddhisten Indiens, den Pro­ pheten Israels und den griechischen Tragikern und Philosophen parallel die sittliche Verantwortung des Einzelmenschen und sein Gewissen entdeckt oder zumindest wirkungsvoll verkündigt42. Das Christentum hat diese Entwicklung durch die Vorstellung weiter gesteigert, dass jeder Mensch dank seiner einzigar­ tigen unsterblichen Seele ein persönliches Gottesverhältnis besitze, im Jenseits Lohn oder Strafe für seine Taten erhalten werde, dabei aber grundsätzlich zum Bürger des Gottesreiches bestimmt sei43. Die Beseitigung der kirchlichen Heils­ vermittlung durch die Reformation lief auf Gottesunmittelbarkeit und damit auf gesteigerte Selbstverantwortung des Menschen hinaus. Schließlich wurde in dieser sittlichen Selbstverantwortung des Individuums die personale Würde des Menschen erkannt, die unbedingten Respekt verlangt. Die Bindung an Gott wurde dabei allmählich entbehrlich, schließlich sogar, weil Fremdbestim­ mung, als Beeinträchtigung der menschlichen Selbstbestimmung verworfen44. Die Folge war eine Transformation der Freiheit mit weit reichenden politi­ schen Folgen. Aus Freiheit als Abwesenheit von Zwang wurde Freiheit als Mög­ lichkeit zur Selbstbestimmung, die Wurzel aller Emanzipationsbewegungen. Unsäglich langsam setzte sich in Europa die Gleichrangigkeit der Frau durch, obwohl die Kirche bereits im Hochmittelalter die Fremdbestimmung ehelicher Partnerwahl verworfen hatte. Auch wenn die politische Gleichberechtigung der Frauen noch im 20. Jahrhundert viel zu wünschen übrig ließ, löste sich das weltweit übliche Patriarchat in Europa doch schon früher auf. Denn seit der Französischen Revolution waren nicht mehr Familienhaushalte unter der Autorität des Hausvaters die Elementarbausteine des Gemeinwesens wie zuvor, sondern die Bürger als Individuen. Jetzt erst war moderne Massendemokratie möglich geworden und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Bürgerinnen daran teilnehmen konnten. 42 K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 1949. 43 A. Angenendt, Welt- und Personenverständnis in christlicher Auffassung, in  : J. Stagl/W. Rein­ hard (Hrsg.), Grenzen des Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen, 2005, S. 293–319  ; J. Assmann (Hrsg.), Die Erfindung des inneren Menschen, 1993  ; J. Assmann/ T. Sundermeier (Hrsg.), Schuld, Gewissen und Person. Studien zur Geschichte des inneren Menschen, 1997. 44 Vgl. J. Coleman (Hrsg.), The Individual in Political Theory and Practice (The Origins of the Modern State in Europe F), 1996.

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Außerdem war auch eine Transformation des Eigentumsbegriffs die Folge, der in Europa ohnehin weiter reichte als anderswo. Denn nur Europa kannte den im Römischen Recht wie in verschiedenen Volksrechten verankerten Grundsatz des fast uneingeschränkten Privateigentums, auch wenn dieser sich zunächst stärker auf Familien als auf Individuen bezogen hatte45. Im Denken John Lockes kon­ vergierte diese spezifisch europäische Rechtsvorstellung vom uneingeschränkten Privateigentum mit dem Personalitätsprinzip und der Bejahung des gewöhnli­ chen Lebens, der Arbeit, in der für die moderne Welt grundlegenden Idee vom Menschen als Eigentümer seiner selbst, das heißt seiner Person, seiner Rechte, damals auch »Freiheiten« genannt, und seines Eigentums im engeren Sinn46. Das war der Inhalt der Formel »Liberty and Property«, die sinngemäß nicht nur in England der expandierenden Staatsgewalt entgegengehalten wurde.

VI. Die Erfindung des Staates und ihre Folgen

Der moderne Staat ist eine Erfindung der Europäer und einer ihrer wichtigsten Exportartikel in die Welt gewesen. Er wurde zum Inbegriff ihrer politischen Kultur und Geschichte47. Dazu gehört freilich ebenso der immer wieder auf­ flammende Widerstand der Europäer gegen den Staatsbildungsprozess, der aber letztendlich vom Staat in Dienst genommen und integriert werden konnte. Der Staatsbildungsprozess ist ein Ergebnis des geopolitischen Pluralismus Eu­ ropas. Die ständige Rivalität innerhalb seiner vielgestaltigen Adelsherrschaft und Kommunalautonomie erlaubte es besonders machtwilligen und begünstigten Konkurrenten, im Lauf der Zeit die Oberhand über die anderen zu gewinnen und diese zu unterwerfen. Die unzähligen Herrschaften und Kommunen wur­ den bis zum 19. Jahrhundert auf rund zwei Dutzend souveräne Staaten reduziert. Gewalt spielte dabei eine große Rolle. Insofern war der Krieg der eigentliche Motor der europäischen Staatsbildung48 und wurde daher ebenso wie der Staats­ bildungsprozess selbst von den Europäern kontinuierlich reflektiert49. Seit dem 45 J.-P. Levy, Histoire de la propriété, 1972. 46 J. Locke, Two Treatises of Government, Hrsg. Peter Laslett, 2. Aufl. 1967, S. 305 (II, V, 27). 47 W. Blockmans/J.-P. Genet (Hrsg.), The Origins of the Modern State in Europe, 13th–18th Century, 7 Bde., 1995–2000  ; W. Reinhard, Staatsgewalt (Fn. 3). 48 P. Contamine (Hrsg.), War and Competition between States (The Origins of the ­Modern State in Europe  A), 2000  ; W. Reinhard, Kriegsstaat – Steuerstaat – Machtstaat, in  : R. G. Asch/H. Duch­ hardt (Hrsg.), Der Absolutismus – ein Mythos  ? 1996, S. 277–310. 49 Vgl. M. Behnen, Der gerechte Krieg und der notwendige Krieg. »Necessitas« und »Utilitas reipub­

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hohen Mittelalter ist daher eine elaborierte politische Theorie ein wesentlicher Bestandteil europäischer (politischer) Kultur geworden50. Sakral legitimierte Könige hatten einen »Wettbewerbsvorteil«, aber auch Adelsfamilien wie die Hohenzollern oder Bankiers wie die Medici bewährten sich als Staatsbilder. Wichtige Voraussetzung für den Erfolg waren neben dy­ nastischer Kontinuität die Dienste einer politischen Klasse, die im eigenen Inte­ resse das Wachstum der Staatsgewalt zu ihrer Sache machte. Diese Rolle wurde langfristig fast überall von im Römischen Recht gebildeten Juristen übernom­ men51. Die von der römischen Rechtskirche vermittelten Elemente antiker politischer Kultur stellten wichtige Grundlagen des werdenden europäischen Staates dar. Neben dem Amtsprinzip trug auch die territoriale Organisation der Kirche zur Weiterentwicklung des archaischen »Personenverbandsstaates« zum modernen »Flächenstaat« bei. Die päpstliche Vollgewalt wurde zum Modell des monarchischen Absolutismus52. Allerdings ging der Machtgewinn des Staates oft zu Lasten des bestehenden Rechts und die dazu notwendige Ressourcenvermehrung konnte nur auf Kosten des eigentlich unverletzlichen Eigentums der Untertanen stattfinden. In einer Kultur, in der man sich ursprünglich notfalls mit Gewalt Recht verschaffen konnte53, galt demgemäß passiver oder aktiver gewaltsamer Widerstand gegen die expandierende Staatsgewalt wenn nicht als legal so zumindest als legitim. Ein Herrscher, der das vertragliche oder stillschweigend übliche Gegenseitigkeitsverhältnis zu seinen Untertanen einseitig veränderte, galt traditionell als Tyrann, den man bekämpfen, notfalls absetzen oder sogar töten konnte54. Die europäi­ sche Geschichte ist voll von Adels- und Volksaufständen55 sowie von Versuchen, licae« in der Kriegstheorie des 16. und 17. Jahrhunderts, in  : J. Kunisch (Hrsg.), Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, 1986, S. 43–106. 50 H. Fenske u. a., Geschichte der politischen Ideen, 5. Aufl. 2003  ; I. Fetscher/H. Münkler (Hrsg.), Handbuch der politischen Ideen, 5 Bde., 1985–1993. 51 W. Reinhard (Hrsg.), Power Elites and State Building (The Origins of the Modern State in Europe D), 1996. 52 Vgl. C. J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, S. 15. 53 R. Kaiser, Selbsthilfe und Gewaltmonopol. Königliche Friedenswahrung in Frankreich und Deutschland im Mittelalter, FMS 17 (1983), S. 55–72. 54 Vgl. O. Jäszi/J. D. Lewis, Against the Tyrant, 1957. 55 Y.-M. Bercé, Révoltes et révolutions dans l’Europe moderne, 1980  ; P. Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300–1800, 1988  ; J. A. Goldstone, Revolution and Rebellion in the Early Modern World, 1991  ; H. Neveux, Les révoltes paysannes en Europe (XlVe–XVIIe s.), 1997  ; J. Nicolas (Hrsg.), Mouvements populaires et conscience sociale, XVle–XIXe s., 1985  ; P. Zagorin, Rebels and Rulers, 2 Bde., 1982.

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die Obrigkeit vor Gericht zu ziehen56, wie sie anderswo undenkbar waren. Die Europäer pflegten einen Habitus der Widerspenstigkeit, ihre politische Kultur war zu einem guten Teil eine des Misstrauens. Ausgehend vom Anspruch auf »Liberty and Property« formulierten sie allmählich ihre Grund- und Menschen­ rechte als unübersteigbare Grenze für die Expansion staatlicher Gewalt57. Erfolgreiche Staatsbilder waren daher gezwungen, die Besteuerung des Eigen­ tums der Untertanen mit diesen oder deren Vertretern auszuhandeln58. Auf diese Weise entstanden seit dem Spätmittelalter Ständevertretungen, die als Gegenleis­ tung für Steuerbewilligung Anteil an Gesetzgebung und Politik verlangten und erhielten59. Allerdings gelang es den meisten Fürsten im 17. Jahrhundert, den Einfluss der Stände zu minimieren. Nur in Schweden und vor allem in England hielten sich ständische Regimes. Aus letzterem entwickelte sich der moderne Par­ lamentarismus, der dann in und nach der Französischen Revolution modifiziert in die zu Verfassungsstaaten mutierten europäischen Länder exportiert wurde. Ganz wie in den alten Ständeversammlungen wurde auch in modernen Volksvertretun­ gen das Budgetrecht zum Hebel fortschreitender Parlamentarisierung. Der nachrevolutionäre europäische Staat hatte die Schwelle zur Modernität überschritten. Im Gegensatz zur hochdifferenzierten Welt des Ancien Régime machte er sich überall Einheit und Einheitlichkeit zum Prinzip  : Einheit des Staats­ gebiets als homogenes Territorium mit linearen Grenzen, Einheit des Staatsvolks als nivellierte Masse von Individuen, die mittels Schulpflicht60, Wehrpflicht und Steuerpflicht diszipliniert wurden, Einheit der von Juristen gehandhabten sou­ veränen Staatsgewalt mit Gewaltmonopol nach innen und außen61, dessen An­ 56 W. Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, 1980  ; ders. (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse, 1983  ; ders., Die Entwicklung des »teutschen Bauern­ rechts« in der Frühen Neuzeit, ZNR 1990, S. 127–163  ; W. Schmale, Bäuerlicher Widerstand, Gerichte und Rechtsentwicklung in Frankreich, 1986. 57 W. Schmale, Archäologie der Grund- und Menschenrechte, 1997. 58 R. Bonney (Hrsg.), Economic Systems and State Finance (The Origins of the Modern State in Europe B), 1995  ; ders. (Hrsg.), The Rise of the Fiscal State in Europe, c. 1200–1815, 1999. 59 W. Eberhard, Herrschaft braucht Zustimmung – der europäische Frühparlamentarismus ent­ steht, in  : L. Kühnhardt/M. Rutz (Hrsg.), Die Wiederentdeckung Europas, 1999, S. 121–135  ; P. Blickle (Hrsg.), Resistance, Representation, and Community (The Origins of the Modern State F), 1997. 60 W. Schmale/N. L. Dodde (Hrsg.), Revolution des Wissens  ? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung (1750–1825), 1991. 61 J. Isensee, Staat, in  : Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 5, 1989, S. 133–157, im Sinne von G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1900), 1959  ; vgl. H. U. Gumprecht, Modern, Modernität, Moderne, in  : Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1978, S. 107.

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wendung der Polizei bzw. dem Militär oblag62. Während die Gewalt im Inneren zurückging, nahm die äußere Gewalt weiter zu  ; der Krieg war aus einer Aus­ nahme und einem Staatsbildungskonflikt zu einer Art von zwischenstaatlichem Rechtsgeschäft geworden63. Wo sich Volkssouveränität und Demokratie durchsetzten, konnte sich die Staatsgewalt obendrein selbst mit der nötigen Legitimation versorgen. Dank der Fiktion, dass der Untertan nur Gesetzen gehorche, die er sich als Bürger selbst gegeben habe, gewann sie die unbegrenzte Kompetenzenkompetenz, die Befugnis, ihre eigenen Befugnisse nach Belieben zu regeln. Auch die inzwi­ schen in Verfassungen aufgenommenen und damit unter Verlust ihrer herr­ schaftskritischen Funktion »verstaatlichten« Grundrechte gelten insofern nur kraft staatlicher Selbstbeschränkung. Der Weg zum totalen Staat war offen. Organisierter Massenmord sollte sich als letzte Konsequenz des modernen Ver­ waltungsstaates erweisen64. Denn der im 19./20. Jahrhundert weiterentwickelte moderne Staat ist nicht nur Rechtsstaat, Demokratie und dank demokratisch induzierter Ausweitung innerer Staatsbefugnisse auch Sozialstaat65, sondern vor allem Nationalstaat66. Das bedeutet, seine politische Identität ist auf den Glauben seiner Bevölkerung an gemeinsame Mythen und auf ihren Willen zur gemeinsamen Geschichte ge­ gründet. Solche Identität lebt aber seit alters von der Abgrenzung gegen feind­ liche Alterität.67 Was einst die Türken gewesen waren, wurde jetzt zur Rolle einer feindlichen und minderwertigen Nachbarnation, z. B. auf Gegenseitig­ keit der Deutschen bzw. der Franzosen. Unter den gegenwärtigen Umständen hat die gemeinsame europäische Alteritätsobsession wieder zu den Muslimen als Erbfeinden Europas zurückgefunden. Wird Europa künftig wie einst seine Nationen durch Abneigung gegen den wirklichen oder imaginierten gemeinsa­ men Feind zusammengeschweißt werden  ? 62 B. Gladigow, Homo publice necans. Kulturelle Bedingungen kollektiven Tötens, in  : Saecu­ lum 37 (1986), S. 150–165  ; H. v. Stietencron/J. Rüpke (Hrsg.), Töten im Krieg, 1995. 63 Vgl. J. Burkhardt, Die Friedlosigkeit der frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bel­ lizität Europas, ZHF 24 (1997), S. 509–574. 64 G. Dilcher, Entfaltung und Krise des Verwaltungsstaates, HZ 250 (1990), S. 638. 65 G. A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2. Aufl. 1991  ; H. G. Hockerts u. a., Sozialstaat, 1996. 66 D. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat  : Forschungsstand und Forschungsper­ spektiven, NPL 40 (1995), S. 190–236. 67 Vgl. zuletzt M. Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatrio­ tischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, 2004.

Die Nase der Kleopatra Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung. Ein Versuch

I.

»Kleopatras Nase  : Wenn sie kürzer gewesen wäre, das gesamte Gesicht der Erde sähe anders aus.« Diese Feststellung findet sich nicht bei Asterix, sondern bei Blaise Pascal (1623–1662).1 In der Tat, nach Münzbildern hatte Kleopatra als Erbe ihrer Dynastie eine lange spitze Nase und ein spitzes Kinn.2 Wir wis­ sen allerdings weder, woher Pascal das wusste, noch wie er sich den alternativen Ablauf der Weltgeschichte vorstellte. Aber mit seinem flotten Spruch bringt er einen Sachverhalt auf den Punkt, um den es in dieser Untersuchung gehen soll. Im Gegensatz zu der Vorstellung, dass Politik und Geschichte großmaßstäbli­ che sachliche Entscheidungen und Ergebnisse produzieren, gehen wir davon aus, dass sie in Wirklichkeit von kleinkarierten, sachfremden, in der Person von Beteiligten begründeten Einflüssen bestimmt werden. Deren Anteil ist em­ pirisch schwer zu fassen und wird daher von seriöser Forschung gerne ignoriert. Das erleichtert die Flucht in unseriöse Verschwörungsmythen. Denn es gibt zwar informelle Einflüsse von Jesuiten, Freimaurern oder Juden in der Ge­ schichte, aber die Jesuiten, die Freimaurer oder die Juden sind nie geschlossene Verschwörerklüngel gewesen.3 Fast fünfzig Jahre beschäftigt mich das Problem, wie unter solchen Um­ ständen Politik wirklich funktioniert.4 Nach drei Forschungsprojekten mit um­ fangreichen Datenbanken über Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts5, über 1 »Le nez de Cléopatre  : s’il eût été plus court, toute la face du monde aurait changé«  ; Blaise Pascal, Pensées. Ed. Philippe Sellier. Paris 2000, 32 (B 162). 2 Christoph Schäfer, Kleopatra. Darmstadt 2006, 255–261. 3 Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776–1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung. Bern 1976, 3. Aufl. Wiesbaden 2008  ; Wolfgang Reinhard, Freunde und Kreaturen. »Verflechtung« als Konzept zur Erforschung historischer Führungsgruppen. Römische Oligarchie um 1600. München 1979, 11–14. 4 So der Titel meiner Augsburger Antrittsvorlesung 1978. 5 Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirt­ schaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500–1620. Bearb. v. Mark Häberlein u. a. Ber­ lin 1996  ; Katarina Sieh-Burens, Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur

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die römische Kurie des frühen 17. Jahrhunderts6 und über die deutsche Ge­ schichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert7 und nach Beobachtung an­ derer einschlägiger Untersuchungen8 will ich jetzt versuchen, die empirisch ge­ wonnenen Ergebnisse zusammenzufassen und die Folgerungen zu formulieren, die sich daraus ergeben. Mein theoretisches Konzept hat sich durch erforderli­ che empirische Korrekturen im Laufe der Jahre deutlich verändert. Vor allem wurde es ausgeweitet, weil das Phänomen eine große Variationsbreite besitzt.9 Von »Familie und Klientel« am Anfang10 bin ich inzwischen zum Rahmenbe­ griff »Mikropolitik« übergegangen, den ich aber seinerseits ausgeweitet und damit empirisch zutreffender gemacht habe. Allerdings evoziert »Mikropolitik« automatisch den Gegenbegriff »Makropolitik«, obwohl dieser aus mikropoliti­ scher Perspektive sinnlos ist. Die trennscharfe Unterscheidung von Mikro- und Makropolitik ist ein bloßes Konstrukt, das wahlweise zur Verschleierung oder zur Denunziation von Mikropolitik herangezogen werden kann. 1996 hatte ich definiert  : »Mikropolitik soll heißen der mehr oder weniger planmäßige Einsatz eines Netzes informeller persönlicher Beziehungen zu poli­ tischen Zwecken, wobei die Besetzung einer Stelle und der Rang ihres Inhabers in der Regel sehr viel wichtiger ist als das, was diese Person anschließend treibt. sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518–1618. München 1986  ; Mark Häberlein, Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Berlin 1998  ; Wolfgang Schütze, Oligarchische Verflechtung und Konfession in der Reichsstadt Ravensburg 1551/52–1648. Diss. phil. Augsburg 1981.   6 Die Ergebnisse meiner eigenen Studien und von anderthalb Dutzend von mir betreuten Ar­ beiten zusammengefasst in  : Wolfgang Reinhard, Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropoliti­ sche Papstgeschichte. (Päpste und Papsttum 37). Stuttgart 2009 (mit Datenbank auf CD).  7 Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800– 1970. Frankfurt am Main 1984  ; ders., Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Frankfurt am Main 1984, wobei die Rezeption dieser Untersuchung ebenso wie das Schicksal ihres Autors eine Art von empirischer Bestäti­ gung der These vom Gewicht informeller Einflüsse darstellen  ; Jaana Eichhorn, Geschichtswis­ senschaft zwischen Tradition und Innovation. Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung. Göttingen 2006.  8 Wolfgang Reinhard, Kleine Politik ganz groß, in  : Wolfgang Weber/Regina Dauser (Hrsg.), Faszinierende Frühneuzeit. Reich, Frieden, Kultur und Kommunikation 1500–1800. Fschr. für Johannes Burkhardt zum 65. Geburtstag. Berlin 2008, 237–256.   9 Vgl. dazu Antoni Mączak, Ungleiche Freundschaft. Klientelbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart. Osnabrück 2005. 10 So der Titel meines Habilitationsprojekts in den 1960er/70er Jahren und der Manuskriptfas­ sung meiner Habilitationsschrift von 1973.

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Erfolgreiche Politik ist demnach solche, die wichtige Personen zufrieden stellt und Positionen mit Leuten besetzt, deren Vernetzung ihre Loyalität garantiert, denn von Amtsinhabern wird eher loyale als kompetente Amtsführung erwar­ tet.«11 Von dieser Definition braucht zwar nichts zurückgenommen zu wer­ den, denn sie bringt nicht nur Entscheidungen an der römischen Kurie des 17. Jahrhunderts zutreffend auf den Punkt12, sondern ebenso die Besetzung von Ministerposten in heutigen deutschen Kabinetten13. Sie erfasst aber nur einen wichtigen Ausschnitt des mikropolitischen Feldes. Der Geschichtswissenschaft war der Begriff »Mikropolitik«, den ich 2004 erst­ mals mit einem Buchtitel einzuführen versuchte14, bisher fremd. Auch in der Politikwissenschaft spielt er erst neuerdings eine bescheidene Rolle, vielleicht weil sie als normative Wissenschaft die wünschenswerte Sachlichkeit von Politik ge­ genüber der real existierenden Unsachlichkeit allzu hoch gehängt hat. Inzwischen gilt aber auch dort, dass »Mikropolitik […] überall [ist], wo Politik geschieht. Sie wird jedoch erst sichtbar, wenn der wissenschaftlich reflektierende Zugriff sich einer mikroskopischen Zugangsweise bedient«, das heißt, wenn durch teilneh­ mende Beobachtung quasi-ethnologisch das höchst komplexe sub-institutionelle Innenleben eines Politikfeldes mit seinen bürokratischen und parlamentarischen Routinen und Strategien erhellt wird. Da geht es um die Erarbeitung von Vorla­ gen, um die weitere Kommunikation über sie, um den Gegensatz von politischer Argumentation zwecks Erreichung eines Ziels beim Parlamentarier und der Pers­ pektive technisch-funktionaler Machbarkeit beim Bürokraten. Das Problem, wer von beiden sich durchsetzt, lässt erkennen, dass die Rolle der an solchen Prozessen beteiligten Personen auf keinen Fall ignoriert werden kann.15 Auch wertneutrale Untersuchungen zeigen, dass es dabei zum ständig neuen Aushandeln von Positi­ onierungen, Gruppenbildungen und Netzwerken kommt.16 »Die Erklärung sozi­ 11 Wolfgang Reinhard, Amici e creature. Politische Mikrogeschichte der römischen Kurie im 17. Jahrhundert, in  : QuFiAB 76, 1996, 308–334, hier 312. 12 Vgl. Anm. 6. 13 Vgl. z. B. die Presseberichte über die Besetzung des bayerischen Kabinetts nach der Wahlnie­ derlage 2008 oder die Umbesetzung der Stelle des Bundeswirtschaftsministers im Frühjahr 2009 sowie Bob Woodward, Die Macht der Verdrängung. George W. Bush, das Weiße Haus und der Irak. München 2007. 14 Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese (1605–1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua. Tübingen 2004. 15 Wolfgang Seibel/Stephanie Reulen, Verwaltungsaufbau in den neuen Bundesländern. Zur kom­ munikativen Logik staatlicher Institutionenbildung. Berlin 1996, 99 u. ö. 16 Frank Nullmeier/Tanja Pritzlaff/Achim Wiesner, Mikro-Policy-Analyse  : ethnographische Poli­ tikforschung am Beispiel Hochschulpolitik. Frankfurt am Main 2003, bes. 9–21, 35, 257f.

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aler und politischer Prozesse kann nur unter Einbeziehung relationaler Variablen erfolgen, die die Beziehungen zwischen den Akteuren abbilden.«17 Allerdings sind diese nicht leicht zu erhellen, denn der Regierungsapparat arbeitet »beinahe so intransparent wie eine Liechtensteiner Bank«.18 Damit nähert sich der politikwissenschaftliche Mikropolitikbegriff dem or­ ganisationssoziologischen und mikroökonomischen, von dem ich ausgegangen bin. Seit langem ist bekannt, dass sich in Organisationen im Allgemeinen und in Betrieben im Besonderen Verhaltensweisen und intra-organisationale Netzwerke bilden, von denen die formale Organisationsstruktur unterlaufen und bisweilen die Erreichung der Organisationsziele in Frage gestellt wird. Auf der anderen Seite vermögen sie aber Informationsfluss zu beschleunigen, organisationale Komple­ xität zu reduzieren und Innovation zu fördern.19 Häufig tragen sie zur Verbesse­ rung des Betriebsklimas und damit zum Erfolg des Unternehmens bei. Außerdem steigert emotionale Bindung an Kollegen und Vorgesetzte die soziale Kohärenz. Das läuft auf die Definition hinaus, dass »mikropolitisch handelt, wer durch die Nutzung anderer in organisationalen Ungewissheitszonen eigene Interessen verfolgt«.20 Über den Gegensatz von Eigennutz und Organisationszielen hinaus gehört also dazu, dass es um die Verteilung von Vorteilen und Ressourcen geht, um Gewinn auf Kosten anderer, der durch Einflussnahme und Machttaktiken verschiedenster Art zur Vergrößerung der eigenen Macht erzielt werden soll. Wegen der Ungleichheit der Menschen sind selbst elementare menschliche Be­ ziehungen nicht nur, aber auch Machtbeziehungen21, das heißt aber politische Beziehungen. Mikropolitik braucht deshalb nicht unbedingt eine Organisation als Rahmen, denn bereits unser Alltagshandeln ist mikropolitisch  ; alltägliche Macht ist sein Rohstoff.22 17 Wolfgang Seibel/Hartmut Maaßen, Verwaltete Illusionen. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolger 1990–2000. Frankfurt am Main 2005, 290. 18 Felix Berth, Tricks, Stellschrauben und ein paar Wunder, in  : Süddeutsche Zeitung 10. Feb­ ruar 2010. 19 Vgl. Hartmut Berghoff/Jörg Sydow (Hrsg.), Unternehmerische Netzwerke. Eine historische Or­ ganisationsform mit Zukunft. Stuttgart 2007, Einleitung 36 (obwohl das Buch hauptsächlich inter-organisationaler Vernetzung gewidmet ist). 20 Oswald Neuberger, Mikropolitik und Moral in Organisationen. 2. Aufl. Stuttgart 2006, 18. 21 Günther Ortmann, Mikropolitik, in  : Peter Heinrich/Jochen Schulz zur Wiesch (Hrsg.), Wör­ terbuch der Mikropolitik. Fschr. Horst Bosetzky. Opladen 1998, 1–5  ; Willi Küpper/Anke Felsch, Organisation, Macht und Ökonomie. Mikropolitik und die Konstitution organisatio­ naler Handlungssysteme. Wiesbaden 2000, 18. 22 Willi Küpper/Günther Ortmann (Hrsg.), Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Or­ ganisationen. 2. Aufl. Opladen 1992, 7.

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Einschlägige mikropolitische Aktivitäten werden informell mittels persön­ licher Beziehungen und unter Verbergen der eigenen Motive durchgeführt. Öffentliche Vertretung von Sachfragen dient allenfalls zur Verschleierung der wirklichen Handlungsziele. Denn Mikropolitik kann auf Korruption hinaus­ laufen  ; zumindest gilt sie heute als moralisch anrüchig. Aber der Wandel po­ litischer Kultur im Lauf der Geschichte betrifft weniger die mikropolitischen Aktivitäten selbst als deren jeweilige Bewertung. So sind zum Beispiel die un­ sterblichen mikropolitischen Praktiken Nepotismus und Patronage auch heute selbstverständlich, gelten aber als korrupt oder zumindest als unfein. In der Frühneuzeit hingegen waren sie nicht nur zulässig, sondern sittlich geboten.23 Der Korruptionsvorwurf selbst gehört zu dem Repertoire mikropolitischer Techniken wie Argumentieren oder Schmeicheln, Blockieren oder Koalieren, Leistung und Gegenleistung anbieten, Sanktionen androhen und so fort.24 Darüber hinaus gibt es heute das paradox anmutende Phänomen der »er­ folgreich scheiternden Organisationen«, die vor allem auf dem »Dritten Sek­ tor« zwischen Markt und Staat anzutreffen sind  : Wohlfahrtsverbände, Genos­ senschaften, öffentliche Unternehmen und verselbständigte Verwaltungsträger, sogenannte »Quangos« (Quasi-Nongovernmental Organisations). Auch wenn sie mit der Durchsetzung offizieller zweckrationaler Organisationsziele schei­ tern, sind sie erfolgreich beim Einräumen des gesellschaftlich erforderlichen Spielraums für vormoderne mikropolitische Aktivitäten, für die moderne zweckrationale Organisationskultur keinen Platz mehr hat. Manifest sind sie oft empörend dysfunktional, latent aber überaus funktional für Staat und Ge­ sellschaft. So ist die »Treuhand« mit der Abwicklung der DDR-Betriebe zwar wirtschaftspolitisch gescheitert, war aber ein höchst erfolgreicher Sündenbock, der Bund und neue Länder vom Unmut der Bevölkerung entlastete. Immerhin fiel ihr erster Leiter 1991 einem Mordanschlag zum Opfer.25 Mikropolitik ist freilich ein Spiel, das durchaus nach Regeln gespielt wird. Im Umgang mit Organisationen legen Konventionen fest, wie viel Spielraum mikropolitisches Handeln hat, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. Auch Korruption beruht ja auf kalkuliertem Risiko. Die Spielregeln mögen sich aus konstanten Elementarsachverhalten ergeben wie die selbstverständliche Bevor­ 23 Wolfgang Reinhard, Papa Pius. Prolegomena zu einer Sozialgeschichte des Papsttums (1972), in  : ders., Ausgewählte Abhandlungen. Berlin 1997, 14–36. 24 Neuberger, Mikropolitik (wie Anm. 20), 85–146, nennt hunderte von Möglichkeiten. 25 Wolfgang Seibel, Funktionaler Dilettantismus. Erfolgreich scheiternde Organisationen im »Dritten Sektor« zwischen Markt und Staat. 2. Aufl. Baden-Baden 1994  ; Seibel/Maaßen, Illu­ sionen (wie Anm. 17).

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zugung von Personen aus dem Nahbereich oder aus der jeweiligen politischen Kultur wie die Bewertung dieser Bevorzugung. Sie regulieren und strukturieren die zwischenmenschlichen Machtbeziehungen, aber ohne das Handeln vollstän­ dig zu determinieren. Immer besteht die Freiheit, auch anders zu handeln.26 Mi­ kropolitisches Handeln findet nämlich selten nach rationalen Entscheidungen von Homines oeconomici statt, sondern beginnt auf Grund ziemlich vager Vor­ stellungen, die sich erst im Zuge des Handelns in Zielvorstellungen niederschla­ gen.27 Mit der Metapher »Spiel« bewegen wir uns in der Mitte zwischen zwei reduktionistischen Vorstellungen von der sozialen und historischen Welt und ihren Erklärungsstrategien. Dem mikrosoziologischen und mikrohistorischen Individualismus der »kleinen Geschichten« entspricht die Erklärung durch ra­ tionales individuelles Handeln, während das Denken in makrosoziologischen Strukturen und großen historischen Erzählungen auf die Vorstellung vom über­ individuellen Eigenleben eines historischen Systems hinausläuft, dessen Zwänge den im System Handelnden häufig nicht einmal bewusst werden.28 Die deagen­ tivierende Sprache des üblichen Politikbegriffs läuft daher auf eine implizite Systemanalogie hinaus, wenn davon die Rede ist, dass »Deutschland« etwas tut oder »der Vatikan« etwas unterlässt.29 Demgegenüber findet das mikropolitische Spiel zwischen den beiden Spannungspolen Systemzwang und Handlungsfrei­ heit statt.30 Seine Ergebnisse mögen den generalisierten Verhaltenserwartungen eines Systems entsprechen, können aber auch allen Erwartungen widersprechen, bis hin zur Emergenz, dem Auftreten unvorhersehbarer Folgen.31 Weil die sozialen Beziehungen und Interaktionen, um die es dabei geht, zwar geregelt, aber nicht determiniert sind, lassen sie sich weder als hierarchisches System noch als freier Markt beschreiben, sondern nur als »Netzwerk«. Denn die Netzwerktheorie vermag Mikro- und Makroansätze ebenso zu integrieren wie Akteur und Handlung, Struktur und System. Sie bietet nicht nur Methode, 26 Küpper/Ortmann (Hrsg.), Mikropolitik (wie Anm. 22), 21. 27 Hans Joas, Die Kreativität des Handelns. Frankfurt am Main 1992. 28 Bernhard Miebach, Soziologische Handlungstheorie. 2. Aufl. Wiesbaden 2006, 183–320  ; Heidrun Hesse, Ordnung und Kontingenz. Handlungstheorie versus Systemfunktionalismus. Freiburg im Breisgau 1999. 29 Peter von Polenz, Über die Jargonisierung von Wissenschaftssprache und wider die Deagenti­ vierung, in  : Theo Bungarten (Hrsg.), Wissenschaftssprache. Tübingen 1981, 85–110. 30 Jörg Bogumil/Josef Schmid, Politik in Organisationen. Organisationstheoretische Ansätze und praxisbezogene Anwendungsbeispiele. Opladen 2001, 59f.; Neuberger, Mikropolitik (wie Anm. 20), 151. 31 Bettina Heintz, Emergenz und Reduktion. Neue Perspektiven auf das Mikro-Makro-Problem, in  : KZSS 56, 2004, 1–31.

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sondern zugleich ein Organisationsmodell aus anti-essentialistischer Perspek­ tive, denn sie erklärt soziale Phänomene als Relationen und nicht durch Subs­ tanz oder Wesen. Grob vereinfacht läuft sie erstens auf einen Satz von »Knoten« oder »Elementen« hinaus, in der Regel Personen, zweitens auf die zwischen diesen verlaufenden »Kanten«, das sind die Beziehungen, die jene erst zu einem »Satz«, das heißt einem sinnvollen Untersuchungsgegenstand werden lassen. Drittens geht es um die Merkmale der »Knoten«, viertens um die Inhalte der »Kanten«, fünftens um die Gestalt und Eigenschaften der Netzwerke, die sich daraus ergeben. Die Forschung hat elaborierte mathematische Verfahren zur Netzwerkanalyse entwickelt, die aber für Historiker weitgehend entbehrlich sind, weil sie angesichts der fast immer zufälligen und lückenhaften Quellen­ überlieferung nur eine illusionäre Pseudo-Exaktheit produzieren könnten.32 Ohnehin ist häufig gerade die weitgespannte und schwache Vernetzung mikro­ politisch bedeutsam  ; das wird nicht nur von Befunden aus römischen Akten, sondern auch von Untersuchungen über moderne Arbeitsmärkte bestätigt.33 Netzwerke sind ein allgegenwärtiges historisch-anthropologisches Phäno­ men, was an der altchinesischen Variante Guanxi und ihrer Anpassung an die Gegenwart ebenso überzeugend demonstriert wurde34 wie mit einer netzwerk­ theoretischen Interpretation des 1. Korintherbriefs des Apostels Paulus35. Aber ihre Bedeutung wurde erst erkannt, als sie zur Vergesellschaftungsform der Informationswelt unserer Gegenwart aufstiegen  ; der Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutung des Internets ist evident. Seit 1990 wurde »Netzwerk« zum absoluten Begriff, ohne den heute keine wissenschaftliche oder nicht-wis­ senschaftliche Veröffentlichung mehr auskommt.36 32 John Scott (Ed.), Social Networks. 4 Vols. London 2002, v. a. Vol. 1, 1–21  : General Introduc­ tion, und Vol. 1, 81–122  ; Barry Wellman, Structural Analysis. From Method and Metaphor to Theory and Substance, in  : ders. (Ed.), Social Structures. A Network Approach. Cambridge 1988, 19–61  ; Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele. 3. Aufl. Opladen 2006, bes. 13–34, 58f., 165  ; Stefan Kaufmann (Hrsg.), Vernetzte Steuerung. Soziale Prozesse im Zeitalter technischer Netzwerke. Zürich 2007, 7–21  ; Reinhard, Freunde und Kreaturen (wie Anm. 3). 33 Mark S. Granovetter, The Strength of Weak Ties, in  : Scott (Ed.), Social Networks (wie Anm. 32), Vol. 1, 60–80. 34 Thomas Gold/Doug Guthrie/David Wank (Eds.), Social Connections in China. Institutions, Culture, and the Nature of »Guanxi«. Cambridge 2002  ; Klaus Kammerer/Bernd Schauenberg/ Harro von Senger, Guanxi oder die Ambivalenz von Netzwerkbeziehungen, in  : Gerold Blümle (Hrsg.), Perspektiven einer kulturellen Ökonomik. Münster 2004, 173–188. 35 John K. Chow, Patronage and Power. A Study on Social Networks in Corinth. Sheffield 1992. 36 Erhard Schüttpelz, Ein absoluter Begriff. Zur Genealogie und Karriere des Netzwerkbegriffs,

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Allerdings zeigt die nähere Untersuchung von »Knoten«, »Kanten« und der Gesamtgestalt von Netzwerken, wie sehr Netzwerke durch historische und kul­ turelle Umwelteinflüsse modifiziert werden. Dabei spielt die jeweilige politische Kultur als Inbegriff politischer Praxis abermals eine wichtige Rolle. Grund­ sätzlich führt eine gesellschaftliche Machtrolle zu einer besseren Position in Netzwerken, denn Macht ist der Rohstoff der Mikropolitik. Doch weil sich die politischen Machtrollen historisch verändert haben, spielt heute die Mitglied­ schaft in Parteien oder Verbänden, bei den Freimaurern37 oder im Rotary-Club eine sehr viel größere Rolle als Verwandtschaft oder Landsmannschaft, die in der Vormoderne mikropolitisch wichtiger waren.38 Demgemäß dürfte auch die Bedeutung der aus gemeinsamer Ausbildung, Arbeitsstätte und Mitgliedschaft erwachsenen »Seilschaften« in der Moderne zugenommen haben.39 Zusätzlich ist zu bedenken, dass der Mikropolitik infolge ihres Netzwerkcharakters durch das Internet ganz neue Möglichkeiten eröffnet werden. »Mikropolitik« muss also weiter definiert werden. Denn sie umfasst alles Handeln, das erstens statt Organisationszielen partikularen Interessen dient, das zweitens weniger individuell oder organisiert als vernetzt stattfindet und das sich drittens unterhalb der institutionalisierten Ebene abspielt. Diese drei Eigenschaften müssen nicht in jedem Fall zu finden sein  ; es gibt aber genug Schnittmengen zwischen ihnen für unsere Untersuchung. Logisch stringent müsste demgegenüber »Makropolitik« jenes politische Handeln heißen, das sich erstens strikt an allgemeinen sachlichen Interessen des Gemeinwohls ori­ entiert, das zweitens organisiert abläuft und drittens an Institutionen gebun­ den ist, vor allem an den Staat als die Hyperorganisation schlechthin. »Staats­ in  : Kaufmann (Hrsg.), Vernetzte Steuerung (wie Anm. 32), 25–46  ; Paul N. Edwards, Schwa­ che Disziplin. Der Macht-Wissen-Komplex in Netzwerken und der Niedergang des Experten­ tums, in  : ebd., 47–66  ; Hartmut Böhme, Einführung, in  : Jürgen Barkhoff/Hartmut Böhme/ Jeanne Riou (Hrsg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln 2004, 17–36. 37 Gunilla-Friederike Budde, »Denn unsere Bruderliebe soll ihn leiten«. Zum Zusammenhang von Künstlerexistenz und Freimaurertum bei Wolfgang Amadeus Mozart, in  : HZ 275, 2002, 625–650. 38 Reinhard, Freunde und Kreaturen (wie Anm. 3), 29–32. Verwandtschaft spielt aber noch heute ihre Rolle  ; zur »Übergangszeit«  : Carola Lipp, Verwandtschaft – ein negiertes Element der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts, in  : HZ 283, 2006, 31–77. 39 Eike Emrich/Vassilios Papathanassiou/Werner Pitsch, Klettertechnik für Aufsteiger. Seilschaften als soziales Phänomen, in  : KZSS 48, 1996, 141–155  ; Hans-Jürgen Döscher, Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amts. 2. Aufl. Berlin 2005 (vgl. unten Anm. 69f.)  ; Arne Karsten/Hillard von Thiessen (Hrsg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften. Göttingen 2006.

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handeln« wäre ein angemessenes Synonym für »Makropolitik«, stünden wir nicht unter dem semantischen Zwang binomischer Gegenbegrifflichkeit. Denn das staatliche Hyperorganisationsziel Gemeinwohl wird ja durch Mikropolitik auf Schritt und Tritt in Frage gestellt, und zwar durchaus auch durch organi­ siertes mikropolitisches Handeln. Auf den ersten Blick scheint es sich um eine Frage der politischen Moral zu handeln. Gemeinwohlorientierte Politik gilt generell als moralisch, Mikro­ politik hingegen tendenziell als unmoralisch. Das mag eine deutsche, beson­ ders staatsgläubige Sicht der Dinge sein, während die angelsächsische Welt der Interessenpolitik und den Machterhaltungstechniken gesellschaftlicher Kräfte unbefangener gegenübersteht. Freilich steht der konkrete Inhalt des Gemein­ wohls hier wie dort selten eindeutig fest, und es gibt in der Regel verschie­ dene Lösungen mit Anspruch auf Sachgerechtigkeit. Die Erfahrung lehrt al­ lerdings, dass hier wie dort eine Kluft zwischen politischem Anspruch und politischer Wirklichkeit besteht, die regelmäßig durch Fiktionen überbrückt, durch Geheimhaltung verschleiert oder durch Lügen aus der Welt geschafft werden muss. Fiktionen wie die Volkssouveränität legitimieren die Herrschaft der Parteien und Verbände, Folter und politischer Mord von Staats wegen fin­ den geheim statt, die staatliche Misswirtschaft wird von der Regierung solange bestritten, bis nach der Wahl die notwendigen Steuererhöhungen durchgeführt werden können.40 Außerdem gehört zur »Makropolitik« eine politische Klasse aus Juristen und Berufspolitikern, die sie zu ihrer Sache machen, weil sie von ihr leben. Aus diesem mikropolitischen Interesse heraus sind sie gezwungen, die makropolitische Fiktion aufrecht zu erhalten und mit entsprechenden Ar­ gumenten zu legitimieren. Genauer besehen empfiehlt sich also eine neutralere Perspektive. Erstens können bestimmte Partikularinteressen wie Menschen- und Bürgerrechte eine höhere Legitimität beanspruchen als das so genannte Gemeinwohl, in dessen Namen sie verletzt werden. Zweitens können legale und mit angeblichen In­ teressen des Gemeinwesens begründete politische Praktiken dennoch verbre­ cherisch sein wie Massenmord durch Atombomben oder durch »ethnische Säuberung«. Erfreulicherweise wurde nicht nur die Shoah manchmal durch couragierte Mikropolitik konterkariert. Korruption erscheint hier als einzige 40 Wolfgang Reinhard, Unsere Lügengesellschaft. Warum wir nicht bei der Wahrheit bleiben. Hamburg 2006  ; Wolfgang Reinhard, Geheimnis und Fiktion als politische Realität, in  : ders. (Hrsg.), Krumme Touren. Anthropologie kommunikativer Umwege (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie, Bd. 10). Wien 2007, 221–250.

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Möglichkeit zur wirksamen Bekämpfung von Fanatismus.41 Korruption ist zwar eine Form von Mikropolitik, aber nicht jede Mikropolitik ist korrupt. Obendrein ist »Korruption«, wie gesagt, kein eindeutiger, sondern ein pers­ pektivischer Begriff  ! Der empirische Befund ist eindeutig  : »Reine« Makropolitik gibt es, wenn überhaupt, dann nur als theoretischen Entwurf. Sie ist das anthropologisch Allgemeine, das in Wirklichkeit stets nur als mikropolitisch bestimmtes Be­ sonderes vorkommt. Sie ist eine Subfiktion unserer politischen Basisfiktion, der Idee eines egalitären Rechtsstaats, in dem Gesetze, nicht Menschen zweck­ rationale Herrschaft ausüben, gegebenenfalls gesteigert zur Demokratie mit Volkssouveränität, wobei die Letztere ebenso wie die Zweckrationalität der Herrschaft konstitutive Subfiktionen darstellen.42 Möglicherweise handelt es sich bei der politischen Zweckrationalität um einen Ableger der kulturspezifi­ schen »abendländischen Rationalität«, die von den Griechen nicht nur in die Politik eingeführt wurde. In Wirklichkeit ist Mikropolitik ein integrierender Bestandteil, wenn nicht sogar das Wesen jeder Politik. Denn Politik wird von vernetzten Menschen mit partikularen Interessen betrieben, die dabei unaus­ weichlich auf vororganisationale Interaktionstechniken angewiesen bleiben. Selbst eine so idealistische politische Philosophin wie Hannah Arendt musste sich mit der Untrennbarkeit von handelnder Person und behandelter Sache herumschlagen.43 Doch auch wenn »reine« Makropolitik als »reines« Staatshandeln eine »reine« Fiktion darstellt, so ist sie nichtsdestoweniger erstens als solche gegeben und wirksam. Zweitens ist sie in mikropolitisch »kontaminierter« Form durchaus eine Realität, die natürlich nicht geleugnet werden kann und soll. Dem An­ spruch nach sind ihre Gegenstände universal und monistisch, weil sie sich auf das Gemeinwesen als Ganzes beziehen und durch diesen Bezug legitimieren. Die entsprechenden historischen Quellen sind amtlich, offiziell und öffentlich beziehungsweise ausdrücklich anti-öffentlich, das heißt »amtlich« für »geheim« erklärt. Weil »Makropolitik« öffentlich ist, spielten Kommunikationsmedien für sie eine Rolle von zunehmender Bedeutung, bis heutzutage Makropolitik weitgehend zur Medienveranstaltung geworden ist. 41 »Corruption is the only force that can fight fanaticism«, aus  : Salman Rushdie, The Moor’s Last Sigh (1995), nach Pradyumna S. Chauhan (Ed.), Salman Rushdie Interviews. A Sourcebook of His Ideas. Westport/London 2001, 211. 42 Reinhard, Geheimnis (wie Anm. 40). 43 Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart 1960, hier nach Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, 282–284.

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Gegenstände und Verfahren der Mikropolitik sind demgegenüber partikular und pluralistisch, weil sie sich auf einzelne Personen oder Gruppen oder Koali­ tionen beziehen und durch diesen Bezug entweder legitimiert oder aus der Per­ spektive des Staatshandelns delegitimiert werden. Die entsprechenden Quellen sind diskret und privat, zum Beispiel Briefe, höchstens halbamtlich-offiziös und selbstverständlich nicht öffentlich, auch wenn sie von Medien oder Ge­ richtsverfahren öffentlich gemacht werden können. Die bereits angesprochene Delegitimation der Mikropolitik aus »makropolitischer« Perspektive lässt sich »entlarven« als bloße Interessenvertretung von deren Nutznießern, weil es sich aus der Sicht des Staatshandelns bei jeder Mikropolitik um eine Art von Kor­ ruption handeln kann. Man könnte sie als »Korruption 1. Grades« bezeich­ nen, denn es gibt darüber hinaus die massive Verletzung individualethischer Normen auch im Rahmen von Mikropolitik, die dann »Korruption 2. Gra­ des« wäre. Der päpstliche Nepotismus zum Beispiel müsste aus der Perspektive von Kirche und Staat trotz seiner gesellschaftlichen Legitimität als Korruption 1. Grades bezeichnet werden, die hemmungslose Gier der Nepotenfamilie Bar­ berini 1623–1644 hingegen als Korruption 2. Grades.44 Freilich sind die Mischungsverhältnisse von Staatshandeln und Mikropolitik von Fall zu Fall ebenso unterschiedlich wie der Sachverhalt der Durchmischung als solcher evident bleibt. Deswegen handelt es sich bei unseren Ausführun­ gen über Mikropolitik auch nicht um Binsenweisheiten, sondern um einen neuen Weg zu differenzierter Politikanalyse in Einzelfällen einerseits, zu grund­ legenden Einsichten politischer Anthropologie andererseits. Mikropolitische Analyse führt zu einer Art »Tiefenpolitik«, die analog zur »Tiefenpsychologie« unbekannte oder verdrängte Dimensionen ins Licht des wissenschaftlichen Be­ wusstseins hebt und dadurch zeigt, »wie Politik wirklich funktioniert«.45

II.

Ich beanspruche aber nicht, eine »neue Politikgeschichte« erfunden zu haben.46 Ich will nur genauer hinsehen als bisher. Zur Demonstration des regelmäßigen 44 Wolfgang Reinhard, Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstante, in  : ZKiG 86, 1975, 145–185. 45 Neuberger, Mikropolitik (wie Anm. 20), 8f. 46 Vgl. Hans-Christof Kraus/Thomas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und neue Wege (HZ, Beihefte, NF. 44). München 2007, bes. 4 u. 12.

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Übergewichts der Mikrodimension im politischen Prozess führe ich Exempel aus verschiedenen Feldern vor, um damit die Plausibilität meiner Überlegun­ gen zu steigern. Wenn diese Ausführungen teilweise einen »entlarvungshisto­ rischen« Tenor haben, dann liegt das an der Sache selbst. Denn hier werden bisher unbekannte oder höflich übersehene Dimensionen der Geschichte aus­ geleuchtet, die nicht selten auf Korruption hinauslaufen. Und auch dort, wo dies nicht der Fall ist, widersprechen unsere Befunde in der Regel dem moder­ nen Mythos sachbezogenen Staatshandelns. 1. Ein Papst wie Paul V. Borghese (1605–1621) hatte kaum noch politische Entscheidungen von einiger Tragweite zu treffen.47 Er wollte es aber nicht hin­ nehmen, dass die Republiken Genua und Venedig ihre Kontrolle über kirch­ liche Güter ausweiteten und Geistliche vor ihre weltlichen Gerichte zogen. Beiden drohte er mit Kirchenstrafen. Die Republik Genua war allerdings als europäischer Finanzplatz aufs beste mit der römischen Kurie vernetzt, so dass ein genuesischer Kardinal das Krisenmanagement in die Hand nehmen und mit dem mikropolitischen Instrumentarium persönlicher Einflussnahme zu ei­ nem guten Ende führen konnte  ; Papst und Republik versöhnten sich. Venedig hingegen hatte keinen nennenswerten Einfluss in Rom, und die Kurie ihrer­ seits konnte kaum auf Parteigänger unter der Oligarchie der Republik zählen. Es war das Fehlen derartiger mikropolitischer Möglichkeiten, was das »Inter­ detto di Venezia« 1606 bis an die Grenze eines Krieges eskalieren ließ. In Genua und Venedig waren allerdings kaum Interessen der Papstfamilie und der Kurie im Spiel. Anders in Spanien, wo der Kirchenrechtler Paul V. demgemäß seine Sachentscheidungen weniger streng und stärker nach mikropolitischen Pri­ oritäten traf. Papst und Kurie waren für ihren Unterhalt in beträchtlichem Um­ fang auf das Wohlwollen der spanischen Krone angewiesen. Außerdem hatte die Krone den Aufstieg des Hauses Borghese von patrizischem zu fürstlichem Rang gefördert. Als die Krönung dieses Aufstiegs durch Verleihung der Würde eines »Grande de España« an den Fürsten Borghese anstand, ließ sich dessen Onkel Paul V. im Gegensatz zu seiner sonstigen Zurückhaltung nicht nur dazu bewegen, die Heiligsprechung des Isidro Labrador einzuleiten, die König Philipp III. ein Herzensanliegen war. Außerdem erhob er den zwölfjährigen Prinzen Fer­nando zum Kardinal und zum Administrator des Erzbistums Toledo, der reichsten Pfründe der Christenheit, beides in klarem Widerspruch zum Kirchenrecht.48 47 Wolfgang Reinhard, Schwäche und schöner Schein. Das Rom der Päpste im Europa des Barock 1572–1676, in  : HZ 283, 2006, 281–318. 48 Reinhard, Papst Paul V. (wie Anm. 6), passim.

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In der zölibatären Wahlmonarchie Papsttum mussten bei Herrscherwech­ seln die politischen Karten ständig neu gemischt werden. Deshalb sind die dortigen Archive und Bibliotheken voll von mikropolitischen Denkschriften mit Ratschlägen, manchmal geradezu Lehrbücher für das Verhalten an der rö­ mischen Kurie. Auch Ratgeber für Sekretäre konnten über die Kunst des Brief­ schreibens hinaus mikropolitische Hinweise geben, und eine weitverbreitete Instruktion für Gouverneure im Kirchenstaat enthält genaue Angaben darüber, wo und wie ein solcher seine Vertrauensleute platzieren müsse, um diskrete Informationen über die mikropolitische Konstellation unter den lokalen Eliten zu erhalten.49 In den amtlichen Instruktionen für die päpstlichen Diplomaten wird hingegen selten die gemeinwohlbezogene kirchenpolitische Argumenta­ tion zugunsten der mikropolitischen verlassen. Diese findet sich eine Ebene tiefer in der diplomatischen Alltagskorrespondenz und in botschaftsinternen Schriftstücken.50 Die Frühe Neuzeit ging unbefangener mit der mikropolitischen Wirklich­ keit um als die Gegenwart, denn die Perspektive sachbezogenen Staatshandelns gewann damals erst langsam an Gewicht. Erst damit verlor der Begriff »Politik« allmählich den leicht »anrüchigen« Charakter, der seiner bis dahin vorherr­ schenden mikropolitischen Konnotation geschuldet war.51 Die berühmt-be­ rüchtigten Kapitel 12–19 von Niccolò Machiavellis ›Principe‹ stellen nichts anderes dar als einen Traktat über richtige Mikropolitik  ; Vergleichbares findet sich auch bei Giovanni Botero und Justus Lipsius. Das ›Handorakel‹ des Balta­ sar Gracian schließlich lässt sich als regelrechtes Lehrbuch für Mikropolitik in allen Lebenslagen lesen. Die ziemlich »moderne« Gemeinwohlrhetorik der Kameralisten des Jahr­ hunderts entpuppt sich genauer besehen als schiere Heuchelei  ; es ging schlicht um die Füllung der fürstlichen Kassen und um Vorteile für Kameralisten wie Johann Heinrich Gottlob von Justi selbst. Aber ihr Gemeinwohldiskurs wurde zum Selbstläufer, der Veränderungen der Wirklichkeit durch kritische Initia­ tiven von unten anregte.52 Allerdings mussten diese immer noch mittels Ein­ 49 Biblioteca Apostolica Vaticana, Chigi N III 84, 318f. 50 Wolfgang Reinhard, Makropolitik und Mikropolitik in den Außenbeziehungen Roms unter Papst Paul V. Borghese 1605–1621, in  : Alexander Koller (Hrsg.), Die Außenbeziehungen der römischen Kurie unter Paul V. Borghese (1605–1621). Tübingen 2008, 67–81. 51 Vgl. dazu zuletzt die Beiträge von Pasi Ihalainen und Michael Freeden zu der Tagung »Political History  : Recent Trends in International Perspective« im Dezember 2009 in Bielefeld. 52 André Wakefield, The Disordered Police State. German Cameralism as Science and Practice. Chicago 2009.

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gaben ausgelöst werden, das heißt im Rahmen des vormodernen europäischen Herrschaftssystems, in dem durch individuelle Bescheide (Reskripte) auf indi­ viduelle Bittschriften (Suppliken) reagiert wurde oder durch persönliches Zu­ sammentreffen mit dem Herrscher in einer Audienz, was einen individuellen Gunsterweis (Privileg) zur Folge haben konnte. Das heißt, es handelte sich strukturell um institutionalisierte Mikropolitik  ! 2. Die spätere Neuzeit und ihre Historiographie neigten in Deutschland zur Idealisierung der »großen« Politik. »Das [entsprechende] höfliche Umkreisen von Korruption […] führt selbstverständlich zu Erkenntnislücken.«53 Mikro­ politik darf jetzt nicht mehr vorkommen, denn Politik ist Sache der Hyperor­ ganisation Staat geworden, die ihrerseits eine sittliche Instanz darstellt. Neben der bereits erwähnten Strategie der Deagentivierung wird auch die entgegen­ gesetzte der Personalisierung verwendet, bis hin zur Heroisierung. Nicht mehr »Preußen« tut dieses oder jenes, sondern Politik und Weltgeschichte liegen in der Hand eines Titanen – Bismarcks. Selbst seine drei Kaiser und deren Frauen geraten neben ihm zu bloßen Statisten, was in Wirklichkeit keineswegs der Fall war. Vielmehr war Bismarck ähnlich wie frühneuzeitliche Günstling-Premier­ minister vom Schlage eines Richelieu ganz und gar vom Vertrauen Wilhelms I. abhängig, das ihm zwar 26 Jahre lang gewährt wurde, aber keineswegs selbst­ verständlich war. Wilhelm war auch konkurrierenden Einflüssen ausgesetzt, etwa, wiederum ganz frühneuzeitlich, demjenigen seiner Gemahlin.54 Studien über Bismarcks Mitarbeiter widmen sich ausdrücklich der Frage  : War Bismarcks Politik wirklich Bismarcks Politik  ?55 Auch wenn der Kanzler die Zügel nie ganz aus der Hand gab und seine Mitarbeiter als austauschbare Werkzeuge betrachtete, so übten manche von ihnen dennoch beträchtlichen Einfluss aus, sogar in der Außenpolitik. Der Legationsrat Friedrich von Hol­ stein war von klein auf ein Protegé des Kanzlers, für den er später ein Informa­ tionssystem neben den amtlichen Wegen aufbaute. Auch über den Bismarck-­ Sohn Herbert konnte er auf seinen Chef einwirken. Holstein behauptete zwar, er habe nie gegen den ausdrücklichen Willen des Kanzlers gehandelt, faktisch nahm er sich aber große Freiheiten, zumal als er mit dem alternden Kanzler, 53 Andreas Fahrmeir, Investitionen in politische Karrieren  ? Politische Karrieren als Investition  ? Tendenzen und Probleme historischer Korruptionsforschung, in  : Jens Ivo Engels/Andreas Fahrmeir/Alexander Nützenadel (Hrsg.), Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeit­ lichen Europa (HZ, Beihefte, NF. 48). München 2009, 67–88, hier 72. 54 Vgl. Fritz Stern, Gold und Eisen, Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Frankfurt am Main/ Berlin 1978, 531. 55 Lothar Gall/Ulrich Lappenküper (Hrsg.), Bismarcks Mitarbeiter. Paderborn 2009.

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den er übrigens für »eine gemeine Natur« hielt, nicht mehr übereinstimmte.56 Ob er allerdings beim Sturz Bismarcks im Hintergrund die mikropolitische Regie geführt hat, bleibt umstritten.57 Holstein war auch Zeuge von Bismarcks Mikropolitik, etwa als dieser 1884 dem Geldmangel des bayerischen »Märchenkönigs« Ludwig II. mit einer Million Mark und der Vermittlung eines Darlehens seines Hausbankiers Bleichröder ab­ zuhelfen versuchte.58 Dem Kanzler stand ja der sogenannte »Welfenfonds« zur freien Verfügung, das waren die Zinsen aus dem 1868 von Preußen beschlag­ nahmten Vermögen des Königshauses von Hannover im Wert von 48 Millionen Mark. Bismarck hat die Belege für seine Zahlungen planmäßig vernichtet, so dass sich die Gerüchte über die Käuflichkeit der Fürsten und politischen Eliten des Kaiserreichs, die schon damals umgingen, nicht mehr verifizieren lassen.59 Aber die Historiographie teilte bis vor kurzem, was sie für Bismarcks eigene Ein­ stellung hielt, dass man nämlich nicht über Dinge moralisch zu Gericht sitzen dürfe, »die ihrer Natur nach dem Bereiche der Staatskunst und damit eben der unwägbaren Seite alles politischen Geschehens angehören«.60 Die Käuflichkeit des bayerischen Königs steht allerdings fest. Politisch war Ludwig für Bismarck ein Garant gegen die Machtergreifung der Ultramonta­ nen im zweitgrößten Bundesstaat, für den König hingegen stellte der Kanzler eine Geldquelle zur Aufstockung seiner Zivilliste dar. 5 Millionen Goldmark aus dem Welfenfonds in Jahresraten von 300.000 waren keine »Peanuts«. Als Gegenleistung stimmte der König 1871 entgegen seiner früheren Überzeugung nicht nur dem Beitritt Bayerns zum neugegründeten Deutschen Reich zu, son­ dern schrieb obendrein dem König von Preußen einen von Bismarck entwor­ fenen eigenhändigen Brief, in dem er ihn um Annahme des Titels »Deutscher Kaiser« bat. Dadurch wurde Wilhelm I. ausgetrickst, der dazu wenig Neigung gezeigt hatte.61 Bismarcks Bankier Gerson Bleichröder ist als mikropolitische Zentralfigur in Bismarcks Herrschaftssystem paradigmatisch für das Funktionieren von Mi­ 56 Hans Fenske, Holstein und Bismarck, in  : ebd., 123–133. 57 These von Horst Groepper, Bismarcks Sturz und die Preisgabe des Rückversicherungsvertrags. Paderborn 2008, 201f., 337f., 358f. Dagegen Hans Fenske, Friedrich von Holstein. Außenpo­ litiker mit Augenmaß. Friedrichsruh 2009. 58 Hans Philippi, König Ludwig II. von Bayern und der Welfenfonds, in  : ZBLG 23, 1960, 66– 111, hier 89–95. 59 Ebd., 66–89, bes. 71, 74. 60 Ebd., 66. 61 Dieter Albrecht, König Ludwig von Bayern und Bismarck, in  : HZ 270, 2000, 39–64.

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kropolitik überhaupt. Er begann als Vertrauensmann des Hauses Rothschild in Berlin, wurde als solcher Bismarcks Bankier und kam als dessen Vertrauens­ mann ins Geschäft mit der Staats- und Kriegsfinanzierung. Er pflegte ein riesi­ ges Netz von Schützlingen und Informanten, zum Teil dank der Abhängigkeit strategisch platzierter Kunden von seinem Kredit. »Seine Helfer, Freunde und Protektionskinder saßen überall  : in der Regierung, am Hof, im Parlament und in der Presse.«62 So konnte er Bismarck mit Nachrichten versorgen, sogar solchen vom Kaiserhof63, und seinerseits von diesem erhaltene In­ formationen oder auch gezielte Fehlinformationen weiterleiten. Bleichröder setzte Spitzel auf Bismarck-Gegner wie den Grafen Harry von Arnim an64 und finanzierte im deutsch-französischen Krieg Diversion aus dem Untergrund65. Im Verhältnis von Kanzler und Bankier gab es »keine feste Grenze zwischen privaten und öffent­ lichen Belangen«.66

Bismarck war von kleinlicher Habgier. Er ignorierte auch als Geschäftsmann die konventionelle Moral, schüchterte Beamte ein, schlug den Steuerbehör­ den ein Schnippchen und versuchte, die Branntweinsteuer zugunsten seiner Brennereien zurechtzustutzen. Mit Bleichröders Hilfe sammelte er ein Wert­ papierportefeuille von 1,2 Millionen Mark an. Den Ertrag einer öffentlichen Spendenaktion zu seinem 70. Geburtstag verwendete er ohne Bedenken zum Rückkauf eines Landguts seiner Familie. Dank der Schenkungen, die er als Erfolgsprämien vor allem nach siegreichen Kriegen erhalten hatte, wurde er einer der reichsten Grundbesitzer Deutschlands. Auf seinen Gütern richtete er gewinnträchtige Industriebetriebe ein. Zum Schluss verkaufte er seine Memoi­ ren gegen Vorkasse von 100.000 Mark pro Band – die größte Vorauszahlung, die ein deutscher Autor bis dahin bekommen hatte.67 In diesen Memoiren wird Bleichröder ein einziges Mal beiläufig erwähnt  ; von den umfangreichen Geschäften des Kanzlers ist so gut wie nie die Rede. Und die historische For­ schung hat sich dieses keimfrei staatspolitisch bereinigte Geschichtsbild lange Zeit nur zu gerne von jener Quelle diktieren lassen.68 62 Stern, Gold und Eisen (wie Anm. 54), 229. 63 Ebd., 316. 64 Ebd., 297f. 65 Ebd., 175. 66 Ebd., 142. 67 Ebd., 289, 352, 355, 371–375. 68 Ebd., 9f., 13.

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3. Auch die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat aufschlussrei­ che Einblicke in mikropolitische Dimensionen zu bieten. So hat die Neube­ gründung des Auswärtigen Amtes 1951 beträchtliches Aufsehen erregt, weil zwei Drittel der maßgebenden Positionen des höheren Dienstes in Bonn und ein noch höherer Anteil des gehobenen Dienstes mit Angehörigen der Vorgän­ gerbehörde des Großdeutschen Reiches besetzt wurden, die zum größeren Teil selbst Nationalsozialisten oder Zuarbeiter jenes Regimes gewesen waren, auch bei den Judendeportationen aus verschiedenen Ländern Europas. Zunächst traf sich die arbeitslose alte Garde im Zeugenstand der Nürnber­ ger Prozesse, um zur Entlastung ihres früheren Chefs, des Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker beizutragen und damit ihn wie sich selbst nicht ganz zutreffend zu Teilnehmern am Widerstand zu stilisieren. Als ihr Kollege Herbert Blan­ kenhorn, der in der CDU aufgestiegen war, von Adenauer mit der personel­ len Vorbereitung eines neuen auswärtigen Dienstes betraut wurde, konnte sich dieser »der Sogwirkung alter Verbindungen und gesellschaftlicher Verpflich­ tungen« nicht entziehen und bemühte sich höchst erfolgreich »um die Wieder­ verwendung und Förderung befreundeter Kollegen aus der ›Wilhelmstraße‹ im Bonner Auswärtigen Amt«.69 Dabei nahm er keine Rücksicht darauf, ob diese Leute wie er selbst Mit­ glieder der NSDAP, der SS oder anderer NS-Organisationen gewesen wa­ ren. Die alliierte Kontrolle unterblieb. Gegen kritische Angriffe entwickel­ ten diese Diplomaten ein solidarisches Gruppenhandeln, das von Adenauer abgefedert wurde, weil dieser unter demokratischen Bedingungen seine Personalpolitik als untadelig darstellen musste. Man war sich mit Informa­ tionsverhinderung, Falschaussagen und Erinnerungslücken behilflich und diffamierte Kritiker wirkungsvoll als Kommunisten oder als israelische Agenten.70 Gekonnte Mikropolitik ermöglichte die Selbstbehauptung einer privilegierten Gruppe. Vergleichbare Geschichten ließen sich nicht nur von den Raketenbauern des »Dritten Reiches«, sondern auch von Geheimdiensten erzählen, etwa wie ehemalige Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der SS planmäßig vom Bundes­

69 Hans-Jürgen Döscher, Verschworene Gesellschaft. Das Auswärtige Amt unter Adenauer zwi­ schen Neubeginn und Kontinuität. Berlin 1995, 306. Vgl. auch die Rezension der zweiten Auflage mit dem (für die Forschungsentwicklung bezeichnend) abgeänderten Titel  : Seilschaf­ ten. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amtes. Berlin 2005, durch Jörg Später in der Süddeutschen Zeitung vom 6. März 2006. 70 Döscher, Verschworene Gesellschaft (wie Anm. 69), 165–171, 178.

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nachrichtendienst und den Amerikanern übernommen wurden.71 Oder wie SS-Obergruppenführer Karl Wolff wegen seiner Mitwirkung am Waffenstill­ stand in Italien von Allan Dulles und seinem Geheimdienstnetzwerk zunächst erfolgreich vor Verfolgung geschützt werden konnte.72 Wichtiger für die Bundesrepublik wurde das Netzwerk der Unternehmer, die unter Albert Speer die deutsche Kriegsindustrie am Laufen gehalten hat­ ten. Nach dem Krieg stiftete ihre gemeinsame Internierungserfahrung weiter Zusammengehörigkeitsgefühl und Kontakte. Planmäßiges Networking und ge­ meinsamer Lebensstil, etwa regelmäßige Jagdgesellschaften, trugen zur Kohä­ renz dieses Kreises bei, der bis in die Mitte der 1960er Jahre die deutsche Wirtschaft lenkte. Seine Dominanz beschränkte sich aber nicht auf die Wirt­ schaft. Der Einfluss der großen Netzwerker Robert Pferdmenges, angeblich der einzige wirkliche Freund Konrad Adenauers, und Hermann Josef Abs reichte weit darüber hinaus.73 Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs bestimmte das Politbüro des Zentralkomitees der SED den politischen Kurs. Weniger bekannt sind die mi­ kropolitischen Zusammenhänge innerhalb dieser Gruppe, die zu einer exklusi­ ven Gerontokratie ohne realistische Information über die Außenwelt verkam. Der Zusammenbruch der DDR ist damit zwar nicht zu erklären, wird aber aus dieser Mikroperspektive um einiges verständlicher.74 Hier wie dort handelt es sich um das mikropolitische Interesse der Herrschenden an der Erhaltung ihrer Macht, das unter dem staatspolitischen Schleier in Wirklichkeit deren Handeln bestimmt, »gehört [doch] die Berücksichtigung der Folgen politischer Handlungen für die eigene Person zum Alltagsgeschäft [nicht nur] demokrati­ scher Politiker, so dass die Unterscheidung zwischen Korruption und normaler Amtsführung nicht ganz einfach sein dürfte«.75 Das 2009 ans Licht gekommene Spesenrittertum der britischen Parlamentarier ist nur eine Variante der üblichen Selbstbedienung, die sich in Deutschland in der Diätenpolitik niederschlägt. 71 Carsten Schreiber, Elite im Verborgenen. Ideologie und regionale Herrschaftspraxis des Sicher­ heitsdienstes der SS und seines Netzwerks am Beispiel Sachsen. München 2008, bes. 286f. 72 Kerstin von Lingen, SS und Secret Service. »Verschwörung des Schweigens«  : Die Akte Karl Wolff. Paderborn 2009. 73 Nina Grunenberg, Die Wundertäter. Netzwerke der deutschen Wirtschaft 1942–1966. Mün­ chen 2006, bes. 44, 81, 122f., 144f.; vgl. die Besprechung von Werner Abelshauser in  : HZ 286, 2008, 263–265  ; Lothar Gall, Der Bankier. Hermann Joseph Abs. Eine Biographie. München 2004, 124–127, 155, 176, 183, 249f., 341–350, 390f. u. ö. 74 Christian Jung, Geschichte der Verlierer. Historische Selbstreflexion von hochrangigen Mit­ gliedern der SED nach 1989. Heidelberg 2007. 75 Fahrmeir, Investitionen (wie Anm. 53), 86f.

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Anfang 2010 entpuppte sich in Deutschland der Konflikt um die Sachfrage des (Nicht-)Ausstiegs aus der Atomenergiegewinnung als persönliches Ränke­ spiel zwischen dem zuständigen Minister, dem Fraktionsvorsitzenden seiner Partei im Bundestag, einem Ministerpräsidenten und dem dazugehörenden Landesgruppenvorsitzenden im Bundestag. Zunächst ging es um Postenge­ rangel und dadurch entstandene Abneigungen. Doch der Ministerpräsident deckte die ausstiegsfreundliche Haltung des Ministers, weil er die Grünen als mögliche Koalitionspartner nach der bevorstehenden Wahl im Auge behalten wollte. Diese Perspektive lag damals vermutlich auch der Kanzlerin nahe, und sei es nur als Drohgebärde, denn sie deckte im Widerspruch zu ihren frühe­ ren Äußerungen als atomfrohe Physikerin behutsam ihren Minister.76 Denn »die größte politische Leidenschaft Angela Merkels heißt Angela Merkel. Sie ist einfach gerne Bundeskanzlerin. Ihre Emphase für Koalitionen richtet sich hingegen danach, was für den Erhalt ihrer Kanzlerschaft gebraucht wird. […] Hauptsache, die Kanzlerin bleibt.«77 Allerdings geht es in der westlichen Demokratie auch um die mikropoliti­ schen Interessen der Bürger. Politiker, die wiedergewählt werden wollen, müs­ sen darauf Rücksicht nehmen. Der populäre Kreisvorsitzende und Landtag­ sabgeordnete einer Partei hatte sich als Finanzstaatssekretär lange erfolgreich als Chef-Lobbyist seiner Region in Stuttgart betätigt, Zugang zu immer neuen Förderprogrammen gefunden und dafür gesorgt, dass die Förderung auch funktionierte – bis ihm offenbar nicht ohne Grund nachgesagt wurde, er habe nach Wahlkampfspenden der Kiesindustrie deren Projekt für ein Hochwas­ serrückhaltebecken unter anderem dadurch gefördert, dass er eine alternative Kabinettsvorlage blockierte.78 Längst müssen Lobbyisten nicht mehr bei Par­ lament und Regierung antichambrieren, sie sitzen heute selbst in Parlament und Regierung. Hunderte von Interessenvertretern wechselten in den letzten Jahren in deutsche Ministerien, um dort die Gesetze für ihre Branche selber zu schreiben, und das nicht nur im von verbündeten Pharma- und Ärzteinteressen notorisch verteuerten Gesundheitswesen.79 Im Gegenzug erhalten ein ehemali­ ger Bundeskanzler und ein gescheiterter Ministerpräsident lukrative Posten in den Chefetagen der Industrie ausdrücklich zwecks Beziehungspflege. 76 Wulf Schmiese, Eine alte Rechnung, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung 9. Februar 2010  ; Stefan Braun, Eifersucht und Emotionen, in  : Süddeutsche Zeitung 10. Februar 2010. 77 Nico Fried, Die treulose Kanzlerin, in  : Süddeutsche Zeitung 11. Februar 2010. 78 Rüdiger Soldt, Das Ende des »Fleischerismus«, in   : Frankfurter Allgemeine Zeitung Fe­ bruar 2010. 79 Hans Leyendecker, »Legale Korruption«, in  : Süddeutsche Zeitung 26. Januar 2010.

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Politikerpersönlichkeiten stehen nicht für ein festes Programm  ; sie wechseln das Programm nach Bedarf. Nach einer großzügigen Spende eines Hotelbe­ sitzers setzte eine Partei beflissen die Halbierung der Mehrwertsteuer für Ho­ tels durch80, um diesen Schritt nach ungünstigen Umfragewerten unverzüg­ lich wieder in Frage zu stellen. Politiker betrachten sich ohnehin als universal kompetent  ; der Sprung vom Fraktionschef zum Wirtschaftsminister ist ebenso problemlos möglich wie vom Landwirtschaftsminister zum Ministerpräsiden­ ten. Man braucht dazu nicht einmal eine Wahl zu gewinnen. Affinität zum betreffenden Politikfeld spielt selten eine Rolle, im Gegenteil, eine Bäuerin als Landwirtschaftsministerin oder ein Lehrer als Kultusminister haben selten Erfolgsgeschichten gehabt. Die makropolitische Sachkompetenz des Berufs­ politikers besteht aus seiner universalen Inkompetenz, sein Erfolg beruht vor allem auf seiner mikropolitischen Kompetenz, genauer auf dem verlässlichen Netzwerk, das er sich aufgebaut hat. Umgekehrt bietet eine Wahlniederlage die beste Gelegenheit, mit einem gegnerischen Netzwerk in der eigenen Partei abzurechnen, wie umgekehrt ein Wahlsieg zunächst einmal auf Postenschacher hinausläuft. Von den Sachfragen wird später geredet, wenn überhaupt. Denn die erforderliche Leistung erbringen – hoffentlich – Beamte wie der Staatssekretär. Aber der Erfolg eines bestimmten Staatssekretärs im Finanzmi­ nisterium beruht nicht nur auf dem mikropolitischen Vertrauensverhältnis zum Minister, sondern auch darauf, dass er zusammen mit dem Wirtschaftsbe­ rater der Kanzlerin bei einem bestimmten Hochschullehrer studiert hatte und als Büroleiter eines früheren Ministers diesen Freund zum Bundesbank-Chef machen konnte.81 Im Finanzbereich bedient sich auch das deutsche »Staats­ handeln« zwecks Schönung des Budgets nicht nur der Schattenhaushalte und Scheinprivatisierungen82, sondern verkauft mittels dubioser Derivate von In­ vestmentbanken zukünftige Einnahmen, weil die kommenden Belastungen aus diesen Geschäften anders als bei Privatfirmen nicht in die Haushaltsrechnung aufgenommen werden müssen.83 80 Hans Leyendecker, Das Prinzip der politischen Landschaftspflege, in  : Süddeutsche Zeitung 26. Januar 2010. 81 Berichte über den Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen von Roland Pichler in der Badischen Zeitung vom 17. Oktober 2008, von Claus Hulverscheidt in der Süddeutschen Zeitung vom 9. Juni 2009, 18. 82 Wolfgang Reinhard, Öffentliche und andere Hände. Privatisierung und Deregulierung im Lichte historischer Erfahrung, in  : Helga Breuninger/Rolf Peter Sieferle (Hrsg.), Markt und Macht in der Geschichte. Stuttgart 1995, 265–296. 83 Der Graubereich der Staatsfinanzierung, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung 17. Februar 2010.

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4. Da politisches Handeln vermittelt durch Parteien und Verbände statt­ findet, kommt der Mikropolitik unter deren Mitgliedern für den Machterhalt und für die Durchsetzung von politischen Zielen ausschlaggebende Bedeutung zu. Hier wimmelt es von Freunden, Gönnern und Getreuen, aber auch von Feinden, Neidern und Verrätern  ! Helmut Kohl hatte in der CDU ein Netzwerk von Vertrauten aufgebaut und seine Günstlinge in den Landesverbänden in Schlüsselstellungen gebracht. Er interessierte sich für privaten Tratsch, denn damit konnte er die Leute pa­ cken. Mittels der zu diesem Zweck geschaffenen »schwarzen Kassen« verteilte er seine Gunsterweise, einerseits zwecks Machterhalt, andererseits analog zur Verpflichtung eines Familienvaters, denn er sah dies im Sinne vormoderner Mikropolitik alles sehr persönlich, emotional und daher ohne jede Selbstkri­ tik.84 Vormodern-personenorientiert war auch der Ehrbegriff, auf den er sich bei seiner Weigerung berief, seine Geldquellen offenzulegen  ! Der soziale Aufsteiger Gerhard Schröder hingegen stilisierte sich gerne als Einzelkämpfer, der die »Seilschaften, die man dann Freunde nennt«, nicht brauchte. Aber es fehlte ihm durchaus nicht an Protektion im SPD-Präsidium. Als Ministerpräsident pflegte er dann Beziehungen zu möglichst vielen Wirt­ schaftsleuten, symbolisch besiegelt dadurch, dass er sich mit ihnen duzte. Da­ her sein Spitzname »Genosse der Bosse«.85 Daraus ergab sich, wie in der Politik üblich, die lukrative Auffangstellung in der Wirtschaft nach Verlust des Amtes. Angela Merkel hat durch gezielten Einsatz ihrer Fähigkeiten in der personell labilen politischen Lage nach 1989 Erfolg gehabt und Interesse an ihrer Person erregt. Dabei wurde sie zunächst von Günther Krause protegiert, der ihr als Landesvorsitzender zur Kandidatur in Mecklenburg-Vorpommern und damit nach ihrem Wahlsieg 1990 zum Einzug in den Bundestag verholfen hatte. Sie hat sich dann gezielt darum bemüht, Helmut Kohl vorgestellt zu werden, und ihn im Gespräch unter vier Augen zu beeindrucken verstanden. Kohl hingegen fand in ihr, was er als Ministerin brauchte  : eine tüchtige, unbelastete, moderne und doch konservative Ost-Frau ohne gefährliche eigene Hausmacht. Ihren weiteren Weg machte sie dank ihres taktischen Geschicks verbunden mit Härte gegen Konkurrenten. Netzwerken in Kohls Art galt hingegen nicht als ihre starke Seite. Sie arbeitet aber inzwischen daran, das Netz ihrer Unterstützer 84 Gerd Langguth, Das Innenleben der Macht. Krise und Zukunft der CDU. Berlin 2001, 106f. u. ö. 85 Sylvia Meichsner, Zwei unerwartete Laufbahnen. Die Karriereverläufe von Gerhard Schröder und Joschka Fischer im Vergleich. Marburg 2002.

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auszuweiten, unter anderem mit dem altmodischen Instrument, den richtigen Leuten das »Du« anzubieten. Auf der anderen Seite gab es in der CDU ein wegen gemeinsamer Südamerikareisen als Pacto andino bekanntes Netzwerk ehemaliger Funktionäre der Jungen Union, darunter Franz Josef Jung, Roland Koch, Günther Oettinger und Christian Wulf, die nicht zu Merkels zuverläs­ sigsten Gefolgsleuten zählten.86 5. Sogar im kleinen schul- und hochschulpolitischen Alltag müssen Idealis­ ten, die an die zwingende Kraft von Argumenten und gemeinsamen Interessen glauben, die Erfahrung machen, dass ohne mikropolitische Absicherung keine Sachziele zu erreichen sind. Einer der auszog, den Mathematikunterricht zu er­ neuern, musste trotz Berufung ins Kultusministerium mangels mikropolitischer Absicherung durch Parteimitgliedschaft resigniert aufgeben. Ein engagierter Ge­ schichts- und Sozialkundelehrer, der als Protagonist für ein Gesamtschulexperi­ ment an endlosen Verhandlungen beteiligt war, bis er endlich Erfolg hatte, ge­ stand mir 1965, er habe dabei eine ganz neue Vorstellung von Politik bekommen. Wahrscheinlich dieselbe wie ich selbst, als ich dreißig Jahre später im Kuratorium einer Stiftung deren Geldgeberin aus dem Stand zur Gründung eines Instituts für angewandte Geschichtswissenschaft bewegen wollte. Ich selbst fand meine Argumente zwar durchaus überzeugend, und die Sponsorin schien der Idee nicht abgeneigt zu sein, aber meine Kollegen im Kuratorium lehnten den Vorschlag einhellig ab. Einer bedeutete mir anschließend mitleidig  : Sie hätten das besser vorbereiten, das heißt, jeden einzelnen von uns gründlich »bearbeiten« müssen. Offensichtlich kommt keine politische Sachentscheidung ohne mikropoliti­ sche Operationen zustande, während umgekehrt mikropolitische Personalent­ scheidungen keine sachliche Grundlage brauchen, auch wenn eine solche zur Legitimation nützlich sein mag – was zu beweisen war. Dennoch ist Mikro­ politik an und für sich, wie gesagt, weder unmoralisch noch illegitim. Aber sie kann durchaus auf Korruption hinauslaufen, wenn sie den aus Kleingruppenper­ spektive mehr denn je gebotenen Regeln von Anstand und Mitmenschlichkeit widerspricht (Korruption 2. Grades). Das kommt keineswegs nur in Griechen­ land vor, auch wenn es dort wegen der weitreichenden Folgen 2010 am meisten Aufsehen erregt hat. »Rusfeti« (Gefälligkeiten) verschiedenster Art – übrigens ein Lehnwort aus dem Türkischen – sorgen dort, und nicht nur dort, dafür, dass die Gesellschaft funktioniert.87 Denn Korruption 1. Grades gilt dort, und nicht nur 86 Gerd Langguth, Angela Merkel. München 2005, 144f., 151f., 271–276, 286–295, 312f. 87 Alexandros Stefanidis, Highway to Hellas. Korruption und Staatsschulden, in  : Süddeutsche Zeitung, Magazin, 4. Februar 2010, 10–14.

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dort, geradezu als Inbegriff von Mitmenschlichkeit. Das ist nur eine Frage der Perspektive. Der Illegitimitäts- und Korruptionsvorwurf erfolgt nämlich, wie wir sahen, häufig aus der Perspektive der Großorganisation, einer Firma oder eines Staates, deren zum Selbstzweck gewordene Zwecke von der Mikropolitik tangiert werden. Aber nicht nur viele Griechen und Italiener trauen ihrem Staat nicht. Er wird als Ausbeuter betrachtet, dem man aus dem Wege gehen oder den man zur legitimen Selbstverteidigung betrügen muss. Auch in Deutschland und anderswo treiben kleine Leute ihre Kleinkorruption zum Schaden des Gemein­ wesens, weil ihnen zur Korruption im Großen die Mittel fehlen. Der geschickten Nutzung aller Chancen auf der Mikroebene steht notgedrungen Distanz zur Ma­ kroebene gegenüber, wo die großmaßstäblichen Entscheidungen fallen. Denn nur wenige sind mikropolitisch darin verwickelt, die meisten schauen ohnmäch­ tig zu und finden, dass sie das Ganze nichts angeht, bis sie merken müssen, dass sie die Folgen der großen Politik zu tragen haben. Sie wissen sich im Recht, weil nicht erst in einer aktuellen Krise Finanzpolitik wie immer nach derselben Regel betrieben wird  : Privatisierung der Gewinne – Sozialisierung der Verluste.

III.

Nach dem systematischen Nachweis und der exemplarischen Demonstration der unvermeidlichen Allgegenwart von Mikropolitik bleiben die Fragen of­ fen, was die historischen Ursachen dieses Sachverhalts sind und warum wir merkwürdigerweise trotz seiner Selbstverständlichkeit an ihm Anstoß nehmen. Denn zumindest unser Empfinden ist offenbar auf die Vorstellung gedrillt, dass sich politisches Handeln an gemeinsamen Interessen möglichst aller Menschen des Gemeinwesens zu orientieren habe, auch wenn ein Robert Mugabe oder ein Silvio Berlusconi keinerlei derartige Neigungen verspüren mögen. Doch im Gegensatz zu Letzteren sind selbst bei vielen Päpsten des 15.–18. Jahrhunderts, die auf Kosten der Kirche ihrem Nepotismus frönten, Spuren eines schlechten Gewissens nachzuweisen, obwohl Nepotismus damals als legitim und sogar als geboten galt.88 Ein Normenkonflikt ist nicht zu übersehen  ! Die Antwort ist evident, auch wenn sie in Details hypothetisch bleibt. Die Menschheit hat Millionen Jahre mikropolitischer Praxis hinter sich, aber allen­ falls zwei- bis dreitausend Jahre Staatshandeln, das sich am Interesse des gesam­ 88 Marzio Bernasconi, Il cuore irrequieto dei papi. Percezione e valutazione ideologica del nepo­ tismo sulla base dei dibattiti curiali del XVII secolo. Bern 2005.

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ten Gemeinwesens orientieren will. Ob dieser Sachverhalt durch Auslese der besonders tüchtigen Mikropolitiker zu einer genetischen Verankerung mikro­ politischen Verhaltens geführt hat, oder ob es sich nur um die erfolgsbedingte Weitergabe eines kulturellen Codes handelt, braucht hier nicht entschieden zu werden. Während die klassische Hypothese von der evolutionären Menschwerdung darauf hinausläuft, dass die Entwicklung des Gehirns mit der Zähmung des Feuers und dem Gebrauch von Werkzeugen zusammenhängen müsse, wird seit längerem die alternative Auffassung vertreten, sie sei nicht technologischen, sondern politischen Ursprungs. Denn es sei die ständige Notwendigkeit gewe­ sen, die eigenen Interessen in der Kleingruppe mikropolitisch durchzusetzen, die den Menschen zum Menschen gemacht habe. Täuschung und Lüge spielen in der Evolution eine wichtige Rolle.89 Der Mensch wäre also von seinen Ursprüngen her definitionsgemäß Mikropolitiker, das Animal sociale nur so weit sozial, wie es den eigenen Interessen dient, das heißt also viel eher ein Animal micropoliticum.90 Für Primaten einschließlich des Menschen lässt sich eine Korrelation zwi­ schen der Größe des Neokortex und der Standardgröße der sozialen Gruppe nachweisen. Letztere steigt von wenigen Individuen beim Gibbon auf ca. 150 Personen beim Menschen. Tatsächlich haben die kohärenten Gemeinschaften, in denen die meisten vormodernen Menschen lebten, ebenso wie die segmen­ tierten Netzwerke unserer Zeitgenossen ziemlich genau diesen Umfang.91 Nach Christian Meier entstand »das Politische bei den Griechen« als eine Ordnung, die »weitgehend, unvermittelt und konkret von den Bürgern ge­ macht wurde«.92 Ihr Vollzug oblag Amtsträgern, die im Auftrag ihrer Mitbür­ ger tätig und diesen Rechenschaft schuldig waren, statt ihre Stellung als nutz­ bares Eigentum zu beanspruchen. Aber dieser weltgeschichtliche Durchbruch blieb zunächst im mikropolitischen Rahmen. Denn er bezog sich auf die Polis, die zwar größer war als die genannte Standardgruppe, aber immer noch so überschaubar blieb, dass es sich häufig um eine face-to-face society gehandelt haben dürfte. 89 Volker Sommer, Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch. München 1992. 90 Richard W. Byrne (Ed.), Machiavellian Intelligence. Social Expertise and the Evolution of Intellect in Monkeys, Apes and Humans. Oxford 1988, Vf., 1–8, 63 u. bes. 122–131  ; Frans de Waal, Chimpanzee Politics  ; Andrew Whiten/Richard W. Byrne (Eds.), Machiavellian Intelligence II. Extensions and Evaluations. Cambridge 1997. 91 Robin Dunbar, Why Humans Aren’t Just Great Apes, in  : British Academy Rev. 11, 2008, 15–17. 92 Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main 1980.

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Die meisten Poleis umfassten 50–100 Quadratkilometer und 500– 1.000 Bürger. Athen allerdings hatte 431 vor Christus mit einem Territorium von 2.550 Quadratkilometern ca. 60.000 Bürger bei 3–400.000 Einwohnern. Obwohl es dort inzwischen Vollzeitpolitiker und Hauptredner gab, hatte im­ mer noch »jeder Bürger das Recht zu Rede und Antragstellung« in der souverä­ nen Volksversammlung. Die oligarchischen Regimes der Folgezeit reduzierten die Zahl der Vollbürger dann auf mikropolitisch handliche 5.000 bzw. 3.000.93 Platos Idealstaat sollte 5.040 Bürger haben. Aber Politik in der Polis bedeutete Befassung aller Bürger mit dem, was sie unmittelbar anging, und noch nicht die fiktive Beteiligung an der Kontrolle des Managements einer Riesenorganisation, moderner Staat genannt.94 Ob­ wohl sich Athen infolge der Größe des Gemeinwesens auf dem Weg dorthin befand95, war Politik bei den Griechen immer noch Mikropolitik und unmit­ telbar anfällig für »Korruption« verschiedenen Grades. Paradoxerweise führen wir heute sogar die Entstehung des modernen Staates selbst auf die erfolgreiche Verwirklichung mikropolitischer Interessen zurück. Zwar wurde griechisches und römisches »Staatshandeln« seit dem Ende der Antike zunächst wieder von rein personalen Herrschaftsverhältnissen mikro­ politischen Zuschnitts abgelöst. Doch seit dem hohen Mittelalter verstanden es selbstsüchtige Manager der Macht, diese ihre Macht zunächst mit mikropo­ litischen Mitteln zu steigern und zu institutionalisieren, bis ihre Herrschaften langfristig zu modernen Staaten wurden. Überwiegend handelte es sich um Monarchen, deren Erfolg einerseits von dynastischer Kontinuität abhing, an­ dererseits von der Unterstützung durch Eliten, für die Machtsteigerung der be­ treffenden Herrschaften im eigenen Interesse lag. In Europa waren dies vor al­ lem die Juristen. Die hier entwickelte Auffassung von Mikropolitik wird durch die Untersuchung dieses historischen Langzeitprozesses rundum bestätigt.96 Einst galten die Entwicklung des modernen Staates und sein Export in die gesamte Welt als eine der Erfolgsgeschichten Europas. Von den 205 Gemein­ wesen der Gegenwart sind immerhin 204 moderne Staaten oder wollen es wer­ den. Nur der Vatikanstaat ist eine gut konservierte Barockmonarchie geblieben. Nichtsdestoweniger ist die politische Wirklichkeit weit von diesem Anspruch 93 Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit  ? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt am Main 2008, 18, 46f., 54, 74f., 327f. 94 Wolfgang Reinhard, Geschichte des modernen Staates. München 2007, 19. 95 Nippel, Antike (wie Anm. 93), 54, 76–82, 112–124. 96 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3. Aufl. München 2002.

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entfernt. Entweder ist die Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsge­ walt nur unzulänglich verwirklicht, oder der Staat besitzt weder Souveränität noch Gewaltmonopol, oder seine Rechts- und Verfassungswirklichkeit lässt zu wünschen übrig, oder die Staatsklasse ist dermaßen korrupt, dass staatliche Leistungen nur auf dem Papier stehen, oder es trifft alles zusammen, so dass der Staat völlig zerfallen ist. Das gewohnheitsmäßige Basisvertrauen der Beherrsch­ ten in die Herrschenden, das unterhalb der expliziten Legitimitätstypen Max Webers die implizite Basislegitimität staatlicher Herrschaft darstellt, ist kaum vorhanden.97 Am schlimmsten sind die Verhältnisse in Teilen Afrikas.98 Kann man dort vielleicht nur nicht mit dem anspruchsvollen Konstrukt »moderner Staat« richtig umgehen  ? Wohl kaum, denn auch unsere Staaten sind seit den 1970er Jahren zwar nicht überall am Zerfallen wie die Sowjetunion oder Jugoslawien, wohl aber durchaus im Niedergang. Neu entstandene europäische Staaten sind nicht mehr im Stande, die bisher üblichen Standards von Staatlichkeit einzuhalten.99 Metaphorisch gesprochen handelt es sich um eine Art von »Autoimmunre­ aktion des politischen Körpers« gegen seine Überbeanspruchung. Denn die großen Wachstumsfaktoren der Staatsgewalt  : Machtsteigerung, Vereinheitli­ chung, Demokratie, Nationalismus, Daseinsvorsorge für die Bürger haben die Grenzen ihrer Möglichkeiten erreicht. In der ökologischen Anthropologie gibt es aber für alles ein optimales Maximum. Jenseits dieser Grenze verwandeln sich konstruktive Wirkungen unausweichlich in destruktive.100 Die Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt löst sich auf, Lan­ desteile fordern Autonomie, Einwanderer ihr eigenes Recht. Das innere Ge­ waltmonopol funktioniert nur noch eingeschränkt  ; auch Gewaltanwendung wird privatisiert. Souverän mit der Möglichkeit zu beliebiger Kriegführung sind nur noch die USA. Grundrechte werden abgebaut  ; der Rechtsstaat hebt sich durch die interessenbedingte Hektik der Produktion neuen Rechts selbst auf. Demokratie wird zum Theaterstaat  ; der Sozialstaat ist nicht mehr zu fi­  97 Trutz von Trotha, Die Zukunft liegt in Afrika. Vom Zerfall des Staates, von der Vorherrschaft der konzentrischen Ordnung und vom Aufstieg der Parastaatlichkeit, in  : Leviathan 2000, 253–279, bes. 260.  98 Thomas Scheen, Nichts ist gut in Zimbabwe, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung 9. Feb­ ruar  2010  ; ders., Von Politikern, die Nahrungsmittelhilfen verkaufen, in  : Frankfurter Allge­ meine Zeitung 17. Februar 2010.  99 Enver Robelli, Betrug, Gewalt und Korruption. Nach zwei Jahren Freiheit wächst im Kosovo der Frust, in  : Süddeutsche Zeitung 11. Februar 2010. 100 So auch Gregory Bateson nach Sommer, Lob der Lüge (wie Anm. 89), 145.

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nanzieren. Die Staatsgewalt gestaltet nichts mehr, sondern verhandelt nur noch mit Interessengruppen.101 Gerade ihre vorübergehende Aufwertung im Zei­ chen der Finanzkrise 2009/10 bietet die besten Beweise dafür. Eilfertig rettet sie Banken mit Steuergeldern, denen sie vorher durch Deregulierungspolitik kriminelle Operationen ermöglicht hat, während die schüchternen Anläufe zur Regulierung der Finanzmärkte erwartungsgemäß scheitern müssen.102 Basis­ vertrauen und Basislegitimität nehmen auch bei uns deutlich ab. Nur der Na­ tionalismus scheint nach wie vor zu funktionieren, wahrscheinlich deswegen, weil er ein mikropolitisch bequem umsetzbares Angebot für die Identifikation mit dem Staat machen kann  ! Offensichtlich ist die Vorstellung vom modernen europäischen Staat als welt­ weitem Erfolgsmodell eine Illusion, von der wir uns schleunigst verabschieden sollten. In der größten Demokratie der Welt, in Indien, gilt der Nationalstaat westlichen Musters zwar durchaus als Schiedsrichter oder gar als Modernisie­ rer. In erster Linie aber ist er ganz ähnlich wie die vormodernen Vorläufer der europäischen Staaten Beschützer vor unkontrollierbarer Gewalt von außen. Dafür werden seine eigene Gewalttätigkeit und seine Rechtsverletzungen als kleineres Übel in Kauf genommen. Denn sie sind kalkulierbar und erleichtern dadurch das Auffinden von Schlupflöchern und Überlebensstrategien. Dem­ gemäß hatten zwar 20–50 Prozent der Parlamentarier indischer Bundesstaaten eine aktenkundige kriminelle Vergangenheit, wobei man sich fragen muss, was darüber hinaus noch verschleiert wurde. Aber dank ihrer mehrbödigen Staats­ vorstellung können Intellektuelle die Kenntnis der schmutzigen politischen Realität mit dem Glauben an den Staat verbinden103 – ein Sachverhalt, der in milderer Form auch für Europa zutreffen dürfte. Für Afrika hat der Soziologe Trutz von Trotha den Spieß umgedreht und verkündet  : »Die Zukunft liegt in Afrika.« Denn in Afrika sind der moderne Staat und die ihm zugrunde liegende altgriechische Idee der Trennung von All­ gemeinem und Besonderem am deutlichsten gescheitert. Afrika besteht statt­ dessen auf der weltgeschichtlich normalen konzentrischen Ordnung, in der man sich in erster Linie dem Nächsten verpflichtet fühlt, was sogar gut christ­ lich ist. Machthaber haben im Sinne der Politik der Gefräßigkeit (»politique du 101 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt (wie Anm. 96), 509–536  ; ders., Geschichte des mo­ dernen Staates (wie Anm. 94), 110–116, 119–124. 102 Michael Hirsch/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Der Staat in der Postdemokratie. Staat, Politik, Demo­ kratie und Recht im neueren französischen Denken. Stuttgart 2009, 11–15. 103 Ashis Nandy, Democratic Culture and Images of the State. India’s Unending Ambivalence, in  : ders., Time Warps. London 2002, 36–60.

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­ventre«)104 neben sich selbst für Verwandte, Freunde und Gefolgsleute zu sor­ gen. Außenstehende kommen nur als Bittsteller ins Spiel. Die Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem, von Gemeinwohl und Partikularinteresse ist unbekannt  ; die öffentliche Ordnung ist eine Ordnung der Privilegien. Doch das eigentlich Aufregende ist Trothas Schlussfolgerung, »dass wir an diesen Er­ scheinungen voraussichtlich mehr über uns selbst und unsere Zukunft lernen können, als uns lieb ist«.105 In der Tat müssen wir lernen, auch unseren Staat nicht mehr als histori­ schen Regelfall, sondern als vorübergehende Ausnahme zu betrachten. Sogar ein Jurist hat vorgeschlagen, den Staatsbegriff zu »prozessualisieren«, das heißt, unsere essentialistische Vorstellung »Staat« durch eine konstruktivistische von graduell variabler »Staatlichkeit« zu ersetzen.106 Das trägt der zeitlichen wie sachlichen empirischen Priorität der (Mikro-)Politik vor dem Staat Rechnung und ermöglicht uns, Politik ohne Staat und Staat als Abfallprodukt von Politik zu denken  ! Angesichts unserer Geschichte haben wir sogar allen Grund, den modernen nationalen Machtstaat als historische Fehlentwicklung zu betrachten. Damit rücken seine angeblichen Vor- und Zerfallsformen zum historischen Normal­ fall auf. Es könnte also sinnvoll sein, sich in diesem Sinn mittels historischer Information auf nachstaatliche, offen mikropolitische Formen politischer Ord­ nung einzurichten. Noch in der Frühen Neuzeit Europas haben nicht nur die Eidgenossen, sondern allerhand Gemeinden, Städte und Kleinterritorien sich Neutralität und Frieden im Krieg der großen Mächte, bisweilen sogar ihrer eigenen Herren, sichern können. Erst mit dem weiteren Erstarken der Staats­ gewalt im 18. Jahrhundert verschwindet diese Möglichkeit derartiger Politik nicht gegen, aber ohne den Staat.107 Für Giorgio Agamben ist die Souveränität des Staates die Wurzel allen Übels, denn als eine Art von permanentem Aus­ nahmezustand verfügt sie über das Recht und suspendiert damit die Rechts­ ordnung.108 Historisch hat die Nutzung der Sachzwänge von Ausnahmelagen, 104 Jean-François Bayart, L’état en Afrique. La politique du ventre. Paris 1989. 105 Trotha, Zukunft (wie Anm. 97), bes. 254, 265, 277f. Ob Trotha das einschlägige unveröffent­ lichte Papier des Historikers Terence Ranger, The Tribalisation of Africa and the Retribalisa­ tion of Europe (1994), gekannt hat  ? 106 Gunnar Folke Schuppert, Staat als Prozess. Eine staatstheoretische Skizze in sieben Aufzügen. Frankfurt am Main 2010. 107 Jean-François Chanet/Christian Windler (Ed.), Les ressources des faibles. Neutralités, sauve­ gardes, accommodements en temps de guerre (XVIe–XVIIIe siècle). Rennes 2009. 108 Nach Rüdiger Voigt, Souveräne Entscheidungen im Ausnahmezustand. Staatliches Han­

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vor allem von Kriegen, in der Tat entscheidend zum Wachstum der Staatsge­ walt beigetragen.109 In diesem Zusammenhang sollte man sich daran erinnern, dass wichtige Elemente moderner Staatlichkeit aus Interessen erwachsen sind, die sich ur­ sprünglich im Gegensatz zur wachsenden Staatsgewalt befanden. Der moderne Staat war erst vollendet, als er deren Träger unterworfen, »umgedreht« und für seine Zwecke in Dienst genommen hatte. Nichtsdestoweniger könnte ihre latente staatskritische Sprengkraft immer noch Potential für ein neues mikro­ politisches Zeitalter enthalten. An erster Stelle wäre der Grundsatz zu nennen, dass man Gott mehr ge­ horchen müsse als den Menschen. Er entsprang dem Dualismus von Kirche und Staat, der dem Abendland weltgeschichtlich einzigartige Freiheitsspiel­ räume beschert hat. Zweitens besaßen die Vorläufer des Staates lange Zeit kein Rechtsmonopol. Auch wo sie Richter waren, konnten sie sich weder als Schöpfer noch als Herren des Rechts betrachten, sondern wurden unnachsich­ tig an der Idee der Gerechtigkeit gemessen. Machten sie sich in den Augen der Untertanen einer Rechtsverletzung schuldig, fühlten sich diese drittens zum Widerstand berechtigt, für den es ein abgestuftes Instrumentarium mit Gewalt­ anwendung als letzter Möglichkeit gab. Diese traditionelle Widerspenstigkeit der Europäer beruhte viertens auf der einzigartigen Vorstellung vom unverletz­ lichen Eigentum des Menschen an seiner Person, an seinen Rechten und an seinen Gütern im engeren Sinn, das vom Staat höchstens mit Zustimmung der Betroffenen angetastet werden durfte. Hier liegen die Wurzeln der Grund- und Menschenrechte und des Parlamentarismus. Bevor die Juristen zur allgegenwärtigen Staatsklasse wurden, waren sie keine Handlanger der jeweiligen Inhaber der Staatsgewalt, sondern erfreuten sich be­ trächtlicher Autonomie. Das befähigte sie in Frankreich und England sogar zur Auslösung von Revolutionen. Denn auch das Wachstum der Staatsgewalt selbst enthält dialektische Widersprüche. Zwar haben sich letztlich monarchische Manager der Macht durchgesetzt und den Charakter des modernen Staates bestimmt. Aber Vor- und Frühformen des Staates wie die griechischen Poleis, deln zwischen Legalität und Legitimität, in  : Hirsch/Voigt (Hrsg.), Staat (wie Anm. 102), 41–67. 109 Vgl. neben Reinhard, Staatsgewalt (wie Anm. 96), Achim Landwehr, »Gute Policey«. Zur Per­ manenz der Ausnahme, und Michaela Hohkamp, Sicherheit oder Drohgebärde  ? Herrschaft­ liche Gewalten und lokale Staatlichkeit – Beispiele aus dem 18. Jahrhundert, beide in  : Alf Lüdtke/Michael Wildt (Hrsg.), Staats-Gewalt  : Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven. Göttingen 2008, 39–90.

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später die Stadtrepubliken und Kommunen Europas im Mittelalter und der Frühen Neuzeit stellten bewusste Alternativen zur monarchischen Herrschaft dar. Denn sie waren als politische Organisationen von face-to-face societies ihrer Natur nach mikropolitische Gebilde, weil in ihnen Bürger selbst direkt darü­ ber bestimmen konnten, was sie unmittelbar anging. Hier liegen die Wurzeln mikropolitisch konkreten Gemeinwohldenkens, bevor staatliche Makropolitik es sich aneignen konnte.110

IV.

Die systematisch, exemplarisch und genetisch begründete Allgegenwart der Mikropolitik führt uns unausweichlich zu der Frage, welche Folgen für die wissenschaftliche Erforschung von Politik und Geschichte einerseits, für unser politisches Denken und Handeln andererseits sich daraus ergeben. An kriti­ schen Äußerungen dazu fehlt es ja keineswegs. Denn die Sache mag zwar bisher nicht wissenschaftlich auf den Begriff gebracht worden sein, unbeachtet ist sie deswegen aber nicht geblieben. Wie Belege dieser Untersuchung erkennen lassen, ist die Berichterstattung vieler Zeitungen heute auf Kritik mit diesem Tenor eingestimmt. Bereits bei den Politikhistorikern Thukydides und Tacitus fehlt es nicht an einschlägiger Politikkritik, auch wenn dieselbe nicht grundsätzlicher Natur war, sondern eher von Vorstellungen politischer Fehlentwicklung ausging. Be­ zeichnenderweise wurde dieser Faden um 1500 wieder aufgegriffen, als das Wachstum der Staatsgewalt dank einer Generation skrupelloser Monarchen einen Schub erlebte. Historiker wie Philippe de Commynes und humanisti­ sche Moralisten wie Erasmus von Rotterdam wären zu nennen, vor allem aber politische Schriftsteller wie Francesco Guicciardini und Niccolò Machiavelli. Letzterer predigte ja nicht politische Unmoral, sondern analysierte die politi­ sche Wirklichkeit mit dem Ergebnis, dass politisch Handelnden keine Wahl bliebe, als sich auf unmoralische mikropolitische Operationen einzulassen.111 Vor allem seit Politik mit demokratischer Partizipation verbunden wird, hat eine lange Reihe europäischer Geistesriesen ihre Enttäuschung über die real existierende Politik unverblümt zum Ausdruck gebracht. Das mag auf die Frus­ 110 Zu diesen Entwicklungen vgl. Reinhard, Staatsgewalt (wie Anm. 96), passim. 111 Hans Fenske/Dieter Mertens/Wolfgang Reinhard/Klaus Rosen, Geschichte der politischen Ideen. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2008, 46–53, 129–131, 244–253, 255–259, 301.

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tration zurückgehen, die jedem politisch Tätigen vertraut ist, dass sich näm­ lich überzeugende Problemlösungen aus einem Guss wegen des Widerstreits mikropolitischer Interessen so gut wie nie erreichen lassen. Statt zum Beispiel wenigstens einen Versuch mit der Einführung der Kirchhof ’schen Flatrate zu wagen, wird das deutsche Steuersystem unter dem Vorwand der Gerechtigkeit ständig um weiteres Flickwerk zugunsten von Gruppeninteressen bereichert. Und die großartig angekündigte Rechtschreibreform des Deutschen ist fast vollständig gescheitert, »weil die Politik diese Reform immer nur politisch ver­ handeln wollte, also in den Kategorien von Interesse und Durchsetzung, nie aber sachlich, in Form einer Auseinandersetzung über Sprache und Schrift«.112 Solche Erfahrungen werden gerne mit den Parolen schöngeredet, Politik sei eben die Kunst des Möglichen und ihre Spitzenleistung demgemäß der Kom­ promiss, mag er auch noch so faul sein. Oft genug bleibt es aber nicht bei harmloser Frustration, sondern die Er­ fahrung der abscheulichen Ergebnisse von Geschichte und Politik münden in einen Cantus firmus verzweifelter, weil ohnmächtiger Wut. Für Gottfried Benn war die Sache klar  : »Es gibt innerhalb der geschichtlichen Welt kein Gut und Böse. Es gibt nur das Böse.«113 Ich selbst habe auf Grund der »Geschichte der europäischen Expansion« 1990 als »Prinzip der menschlichen Schäbigkeit« formuliert  : »[D]ie Mehrheit der Menschen neigt stets dazu, die edleren Regun­ gen einer Minderheit zu überlassen und deren Verhalten auszunützen, selbst aber nach den eigenen kurzfristigen Interessen zu handeln, auch wenn das ei­ gene wohlverstandene Interesse langfristig darunter leidet.«114 Edward Gibbon meinte dazu  : »Man traue keinem erhabenen Motiv für eine Handlung, wenn sich auch ein niedriges finden lässt.«115 Die von Max Weber in politisch-polemischer Absicht erfundene, hervor­ ragend zur Selbstrechtfertigung von Politikern geeignete Verantwortungsethik ändert nichts an der Einsicht, dass Macht entweder böse ist oder mindestens korrumpierend wirkt. Denn weil »man Macht haben muss, um das Gute durchzusetzen, setzt man zuerst das Schlechte durch, um die Macht zu gewin­

112 Thomas Steinfeld, Wie bei der Rechtschreibereform. Die Schwächen der neuen Studien­ ordnung lassen sich nicht durch ein paar Korrekturen beheben, in  : Süddeutsche Zeitung 12./13. Dezember 2009, 4. 113 Jörg Drews, Das zynische Wörterbuch. Stuttgart 2008, 165. 114 Wolfgang Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 4  : Dritte Welt Afrika. Stuttgart 1990, 206. 115 Drews, Wörterbuch (wie Anm. 113), 57.

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nen« (Ludwig Marcuse alias Heinz Raabe).116 Im Besitz der Macht interessiert dann das Gute nicht mehr, oder es gibt nur noch durch Macht verzerrte Vor­ stellungen davon.117 Das ist zwar alles richtig beobachtet, geht aber von der unzutreffenden Vor­ stellung der Möglichkeit einer streng sachlich am Gemeinwohl orientierten ethisch untadeligen Politik aus. Wenn überhaupt, ist so etwas allenfalls in Aus­ nahmesituationen möglich. Die Regel ist politisches Verhalten, das sich an dem im Erbe der Gattung Mensch verankerten Code der Mikropolitik orientiert. Allerdings sind wir nicht nur auf Mikropolitik programmiert, sondern auch auf jüngere Vorstellungen von Sittlichkeit, auch in der Politik. Es sind ja genau diese Ideale, die sich indirekt in den Äußerungen verzweifelter Wut artikulie­ ren. Kann uns die Wissenschaft in dieser Lage weiterhelfen, oder ist die poli­ tisch destruktive Zerstörung unserer Illusionen ihr letztes Wort  ? Mikropolitische Forschung führt in zweierlei Hinsicht weiter. Erstens ge­ stattet sie durch tiefenpolitische Analyse eine genauere Beschreibung komple­ xer historischer Befunde als bisher, woraus sich eine bessere Erklärung erge­ ben kann. Denn die Ergebnisse von Handlungen entsprechen oft nicht deren vorgegebenen Zielen, sondern ihren mikropolitischen Implikationen. Wandel in der Geschichte kommt seltener durch Verwirklichung von Handlungszie­ len zustande als durch nicht intendierte Nebenwirkungen der Handlungen.118 Das kann sogar auf dialektische Hervorbringung der eigenen Antithese hin­ auslaufen, wenn zum Beispiel Kolonialherrschaft Eliten westlichen Zuschnitts ausbildet, sie aber in ihren Ansprüchen frustriert, was dann dazu führt, dass diese den Kampf gegen den Kolonialismus aufnehmen.119 Zweitens ergeben sich aus mikropolitischer Tiefenanalyse weitreichende de­ legitimatorische Wirkungen. Angeblich kann die Geschichtswissenschaft we­ gen der Einbettung in ihre jeweilige Lebenswelt gar nicht anders, als deren ge­ 116 Ebd., 96. 117 In Hans Jürgen Wendel/Steffen Kluck (Hrsg.), Zur Legitimierbarkeit von Macht. Freiburg im Breisgau 2008, 5–19, definiert Hermann Schmitz Macht als Steuerungsfähigkeit, um damit über Max Weber hinaus die anonyme Gestaltungsmacht nach Michel Foucault einzubezie­ hen  ; er verknüpft Macht mit Autorität und wendet sich scharf gegen ihre Dämonisierung wie bei Jacob Burckhardt. Aber im selben Buch 117–137 zeigen Erich H. Witte, Niels van Quaquebeke und Tilman Eckloff empirisch, wie Macht oft genug tatsächlich korrumpiert, und zwar ohne dass es den Handelnden bewusst wird. 118 Man vgl. das philosophische Theorem der Heterogonie der Zwecke nach Wilhelm Wundt, System der Philosophie. 3. Aufl. Leipzig 1907, Bd. 1, 326, 329, Bd. 2, 221. 119 Reinhard, Expansion, Bd. 4 (wie Anm. 114), 205.

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sellschaftliche Praxis legitimieren.120 Mehr noch als die Jurisprudenz orientiert sie sich am Prinzip der normativen Kraft des Faktischen. Was vorhanden ist, ist zu Recht vorhanden, und das ist gut so. Selbst eine kritische Untersuchung vermittelt die Botschaft, dass ihr Untersuchungsgegenstand wichtig ist. Mar­ xistische oder feministische Alternativen legitimieren ebenfalls, aber anstelle des Vorhandenen dasjenige, was sein soll. Die »neue« Kulturgeschichte ist in dieser Hinsicht extrem konservativ. Weil es Rituale gibt, werden diese nicht nur untersucht, sondern auch uneingeschränkt als notwendig bejaht – als ob es keine Ritualkritik gegeben hätte und gäbe  ! Im Sinne der heuristischen Tradition des methodischen Zweifels und der phänomenologischen Reduktion besteht aber durchaus die Möglichkeit zu versuchen, methodisch einen Standpunkt außerhalb der eigenen politischen Kultur und Fachkultur zu finden. Die ironische Einsicht in die eigene Stand­ ortgebundenheit wäre kein Hindernis, sondern die Bedingung der Möglichkeit dieses Vorgehens.121 Immerhin wurde schon im 18. Jahrhundert vom Histo­ riker gefordert, »dass er ohne Vaterland, ohne Glauben und ohne Herrscher auftreten muss«.122 Es wäre dann seine Aufgabe, von außen »ein Loch nach dem anderen« in den alltäglichen bullshit der politischen und wissenschaftli­ chen Sprachen »zu bohren, bis das Dahinterkauernde, sei es etwas oder nichts, durchzusickern anfängt«, wie es Samuel Beckett zur Aufgabe des absurden Theaters erklärt hat.123 Die Weltgeschichte stellt sich ja oft genug als absurdes Theater dar  ! Vor allem mikropolitische Tiefenanalyse lässt erkennen, was hinter großar­ tigen »makropolitischen« Fassaden hockt – oft genug wirklich nichts. Dabei bleibt auch die imposante Legitimation des modernen Staates auf der Strecke. 120 Winfried Schulze hat diese seine schon früher vorgetragene Auffassung mit ausdrücklicher Zurückweisung meiner Kritik (Wolfgang Reinhard, Geschichte als Delegitimation, in  : Jb. des Historischen Kollegs 2002, 27–37) erneut bekräftigt  : Ich könne mich nicht durch Selbstmarginalisierung aus dem auch für mich zwingenden deutschen nationalkulturellen Zusammenhang zurückziehen  : Winfried Schulze, Die Bundesrepublik, die deutsche Nation und Europa, in  : Heinz Duchhardt (Hrsg.), Nationale Geschichtskulturen – Bilanz, Aus­ strahlung, Europabezogenheit. Stuttgart 2006, 298f. 121 Vgl. Rüdiger Graf, Geschichtswissenschaft zwischen Ironie und Bullshit. Pragmatische Über­ legungen zum Dissidenzpotential historischer Wahrheit, in  : Andreas Frings/Johannes Marx (Hrsg.), Erzählen, Erklären, Verstehen. Beiträge zur Wissenschaftstheorie und Methodologie der historischen Kulturwissenschaften. Berlin 2008, 71–96. 122 Gerhard Friedrich Müller (1705–1783) nach Dittmar Schorkowitz, Clio und Natio im östli­ chen Europa, in  : HZ 279, 2004, 1–33, hier 4. 123 Samuel Beckett, Disjecta (1937). London 1983, 52.

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Seine verbleibende Legitimität besteht höchstens darin, dass es ihn gibt und wir ohne seine Dienstleistungen noch nicht auskommen. Allerdings dürfen wir dabei nicht der Versuchung erliegen, mikropolitische Analyse als bloße »Entlarvungswissenschaft« zu missbrauchen. Denn mit der Delegitimation des an Bedeutung verlierenden Staates könnte eine Rehabilitation mikro­ politischer Alternativen einhergehen, auf die sich politische Ideale mit mehr Grund zur Hoffnung projizieren ließen als auf die frustrierende Großpolitik des Leviathan. Wenn wir dank unserer mikropolitischen Perspektive lernen, den modernen Staat als kontingentes Produkt der Politik zu verstehen, anstatt die Politik auf Lebensäußerungen eines a priori gegebenen Staates zu reduzieren, gewinnen historische Alternativen zum modernen Staat ganz neues Gewicht. Es ist dann nicht mehr nötig, die historische Bedeutung der autonomen Stadt- und Land­ gemeinden von ihrem Beitrag zur Staatsbildung her zu denken, wie es immer noch üblich ist. Denn es gibt heute kleine Gemeinwesen, die den umgekehrten Weg gehen, sich dem Staat entziehen und in diesem Sinn »The Art of Not Being Governed« entwickelt haben. Das gilt paradigmatisch für Bergvölker Südost­ asiens124, aber auch für die Slums afrikanischer, asiatischer und lateinameri­ kanischer Megastädte, obwohl deren Autonomie wie einst zu Zeiten der alten Mafia in Süditalien von Kriminellen exekutiert wird. Statt eines großspurigen »Weltethos« wäre daher eine bescheidene Ethik des mikropolitischen Alltags angesagt. Denn auch Globalisierung findet bekanntlich vor Ort statt, und die christliche Nächstenliebe ist nichts anderes als gute Mikropolitik. Immerhin wurde 2009 eine Untersuchung mit dem Nobelpreis für Öko­ nomie ausgezeichnet, die auf der empirischen Grundlage von tausenden von Fallstudien herausgefunden hat, unter welchen Bedingungen die Selbstorga­ nisation der Bewirtschaftung gemeinsam besessener Ressourcen wie Allmen­ den, Bewässerungssysteme und Fischgründe nicht in Exzesse egoistischer Schä­ bigkeit münden muss, sondern zum Nutzen aller Beteiligten funktionieren kann.125

124 James C. Scott, The Art of Not Being Governed. An Anarchist History of Upland Southeast Asia. New Haven 2009. 125 Elinor Ostrom, Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Ac­ tion. Cambridge 1990, dt.: Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt. Tübingen 1999.

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Zusammenfassung

Ausgehend von Ergebnissen dreier personengeschichtlicher Großprojekte wird unter Rückgriff auf sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse zuerst das Konzept »Mikropolitik« systematisch entwickelt. Es gestattet durch gründliche Berücksichtigung der häufig ignorierten oder heruntergespielten personen­ bezogenen Momente eine genauere Analyse von Politik als bisher, während sich der Gegenbegriff angeblich sachbezogener und gemeinwohlorientierter »Makropolitik« als semantische Schimäre entpuppt. Anschließend wird die­ ser Sachverhalt zweitens an historischen Beispielen exemplarisch demonstriert und drittens mit der Evolution des Menschen einerseits, der Entwicklung des Staates andererseits historisch erklärt. Daraus ergibt sich ein logischer wie his­ torischer Primat der Mikropolitik vor dem Staat, eine Umkehrung der bishe­ rigen Ordnung, die Politik vom Staat her denkt. Das erleichtert viertens den Versuch, die Frage nach dem erzielten Erkenntnisgewinn zu beantworten. In Wissenschaft wie Praxis gilt es hinfort, mikropolitische Alternativen zur staatli­ chen Politik ernst zu nehmen und anstelle makropolitischer Leerformeln prak­ tikable mikropolitische Modelle und eine konkrete Ethik der Mikropolitik zu entwickeln.

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»Kein hochgemuter Mensch auf dem Erdenrund kennt nicht von klein auf Gier« Zur anthropologischen Kritik der ökonomischen Vernunft

I

»Früher glaubten wir an Gott, heute glauben wir an den Markt.« Mit dieser Parole habe ich schon 2003 Christen wie Ökonomen gegen mich aufgebracht.1 Die seitherige Krise hat merkwürdigerweise keine neuen Glaubenszweifel an dieser Marktreligion ausgelöst. Der beste Beweis sind die höchst orthodoxen angebotstheoretischen Maßnahmen, mit denen man sie bewältigen möchte. Nach wie vor erfreuen sich bestimmte Vorstellungen von Arbeit und Markt­ wirtschaft einer selbstverständlichen Geltung von geradezu religiöser Heils­ gewissheit, vor allem seit die einst so bedrohliche sozialistische Alternative so kläglich Pleite gemacht hat. Ist das zusammen mit unserem einzigartigen Wohlstand nicht der unwiderlegbare empirische Beweis, dass Arbeitsgesell­ schaft und Marktwirtschaft die beste aller möglichen Welten darstellen  ? Arbeit ist heute der selbstverständliche Inbegriff von Lebenssinn und sym­ bolisiert daher den Wert des Menschen. Früher, als es sich noch anders verhielt, wurde auf den unteren Etagen der Gesellschaft viel, auf den oberen eher wenig gearbeitet. Doch seit Arbeit ein kostbares Gut geworden ist, massieren sich unten Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit, während sich bei den Oberen und bei denen, die nach oben kommen wollen, das kostbare Gut Arbeit in siebentägi­ gen Arbeitswochen mit sechzehnstündigen Arbeitstagen anhäuft. Arbeit im marktwirtschaftlichen Kosmos ist aber immer bezahlte Arbeit. Denn der Wert des Menschen bemisst sich in Geld. Unbezahlte Arbeit wird zumindest in Deutschland kaum ernst genommen. Frauen gelten erst als ebenbürtig, wenn sie genau so viel oder, noch besser, mehr Geld nach Hause bringen als die Männer. Vor allem nehmen sie sich als bloße Hausfrau und Mutter ohne eigenes Einkommen häufig selber nicht ernst, während umge­ 1 Vgl. meine Einführung und die Beiträge von Martin Dinges und Gebhard Kirchgässner in  : Wolfgang Reinhard/Justin Stagl (Hg.)  : Menschen und Märkte. Studien zur historischen Wirt­ schaftsanthropologie. Wien 2007, sowie die Rezension von Bettina Hollstein in  : Archives européennes de sociologie 49 (2008), S. 541–545.

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kehrt minder verdienende Männer sich in ihrer Männlichkeit gekränkt fühlen. Sollte doch etwas daran sein an der phallokratischen Deutung des Geldes, dem manche Psychoanalytiker geradezu eine Art von Zeugungskraft zuschreiben wollen  ?2 Der Gott in diesem Kosmos ist der Markt  ; das Spiel von Angebot und Nach­ frage ist die Vorsehung des als Homo oeconomicus definierten Menschen.3 Die »unsichtbare Hand« des Adam Smith ist ja in der Tat nichts als eine Neuauf­ lage der quasi-göttlichen Weltvernunft der Stoa.4 Das klägliche Scheitern des utopischen sozialistischen Alternativentwurfs hat jenen Richtungen enormen Auftrieb gegeben, die zwar gegenüber der individuellen menschlichen Schäbig­ keit realistischen Pessimismus an den Tag legen, damit aber einen grenzenlosen Optimismus gegenüber den Fähigkeiten des Marktes verbinden, eine optimale Bedürfnisbefriedigung für die Mehrzahl der Menschen zustande zu bringen. Voraussetzung ist die völlige Befreiung des Marktes von allen regulierenden Eingriffen, sprich die Abschaffung der Wirtschaftspolitik, die es streng ge­ nommen ohnehin erst seit der Weltwirtschaftskrise gibt. Friedrich August von Hayek, Nobelpreis 1974, erklärte den Glauben an soziale Gerechtigkeit für ei­ nen Aberglauben wie den Glauben an Hexen, denn beides gebe es nicht. Statt­ dessen vertraute er den Marktkräften geradezu blindlings. Einzige Aufgabe des Staates sei es, den Markt völlig freizusetzen, die Gerechtigkeit des Wettbewerbs zu garantieren und nicht etwa gerechte Resultate. Denn der Wettbewerb sei für den einzelnen Menschen eine Mischung aus Glücks- und Geschicklichkeits­ spiel, bei dem er durchaus unverschuldet auf der Strecke bleiben könne. Für diesen Fall könnte der Staat eine Art Almosen vorsehen.5 In unserem wissenschaftsgläubigen Zeitalter werden deskriptive Forschungs­ ergebnisse schnell in normative Regeln verwandelt. Das gilt in erhöhtem Maße, 2 Jochen Hörisch in  : Christoph Wulf (Hg.)  : Vom Menschen. Handbuch Historische Anthro­ pologie. Weinheim 1997, S. 683. 3 Pierre Demeulenaere  : Homo oeconomicus. Enquête sur la constitution d’un paradigme. Paris 1996  ; George Gilder  : Reichtum und Armut. Berlin 1981  ; Thomas Rüster  : Der verwechsel­ bare Gott, 4. Aufl. Freiburg 2001  ; vgl. auch  : Laurenz Volkmann  : Homo oeconomicus. Stu­ dien zur Modellierung eines neuen Menschenbildes vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Heidelberg 2003, sowie  : Bernd Blaschke  : Der Homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Celine. München 2004. 4 Hans Christoph Binswanger  : Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen. München 1998, S. 47–64  ; Pierre Force  : Self-Interest before Adam Smith. A Genealogy of Economic Science. Cambridge 2003, S. 75, 86 u. ö. 5 Friedrich August von Hayek  : Die Verfassung der Freiheit. Tübingen 1971  ; ders.: Gesetzge­ bung und Freiheit, 3 Bde. München/Landsberg 1980–86.

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wenn eine Wissenschaft wie diejenige von der Wirtschaft hoch mathemati­ siert ist und daher mit Anspruch auf naturwissenschaftliche Gültigkeit und Exaktheit für immer und überall daherkommt. Infolgedessen missverstehen die Menschen die wissenschaftliche Analyse der Marktwirtschaft als universale soziale oder sogar sittliche Norm und handeln, als ob die wissenschaftliche Be­ schreibung ihres Verhaltens auf Vorschriften für das richtige Verhalten hinaus­ laufen müsse. Durch anthropologische Universalisierung des ökonomischen Erklärungsanspruchs wird daraus eine Welt, in der Religion und Moral ihren Regelungsanspruch an die Ökonomie abtreten mussten. Denn schließlich fol­ gen auch sie, genau besehen, den Regeln der Marktwirtschaft. Die ökonomi­ sche Vernunft regiert die Welt. Schon 1976 lehrte Gary S. Becker  : Alles menschliche Verhalten kann […] so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem maxi­ mieren und sich in verschiedenen Märkten eine optimale Ausstattung an Informati­ onen und anderen Faktoren verschaffen. Trifft dieses Argument zu, dann bietet der ökonomische Ansatz einen einheitlichen Bezugsrahmen für die Analyse menschli­ chen Handelns, wie ihn […] Comte, Marx und andere seit langem gesucht, aber verfehlt haben.6

Verschiedene Detailanalysen wollten seither nachweisen, dass Liebe und Ehe, Recht und Kriminalität, Religion und Moral, Krieg und Frieden, Egoismus und Altruismus auf diese Weise erklärt werden können.7 In der Tat erweist sich der heutige Mensch in seiner Lebenspraxis als Homo oeconomicus, der sein Leben überwiegend mit Hilfe ökonomischer Kategorien reflektiert und zu ge­ stalten sucht. Bildung und Reisen, Kranken- und Altenversorgung, Sport und Unterhaltung mögen einst unabhängig von den Zwängen des Erwerbslebens entstanden sein – heute handelt es sich um gigantische Sektoren einer nicht mehr produktions-, sondern dienstleistungsorientierten Marktwirtschaft. Auf der anderen Seite setzt die angebotsorientierte Wirtschaftsvernunft aber den 6 Gary S. Becker  : Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Tübingen 1982 (amerikanisch 1976), S. 6 und 15. 7 Vgl. Gerard Radnitzky/Peter Bemholz (Hg.)  : Economic lmperialism. The Economic Ap­ proach Outside the Field of Economics. New York 1987  ; Bernd-Thomas Ramb/Manfred Tietzel (Hg.)  : Ökonomische Verhaltenstheorie. München 1993  ; Andreas Diekmann/Tho­ mas Voss (Hg.)  : Rational-Choice-Theorie in den Sozialwissenschaften. Anwendungen und ­Probleme. München 2004  ; Andreas Diekmann/Klaus Eichner u. a. (Hg.)  : Rational Choice  : Theoretische Analysen und empirische Resultate. Wiesbaden 2008.

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willigen Konsumenten voraus. Die Wirtschaft ist nicht mehr zur Befriedigung der Bedürfnisse des Verbrauchers da, sondern der Verbraucher für die Bedürf­ nisse der Wirtschaft. Notfalls müssen seine Bedürfnisse eben im Dienste der ihrigen erst geweckt werden.8 Nicht die Nachfrage bestimmt das Angebot, son­ dern das Angebot die Nachfrage. Der Konsument wird dabei selbst zum Kon­ sumartikel, weil er gezwungen ist, auf allen Gebieten auf seinen Marktwert zu achten und diesen zu steigern. Lebenspartnerschaften gelten nur auf Widerruf, bis ein besseres Angebot auftaucht. Denn sie werden zwar im Einvernehmen geschlossen, sind aber einseitig kündbar. Es kommt eben alles darauf an, zu verhindern, dass der Konsument eine langfristige Bindung an ein Ding oder an einen Menschen entwickelt.9 Dass der tägliche Börsenbericht selbstverständ­ lich zu Nachrichtensendungen gehört, wäre vor gar nicht langer Zeit nicht einmal denkbar gewesen. Damals wussten nur Eingeweihte, was der Dax oder der Dow Jones ist. Ein Soziologieprofessor mag noch so sehr gegen den »gefährlichen Prozess­ begriff Ökonomisierung« wettern – als Mitglied der »unternehmerischen Uni­ versität« (wie sie in Baden-Württemberg sogar ausdrücklich bezeichnet wurde) ist er gleichzeitig in den erbarmungslosen Wettbewerb um Drittmittel einge­ bunden und gezwungen, sein Institut wie eine Fabrik auf Wachstumskurs zu bringen, auch wenn in der Wissenschaft quantitativer Zuwachs nur allzu leicht mit qualitativen Verlusten einhergeht.10 Er ist möglicherweise so sehr in das System eingebunden, dass ihm derartige Widersprüche nicht einmal bewusst werden. Nicht umsonst (sic  !) erfreut sich die begriffliche Reduktion sozialer Sachverhalte auf verschiedene Sorten von Kapital durch Pierre Bourdieu in der Wissenschaft so großer Beliebtheit.11 Nicht nur hier lässt bereits unsere Sprache erkennen, dass wir vorzugsweise in ökonomischen Kategorien denken. Denn der expandierende sprachliche   8 Hartmut Berghoff (Hg.)  : Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik. Frankfurt 2007  ; Rainer Gries  : Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommuni­ kation in der Bundesrepublik und der DDR. Leipzig 2003  ; Die bundesdeutsche Massenkon­ sumgesellschaft 1950–2000 (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2007/2)  ; Wolfgang König  : Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. Konsum als Lebensform der Moderne. Stuttgart 2008. Vgl. auch Norbert Bolz  : Das konsumistische Manifest. München 2002.   9 Zygmunt Bauman  : Leben als Konsum. Hamburg 2009, bes. S. 28–34 und 134. 10 Ich bitte Hans Joas um Nachsicht, dass ich ihn und seine überaus erfolgreiche Tätigkeit als Leiter des Max-Weber-Kollegs in Erfurt hier als empirischen Testfall verwende, denn ich habe dort auch ganz andere, höchst erfreuliche Erfahrungen machen dürfen. 11 Pierre Bourdieu  : Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in  : Reinhard Kreckel (Hg.)  : Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, S. 183–198.

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Bereich ist stets der am stärksten mit psychischer Energie, das heißt wohl kon­ kret vor allem mit Prestige besetzte.12 Neben der Wirtschaft ist das höchstens noch der Fußball. Statt »wettbewerbsfähig« ist unsere Universität zur Abwechs­ lung auch einmal »gut aufgestellt«. Selbst die konservative katholische Kirche möchte milde Spenden als »Teilen mit Gewinn« attraktiv machen,13 verkün­ det den »Mehrwert« von »Ehelosigkeit«14 und münzt die theologische Tugend der Hoffnung als verzinsbares Kleingeld aus  : »Kleine Münze Hoffnung, mir umsonst geschenkt, werde ich dich teilen, dass du Zinsen trägst  ?«15 Dass es sich bei solchem Gebrauch der Wirtschaftssprache oft »nur« um Metaphern handelt, ändert nichts an der Bedeutung ihrer Expansion. Denn eine neue Metapher bringt nicht nur neue Aspekte zum Vorschein, sie deckt auch ältere zu und führt dadurch zu Bewusstseinswandel.16

II

Allerdings hat die Rational-Choice-Theorie mit ihrem Homo oeconomicus in­ zwischen bereits fachintern zurückstecken müssen, denn Beckers Rahmenbe­ dingungen Rationalität, Marktgleichgewicht und Präferenzstabilität erwiesen sich in ihrer Strenge als nicht haltbar. Der Homo oeconomicus entscheidet im­ mer wieder nur eingeschränkt rational, unzureichende Information verzerrt das Marktgleichgewicht und die Präferenzen sind höchst wandelbar. Doch mit entsprechender Modifikation dieser Parameter ließ sich das Universalpara­ digma anscheinend vorläufig retten.17 Bisweilen freilich öffnen Ökonomen unfreiwillig selbst die Tür zur radikalen Dekonstruktion ihrer heilen Welt marktwirtschaftlicher Vernunft. In seinem Buch Wirtschaftskrisen kommt der angesehene Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe 2010 zum wirtschaftspolitisch-pädagogisch passenden Schluss, dass 12 Uwe Pörksen  : Expansion der Wirtschaftssprache, in  : Reinhard/Stagl (Hg.), Menschen und Märkte (wie Anm. 1), S. 475–484. 13 Misereor-Aktion 2001. 14 Vortrag in der katholischen Hochschulgemeinde Freiburg Juni 1996. 15 Gesangbuch »Gotteslob« Lied 054, 2. Strophe. 16 Pörksen, Expansion (wie Anm. 12), S. 481 f. 17 Gebhard Kirchgässner  : Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhal­ tens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Tübingen 1991  ; ders.: Das Gespenst der Ökonomisierung, in  : Reinhard/Stagl (Hg.), Menschen und Märkte (wie Anm. 1), S. 401–433.

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regelmäßig auftretende Spekulationskrisen in der entwickelten kapitalistischen Wirtschaft normal und angesichts von deren Wohlstand nicht bedrohlich seien. Vor allem aber könnten sie nicht der »Habgier bestimmter Menschen oder Be­ rufsgruppen« zugeschrieben werden.18 Geschickt zieht er Karl Marx als Kron­ zeugen heran, verschweigt aber, dass dieser die Krisen als Symptome für den allmählichen Niedergang des Kapitalismus eingeschätzt hatte. Wenige Seiten zuvor muss Plumpe aber feststellen, dass »die Gier der Anle­ ger selbst […] die Spekulationsblase« des sogenannten Neuen Marktes im Jahr 2000 »auf ihre letzten Höhen« und »zum Absturz« getrieben hat.19 Und kurz danach formuliert er sogar ganz affirmativ, dass wir die Vorzüge unseres Wirt­ schaftssystems gerne übersehen, weil wir es »als krisenanfällig und moralisch anstößig begreifen«20. Das tun wir in der Tat, und dafür gibt es überaus pro­ minente Zeugen. Ausgerechnet in der FAZ schrieb 2011 niemand geringeres als die Leiterin des Hauptstadtbüros der deutschen Wirtschaft Karen Horn  : »Jeder neigt zur Gier, wenn man ihn nur lässt.«21 Als Insiderin müsste sie es eigentlich wissen … Noch einer, der es wissen musste, war John Maynard Key­ nes, der schrieb  : Für wenigstens weitere hundert Jahre müssen wir uns […] darauf verpflichten, dass Betrügen fair ist und Fairness Betrug, denn Betrug ist nützlich und Fairness ist es nicht. Gier, Wucher und Sicherheitsstreben müssen noch für ein wenig länger un­ sere Götter sein.22

Der Dichter Ezra Pound, den die Amerikaner wegen seines wirtschaftskriti­ schen Engagements für den italienischen Faschismus nach dem Krieg in Vor­ wegnahme Guantanamos in einen Käfig sperrten und dann zum Tod verurteil­ ten, hatte den Titel dieses meines Vortrags dem altenglischen »Seefahrer« in den Mund gelegt.23 Gemeint ist damit, dass »Gier«, genauer »Habgier«, latei­ 18 Werner Plumpe  : Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl. München 2010, S. 120f. 19 Ebd., S. 110. 20 Ebd., S. 117. 21 Karen Horn  : Werden wir erpresst  ?, in  : FAZ  : Denk ich an Deutschland 2011, S. 23–26, hier 24. 22 Nach  : Karl-Heinz Brodbeck  : Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philoso­ phische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften. Darmstadt 1998, S. 123. Vgl. auch Bauman, Leben als Konsum (wie Anm. 9), S. 171. 23 For this there is no mood-lofty man over earth’s midst, / No though he be given his good, but will have in his youth greed. Eva Hesse  : Ezra Pound. Dichtung und Prosa. Berlin 1956, S. 39 über­

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nisch die christliche Todsünde »Avaritia«, im älteren Deutsch »Geiz«, also mit umfassenderer Bedeutung als heute,24 die Grundlage nicht nur der modernen kapitalistischen, sondern möglicherweise sogar jeder Art von Wirtschaft ist. Was der Dichter kraft Inspiration behaupten darf, muss der Anthropologe empirisch nachprüfen. Dabei darf auch nicht übersehen werden, wie die ebenso einfache wie unbequeme Tatsache, dass die moderne Wirtschaft und vielleicht die Wirtschaft überhaupt auf einer der niederträchtigsten Eigenschaften des Menschen beruht, seit Adam Smith zunächst beschönigt und dann beschwie­ gen wurde. Lange mochten wir unsere Habgier einfach nicht wahrhaben – bis ein Elektronikkonzern die Parole in die Welt setzte  : »Geiz ist geil.« Das Beschweigen der moralischen Dimension wurde erleichtert, weil sich die Wirtschaft im eigenen Interesse zwar nicht als un-moralisch, aber als a-mora­ lisch betrachtete, als autonome Sphäre der Welt, die ihren eigenen unveränder­ lichen quasi-naturwissenschaftlichen Gesetzen folgt. Aufgabe der Wirtschafts­ wissenschaft war es spätestens seit Alfred Marshall (1842–1924) nur noch, diese Gesetze herauszufinden und analog zur Physik in mathematische Form zu gießen. Mit diesem Selbstverständnis ausgestattet konnten Ökonomen wie Naturwissenschaftler versuchen, jeweils den kumulierten letzten Stand ihrer Erkenntnisse für unstrittig zu erklären und erst einmal festzuschreiben. Natürlich gibt es wie in jeder Wissenschaft abweichende Auffassungen. Der Homo oeconomicus hat sich dank solcher Kritik zum Nicht-wieder-Erkennen verändert. In Frage gestellt wurde das geschlossene System der ökonomischen Vernunft aber erstmals wirkungsvoll von der neuen Institutionenökonomik, die sich ausgehend von den erwähnten Schwächen des Marktmodells mit den rules of the game wirtschaftlicher Abläufe befasst. Denn Institutionen in ihrem Sinn sind nicht nur Organisationen wie Firmen oder Gewerkschaften, son­ dern auch Normen, Regeln, Rechte, Gesetze usf.25 Nach ihrem Protagonisten Douglass North waren vor allem die europäischen Regelungen der Eigentums­ verhältnisse eine wichtige Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung

setzte im Einvernehmen mit dem Dichter  : »Kein hochgemuter Mann im Erdenrund, / ob man sein Gut ihm gab, kennt nicht von klein auf Gier.« Ich habe der Entwicklung seit 1956 Rechnung getragen und den Unternehmerinnen gehuldigt, indem ich den Mann in den Menschen verwandelt habe. 24 Das bemerkenswerte Buch von Volker Reinhardt  : Mein Geld. Meine Seele. Die größten Geiz­ hälse und ihre Geschichten. München 2009, nimmt insofern leider einseitig fast nur die »Aus­ gabenseite« dieses Lasters in den Blick. 25 Martin Rössler  : Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung, 2. Aufl. Berlin 2005, S. 96.

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dieses Erdteils.26 Das heißt aber, der Markt wurde nicht mehr als abstrakte, un­ veränderliche, quasi-naturwüchsige Gegebenheit, sondern als von historischen Menschen geschaffene Konstruktion betrachtet, mit anderen Worten, als ein Bestandteil von Kultur.27 Nicht zuletzt das Versagen der ökonomischen Theorie in Krisen hatte au­ ßerdem immer wieder den Verdacht auf selbst-referentiellen wissenschaftli­ chen Leerlauf der wirtschaftswissenschaftlichen »Modellschreinerei«28 erregt. »Is economics a respectable and useful reality-oriented discipline or just an intellectual game that economists play in their sandbox filled with imaginary models  ?«29 Das heißt aber, nicht nur die Wirtschaft ist in ihrer jeweiligen, durchaus unterschiedlichen Gestalt ein im doppelten Sinn »frag-würdiges« ge­ schichtliches Kulturphänomen, sondern auch die Wirtschaftswissenschaft. Damit war der Weg frei für die neuartige »kulturelle Ökonomik«, die nicht nur die wirtschaftlichen Tatsachen, sondern auch deren theoretische Aufar­ beitung und konsequenterweise schließlich auch ihr eigenes Tun historisch erklären will und damit einen »cultural turn« auch der Wirtschaftswissen­ schaft proklamiert.30 Einerseits wird die Marktgesellschaft nun als Produkt soziokultureller Entwicklung betrachtet, andererseits erfordert und erzeugt die Marktgesellschaft ein ganz bestimmtes kulturelles Verhalten.31 Weil es unter­ schiedliche Wirtschaftskulturen mit unterschiedlichen Sprachen gibt, spricht der Homo oeconomicus eine vorgestanzte Standardsprache, der Homo culturalis hingegen erzeugt selbst Welt durch Sprache.32 Auch wenn die kulturelle Wende den »Mainstream« der Wirtschaftswissen­ schaft noch nicht erfasst haben mag, so hat sie doch bemerkenswerte Wand­ 26 Douglass North  : Institutions, Institutional Change and Economic Performance. Cambridge 2005. 27 Stefan Voigt  : Neue Institutionenökonomik als kulturelle Ökonomik, in  : Gerold Blümle/Nils Goldschmidt u. a. (Hg.)  : Perspektiven einer kulturellen Ökonomik. Münster 2004, S. 411–426. 28 Kurt Dopfer  : Der evolutionäre Kern einer kulturellen Ökonomie, in  : Blümle/Goldschmidt u. a. (Hg.), Perspektiven (wie Anm. 27), S. 81–94, hier 83. 29 Uskali Mäki (Hg.)  : Fact and Fiction in Economics. Cambridge 2002, S. XV. 30 Gerold Blümle/Nils Goldschmidt  : Die historische Bedingtheit ökonomischer Theorie und deren kultureller Gehalt, in  : Reinhard/Stagl (Hg.), Menschen und Märkte (wie Anm. 1), S. 451–473. 31 Heino Heinrich Nau  : Reziprozität, Eliminierung oder Fixierung  ? Kulturkonzepte in den Wirtschaftswissenschaften im Wandel, in  : Blümle/Goldschmidt u. a. (Hg.), Perspektiven (wie Anm. 27), S. 249–267, hier 251. 32 Stephan Panther/Hans G. Nutzinger  : Homo oeconomicus vs. homo culturalis  : Kultur als Herausforderung der Ökonomik, in  : ebd., S. 287–309, hier 300.

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lungen hervorgebracht. Aus dem knallharten, auf Statistik und Mathematik eingeschworenen Cliometriker und Vater zweier Kinder Donald McCloskey33 wurde durch Wandel der Wissenschaftskultur und des Geschlechts die kritische Wirtschaftshistorikerin Deirdre McCloskey, die Grimmiges über die Rhetorik der ökonomischen Wissenschaftssprache schreibt34 und sich jetzt vor allem mit Wirtschaftsethik befasst.

III

Natürlich könnten wir diese selbstkritische Wende in der Wirtschaftswissen­ schaft durchaus bereits für die anthropologische Kritik der ökonomischen Vernunft in Anspruch nehmen. Denn sie gehört zu dem ganzen Bündel von »Turns« hin zur Kultur, dem auch die neue Kulturgeschichte und die Histo­ rische Anthropologie ihren Aufschwung zu verdanken haben. Das heißt aber nicht, dass diese beiden Richtungen der Geschichtswissenschaft ihr erneuertes Instrumentarium von Anfang an zur Kritik der ökonomischen Vernunft ein­ gesetzt hätten. Eher das Gegenteil ist richtig. Ihre Tendenz, im Zeichen eines generellen Symbolismus die Bedeutung von Geschichte auf die Geschichte von Bedeutung zu reduzieren, stand ganz offensichtlich bis vor kurzem der Beschäftigung mit einem so elementaren und materiellen Gegenstand wie der Wirtschaft im Wege. In keiner der gängigen Einführungswerke wird Wirtschaft auch nur erwähnt.35 Im Jahre 2003 versuchten das Freiburger Institut für His­ 33 Donald McCloskey  : Economic Maturity and Entrepreneurial Decline  : British Iron and Steel  ; 1870–1913. Cambridge Mass. 1973  ; Roderick Floud/Donald McCloskey  : The Economic History of Britain since 1700, 2. Aufl., 3 Bde. Cambridge 1994 (1. Aufl. 1981 in 2 Bdn.). 34 Donald McCloskey  : The Rhetoric of Economics. Madison 1985, 2 Aufl. 1998  ; Deirdre ­McCloskey  : You Shouldn’t Want a Realism If You Have a Rhetoric, in  : Mäki (Hg.), Fact and Fiction (wie Anm. 29), S. 329–340. Vgl. dazu  : »The progress of economic science has been seriously damaged. You can’t believe anything that comes out of [it]. Not a word. It is all nonsense, which future generations of economists are going to have to do all over again. Most of what appears in the best journals of economics is unscientific rubbish. I find this unspeakably sad. All my friends, my dear, dear friends in economics, have been wasting their time … They are vigorous, difficult, demanding activities, like hard chess problems. But they are worthless as science. […] The physicist Richard Feynman called such activities Cargo Cult Science … By ›cargo cult‹ he meant that they looked like science, had all that hard math and statistics, plenty of long words  ; but actual science, actual inquiry into the world, was not going on. I am afraid that my science of economics has come to the same point« (Deirdre McCloskey  : The Secret Sins of Economics. Chicago 2002, S. 41 und 55 f.). 35 Doris Bachmann-Medick  : Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften,

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torische Anthropologie36 und die Göttinger Wirtschaftshistorie37 erste Schnei­ sen zu schlagen. Es dauerte aber noch bis 2009, bis die maßgebende deutsche Zeitschrift ein Themenheft »Wirtschaftsanthropologie« zustande brachte.38 Hingegen wurde schon 1993 aus der Sicht der biologischen Anthropologie ge­ zeigt, dass das irrationale Verhalten des Menschen in unsicheren Entscheidungs­ situationen, seine bisweilen hysterischen, dem Herdentrieb folgenden Dumm­ heiten an der Börse39 und seine Begeisterungsfähigkeit für den Krieg beim besten Willen nicht mit dem Konstrukt eines rational handelnden Homo oeconomicus vereinbar sind. Stattdessen entsprechen sie aber durchaus den Erwartungen an einen nach den Vorstellungen von Evolution entworfenen Homo biologicus.40 Die philosophische Anthropologie menschlichen Handelns wusste natürlich längst, dass Menschen nicht nur individuell aufgrund vorheriger Zwecksetzung durch rationales Kalkül handeln, sondern auch sozial im Sinne von Gruppen­ normen. Hans Joas hat darüber hinaus ein drittes Handlungsmodell entworfen, das in gewisser Hinsicht die beiden anderen überwölbt. Danach ist Handeln zwar intentional, aber damit nicht von vorheriger rationaler Zwecksetzung ab­ hängig. Es entspringt vorhergehender Emotion, unkontrollierter Körperlich­ keit und sozialen Zusammenhängen. Die endgültigen rationalen Motive ent­ stehen erst im Verlauf des Handelns selbst. In dieser handlungstheoretischen Spirale erweist sich das Handeln selbst als kreativ.41 Eine Vorstellung, die weit lebensnäher anmutet als die leblose Rechenmaschine Homo oeconomicus. 4. Aufl. Reinbek 2010  ; Ute Daniel  : Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüs­ selwörter, 5. Aufl. Frankfurt 2006  ; Gert Dressei  : Historische Anthropologie. Eine Einfüh­ rung, Köln 1996  ; Jakob Tanner  : Historische Anthropologie zur Einführung. Hamburg 2004  ; Aloys Winterling (Hg.)  : Historische Anthropologie. Stuttgart 2006  ; Christoph Wulf  : Anth­ ropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. Reinbek 2004 wurden daraufhin durchgesehen. 36 Reinhard/Stagl (Hg.), Menschen und Märkte (wie Anm. l). Dass der Band erst 2007 erschei­ nen konnte, war auf Finanzierungsschwierigkeiten und Schwierigkeiten mit einem Beiträger zurückzuführen. 37 Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.)  : Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensio­ nen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt/New York 2004. 38 Und sich dabei ausdrücklich auf unseren Band von 2007 bezog  : Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 17 (2009). 39 Vgl. die »Theorie der nervösen Frösche« für die Finanzmärkte nach  : Hartmut Berghoff/Ja­ kob Vogel  : Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Ansätze zur Bergung transdisziplinärer Theoriepotentiale, in  : dies. (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte (wie Anm. 37), S. 9–41, hier 21. 40 Charles Elworthy  : Homo biologicus. An Evolutionary Model for the Human Sciences. Berlin 1993, bes. S. 177–201. 41 Hans Joas  : Die Kreativität des Handelns. Frankfurt 1996, S. 15 und 213–285.

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Die empirischen Anthropologien brauchten länger als die systematischen, bis auch sie zur Kritik der ökonomischen Vernunft beitragen konnten. Immer­ hin hat ein Rechtsanthropologe Hayeks Fiktion vom freien Spiel der Marktkräfte mit der Formulierung seines erfahrungsgesättigten Freiheitsparadoxons ad absurdum geführt  : je freier das Spiel der Kräfte, umso leichter gewinnen regel­ mäßig einzelne Marktteilnehmer die Oberhand zum Nachteil der übrigen.42 Die Kultur- oder Sozialanthropologie oder Ethnologie, drei Fachrichtungen, die wir für unsere Zwecke als identisch ansehen können, kontrastieren den westlichen Wirtschaftsmenschen durch synchronen Vergleich mit dem Wirt­ schaftsverhalten anderer Kulturen, zunächst vor allem der sogenannten »Na­ turvölker«. Die dafür theoretisch beanspruchte Synchronie lässt allerdings in der Praxis zu wünschen übrig, weil sich im Zeitalter der Globalisierung vom Westen unbeeinflusste Kulturen fast nur noch in der Vergangenheit finden las­ sen. Dafür handelt man sich aber die Möglichkeit ein, den Kulturwandel unter westlichem Einfluss zu beobachten. Seit die früher so genannte Volkskunde sich zur europäischen Ethnologie oder zur vergleichenden Kulturwissenschaft gemausert hat, leistet auch sie neben der inzwischen weltweit operierenden Soziologie und kulturellen Ökonomik einschlägige Beiträge mit dieser verglei­ chenden Perspektive.43 Dabei sind, wie gesagt, die einzelnen Wissenschaften zumindest von den Forschungsgegenständen her, aber zum Teil auch nach ih­ rer Vorgehensweise oft kaum zu unterscheiden. Entscheidend ist aber die auf diesen Wegen vermittelte Einsicht, dass das marktwirtschaftliche System weder naturwüchsig, noch das einzig mögliche und bisweilen auch nicht das optimale ist. Bei den Transformationsprozessen im bislang kommunistischen Osteuropa stoßen zwei oder oft genug sogar drei Wirtschaftskulturen, früher hätte man gesagt  : Wirtschaftsstile, zusammen. Die ökonomische Vernunft des westlichen Kapitalismus wird zunächst mit der sozialistischen Tradition konfrontiert, in manchen Ländern aber zusätzlich auch mit einer wiederbelebten vorsozialisti­ schen und vorkapitalistischen Vergangenheit. In der DDR waren Anpassung, Entscheidungs- und Kritikscheu, Anstrengung nur unter Zwang und bevor­ zugt Vertrauen auf informelle Kontakte wirtschaftliche Erfolgsrezepte gewesen. Da sie gründlich eingeübt wurden, lassen sie sich nicht ohne weiteres ablegen, 42 Wolfgang Fikentscher  : Die Rolle des Marktes in der Wirtschaftsanthropologie und das globale Wirtschaftsrecht, in  : Reinhard/Stagl (Hg.), Menschen und Märkte (wie Anm. 1), S. 373–399. 43 Vgl. z. B. Heiner Goldinger  : Rituale und Symbole der Börse. Eine Ethnographie. Münster 2002.

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erweisen sich aber als hinderlich im marktwirtschaftlichen Wettbewerb.44 Im Detail erscheint das übliche Finanzierungsinstrument des Wechselkredits vie­ len ostdeutschen Managern immer noch als unseriös.45 Eine zusätzliche längerfristige »Pfadabhängigkeit« führt dazu, dass Russland sich mit der Anpassung an den Kapitalismus noch schwerer tat und tut als die ostmitteleuropäischen Länder. Denn die russisch-orthodoxe Kirche ver­ trat und vertritt ein vormodernes integrales Gesellschaftsmodell, dem ausdif­ ferenzierte Funktionsbereiche wie eine autonome Marktwirtschaft fremd sind. Außerdem lag die altrussische kollektivistische Dorfwirtschaft bei Einführung des Sozialismus noch nicht lange zurück. Beides passte besser zu diesem als die Verhältnisse weiter westlich, so dass sein Erbe in Russland heute schwerer zu bewältigen ist.46 Umgekehrt hat man den ökonomischen Erfolg Estlands im Vergleich mit den rückständigeren Ländern Lettland und Litauen vergebens mit verschie­ denen politischen und wirtschaftlichen Faktoren zu erklären versucht und schließlich im Sinne der Weber-These auf den Protestantismus zurückgegriffen. Aber Lettland ist ebenfalls protestantisch und der baltische Protestantismus war das Luthertum, das nach Weber ja gerade keine kapitalismusgenerierende Rolle gespielt hat. Aber in Estland haben 1730–1825 die Herrnhuter intensi­ ven disziplinierenden Einfluss auf das einfache Volk ausgeübt, das traditionelle Heidentum verdrängt, Trunkenheit, uneheliche Geburten und Kriminalität reduziert, Bildung und Wohlstand gefördert.47 Auch in Japan wurde Weber bemüht. Robert Bellah hat im Sinne von dessen Wirtschaftsethik der Weltreligionen schon in den 1950er Jahren das japanische Arbeitsethos aus einschlägigen konfuzianischen Texten hergeleitet. Das wurde in Japan heftig diskutiert, diente es doch der Erfindung einer nationalen Tradi­ tion, die verhindern sollte, dass Modernisierung rein als Übernahme westlicher 44 Marco Lehmann-Waffenschmidt/Robert Böhmer  : Mentality matters – Thorstein Veblens »Regime of Status« und Max Webers »protestantische Ethik« aus der Sicht des radikalen Konstruktivismus. Eine Anwendung auf die ökonomischen Probleme des deutschen Wie­ dervereinigungsprozesses, in  : Blümle/Goldschmidt u. a. (Hg.), Perspektiven (wie Anm. 27), S. 221–247, hier 232 f. 45 Nils Goldschmidt/Joachim Zweynert  : Kulturelle Faktoren in wirtschaftlichen Transforma­ tionsprozessen. Ein Überblick, in  : dies. (Hg.)  : Die Interaktion der ökonomischen Kulturen und Institutionen im erweiterten Europa. Hamburg 2006, S. 11–35, hier 21–23. 46 Ebd., S. 24 und 26 f. 47 Zenonas Norkus  : Kultur und politische Ökonomie in der Transformation einer kleinen of­ fenen Volkswirtschaft. Der Fall Litauen im baltischen Vergleich, in  : Goldschmidt/Zweynert (Hg.), Kulturelle Faktoren (wie Anm. 45), S. 123–151.

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Errungenschaften betrachtet wurde. Faktisch handelte es sich um beides, um kontingente Problemlösungen westlichen Stils, die an japanische Sitten an­ knüpften, aber nicht an eine tief in die Vormoderne zurückreichende Tradition. So entstand das Konzept der »Betriebsfamilie« in einer bestimmten Krise der Schwerindustrie Ende des 19. Jahrhunderts.48 Die Ethnologie im engeren Sinn neigte zunächst zur Rational-Choice-The­ orie und entdeckte auch bei »Naturvölkern« den Nutzen optimierenden Homo oeconomicus und die ewig gleichen Marktgesetze, möglicherweise, weil sie an­ fangs stark unter dem Einfluss des naturwissenschaftlichen Paradigmas stand.49 Allerdings hegte schon Bronislaw Malinowski empirisch begründete Zweifel50 und Maurice Godelier erhob 1965 den naheliegenden Einwand  : Wenn alles zweckbestimmte Handeln ökonomisch ist, dann ist keines mehr ökonomisch.51 Denn schon 1944 hatte Karl Polanyi die ökonomische Vernunft radikal in Frage gestellt und behauptet, in nicht-kapitalistischen Gesellschaften sei die Wirtschaft in die Gesamtheit aller Institutionen »eingebettet« und infolge­ dessen kein autonomes System und schon gar nicht auf Nutzenmaximierung reduzierbar. Die Wirtschaftswissenschaft sei selbst ein Produkt des kapitalis­ tischen Systems und daher auf dessen Legitimation eingestellt. Denn erst mit der Industrialisierung habe sich die »Great Transformation«, »die Verwandlung der Welt« zur Verselbständigung der Wirtschaft und der marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft vollzogen.52 Angesichts der kritischen Wirtschaftsentwicklung nach dem ersten Welt­ krieg hatte Marcel Mauss bereits die empirischen Ergebnisse von Boas, Thurn­ wald und Malinowski zur Theorie der Gabe systematisiert und die Gabe zur »totalen sozialen Tatsache« (fait social total) im Sinne seines Onkels, des Grün­ der-Soziologen Émile Durkheim, und als moralische Transaktion zum Kitt der 48 Sebastian Conrad  : Arbeit, Max Weber, Konfuzianismus. Die Geburt des Kapitalismus aus dem Geist der japanischen Kultur  ?, in  : Berghoff/Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kul­ turgeschichte (wie Anm. 37), S. 219–239. 49 Gertraud Seiser  : Neuer Wein in alten Schläuchen  ? Aktuelle Trends in der ökonomischen Anthropologie, in  : Historische Anthropologie 17 (2009), S. 157–177. 50 Hartmut Lang  : Systeme der Wirtschaftsethnologie. Eine Einführung. Berlin 2010, S. 12. 51 Seiser, Neuer Wein in alten Schläuchen  ? (wie Anm. 49), S. 163. 52 Karl Polanyi  : The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Ge­ sellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt 1978 (englisch 1944)  ; Seiser (wie Anm. 49), S. 160–163  ; James G. Carrier (Hg.)  : A Handbook of Economic Anthropology. Chelten­ ham 2005, S. 59–77. Jürgen Osterhammel  : Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, hat den Titel seines viel weiter ausgreifenden Opus maxi­ mum offensichtlich nach dem Vorbild Polanyis gewählt.

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Gesellschaft erklärt. Es handelt sich dabei um keinen einseitigen Altruismus, sondern durchaus um Reziprozität, aber nicht selten um solche mit zeitlicher Verzögerung, wodurch wichtige soziale Abhängigkeiten geschaffen werden. Denn die Gabe kann Symbol verschiedenartigster rechtlicher, politischer, sozi­ aler, kultureller oder religiöser Beziehungen sein, und zwar formaler so gut wie informeller.53 Damit entspricht sie sogar vorweg der symbolistischen Perspek­ tive der jüngeren Ethnologie nach Clifford Geertz.54 Es erscheint verlockend, die moderne Marktwirtschaft historisch wie systematisch als entpersonalisier­ ten und formalisierten Sonderfall dieser Gabenökonomie unter den Bedingun­ gen von Geldwirtschaft zu betrachten.55 Selbstverständlich sind aber weder die Gabenökonomie noch die eingebet­ tete Wirtschaft prinzipiell irrational, sie folgen nur anderen Rationalitäten als derjenigen des Homo oeconomicus. Aber ihre Rationalität lässt sich nur an dem ablesen, was die Menschen tun, denn über Selbstverständlichkeiten reden sie nicht. Zum Beispiel lässt sich bei der Produktion zeigen, dass Wildbeuter ohne darüber zu reden unter dem möglichen Jagdwild diejenige Auswahl treffen, die auch nach sorgfältigem Kalkül mit dem besten Verhältnis von Arbeits- und Zeitaufwand zu beschaffen wäre.56 Da es sich um reine Subsistenzwirtschaft handelt, kommen Marktgesichtspunkte nicht ins Spiel. Das ist aber der Fall, wo es sich um den heute sehr häufigen Übergang von der Subsistenzwirtschaft zur Marktwirtschaft handelt, der nicht nur unter dem Druck einer Krise oder des Bevölkerungswachstums, sondern eben auch durch den Anreiz von Profi­ ten außerhalb des eigenen Wirtschaftssystems in Gang gesetzt werden kann.57 Distribution kann durch einseitige Gabe, reziprok durch Gabentausch oder Tauschhandel, durch Redistribution mit Ressourcenfluss zu einem Zentrum und zurück und schließlich auch auf Märkten stattfinden, wo die Beteiligten viel­ 53 Marcel Mauss  : Essai sur le don  ; forme archaïque de l’échange, in  : L’année sociologique 1 (1923/24), S. 30–186  ; Georg Eiwert  : Sanktionen, Ehre und Gabenökonomie. Kulturelle Me­ chanismen der Einbettung von Märkten, in  : Berghoff/Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte (wie Anm. 37), S. 117–142  ; Seiser, Neuer Wein in alten Schläuchen  ? (wie Anm. 49), S. 166–170  ; Rössler, Wirtschaftsethnologie (Anm. 25), S.  192–196  ; Yunxiang Yan  : The Gift and the Gift Economy, in  : Carrier, Handbook (wie Anm. 52), S. 246–261. 54 Seiser, Neuer Wein in alten Schläuchen  ? (wie Anm. 47), S. 173 f.; Clifford Geertz  : Dichte Be­ schreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt 1983 (amerikanisch 1973). 55 Vgl. Axel T. Paul  : Der Tausch, die Zahlung und die Münze. Über einige Schwierigkeiten und Wegmarken beim Versuch, eine Geschichte des Geldes zu schreiben, in  : Reinhard/Stagl (Hg.), Menschen und Märkte (wie Anm. 1), S. 33–50, hier 39. 56 Lang, Systeme (wie Anm. 50), S. 33–55. 57 Ebd., S. 170–177.

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leicht bereits anonym, in jedem Fall aber austauschbar sind. Das heißt, distribu­ tive Transaktionen folgen durchaus marktwirtschaftlicher Rationalität, aber eben nicht immer und ausschließlich. Solange sich die Marktwirtschaft nicht von ih­ rer jeweiligen soziokulturellen Einbettung befreit hat, können die verschiedens­ ten Mischungen mit anderen Motiven auftreten oder sogar völlig fremdartige Phänomene wie der berühmte Zeremonialtausch im melanesischen Kula-Ring.58 Auf der dritten Stufe des Wirtschaftszyklus, bei der Konsumtion, spielen neben elementarem Bedarf auch gehobene Bedürfnisniveaus eine Rolle. Diese werden häufig von einer elaborierten Symbolik der Konsumtion gesteuert,59 bei der Prestigegesichtspunkte eine wichtige Rolle spielen. So wird zusätzliche Nachfrage ausgelöst, unter anderem nach »Luxusgegenständen«. Diesem Effekt wird heute eine Schlüsselrolle beim wirtschaftlichen Aufstieg Englands und damit auf dem historischen Weg zur modernen Marktwirtschaft zugeschrieben, von seiner Bedeutung für die heutige Konsumgesellschaft ganz abgesehen.

IV

Die Ethnologie stellt den universalen Anspruch einer angeblich im naturwis­ senschaftlichen Sinne »natürlichen« Marktwirtschaft dadurch in Frage, dass sie uns mit alternativen Formen des Wirtschaftens vertraut macht. Die his­ torische Anthropologie hingegen dekonstruiert sie durch den Nachweis, dass sie in der Geschichte nicht etwa quasi-natürlich gewachsen ist, sondern all­ mählich von Menschen konstruiert wurde. Dabei haben interessierte Personen diesem Wachstum auch immer die »richtige« Bedeutung zu geben gewusst, sei es affirmativ oder kritisch. Das heißt aber, Wirtschaftsentwicklung und Ideen­ geschichte finden Hand in Hand statt und müssen daher auch zusammenhän­ gend dekonstruiert werden. Wenn man im Sinne der kulturvergleichenden Vorgehensweise des Freiburger Instituts nach Märkten bei anderen Menschen fragt, gelangt man bei vormoder­ nen Kulturen zum selben Befund wie die Ethnologie bei den »Naturvölkern«. Wir stoßen überall auf Märkte, aber auf solche, die im Gegensatz zur modernen Marktwirtschaft von nichtwirtschaftlichen Elementen der Kultur mitbestimmt 58 Rössler, Wirtschaftsethnologie (wie Anm. 25), S. 182–219  ; Lang, Systeme (wie Anm. 50), 146–169, 177–191  ; Kalman Applbaum  : The Anthropology of Markets, in  : Carrier, Hand­ book (wie Anm. 52), S. 275–289. 59 Rössler, Wirtschaftsethnologie (wie Anm. 25), S. 219–228.

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werden, so im alten Indien von religiösen, die bis heute nachwirken.60 Die su­ merische Tempelwirtschaft war nicht rein redistributiv, sondern entpuppt sich umgekehrt als System profitorientiert bewirtschafteter Pfründe mit redistribu­ tiver Komponente.61 Die Eliten der griechischen Städte der Antike waren auf der Einnahmenseite der avaritia knallharte kapitalistische Maximierer, auf der Ausgabenseite aber alles andere als Geizhälse. Vielmehr setzten sie ihre Mittel durch Ausgaben im Rahmen des Euergetismus auf dem Umweg über das Ge­ meinwohl für ihren eigenen Nachruhm ein.62 Das chinesische Tributsystem war eine komplexe Kombination von zeremoniellem Gabentausch mit reguliertem und nicht reguliertem Außenhandel.63 Umgekehrt orientieren sich die islami­ sche Ökonomik und vor allem das islamische Bankensystem nach wie vor an restriktiven religiösen Normen – und sind dennoch ungemein erfolgreich.64 Dort ist dank des gemeinsamen kulturellen Erbes manches festgeschrieben, was wie das Zinsverbot einst auch für das vormoderne Europa kennzeichnend war. Denn dieses Europa war weder eine Marktwirtschaft noch eine Arbeits­ welt.65 Wie in anderen vormodernen Kulturen auch, waren Handarbeit und Kaufhandel bestimmten abgegrenzten Schichten und Gruppen mit geringem Sozialprestige zugewiesen. In Ostasien kamen die Kaufleute im Rang sogar nach den Bauern, auch wenn sie das nicht daran hinderte, reich und mächtig zu werden. Handarbeit wurde als notwendiges Übel, nicht als zentraler Wert eingeschätzt. »Auch die [alten] Griechen fühlten es, dass man producieren müsse um zu leben, aber dass man leben müsse um zu producieren, ist ihnen freylich nicht eingefallen«, schrieb ein Göttinger Historiker schon 1817.66 60 Heinrich von Stietencron  : Wirtschaftsverhalten und Wirtschaftsethik im alten Indien, in  : Reinhard/Stagl (Hg.), Menschen und Märkte (wie Anm. 1), S. 53–70. 61 Claus Wilke  : Markt und Arbeit im Alten Orient am Ende des 3. Jahrtausends v. Chr., in  : ebd., S. 71–132. 62 Egon Flaig  : Mit Kapitalismus keine antike Stadtkultur. Überlegungen zum Euergetismus, in  : ebd., S. 133–157. Vgl. Armin Günther Eich  : Die politische Ökonomie des antiken Griechen­ lands. Köln 2003, bes. S. 51 und 616. 63 Thomas Höllmann  : Als die Löwen nutzlos wurden. Anmerkungen zum chinesischen Tribut­ system unter den Dynastien Ming (1368–1644) und Qing (1644–1911), in  : Reinhard/Stagl (Hg.), Menschen und Märkte (wie Anm. 1), S. 159–172. 64 Roswitha Badry  : »Islamische Ökonomik« – die späte Reaktion muslimischer Akteure auf die Einbindung in die europäische kapitalistische Weltwirtschaft  : Eine gelungene Synthese von Zweck– und Wertrationalität  ?, in  : ebd., S. 203–226. 65 Bettina Emmerich  : Geiz und Gerechtigkeit. Ökonomisches Denken im frühen Mittelalter. Stuttgart 2003. 66 Nach  : Wolfgang Reinhard  : Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. München 2004, S. 428.

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Im Mittelalter war die Arbeit Sündenstrafe und Heilsweg zugleich. Das stellt keinen Widerspruch dar, gehörte sie doch zur Askese des Mönchtums. Außer­ dem galt sie manchen Kirchenvätern als Erfüllung des Schöpfungsauftrags und gottgefällige Betätigung der Willensfreiheit.67 Thomas von Aquin schrieb ihr handfestere Ziele zu, erstens den Erwerb des Lebensunterhalts – noch nicht der Vermehrung des Wohlstandes, dieses Ziel taucht bezeichnenderweise erst Ende des Mittelalters auf, zweitens der Vermeidung des Müßiggangs, des Ursprungs der Laster, drittens der Zügelung fleischlicher Begierden durch Erschöpfung, viertens der Ermöglichung von Almosen. Demgegenüber wurde aber wie schon in der Antike die Muße sehr viel höher geschätzt. Sie galt als Lebensform der Eliten und derselbe Thomas machte die Visio beatifica, die ewige Seligkeit im Jenseits, zu einer Art von ewigem Mußezustand der Kontemplation. Demge­ mäß wurden Handarbeit und Handarbeiter im wirklichen Leben verachtet. Das mittelhochdeutsche arebeit bedeutete weniger Arbeit als Mühsal und Plage. Das französische travail leitet sich angeblich vom lateinischen tripalium her, einem Folterinstrument. Noch in einem französischen Wörterbuch von 1724 war Arbeit nichts weiter als eine anstrengende und ermüdende Tätigkeit.68 Be­ zeichnenderweise galt als wichtigste Hauptsünde die aristokratische superbia, der Hochmut,69 eng verwandt mit dem positiven Adjektiv hochgemut, das in unserem Titel auftaucht. Wer sich um sein Seelenheil sorgte und Buße tun wollte, verzichtete auf seinen adeligen Status, unterwarf sich als Benediktiner klösterlichem Gehorsam und der Handarbeit des ora et labora. Mit dem Aufstieg der Städte gewannen die gewerbliche Produktion und das Handelsgeschäft an Gewicht. Bereits das Hochmittelalter kannte »internationale« Finanztransaktionen von gewaltigen Ausmaßen. Nichtsdestoweniger hatten Handel und Kreditgeschäft einen schlechten Ruf, der ebenfalls bis in die Antike zurückreicht. Erstens galten Geschäfte über den Bedarf des eigenen Haushalts hinaus tendenziell als unmoralisch. Kleinhandel war akzeptabel, Großhandel 67 Verena Postei  : Conditoris imago. Vom Bild menschlicher Arbeit im frühen Mittelalter, in  : Saeculum 55 (2004), S. 1–18  ; dies. (Hg.)  : Arbeit im Mittelalter. Vorstellungen und Wirklich­ keiten. Berlin 2006  ; dies.: Arbeit und Willensfreiheit im Mittelalter. Stuttgart 2009  ; Fabian Rijkers  : Arbeit – ein Weg zum Heil  ? Vorstellungen und Bewertungen körperlicher Arbeit in der spätantiken und frühmittelalterlichen lateinischen Exegese der Schöpfungsgeschichte. Frankfurt 2009. 68 Nach  : Wolfgang Reinhard  : Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens, in  : Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.)  : Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt a. M. 2005, S. 262–303. 69 Lester K. Little  : Pride Goes before Avarice. Social Change and the Vices in Latin Christen­ dom, in  : American Historical Review 76 (1971), S. 16–49  ; Jacques LeGoff  : Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter, 2. Aufl. Stuttgart 2008.

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hingegen nicht. Wer ihn betrieb, war automatisch dem Verdacht ausgesetzt, sich mit Wucherpreisen unbillig zu bereichern. Das hing zweitens damit zusammen, dass die gehandelten Güter großenteils nicht lebensnotwendige Luxusgüter wa­ ren, denn für billigere lohnte sich der Handel wegen der Transportkosten nicht. Luxus aber galt als Verführung zur Sünde luxuria und obendrein als unmora­ lische Verschwendung knapper Ressourcen. Schon bei den alten Griechen gab es wie dann während des ganzen Mittelalters und der ersten Jahrhunderte der Neuzeit gesetzliche Luxusverbote und Verbrauchsbeschränkungen.70 Und was drittens Kredit gegen Zins anging, so war nicht klar, wie sich Geld ohne jede Tätigkeit des Kreditgebers zu dessen Gunsten vermehren sollte, von biblischen Verboten ganz abgesehen.71 Allerdings nahm diese städtische Wirtschaft derma­ ßen an Bedeutung zu, dass ab dem 14. Jahrhundert die adelige Hauptsünde der superbia von der bürgerlichen avaritia, der Habsucht und dem Geiz, abgelöst wurde.72 Wenn auf jeder Seite der Geschäftsbücher des habgierigen Francesco Datini aus Prato zu lesen steht »im Namen Gottes und des Profits« (cho’l nome di Dio e di ghuadagno), dann war das für diesen selbst vielleicht Ausdruck einer Sinnsuche. Für viele seiner Zeitgenossen dürfte es hingegen auf Gotteslästerung hinausgelaufen sein.73 Wer jetzt heilig werden wollte, verschenkte sein Eigentum und wurde Bettelmönch wie der Kaufmannssohn St. Franziskus. Auf der anderen Seite ging die theoretische Rechtfertigung mit der prakti­ schen Entwicklung dieser neuen Wirtschaftsform Hand in Hand. Theologen erinnerten sich daran, dass gewissenhaft verrichtete Handarbeit schon immer als Weg zum ewigen Heil gegolten hatte. Sie verwiesen wie das Buch der Sprü­ che 5,6–11 auf die fleißige Ameise und sahen Jesus nicht mehr als asketischen »Aussteiger«, sondern als Aktivisten, der »herumrannte« (discurrebat, so wört­ lich Antoninus von Florenz im 15. Jahrhundert), um zu predigen, Kranke zu heilen, Brot zu vermehren usf. Zur Abschaffung des müßiggängerischen geistlichen Standes durch die Reformation kam jetzt deutliche Kritik des ar­ beitsamen Bürgertums am ebenso müßiggängerischen Adel.74 Zu der protes­ 70 Rainer Bernhardt  : Luxuskritik und Aufwandsbeschränkungen in der griechischen Welt. Stutt­ gart 2003. 71 Dt 23,29, Ps 14/15,5, Ez 18,8, Lk 6,34 f. 72 Little, Pride Goes before Avarice (wie Anm. 69). 73 Iris Origo  : »Im Namen Gottes und des Geschäfts«. Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. Francesco di Marco Datini 1335–1410, 2. Aufl. München 1986  ; Rein­ hardt, Mein Geld. (wie Anm. 24), S. 51–71. 74 Konrad Wiedemann  : Arbeit und Bürgertum. Die Entwicklung des Arbeitsbegriffs in der Lite­ ratur Deutschlands an der Wende der Neuzeit. Heidelberg 1979.

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tantischen Theologie innerweltlicher Pflichterfüllung kam eine katholische Variante bei Franz von Sales. Doch wer als Katholik heilig werden und der neuen Hauptsünde inertia, dem Müßiggang und der Faulheit,75 entkommen wollte, der konnte auch Jesuit werden oder sich einem anderen der neuen Or­ den anschließen, die sich auf innerweltliche christliche Aktivität spezialisierten. Ende des 16. Jahrhunderts tauchen Texte auf, die fleißiger Arbeit bereits die Überwindung jeder Schwierigkeit zutrauen. Friedrich Schillers Lied von der Glocke ist nicht mehr weit  : »Arbeit ist des Bürgers Zierde, / Segen ist der Mühe Preis  ; / Ehrt den König seine Würde, / Ehret uns der Hände Fleiß.«76 Mit den geldwirtschaftlichen Aktivitäten der aufkommenden kapitalistischen Marktwirtschaft tat man sich schwerer, auch weil das Christentum zu deren Le­ gitimierung kaum Ansatzpunkte bot.77 Gewinnstreben galt als sündhaft, weil es gegen das rechte Maß verstieß, das sich aus dem standesgemäßen Lebensunter­ halt ergab. Das rechte Maß war notwendig, weil Überfluss beim einen Mangel beim anderen bedeutete. Wirtschaft galt als Nullsummenspiel  ; die Vorstellung von wirtschaftlichem Wachstum war ebenso unbekannt wie das Ideal des sozi­ alen Aufstiegs. Zwar wurden allerhand theologische Kunstgriffe entwickelt, um den Kapitalisten ein gutes Gewissen zu geben, aber bei den Katholiken lief das lange auf bloße Duldung des Unvermeidlichen hinaus und auch die Calvinisten taten sich zunächst noch schwer damit. Die theoretischen Impulse kamen aus dem weltlichen Bereich. 1428 produzierte Poggio Bracciolini in Florenz eine verschleierte Verteidigung der Habsucht, die nützlich ist, weil sie die Mittel für vielerlei Zwecke des Gemeinwesens beschafft, nicht zuletzt auch für Kunst und Kultur. 1530 konnte der mit der Firma Welser verschwägerte Augsbur­ ger Humanist Conrad Peutinger jetzt ganz offen genauso argumentieren. 1564 erschien sogar ein Lob des Eigennutzes von Leonhard Fronsperger mit dem Motto  : »der Eigen Nutz schafft und wirckt, daß nichts auff Erdrich mangelt«78. Oikonomia hörte allmählich auf, die Lehre von der Hauswirtschaft zu sein, wie ihr Name sagte, und wurde zur »Politischen Ökonomie«, der Lehre vom Wohlstand des Gemeinwesens, was freilich zunächst oft auf die Füllung der 75 Peter Borscheid  : Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt a.M./New York 2004, S. 73. 76 Nach  : Reinhard, Bejahung (wie Anm. 68), S. 276–288. 77 Auch das biblische TalenteGleichnis Mt 25,14–30  ; Lk 19,11–27 wurde selbst bei den Refor­ mierten stets metaphorisch und nie als Rechtfertigung von Geldgeschäften ausgelegt  : Mein­ rad Böhl  : Das Christentum und der Geist des Kapitalismus. Die Auslegungsgeschichte des biblischen Talentegleichnisses. Köln 2007. 78 Nach  : Reinhard, Bejahung (wie Anm. 68), S. 288–290.

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Kassen des Fürsten hinauslief, vor allem bei den deutschen »Kameralisten«. Économie in diesem Sinn taucht zwar erst 1762 im Wörterbuch der Académie française auf, économie politique sogar erst 1798/99, aber der dickleibige Traicté de l’œconomie politique des Antoine de Montchrétien von 1615 enthält nicht bloß wirtschaftspolitische Überlegungen, sondern lange vor Adam Smith be­ reits die Behauptung, die Wahrnehmung privater Profitinteressen trage von Natur aus zum Gemeinwohl einer von gegenseitigem Wohlwollen zusammen­ gehaltenen Gesellschaft bei.79 Ein entscheidender Schritt war die Einsicht, dass Luxuskonsum und -pro­ duktion zwar lasterhaft sein mag, aber nichtsdestoweniger den gesellschaftli­ chen Wohlstand fördert. Der zynische Bernard de Mandeville brachte es 1714 in seiner Bienenfabel auf den Punkt. Solange Luxus, Korruption und andere Laster in seinem Bienenstock herrschten, ging es allen gut, als sich durch ein Wunder allgemeine Redlichkeit verbreitete, setzten Verarmung und Niedergang ein. Fazit  : »Stolz, Luxus und Betrügerei / muss sein, damit ein Volk gedeih.«80 In der Tat spielte sich damals in England die sogenannte »Konsumrevolu­ tion« ab, deren Nachfragesteigerung heute mit den Anfängen der Industria­ lisierung in Zusammenhang gebracht wird. Fleißige Angehörige der Mittel­ schichten und bisweilen auch der Unterschichten besaßen genug Kaufkraft, um sich allerhand decencies zu leisten. Damit hatten sich die ehrwürdigen Lu­ xusverbote erledigt  ; hinfort war Statuskonsum Trumpf.81 Adam Smith war eigentlich Moralphilosoph und nahm als solcher an Man­ devilles munterem Zynismus Anstoß. In seiner Theorie der moralischen Gefühle (The Theory of Moral Sentiments) zeigte er 1759, wie das Zusammenleben der Menschen in Wirklichkeit durch gegenseitige Sympathie ermöglicht und ge­ regelt wird. In dem ungleich berühmteren Buch Der Wohlstand der Nationen (The Wealth of Nations) fügte er 1776 hinzu, dass die im neo-stoischen oder 79 Jean-Claude Perrot  : Une histoire intellectuelle de l’économie politique, XVIIe–XVIIIe siècle. Paris 1992, S. 63–66. 80 Thomas A. Home  : The Social Thought of Bernard Mandeville. Virtue and Commerce in Early Eighteenth Century England. Basingstoke 1978. 81 Maxine Berg  : Luxury and Pleasure in Eighteenth-Century Britain. Oxford 2005  ; Chris­ tian Kleinschmidt  : Konsumgesellschaft. Göttingen 2008  ; Michael Prinz  : Aufbruch in den Überfluss  ? Die englische Konsumrevolution des 18. Jahrhunderts im Lichte der neueren For­ schung, in  : ders. (Hg.)  : Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne. Paderborn 2003, S. 191–217  ; John Shovlin  : The Political Economy of Virtue. Luxury, Patriotism and the Origins of the French Revolution. Ithaca/London 2006  ; Rolf Walter (Hg.)  : Geschichte des Konsums. Stuttgart 2004  ; Ariane Stihler  : Die Entstehung des modernen Konsums. Berlin 1998.

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deistischen Sinne wohl geordnete Natur der Welt dazu führt, dass auch die Verfolgung wirtschaftlicher Eigeninteressen unbeabsichtigt den Zwecken des Gemeinwohls dient, auch wenn er die vielberufene »unsichtbare Hand«, die stoische Pseudo-Vorsehung, die das Marktgeschehen lenkt, nur dreimal (und davon einmal in anderem Zusammenhang) erwähnt.82 Zwar scheint er nicht der Lehre zu folgen, dass stärkere Leidenschaften am besten durch schwächere neutralisiert werden können, wie Albert Hirschman meinte,83 hält aber den einst begrifflich vom außenpolitischen Kalkül abgeleiteten self-interest we­ gen seiner Gleichmäßigkeit tatsächlich für einen wohl temperierten und eher harmlosen Affekt. Außerdem strebt der Eigennutzen im Einklang mit der The­ orie der moralischen Gefühle in letzter Instanz überhaupt nicht nach materiel­ len Gütern, sondern nach der Anerkennung und Sympathie der Mitmenschen. Dadurch wird er im Sinne der Theorie der moralischen Gefühle gesellschafts­ begründend und tugendhaft.84 Für heutige Verhältnisse besonders beruhigend  : Auch die Reichen, die Tausende beschäftigen, dienen zwar nur ihrem eigenen Interesse. Unbeabsichtigt fördern sie aber das Wohlergehen ihrer Arbeitnehmer und damit der ganzen Volkswirtschaft. Es lebe der Trickle-down-Effekt  ! In diesem Sinne wurde je länger desto mehr nur der halbierte Smith re­ zipiert, nicht der Protagonist der gefühlten Moral, sondern der Theoretiker einer Wirtschaft, die sich selbst überlassen angeblich am besten funktioniert. Die zunehmende Weltbeherrschung durch Zählen und Rechnen – seit dem 18. Jahrhundert durfte man mittels Versicherungen dem Schicksal bzw. der Vorsehung ein Schnippchen schlagen85 – begünstigte diese Sicht der Dinge.86 Adam Smiths metaphysische Begründung für das Funktionieren des Marktes ließ sich jetzt eliminieren. Die Wirtschaft wurde im Laufe des 19. Jahrhun­ derts als quasi-natürliches System begriffen, dessen quasi-Naturgesetze am bes­ ten von einer mathematisierten quasi-Naturwissenschaft entschlüsselt werden konnten, die damit nebenbei dieses a-moralische a priori selbst verifizierte. Aus der Bezeichnung »Politische Ökonomie« verschwand das Adjektiv »politisch«, 82 Kritisch zum religiösen Ursprung des liberalen Credo schon 1938/44 Alexander Rüstow  : Die Religion der Marktwirtschaft. Neuausgabe Münster 2004. 83 Albert O. Hirschman  : Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalis­ mus vor seinem Sieg. Frankfurt a.M. 1980 (englisch 1977). 84 Force, Self-Interest before Adam Smith (wie Anm. 4). 85 Geoffrey Clark  : Betting on Lives. The Culture of Life Insurance in England, 1695–1775. Manchester 1999. 86 David Glimp/Michelle R. Warren (Hg.)  : Arts of Calculation. Quantifying Thought in Early Modern Europe. New York/Basingstoke 2004.

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denn die Wirtschaft war jetzt selbstreferentiell geworden  ; nur bei Marxisten blieb es bezeichnenderweise erhalten. Smith, seinen Zeitgenossen und Epigonen war eine historische Entwicklung des Wirtschaftens zwar selbstverständlich, aber ihre Vorstellungen von einer Zunahme des Wohlstandes blieben vage und wurden angesichts der Krisen immer wieder von pessimistischen Prognosen beeinträchtigt. Der Begriff des Wirtschaftswachstums war immer noch unbekannt. Joseph Schumpeter ent­ wickelte um 1900 erstmals eine Wachstumstheorie.87 Der Begriff wurde aber erst 1952 in der Nachkriegskonjunktur eingeführt88 und entwickelte sich dann rasch zur wirtschaftspolitischen Leitidee,89 um nicht zu sagen Zwangsvorstel­ lung. Zwischenzeitliche regulierende Eingriffe der Politik wurden rückgängig ge­ macht, sobald man sich das politisch leisten konnte. Der entfesselte Finanz­ kapitalismus, über den heute alle Krokodilstränen vergießen, ist ja ganz und gar nicht durch unaufhaltsame, quasi-natürliche Entwicklung entstanden. Die Deregulierungs- und Privatisierungspolitik unter Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Helmut Kohl hat ihn in den 1980er Jahren wenn nicht gezielt herbeigeführt, so doch zumindest ermöglicht. Ausgerechnet die rot-grüne Re­ gierung in Deutschland und New-Labour in Großbritannien haben diese Linie dann planmäßig weitergeführt.90

V

Die historisch-anthropologische Kritik der ökonomischen Vernunft führt also zu dem ernüchternden Ergebnis, dass der atemberaubende wirtschaftliche Aufstieg des Menschen tatsächlich auf der Entfesselung einer seiner nieder­ trächtigsten Eigenschaften, nämlich der Habgier, beruht. In der Gegenwart 87 Jan-Otmar Hesse  : Wirtschaftswachstum, in  : Friedrich Jäger (Hg.)  : Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 14. Stuttgart 2011, S. 1179–1182. 88 Durch  : Walt W. Rostow  : The Process of Economic Growth. New York 1952. Vgl. auch  : The Oxford English Dictionary, 2. Aufl. Oxford 1989, Bd. 6, S. 897 unter »growth«. 89 Während das damalige Standardwerk von Ludwig Elster  : Wörterbuch der Volkswirtschaft, 3 Bde. Jena 1931–1933 die Schlagwörter »Wachstum« und »Entwicklung« nicht kennt, findet sich in  : Willi Albers u. a. (Hg.)  : Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 8. Stutt­ gart 1980, S. 413–522 eine ganze Serie von Artikeln zu »Wachstum«. 90 Vgl. Wikipedia unter  : angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, Deregulierung, Reaganomics, Thatcherismus.

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hat diese den Höhepunkt ihres Erfolgs erreicht. Dabei ist allerdings ihre Recht­ fertigung durch Umdefinition als Tugend auf der Strecke geblieben. Man darf heute wieder von »Gier« sprechen. Paolo Prodi hat gezeigt, wie die primitive Sünde des Diebstahls sich im Laufe der Wirtschaftsgeschichte zu immer komplexeren Verfahren entwickelte, wie man sich das Eigentum des Mitmenschen aneignen konnte. Bei den Sank­ tionen musste schließlich zwischen Sünde vor Gott, Schuld nach den Regeln des Systems und Delikt nach den Gesetzen des Staates unterschieden werden. Zum Beispiel galt und gilt Steuerhinterziehung bisweilen nicht als Sünde und höchstens als »Kavaliersdelikt«. Heute im Zeichen der »neuen Leichtigkeit des Diebstahls« sind nicht nur diese Unterschiede verschwunden  ; Stehlen und Nicht-Stehlen, Diebstahl und ehrenhaftes Verhalten sind überhaupt keine Ge­ gensätze mehr, die großen Skandale nur die Spitze eines Eisbergs.91 Die Konvergenz von Wirtschafts- und Staatskrisen lenkt den Blick auf das analoge Problem, dass auch der moderne Staat seinen Aufstieg nicht der poli­ tischen Tugend, sondern einer weiteren niederträchtigen Eigenschaft des Men­ schen verdankt, der Machtgier. Demgemäß konvergieren Staat und Wirtschaft erwartungsgemäß nicht nur auf der offiziellen politischen Ebene, sondern sind auch durch Mikropolitik mit Gabentausch einerseits,92 die marktwirtschaftli­ che Ökonomie der Korruption andererseits93 aufs engste verflochten. In beiden Fällen wurden grandiose und inzwischen weitgehend unentbehr­ liche Errungenschaften mit schweren moralischen Verlusten erkauft, jeweils unter dem Vorwand, dass Wirtschaft und Politik als autonome Systeme ihren eigenen Regeln folgen, die mit der Moral, die für den einzelnen Menschen gelten mag, nichts zu tun haben. Wenn wir uns der Arroganz dieser Ansprü­ che nicht beugen wollen, können wir nur feststellen, dass Kapitalismus und moderner Staat moralische Fehlentwicklungen darstellen, mit denen sich die Menschheit übernommen hat. Was ist zu tun  ? Die demokratische Kontrolle des Staates funktioniert ziem­ lich schlecht und wurde von der Staatsgewalt außerdem planmäßig entschärft. Eine Wirtschaftsdemokratie gibt es nicht, die Möglichkeit zu streiken ist durch die Entwicklung des Arbeitsmarkts begrenzt. Wir könnten allenfalls die Mög­ 91 Paolo Prodi  : Settimo non rubare. Furto e mercato nella storia dell’Occidente. Bologna 2009, bes. S. 354 und 376 f. 92 Wolfgang Reinhard  : Die Nase der Kleopatra. Geschichte im Lichte mikropolitischer For­ schung. Ein Versuch, in  : Historische Zeitschrift 293 (2011), S. 631–666. 93 Susan Rose-Ackerman/Tina Soreide (Hg.)  : International Handbook on the Economics of Corruption, 2 Bde. Cheltenham/Northampton Mass. 2006–2011.

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lichkeit zur »Wahl« nutzen, die wir als Verbraucher haben und Verbraucherini­ tiativen neben Bürgerinitiativen stellen. Doch wenn wir, nachdem die Medien uns über die ausbeuterische Personalpolitik eines Drogeriekonzerns informiert haben, diesen in unserer Eigenschaft als Verbraucher durch Abstimmung mit den Füßen in die Knie zwingen, verlieren tausende unschuldiger Menschen ihre Arbeit und die Staatsgewalt macht das Ergebnis des Verbraucherwillens mit Krediten rückgängig, die wir als Steuerzahler finanzieren müssen. Ein beliebter Weg, sich dem Zugriff der Staatsmacht wie der Wirtschafts­ macht zu entziehen und quasi autonom zu wirtschaften ist die sogenannte Schattenwirtschaft mit Steuerhinterziehung im Großen und im Kleinen und der Umgehung wirtschaftspolitischer Regeln mittels »Schattenbanken« oder durch Schwarzarbeit bzw. die Beschäftigung von Schwarzarbeitern. 1999–2003 wurde in 145 Ländern auf diese Weise im Durchschnitt ein Drittel des Brutto­ sozialprodukts erwirtschaftet, mancherorts waren es zwei Drittel, in Deutsch­ land 16,8%.94 Aber auf diese Weise werden wir unsere Probleme nicht los, denn erstens beteiligt sich der Staat selbst mit Schattenhaushalten und Pseudopriva­ tisierungen, zweitens nutzen etablierte Firmen diese zusätzlichen unbelasteten Verdienstmöglichkeiten, drittens etablieren sich auch hier unverzüglich Märkte mit eigenen, manchmal kriminellen Gesetzen, viertens schafft sich auch dieses System seine eigene Moral der Verweigerung. Der Anthropologe hat offensichtlich keine Lösungen anzubieten. Das ist auch nicht seine Aufgabe. Allenfalls mag seine Diagnose kompetenteren Leu­ ten als Hinweis bei der Suche nach Therapie dienen.

94 Friedrich Schneider  : Shadow Economies All Over the World  : What Do We Know  ?, in  : Bengt-Arne Wickström (Hg.)  : Finanzpolitik und Schattenwirtschaft. Berlin 2010, S. 9–65, hier 50–54  ; Jahrbuch Schattenwirtschaft 1 (2006/07), 2 (2010/11). Zum Problem der Steu­ ermoral bereits  : Günter Schmölders/Burkhard Strümpei  : Vergleichende Finanzpsychologie. Besteuerung und Steuermentalität in einigen europäischen Ländern. Mainz 1968.

Von Affen und Menschen Anthropologie zwischen Biologie und Geschichte

I

Die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften ist ein Erbe des latent manichäischen abendländischen Dualismus seit Plato und Descartes. Inzwi­ schen hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Mensch einerseits ganz und gar Leib, das heißt Natur ist, und dass andererseits diese seine Natur darin besteht, ganz und gar Kulturwesen zu sein, das heißt eine sich selbst herstellende Spezies. Unsere Frage läuft deshalb darauf hinaus, ob unter diesen veränderten Umständen die beiden wichtigsten Wissenschaften vom Menschen weiterhin getrennte Wege gehen müssen, oder ob sich angesichts der Konvergenz in der Sache auch eine Konvergenz des Wissens und der Verfahren zu seiner Gewinnung abzeichnet. Grundlage meiner Überlegungen bilden 40 Jahre Erfahrung mit ethnologisch inspirierter historischer Anthro­ pologie, die sich heute einerseits mit ihrem neo-historistischen symbolischen Turn krampfhaft gegen so genannten »kruden Biologismus«1 abzuschotten versucht, andererseits aber auf Schritt und Tritt auf Erkenntnisse der Natur­ wissenschaften vom Menschen angewiesen bleibt. Das wird besonders deut­ lich bei der Auswertung von Bodenfunden von den Anfängen der Mensch­ werdung bis zu Schillers Schädel und bei allen Themen, die mit Familie, Bevölkerungsentwicklung, Krankheit, Ernährung, Lebenszyklus, Tod und dergleichen zu tun haben. Der historische Missbrauch der biologischen Anthropologie durch den Na­ tionalsozialismus und die US-amerikanischen Konflikte um Minderheiten und Rassismus hatten deutsche historische Anthropologen besonders hoch sensibi­ lisiert. Extreme Formen politischer Korrektheit mit Pauschalverdacht gegen die Biologie waren die Folge. Aber Rassismus lässt sich nicht überwinden, indem man den Begriff »Rasse« abschafft und den weiteren Gebrauch des missbrauch­ ten Wortes mit einem Tabu belegt. Selbstverständlich gibt es Menschenrassen so gut wie Hunderassen  ; sie heißen heute nur anders. Statt das Problem künst­ 1 Originalton aus dem früheren Herausgeberkreis der Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft«, als ich Eibl-Eibesfeldt (Anm. 3) zitierte.

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lich zu vernebeln, sollte man besser die empirische Unschärfe dieser Kategorie und ihre fehlende Eignung für Wertungen deutlich machen. Unter diesen Umständen hatten Ansätze zu historisch-anthropologischer Forschung in Deutschland nach 1945 wenig Chancen, während in England und Frankreich schon früh Anregungen der Ethnologie aufgegriffen wurden. Es gelte, die historischen Gesellschaften Europas zu studieren wie früher ir­ gendwelche »wilden Völker«, hieß das. Erst als Clifford Geertz mit gezielter Frontstellung gegen eine sich naturwissenschaftlich gebärdende Völkerkunde die Hermeneutik wieder zu Ehren gebracht und Kulturen als ein Geflecht vom Menschen gemachter Symbole definiert hatte, schufen sich die Deutschen eine historische Anthropologie nach diesen Vorgaben. Denn sie konnten auf diese Weise bleiben, was sie waren, hermeneutische Exegeten von Texten und Wel­ ten, und die Bedeutung der Geschichte auf die Geschichte von Bedeutung beschränkt halten. Gewiss hat dieses Verfahren seine Vorzüge, denn unsere Welt ist in der Tat voll von Symbolen, angefangen mit der Sprache. Aber reduktionistischer Mo­ nopolanspruch halbiert die historische Wirklichkeit, denn »manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife«2, ein Gebrauchsgegenstand ohne irgendeine symbolische Besetzung. Und in den elementaren Bereichen von Geburt, Lei­ den, Schmerz und Tod ist Symbolbesetzung allenfalls ein sekundärer Versuch, die Wirklichkeit zu bewältigen. Deshalb erscheint mir eine ältere und weiter gefasste Variante historischer Anthropologie auf die Dauer wissenschaftlich Ertrag versprechender zu sein, ich meine historische Anthropologie als die Wissenschaft vom geregelten menschlichen Verhalten, wobei diese Regeln den Inbegriff der jeweiligen Kul­ tur darstellen. Mit dieser Sicht der Dinge können wir nicht nur unbefangen unsere heuristischen Netze weiter auswerfen als die Symbolisten, sondern ge­ raten von selbst in die Nähe zur Biologie, die ja einen Zweig vergleichende Verhaltensforschung kennt und darin auch den Menschen einbezieht.3 Dabei ergeben sich bemerkenswerte Beobachtungen. Wenn zum Beispiel Fische Millionen von Eiern und Spermien ins Wasser abgeben, kann von irgendeiner Fürsorge für die Nachkommen nicht die Rede 2 Wolfgang Reinhard, Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife. Plädoyer für eine ma­ terialistische Anthropologie, in  : Saeculum 56/1 (2005), S. 1–16. 3 Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Human­ ethologie, 3. Aufl., Weyarn 1997  ; ders., Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. Ethologie, 8. Aufl., München/Zürich 1999  ; Peter Kappeler, Verhaltensbiologie, 2. Aufl., Ber­ lin 2009.

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sein  ; Hauptsache, wenigstens ein paar davon überleben und pflanzen sich fort. Ganz anders die Brutpflege bei den meisten Vögeln und Säugetieren, die bei den Primaten und beim Menschen besonders lange dauert. Nichtsdestowe­ niger setzte aber auch der Mensch in Zeiten einer Kindersterblichkeit von 50 und mehr Prozent zahlreiche Nachkommen in die Welt, die er zwar liebte, aber notfalls zu entbehren und zu ersetzen wusste. Nicht selten erhielt ein nachge­ borenes Kind den Namen eines verstorbenen. Heute hingegen überleben die Kinder und das vorherrschende Einzelkind ist ein kostbares, vielfach »gepfleg­ tes« Gut. Oder nach dem naturgeschichtlichen ein nicht minder aktueller kulturge­ schichtlicher Sachverhalt  : Wer heute ein bisschen nachdenklich lebt, müsste sich eigentlich fragen, wozu vieles von unserem alltäglichen Berufs- und Wirt­ schaftsverhalten eigentlich gut sein soll. Denn ein unmittelbarer und nachhal­ tiger Nutzen steriler Büroarbeit mit oder ohne Computer oder endloser Sitzun­ gen ist bei scharfem Hinsehen so wenig zu erkennen wie beim wirtschaftlichen Wachstum um des Wachstums willen. Offenbar geht es letztlich darum, den Menschen kontinuierlich zu beschäftigen wie einst seinen Vorfahren beim Ja­ gen und Sammeln. Offensichtlich unterliegt unser Organismus einem Zwang zur Geschäftigkeit. Weil sich die Tätigkeiten aber nicht mehr wie einst von selbst ergeben und der Mensch ohne Aktivität nicht leben kann, hat er »ins­ tinktiv« seine Kulturwelt so organisiert, dass sie ihm ständig zu tun gibt, wobei ihm aber der direkte soziale Sinn der Sache ebenso abhandengekommen ist, wie der indirekte biologische. Freilich gehören zur Aktivität auch das Spiel sowie als Komplementärphäno­ men die Ruhe. Beides lässt sich ebenfalls bei Tieren beobachten. Allerdings ha­ ben alte Kulturvölker die Muße höher bewertet als die Arbeit. Die Möglichkeit der Muße galt ihnen als besondere Errungenschaft des Menschen. Christliche Theologen hielten sie sogar für den Inbegriff der ewigen Seligkeit. Es blieb dem Europäer des Spätmittelalters und der Moderne vorbehalten, die Arbeit zu re­ habilitieren und zu legitimieren. Heute ist sie zum Wert an sich geworden, und, wie gesagt, teilweise zum leeren Aktivismus verkommen. Gleichgültig, ob es sich bei der Aufwertung der Arbeit um einen evolutionären »Rückfall« oder um die Korrektur eines evolutionären Fehlers gehandelt hat – die weltgeschichtli­ che Schlüsselfunktion dieser Entwicklung steht außer Frage. Freilich ist dieses Problem bisher weder biologisch noch historisch geklärt. Vermutlich würde ein Biologe mit der Interpretation unseres Alltagsverhaltens ohnehin nicht so weit gehen wollen. Auf Deutungen beobachteten Verhal­ tens laufen seine Untersuchungen jedoch ebenfalls hinaus. Denn die Fragen

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Tinbergens nach den proximaten Ursachen des Verhaltens im Körper, nach seiner Entwicklung in der Ontogenese des Individuums und nach seinem phy­ logenetischen Ursprung sowie nach seiner ultimaten Funktion für Anpassung, Überleben, Fortpflanzung lassen sich so wenig durchgehend experimentell be­ antworten wie die Zuschärfung der letztgenannten durch die Soziobiologie, die zu wissen vorgibt, wie ein bestimmtes Verhalten den genetischen Erfolg des Individuums beeinflusst. Dass alles Verhalten letztlich genetisch bedingt ist, braucht kaum bewie­ sen zu werden, denn es läuft auf eine Binsenweisheit hinaus. Die genetische Determiniertheit eines bestimmten Verhaltens hingegen ist oft nicht eindeu­ tig nachzuweisen,4 erstens weil der Weg vom Genotyp zum phänotypischen Verhalten sich nur selten genau verfolgen lässt, zweitens weil operationalisier­ bare Verhaltenseinheiten schwer zu definieren sind, drittens weil Verhalten oft nicht isoliert stattfindet, sondern mit weiterem vergangenen und zukünftigen Verhalten zusammenhängt, viertens weil es interindividuelle Variabilität von Verhalten nach Geschlecht, Alter und Umwelt gibt.5 Der Verhaltensbiologe ist daher oft darauf angewiesen, seine empirischen Befunde ganz ähnlich zu inter­ pretieren wie der Historiker die seinigen. Wenn er dabei vorzugsweise mit der Aufstellung und Überprüfung von Hypothesen arbeitet, so macht er damit nur explizit, was Historiker implizit ebenfalls tun und sogar tun müssen. Mit gu­ ten Gründen wird heute von Philosophen für die Konvergenz von kritischem Rationalismus und Hermeneutik plädiert – Popper und Gadamer hätten sich näher gestanden, als sie selber wussten.6 Ohne damit einer Einheitswissenschaftslehre das Wort reden zu wollen, lässt sich der versuchte Brückenschlag zwischen den Disziplinen auch dadurch er­ leichtern, dass man den geschichtlichen Zusammenhang beider Wissenschafts­ kulturen bedenkt. Die synthetische Theorie der Evolution, in der Selektion nach Charles Darwin mit Vererbung nach Gregor Mendel, den Darwin nicht kannte, in weiterentwickelter Gestalt miteinander verknüpft sind, wurde zum zentralen organisierenden Prinzip der modernen Biologie. Aber die Vorstellung von der natürlichen Selektion, die ihr zu Grunde liegt, ist ihrerseits kulturwis­ senschaftlichen Ursprungs. Das ist schon deswegen nicht erstaunlich, weil zu Zeiten ihrer Urheber im 19. Jahrhundert die Schotten zwischen verschiedenen Wissenschaften noch nicht so dicht geschlossen waren wie heute. Eine gewisse 4 Eibl-Eibesfeldt, Grundriß (Anm. 3), S. 315–324. 5 Kappeler (Anm. 3), S. 4 f., 14, 457–463. 6 Vgl. z. B. Dario Antiseri, Contro Rothbard. Elogio dell’ermeneutica, Soveria Mannelli 2011.

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Vielseitigkeit von Gelehrten wurde immer noch geschätzt. Demgemäß ließ sich Charles Darwin (1809–1882) für seine Theorie der Entstehung der Arten zu­ nächst durch den Gradualismus der Epoche machenden Principles of Geology (1830–1833) des Charles Lyell (1797–1875) und von praktischen Erfahrungen mit Tier- und Pflanzenzüchtung inspirieren. Der Durchbruch kam dann mit seiner Lektüre des Essay on the Principles of Population (1798) von Thomas Robert Malthus (1766–1834).7 Malthus beschäftigte sich als Mathematiker und Theologe auch mit politi­ scher Ökonomie. Seine genannte Schrift war als empirische Kritik revolutio­ närer Gleichheitsutopien einerseits, der englischen Armenfürsorge andererseits gemeint. Ihre These läuft vereinfacht darauf hinaus, dass die Lebensmittelpro­ duktion angeblich in arithmetischer, die Bevölkerung aber in geometrischer Reihe wachse, witzig formuliert  : »Denn Nahrung wächst wie eins, zwei, drei, der Mensch wie eins, zwei, vier, o weih.«

Erhöhte Sterblichkeit müsse diese Entwicklung nachträglich korrigieren, durch Verelendung, Hungersnöte und Seuchen, die bei Malthus »positive checks« ge­ nannt werden, sofern ihr nicht vorher mit »preventive checks« wie der Reduzie­ rung der Geburten durch verbreitete Ehelosigkeit begegnet werde. Allerdings laufe letztere wegen des unzähmbaren Geschlechtstriebs notwendigerweise auf Zunahme des Lasters hinaus.8 Insofern taucht bereits hier die Frage nach dem Verhalten und seinen biologischen Konsequenzen auf  ! Für Darwin musste eine derartige exponentielle Zunahme einer Population zu einem verzweifelten Kampf um die knappen Lebensmittel führen. Weil Darwin wusste, dass Tier- und Pflanzenpopulationen noch sehr viel schneller wachsen als menschliche, war für ihn dort mit einem noch unerbittlicheren Kampf ums Dasein zu rechnen. Er schloss daraus, dass unter solchen Um­ ständen jede Variante, die einem Individuum irgendeinen Vorteil über seine Genossen verschaffe, eine Chance zum Überleben habe, während jede nachtei­ 7 Thomas Robert Malthus, Das Bevölkerungsgesetz, München 1977. Die zweite, neu bearbei­ tete Auflage von 1803 war erheblich um Beobachtungen aus den verschiedensten Ländern er­ weitert, die sechste Auflage letzter Hand von 1862 abermals ergänzt  : Thomas Robert Malthus, An Essay on the Principle of Population. The sixth edition (1862) with variant readings from the second edition (1803), in  : Edward A. Wrigley/David Souden (Hg.), The Works of Thomas Robert Malthus, 6 Bde., London 1986  ; hier Bde. 2–3. 8 Malthus, ebd., Bd. 2, S. 7–21.

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lige Variation dazu neige, eliminiert zu werden.9 Bezeichnenderweise griff auch Alfred Russel Wallace (1823–1913), der unabhängig von Darwin gleichzeitig dieselbe Theorie entwickelte, in genau demselben Sinn auf Malthus zurück.10 Das mag lange her sein, aber noch heute ist die Sprache der modernsten Biologie und anderer Naturwissenschaften voll von kulturellen Metaphern aus der Welt der Schriftsprache und des Buches sowie neuerdings auch aus der In­ formatik. Das sind häufig sogar dieselben, die sich in den Kulturwissenschaften seit dem so genannten »linguistic turn« oder dank Michel Foucault aktueller Beliebtheit erfreuen. Zum Beispiel wird das menschliche Genom selbstver­ ständlich mit lateinischen Buchstaben geschrieben, ist »codiert« und stellt ein »genetisches Programm« dar. Den genetischen »Code« gilt es zu »entziffern« usf. Mit diesem metaphorischen Sprachgebrauch geht freilich eine Unschärfe einher, wie sie für Narrative immer in Kauf genommen werden muss. Nur Mathematik kann eine vollkommen eindeutige Sprache sein. Aber Metaphern brauchen deswegen nicht »unwissenschaftlich« sein. Denn sie stellen oft genug Versuche oder sogar die einzige Möglichkeit dar, das Unlesbare lesbar und das Unerklärbare erklärbar zu machen.11 Allerdings kann eine Metapher auch in die Irre führen, sogar den Natur­ wissenschaftler. Zum Beispiel lässt sich durchaus bestreiten, dass das Genom ein »Programm« sei. Das heißt, die Gene als nicht-lebendige Moleküle könn­ ten zwar als »Daten« interpretiert werden, das »Programm« für den Bauplan des Menschen aber ist epigenetisch, das heißt, es ist anderswo im Prozess der Expression der Gene selbst zu suchen, was wiederum mit einer Metapher aus der Informatik, nämlich der modischen vom »Netzwerk« anschaulich gemacht werden soll. Die Metapher vom Genom als Bauprogramm hingegen stellt ei­ nen Rückfall in biologisch überholte präformistische Vorstellungen dar, nach denen alles bereits im Keim angelegt sein sollte.12 Nichtsdestoweniger unterliegt auch und gerade die biologische Verhaltensfor­ schung wegen der innerfachlichen Dominanz der Molekularbiologie und Gene­ tik einem Zwang zur direkten genetischen Begründung all ihrer Befunde. Das ist   9 David Young, Die Entdeckung der Evolution, Basel/Boston/Berlin 1993, S. 130. 10 Young, ebd., S. 141. 11 Sigrid Weigel, Der Text der Genetik. Metaphorik als Symptom ungeklärter Probleme wis­ senschaftlicher Konzepte, in  : Sigrid Weigel (Hg.), Genealogie und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte, Berlin 2002, S. 223–246, ein Beitrag, der seinerseits selber mit einschlägiger Sprache angereichert ist. 12 Henri Atlan, DNS – Programm oder Daten  ? Oder  : Genetik ist nicht in den Genen, in  : Wei­ gel, Genealogie und Genetik (Anm. 11), S. 203–222.

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aber erstens, wie gesagt, nicht immer machbar und außerdem verliert zweitens bereits der Versuch dazu mit zunehmender Komplexität der kulturellen Dimen­ sion des Verhaltens an Plausibilität, auch wenn er metaphorisch immer noch möglich bleibt. Die Rede der Soziobiologie vom »egoistischen Gen«, nach der Altruismus schlicht auf einen Beitrag zur genetischen Gesamtfitness der Familie hinausläuft, trifft aber nur auf Verwandtenaltruismus, allenfalls noch auf Grup­ penaltruismus oder Mutualismus zu. Altruismus kann jedoch viel weiter reichen. Welche genetische Fitness hätten zum Beispiel der barmherzige Samariter, Janus Korszak oder Maximilian Kolbe durch ihr Verhalten erhöhen können  ? Unser Versuch eines verhaltensanthropologischen Brückenschlags zwischen Biologie und Historie verfängt sich daher in paradoxen Widersprüchen. Auf der einen Seite funktioniert Genetik ganz und gar nicht als Universalschlüssel zur Erklärung des Menschen und seiner Aktivitäten. Auf der anderen Seite ist aber das kulturelle Verhalten des einzelnen Menschen und seiner Gruppen kei­ neswegs beliebig, sondern folgt weitgehend biologisch vorgegebenen Mustern. Wir werden sogar zeigen können, dass selbst die Entstehung überpersönlicher historischer Strukturen nach den Regeln der biologischen Evolution stattfindet oder zumindest stattfinden kann. Doch wie kann das sein, wenn gleichzeitig behauptet wird, der Mensch habe die Entwicklung seiner Art zumindest teil­ weise von der Evolution abgekoppelt  ? Werfen wir zur Klärung einen Blick auf paradigmatische Exempel »biologischer Geschichte«  !

II

Erstens  : Der Mensch teilt mit vielen Tieren den individuellen oder kollektiven Anspruch auf ein Territorium, dessen Grenzen er markiert und verteidigt oder sogar aggressiv erweitert. Das biologische Muster für das Schild »Baden-Würt­ temberg«, das die Landesgrenze an der Autobahn markiert, ist der präzise plat­ zierte Kothaufen des Dachses auf dem Grenzstein. Es gibt für jeden Inhaber eine optimale Territoriumsgröße, die sich aus der Differenz zwischen den kont­ rollierten Ressourcen und dem Aufwand zu ihrer Kontrolle errechnen lässt. Für manche Vögel ist der Einfluss solcher Maßstäbe nachgewiesen,13 für menschli­ che Gemeinwesen wurden sie von Politikwissenschaftlern ermittelt. Konflikte um Behauptung und Erweiterung des Territoriums liefen bereits bei den Schimpansen auf blutige Kämpfe hinaus. Affen und Menschen unter­ 13 Kappeler (Anm. 3), S. 176–78.

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scheiden sich im elementaren Sozialverhalten, man könnte auch sagen  : in den Grundlagen ihrer Kultur nur wenig voneinander. Denn entgegen den Vorstellun­ gen mancher Öko-Romantiker waren auch die Jäger und Sammler und andere naturnah lebende Menschen alles andere als friedlich, sondern führten mörderi­ sche Kriege. Außerdem stehen sie im begründeten Verdacht, ohne Rücksicht auf Verluste einen Teil der jagdbaren Tiere ausgerottet zu haben. Immerhin fällt auf, dass bei Affen wie Menschen Konflikte mit unmittelbaren Nachbarn tendenziell weniger intensiv ablaufen als solche mit fremden Eindringlingen.14 Auch heute werden politische Konflikte zwischen Bayerisch-Schwaben und Oberbayern un­ verzüglich beigelegt, sobald der gesamte Freistaat angegriffen wird. Zweitens hat es weit reichende Folgen, dass mit kollektiver Territorialität offensichtlich Abneigung zwischen Gruppen verbunden ist. Rudyard Kipling, der Barde des britischen Imperialismus, hat diese Empfindung glänzend in Verse gegossen  : »Father and Mother, and Me, Sister and Auntie say All the people like us are We, And every one else is They. And They live over the sea, While We live over the way, But would you believe it – They look upon We As only a sort of They. […] But if you cross over the sea, Instead of over the way, You may end by (think of it.) looking on We As only a sort of They.«15

Wer ist wie wir und wer mit uns lebt, der gehört dazu – wer anders ist als wir und wer andere Gewohnheiten hat, etwa was Kleidung, Ernährung, Gesund­ heit angeht, der gehört nicht dazu, ist fremd. Ihm oder ihr gegenüber haben wir, behutsam ausgedrückt, Vorbehalte, mindestens ein gewisses Distanzbe­ dürfnis, vielleicht ein mehr oder weniger ausgeprägtes Misstrauen. 14 Ebd., S. 179. 15 http://www.poetryloverspage.com/poets/kipling/we_and_they.html (zuletzt 10.11.2016), aus Debits and Credits 1919–1923.

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Diesen Geisteszustand nennen wir Xenophobie. Der Begriff ist 1901 von Ana­ tol France erfunden worden.16 Altgriechisch heißt Xénos 1.  Fremder, 2. Gastfreund, eine bemerkenswerte Doppelbedeutung. Denn einerseits überwindet Gastfreundschaft die Feindseligkeit, die mit Fremdheit oft genug einhergehen mag, aber nicht vollständig, sondern häufig nur begrenzt und befristet. Die­ ser völkerkundlich weit verbreitete Sachverhalt wird von einem italienischen Sprichwort trefflich formuliert  : »Der Gast und die Fische – nach drei Tagen stinken sie« (»L’ospite e le pesce – doppo tre giorni puzzano«). Phóbos heißt 1. Scheu, Furcht, Schrecken, 2. was sich daraus ergeben kann  : Flucht. Auch hier wird durch die Mehrdeutigkeit bereits darauf hingewiesen, wie vielgestaltig die Scheu vor dem Fremden ausfallen kann. Xenophobie, die Scheu vor dem Fremden, ist nicht nur ein anthropologi­ sches, sondern sogar ein biologisches Universalphänomen.17 Bereits Populati­ onen ein und desselben Bakteriums, die sich nur durch ein einziges serologi­ sches Merkmal unterscheiden, sondern sich auf dem Objektträger unter dem Mikroskop sorgfältig voneinander ab. Offensichtlich geht es gar nicht anders und ist in gewisser Hinsicht sogar gut so. Diese These ist allerdings auf den ersten Blick politisch höchst inkorrekt. Soll damit etwa Ausländerfeindlichkeit gerechtfertigt werden  ? Zutiefst verunsichert schützen wir uns deshalb vor der Einsicht, dass deren Exzesse mit einer Grunddisposition des Menschen zusam­ menhängen, ganz einfach dadurch, dass wir letztere Tatsache nicht wahrhaben wollen. Wie für Palmström bei Christian Morgenstern gilt auch hier  : »Und so schließt er messerscharf Dass nicht sein kann, was nicht sein darf.«18

Leider richtet sich auch die Wissenschaft oft genug nach solchen politischen Tabus. Dabei läuft ein Tabu für einen Wissenschaftler doch eigentlich auf die Aufforderung hinaus, herauszufinden, was sich dahinter verbirgt – vor der so­ genannten linguistischen Wende hätte man gesagt  : wie es sich in Wirklichkeit verhält. Wenn wir deshalb die Xenophobie einem gründlichen zweiten Blick unter­ werfen, stellt sich nämlich heraus, dass das behutsam mit Scheu vor dem Fremden umschriebene anthropologische Universalphänomen, wie nicht anders zu 16 https://de.wikipedia.org/wiki/Fremdenfeindlichkeit (zuletzt 10.11.2016). 17 Mündliche Mitteilung des Immunologen Thomas Böhm, Freiburg, am 23. Januar 2014. 18 Stuttgarter Ausgabe der Werke Christian Morgensterns, Bd. 3, 1990, S. 119 f.

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erwarten, in den verschiedensten, zum Teil höchst unerfreulichen historischen Varianten auftritt. Das wissenschaftliche Problem ist nicht, ob es Xenophobie gibt oder nicht, sondern besteht darin, herauszufinden, welche Gestalt sie un­ ter welchen Bedingungen annimmt. Der des Rassismus unverdächtige Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908– 2009) geht ganz selbstverständlich davon aus, dass es Menschenrassen so gut wie Hunde- oder Schweinerassen gibt. Das lehrt »die unmittelbare sinnliche Evidenz, wenn man einen Afrikaner, einen Europäer, einen Chinesen und einen Indianer nebeneinander sieht«19. Dennoch wollen die Deutschen bis heute ihre rassistische Erblast durch ein weiteres Tabu aus der Welt schaffen und behaupten einfach, es gebe keine Rassen. Denn laut Lévi-Strauss schwankt der moderne Mensch »zwischen den beiden Versuchungen, entweder die Er­ fahrungen, die ihn affektiv stören [wie Fremdenhass und Rassismus (W. R.)] zu verurteilen, oder die Unterschiede, die er intellektuell nicht versteht, zu leugnen«20. Die intellektuelle Erbsünde des Rassismus besteht aber nicht in der Aner­ kennung der Tatsache, dass es Rassen gibt, sondern in den Unterstellungen, dass diese Rassen erstens biologisch unterschiedlich begabt seien, dass Rein­ rassigkeit daher zweitens diese Begabung besonders verwirkliche, dass drittens kulturelle Unterschiede rassisch bedingt und dass viertens Rassen infolgedessen mehr oder weniger wert seien. In Wirklichkeit hat die Vielfalt menschlicher Kulturen nichts mit Rassen zu tun, sondern ist ein Produkt von Geschichte und Umwelt. Damit mag das Phänomen des expliziten Rassismus bewältigt sein, hingegen nicht dasjenige der impliziten Xenophobie. Lévi-Strauss kritisierte die Entleerung des Begriffs »Rassismus« zu einer uni­ versalen Soße, mit der sich alles anrühren lässt, was manchen Leuten nicht passt, vor allem die nach seiner Auffassung legitimen Formen der Xenophobie, die er als berechtigten Ethnozentrismus verteidigt. Verschiedenheit erregt Anstoß. »Die älteste Haltung – die zweifellos auf soliden psychologischen Grundlagen beruht, weil sie bei jedem von uns auftritt, wenn er sich einer unerwarteten Situation gegenüber sieht – besteht darin, alle kulturellen Formen, moralische, religiöse, gesellschaftliche, ästhetische, die am weitesten von denen entfernt sind, mit denen wir uns identifizieren, schlicht und einfach abzulehnen.« Am weitesten kann sogar heißen, die Fremden aus der Menschheit auszuschließen. 19 Claude Lévi-Strauss, Race et histoire, Paris 1952, deutsch  : ders., Rasse und Geschichte, Frankfurt 1972, S. 19. 20 Ebd.

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Der Kollektivbegriff Menschheit für alle Menschen ist nämlich ziemlich jung, er wird erst im 18. Jahrhundert gebräuchlich.21 Die längste Zeit endete die Menschheit wie bei den Schimpansen an der Grenze des Stammes oder des Dorfes, so dass viele sogenannte Wilde sich Namen gegeben haben, die einfach »die Menschen« bedeuten. Andere Stämme, Gruppen oder Dörfer bestehen dann aus »Unmenschen, Affen, Läusen« usf.22 »Man kann aber die Einstellung von Individuen oder Gruppen, […] ihre Treue zu bestimmten Werten […]« nicht einfach als »rassistisch« abqualifizie­ ren. »Es ist durchaus nicht sträflich, eine bestimmte Art zu leben und zu den­ ken über alle anderen zu stellen« und für besser zu halten als andere. Daraus ergibt sich zwar kein Recht darauf, die abgelehnten Werte und ihre Vertreter zu unterdrücken, aber in diesen Grenzen hat eine solche Haltung nichts Em­ pörendes an sich, denn sie ist der Preis für die Bewahrung des Wertsystems. Wahrscheinlich gibt es sogar ein Optimum von Verschiedenheit zwischen Kul­ turen, das nicht über-, aber auch nicht unterschritten werden sollte. Sie igno­ rieren sich nicht, sondern machen begrenzte Anleihen beieinander. Denn in ihrer Verschiedenheit besteht der kulturelle Reichtum der Menschheit.23 Xenophobie hat also eine legitime Funktion. Sie stiftet die Zugehörigkeit des Individuums und der Gruppe durch Distanz zu Anderen. Identität beruht insofern immer auf Alterität. Die Andersheit des Anderen ist elementar immer gegeben und braucht nur wahrgenommen zu werden. Diese Wahrnehmung ist aber immer auch Konstruktion des Anderen. Dabei verläuft die Stiftung von Zugehörigkeit bei Individuen wie Gruppen dann besonders wirkungs­ voll, wenn die Anderen mehr oder weniger deutlich als unterlegen oder sogar minderwertig wahrgenommen werden. Ist es denn überhaupt möglich, den eigenen Wertkosmos rückhaltlos zu bejahen, ohne den der anderen zumindest geringer einzuschätzen  ? Die Menschheit hat in ihrer Geschichte die Schimpansen-Xenophobie er­ folgreich weiterentwickelt und kulturübergreifend drei Typen abwertender Konstruktion der Anderen erfunden, die wir trotz Lévi-Strauss nicht mehr als legitime Xenophobie ansehen können. Der Andere wird entweder als kulturell unterlegen wahrgenommen. Chinesen, Japaner und Griechen verachteten ihn als Barbaren. Oder er wird als Ungläubiger ausgeschlossen wie von den mono­ theistischen Juden, Christen und Muslimen. Oder als Angehöriger einer ras­ 21 Jacob & Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, 1885, Sp. 2077–2087. 22 Lévi-Strauss, Rasse und Geschichte (Anm. 19), S. 16–18. 23 Ebd., S. 14.

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sisch minderwertigen Gruppe disqualifiziert, was erst mit der Rassenbiologie möglich wurde. Für die ersten beiden Typen gibt es Heilmittel  : Wilde lassen sich zivilisieren und Ungläubige bekehren, für den letztgenannten hingegen nicht  : Rassische Minderwertigkeit ist unheilbar. Drittens führen wie bei den Schimpansen aber nicht nur Territorialität und Xenophobie zur Gewaltanwendung. Der Mensch war bekanntlich nicht der einzige Jäger, sondern Prädation, auf Deutsch  : fressen und gefressen werden, ist Normalzustand in der Tierwelt. Daraus haben sich auf lange Sicht aber bemerkenswerte evolutionäre Wettrennen ergeben. Denn die Fähigkeit, Beute zu finden und zu überwältigen, wird evolutionär ebenso mit zusätzlichen Fort­ pflanzungschancen belohnt wie umgekehrt die Fähigkeit, sich erfolgreich zu verstecken und zu fliehen. Aber ein Vorsprung der Beute wird umgehend durch einen neuen des Jägers wettgemacht, obwohl der Selektionsdruck auf die Beute stärker ist, weil es für sie um Leben und Tod geht.24 Ohne genetischen Kontext lässt sich genau derselbe Vorgang in der jüngeren Geschichte der westlichen Menschheit als kontinuierlicher Rüstungswettlauf zwischen Angreifern und Verteidigern identifizieren. Als das Kettenhemd ge­ gen Pfeile schützte, wurde die Armbrust eingesetzt, dieser wiederum bot der Plattenpanzer Widerstand, der aber Musketenkugeln nicht mehr gewachsen war. Mittelalterliche Stadt- und Burgmauern hielten Belagerungsgeschützen nicht mehr stand, aber die neuen, kunstvollen, flachen, tief gestaffelten Befes­ tigungen à la Vauban lösten den Krieg in langwierige Belagerungen auf. Mit der industriellen Revolution beschleunigte sich das Wettrüsten, immer bessere Gewehre und Kanonen wurden erfunden, immer schwerer gepanzerte Kriegs­ schiffe konstruiert, schließlich Panzerwagen auf dem Land eingesetzt. Die letzte Etappe haben wir selbst erlebt, mit der Auslieferung des gesamten Territoriums an Luftangriffe, dann mit Atombomben, Raketen und Raketenabwehrschilden. Allerdings hat diese Evolution ihr Ende erreicht oder sogar eine Umkeh­ rung erlebt. Die Rüstung, nicht zuletzt mit den kaum einsetzbaren teuflischen ABC-Waffen, hat große Kriege traditioneller Art unmöglich gemacht. Das kündigte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg an. Heute gibt es kaum noch Kriegserklärungen und Friedensschlüsse und auch keine Kriegsminister mehr, sondern nur noch Verteidigungsminister. Heute ist der Krieg von Staaten, de­ ren Evolution er angetrieben hatte, offiziell abgeschafft. Stattdessen gibt es wie­ der den kleinen Krieg, den halbprivaten Waffengang ohne Rücksicht auf die im Lauf der Zeit unternommenen Versuche, den Krieg rechtlich einzuhegen, viel­ 24 Kappeler (Anm. 3), S. 198–203.

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mehr besonders brutal und durchaus mit modernsten Waffen betrieben. Sollte dieser »Rückfall« paradigmatisch für die Folgen von erfolgreichem Ausklinken des Menschen aus der Evolution sein  ? Viertens  : Aus langjähriger Beschäftigung mit Nepotismus und Patronage so­ wie weiteren Erscheinungsformen informeller Interaktion, die ich heute unter dem Begriff »Mikropolitik« zusammenfasse, ergab sich eine neue Perspektive auf Politik, die ebenfalls in eine Anfrage an die Biologie mündet.25 Mikropo­ litik »umfasst alles Handeln, das erstens statt Organisationszielen partikularen Interessen dient, das zweitens weniger individuell oder organisiert als vernetzt stattfindet und das sich drittens unterhalb der institutionalisierten Ebene ab­ spielt. […] Logisch stringent müsste demgegenüber ›Makropolitik‹ jenes poli­ tische Handeln heißen, das sich erstens strikt an allgemeinen sachlichen Inter­ essen des Gemeinwohls orientiert, das zweitens organisiert abläuft und drittens an Institutionen gebunden ist, vor allem an den Staat als die Hyperorganisa­ tion schlechthin. ›Staatshandeln‹ wäre ein angemessenes Synonym für ›Ma­ kropolitik‹, stünden wir nicht unter dem semantischen Zwang binomischer Gegenbegrifflichkeit. Denn das staatliche Hyperorganisationsziel Gemeinwohl wird ja durch Mikropolitik auf Schritt und Tritt in Frage gestellt, und zwar durchaus auch durch organisiertes mikropolitisches Handeln.«26 Zwar haben die Griechen einst das Prinzip erfunden, dass Gesetze und nicht Menschen regieren sollen, und dass diese Regierung von Amtsträgern ausgeübt werden soll, die auf Zeit bestellt und ihren Mitbürgern Rechenschaft schuldig sind. Aber sie sind rasch damit gescheitert. Denn bei ihnen wie überall kommt Makropolitik ohne Mikropolitik nicht vor, weil sie ohne die Mikrodimension überhaupt nicht funktionieren kann. Reine Mikropolitik als Selbstzweck hin­ gegen ist allgegenwärtiger Bestandteil unseres Alltags. Denn sie tritt keineswegs nur in »unterentwickelten Ländern« der Vergan­ genheit und Gegenwart auf, etwa im frühneuzeitlichen Rom, mit dem ich mich besonders intensiv befasst habe.27 Dort wurde die Bevorzugung von Personen aus dem sozialen Nahbereich nicht nur geduldet, sondern war nach

25 Wolfgang Reinhard, Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropolitische Papstgeschichte (Päpste und Papsttum 37), Stuttgart 2009 und  : ders., Die Nase der Kleopatra. Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung. Ein Versuch, in  : HZ 293 (2011), S. 631–666, italienische Fas­ sung  : Politica e storia alla luce dello sguardo micropolitico, in  : C. Altini (Hg.), Democrazia. Storia e teoria di un’esperienza filosofica e politica, Bologna 2011, S.17–61. 26 Reinhard, Die Nase der Kleopatra (Anm. 25), S. 9. 27 Reinhard, Paul V. (Anm. 25).

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Thomas von Aquin sogar sittlich geboten.28 Inzwischen steht sie zwar unter Korruptionsverdacht und wird gerne beschwiegen, ist aber, genauer besehen, auch auf der höchsten Ebene des »Staatshandelns« nach wie vor allgegenwärtig und unentbehrlich. Das lässt sich an Bismarck so gut demonstrieren wie an der gegenwärtigen deutschen Politik. Nur auf den ersten Blick scheint es sich um eine Frage der politischen Mo­ ral zu handeln. Gemeinwohlorientierte Politik gilt generell als moralisch, Mi­ kropolitik hingegen tendenziell als unmoralisch. Doch das ist die Sicht der politischen Klasse aus Juristen und Berufspolitikern, die Makropolitik zu ihrer Sache machen und mit Fiktionen legitimieren, weil sie von ihr leben. Demge­ genüber kann Mikropolitik unter Umständen sogar höheren moralischen Rang beanspruchen, etwa wo beherzte »Korruption« von Mitbürgern die staatlichen Regeln für die Judenverfolgung unterlaufen hat. Streng genommen gehört Mo­ ral sogar zur Mikropolitik, weil diese sich an der geltenden Sitte, den »Mores« orientiert und nicht etwa am Recht. Denn das Recht taucht erst mit der Mak­ ropolitik auf, zu der es seinem egalitären Anspruch nach gehört. Doch wie erklären wir diesen Grundwiderspruch politischen Verhaltens  ? Die Antwort geben uns abermals die Affen. Sie ist evident, auch wenn sie in Details hypothetisch bleiben mag. Das Studium der »Schimpansen-Politik« führte nämlich zu der Einsicht, dass die Menschheit Millionen Jahre mikro­ politischer Praxis hinter sich hat, aber allenfalls zwei- bis dreitausend Jahre Staatshandeln, das sich am angeblichen Interesse des gesamten Gemeinwesens orientiert.29 Ob dieser Sachverhalt durch Auslese der besonders tüchtigen Mi­ kropolitiker bereits zu einer genetischen Verankerung mikropolitischen Ver­ haltens, etwa in Politikerdynastien, geführt hat, oder ob es sich nur um die erfolgsbedingte routinemäßige Weitergabe eines kulturellen Codes handelt, kann hier nicht entschieden werden. Während die klassische Hypothese von der evolutionären Menschwerdung darauf hinausläuft, dass die Entwicklung des Gehirns mit der Zähmung des Feuers und dem Gebrauch von Werkzeugen zusammenhängen müsse, wird seit längerem die alternative Auffassung vertreten, sie sei nicht technologischen, sondern politischen Ursprungs. Denn es sei die ständige Notwendigkeit gewe­ sen, die eigenen Interessen in der Kleingruppe mikropolitisch durchzusetzen, die den Menschen zum Menschen gemacht habe. Kooperation in der Gruppe, aber auch Täuschung und Lüge spielten deshalb in der Evolution eine wichtige 28 Summa Theologiae 2 II q. 63 a. 2 ad 1. 29 Frans de Waal, Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind, München 2009.

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Rolle.30 Der Mensch wäre also von seinen Ursprüngen her definitionsgemäß Mikropolitiker, das »Animal sociale« nur so weit sozial, wie es den eigenen In­ teressen dient, das heißt also viel eher ein »Animal micropoliticum«.31 Fünftens können wir sogar über das menschliche Verhalten hinausgreifen. Denn das ebenfalls in erster Linie mikropolitisch bedingte Wachstum der Staatsgewalt durch »Trial and Error« ließe sich ebenso wie die Ausbildung ande­ rer historischer Großstrukturen durchaus als dem politischen »Biotop« Europa angemessene Evolution beschreiben, die biologischen Regeln folgt, obwohl sie nichts mit der Steigerung individueller genetischer Fitness zu tun hat. Den vielleicht erstaunlichsten Fall einer derartigen Evolution bietet die Kirchenre­ formation des 16. Jahrhunderts, die von Martin Luther ausgegangen ist.32 Aus unterschiedlichen Gründen entstehen kontingent ständig neue Varian­ ten etablierter Religionen. Die meisten davon überleben nicht, sondern wer­ den ignoriert oder ausgemerzt – ich nenne die Katharer oder Thomas Müntzer. Einige wenige sind ungeachtet ungünstiger Umweltbedingungen im kleinen Kreis erfolgreich und behaupten sich dort – zum Beispiel die Waldenser oder die friedlichen Täufer. Denn in kleinen Populationen kann sich die Einheit­ lichkeit einer neuen Art rascher ergeben. Bei wieder anderen stellt sich heraus, dass sie veränderten Umweltbedingungen der betreffenden Religion besser an­ gepasst sind, so dass sie sich auf breiter Front durchsetzen und eine neue Art Religion hervorbringen. Die programmatische theologische Formel »Ecclesia semper reformanda« stellt unter dieser Perspektive ebenso ein unfreiwilliges Bekenntnis zur religiösen Evolution dar wie das »Aggiornamento« des 2. Vati­ kanischen Konzils. Denn der Versuch, diese Evolution durch »Aggiornamento« zu beenden, hat ja bezeichnenderweise gerade nicht funktioniert. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern und Konkurrenten war Luther überwäl­ tigender und dauerhafter Erfolg beschieden, weil seine Theologie die »beste« 30 Volker Sommer, Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, München 1992. 31 Richard W. Byrne (Hg.), Machiavellian Intelligence  : Social Expertise and the Evolution of Intellect in Monkeys, Apes and Humans. Oxford 1988, S. V f., 1–8, 63 u. besonders S. 122– 131  : Frans de Waal, Chimpanzee Politics  ; Andrew Whiten/Richard W. Byrne (Hg.), Machia­ vellian intelligence II  : Extensions and Evaluations, Cambridge 1997. 32 Wolfgang Reinhard, Reformation als Mutation  ? Evolution und Geschichte, in  : Zeitschrift für Historische Forschung 37 (2010), S. 601–615. Vgl. auch  : Wolfgang Reinhard, Warum hatte Luther Erfolg  ?, in  : ders. (Hg.), Fragen an Luther. Vortragsreihe zum Luther-Jahr 1983, München 1983, S. 11–31, aber auch Wolfgang Reinhard, Reichsreform und Reformation 1495–1555 (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 9/II), Stuttgart 2001.

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war, insofern sie den religiösen und politischen Bedingungen und Bedürfnis­ sen ihrer Zeit und Umwelt am besten gerecht wurde. Erstens war Luther als wortgewaltiger und bienenfleißiger Autor ideal der neuen Umweltbedingung des Buchdrucks angepasst. Das war ihm selbst und den Zeitgenossen durchaus bewusst  : »Kurz vor Luthers Zeiten man Druckerei erfand, Gott’s Wort schnell auszubreiten rein ohn’ Menschentand«,

reimte ein sächsischer Lutheraner. Millionen umlaufender Lutherdrucke mach­ ten seine Botschaft bekannt. Und nur dank des Buchdrucks konnte die Heilige Schrift zum Glaubensmedium werden, das der neuen Spezies Christen ihren unmittelbaren Zugang zu Gott eröffnete. Denn obwohl oder gerade weil die Menschen des Spätmittelalters Heils­ gewissheit durch gesteigerte Leistungen in Werken der Frömmigkeit suchten, etwa mit den berüchtigten Ablässen, kam zweitens die befreiende »frohe Bot­ schaft« Luthers einem weit verbreiteten Bedürfnis entgegen  : Quält euch nicht mit überflüssigen frommen Werken. Denn das Heil ist allein durch glauben­ des Vertrauen in Jesus Christus zu erlangen, das euch Gott durch die Bibel ohne alle menschlichen Verdienste schenkt. Diese Variation von Christentum machte die Kirche als Anstalt der Heilsvermittlung samt ihrem Expertenper­ sonal schlicht entbehrlich. Mehr noch, weil sie die Gläubigen auf den Irrweg der Werkheiligkeit geführt hatte, wurde sie zu einer Veranstaltung Satans, ihr Haupt, der Papst zum Antichrist. Der traditionelle Antiklerikalismus sah sich neu gerechtfertigt. Diese Botschaft brachte die mittelalterliche Weltordnung von Kirche und Reich ins Wanken und verkündete insofern nicht nur eine geistliche, sondern auch eine politische Revolution, die vielen Interessen ge­ legen kam. In diesem Sinne kam drittens die theologische Delegitimation des Appa­ rats der alten Kirche deutschen und anderen Fürsten wie gerufen, die sich die vollständige Kontrolle über Kirche und Kirchengüter ihres Herrschaftsbereichs sichern wollten. Ihr Wille zur Macht und zum Geld konnte aber mit persönli­ cher Betroffenheit von Luthers Botschaft durchaus kompatibel sein. Dasselbe gilt für die Reichsritter und vor allem für die Reichsstädte, die sich fast alle noch vor den Fürsten für den neuen Glauben entschieden. Die bekannte Formel »Die Reformation war ein städtisches Ereignis«33 spricht die 33 Arthur G. Dickens, The German Nation and Martin Luther, London 1974, S. 182.

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Herausforderung der Kirche durch die städtische Umwelt an, der die Refor­ mation erfolgreich begegnete. Das war vermutlich sogar ihre wichtigste evo­ lutionäre Anpassungsleistung. Denn die Städte waren nicht nur Kommunika­ tionszentren als Standorte von Druckern und Buchhändlern. In den Städten hatte sich auch eine Schicht von gebildeten Laien entwickelt, die höhere An­ sprüche an den Klerus stellten als bisher. Als städtische Obrigkeiten wussten sie sich die Kontrolle über die Kirchen und Klöster in der Stadt zu verschaffen und die Ausnahmestellung des Klerus in der Gemeinde zu beseitigen. Das war aber nur die Außenseite der reformatorischen Anpassungsleistung. Denn die überflüssige kirchliche Hierarchie sollte viertens schriftgemäß durch das allgemeine Priestertum der männlichen Gläubigen ersetzt werden, das sich in der Gemeinde realisierte. 1523 schrieb Luther, »dass eine christliche Ver­ sammlung oder Gemeinde Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen«.34 Diese Gemeindetheologie entsprach der Genossenschaftsideologie der Städte, in der die Stadt eine christliche Total­ gemeinschaft darstellte, die auch den sakralen Bereich einschloss und unter die Verantwortung der Obrigkeit stellte.35 Das neue gemeindechristliche Konzept blieb aber nicht auf die Städte be­ schränkt, sondern war fünftens auch auf dem Lande attraktiv. Bauern wollten auch ihre Welt nach dem Evangelium neu gestalten. Zur neuen »Freiheit ei­ nes Christenmenschen« gehörte für sie aber auch die Befreiung von unbilli­ gen Leistungen für ihre Herren oder von Herrschaft überhaupt, notfalls mit Gewalt. Luther allerdings sah bei nicht-autorisierter Gewaltanwendung den Satan am Werk und reagierte mit blutrünstigen Repressionsparolen an die Ob­ rigkeiten. Mit seiner Zustimmung konnten jetzt die Fürsten als »Notbischöfe« die Sache in die Hand nehmen, aus der evangelischen Bewegung wurde die »Reformation«, nach damaligem Sprachgebrauch eine rechtsförmige Veranstal­ tung der Obrigkeit, aus der eine neue Kirche hervorging. Das heißt aber auch, bevor die Evolution ihr nicht intendiertes Zwischenziel einer institutionalisierten neuen Art von Christentum erreichen konnte, fand in der deutschen evangelischen Bewegung selbst eine scharfe, bisweilen blutige Selektion statt, bis sich Luther durchsetzte, nach seinem Motto  : »Entweder 34 WA [= Weimarer Ausgabe der Werke Luthers], Bd. 11, S. 408–416. 35 Bernd Moeller, Reichstadt und Reformation, Gütersloh 1962. Der große Erfolg dieses Buches beruht m. E. darauf, dass es ebenfalls eine evolutionäre Anpassung der westlichen Forschung an die wissenschaftliche Umwelt einleitete, die durch die DDR-These von der Reformation als »frühbürgerlicher Revolution« wirkungsvoll verändert wurde.

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jene oder wir müssen Satanspfaffen sein«, womit er nicht etwa seine papisti­ schen Todfeinde, sondern seine evangelischen Konkurrenten meinte.36 Weil er politisch am besten vernetzt war, wusste er seiner Variante den Sieg zu sichern. Die neue Art Gemeindechristentum hingegen blieb, nachdem Luther davon abgekommen war, zunächst auf ein bestimmtes Territorium, in erster Linie die Schweiz und ihre Nachbarn, begrenzt, ein Evolutionsergebnis, wie es auch aus der Biologie bekannt ist. Nichtsdestoweniger war dieser Spezies anschließend eine weitere Verbrei­ tung bestimmt als der lutherischen. Denn Johannes Calvin passte das Ge­ meindechristentum mit seinem Modell Genf theologisch und organisatorisch perfekt an die Bedingungen einer feindlichen oder pluralistischen Umwelt an. Die autonomen oder föderierten Gemeinden der so genannten »Calvinis­ ten« wurden von Oligarchien aus Pastoren und prominenten Ältesten geleitet. Heute ist das evangelische Christentum im größten Teil der Welt reformierten Ursprungs. Offensichtlich prämierte die Selektion die anschlussfähigere An­ passungsleistung  ; das Luthertum hatte sich allzu einseitig auf die Bedingungen des Reichs und seiner Nachbarländer, sein spezifisches Biotop, eingestellt. Von der vorhergehenden Art Christentum, der »alten« oder »römischen Kir­ che«, müsste man auf den ersten Blick erwarten, dass sie von der Selektion aus­ gemerzt verschwinden würde. Stattdessen hat sie sich behauptet und ist heute zur größten Glaubensgemeinschaft mit einer Milliarde Mitgliedern geworden. Ist unsere evolutionäre Reformationsgeschichte damit widerlegt  ? Keineswegs. Auch ihr Überleben lässt sich evolutionär erklären. Es beruht nämlich auf der erfolgreichen Sicherung eines exklusiven südeuropäischen Territoriums für diese Art, verbunden mit einer nachholenden Anpassungsleistung, die Anstöße der Konkurrenten aufgriff. Spontan oder planmäßig wurde man jetzt auch hier den erhöhten spirituellen Ansprüchen gerecht und passte das eigene institutio­ nelle Erbe den Herausforderungen der Umwelt an. Das Ergebnis war der Konfessionskatholizismus, verglichen mit der alten Kirche ebenfalls eine neue Art Christentum. Mit seiner Entstehung war Re­ formation als Evolution aber keineswegs zu Ende. Im Gegenteil, die parallele Ausbildung von drei verschiedenen Varianten von Christentum im ehemals lateinischen Europa führte zum erhöhten Selektionsdruck konfessioneller Konkurrenz, der sich infolge der Symbiose mit politischen Mächten bis zu Glaubenskriegen um das Überleben steigern konnte. Deren Schauplätze waren, 36 »Summa, alter utros oportet esse Sathanae ministros, vel ipsos, vel nos« (WA Briefwechsel Bd. 3, S. 603–607).

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wie nicht anders zu erwarten, die zwischen den konfessionellen Spezies um­ strittenen Territorien, zunächst Frankreich, dann das Reich, schließlich Polen. Evolution ist freilich nie zu Ende, auch religiöse Evolution nicht. Die Verän­ derungen der Umwelt durch die Moderne mussten zu neuen Anpassungsleis­ tungen der verschiedenen Christentümer führen, wenn sie überleben wollten. Besonders spektakulär nehmen sich dabei Veränderungen im römischen Ka­ tholizismus aus. Denn kurz nach seiner überfälligen Anpassung an die Mo­ derne durch das Aggiornamento des 2. Vatikanischen Konzils begann bereits die erfolgreiche Anpassung an die Postmoderne, die von Johannes Paul II. (1978–2005) auf einen ersten Höhepunkt geführt wurde  : eine neue Kirche des Reise- und Medienpapsttums, die emotionale Religiosität durch Mega-Events mobilisiert, lässt Glauben als Innerlichkeit in den Hintergrund treten. Johan­ nes Paul II. wurde deshalb kürzlich sogar als Stifter einer neuen Religion be­ zeichnet.37

III

Wenn es um die Entstehung neuer Strukturen in komplexen historischen Ab­ läufen geht, versteht sich allerdings ein bestimmter Einwand gegen die An­ wendung der biologischen Evolutionstheorie fast von selbst  : Wo bleibt der intentional handelnde Mensch als Urheber der Geschichte  ?38 Aber die Historie hat längst lernen müssen, dass Prozesse und Ergebnisse des Lebens wie der Ge­ schichte keineswegs den Absichten ihrer Urheber entsprechen, sondern durch nicht-intendierte Nebenwirkungen zustande kommen. Adam Smith, auf den sich Malthus ausdrücklich bezieht, fasste die Auswirkungen der Kumulation anonymer Profitinteressen in der Metapher von der »unsichtbaren Hand« zu­ sammen, die den Markt reguliere. Malthus ging von der anonymen Unkon­ trollierbarkeit des Geschlechtstriebs aus, der unausweichlich die Spirale aus Bevölkerungswachstum und kritischer Ressourcenentwicklung in Gang setzen 37 Hubert Wolf, Johannes Paul II. Religionsstiftung auf katholisch  ?, in  : Alf Christophersen (Hg.), Religionsstifter der Moderne von Karl Marx bis Johannes Paul II., München 2009, S. 257–269. 38 Dem entspricht die Haltung der katholischen Amtskirche, die eine Konfrontation mit der Naturwissenschaft wie im Falle Galilei bisher zu vermeiden wusste, im Gegensatz zu protes­ tantischen Kreationisten die körperliche Evolution akzeptiert, aber an der Beseelung durch Gott festhalten will (Gereon Wolters, Ambivalenz und Konflikt. Katholische Kirche und Evo­ lutionstheorie, Konstanz 2010).

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müsse. Schließlich kam natürliche Selektion nach Darwin erstmals ohne inten­ diertes Handeln eines göttlichen Schöpfers aus. Sie folgt blind und autonom ihren Gesetzen, lässt keinen Sinn jenseits der Mechanismen der Arterhaltung erkennen und behandelt Individuen mit grausam unpersönlicher Gleichgül­ tigkeit. In der Geschichte werden wir zwar im Gegensatz dazu auf bewusst handelnde Menschen stoßen, aber historische Prozesse sind ihnen gegenüber nichtsdesto­ weniger ebenfalls blind, denn sie bringen durch das Handeln solcher Personen quasi zufällig Ergebnisse hervor, die von deren Absichten abweichen, wenn sie ihnen nicht sogar widersprechen. Auch Martin Luther wollte keine neue Kirche gründen, sondern die alte zu ihren Grundlagen zurückführen, so wie er sie verstand. Aber seine Variante von Christentum war den Umweltbedin­ gungen besser angepasst und überlebte daher nicht nur, sondern führte zur Entstehung einer neuen Spezies von Christentum. »Was immer die Intentio­ nen selbst der größten Akteure sind, die Geschichte weiß sie für ihre Ziele zu nutzen.« Das war für Droysen das Fazit der Geschichte des Hellenismus.39 Von dessen idealistischer Hypostasierung des historischen Prozesses sind wir freilich inzwischen abgekommen. Denn die Geschichtserfahrung des Menschen läuft für uns in der Regel nicht mehr auf triumphale Selbstbestätigung, sondern auf wütende Ohnmacht hinaus  ! Die Schwierigkeit mit unseren Exempeln, aber auch der Reiz unserer Über­ legungen besteht darin, dass Prozesse wie Rüstungswettlauf, Staatsbildung und Konfessionalisierung nicht auf genetisch bestimmtes Verhalten und auf die biologische Evolution neuer Arten reduziert werden können und dennoch bio­ logischen Regeln und Mustern folgen. Warum ist das so  ? Offensichtlich, weil es sich um denselben Gegenstand, das individuelle und kollektive Leben des Menschen handelt, das immer denselben Regeln folgen muss. Welche konkre­ ten gemeinsamen Faktoren in biologischem und historischem Verhalten, in biologischer und kultureller Evolution wirksam werden, bleibt aber nach wie vor offen. Oder gibt es vielleicht doch einen gemeinsamen Nenner – oder besser  : Zäh­ ler – in Gestalt eines gemeinsamen Antriebs der Evolution wie des menschli­ chen Verhaltens  ? Es klingt banal, aber Leben will nun einmal leben, wobei sein Kampf ums Überleben die verschiedensten Formen annehmen kann. Für den Menschen wurde der Lebenswille philosophisch als Wille zur Macht definiert. 39 Wilfried Nippel in  : Wolfgang Hardtwig/Peter Müller (Hg.), Die Vergangenheit der Weltge­ schichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800–1933, Göttingen 2010, S. 80.

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Das europäische Spätmittelalter hat dafür den Begriff Gier eingeführt (Avaritia oder Habsucht, damals Geiz), scheinbar nur ein wirtschaftliches Phänomen. Aber die Machtgier ist älter und ohnehin nur die Kehrseite der Habgier, denn Geld ist Macht und Macht ist Geld. Deswegen muss sich die Selbstregulierung der freien Wirtschaft durch den Markt als Illusion erweisen. Denn nach dem Freiheitsparadox führt Freiheit unausweichlich dazu, dass die Stärksten ihre Freiheit benutzen, die Freiheit der übrigen einzuschränken oder zu beseitigen. Daraus ergibt sich Wirtschaftswachstum als Selbstzweck, einst segensreich, heute mit selbstmörderischen Langzeitfolgen. Entsprechendes galt für die Po­ litik, für das unaufhaltsame Wachstum des gewalttätigen modernen Macht­ staates, das freilich in den letzten Jahrzehnten Autonomie an die Geldmacht verloren hat. Sicher, so wenig Leben ausschließlich aus Kampf ums Dasein be­ steht, so wenig ist menschliches Handeln ausschließlich durch Gier bestimmt. Dennoch entkommt es nie diesem fundamentalen evolutionären Impuls. Oder vielleicht doch  ? Fällt neues Licht auf das Problem des evolutionären Antriebs, wenn wir einen Blick auf drei Bereiche werfen, wo die Menschen angeblich gerade im Begriff stehen, sich kraft ihrer Kultur von der biologischen Evolution abzukoppeln  ? Werden damit die erwähnten biologischen Regeln au­ ßer Kraft gesetzt  ? In der Tat haben wir erstens mit unserer Medizin die natürliche Selektion außer Kraft gesetzt. Menschen überleben und pflanzen sich fort, die früher keine Chance dazu bekommen hätten. Man mag das nicht nur als medizi­ nisch-technische, sondern auch als humane Errungenschaft einschätzen, sollte aber auch das genetische Risiko und die Explosion der Kosten nicht überse­ hen. Nachdem das genetische Argument ebenso dilettantisch wie verbreche­ risch missbraucht wurde, ist es ebenfalls mit einem Tabu belegt und wird dem Geist unserer Zeit gemäß durch ein Szenario bedrohlicher Kostenentwicklung ersetzt, das die NSDAP und ihre Vorläufer allerdings auch schon benutzten. Doch wie dem auch sei, der Mensch muss für die gewonnene Freiheit mit dem Zwang bezahlen, Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen, die ihm die Natur bisher abgenommen hatte. Zweitens haben wir erstmals die Sexualität vollständig von ihrem evolutio­ nären Hauptzweck, der Fortpflanzung, getrennt. Allerdings sollten wir nicht übersehen, dass die weibliche Mutterrolle, die Mutter-Kind-Vater-Triade und die entsprechenden physischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern kraft Evolution niemals für jedes Individuum zwingenden Charakter hatten. Sie verkörperten eher den statistischen Durchschnitt. Bei den Säugetieren, vor allem bei Primaten wie den in dieser Hinsicht sprichwörtlichen Bonobos hatte

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Sexualität schon immer neben der Fortpflanzungsaufgabe auch eine soziale Funktion, einschließlich homosexuellen Geschlechtsverkehrs. Die Evolution lehrt uns also mehr Großzügigkeit als eine Kirche, die das Geschlechtsleben auf das Kinderkriegen reduzieren wollte.40 Aber die absolute, gesellschaftlich akzeptierte Freiheit zur Wahl einer beliebigen Geschlechtsrolle könnte ohne weiteres Entscheidungen hervorbringen, die zu unserem Aussterben führen würden. Die Frage ist weniger, ob das Aussterben der Menschheit nicht die beste Lösung für Natur und Umwelt wäre, als vielmehr, ob schon früher Arten infolge veränderten Fortpflanzungsverhaltens ausgestorben sind und was gege­ benenfalls die Gründe dafür waren. Drittens bedeutet die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung und die Beendigung des Zwangs zur Mutterrolle ebenfalls erstmals in der Geschichte eine weitgehende Befreiung der Frau, die sich ganz neue Rollen wählen kann. Im Zeichen der Gleichberechtigung haben Frauen schließlich auch ihren An­ teil an der traditionell männlichsten aller Aktivitäten eingefordert und erhal­ ten, an der unmittelbaren Ausübung physischer Gewalt. Eine aus diesem An­ lass durchgeführte Untersuchung hat gezeigt, dass es kaum physische Gründe gibt, weshalb Männer gewalttätiger und vor allem kriegerischer sein sollten als Frauen. Weil aber »erfolgreiche« Kriegerinnen in der Geschichte dennoch ziemlich selten sind, wird der Unterschied in erster Linie auf die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zurückgeführt,41 die heute in Frage steht. Soldatinnen und Polizistinnen sind daher längst ebenso selbstverständ­ lich, wie Verbrecherinnen und Detektivinnen sich Kriminalromane und »Tat­ ort«-Serien erobert haben. Doch die Entscheidungsfreiheit bringt abermals Probleme mit sich. Sollte die Befreiung von der Evolution auf Freiheit zur Ge­ walt hinauslaufen, aus humaner Perspektive also auf einen Rückschritt  ? Oder ist die Befreiung von der Evolution nichts als eine Illusion, weil in Wirklichkeit biologische Regeln weiter wirken, auch wenn wir noch nicht wissen wie  ? Auch wenn vieles von unseren Überlegungen durchaus auf gesicherten wis­ senschaftlichen Erkenntnissen beruht, so bleiben solche Fragen dennoch of­ fen – wie es sich für Wissenschaft gehört. Ich hoffe aber, wenigstens die richti­ gen Fragen gestellt zu haben.

40 Eibl-Eibesfeldt, Grundriß (Anm. 3), S. 750–784. 41 J. S. Goldstein, War and Gender. How Gender Shapes the War System and Vice Versa, Cam­ bridge 2001.

Kritik der hermeneutischen Vernunft Ein Erfahrungsbericht

Dieser Beitrag ist sehr persönlich, aber auch als bloßer Erfahrungsbericht aus der wissenschaftlichen Praxis vielleicht dennoch nützlich. Es geht um meine lebenslange kritische Auseinandersetzung mit dem Auslegen, dem Interpretie­ ren, der Hermeneutik im weitesten und allgemeinsten Sinne. Das heißt zwar Textauslegung, aber auch Interpretation von Artefakten und Sachverhalten bis hin zur Deutung unseres Alltagslebens. Auch eine Bach-Kantate muss interpre­ tiert werden. Eine Aufführung des Bach-Kollegiums Japan hört sich deutlich anders an als eine schwäbische. Aus der heutigen Sicht der Dinge lassen Texte, Artefakte und Sachverhalte nämlich stets verschiedene Interpretationen zu, für manche Leute sogar beliebig viele. Als hartgesottener Realist habe ich daran von Anfang an Anstoß genom­ men. Das begann in meinem sechsten Semester, als ich im Winter 1958/59 die Vorlesung von Max Müller Der deutsche Idealismus und die philosophische Problemlage der Gegenwart hörte. Denn dort wurde ich zum ersten Mal mit der bei Kant und Fichte anzutreffenden und von Schleiermacher propagierten Formel konfrontiert, die höchste Vollkommenheit der Auslegung sei die[,] einen Autor besser zu verstehen[,] als er selbst von sich Rechenschaft geben könne.1 Ich war schockiert, fand das arrogant gegenüber dem Autor und vor allem unwis­ senschaftlich, weil es der Willkür von Auslegern Tür und Tor öffnete. Auch wenn ich inzwischen weiß, warum die Formel im engeren Sinne durchaus an­ gebracht sein kann, ist mir bis heute ein tiefes Misstrauen gegen Ausleger und ihre Hermeneutik geblieben. Das von mir mitherausgegebene Handbuch der Hermeneutik habe ich deshalb mit dem Rat Goethes eröffnet  : Im Auslegen seid frisch und munter  ; legt ihr’s nicht aus, dann legt was unter.2 Meine kritische Aus­ einandersetzung mit Hermeneutik findet großen Teils immer noch im Modus des Ärgernisses statt.

1 Zitiert nach  : Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 2002, 64. 2 Meinrad Böhl/Wolfgang Reinhard/Peter Walter (Hg.), Hermeneutik. Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart. Dichtung, Bibel, Recht, Geschichte, Philosophie, Wien 2013, 11.

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Das jüngste Ärgernis hat mir vor einiger Zeit der Papa emeritus Ratzinger gegeben. Im soeben erschienenen Band 4 seiner Gesammelten Schriften wird ein Beitrag Zur Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe von 1972 abgedruckt, unverändert in der Argumentation mit Bibel und Tradition, aber mit kontra­ diktorischen Schlussfolgerungen. 1972 hatte er die fallweise Zulassung wieder­ verheirateter Geschiedener zur Kommunion als außergerichtlichen Gnadener­ weis in Erwägung gezogen. 2014 bringt er stattdessen wieder die ganze Strenge des Kirchengesetzes zur Anwendung, lässt aber die Hintertür offen, dass mög­ licherweise viele kirchlich geschlossene erste Ehen von so genannten getauften Heiden gar nicht gültig seien.3 Damit würde sich das Problem zwar von selbst erledigen, aber nur in der Theorie, denn der Nachweis des Sachverhalts dürfte im Einzelfall unmöglich sein. Man kann diese ex-päpstliche Kehrtwendung als Opportunismus kritisieren oder als Lernfähigkeit bejubeln – auf jeden Fall dokumentiert sie eine Ärgernis erregende hermeneutische Beliebigkeit. Sie er­ innert an die antiken Sophisten, von denen einer am einen Tag brillant für eine Sache, am nächsten nicht minder brillant dagegen zu reden verstand. Theologen sind dafür besonders anfällig, weil sie sich zur Absicherung ihrer Auslegung stets auf eine letzte Instanz zurückziehen können, die sich zumindest für sie nicht hinterfragen lässt, vor allem, wenn sie deren Position vorher im Sinne des gewünschten Ergebnisses zurechtgebogen haben. Hier wie oft in der Hermeneutik ist unbewusst oder sogar ganz bewusst der Wunsch der Vater des Gedankens, wie Shakespeare treffend formulierte.4 Ein sehr respektabler Denker, dem zu widersprechen mir nicht leicht fällt, formulierte etwa 1946 wie folgt  : Mehr noch als die positiven Ergebnisse der mit äußerster Akribie seit Jahrhunderten aufgebauten Gottesbeweise ist die Geschichte des menschlichen Irrtums und des menschlichen Zweifels in der philosophischen Gottesfrage ein überwältigendes Zeugnis für das Dasein Gottes. Gerade alle Niederlagen der menschlichen Logik an diesem Kulminationspunkt der Metaphysik sind nichts anderes als die Siege jener höchsten Vernunft, die ihre überwältigende Weisheit immer dann am klarsten hervortreten lässt, wenn sie sich am tiefsten verhüllt hinter der Torheit und der Armseligkeit der natürlichen Vernunft.5

Diese Umdeutung eines negativen in ein positives Ergebnis unter Berufung auf eine irrationale, nicht überprüfbare, mystische Instanz läuft auf die hermeneu3 Nach  : Herder Korrespondenz 2014, Heft 12. 4 Thy wish was father, Harry, to that thought  : William Shakespeare, Henry IV, 2. Teil, IV 4. 5 Peter Wust, Ungewissheit und Wagnis, Münster 1946, 179.

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tische Gotteserschleichung hinaus, die Hans Albert den Theologen zum Vorwurf gemacht hat, notabene, weil sie mit wissenschaftlichem Anspruch auftreten.6 Zwar weiß auch Albert, dass der Entdeckungszusammenhang wissenschaftli­ cher Erkenntnisse völlig unwissenschaftlich und sogar abstrus sein kann. Es sei nur an die esoterischen Wurzeln der modernen Naturwissenschaften im 16. Jahrhundert erinnert. Aber auch und gerade ein auf solche Weise gewonn­ ener Befund muss anschließend stringent und nachprüfbar begründet werden. Erst im Begründungszusammenhang wird Wissenschaft daraus. Und hier ha­ pert es bei derartiger Hermeneutik. Im Grunde handelt es sich um eine dubiose Variante des hermeneutischen Zirkels oder genauer der hermeneutischen Erkenntnisspirale. Nur kraft Vor­ wissens und Interesses können und wollen wir überhaupt eine Frage stellen und ein Problem zu lösen versuchen. Auch wenn die anschließende Auslegung des Textes oder Materials zur Bestätigung unseres Vorentwurfs führt, entstehen auf höherem Niveau mit reicherem Wissen neue Probleme. Der Prozess lässt sich ins Unendliche fortsetzen, denn je mehr wir wissen, desto deutlicher sehen wir, was wir nicht wissen. Allerdings handelt es sich eigentlich um einen offe­ nen Ablauf, in den Theologen dann endgültige Gewissheiten hineingemogelt haben. Dieses Vorgehen taucht aber nicht erst bei verunsicherten Katholiken auf, sondern bereits bei Martin Luther, der sich ebenfalls seiner Sache gewiss war, aber nichtsdestoweniger sein Leben lang angefochten blieb. Luther ist aber über die Theologie hinaus wegen seines Einflusses auf deutsches Denken wichtig. Denn vor allem von meinem eigenen Fach, der Geschichtswissenschaft, heißt es zu Recht  : Deutsche Historiker denken mit Luthers Gedanken nicht hinsichtlich der Inhalte ihres Denkens, sondern hinsichtlich der Form und Methode, wobei ein Teil dieser eingefahrenen »Denkgewohnheiten« die deutsche Geschichtswissenschaft von derjenigen anderer Länder unterscheidet.7 Luthers Text ist die Bibel, die er im Lichte seines aus der paulinischen Recht­ fertigungslehre geschöpften christologischen Vorwissens souverän auszulegen versteht. Die Radikalität dieses seines Vorgehens lässt den hermeneutischen Zirkel deutlich werden wie nie zuvor. Man kann das Wort der Schrift nur aus­ legen, wenn man über die Sache Bescheid weiß, um die es der Schrift geht. 6 Hans Albert, Traktat über kritische Vernunft, 2. Aufl., Tübingen 1969, 113 u. ö. 7 Wolfgang Reinhard, Martin Luther und der Ursprung der historistischen Geschichtswissen­ schaft in Deutschland (1993), hier nach  : ders., Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 1997, 311–344, hier 314.

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Über diese Sache erfährt man nach dem Prinzip sola scriptura aber allein durch das Wort der Schrift etwas. So weit, so gut. Doch woher rührt Luthers atem­ beraubende Gewissheit der Richtigkeit seiner Auslegung  ? Sie stammt aus einer Doppelung des hermeneutischen Zirkels, deren Konsequenz ihn von anderen Reformatoren, vor allem von Calvin deutlich unterscheidet. Die Klarheit der Schrift, die er aus seinem Vorwissen ableitet, ist eine doppelte, eine äußere, die im Dienste des Wortes liegt, und eine andere, die in der Erkenntnis des Herzens besteht.8 Denn man kann die Schrift nur verstehen, wenn man den Heiligen Geist hat, die Geisterfahrung wird aber durch die Schrift hervorgebracht. Diese Bindung an die Bibel unterscheidet Luther von radikalen Spiritualisten, denn sie macht seine Hermeneutik weniger willkürlich als bei jenen. Allerdings lässt sich die Geisterfahrung auch bei ihm nicht erwerben, sondern der Mensch wird im Herzen vom Geist ergriffen. Diese existenzielle Geisterfahrung kann gera­ dezu Erlebnischarakter haben. Insofern ist Luther, der sich selbst objektivistisch als Diener des Gotteswortes verstand, aus unserer Sicht radikaler Subjektivist. Nun lässt sich aber empirisch zeigen, dass auch bei deutschen Historikern des 19./20. Jahrhunderts Schlüsselerfahrungen und Schlüsselerlebnisse nicht nur eine große Rolle spielen – das dürfte auch für andere Leute und Länder gel­ ten –, sondern dass diese Erfahrungen nicht selten ganz bewusst in den wissen­ schaftlichen Erkenntnisprozess integriert werden. Deutsche Historikerbiogra­ phien betonen mit Vorliebe die Einheit von Leben und Lehre ihrer Helden. Was für Luther die Geisterfahrung, das war für die meisten von ihnen die Erfahrung des preußisch-deutschen Machtstaates beziehungsweise die Inversion dieser Er­ fahrung im Zusammenbruch 1945. Noch heute versucht sich die evangelische Kirche in ihrer umstrittenen Denkschrift als Kirche der Freiheit für das 21. Jahrhundert zu definieren.9 Das heißt, es ist bei der traditionellen Andacht zum Staate geblieben. Vielleicht unter anderem deswegen, weil auch die Aussagen über den Staat insofern theologischen Charakter haben, als auch sie geglaubt werden müssen. Ein Staat, an den keiner glaubt, hört auf zu existieren.10 Allerdings handelte es sich bei Historikern nicht mehr um religiöse Erfah­ rungen und es fehlte ihnen meistens auch die Wucht der Luther’schen Ex­ pressivität. Aber die lutherische Denkgewohnheit des Zusammenhangs von existenzieller Erfahrung und Auslegung ist dennoch allgegenwärtig. In ande­ ren Wissenschaftskulturen wird stattdessen Wert darauf gelegt, Geltung von   8 Ebd., 316 (WA 18, 609).   9 Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017, Gütersloh 2014, 23. 10 Vgl. auch  : Pierre Bourdieu, Über den Staat. Vorlesungen, Berlin 2014, 30 f.

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Ergebnissen gerade dadurch plausibel zu machen, dass man sie von der eigenen Biographie abzukoppeln versucht. Sogar inhaltlich unterscheidet sich die deut­ sche Variante des Historismus dadurch von anderen, dass sie das Individuali­ tätsprinzip statt des Entwicklungsprinzips in den Vordergrund rückt.11 Diese deutsche Textkultur entstand durch Sozialisierung der Beteiligten in einem Bildungsmilieu, das seinerseits von derselben Textkultur geprägt war. Von den 16 Meinungsführern der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen Leopold von Ranke und Lothar Gall waren 14 evangelischer, meist lutherischer Herkunft, viele stammten aus Pfarrhäusern oder Pfarrersdynastien oder hatten selbst evangelische Theologie studiert. Bezeichnenderweise blieben sogar die vollständig säkularisierten Protagonisten der historischen Sozialwissenschaft des späteren 20. Jahrhunderts in diesem Kontext, indem sie sich aus dem An­ gebot sozialwissenschaftlicher Entwürfe ausgerechnet Max Weber als Leitfaden wählten. Denn Weber war nicht nur tief in die protestantische Theologie ein­ gedrungen, sondern pflegte mit seiner verstehenden Soziologie eine Variante von Hermeneutik, die es seinen Adepten gestattete, moderne Gesellschaftsge­ schichte zu betreiben, ohne den gewohnten Dunstkreis lutherischer Denkge­ wohnheiten zu verlassen.12 Da die Geschichte im 19. Jahrhundert zur Religion des kulturprotestanti­ schen Bürgertums geworden war, hatte auch die historische Textkultur qua­ sireligiösen Charakter. Nicht nur dass Herkunft aus eben diesem kulturpro­ testantischen Bürgertum notwendige Bedingung einer Historikerlaufbahn war. Die Bildung von »Schulen«, durch die sich deutsche Geschichtswissenschaft deutlich von anderen unterschied, hatte nicht nur mit Netzwerk und Patron­ age zu tun, sondern auch mit wissenschaftlicher Obödienz und Rechtgläubig­ keit. Nicht dass Glaubensbekenntnisse eingefordert wurden – das war nicht nötig, wo Gruppenzugehörigkeiten und Grundüberzeugungen selbstverständ­ lich waren. Aber Abweichler wurden »exkommuniziert« und mit Entzug von Karrierechancen bestraft. Das hat sich zwar geändert, aber Restbestände gibt es noch heute dort, wo Festlegung auf eindeutiges Vorwissen Trumpf ist, etwa in der auf die ausschließlich symbolische Deutung kultureller Phänomene einge­ schworenen »neuen Kulturgeschichte«. 11 Reinhard (wie Anm. 7), 314, nach  : Ernst Schulin, Friedrich Meinecke, in  : Hans-Ulrich Weh­ ler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 1, Göttingen 1971, 51 f. 12 Max Webers hermeneutische Immunisierungsstrategien sind freilich etwas anderer Art, subtil und hoch elaboriert. Sein berühmter Idealtypus ist ein Interpretationsverfahren, dessen Ergeb­ nisse sich nicht mehr falsifizieren lassen, wie man am Welterfolg seiner Protestantischen Ethik ablesen kann.

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Ursprünglich war der quasireligiöse Charakter der Geschichtswissenschaft bei führenden Vertretern sogar noch viel ausgeprägter. Seit Ranke war Historie innerweltliche Gottschau und der Historiker aus diesem Grund sogar Priester, wenn auch bei ihm kein Priester der Klio, wie dieser Sachverhalt vor 30 Jahren dennoch zutreffend auf den Begriff gebracht wurde.13 Aus Luthers Rolle des Heiligen Geistes in der Exegese hatte sich auf diese Weise eine extreme Immu­ nisierung historischer Hermeneutik und des geisteswissenschaftlichen Vorge­ hens überhaupt ergeben. Denn die intuitive Fähigkeit zur Gottschau, konkret die Fähigkeit, Geschichte oder auch nur Texte wirklich zu verstehen, ist so gesehen eine Gabe oder auch nur eine Begabung, die man hat oder nicht hat, jedenfalls streng genommen nicht erwerben oder lernen kann. Demgemäß be­ stand die klassische akademische Lehrmethode darin, dass einer, der’s hatte, so lange auf seine Adepten, die’s (noch) nicht hatten, einredete oder auch einmal mit ihnen redete, bis sich diejenigen herausschälten, die diese Gabe ebenfalls besaßen, aber bisher nicht aktiviert hatten – gewissermaßen die sokratische Maieutik als Schule der Hermeneutik. Um den Sinn einer historischen Quelle, eines Gedichts oder eines anderen Kunstwerks zu verstehen, musste man über die nötige Einbildungskraft verfü­ gen, um sich in den Text einzufühlen und den Schaffensprozess seines Autors nicht so sehr empirisch zu rekonstruieren als intuitiv nachzuvollziehen. Um­ gekehrt galt ein Text als umso anspruchsvoller je dunkler sein Sinn war. Das gilt für Heidegger so gut wie für die Postmodernen und Postkolonialisten. Ich neige allerdings dazu, einiges davon als Immunisierungsstrategie oder gar als Scharlatanerie zu betrachten. Das Ergebnis dieser Hermeneutik konnte näm­ lich nicht falsifiziert, sondern nur durch ein anderes herausgefordert oder über­ boten werden. Weil es dabei um den Niederschlag menschlichen Denkens und Handelns ging, kurz um Geist, war nur Verstehen nötig und sogar möglich, kein kausales Erklären. Letzteres blieb den Naturwissenschaften überlassen, wo von menschlicher Sinngebung keine Rede sein konnte. Das ist die klassische Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften mittels der streng ge­ trennten Methoden von Verstehen und Erklären, als deren Prophet nicht ganz zu Recht Wilhelm Dilthey gilt.14 13 Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970, 2. Aufl., Frankfurt 1987, eine Arbeit, deren unorthodoxe Interpretation der Wissenschaftsge­ schichte ihren Verfasser die akademische Karriere gekostet hat. 14 Vgl. Matthias Jung in  : Böhl u. a. (Anm. 2), 526.

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Wissenssoziologisch bestand der Sinn dieser Unterscheidung darin, den jetzt so genannten Geisteswissenschaften gegenüber den expandierenden Naturwis­ senschaften durch Nachweis einer eigenen Methode, worin jetzt das Wesen von Wissenschaft gesehen wurde, die ebenbürtige Existenz zu sichern. Oder noch besser, eine höhere Würde durch den Begriff Geist. Auch innerhalb der Geschichtswissenschaft galt daher die Beschäftigung mit den Spitzenleistungen des Menschengeistes, die Ideen- oder besser Geistesgeschichte, als der eigent­ liche Königsweg des Faches. Wie im Mittelalter die Geistlichkeit gegenüber Menschen mit weltlichen Tätigkeiten einen höheren Rang beanspruchte, so sollte der inzwischen säkularisierte Geist den Kulturwissenschaften den bes­ seren Status sichern. Nicht ohne Erfolg, denn manche Naturwissenschaftler meinen noch heute unter dieser Anmaßung leiden zu müssen und manche Politiker glauben immer noch, Naturwissenschaften produzierten sinnloses und wertneutrales Zeug, dem erst die Geisteswissenschaften Sinn und Wert verleihen könnten und müssten. Bereits das Aufkommen der Sozialwissenschaften hat diese reinliche Schei­ dung in zwei Wissenschaftswelten in Frage gestellt – ist zum Beispiel die Wirt­ schaftswissenschaft in letzter Instanz Mathematik oder Psychologie  ? Weiter wurde die romantische Vorstellung vom spontan oder sogar unbewusst krea­ tiven Genie falsifiziert und gezeigt, dass Literatur und Kunst weit eher durch harte Arbeit und sehr bewusste Anstrengung entsteht, auch wenn manche Pro­ fessoren aus der Generation meiner Lehrer immer noch die Attitüde des Ge­ nies pflegten, ihre gigantischen Zettelkästen zu verleugnen versuchten und flei­ ßige Verfasser von Handbüchern mit Verachtung straften. Außerdem befasste sich Geschichte längst nicht mehr nur mit dem, was Menschen wechselseitig intendieren und mit Sinn erfüllen. Von anonymen Strukturen ganz abgesehen, sind es gerade die nicht intendierten Nebenwirkungen menschlichen Han­ delns, die Geschichte vorantreiben. Kontingenz ist Trumpf, denn historische Entwicklung wie zum Beispiel diejenige des modernen Staates verläuft nicht nach einem Masterplan, sondern erfolgt durch Akkumulation kontingenter Ergebnisse. Infolgedessen erwies sich die reinliche Trennung von Sinnverstehen und kausaler Erklärung als keine tragfähige Funktionsbeschreibung wissenschaftli­ cher Erkenntnisprozesse. Denn auch wenn es sich um logisch trennbare Opera­ tionen handeln mag – in der Praxis hängen sie zusammen und sind aufeinander angewiesen. Unter anderen hat auch der wichtige analytische Philosoph Donald Davidson Ähnlichkeiten seines eigenen Denkens zu demjenigen Gadamers ent­ deckt und gezeigt, dass die Interpretation von Bedeutungen und die Erklärung von

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Handlungen so untereinander verschränkt sind, dass sie gegenseitig erst eine gültige Interpretation möglich machen.15 Etwas verstehen, heißt doch, es erklären können. Oder umgekehrt  : Erklärungen machen Verstehen erst möglich. Dem­ gemäß war die Unterscheidung den vorromantischen Hermeneutikern unbe­ kannt.16 Bereits Gadamer hat das Sich-Einfühlen verabschiedet und die »Zu­ ständigkeit« des Verstehens ausgeweitet, weil Verstehen überall dort stattfindet, wo Sprache benutzt wird. Obendrein wurde inzwischen gezeigt, dass Medizin, Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaften in letzter Instanz demselben heuris­ tischen Modell folgen. Denn der naturwissenschaftliche Dreischritt nach Karl Popper  : Hypothese – empirische Prüfung – Verifizierung oder Falsifizierung entspricht genau dem hermeneutischen Zirkel nach Gadamer  : Vorwissen – Auslegung – genaueres Wissen oder Nicht-Wissen. Alle Wissenschaftler wollen Probleme lösen und gehen zu diesem Zweck von hypothetischen Entwürfen aus, die sie experimentell oder durch Beobachtung oder textkritisch oder wie auch immer empirisch überprüfen und so zur Bestätigung, Verwerfung oder Modifikation ihrer Hypothese sowie zu neuen Problemen gelangen.17 Auch die strengsten Naturwissenschaften arbeiten insofern hermeneutisch. Die Ne­ belkammerfotos eines Atomphysikers entstehen durch eine aufgrund von Vor­ wissen geschaffene Versuchsanordnung und müssen anschließend interpretiert werden. Die ökonomische Rational-Choice-Theorie will menschliche Entschei­ dungen verstehen und damit alle Ergebnisse menschlichen Handelns erklären, auch wenn dieser Anspruch inzwischen als falsifiziert gelten dürfte. Selbstverständlich kann diese einheitliche Methode wissenschaftlichen Vor­ gehens nicht auf eine Einheitswissenschaftslehre hinauslaufen. Der Umgang mit subatomaren Teilchen verlangt im Detail selbstverständlich ein anderes Vorgehen als Forschung im Medium der Sprache. Während ein einziger falsifi­ zierter Fall eine naturwissenschaftliche Hypothese ins Wanken bringt, ist das 15 Andreas Frings (Hg.), Erzählen, Erklären, Verstehen. Beiträge zur Wissenschaftstheorie und Methodologie der Historischen Kulturwissenschaften, Berlin 2008, 14, 23. Ich würde aller­ dings zu »Handlungen« auch Zustände und Strukturen hinzufügen wollen. 16 Gerhard Schurz, Erklären und Verstehen. Tradition, Transformation und Aktualität einer klas­ sischen Kontroverse, in  : Friedrich Jaeger/Jürgen Straub (Hg.), Handbuch der Kulturwissen­ schaften, Bd. 2, Stuttgart 2004, 156–174, hier 157. 17 Dario Antiseri, Karl Popper e il mestiere dello scienziato sociale, Soveria Mannelli 2003  ; ders., Contro Rothbard. Elogio del’ermeneutica, Soverai Mannelli 2011  ; Giuseppe Franco (Hg.), Sentieri aperti della ragione  : Verità – metodo – scienza. Scritti in onore di Dario Antiseri nel suo 70° compleanno, San Cesario di Lecce 2010  ; ders., Conoscenza e interpretazione. L’inaspettata convergenza tra l’epistemologia di Popper e l’ermeneutica di Gadamer, Soveria Mennelli 2012.

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bei historischen Theorien keineswegs der Fall (was zum Beispiel die Gegner meiner Konfessionalisierungsthese nur zu gerne übersehen haben). Im Gegen­ teil, ein hoher Allgemeinheits- und Generalisierungsgrad macht historische Darstellungen sogar weniger anfällig für Kritik. Vor allem ist Verstehen als die losere Seite des Verfahrens anders als kausale Erklärung immer für Mehrdeutig­ keit offen. Umberto Eco hat das freilich für literarische Texte trotz Rezeptions­ ästhetik eingeschränkt  : Häufig sagen Texte mehr, als ihre Verfasser sagen wollten, aber weniger, als sie nach den Wünschen vieler maßloser Leser sagen sollten.18 Bei historischen Interpretationen gibt es zwar ebenfalls mehrere Deutungsmöglich­ keiten, aber hier sind die Grenzen dank empirischer Prüfungspflicht deutlich enger gezogen  : Für umfassende Interpretationen gilt ein Vetorecht der Quel­ len, für Textinterpretationen im engeren Sinn die Kontrolle an Sachverhalten, die früher da sind als die Texte.19 Ein Beispiel aus einem Buch eines von mir eigentlich hochgeschätzten Mi­ krohistorikers. Es geht in dieser kleinen Geschichte aus dem 18. Jahrhundert um die Entdeckung einer sorgfältig versteckten Wildererausrüstung durch die zuständigen Behörden. Dabei erweist sich aber der Fund einer Perruque mit einer geistlichen Krone für die Interpretation als ausgesprochen sperrig. Zwar gehörten Perücken durchaus zur Standardausrüstung jener Wilderer, aber was sollte dabei eine geistliche Krone  ? Mag sie nun aus den Sternsinger-Requisiten der Pfarrkirche stammen oder eher selbst gebastelt sein, der Sinn dieses Sym­ bols lässt sich für unseren Autor leicht entziffern. Seine Auslegung des Akten­ textes lautet  : Die Idee, die Perücke mit einer geistlichen Krone aus Pappe zu zieren, ergab sich aus dem ungemein populären Erscheinungsbild der Heiligen drei Könige nahezu von selbst. Wie die Herren von eigenen Gnaden, jedenfalls aber mit demselben Recht wie sie begaben sich die Bauern auf die ihnen verbotene Wildbahn. Und dennoch war ihnen die »gekrönte« Selbsterhöhung, das Gleichziehen mit den Herrschaftsrechten der Großen nicht das Wichtigste. Wer die bäuerliche Mentalität und ihre theatralischen Affinitäten auch nur ein wenig kennt, wird sogleich vermuten, dass die imaginäre Selbstkrönung gleichsam spielerisch die höhere Wahrheit des biblischen Geschehens herbeizitierte und sich auf diese gekonnt inszenierte Art und Weise spöttisch gegen höhere Machtansprüche richtete. Die drei Könige […] huldigten bekanntlich einem König, der für die Machthaber des römischen Imperiums umso gefährlicher war, als sein Reich nicht von dieser Welt zu sein 18 Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, 3. Aufl., München 2011, 145. 19 Reinhart Koselleck/Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik und Historik, Heidelberg 1987.

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beanspruchte. Die seit dem Spätmittelalter bezeugten Sternsinger-Bräuche erinnerten an dieses Ereignis und stellten es zugleich in der »Verkehrten Welt«-Tradition auf den Kopf, indem sich die Armen die Krone auf den Kopf setzten […]. Mit dieser populären Aneignung eines wuchtigen religiösen Bildes spielte die bäuerliche Travestie nun ihr Augurenspiel. Wo immer die aus der Ferne kommende Krone auftauchte, da folgte sie dem Stern und kündigte den realen Machthabern das nahe Ende ihrer Herrschaft an.20

In der Tat stand damals die Französische Revolution vor der Tür. Aber die geistliche Krone hatte dennoch keinerlei tiefsinnige symbolische Bedeutung, denn es handelt sich einfach um die Übersetzung eines Terminus technicus der Kirche  : Corona clericalis, im Klartext Tonsur. Unser Wilderer hatte also nicht mehr im Sinn, als sich mit dieser Perücke als Geistlicher zu maskieren. Die Prüfung mittels genauerer Kenntnis der Sache führt zum Ergebnis  : Manchmal war eine Perücke nichts als eine Perücke. Damit wird die herme­ neutische Ausgesetztheit der neuen Kulturgeschichte deutlich, die ihre Adep­ ten bisweilen veranlasst, ihre Positionen mit Zähnen und Klauen zu verteidi­ gen. Denn wo die Bedeutung von Geschichte auf Geschichte von Bedeutung und der Sachverhalt damit auf einen bloßen Bedeutungsträger von Symbo­ lik reduziert wird, steigt das Risiko des Interpreten, man könnte auch sagen  : seine Anfälligkeit für Willkür. Die symbolischen Reduktionisten fallen in die selbstreferentielle Geistreichelei der alten Geistesgeschichte zurück, verwenden aber ein modisches Vokabular, das diesen Rückfall verdeckt. Auch der Glaube, dass der fleißige Gebrauch politisch korrekter Sprache letztendlich zu einer politisch korrekten Veränderung der Wirklichkeit füh­ ren müsse, soweit außersprachliche Wirklichkeit überhaupt noch zur Kenntnis genommen wird, hat sich als Aberglaube erwiesen. Denn nur selten bringen Diskurse Wirklichkeit hervor. In der Regel entstehen diese umgekehrt aus der Wirklichkeit der Welt. Wir wissen heute um unsere grundsätzliche Befangen­ heit in solchen diskursiven Formationen. Auch wenn unsere Interpretationen sie vielleicht dann und wann einmal genial zu transzendieren vermögen – nor­ malerweise denken wir, wie man (oder frau) als Intellektueller des frühen 21. Jahrhundert denken kann oder muss. Dieser Sachverhalt kommt bereits im jeweiligen wissenschaftlichen Jargon, gegebenenfalls sogar in der zeittypischen Art von Dunkelheit zum Ausdruck. Dabei kann es sich durchaus um intranspa­ 20 Norbert Schindler, Wilderer im Zeitalter der Französischen Revolution, München 2001, 13 f. Vgl. Wolfgang Reinhard, Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife. Plädoyer für eine materialistische Anthropologie, in  : Saeculum 56 (2005), 1–16.

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rente Sinnkartelle handeln, die ihre Deutungsmacht durch Unverständlichkeit zu kaschieren suchen.21 Das bedeutet aber, dass Auslegen kein autonomer mentaler Prozess ist, sondern im höchsten Grade fremdbestimmt durch Macht stattfindet. Bereits Nietzsche hatte Interpretieren als Tummelplatz des Willens zur Macht gese­ hen, der demgemäß nach Bedarf vergewaltigt oder fälscht oder ignoriert. Un­ ser Auslegen wird demnach erstens von der anonymen Sinnformation geprägt, der wir angehören. Dieser anonyme Zwang steht zweitens in einem schwer zu erhellenden Wechselverhältnis zu Inhabern von Deutungshoheit, die seine Richtung vorgeben. Schwer zu erhellen ist selbst bei Meinungsführern und Ko­ ryphäen des Fachs, wie sie zu ihren dominanten Interpretationen gekommen sind und wie diese sich verbreiten, erst recht, warum und wie Sponsoren, Ver­ leger, Verbände, Medien und die öffentliche Meinung sich auf bestimmte Deu­ tungen festlegen (lassen). Damit nicht genug gibt es drittens unmittelbaren Druck seitens solcher Inhaber von Deutungshoheit auf einzelne Wissenschaft­ ler. Denn der dialogische Charakter von Wissenschaft im Team ist ebenso eine Lebenslüge der Wissenschaft wie die vielberufene Inter- oder neuerdings Trans­ disziplinarität. Nach meinen Erfahrungen sind häufiger hierarchische Abhän­ gigkeiten die Regel und die Interdisziplinarität ist ein modisches, organisiertes Ritual, das allenfalls Anstöße für die wirkliche Interdisziplinarität bieten kann, die nur im Gehirn des einzelnen Wissenschaftlers möglich ist. Im Ergebnis erscheint mein Misstrauen gegen die willküranfällige Her­ meneutik nach wie vor und nur allzu berechtigt. Aber sie ist unentbehrlich. Auch die hier vorgelegten Ergebnisse sind nur durch Interpretation von Tex­ ten und Sachverhalten gewonnen worden. Denn Hermeneutik ist ein zentra­ ler Bestandteil unserer Kultur, der dem Abendland wahrscheinlich sogar lange Zeit einen globalen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Kulturen verschafft hat.22 Darüber hinaus hängt ihre Anfälligkeit für willkürliche Deutungen mit dem grundlegenden anthropologischen Sachverhalt zusammen, dass die menschliche Existenz nicht ohne Fiktionen auskommt, ja sogar auf Fiktionen

21 Susanne Kaul/Lothar van Laak (Hg.), Ethik des Verstehens. Beiträge zu einer philosophischen und literarischen Hermeneutik, München 2007, 11. 22 Vgl. zu diesem Sachverhalt und dem gescheiterten Versuch, mit einem groß angelegten For­ schungsprojekt Unterschiede in der Hermeneutik aller Schriftkulturen zu identifizieren  : Wolfgang Reinhard (Hg.), Sakrale Texte. Hermeneutik und Lebenspraxis in den Schriftkultu­ ren, München 2009, vor allem 7–26  : ders., Einleitung. Textkultur und Lebenspraxis, sowie 68–119  : ders., Die hermeneutische Lebensform des Abendlandes.

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beruht.23 Lässt sich unter solchen Umständen hermeneutischer Willkür und meinem Unbehagen überhaupt abhelfen  ? Nicht nur in den Künsten, sondern wohl auch in den Wissenschaften, die sich mit ihrer Auslegung befassen, wird man sich damit abfinden müssen, dass dort von der Bindung an den Autor abgesehen werden kann und auch das Kunstwerk als solches keine Rolle mehr spielen muss, sondern zum bloßen Impuls für neue Kreativität werden kann. Kunst-, Literatur- und Musikwis­ senschaft können insofern zu Recht einen fast unbegrenzten Interpretations­ spielraum in Anspruch nehmen. In anderen Wissenschaften hingegen ist so viel künstlerische Freiheit fehl am Platz, übrigens auch in der Kunst-, Litera­ tur- und Musikwissenschaft, wo sie sich als streng historische Fächer verstehen. Denn hier kann und muss Auslegen diszipliniert werden. Erstens setzt eine »Disziplin«, wie ein Fach zu Recht genannt wird, durch spezifische Regeln wissenschaftlichen Arbeitens der interpretatorischen Freiheit Grenzen. Im Falle der Geschichtswissenschaft habe ich darauf hingewiesen. Diese Grenzen müssen beachtet und ihre Einhaltung kontrolliert werden. Dazu wurde das Rezensions- und Gutachterwesen erfunden. Denn es vermag zu korrigieren, auch wenn es seinerseits willkürliche Ergebnisse hervorbringen kann. Denn kollegialer Neid mit seinem kritischen Potential brauchte gar nicht erfunden zu werden. Kritische Analysen wie die vorliegende könnten ebenfalls hilfreich sein – wenn sie denn wahrgenommen werden. Zweitens steht und fällt alles mit der Selbstdisziplin des einzelnen Wissen­ schaftlers, deutlicher mit seinem menschlichen Format, seinem Stehvermögen als moralische Person. Mit Ethik der Hermeneutik meine ich nicht etwa Do­ nald Davidsons Principle of Charity, denn dieses ist eher eine Frage der Me­ thode als der Moral, auch wenn dabei zum Ausdruck kommen mag, wie eng beide zusammenhängen.24 Hermeneutik ist Kommunikation und verlangt Of­ fenheit für Andere. Das heißt aber nicht, dass eine gelungene hermeneutische Kommunikation immer bereits eine sittliche Leistung darstellt. Als Ergebnis hermeneutischen Machtwillens, der Andere im Sinne Nietzsches überwältigen 23 Ein erster Anlauf zur Aufklärung dieses Sachverhalts  : Wolfgang Reinhard, Geheimnis und Fiktion als politische Realität, in  : ders. (Hg.), Krumme Touren. Anthropologie kommunika­ tiver Umwege, Wien 2007, 221–250. 24 Damit ist die methodische Pflicht zur grundsätzlich wohlwollenden Interpretation gemeint, konkret zur Wahrheits- und Konsistenzunterstellung, d. h. den Annahmen, dass möglichst viel von dem, was ein Sprecher/Text für wahr ausgibt, tatsächlich wahr ist sowie dass seine Sätze überwiegend in sich und untereinander konsistent sind (wikipedia.org/wiki/Principle_ of_charity, zuletzt 10.11.2016).

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will, wäre sie m. E. viel eher eine unsittliche Leistung. Aber auch dem entge­ gengesetzten Bonmot der Madame de Stael von 1807 »Alles verstehen heißt alles verzeihen« wurde nachgesagt, es handle sich um die Mentalität des Teufels. Nicht umsonst muss auf der Unerklärbarkeit des organisierten Massenmords an den Juden bestanden werden, damit niemand auf den Gedanken kommen kann, man müsse ihn mit verstehender Nachsicht behandeln oder gar verzei­ hen. Für meinen Teil würde ich von einer Ethik der Hermeneutik lieber weni­ ger und zugleich mehr verlangen wollen, statt tiefsinniger Philosophie bloß Forderungen an banales Alltagsverhalten von Wissenschaftlern stellen, aller­ dings ziemlich anspruchsvolle  : Sind wir zur gewissenhaften Infragestellung der eigenen Arbeit und zum Verzicht auf Vernebelung von Begründungsschwä­ che durch eindrucksvolle hermeneutische Schaumschlägerei bereit und fähig  ? Schon Lessing musste einst feststellen  : »Die Gabe, sich widersprechen zu las­ sen, ist wohl überhaupt eine Gabe, die unter den Gelehrten nur die Toten haben.«25 Imposante ethische Regelwerke nützen in der Wissenschaft so wenig wie in der Wirtschaft. Wissenschaftler lassen sich nämlich vom Streben nach Befriedigung ihrer Neugier so wenig abbringen wie Shareholder vom Streben nach höherer Rendite. Allenfalls könnten sie dem einen oder anderen dann doch zu der Erkenntnis verhelfen, dass auch Wissenschaftler wie Shareholder nicht alles tun dürfen oder gar müssen, was sie tun können. Zu solcher Einsicht kommt es aber erfahrungsgemäß erst dann, wenn etwas schiefgegangen ist.

25 Gotthold Ephraim Lessing, Rettungen des Horaz 1754, in  : Werke und Briefe, Bd. 3, Frank­ furt 2003, 158. Freundlicher Hinweis von Helwig Schmidt-Glintzer, für den ich danke.

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Historie treiben heißt dem Nachdenken aus dem Wege gehen, ist also ein gutes Rezept für Glückseligkeit,1 vor allem, wenn es sich um Nachdenken über den Sinn des eigenen Geschäfts der Historiker handelt. Die postmodern durchökono­ misierte Geschichtswissenschaft der Gegenwart wird gut daran tun, sich daran zu halten, obwohl sie doch eben noch ihren Sinn aus dem Impuls politischer Pädagogik bezogen hatte und einst sogar die schlechthinnige Sinnstiftungsin­ stanz der deutschen bürgerlichen Kultur gewesen war.2 Aber die zunehmende Abwesenheit von Sinn bei gleichzeitiger Zunahme sinnloser Aktivitäten be­ schränkt sich keineswegs auf die Historie. Sie dürfte vielmehr ein zentrales an­ thropologisches Merkmal der Gegenwart sein. Doch warum müssen wir denn eigentlich so viel Unsinn über uns ergehen lassen und so viel Unsinniges tun  ? Schon länger war Historikersein nicht rundum sinnträchtig. Wir hatten unzählige Sitzungen »abzusitzen«, bei denen entweder überhaupt nichts he­ rauskam oder das Ergebnis in wenigen Minuten hätte erzielt werden können, wenn es nicht sowieso schon vorher feststand und zwischen den maßgebenden Leuten abgesprochen war  : Sitzungen – Kulturen des Nichtentscheidens.3 Dazu kamen unzählige »wissenschaftliche« Tagungen mit Referaten, die entweder nichts Neues brachten oder genauso gut und besser, d. h. mit weniger Auf­ wand und Zeitverlust hätten schriftlich oder heutzutage besser elektronisch in Umlauf gesetzt werden können, dazu auch noch für ein breiteres Publikum. In beiden Fällen pflegten die Diskussionen weitgehend steril, d. h. ohne irgendei­ nen sachlichen Zugewinn abzulaufen, nach dem Motto  : Es ist zwar schon alles gesagt, aber noch nicht von allen. Nun wird die offenkundige Sinnlosigkeit solcher Aktivitäten, soziologisch gesprochen ihre manifeste Dysfunktionalität, durch latente Funktionen wett­ gemacht. Sitzungen und Tagungen sind Rituale, durch die sich Gruppen ihrer Existenz versichern. Außerdem sind nicht nur Tagungen, sondern sogar Sitzun­ 1 Kurt Hiller, Die Weisheit der Langenweile, 2 Bde., Frankfurt 1913, Bd. 2, 129. 2 Wolfgang Weber, Die Priester der Clio, Frankfurt 1984. 3 Festvortrag von Jürgen Kaube zum 60. Geburtstag der Entscheidungsforscherin Barbara Stoll­ berg-Rilinger am 17. Juli 2015 in Münster.

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gen soziale Anlässe, bei denen man Leute treffen kann, zu welchen Zwecken auch immer, und sei es nur zur Unterhaltung. Diskussionsbeiträge wiederum funktionieren wie Werbung. Zwar kommt unmittelbar nichts dabei heraus, aber es gilt eben Flagge zu zeigen, präsent zu sein, die eigene Rolle und deren Wichtigkeit offenkundig zu machen, um im Gespräch zu bleiben. Ist es nur die ritualkritische Tendenz des hoffnungslosen Altaufklärers, die mich ungeachtet dieser Einsichten das alles dennoch deprimierend sinnlos fin­ den lässt  ? Die derzeit blühende Ritualforschung neigt ja stattdessen dazu, dem Prinzip der normativen Kraft des Faktischen zu folgen, das »faktisch« bei His­ torikern eine größere Rolle spielen dürfte als bei Juristen, denen es zugeschrie­ ben wird. Weil es ein bestimmtes Ritual gibt, sollte es auch zu etwas gut sein. Notfalls wird dieser Sinn eben von RitualforscherInnen erfunden. Das muss aber nicht sein. Ritualforschung könnte auch zur Ritualkritik einge­ setzt werden. Geschichtswissenschaft muss nämlich keineswegs immer die beste­ henden Verhältnisse legitimieren, wie es hieß,4 sondern kann auch Delegitimation zur Aufgabe haben.5 Anders gewendet, Historiker mögen Schwierigkeiten damit haben, mit Ranke zu zeigen wie es eigentlich gewesen, können aber durchaus zeigen, wie es nicht gewesen ist. Die Identifikation latenter Funktionen genügt also nicht, um das tiefe Gefühl, das betreffende Tun sei sinnlos, zu widerlegen. Denn die latente Funktion selbst kann ihrerseits als sinnlos empfunden wer­ den. Theoretisch darf eine Funktion wegen ihrer Funktionalität zwar über­ haupt nicht sinnlos sein, was aber, wenn die Funktionalität selbstreferentiell und damit zirkulär wird  ? Schon Goethe meinte zum Leben bei Hofe  : Die Hofleute müssten vor Langweile umkommen, wenn sie ihre Zeit nicht durch Zeremonie (sic.) auszufüllen wüssten.6 Bismarck erkannte bereits, dass Geschäfte im Staatsdienst erfunden würden, um Beamte zu beschäftigen und nicht um­ gekehrt,7 bevor Parkinson herausfand, dass sich Behörden ab einer gewissen Größe vollständig mit sich selbst beschäftigen können.8 4 Winfried Schulze, Einführung in die neuere Geschichte, 3. Aufl., Stuttgart 1996, 31 f., 247 f., 253 f. u. ö. 5 Wolfgang Reinhard, Geschichte als Delegitimation, in  : Jahrbuch des Historischen Kollegs 2002 [2003], 27–37. 6 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe (Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Bd. II 1) Frankfurt 1999, 122. 7 Martina Kessel, Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom spä­ ten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2001, 208. 8 C. Northcote Parkinson, Parkinsons Gesetz und andere Untersuchungen über die Verwaltung, TB Reinbek 1966 (engl. 1957).

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Allerdings verließ mich das Gefühl der Sinnlosigkeit häufig bei Sitzungen, die ich selbst zu leiten hatte, auch wenn diese dadurch keineswegs interessanter wurden, sowie bei meinen eigenen Referaten und Diskussionsbeiträgen. An seine Stelle trat gerne das Bewusstsein, die Sache gut gemacht zu haben. Das mag im einen oder anderen Fall sogar zugetroffen haben, verliert aber an Über­ zeugungskraft durch die Beobachtung, dass KollegInnen selbstverständlich dasselbe empfinden, und zwar auch dort, wo ein neutraler Beobachter diese Einschätzung ganz und gar nicht zu teilen vermag. Kommt konkrete Sinnzuschreibung also nur durch unsere Eitelkeit zustande, ist Sinn nur ein Ergebnis der hoch entwickelten Fähigkeit des Menschen zur Selbsttäuschung, die bekanntlich individuell wie kollektiv überlebenswichtig ist  ? Die sorgfältig entwickelte Fähigkeit zur Kritik wäre insofern evolutionär kontraproduktiv und destruktiv, die Bereitschaft zur Selbstkritik selbstzerstö­ rerisch, kritische Aufklärung durch kultur- und sozialwissenschaftliche Analyse sozial und politisch schädlich. Tatsächlich kann gründliche historische Analyse zu politischen Aporien führen. Was soll man zum Beispiel als Staatsbürger mit der wohl begründeten Erkenntnis anfangen, dass die Volkssouveränität so gut wie die Sachlichkeit politischer Entscheidungen als sinnträchtige Vorstellungen bloße Fiktionen sind  ?9 Die Ritualforscher zum Beispiel wären unter diesen Umständen tatsächlich gut beraten, das, was sie vorfinden, ohne Wenn und Aber für gut zu halten. Zumindest die vielberufene Ritualisierung formalisierter oder zumindest ge­ wohnheitsmäßig und regelmäßig ablaufender Handlungen vom Zähneputzen bis zum Weg ins Büro, vom Stuhlgang bis zum Kirchgang führt nämlich zu dem lebenswichtigen Ergebnis, dass sich dank Regelbefolgung ein elementares Wohlgefühl einstellt. The intrinsic reward of ritualized behavior accounts for a variety of seemingly pointless activities, denn im Büro mag überhaupt nichts los sein und der Kirchgänger mag längst den Glauben verloren haben.10 Allerdings könnte die subjektive Anfälligkeit für Empfindungen der Sinnlo­ sigkeit dennoch auch mit der objektiven Beschaffenheit der betreffenden Tä­ tigkeiten zu tun haben. Kulturwissenschaft einerseits, Bürokratie andererseits, die beiden Aktivitäten, um die es hier in erster Linie geht, werden überwiegend  9 Wolfgang Reinhard, Geheimnis und Fiktion als politische Wirklichkeit, in  : ders. (Hg.), Krumme Touren. Historische Anthropologie kommunikativer Umwege, Wien 2007, 221– 250  ; ders, Die Nase der Kleopatra. Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung. Ein Versuch, in  : HZ 293 (2016), 631–666. 10 Robert Hogan/Nancy Henley, Nomotics. The Science of Human Rule Systems, in  : Law and Society Review 5,1 (1970) 135–46, hier 135.

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mit geringem körperlichen Aufwand im Sitzen, durch Nachdenken, durch Re­ den, nicht zuletzt durch Telefonieren, durch Lesen und Schreiben ausgeübt. Dass Lesen und Schreiben inzwischen vor allem am Computer stattfinden, hat die Zeitdauer des Sitzens nur noch gesteigert. In der westlichen Kultur konver­ giert derartige wissenschaftliche und bürokratische Tätigkeit in der Jurispru­ denz, die Regeln und Personal für sie hervorbringt, auch wenn ihr neuerdings vom vielgestaltigen Beratungsgewerbe die Dominanz streitig gemacht wird. Dem steht die merkwürdige Erfahrung gegenüber, dass Nachdenken wie geistiger Austausch durch Gespräch, im Extremfall sogar eine Prüfung, bei ein­ samem Wandern und gemeinsamem Spazierengehen besonders kreativ ausfal­ len können. Offensichtlich kommt dem Anteil an körperlicher Aktivität eine Schlüsselrolle zu, vermutlich vermittelt durch Anregung des Kreislaufs und Sauerstoffzufuhr zum Gehirn, wo sich angeblich neue Strukturen und mögli­ cherweise sogar neue Gehirnzellen bilden.11 Bewegung ist Leben – Inaktivität macht krank, so dass es inzwischen eine regelrechte Physiologie und sogar Epi­ demiologie unserer sitzenden Lebensweise gibt.12 Es ist ja allgemein bekannt, dass gerade Intellektuelle durch körperliche Tätigkeit als Wochenendheimwer­ ker, als Gärtner und nicht zuletzt als Wanderer und Sportler überaus positive, wenn auch zu ihrem sonstigen Tun eher kontrastive Sinnerfahrung zu gewin­ nen verstehen. Lehrreich ist die Anwendung dieser Erkenntnisse auf die aktuellen Versu­ che, dem Alter einen neuen Sinn zu geben, nachdem der Anteil im Ruhestand lebender Menschen weiter zunimmt. Statt der wohlverdienten Ruhe wie noch zu Zeiten der Rentenreform von 1957 wurde ihnen zur Überwindung des of­ fensichtlich tristen weil sinnentleerten Altersalltags anstelle der Kaffeefahrt der Unruhestand mit Kompetenzerhaltung durch körperliche und geistige Aktivi­ tät angepriesen, vom Nordic Walking bis zum Seniorenstudium.13 Schließlich wussten schon die alten Chinesen, dass Geschäftigkeit Körper und Geist trai­ niert.14 Diese Geschäftigkeit kann durchaus spielerischen Charakter haben, auch wenn dabei einfach die Berufstätigkeit, etwa die wissenschaftliche, als Hobby 11 Claudia Voelcker-Rehage, Gehirntraining durch Bewegung. Wie körperliche Aktivität das Denken fördert, Aachen 2013. 12 Gunnar Geuter/Alfons Hollederer (Hg.), Handbuch Bewegungsförderung und Gesundheit, Bern 2012, 34–38. 13 Tina Denninger/Silke van Dyk/Stephan Lessenich/Anna Richter, Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft, Bielefeld 2014. 14 Wolfgang Bauer, China und die Hoffnung auf Glück, 2. Aufl., München 1989, 461.

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fortgesetzt wird. Professor emeritus wäre der schönste Beruf der Welt, wenn nur die Ausbildung nicht so lange dauern würde (Hans-Martin Gauger). Hobbies gelten als Spiele, die gesund erhalten. Denn auch wo der offenkundige Sinn des Spiels rein im Vergnügen besteht, kann es unterschwellig auf Übung oder gar auf Lernen hinauslaufen. Dass Kinder spielend fürs Leben lernen, gilt als selbstver­ ständlich, über das Was und das Wie ist man sich freilich nicht einig. Sprache, Sozialverhalten und Problemlösen sind die Favoriten  ;15 allerdings dürfte der jeweilige kulturelle Kontext eine wichtige Rolle spielen. Für Verwirrung hat die Entdeckung gesorgt, dass auch Tiere ohne Sinn und Zweck spielen, und zwar nicht nur angeblich alle Säugetiere, sondern auch Vögel und sogar Krokodile. Und sie wissen dabei, dass sie spielen  ; Hunde ge­ ben durch ihre Kopfhaltung vorher sogar ein Spielsignal. Natürlich hieß es, dass auch Tiere durch Spielen fürs Leben lernen, aber die Versuche, empirisch nachzuweisen, was sie gelernt haben, sind nicht sehr erfolgreich verlaufen. Au­ ßerdem spielen auch erwachsene Tiere, freilich seltener. Doch die Evolution duldet nach Überzeugung der Biologen auf die Dauer nichts Sinn- und Zweck­ loses. Weil das Spielzentrum sich aber in entwicklungsgeschichtlich alten Tei­ len des Gehirns befindet, muss Spielen einen evolutionären Sinn haben. Möglicherweise laufen Spiele bei Tier und Mensch darauf hinaus, Reakti­ onen auf unerwartete körperliche und seelische Stresssituationen einzuüben. Spiel mache weniger empfindlich für Stresshormone, heißt es. Daher würden Ratten wie Menschen, die gemeinsam spielen durften, mit kritischen Situatio­ nen leichter fertig, als Individuen, die nicht spielen durften  ; letztere reagierten mit Wutausbrüchen oder Verzweiflung. Außerdem wuchs das Gehirn der spie­ lenden Ratten nachweislich schneller und wurde größer.16 Deutschlands Senioren wurde freilich über das spielerisch aktive Altern hi­ naus seit den 1990er Jahren das produktive Alter angedient. Als produktiv gilt eine Tätigkeit, die von anderen gegen Entgelt ausgeübt werden könnte, von Senioren aber ehrenamtlich verrichtet wird. Politisch läuft der Sinn solcher Initiativen darauf hinaus, im Zeichen des Abbaus des Sozialstaates die Senio­ ren für die Versorgung ihrer eigenen Gruppe in Dienst zu nehmen, durchaus

15 Melinda Wenner, The Serious Need to Play, in  : Scientific American Mind, Februar/März 2009, 22–29. 16 Marek Spinka/Ruth C. Newbury/Marc Bekoff, Mammalian Play  : Training for the Unexpec­ ted, in  : The Quarterly Review of Biology 76,2 (2001) 141–68  ; Lynda Sharpe, So You Think You Know Why Animals Play …, in  : Scientific American, guest-blog 17. Mai 2011  ; freundli­ che Hinweise von Judith Reinhard, Canberra.

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in Konkurrenz zum Niedriglohnarbeitsmarkt.17 Für die »produktiven Alten« selbst mag der Sinn in selbstlosem Handeln bestehen. Das kann freilich auf Selbsttäuschung hinauslaufen, denn die meisten geben ehrlich zu, dass sie das eigene Bedürfnis nach Selbstverwirklichung antreibt. Jedenfalls geht ihr ehren­ amtliches Engagement in der Regel mit höherem Wohlbefinden einher, nota­ bene, wenn es Anerkennung findet.18 Befragungen zeigen allerdings, dass diese Sinnproduktion nur bei einer Min­ derheit angekommen ist  ; negative Altersbilder bleiben höchst virulent. Die Freiheit des Ruhestandes wird einerseits geschätzt, andererseits als sinnentleer­ ter Zustand empfunden. Als Aushilfe wird die Berufsethik durch Simulation arbeitsähnlicher Geschäftigkeit verlängert, die freilich oft ziemlich unproduk­ tiv ausfällt. Man legt Wert darauf, keine Zeit zu haben, und geniert sich sogar für das »Geständnis«, dass man ein Mittagsschläfchen hält. Die berufliche Ak­ tivität bleibt ein Ideal, das bisweilen sogar nostalgisch verklärt wird. Vor allem möchte man auf gar keinen Fall wahrhaben, dass man sich langweilt.19 Denn Langeweile ist der Inbegriff von Sinnlosigkeit. Der Sozialwissen­ schaftler Werner Sombart hat in seiner Anthropologie 1938 die Definition  : Der Mensch ist das Geschöpf, das sich langweilt, auf sehr geisteswissenschaftliche Weise entfaltet. Der Geist steuere unsere Handlungen, die Naturkraft treibe sie an. Dazu habe der Geist die Formen und Normen geschaffen, die im Ge­ gensatz zu den tierischen Instinkten unser Leben ordnen. Doch weil wir uns dem Geist unterstellt hätten, sei unser Leben gebrochen. Aber der Geist schaffe auch Zufluchtsstätten für den Menschen auf der Flucht vor dem eigenen Ich und vor allem vor der ständig drohenden Langeweile. Er habe Spiele und Ver­ gnügungen erfunden, zunächst für die Reichen, dann für die Massen. Aber das alles lasse wachsende Öde zurück. Daher habe der Geist aus der Not des Lebensunterhaltserwerbs eine Tugend gemacht und die Arbeit erfunden. Nur der Mensch arbeite, das Tier aber nicht. Denn arbeiten heißt, Zwecke durch sinnvolle Tätigkeit verwirklichen. So versöhne sich der Mensch mit der Welt. Das Vergnügen werde erst durch den Gegensatz zur Arbeit dazu. Fehle es an einem Ort an sinnvoller Arbeit, dann werde der Mensch zum Wanderer. Tiere 17 Denninger u. a. 18 Marcel Erlinghagen/Karsten Hank (Hg.), Produktives Altern und informelle Arbeit in mo­ dernen Gesellschaften. Theoretische Perspektiven und empirische Befunde, Wiesbaden 2008, bes. 17 f., 51–74  ; Bettina Hollstein, Ehrenamt verstehen. Eine handlungstheoretische Ana­ lyse, Frankfurt 2015, bes. 53  ; Thomas Olk (Hg.), Handbuch bürgerschaftliches Engagement, Weinheim 2011, bes. 699, 711, 748. 19 Denninger u. a., bes. 240 f., 251 f.

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wanderten nicht individuell. Und nur der Mensch habe Werkzeuge, das Tier kenne sie nicht.20 Nun wissen wir zwar inzwischen, dass Tiere durchaus Werkzeuge verwen­ den und einzeln wandern, arbeiten und spielen, ja sich offensichtlich sogar langweilen können, etwa Raubtiere in ihren Käfigen im Zoo,21 obwohl großen Geistern wie Voltaire und Goethe die Behauptung zugeschrieben wird  : Wenn Affen sich langweilen würden, wären sie Menschen.22 Für den Menschen ist es aber dennoch bei der basalen Option zwischen Arbeit und Langeweile geblie­ ben. Die Leitung einer Sitzung verschafft mir durch Aufgehen in der Sache ein freudvolles Aktivitätsgefühl, das die Psychologen Flow nennen,23 während sie mich bei passivem Absitzen nur langweilt. Auch bei Kant ist der Mensch das Tier, das dem existenziellen Zwang zur Arbeit unterliegt. Ohne Arbeit würden wir uns nämlich zu Tode langweilen, weil wir nicht imstande sind, inhaltslos zu leben.24 Für Schopenhauer ist Le­ ben das Streben nach Dasein  ; ist das Dasein aber gesichert, weiß das Leben nichts mehr zu tun und verfällt der Langeweile. Das bleibt aber bei ihm noch ein Problem der vornehmen Welt, während der Pöbel Not leidet und höchs­ tens zu Müßiggang fähig ist.25 Und laut Nietzsche schafft die Wissenschaft Betätigungsfelder für wache Geister, die sonst in Langeweile ersticken wür­ den.26 Doch die Monotonie mancher moderner Arbeitsabläufe, die den Men­ schen unterfordern, machte wie die anschließende Verknappung der Arbeit die Langeweile zum Massenphänomen, dessen Bekämpfung inzwischen ganze Industrien beschäftigt. Freilich mit begrenzten Erfolgschancen. Denn schon französische Aufklärer wussten  : Langeweile ist eine Krankheit. Die Arbeit ist ihr Heilmittel. Das Vergnügen ist nur ein Linderungsmittel.27 Nichtsdestoweniger

20 Werner Sombart, Vom Menschen. Versuch einer geisteswissenschaftlichen Anthropologie, Berlin 1938, 4, 49, 54–58, 84. 21 Françoise Wemelsfelder, Animal Boredom  : Towards an Empirical Approach of Animal Sub­ jectivity, Leiden 1993. 22 Martin Doehlemann, Langeweile  ? Deutung eines verbreiteten Phänomens, Frankfurt 1991, 132  ; Lars Svendsen, Kleine Philosophie der Langeweile, Frankfurt 2002 (norwegisch 1999), 35. 23 Maria T. Kern, Langeweile. Modell eines psychologisch-anthropologischen Phänomens, Egg bei Einsiedeln 2008, 348 f. 24 Svendsen, 59. 25 Ebd., 62. 26 Kern, 56. 27 Ebd., 406.

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gibt es in den USA bereits Langeweilekliniken.28 Allerdings ist die eigentli­ che Krankheit der Sinnverlust  ; Langeweile als seine Folge nur das Symptom. Die Bekämpfung des Symptoms durch Vergnügen kann daher in der Tat nicht mehr als ein Linderungsmittel sein. Angeblich tauchte die Langeweile als Problem zuerst in der Aufklärung auf. Nach dem Tod Gottes habe der Mensch die Aufgabe der Sinnstiftung für sich selbst in Anspruch genommen, ohne dieser Rolle gewachsen zu sein.29 Kon­ kret habe es sich bei der Langeweile um eine Folge der selbstverschuldeten Mündigkeit gehandelt, wenn Erwartungen an ein selbstbestimmtes Leben enttäuscht wurden. Denn die ideale, notabene einstweilen elitäre und männ­ liche Persönlichkeit habe jetzt hohe Ansprüche an ein Leben gestellt, das Lei­ denschaft des Handelns und vernünftige Selbstkontrolle, Gegenwartsbewälti­ gung und Zukunftsentwurf realistisch verbinden wollte. Das Volk hingegen sei in seinem tätigen Leben nicht dazu gekommen, sich zu langweilen, und die Frauen seien als naturhaft stabile, das heißt aber stagnierende Passivität aus dieser Geschichte sowieso ausgenommen und der Langeweile daher nicht ausgesetzt gewesen. Erst die Aufhebung dieser Entmündigung, die durchaus auch als Idealisierung gemeint sein konnte, das heißt aber die Entzauberung des Weibes habe zur Verlangweilung des Weibes geführt (Nietzsche). Im 19. Jahr­ hundert wurde die männliche Selbstverwirklichung dann als Arbeit definiert, freilich mit dem topischen Wunsch nach Muße verbunden – bis heute.30 Oder sollte die Langeweile von Idealisten und Romantikern in Jena erfunden wor­ den sein  ? Romantik sei ja nicht nur Ästhetizismus, sondern auch Existenzialis­ mus wie umgekehrt der Existenzialismus des 19./20. Jahrhunderts Romantik, denn beiden gehe es um vergebliche Anstrengungen zur Füllung der Sinnleere, die durch den Tod Gottes entstanden sei. Außerdem hatte das Leben jetzt in­ teressant zu sein, die entzauberte Welt war jedoch nur noch langweilig. Wie dem auch gewesen sei  : Der Anthropozentrismus brachte die Langeweile hervor.31 Allerdings gab es einschlägige Phänomene schon lange vor dem vielberu­ fenen Tod Gottes. Dabei sind aber die unter dem jüngeren Begriff Langeweile 32 versammelten Phänomene so vielgestaltig, dass diese Sammelkatego­ 28 Ebd., 151. 29 Svendsen, 36. 30 Kessel, bes. 31, 226, 322  ; vgl. auch Anton Rabinbach, Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne, Wien 2001. 31 Svendsen, 67, 94. 32 Zwar wurde die weile manchmal schon im 16. Jahrhundert lang, aber die Zusammensetzung langeweile und das Verb langweilen tauchen erst seit dem 18. Jahrhundert auf (Deutsches Wör­

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rie für Frustration, Depression, Melancholie, Apathie und anderes mehr zum bloßen intellektuellen Konstrukt erklärt wurde.33 Bezeichnenderweise sollte der einschlägige Roman Sartres ursprünglich Melancholie heißen. Als er im zweiten Anlauf des damals noch nicht berühmten Verfassers 1938 endlich angenommen wurde, konnte der Verlag den Titel unschwer in das reißeri­ sche Ekel (la nausée) ändern. Das Leiden seines Helden hätte man im Mit­ telalter aber als Acedia bezeichnet,34 als chronisch mürrisches Wesen. Doch bereits beim antiken Philosophen Seneca findet man in De Tranquillitate Animi (II 8–9, 14) die Feststellung, dass die inmitten unerfüllter Wünsche erstarrende und verrottende Seele ihre Einsamkeit nicht aushalte und daher den Genuss suche, den unstete Geschäftigkeit gewähre, unter anderem durch Reisen. Auf diese Weise flieht vor sich selbst ein jeder stets, habe schon Lukrez geschrieben. Und wenn (XII 1–6) diese sinnlose Geschäftigkeit beschnitten werden müsse, dann laute die Antwort auf die Frage  : Wohin, mein Freund  ? Ich weiß es nicht, aber ich werde schon etwas zu tun finden – ein Leben ruhe­ loser Untüchtigkeit.35 Man fühlt sich an den Witz vom Großprofessor D. O. erinnert, der ins Taxi stieg und auf die Frage des Chauffeurs, wohin er wolle, antwortete  : Bringen Sie mich irgendwo hin  ; ich habe überall zu tun. Da es uns aber um die Empfindung von Sinnlosigkeit geht, die diesen ver­ schiedenen Gemütszuständen gemeinsam ist, können wir ungescheut bei der Sammelkategorie Langeweile bleiben, müssen sie aber graduell differenzieren. Drei oder vier Typen lassen sich unterscheiden,36 die freilich einerseits durch­ aus vielgestaltig ausfallen und andererseits ineinander übergehen können – m. E. ein Beweis für ihren inneren Zusammenhang. Erstens die langweilige Situ­ ation, etwa des Wartens auf eine Person oder auf das Ende eines Vortrags oder auf die Bearbeitung eines Antrags. Selbst diese alltäglich elementare Lange­ weile kann aber in die Sinnlosigkeit des Wartens auf Godot münden. Zweitens die Langeweile aus Überdruss – man hat einen Ort oder ein Gremium oder einen Partner oder ein Thema ganz einfach satt, wodurch sie sinnlos geworden terbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 6, bearbeitet von Moriz Heyne, Leipzig 1885, 159, 173, 184). 33 Peter Toohey, Boredom. A Lively History, New Haven u. a. 2011, 5  ; vgl. auch Pascale Goet­ schel/Christophe Granger/Nathalie Richard/Sylvain Venayre (Hg.), L’ennui. Histoire d’un état d’âme, Paris 2012. 34 Toohey, 125 f. 35 L. Annaeus Seneca, Philosophische Schriften lateinisch und deutsch, Bd. 2, Darmstadt 1999, 114–117, 152–155. 36 Nach Doehlemann.

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sind. Drittens die existenzielle Langeweile, das Gefühl der eigenen Leere und der Sinnlosigkeit des Daseins oder sogar des Seins, die einen mehr oder weni­ ger konkreten Grund in der Verzweiflung über den unzulänglichen Zustand der eigenen Existenz haben oder aber auf grundlosen Weltschmerz hinauslau­ fen kann, wie in Fernando Pessoas Extremform der portugiesischen saudade.37 Vom ersten zum dritten Typ nimmt übrigens in der Regel die Reflexion über Sinnlosigkeit zu. Existenzielle Langeweile kann sich aber auch aus mehr oder weniger bewusst hergestellter ironischer Distanz zur Welt ergeben, aus bemühter Gelassenheit, etwa aus der ästhetischen Perspektive des Dandy. So wird Ernst Jünger nach­ gesagt, er habe die Sinnlosigkeit des Krieges für sich in Spiel verwandelt, den Ersten Weltkrieg höchst aktiv als postpubertäres Kriegsspiel betrieben, den Zweiten eher als gigantische Theateraufführung für sich selbst als Zuschauer betrachtet.38 Möglicherweise ist es ein Indiz für die epidemische Verbreitung von existenzieller Langeweile, dass diese ursprünglich extrem elitäre Einstel­ lung inzwischen in einer Schwundform als cool zum Ideal der Jugend werden konnte. Diese Art Langeweile lässt sich auch einfach genießen. Dem Aushalten sol­ cher Langeweile wird aber viertens sogar eine positive Qualität und produk­ tive Kraft zugeschrieben. Für Existenzialisten ist sie eine Grunderfahrung des Daseins. Nach Heidegger zwingt uns die Gleichgültigkeit der totalen Leere zum Hören auf das Eigentliche. Ein neues Reflexionspotential wird entbun­ den.39 Denn wenn man jene Form von Melancholie aushält, die mit illusionsloser Klarheit verbunden ist, kann Langeweile laut Nietzsche zur Quelle von Kreativität werden.40 Die dazu erforderliche Einsamkeitsfähigkeit ist allerdings zurückgegangen.41 Die Beschreibung der verschiedenen Typen von Langeweile trägt bereits zu ihrer Erklärung bei. Es werden aber darüber hinaus noch weitere Erklärungs­ versuche angeboten. Zunächst einmal sind Individuen in unterschiedlichem Ausmaß für Langeweile anfällig,42 hyperaktive ZeitgenossInnen sogar ganz be­ 37 Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, Frankfurt 1987 (portugiesisch 1982). 38 Ulrich Prill, mir ward Alles Spiel. Ernst Jünger als homo ludens, Würzburg 2002. 39 Franziska Heller u. a. (Hg.), Paradoxien der Langeweile, Marburg 2008, 6, 10, 14 f., 28 f.; Svendsen, 116, 126, 141. 40 Kern, 56, 371. 41 Ebd., 462. 42 Toohey, 48–50.

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sonders,43 was dann wiederum zu hyperaktiver Langeweilebekämpfung führt. Grundlegend ist der bereits angesprochene biologische Sachverhalt unserer körperlichen und psychischen Stimulationsverarmung in reizarmer, gefahrlo­ ser Umwelt. Daher ist unser stammesgeschichtlich programmiertes Aktions- und Triebpotential aus den Fugen geraten. Unserer auf Gefahr, Stress, Anstrengung, Kampf und Bindung angelegten Anatomie und Physiologie entsprechend müssen wir uns ausreichend bewegen und unsere Triebe leben. Es ist […] keine Frage, ob diese physische Unterforderung, die Entmythologisierung, die zunehmende Sicherheit oder die Verwissenschaftlichung unseres Weltbildes eine Verlangweilung unserer Welt bewirkt haben.44 Das gilt nicht nur für körperliche Bewegung, sondern für alle Bereiche menschlicher Tätigkeit. Denn auch die Arbeit, die nicht nur von Sombart zu Recht als Therapie für Langeweile betrachtet wird, löst das Gefühl von Sinnverlust aus, wenn sie uns unter- oder überfordert. Auch die Stilllegung unserer Aktivität durch Überversorgung kann dieselbe Wirkung haben. Aber nicht nur in solchen Fällen handelt es sich um Reaktionen auf versagte Selbst­ verwirklichung. Von massiver Direktheit ist der Sinnverlust schließlich, wo Orientierung, Werte und Transzendenz verloren gegangen sind. Man braucht sich zu dieser Feststellung nicht einmal auf die Theologie zu beziehen, für die seit Pascal der Mensch in existenzieller Langeweile seine Nichtigkeit ohne Gott erfährt.45 Langeweile zu genießen oder sie sogar kreativ umzusetzen, sind heutzutage, wo sie ein Massenphänomen geworden ist, nicht mehr viele Menschen fähig. Die Regel sind Versuche zu ihrer Überwindung durch Kompensation, wobei sich manches Heilmittel nicht selten als Placebo entpuppt.46 Denn die Be­ kämpfung des Symptoms Langeweile heilt nicht automatisch auch die Krank­ heit Sinnverlust, zumal die Betroffenen diesen Zusammenhang häufig über­ haupt nicht oder nur undeutlich erkennen. Maria Kern hat die verschiedenen Kompensationsversuche ein bisschen spielerisch als Transgressionen, Transformationen, Translokationen und Transaktionen zu systematisieren versucht.47 Das meiste Aufsehen erregen natürlich die Transgressionen, die Versuche, der Langeweile durch Überschreitung von Grenzen zu entkommen, die dann als besonders intensive Art zu leben verherrlicht werden können. Tatsächlich 43 Svendsen, 26  ; Kern, 337. 44 Kern, 80 f. 45 Svendsen, 58  ; Doehlemann. 46 Svendsen, 29. 47 Kern, 65.

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lässt sich der Zusammenhang zwischen Langeweile und Exzessen aller Art em­ pirisch nachweisen. Riskante Aktivitäten erhöhen die Dopaminausschüttung im Gehirn, die alternativ durch Drogen herbeigeführt werden kann.48 Neben Drogen, auch Alkohol und Nikotin, wählen sensation seekers gefährliche Be­ rufe und bevorzugen Hochleistungs- und Extremsportarten, sie lieben schnelle Autos und Motorräder und zeichnen sich durch rasante Fahrweise aus, sie be­ vorzugen schwierige moderne Kunst und neigen zu häufigem Partnerwechsel,49 denn bekanntlich ist inzwischen sogar Sex für Langeweile anfällig geworden.50 Wer das Risiko begrenzen möchte, fährt wenigstens mit dem Mountainbike, dem Motocrossrad oder dem Quad durch die Gegend oder kauft sich ein SUV. Gewalt kann bei Transgressionen durchaus eine Rolle spielen. Sogar Kriege wurden zwar nicht aus Langeweile begonnen, aber immerhin begeistert be­ grüßt51 – nicht nur von Ernst Jünger und seinesgleichen. Zumindest die in diesem Fall nicht immer »schöne« Literatur kennt Morde52 und Selbstmorde aus Langeweile. Es gibt ja auch die Möglichkeit, Exzesse aller Art von den stän­ digen Autorasereien des amerikanischen bis zu den ständigen Kriegsfilmen des chinesischen Fernsehens medial zu konsumieren. Freilich dürfte diese medial reduzierte Transgression für die Bekämpfung von Langeweile eher kontrapro­ duktiv sein, denn das Fernsehen gilt ja als medialisierte Langeweile.53 Der Translokation sind wir bereits bei Seneca begegnet, dem Dromomanen54 mit seinem unstillbaren Bewegungs- und Reisebedürfnis, denn mit dem An­ kommen beginnt bereits wieder die Langeweile. Allein das Mittelmeergebiet wird jedes Jahr von 200 Millionen Touristen heimgesucht – ob sie dort ihrer Langeweile entkommen sein mögen  ? Ortsveränderung lässt sich zudem leicht mit Risiko kombinieren. Vom rasanten Fahren war schon die Rede. Aber auch die serienweise Bezwingung von Achttausendern wurde von einem Bergsteiger als seelischer Orgasmus bezeichnet.55 Transformation und Transaktion dürften hauptsächlich mentale Operatio­ nen sein, wenn etwa eine langweilige Tagung in ein fröhliches gesellschaftliches 48 Toohey, 55. 49 Kern, 307  ; Nicolai Hannig/Hiram Kümper (Hg.), Abenteuer. Zur Geschichte eines parado­ xen Bedürfnisses, Paderborn 2015. 50 Toohey, 20, 25. 51 Svendsen, 18 f. 52 Z. B. Bret Easton Ellis, American Psycho, Köln 1991. 53 Heller u. a., 21. 54 Toohey, 71–75. 55 Kern, 78 f.

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Ereignis mit Wiedersehen umgedeutet und ihr dadurch Sinn verliehen wird, oder wenn eine langweilige Tätigkeit dadurch einen Sinn bekommt, dass ihre Abwicklung ein Erfolgs- und Wohlgefühl verschafft. Auch der Vollzug einer ri­ tuellen Handlung kann, wie gesagt, eine ähnliche Befriedigung hervorbringen. Merkwürdigerweise bewahrt uns das in unserer Kultur selbstverständliche Gefühl, keine Zeit zu haben, keineswegs vor der Langeweile, die doch wörtlich genommen eigentlich darin besteht, dass einem die Zeit lang wird, dass man überflüssige Zeit hat. Merkwürdigerweise geht Sinnverlust also mit Zeitver­ lust einher. Zeit ist einerseits die physikalisch messbare, objektive Dauer des Geschehens – oder Nicht-Geschehens. Zeit ist andererseits aber auch unsere Wahrnehmung ihrer Dauer, die von unserer Bewertung abhängen kann, dem Wunsch nach dem Andauern oder nach dem möglichst raschen Ende einer erlebten Zeitspanne.56 Heutzutage stehen wir freilich unter dem Zwang, das rasche Ende relativ kurzer Zeitabschnitte nacheinander wünschen zu müssen. Diese allgemeine Beschleunigung in der Moderne mag ihre äußeren Gründe haben, ist aber inzwischen zu einem selbstantreibenden Prozess geworden, der durchaus sei­ nen Sinn hat, den wir uns jedoch in der Regel nicht eingestehen. Angesichts des Verlusts der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode geht es uns nämlich um ein erfülltes Leben, das im Auskosten möglichst vieler Optionen bestehen soll, die unsere hoch entwickelte Kultur und unsere enorm verlängerte durch­ schnittliche Lebenszeit bereithalten. Wer viele reiche Möglichkeiten verwirk­ licht, braucht angeblich den Tod als Optionsvernichter nicht zu fürchten. Be­ schleunigung wird so zu einem säkularen Ewigkeitsersatz, zu einem funktionalen Äquivalent religiöser Vorstellungen vom ewigen Leben und damit zur modernen Antwort auf den Tod.57 Dieser bittere analytische Befund bleibt freilich ohne sinnstiftende Wirkung und bewahrt daher niemanden vor der paradoxen Er­ fahrung, dass Zeitmangel und Langeweile Hand in Hand gehen. Eigentlich hat uns die Moderne ja mit der Reduzierung der Arbeitszeit die Freizeit, das freie Wochenende, den Urlaub beschert, also einen Überfluss an Zeit.58 Die Freizeit ist tatsächlich der Ort der meisten Aktivitäten, die durch Transgression und Translokation die Langeweile bekämpfen wollen. Das gelingt 56 Ebd., 96, 102, 107. 57 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, 10. Aufl., Frankfurt 2014, 472. 58 Wolfgang Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, 471 f.

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aber keineswegs immer. Ist es nur fehlende Fähigkeit zur Selbstmotivation,59 die zur notorischen Freizeitlangeweile führt, die manche Leute den Wiederbeginn der Arbeitswoche herbeisehnen lässt  ? Bis dahin muss die überflüssige Zeit ir­ gendwie verbraucht werden. Die effektivste Maschine zur Zeitvernichtung ist aber der Fernseher.60 Dem Fernsehen mit seinem endlosen Programmfluss fehlt temporal begründet jede Sinnstruktur  ; es wird geradezu zum Medium der Lan­ geweile, denn es konkretisiert Langeweile. Das beliebte Zappen ist Ausdruck der Zerstückelung von Zeit und Sinn. Nicht die Langeweile wird vertrieben, sondern die Zeit. Fernsehen fesselt also gerade, weil es langweilig ist.61 Allerdings hat sich das Smartphone in dieser Hinsicht zu einer Alternative zum Fernseher entwickelt. Wenn uns langweilig ist, müssen wir die Zeit totschlagen oder mindestens die Zeit vertreiben. Der klassische Zeitvertreib ist aber das Spiel, das uns schon mehrfach begegnet ist. Nach der immer noch aktuellen Definition von Hui­ zinga ist Spiel eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Raum und Zeit nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und der Freude und einem Bewusstsein des »Andersseins« als das »gewöhnliche Leben«.62 Aus der Perspektive des Umgangs mit Langeweile, des Zeitvertreibs, wäre Spiel die Transgression und Translokation schlechthin, nämlich der Übergang in eine andere Welt. Sie hat ihren eigenen Sinn, den man für den durch Lange­ weile verlorengegangenen eintauschen möchte. Wer denkt nicht an die Rollen­ spiele der Kinder oder an die Verkleidungsspiele des Karneval  ! Glücksspiele stellen eine sehr beliebte Art von Transgression ins Risiko dar. In der Regel sind sie nicht übermäßig gefährlich – es pflegt sich ja meist nicht um russisches Roulette zu handeln –, können aber durchaus zur Sucht wer­ den. Neben der freilich nicht im wörtlichen Sinne billigen Freude am Wagnis spielt die Sehnsucht nach Reichtum mit. Unzählige Märchen haben ja un­ sere Fantasie damit genährt. Prompt haben sich die Obrigkeiten des seit dem 15. Jahrhundert in Italien nachzuweisenden Lottos bemächtigt und betreiben seither eine zweideutige Politik gleichzeitiger Nutzung und Bekämpfung von Glücksspielen.63 59 Kern, 15. 60 Svendsen, 26. 61 Heller u. a., 21. 62 Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (1938), Reinbek 2001, 37. 63 Günther G. Bauer (Hg.), Lotto und Lotterie, München 1997.

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Denn Sportwetten wie das deutsche Fußballtoto sind ebenfalls eine beliebte und ertragreiche Variante des Glückspiels, gewissermaßen ein Spiel zweiten Grades, denn es geht dabei um den Sieger in Wettkampfspielen. Aber Sport ist oft kein Spiel mehr, sondern härteste Arbeit, denn er ist längst zum großen Geschäft geworden. Viele Hobbies und andere spielerische Aktivitäten geraten leicht zu ernster und angestrengter Arbeit unter Leistungsdruck, wie der Sport so die Musik, der Tanz, die Kunst und Literatur und sogar der Sex. Zum be­ zahlten Geschäft ist es dann nur noch ein Schritt, zumal wenn eine umfangrei­ che Gemeinde passiver Bewunderer das Spiel als Schauspiel genießen will. Die Wissenschaft ist, historisch gesehen, sogar den Weg vom elitären Hobby zum knallharten Geschäft vorangegangen. Die Spielregeln bleiben dann bisweilen auf der Strecke. Nicht nur Sport­ spiele, sondern auch Karten-, Brett-, Gesellschafts- und andere Spiele finden nämlich nicht in spielerischer Freiheit statt, sondern unterliegen strengen Regeln. Manche enthalten ein hohes rationales Potential, das mathematisch nachkonstruiert werden kann. So geht es in der Spieltheorie durchaus um ein rationales Kalkül der möglichen Züge des Gegners und ihrer Folgen. Und die vielberufenen Sprachspiele Wittgensteins laufen auf den Einsatz von Wörtern nach bestimmten Spielregeln hinaus, analog zum Umgehen mit den Figuren des Schachspiels.64 Für freies Spielen, das keinen Regeln, sondern der Fantasie folgt, ist da­ bei kein Platz. Es ist also nur konsequent, wenn immer wieder Versuche un­ ternommen werden, dem freien Spiel der Tiere und der Kinder, das keinen erkennbaren Zweck hat, einen Nutzen unterzuschieben, der wenigstens den Regeln der Evolution gerecht wird. Doch gerade wenn wir nach Huizinga Kul­ tur nicht etwa als Ergebnis von Spiel, sondern ursprünglich selbst als Spiel be­ trachten wollen,65 müssen wir von Grenzen und Regeln absehen. Denn neben dem Spiel nach Regeln gibt es auch das spielerische, das heißt nicht zweckge­ bundene Ausprobieren neuer Möglichkeiten als die kreativere Option. Negativ gewendet  : Freiheit kann auch im Nichtnutzen von Möglichkeiten bestehen (Theodor Adorno).66 Doch wenn das Ergebnis ein Chaos wäre  ? Umso besser, meinte Constant Anton Nieuwenhuys in seiner Polemik gegen den Funktionalismus. Die funk­ 64 Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, Stuttgart 1978, 589 f. 65 Huizinga, 189. 66 Rosa, 469.

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tionale Stadt nach Corbusier ist für ihn ein Arbeitslager und deshalb an ar­ beitsfreien Tagen von trister Langeweile. Doch wenn heute die Flucht aus der Arbeitswelt ins spielerische Leben möglich wird, dann muss dieses Spiel cha­ otisch sein, denn sonst würde es, wie die Erfahrung mit verschiedenen Alter­ nativkulturen lehrt, unverzüglich von der Warenwelt der Konsumgesellschaft vereinnahmt und damit stillgelegt und seiner Kreativität beraubt.67 Wir wissen heute nicht nur, dass Fantasie und Emotionen, also prinzipiell chaotisches Verhalten, eine wichtige Rolle beim Lösen von Problemen spielen können,68 sondern auch, dass Chaos, genau besehen, auf eine höchst subtile Ordnung hinausläuft,69 die im Prinzip hoch determiniert ist und sich berech­ nen lässt. Allerdings ist dazu eine neue Mathematik nicht-linearer Gleichungen erforderlich70 und die Berechenbarkeit setzt dennoch bei zunehmender Kom­ plexität rasch aus. Chaos ist demnach ein Gefüge von Strukturen mit über­ wiegend unbekannten Ordnungsparametern, Zufall das Ergebnis eines hoch­ komplexen Netzes von Kausalitäten. Beide durchschauen wir nicht, wir wissen aber, dass es sie gibt.71 Wir können demnach das Auftreten neuer Phänomene nicht vorhersagen und oft nicht einmal erklären, wissen aber, dass dabei die Selbstorganisation der beteiligten Elemente durch gegenseitige Beeinflussung eine Rolle spielt. Das Ganze ist dann mehr als seine Teile. Zum Beispiel kommt das Schwarmverhalten einer großen Zahl von Individuen durch Orientierung am Nachbarn zustande.72 Nicht nur an Vögeln und Fischen, sondern auch am Autoverkehr der Megastadt Beijing lässt sich beobachten, dass nicht die Beob­ achtung von Regeln, sondern die Orientierung an den Nachbarn das Chaos in einen geordneten, unfallfrei fließenden Strom verwandelt.73 Auch Evolution funktioniert nicht nur durch Selektion, sondern auch durch Selbstorganisation, forsch formuliert  : nicht nur durch Überlebenskampf, son­ dern auch durch Zusammenarbeit.74 Ihr Fortschreiten erfolgt daher eben­ falls nicht linear, sondern chaotisch. Auch Geschichte entsteht großenteils 67 Constant, Spielen oder töten. Der Aufstand des Homo ludens, Bergisch Gladbach 1971. 68 Joachim Funke in  : Ordnung und Chaos. Ruperto Carola Forschungsmagazin 3, Dezem­ ber 2013, 37–43. 69 John Briggs/Francis David Peat, Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaos-The­ orie, 9. Aufl., München 2006, 276. 70 Briggs/Peat  ; Leonard A. Smith, Chaos, Stuttgart 2010. 71 Hans-Georg Bock/Stefan Maul in  : Ordnung und Chaos, 8–15. 72 Günter Dedié, Die Kraft der Naturgesetze. Emergenz und kollektive Fähigkeiten von den Elementarteilchen bis zur menschlichen Gesellschaft, Hamburg 2014, 9, 85–91, 179. 73 Beobachtung des Verfassers im Herbst 2015. 74 Dedié, 158.

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durch Häufung nicht beabsichtigter Nebenwirkungen von Handlungen, die ursprünglich ganz andere Ziele verfolgten, durch Akkumulation von Zufalls­ ergebnissen, in Schüben, mit gelegentlichen Rückschritten. Deswegen lässt sie sich oft nicht streng kausal erklären, sondern höchstens beschreiben und ver­ stehen. Wenn wir die Welt als Chaos begreifen lernen, nähern wir uns einer Lö­ sungsmöglichkeit für das Problem des Sinns des vielen Unsinns im Leben. Denn Leben luxuriert chaotisch, bringt spielerisch vielerlei Dinge hervor, von denen viele untergehen, während einige sich bewähren und überleben, andere sich durch Selbstorganisation zu neuen fügen. Zum Beispiel stellen wir ver­ zweifelt fest, dass es zu allen Problemen unserer Zeit eine solche Fülle trefflicher Analysen und Lösungsvorschläge gibt, dass es schwer fällt, noch etwas Neues beizutragen, und dass trotzdem nichts geschieht. Doch auf einmal findet durch Zufall ein guter von den vielen Entwürfen dennoch Akzeptanz. Deren ganzer Unsinn hat damit Sinn bekommen. Frustriert erleben wir den Leerlauf lang­ weiliger wissenschaftlicher Tagungen und überflüssiger Veröffentlichungen. Doch auf einmal taucht aus diesem Wust ein innovativer Forschungsbeitrag auf, der ohne solche Aktivitäten nicht entstanden wäre. Abermals hat der ganze Unsinn Sinn bekommen. Die Chaosstruktur des Daseins ist vielversprechend und kann daher Geduld mit vielem Unsinn verlangen – freilich, wie unsere Analyse gezeigt haben sollte, nicht mit allem  !

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Bibliographie Wolfgang Reinhard (Stand 2016)

I. Selbständige Veröffentlichungen (chronologisch)

1. Verfasser oder Bearbeiter 1. Die Reform in der Diözese Carpentras unter den Bischöfen Jacopo Sadoleto, Paolo Sadoleto, Jacopo Sacrati und Francesco Sadoleto 1517–1596 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 94), Münster 1966. 2. Nuntiaturberichte aus Deutschland. Die Kölner Nuntiatur. Hg. durch die Görres-Gesell­ schaft. Bd. V/1/1–2  : Nuntius Antonio Albergati (1610 Mai–1614 Mai), Paderborn 1972. 3. Papstfinanz und Nepotismus unter Paul V. (1605–1621). Studien und Quellen zur Struk­ tur und zu quantitativen Aspekten des päpstlichen Herrschaftssystems (Päpste und Papst­ tum 6/I–II), Stuttgart 1974. 4. Freunde und Kreaturen. Verflechtung als Konzept zur Erforschung historischer Führungs­ gruppen. Römische Oligarchie um 1600 (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Uni­ versität Augsburg 14), München 1979. 5. Mit Hans Fenske/Dieter Mertens/Klaus Rosen. Geschichte der politischen Ideen von Homer bis zur Gegenwart, Königstein 1981, 2. Aufl. Frankfurt 1987, 3. Aufl. Frankfurt 1996, 4. Aufl. Frankfurt 2003  ; italienische Übersetzung  : Il pensiero politico moderno, Bologna 2000. 6. Hendrik Witbooi. Afrika den Afrikanern. Aufzeichnungen eines Nama-Häuptlings aus der Zeit der deutschen Eroberung Südwestafrikas 1884–1894, Bonn 1982. 7. Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 1  : Die Alte Welt bis 1818, Stuttgart 1983  ; italienische Übersetzung  : Storia dell’espansione europea, Neapel 1987. 8. Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 2  : Die Neue Welt, Stuttgart 1985. 9. Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 3  : Die Alte Welt seit 1818, Stuttgart 1988. 10. Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 4  : Dritte Welt Afrika, Stuttgart 1990. 11. Mit Petra May-Neher. Die alltägliche Conquista. Zwölf Briefe des Pedro de Valdivia von der Eroberung Chiles 1545–1552, Frankfurt 1995. 12. Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 1996, 2. Aufl. 2008  ; französische Übersetzung  : Petite histoire du colonialisme, Paris 1997  ; italienische Übersetzung  : Storia del colonialismo, Turin 2002  ; englische Übersetzung  : A Short History of Colonialism, Manchester 2011. 13. Parasit oder Partner  ? Europäische Wirtschaft und Neue Welt 1500–1800, Münster 1997. 14. Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 1997. 15. Papauté, Confessions, Modernité, Paris 1998. 16. Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den An­ fängen bis zur Gegenwart, München 1999  ;1 italienische Übersetzung  : Storia del potere poli­ tico in Europa, Bologna 2001. 1 Die Geschichte der Staatsgewalt wurde 2001 mit dem Preis des Historischen Kollegs/Deutschen Historikerpreis ausgezeichnet.

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17. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., Bd. 9  : Probleme deutscher Ge­ schichte 1495–1806, Reichsreform und Reformation 1495–1555, Stuttgart 2001. 18. Glaube und Macht. Kirche und Politik im Zeitalter der Konfessionalisierung, Freiburg 2004. 19. Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004  ; polnische Übersetzung  : Zycie po europejsgku. Od czasów najdawniejszych do współczesności, Warszawa 2009. 20. Unsere Lügengesellschaft. Warum wir nicht bei der Wahrheit bleiben, Hamburg 2006  ; koreanische Übersetzung. 21. Geschichte des modernen Staates, München 2007  ; italienische Übersetzung  : Storia dello stato moderno, Bologna 2010. 22. Globalisierung des Christentums (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Hei­ delberger Akademie der Wissenschaften 41 [2007]), Heidelberg 2007. 23. Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropolitische Papstgeschichte (Päpste und Papsttum 37), Stuttgart 2009. 24. Die Nase der Kleopatra. Ein Spaziergang durch die Weltgeschichte, Freiburg 2011. 25. Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016. 2. Herausgeber 1. Mit Hans Fenske/Ernst Schulin. Historia integra. Festschrift für Erich Hassinger, Berlin 1977. 2. Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 20), München 1981. 3. Fragen an Luther. Vortragsreihe der Universität Augsburg zum Luther-Jahr 1983 (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 28), München 1983. 4. Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts (Mitteilungen XII der Kom­ mission für Humanismusforschung der DFG – Acta Humaniora), Weinheim 1984. 4. Mit Gunther Gottlieb u. a. Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegen­ wart, Stuttgart 1984, 2. Aufl. 1985. 5. Humanismus und Neue Welt (Mitteilungen XV der Kommission für Humanismusforschung der DFG – Acta Humaniora), Weinheim 1987. 6. Mit Hans-Joachim König/Reinhard Wendt. Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung (Zeitschrift für Historische For­ schung, Beiheft 7), Berlin 1989. 7. Imperialistische Kontinuität und nationale Ungeduld im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1991. 8. Mit Peter Waldmann. Nord und Süd in Amerika. Gegensätze, Gemeinsamkeiten, Europäi­ scher Hintergrund (Rombach Historiae 1, 1–2), Freiburg 1992. 9. Mit Adriano Prosperi. Il Nuovo Mondo nella coscienza italiana e tedesca del Cinquecento (Annali dell’Istituto storico italo-germanico, Quaderno 33), Bologna 1992  ; deutsche Ausgabe  : Die Neue Welt im Bewußtsein der Italiener und Deutschen des 16. Jahrhunderts (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 6), Berlin 1993. 10. Die fundamentalistische Revolution. Partikularistische Bewegungen der Gegenwart und ihr Umgang mit Geschichte (Rombach Historiae 8), Freiburg 1995. 11. Mit Heinz Schilling. Die Katholische Konfessionalisierung. Wissenschaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reforma­ tionsgeschichte 1993 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 135), Münster 1995/ (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 198), Gütersloh 1995.

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12. Power Elites and State Building in Europe (13th–18th Centuries) (The Origins of the Mo­ dern State IV), Oxford 1996  ; französische Ausgabe  : Les élites du pouvoir et la construction de l’État en Europe (Les origines de l’État moderne en Europe), Paris 1996  ; spanische Ausgabe  : Las élites del poder y la construcción del Estado, México/Madrid 1997. 13. Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500–1620, bearb. von Mark Häberlein/Ulrich Klinkert/Katarina Sieh-Burens/Reinhard Wendt, Berlin 1996. 14. Mit Paolo Prodi. Il Concilio di Trento e il Moderno (Annali dell’Istituto storico italo-ger­ manico, Quaderno 45), Bologna 1996  ; deutsch  : Das Konzil von Trient und die Moderne (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient), Berlin 2001. 15. Nuntiaturberichte aus Deutschland nebst ergänzenden Aktenstücken. Die Kölner Nuntiatur Bd. V,1 Ergänzungsband  : Nuntius Antonio Albergati (1610 Mai–1613 Mai), bearb. von Peter Burschel, Paderborn 1997. 16. Verstaatlichung der Welt  ? Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Machtprozesse (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 47), München 1999. 17. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl. Bd.  10  : Maximilian Lanzinner, Konfessionelles Zeitalter 1555–1618  ; Gerhard Schormann, Dreißigjähriger Krieg 1618–1648, Stuttgart 2001. 18. Bd. 11  : Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763, Stuttgart 2006. 19. Bd. 12  : Walter Demel, Reiche, Reformen und sozialer Wandel 1763–1806, Stuttgart 2005. 20. Mit Paolo Prodi. Identità collettiva tra Medioevo ed Età Moderna, Bologna 2002. 21. Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese 1605–1621 zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua, Tübingen 2004. 22. Mit Justin Stagl. Grenzen des Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie 8), Wien 2005. 23. Mit Justin Stagl. Märkte und Menschen. Studien zur historischen Wirtschaftsanthropologie (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie 9), Wien 2007. 24. Krumme Touren. Historische Anthropologie kommunikativer Umwege (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie 10), Wien 2007. 25. Sakrale Texte. Hermeneutik und Lebenspraxis in den Schriftkulturen, München 2009. 26. Mit Rolf Gröschner. Tage der Revolution – Feste der Nation (Politika 3), Tübingen 2010. 27. Mit Meinrad Böhl und Peter Walter. Hermeneutik. Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart. Dichtung – Bibel – Recht – Geschichte – Philosophie, Wien 2013. 28. 1350–1750 Weltreiche und Weltmeere (Geschichte der Welt, Bd. 3), München 2014  ; amerikanische Übersetzung  : Empires and Encounters 1350–1750, Cambridge, MA 2015. 29. Mit Antje Linkenbach und Martin Fuchs. Individualisierung durch christliche Mission  ? (Stu­ dien zur außereuropäischen Christentumsgeschichte 24), Wiesbaden 2015.

II. Unselbständige Veröffentlichungen (chronologisch)

1. Sadoleto, Jacopo, in  : Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 9, Freiburg 1964, 209. 2. Jacopo Sadoletos De christiana ecclesia, Angelo Mai und der Zölibat, in  : Römische Quartal­ schrift 62 (1967) 84–93.

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3. Akten aus dem Staatssekretariat Pauls V. im Fondo Boncompagni-Ludovisi der Vatikanischen Bibliothek, in  : Römische Quartalschrift 62 (1967) 94–101. 4. Kardinal Millino als Sachverständiger der Kurie für Fragen der deutschen Politik. Ein Gut­ achten zur Gefangennahme des Salzburger Erzbischofs Wolf Dietrich von Raitenau 1611, in  : Römische Quartalschrift 62 (1967) 232–239. 5. Zur Geschichte der Kirchengeschichtsschreibung, in  : Römische Quartalschrift 63 (1968) 92–103. 6. Papst Paul V. und seine Nuntien im Kampf gegen die Supplicatio ad imperatorem und ihren Verfasser Giacomo Antonio Marta 1613–1621, in  : Archiv für Reformationsgeschichte 60 (1969) 190–238. 7. Ein römisches Gutachten vom Juli 1612 zur Strategie der Gegenreformation im Rheinland, in  : Römische Quartalschrift 64 (1969) 168–190  ; Nachdruck in  : E. W. Zeeden (Hg.), Gegen­ reformation, Darmstadt 1973, 270–301. 8. Katholische Reform und Gegenreformation in der Kölner Nuntiatur 1584–1621. Aufgaben und erste Ergebnisse eines Editionsunternehmens der Görres-Gesellschaft (Nuntiaturbe­ richte aus Deutschland. Die Kölner Nuntiatur I–V), in  : Römische Quartalschrift 66 (1971) 8–65. 9. Papa Pius. Prolegomena zu einer Sozialgeschichte des Papsttums, in  : Von Konstanz nach Trient. Festgabe für August Franzen, Paderborn 1972, 261–299. 10. Ämterlaufbahn und Familienstatus. Der Aufstieg des Hauses Borghese 1537–1621, in  : Quel­ len und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 53 (1974) 328–427. 11. Katholische Minderheiten im Erzstift Bremen. Der Bericht des Apostolischen Visitators Ar­ nold Budelius über Harsefeld, Altkloster, Neukloster und Zeven aus dem Jahre 1611, in  : Stader Jahrbuch 1974, 7–21. 12. Staatsmacht als Kreditproblem. Zur Struktur und Funktion des frühneuzeitlichen Ämterhan­ dels, in  : Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 61 (1974) 289–319  ; Nachdruck in  : E. Hinrichs (Hg.), Absolutismus, Frankfurt 1986, 214–248. 13. Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstanten, in  : Zeitschrift für Kirchengeschichte 86 (1975) 145–185. 14. Dortmund, Essen und die Grafschaft Mark in einer apostolischen Visitation des Jahres 1611, in  : Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 79 (1976) 379–385. 15. Gelenkter Kulturwandel im 17. Jahrhundert. Akkulturation in den Jesuitenmissionen als universalhistorisches Problem, in  : Historische Zeitschrift 223 (1976) 529–590  ; Kurzfassung  : Jesuitenmissionen und Kulturkontakte in der frühen Neuzeit (China), in  : The Church in a Changing Society. Conflict, Reconciliation or Adjustment  ? Proceedings of the CIHEC-Con­ ference in Uppsala, August 17–21, 1977, Uppsala 1978, 463–471  ; zugleich in  : Kyrkohisto­ risk arsskrift 78 (1978) 472–476. 16. Herkunft und Karriere der Päpste 1417–1963. Beiträge zu einer historischen Soziologie der römischen Kurie, in  : Mededelingen van het Nederlands Historisch Instituut te Rome 38 (1976) 87–108. 17. Gegenreformation als Modernisierung  ? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in  : Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977) 226–252. 18. Theorie und Empirie bei der Erforschung frühneuzeitlicher Volksaufstände, in  : Historia in­ tegra. Festschrift für Erich Hassinger, Berlin 1977, 173–200  ; Nachdruck in  : W. Schulze (Hg.), Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit, Frankfurt 1982, 66–99. 19. Sozialimperialismus oder Entkolonialisierung der Historie  ? Kolonialkrise und Hottentottenwahlen 1904–1907, in  : Historisches Jahrbuch 97/98 (1978) 384–417.

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20. Sozialgeschichte der Kurie in Wappenbrauch und Siegelbild. Ein Versuch über Devotions­ wappen frühneuzeitlicher Kardinäle, in  : E. Gatz (Hg.), Römische Kurie. Kirchliche Finan­ zen. Vatikanisches Archiv. Studien zu Ehren von Hermann Hoberg (Miscellanea Historiae Pontificiae 45/46), 2 Bde., Rom 1979, Bd. 2, 741–772. 21. Das Augsburger Bekenntnis im politischen Zusammenhang, in  : H. Jesse (Hg.), Das Augsbur­ ger Bekenntnis in drei Jahrhunderten, Weißenhorn 1980, 32–50  ; Kurzfassung  : Das Augsbur­ ger Bekenntnis in der Geschichte. Historische Betrachtungen zu einem Jubiläum, in  : Rieser Kulturtage, Dokumentation Bd. 3/1980, Nördlingen 1981, 154–170. 22. Glaube, Geld, Diplomatie. Die Rahmenbedingungen des Religionsgesprächs von Poissy im Herbst 1561, in  : G. Müller (Hg.), Die Religionsgespräche der Reformationszeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 191), Gütersloh 1980, 89–116. 23. Die kirchenpolitischen Vorstellungen Kaiser Karls V., ihre Grundlagen und ihr Wandel, in  : E. Iserloh (Hg.), Confessio Augustana und Confutatio. Der Augsburger Reichstag 1530 und die Einheit der Kirche (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 118), Münster 1980, 62–100, 113–126 (Diskussion). 24. Reformpapsttum zwischen Renaissance und Barock, in  : R. Bäumer (Hg.), Reformatio Ec­ clesiae. Beiträge zu kirchlichen Reformbemühungen von der Alten Kirche bis zur Neuzeit. Festgabe für Erwin Iserloh, Paderborn 1980, 779–796. 25. Konfession und Konfessionalisierung in Europa, in  : W. Reinhard (Hg.), Bekenntnis und Ge­ schichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang, München 1981, 165– 189. 26. Möglichkeiten und Grenzen der Verbindung von Kirchengeschichte mit Sozial- und Wirt­ schaftsgeschichte, in  : Spezialforschung und Gesamtgeschichte. Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 8 (1981) 243–278. 27. Nepotismus, in  : A. Erler/E. Kaufmann (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsge­ schichte, Bd. 2, Lief. 20, Berlin 1981, 947–951. 28. Bemerkungen zu Dynastie und Staat im Papsttum, in  : J. Kunisch (Hg.), Der dynastische Fürs­ tenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, Berlin 1982, 157–161. 29. Kardinalseinkünfte und Kirchenreform, in  : Römische Quartalschrift 77 (1982) 157–194  ; Kurzfassung  : Struttura e significato del sacro collegio tra la fine del XV e la fine del XVI secolo, in  : Città italiane del cinquecento tra riforma e controriforma (Convegno di Lucca 1983), Lucca 1988, 257–265. 30. Wertprobleme in der Geschichtswissenschaft, in  : Wertepluralismus und Wertewandel heute. Eine interdisziplinäre Veranstaltung zur 10-Jahres-Feier der Universität Augsburg (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 23), München 1982, 231–244. 31. Die Hexen und die Obrigkeit, in  : Journal für Geschichte 5 (1983), 18–25. 32. Das italienische Wirtschaftsleben im Zeitalter der Renaissance, in  : H. Lutz (Hg.), Huma­ nismus und Ökonomie (Mitteilungen VIII der Kommission für Humanismusforschung der DFG), Weinheim 1983, 61–86. 33. Reiseliteratur in der Oettingen-Wallersteinschen Bibliothek – ein Beitrag zur Erschließung, in  : Rieser Kulturtage, Dokumentation Bd. 4/1982, Nördlingen 1983, 443–457. 34. Schutzhaft für Martin Luther. Vor den Feierlichkeiten auf der Wartburg historische Anmer­ kungen über den Junker Jörg, in  : Augsburger Allgemeine 30. April 1983, 26. 35. Die Verwaltung der Kirche, in  : K. G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-C. von Unruh  : Deutsche Ver­ waltungsgeschichte, Bd. 1  : Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, Stuttgart 1983, 143–176.

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36. Warum hatte Luther Erfolg  ? in  : W. Reinhard (Hg.), Fragen an Luther. Vortragsreihe der Universität Augsburg zum Luther-Jahr 1983 (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 28), München 1983, 11–31. 37. Zwang zur Konfessionalisierung  ? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeital­ ters, in  : Zeitschrift für Historische Forschung 10 (1983) 257–277  ; italienische Übersetzung  : Confessionalizzazione forzata  ? Prolegomeni ad una teoria dell’età confessionale, in  : Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 8 (1982) 13–37  ; erweiterte amerikanische Übersetzung  : Reformation, Counterreformation, and the Early Modern State. A Reassessment, in  : The Catholic Historical Review 75,3 (1989) 383–404. Englische Übersetzung  : Pressures towards Confessionalization  ? Prologomena to a Theory of the Confessional Age, in  : C. Scott Dixon (Hg.), The German Reformation. The Essential Readings, Oxford 1999, 172–192. 38. Ämterhandel in Rom zwischen 1534 und 1621, in  : I. Mieck (Hg.), Ämterhandel im Spätmit­ telalter und im 16. Jahrhundert (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin Bd. 45), Berlin 1984, 42–60. 39. Mit Petra Neher. Brief des Conquistadors Pedro de Valdivia aus Chile an Kaiser Karl V. vom 15. Oktober 1550, in  : E. Schmitt (Hg.), Die großen Entdeckungen (Dokumente zur Ge­ schichte der europäischen Expansion 2), München 1984, 442–447. 40. Die Entstehung der Kolonialreiche, in  : Zeitschrift für Kulturaustausch 34 (1984) 241–246. 41. Finanza pontificia e Stato della Chiesa nel XVI e XVII secolo, in  : A. De Maddalena/H. Kellenbenz (Hg.), Finanze e ragion di Stato in Italia e in Germania nella prima età moderna (An­ nali dell’Istituto italo-germanico. Quaderno 14), Bologna 1984, 353–387  ; deutsch  : Papstfi­ nanz und Kirchenstaat im 16. und 17. Jahrhundert, in dies. (Hg.), Finanzen und Staatsräson in Italien und Deutschland in der frühen Neuzeit (Schriften des Italienisch-Deutschen His­ torischen Instituts in Trient, Band 4), Berlin 1992, 269–294. 42. Führungsschichten in Stadt und Land. Kategorien, Probleme, Verfahren (Entwurf eines Fra­ gerasters), in  : I. Mieck (Hg.), Soziale Schichtung und soziale Mobilität in der Gesellschaft Al­ teuropas (Historische Kommission zu Berlin. Informationen, Beiheft 5), Berlin 1984, 48–55. 43. Luther und die Städte, in  : E. Iserloh/G. Müller (Hg.), Luther und die politische Welt. Wis­ senschaftliches Symposion in Worms vom 27. bis 29.10.1983, Wiesbaden 1984, 87–112. 44. Stadt und Stift im Zeichen des konfessionellen Gegensatzes, in  : UniPress Augsburg 1984, Heft 1, 4–11. 45. Die amerikanischen Hochkulturen vor Kolumbus, in  : E. Schmitt (Hg.), Die mittelalterli­ chen Ursprünge der europäischen Expansion (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion Bd. 1), München 1986, 311–319, 327–331 (Redigiert von E. Schmitt). 46. État et Église dans l’Empire entre Réforme et Absolutisme, in  : B. Vincent (Hg.), État et Église dans la genèse de l’État moderne, Madrid 1986, 175–185. 47. Frühneuzeitliche Negersklaverei und ihre Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft, in  : Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 37 (1986) 660–672. 48. Mit Jakob, Judith, Johannes, Gudrun Reinhard. Fünf Reinhards vom Winde verweht. Variatio­ nen über ein Thema von Josef Becker und James T. Laney, in  : UniPress Augsburg 1986, Heft 3, 7–14  ; Nachdruck  : Funnel 1986, 8–11  ; 1987, 7–9. 49. Humanismus und Militarismus. Antike-Rezeption und Kriegshandwerk in der oranischen Heeresreform, in  : F. J. Worstbrock (Hg.), Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehu­ manismus (Mitteilung XIII der Kommission für Humanismusforschung der DFG), Wein­ heim 1986, 185–204. 50. Das koloniale Interesse, in  : E. Schmitt (Hg.), Der Aufbau der Kolonialreiche (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion Bd. 3), München 1986, 1–12.

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51. Mission und Kirche, in  : E. Schmitt (Hg.), Der Aufbau der Kolonialreiche (Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion Bd. 3), München 1986, 439–456, 475–481, 483– 489, 497–500, 515–525. 52. Staat und Heer in England im Zeitalter der Revolutionen, in  : J. Kunisch (Hg.), Staatsverfas­ sung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, Berlin 1986, 173–212. 53. Croissance de la puissance de l’État – un modèle théorique. L’exemple de l’Empire au XVIème siècle, in  : A. Stegman (Hg.), Pouvoir et institutions en Europe au XVIe siècle (Vingt-septième colloque international d’études humanistes, [Tours 1984]), Paris 1987, 173–186. 54. Dekolonisation, in  : D. Nohlen/P. Waldmann (Hg.), Pipers Wörterbuch zur Politik, Bd. 6  : Dritte Welt, München 1987, 115–121. 55. Kolonialismus/Imperialismus, in  : D. Nohlen/P. Waldmann (Hg.), Pipers Wörterbuch zur Po­ litik, Bd. 6  : Dritte Welt, München 1987, 284–295  ; erweiterte Fassung  : Triebkräfte, Formen und Wege der europäischen Expansion, in  : J. Meier (Hg.), Zur Geschichte des Christentums in Lateinamerika (Schriftenreihe der Katholischen Akademie Freiburg), München/Zürich 1988, 8–25. 56. Jacopo Sadoleto (1477–1547), in  : E. Iserloh (Hg.), Katholische Theologen der Reformations­ zeit Bd. 4 (Katholisches Leben und Kirchenreform 47), Münster 1987, 29–42. 57. Krieg und Frieden im 16. Jahrhundert. 12. Internationaler Sommerkurs, in  : Wolfenbütteler Bibliotheks-Informationen 12/2–3 (1987) 17 f. 58. Sprachbeherrschung und Weltherrschaft. Sprache und Sprachwissenschaft in der Europäi­ schen Expansion, in  : W. Reinhard (Hg.), Humanismus und Neue Welt (Mitteilung XV der Kommission für Humanismusforschung), Weinheim 1987, 1–36  ; Kurzfassung  : Sprachbe­ herrschung und Weltherrschaft, in  : Jahrbuch der Universität Augsburg 1986 (1987) 171– 187. 59. Mit Rudolf Vierhaus. Voraussetzungen für das Studium der Geschichte, in  : Deutscher Hoch­ schulverband. Studierfähigkeit konkret. Erwartungen und Ansprüche der Universität, Ok­ tober 1987, 9–11  ; und in  : T. Finkenstaedt/W. Heldmann (Hg.), Studierfähigkeit konkret. Erwartungen und Ansprüche der Universität, Bad Honnef 1989, 107–112  ; und in  : W. Heldmann (Hg.), Studieren heute, 2. Aufl., Bad Honnef 1998, 120–128. 60. Eingeborenenpolitik in Südwestafrika 1842–1915. Der deutsche Weg zur Apartheid, in  : His­ torische Blickpunkte. Festschrift für Johann Rainer zum 65. Geburtstag (Innsbrucker Bei­ träge zur Kulturwissenschaft 25), Innsbruck 1988, 543–556. 61. Europa, in  : Wörterbuch des Christentums, Gütersloh/Zürich 1988, 321 f. 62. Gegenreformation, in  : Wörterbuch des Christentums, Gütersloh/Zürich 1988, 390 f. 63. Kirche als Mobilitätskanal der frühneuzeitlichen Gesellschaft, in  : W. Schulze (Hg.), Ständi­ sche Gesellschaft und soziale Mobilität (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 12), München 1988, 333–351. 64. Oligarchische Verflechtung und Konfession in oberdeutschen Städten, in  : A. Maczak (Hg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, Kollo­ quien 9), München 1988, 47–62. 65. Orient und Okzident. Machtverhältnisse und Kulturbeziehungen (Vortrag beim Biblio­ thekarstag 1987), in  : Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Sonderheft 46, 77. Deutscher Bibliothekstag in Augsburg 1987, Reden und Vorträge, 1988, 25–39. 66. Strukturen frühneuzeitlicher Kulturförderung in Rom und Augsburg, in  : J. Becker (Hg.), Mäzenatentum in Vergangenheit und Gegenwart. Hommage für Kurt Bösch (Schriften der Phil. Fakultät der Univ. Augsburg 36), München 1988, 1–17.

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67. Wie Lateinamerika gemacht wurde. Projekte des Lehrstuhls für Neuere und Außereuropäische Geschichte. Thema  : Spanien und Lateinamerika, in  : UniPress Augsburg 1988, Heft 2, 23–26. 68. Christliche Mission und Dialektik des Kolonialismus, in  : Historisches Jahrbuch 109 (1989) 353–370. 69. Dialektik des Kolonialismus. Ein Versuch, in  : H. Christmann (Hg.), Kolonisation und De­ kolonisation. Referate des Internationalen Kolonialgeschichtlichen Symposiums 89 an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd (Gmünder Hochschulreihe 8), Schwäbisch Gmünd 1989, 1–12. 70. Finanza pontificia, sistema beneficiale e finanza statale nell’età confessionale, in  : H. Kellenbenz/P. Prodi (Hg.), Fisco, religione, Stato nell’età confessionale, Bologna 1989, 459–504  ; deutsch  : Papstfinanz, Benefizienwesen und Staatsfinanzen im konfessionellen Zeitalter, in dies. (Hg.), Fiskus, Kirche und Staat im konfessionellen Zeitalter (Schriften des Italienisch-Deut­ schen Historischen Instituts in Trient, Band 7), Berlin 1994, 337–371. 71. Mit Barbara Rajkay. Le choix des parrains dans une ville bi-confessionnelle  : Oettingen de 1580 à 1806, in  : F. Thelamon u. a. (Hg.), Aux sources de la puissance  : Sociabilité et parenté. Actes du colloque de Rouen 12–13 novembre 1987, Rouen 1989, 161–167. 72. The European Discovery of the World and Its Economic Effects on the Pre-Industrial Society, 1500–1800. The West  : Economic Change in the Atlantic Triangle, in  : H. Pohl (Hg.), The European Discovery of the World and Its Economic Effects on the Pre-Industrial Society, 1500–1800 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 89), Stuttgart 1990, 24–42  ; Kurzfassung in  : Proceedings of the Tenth International Economic History Con­ gress, Leuven 1990. Debates and Controversies, Leuven 1990, 29–44. 73. Die Anfänge der Reformation in Nürnberg, in  : V. Kapp/F.-R. Hausmann (Hg.), Nürnberg und Italien. Begegnungen, Einflüsse und Ideen (Erlanger Romanistische Arbeiten 6), Tübin­ gen 1991, 9–23. 74. Ergebnisse eines faszinierenden Lernprozesses. Geschichtsschreibung der europäischen Ex­ pansion ist mehr als die Summe der Darstellungen kolonialer Herrschaft, in  : Frankfurter Rundschau 23. April 1991, 26. 75. Papal Power and Family Strategy in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in  : R. G. Asch/ A. M. Birke (Hg.), Princes, Patronage and the Nobility. The Court at the Beginning of the Modern Age c. 1450–1650, Oxford 1991, 329–356. 76. Dialektik des Kolonialismus. Europa und die Anderen, in  : K. J. Bade/D. Brötel (Hg.), Europa und die Dritte Welt. Kolonialismus, Gegenwartsprobleme, Zukunftsperspektiven, Hannover 1992, 5–25. 77. Die lateinische Variante von Religion und ihre Bedeutung für die politische Kultur Europas. Ein Versuch in historischer Anthropologie, in  : Saeculum 43 (1992) 231–255. 78. Missionaries, Humanists and Natives in the Sixteenth-Century Spanish Indies – a Failed Encounter of Two Worlds  ? in  : Renaissance Studies 6 (1992) 360–376  ; deutsch  : Missionare, Humanisten, Indianer im 16. Jahrhundert. Ein gescheiterter Dialog zwischen Kulturen  ? (Eichstätter Hochschulreden 98), Regensburg 1993. 79. Mythen und Anti-Mythen der atlantischen Schicksalsgemeinschaft, in  : W. Reinhard/P. Waldmann (Hg.), Nord und Süd in Amerika. Gegensätze. Gemeinsamkeiten. Europäischer Hin­ tergrund, Freiburg 1992, 17–27. 80. Rothäute und Schwarzröcke. Kulturkontakt in der kanadischen Jesuitenmission des 17. Jahr­ hunderts, in  : Geschichte und Kulturen 4 (1992) 25–39. 81. Ein sozio-ökonomischer Schöngeist. Braudels Mittelmeer in deutscher Übersetzung, in  : Zeit­ schrift für Historische Forschung 19 (1992) 233–240.

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82. Das Wachstum der Staatsgewalt. Historische Reflexionen, in  : Der Staat 31 (1992) 59–75. 83. Mit Hans-Jörg Künast. Buchdruck in Augsburg von 1468 bis 1555, in  : Spektrum der Wissen­ schaft, Juni 1993, 114–116. 84. Ehrensaal der Geschichte  ? Die Äbte-Galerie im Kreuzgang von St. Peter und das Bild des Konvents von der eigenen Vergangenheit, in  : H.-O. Mühleisen (Hg.), Das Vermächtnis der Abtei. 900 Jahre St. Peter auf dem Schwarzwald, Karlsruhe 1993, 15–38. 85. Historiker, Modernisierung und Modernisierung. Erfahrungen mit dem Konzept Modernisierung in der neueren Geschichte, in  : W. Haug/B. Wachinger (Hg.), Innovation und Originali­ tät (Fortuna vitrea 9), Tübingen 1993, 53–69. 86. Martin Luther und die Ursprünge der historistischen Geschichtswissenschaft in Deutschland, in  : Archiv für Reformationsgeschichte. Sonderband. Die Reformation in Deutschland und Europa. Interpretationen und Debatten. Hg. von H. R. Guggisberg/G. G. Krodel, Gütersloh 1993, 371–409. 87. Nekrolog Erich Hassinger, in  : Historische Zeitschrift 256 (1993) 544–546  ; Kurzfassungen in  : Freiburger Universitätsblätter 116, Juni 1992, 16  ; Badische Zeitung 3. April 1992  ; Frankfurter Allgemeine Zeitung April 1992  ; englisch in  : SEMS-Newsletter 27 (1993). 88. Neugier auf Vergangenheit. Positionsleuchten. Das Studium der Geschichte und der Beruf des Historikers, in  : Süddeutsche Zeitung, 14. Juni 1993, 39. 89. Das überseeische Kolonialreich Spaniens, in  : C. Dipper/M. Vogt (Hg.), Ringvorlesung. Ent­ deckungen und frühe Kolonisation (THD Schriftenreihe 63), Darmstadt 1993, 241–271. 90. Disciplinamento sociale, confessionalizzazione, modernizzazione. Un discorso storiografico, in  : P. Prodi (Hg.), Disciplina dell’anima, disciplina del corpo e disciplina della società tra me­ dioevo ed età moderna, Bologna 1994, 101–123  ; deutsch in  : N. Boskovska (Hg.), Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft, Paderborn 1997, 39–55. 91. Die Europäisierung der Erde und ihre Folgen, in  : J. A. Schlumberger/P. Segl (Hg.), Europa – aber was ist es  ? Aspekte seiner Identität in interdisziplinärer Sicht (Bayreuther Historische Kolloquien 8), Köln/Weimar/Wien 1994, 77–93. 92. Kirchendisziplin, Sozialdisziplinierung und Verfestigung der konfessionellen Fronten. Das katholische Reformprogramm und seine Auswirkungen, in  : G. Lutz (Hg.), Das Papsttum, die Christenheit und die Staaten Europas 1592–1605 (Bibliothek des Deutschen Histori­ schen Instituts in Rom 66), Tübingen 1994, 1–13. 93. Konfession und Konfessionalisierung. Die Zeit der Konfessionen (1530–1620) in einer neuen Gesamtdarstellung, in  : Historisches Jahrbuch 114 (1994) 107–124. 94. The Seaborne Empires, in  : T. A. Brady/H. A. Oberman/J. D. Tracy (Hg.), Handbook of Eu­ ropean History, 1400–1600. Late Middle Ages, Renaissance and Reformation, Volume 1  : Structures and Assertions, Leiden 1994, 637–664. 95. Der Andere als Teil der europäischen Identität. Vom Barbaren zum edlen Wilden (Europa – Probleme und Aspekte seiner Identität. Universitätsvorlesung FU Berlin 1994), in  : M. Delgado/M. Lutz-Bachmann (Hg.), Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Iden­ tität, München 1995, 132–152. 96. Einleitung. Fundamentalistische Revolution und kollektive Identität, in  : W. Reinhard (Hg.), Die fundamentalistische Revolution. Partikularistische Bewegungen der Gegenwart und ihr Umgang mit Geschichte (Rombach Historiae 8), Freiburg 1995, 9–47. 97. Öffentliche und andere Hände. Privatisierung und Deregulierung im Lichte historischer Er­ fahrung, in  : H. Breuninger/R. P. Sieferle (Hg.), Markt und Macht in der Geschichte, Stuttgart 1995, 265–296. 98. Was ist katholische Konfessionalisierung  ? in  : W. Reinhard/H. Schilling (Hg.), Die Katholi­ sche Konfessionalisierung, Münster/Gütersloh 1995, 419–452.

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  99. Imperialismus- und Dependenztheorien in neuem Licht. I. Von der Geschichtstheorie zur Theoriegeschichte. Eine Einführung, in  : Periplus 5 (1995) 72–84. 100. L’espansione europea. La conquista del Nuovo Mondo americano e dell’Antico Mondo asi­ atico, in  : M. Aymard (Hg.), Storia d’Europa IV. L’età moderna. Secoli XVI–XVIII, Turin 1995, 5–55. 101. Introduction  : Power Elites, State Servants, Ruling Classes, and the Growth of State Power, in  : W. Reinhard (Hg.), Power Elites and State Building in Europe, Oxford 1996, 1–18. 102. Curia Romana, in  : The Oxford Encyclopedia of the Reformation. New York 1996. Bd. 1, 458–460. 103. Missions, in  : The Oxford Encyclopedia of the Reformation. New York 1996. Bd. 3, 67–69. 104. Papacy, in  : The Oxford Encyclopedia of the Reformation. New York 1996. Bd. 3, 203–207. 105. Papal Diplomatic Corps, in  : The Oxford Encyclopedia of the Reformation, New York 1996. Bd. 3, 207 f. 106. Papal States, in  : The Oxford Encyclopedia of the Reformation, New York 1996. Bd. 3, 208–210. 107. Sixtus V, in  : The Oxford Encyclopedia of the Reformation, New York 1996. Bd. 4, 66. 108. Mit Wolfgang Weber. Power Elites of Augsburg and Rome, 1500–1600. Experiences with Prosopographical Research, in  : J.-P. Genet/G. Lottes (Hg.), L’état moderne et les élites, XIIIe– XVIIIe siècles. Apports et limites de la méthode prosopographique, Paris 1996, 213–231. 109. Kriegsstaat – Steuerstaat – Machtstaat, in  : R. G. Asch/H. Duchhardt (Hg.), Der Absolutis­ mus – ein Mythos  ? Köln/Wien/Weimar 1996, 277–310. 110. Il Concilio di Trento e la modernizazzione della chiesa, in  : P. Prodi/W. Reinhard (Hg.), Il Concilio di Trento e il Moderno (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, Quaderno 45), Bologna 1996, 27–53. 111. Amici e creature, Politische Mikrogeschichte der römischen Kurie im 17. Jahrhundert, in  : Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 76 (1996) 308–334  ; italienische Übersetzung  : Amici e creature. Micropolitica della curia romana nel XVII secolo, in  : Dimensioni e problemi della ricerca storica 2. 2001, 59–78. 112. Abschied von der Gegenreformation und neue Tendenzen der Forschung, in  : Zeitsprünge 1 (1997) 440–451. 113. The Idea of Early Modern History, in  : Routledge Companion to Historiography  : Insights into the Writing of History, London 1997, 281–292. 114. Transformationen der Historiographie zur europäischen Expansion, in  : A. Eckert/J. Müller (Hg.), Transformationen der europäischen Expansion vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Loccumer Protokolle 26/96), Loccum 1997, 9–19. 115. New Contributions to Comparative Urban History, in  : Journal of Early Modern History 1 (1997) 176–181. 116. Sadoleto, Jacopo (1477–1547), in  : Theologische Realenzyklopädie, Bd. 29 (Lieferung 3/4), Berlin/New York 1998, 595 f. 117. Nepotismus, in  : Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 7, Freiburg 1998, 738 f. 118. Nuntiaturberichte, in  : Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 7, Freiburg 1998, 948 f. 119. Frühmoderner Staat – moderner Staat, in  : O. Mörke/M. North (Hg.), Die Entstehung des modernen Europa 1600–1900, Köln/Weimar/Wien 1998, 1–9. 120. Nuntiaturberichte für die deutsche Geschichtswissenschaft  ? Wert und Verwertung eines Editionsunternehmens, in  : Koller, Alexander (Hg.), Kurie und Politik. Stand und Perspekti­ ven der Nuntiaturberichtsforschung, Tübingen 1998, 208–225.

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121. Freunde und Kreaturen. Historische Anthropologie von Patronage-Klientel-Beziehungen, in  : Freiburger Universitätsblätter 139 (1998) 127–141. 122. Staat machen. Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in  : Jahrbuch des Historischen Kollegs 1998, 99–118. 123. Cio che la storiografia può aspettarsi dall’apertura dell’archivio (Tavola rotonda), in  : L’apertura degli archivi del Sant’Uffizio Romano (Giornata di studio, Roma 22 gennaio 1988), Atti dei convegni Lincei 142, Roma 1998, 165–169. 124. Sadoleto, Jacopo, in  : Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 8, Freiburg 1999, 1424 f. 125. Europäische Staatsmodelle in kolonialen und nachkolonialen Machtprozessen, in  : Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 1999, 43–61. Nachdruck in  : J. Osterhammel (Hg.), Weltgeschichte (Basistexte – Geschichte), Stuttgart 2008, 239–259. 126. »Konfessionalisierung« auf dem Prüfstand, in  : J. Bahlcke/A. Strohmeyer (Hg.), Konfessiona­ lisierung in Ostmitteleuropa (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mittel­ europa 7), Stuttgart 1999, 79–88. 127. Konfessionalisierung, in  : Anette Völker-Rasor (Hg.), Oldenbourg Geschichte Lehrbuch, Frühe Neuzeit, München 2000, 299–302. 128. Le carriere papali e cardinalizie. Contribute alla storia sociale del papato, in  : Luigi Fiorani/ Adriano Prosperi (Hg.), Roma, la città del papa (Storia d’Italia, Annali 16), Turin 2000, 261–290. 129. Wege der Welt ins Jahr 2000, in  : Franz-Josef Brüggemeier/Wolfgang Schenkluhn (Hg.), Die Welt im Jahr 1000, Freiburg 2000, 301–312, koreanische Übersetzung 2004. 130. Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte. Historische Grundlagen europäischer politi­ scher Kulturen, in  : Jahrbuch für Europäische Geschichte 1 (2000) 115–131. 131. Sozialgeschichte, in  : Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 9, Freiburg 2000, 778 f. 132. Glanz und Elend deutscher Rechtswissenschaft. Michael Stolleis’ Geschichte des öffentli­ chen Rechts in Deutschland, in  : Neue Politische Literatur 45 (2000) 365–372. 133. Mikropolitik dicht beschrieben. Aufzeichnungen des römischen Sekretärs Vincenzo Bilotta 1607–1610, in  : H. Keller/W.  Paravicini/W. Schieder (Hg.), Italia e Germania. Liber Ami­ corum Arnold Esch, Tübingen 2001, 401–422. 134. Was ist europäische politische Kultur  ? Versuch zur Begründung einer politischen Historischen Anthropologie, in  : Geschichte und Gesellschaft 27 (2001) 593–616  ; italienisch  : Andreina De Clementi (Hg.), Il genere dell’Europa, Rom 2003, 21–56  ; französisch  : trivium 2, 2008. 135. Kriegsstaat und Friedensschluß, in  : R. G. Asch/W. E. Voß/M. Wrede (Hg.), Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatsordnung und die außereuropäische Welt (Der Frieden, Bd. 2), München 2001, 47–57. 136. »Staatserfahrung« in der Frühen Neuzeit, Kommentar, in  : Paul Münch (Hg.), »Erfahrung« als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (HZ Bh. 31), München 2001, 471–475. 137. L’Imperatore Carlo V (1500–1558) e Karl Brandi (1868–1946), in  : Karl Brandi, Carlo V, Turin, 2. Aufl. 2001, XI–XXIII. 138. Governi stretti e tirannici. Die Städtepolitik Kaiser Karls V. 1515–1556, in  : A. Kohler/B. Haider/C. Ottner (Hg.), Karl V. 1500–1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee, Wien 2002, 407–434. Spanisch  : »Governi stretti e tirannici«. Las ciudades y la politica del Emperador Carlos V. 1515–1556, in  : A. Kohler (Hg.), Carlos V/Karl V, Madrid 2001, 151–177. 139. Colonization and Colonialism, History of, in  : International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Bd. 4, Amsterdam 2001, 2240–2245.

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140. State, History of, in  : International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Bd. 22, Amsterdam 2001, 14972–14978. 141. Eine so barbarische und grausame Nation wie diese. Die Konstruktion der Alterität Spaniens durch die Leyenda negra und ihr Nutzen für allerhand Identitäten, in  : H.-J. Gehrke (Hg.), Geschichtsbilder und Gründungsmythen (Identitäten und Alteritäten 7), Würzburg 2001, 159–177. 142. Nepotism, in  : Philippe Levillain (Hg.), The Papacy. An Encyclopedia, New York/London 2002, Bd. 2, 1030–1033. 143. Geschichte als Delegitimation, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.11.2001, Nr. 275, 45 (geringfügig gekürzt), und in  : Jahrbuch des Historischen Kollegs 2002 [2003], 27–37 (Volltext), italienische Übersetzung in  : Scienza & politica 27 (2002) 3–13. 144. Man nehme den modernen Staat, haue das morsche Innere heraus und fertig ist die klassi­ sche Republik unserer Väter noch lange nicht. Die Geschichte der Macht zwischen Nostalgie und Aufklärung, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.6.2002, Nr. 144, 49 [Titel von der Redaktion]. 145. Silber, Tomate, Erdöl und Nationalstaat. Der Kolonialismus war mehr als ein Akt der Un­ terwerfung. Und er brachte seine eigene Überwindung hervor, in  : Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 30. Juni 2002, Nr. 26, 9 [Titel von der Redaktion]. 146. Religione e identità – identità e religione. Un’introduzione, in  : Paolo Prodi/Wolfgang Reinhard (Hg.). Identità collettive tra Medioevo ed Età Moderna, Bologna 2002, 87–124. 147. Das Problem der religiösen Identität und die reformationsgeschichtliche Forschung (Fest­ vortrag für Bernd Moeller), in  : L. Schorn-Schütte (Hg.), 125 Jahre Verein für Reforma­ tionsgeschichte (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 200), Gütersloh 2008, 221–237. 148. Čemu nas o budućnosti države poučava njezina povijest  ?, in  : Politicka misao 39,2 (2002) 15–26. 149. Europäische Einigung aus historischer Sicht, in  : Karl Acham (Hg.), Europa – wohin  ? Zeit­ diagnosen 1, Wien 2002, 41–49. 150. Frühmoderner Staat und deutsches Monstrum. Die Entstehung des modernen Staates und das Alte Reich, in  : ZHF 29 (2002) 339–357. 151. Der Erde Kind und des sternenglänzenden Himmels. Neue Anthropologie als Focus der Wis­ senschaften, in  : Freiburger Universitätsblätter 158 (2002) 65–73. 152. Querkopf. Ein Historiker im Übergang zur Kulturanthropologie, in  : Freiburger Universi­ tätsblätter 161 (2003) 45–61. 153. Historische Anthropologie von politischer Architektur, in  : P. Brandt/A. Schlegelmilch/R. Wendt (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. »Verfassungskultur« als Ele­ ment der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, 17–40. 154. Mit Birgit Emich. Les serviteurs du cardinal neveu Scipione Borghese et le service du Pape, 1605–1621, in  : A. Jamme/O. Poncet (Hg.), Offices et papauté (XIVe–XVIIe siècle) (Collec­ tion de l’école française de Rome 334), Rom 2005, 333–339. 155. Rechtsstaat und Staatsgewalt. Historische Reflexionen, in  : R. Kappel/H. W. Tobler/P. Waldmann (Hg.), Rechtsstaatlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Freiburg 2005, 33–48. 156. Einleitung  : Römische Mikropolitik und spanisches Mittelmeer, in  : W. Reinhard (Hg.), Rö­ mische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese 1605–1621, Tübingen 2004, 1–20. 157. Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife. Plädoyer für eine materialistische Anthro­ pologie, in  : Saeculum 56/1 (2005) 1–16. 158. Historische Wirtschaftsanthropologie, in  : G. Blümle u. a. (Hg.), Perspektiven einer kulturel­

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len Ökonomik. Münster 2004, 361–368, und in  : W. Reinhard/J. Stagl (Hg.), Wirtschaftsan­ thropologie. Geschichte und Diskurs, Wien 2007, 3–11. 159. Die abendländischen Grundlagen der modernen Menschenrechte, in  : M. Rappenecker (Hg.), Das Recht, Rechte zu haben. Menschenrechte und Weltreligionen, Freiburg 2004, 25–45. 160. Zones of Fracture in Modern Europe. A Summary, in  : A. Bues (Hg.), Zones of Fracture in Modern Europe  : the Baltic Countries, the Balkans, and Northern Italy, Wiesbaden 2005, 271–275. 161. Historische Bedingungen einer europäischen Verfassung  : Vor- und frühmoderne Staatsbil­ dung im Spannungsfeld von Nationalstaatlichkeit und Supranationalität, in  : Institut für eu­ ropäische Verfassungswissenschaften (Hg.), Die Europäische Union als Verfassungsordnung, Berlin 2004, 9–19. 162. Vom Schedario zur Datenbank. Wege mikropolitischer Forschung, in  : B. Flug/M. Matheus/A. Rehberg (Hg.), Kurie und Region. Festschrift für Brigide Schwarz zum 65. Geburts­ tag, Stuttgart 2005, 151–166. 163. Atlantischer Austausch, in  : Zeitschrift für Weltgeschichte 5/2 (2004) 67–78. 164. Atlantic Exchange in History, in  : Journal of Ocean University of China 2 (2006) Social Sciences 20–26 [chinesisch]. 165. La vieille Europe et les Nouveaux Mondes. Pour une historie des relations atlantiques (Con­ férences annuelles de l’Institut historique allemande 11), Ostfildern 2005. 166. Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens, in  : H. Joas/K. Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt 2005, 265–303  ; englisch Liverpool 2008, 187–216. 167. Was ist Europa  ? Reise durch Zeit und Raum eines Kontinents, in  : Konradsblatt 88/17, 24.4.2004, 24–26. Zweitabdruck unter dem Titel  : Nicht Geschichte, nicht Geographie. Nur die Europäer bestimmen, wer zu Europa gehört. Darum könnte auch die Türkei Mitglied der EU werden, in  : Die Welt 4. Mai 2004, 28. 168. Zusammenfassung  : Staatsbildung durch »Aushandeln«  ? in  : R. G. Asch/D. Freist (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, 429–438. 169. Kommentar  : Mikrogeschichte und Makrogeschichte, in  : H. von Thiessen/C. Windler (Hg.), Nähe in der Ferne. Personale Verflechtung in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit (Zeitschrift für Historische Forschung Bh. 35), Berlin 2005, 135–144. 170. Christliche Wahrnehmung fremder Religionen und Fremdwahrnehmung des Christentums in der frühen Neuzeit, in  : L. Grenzmann u. a. (Hg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Re­ ligionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit I. Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden), Berlin/New York 2009, 51–72. 171. Symbol und Performanz zwischen kurialer Mikropolitik und kosmischer Ordnung, in  : G. Wassilowsky/H. Wolf (Hg.), Werte und Symbole im frühneuzeitlichen Rom (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertsysteme 11), Münster 2005, 37–50. 172. Schwäche und schöner Schein. Das Rom der Päpste im Europa des Barock 1572–1676, in  : Historische Zeitschrift 283 (2006) 281–318. 173. Historische Anthropologie frühneuzeitlicher Diplomatie. Ein Versuch über Nuntiaturbe­ richte 1592–1622, in  : M. Rohrschneider/A. Strohmeyer (Hg.), Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert, Münster 2007, 53–72. 174. Einleitung. Warum wir nicht bei der Wahrheit bleiben, in  : W. Reinhard (Hg.), Krumme Touren. Historische Anthropologie kommunikativer Umwege, Wien 2007, 11–31. 175. Geheimnis und Fiktion als politische Wirklichkeit, in  : W. Reinhard (Hg.), Krumme Touren. Historische Anthropologie kommunikativer Umwege, Wien 2007, 221–250.

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176. Makropolitik und Mikropolitik in den Außenbeziehungen Roms unter Papst Paul V. Bor­ ghese (1605–1621), in  : A. Koller (Hg.), Die Außenbeziehungen der römischen Kurie unter Paul V. Borghese (1605–1621), Tübingen 2008, 67–81. 177. Le origini dello stato moderno, in  : M. A. Visceglia (Hg.), Le radici storiche dell’Europa. L’età moderna, Rom 2007, 25–37. 178. Vielleicht war der Nationalstaat ein Irrweg. Was hält die Europäer zusammen  ? Der Histori­ ker Wolfgang Reinhard über die kulturelle Identität des Kontinents [Interview, Titel von der Redaktion], in  : Die Welt 18. Juni 2005, 27. 179. Die frühneuzeitliche Wende von der Vita contemplativa zur Vita activa, in  : Paragrana 16/1 (2007) 15–25. 180. Staat machen als organisiertes Verbrechen  ? Die Kriminalität der Mächtigen aus der Perspek­ tive der Geschichte der Staatsgewalt, in  : C. Prittwitz u. a. (Hg.), Kriminalität der Mächtigen, Baden-Baden 2008, 174–184. 181. Niedergang und Konsolidierung der Papstherrschaft, in  : Damals 12/2005, 14–21. 182. Zukunftsperspektiven  : Sorge für den Nachwuchs und Delegitimation nationaler Selbstge­ nügsamkeit, in  : L. Gall (Hg.), 25 Jahre Historisches Kolleg. Rückblick – Bilanz – Perspekti­ ven, München 2006, 239–243. 183. No State Building from Below. A Critical Commentary, in  : W. Blockmans/A. Holenstein/J. Mathieu (Hg.), Empowering Interactions. Political Culture and the Emergence of the State in Europe 1300–1900, Farnham 2009, 299–304. 184. Absolutismus, ein unentbehrliches Forschungskonzept  ?, in  : L. Schilling (Hg.), Absolutis­ mus. Ein unentbehrliches Forschungskonzept  ? Eine deutsch-französische Bilanz, München 2008, 229–238. 185. Atlantic Exchange in History, in  : C. Ocker/M. Printy/P. Starenko/P. Wallace (Hg.), Politics and Reformations  : Communities, Polities, Nations, and Empires. Essay in Honor of Tho­ mas A. Brady, Jr. [Bd. 1], Leiden 2007, 589–605. 186. Religionskrieg oder Machtkampf  ? Kulturkonflikte vom europäischen Kolonialismus bis heute, in  : B. Oberdorfer/P. Waldmann (Hg.), Die Ambivalenz des Religiösen. Religionen als Friedensstifter und Gewalterzeuger (Historiae 22), Freiburg 2008, 357–375. 187. Kulturelle Gemeinsamkeiten Europas, in  : D. T. Tsatsos (Hg.), Die Unionsordnung. Hand­ buch zur europäischen Verfassung, Berlin 2010, 99–116. 188. Stadtrepublikanismus im Kirchenstaat. Ein Versuch, in   : S. Ehrenpreis/U. Lotz-Heumann/O. Mörke/L. Schorn-Schütte (Hg.), Wege der Neuzeit. Festschrift für Heinz Schilling zum 65. Geburtstag, Berlin 2007, 345–379. 189. Ist das Papsttum schuld an der Moderne  ?, in  : T. Mörschel (Hg.), Papsttum und Politik. Eine Institution zwischen geistlicher Gewalt und politischer Macht, Freiburg 2007, 15–34. 190. Der Weg zum ethnologischen Blick auf die Geschichte, in  : D. Felken (Hg.), Ein Buch, das mein Leben verändert hat. Liber amicorum für Wolfgang Beck, München 2006, 322–325. 191. Kleine Politik ganz groß, in  : W. E. J. Weber/R. Dauser (Hg.), Faszinierende Frühneuzeit. Reich, Frieden, Kultur und Kommunikation 1500–1800. Festschrift für Johannes Burkhardt zum 65. Geburtstag, Berlin 2008, 239–256. 192. Aufstieg und Niedergang des modernen Staates, in  : Zeitschrift für Staats- und Europawis­ senschaften 5/1 (2007) 8–24, und in  : A. Prosperi u. a. (Hg.), Chiesa cattolica e mondo moderno. Scritti in onore di Paolo Prodi, Bologna 2007, 349–364. 193. L’Europa fuori dall’Europa. L’espansione degli imperi coloniali in età moderna, in  : C. Altini/M. Borsari (Hg.), Frontiere politiche e mitologie dei confini europei, Modena 2008, 71–94.

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194. Die hermeneutische Lebensform des Abendlandes, in  : W. Reinhard (Hg.), Sakrale Texte. Hermeneutik und Lebenspraxis in den Schriftkulturen, München 2009, 68–119, 300–317. 195. Die anthropologische Wende der Geschichtswissenschaft, in  : A. Wagner (Hg.), Anthropolo­ gische Aufbrüche, Göttingen 2009, 77–99. 196. Kolonialgeschichtliche Probleme und kolonialhistorische Konzepte, in  : C. Kraft/A. Lüdtke/J. Martschukat (Hg.), Kolonialgeschichten. Regionale Perspektiven auf ein globales Phä­ nomen, Frankfurt 2010, 67–91, und in  : J. Leonhard/R. G. Renner (Hg.), Koloniale Vergan­ genheiten – (post-)imperiale Gegenwarten, Berlin 2010, 25–41. 197. Schlusskommentar, in  : B. Stollberg-Rilinger/A. Krischer (Hg.), Herstellung und Darstel­ lung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne (ZHF, Bh. 44), Berlin 2010, 559–562. 198. Konvergenz und Divergenz von Machtgeschichte und Rechtsgeschichte, in  : P. Hoppenbrouwers/A. Janse/R. Stein (Hg.), Power and Persuasion. Essays in the Art of State Building in Honour of W. P. Blockmans, Turnhout 2010, 345–360. 199. Politik und Staat – europäische Erfindungen  ?, in  : H. Fechtrup/F. Schulze/T. Sternberg (Hg.), Europa auf der Suche nach sich selbst, Münster 2010, 113/119–137. 200. Bornierter Blick  ? Gegenseitige Wahrnehmung von Europäern und Asiaten im 17.und 18.  Jahrhundert, in  : H. Liebau/A. Nehring/B. Klosterberg (Hg.), Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert (Hallesche Forschungen 29), Halle 2010, 3–20. 201. Bornierter Blick  ? Jesuitenmissionen und die gegenseitige Wahrnehmung von China und Europa, in  : Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 94 (2010) 314– 327. 202. Außenverflechtung in konzentrischen Zonen  : Rom 1605–1607 – Erfolg und Misserfolg, in  : H. von Thiessen/C. Windler (Hg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkul­ turalität im historischen Wandel, Köln 2010, 15–30. 203. Reformation als Mutation  ? Evolution und Geschichte, in  : Zeitschrift für Historische For­ schung 37 (2010) 601–615. 204. Die wünschenswerte Ambivalenz historischer Nationalfeiertage, in  : R. Gröschner/W. Reinhard (Hg.), Tage der Revolution – Feste der Nation (Politika 3), Tübingen 2010, 253–260. 205. Fragile Staaten, Das Vorbild aus Europa, in  : Welt-Sichten 12 (2010)/1 (2011) 28–32. 206. Land in Sicht [Titel von der Reaktion], in  : ZEIT Geschichte 1/2011, 16–20. 207. Postkoloniale Intellektuellendiaspora, in  : P. Burschel/A. Gallus/M. Völkel (Hg.), Intellektu­ elle im Exil, Göttingen 2011, 89–112. 208. Historisch-anthropologische Bedenken, zu  : Gerd Jüttemann, Historische Psychologie und die Entwicklung der Menschheit. Die Perspektive einer Fundamentaltheorie, in  : Erwägen – Wissen – Ethik 22 (2011) 1, 3–16, 82 f., 139. 209. Die Nase der Kleopatra. Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung. Ein Versuch, in  : HZ 293 (2011) 631–666. Italienische Fassung  : Politica e storia alla luce dello sguardo micro­ politico, in  : C. Altini (Hg.), Democrazia. Storia e teoria di un’esperienza filosofica e politica, Bologna 2011, 17–61. 210. Kolonialismus als Kulturkampf  ?, in  : M. Donattini/G. Marcocci/S. Pastore (Hg.), L’Europa divisa e i nuovi mondi. Per Adriano Prosperi, Pisa 2011, 137–145. 211. Wirklich unwiderruflich  ?, in  : Zur Zukunft Europas. Böll Thema. Das Magazin der Heinrich-­ Böll-Stiftung 4 (2011) 9. 212. Expansion, in  : P. den Boer/H. Duchhardt/G. Kreis/W. Schmale (Hg.), Europäische Erinne­ rungsorte, Bd. 3  : Europa und die Welt, München 2012, 27–36.

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213. Menschenrechte zwischen Politik und Religion von den Anfängen bis zur Atlantischen Re­ volution, in  : K. Gabriel/C. Gärtner/D. Pollack (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziolo­ gische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012, 313–358. 214. Globalgeschichte oder Weltgeschichte   ? (Besprechung von P. Feldbauer/B. Hausberger/ J.-P. Lehners (Hg.), Globalgeschichte. Die Welt 1000–2000, 8 Bde., brosch., Karten, Abb., Farbtafeln, Wien  : Mandelbaum Verlag 2008–11), in  : HZ 294 (2012) 427–438. 215. Geburtswehen neuer Weltgeschichten, in  : Erwägen – Wissen – Ethik 22/3 (2011) 415–419. 216. Schlusskommentar, in  : J. Becker/B. Braun (Hg.), Die Begegnung mit dem Fremden und das Geschichtsbewusstsein, Göttingen 2012, 287–293. 217. Alteuropa und neue Welten. Periodisierungsprobleme im Lichte einer Geschichte der eu­ ropäischen Expansion, in  : C. Jager/U. Lotz-Heumann/M. Pohlig (Hg.), Alteuropa – Vormo­ derne – Neue Zeit. Epochen und Dynamiken der europäischen Geschichte (1200–1800) [Fs. Schilling], Berlin 2012, 245–262. 218. Der Missionar, in  : J. Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deut­ schen Kolonialgeschichte, Frankfurt 2013, 282–293. 219. Skandal in Sant’Ambrogio und die Konstruktion von Heiligkeit. Ein Resümee, in  : H. Wolf (Hg.), »Wahre« und »falsche« Heiligkeit. Mystik, Macht und Geschlechterrollen im Katho­ lizismus des 19. Jahrhunderts, München 2013, 249–256. 220. Europäische Politik als weltgeschichtliche Ausnahme, in  : T. Ertl (Hg.), Europas Aufstieg. Eine Spurensuche im späten Mittelalter, Wien, 2013, 17–33. 221. Entstehung und Legitimation des Staates, in  : Berliner Theologische Zeitschrift, Beiheft 2013, 56–72. 222. Weltgeschichte, Weltsysteme, Globalisierung. Geschichtskonzept und Konzeptgeschichte, in  : Saeculum 63,1 (2013) 53–69. 223. Kein hochgemuter Mensch auf dem Erdenrund kennt nicht von klein auf Gier. Zur anthro­ pologischen Kritik der ökonomischen Vernunft, in  : M. Isenmann (Hg.), Merkantilismus. Wiederaufnahme einer Debatte (VSWG Bh. 228), Stuttgart 2014, 113–133. 224. Einleitung  : Weltreiche, Weltmeere – und der Rest der Welt, in  : 1350–1750 Weltreiche und Weltmeere (Geschichte der Welt, Bd. 3), München 2014, 9–52  ; amerikanisch  : Empires and Encounters, Cambridge, MA 2015, 1–52. 225. Europa und die Atlantische Welt, in  : 1350–1750 Weltreiche und Weltmeere (Geschichte der Welt, Bd. 3), München 2014, 669–831  ; amerikanisch  : Empires and Encounters, Cambridge, MA 2015, 737–941. 226. Reformation 1517/2017. Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik. Schlussgedanken, in  : H. Schilling (Hg.), Der Reformator Martin Luther 2017. Eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme, München 2014, 297–305. 227. Mit M. Fuchs u. A. Linkenbach. Einleitung/Introduction, in  : M. Fuchs/A. Linkenbach/ W. Reinhard (Hg.), Individualisierung durch christliche Mission  ? Wiesbaden 2015, 13–63. 228. Christianisierung, in  : H. Hiery (Hg.), Lexikon zur Überseegeschichte, Stuttgart 2015, 173 f. 229. Europäisierung, in  : Lexikon zur Überseegeschichte, 252 f. 230. Globalgeschichte, in  : Lexikon zur Überseegeschichte, 297. 231. Globalisierung, in  : Lexikon zur Überseegeschichte, 297 f. 232. Imperialismus, in  : Lexikon zur Überseegeschichte, 356 f. 233. Kartoffel, in  : Lexikon zur Überseegeschichte, 414. 234. Europas Expansion als maritimer Prozess, in  : Marine Forum 3 (2015) 52–54, 4 (2015) 32–35.

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235. Unsere Migrationshintergründe, in  : Theater Freiburg. Das Magazin Nr. 14, Spielzeit 14/15, 10 f. 236. Wie aus Opfern Täter werden. Wandel des Wissens von Weltgeschichte, in  : M. Häberlein u. a. (Hg.), Geschichte(n) des Wissens. Festschrift für Wolfgang E. J. Weber zum 65. Ge­ burtstag, Augsburg 2015, 161–175. 237. Universale Xenophobie. Die Konstruktion des Anderen in der Geschichte, in  : V. Bernaschina/T. Kraft/A. Kraume (Hg.), Globalisierung in Zeiten der Aufklärung. Texte und Kontexte zur »Berliner Debatte« um die Neue Welt (17./18. Jh.), 2 Bde., Frankfurt 2015, Bd. 1, 125–140. 238. Kein Platz an der Sonne, in  : ZEIT Geschichte 3. März 2016, 17 [Titel von der Redaktion]. 239. Die Mythologie des Konzils von Trient, in  : M. Catto/A. Prosperi (Hg.), Trento and Beyond. The Council, other Powers, other Cultures, Turnhout 2016. 240. Wie modern ist der Barockkatholizismus  ?, oder  : Wie barock ist der moderne Katholizis­ mus  ? Eine Disputation zwischen Peter Hersche und Wolfgang Reinhard, in  : P. Walter/G. Wassilowsky (Hg.), Das Konzil von Trient und katholische Konfessionskultur (1563–2013), Münster 2016, 489–518. 241. Reichsstadt und Reformation, in  : T. Lau/H. Wittmann (Hg.), Reichsstadt im Religionskon­ flikt (Studien zur Reichsstadtgeschichte 4), Petersberg 2017. 242. Kritik der hermeneutischen Vernunft. Ein Erfahrungsbericht (in diesem Band). 243. Von Affen und Menschen. Die Einheit der Anthropologie (in diesem Band). 244. Vom Sinn des Unsinns. Ein Versuch (in diesem Band). 245. Staatsmacht – ein Kreditproblem  ? Vergleichender Versuch über kulturelle Traditionen und politische Modernisierung (Manuskript liegt vor). 246. Empires and Colonialisms (Manuskript liegt vor). 247. Religious Reforms and World Civilizations  : Context of the Protestant Reformation  ? (Ma­ nuskript liegt vor). 248. Perspektiven der Papstforschung (Manuskript liegt vor).

III. Rezensionen (alphabetisch)

Siglen  : AHC = Annuarium Historiae Conciliorum  ; AKuG = Archiv für Kulturgeschichte  ; ARGLit = Archiv für Reformationsgeschichte, Literaturbericht  ; HJb = Historisches Jahr­ buch  ; HPB = Das historische politische Buch  ; HZ = Historische Zeitschrift  ; JMH = Journal of Modern History  ; QFIAB = Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken  ; RQ = Römische Quartalschrift  ; ThLZ = Theologische Literaturzeitung  ; ThR = Theologische Revue  ; VSWG = Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte  ; ZBKG = Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte  ; ZBLG = Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte  ; ZGO = Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins  ; ZHF = Zeitschrift für Historische Forschung  ; ZKG = Zeitschrift für Kirchengeschichte  ; ZMR = Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft. D. Abulafia, The Great Sea. A Human History of the Mediterranean, London 2011, in  : HZ 295 (2012) 443–445. J. L. Abu–Lughod, Before European Hegemony. The World System A. D. 1250–1350, New York/ Oxford 1989, in  : VSWG 79 (1992) 578 f. Acta Pacis Westphalicae, Serie III, Abt. C, Diarien, Bd. 3  : Diarium Wartenberg, bearb. von J. Foerster  : 1. Teil  : 1644–1646  ; 2. Teil  : 1647–1648, Münster 1988, in  : ZHF  18 (1991) 250–252.

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IV. Veröffentlichungen für, gegen und über Wolfgang Reinhard (chronologisch)

1. P. de Brito, O patriciado urbano na recente historiografia Alemã, in  : Revista de Faculdade de Letras (Porto) II 9 (1992) 319–334. 2. P. de Brito, Verflechtung«. Um Método para a Pesquisa, Exposição e Análise de Grupos Do­ minantes, in  : Penelope 9/10 (1993) 231–241. 3. A. Esch, Laudatio auf den Preisträger (Preis des Historischen Kollegs 2001), in  : Jahrbuch des Historischen Kollegs 2002, 13–21. 4. I. Fosi (Hg.), Amici, creature, parenti  : la corte romana osservata da storici tedeschi, in  : Di­ mensioni e problemi della ricerca storica 2, 2001, 51–206. 5. P. Burschel/M. Häberlein/V. Reinhardt/W. Weber/R. Wendt (Hg.), Historische Anstöße. Fest­ schrift für Wolfgang Reinhard zum 65. Geburtstag am 10. April 2002, Berlin 2002. 6. R. Wendt, Ein Pionier der Expansionsgeschichte wird emeritiert  : Wolfgang Reinhard zum

Bibliographie Wolfgang Reinhard 

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65. Geburtstag, in  : Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 2 (2002) 188–192. 7. W. Reinhard, Querkopf. Ein Historiker im Übergang zur Kulturanthropologie, in  : Freiburger Universitätsblätter 161 (2003) 45–61. 8. W. Paravicini [présentation], in  : W. Reinhard, La vieille Europe et les nouveaux mondes, Ostfildern 2005, 15–21. 9. B. Emich/N. Reinhardt/H. von Thiessen/C. Wieland, Stand und Perspektiven der Patronagefor­ schung, in  : ZHF 32 (2005) 232–265. 10. Verlogen lebt es sich angenehmer. Interview in  : View. Die Bilder des Monats, März 2006, 65–67. 11. Menschen wollen belogen werden. Interview in  : InsideB, Dezember 2006, 78–80. 12. C. Zwierlein, »(Ent)konfessionalisierung« (1935) und »Konfessionalisierung« (1981), in  : ARG 98 (2007) 199–229. 13. H. Joas (Hg.), Die Anthropologie von Macht und Glauben. Das Werk von Wolfgang Rein­ hard in der Diskussion, Göttingen o. J. [2008]. 14. Ehrendoktorwürde für Prof. Dr. Wolfgang Reinhard, in  : Uni’Kon 49 (2013) 30. 15. B. Emich/C. Wieland (Hg.), Kulturgeschichte des Papsttums in der Frühen Neuzeit (ZHF Bh. 48), Berlin 2013.

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Betreute Arbeiten

9 Habilitationen

Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der Frühen Neuzeit, Freiburg WS 2002/03. Gita Dharampal-Frick, Indien im Spiegel deutscher Quellen der Frühen Neuzeit 1500–1750, Freiburg WS 1992/93. Birgit Emich, Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit. Ferrara und der Kirchenstaat, Frei­ burg SS 2002. Mark Häberlein, Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Freiburg SS 1996. Christoph Marx, Im Zeichen des Ochsenwagens. Der radikale Afrikaaner-Nationalismus und die Geschichte der Ossewabrandwag, Freiburg WS 1995/96. Volker Reinhardt, Überleben in der frühneuzeitlichen Stadt. Annona und Getreideversorgung in Rom 1563–1797, Freiburg WS 1988/89. Markus Völkel, Römische Kardinalshaushalte des 17. Jahrhunderts. Borghese – Barberini – Chigi, Augsburg SS 1991. Wolfgang Weber, Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politi­ schen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Augsburg WS 1987/88. Reinhard Wendt, Fiesta Filipina. Koloniale Kultur zwischen Imperialismus und neuer Identität, Freiburg WS 1994/95.

53 Promotionen

Sonia Abun-Nasr, Afrikaner und Missionar. Die Lebensgeschichte von David Asante, Freiburg 2000. Linda Bàez-Rubi, Die Rezeption der Lehre des Ramon Llull in der Rhetorica Christiana (Perugia 1579) des Franziskaners Fray Diego de Valadés, Freiburg 2003. Meinrad Böhl, Das Christentum und der Geist des Kapitalismus. Die Auslegungsgeschichte des biblischen Talentegleichnisses, Freiburg 2006. Markus Bultmann, Erfahrung von Freiheit und Unfreiheit in der deutschen Geschichte. Rastatt und Offenburg  : Erinnerungsorte der Revolution 1848/49. Darstellung – Vermittlung – Do­ kumentation, Freiburg 2007. Radu Harald Dinu, Faschismus, Religion und Gewalt in Südosteuropa. Die Ustaša und die Le­ gion Erzengel Michael im historischen Vergleich, Erfurt 2012. Jaana Eichhorn, Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation. Diskurse, Insti­ tutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung, Freiburg 2003. Birgit Emich, Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1605–1621). Studien zur frühneuzeit­ lichen Mikropolitik in Rom, Freiburg 1999. Martin Faber, Scipione Borghese als Kardinalprotektor. Studien zur römischen Mikropolitik in der frühen Neuzeit, Freiburg 2002. Martina Fetting, Zum Selbstverständnis der letzten deutschen Monarchen. Normverletzungen

Betreute Arbeiten 

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und Legitimationsstrategien der Bundesfürsten zwischen Gottesgnadentum und Medienre­ volution, Erfurt 2012. Stephan Fitos, Zensur als Mißerfolg. Die Verbreitung indizierter deutscher Druckschriften in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Freiburg 1999. Julia Haack, Der vergällte Alltag. Zur Streitkultur im 18. Jahrhundert, Freiburg 2006. Michael Haberer, Ohnmacht und Chance. Leonhard von Harrach (1514–1590) und die erblän­ dische Machtelite, Freiburg 1999. Mark Häberlein, Vom Oberrhein zum Susquehanna. Studien zur badischen Auswanderung nach Pennsylvania im 18. Jahrhundert, Augsburg 1991. Harald Haury, Von Riesa nach Schloss Elmau. Johannes Müller (1864–1949) als Prophet, Un­ ternehmer und Seelenführer eines völkisch naturfrommen Protestantismus, Freiburg 2004. Moritz Isenmann, Legalität und Herrschaftskontrolle (1200–1600). Eine vergleichende Studie zum Syndikatsprozess  : Florenz, Kastilien und Valencia, Florenz 2008. Ingeborg Jostock, La censure négociée. Le contrôle du livre à Genève 1560–1625, Florenz 2001. Benedikt Kaukler, Die deutschen Auswanderer und die amerikanische Revolution. Die Haltung der deutschsprachigen Gruppen während der amerikanischen Revolution in Pennsylvania 1763–1790, Freiburg 1993. Alexander Keese, Living with Ambiguity. Integrating an African Elite in French and Portuguese Africa, 1930–61, Freiburg 2004. Jan-Christoph Kitzler, Nützliche Beziehungen. Rom und Genua unter Paul V., Freiburg 2003. Andreas Klein, Regeln der Patronage. Eine historisch-anthropologische Studie der Mikropolitik des John James Hamilton, First Marquess of Abercorn, in Irland, Freiburg 2004. Hans Georg Kopp, Das Einnehmer- und das Baumeisteramt Augsburgs im 16. Jahrhundert. Stu­ dien zum Haushalt der freien Reichstadt Augsburg 1994. Hans-Jörg Künast, »Getruckt zu Augspurg«. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555, Augsburg 1994. Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg, Freiburg 1999. Ullrich Lohrmann, Voices from Tanganyika. Great Britain, the United Nations and the Decolo­ nization of a Trust Territory, 1946–1961, Freiburg 2002. Livia Loosen, Deutsche Frauen in den Südsee-Kolonien des Kaiserreiches und ihre Beziehungen zur indigenen Bevölkerung 1884–1919, Erfurt 2013. Guido Metzler, Die doppelte Peripherie. Neapel als römische Kolonie und als spanische Pro­ vinz, Freiburg 2003. Tobias Mörschel, Buona Amicitia  ? Die römisch-savoyischen Beziehungen unter Paul V. (1605– 1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Italien, Freiburg 2001. Karsten Neumann, Das Wort als Waffe. Politische Propaganda im Aufstand der Katalanen 1640– 1652, Freiburg 2000. Petra Ostenrieder, Wohnen und Wirtschaften in Oettingen 1600–1800. Untersuchungen zur Sozialtopographie und Wirtschaftsstruktur einer bi-konfessionellen Residenzstadt, Augsburg 1992. Michael Philipp, Das »Regentenbuch« des Mansfelder Kanzlers Georg Lauterbeck. Ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte im Konfessionellen Zeitalter, Augsburg 1993. Barbara Rajkay, Verflechtung und Entflechtung. Sozialer Wandel in einer bi-konfessionellen Stadt. Oettingen 1560–1806, Augsburg 1998. Nicole Reinhardt, Macht und Ohnmacht der Verflechtung. Rom und Bologna unter Paul V. Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik im Kirchenstaat, Florenz 1997.

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Betreute Arbeiten

Volker Reinhardt, Kardinal Scipione Borghese (1605–1633). Vermögen, Finanzen und sozialer Aufstieg eines Papstnepoten, Freiburg 1981. Martin Röw, Militärseelsorge unter dem Hakenkreuz. Strukturen, Akteure und Praxis der Katho­ lischen Feldseelsorge 1939–1945, Erfurt 2012. Dominic Sachsenmaier, Die Aufnahme europäischer Inhalte in die chinesische Kultur durch Zhu Zongyuan (ca. 1616–1660), Freiburg 1999. Peter Schmidt, Das Collegium Germanicum in Rom und die Germaniker. Zur Funktion eines römischen Ausländerseminars (1552–1914), Freiburg 1981. Michaela Schmölz-Häberlein, Die Grenzen des Caudillismo. Die Modernisierung des guate­ maltekischen Staates unter Jorge Ubico 1931–1944, Freiburg 1993. Wolfgang Schütze, Oligarchische Verflechtung und Konfession in der Reichsstadt Ravensburg 1551/52–1648. Untersuchungen zur sozialen Verflechtung der politischen Führungsschich­ ten, Augsburg 1981. Katarina Sieh-Burens, Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518–1618, Augsburg 1985. Alexander Sigelen, »Dem ganzen Geschlecht nützlich und rühmlich«. Reichspfennigmeister Za­ charias Geizkofler zwischen Fürstendienst und Familienpolitik, Freiburg 2006. Ingo Stader, Herrschaft durch Verflechtung. Perugia als Kirchenstaatsprovinz unter Paul V. (Ca­ millo Borghese, 1605–1621), Freiburg 1997. Peter Steuer, Die Außenverflechtung der Augsburger Oligarchie von 1500 bis 1620. Studien zur sozialen Verflechtung der politischen Führungsschicht der Reichsstadt Augsburg, Augsburg 1985. Hillard von Thiessen, Die Kapuziner zwischen Konfessionalisierung und Alltagskultur. Verglei­ chende Fallstudie am Beispiel Freiburgs und Hildesheims 1599–1750, Freiburg 2001. Moritz Trebeljahr, Karrieren unter dem achtspitzigen Kreuz. Die mikropolitischen Beziehun­ gen des Papsthofs Pauls V. zum Johanniter-Orden auf Malta 1605–1621, Freiburg 2007. Markus Vogl, Friedensvision und Friedenspraxis in der Frühen Neuzeit 1500–1649, Augsburg 1994. Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970, Augsburg 1983. Reinhard Wendt, Die bayerische Konkursprüfung der Montgelas-Zeit. Einführung, historische Wurzeln und Funktion eines wettbewerbsorientierten, leistungsvergleichenden Staatsexa­ mens, Augsburg 1984. Christian Westerhoff, Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg. Deutsche Arbeitskräftepolitik im be­ setzten Polen und Litauen 1914–1918, Erfurt 2009. Stefanie Westermann, Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Erfurt 2009. Christian Wieland, Fürsten, Freunde, Diplomaten. Die römisch-florentinischen Beziehungen unter Paul V. (1605–1621), Freiburg 2001. Katrin Wilhelm, Der Verlag »Das Goldene Almosen« 1614–1785, Augsburg 1992. Jürgen Zimmerer, Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirk­ lichkeit im kolonialen Namibia, Freiburg 2000. Marc Zivojinovic [heute  : Halder], Der Titokult. Formen charismatischer Herrschaft im sozi­ alistischen Jugoslawien, Erfurt 2010.

Betreute Arbeiten 

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137 Magisterarbeiten [MA] und Zulassungsarbeiten zum Staatsexamen [SE]

Sonia Abun-Nasr, Eingeborenenkommissare in Deutsch-Südwestafrika, MA Freiburg 1994. Burkhard Arnold, »Corruption«. Herrschaft und Herrschaftskritik im Zeitalter Fieldings, SE Augsburg 1981. Thomas Bäurer, Saltaire. Industrialisierung und Paternalismus, SE Freiburg 1995/96 u. MA Frei­ burg 1996. Hermann Baumeister, Das ewige Heil der Indigenas. Zur Missionstheologie des Bartolomé de las Casas, MA Freiburg 2002. Evelyn Becker, Die deutsche Politik in der französischen Kolonialpresse  : Die Marokkokrisen 1905–1911, SE Freiburg 1993/94. Sandra Bender, Begriffsgeschichte von »Hexe«  : Malleus maleficarum und cautio criminalis, SE Freiburg 2001/02. Rasmus Bjerregaard, Frühneuzeitliches Landesdefensionswesen zwischen Krone und Adel mit besonderer Berücksichtigung Dänemarks, MA Freiburg 2000. Meinrad Böhl, Bernhard August Prestinari und das Verhältnis zwischen liberalem Staat und katholischer Kirche, MA Freiburg 2000/01. Thomas Boghardt, Die »Megali Idea«. Griechische Expansionspolitik 1832–1923, SE Freiburg 1996. Wolfgang Brandstetter, Europäische Expansion und europäisches Bewusstsein. Das Bild Ame­ rikas in schwäbischen Bibliotheken des 16.–18. Jahrhunderts, SE Augsburg 1985. Michael Brodführer, Zielvorstellungen und politische Wirklichkeit des »Reichsnährstandes«, SE Freiburg 1977. Alfons Brüning, Konfessionalisierung im Osten  ? Zur »Confessio Orthodoxa« des Kiever Metro­ politen Petro Mohyla, MA Freiburg 1995. Volker Büchler, Die Zensur im frühneuzeitlichen Augsburg 1515–1806, MA Augsburg 1989/90 (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 84 (1992) 70–128). Markus Bultmann, Rankes Problem der Objektivität und die moderne Geschichtswissenschaft, SE Freiburg 1995/95. Marga Burkhardt, Die Heil- und Pflegeanstalt Illenau. Badische Psychiatriegeschichte anhand von Krankenakten 1842–1877, MA Freiburg 1994. Claudia Busch, Landsleute und Klienten in der Conquista. Soziale Verflechtung bei den spani­ schen Eroberern, SE Freiburg 2000. Martin Corzillius, Debatten über Eric Williams »Capitalism and Slavery«. Probleme histori­ scher Interpretation, MA Freiburg 1995. Anke Dörner, Olympia Fulvia Morata (1526–1555). Genese eines Frauenmodells in der Refor­ mation, SE Freiburg 1997/98. Dirk Eckert, Die Rehobother Bastards und die deutsche Kolonialverwaltung, MA Freiburg 1994. Birgit Emich, »Als ob es ein new bapstum were …« Straßburg auf dem Weg zur Konfessionali­ sierung (1522–1549), MA Freiburg 1992 (Freiburger Diözesan-Archiv 113 [1993] 129–76). Ursula Erdt, Deutsche Kaufleute in Amerika in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, MA Augsburg 1989/90. Birgit Felleisen, Herrschaft und Recht als Rahmenbedingungen für ein Widerstandsrecht bei den Levellern, SE Freiburg 1994 u. MA Freiburg 1994/95. Erwin Fink, Nationalismus in Deutschland und Großbritannien. Treitschke und Seeley. Bezugs­ punkte und Genese des nationalistischen Diskurses, MA Freiburg 1996.

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Betreute Arbeiten

Stephan Ferenc Fitos, Die Zensur volkssprachlicher deutscher Druckwerke in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, MA Freiburg 1996/97. Gerd Flören, Englische Kolonisation in Irland und Virginia 1550–1625. Ein Vergleich, SE Augsburg 1981. Michael Fritz, Gesellenverbände und Arbeitszeit während der Reformation in Deutschland, SE Freiburg 1977. Beate Fuhl, Das Zuchthaus zu Buchloe. Beiträge zur Randgruppenpolitik des Schwäbischen Kreises, MA Augsburg 1987 (Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 81 (1989) 65–115). Angelika Geier, Volksbewegung und radikale Ideologien vor und in der englischen Revolution 1600–1660, SE Freiburg 1978/79. Andreas Gleim, Scottsboro in Europa, MA Freiburg 1994/95. Brigitte Goetzeler, Bevölkerungsgeschichte der Reichstadt Augsburg. Quellen – Forschungs­ stand – Neue Möglichkeiten, SE Augsburg 1979. Birgit Graf-Off, Kontinuität und Wandel im Geschichtsbild der DDR  : Reformation und Bau­ ernkrieg, SE Realschule Augsburg 1980. Annette Gräfenstein, Der Konflikt der Alternativen in der Reformation  : Luther und Müntzer, SE Augsburg 1979/80. Julia Haack, Von der östlichen Baar nach Nordamerika. Auswanderung aus Baden im 19. Jahr­ hundert, SE Freiburg 2002 (Veröffentlichungen des Geschichtsvereins für den Landkreis Tuttlingen 7, Tuttlingen 2003). Michael Haberer, Melchior Klesl und die »Rudolfinische Religionsreformation«. Die Beziehun­ gen zwischen katholischer Dynastie und nachtridentinischem Katholizismus in einer frühen Phase der Konfessionalisierung (1577–1594), MA Freiburg 1992. Fiona Härtel, Der Piloto mayor und die Kartographie im Spanien des 16. Jahrhunderts, MA Freiburg 1999/2000. Tilman Haffner, Das soziale Netz von Hermann Weinsberg (1518–1597). Die Einbindung ei­ nes Kölner Bürgers des 16. Jahrhunderts, in Gruppen und Interaktionsnetze, SE Freiburg 2000/01. Harald Haury, Johannes Müller (1864–1949). Welterweckung zwischen Geist und Genen. Die Jahre bis zum Ersten Weltkrieg, MA Freiburg 1996. Margit Heim, Die Regelung des Studentenlebens in den Bursenstatuten der frühen Neuzeit, SE Freiburg 2000/01 u. MA Freiburg 2001. Cornelia Hiesinger, Gemeiner Pfennig und Sozialtopographie in Augsburg 1497, SE Augsburg 1981/82. Hans Hirsch, Kirchliche Anpassung an die Kultur missionierter Völker, SE Augsburg 1982/83. Rüdiger Hitz, Die Bondelzwarts unter deutscher und südafrikanischer Herrschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, MA Freiburg 1993/94. Friederike Hochmüller, Wahrnehmung von Frauenherrschaft im 16. Jahrhundert. Eine Dar­ stellung am Beispiel Englands, SE Freiburg 1992. Ralf Höckesfeld, Südwestafrika und die Kolonialdebatten im Reichstag. »Eingeborenenpolitik« im letzten Jahrzehnt der deutschen Kolonialherrschaft, SE Freiburg 1992/93. Andreas Hölting, Menschen auf der Suche nach neuen Lebenschancen. Sozialgeschichtliche Studien zur Amerika-Wanderung über Liverpool in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, SE Freiburg 1992/93. Heinz-Jürgen Holzschuh, Die Reservatsfrage in Deutsch-Südwestafrika vor dem Herero- und Nama-Aufstand von 1904, MA Freiburg 1992/93.

Betreute Arbeiten 

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Jochen Hoock, Die politisch-kulturelle Bedeutung der Royal Academy of Arts, London (1768– 1793). Zum nationalen Geltungsanspruch eines Gentlemen’s Club, MA Freiburg 1997. Moritz Isenmann, Die Verwaltung der päpstlichen Monti in der frühen Neuzeit, MA Freiburg 2003 (VSWG Beiheft 179, Stuttgart 2005). Peter Itzen, Herrschaftsverständnis bei Oliver Cromwell. Das Problem der Legitimation, MA Freiburg 2002. Ludger Jägersküpper, Das Verhältnis wirtschaftlicher und politischer Faktoren in der frühneu­ zeitlichen englischen Expansion, SE Freiburg 2000. Martin Jarosch, Puritaner und Indianer. Der Aufeinanderprall zweier Kulturen in Neuengland. Von den Anfängen bis King Philip’s War 1675, SE Freiburg 1991. Christoph Jehle, Die Erfindung des Buchdrucks und seine Einführung in Augsburg, SE Augs­ burg 1984/85. Alexander Keese, Studien zur Loi-cadre. Eine Etappe des Machttransfers im französischen Schwarzafrika zwischen Rückzug, Integration und Manipulation, MA Freiburg 2001. Frank Killmann, Die Reichszugehörigkeit Hamburgs im 18. Jahrhundert, SE Freiburg 1999/2000. Andreas Klein, Britischer Parlamentarismus des 18. Jahrhunderts aus historisch-anthropologi­ scher Sicht, MA Freiburg 1999/2000. Ulrich Klinkert, Die Augsburger Handelsgesellschaft der Höchstätter – Zusammenbruch, Gläubiger und soziale Verflechtung, SE Augsburg 1983/84. Bettina Knauss, »How Shall We Govern India  ?« Die Kontroverse zwischen Orientalisten und Anglizisten um British-Indien 1770–1835, SE Freiburg 1995/96. Gabriele Konrad, Das Fürsorgewesen der Stadt Oettingen, SE Augsburg 1981. Hans Georg Kopp, Die Entstehung und Entwicklung der »Joint Stock Company« vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, SE Augsburg 1981/82. Hans Georg Kopp, Englische Unternehmensformen in der frühen Neuzeit, MA Augsburg 1983/84. Ilse Kraus, Die Protektoren der Orden und Nationen an der Römischen Kurie, SE Augsburg 1982. Andrea Kromer, Politische Elite und Bildung in Schwarzafrika, SE Augsburg 1987. Astrid Küntzel, Die Kolonialausstellung in Paris 1931. Die Fremdwahrnehmung im Diskurs der Kolonialausstellung und ihre symbolische Umsetzung, MA Freiburg 2002. Henning Küppers, Konzepte von »race« und die schottischen presbyterianischen Kirchen in der Zwischenkriegszeit, SE Freiburg 1996/97. Reinhard Kukulan, Die Überseepolitik Brandenburg-Preußens unter dem großen Kurfürsten und seinen Nachfolgern (1647–1721), MA Augsburg 1990/91. Susanne Landes, Auswirkungen der deutschen Kolonialherrschaft (1884–1915) in Deutsch-Süd­ westafrika auf die autochthone Bevölkerung am Beispiel der !  Khara Gei Khoin, MA Freiburg 1993/94. Achim Landwehr, Englische Assimilationspolitik in Irland 1534–1547, MA Freiburg 1995. Friederike Lihl, Jakob Strauß und seine radikalen Flugschriften, SE Realschule Augsburg 1980/81. Wolfram Lippert, Reformideen und »materielle« Modernisierungsversuche im Iran des 19. Jahr­ hunderts  : Das Memorandum ›usul-i taraqqi‹ von Prinz Mirzâ Malkum Hân ad-Dawle. Ein Beitrag zu den Reformideen iranischer Aufklärer, MA Freiburg 1994. Constanze Lohmeyer-Kampe, Wallerstein in der Kritik. Theorien(!)-Geschichte einer Ge­ schichtstheorie, SE Freiburg 1993. Ullrich Jan Lohrmann, The Voice from Tanganyika. African Perceptions of the Role of the Uni­ ted Nations in Decolonisation 1947–1961, MA Freiburg 1992/93.

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Betreute Arbeiten

Katrin Lunkenheimer, Primarbildung in Hispanoamerika zur Zeit der Aufklärung. Eine Unter­ suchung des spanischen Einflusses, SE Freiburg 1995/96. Ralf Lusiardi, Ackerbürgerstadt und Evangelium. Strukturgeschichte und evangelische Bewe­ gung in der vorderösterreichischen Landstadt Kenzingen vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, MA Freiburg 1992. Maria Maier, Die »Absolutiones Universitatum« im Pontifikat Pauls V. (1605–1621), SE Augs­ burg 1980. Rudi Mang, Die Politik der Apartheid in Südafrika (1948–1966), MA Freiburg 1992/93. Daniel Mark, »Odal«. Nationalsozialistische Bauerntumsideologie und Agrarpolitik im Spiegel der »Monatsschrift für Blut und Boden«, MA Freiburg 1995. Jürgen Matzenauer, Die Freiheitskämpfe der Salpeterer in der ehemaligen Grafschaft Hauen­ stein – dem heutigen Hotzenwald – und deren Vorgeschichte, SE Freiburg 1978. Dominik Meier, Koloniale und postkoloniale Elite in Vietnam. Konfuzianismus kontra Moder­ nität  : Die Konfrontation zweier Denksysteme im Vietnam des 19. und 20. Jahrhundert, MA Freiburg 1996/97. Hans Meier, Childhood and Youth in England and Germany in the Early Modern Period. A Research Discussion, MA Augsburg 1990. Daniela Meixner, Die amerikanische Frauenrechtsbewegung seit 1966, SE Augsburg 1989. Thomas Melzer, Als der »Baum der Erkenntnis« nicht mehr verboten war … Zur Rolle botani­ scher Gärten im Kontext der europäischen Expansion, SE Freiburg 1996/97. Barbara Miksch, Die Mormonen als amerikanischer Mythos  ?, MA Freiburg 2002. Barbara Möller, Die Tagebuchaufzeichnungen des Hottentottenkapitains Hendrik Witbooi aus der Zeit der ersten deutschen Kolonisation in Südwestafrika, 1884–1894, SE Freiburg 1978. Tobias Mörschel, Katholischer Klerus im konfessionellen Zeitalter. Die tridentinische Klerus­ reform, ihre Rezeption in der Diözese Konstanz und ihre Umsetzung im Dekanat Freiburg 1550–1700, MA Freiburg 1996/97. Johannes G. Müller, Die deutsche Eingeborenenpolitik in Südwestafrika 1905–1915, MA Augs­ burg 1984. Monika Müller, Eric Williams und die Aufhebung des britischen Sklavenhandels, SE Augsburg 1983/48. Petra Neher, Die Eroberung Chiles im Lichte von Pedro de Valdivias Briefen, SE Augsburg 1981/82. Karsten Neumann, Das Naturrecht der »Two Treatises of Government«. Lockes Entwicklung »liberaler« Gedanken im historischen Kontext, MA Freiburg 1996/97. Benjamin Nölting, Handel und Kredit zwischen Weißen und Afrikanern in Südwestafrika 1850–1915, MA Freiburg 1994/95. Eva Maria Noppen-Eckart, Weiterführende Mädchenbildung im 18. und 19. Jahrhundert, SE Augsburg 1988/89. Petra Ostenrieder, Untersuchungen zur Sozialtopographie Oettingens. Steuerbücher als Quel­ len für Häuserlisten, SE Augsburg 1981/82. Michael Philipp, Georg Lauterbecks Regentenbuch (1556), MA Augsburg 1988. Michael-Jacques Pieper, Der Aufstand des Tupac Amaru im Peru des späten 18. Jahrhunderts  : Geschichte und Historiographie, MA Augsburg 1989/90. Till Platte, Begriff und Grenzen frühneuzeitlicher Herrschaftsbefugnis, MA Freiburg 1995/96. Susanne Pohlmann, Die Flugschriften der Bauernkriegszeit. Ihre Funktion als öffentliches Kom­ munikationsmittel, MA Freiburg 1994/95. Roland Prior, Mexikanische Einwanderung in die USA im frühen 20. Jahrhundert, SE Freiburg 1977.

Betreute Arbeiten 

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Barbara Rajkay, Bevölkerungsentwicklung in Augsburg 1607–1650. Ein Vergleich der Pfarreien St. Anna und St. Moritz, MA Augsburg 1984. Elisabeth Rapp, Zur Geschichte des Hebammenwesens in Freiburg und Basel im 16. und 17. Jahr­ hundert, SE Freiburg 1994. Volker Reinhardt, Päpstliche Kunstpatronage in Renaissance und Barock  : Julius II. und Ur­ ban VIII., SE Freiburg 1975/76. Wolfgang Reitberger, Beirut – Marseille – Dakar. Die Libano-Syrer in Französisch-Westafrika (A.O.F.) ca. 1892–1939. Unter Berücksichtigung der besonderen Beziehungen Frankreichs zum Libanon (1799–ca. 1892), MA Augsburg 1989. Robert Relling, Politische Patronage unter den frühen Stuarts. Die Einflusssphären des Herzogs von Buckingham, MA Freiburg 2000. Burkhard Remmers, Die »unsichtbare Hand«, SE Augsburg 1987. Tilman Robbe, Joß Fritz im Diskurs. Geschichtswissenschaftliche Variationen über die Bund­ schuhbewegung, MA Freiburg 1997. Gerlinde Rüdiger, Das Augsburger Pilgerhaus, MA Augsburg 1982. Peter Salger, Die Entwicklung wissenschaftlichen Denkens am Beispiel der politischen Theorie von Thomas Hobbes im »Leviathan«, SE Realschule Augsburg 1979/80. Peter Salger, Altes und neues Denken bei Thomas Hobbes (»Leviathan« I und II), SE Augsburg 1981/82. Kirsten Schade, Textilindustrie und Stadtentwicklung in Glasgow  : Templeton’s Carpet Factory, SE Freiburg 1995/96. Friederike Schelkes, Religionsfrieden des 16./17. Jahrhunderts, SE Freiburg 2002. Kerstin Anja Schmelzer, Totaler Krieg auf Italienisch  ? Deutsche Propaganda in der Repubblica Sociale Italiana (1943–1944), MA Freiburg 1995. Peter Schmidt, Herkunft und Werdegang der Alumnen des Priesterseminars Meersburg. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Weltgeistlichkeit im deutschen Anteil des Fürstbistums Kon­ stanz im 18. Jahrhundert, SE Freiburg 1976 (Freiburger Diözesan-Archiv 97 (1977) 49–107). Michaela Schmölz, Sklaverei im »wahren Frieden«. Zur verstärkten Rekrutierung der indigenen Arbeitskraft im Guatemala der 1930er Jahre. Ursachen und Auswirkungen am Beispiel der Region Alta Verapaz, MA Augsburg 1990/91. Bernd Schulz, Vom Donnerbalken zum »stillen Örtchen«. Zur Geschichte des Abortes, MA Freiburg 2002. Bettina Schulze-Middendorf, Die spanische Eroberung in Zentralmexiko und ihre Auswir­ kungen auf die sozio-ökonomischen Verhältnisse der Ureinwohner, SE Freiburg 1978. Wolfgang Schütze, Die Entstehung der Novelle zur Gewerbeordnung im Jahre 1878, SE Frei­ burg 1978/79. Susanne Schuster, Politische Akkulturation der Elfenbeinküste und der Goldküste, MA Augs­ burg 1989/90. Christa Sedlmeier, Americana Augustana. Amerikaliteratur in der ehemaligen Oettingen-Wal­ lersteinischen Bibliothek der Universitätsbibliothek Augsburg [3 Bde.], MA Augsburg 1990. Katarina Sieh, Bürgermeisteramt, soziale Verflechtung und Reformation in der freien Reichsstadt Augsburg 1518–1539, MA Augsburg 1981. Alexander Sigelen, Freunde, Fürsten, Finanziers – Das Netzwerk des Reichspfennigmeisters Za­ charias Geizkofler (1560–1617), MA Freiburg 2002. Martina Spiess, »Feuersnot« und die Entstehung der Gebäudebrandversicherung in Schwaben, MA Augsburg 1987. Ruth Spieler, Der Bauernkrieg in der Fürstabtei Kempten, SE Realschule Augsburg 1981.

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Betreute Arbeiten

Ingo Stader, Verwandtschaft, Patronage, Landsmannschaft. Die Bedeutung informeller Bezie­ hungen für das Funktionieren von Herrschaft in Perugia zur Zeit Pauls V. (1605–1621), MA Freiburg 1994. Wolfgang Stetter, Visitation und konfessionelle Grenze. Das katholische Landkapitel Wurmlin­ gen und das lutherische Amt Tuttlingen, SE Freiburg 1992/93. Peter Steuer, Der Rappenkrieg, SE Freiburg 1978, MA Freiburg 1978/79. Eugen Svierak, Beiträge zur historischen Demographie von Roth 1648–1713, MA Augsburg 1990/91. Maren Thiele, Die spanische Inquisition, SE (nicht vertieft) Augsburg 1982. Moritz Trebeljahr, Pero da Covilhãs Indien- und Äthiopienreise und die Expansionspolitik Jo­ hanns II. von Portugal, MA Freiburg 2003. Markus Vogl, Staatsmacht im Wandel. Die Entwicklung der staatlichen Organisation im La-Pla­ ta-Gebiet ca. 1750–1830, MA Augsburg 1988. Till Wahnbaeck, Die Reaktion der Kurie auf die Begründung des Absolutismus  : Fabio Albergati versus Jean Bodin, MA Freiburg 1996/97 (Zeitschrift für Historische Forschung 26 (1999) 245–67). Lydia Warrle, Die Rolle der Frau und der Antifeminismus in Reformation und Gegenreforma­ tion, MA Augsburg 1980. Wolfgang Weber, Die soziale Herkunft deutscher Historiker 1770–1970, SE Freiburg 1976. Heribert Weinmann, Europäische Kulturkontakte mit Japan im 16. und 17. Jahrhundert, SE (nicht vertieft) Augsburg 1984. Jutta Weiss, Der »Intendant«. Begriff und Aufgaben bis ins 17. Jahrhundert, MA Augsburg 1981/1982. Reinhard Wendt, Empirische Kritik großstadtfeindlicher Ideologien des »Kaiserreichs«, SE Frei­ burg 1977. Susanne Wenzel, Ein Azteke als »Preußischer Opernheld«. Friedrich II. und seine Oper »Mon­ tezuma«, MA Freiburg 2002/03. Karen Wiedenbauer, Die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Aufhebung der englischen Klöster und der Enteignung von Kirchengut, SE Augsburg 1982. Christian Wieland, Status und Studium. Breisgauischer Adel und Universität im 16. Jahrhun­ dert, SE Freiburg 1995. Katrin Wilhelm, Soziale Verflechtung Augsburger Künstler in der frühen Neuzeit 1450–1550, MA Augsburg 1984. Hanno Wilk, Die Borghesi. Generatives Verhalten einer italienischen Adelsfamilie, MA Freiburg 2002.

Publikationsnachweis

Fundamentalistische Revolution und kollektive Identität, in: Wolfgang Reinhard (Hg.), Die fun­ damentalistische Revolution. Partikularistische Bewegungen der Gegenwart und ihr Umgang mit Geschichte (Rombach Historiae 8), Freiburg 1995, S. 9–47. Die Bejahung des gewöhnlichen Lebens, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt 2005, S. 265–303. Historische Anthropologie politischer Architektur, in: Peter Brandt/Arthur Schlegelmilch/Rein­ hardt Wendt (Hg.), Symbolische Macht und inszenierte Staatlichkeit. »Verfassungskultur« als Element der Verfassungsgeschichte, Bonn 2005, S. 17–40. Manchmal ist eine Pfeife wirklich nur eine Pfeife. Plädoyer für eine materialistische Anthropolo­ gie, in  : Saeculum 56/1 (2005), S. 1–16. Symbol und Performanz zwischen kurialer Mikropolitik und kosmischer Ordnung, in: Günther Wassilowsky/Hubert Wolf (Hg.), Werte und Symbole im frühneuzeitlichen Rom (Symboli­ sche Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 11), Münster 2005, S. 37–50. Geheimnis und Fiktion als politische Realität, in: Wolfgang Reinhard (Hg.), Krumme Touren. Historische Anthropologie kommunikativer Umwege, Wien 2007, S. 221–250. Die Anthropologische Wende der Geschichtswissenschaft, in: Andreas Wagner (Hg.), Anthropo­ logische Aufbrüche, Göttingen 2009, S. 77–99. Die hermeneutische Lebensform des Abendlandes, in: Wolfgang Reinhard (Hg.), Sakrale Texte. Hermeneutik und Lebenspraxis in den Schriftkulturen, München 2009, S. 68–119. Kulturelle Gemeinsamkeiten Europas, in: Dimitris T. Tsatsos (Hg.), Die Unionsordnung. Hand­ buch zur europäischen Verfassung, Berlin 2010, S. 99–116. Die Nase der Kleopatra. Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung. Ein Versuch, in: His­ torische Zeitschrift 293 (2011), S. 631–666. »Kein hochgemuter Mensch auf dem Erdenrund kennt nicht von klein auf Gier«. Zur anthropo­ logischen Kritik der ökonomischen Vernunft, in: Moritz Isenmann (Hg.), Merkantilismus. Wiederaufnahme einer Debatte (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 228), Stuttgart 2014, S. 113–133. Von Affen und Menschen. Anthropologie zwischen Biologie und Geschichte (2005) – Erstab­ druck. Kritik der hermeneutischen Vernunft. Ein Erfahrungsbericht (2015) – Erstabdruck. Vom Sinn des Unsinns. Ein Versuch (2015) – Erstabdruck.