Gesammelte Werke. 3 Bände, herausgegeben von Friedhelm Kemp (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und D
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German Pages [536] Year 1997
Peter Gan Gesammelte Werke Band II
Herausgegeben von Friedhelm Kemp
WALLSTEIN VERLAG
DIE NEIGE
>Ach Neige, du schmerzenreiche< ... Anonym
>Quod scripsi, vixi.< Anonym
MEIN LESER ... Mein Leser, sieh, mich hat das Grab. So hängt es einzig von dir ab, ob Kronos allen Lichtverbleib mir, meinem Nachlaßschattenleib, verwehren soll. So bitt ich denn dich innig: lies mich! oder wenn du keine Zeit zum Lesen hast, lad deinen Freund bei mir zu Gast! Schenk (antiquarisch) ihm mein Buch, daß er es lese und den Fluch: ganz zu verschwinden, von uns wende. In seine, deine, eure Hände leg ich mein Buch und mich dazu: das Buch aufs Pult, und mich zur Ruh.
PREISLIEDER
PREISLIEDER
AUF EINE MUSCHEL Für Joseph Breitbach
Du kennst nicht die Sterne, die Wolken, den Wind, die Ströme, die Städte: du blinder als blind. Du hörst nicht den Schrei des von Sonne und Raub raumseligen Adlers: du tauber als taub. Und hast doch aus Kiesel und Kreide und Nacht und Tiefe im Schlafe das Wunder vollbracht:
aus Rose und Goldlack, Zenith und Azur, aus Dauer und Demut, aus Glück und Glasur die Hymne zu singen, du blinder als blind und tauber als taub, die kein Seher ersinnt.
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DIE NEIGE
AUF MEINEN ALTEN KELIM >Geheimer Chiffern Sendung Beschäftige die Wek.
Und gönne dem verklärten Blick An meiner Herrlichkeit sein Glück.< Goethe
Laß mich deiner Schweigechiffern bunte Bilderrätselschrift neu und immer neu entziffern, wenn auch oft danebentrifft, was gedankenfrohes Staunen, aus dich legend, in dich legt: folgsam allen Schöpferlaunen, die dein Geistergarn erregt.
Zwar (darüber sind wir einig) du bist alt und ausgebleicht, stellenweise fadenscheinig und zum Selbstzerfall geneigt.
Sei’s getrost! denn nur sotaner Spätgestalt verdank ich dich und daß jener Marokkaner endlich meinen Bitten wich. O wie fühl ich deiner Fäden Werdewonnen wirrverschränkt; fühl der wirren Fäden jeden meisterlich zum Ziel gelenkt. Urgesetz: zu wiederholen, was zugleich verwandelt wird. Zaudernd zwischen Zaubers Polen findet sich, was sich verirrt.
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PREISLIEDER
Geometrisches Genießen labyrinth’schen Mustergangs! Fugenhaft verwebtes Fließen farbefrohen Wechselsangs! Bildlos über allen Bildern! Uber allem Wort beredt! Nur zu schauen, nie zu schildern: beethaft blühendes Gebet!
Klug geknüpfter Farbenstränge goldgewirkter Blätterfall! Herbstwaldweben! Hörnerklänge! Echos Wiederwiderhall!
Braun verwelkend, blau verzagend, rostrot auf den Tod gefaßt, gelblich fragend, grünlich klagend: Wunder! wies zusammenpaßt. Kleine Regelwidrigkeiten: hier >zu blau< und dort >zu rotNie-und-Nimmer< neidbewacht.
PREISLIED AUF’S GANZE
Alles, was ich nicht versteh, weiß ich doch als unverstanden; was ich selber auch nicht seh, ist darum nicht unvorhanden. Zwar für mich ist es nicht da, doch vielleicht für himmlisch Andre, deren höheres >Heureka< ich dereinst am Styx erwandre?
Mein ist zwar nur das Fragment, — also auch das Ganze: Wurm und Cherub ungetrennt. Seraph winkt der Wanze. Und so trage ich sie gern, Lebelast aus Scheitern: anvertrauten Eichelkern baumhaft zu erweitern. Eichhorn eil ich auf und ab zwischen Laub und Wurzel, bis ich in dein Wiegengrab, Mutter Erde, purzel.
PREISLIEDER
PREISLIED AUF DIE GEDULD
Alter Psalter, aus der Ecke! geh mir brav zur Hand! zieh die ausgedörrte Schnecke singend aus dem Sand! Gut Ding, heißt’s, will Weile haben und verlangt Geduld. Gönn’ uns, Gabe aller Gaben, gnädig deine Huld! Preisen — früher fast von selber ging mir’s von der Hand. Flog ein Falter wo, ein gelber: war sogleich entbrannt! Lang’ schon haben sich die Falter aus dem Staub gemacht. >Staub< ... und taub und tot mein Psalter hört’s und ist erwacht:
Still in schräger Helle schwebend., Graugespenst aus >tot< und >taubStaubIch will mich selber preisen, wenn es kein anderer tut.< Afrikanisch
Mein lieber Peter Gan, dein treuster Leser (auch fast dein einziger) hat wohl ein Recht, als auftragloser Testamentsverweser dich, freilich nicht dem heutigen Geschlecht, zu präsentieren. Das hat Zukunftssorgen, dieweil uns mehr Vergangenes betrifft, daher wir beide uns um Heut und Morgen im vollen Einklang mit der heiligen Schrift
nur wenig kümmern (außer in Gedanken). Mit einem Wort: ich trete vor dich hin, um mich bei dir für manches zu bedanken (woran ich nicht ganz unbeteiligt bin).
Dein Testament — du weißt’s — hat keine Erben, so wie du selber keine Enkel hast, was einem Mann sein Leben wie sein Sterben erleichtert und erschwert, wies Theophrast in seinen weltberühmten >Charakteren< (wenn ich nur wüßte, wo?) geschildert hat: >Was wir am meisten lieben und verehren, hat unser Erbe meist am meisten satt.«
Du hast den Alltag nüchtern hochgehalten, hast seine Unschuldssprache tief geliebt, hast, wurzelgläubig, alles gern beim Alten, wenn’s irgend ging, gelassen: tief betrübt,
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PREISLIEDER
wenn auf der Weltenorgel Urregistern der Erdgeist sich rebellisch atonal erging und ungebührlich werdelüstern dem Chaos dreist ein Stück Verwirrung stahl.
Des Sonntags Ruhepause war dir heilig (und kann nicht jeder Tag ein Sonntag sein?). Du hattest es auch wochentags nicht eilig, denn Eile, selbst mit Weile, macht gemein. Doch sonntags spielt das Menschenkind mit Sternen, und nur ein Mensch, der spielt, wird wieder Kind. An Kinderspielen können wir es lernen, wie man das Himmelreich zurückgewinnt. Du warst ein Liebender, daher ein Hasser der Heuchelei, die nur zu lieben schien. Du hast auch, wie der Hirsch nach frischem Wasser, (nur stumm), nach guter Kompanie geschrien.
Denn stets allein und gegen alle andern — und wär’ es auch nur >in aestheticis< — auf längst verlaßnen Seitenpfaden wandern, ist alles eher als ein Paradies. Allmählich geht dein Tag, mit dir, zur Neige, zeigt sich die Nacht dir inniger geneigt. (Das grinsende Gerippe mit der Geige hat sich verlegen selber heimgegeigt.)
Ein Schatten, abendlich dir zugeschwistert, taucht aus dem fast erloschnen Spiegelglas; und heimlich eine weiße Muschel flüstert ins hingegebne Ohr dir: >Hörst du was?< O zwillingsewig dunkle Doppelherme, hermetisch eins-. Ohrmuschelmuschelohr! erhörend im verdrießlichen Gelärme des Knaben Wunderhorn wie hoch den Chor-
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DIE NEIGE
und Bilderreigenrundgesang der Sphären! Das Ohr, das hört, ist auch das Ohr, das spricht. Das eine läßt das andere gewähren. Wer spricht, wer hört: sie wissens beide nicht. Du hörst mich, Herrliche, weil ich dich höre! Du, liebe Sprache, sinnst und singst durch mich, der ohne dich sich in sich selbst verlöre. Erhöre und (mit mir) beschenke mich! — Wer hört dich sonst? das Echo und die Lampe und (unter uns) gelegentlich auch ich. Der Götter Zug steigt abwärts an der Rampe ... und glaub mir’s (unter uns): sie lieben dich.
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LIEDER
LIEDER
CARMINA
Splitter einer bunten Bilderwelt: einer heilen, ob auch schmerzgebornen, einer im Verfall der andern Welt immer todgeweihten, nie verlornen. Splitter einer selig selbstversöhnt frei an goldner Kette aufgehangnen Spiegelkugel, die phiolisch tönt: Schattenecho einer glasgefangnen Schattenstimme, bittersüß ein banges Echo eines nie gesungnen Sanges.
DAS LIED
»Ich lebe nur, solange du mich lebst, mich aus der Wiege in die Taufe hebst, mir deinen Atem, deine Stimme gibst, mir freundlich tust, mir lächelst und mich liebst. In jedem Wort und zwischen Zeil’ und Zeile, horch! pocht dein Blut und bittet dich: >verweilemein< und kein >deinnehmengebenSchnecke im Schneckenhaus^ heimliches Bild!
Innig betrachtetes winkt dich’s hinein. Siehe, schon nachtet es. Seele, kehr ein.
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DIE NEIGE
FRÜHE STUNDE Für Johannes Pfeiffer
Weht ein Laub, kräht ein Hahn, und der Himmel wird blaß; weichen Halses der Schwan tunkt ins dämmernde Glas.
Schwankt aus Silber und Tau Netz der Spinne am Ast; schnellt durchs schüchterne Blau schwalbenschrillende Hast. Reglos über der Welt hängt im Winde der Weih; ins Verlorene gellt sein gelassener Schrei.
ABEND Alternde Linde atmende Winde gluckernder Bach Strohscheunendach Kreuzspinnennetze Schwalbengeschwätze nebelnde Schwaden Mückenmänaden Unke und Grille Stimmen der Stille glimmende Pfeife Ruhe und Reife.
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LIEDER
NOCH EIN LIED ...
Noch ein Lied, ein wasserklares, trügend den Betrug; ein verschwiegen sonderbares, und dann sei’s genug. Nichts, ein ungefähres Klingen, selig, ohne Sinn; Schattenschwingen, dich zu bringen, schwalbenhaft, wohin?
Leise! sag es lieber keinem; sing’s den Toten vor; flüstr’ es dem ertaubten, deinem eignen Ohr ins Ohr.
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BESINNLICHES
BESINNLICHES
DAS SCHÖNE Für Günter Ralfs
Das Schöne läßt sich nicht begreifen; dies ist (beinahe) sein Begriff. Dies Nichtbegreifen zu begreifen ist, wie der Anker, so das Riff. Das Schöne läßt sich nur empfinden, und ist doch Geistes Kind! Geist ist, sich so ins Selbsterblinden zu finden, nicht gesinnt.
So muß denn Geist sich selbst erweitern, bis daß Er Riff und Schiff, Meer, Anker, Landung, Sturm und Scheitern in Sich begreift. Für die Gescheitem ist dieses sein Begriff.
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DIE NEIGE
SANCTA SOBRIETAS iNemo fere saltat sobrius, nisi forte insanit.< Lateinische Schulgrammatik
Erlittne Schönheit auszudrücken, dir zu entziffern dein Entzücken: wie schön das Schöne sei —
vergebne Lust, vergebnes Mühen! Frag Gott, warum die Dinge blühen. Nimm’s hin: sie sind so frei.
Um deine Stirn der strenge Reifen leiht Flügel, nüchtern auszuschweifen ins unbetretne Land. Und kehrst du heim mit leeren Händen: du erntetest dein Dichverschwenden. Verlust, wer will ihn dir entwenden? Knie hin, mit mir, Verstand!
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BESINNLICHES
MUSIK Musik, worteingeboren, macht sich frei, das Mark der Welt in Tönen aufzulösen und zu vertun. Ihr ist es einerlei, sie singend auszuhändigen dem Bösen.
Der Böse triumphiert, sobald das Ohr in falscher Selbstgenüge sich beschwichtet und der Gedanke, ein betäubter Tor, kein Wort vom Ernst der Dinge mehr berichtet. Dem widersteht Musik! Gefügter Traum, granitverwurzelt, hat aus Nacht der Baum sich siegend in den Äther aufgerungen. Gerecht und gütig ragt er in den Raum: ein singender Prophet, vom Wind umschlungen.
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DIE NEIGE
MATHESIS >Le calcul, c’est l’abîme ... Là pèse un crépuscule affreux, inexorable. Au fond, presque indistincts, l’absolu, l’innombrable, L’inconnu, rocs hideux que rongent des varechs D’A plus B ténébreux mêlés d’X et d’Y grecs; Sommes, solutions, calculs où l’on voit pendre L’addition qui rampe, informe scolopendre! Signes terrifiants vaguement aperçus! Triangles sans Brahma! Croix où manque Jésus!« Victor Hugo
Unsichtbar liegst Du fertig mir voraus. Wohin ich geh, bist Du bereits vorhanden: in jedem Ziegelstein das ganze Haus, nur Dir gehorchend frei in eignen Banden. Ein jeder Schritt, weil Du ihn tust, tut not, muß folgsam sich dem vorigen entbinden. So tu ich keinen ohne Dein Gebot und muß doch jeden selber finden.
>Mit Milch geschrieben, weiß in weiß, und so unsichtbar: erst überm Licht der Kerze weiß Ich, daß Ich Licht war,
eh du Mich über deinem Licht beim Namen nanntest und Mein Gesicht als dein Gesicht, als Licht erkanntest.«
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BESINNLICHES
>Qual il geometra ehe tutto s’affige per misurar lo cerchio, e non ritrova, pensando, quel principio ond’elli indige.« Dante
Was mich ergreift: ich möchte es begreifen, den Nichts so innig wie das All ergreift. Ich seh den Spiegel unter Masken reifen, bis er, im Spiegel, zu Sich Selber reift.
Ergriffenheit: Patent des Edelmannes! Wie unergründlich winken >Jl< und >iAJEINE< Kaum trugen mich die eignen kleinen Beine, hielt ich’s am Gängelband nicht länger aus. >Ajeine!< jubelte der Zwerg, >ajeine!< und lief der Mutter fort und aus dem Haus ins hohe Halmversteck der Haferwiese. Da hockt er nun, ein unverfolgter Dieb des eignen Glücks, der aus dem Paradiese (noch ist’s die Wiese) blind sich selbst vertrieb und, wie er’s wollte, - ach, kein Atlasriese! mit seiner Welt und sich alleine blieb.
DIE SÜSSEN TRAUBEN
Wie anders lieb’ ich heute, alt, als einst. Es ist zwar noch die fromme Lust der Lenden; doch hör ich, Seele, wie du heimlich weinst und nicht mehr meinst, wie einst, mit meinen Händen
den Himmel zu umarmen, formverzückt. Wie Abschied füllt’s die heimlich leeren Hände, und eine unbequeme Ahnung schmückt mit Schattenbildern schwanke Schattenwände. Weswegen weigerst du dich, Gegenwart, wie sonst an deine Wirklichkeit zu glauben? Sie aber schweigt und narrt, ja, narrt den Fuchs mit süßen, ja, mit süßen Trauben.
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BESINNLICHES
LE REVENANT LIBERTIN >Libertin: Terme de fauconnerie. Se dit de l’oiseau de proie qui ... ne revient pas.< Littre
Käm’ ich gerne wieder auf die Erde? etwa mit den toten Göttern? - Nein! Der Erinnerungen Herzbeschwerde würde mir zu unvergessen sein. Dürfte ich jedoch vergessen; stünden mir auch ein paar andre Wünsche frei (ohne jeden einzeln zu begründen), wär’ ich gerne wieder mal dabei. Einen grünen, epikurisch kleinen Garten wünscht’ ich mir ums stille Haus, und im Haus ein Cembalo und einen gastlichen Kamin. So halt ich’s aus dazusein, um nach des Tages Plagen, (denn wir bleiben, ach, die Enkel Kains!), abendlich die Flamme zu befragen: beispielsweise nach dem Sinn des Seins. Dürft’ ich noch was wünschen, wär’s ein Boot, um auf dem Teich zu angeln, schilfumhegt; ferner ein verläßliches Faktotum, das für alles andre Sorge trägt;
ferner Bücher (viele) und, am meisten, ein Geliebtes, dunkelschön und schlank, mir Gesellschaft in der Nacht zu leisten. Übertriebene Einsamkeit macht krank.
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DIE NEIGE
L’INDIFFÉRENT >Qu’un indifferent est heureux! Il jouit d’un destin paisible; Le ciel fait un présent bien cher, bien dangereux, Lorsqu’il donne un cœur trop sensible.« Quinault
Möchtest du in innigem Zerfließen — beides: formverloren, formverzückt, — spielend deinen halben Tod genießen, Schattenlilie halber Nacht entsprießen, beides: selbstverloren, selbstentrückt? Möchtest du in kostbaren Figuren zwischen >halbversteckt< und >halbentdeckt< und kokett verwischend alle Spuren in ein ohne Meilen, ohne Uhren reines Geisterparadies erschreckt
vor den allzu deutlich-derben Dingen fliehn: von keiner Wirklichkeit befleckt? Sieh die Lerche, selbstvergeßner Schwingen, immer höher in den Himmel dringen, hör sie selig singen, um zu singen; aber, heimlich, ist ein Nest bezweckt!
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BESINNLICHES
NECKARGMÜND Plötzlich tauchst du mir auf, lange versunknes Bild, schön, so schön wie du warst, ehe daß zweimal grimm greuelträchtiger Krieg uns allentwurzelnd die Welt zerschlug.
Denn verwandelnd die Zeit wandelt gelaßnen Schritts über Dauer und Traum, Heimat und Hoffnung hin. Trümmer klagen. Die Seele wich; es ging der gelassene Geist
fort zu anderem Stern, anderem Schicksal zu. Doch ich, fast noch ein Kind, wanderte unbeschwert neckarlang; denn mich lockten Menzer’s griechische Weine, die, eigner Jugend gedenk, innig der Vater pries. Und schon winkte von fern schattig ein Garten mir, bunt mit Malven und Rosen atmend unter dem reinen Blau.
Langsam öffnete ich hölzernes Gattertor, ging zur Laube und saß froh zum gedeckten Tisch, bis behaglich die Wirtin kam und brachte den Suppentopf: Fleisch, Gemüse, soviel immer mir lieb, dazu Mavrodaphne und, tiefrötlichen Dunkelscheins, harzig duftend den fremden Resinatwein im Ziegenschlauch.
Schau, ein Wiesel! es blickt prüfend den Gastfreund an, macht ein Männlein und schlüpft unter das >Thränende Herze Stille. Schlummerndes Summen braun-bedächtiger Hummel singt sanft den Trunknen in Schlaf, dem der Hellenenwein (arglos sprach er ihm zu) sachte die Augen schloß. Als er wieder erwachte, rötlich sank schon der Sonnenball. 43
SCHNEELIEDER
SCHNEELIEDER
SCHNEEFLOCKEN
Wag ich’s, euch lieben noch einmal zu singen Silbersoldaten, die himmelherab friedlich sich schaukelnd auf Schmetterlingsschwingen windstill erstürmen und zärtlich bezwingen dunkel die Festung: Wiege und Grab unsres geduldigen Aufenthaltes, bis wir, besiegt durch die weiße Vision, wiedererhören ein ferne Verhalltes, wehe Verlornes. Und siehe, wie bald es, wiedergeboren, wie willig es schon
still ins Verstummen hinüber uns läutet, Vesper vermählend und Angelus; wie es verborgen Verborgenes deutet; wie sich die Düstre ins Hellere häutet, schlummernde Schlange: Beginn und Beschluß. Emsige Wanderer fenstervorüber! blind der Geblendete hält mit euch Schritt. Tag! und so bist du vorbei und vorüber? Nacht! und so wirst du mir lieber und lieber! Kämt ihr nur, beide, ins Weglose mit!
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DIE NEIGE
MEIN VATER SAGTE ...
Mein Vater sagte: bin ich einmal alt, so will ich nur noch Obst und Rosen ziehn. Sein Alter kam in anderer Gestalt und (ob er’s auch verschwieg) enttäuschte ihn. Ich würde gerne, bin ich einmal alt, mich sommers an den schnellen Schwalben freun und, wird es dann im Winter bitterkalt, den biedern Spatzen Brot vors Fenster streun. Und abends sitz ich sinnend vorm Kamin und sehe, wie die Glut das Buchenscheit verzehrt, (es ist doch alles nur geliehn), und sehe durch die Scheibe, wie es schneit.
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SCHNEELIEDER
WEIHNACHTSMARKT 1900 Es schneit an der blanken Laterne, windstilles Geriesel, vorbei und flüstert aus nebelnder Ferne: Traumecho von Jubelgeschrei. Es schneit. Und wir wallen durch Wunder, erstanden aus Nichts über Nacht. Ein Tempel dreht singend, ein runder, im Kreis seine spiegelnde Pracht.
Drehorgelgewimmer und Schüsse. Der Himmel ist feurig erhellt. Lebkuchen locken und Nüsse ins lampenerleuchtete Zelt.
Das Bergwerk voll emsiger Zwerge, der Mann mit dem hölzernen Bein: wir sahen ins Innre der Berge um einen Groschen hinein. Und weiter mit pilgernden Scharen! Stand Einer mit deutendem Stab und zeigte, gemalt, die Gefahren, wenn man sich dem Bösen ergab:
Die Wölfe verfolgen den Schlitten; fast opfert die Mutter das Kind, weil trotz paternosternder Bitten die Wölfe so fürchterlich sind. Wir sahen’s mit frommem Erschaudern und hörten (mehr schaudernd als fromm), wie weh mit asthmatischem Zaudern die Orgel ins Himmlische klomm.
Ein Blinder mit zinnernem Teller ging murmelnd im Kreise umher, erst langsam und zage, dann schneller. Der bittende Teller blieb leer. 49
TRILOGIE DER VERGÄNGLICHKEIT
Tibi
TRILOGIE DER VERGÄNGLICHKEIT
BESUCH >and day brought back my night.< Milton
Saß mit Vergangenheit allein: o lautre Nacht aus Glas, o kühles Blut, o firner Wein, o Echo blind und blaß. Trat deine Gegenwart herein voll holder Übermacht. Geh, Liebes, geh! laß mich allein! o junges Blut, o dunkler Wein, o echolose Nacht.
VERSCHWIEGEN >paulo maiora canamus.< Virgil
Gazelle, Libelle, Zypresse, zierlich und schlank. Ich atme und schau, und vergesse was bang und krank.
Und wie ich mich spielend vermesse, hör fern einen Klang wie Delphi, wie Zion und Jesse ... Traumschattengesang.
Dank!, bis ich die Erde vergesse, dir, zierlich und schlank, Gazelle, Libelle, Zypresse, ein Lächeln lang.
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DIE NEIGE
BITTE >Hier gewahre man den Bezug des Enkels zum Großvater . ..< Goethe
Hör meine Bitte, o Enkelsohn: geh bitte bald zu Photomaton! Scheint dir’s auch Torheit, was ich dir rate. Neidisch und böse ist Atropos-Ate. Sterblich ist Anmut und bist sogar du! Darum, Geliebtestes, bitte mach zu! — Hat dich das Weib vor die Linse gesetzt, hast du gehorsam die Lippen genetzt, mußt du ins Grelle dann zwinkerlos spähn und dabei innerlich zählen bis zehn: ärgre dich nicht, sondern lächle dazu (ohne die Zähne zu zeigen) und tu mir den Gefallen und träume zugleich von einem irdischen Himmelreich, etwa von einem Tonbandgerät, wonach der Sinn dir so lange schon steht. Blicke vor allem nicht allzu entschlossen; lache nicht, sei aber auch nicht verdrossen. Sondern, die Wange gestützt in die Hand, such mit der Seele ein Griechenland, was du auch immer darunter begreifst, — wenn du nur etwas ins Ewige schweifst! Nur keinen >snapshot< und auch kein >Profilnoch< mit spätem Zögern glimmt, und westlich will es winterlich erblinden. Das Sternlein >schon< mit scheuem Schimmer schwimmt im Ost. Und österlich heraufbestimmt, wird’s steigen, strahlen, sinken und verschwinden.
DIE TOTEN
Immer fremder werden wir den Erben, schon die Enkel kennen uns nicht mehr. Dieses nochmal nach dem Tode sterben fällt uns Armen fast nochmal so schwer. Immer noch in unsern morschen Tüchern geistern wir umher und schwören stumm auf die Wahrheit in den alten Büchern. Keiner kehrt sich um.
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BEDENKLICHES
HEIMKEHR
Ich rede für ein fernes Ohr; es hört, was ich verschweige. Ich poche an ein Sesamstor, ob sich’s vertraulich zeige. Es tat sich auf, so kam mir’s vor, war niemand sonst vorhanden. Ich ging hindurch; und wie zuvor bin ich vor ihm gestanden.
Da blieb ich stehn, und bin, statt fort, zurück (in mich) gegangen und pochte an und wurde dort wortlos (von wem?) empfangen.
DAS NICHTS
Wer das Nichts gesehn, der schweigt; und er möchte dennoch reden. Denn was sich ihm so gezeigt, möchte er am liebsten jedem
wiederzeigen, denn es ist halb ein Schloß und halb ein Schlüssel. Wem er eignet, der vergißt, daß er aus der gleichen Schüssel
gestern noch mit allen aß. Heute sucht er andre Speise, mißt mit einem andren Maß, wähnt und will auf andre Weise. Aber siehe, er schweigt still, kann’s am Ende keinem sagen. Wer sein Wissen erben will, muß, wie er, sich selber fragen.
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DIE NEIGE
DAS STERNLEIN
Die frühen Bilder blassen, Legenden bluten leer; die alten Kleider passen der Welt nicht mehr.
Laß es dich nicht verdrießen. Die Sonne sinkt. Der Quell mag nicht mehr fließen. Die blauen Winden schließen den Kelch. Ein Sternlein blinkt.
WIE SELTSAM Wie seltsam: noch ein kurzer Gang, und dann die Brücke; und hinter mir wie meilenlang der müde Gang zurück. Ich bücke
mich über mein Gewesensein: noch ist’s vorhanden, in mir allein, von mir allein noch halbverstanden. Schon atmet kein, kein zweiter Mund, mit mir zu teilen, was schon vergeht. >Verweilen< hadert mit >Enteilen< um einen letzten, einen heilen Sinn, der besteht.
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BEDENKLICHES
FREUND HEIN Wenn mir, wie neulich, Freund Hein versteckt mit dem Zaunpfahl des Endes winkt: wie mich’s dann, freilich, zum Tod erschreckt! Alles versinkt. Aber mein arger Schreck entdeckt eine (die fast mich weinen läßt) ängstliche Freude und hält erschreckt sich an ihr fest.
EINEN MENSCHEN ... Einen Menschen sah ich ungesehn über Dornen und durch Flammen gehn: unverhohlen, doppelt so versteckt, unverstohlen, doppelt unentdeckt. Schwarz ein Baumstumpf steht er ausgebrannt nackend an der nackten Häuserwand: ohne Götter, ohne Land und Zeit, aber mit den Sternen unentzweit.
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EPISTELN
EPISTELN
GLÜCKWUNSCHEPISTEL zum sechzigsten Geburtstag Für Martin Hürlimann
Da die Gewohnheit leiblicher Erscheinung sich leider langsam mir entfremden will (ich bin im Grunde selbst derselben Meinung und halte willig dem Entwerden still); da sich zugleich ein früheres Vermögen: dem Traum willkommne Wortgestalt zu leihn, mir mitentfremden will, fast so als flögen die Worte selber fort, um mich allein, wortlos erstaunt, mit mir im Stich zu lassen, — in solchen Nöten möcht ich dennoch gern empfundenen Dank in diese Verse fassen, eh ich das Nichtmehrmirgehören lern.
So lebe denn, Freund Martin, sechzigjährig, so wacker fort, wie du bisher gelebt. Dein unentwegtes Weltvertraun verehr ich, und froh von fern dabeizusein begehr ich, wenn ihr (im engsten Kreis) die Gläser hebt.
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DIE NEIGE
AUF BESTELLUNG
(Postkarte)
Du schreibst: ich soll dir etwas dichten. Ich tu es gern. Pflicht hemmt des Sängers Flug mitnichten, wohnt doch im Kern
des Wunsches, den du tust, Verständnis und sogar Lob, kurzum, ein Sympathiebekenntnis. Dein Brieflein hob mich zwar zu stürmisch zu den Sternen, denn du bist jung. Eins aber will ich von dir lernen: Begeisterung.
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EPISTELN
CHIRON
(Der Halbgott kommt, um ein Haar, durch den allzu leichtfertigen Knaben Achill in eine verdrießliche Lage.) »Einen Helden zu erziehen Wird Centauren selbst zur Bürde.
... Keinen noch sah ich so schön gewachsen an Leib und Seele; begabt wie wenige, dazu von sanftem Wesen und tapfer obendrein ...< Platon, Theaitetos 144a
Zwingst du mich, vor den Schranken des Gerichts mit weißer Mähne in der Box zu stehn? Argloser Knabe! sie begreifen nichts, die nur sich selbst durch ihre Brillen sehn.
Sie wissen nicht (und woher sollten sie’s), was sie — und ganz und gar nicht —, was wir tun! Sie tun mir leid, du ihnen. Wollten sie’s doch nur bedenken, heiliger Neptun: daß mein Achill nicht ins Kontor gehört; daß Vollblut über Strang und Deichsel schlägt; daß er, der mein Zentaurenherz betört, für euch Farnsamen in den Schuhen trägt *.
*
Farnsamen in den Schuhen macht bekanntlich unsichtbar.
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DIE NEIGE
FRÜHLINGSEPISTEL
O herrlicher Heinrich! komm! eile herbei! Es ist hier im Februar warm wie im Mai! Im Zoo, woselbst ich mich gestern erging (an meinem Geburtstag) und Grillen fing, — im Zoo, mein Heinrich, blühen bereits die Haselnußkätzchen! Und andererseits benahm sich die Fauna nicht weniger lenzlich. Im Affenhaus wurde die Sache fast brenzlich, weswegen die Eltern die Kinder entfernten, damit sie vom Frühling nicht allzuviel lernten. Und o die Fasanen! welch Wunder aus Farben, das uns die Abstrakten so gründlich verdarben! Der Kondor ließ sich’s durch kein Gitter verwehren, im Traum über ewige Eiskordilleren gebreiteter Schwingen im Sitzen zu fliegen. Und, Heinrich, wie riechen die indischen Ziegen! Das Lama spie wie ein Hafenarbeiter. Der Uhu blinzelte wie ein gescheiter Professor und kühl wie ein Aristokrat. Das Thermometer zeigte zwölf Grad, und zwar (auf mein Ehrenwort) Reaumur! O Heinrich, der Frühling steht vor der Tür! So eile mit deiner Gemahlin herbei! Wie schnell, nebenbei, eilt das Leben vorbei! Ich selber will eilen, zwei Zimmer zu nehmen: die billigeren, aber dennoch bequemen! Man kriegt sie nur, wenn man die Zimmermagd tippt! Das Weitre in Prosa und als Postskript.
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EPISTELN
ABSCHIEDSEPISTEL
an Flujfl und Pucky, die meiner Pflege eine Woche lang anvertraut waren Für Nora Hahn
Lebt nun wohl, ihr tagtäglichen Nägel zu meinem Sarge! zärtlich geliebt, ihr Unsäglichen, denen ich eins nur verarge:
grell euer Zetergeschrei, wollt’ ich alleine euch lassen. Das ist nun freilich vorbei, aber es war auch zum Hassen! — War ich nicht, wehrloses Schaf, stets euch in allem zu Willen, um euch, ergebener Sklav, jeglichen Wunsch zu erfüllen? Hab’ ich nicht brav mich bequemt, Kiesel zu schleudern ins Weite, bis mir der Arm wie gelähmt kraftlos hing an der Seite? Rannt’ ich im Regen nicht emsig durch triefende Wiesen, bis ihr die heilige Pflicht prompter Verdauung bewiesen?
Bin ich nicht täglich neu zitternder Kniee verblichen, wenn euch der grimmige Leu knurrend am Kreuzweg umschlichen?
Sah ich nicht, kreidig erblaßt, Pucky schon tot und zerrissen? Aber du Zwerglein hast, David, den Goliath gebissen! 69
DIE NEIGE
Hab’ ich nicht Braten und Reis versucht untrennbar zu mischen? Dennoch gelang’s eurem Fleiß, stets nur das Fleisch zu erwischen. Ach, und die Nächte! Wenn kaum sich Schlummers mildes Erbarmen nahte mit tröstendem Traum, lagt ihr mir schon in den Armen;
lecktet vom Angesicht des Dulders im Dunklen die Zähre, bettelnd (wie zart!), daß er nicht euch diese Wiege verwehre. Schlaft nur! und laßt zum Lohn den Wachen die Trennung beweinen; denn SIE, die Herrin, wird schon in wenigen Stunden erscheinen.
Fliegt nur mit Jubelgebell der Göttin ans Herz, in die Arme, in die Haare und schnell wie der Blitz um den Hals an die warme langentbehrte die Brust der Herrlichen, während ich linde aus diesem Taumel der Lust einsam, ihr Lieben, entschwinde.
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EPISTELN
HOCHZEITSEPISTEL für Philipp und Nina veôyagôg re yào oi VW ILÉX.EI.
xai uwra HPOAOTOS
echt
Er hat grade geheiratet und denkt an nichts anderes. Herodot
Die schönen Jahre in der Rue Rollin sind nun für uns für alle Zeit vorüber. Wie freuten wir uns täglich an Vivin! Der alte Meister ward uns immer lieber. Du warst mein Telemach und Sorgenkind: ein unbeschriebnes Blatt im schönsten Sinne. Ich war dein Mentor und dir wohlgesinnt, >ja mehr als diesLas de l’amer repos erst übersetzt und dann im Text, gelesen, bist du zunächst verdutzt und schließlich so voll staunender Bewunderung gewesen,
daß du sogar Grammatikstudien triebst, doch, weil dein Naturell mehr für die Praxis geschaffen ist, nicht lange dabei bliebst und lieber die der Fürstin Thurn und Taxis geweihten >Duineser Elegiem (schon weil du da nicht nachzuschlagen brauchtest), durchblättertest und, wenn dir’s leicht erschien, gelegentlich auch tiefer in sie tauchtest.
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DIE NEIGE
Du hast auch manchmal in der Heiligen Schrift, und meist im Alten Testament, gelesen; in allem aber, was die Kunst betrifft, bist du verstockter als ein Bock gewesen. Du wolltest nie mit mir ins Louvre gehn; und als ich Goethes >Quidam< dir zitierte, gabst du mir durch die Blume zu verstehn, daß ich Verschiedenes nicht mehr kapierte. Du maltest rot, gelb, grün, blau, violett, orange — niemals unter >cent figureWasch deine Pinsel aus und mal’mir eine kleine nature morte,
72.
EPISTELN
statt vehement verfinsterten Gemüts die teuern riesengroßen Leinewände mit kosmisch aufgedonnerten pommes frites zu ruinieren. Wasch dir auch die Hände!
Dein Zimmer (meine Küche!) ist ein Stall! Bring endlich etwas Ordnung in dein Leben! Nur dann will ich dir noch, von Fall zu Fall, Kredit für Leinewand und Farben geben. < Du gingst darauf, wie man so sagt, in dich. Ich selber mußte nach Italien reisen und sagte: >Denk gelegentlich an mich. Wirf goldne Worte nicht zum alten Eisen! Mal’ kleine Bilder, bleib konkret und fromm, steh morgens auf, und, gehst du aus, verschließe die Haustür, daß ich, wenn ich wiederkomm’, das Wiedersehn (auch mit Vivin) genieße.
Das schöne Mädchen mit dem dunklen Haar, das blonde Mädchen mit den Sommersprossen, die kleine Inderin aus Zanzibar — treib nicht mit allen die bekannten Possen! Beherrsch dich im Genuß von Bier und Wein! (Du hattest neulich feuerrote Backen.) Vor allem laß das viele Rauchen sein und hilf mir bitte jetzt beim Kofferpacken.< — September schwand. Oktober zog ins Land. Ich kam zurück. Du holtest mich vom Zuge, warst kreuzfidel und dunkelbraun gebrannt. Die Zeit, erzähltest du, sei dir im Fluge vorbeigegangen; dennoch hättest du sehr viel gemalt - fast lauter gute Sachen. Sie würden mir, wenn auch wohl nicht de tout point de vue, gewiß Vergnügen machen.
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DIE NEIGE
Dann kam das erste Bild. Es war abstrakt! Ich war empört und, irgendwie, beleidigt. Dann kam das zweite Bild. Ich war gepackt. Beim dritten Bild hab ich mich schon verteidigt. Ich sagte: >Deine Bilder sind konkret, denn sie gefallen mir. Es sind Gesichte aus einer andern Welt. Zwar man versteht nicht immer, was sie meinen, doch verzichte
ich gern darauf, schon weil mir’s da gebricht. Genug, daß ich mich an den Farben weide, wie an der Formen weisem Gleichgewicht, und alles Metaphysische vermeiden
Auch andre fanden deine Bilder gut, vor allem Meister >RGesammelte Werke* schenkte.
>So will der Spitz aus unserm Stall Uns immerfort begleiten, Und seines Bellens lauter Schall Beweist nur, daß wir reiten.* Goethe xvveg xataßav^ouoiv Sinn der Welt?< er bliebe hüben — drüben: Liebe.
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SPRUCHARTIG
Speculum UtQOOCÜItOV JIQÖg HQOOWJtOV« i. Kor. 13, 12 >Nie von Angesicht zu Angesicht< Kant, op. post.
In einen Spiegel sah hinein von sonderbarer Kraft. Was sein war, sonderbar, war mein, war wessen Eigenschaft?
Sah ich ihn? oder sah er mich? Ich sah, wie er entschwand und ich mit meinem, seinem >ichWer bin ich?< rief ich. Echo rief leer-leeren Reim mir zu. Es meinte mich; es weinte tief, tief ungereimt ein >duHear, Nature, hear! dear goddess, hear!< Shakespeare >Und eure Ältesten sollen Träume haben.< Joel 3, i
DIE EULE
VORSPIEL1 Die Eule stieg mit stummem Flügelschlag. Ich hing, ein Kind, in ihrer Kralle Gitter. Ihr Fittich wölbte sich, ein weiches Dach, und schützte mich vor Sturmwut und Gewitter.
Und stieg und stieg. Ich sähe das Geschehn der Welt zugleich und überall sich wandeln, sah Meuchelmord durch Nacht und Nässe gehn und Welt um Seligkeit und Nüsse handeln. Der Sorge graues Haar sah ich und goldne Kronen auf einem Haupte und beisammen wohnen. Und sah im Sternenwalde tief verschneit ein Häslein frieren in der Einsamkeit ...
DIE EULE2
Von wo? von wann? großäugig Staunende und wundervoll Verwunderte, kommst Du zu mir? Was will Dein runder Vorwurfsblick, vor den Du grau und langsam die tagverschmähend müden Lider ziehst? Du schweigst verachtend, Alleswissende, wortlosen Zornes so mir, Magierin, mein banges Fragen ungerührt in Deine stumme Antwort wandelnd.
Niemals gestillt ich, nie Dich zu bestehn im Zweikampf, uralt, unsres Zwillingstumes;
1
Geschrieben 1913.
2 Geschrieben 1958.
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DIE NEIGE
gesättigt nie, in Dir das eignere geahnte Selbst entsagend zu verehren: Was sagen Dir, geschwisterlich, die Sterne? Wen ruftst Du? Was erwidert, Dunkle, Dir das angerufne, echohaft, das Dunkel? Du wendest, Allessehende, das unerbittliche hochherrlich unbestechlich wahre Götterhaupt windrosenstumm im Kreis, reglose Majestät, tödlicher Wirrnis tötend zu begegnen, mit nötigem Mord dich nährend ruhevoll, ausspeiend ekler Schlacken kalt das widrige Gewölle, streng Dich reinigend vom lästigen Zuviel. Gerechte Du und acherontisch alt, urmütterlich Vertraute lebelang und letzte! bleibe nächtlich mir, dem Eingeweihten, bleibe allen uns, den Allbedrohten, bleibe uns erhalten!
* Lang’ schon seh ich, ergrimmt, Nächte um Nächte, einsam im einsamen Fenster dich hocken neben der Lampe; sehe den plustrigen Sperling müde und matt picken und stochern in staubigen Büchern, ohne zu essen; sehe hinter den Rippen dir im Käfig der Brust Schlangen, Lurche und Würmer, Brunstajfen, drüsige Kröten, gierige Schnäbel, Glotzaugen, Rüssel und Borsten widrig ihr Wesen treiben. Hast du so ganz Mich vergessen? Siehe, da bin Ich.
Jag vor die Tür, Kleinmütiger, scheuch von der Schwelle all diese schwirrend und wimmelnden, winselnd und wimmernden, kläglich die kriechenden, zeternden, zagenden, frech die feigen Gespenster, 98
DIE EULE
denen du Hausrecht gibst. Wisch von dem Tisch das dreiste Geziefer, das dir gebietet! Aus armer Enge schau gelassen wieder ins Weite. Sage: was siehst du? Was ich sehe? Nicht mehr Dich, Altmutter, Schweigende! nicht mehr treu Deine wandelnden Bilder! Sondern ich sehe allunerträglich Allunbegreifliches allüberall: fernferner Funken Myriadengeschwärm; jeder Funke ein Schwarm aus Schwärmen, jeder Schwarm Myriaden Funken, feuerbrüllend alle das Weite suchend, nimmer, nirgend es findend, lungernd, hungernd nach Leere. Denn der geplatzte Rattenkönig, blinder Simson im blinden Gefängnis, mühledrehend, denn zornbrummend die blöde, die trillionenäugige Bremse wütenden Summens scheuert vergeblich sich an der unerbittlichen ewigen Scheibe, hinter der entsetzlich Dasselbe liegt ...
Das sind tönend törichte Reden: Eselinnen für Königreiche, Mücken fiir Elefanten, himmlisch-höllische Pappsoffitten für ein mäßiges Melodram, wüst ein seichter Salat aus ungegorenen Lesefrüchten und sauren Trauben. Schäme dich des verblasenen Wortschwalls, der, beinahe, Mich ansteckt! Laß doch Beteigeuze und Aldebaran und die andern Ungetüme des Dauerzirkus röcheln und rasen! Betriffi’s dich? Noch im Kaffeesatz deiner Karlsbader Kanne 99
DIE NEIGE
findest du bessre Orakel als unterm Weichselschwanz des unendlichen Unholds. Da dich das All so ängstet, bleib aufder Erde. Sage: was siehst du?
Nicht mehr sehe ich Wiese und Wald, Hügel und Tal, und im Tale den Fluß. Sondern ich sehe Unland aus Enge und Haß, Zäune, Ziegel, Blech und Baracken; Flußgötter röchelnd und krank, Krabben im Bart, blutig in zertretenen Schuhn die schwärenden Füße: Bettler, verfilzte, uferlang, unsäglich getauft und getränkt aus verpesteten Urnen; sägezitternd die schütteren, die verschüchterten Wälder; Städte krebskrank wuchernd, geil überschwellend Acker und Wiesen, brünstig den gedunsenen Bauch, die zerquollenen Brüste in die Ebene wälzend; sehe sie über Gitter, Gatter, Stachelzäune schienenadrig, schwielig die schwitzenden Bruderpranken einander reichen über den letzten Hasen hinweg. Welche Heimat! Oben der schwarze, wolkenschwanger, der Himmel! Unten schwanger die Not mit Nöten! Schwanger das keifende Weib, schwanger die Katze, die Hündin im Hinterhof; und hochträchtig, alltäglich niederkommend, feierabends, unter Sirenengeheul die Fabrik mit dem wimmelnden Wurf endlich vom laufenden Nabelband zwecklos entbundener Zahlen: Hosen ohne Geschlecht, Vehikel, Visagen. Ach, wir armen, allesamt wir Verlorenen! abgewiesen, schuldlos, ins kahle Verhängnis! späte Spaltpilzpest, wir, Schorf und Schande unserer schamlos geknechteten, schamlos entrechteten Einstmutter Erde! ioo
DIE EULE
Das sind tönend-thönerne Reden. Der vorm All, ein Hase, davonlief, pappelzittert nun vor der Erde. Laß die Erde! Blick’ in den Spiegel! Blick’ in dich selber! Sage: was siehst du?
Treibst Du mich, Zornige, höhnend zurück mit Geißelwort? läßt den Verlassenen zweimal allein? Nun, so höre: Ein Dunkles seh ich, spiegelnd ein Dunkleres, gorgonengräßlich sich verbreitend nachtherauf. Ich blicke fort, daß es mich nicht verschlinge ... O Nacht! und Du, allsehend Nachtgezeugte! Fernfremdeste, und innigster Besitz! Du tiefunfaßlich des millionenübersternten Kerkers über mir und tief in mir des innern Kerkers doppelte Bewohnerin! Du ohne mich um nichts Verminderte, die ungerührt Allunersetzliches getrost um Asche tauscht, mühloser Wandelwiederkehr gewiß. Großäugig-lidlos Du, die Ewig-Andere, Erstaunte dem Erstaunten Aug in Aug! Sibyllenurverschwiegenheit! Du, schleierlos-verhüllt, einstimmigen Klagejubels stummer Zwiegesang! Allmutter ahnend vaterhaften Zwiegesichts! Olympisch lang’ verblaßt, ägyptisch sandbegraben, chaldäisch fernverschollen, Wiegenwelt! Dein greisendes, Dein zeitlos immerjunges, Dein wirkliches Gesicht, enthülle mir’s! Wer bist Du?
Ich bin, wo du nicht bist, und doch in dtr: Strom, und filr dich am andern Ufer stets, und doch zugleich auf beiden Ufern auch. Sinn dem nicht nach; vergeblich wär’s ... Fluch waltet heute über dir wie Mir IOI
DIE NEIGE
und dient, wie Segen, zugemeßne Frist. Wer fragt nach Schuld? Denn Schicksal ist es, undurchsichtig, was wir erdulden. Gedulde dich; und diesmal leer ausgehend dieses Leben ertrag’s. Vertraue! Du siehst Mich an, den Meine Augen trinken. Verwirrung: Mich zu denken. Schau und schweig! Die Götter sterben. Ich verwese nie. Schwerzungig wurzelalt verlornes Wort: aus Zaubersprüchen, selbst sich unbekannt, versunken lang ein Echo, weht’s vielleicht verwehend rasch entgegen dir, Neugierde weckend, schaudernd und vergebliche, nach langversteintem brunnentief begrabnem Einst, vorspiegelnd heimwehhafter Angst den Traum nachtüberlebend mühevoller Neugeburt. Vielleicht vom berstenden Planeten, daß hinausgeschleudert, nackt, ein Aschenrest, dein armer Schatten todbetäubt im Sternbaum hockend, durchwatend-wachend-wartend neue Nacht, auf neuem Stern verschüchtert zwergenklein die alten, die vergeßnen Spiele neubeginnt. Ob’s Wahrheit wird? Mich frage nicht! Doch deine Bilder wissen mehr ab du ... Ein Höchstes waltet über beiden uns und weiß (wie ihr es nennt) Sich Selbst. Dem hange an! Woher Ich’s weiß? Längst redet dir die Ichlos-Ewige, die noch dir gegenüber scheint, aus dir zu dir! Es wurde spät. Ruh’ aus in Mir. Der in Mich Heimgefiindene erlebt, was der noch Lebende nicht leben kann. Vergiß vergeblich Dunkelwort und nimm dein totes Herz, nimm nachterstarrt die nestverlorne Schwalbe in beide Hände. Hauch’ sie zärtlich an mit deinem Atem, meinem, zwillingshafi.
102
DIE EULE
Dein Auge tut, da es erlischt, nun tut sich’s auf, sich selbst zu sehn: ein Allumgreifendes, ein Firmament. (Die Eule spannt ihre Flügel bis an die Enden der Welt. Sie wird durchsichtig wie Bernstein und verschwindet. Eine Stimme aus Licht singt1)
Scheschjüwa gälgatschin wlygödni üwa Gälon dwi alantärpjesörge telat Telygon gelasän terpjela Terpjela gwödni dlin olyra. Gälgatschin ptegorin liuwät siganja Serak 6m wjedomör otschki tscherntla Bäradjin goluwät kaltotschin kaltotschin goluwät Ijednowa.
Versuch einer Übersetzung2
Welcher angekommen: Schwelle schwindet hin. Wen Es* aufgenommen: Liebe* schaut den Sinn.
Hüben nicht, noch Drüben: Selbstgenüges Sein*. Körperlose üben schon das Wesen ein.
i
Geschrieben 1922.
2 Geschrieben 1960.
*
Bei den mit einem Sternchen bezeichneten Worten bleibt es zweifelhaft, ob sie den Sinn des Urtextes genau wiedergeben.
103
DAS ALTE SPIEL
Für die Katz in alter Treue P.G.
VORSPIEL DAS ALTE SPIEL Du spielst? Was kann ich Beßres turit In dieser ernsten Zeit? Nicht mal so ernst, mal auszuruhn. Hat sie doch gar so viel zu tun! Zu viel, und tut mir leid. Und du mir auch ... Ich weiß, ich spiel... Das tu auch ich ... Nur nicht, um nur zu spielen; das gefiel mir nie: du spielst aus Pflicht. Noch lieber so als so verspielt wie du; wo führt das hin? Ins Blaue. Sieh, du spielst >gezielt< und triffst vorbei; ich bin.
OHRENBEICHTE
Ohr, das ich bin! Ohr, das du bist! O daß wir hören! Versungner Sinn, verklungne Frist: wen zu betören? So frech, so flink der blinde Fink, der bunte Häher:
Vorlauter Tor! der graue Seher schließt Aug und Ohr.
MONOLOG
MONOLOG
LEGENDE
Der Ahn hat das Feuer aus himmlischer Scheuer vor Zeiten geraubt.
Ich führe im Schilde versöhntes Gebilde: gorgonisches Haupt. Mich tragen die Flügel des Pferdes, dem Zügel zu dienen gewillt.
Der Drache bezwungen, die Rettung gelungen. Wer will meinen Schild?
ANIMA »Arne, miroir vivant perpétuel de l’univers.« Leibniz
Sag, wie du dein Wunder zuwege gebracht? — Sublime, ex limo, a limine, limans: Verflüchtung, Verdichtung, und weglos ein Niemands-, ein Nirgendland, niemals zuende gedacht; im Antlitz den Tag, und im Rücken die Nacht.
in
DAS ALTE SPIEL
EULENSPIEGEL
Sein Spiegel: tags Gewimmel der bunten Welt. Sein Spiegel: nachts der Himmel, das Funkenzelt. Gelassen blickt die Eule den armen Mann mit Löwenfell und Keule fast lächelnd an.
EULE Eule, die leise, schattet sie nicht über die Schneise im letzten Licht?
Horch, und ein probendes Rufen nach Ruf, Leere wie lobendes, die es erschuf.
SPIEGEL
Zwei sehen mich im Spiegel an: ich und ein völlig andrer Mann, der ohne mich nie wissen kann, ich sei (wie er) der andre Mann.
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MONOLOG
GEDICHTE HAT’S ...
Gedichte hat’s nur wenige (noch weniger als sunst) im Büchlein, weil derjenige, der’s schrieb, der holden Kunst (Reim, Rhythmus, Bilder, Harmonie) im Angesicht der Nacht nicht mehr so unbefangen wie bisher ein Kindlein macht, obschon er sie genau so sehr (die Kunst) wie früher liebt; allein er liebt die Welt nicht mehr, daher’s im Buch auch weniger als sonst Gedichte gibt.
RONDELET »Inkalkulable Produktionen ...« Goethe
Wes Brot ich eß, des Lied ich sing: ein mageres Rondellchen ein Hosenknopf, ein Pfifferling, und, übers Ohr, ein Fellchen.
113
DAS ALTE SPIEL
BEDENK’S Zerdeutest und zerdenkst, Zielloser, Ziel um Ziel und überlegst schon längst zu wenig, weil zu viel. Setz dich vor deine Tür und lausche atemstumm dem Raunen über dir aus Honig und Gesumm. Rauchsäule überm Dach steht windstill, Storch, im Lot; blüht sachte, nach und nach, Lilie, aus schwarzem Schlot.
114
MONOLOG
RAUCHSÄULE
MEIN LOS
Mein Los frei leben, und klein nein! groß bei allein.
RAT Der Sauer topf, er gärt noch immer wozu? Wer schlauer: Tropfi der wehrt sich nimmer, gibt Ruh.
II5
DAS ALTE SPIEL
OUTIS Ich bin Herr Outis, bin Frau Welt gewogen, obwohl uns schmerzlich viel vorbeigelingt; bin Philoktet vor Troja ohne Bogen. Thersites sagt, daß meine Wunde stinkt.
ULCUS »t'Xxei no/Oi^ovia xaxai öXooifoovog vöoov.« Homer, Ilias, ß 723
Wunde unterm Herzen, angstgezeugt; seltsam sonder Schmerzen o wie beugt
unters Joch dein Mahnen: daß es worden spät; daß es zu den Ahnen heimwärts geht. Kreisgestilltes Wandern bleibt und fließt: Schütze, der den Andern, Sich, erschießt.
116
MONOLOG
LIBELLUM Geh, krauses Kind, das Jedermann und doch nur Niemand lesen kann. Dir weih’ ich’s, großer schwarzer Schwamm. Jam oleum et operam ...
NR. 628 Wie fremd wir uns doch sind; wir waren’s immer. — Herz, hör’s gelassen, lies es unverkrampft. Ist’s nicht schon schlimm genug? Es kommt noch schlimmer: Der kleine Inselband wird eingestampft! Und war so hübsch, so billig und verstand sich beinah von selbst: der Band >sechsachtundzwanzigmich< doch nur sehr verworren wahr als eine recht verlorne Seele, die sich nur schlecht vor mir versteckt und, wenn ich sie (aus Neugier) quäle und herzlich bitte: »Komm, erzähle mir, wer du bist!«, sich so erschreckt und fürchtet, daß sie sozusagen vollkommen meinen Kopf verliert, der sich, wie vor den Kopf geschlagen, hinwiederum für sein Betragen die Seele aus dem Leib geniert.
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DAS ALTE SPIEL
REIM’ DICH
Der Seher reimt, was, ungereimt, leicht so verbliebe. Wo Kanker keimt und Schlange schleimt: auch da noch reimt
- oft abgefeimt und ungereimt — er noch aus Liebe.
MOTTI
Gönn sie mir und laß sie gelten: kommentieren das Gedicht. Andernfalles dürftest schelten; Nachgeburten, schilt sie nicht.
AHNUNG Ahnung, die mir nie gefiel (Windrose, Seite siebzig), gefällt mir heute fast zu viel mit einundsiebzig.
PRÄZISE - KONFUS
Konfuse Gedanken, präzise Gefühle: mich dünkt, so hat er zuletzt präzise sich zwischen die beiden Stühle konfus in die Nesseln gesetzt. n8
MONOLOG
LEIB UND GEIST
Nie weiß der Seher, was er sieht, und kann’s auch, demgemäß, nie sagen; kann allenfalls, was so entflieht, bejubeln oder auch beklagen.
Vergebens müht sich Poesie, sich mißverstehend, ums Stringente; es geht ihr damit meistens wie Münchhausens stadtbekannter Ente.
Jean Paul, was weniger bekannt, sprach (leicht skurril) von Speck-cul-anten ... Er wollte sagen: »Der Verstand (stets hochwillkommen, wo vorhanden) frönt, schauend, höchstem Zeitvertreib: dem Leib - ja, Leib - sich zu bequemen, gewillt, als Geist — ja, Geist - beim Leib Anschauungsunterricht zu nehmen.«
Denn Rhythmus, Reim, Metapher sind stets Leibtrabanten, Lebensdiener und denkend meist so taub wie blind. Soll da der Seher (wie das Wiener
Gemüt so liebenswürdig sagt) das Denken, statt es zu hofieren, obschon’s ihn dauernd überfragt, nicht lieber »gar net ignorieren«?
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DAS ALTE SPIEL
PYRRHUS
Die Flucht im Sturm genommen, und kein Zurück; ins Lautere entkommen: Tarnkappenglück.
Bist ritterlich? So klage! Dein Reingewinn ist Pyrrhusniederlage: Sieg ohne Sinn.
DESERTEUR
Desertiere nicht; bleib bei deinem Leisten: Mensch, und demgemäß einer von den meisten. Stehst du so im Glied, darfst dich nicht genieren: Mensch, zum Menschenbild prompt zu desertieren.
SELBSTVERSTÄNDLICH
Ich bin mir selbstverständlich, sonst kennte ich mich nicht; und kenne selbstverständlich mich deshalb grade nicht.
120
MONOLOG
BESINNUNG
Wer sich auf sich selbst besinnt, geht, sich findend, sich verloren wie dem Mann er selbst als Kind. Nur wer, weise, dies besinnt, weiß, wie weise Kinder sind und wie wissend reine Toren. Armer Tor, wer, Greis, vergaß, was er, Kind, an sich besaß.
CLAIR-OBSCUR
Geh! laß die untern Schichten ruhn, Gehöriges hinaufzusenden. In Tages Licht dich umzutun, darfst Nächtliches getrost verwenden.
Wann Seele nach Gesicht begehrt, nach Bildern sucht, sich sehnt nach Liedern, wird ihr das Dunkel altbewährt mit Bildern, Liedern treu erwidern. Die Immerneuen, immergleich, verschwendend mehren sie den Hort, die Immerarmen, immerreich: bewahrtes Bild, bewährtes Wort.
ICH LACHE NICHT Käm’ gerne noch mit mir und mit der Welt ins reine. Was sagt? was meint? was weiß? was will das stumme Licht? Weiß ich es? weiß ich’s nicht? Ich weiß es, denn ich weine und lache über uns. Bei Gott, ich lache nicht!
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DAS ALTE SPIEL
ADAM - LAZARUS
Ein Lied aus leeren Strophen, das keinen Hund verlockt. Die Maus bleibt hinterm Ofen, die Seele bleibt verstockt. Ein nüchtern und bewußter Fallit steht Adam da; der Himmel zappenduster, verlornes Golgatha.
Der Gang zum Eisenhammer; des Ofens Flammenkuß; des Lebens Dunkelkammer; der arme Lazarus.
LEIER UND SCHWAN
Verdorben und verbraucht, erstorben und dahin. Gomorrha schwelt und raucht, die Flut geht bis ans Kinn.
Verwichen Welt und Wahn, verblichen, was beschwört: die Leier und der Schwan ... Nacht, die sich schweigen hört.
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MONOLOG
DIOGENES 1963 Dies soll mir ein griechischer Winter, olympischer Frühling mir sein! Kehrt wieder, ihr Zeiten! kehrt hinter den Bergen der Zeit bei mir ein!
Studiere aufs neue das alte genaue grammatische Buch. Vergesse so leicht und behalte so schwer: der Tantalische Fluch! Die alte homerische Sonne sie lächelt augurisch mir zu und bietet dem Greis in der Tonne äonischer Güte das Du.
Und alle kommen sie wieder, so menschlich, so göttlich, so groß: Gestalten, Gedanken und Lieder, ein hen synechespollachös!
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DAS ALTE SPIEL
ROCK UND EULE
Sie sehn dich nimmer, wie du bist; denn Mimikry mit leichter List und einem altverblichnen Rock macht dich zum Vogelscheuchenstock. Da schelten Krähe, Spatz und Star und nehmen nur den Mantel wahr. Die Eule, die der Mantel deckt, hätt’ sie vielleicht noch mehr erschreckt. Doch, nachtentwichen du dem Neide, kauzst selbstgesellig in der Weide; stehst selbstgefällig, gern gemieden, im Acker und hast deinen Frieden. Der Federschwarm, dem du nicht paßt, weiß nicht, wie gerne du sie hast; und wissen nicht, die dir’s mißgönnen, wie gerne sie dich haben können.
ICHNEUMON Nützen will ich dir, nicht nur dich ergötzen. Auf der Spur jener Schlange zag ich zitternd, in die Schlinge wag mich witternd, in die Höhle dring ich, in der Hölle sing ich.
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MONOLOG
ALMA MATER »II est à croire qu’il y a des Ames plus parfaites que nous ... L’ordre de l’univers le paroist demander.« Leibniz
»Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige stehst du an des Jahrhunderts Neige.« Schiller
Tier bin ich, Tier! bin’s durch und durch bis wurzeltief hinab zum Lurch! Mich, Natter, schaudert’s vor der Kröte; und stürbe doch, wenn ich sie töte. Mich sieht der goldnen Augen Schein, mich sieht im Kopf der Edelstein ... Und nur um dich, um dich, Delphin! sei dieser Welt der Mensch verziehn.
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DAS ALTE SPIEL
TRILOGIE DER VERFREMDUNG »Fremd bin ich eingezogen ...« W. Müller/Fr. Schubert
KOPF UND ZOPF »’s war Einer, dem’s zu Herzen ging ...« v. Chamisso
Sublunarisch sind wir hops: keine Frage! Uranos, der Kugelklops, zählt die Tage. Ob’s einst über deines Kopfs Kräfte sich versöhne; ob’s ... ? Glaub’s! Ertrage! Schwirrt dir der Kopf von all dem Neuen, das alles Alte auf den Kopf stellt: gemach, gemach! Laß es den alten Kopf nicht reuen, wenn er sich fest an seinen Zopf hält; und doch: gib nach.
DIE ENKEL »II est de ces esprits favorisés des cieux, qui sont tout par eux-même et rien par leurs aïeux.« Voltaire
Die Seelchen, sie verwirren! Kaum angekommen schwirren sie schon aufs Fensterbrett und trocknen (praeter-propter perfekte Helikopter) possierlich und adrett
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MONOLOG
nicht etwa ihre Ohren, nein, nabellos geboren, libellenflink am Steiß
den gläsernen Propeller und fliegen schnell und schneller zum Mond durch Nacht und Eis. Seltsame Chrysaliden, Gott mit euch! Fliegt in Frieden!
DER AHN »J’ai pour aïeul le Père ...« Racine
Unmögliches begehre, Unsichtbares verehre, im Möglichen beschäftigt, im Sichtbaren bekräftigt. Das Gültige zu loben, bekenne: es sei droben. Dort zünde Fenchel-Lunten fürs Geltende hier drunten. Genieße das Genaue, Zufälligem vertraue: Sternbilder sind beständig; wer leben will, sei wendig. So wende dich ins Deine, bereit fürs Immer-Reine: den ungebornen Reigen aus Winter Schlaf und Schweigen.
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DAS ALTE SPIEL
HASSLIEBE Schlimmstes zu bekennen, mußts beim Namen nennen. Sei er noch so greulich: Haß sei heilig!
Wehrhaft wohlgeraten spricht der Haß sein >neinwaswiel< INEFFABILE » w - w -« Fisches Nachcgesang
Ein >z< (sprich hm) wird nie mals reden; >t< bleibt stumm. Mach einen Punkt aufs >/majuskeln und fraktur? wie kann man nur!< — Man kann! Kann? Keine Spur! Könnte man nur!
opusculum minusculum rede! rede wird dich zeigen, klage! klage will ein ohr. liebe! liebe gibt zu eigen, was sie nimmt... oft kommt mir schweigen (schweigen wir) wie rede vor.
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SPRACHE
INTERPUNKTION
Komma, Semikolon, Punkt: Stilo (nicht mehr eingetunkt) gliedert raschen Redefluß zum verweilenden Genuß,
daß er, atmend, singen lerne, wie die Nacht, durch ihre Sterne. Kommt er damit nicht vom Fleck, läßt er alle Zeichen weg.
WORTSPIEL Im Anfang war das Wort und schwieg, schwieg jahrmillionenlang; sodann zu uns herniederstieg, und Orpheus sang. Schau, wies mit Worten spielt, ein Kind, ins Blaue zielt und trifft, spricht mit dem Wind, singt in den Wind, und anvertraut’s der Schrift.
Zuletzt ist’s wiederum bei sich, das Wort: die Frucht als Keim. Geheimnis überwältigt mich mit einem Wort: daheim.
REZEPT Ein Leser, der zu lesen weiß, liest leis, dann laut, dann wieder leis.
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GEDANKEN
GEDANKEN
GEDANKE Gedanke: Kern und Keim; Punkt, Kreis; Begriff und Bild. Gedanke: Flucht und Heim kehr zu sich selber; Schild
des Perseus, den’s geheim vor sich, der Gorgo, graut, die, absoluter Reim, ihr eignes Antlitz schaut.
BILD Genau? gewiß, so heißt das Glück; doch wie dies Ziel erreichen? Fürs Ganze bleibt ein Stück für Stück; fürs Wahre bleibt ein Zeichen. Genau? gewiß, so heißt das Ziel; doch bei genauerm Schauen wie wenig bleibt genau! wie viel gehört dem Ungenauen!
Das Schöne, kennst du es genau? den Gott? die Welt? das Leben? Schnee schmilzt, als bunter Iris-tau in Nebeln zu entschweben.
So glaub den Wolken und vertrau getrost dem Ungenauen, nur denk es (als Begriff) genau; dann mach die Augen auf und schau: aus haargenau und ungenau das Bild (genau) zu bauen.
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DAS ALTE SPIEL
GEDANKE UND BILD Bilder bilden: mein Entzücken, denn noch bin ich jung. Daß mir auch Gedanken glücken, wäre alt genung. Alt wie jung, so Frucht wie Blüte auf dem gleichen Ast der Orange: Seele, hüte treu im schwankenden Gemüte teure Doppellast.
VATICINATIO Alles, was zur Seele dringt, zwingt zu singen. Solon so Gesetze singt: Hochgelingen.
Singt, weil’s ihn zu leben drängt frei mit Freien; und Kassandren, eh sie denkt, treibt’s zu schreien.
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GEDANKEN
ES UND ETWAS
ES »Es wird sich geben ...« Volksmund
Es gibt alles, was beliebt: Nacht wie Licht. Nur das Es, das alles gibt, gibt es nicht; wenn es nicht dem Es beliebt, daß es Sich (wie alles) gibt.
ETWAS
Was Denken weiß aus eigner Lust, das hat es immer schon gewußt; und was es nicht weiß, eben das ist doch schon >etwas< - aber was? Nun, immerhin ein >was?daß es nicht weiß< weiß, Geschöpf und seines Schöpfers Preis, das ist sein Sein. Nun sag noch was.
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DAS ALTE SPIEL
Der Rahmen malt das Bild und rahmt es ein. Daß eins wies andre gilt, wie kann das sein? Es sei denn, daß >Beginn< schon >Ende< kennt, das freilich erst den Sinn beim Namen nennt. — War’s denn (hast du’s bedacht?), als >wer?< begann, schon Tag? und nicht mehr Nacht? Wann endet >wann