Geräusch - das Andere der Musik: Untersuchungen an den Grenzen des Musikalischen [1. Aufl.] 9783839428689

How does noise become music? This volume gathers scientific and artistic perspectives on the eternal fight between noise

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Geräusch - das Andere der Musik: Untersuchungen an den Grenzen des Musikalischen [1. Aufl.]
 9783839428689

Table of contents :
Inhalt
Vorwort: Das Andere der Musik
Zuhören
Die musique concrète ist nicht konkretistisch
Geräusch, Musik, Wissenschaft
Der moderne Kult des Klangs
Von Wassern und Winden
Anhören
Geräusch- und Klangwelten bei Jörg Widmann
Musik und Vergessen
Growling
Überbrücken, Unterbrücken
Hinhören
Bruyante, la pluie se fraie un chemin
Steppen, Schleifen, Schlagen
The sound of obsolescence
Folge dem Klang
Scheitern des Dokuments – Dokument des Scheiterns
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Camille Hongler, Christoph Haffter, Silvan Moosmüller (Hg.) Geräusch – das Andere der Musik

Musik und Klangkultur

Camille Hongler, Christoph Haffter, Silvan Moosmüller (Hg.)

Geräusch – das Andere der Musik Untersuchungen an den Grenzen des Musikalischen

Der Sammelband entstand im Rahmen des DVSM-Symposiums 2014 in Basel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Camille Hongler, Berlin 2014 Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2868-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2868-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

VORWORT Das Andere der Musik Weißes Rauschen, Ur-Geräusch

Christoph Haffter | 7

ZUHÖREN Die musique concrète ist nicht konkretistisch

Michel Chion | 21 Geräusch, Musik, Wissenschaft Eine Bestandsaufnahme

Dahlia Borsche | 33 Der moderne Kult des Klangs Genealogie eines diskursiven Feedbacks

Thibault Walter | 47 Von Wassern und Winden Musikalische Geräusche bei Heinse und Hoffmann

Christian Kämpf | 61

ANHÖREN Geräusch- und Klangwelten bei Jörg Widmann Zwei Einblicke

Florian Henri Besthorn | 75

Musik und Vergessen Ein Vortrag mit Klangbeispielen

Bastian Zimmermann | 91 Growling Gutturale Stimmen in Black und Death Metal

Charris Efthimiou | 99 Überbrücken, Unterbrücken

Bastian Pfefferli/Demetre Gamsachurdia | 107

HINHÖREN Bruyante, la pluie se fraie un chemin Tonspuren in Andrej Tarkovskijs Nostalghia

Camille Hongler | 113 Steppen, Schleifen, Schlagen Eine tanzwissenschaftliche Sicht auf das Geräusch

Anja K. Arend | 139 The sound of obsolescence Wie aus alter Hardware Musik wird

Nina Jukić | 151 Folge dem Klang Musik und Sound in Audiogames

Yvonne Stingel-Voigt | 163 Scheitern des Dokuments – Dokument des Scheiterns

Ein Gespräch mit Gilles Aubry | 173 Autorinnen und Autoren | 191

Das Andere der Musik Weißes Rauschen, Ur-Geräusch C HRISTOPH H AFFTER

Comme Aphrodite, mère de toute beauté, naquit d’un coup de l’écume et du ressac, émerge soudain de la mer chaotique du bruit: la Musique.1

Das Geräusch, das Meeresrauschen, das Lärmen und Tosen der Brandung ist der Ursprung der Musik, ihr wilder und unergründbarer Grund, aus dem sie auftaucht und den sie krönt wie die Gischt der Meereswogen. Michel Serres denkt das Geräusch in diesem Bild als das allumfassende auditum, wie es Michel Chion nennen würde, die sinnliche Fülle des Hörbaren vor aller genaueren Bestimmung: Das Lärmen der Welt, noch bevor es in Stimmen und Töne, in Signale und Worte, in Schüsse und Schreie zerfällt. Aus diesem chaotischen Pfuhl, dieser klanglichen Ursuppe geht die Musik als Ordnung, als geregeltes Geschehen, als Sinnhaftes hervor. Die Musik, organisierter Klang, wird gegen das Ungreifbare, das Zahl- und Maßlose des Urgeräusches abgegrenzt. Wie das Tohuwabohu liegt es als erste Materie brach, unberührt vom ordnenden Eingriff des Menschengottes. Insbesondere die Urgewalten des Windes und des Wassers bilden, wie Christian Kämpf 1

Michel Serres, Musique, Paris 2011, S. 20.

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im vorliegenden Band nachweist, die zentralen musikästhetischen Paradigmen des Geräusches. In seiner einflussreichen Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik definiert Hermann von Helmholtz das Geräusch in diesem Sinne als die ungeordnete, die unregelmäßige Schwingung. Um das Wesen des Unterschieds zwischen Klängen und Geräuschen zu ermitteln, genügt in den meisten Fällen schon eine aufmerksame Beobachtung des Ohres allein, ohne daß es durch künstliche Hilfsmittel unterstützt zu werden braucht. Es zeigt sich nämlich im Allgemeinen, daß im Verlaufe eines Geräusches ein schneller Wechsel verschiedenartiger Schallempfindungen eintritt. Man denke an das Rasseln eines Wagens auf Steinpflaster, das Plätschern und Brausen eines Wasserfalls oder der Meereswogen, das Rauschen der Blätter im Walde. Hier haben wir überall einen raschen und unregelmäßigen, aber deutlich erkennbaren Wechsel stoßweise aufblitzender verschiedenartiger Laute. Beim Heulen des Windes ist der Wechsel langsam, der Schall zieht sich langsam und allmälig in die Höhe und sinkt dann wieder. […] Ein musikalischer Klang dagegen erscheint dem Ohre als ein Schall, der vollkommen ruhig, gleichmäßig und unveränderlich dauert, so lange er eben besteht, in ihm ist kein Wechsel verschiedenartiger Bestandteile zu unterscheiden. Ihm entspricht also eine einfache und regelmäßige Art der Empfindung, während in einem Geräusche viele verschiedenartige Klangempfindungen unregelmäßig gemischt und durch einander geworfen sind. In der Tat kann man Geräusche aus musikalischen Klängen zusammensetzen, wenn man z.B. sämtliche Tasten eines Klaviers innerhalb der Breite von einer oder zwei Oktaven gleichzeitig anschlägt. […] Die Empfindung eines Klanges wird durch schnelle periodische Bewegungen der tönenden Körper hervorgebracht, die eines Geräusches durch nicht periodische Bewegungen.2

Für Helmholtz ist das Einfache – der regelmäßige Klang – der Ursprung, von dem aus sich das Komplexe – das unregelmäßige Ge-

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Hermann von Helmholtz, Von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1896, S. 14–16.

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räusch – erklären lässt; daher seine Idee, in einer Art Cluster musikalische Klänge zu Geräuschen zusammenzufügen. Umgekehrt ließe sich aber auch die Musik aus dem Geräusch erklären – als Filterung, als Organisation, als Beherrschung. Geräusch, der Rohstoff der Tonkunst, ist nicht absolut vom musikalischen Klang verschieden. Vielmehr ist es jenes Andere, aus dem sich die Musik immer erst gewinnen muss; und von dem sie sich niemals wird freimachen können: Keine Musik ist von Geräuschen gereinigt, jedem Wohlklang ist ein Rauschen eigen: Das Hohle im flautando, die Schroffheit des sforzato, das Raue des maestoso, die Schärfe des scherzando, ein Aushauchen des Tones im morendo – sobald die Musik nicht als System, sondern als lebendiger Vollzug erfahren wird, ist es ihr geräuschhafter Überschuss, der sie hörenswert macht. Was Helmholtz als musikalischen Klang bezeichnet, erscheint plötzlich als eine leere Abstraktion, welche die Musik auf das beschränkt, was in der Partitur notiert ist – der Rest ist: Klangfarbe. Der Unterschied zwischen Geräusch und Klang erweist sich von jeher als graduell. Wenn die Musik organisiertes Geräusch ist, so gibt es keinen Grund, gewisse Geräusche von der musikalischen Produktion auszuschließen. Vor über hundert Jahren zog Luigi Russolo diesen Schluss und proklamierte, des klassisch-romantischen Tonvorrats müde, die Kunst der Geräusche. Der Reichtum an Tönen, den die Unzahl an Geräuschen bereithalten, müsse für die Musik nutzbar gemacht werden. Russolos Programm schreibt sich entgegen der verbreiteten Meinung in vielerlei Hinsicht in die Tradition ein: Anstatt die Erfindung der Tonaufzeichnung zu nutzen, baut er neue Instrumente, intonarumori, statt Geräusche der Musik entgegenzusetzen, verteidigt er sie als obertonreiche Klänge, und weit entfernt, das Publikum nur vor den Kopf stoßen zu wollen, hofft er darauf, in naher Zukunft würde auch das Knallen des Flugzeugmotors »neue Genüsse und tiefe Empfindung freilegen«.3 Dieser Versuch der Integration des Geräuschhaften ins Musikalische geht mit der Erfindung neuer Techniken der Chiffrierung

3

Luigi Russolo, Die Kunst der Geräusche (1916), Mainz 2000, S. 36.

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und Darstellung einher: Neue Notationsformen wie die enharmonische Graphik, neue Klassifikationen der Alltagsgeräusche und der Instrumente oder der ausdifferenzierte Gebrauch onomatopoetischer Beschreibungen. Damit oszilliert das Projekt zwischen zwei sich widersprechenden Bewegungen, die sich in zwei musikgeschichtlichen Entwicklungssträngen fortsetzen werden: Einerseits wird die unbeherrschbare Freiheit der Geräusche betont, ein Gedanke, dessen Fluchtpunkt man in John Cages Öffnung und Auflösung der Musik ins Leben selbst sehen könnte. When we seperate music from life what we get is art (a compendium of masterpieces). With contemporary music, when it is actually contemporary, we have no time to make that separation (which protects us from living), and so contemporary music is not so much art as it is life and any one making it no sooner finishes one of it than he begins making another just as people keep on washing dishes, brushing their teeth, getting sleepy, and so on.4

Mit dieser Haltung ist unweigerlich eine Aufhebung der Differenz von Musik und Geräusch in den Begriff des sounds verbunden, der besonders für das Selbstverständnis der heutigen Klangkunst bedeutend ist. Andererseits drückt Russolo eindeutig den Wunsch aus, den unendlichen Reichtum der Geräusche auch beschreiben, imitieren und rekombinieren, organisieren und beherrschen zu wollen. Diese Tendenz löst den Bereich des Musikalischen nicht auf, vielmehr erweitert sie ihn genau soweit, wie das Geräusch fassbar, komponierbar gemacht wird. Pierre Schaeffers Suche nach einer musique concrète, die Komposition mit Obertonspektren um die Gruppe L’Itinéraire, die stochastischen Komposition eines Iannis Xenakis oder die Erweiterung der instrumentalen Spieltechniken durch Helmut Lachenmann – so verschieden sich diese Ansätze zum Geräusch verhalten, sie alle halten am Begriff der Musik, und somit auch an einer Differenz zum Nicht-Musikalischen

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John Cage, »Composition as Process«, in: ders., Silence, Middletown 1973, S. 44.

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fest. Florian Besthorns Beitrag untersucht am Beispiel von Klavierwerken Jörg Widmanns eine zeitgenössische Antwort, wie sich Geräuschklänge in Musik einkomponieren lassen. Russolos Geräuschmaschinen, die Intonarumori, besitzen eine auffällige Ähnlichkeit mit dem Grammophonlautsprecher: Der Mechanismus der Klangproduktion ist verborgen, versteckt hinter dem großen Ohrmuscheltrichter. Vielleicht erweist sich dieses Verbergen als eine Bedingung des Musik-Werdens von Geräuschen. Un son met en état de quasi-présence de tout le système des sons – et c’est là ce qui distingue primitivement le son du bruit. Le bruit donne des idées de causes qui le produisent, des dispositions d’action, des réflexes – mais non un état d’imminence d’une famille de sensations intrinsèques.5

Wenn wir Paul Valéry folgen und den Geräuschen eine besondere Nähe zum Akt ihrer Verursachung zuschreiben, so ließe sich daraus folgern, dass sie uns als Klänge erst dann erscheinen, wenn ihre Quelle sich verbirgt. Nicht nur aus der Gespensterliteratur wissen wir, dass Geräusche vornehmlich im Unsichtbaren, in Nacht und Schatten regieren. Liefert nicht der Lautsprecher erst die absolute Dunkelheit, nach der das Geräusch verlangt? Wenn Michel Chion den vorliegenden Sammelband mit einem Plädoyer gegen den Begriff des bruit, gegen das Geräusch als Kategorie des Hörbaren eröffnet, so tut er dies gerade mit Blick auf die kausalistische Verengung, die dieser Begriff oftmals impliziert. Seine Absage stützt sich auf eine historische Diskussion der Idee einer musique concrète, die nicht als eine Musik der Geräusche verstanden werden soll – im Hintergrund stehen aber auch Chions Erfahrungen als Komponist und Theoretiker von Lautsprechermusik sowie als Denker des facettenreichen und oft vernachlässigten Verhältnis von Klang und Bild im Kino. Camille Hongler vertieft in ihrem Essay über die akustische Fein-

5

Paul Valéry, Cahiers II, Paris 1974, S. 974.

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arbeit in Andrej Tarkovskijs Nostalghia diese Frage nach der Sichtbarkeit des Hörbaren, der Hörbarkeit des Sichtbaren. Sechs Jahre nach Russolos Manifest, am Tage Mariae Himmelfahrt 1919, beschreibt Rilke, fasziniert von der Phonographen-Technik, eine bemerkenswerte Versuchsanordnung. Die Kronen-Naht des Schädels (was nun zunächst zu untersuchen wäre) hat – nehmen wirs an – eine gewisse Ähnlichkeit mit der dicht gewundenen Linie, die der Stift eines Phonographen in den empfangenen rotierenden Cylinder des Apparates eingräbt. Wie nun, wenn man diesen Stift täuschte und ihn, wo er zurückzuleiten hat, über eine Spur lenkte, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tons stammte, sondern ein an sich und natürlich Bestehendes –, gut: sprechen wirs nur aus: eben (z.B.) die Kronen-Naht wäre –: Was würde geschehen? Ein Ton müsste entstehen, eine Ton-Folge, eine Musik … Gefühle –, welche? Ungläubigkeit, Scheu, Furcht, Ehrfurcht –: ja, welches nur von allen hier möglichen Gefühlen? verhindert mich einen Namen vorzuschlagen für das Ur-Geräusch, welches da zur Welt kommen sollte…6

Das Ur-Geräusch von dem hier die Rede ist, liegt nicht vor aller Musik, es ist nicht der Urgrund des Hörbaren, aus dem alle geordneten Klänge entstehen, noch sind es die Urfrequenzen des entstehenden Universums oder die scheuen Wellengeräusche, welche Meereswesen vor 400 Mio. Jahren erstmals werden vernommen haben,7 nein: Das Ur-Geräusch kommt spät zur Welt, es verdankt seine Existenz der Nadel eines Phonographen. Friedrich Kittler zitiert Rilkes Text, weil er wie kein anderer die geschichtliche Vermitteltheit des Hörens, die Medialität des realen Klangs zum Ausdruck bringt. Die Hörbarkeit des Unberechenbaren, der irreduziblen Differenzen, die bereits für Helmholtz das Geräuschhafte ausmachten, setzt für Kittler den Zufall im

6

Rainer Maria Rilke, Das Ur-Geräusch, zitiert nach Friedrich Kittler,

7

Vgl. Mike Goldsmith, Discord – A history of noise, Oxford 2012, S. 13–16.

Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 66.

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Sinne Lacans voraus: »dass etwas aufhörte, sich nicht zu schreiben.«8 Erst mit der mechanischen Klangreproduktion lassen sich diese in keiner Partitur symbolisierbaren, zufälligen Differenzen des Geräuschs einschreiben – erst der Phonograph macht ein Akustisches hörbar, »jenen Rest oder Abfall, den weder der Spiegel des Imaginären noch auch die Gitter des Symbolischen einfangen können – physiologischer Zufall, stochastische Unordnung von Körpern«.9 Mit seiner technischen Reproduzierbarkeit löst das Geräusch endgültig die Fesseln, die es an die Urszene seiner bewussten Hervorbringung banden, dies ist für Kittler der Sinn von Rilkes eigenartigem Experiment. Beim Abspielen jener Nahtstelle am Schädel sind Geräusche alles, was entsteht. Und beim Abhören von Zeichen, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammen, sondern anatomische Zufallslinien sind, braucht kein Körper optisch hinzuphantasiert zu werden. Was das Rauschen erzeugt, ist es selber. Und das unmögliche Reale findet statt.10

Als technisch vermitteltes Reales gewinnt das Geräusch eine weitere Bedeutungsebene, es erweist sich als Kollektivbildung des Rauschens: Das weiße Rauschen der Leitung, des Bandes – der mediale Träger, der jede Information erst ermöglicht und zugleich bedroht. Wir befinden uns hier an der semantischen Nahtstelle zwischen dem Geräusch als Sound – das Reale der Tonaufnahme – und dem Geräusch als noise – das Bandrauschen, das den Informationsfluss stört, die aufdringlich werdende Materialität des Mediums. In diesem Kontext lässt sich das Geräusch nicht mehr auf physikalische Eigenschaften zurückführen: Alles, was ein Kommunikationsgeschehen stört, was den SignalRausch-Abstand11 verringert, was immer Botschaften verfälscht und

8

Kittler, Grammophon, Film, Typewriter (Anm. 6), S. 9.

9

Ebenda, S. 28.

10 Ebenda, S. 73f. 11 Vgl. Friedrich Kittler, »Signal-Rausch-Abstand«, in: Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Die Wahrheit der technischen Welt, Berlin 2013, S. 214–231.

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Vermittlungen erschwert, wird so zum Geräusch, zum asignifikanten Rest, des non-sens. So können auch wohlartikulierte Gespräche zum Rauschen, zum Gerede geraten und die eine Botschaft, die uns interessiert, unverständlich machen; so kann das Übermaß an Texten und Bildern zur Reizüberflutung werden, die das Les- und Sichtbare wegschwemmt; so wurde aber auch die unendlich reproduzierbare Musik zum Geräusch, die – nicht nur als Muzak Konsum stimulierend oder als Music while you work12 Fließbandarbeiter motivierend – aus Lautsprechern und Kopfhörer alle Lebensbereiche durchdringt. Gleich mehrere Geschichten des noise13 sind in den letzten zwei Jahren erschienen und haben nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Absage an die Objektivität des Geräusches – es gibt kein physikalisches Kriterium zur Unterscheidung von Geräusch und Musik – nicht den Rückfall in eine bloße Subjektivität bedeuten muss – als ob alles mögliche Geräusch oder Musik sein könnte, da jeder die Welt auf seine eigene Weise hört. Dass noise ein Klang am falschen Ort, »sound out of place«14 sei, heißt vielmehr, dass die Frage nach dem richtigen Ort eines bestimmten Klangs sozial und historisch bedingte Antworten kennt. Ist die Differenz von Geräusch und Musik eine Frage des Geschmacks, so ist sie gerade dadurch ein Instrument der sozialen Distinktion; ist der Unterschied von sound und noise eine Frage des Kontextes, so ist er gerade deshalb ein Mittel der Segregation; ist die Differenz von Klang und Lärm eine Frage der Gewohnheit, so ist sie gerade darum auch eine Frage der Macht.

12 Vgl. David Hendy, Noise – A Human History of Sound and Listening, London 2013, S. 294–303. 13 Vgl. Mike Goldsmith, Discord – A history of noise, Oxford 2012; David Hendy, Noise – A Human History of Sound and Listening, London 2013. Vgl. auch die ausführliche Literaturverweise im vorliegenden Beitrag von Dahlia Borsche. 14 G.W.C Kaye, »The Measurement of Noise«, in: Proceedings of the Royal Institution of Great Britain 26 (1931), 435–488; zitiert nach Goldsmith, Discord (Anm. 7), S. 1.

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Pas un mythe essentiel qui ne fasse appel au musicien en tant que protection contre le bruit, perçu partout comme une menace contre laquelle il faut se protéger. Pas un mythe qui ne décrive la musique comme mise en forme, la domestication, la ritualisation du bruit en simulacre de meurtre rituel, métaphore du sacrifice fondateur de tout ordre social.15

Geräusche, Lärm, noise und bruit sind Klänge, die aus ihrem Territorium, aus ihren angestammten Zonen ausbrechen – und eine etablierte Ordnung des Hörbaren bedrohen, wie man Rancières Ausdruck abwandeln könnte. Im Opferritual und in all seinen Abwandlungen – von der Messe über den Jahrmarkt, vom Karneval bis zum Rave – spielt die Musik, so Attalis These, eine solch zentrale Rolle, weil sie jene exzessiven Kräfte des Geräusches und des Rauschhaften in einer domestizierten, geordneten Weise zum Ausdruck bringt; ein sakraler Ausnahmezustand, der den profanen Verzicht auf Grenzüberschreitung garantiert. Vor diesem Horizont müssen auch die Forderungen der so unterschiedlichen Gruppen analysiert werden, die sich aus verschiedensten Gründen gegen den ansteigenden Geräuschpegel der urbanen, ländlichen oder gar submarinen Welt wehren; von den ersten Lärmklagen gegen englische Kupferschmiede im 18. Jh., über die Verkehrslärm bekämpfende Anti Noise League der 30er Jahre bis hin zur Klangökologie, die sich unter dem Einfluss von R. Murray Schafers Unterscheidung von Lo-Fi und Hi-Fi Soundscapes16 entwickelte und Geräusch erstmals als Umweltverschmutzung verstand. Dieser sozialen und politischen Dimension der Frage des Geräusches kann sich keine Musik verwehren. Die Verwendung von Verzerrung wie sie Charis Efthimious Beitrag im Black und Death Metal und der Klangkünstler Gilles Aubry in seiner artistic research zu Seelenbe-

15 Jacques Attali, Bruits – Essai sur l’économie politique de la musique, Paris 2001, S. 28. 16 R. Murray Schafer, Soundscape – Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester (Vermont) 1994, S. 43ff.

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freiungszeremonien in Kinshasa untersucht, aber auch die Rhythmisierung von industriellen Klängen im Techno, von technologischen Störgeräuschen im Glitch, von veralteter Computerhardware in jenen Coverversionen von Popsongs, die Nina Jukić bespricht, die Musikalisierung eines Schweinelebens von Geburt bis zur Schlachtung bei Matthew Herbert, wie sie Bastian Zimmermann analysiert und natürlich die Erhebung des Geräuschhaften zum musikalischen Genre des noise, dessen Genealogie Thibault Walter in seinem Beitrag zu skizzieren versucht; dieses vielgestaltige Musik-Werden des Geräusches ist vor diesem Hintergrund mehr als avantgardistische Materialerweiterung. Es ist ein Spiel an der Grenze des Musikalischen zu seinem Anderen, ohne dass diese Grenze einfach aufgehoben werden könnte. Musik und Geräusch geraten auch dort aneinander, wo Musik sich mit anderen Künsten und Praktiken verbindet. So weist Anja Arend in ihrem Beitrag auf die Bedeutung von Körpergeräuschen in der Geschichte des Tanzes hin und Yvonne Stingel-Voigt zeigt wie akustische Signale in Computerspielen für Sehbehinderte virtuelle Welten erzeugen. Die Beiträge dieses Sammelbandes entstanden im Rahmen des 26. internationalen Symposiums des Dachverbandes der Studierenden der Musikwissenschaften (DVSM), das im Frühjahr 2013 in Basel stattfand. Dabei fanden neben den wissenschaftlichen Stimmen auch gleichermaßen künstlerische Beiträge Gehör: Ein vielfältig angelegtes Programm umfasste die Schweizer Erstaufführung von Michel Chions La vie en Prose, Konzerte der Noise-Formationen MIR und beton, einer Soloperformance des Perkussionisten Daniel Buess, Improvisationen des Ensembles Âmes Sèches, das Ensembles Zarin Moll, die Sprachperformance Lombard-Effekt von Laurence Wagner und Nicolas Favrod-Coune, eine Performance Les Âmes Amplifiées von Gilles Aubry und die Klanginstallationen von Thomas Peter und ILIOS. Die Performance der Perkussionisten des Ensemble This/Ensemble That, in der unter anderem die Auftragskomposition Elda von Demetre Gamsachurdia uraufgeführt wurde, dokumentiert ein weiterer Text dieses Sammelbandes, in welchem Gamsachurdia und der Perkussionist Bastian

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Pfefferli ihre Arbeit mit der Raumakustik und der soundscape des Konzertortes, dem Gewölbe unter der Basler Johanniterbrücke, beschreiben. Für die Unterstützung sei Prof. Matthias Schmidt vom Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel, Prof. Eric Oña vom Elektronischen Studio Basel, Sabine Himmelsbach vom Haus für elektronische Künste Basel und Christian Frick für die technische Umsetzung gedankt. Die Erforschung des Spannungsfeldes zwischen Musik und Geräusch schließt sich jenem anwachsenden Interesse der Wissenschaften an der akustischen Dimension der Kulturgeschichte an, das sich in den letzten Jahren beobachten ließ und bereits zum einem weiteren turn17 der Wissensgeschichte erhöht wurde. Wie Dahlia Borsches Übersicht über das Diskursfeld von Musik und Geräusch zeigt, besteht in der Tat im Vergleich zu den Text- und Bildwissenschaften ein Nachholbedarf in der Erforschung der akustischen Lebenswelt, der weitere Forschungsprojekte in dieser Richtung nur motivieren kann, dem Okularzentrismus der Wissenschaft entgegen zu wirken und dem Ruf À l’écoute des Philosophen Jean-Luc Nancy zu folgen: On veut ici tendre l’oreille philosophique: tirer l’oreille du philosophe pour la tendre vers ce qui a toujours moins sollicité ou représenté le savoir philosophique que ce qui se présente à la vue – forme, idée, tableau, représentation, aspect, phénomène, composition – et qui se lève plutôt dans l’accent, le ton, le timbre, la résonance et le bruit.18

17 Vgl. Petra Maria Meyer (Hg.), acoustic turn, Paderborn 2010. 18 Jean-Luc Nancy, À l’écoute, Paris 2002, S. 15.

Zuhören

Die musique concrète ist nicht konkretistisch1 M ICHEL C HION

Im Sinne der Definition Pierre Schaeffers von 1948 nenne ich musique concrète die Musik fixierter Klänge – Musik also, die auf einem Tonträger existiert.2 Dabei spielt es keine Rolle, welche Aufnahmetechnik bei der Fixierung zum Einsatz kam, wie die Klangquellen geartet sind, welche Kompositionsmethoden angewendet wurden oder welche Ästhetiken mitspielen: Die Étude pathétique von Schaeffer, die Klangfiguren von Gottfried Michael Koenig, der Gesang der Jünglinge von Stockhausen, Les couleurs de la nuit von François Bayle, die Werke Pierre Henrys und fast alle meiner eigenen Kompositionen, seien sie auf CD, auf Tonband oder im Computer produziert; alle diese unterschiedlichen Werke gehören für mich der musique concrète an, der Kunst fixierter Klänge. Fixierte Klänge ist ein Ausdruck, den ich 1990 vorgeschlagen habe, um die Rede von den aufgezeichneten Klängen zu ersetzen.3 Spricht man von »Aufzeichnung«, so schwingt immer die Idee mit, es 1

Concrétiste ist eine Wortschöpfung Chions, die verdeutlichen soll, dass musique concrète keine musikalische Ästhetik bezeichnet.

2

Vgl. Pierre Schaeffer, A la recherche d’une musique concrète, Paris 1952.

3

Vgl. Michel Chion, La musique concrète, art des sons fixés, Lyon 2009.

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handle sich bei der Aufnahme um eine Spur des Vergangenen. Sie macht also glauben, es gehe einzig darum, die Erinnerung eines Geschehnisses, eines Instrumentalspiels, eines klangliches Ereignisses zu bewahren. Der Ausdruck fixierte Klänge hingegen hebt die Tatsache hervor, dass wir einen eingeschriebenen Klang vor uns haben, und zwar bis ins kleinste Detail genau. Wenn man eine Zeichnung betrachtet, wird diese Zeichnung ja auch nicht nur als Aufzeichnung der Gesten des Künstlers verstanden, sondern zuerst einmal einfach als Zeichnung angesehen. Andererseits ist ein Klang einer musique concrète oftmals Resultat diverser Aktionen des Komponisten, die zu verschiedenen Stadien der Komposition, also zeitlich verschoben erfolgen: Das Erzeugen eines Klanges vor dem Mikrofon, die Montage, »Manipulationen« oder besser »Remodelierungen« des Klanges etc. Diese Aktionen können nicht alle zugleich ausgeführt werden. Und so ist es nicht mehr sinnvoll von einer Klangquelle, einem Ursprung zu sprechen. Es gibt keinen Klangursprung mehr, der in einer Quelle lokalisierbar wäre, die zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Klang produziert. Somit gibt es auch keinen sinnvollen Grund, den vermeintlichen Ursprung solcher Klänge zeigen zu wollen, ebenso wie es keinen Grund gibt, im Kino die technischen Aktionen gleichzeitig mit dem Bild zu zeigen, das sie erzeugten. Als 1948 gewisse serielle Komponisten angeblich rationelle, homogene und kohärente Systeme vorzeigten, vereinte Pierre Schaeffer die Worte »Musik« und »konkret« bewusst als zwei sich widersprechende Begriffe. Ein widersprüchliches Gefüge, ähnlich jener Werktitel wie Symphonie pour un homme seul4 – Symphonie für einen Mensch allein – oder etwa die Etude pathétique – wo das Pathos dem didaktischtechnischen Geist der Etüde entgegensetzt ist. Schaeffers Sinn für den Widerspruch – nicht im banalen Sinne einer Provokation, sondern viel weitreichender als Einsicht in die widersprüchliche Natur aller menschlichen Unternehmung, Aktivität und Produktion – beschränkt

4

Ein Werk, das er im Austausch mit Pierre Henry schuf, aber zuerst selbst konzipierte.

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MUSIQUE CONCRÈTE IST NICHT KONKRETISTISCH

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sich nicht auf einige Werktitel: Er zeigt sich auch darin, wie Schaeffer diese neue Musik, die musique concrète definierte, konzipierte und anstieß; was ihn unanfechtbar zu ihrem Gründervater machte. Das Genie Schaeffers war es, meiner Meinung nach, die musique concrète nicht als eine neue »konkretistische« Ästhetik sondern als ein Genre zu verstehen, das seine inneren Widersprüche lebendig halten müsse, statt sie auszuradieren, zu verneinen oder gar übereilt aufzulösen. Dazu gehört etwa der Widerspruch zwischen dem Willen zur Abstraktion und der Verlockung zum Narrativen, zum Figurativen, die von der akusmatischen Situation herrührt – die Lage also, zu hören ohne zu sehen – und die ins Unendliche die Frage provoziert: Was ist da geschehen? Was ist das, was ich höre? Und genauso besteht ein Widerspruch zwischen dem Willen, Neues zu finden, »trouver du nouveau«, wie es Baudelaire sagte, und jenem Willen, sich ebenfalls wie Baudelaire auf die klassischen Formen abzustützen.5 Daher der buntscheckige, uneinheitliche, disparate Charakter der ersten Werke der musique concrète, in denen klassische Elemente wie Klavierklänge oder tonale Melodien sich lebendig in einen neuen Kontext geworfen sehen, der sie mit mehr oder weniger figurativen Klangelementen wie Schrittgeräuschen, Schreien oder unbestimmt den Raum durchrollenden Klängen umgibt; ohne den Versuch, diese Diskontinuität völlig aufzulösen. Dieser Charakter könnte einer Art jugendlichem Surrealismus Schaeffers zugewiesen werden. Doch ich sehe darin viel mehr: Ich erkenne darin die Einsicht, dass alle Dimensionen des Klanglichen einander beiwohnen können, dass sie ineinander übergehen, einander zustreben können anstatt in ihrer Differenz zu verharren. So wird der Klavierklang dazu

5

Im Zusammenhang: »Ô Mort, vieux capitaine, il est temps! levons l’ancre!/Ce pays nous ennuie, ô Mort! Appareillons!/Si le ciel et la mer sont noirs comme de l’encre,/Nos coeurs que tu connais sont remplis de rayons!//Verse–nous ton poison pour qu’il nous réconforte!/Nous voulons, tant ce feu nous brûle le cerveau,/Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu’importe?/Au fond de l’Inconnu pour trouver du nouveau!« Charles Baudelaire, »Le Voyage«, in: Les Fleurs du Mal (1861), Paris 1996, S. 173.

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gebracht, seine klangliche Textur zu offenbaren, so erweist sich eine Note als Klangschock, das Maschinengeräusch enthüllt seine harmonische Struktur, das Stampfen der Eisenbahn wird so mit einbezogen, dass seine abstrakten rhythmischen Strukturen hörbar werden. Und umgekehrt ist ein Rhythmus niemals nur abstrakter Rhythmus, sondern bleibt zugleich ein Ereignis, eine Geschichte. Und jeder Klang erscheint genauso, wie er ist: Kein Dekret spricht ihm seine Charaktere ab. Sodass der »zu Große Reichtum« der Klangobjekte der musique concrète, wie ihn Boulez tadelte, nicht Konsequenz eines »fehlenden Könnens« darstellt, »das der Komposition abträglich ist«, wie ebendieser Boulez schrieb, sondern er ist eine künstlerische Entscheidung, ein Ausgangspunkt.6 In einem Werk der musique concrète kann ein Klang figurativ sein oder nicht, d.h. er kann auf eine Natur- oder Lebenssituation verweisen oder nicht. Oder seine Beschaffenheit kann einem existierenden System – musikalischer, linguistischer oder sonst welcher Natur – gehorchen oder nicht. Seine Zugehörigkeit zum Genre der musique concrète wird dadurch nicht in Frage gestellt. Seine Konkretheit erhält er vom Prinzip der Fixierung und den Konsequenzen, die sich aus diesem Prinzip ergeben. Ich habe mich daher immer, etwa in meinen Schriften oder als Mitglied von Wettbewerbsjurys, dagegen gewehrt, ästhetische Unterscheidungskriterien im Innern der musique concrète einzuführen, um eine Musik als mehr oder weniger figurativ oder abstrakt zu bezeichnen, und so Kategorien und Subgenres hervorzubringen, die für mich nie ganz frei von verborgenen Hierarchien sind. In dieser Hinsicht distanziere ich mich von der Position, die Schaeffer in den 60er und 70er Jahren einnahm. Und natürlich gibt es für mich auch keine analoge Musik, die einer digitalen gegenüberstünde. Warum, fragte man mich oft, verteidigen Sie, der Sie jede Schranke im Innern dessen zurückweisen, was Sie als ein einheitliches Genre verstehen, warum verteidigen Sie andererseits die Idee, dass ein fun-

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Vgl. etwa der Eintrag »Musique concrète« in der Encyclopédie de la musique, Paris 1958, in: Pierre Boulez, Relevés d’apprenti, Paris 1966, S. 286.

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damentaler Wesensunterschied zwischen der Musik auf Tonträgern und aller anderen Musik existiere, die doch von denselben Leuten praktiziert und in denselben Konzerten gespielt wird? Ich möchte einen Unterschied machen zwischen jenen Musiken, die zugleich Instrumente und auf Tonträgern fixierte Klänge verwenden (oft musiques mixtes genannt) und andererseits den Musiken, die heute sehr gängig sind (oft live electronic oder à dispositif genannt), in denen der Klang live, mit der Bespielung einer Klangquelle produziert und dann mehr oder weniger transformiert wird. Wenn ich an einer solchen Differenz zwischen den Genres hänge, so weil in ihnen effektiv andere Prinzipien am Werk sind. Da das grundlegende Prinzip der musique concrète, nämlich die Fixierung der Klänge, gerade aufgrund seiner Schlichtheit so viel schwieriger in seiner radikalen Neuheit wahrzunehmen ist als bei anderen Musiken, wird ihre Neuheit sehr leicht verkannt und die auf ihr gründende Musik verneint und verdrängt. Was ist die später von Pierre Schaeffer definierte Idee der écoute réduite anderes als die Entdeckung einer Hörweise, die alle klanglichen Elemente, wie immer sie auch geartet seien, in derselben Klangfamilie empfängt, ob instrumentaler, »natürlicher«, mechanischer, menschlicher Herkunft oder nicht? Es gibt also bei Schaeffer diese Idee einer Versammlung, einer Totalität, die sich aber weigert, ihre inneren Widersprüche aufzuopfern. Denn die Widersprüche zu verneinen hieße für ihn, in das zurückzufallen, was Blaise Pascal so treffend beschrieb: »[…] qui veut faire l’ange fait la bête«7 – wer den Engeln gleichen will, gleicht dem Tier. Schaeffers musique concrète will nicht »den Engeln gleichen« (die Widersprüche verneinen), aber ebenso wenig will sie mit dem »Tier« sich begnügen (d.h. sich in den PseudoPrimitivismus zurückzuziehen, der viele der so genannten barbarischen Werke der 20er Jahre unseren Ohren so lächerlich vorkommen lässt, da wir an ihnen nur mehr die ungewollt bewahrten Konventionen ver-

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»L’homme n’est ni ange ni bête, et le malheur veut que qui veut faire l’ange fait la bête.« Blaise Pascale, Pensées VI, Paris 2010, S. 358.

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nehmen). Daher die Neudefinitionen und Richtungsänderungen, welche die musique concrète Ende der 50er Jahren gar dazu trieben, ihren Namen zu ändern, um zu einer gewissen Zeit zur musique expérimentale zu werden, oder sich verschiedene ästhetische Vorgaben zu machen, etwa mit der klanglichen Anekdote zu brechen.8 Wenn die daraus folgende musique concrète, die sich ausgehend von Schaeffer entwickelte und so unterschiedliche Namen kannte, von Beginn an richtig aufgegleist war und so weit gekommen ist, dann weil sie in ihrem Ursprung bereits den Widerspruch als solchen akzeptiert hatte und zugleich immer schon dessen partielle Reduktion anstrebte, und ich sage bewusst partiell. Einige der seriellen Musiken gerieten meines Erachtens zu schnell in eine Sackgasse, weil sie einem Systemdenken verhaftet waren, das sich über jede Widersprüchlichkeit erhaben glaubte. In seiner Homogenität wusste es nicht mit den Hindernissen umzugehen, denen es begegnete. Die inneren Widersprüche, an denen sich ihre radikalsten Versuche rieben – etwa mit einem so erbbelasteten Instrument wie dem Klavier ein Werk zu schaffen, das alle Erbschaftsspuren eliminiert, wie Boulez in seinen Structure pour deux pianos versuchte – hätten durch jene Widersprüche, die ihr von Außen begegneten, wieder aufgenommen und weiter geschrieben werden können. Die Serialisten zogen es jedoch vor, sie zu ignorieren. Einer der wenigen, die von außerhalb der Schule der musique concrète sich mit derselben auseinanderzusetzen und aus ihr eine neue kreative Dynamik zu schöpfen verstanden, war selbstverständlich Stockhausen. Ein Komponist schrieb mir einst die Klage, dass seine so jungfräuliche, neue, abstrakte Musik in denselben Konzerten zu erklingen habe wie die meine, die so oft Narratives und Figuratives mit einbeziehe. Dabei ist doch gerade diese Nachbarschaft so faszinierend; sie ist es, welche die musique concrète gerade nicht zu einem Konkretismus werden lässt und sie klar von einem Bruitismus unterscheidet. Sie zielte von Beginn an darauf, alle Klänge zu integrieren: Die traditionellen,

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Vgl. Pierre Schaeffer, »Vers une musique expérimentale«, in: La Revue musicale, Paris 1957.

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wiedererkennbaren Klavierklänge genauso wie die Reststücke der existierenden Musik, ihrer Melodien – ohne dabei in die Sackgasse zu geraten, sich nur gegen die Tradition zu definieren und sich, anders gesagt, einem Abguss gleich an ihr zu formen. Die musique concrète versucht die Tradition vielmehr zu integrieren und wieder zu umschließen. Die musique concrète weist es, zumindest in ihren Anfängen, ebenso zurück, sich als ein geschlossenes Feld zu definieren, das die Anekdote, den Text, das Narrative ausschlösse. Ende der 50er Jahre nahm Schaeffer zwar diese neue Position ein, deren Vorzüge ich auch sehe, die mir aber nicht sehr interessant zu sein scheint. Die musique concrète erachtet sich dabei immer als Musik. Sie ist also von Anfang an kein Bruitismus, d.h. eine Kunst protestierenden Geistes, die die Tore jener Stadt besetzt, welche sie zu zerstören vorgibt, obwohl sie derselben bedarf um sich zu situieren. Im Sozialen und Politischen sind solche Bewegungen des Protestes notwendig, sofern sie es verstehen, sich zur rechten Zeit wieder aufzulösen und nicht zum Selbstzweck verkommen. Im Bereich der Kunst sind solche Proteste, zumindest heute, allzu oft Zeichen der Faulheit und der Bequemlichkeit: Man situiert sich als Protestierender und bewegt sich nicht vom Fleck – und hat folglich auch kein Interesse, dass der Rest sich bewege. Ein anderes Beispiel für die Weise, in der Schaeffer Widersprüche voraussah und aushielt, sowohl in seinem Journal de la musique concrète wie in den komponierten Werken der frühen 50er Jahre, bildet die Frage nach dem Instrument. Die elektronische Musik der 50er Jahre glaubte durch die Synthesetechniken Klänge-an-sich zu erschaffen, bar jeder instrumentalen Bestimmung. Nur, wenn wir heute diese Musik hören, erkennen wir die Generatoren der 50er Jahre wieder, genauso wie wir in der elektronischen Musik der 70er Jahre das Instrumentarium dieser Epoche vernehmen. Alles Erklingen ist instrumental, und soll diese Instrumentalität sich nicht gegen das Werk richten, muss der instrumentale Charakter ins Projekt selbst mit einbezogen werden. So wie es Schaeffer von Anfang an tat, etwa mit der expliziten Verwendung von Instrumenten (Klavier, Spielzeuginstrumente, kleines Orchester) in seinen ersten Werken oder insbesondere in der »wahnsinni-

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gen« Suite 14, die so wahnsinnig gar nicht ist. Denn sie verhandelt ebendiesen Widerspruch: Von einer geschriebenen Partitur auszugehen, sie einzuspielen und auf dem Tonträger wieder zu konkretem Kompositionsmaterial werden zu lassen. Rufen wir uns die Gründungsgeste in Erinnerung, mit der Schaeffer den jungen Pierre Henry in seinen ersten Arbeiten empfing; anstatt den Perkussionisten Henry auf seinen Platz als Instrumentalist zurück zu verweisen – und damit auf die berüchtigte Idee der Echtzeit zu verpflichten, um diese seltsame Ausdrucksweise von heute zu belehnen – hatte er die Idee, das Instrumentale, über Henry, in seine Forschungen miteinzuschließen, es zu integrieren und ins Zentrum des Genres zu holen, das er unter dem Namen musique concrète gegründet hatte; und das ich als Kunst fixierter Klänge definiere. Die Frage des »Was ist das, was wir hören?«, die alleine durch die akusmatische Situation hervorgerufen wird, stellt sich auch die musique concrète, doch sie stellt sie in einer dialektisch gewendeten Form: Es hat natürlich keinen Sinn zu behaupten, die Klänge entstammten überhaupt keiner Quelle. Doch hindert uns die wirkliche oder imaginäre Identifikation einer Klangquelle daran, zugleich eine die abstrakte Dimension eines narrativen Klanges zu hören? Ich behaupte also, die musique concrète sei nicht konkretistisch. Sie ist also keine Ästhetik, sondern ein Genre. Sie ist eine Existenzform musikalischer Kunstwerke, die mehrere mögliche Ästhetiken zulässt. Genauso wenig ist sie bruitistisch, denn sie anerkennt das Geräusch nicht als eine von anderen geschiedene Art von Klängen. Das Substantiv bruit – Geräusch – hat keinen wissenschaftlichen Sinn; es ist kein Begriff, sondern ein Wort. Am Anfang steht ganz einfach die Frage nach der Sprache. Im modernen Französisch verweist das Wort ›bruit‹ auf das Partizip des Verbs ›bruire‹, das selbst nach gängigen etymologischen Wörterbüchern nicht einem, sondern gleich zwei Verben des Vulgärlateins entstammt: ›bragere‹ (braire – brüllen, auch iahen), und ›rugire‹ (rugir – brüllen, heulen, toben). Kurz gesagt, eine seltsame Kreuzung von Esel und Löwen, die nichts als Ratlosigkeit hinterlässt: Es scheint diese etymologische Erklärung eine Art von

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Tradition zu sein, die in den Wörterbüchern weitergereicht wurde. So kam es zu dem französischen männlichen Substantiv, den wir kennen. Als solcher hat er eine Geschichte und als solcher ist er niemals exakt in eine andere Sprache übersetzbar; weder ins englische ›noise‹, ins deutsche ›Lärm‹ oder ›Geräusch‹, ins italienische ›rumore‹ so wenig wie ins kastilische ›ruido‹. Im modernen, gängigen Gebrauch wird das Wort bruit oft auf Klänge angewendet und es bedeutet im Allgemeinen: a) Ein störender Klang, und in diesem Sinne ist eine Musik, die uns belästigt, weil sie zu laut oder zu Unzeiten gespielt wird, ebenfalls ein bruit. b) Klänge die weder musikalischer noch linguistischer Art sind: Man verwendet kaum das Wort bruit um Worte zu bezeichnen, sofern man sie verstanden hat. Das Wort bruit wird etwa erst verwendet, wenn mehrere Personen zur selben Zeit (oder in einer anderen Sprache) sprechen und somit unverständlich sind. Der erste Sinn kontaminiert unweigerlich den zweiten, zumindest im Französischen. Denn wo es im Englischen gängig ist, vom »sound« zu sprechen, etwa dem »sound of steps«, wörtlich dem »Klang von Schritten«, sagt man auf Französisch »le bruit de pas«: Obwohl diese bruits unseren Ohren angenehm sind, ja gar sympathisch und lebendig wirken, werden sie letztlich stigmatisiert. Während das Wort »sound« versammelt, segmentiert das französische bruit,, d.h. es trennt in Kategorien auf. Das Wort bruit ist ein aussonderndes, ein ausgrenzendes Wort. Man täte meiner Ansicht nach gut daran, es in das Fach der ausgedienten Wörter abzulegen. Es träfe dann im Geschichtsmuseum auf gewisse Ausdrücke, die ehemals in Medizin und Physik kursierten, und die keineswegs absurd waren, sondern einer bestimmten Phase des Wissens und der Kultur entsprachen. Bruit ist ein Wort, das immer eine gewisse wissenschaftliche Legitimität beanspruchte: In dieser Verwendung soll es Klänge bezeichnen, die keine präzise Tonhöhe zu erkennen geben, da ihnen nicht-

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periodische Vibrationen entsprechen. Warum klassieren wir denn in diesem Falle nicht die Extremtöne vieler Instrumente wie dem Klavier oder der Orgel in die Ordnung der bruit. Man ist geneigt einzuwenden, diese Laute erschallten anders als der Hammerschlag oder das Knattern eines Motors aus einem Musikinstrument. Und so gleitet man von einer Definition des Klanges und der physischen Natur seiner Vibration zu einer kausalistischen Definition, die auf die Klangquellen verweist. Warum soll ein Klang, und sei er noch so hässlich und banal, und ließe er noch nicht einmal eine präzise Tonhöhe erkennen, warum soll ein solcher Klang zum musikalischen geadelt werden, sobald er von einem Musikinstrument kommt? Während ein anderer Klang als nichtmusikalischer abgetan wird, nur weil er von irgendeiner nicht als musikalisch erachteten Ursache herrührt: Von Gegenständen, natürlichen, körperlichen oder mechanischen Phänomenen. Wer entscheidet, was Musik sei und was nicht? Das Kriterium der präzisen Tonhöhe reicht jedenfalls nicht aus, um Klänge zu klassifizieren, noch um sie zu hierarchisieren. Wir hören präzise Höhen in einer beträchtlichen Anzahl von tierischen Lauten, aber auch in industriellen Klängen – im Surren des Computers, im Dröhnen einer Klimaanlage, in den so reichen Klängen, die man in den Zügen hört, und natürlich im Glockenklang der Gläser. Sicher sind diesen Tönen oftmals Klänge von unpräziser Tonhöhe beigemischt, aber das ist in der Instrumentalmusik nicht anders. In seinem Traité des objets musicaux,9 den ich meinem Guide des Objets Sonores10 zusammenzufassen und aufzubereiten versuchte, anerkennt der Erfinder der musique concrète den Unterschied, der sich für das Ohr zwischen den Klängen mit und jenen ohne präziser Tonhöhe ergibt. Schaeffer schlägt

9

Pierre Schaeffer, Traité des objets musicaux, Paris 1966.

10 Der Autor möchte darauf hinweisen, dass sein Guide des Objets Sonores in französischer Sprache über www.michelchion.com kostenfrei als pdf verfügbar ist, genauso wie die englische Übersetzung durch John Dack und Christine North, die unter dem Titel Guide to Sound Objects von verschiedenen Internetseiten zum Download freigegeben ist.

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vor, die ersten tonische Klangmassen oder tonische Klänge, die zweiten komplexe Klangmassen oder komplexe Klänge zu nennen – die gewählte Terminologie kann zwar hinterfragt werden, die Idee ist jedoch klar. Diese semantische Nuance kann unnötig erscheinen. Erhält Schaeffer denn nicht die Trennung zwischen musikalischem Klang und bruit aufrecht und fährt so mit der Diskriminierung fort? Nein, denn eine entscheidende Geste ist ausgeführt. Um es in den Worten Schaeffers zu sagen: Ein Substantiv wurde zum Adjektiv. Es gibt kein g oder a mehr, sondern Klänge, welche die Tonhöhe g oder a besitzen. Die Frage nach der Wahrnehmbarkeit der Tonhöhe ist jetzt nur noch eines der Prädikate, eines der Attribute des vernommenen Klanges anstatt zu seiner Essenz erhöht zu werden. Diese Verwechslung von Essenz und Prädikat hält an, solange man nicht aufhört, musikalische Klänge und bruits zu unterscheiden, als herrsche zwischen ihnen eine Wesensdifferenz. Das Problem wird komplizierter, da mehrere Künstler in bestimmten historischen Momenten insbesondere zu Beginn des 20.Jh. das Geräusch (bruit) als Ausdrucksmittel proklamierten um eine Kunst der Geräusche zu begründen – Luigi Russolo ist natürlich deren bekanntester Vertreter. Seine Schrift L’arte dei rumori11 verfängt sich von Beginn an in einem Widerspruch: Die Kunst der Klänge befreien zu wollen und dabei einen Großteil der Klänge auszuschließen: die Instrumentalklänge. Anstatt den Käfig der Geräusche zu sprengen, betritt Russolo vielmehr denselben, schließt hinter sich die Tür, gibt vor, ein Paradies gefunden zu haben, wo man sich im Geräusch genießt, und anerkennt somit die Idee einer absoluten, wesentlichen Trennung von Geräusch und musikalischem Klang. Viele künstlerische Vorhaben, die sich in der Nachfolge Russolos verstanden, besaßen daher paradoxerweise einen reaktionären Zug: Indem sie das Geräusch als trivialen, nicht-instrumentalen Klang für sich beanspruchten, belieferten und verfestigten sie die kausalistische Idee, dass es die Trivialität (Pfannen) oder Noblesse (Violine) der Quelle sei, die den Klang selbst zu einem

11 Vgl. Luigi Russolo, Die Kunst der Geräusche (1916), Mainz 2000.

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trivialen oder vornehmen machte. Dabei herrscht zwischen Quelle und Klang ein weder einfaches noch lineares Verhältnis. Natürlich gibt es interessantere, reichere, schönere Klänge, nur sind sie interessanter, reicher oder schöner weder allein wegen ihrer Quelle noch ihr zum Trotz. Wenn es nach mir ginge, könnte man auf das Wort Geräusch weitgehend verzichten, es eignet sich vielleicht noch um Lärmbelästigungen anzuzeigen. Akustisch, wie ästhetisch ist dieses Wort jedoch von falschen Ideen getränkt. Genauso wie das Wort timbre meiner Ansicht nach in den Musikwissenschaften nicht außerhalb des traditionellen, empirischen Sinns verwendet werden sollte, wo es die Menge von Eigenschaften eines instrumentalen Klanges bezeichnet, die uns erkennen lassen, dass er eher von einem bestimmten Instrument stammt als von einem anderen. Die musique concrète ist keine Geräuschmusik, noch ist sie ein Konkretismus. Sie impliziert weder eine Ästhetik, noch ein Kompositionssystem, sondern sie ist, genau wie das Kino, eine der Existenzformen musikalischer Kunstwerke.

Übersetzt von Christoph Haffter

Geräusch, Musik, Wissenschaft Eine Bestandsaufnahme D AHLIA B ORSCHE

Das Geräusch als Forschungsgegenstand der Musikwissenschaft Ein Blick in das Standardnachschlagewerk der deutschsprachigen Musikwissenschaft, Die Musik in Geschichte und Gegenwart, verrät viel über den Stellenwert des Geräuschs in der musikwissenschaftlichen Forschung: Ein eigener Artikel zu ›Geräusch‹ oder ›Geräuschmusik‹ ist nicht zu finden.1 In anderen Musiklexika werden dem Geräusch immerhin knappe Einträge gewidmet, die sich aber meistens auf Informationen aus der Akustik und nur spärliche ästhetische oder historische Verweise beschränken.2 Entsprechend gibt es nach meinem aktuellen Kenntnisstand kaum wissenschaftliche Arbeiten, die dieses The1

Vgl. die entsprechenden Bände der MGG2. Erwähnung findet das Thema Geräusch untergeordnet in den Artikeln »Dadaismus«, »Futurismus«, »Gehör«, »Instrumentation«, »Klangfarbe«, »Musikästhetik«, »phoné«, »Rundfunk und Fernsehen« sowie »Serielle Musik«.

2

Vgl. Art. »Geräusch«, in: Carl Dahlhaus/Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.), Brockhaus/Riemann Musiklexikon, 4. Auflage, Bd. 2, Mainz 1989 (1979), S. 113; G. Brelet, »Geräusch«, in: Metzler Musiklexikon, 2. Auflage, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2005, S. 214.

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ma systematisch aufarbeiten, obwohl die Etablierung von Geräuschen als musikalisches Material eine der wichtigsten Veränderungen der Musik im 20. Jahrhundert war. Zwei Ausnahmen stammen von Klaus Hübner und Paul Hegarty, die beide kenntnisreich Entwicklungen der Geräuschmusik im 20. Jahrhundert nachzeichnen.3 Interessanterweise wird das Thema ›Geräusch‹ in anderen Disziplinen fast häufiger aufgegriffen als in der Musikwissenschaft.4 Der Klassiker unter den Büchern zu Geräusch und Musik, stammt von dem französischen Wirtschaftswissenschaftler und Autor Jacques Attali.5 Der Literaturwissenschaftler Annibale Picicci schrieb den in Szenen der NoiseMusik viel beachteten Band Noise Culture, der die Musik allerdings nur untergeordnet behandelt.6 Die österreichische Wissenschaftlerin Maria Nicolini hat zwar auch Musik studiert, arbeitet aber hauptsächlich als Erziehungswissenschaftlerin, Ökologin und Sprachwissenschaftlerin. Von ihr stammt ein Artikel zu den Antipoden Lärm und Klang.7

3

Klaus Hübner, Lärm–Reise. Über musikalische Geräusche und geräuschvolle Musik, Augsburg 1992; Paul Hegarty, Noise/Music. A History, New York/London 2007; vgl. auch die entsprechenden Unterkapitel von Pascal Decroupet, »L’air du temps? Geräuschmusik in Darmstadt in den fünfziger und sechziger Jahren«, in: Rudolph Stephan (Hg.), Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Darmstadt 1996, S. 321–325; sowie Frank Hentschel, Die Wittener Tage für neue Kammermusik. Über Geschichte und Historiografie aktueller Musik, Stuttgart 2007, darin Kap. »Geräusch«, S. 200–215.

4

Auch Paul Hegarty ist kein Musikwissenschaftler, sondern Dozent für Phi-

5

Jacques Attali, Bruits: essai sur l’économie politique de la musique, Paris

6

Annibale Picicci, Noise Culture. Kultur und Ästhetik des Rauschens in der

losophie und Visuelle Kultur. 1977. Informationsgesellschaft (=Berliner Beiträge zur Amerikanistik, Bd. 10), Berlin 2001. 7

Maria Nicolini, »Lärm, Widersacher des Klanges«, in: Peter Maria Krakauer/Christoph Khittl/Monika Mittendorfer (Hg.), Der Diskurs des Mögli-

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Gänzlich ignoriert wurde das Thema ›Geräusch‹ allerdings auch in der Musikwissenschaft nicht. In den letzten Jahrzehnten sind immer wieder vereinzelte Artikel erschienen, deren Autorinnen und Autoren das Geräusch auf unterschiedliche Arten aufgegriffen haben; sei es, ausgehend von ästhetischen Strömungen wie dem Futurismus oder der musique concrète,8 mit spezifischer Blickrichtung auf sakrale Musik,9 oder aber unter Berücksichtigung einzelner Parameter, beispielsweise der Klangfarbe oder dem Abstraktionsgrad.10 Die Zeitschrift positionen widmete im Jahr 1992 ein Heft dem Thema ›Stille und Lärm‹ und eines dem Thema ›Jenseits von Klängen‹, die beide interessante Artikel über Geräusch und Musik enthalten.11 In Studien der Popmusikforschung ist das Geräusch ebenfalls vereinzelt ein Motiv, auch hier fehlt jedoch eine systematische Aufarbeitung. Meist werden spezifische popmusikalische Phänomene mit historischem12 oder sozialem13 Schwer-

chen: Musik zwischen Kunst, Wissenschaft, und Pädagogik, Anif/Salzburg 1999, S. 408–425. 8

Vgl. Beate Kutschke, »Geräuschkonzepte: Das Bedeutungsfeld des Geräuschs im Vorfeld des italienischen Futurismus«, in: Archiv für Musikwissenschaft 63 (2005), Heft 3, S. 241–255.

9

Vgl. Christoph Türcke, »Zurück zum Geräusch: Die sakrale Hypothek der Musik«, in: Le sacre: Musik–Ritus–Religiosität, Saarbrücken 2001, S. 71–84.

10 Vgl. Hans Heinz Stuckenschmidt, »Farben von Klängen und Geräuschen«, in: Tiefenstruktur der Musik (= Festschrift Fritz Winckel zum 75. Geburtstag am 20. Juni 1982), Berlin 1982, S. 99–118; Peter Wilson, »Geräusche in der Musik: Zwischen Illustration und Abstraktion«, in: Die Musikforschung 38 (1983), Heft 2, S. 108–13. 11 Vgl. Gisela Nauck (Hg.), positionen. Beiträge zur Neuen Musik (1992), H. 10 und 13, Verlag Mühlenbeck bei Berlin. 12 Vgl. Andrew Blake, »Making noise: Notes from the 1980s«, in: Popular music and society: Cartographies of sound, noise, and music at century’s end XXI (1997), Heft 3, S. 19–33; Wolfgang Sterneck, Der Kampf um die Träume. Musik und Gesellschaft: Von der Widerstandskultur zum Punk. Von der Geräuschmusik zum Techno, Hanau 1998.

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punkt verhandelt, die unter anderem mit Geräuschen zu tun haben. Als zentrales Thema werden Geräusche in der Musik nur selten gewählt, und diese wenigen Texte stammen alle aus dem 21. Jahrhundert, was darauf schließen lässt, dass das Forschungsinteresse in der jüngeren Zeit deutlich angestiegen ist.14 Auch bei Autorinnen und Autoren der historischen Musikwissenschaft geriet das Geräusch im letzten Jahrzehnt vermehrt ins Blickfeld, wie ansteigende Veröffentlichungszahlen belegen. Sie treffen damit den ›Ton‹ der Zeit (bzw. bestimmen ihn mit), denn auch außerhalb der Publikationstätigkeiten ist im beginnenden 21. Jahrhundert eine Art ›Geräusch-Zeitgeist‹ festzustellen.15 Diese Sensibilisierung für das Thema ist nicht nur im deutschsprachigen Raum zu beobachten16 und nicht nur in der Musikwissenschaft.17 Da-

13 Vgl. Paul R. Kohl, »Reading between the lines: Music and noise in hegemony and resistance«, in: Popular music and society: Cartographies of sound, noise, and music at century’s end XXI (1997), Heft 3, S. 3–17; Juan A. Suárez, Pop Modernsim. Noise and the Reinvention of the Everyday, Illinois 2007. 14 Vgl. Klaus Walter, »Kratzen, Knistern, Rauschen: Der kurze Weg vom Störgeräusch zum Ornament«, in: Pop-Sounds: Klangtexturen in der Popund Rockmusik. Basics–Stories–Tracks, Bielefeld 2003, S. 153–157; Simon Reynolds, »Noise«, in: Christoph Cox/Daniel Warner (Hg.), Audio culture: Readings in modern music, London 2004, S. 55–58; Linda Kouvaras, Linda, »Modernist and postmodernist arts of noise. II: From the Clifton Hill Mob to CMO’s Phobia«, in: Sound Scripts 1 (2006), S. 54–59. 15 Vgl. z.B. Gründung des Studienganges »Sound Studies« an der UdK in Berlin (1. Jahrgang 2006) und die dem Sammelband zugrunde liegende Jahrestagung des DVSM. 16 Vgl. die 2010 in Manchester abgehaltene Konferenz zum Thema ›noise‹. www.conferencealerts.com/show-event?id=ca1m888x%255D (eingesehen am 23.11.2012). 17 Vgl. die Tagung »Noise – Geräusch – Bruit: Medien und Kultur unstrukturierter Laute« an der Erlanger Germanistik im September 2012 https://

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rüber hinaus beteiligen sich auch nicht-akademische Autorinnen und Autoren, vor allem aus den Reihen des Popmusikjournalismus an dieser Entwicklung.18 Neben der oben angeführten Literatur findet sich einiges Material in nah verwandten Themenbereichen. Texte, die sich mit einzelnen Musikrichtungen beschäftigen, geben oft indirekt Aufschluss über die jeweilige Verwendung von Geräuschen.19 Neben Noise und Industrial sind auch andere Musikrichtungen und Stilelemente wie Scratching, Klangkunst oder der jamaikanische Dancehall Gegenstand von Artikeln, die Aufschluss über den Themenkomplex Geräusch geben können.20 In den letzten Jahren gab es außerdem zunehmend Publikationen zu experimenteller (elektronischer) Musik, die nicht am Geräusch vorbeikommen und zum Teil interessante Ansätze liefern.21 Entsprechend

blogs.fau.de/germanistik/2012/07/30/fachkonferenz-noisegerausch-bruitmedien-und-kultur-unstrukturierter-laute (eingesehen am 27.02.2014). 18 Vgl. die Kolumne von Kai Ginkel 2007–2009 in der Musikzeitschrift Spex zum Thema »Geräuschmusik«. 19 Vgl. zu Industrial u.a.: S. Alexander Reed, Assimilate. A critical history of industrial music, Oxford 2013; V. Vale/A. Juno (Hg.), Industrial Culture Handbook, Re/Search, Bd. 6/7, 5. Auflage, San Francisco 1988 (1983); zu Noise u.a.: David Nowak, Japanoise, Duke 2013; Mattin/Anthony Iles (Hg.), Noise and Capitalism, Donostia-San Sébastian 2009 sowie www.arte leku.net/noise_capitalism/?page_id=426 (eingesehen am 27.02.2014). 20 Vgl. u.a. Friedrich Neumann, »Soundscapes: Klangexperimente mit Livemusik. Scratching, Beat-Boxing und Geräusch-Samples«, in: klasse musik 1 (2002), Heft 2, S. 36–41; Brandon LaBelle, Acoustic Territories. Sound Culture and Everyday Life, New York/London 2010; Salomé Voegelin, Listening to Noise and Silence. Towards a Philosophy of Sound Art, New York/London 2010. 21 Vgl. Dominik Paß, »Elektronische Musik als Medium der Entortung: Heteroästhesie durch Klang und Geräusch«, in: Karl Heinrich Ehrenforth (Hg.), Musik. Unsere Welt als andere: Phänomenologie und Musikpädagogik im Gespräch, Würzburg 2001, S. 221–231; Joanna Demers, Listening through

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zu Studien über einzelne Genres finden sich Studien über einzelne Komponistinnen und Komponisten, deren Arbeit mit Geräuschen thematisiert wird. So haben sich beispielsweise mehrere Musikforschende mit der spezifischen Komponente der Geräuschintegration im Schaffen von Helmut Lachenmann beschäftigt.22 Ebenso aufschlussreich wie Texte über Geräuschmusikarbeiten einzelner Vertreter können Texte dieser Kunstschaffenden selber sein, in denen sie über Geräusche in der Musik und ihren eigenen Zugang dazu reflektieren.23 Fündig wird man auch bei den angrenzenden Begriffen ›sound‹ oder ›Klang‹, die Thema verschiedener (pop-)musikwissenschaftlicher Auseinandersetzungen sind.24 Der hauptsächlich in den 1970er und 1980er Jahren aktiv geführte Diskurs um den Begriff des ›musikalischen Materials‹ in

the noise. The aesthetics of experimental electronic music, Oxford 2010; Thomas Bey/William Bailey, MicroBionic. radical electronic music & sound art in the 21st century, 2. revidierte Auflage, [o.O.] 2012. 22 Vgl. Frank Hilberg »Probleme eines Komponierens mit Geräuschen: Aspekte der Materialbehandlung bei Helmut Lachenmann«, in: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung 8 (1995), S. 25–30; Christoph Metzger/Roland Pfrengle, »Musik als Geräusch: Christoph Metzger und Roland Pfrengle im Gespräch mit Friedrich Goldmann, Helmut Lachenmann und Gottfried Michael Koenig«, in: Musik im Dialog: Jahrbuch der Berliner Gesellschaft für Neue Musik (1998), S. 49–65; Jörn Peter Hiekel, »Positionen der Ästhetik: Lachenmann, Rihm, Ligeti. I: 13 Beobachtungen zur Musik Helmut Lachenmanns«, in: Österreichische Musikzeitschrift 63 (2008), Hefte 8 und 9, S. 19–25. 23 Vgl. Karlheinz Stockhausen, Texte zur Musik, Köln 1972; Yasunao Tone, Noise. Media. Language, Errant Bodies, Berlin 2007. 24 Vgl. exemplarisch David Toop, ocean of sound. aether talk, ambient sound and imaginary worlds, Serpent’s Tail, London 1996; Martin Büsser/Jochen Kleinhenz/Johannes Ullmaier (Hg.), Testcard – Beiträge zur Popgeschichte. Themenschwerpunkt Sound, Oppenheim 1996 (Nr. 3); Mark Prendergast, The Ambient Century. From Mahler to Moby – the evolution of sound in the electronic age, London/New York, Sydney/Delhi 2003.

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Szenen der neuen Musik liefert weitere Beiträge, da vor allem die Emanzipation des Geräuschs diese Diskussionen befeuert hat.25 Und nicht zuletzt ist auch das Geräusch-Spezifikum ›(weißes) Rauschen‹ ein wiederkehrendes Motiv wissenschaftlicher Arbeiten.26 Trotz der genannten Einzelfallstudien verschiedener Disziplinen über einige Teilaspekte von Geräusch/Musik und benachbarte Themenfelder sowie trotz des in jüngster Zeit gestiegenen Forschungsinteresses am Thema Geräusch hat eine wissenschaftliche Aufarbeitung gerade erst begonnen. Eine systematische Herangehensweise erscheint mir daher nicht nur lohnenswert, sondern auch notwendig. Das Geräusch Das relativ neue Forschungsinteresse korrespondiert mit dem vergleichsweise jungen Phänomen: Das Geräusch hat in der Musik der westeuropäischen Kultur über viele Jahrhunderte keinen Stellenwert gehabt, im Gegenteil, es wurde eher als das Negativ von Musik verstanden. Der Grund dafür, dass in unserer westlichen Welt keine Geräusche verwendet werden durften, liegt in der Entwicklung der Polyphonie. Denn Polyphonie kann man nur harmonisch kontrollieren bei exakt meßbaren Intervallen und Akkorden. Um Intervalle genau hören zu können, braucht man Töne mit perio-

25 Vgl. Gisela Gronemeyer, »›...jeder Klang kann musikalisches Material sein‹. Zur Wahrnehmung des Geräuschs«, in: MusikTexte 23 (1988), S. 44– 48; Frank Hilberg, »Geräusche: Wider die Geringschätzung eines kompositorischen Materials«, in: Positionen: Beiträge zur Neuen Musik 10 (1992), S. 36–39. 26 Vgl. Christian Scheib/Sabine Sanio (Hg.), das rauschen, Hofheim 1995; Picicci, Noise culture (Anm. 6); Agostino DiScipio, »Der Komponist als Rauschgenerator«, in: 20 Jahre Inventionen: Berliner Festival Neuer Musik, 26. Juni–7. Juli 2002, S. 36–49.

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dischen Schwingungen; man kann also keine Geräusche gebrauchen. Geräusche 27

sind nur approximativ in ihren Tonhöhen definierbar.

Mit dieser Aussage trifft Karlheinz Stockhausen zwei grundlegende Feststellungen zum Geräusch. Zum einen markiert der Beginn von Geräuschkompositionen am Anfang des letzten Jahrhunderts das Ende des bis dahin in der westeuropäischen Kunstmusiktradition üblichen Tonsystems. Die Aufnahme von Geräuschen in das Repertoire musikalischen Materials ist mit dem tonalen System nicht mehr kompatibel. Zum anderen gibt Stockhausen eine noch heute gültige Definition des Geräuschs; nämlich, ein Sammelbegriff für alle Klänge zu sein, die keiner eindeutigen Tonhöhe zuzuordnen sind.28 Ursache für ein Geräusch sind demnach Schwingungsvorgänge, die nicht periodisch verlaufen und sich in ihrer Struktur ändern können.29 Zur näheren Beschreibung eines Geräuschs spielen u.a. der zeitliche Verlauf, die Tonalität (bzw. das Spektrum) und seine Klangquelle eine Rolle. In Verfahren der technischen Geräuschprüfung werden anhand des zeitlichen Verlaufs stationäre (beispielsweise rauschender Regen) und instationäre Geräusche (aufheulender Motor, Hundegebell) unterschieden.30 Das

27 Stockhausen, Texte zur Musik (Anm. 23), S. 392. 28 Vgl. u.a. Brelet, »Geräusch« (s. Anm. 2). 29 Das ist auch die gängige Geräusch-Definition der Akustik, vgl. z.B. Johannes Barkowsky, Einführung in die musikalische Akustik (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft), Bd. 157, Wilhelmshaven 2009, S. 57: »Wenn das Signal keine erkennbare Tonhöhe hat, nennt man es Geräusch. Es ist nicht periodisch und natürlich auch nicht sinusförmig.« 30 Diese Verfahren werden u.a. in der Automobilindustrie, aber auch in der Medizin- oder Werkzeugtechnik sowie in der Entwicklung von Audioanlagen angewendet. Vgl. www.rte.de/de/Pruefaufgaben/Geraeuschpruefung.php (eingesehen am 27.02.2014); www.mbdynamics.de/produkte/bsr%20sound %20quality.html (eingesehen am 27.02.2014); www.ziegler-instruments.eu/ de/aktuelles/6-internationales-stoergeraeuschforum.html (eingesehen am 27. 02.2014).

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Spektrum eines Geräuschs beschreibt, welche Frequenzanteile im Geräusch enthalten sind. Hier lassen sich tonale und breitbandige Geräusche unterscheiden. Bei tonalen Geräuschen dominiert eine Frequenz (z.B. Kesselpfeifen), bei anderen dominiert ein Frequenzbereich bzw. eine erkennbare Klangfarbe (z.B. Zischen einer Schlange oder Donnergrollen). Die Tatsache, dass es nicht nur Geräusche mit einem tonalen Schwerpunkt, sondern andersherum Außer dem Sinuston auch keinen Ton ohne Geräuschanteil gibt, macht eine klare Trennung zwischen Geräusch und Ton unmöglich, der Übergang bleibt letztlich fließend. Jedes Instrument erhält erst durch den Einschwingvorgang und das Teiltonspektrum seinen spezifischen Klangcharakter, durch den es von anderen Instrumenten unterschieden werden kann. Zusätzlich erzeugen die meisten Instrumente einen Rauschuntergrund (z.B. durch den Bogen bei Streichinstrumenten oder das Anblasen bei Holzblasinstrumenten), der wesentlich mitentscheidend für das Klangbild ist.31 In diesem Sinn ist auch folgende Definition zu verstehen, die Gisela Gronemeyer aus einer Podiumsdiskussion von 1987 zwischen Rudolf Frisius, Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn, Frederic Rzewski und Dieter Schnebel transkribiert hat: [...] ich stelle es mir so vor, wenn man die möglichen Klänge auf einer Skala anordnet, und zwar einer Skala, die von Sinustönen bis zum weißen Rauschen geht, der Sinuston als reine Tonhöhe ohne Spektrum und weißes Rauschen als das extreme Geräusch, das alle Frequenzen statistisch umfasst, [...] dann wären Geräusche in der oberen Hälfte dieser Skala anzuordnen, also all die Phänomene, die vom Sinuston weiter entfernt sind als vom weißen Rauschen. Das wäre 32

also mal so vorläufig eine operationelle Definition des Geräuschs.

31 Vgl. Jürgen Meyer, »Die Geräuschanteile«, in: Akustik und musikalische Aufführungspraxis, 4. überarbeitete Auflage, Frankfurt a. M. 1999, Kap. 2.2.6., S. 35f. 32 Podiumsgespräch am 18.11.1987 in Bonn, zitiert nach Gronemeyer, »›... jeder Klang kann musikalisches Material sein‹« (Anm. 25).

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Auch wenn dieses Bild der Klangskala überzeugend ist, bleibt die Definition nur vorläufig wirksam, weil sie die subjektive Wahrnehmung außer Acht lässt. Was als Geräusch definiert wird, hängt oft vom Fokus des Hörers oder der Hörerin ab. Am deutlichsten wird diese Subjektivität beim Störgeräusch. Der negative Beigeschmack, der bis heute beim Begriff Geräusch mitschwingt, stammt aus der Zeit, in der das tonale System noch die dominierende Grundlage der Komposition war. Schon Wilhelm Busch wusste: »Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden.«33 Nicht jedes Geräusch ist ein Störgeräusch (und nicht jede klangliche Störung bzw. Irritation ist ein Geräusch34), aber als störend empfundene Geräusche wie Lärm sind eine generell negativ konnotierte Erscheinung. Alles am Störgeräusch ist negativ, es definiert sich quasi über seine Negativität: Es ist ungewollt, unerwünscht, unabwendbar, passiert, ohne dass man sich wehren kann (außer durch einen Ortswechsel). Es ist keine Musik, kein Klang, keine Nachricht, hat keine Bedeutung. Im schlimmsten Fall ist es sogar körperlich und psychisch verletzend, wobei die Störung meist parallel zur Tonhöhe und Intensität ansteigt. Was genau aber als Lärm oder Störgeräusch empfunden wird, ist dabei so sehr kulturell geprägt, dass man es nicht an bestimmten Frequenzen und Amplituden festmachen kann. Die Definition von Lärm/Störgeräusch hängt von der Wahrnehmung ab, der direkten sensuellen einerseits und von den ›Voreinstellungen‹ der Wahrnehmung andererseits, die wiederum von geographischen, kulturellen und historischen Faktoren beeinflusst werden. Während z.B. im Englischen wie im Deutschen noch eine Unterscheidung zwischen Geräusch und Lärm gemacht wird und durchaus ein Bewusstsein für Lärmstörungen besteht,35 gibt es in anderen Kulturen wie beispielsweise in Nepal weder ein Wort noch eine Empfindung für Beläs-

33 Wilhelm Busch, »Der Maulwurf«, in: Und die Moral von der Geschicht’ (= Sämtliche Werke, Bd. 1), München 1982, S. 729. 34 Vgl. Hentschel, Die Wittener Tage für neue Kammermusik. (Anm. 3), S. 200. 35 ›Noise‹ bedeutet Lärm, die Mehrzahl ›noises‹ meint hingegen Geräusche.

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tigungen durch Lärm, Geräusche oder Musik.36 »Noise is cultural«, heißt es daher auch ganz am Anfang von Paul Hegartys Buch Noise/ Music, dem ersten umfassenden historischen Überblick über Geräuschmusik im 20. Jahrhundert.37 »Noise ist politisch«, könnte man wiederum Jacques Attalis Buch Noise: The Political Economy of Music aus dem Jahr 1977 zusammenfassen, der in der negativen Stigmatisierung bestimmter Geräusche einen Spiegel der Gesellschaftsordnung sieht.38 Genauso kulturell geprägt wie die Definition von (Stör-)Geräusch ist die Vorstellung von dessen positiver Kehrseite, der Musik. Albrecht Riethmüller geht in seinem Artikel Stationen des Begriffs Musik in mehreren Schritten zurück bis in die Antike und zeigt den Musikbegriff der europäischen Musikgeschichte dabei in sehr unterschiedlichen Gestalten. »In einer gewissermaßen geschichtlichen Invarianz findet die Frage, was Musik sei, ihre Antwort darin, was Musik nicht sei«39, schreibt er dort und weist damit ausdrücklich auf die Bedeutung der Umkehrung von Musik für die Definition von Musik hin. Beobachtungen an der Grenze zwischen Musik und Geräusch bzw. der Verarbeitung von Geräuschen in Musik lassen deshalb direkte Rückschlüsse über den jeweiligen Musikbegriff zu. Diese Grenze wird seit Beginn des letzten Jahrhunderts nicht nur sehr facettenreich umspielt und übertreten, Überschreitungen dieser Art hatten außerdem massive Auswirkungen auf die Kompositionsgeschichte und unsere Musikauffassung.

36 Ich danke an dieser Stelle Prof. Gert-Matthias Wegner (FU Berlin) für den Hinweis. 37 Hegarty, Noise/Music. A History (Anm. 3). 38 Vgl. Attali, Bruits (Anm. 5). 39 Albrecht Riethmüller, »Stationen des Begriffs Musik«, in: Frieder Zaminer (Hg.), Ideen zu einer Geschichte der Musiktheorie (= Geschichte der Musiktheorie 1), Darmstadt 1985, S. 61.

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Geräusch/Musik Der Ursprung der Entwicklung, in deren Verlauf Geräusche mehr und mehr als musikalisches Material genutzt werden, wird gemeinhin im italienischen Futurismus lokalisiert, im Besonderen natürlich in Luigi Russolos Manifest L’Arte dei Rumori aus dem Jahr 1913.40 Neben den Futuristen waren es zu Beginn des 20. Jahrhunderts beispielsweise Ferruccio Busoni oder Edgar Varèse, die die »Befreiung des Klangs« anstrebten.41 Das Geräusch als frei gestaltbare musikalische Größe wurde nach instrumentalen Versuchen des Futurismus und Klangfarbenexperimenten von Edgar Varèse vor allem durch die technischen Mittel der elektronischen Musik komponierbar. Sie erst gestatteten eine exakte Festsetzung aller parametrischen Elemente von Geräuschen wie Geräuschhöhe, -dichte, -breite, oder -intensität und machten es damit möglich, die hohen Verschmelzungseigenschaften der Geräusche bewusst zu verwerten. Einer der Pioniere auf dem Weg dorthin war Pierre Schaeffer, der für seine Konzeption von Musik später den Namen musique concrète vorschlug.42 Wenig später trieb John Cage mit seiner Arbeit die Entwicklungen der Geräuschmusik auf einen frühen Höhepunkt. Seine Überlegungen, die er hauptsächlich in seinem Buch Silence43 niedergeschrieben und in Werken wie 4’33’’ umgesetzt hat, legalisierten von nun an jedes

40 Vgl. Luigi Russolo, Die Kunst der Geräusche (1916), Mainz 2000/2005. 41 Vgl. Edgar Varèse, »Die Befreiung des Klangs«, in: Heinz-Klaus Metzger/ Rainer Riehn (Hg.), Edgar Varèse. Rückblick in die Zukunft (= MusikKonzepte, Bd. 6), München 1983, S. 11ff.; Helga de la Motte-Haber (Hg.), Edgard Varèse: Die Befreiung des Klangs (Edgard Varèse Symposion, Hamburg 1991), Hofheim 1992; Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907), kommentierte Neuausgabe hg. von Martina Weindel, Wilhelmshaven 2011. 42 Pierre Schaeffer, Musique concrète. Von den Pariser Anfängen 1948 bis zur Elektroakustischen Musik heute, dt. Übersetzung Josef Häusler, überarbeitet von Michel Chion, Stuttgart 1974. 43 John Cage, Silence. Lectures and Writings (1961), London 2006.

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Geräusch als musikalisch verwendbar und inspirierten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Musikerinnen und Musikern aus den unterschiedlichsten Bereichen, sich neues Klangmaterial zu erschließen. Ob im Turntablism, Industrial oder in der elektronischen Musik, in Kompositionen neuer Musik, im Free Jazz oder der Improvisation, ob in Klangkunst, Radiokunst oder Filmmusik, das Geräusch hielt Einzug in eine Vielzahl von Musikrichtungen und wurde nicht selten zu deren Hauptbestandteil. Entsprechend geschah (und geschieht noch) die Geräuschgenerierung und seine Integration auf sehr verschiedenartige Weise. Eine lange Tradition hat beispielsweise der ›Missbrauch‹ bzw. die kreative Zweckentfremdung von Klangerzeugern aller Art. Auch die Umcodierung der Neben- bzw. Störgeräusche dieser Geräte zu musikalischem Material ist schon lange ein beliebtes Stilmittel. Die Metamorphose von störendem Krach zu anerkanntem Klang verlief schnell, der Kreislauf fand in einer Musikergeneration meist mehrmals statt.44 Galt beispielsweise ein verzerrter E-Gitarren-Sound anfangs als unsauber, wurde er kurz darauf zum Wiedererkennungsmerkmal einzelner Musiker (vgl. Jimi Hendrix oder Frank Zappa) und ganzer Genres (Rock, Krautrock, Psychedelic etc.).45 Die Industrie wiederum brauchte nicht lange, um der Nachfrage nach entsprechenden Effektgeräten, die diese zum Klangideal avancierten Störgeräusche nachbilden konnten, gerecht zu werden. Nicht nur Instrumente, sondern auch Abspielgeräte wie Plattenspieler (vgl. Turntablism, z.B. Christian Marclay), CD-Player (z.B. Yasunao Tone), Game-Boys (z.B. Patric Catani) und später Geräte wie Mischpulte (vgl. No-Input-Music) wurden ihrem ursprünglichen Zweck zum Trotz für Geräuscherzeugung und Geräuschmusikproduktion genutzt. Spätestens seit John Cage (vgl. u.a. Water Music, 1952) hat außerdem die Verwendung von Alltagsgegenständen in der Musik einen gewissen Grad an Selbstverständlichkeit erreicht. Die Ästhetik des Industrial beispielsweise stützt sich zu einem

44 Vgl. Walter, »Kratzen, Knistern, Rauschen« (Anm. 14). 45 Vgl. Martin Büsser, »The Art of Noise – The Noise oft Art«, in: Büsser/Kleinhenz/Ullmaier (Hg.), testcard #3: Sound (Anm. 24), S. 6–19.

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großen Teil auf den krachigen Klang von Schrott und Stahl, Abfallprodukten des Spätkapitalismus (vgl. u.a. Einstürzende Neubauten). Seit den 1990er Jahren und dem Aufkommen der neuen elektronischen Musik ergießt sich eine regelrechte Soundflut über uns, die in der Unendlichkeit des weißen Rauschens, des Geräusches mit der größten Dichte und Ausdehnung, mündet.46 Das weiße Rauschen als Metapher für die Überfülle der Informationsgesellschaft ist auch in anderen Kunstrichtungen ein beliebtes ästhetisches Konzept.47 In der Musik wird es am offensivsten im Noise um- und eingesetzt. Das Extreme des Noise übersteigt die Vorstellung, es könnte im Zusammenhang von Musik und Geräusch jemals noch mehr Geräusch geben. Noise ist eine der Spitzen einer Entwicklung, die es abwegig erscheinen lässt, Geräusch als das Gegenstück von Musik zu bezeichnen. Seit die elektroakustische Musik durch die gezielte Komponierbarkeit von Tongemischen die Gegensätzlichkeit von Klängen und Geräuschen aufzuheben begann und kontinuierliche Übergänge schuf, hat auch in der Instrumentalmusik der Gebrauch von Geräuschfarben vielerorts eine Art Gleichberechtigung, manchmal geradezu einer neuartigen ›Harmonie‹, erreicht. Deshalb sind wir heute vielleicht nicht am Ende einer Entwicklung, sondern mit der Emanzipation des Geräuschs am Anfang einer neuen Musikauffassung.48 Fest steht jedenfalls, dass das Geräusch im 21. Jahrhundert als anerkanntes musikalisches Material zählt. Die Frage nach Musik oder Un-Musik, die bei Geräuschmusik vor einiger Zeit noch heftig diskutiert wurde, wird nicht mehr so sehr danach entschieden, ob Geräusche überhaupt Musik sein können, sondern eher nach Art der Verarbeitung der Geräusche, also der Form ihrer Organisation.49

46 Vgl. Scheib/Sanio, das rauschen (Anm. 26). 47 Vgl. Picicci, Noise Culture (Anm. 6). 48 Vgl. Rudolf Frisius, www.frisius.de/rudolf/texte/tx551.htm (eingesehen am 27.02.2014). 49 Vgl. Varèse, »Die Befreiung des Klangs« (Anm. 41), S. 23 (»organisierte Klänge«) sowie Cage, Silence (Anm. 43), S. 3 (»organization of sound«); vgl. dazu auch Stockhausen, Texte zur Musik (Anm. 23), S. 393f.

Der moderne Kult des Klangs Genealogie eines diskursiven Feedbacks T HIBAULT W ALTER

Aurale Genealogie Das Aurale bezeichnet alles, was den Klang und seine Wahrnehmung in physischer wie psychologischer Hinsicht betrifft. Die Praktiken des Auralen, ob in kritischem Verhältnis zur musikalischen Praxis oder nicht, scheinen sich in letzter Zeit zu vervielfältigen. So werden diese Praktiken auch in Schulen, Konservatorien und Akademien immer mehr befragt und eingeübt. In Anlehnung an Bruno Latour1 ließe sich der moderne Kult des Klangs als jene komplexe Konfiguration interdependenter Relationen bezeichnen, durch welche Kunst- und Wissenspraktiken sich wechselseitig konstituieren.

1

Bruno Latour, Petite réflexion sur le culte moderne des dieux faitiches, Paris 1996, S. 42–43.

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Abb. 1: Konzertimpressionen aus Glasgow – Mur de Bruits von Romain Perrot alias VOMIR (2011)

Folgende Aspekte möchte ich in diesem Zusammenhang befragen: Wie bilden diese verschiedenen Praktiken zusammen eine Genealogie des Hörens, die sich etwa von Luigi Russolos Manifest der Kunst der Geräusche2 bis hin zum Konzert Mur de Bruit von Romain Perrot alias VOMIR3 erstrecken würde? Wie konstruieren diese Praktiken eine Art von Mythologie? Und was wird in diesen Praktiken unter dem Begriff des Geräusches verstanden, wie denken sie den Klang? Ich möchte hier eine Modellierung dieser Fragestellung vorschlagen, die nicht mehr als eine Hypothese sein soll. Dieses Modell stellt eine provokative Abstraktion von der reellen Vielfalt der musikalischen Entwicklungen dar, eine Abstraktion, mit der ich jedoch eine Debatte auslösen möchte. Dieses Modell soll dabei nicht als statisches, sondern als bewegliches verstanden werden. 2

Luigi Russolo, L’Art des bruits, Manifeste futuriste (1913), Paris 2006.

3

Vomir, »Paulina Semilionova irait à l’équarissage«, in: Application à Aphistemi, MaisonBruit, 2011.

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Genauer gesagt handelt es sich bei meinem Vorschlag um zwei distinkte und zugleich voneinander abhängige Bewegungen. Die erste Bewegung, die ich Naturalisierung nennen werde, soll nachzeichnen, wie die Künstler den Klang verwenden, um die musikalische Praxis mit all ihren Voraussetzungen, ihren Produktionsverhältnissen, ihrer Idol-Fabrikation und ihrem Konsum in Frage zu stellen. Die zweite Bewegung, die Historisierung, soll dagegen jene Geschichte des Klangs aufzeigen, die in diesen kritischen Ritualen implizit gebildet wird, jene Geschichte, welche die experimentellen Musiken mit ihrem Kult um den Fetisch Klang selbst schreiben. Kurz gesagt, ich möchte selbst eine kleine Geschichte des zum Götzen erhobenen Klanges vorschlagen. Diese Geschichte ist Effekt einer Rückkopplung, eines Feedbacks, das sich zwischen den zwei Bewegungen der Naturalisierung und Historisierung einstellt. Die Beispiele, die ich in diesem sehr abgekürzten Überblick heranziehen möchte, um mein Modell zu veranschaulichen, sind Gegenstand einer noch unabgeschlossenen Forschung. Sie entstammen meinen professionellen Erfahrungen4 wie empirischen Forschungen.5 Die erste Bewegung (n) Die erste Bewegung ist jene der Naturalisierung. Sie steht hier für jene unterschiedlichen künstlerischen Praktiken, in denen Künstler die verschiedenen Klänge bis ins kleinste Detail aushorchen und dabei einen religiösen Ernst ausstrahlen wie jene, die sich auf die Suche nach göttlichen Zeichen machen; allein mit dem Unterschied, dass die hier untersuchten akustischen Phänomene vielmehr zeigen, dass es nichts

4

Als Intendant des Lausanne Underground Film & Music Festival (www.luff.ch), sowie als Mitherausgeber der Association Rip on/off (www.riponoff.ch).

5

Vgl. Thibault Walter, Critique des dispositifs culturel et théologiques du son, du silence et du bruit: John Cage, R. Murray Schafer, Zbigniew Karkowski. Université de Lausanne 2012 (unv. Ms.).

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gibt, was jenseits der Natur zu finden wäre. Fangen wir direkt mit einem Beispiel an: Der Film Decoder6 von Klaus Maeck, der auf den Schriften von William Burroughs, insbesondere dem Text Electronic Revolution basiert.7 Der Film zeigt den klanglichen Dekor einer modernen kapitalistischen Gesellschaft, in der die Moderne, anders als es oft behauptet wird, nicht allein vom Visuellen beherrscht wird. In dieser Gesellschaft, im Hamburg der 80er Jahre, gibt das Hören den Ton an. Das Verhältnis von Musik und Klang bildet das Schlachtfeld eines ›Burger-Kriegs‹: Endlos reproduzierbare Musik wird von Unternehmen, wie etwa Fast-Food-Ketten, als Hintergrundbeschallung (Muzak) verwendet, um die Kauflust der Konsumenten zu stimulieren. Dagegen wehrt sich ein Künstler-Aktivist mit gewaltsamen, geräuschhaften Klängen, die er ebenfalls vom Band abspielt und so die Berieselung sabotiert, die Verführungskraft der Hintergrundmusik über die Konsumenten bricht. Er reißt die Manipulierten aus ihrer Betäubung und erweckt das Bewusstsein ihrer auditiven und gustativen Vermögen wieder. Musik wird hier also mit einer passiven Hörweise assoziiert, sie ist Instrument der Massenmanipulation und wird somit als Lüge, als Mittel der Mystifizierung entlarvt. Der Klang, das Geräusch wird hingegen mit dem Nicht-Vorgeformten assoziiert, mit einer aktiven Hörweise, einer Transformation, einer Bewusstwerdung oder Entcodierung, kurz mit einer Demystifikation. Jenseits dieses binären Schemas zeigt der Film auch die Produktion dieser demystifizierenden Klänge im Studio: Das Schreien einer sterbenden Kröte wird mit Hilfe von Effektgeräten transformiert, die Klangquelle wird unkenntlich gemacht und gerät zu einem Ereignis revolutionären Potenzials. Eine andere Praxis musikalischer Abstraktion, diesmal ganz in Ruhe und Frieden, betreibt der Genfer Künstler Laurent Peter alias d’incise. In einem Radiointerview beschreibt er seine eigene Praxis in den folgenden Worten:

6

Klaus Maeck, Decoder (1984), 84 min, DVD, Berlin 2010.

7

William S. Burroughs, Die elektronische Revolution, Göttingen 1971.

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Um keine komplizierten technischen Ausdrücke zu verwenden; ich mache eine Musik der Klänge, das heißt ich interessiere mich für die Klänge selbst und ihre 8

Eigenheiten, ihre Form, ihre Dauer, Materie, Textur.

Laurent Peter vermeidet die Sprache der westlichen Musiktradition, er spricht nicht von Tonalität, Harmonie, Akkorden etc., sondern gibt seiner Rede den Anschein, von musikalischen Problemen entlastet zu sein. Seine Sprache ist scheinbar neutraler, wissenschaftlicher, objektiver. Er stellt den Klang ins Zentrum seiner Arbeit, mit höchster Aufmerksamkeit auf die hörbaren Phänomene, er nimmt die Klangqualitäten unter die Lupe, ohne ihnen eine Funktion oder Bedeutung zuzuweisen. Mit dieser Geste selbst verstärkt er die Klangobjekte und verleiht diesen scheinbar wertlosen Phänomenen einen Wert, wie es einer seiner Werktitel anzeigt: Amplification of a number of points supposedly worthless.9 Der Künstler Francisco Meirino ist ähnlich wie d’incise auf der Suche nach unbeachteten Klängen; mit einer Vorliebe für jene, die man nicht hören will oder hören kann. Meirino und d’incise verwenden beide Kontaktmikrofone, welche die Vibrationen von Festkörpern über die direkte Berührung in Klänge verwandeln – im Unterschied zu einem herkömmlichen Mikrofon, das auf Luftdruckveränderungen reagiert. Es geht nicht mehr darum, ein Instrument spielen zu können, denn die Dinge vibrieren, ja sie spielen bereits von selbst. Die künstlerische Geste besteht alleine darin, irgendwo ein Mikrofon zu platzieren. Sie drückt das Verlangen aus, unerhörte Klänge hörbar zu machen, dem Innern der Dinge, der Körper, der Steine zuzuhören.

8

Laurent Peter, »LUFF does Tokyo«, Radiosendung Dare–dare von Yves Bron und Laurence Froidevaux, Espace 2, Radio Télévision Suisse (RTS), gesendet am 24.04.2012.

9

D’Incise, Amplification of a number of points supposedly worthless, Prairie, obs*e/MIF 038, 2012.

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Abb. 2: Keine Grabesruhe: Francisco Meirino, Sans titre, ehemaliger Friedhof der Sallaz, Lausanne 2011.

Die Fotografie zeigt eine der Grenzen solcher Klangsuche: Die Vibrationen des Verkehrslärms zu erfassen, der U-Bahn etwa, die jenen Hügel durchquert, auf dem sich der Friedhof befindet. Aber weshalb diese Geste, das Kontaktmikrofon gerade auf den Grabstein zu platzieren und nicht woanders, daneben oder auf die Friedhofsmauer? Es ist ein Spiel mit jener Dichotomie, welche alle Repräsentation in der Moderne organisiert: Zwischen dem Materiellen – alles vibriert an der Oberfläche der Erdkugel – und dem Immateriellen – die Gedanken an den Tod, das Nach-Leben der Seele. Der Künstler befindet sich in einer

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ambivalenten Haltung: Seine Geste ist zugleich ein Scherz und ein Versuch, mit dem Tod und dem Toten in Kontakt zu treten. Andere Künstler stellen Dispositive her, die noch konsequenter in den Klang einzudringen versuchen. La Monte Young etwa, der selbst vom »getting inside a sound« sprach und der zusammen mit Marian Zazeela in ihrem gemeinsamen Loft in New York, und später 2012 in Lyon, mit riesigen Lautsprechern zwei kontinuierlich gehaltene Frequenzen in einen Raum ausstrahlte, der in Magenta rotes Licht getränkt und bequem mit Teppichen ausstaffiert war. Jede Ortsveränderung bietet in einem solchen Raum die Gelegenheit zu außergewöhnlichen Sinneseindrücken: If, however, we go to the sounds as they exist and try to experience them for what they are – that is, a different kind of existence – then we may be able to learn something new.10

Für La Monte Young besitzen die Klänge selbst im wörtlichen Sinne eine Existenz. Und für seine Hörer werden diese Klänge zum Ort der Erfahrung einer anderen Dimension, einer anderen Art der Existenz. Man könnte noch viele Beispiele anführen, die Werke von Pauline Oliveros11 etwa mit ihrem Tiefenhören, dem deep listening, das in einem transdisziplinären Institut entwickelt wurde; oder von Phill Nibrock, der sich für Obertonaktivitäten interessiert, die erst bei sehr großer Lautstärke hörbar werden,12; oder auch die Arbeiten von Zbigniew Karkowski, der sich nicht zu behaupten scheut: »[…] il n’y a rien d’autre que le son«13, es gibt nichts außer Klang.

10 La Monte Young, »Lecture 1960«, in: The Tulane Drama Review 10 (1965), Heft 2, S. 73–83. 11 http://deeplistening.org 12 Phill Niblock, »Interview avec Bob Gilmore & Guy de Bièvre«, in: Yvan Etienne (Hg.), Phill Niblock, Working Title, Dijon 2013, S. 19f. 13 Zbigniew Karkowski, »Une méthode scientifique, un objectif magique«, in: Indermuhle/Walter (Hg.), Physiques sonores, Paris 2008, S. 23.

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Abb. 3:

Der Verschiedenheit ihrer Vorgehensweisen, Dispositive, Haltungen und Netzwerke zum Trotz bilden diese Künstler eine Interessengemeinschaft für den Klang an sich. Für d’incise besitzen die Klänge eine Form, eine Materie. Für La Monte Young haben sie eine eigene Existenz. Alle verwenden sie ein Vokabular nahe der Akustik, vermeiden das Werturteil zwischen Musik und Geräusch und verhalten sich der musikalischen Tradition gegenüber neutral. Somit ließe sich ihre Herangehensweise auf jenen gemeinsamen Nenner bringen: es gibt in Klängen nichts Übersinnliches. Der Prozess der Abstraktion, den ich vorhin erwähnte, erscheint ihnen allen inadäquat. Dieser Kult um die Existenz der Klänge stellt eine Weise dar, den Abstraktionen zu widerstehen, welche die Kulturen, die Sprachen, die Musik, kurz alle Vermittlungen bedeuten, die sich vom natürlichen Werden der Welt, d.h. von den Klängen entfernen. Die zweite Bewegung (O) Die zweite Bewegung ist jene der Historisierung. Sie besteht darin, ideologische Konstrukte und die Frage ihrer Produktion zu kontextualisieren. Der Historiker Douglas Kahn hat eine erste Geschichte des Klanges unter dem Blickwinkel der Geschichte der Avantgarden vorgelegt. Er war Bewunderer und Experte des Werkes von John Cage. Als dieser im Jahr 1992 starb, veröffentlichte Kahn zusammen mit Gregory Whitehead einen Sammelband, der in der Geschichte der Klangkonzeptionen, aber auch des Imaginären und Utopischen des Klanges Pio-

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nierstatus besitzt: Wireless Imagination.14 In der Einleitung staunt Kahn über die ohrenbetäubende Stille, die das Problem des gedachten Klangs, des sound-in-thought,15 umgibt, wo doch das auditorische System dem Gehirn so nahe sei.16 Seither haben seine Arbeiten zur Entstehung dessen beigetragen, was seit den 2000er Jahren sound studies genannt wird: » […] an emerging interdisciplinary area that studies the material production and consumption of music, sound, noise, and silence and how these have changed throughout history and within different societies.«17 Seine Klangforschungen warfen das Problem jener Verdrängung allen sozio-kulturellen Kontextes auf, welche die Einsicht in die historische Ausbildung der Wahrnehmungsformen verhinderte; so gilt es etwa als evident, dass der Blick sich auf etwas richte, während das Gehör nur empfängt, dass die Sicht die Äußerlichkeit, das Gehör die Innerlichkeit betreffe, wo doch diese Assoziationen sich historisch entwickelten.18 Kahn geht von zwei grundsätzlichen Schwierigkeiten aus: 1. As a historical object, sound cannot furnish a good story or consistent cast of characters nor can it validate any ersatz notions of progress or generational maturity. The history [of sound] is scattered, fleeting, and highly mediated – it is 19

as poor an object in any respect as sound itself.

14 Douglas Kahn, Wireless Imagination. Sound, Radio, and the Avant-Garde, Cambridge [MA] 1992, S. IX. 15 Ebenda. 16 Ebenda, S. IX. 17 Karin Bijsterveld/Trevor Pinch, »Sound Studies: New Technologies and Music«, in: Special issue, Social Studies of Science, 34 (2004), Heft 5, Lafayette L.A. 2004, S. 636. 18 Vgl. Jonathan Sterne, »Hello!«, Audible Past, Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham C.N. 2003, S. 15. 19 Douglas Kahn, »Histories of Sound Once Removed«, in: Douglas Kahn/ Gregory Whitehead (Hg.), Wireless Imagination: Sound, Radio, and the Avant-Garde, Cambridge [MA] 1992, S. 2.

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2. The trouble is that noises are never just sounds and the sounds they mask are never just sounds: they are also ideas of noise. Ideas of noise can be tetchy, abusive, transgressive, resistive, hyperbolic, scientistic, generative, and cosmological.20

Der Phonograph und die Stimme der Toten Verfolgen wir also mit Kahn die geschichtlichen Verläufe, an denen sich die Idee eines Klangs an sich gebildet hat. Diese Geschichte begann laut Kahn mit einer technischen Entwicklung: In fact, we only begin to really hear about sound as a cultural entity with the introduction of Cros’ paleophone and Edison’s phonograph right into the midst of ascendant modernist and avant-garde culture.21

Mit dem Phonographen konnte eine Stimme erstmals unabhängig von ihrer Quelle, d.h. von ihrem Körper gedacht werden. Die literarischen Avantgarden haben sehr früh das Potenzial dieser Ablösung erkannt. Der Riss der mechanischen Produktion wurde zum Topos einer Infragestellung der etablierten Ordnung, um ein anderes Milieu zu atmen, wie es Isidor Ducasse in den Chants de Maldoror 1869 formuliert.22 Doch es hieße einem Anachronismus anheimzufallen, wenn man voreilig den Schluss zöge, der Klang hätte sich bereits in jener Zeit vollständig von seiner Bedeutung abgelöst. Denn wie wir es im Phonographe (1894) von Alfred Jarry, in La mort et le coquillage (1907) von Maurice Renard und Locus Solut (1914) von Raymond Roussel le-

20 Douglas Kahn, Noise, Water, Meat – A History of Sound in the Arts, Cambridge [MA] 2001, S. 20. 21 Kahn, Wireless Imagination (Anm. 19) S. 5. 22 »[…] un coup de pied, bien appliqué sur l’os du nez, était la récompense connue de la révolte au règlement, occasionnée par le besoin de respirer un autre milieu; […]«. Isidore Ducasse, Conte de Lautréamont, chant deuxième, Oeuvres complètes, Les Chants de Maldoror, Lettres, Poésies I et II, Paris 1973, S. 81.

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sen können, kann die in den Zylinder eingeschriebene Stimme noch nicht als Abstraktion eines Klangs an sich verstanden werden. Sie wurde noch als eine lebendige Stimme des Verstorbenen vernommen. Kahn zeigt, wie auch der Philosoph Matthieu Saladin,23 dass die Trennung des Klangs von seiner Bedeutung erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Begriff gebracht wurde. Mit der experimentellen Musik von John Cage in den Vereinigten Staaten und der musique concrète von Pierre Schaeffer wird der Klang an sich zur Ideologie. Zur selben Zeit experimentiert Cage mit Kompositionstechniken, welche die Klänge sich selbst sein ließen (»let the sounds be themselves«24), d.h. die sie von den Fesseln des komponierenden Ichs und seinen Intentionen befreiten, während Schaeffer seine Hörtechnik, die ›écoute réduite‹ entwickelt, d.h. ein Hören, das von der Klangquelle abstrahiert. Für Schaeffer darf diese gesuchte Hörweise nicht durch den Verweis auf die den Klang hervorbringenden Ereignisse verfälscht werden. Dieses reduzierte Hören sei ein anti-intuitives, künstliches Bemühen, um sich vom kulturellen Apriori, von Vorurteilen zu befreien. Er formuliert seine Absicht im Traité des objets musicaux von 1966: »nier l’instrument et le conditionnement culturel, mettre face à nous le sonore et son ›possible‹ musical«.25 So verschieden sie auch sein mögen, Schaeffer, Cage und selbst Decoder stimmen alle in der Forderung überein, den Klang von seiner kulturellen Organisation durch Sprache und Musik zu trennen. Die Interessensgemeinschaft des Klangs an sich, die von Cage und Schaeffer über den Noise bis zur heutigen Klangkunst reicht, ist also

23 Matthieu Saladin, »Le caractère fétiche dans les musiques expérimentales«, TACET, Experimental Music Review, N°1, Les presses du réel, Dijon 2011, S. 208–233. 24 John Cage, »Experimental Music« (1958), Silence, Lectures and Writings (1961), Middletown [CT] 1973, S. 10. 25 »Das Instrument und die kulturelle Bedingtheit verneinen, das Erklingende und sein musikalisches ›Mögliches‹ vor uns treten lassen.« Pierre Schaeffer, Traité des objets musicaux, Paris 1966, S. 98.

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einerseits kritisch eingestellt gegenüber dem Fetisch der musikalischen Ware, der ›musique d’ameublement‹ und der Bedingtheit des Hörens durch die musikalische Erziehung. Andererseits verhält sich diese Gemeinschaft kaum kritisch gegen das eigene minutiöse Aushorchen des klanglichen Materials. Dieses Bemühen, Klänge von ihrem historischen Kontext zu abstrahieren, produziert seinerseits Aliens, wie es die Idee einer reinen auditiven Wahrnehmung oder die Ideologie für sich selbst existierender Klänge zum Ausdruck bringt. Diese Aliens verschleiern einerseits die komplexen Bedingungen ihrer kulturellen und sozialen Hervorbringung, Bedingungen des Dispositivs selbst, die technischer Art sein können, aber auch das Verhältnis zu Publikum, zu Kuratoren, Kommissaren, Subventionen und die sonstige Finanzierung von Konzert, Vertrieb und Produktion betreffen. Andererseits maskieren diese Aliens auch, was dieses Dispositiv produziert und bedeutet. In der Folge läuft die Idee eines Klangs an sich Gefahr, ihren kritischen Impetus einzubüßen, wenn nicht gar ganz zu verlieren und letztlich obsolet zu werden. Die Dinge sind komplexer als vorhergesehen: Die Idee des Klang an sich ist obsolet, sie neutralisiert sich selbst; doch zugleich ist sie fruchtbar, denn sie ruft Reaktionen hervor. Der Komponist Luc Ferrari hat eine solche Reaktion Ende der 70er Jahre formuliert. Ferrari bezog insbesondere in seiner Werkreihe Presque rien Position, indem er gesellschaftliche Aspekte wieder in den Klang mit einbezog anstatt sie auszuschließen.26 Er versucht den abstrakten Klang der experimentellen Musik seiner Zeit wieder mit dem Sinn zu verknüpfen, den die Klänge für ihn und andere haben können: Après la disparition totale des sons abstraits, on peut considérer cette pièce comme une diapositive sonore et l’aboutissement de toute une évolution. Restitution réaliste la plus fidèle possible d’un village de pêcheurs qui se réveille.27

26 Vgl. Matthieu Saladin »Le caractère fétiche dans les musiques expérimentales« (Anm. 23), S. 230. 27 »Nach dem totalen Verschwinden der abstrakten Klänge kann man dieses Stück als ein klangliches Diapositiv und die Vollendung einer ganzen Ent-

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Abb. 4:

Die erste Bewegung (n) – die Negation des soziokulturellen Kontextes – verteidigt eine autonome Existenz der Klänge als letzte mögliche Flucht vor den kulturellen Fixierungen durch Sprache oder Musik. Die zweite Bewegung (o) zeigt, dass umgekehrt der Klang ein menschliches Produkt und Konsumgut ist, das im Verlauf der Epochen, Kulturen und Wissenspraktiken variiert. Aber die beiden Bewegungen sind nicht selbständig, sie hängen voneinander ab. Die auralen Praktiken hören nicht auf, Klang- und Schwingungsphänomene zu hinterfragen, die unabhängig vom Hören stattfinden und die dieses Hören modifizieren. Aber diese Praktiken kommen nicht ohne die Bedeutungen aus, die sie selbst maskieren: Den historischen Kontext der musikalischen Tradition und die Entwicklung der Klangreproduktion. Eine Geschichte des Klanges und dessen Wahrnehmung wird notwendig, wenn die soziokulturelle Konfiguration des Klanges auf ideologische Weise negiert wird. Die zeitgenössische Kunst- und Wissenspraktiken über und mit dem Klang sind Produkt dieser komplexen Konfiguration, die sich aus den zwei Bewegungen der Naturalisierung und Historisierung zusamwicklung verstehen. Treuest mögliche realistische Wiedergabe eines Fischerdorfs im Erwachen.« Luc Ferrari, Presque Rien n° 1, ou le lever du jour au bord de la mer (1967–1970), Paris 2012.

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mensetzt. Der Kult und der Glauben an den Klang ist somit die spezifische affektive Grundlage für einen gigantischen Rückkopplungseffekt – ein Feedback. Zum Abschluss möchte ich eine Installation von Joe Colley erwähnen; ein kalifornischer Künstler, der von der Frage ausging, ob eine Negation konstruiert werden könne. Er hat die beiden Buchstaben der Negation (n und o) voneinander getrennt und einzeln auf je ein Magnetband eingesprochen, welche in der Installation zugleich abgespielt werden. Im Verlauf der Zeit stellen sich, wie aus Zufall, Momente der Synchronizität ein, und die beiden Klänge vereinen sich zu einem Sinn, das Wort NO emergiert, nur um gleich wieder in Nonsens zu entgleiten.

Übersetzt von Christoph Haffter und Camille Hongler Abb. 5: Nah am Nonsense: Joe Colley, NO (Intermittent Positive Negation in Two Syllables)

Von Wassern und Winden Musikalische Geräusche bei Heinse und Hoffmann C HRISTIAN K ÄMPF

Bei einem Schalle sind die Schwingungen (sowohl in Ansehung der Zeiträume, in welchen sie geschehen, als auch in Ansehung der Gestaltveränderung des elastischen Körpers) entweder gleichartig und (durch das Gehör, wie auch durch andere bisher bekannt gewordene Mittel) bestimmbar, oder sie sind es 1

nicht; im erstern Falle ist es ein Klang, im letztern ein Geräusch.

Die moderne musikalisch-akustische Forschung, die in Ernst Florens Friedrich Chladnis 1802 veröffentlichter Akustik gleichsam ihr Gründungsdokument vorhält, hebt nicht ohne Grund mit dieser Unterscheidung von Klang und Geräusch an: Bei einem Geräusch ließen sich weder »die verhältnißmäßige Anzahl der Schwingungen, oder die Höhe des Tones, durch das Gehör beurtheilen«, noch »die Gestaltveränderungen des elastischen Körpers« oder »die einer jeden Schwingungsart zukommenden Tonverhältnisse durch Beobachtungen« bestimmen.2 Dieses sei beim Klang allerdings, »so weit der jetzige Zustand der höhern Mechanik und Analyse es zuläßt, auch durch Berechnungen und durch Folgen von Schlüssen« möglich. »Da sich von der Natur eines 1

Ernst Florens Friedrich Chladni, Die Akustik, Leipzig 1802, S. 2.

2

Ebenda, S. 43.

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Geräusches noch so wenig Bestimmtes sagen läßt«, suchte Chladni sein weiteres Vorgehen zu begründen, »so werden hier nur die Eigenschaften eines Klanges weiter können erläutert werden«.3 Hermann von Helmholtz bestätigte in seiner Lehre von den Tonempfindungen sechzig Jahre später diese Gegenüberstellung. Da dem musikalischen Klang »eine einfache und regelmässige Art der Empfindung« entspreche, »während in einem Geräusche viele verschiedenartige Klangempfindungen unregelmäßig gemischt und durch einander geworfen« seien, stand für Helmholtz fest: »Der erste und Hauptunterschied verschiedenen Schalls, den unser Ohr auffindet, ist der Unterschied zwischen Geräuschen und musikalischen Klängen.«4 Das »Sausen, Heulen und Zischen des Windes«, das »Plätschern und Brausen eines Wasserfalls oder der Meereswogen, das Rauschen der Blätter im Walde«5 sind u.a. die Beispiele, die bei Helmholtz zur genaueren Darstellung des Geräusches aufgezählt werden. Es sind Begriffsinhalte, die bereits in den Wörterbüchern von Johann Christoph Adelung und Joachim Heinrich Campe nachgewiesen sind. So nennt Adelung 1775 das »Geräusch des Windes, der Wellen, des Wassers, des Laubes auf den Bäumen, der Blätter«6 und Campe kennt 1808 das »Geräusch des Wassers, des Windes, der Mühlräder, der Flügel«.7 Das Geräusch ist also hier zuallererst das Schallphänomen der beiden Naturgewalten Wind und Wasser, dann das Schallphänomen der durch ihr Wehen und Fließen mitbewegten Blätter, Mühlräder und -flügel. In dem Maße aber wie die

3

Ebenda, S. 49.

4

Hermann Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologi-

5

Ebenda.

6

Johann Christoph Adelung, Versuch eines vollständigen grammatisch-

sche Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1863, S. 14.

kritisches Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. II, Leipzig 1775, Sp. 574. 7

Joachim Heinrich Campe, Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. II, Braunschweig 1808, S. 313.

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Winde und Wasser nicht lediglich als gemeine Naturereignisse aufgefasst, sondern mit sakralen Bedeutungen aufgeladen sind – wie beispielsweise in christlicher Tradition der Wind durch das Pfingstereignis und das Wasser durch die Taufe –, in dem Maße kann auch das Geräusch Indikator für himmlisches Wirken sein. Dass profane und sakrale Bedeutungen geradezu untrennbar miteinander verknüpft sein können, wird nicht zuletzt im griechischen Wort ›πνεῦμα‹ deutlich, in dem die Begriffe ›Wind‹, ›Hauch‹, ›Atem‹, ›Seele‹, ›Geist‹ u.a. zugleich präsent sind. Wie der musikästhetische Diskurs des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts das Verhältnis von Geräusch und Musik über die Naturgewalten Wind und Wasser, insbesondere über ihre prozessualen Qualitäten, dem Wehen und dem Fließen, bestimmt, wird in diesem Beitrag anhand kurzer Lektüre zweier Autoren, Wilhelm Heinse und E. T. A. Hoffmann, exemplifiziert. Mit Heinse wird u.a. zu zeigen sein, wie das Geräusch des Wassers im besonderen Naturerlebnis das Kunsterleben wirkungsästhetisch übersteigt. Wie die zu dieser Zeit neusten physikalisch-physiologischen Erkenntnisse, die das Geräusch in den Randbereichen der Akustik und damit vermeintlich außerhalb aller Tonkunst verorten,8 doch mit ältesten Begriffskonnotationen korrespondieren, wird u.a. mit Hoffmann zu zeigen sein.

8

So scheint die deutschsprachige Musiklexikographie des 18. und 19. Jahrhunderts den Begriff ›Geräusch‹ gänzlich zu ignorieren, zumindest findet sich kein entsprechendes Lemma bei Johann Gottfried Walther (Musicalisches Lexicon. Oder Musicalische Bibliothec […], Leipzig 1732), Johann Georg Sulzer (Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln, Erster Teil, Leipzig 1773), Heinrich Christoph Koch (Musikalisches Lexikon, welches die theoretische und praktische Tonkunst, encyclopädisch bearbeitet, alle alten und neuen Kunstwörter erklärt, und die alten und neuen Instrumente beschrieben, enthält, Frankfurt am Main 1802), Ignaz Jeitteles (Aesthetisches Lexikon. Ein alphabetisches Handbuch zur Theorie der Philosophie des Schönen und der schönen Künste. Nebst Erklärung der Kunst-

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*** Alsdenn tobt er schäumend über Felsen fort, breitet sich aus, rauscht zürnend um grüne Bauminseln, und hastig schießt er in den Grund von dannen, zwischen zauberischen Gärten von selbstgewachsnen Pommeranzen, Zitronen, und andern Frucht- und Oelbäumen. […] Das Aufschlagen in den zurückspringenden Wasserstaub macht einen heroisch süßen Ton, und erquickt mit nie gehörter donnernder Musik und Veränderung von Klang und Bewegung die Ohren; 9

und das Auge kann sich nicht müde sehen.

Die künstliche Cascata delle Marmone, die sich der Velino nahe der umbrischen Stadt Terni seit seiner Umleitung 271 v. Chr. hinunterstürzt, bildet die Szenerie, vor der Ardinghello, Protagonist in Wilhelm Heinses gleichnamigen Roman, über Möglich- und Unmöglichkeiten einer bildnerischen Darstellung derartiger Naturschauspiele sinniert.10 Es ist seiner Ansicht nach letztlich »Frechheit von einem Künstler, das vorstellen zu wollen, dessen wesentliches bloß in Bewegung be-

ausdrücke aller ästhetischen Zweige […], Bd. I, Wien 1835), Gustav Schilling (Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, oder Universal-Lexicon der Tonkunst, Bd. III, Stuttgart 1836), Hermann Mendel (Musikalisches Conversations-Lexikon. Eine Encyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaft. Für Gebildete aller Stände […], Bd. IV, Berlin 1874) und Hugo Riemann (Musik-Lexikon. Theorie und Geschichte der Musik, die Tonkünstler alter und neuer Zeit mit Angabe ihrer Werke, nebst einer vollständigen Instrumentenkunde, Leipzig 1882). 9

[Wilhelm Heinse], Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Eine Italiänische Geschichte aus dem sechszehnten Jahrhundert, Bd. II, Lemgo 1787, S. 310f.

10 Vgl. Bettina Schmitt, »Das Rauschen malen. Wasser als Darstellungsproblem der Landschaftsmalerei: 1675, 1745, 1810«, in: Claudia Albes/ Christiane Frey (Hg.), Darstellbarkeit. Zu einem ästhetisch-philosophischen Problem um 1800, Würzburg 2003, S. 275.

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steht«,11 da kein Betrachter eines solchen Gemäldes »sich auch mit der blühendsten Phantasie das hinzuzudenken vermag, was man nicht andeuten kann«.12 Eine adäquate Darstellung der fortwährenden Bewegung des Wassers innerhalb der bildenden Kunst scheint hiernach nahezu unmöglich. Überhaupt meint das ›Toben‹, ›Schäumen‹, ›Rauschen‹, ›hastige Schießen‹, ›Aufschlagen‹ und ›Zurückspringen‹ des Wassers, wie es Heinse hier mit Ardinghello literarisch zu beschreiben sucht, wohl nicht weniger als eine Angelegenheit des Auges auch eine des Ohres: Der Sturz »macht einen heroisch süßen Ton, und erquickt mit nie gehörter donnernder Musik«,13 einer sonderbaren Musik, deren Reiz sich in der beständigen »Veränderung von Klang und Bewegung«14 zu begründen scheint. Den überwältigenden Eindruck, den der Rheinfall bei Schaffhausen bei ihm hinterlassen hatte, reflektierte Heinse 1780 in seinen Reiseaufzeichnungen deshalb u.a. mittels einer Kunstgattung, mit der er der eigentümlichen Mischung von visuellen und akustischen Momenten solch besonderer Naturszenen wohl am ehesten gerecht zu werden glaubte: der Oper. Eine Gattung, in der, wie Heinse die Protagonistin im späteren Künstlerroman Hildegard von Hohenthal resümieren ließ, »verschiedene Künste in einen freundschaftlichen Bund« treten, »um in ihrer gemeinschaftlichen Darstellung so viel wie möglich der Natur gleich zu kommen«.15 Doch muss selbst diese ehrenwerte Anstrengung, die Vereinigung der schönen Künste in einem Kunstwerk, insbesondere hier gegenüber der Naturkraft wirkungsästhetisch zurückbleiben. Denn es ist nach Heinse eine »andre Oper«, die mit dem Rheinfall zur Aufführung gebracht wird, »mit andrer Architektur, und andrer Fernmahlerey und andrer Harmonie und Melodie, als die von jämmerlicher Verschneidung mit einem

11 Heinse, Ardinghello (Anm. 9), S. 312f. 12 Ebenda. 13 Ebenda, S. 311. 14 Ebenda. 15 Wilhelm Heinse, Hildegard von Hohenthal. Musikalische Dialogen, hrsg. von Werner Keil, Hildesheim, Zürich, New York 2002, S. 220.

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winzigen Messer euch entzückt«.16 Ein winziges Messer, ein winziger Schnitt. Zwar scheint die Opernkunst noch zu einem penetrativen Akt fähig, doch kann sie solcherweise nur Lust flüchtig befriedigen. Die Kunsterfahrung gleicht damit einem ›coitus contra naturam‹, denn sie bleibt hier im Gegensatz zum Naturerlebnis für Heinse unfruchtbar. Im ästhetischen Lehrgespräch zwischen Lockmann und Hildegard in Heinses späterem Roman werden zwar große Opernchöre als »Bäche und Flüsse, die zusammenströmen und sich in Einen Lauf vereinigen«,17 werden Arien zwar als »reizende Thuner- und Genfer-Seen nach den wüthenden Stürzen des Rhodan und der Aar«18, wird zwar die begleitende Instrumentalmusik für die Stimme sogar als »das Meer und die Luft, worin diese schwimmt und ihre Fittiche schlägt«19 angesprochen, doch es bleiben nur Musterbilder: »Wenn sich aber auch die Kunst der Darstellung mit ihrer ganzen Familie vereinigt: so kann sie doch die Wirklichkeit nicht ganz geben.«20 In ihren Vergleichen deuten Lockmann und Hildegard (und mit ihnen Heinse) aber doch an, was dieser Auffassung nach im Musikalischen überhaupt nur zur Darstellung kommen kann: »Masse, und zugleich Bewegung derselben, durch Töne«.21 Wie in Wassern und Winden spiegelt sich in der Musik »das reine von allem abgesonderte, Leben in der Natur und im Menschen«,22 sodass der Ton »die sinnlichste Darstellung der Seele, und gleichsam das wahrste Bild ihres reinen sich in sich selbst regenden Wesens« ist.23

16 Wilhelm Heinse, Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass, Bd. I: Aufzeichnungen 1768–1783. Texte, hrsg. von Markus Bernauer, München und Wien 2003, S. 459. 17 Heinse, Hildegard von Hohenthal, S. 218. 18 Ebenda, S. 217. 19 Ebenda, S. 168. 20 Ebenda, S. 79. 21 Ebenda, S. 81. 22 Ebenda. 23 Ebenda.

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Heinses schriftliche Nachempfindung des Rheinfalls, in der metaphysisch-naturphilosophische Positionen,24 ästhetisch-kunsttheoretische Reflexionen,25 ekstatisch-religiöse Implikationen und nicht zuletzt körperlich-sexuelle Assoziationen26 auf solche Weise miteinander vermischt werden, dass ein systematisches Aufschließen des Textes nahezu unmöglich bleibt, entspricht ganz dem besonderen Naturerlebnis, in dem visuelle und akustische Empfindungen derart ineinander verschwimmen, »ein so fürchterliches Ganzes« bilden, dass Heinse die Sinne versagen und er »nur Eindruck auf sich machen«27 lassen kann. Doch ist es explizit – bei aller Komplexität und Totalität der Wahrnehmung – das Geräusch des Wassers, dem Heinse doxologischen Gehalt abhört: »O Gott welche Musik, welches Donnerbrausen, welch ein Sturm durch all mein Wesen! heilig, heilig, heilig! brüllt es in Mark und Gebein«.28 Die Herrlichkeit Gottes, der im Sanctus und im Te Deum mit dem Dreimalheilig von der Gemeinde samt den Cherubim und Seraphim gebenedeit wird, ist für Heinse im Rheinfall präsent. Natur und Mensch stimmen sich vermittels des jesajanischen Lobwortes

24 Vgl. bezüglich Heinses naturphilosophischen Anschauungen auch Markus Bernauer, »Kunst als Natur – Natur als Kunst. Heinses Entwurf der italienischen Renaissance«, in: Gert Theile (Hg.), Das Maß des Bacchanten. Wilhelm Heinses Über-Lebenskunst, München, 1998, S. 91–124, vor allem S. 121f. 25 Vgl. Thomas Markwart, »Heinse in der Schweiz oder vom doppelten Glück«, in: Markus Bernauer und Norbert Miller (Hg.), Wilhelm Heinse. Der andere Klassizismus, Göttingen 2007, S. 126; Erdmut Jost, »Arbeit an der ›mythischen Geographie‹. Zur Darstellung des Rheinfalls in Landschaftsmalerei und (Reise-)Literatur 1760–1850«, in: dass., S. 141–143. 26 Auf die sexuelle Dimension des Rheinfall-Erlebnisses und dessen Darstellung wird u.a. hingewiesen bei Gerhard Sauder, »Die Sexualisierung des Ästhetischen bei Heinse«, in: Gert Theile (Hg.), Das Maß des Bacchanten. Wilhelm Heinses Über-Lebenskunst, München 1998, S. 79. 27 Heinse, Aufzeichnungen (Anm. 16), S. 459. 28 Ebenda.

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aufeinander ein. Eine gewünschte Einswerdung mit der Natur, die Auflösung des Individuums in einer ›unio mystica«, die ihm, der »ein so kleines festes mechanisches zerbrechliches Ding ist«, das »nicht mit hinein kann«,29 ganzkörperlich verwehrt bleibt, erfüllt sich mittelbar musikalisch: im geräuschvollen Konsonieren seines Innersten mit der Naturgewalt. *** So wie, nach dem Ausspruch eines geistreichen Physikers, Hören ein Sehen von innen ist, so wird dem Musiker das Sehen ein Hören von innen, nämlich zum innersten Bewusstseyn der Musik, die mit seinem Geiste gleichmäßig vibrirend aus Allem ertönt, was sein Auge erfasst; so würden die plötzlichen Anregungen des Musikers, das Entstehen der Melodien im Innern, oft das bewusstlose oder vielmehr das in Worten nicht darzulegende Erkennen und Auffassen der geheimen Musik der Natur als Prinzip des Lebens oder alles Wirkens in demselben seyn. Die dem äußern Gehörssinn vernehmbaren Laute der Natur, das Säuseln des Windes, das Geräusch der Quellen u. s. f. sind dem Musiker erst einzeln ausgehaltene Töne – dann Akkorde – dann Melodien mit harmoni30

scher Begleitung.

Allerlei Ahnungen aus dem Reiche der Töne umwehen den hier namenlosen Protagonisten aus E. T. A. Hoffmanns späterem Kreisler-Stück, das als Erstfassung unter dem genannten Titel noch 1816, d. h. bereits nach dem Erscheinen von Hoffmanns Fantasiestücken in Callot’s Manier, in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände gedruckt worden war. Musikalische Ahnungen, die den Ungenannten schon als Knabe erreicht hatten, wenn er verbotenerweise das »Hinterpförtchen der Gartenmauer« durchschlüpft hatte und er sich im Wald an einem sagenumwobenen Steine, »an dessen wunderbaren Moosen, Kräutern und

29 Ebenda. 30 E. T. A. Hoffmann, »Ahnungen aus dem Reiche der Töne«, in: Morgenblatt für gebildete Stände 10 (1816), S. 182.

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Adern«31 nicht hatte sattsehen können. Plötzliche Anregungen, die ihn noch erreichten, als er nach Lyzeum und musikalischen Studien im Erwachsenenalter ins väterliche Dorf zurückkehrte und er dort am Steine, »wenn der Wind durch des Baumes Aeste rauschte, es wie holde Geisterstimmen ertönen«32 hörte. Geheimnisvolle Intuitionen, die ihn wie jeden wahren Musiker heimsuchen, »in stiller Nacht, im dunklen Zimmer«, und die unwillkürlich »das Bewusstseyn der Musik im Innern«33 entzünden. Allein »der, in dessen Innern die Musik sich zum klaren deutlichen Bewusstseyn entwickelte«,34 ist nach Hoffmann wahrhaft Musiker zu nennen. Diese »Musik, die in unserm Innern wohnt«, kann aber nach Meinung des Gesprächsführers Ludwig aus Hoffmanns früher entstandener Dialogerzählung Die Automate kaum eine andere sein als diejenige, »welche in der Natur, wie ein tiefes, nur dem höhern Sinn erforschliches Geheimnis verborgen«35 liegt. Gelegentlich ist »den geheimnisvollen Lauten der Natur nachzuspüren:36 Hoffmanns Ludwig lauschte schon als Knabe in stillen, mondhellen Nächten, »ob nicht im Säuseln des Windes jene wunderbaren Töne erklingen würden«,37 später »in der Nähe des Kurischen Hafes in Ostpreussen«, dort, wo die Memel ruhig in die Ostsee mündet, hörte er dann angeblich »deutlich langgehaltene Töne«, f, c und es, »die bald, gleich einer tiefen gedämpften Orgelpfeife, bald gleich einer vibrirend, dumpfen Glocke erklangen«.38 Mit Verweis auf Ciceros Somnium Scipionis,39

31 Ebenda, S. 178. 32 Ebenda, S. 182. 33 Ebenda, S. 183. 34 Ebenda, S. 182. 35 E. T. A. Hoffmann, »Die Automate«, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 16 (1814), Sp. 101. 36 Ebenda, Sp. 99. 37 Ebenda. 38 Ebenda, Sp. 100. 39 Marcus Tullius Cicero, Der Staat. Lateinisch und Deutsch, hrsg. u. übers. v. Karl Büchner, München 1993, darin: »Scipios Traum«, S. 258–276.

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in dem das pythagoreisch-mathematische, platonisch-mythische Wissen von der Harmonie der Sphären überliefert wird, und auf Gotthilf Heinrich Schuberts Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft,40 in denen die Sphärenharmonie in Wechselbeziehung zu geschichtsphilosophischen und physikalischen Annahmen verhandelt wird, identifiziert Hoffmann hier die seltsamen Naturphänomene an der Ostsee als eine tatsächlich hörbare Musik der Sphären.41 Die »vernehmbaren Laute der Natur, das Säuseln des Windes, das Geräusch der Quellen«42 sind mindestens Anklänge dieser Sphärenmusik und damit zugleich Teil einer im Himmel wie auf Erden wirkenden ›musica mundana‹.43 Hoffmanns Ahnungen aus dem Reiche der Töne sind zu einem nicht unwesentlichen Teil durch die Lektüre von Johann Wilhelm Ritters Fragmenten aus dem Nachlasse eines jungen Physikers,44 insbesondere durch die darin ausgeführten Gedanken zur Universalität des Akustischen inspiriert.45 Nach Ritter sind wir selbst, »Thier, Pflanze, alles Leben« inbegriffen in der «kolossalen Musik«, die aus Rotation

40 Gotthilf Heinrich Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808. 41 Vgl. dazu auch Christiane Tewinkel, Vom Rauschen singen. Robert Schumanns Liederkreis op. 39 nach Gedichten von Joseph Eichendorff, Würzburg 2003, S. 25–27. 42 Hoffmann, Ahnungen aus dem Reich der Töne (Anm. 30), S. 182. 43 Zur ›musica mundana‹ in Hoffmanns Erzählung vgl. auch Werner Keil, »Die Automate«, in: Detlef Kremer (Hg.), E. T. A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung, Berlin 2009, S. 332–337, hier: 334f. 44 Johann Wilhelm Ritter, Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur, 2 Bde., Heidelberg 1810. 45 Zu Hoffmanns Beschäftigung mit Ritter vgl. Thomas Strässle, »Johannes Kreisler im Dialog mit einem ›geistreichen Physiker‹. Zu E. T. A. Hoffmanns Auseinandersetzung mit Johann Wilhelm Ritter«, in: Hartmut Steinecke/Detlef Kremer/Franz Loquai/Steven Paul Scher (Hg.), E. T. A. Hoffmann Jahrbuch, Bd. X, Berlin 2002, S. 96–119.

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und Bahn der Erde und aller anderen Himmelskörper entstehen muss, sodass »Ton und Leben«46 zusammenfallen. Der Gehörsinn ist dann auch »der höchste, größte, umfassendste, ja es ist der einzige allgemeine, der universelle Sinn«, da die »Oscillation, Vibration, u. s. w.« nichts anderes als Bewegungen, als Ortsveränderungen sind, die »laufend chemische, electrische, magnetische Processe«47 hervorbringen. »Alles, was nur irgend erregt werden kann, wird hier erregt«, erklärt Ritter die sensorische Wirkung und schlussfolgert daraus sogleich die herausragende epistemologische Bedeutung des Akustischen: »Alles wird gewußt, gefühlt.«48 Der boethianischen ›musica mundana‹ Ritter’scher Auffassung entspricht die Vorstellung einer geheimen Musik der Natur, wie sie Hoffmann in seinen Ahnungen ausführt: Zwar scheint die Umwelt bestimmt von einem alles durchwirkenden musikalischen ›πνεῦμα‹, weshalb Hoffmanns Musiker sich »überall von Melodie und Harmonie umflossen«49 weiß. Doch dieser »Geist des Tons«, mit dem »auch der Geist der Musik durch die ganze Natur«50 geht, wird hier nicht – wie sich vielleicht zuerst vermuten ließe – auf eine göttlich-musikalische ›inspiratio‹, eine Beseelung von Mensch und Natur durch heiligen Atem o. ä., zurückgeführt, sondern auf die physikalischen Überlegungen Ritters und mit diesen auf die Chladni’sche Akustik gegründet. Das »Prinzip des Lebens oder alles Wirkens in demselben«,51 welches Hoffmann mit der geheimen Musik der Natur verbindet, ist nicht pneumatologisch, sondern mechanisch gefasst: »Der mechanisch afficirte tönende Körper spricht ins Leben geweckt sein Daseyn aus«,52 nämlich vermittels seiner akustischen auch seine (mit unter im Inneren verborgenen) physikalischen Eigenschaften, und in-

46 Ritter, Fragmente, Bd. I (Anm. 44), S. 225. 47 Ebenda, S. 223f. 48 Ebenda, S. 224. 49 Hoffmann, Ahnungen aus dem Reich der Töne (Anm. 30), S. 182. 50 Ebenda. 51 Ebenda. 52 Ebenda.

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soweit durch die physikalischen Qualitäten eines Körpers, wie seiner Form, Masse, Elastizität usw., seine akustischen bedingt sind, insoweit kann aus jenen auf diese schon geschlossen werden, weshalb Hoffmanns Musiker aus den »wunderbaren Moosen, Kräutern und Adern«53 des geliebten Steines wie aus Chladnischen Klangfiguren Töne heraussehen kann. Ritters Gleichung (»Das Hören ist ein Sehen von innen«54) schließt daher Hoffmanns Umkehrung (»so wird dem Musiker das Sehen ein Hören von innen«55) bereits ein. Doch verkehrt Hoffmann Ritters Überlegungen zur Universalität des Akustischen dabei in eine strenge Exklusivität: Nur dem wahren Musiker kann die geheime Musik der Natur, »die mit seinem Geiste gleichmäßig vibrirend aus Allem ertönt, was sein Auge erfasst«, wirklich »zum innersten Bewusstseyn«56 werden. Chladni hat deutlich ausgesprochen, dass nicht allein die »Beschaffenheit des klingenden Körpers selbst«, sondern auch die »Beschaffenheit der Körper, von welchen oder an welche der klingende Körper gestoßen oder gerieben wird«57 – beispielsweise der Bogen bei Saiteninstrumenten – das Schallereignis definiert. Wie der Bogen die Saiten affiziert der wahre Musiker seine Umwelt und wie die Saiten vom Bogen wird er selbst von seiner Umwelt angeregt, sodass die zwar hörbaren, aber nur geräuschhaften genauso wie die zwar unhörbaren, aber doch im Sichtbaren schon vorgebildeten Klänge der Natur im Musiker zunächst als »einzeln ausgehaltene Töne – dann Akkorde – dann Melodien mit harmonischer Begleitung«58 widerhallen.

53 Ebenda. 54 Ritter, Fragmente, Bd. I (Anm. 44), S. 224. 55 Hoffmann, Ahnungen aus dem Reich der Töne (Anm. 30), S. 182. 56 Ebenda. 57 Chladni, Akustik (Anm. 1), S. 48. 58 Hoffmann, Ahnungen aus dem Reich der Töne (Anm. 30), S. 182.

Anhören

Geräusch- und Klangwelten bei Jörg Widmann Zwei Einblicke F LORIAN H ENRI B ESTHORN

Ein Fragment als ästhetischer Leitfaden »Klänge, nicht Töne stehen im Mittelpunkt des Denkens von Jörg Widmann. Er reizt ihre Gestalten in die Extreme aus.«1 Mit diesen Worten beschreibt Helga de la Motte-Haber prägnant die Klangsprache des 1973 geborenen Komponisten Jörg Widmanns. Doch was unterscheidet Töne von Klängen und Klänge letztendlich von Geräuschen? Allein der Physiker scheint hier mit einer Definition glücklich, der Musikliebhaber scheut ebenso den ›reinen‹ Ton wie zumeist das Geräusch. Die goldene Mitte der ›Klänge‹ pendelt heutzutage von einem Extrem zum anderen. Widmann spielt genau mit diesem Pendeln und stellt oftmals die Hörererwartung auf den Kopf. Beispielsweise beginnt sein zweites Streichquartett (Choralquartett 2003, rev. 2006) mit einer Geräuschwelt, in der Klänge ›abgepresst‹ oder Obertöne ›erzwungen‹ werden bis plötzlich ein tonal anmutender Choral einbricht: »Eingela1

Helga de la Motte-Haber, »Denken im Klang«, im CD-Booklet zu: Jörg Widmann, fünf bruchstücke, étude III, freie stücke, fieberphantasie, Wergo (ASIN: B00009P55W/WER 65 552), 2003, S. 7–13; hier S. 8.

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gert in diesen Kontext bekommt der Choral eine ganz eigene fremde Qualität.«2 Dies wird zum Programm gemacht, denn der Komponist ist besonders »interessiert daran, wie im Verlauf des Stückes Geräusch nicht mehr für Desolates, und Tonales nicht mehr für Zuversicht steht.«3 So scheint das zehntaktige Klavierstück Fragment in C, das Widmann 2001 seinem ehemaligen Kompositionslehrer Wilfried Hiller zum 60. Geburtstag schrieb, im Kleinen bereits einen wichtigen ästhetischen Aspekt der Folgewerke zu repräsentieren: »Hier ist das Wahrnehmungsproblem – im Sinne einer Studie – auf einen Aspekt isoliert: Das Stück ist auf einem C-Dur-Akkord aufgebaut – aber kein einziger Akkord klingt nach C-Dur! Die Akkorde klingen alle anders und fremd. […] In diesem Kontext wird das Normale eines üblichen Tons zu einem Ereignis!«

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Das Fragment beginnt mit einem ›dominantischen‹ Auftakt, einem kurzangeschlagenen g'', dem ein Schlag mit der flachen Hand auf die

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Aus: Markus Fein (Hg.), Im Sog der Klänge. Gespräche mit dem Komponisten Jörg Widmann (= edition neue zeitschrift für musik: NZ 5010), Mainz 2005, S. 51.

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Vgl. das Vorwort zur Notenausgabe: Jörg Widmann, Choralquartett. 2. Streichquartett (= ED 9748), Mainz [u.a.] c2009, S. 4. Vor dem Hintergrund, dass hier – ähnlich wie in Haydns Die Sieben letzte Worte für Streichquartett op. 51 (Hob. XX/1:B) – die Kreuzigung Jesu Ausgangspunkt der Komposition war (»[…] – die vielen col legno–Passagen in meinem Quartett rühren daher. Wie klingt das Schaben und Reiben von Holz an Haut, Haut an Holz?« [aus: Fein, Im Sog der Klänge, S. 37]), wirkt der untergehende Choral noch frappierender.

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Aus: Fein, Im Sog der Klänge, S. 49–51. Jüngst liegt nun eine Aufnahme, welche allerdings leicht vom Manuskript des Werkes abweicht, von Jan Philip Schulze vor: Jörg Widmann, Piano Works, Neos (ASIN: B00CUIVFC2/NEOS 10 909) c2013.

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linke Breitseite des Flügels folgt. Statt die Tonika zu Beginn des Werkes zu exponieren, taucht der Hörer in eine Klangwelt ein, in der sich erst allmählich das tonale Zentrum herauskristallisiert und beim ersten Erklingen durch Abdämpfen der Saite verfremdet erscheint. Wird als Auftakt zum dritten Takt ein C-Dur-Akkord angeschlagen, so wirkt dieser Sextakkord aufgrund seiner hohen Lage keinesfalls stabilisierend. Ebenso wirft das folgende, befremdende Saitenschabgeräusch und der gezupfte Tritonuston eine tonale Unbestimmtheit auf. Das ändert sich auch zunächst nicht, nachdem im vierten Takt kein Grundton direkt erklingt und der anschließende Leitton h zudem trugschlussähnlich die Tonika ausspart. Daraufhin entführen reflektierende Klänge den Hörer weit weg von einem klaren C-Dur, welches erst am Ende durch das Paradox einer ›wohltemperierten Obertonreihe‹ gefestigt zu werden scheint, wobei das Stück allerdings zugleich in Auflösung begriffen ist. Abb. 1: Jörg Widmann, Fragment in C für Klavier (2001), Takte 5–9. Übertragung durch den Autor nach dem handschriftlichen Manuskript. © SCHOTT MUSIC, Mainz – Germany.

Dieses Umkreisen eines verlorengeglaubten Zentrums baut natürlich auf die verwendeten Spieltechniken: Indirekt erklingende Töne, durch geräuschvolles Schlagen freigesetzte Spektren oder effektvolles Saitenund Pedalspiel. Alle diese Techniken können in Widmanns folgenden Klavierstudien vielfach aufgefunden werden. Das Fragment in C ist als ein Scharnierwerk zu sehen, denn er spricht selbst von einem ästhetischen Einschnitt im Jahr 20015 und es ist eine Fokusverschieben aus5

Vgl. bspw.: Fein, Im Sog der Klänge (Anm. 2), S. 52.

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zumachen, wenn man neben der sich wandelnden Tonsprache das kontinuierliche Einbeziehen von geräuschhaften Klängen in seinen Werken betrachtet. Zunächst seien hierfür Klavierwerke aus den Jahren 1997–2003 kurz beleuchtet und hierbei Widmanns Toccata (2002) eingehender untersucht. Die dargestellten Ergebnisse sollen sodann an sein erstes abendfüllendes Musiktheaterwerk Das Gesicht im Spiegel (2002/03, rev. 2010) herangetragen und somit auch an einem großbesetzten Werk verifiziert werden. Jörg Widmanns Werke für Klavier solo Siegfried Mausers Unterteilung der Klavierwerke Jörg Widmanns in ›experimentelle‹ Stücke auf der einen und Werke mit »konkrete[n] Bezüge[n] auf künstlerische Erfahrungsbereiche außerhalb des eigenen Schaffens« auf der anderen Seite,6 kann nur bedingt zugestimmt werden. Offensichtlich gibt es einen Bruch zwischen seinen Klaviersolowerken bis 2003 und denen nach 2007. Die Elf Humoresken (2007) sind nicht nur dem Namen nach eine Replik auf Robert Schumanns op. 20, Idyll und Abgrund (2009) beschwört den Schubert’schen Ton herauf und die Intermezzi (2010) stellen eine Hommage an Brahms dar. Die 2008 komponierten Sätze Valse bavaroise und Vier Strophen vom Heimweh gingen ebenso wie der Geburtstagswalzer (2011) in die Suite Zirkustänze von 2012 ein, die entfernt an Bartóks Mikrokosmos erinnert. Dieser bisher letzte Klavierzyklus scheint vordergründig betrachtet nochmals »einfacher, heiterer, heller, auch greller, drastischer, verspielter«7 als die vorangegangen Werke, weist zugleich aber eine tiefere Dimension auf, wenn er die anthropotechnisch-artistische Philoso-

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Siegfried Mauser, »Studien und Visionen. Notizen zu Jörg Widmanns Klaviermusik«, in: Hans-Klaus Jungheinrich (Hg.), Spuren. Der Komponist Jörg Widmann. Symposium, 15. September 2012, Alte Oper Frankfurt am Main (= edition neue zeitschrift für musik: NZ 5053), Mainz 2013, S. 87– 91; hier S. 87.

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Jörg Widmann, Zirkustänze (= ED 21 405), Mainz [u.a.] c2013, Vorwort S. 6.

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phie Peter Sloterdijks aufgreift.8 Von diesen Werken setzt Mauser die früheren als ›experimentell‹ ab, mit der Ausnahme der Fleurs du mal (1996/97), da in diesen die »dämonischen Obsessionen der Texte« von Charles Baudelaire »zu expressiven Klangbildern geronnen zu sein« scheinen.9 Dennoch hat diese frühe Klaviersonate nach Baudelaire mehr mit den Klavierwerken der Jahre 2001–2003 gemeinsam, als mit den späteren Huldigungssuiten. Zudem können aber beispielsweise auch in der Toccata und der Hallstudie (2003) Bezüge zum Komponieren Schumanns ausfindig gemacht werden. Was die oben genannten Zyklen von den früheren Klavierwerken unterscheidet, ist nicht unbedingt ein Defizit an Experimentierlust, sondern eher die Tatsache, dass die Geräuschhaftigkeit früherer Werke gegenüber der entsprechenden Huldigungsgeste zurückgenommen wurde. In den älteren Werken ist das Gegenteil der Fall: Zwar schimmert vor allem Widmanns Vorbild Robert Schumann stets durch dessen Musik – beispielsweise mit dem fast omnipräsenten Einsatz seines charakteristischen a-Molls –, doch steht hierbei die Klangerweiterung des Klavierspiels im Vordergrund.

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Siehe: Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt am Main 2009. Dass Widmanns Verweis auf die Gefahr des abstürzenden Seiltänzers im Vorwort der Partitur keinesfalls zufällig ist, zeigt sich darin, dass das Libretto zu seiner zeitgleich entstandenen Oper Babylon (2011/12), in die auch Teile des Klavierzyklus eingeflossen sind, Sloterdijk verfasste.

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Mauser, Studien und Visionen (Anm. 6), S. 87.

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Abb. 2: Jörg Widmann, Fleurs du mal. Klaviersonate nach Baudelaire (1996/97), Takte 1–5; vereinfachte Darstellung durch den Autor; vgl. ED 9669, S. 3. © SCHOTT MUSIC, Mainz – Germany.

Bereits der Beginn von Fleurs du mal zeigt, wie verwandt es den späteren Klavierstudien ist. Die ersten zwei Takte stellen eine ›Nachklangstelle‹ dar; das heißt zunächst werden eine oder mehrere Tasten stumm gedrückt, dann kommt es zu einem kurzen aber heftigen Impuls, der die ausgewählten Saiten mit ihren Obertonspektren anregt. Nach einem wilden Aufschwung in Takt 3 folgen zunächst sehr schnelle Tonrepetitionen, welche sich ab Takt 15 zu einem Triller verengen. Sowohl dessen Töne als auch der Klang der stupiden Repetitionen in der viergestrichenen Oktave werden vom mechanischen Anschlagsgeräusch verfremdet, so dass ein Klanggemisch aus Einzeltönen und Klaviergeräuschen den Hörer erreicht. Dies wird vor allem im abschließenden Caccia-Presto-Teil wieder aufgegriffen, in dem die dargestellten Takte gegen Ende nochmals überspitzt und im höchstmöglichen Tempo aufgegriffen werden. Doch nicht nur die durch die Klaviatur ausgelöste Mechanik soll hörbar gemacht werden, sondern auch das diffizil eingesetzte Pedal soll am Ende des ersten (S. 16) sowie des letzten Teils (S. 32) geräuschhaft (fortissimo) getreten werden.10 10 Bspw. Berlioz warnte bereits davor, dass Pedal ›falsch‹ zu bedienen, da das Klavier ansonsten leicht »Lärm und verworrenes Geräusch statt Wohl-

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Das Klavier als ›Geräuschmaschine‹ Eingehender soll nun Widmanns Klaviersolostück Toccata, welches für den ARD-Wettbewerb 2002 geschrieben wurde, untersucht werden, in dem eben diese geräuschhaften Elemente wiederum auszumachen sind. Hier werden nun die schnell repetierenden Töne tatsächlich ins Geräusch überführt, indem der hämmernde Rhythmus am Ende des Werkes durch das Klopfen auf den Klavierdeckel abgelöst wird. Der Pianist schlägt am Höhepunkt der ›fieberhaft, manisch‹ angeschlagenen Achtelketten den Klaviaturdeckel gegen den Korpus des Instrumentes und führt dann das regelmäßige Ticken durch Klopfen auf die Flügel-Außenseite oder den Klavierdeckel fort. Hierbei wird er immer leiser, indem er zunächst mit den Handflächen und schließlich nur doch mit den Fingerkuppen den Klangkörper bearbeitet und langsam ein morendo einleitet, bis das Klopfen nicht mehr akustisch vernommen werden kann. Das letzte Geräusch bildet das ›fortissimo‹ weggenommene Pedal.11 Erweitert wurden diese geräuschhaften Vorstöße 2003 im Solostück Hallstudie, welches für die Gewinnerin dieses ARD-Wettbewerbes Irene Russo geschrieben wurde. In dieser regelrechten ›Klopf-Etüde‹ erkundet die Pianistin den Instrumentenkorpus auf neue Weise vom Ende des Flügels. Im Gegensatz zu Lachenmanns Guero (1969) bildet nicht die Klaviatur Ausgangspunkt der ungewöhnlichen Klangerzeugung, sondern tatsächlich die gesamte Instrumentengestalt. Hierbei ist das Pedal während des ganzen Stückes arretiert, so dass sich ein Klopfgeräusch über den Hallkörper zu einem Klang entwickeln kann.

klang« erzeuge (s. Hector Berlioz, Instrumentationslehre, ergänzt und revidiert von Richard Strauss, Leipzig 1905, S. 174). 11 Jörg Widmann, Toccata für Klavier (= ED 9862), Mainz [u.a.] c2012; hier insb. S. 19–20.

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Abb. 3: Jörg Widmann, Toccata für Klavier (2002), Takte 158–160; vereinfachte Darstellung durch den Autor; vgl. ED 9862, S. 19. © SCHOTT MUSIC, Mainz – Germany.

Auf den ersten Blick, wird die Entwicklung der Toccata also auf den Kopf gestellt: Die Tonrepetitionen führen nicht in eine Geräuschwelt, sondern das repetierte Klopfgeräusch führt hinein in eine unbekannte Klangwelt. Dies ändert sich allerdings im Verlauf des Stückes, denn nachdem die Pianistin sich klopfend zur Klaviatur vorgetastet hat, wird allmählich von den Geräuschen des Klavierdeckels zum normalen Tastenspiel übergegangen. Nach einigen Tonrepetitionen wird auf abgedämpfte Töne zurückgegriffen, bis schließlich das Zentrum des Stückes mit einem einfachen a-Moll-Akkord erreicht ist. Dieses plötzliche ›Klangwunder‹ soll in diesem Kontext – nach über zehn Minuten Geräuscheinwirkung – auf den Zuhörer schockierend wirken.12 Am Ende des halbstündigen Werkes werden die Zuhörer nochmals überrascht, denn wenn sich die Pianistin, nach wilden Klopf-, Schleif- und Schabattacken mit Messern im Flügelinneren,13 langsam unter den Flügel begibt, ist das 12 In Widmanns Worten: »Über eine lange Zeit gibt es nur ungewöhnliche Formen der Klangerzeugung; in diesen außerordentlichen Kontext setze ich nun einen a-Moll-Akkord, den der Hörer hier als Fremdkörper, ja als Dissonanz wahrnimmt.« (aus: Fein, Im Sog der Klänge, S. 49). Ein Konzertmitschnitt des Werkes ist auf DVD erhältlich: Jörg Widmann, Experimentelle Kammermusik. Filme von Peider A. Defilla, Wergo (ASIN 379577 8018/NZ 52), c2005. 13 Vgl. zur perkussiven Behandlung des Klangkörpers Klavier: Florian Henri Besthorn, »The widening, desctruction and fusion of sounding bodies. The

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Stück noch nicht zu Ende: In Zeitlupentempo löst sie nun das Pedal, so dass die immer noch vibrierenden Saiten durch allmählichen Kontakt zu den Dämpferköpfen wiederum in Schwingung versetzt werden und so eine ›unsichtbare‹ Klangwolke aus dem Flügelinneren entschwebt. Erweiterung des pianistischen Klangspektrums: Widmanns Toccata (2002) Der Aspekt des Pedals als aktiver Klangerzeuger führt zurück zum Beginn der Toccata. Der Anfang steht dem Ende, welches von steten Tonrepetitionen geprägt ist, auf den ersten Blick konträr gegenüber. Die ersten sechs Takte können in drei zweitaktige Abschnitte untergliedert werden, welche überspitzt als Vordersatz, Nachsatz und ›Zusatz‹ tituliert werden könnten: Die Toccata beginnt mit einem heftigen Tritt auf das Pedal (sfffz) und wie eine Reaktion hierauf wird zweimal ein fis' angeschlagen, bevor das Pedal gelöst wird und ein Moment der Stille einsetzt. Findet der zweite Takt sein Pendant im vierten, wird auch der erste hierin mit aufgenommen: Es wird auf Schlag 2+ nicht nur ein Sechzehntel hinzugefügt und somit der Kern für die späteren Repetitionen vorweggenommen, sondern insbesondere durch den – ›verspäteten‹ – Pedaltritt eine weitere Synkope eingeschoben. Das angeschlagene fis' erklingt eine Achtel lang ohne Pedalhall und wird dann zunächst durch diesen Impuls zurückgedrängt. In den Takten 5–6 bleibt der Impuls des geräuschhaften Pedaltretens nun ganz aus und das eben erst gefestigte Metrum wird durch eine zusätzliche Achtelpause (im 5/8-Takt) in Frage gestellt. Statt der bloßen Tonrepetition erfährt das Material aus Takt 2 nun eine vom Pedal unabhängige Weitung des Tonraums. Wird zwar das Obertonspektrum durch das leise getretene Pedal unterstützt, geschieht die Klangerweiterung hier zunächst durch die Oktavverdopplung fis und auf die Synkope schließlich durch Auffüllung der Oktave durch die Töne ais, d' und den Zentralton h.

significance of the body in ›experimental chamber music‹ works by Jörg Widmann«, in: Gli spazi della musica 2 (2013), H.2, S. 27–43.

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Abb. 4: Jörg Widmann, Toccata für Klavier (2002), Takte 1–19; vereinfachte Darstellung durch den Autor; vgl. ED 9862, S. 3. © SCHOTT MUSIC, Mainz – Germany.

Das zweite System bringt ein neues Moment, indem der zuletzt erklungene Akkord nun stumm gedrückt wird. Die Takte 7–11 bilden quasi eine, durch den ›Zusatz‹ erweiterte, Augmentation des Vordersatzes, indem der angeschlagene Impuls den kräftigen Pedaltritt ersetzt und die ehemalige Synkope sich als Taktschwerpunkt von einer bloßen Tonrepetition emanzipiert, welche im fortissimo klingen gelassen wird, bis sich das H als eigentlicher Bezugspunkt des Beginns, als Achse zwischen F und fis herauskristallisiert. Das dritte System kann in ähnlicher Form als eine Art ›Negativ‹ der Takte 3–6 gesehen werden, be-

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vor die Folgetakte den Beginn nochmals rückwärtsgespielt wiederholen (vgl. Abb. 5 mit den Takten 15–17 aus Abb. 4). Abb. 5: Jörg Widmann, Toccata für Klavier (2002), Takte 15–17; vom Autor im Krebs notiert.

Doch weswegen dieser analytische Zoom, welcher vom ›Geräuschhaften‹ wegzuführen scheint? Fasst man die bisherigen Erkenntnisse zusammen, so kann eine deutliche Verdichtung vom Geräuschimpuls des ersten Taktes über erklingende und reflektiert-klingende Klänge, aber auch eine in der formalen Machart des Werkes erkannt werden. Letztendlich spielt Widmann mit drei Möglichkeiten des Tastendrückens bzw. -lösens: 1) regulärer Tastendruck zur Tonerzeugung, 2) stummer Tastendruck zur Resonanzerzeugung und 3) das Tastenlösen zur Resonanzregulierung. Selbiges wird gespiegelt auf den Pedaleinsatz, denn hier werden die Möglichkeiten des 1) gewöhnlichen Tretens zur Resonanzerweiterung, des 2) geräuschhaften Tretens sowie 3) des Lösens zur Resonanzregulierung durchgespielt. So wird in der Toccata von Beginn an auf die Klangmöglichkeiten des Instruments außerhalb des üblichen Saitenanschlags verwiesen, da indirekte Resonanzen eine wichtige Rolle spielen. Die sich anfangs langsam abwechselnde Klangund Geräuschwelt wird im zweiten Teil (presto possibile) von einer belebten, ebenso langen Stretta abgelöst. Diese ist wiederum von Tonrepetitionen geprägt, für die das Fundament bereits in den ersten Takten gelegt und ab Takt 92 spielerisch erweitert wurde. Verweist der Anfang mehrfach auf den zweiten Teil, so greift dieser in den Takten 143–153 plötzlich auf die Klangwelt des Beginns zurück. Nochmals können hier die drei genannten Möglichkeiten des Tastenspiels sowie

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des diffizilen Pedalspiels nachvollzogen und insbesondere eine Hommage auf das Schumann’sche ›Wegnehmen‹ der Töne14 und lediglich durch das c'' angeschlagene, doch als a-Moll, As-Dur und c-Moll erklingende Akkorde, ausgemacht werden. Abb. 6: Jörg Widmann, Toccata für Klavier (2002), Takte 100–108; vereinfachte Darstellung durch den Autor; vgl. ED 9862, S. 8. © SCHOTT MUSIC, Mainz – Germany.

Das Aufeinanderprallen zweier Welten: Das Gesicht im Spiegel (2002/03) Experimentiert Jörg Widmann einerseits am Klavier um neue Klangwelten zu eröffnen, ist es ihm andererseits ein Anliegen die gewohnten Töne in ungewohnter Umgebung zu präsentieren, damit deren ursprüngliche Klangkraft wieder wahrgenommen wird. In vielen seinen Werken fällt daher auf, dass er den alltäglichen Ton in neues Licht zu rücken sucht. Dies kann beispielsweise an seiner Fieberphantasie von 1999 veranschaulicht werden: Die vom Streichquartett über drei Minuten aufgebaute Geräuschwelt wird von einem Widmann-typischen aMoll-Einsatz des Klaviers (T. 50) unterbrochen. Danach steigern sich 14 Vgl. bspw. das Finale aus Schumanns Papillons, op. 2, in dem »wohl zum ersten Mal in der Klaviermusikgeschichte das Loslassen von Tasten als absichtsvoll intendiertes kompositorisches Ereignis« erscheint (Mauser, Studien und Visionen, S. 90).

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dessen geräuschhaft-wirkende Tonrepetitionen während die Streicher darunter einen ›Klang‹-Teppich bilden, bis die fünf Instrumentalisten nach einem Höhepunkt (T. 154) allesamt zurück in eine leise Geräuschwelt fallen, in der einzig die neu hinzutretende Klarinette (T. 157–163) den ›Ton‹ anzugeben vermag. Dieses ›Herauskristallisieren‹ eines Einzeltons aus einer geräuschhaften Umwelt findet sich neben dem, mit »wie das Erwachen eines Organismus« überschriebenen, Beginn der Lichtstudien-Gesamtfassung für fünf Solisten und Orchester (2001–2004) auch in der ersten Szene von Widmanns abendfüllen Musiktheater Das Gesicht im Spiegel. Hier wird zu Beginn musikalisch ein Sonnenaufgang nachgezeichnet, bei dem sich innerhalb der ersten 15 Takte langsam ein c aus einem »Klangchaos« hin zu einer »sich allmählich zusammenfügenden Klangwelt« herausschält.15 Das Neuentdecken des Tones hängt mit dem Plot des Werkes zusammen, entwickelt die geklonte Justine doch unvorhergesehen Gefühle, so dass die artifizielle Kopie letztendlich in der aufgeklärten, kapitalistischen Welt als einziges Wesen, dessen neu entdeckte Empfindungen tatsächlich noch echt sind, erscheint. Wird die wissenschaftliche Sensation in der vierten Szene der Öffentlichkeit vorgestellt, so steht hier musikalisch ebenfalls deren ›neu‹-entdeckter, endlos scheinender Einzelton im Vordergrund (vgl. den Beginn ihrer ›Liebesarie‹ [Abb. 7] im Kontrast zu dem roboterhaft agierenden Trio der Konzernbesitzer Patrizia und Bruno und dem Bio-Ingenieur Milton [Abb. 8]).

15 Norbert Abels, »Der Traum von einem anderen Singen. Zu Jörg Widmanns ›Das Gesicht im Spiegel‹«, in: Jungheinrich, Spuren (Anm. 6), S. 29–43; hier S. 37.

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Abb. 7: Jörg Widmann, Das Gesicht im Spiegel. Musiktheater in 16 Szenen (2002/03; rev. 2010), 4. Szene, Takte 1–14; reduzierte Darstellung durch den Autor; vgl. Partitur (51 152), S. 93–95. © SCHOTT MUSIC, Mainz – Germany.

Abb. 8: Ebd., 3. Szene, Takt 40; reduzierte Darstellung durch den Autor; vgl. Partitur (51 152), S. 83. © SCHOTT MUSIC, Mainz – Germany.

Während die geklonte Kopie mit klanghaften Tönen präsentiert wird, scheint das Original Patrizia eines belcanto nicht mehr mächtig, sondern »über weite Strecken im Geräuschhaften angesiedelt« (vgl. Abb. 9).16 Die 13. Szene führt diese Antagonie in aller Deutlichkeit 16 Widmann weist zudem darauf hin, dass die »Artikulation und Färbung von Vibrati und Non-Vibrati in den Vokalparts« ganz ähnlich zum Einsatz des

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vor, wenn das Ehepaar Patrizia und Bruno sich beim Frühstück nicht viel mehr als gestottertes Schweigen zuwerfen können, wohingegen ab Takt 40 weiche Klänge in die Geräuschwelt einbrechen, um die entfachte Liebe zwischen Bruno und Justine zu verdeutlichen. Klingt Brunos ›Jus-ti-ne‹ hier an Bernstein ›Ma-ri-a‹ an, so kommt es vor der Präsentation Justines am Ende der dritten Szene zu einer Reminiszenz an Strauss’ Rosenkavalier.17 Den geräuschhaften Partien des Werkes werden demnach immer auch Erinnerungen an musikalischen Schönklang gegenübergestellt, ja sogar durch das Libretto indirekt zum eigentlichen Thema gemacht (vgl. Abb. 10). Andererseits werden Alltagsgeräusche von den Sängern und Musikern aufgenommen und so ›musikalisch‹ gedeutet. Dies ist vor allem direkt nach dem Sonnenaufgang zu hören, wenn ab Takt 57 der ersten Szene ein NachrichtenTicker, ein Wecker und andere Maschinen nachgeäfft werden.18 Widmann will das Leben so aus der sterilen Umwelt reißen, um es wieder lebenswert zu machen – in Justines Fall sogar um ein Leben als ›wahrer Mensch‹ überhaupt erst beginnen zu können. Ähnlich verfährt er mit Klängen: Erst wenn der Ton quasi neu entdeckt wird, sich aus einer Geräuschkulisse herausschält, sind wir – die wir heute rund um die Uhr von Musik, Lärm, Klang und Geräusch umgeben sind – wieder fähig, ihn neu und staunend zu hören.

»Pedal[s] in einem komplexen Klavierstück« zig-fach abgestuft sind (Jörg Widmann, »Ein Endspiel. Der Komponist spricht über sein Schaffen« [Interview mit Rainer Karlitschek und Hanspeter Krellmann], in: Hanspeter Krellmann/Jürgen Schläder [Hg.], »Theater ist ein Traumort«. Opern des 20. Jahrhunderts von Janáček bis Widmann, Berlin 2005, S. 359–364; hier S. 362). 17 Doch bereits dort sind die Celestaklänge nicht mehr, als ein Erinnern oder vielmehr ein Herbeisehnen des verlorenen ›hochheiligen‹ Paradieses. 18 Siehe hierzu auch: Abels, Der Traum von einem anderen Singen, S. 38 und 40. Vergleiche bspw. zudem Widmanns Signale für sechs Stimmen (2003), in denen die Sänger die technische Fehlerhaftigkeit von Maschinen (wie Störgeräusche eines Radios) stimmlich aufgreifen und karikieren.

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Abb. 9: Ebd., 13. Szene, Takte 66–69; reduzierte Darstellung durch den Autor; vgl. Partitur (51 152), S. 363. © SCHOTT MUSIC, Mainz – Germany.

Abb. 10: Ebd., 15. Szene, Takte 24–34; reduzierte Darstellung durch den Autor; vgl. Partitur (51 152), S. 430–432. © SCHOTT MUSIC, Mainz – Germany.

Musik und Vergessen Ein Vortrag mit Klangbeispielen B ASTIAN Z IMMERMANN

Musik und Vergessen – diese Gegenüberstellung erinnert wohl zunächst an die Momente des Selbstvergessens, die uns beim Hören von Musik widerfahren können. Die Situationen, in denen man sich tranceartig dem Flow einer Musik hingibt. Oder wenn sich ein Ereignis auftut, in dem die Musik eine dermaßen tragende Rolle spielt, dass die üblichen Rollenerwartungen an Orte und Personen vergessen werden. Schlagwortartig: Musik anschalten und alles vergessen, ist hier der Tenor. Ich möchte im Folgenden jedoch Musik und Vergessen weniger in diesem spezifischen, wenn auch verbreiteten Gebrauch suchen, als vielmehr in dem einer jeden Musik inhärenten Spannungsfeld zwischen ihrer eigenen, wie auch immer gearteten musikalischen Ordnung, ihrer Narration und den Klängen, Geräuschen – oder besser den Klang- und Geräuschbildern –, die ihre einzigartige Existenz für die Ordnungslogik der Musik zu großen Teilen aufgeben müssen oder die, wenn ich hier die Formulierung des Titels aufnehmen darf, vergessen gemacht werden müssen. Dies alles scheint auf den ersten Blick noch etwas verworren und erklärungsbedürftig. Es mag daher hilfreich sein, zur vorläufigen Veranschaulichung ein musikalisches Beispiel zu präsentieren, auf das ich

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später wieder zurückgreifen werde. Es handelt sich um Track 7 des Albums One Pig von Matthew Herbert.1 Ein erster Höreindruck lässt die Produktionsweise dieses Tracks ungefähr erahnen: Herbert hat die Schlachtung eines Schweines aufgenommen und nutzt das Geräusch vom Zersägen der Knochen für den Beat seines Technotracks. Dennoch würde ich behaupten, dass man als Hörer das Eigenleben, den Eigenwert jener Realität, also der Schlachtszene, auf die die Klangaufnahme als Icon verweist, zunächst ignoriert. Zum Verständnis dieser These bedarf es dreierlei Vorannahmen, die ich nun genauer erläutern möchte: Erstens, die Trennung von Klang und Klangquelle. Zweitens, das Kontinuum von Geräusch, Klang und Ton. Und drittens das, was ich als musikalische Ordnung und Narration bezeichnen würde. 1. Die Trennung von Klang und Klangquelle Zum ersten Punkt nur ganz kurz: Jeder Klang wird imaginär ergänzt zu einem wie auch immer gearteten Ganzen. Es existiert keine reale Klangquelle, jedoch eine imaginierte, die am Beispiel des Schweins auch symbolisch besetzt werden kann. Andere Möglichkeiten der Besetzung wären der indexikalische und ikonische Zugriff auf Zeichen. Bild und Klang sind hier zumindest in der Imagination eins. 2. Das Kontinuum von Geräusch, Klang und Ton Die wesentlichen Differenzen zwischen den oben genannten Begriffen, würde ich in etwa so umschreiben: Das Geräusch ist wild und − visuell gedacht − besonders nahe an seiner Klangproduktionsstätte, der Quelle. Der Klang ist ein wenig stilisierter. Die vielen akustischen Informationen bilden eventuell ein plausibles Ganzes, er muss aber keine unbedingte Nähe zur Klangquelle besitzen. Der Ton ist das Stilisierte schlechthin, man hat wenig individuelle, lebensweltliche Zugriffsmöglichkeiten, außer die der Musik selber: Zu seiner Erzeugung werden 1

Matthew Herbert, One Pig, Accidental (AC48CDJ), 2011.

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extra Instrumente gebaut, und seien es auch die Grenzzäune in Australien, die zum Schwingen gebracht werden. Die Faszination liegt in der völligen Ablösung des Klangs von der Quelle. Das Geräusch ist also nicht gedacht als das völlig Andere der Musik, aber als etwas, das sich der Musik – verstanden als einem Ordnungssystem – tendenziell entzieht und vice versa von der musikalischen Ordnung absorbiert wird. Wie das vonstattengeht, entscheidet sich an jedem Stück Musik einzeln. Allgemein kann man aber sagen: Geräusch, Klang und Ton bestimmen sich allein durch ihr Verhältnis zu einer wie auch immer gearteten Ordnung von Musik. 3. Musikalische Ordnung, Narration Musik ist immer Ordnung, organized sound. Die geringste Schwelle liegt in ihrer Darbietung des Unorganisierten bzw. nach Zufall Organisierten, wie im Fall John Cages. Jedem dieser Extreme, aber natürlich auch den tausenden unspektakulären Fällen zwischendrin, liegen Narrationen zugrunde, Strategien, irgendwie Sinn zu produzieren. Zum Beispiel durch einen Beat oder einen komplizierten ProgrammheftEintrag über mathematische Spekulationen etc. Jede Narration, und hier wird der Vergleich zum Film spannend, nutzt diese oder jene klangliche Erscheinung als Zeichen für ihre Sinnproduktion. Beim ›Geräusch‹ ist die Art des Zugriffs über Zeichenhaftigkeit besonders breit gefächert, der Überschuss, der nicht in der musikalischen Ordnung aufgeht, aber auch entsprechend hoch. Beim ›Klang‹ ist der Zugriff beschränkter, ebenso der Überschuss. Und beim ›Ton‹ gibt es kaum noch Varianz im Zugriff. Der Zugriff auf ein Zeichen besteht hier im idealen Falle allein aus dem referenzierten Klang und den sekundären Mischtönen, die beispielsweise ein Cello produziert. Gibt es ein solches Kontinuum im Film? Ich würde sagen ja, denn jede filmische Narration nutzt letzten Endes auch nur bestimmte Zeichen, die dem Schnitt zugutekommen. Im Bereich des dokumentarischen Filmens gibt es analog zum Geräusch solche rauschhaften Bilder, Aufnahmen von komplexen Situationen menschlichen Wirkens,

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die voll an Informationen sind, mit denen es aber dennoch möglich ist, die Geschichte eines Menschen oder Ähnliches zu erzählen. Im Film sind es natürlich oft andere Dinge, die zum Zeichen werden können. Man bemerke hier allgemein die Analogie des Schnitts, der für die Lautsprechermusik viel zu wenig diskutiert wird, was natürlich nicht bedeuten soll, dass hier Geschichten erzählt werden. Jeder Schnitt, Bruch, jede Irritation kann narrativ wahrgenommen werden. In dem Spannungsverhältnis von Ordnung/Narration und den singulären Klangexistenzen deutet sich ein Konflikt an, der wohl das menschliche Schaffen stets begleitet: Zur Etablierung einer Ordnung, sei es eine soziale, gesellschaftliche, politische, aber auch ästhetische Ordnung benötigt man ein zugrundeliegendes Material oder, wie man es im Kontext der die Musik produzierenden Musikern sehen wird, Arbeiter, die man auf einen bestimmten Produktionsaspekt hin nutzbar macht. Musik und Vergessen handelt daher im weitesten Sinne von Existenz und Ordnung, vom Individuellen und Allgemeinen, von den Materialitäten und ihrer Funktionalisierung, bzw. in Bezug auf die Musik, ihrer Instrumentalisierung. Den Allgemeinplatz dieses Verhältnisses sieht man in Charlie Chaplins Film Modern Times vertreten, in dem die Hauptfigur real in die Mangel der Zahnräder genommen wird. Ich möchte aber keine Politik im Sinne der Befreiung des Menschen, des Klanges oder der Bilder betreiben. Der Punkt, auf den es mir ankommt ist der, dass etwas vergessen oder verdrängt wird, wenn sich diese oder jene Ordnung von Musik etabliert. Was für eine Perspektive auf Musik muss man also aufsuchen, um diesen Aspekt des Vergessens und Verdrängens fokussieren zu können? In die Archive gehen und Partituren studieren hilft nicht viel. Keine Note offenbart ihre dahinter liegenden Produktionsbedingungen und -kräfte. Die Notation ist selber schon eine verallgemeinerte Abstraktion einer Klangproduktion, die je nach Aufführung so oder so ausfällt. Erst beim Hören einer klanglichen Ordnung und den anhand der Geräusche, Klänge und Töne imaginierten Materialitäten, also jenen Aspekten von Klang, die nicht in der Ordnung aufgehen, erschließt sich ein musikalisches Gebilde in seiner spannungsvollen Ganzheit.

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Vielleicht ist die Bestimmung des Verhältnisses von Materialität und Ordnung nun etwas klarer geworden. Allein der Begriff der Materialität bedarf wohl noch einer Erläuterung. Wenn ich mit Materialität bisher eine Art Überschuss bezeichnet habe, so meinte ich die nicht in der Ordnung von Musik aufgehenden Wahrnehmungsaspekte von Klang. Man denke sich wieder die Schlachtung auf dem Album One Pig von Matthew Herbert. Die Säge zurrt und schnarrt (Ikon), besitzt eine eigene Dynamik von Kräfteverläufen im Ansetzen, Durchziehen und Stoppen, die als Symbol sogar das Potenzial einer gewissen Grausamkeit besitzt. Herbert nutzt einige wenige Aspekte dieses Klangs, wie den rhythmischen Impuls der Säge, für die musikalische Ordnung, den Beat. All die anderen Aspekte nimmt er mit, ohne dass sie im Kontext dieser Ordnung einen bestimmten Sinn bekämen. Erst beim Hören des gesamten Albums findet eine größere Narration über diese symbolhafte Besetzung statt. Ich sprach in einem Essay zu diesem Album, veröffentlicht letztes Jahr in der Schweizer Zeitschrift Dissonance,2 vom »Zerfransen« des Klanges, vom Überschuss in der Klangwahrnehmung von Musik, von Aspekten, die über das Ziel der Musik als Ordnung hinausschießen. Wie verhält sich dieser Überschuss zu der zunehmenden Domestizierung in der weiter oben erläuterten Aufzählung von Geräusch, Klang, Ton? Mit jedem Schritt in der Aufzählung wird der Überschuss weniger, das Geräusch ist wild, franst über das an ihm genutzte Zeichen aus, ist aber besonders nah zu seiner Klangquelle. Der Klang ist ein wenig stilisierter, kann aber noch bestimmte, vielleicht zum Geräusch prägnantere Fransen bilden. Beim Ton gibt es den kleinsten Spielraum, er ist eine vollends stilisierte, domestizierte Form der Klangproduktion, da meistens von hierfür gebauten Instrumenten gespielt.

2

Bastian Zimmermann: »An awkward dance with the other. Matthew Herberts Album One Pig zwischen Sound-Art und Popkultur«, in: Dissonance 117 (2012), S. 29 – 33.

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Wie lässt sich dieses Denken radikalisieren? Das Schwein hat gezeigt, dass die Etablierung einer musikalischen Ordnung dazu tendiert, ihren Grund, ihre Herkunft, ihre Klangproduktion vergessen zu machen, zu verdrängen. Denn hier gibt es eben immer diesen Überschuss, der nicht in der Wahrnehmung der Musik als Musik aufgeht. Herbert baut Instrumente aus dem Schwein, z.B. eine Schweineblutorgel, die über die rhythmisierten Aufnahmen des Verzehrs des Schweins ein R’n’B-Pitch-Klagelied singt. Man hört weiter: Trommeln aus der Schweinehaut, Sticks aus den Knochen und das Braten und Verzehren des Fleisches (Track 8).3 One Pig beschreitet den Weg vom Stall- und Schweinegeräusch zu den stilisierten, weil herausgepickten Stallklängen, bis hin zu Tönen, die Herbert den Klängen abhört und sie der Tonalität nach ordnet bzw. die er bestimmten Klängen einfach durch technische Manipulation aufoktroyiert. Noch einmal zum Film: Wie lassen sich Klang und die Ordnung von Musik mit dem Film vergleichen? Ein Beispiel aus dem Genre des Spielfilms soll hier genügen. Man imaginiere sich eine Verfolgungsszene, die in Tempo und Varianz stetig zunimmt. Ein Motorradfahrer verfolgt eine in Latex gekleidete Ninja-Frau durch ein Industriehafengebiet, eine prototypische Szene eines Actionstreifens aus Hollywood. Jedes der einzelnen Bilder beinhaltet für sich gesehen ein Abbild, eine Aufnahme, einen Abdruck einer ehemals existenten Realität. Nur dass diese hier schon im Vorhinein gestellt wurde. Wieso? Damit das Bild nur über die Informationen verfügt, die für den schnellen Fortgang der Geschichte, die hier allein aus körperlichen Bewegungsimpulsen und Intensitäten besteht, vonnöten sind. Die Bilder und ihre Inhalte werden für die Ordnung des Films funktionalisiert. Sie gehen in der Ordnung auf. (Nur die Schönheit des Stars kann noch einen Informationsüberschuss legitimieren). Das fällt bei der Sichtung von solch inszenierten Bildern auch gar nicht auf. Bei nicht vollständig konstruierten, intendierten Bildern jedoch schon. Auch hier wird das Eigenleben, die Referenz zur Außenwelt entweder vergessen oder wie im Genre der

3

Herbert, One Pig.

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Dokufiction wieder aufgefangen. Ist Herbert das musikalische Pendant zur derzeitigen Produktionswelle von Dokufictions? Ich glaube schon. Bei der Arbeit mit dem Rauschhaften, den Geräuschen unserer Welt und ihren lebensweltlichen Bezügen wird immer wieder offenbar, dass man sich an diesen Widerständen, den Materialitäten, die diesen Materialien anhaften oder an ihnen imaginiert werden, abarbeiten muss. Als Komponist kann man sich heute alles einverleiben, übersetzen, zerstören. Hier kommt nun der bisher ausgeblendete Aspekt der Macht mit ins Spiel: Nicht die Macht der Musik über ihre Hörer, sondern als ein Denken von Ordnung, welches musikalische Sinnzusammenhänge als machtvolle Strukturen begreift. Ist die Struktur des Techno eine Disziplinarmacht? Das Material kann sich nicht dagegen wehren. Erst mit der Aufmerksamkeit für das Material, einer gewissermaßen ethischen Zuwendung, werden die Widerständigkeiten offenbar und können dann im Werk, hier exemplarisch ausgehend von Matthew Herberts One Pig dargestellt, narrativ prozessualisiert werden. Jeder Klang ist zugleich immateriell-imaginativ und materielllebensweltlich. Klang ist nie nur Klang, sondern etwas, das für die musikalische Ordnung nutzbar gemacht wird. Am Geräusch, den wilden, kaum zu bändigenden Klangexistenzen wird dies besonders evident.

Growling Gutturale Stimmen in Black und Death Metal C HARRIS E FTHIMIOU

Die Untersuchung der populären Kulturen der späten 70er Jahre findet in letzter Zeit starken Zuwachs. Die Zahl internationaler Konferenzen zu diesem Thema nimmt stetig zu. Ein Teil dieser ›Popular Studies‹ widmet sich auch der populären Musik. Sie umfasst verschiedenste Musikstile von traditioneller Musik verschiedener Länder bis zu den extremen Genres wie Death oder Black Metal. Bis vor kurzem waren Hard Rock und Heavy Metal keine sehr verbreiteten Untersuchungsgegenstände, doch zum Glück treffen die sogenannten ›Metal Studies‹ auf immer größere Akzeptanz. In den letzten Jahren sind Vorträge und Forschungsartikel zu Heavy Metal immer mehr an Konferenzen und in Zeitschriften auch außerhalb der Popular Studies anzutreffen. Innerhalb der Metal Studies gibt es wiederum verschiedene Forschungsfelder. Die soziologische Analyse von Hard Rock und Heavy Metal, die Interpretation der Songtexte sowie die Untersuchung von genderspezifischen Aspekten sind nur einige davon. Musikanalytische Studien zu dieser Art von Musik gibt es jedoch trotz der erhöhten Forschungsaktivität nur sehr wenige; eine Ausnahme bildet etwa die Abhandlung von Dietmar Elflein.1 1

Dietmar Elflein, Schwermetallanalysen, Bielefeld 2000.

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Black Metal ist eine der extremsten und zugleich populärsten musikalischen Strömungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Lautstärke, die extrem starke Verzerrung der elektrischen Gitarre, die Dissonanz und der geräuschhafte Gesang sind einige der Hauptcharakteristiken dieser Art Musik. Während einige musikwissenschaftliche Publikationen sich den Texten sowie soziologischen Aspekten des Black und Heavy Metal annehmen, blieben musikalische Analysen dieser Strömung bisher aus. Die Interpreten dieser Musik wiederum sehen es nur ungern, wenn ihre Musik unter einer musikanalytischen Perspektive betrachtet wird. Dies gilt es im Folgenden zumindest teilweise nachzuholen, indem das Phänomen des Black Metal und insbesondere das Geräuschhafte seines Gesangs von einem musikanalytischen Standpunkt aus beschrieben wird. Bevor der Gesang des Black Metal charakterisiert werden kann, ist es notwendig die Entwicklung dieses Musikstils während der 80er und 90er Jahre in den Blick zu nehmen, um dem Ausdruck Black Metal eine gewisse Trennschärfe zu verleihen. Der Song Black Sabbath auf dem gleichnamigen 1970 erschienen Album der britischen Band Black Sabbath markiert für viele Musikwissenschaftler den Beginn der Heavy Metal Musik.2 Die okkulten Themen der Liedertexte und ein dunklerer Gitarrensound waren einige der Innovationen dieser Band. Einige Jahre später (1979–82) entwickelte sich vorwiegend in Großbritannien eine neue Art von Heavy Metal, die sogenannte New Wave of British Heavy Metal (NWoBHM). Das schnelle Tempo, die Aggressivität der Musik und die Verwendung von Texten, die sich an Satanismus und Science-Fiction anlehnen, waren typisch für die NWoBHM.3

2

Ian Christe, Sound of the Beast. The Complete Headbanging History of Heavy Metal, New York 2004, S. 7–15 und Frank Schäfer, Heavy Metal. Geschichte, Bands und Platten. Leipzig 2001, S. 54–65.

3

Vgl. Malc Macmillan, The New Wave of British Heavy Metal Encyclopedia, Berlin 2005.

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In seiner Abhandlung über Heavy Metal Musik listet Robert Walser die wichtigsten Bands dieses Stils auf, darunter finden sich etwa Black Sabbath, Judas Priest und Motörhead. In jener Liste taucht auch eine Band namens Venom auf.4 Während die Mehrheit der NWoBHM Bands jedoch melodische Songs mit virtuosen Gitarrensolos schrieben, deren Texte die Probleme der britischen Unterschicht verhandelten,5 folgte Venom einem völlig anderen künstlerischen Weg. Es genügt die Refrains verschiedener Songs der anerkannten NWoBHM Bands Angel Witch,6 Def Leppard7 und Saxon8 mit dem Song Black Metal9 von Venom zu vergleichen, um deren Sonderstellung in der NWoBHM zu erkennen. Während kein Sänger der zuerst genannten Bands einen besonders geräuschhaften Gesangsstil pflegt,10 ist die Stimme von Cronos (Conrad Land), dem Sängers von Venom, von sehr geräuschhaft-rauen Klangfarben geprägt. Cronos’ geräuschhafter Gesang war natürlich in den 1980er Jahren keine Innovation mehr, man denke nur an Ian Gillans raue Stimme,11 die perfekt integrierten Schreie von Paul Di’Anno12 oder den aggressiven Gesang von James Hetfield.13 Die außerordentlich schlechte

4 5

Robert Walser, Running with the Devil, Middletown 1993. Vgl. Deena Weinstein, Heavy Metal. The Music and its Culture, New York 2000 und Jeffrey Arnett, Heavy Metal and Adolescent Alienation, Oxford 1996.

6

Angel Witch, Angel Witch, Bronze, 1980, studio version: 00:40–00:52.

7

Am I Evil?, Lightning to the Nations, Happy Face, 1980, studio version:

8

Motorcycle Man, Wheels of Steel, Carrere, 1980, studio version: 00:54–

03:20–03:35. 01:06. 9

Black Metal, Black Metal, Neat, 1982, studio Version: 00:39–00:58.

10 Kevin Heybourne von Angel Witch, Joe Elliot von Def Leppard, Sean Harris von Diamond Head and Biff Byford von Samson. 11 Vgl. Speed King (Deep Purple, Deep Purple in Rock, Harvest, 1970). 12 Vgl. Killers (Iron Maiden, Killers, EMI, 1981). 13 Vgl. Hit the Lights (Metallica, Kill ´Em All, Megaforce, 1983).

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Klangqualität des Albums Black Metal (1982) von Venom führte jedoch in Verbindung mit dem extrem verzerrten Gitarrensound und des stark geräuschhaften Gesangs von Cronos zu einem bis anhin unerhörten Sound, der unzählige Black Metal Bands der späten 80er Jahre inspirierte. So gelten die ersten beiden Alben14 von Venom auch als der musikgeschichtliche Auslöser des Black Metal.15 Black Metal ist ein extremer Stil des Heavy Metal mit okkulten, satanistischen und anti-christlichen Texten. Das Klangbild des typischen Black Metal Songs ist von einfachen harmonischen und melodischen Strukturen geprägt. Die extrem starke Verzerrung der Gitarre, die in der Regel mindestens einen Ganzton tiefer gestimmt wird, bringen einen dunklen und furchterregenden Klang hervor, der von Musikern vorgetragen wird, die wegen ihres rassistischen oder kriminellen Hintergrunds berüchtigt sind.16 Skandinavien war während dieser ersten Zeit (1982–1990) noch nicht das alleinige Zentrum dieses Musikstils. Tatsächlich war in den späten 80e Jahren Death Metal viel populärer.17 Die führenden Bands des Black Metal waren unter anderen Bathory, Sodom (beide aus Schweden), Hellhammer und Celtic Frost (beide aus der Schweiz), Rotting Christ aus Griechenland und Mayhem aus Norwegen. In der folgenden Abbildung werden verschiedene Black Metal Bands nach dem spezifischen Gesichtspunkt charakterisiert, wie geräuschhaft der Gesang des jeweiligen Sängers ausfällt. Ganz links steht die Band, deren Gesang am wenigsten geräuschhaft ausfällt, was mit einer guten Textverständlichkeit einhergeht, ganz rechts die Gruppe, deren Gesang am geräuschhaftesten und dementsprechend auch am unverständlichsten ist.

14 Welcome to Hell, Neat, 1981 und Black Metal, Neat, 1982. 15 William Phillips/Cogan Brian, Encyclopedia of Heavy Metal Music. Westport 2009, S. 34. 16 Ebenda, S. 34. 17 Ebenda, S. 62f.

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Abb. 1:

Diese Zusammenstellung soll folgende Punkte verdeutlichen: •

• •

Während die Stimme von Venom im Vergleich zu anderen Bands der NWoBHM sehr geräuschhaft erschien, so befindet sie sich in dieser Auflistung, die nur Black Metal Bands umfasst, ganz am linken, also geräuscharmen Ende. Die Textverständlichkeit der Songs nimmt in der ersten Phase des Black Metal im Verlauf der Zeit ab. Die skandinavischen Bands tendieren zu einem stärker geräuschhaften Gesang als jene aus Zentral- und Südeuropa.18

Die zweite Periode, oder besser gesagt, die zweite Welle des Black Metal begann 1991 nach dem Selbstmord von Per Dead Yngve, dem Sänger von Mayhem. Als Euronimus (Øystein Aarseth), der Gitarrist von Mayhem, seinen Bandkollegen tot auffand, alarmierte er nicht sofort die Polizei, sondern nahm sich erst die Zeit, den Toten zu fotografieren. Dieses Fotomaterial wurde darauf für das Plattencover des neu18 Der Übersicht halber wurden nur fünf Bands berücksichtigt: Sie stehen stellvertretend für die Zeit und den geographische Raum, in dem sie künstlerisch aktiv waren.

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en Live-Albums von Mayhem, The Dawn of the Black Hearts, verwendet.19 Das Album markierte den Beginn der Zweiten Welle des Black Metal20 Die musikalischen Charakteristiken dieses Albums sind: • • •

Der Verzicht auf die tiefere Stimmung der Gitarren Die im Vergleich zum damaligen Death Metal technisch weniger anspruchsvollen Instrumentalstimmen Der geräuschhafte Gesang im hohen Register (heiseres, gutturales Fauchen: growling)

Die Inhalte der Songtexte der wenigen Black Metal Bands dieser zweiten Phase sind noch extremer als zuvor.21 Die Aggression gegen die christliche Religion nahm rapide zu22 und die meisten Bands bestanden aus Musikern, die im Strafregister verzeichnet waren. Während der ersten Hälfte der 90er Jahre entstand der sogenannte ›inner circle‹. Er bestand aus Black Metal Fans und Musikern, die sich verschiedener Verbrechen, u.a. der Brandstiftung an Kirchen, schuldig machten. Das geographische Zentrum dieses ›inner circles‹ war Skandinavien, insbesondere Norwegen. Die Unterschiede zwischen den zwei Black Metal Wellen lassen sich jedoch nicht nur am Privatleben und den Lebenshaltungen der jeweiligen Bandmitglieder, sondern auch an der Komposition des Klanges festmachen. Die musikalischen Charakteristiken der zweiten Welle sind:

19 Mayhem, The Dawn of the Black Hearts, Warnmaster Records, 1990. 20 Michael Moynihan/Didrik Søderlind, Lords of Chaos: The Bloody Rise of the Satanic Metal Underground, Los Angeles 2003, S. 45–63. 21 Caroline Lucas, »White Power, Black Metal and Me: Reflections on Composing the Nation«, in: Rosemary Hill/Karl Spracklen (Hg.), Heavy Fundametalismus: Music, Metal and Politics, Oxford 2010, S. 43–54. 22 Evan Calder Williams, »The Headlesshorsemen of the Apocalypse«, in: Nicola Masciandaro (Hg.), Hideous Gnosis, Black Metal Theory Symposium, New York 2009, S. 129–142.

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• • • • • • •

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Kaum Melodien Abwenden von Dur/Moll-Harmonik Lange gehaltene Akkorde mit harten Dissonanzen Hohes Tempo Keine Tieferstimmung der Gitarren Einfache Akkordabfolgen Schlagzeug mit Blast Beats (schnelle, maschinengewehrartige Schlagreihe) und Doublebass (Zweifußtechnik Basstrommel) Kehliger, fauchender Gesang in hohem Register (growling)

In der Art des Gesangs öffnet sich die wohl wichtigste Differenz zwischen der zweiten Black Metal Welle und der restlichen Popmusik jener Zeit. Der gutturale Gesang, das ›growling‹, wird nicht mit den Stimmbändern, sondern mit den Taschenbändern hervorgebracht und wird auch Kehlgesang genannt.23 Dieses Gesangsprinzip ist auch in verschiedenen Volksmusiken verbreitet, so etwa auf Sardinien oder beim Jodel im alpinen Raum. Im Kontext der Black Metal Musik gegen Ende der 90er Jahre ist diese gutturale Gesangstechnik Ausdruck von Aggressivität,24 Verzweiflung und dem Willen zur Einschüchterung.25 Eine ähnlich extreme Form des Heavy Metal, die sich parallel zum Black Metal entwickelte, wird mit dem Namen Death Metal bezeichnet. Death Metal übernahm das Tempo und die Komplexität des Trash Metal,26 die Gesellschaftskritik des Punks und die extreme Gitarrenverzerrung des Black Metal.27

23 Für detaillierte Beschreibung der Gesangstechnik: http://www.musikerboard.de/faq-workshop-voc/268592-faq-gutturaler-gesang-eine-sache-deskoerpers-des-geistes.html (eingesehen am 04.04.14). 24 Weinstein, Heavy Metal, S. 51 25 Vgl. Moynihan/Søderlind, Lords of Chaos, S. 305. 26 Phillips/Brian, Encyclopedia, S. 234. 27 Ebenda, S. 87.

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Abb. 2:

Black und Death Metal sind zwei der wohl aufregendsten Stile populärer Musik. Die Gesangspartien beider Strömungen entwickelten sich während der letzten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts vom Sprechgesang hin zu einer völligen Unverständlichkeit. Die Höhe des gutturalen Gesangs ist ein Unterscheidungskriterium zwischen den beiden Stilen. Diese Musik trägt Bezeichnungen wie »clouded flash of noise« oder »the dark mysticism of the extensive attack of noise« – und polarisiert Fans wie Musiker bis zum heutigen Tag.

Übersetzt von Christoph Haffter

Überbrücken, Unterbrücken B ASTIAN P FEFFERLI /D EMETRE G AMSACHURDIA

Information

is

not

knowledge.

Knowledge is not wisdom. Wisdom is not truth. Truth is not beauty. Beauty is not love. Love is not music. Music is the best.1 Information ist kein Wissen. Wissen ist kein Bücherregal. Ein Bücherregal ist keine Bibliothek. Eine Bibliothek ist kein Konzertsaal. Ein Konzertsaal ist keine Bühne. Eine Bühne ist keine Brücke. Eine Brücke ist das Beste.2

Muss Musik immer in einem Konzertsaal gespielt werden? Der Ort bestimmt maßgeblich Rahmen und Wirkung einer Performance. Er ist wie das Gefäß, dessen Form die des Wassers darin bestimmt. Der klassische Konzertsaal vermittelt ein Gefühl von Seriosität, elitärer Gesellschaft und gehobener Qualität der Darstellung. Somit unter1

Frank Zappa, in: Joe’s Garage, Rykodisc 1979.

2

Bastian Pfefferli/Demetre Gamsachurdia frei nach Frank Zappa.

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liegt jegliche, in einem klassischen Konzertsaal gespielte Musik dieser Ausstrahlung. Ein Schubertlied, in einem Keller vorgetragen, wirkt völlig anders, als wenn es auf einem Berggipfel gesungen wird. Wie die Verhältnisse von Raum, Licht, Zeit die Wahrnehmung beeinflussen, so entscheidet die Wahrnehmung des Zuhörers über eine Existenz von Musik in Klang und Geräusch.* Bereits unser Sprachgebrauch impliziert, dass »Geräusch« nichts mit Musik zu tun hat. Noch mehr: etwas, das man mit »Geräusch« betitelt, wird als einfache Konsequenz einer Aktion und eher negativ aufgefasst. »Klang« hingegen wird nur schon vom Begriff her als »absichtlich« und »schön« verstanden. Definitiv sehen wir das Wort »Lärm« als etwas Negatives. Doch auch Lärm kann organisiert sein, und seine Wirkung kann sich unter einer Brücke auf vielfältige Weise potenzieren. Gibt es eine Musik des Lärms? Gibt es einen Weg, die Essenz chaotischer, willkürlicher Materie einzufangen? Wie kann man den zugleich tragischen und komischen Prozess zeigen, in dem etwas vom Kern einer reinen, glasklaren Idee wie ein Lichtstrahl in die gewaltige Masse voller zielloser Energie hineinfährt, um eine »Urgestalt« freizusprengen? Diese Fragen sind eng mit der Entstehung der Komposition Elda verbunden. Der Titel stammt aus der georgischen Sprache und beschreibt einen Augenblick des Schocks, blitzartig, ekstatisch und irrational. So bedienen vier Schlagzeuger vier Paare von Schlagbecken und wechseln zwischen Zuständen von tumultartigem Lärm und einfachen, prägnanten Rhythmen, die immer wiederkehren. Selbst wenn die Musik oft von brachialen Feldern, die irgendwo zwischen Klang und Geräusch schwanken, beherrscht wird, schälen sich immer wieder rhythmische Patterns heraus. Durch den speziellen Konzertort bestimmt, gibt es eine zusätzliche Ebene, die hinzukommen kann: Durch die Beschaffenheit des Brückeninnenraums entsteht einerseits ein hintergründiges Rauschen, an-

Ü BERBRÜCKEN , U NTERBRÜCKEN

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dererseits eine Art Meta-Rhythmus, der in einer sonderbaren und oft unberechenbaren Korrelation mit dem gespielten Rhythmus steht. Der oben genannte Ort ist also in vielerlei Hinsicht ein Spezialfall: optisch beeindruckt das massive Brückengewölbe der Johanniterbrücke über Spieler und Publikum sowie die Frachtschiffe, die weiter entfernt am Südufer des Rheins angelegt haben. Die Zuhörer befinden sich zwischen dem Fluss und den Spielern, wobei auch immer wieder Passanten zwischen Publikum und Interpreten hindurch gehen. Die akustische Atmosphäre des Ortes ist auch bemerkenswert: Der Zuhörer findet sich nicht abgeschottet von der Außenwelt wieder, sondern steckt mitten im alltäglichen Geschehen. Das Flussrauschen, der entfernte Lärm des Straßenverkehrs oben auf der Brücke, das Treiben der Leute in der Nähe des Rheins – all diese Geräuschquellen sind immer präsent. Die Komposition Elda mag stellenweise an das Phänomen des Weißen Rauschens erinnern, oder an den Klang von zersplitterndem Glas oder Metall, oder an das Echo von fallenden Gegenständen in einer Höhle voller Stalagmiten. Das Ende des Werkes wird von drei indischen Muschelhörnern eingeleitet, die den Brückeninnenraum mit mehrfach widerhallenden Rufen ausfüllen – mit »dem Klang, den es gab, bevor es die Kunst gab«.

* Auch die mittelalterliche Volkserzählung aus Irland berichtet uns von einem Mann, der in die Wildnis zog, um das Leben zu finden. Als er viele Jahre später als Greis zurückkehrte, fragte ihn ein junger Mann, ob er herausgefunden habe, was das Leben sei. »Es ist ein Brunnen«, antwortete der Alte. »Warum ein Brunnen?«, fragte der andere erstaunt. »Wenn du nicht willst, ist es kein Brunnen«, erwiderte der Alte.

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Abb. 1:

Hinhören

Bruyante, la pluie se fraie un chemin Tonspuren in Andrej Tarkovskijs Nostalghia C AMILLE H ONGLER

Nommer un objet, c'est supprimer les trois quarts de la jouissance du poème qui est faite du bonheur de deviner peu à peu; 1

le suggérer, voilà le rêve.

Der Trauring vom Bild und Ton Die Abhängigkeit zwischen Bild und Ton ist für die Kinokunst unbestreitbar. Die Essenz des Kinos liegt in dieser Beziehung. Wie ein Lied ein Gefüge aus Musik und Text ist. Wer würde wohl nur die Musik oder nur das Gedicht eines Liedes analysieren? Im Kino werden aber oft beide Ebenen voneinander getrennt. Denn im Falle der Musik wird oft einfach nicht zugehört: »Filmmusik ist Musik, bei der nicht genau zugehört wird.«2 Nicht 1

Stéphane Mallarmé in einem Interview von Jules Huret, http://www.unidue.de/lyriktheorie/texte/1891_huret.html (eingesehen am 01.07. 2012).

2

Theodor W. Adorno/Hanns Eisler, Komposition für den Film, Frankfurt am Main 2006, S. 134.

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genau oder gar nicht. Denn der Ton im Film ist für viele sekundär, er ist der Diener der Bilder. Die Bedeutung, die der Musik im Kino meistens zugemessen wird, ist die der Begleitung, des Hilfsmittels. Betrachtet man das Genre des Stummfilms, so wurde die Musik bereits 1927 nur als Gebrauchsmusik verstanden, welche »durch Rücksicht auf Wort und Szene nur bedingt eingeschränkt [sic] sein kann.«3 So wurden Musikfetzen, Motive katalogisiert, nach Funktionen thematisch geordnet, wie im Allgemeinen Handbuch der Filmmusik von Hans Erdmann und Giuseppe Becce,4 eine Art musikalischer Supermarkt, woraus der Komponist, je nach dem, welche Stimmung er erzeugen will, Inspiration schöpfen kann. Es ist bemerkenswert, dass das Kinopublikum auf eine ganz eigenartige Weise trainiert wurde, den Ton nicht zu beachten, so sehr wurde der Klang als unbewusste Nachahmung des Bildes wahrgenommen. Der Zuschauer hat sich an diese Sprache schnell gewöhnt und sein Gehör verarmte. Umso schwieriger für das träge Gehör, auf Neuigkeiten aufmerksam zu werden. Die Einstellung ist zu fest verankert. Und da liegt ein weiteres Problem: Wenn ein Musiktheoretiker die Musik eines Films analysiert und dabei ihre Wichtigkeit aus der Dunkelheit zu holen versucht, vergisst er wiederum vollkommen das Visuelle; er kehrt die Hierarchie um. Die Filmmusiktheorie als solche wird immer eine schwache bleiben, solange man nicht versteht, dass es im Film keine Hierarchie zwischen Bild und Musik gibt, sondern eher einen kontinuierlichen Dialog, wie zwischen Farbe und Leinwand, Strich und Figur, mit Dissonanzen, Konvergenzen und subtilen Abstufungen. Der Ton betont zwar, wie wir es sehen werden, oft das Bild, aber seine Erscheinung, sei sie die winzigste und stummste, öffnet immer auch eine Tiefe. Bild und Ton bilden zusammen eine werdende dritte Ebene.

3

Hans Emmons über Hans Erdmanns, in: Helga de la Motte-Haber/Lydia Rilling/Julia H. Schröder (Hg.), Dokumente zur Musik des 20. Jahrhunderts, Teil 2, Laaber 2011, S. 218.

4

Vgl. Erdmann/Becce, Allgemeines Handbuch der Filmmusik, Berlin-Lichterfelde 1927.

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LA PLUIE SE FRAIE UN CHEMIN

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Michel Chion beobachtete bereits ein gewisses Unbehagen im Betrieb der Kinomusik: Ni le cinéma, ni la musique ne semblent au départ gagner à ce qu’on explore la liaison douteuse qu’ils entretiennent l’un avec l’autre. [...] Ce malaise qui court sur le fonctionnement de la musique de cinéma amène ceux qui en parlent de bonne foi à d’étranges aveux quand, par exemple ils relèvent, dans une séquence très réussie de film, l’usage d’une musique des plus banale, et qu’ils émettent, sans la justifier, l’opinion que c’est justement par ce qu’elle ne vaut pas grand-chose qu’elle fonctionne bien.5

Die Verbindung von Bild und Musik leide an verfehltem Ruhm. Die Filmmusik ist in einer Kunst, die bereits Mischwesen ist, selbst eine Chimäre, was ihre Analyse schwierig macht. Es ist ebenfalls seltsam, dass der Prozess des Hörens eines Films bei den Philosophen so wenig Gehör fand. Gilles Deleuze nimmt in einem Kapitel über die Komponenten (composants) des Bildes an, dass der Ton einen stimulierenden Charakter hat und zum Bild gehört. Er beschreibt, wie Bild und Ton in einer unermesslichen und irrationalen Beziehung zueinander stehen, trotz ihrer Heautonomie: Ce qui constitue l’image audio-visuelle, c’est une disjonction, une dissociation du visuel et du sonore, chacun héautonome, mais en même temps un rapport incommensurable ou ›irrationnel‹ qui les lie l’un à l’autre […].6

An anderer Stelle verwendet Deleuze den Begriff »monologue intérieur«,7 der mir besonders treffend erscheint, dort wo der Ton mit dem Bild eine Stufe der Verinnerlichung bildet. Dennoch bleibt diese akus-

5

Michel Chion, Le son au cinéma, Paris 1992, S. 102.

6

Gilles Deleuze, Cinéma 2. L’Image-Temps. Paris 1985, S. 334.

7

»C’est une langue ou une pensée primitive, ou plutôt un monologue intérieur, un monologue ivre, opérant par figures, métonymies, synecdotiques, métaphores, inversions, attractions…«, in: Deleuze, Cinéma 2, S. 207.

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tische Dimension für Deleuze eher ein Wissen als eine tatsächlich sinnliche Erfahrung. Er betont die Vorherrschaft des Visuellen: »Le cinéma est un art fondamentalement visuel.«8 Und trotz aller notwendigen Komponenten, die der Ton in den Film einbringt, hält Deleuze am Ende fest: »Rien n’est changé pour l’essentiel.«9 Jacques Rancière erhebt zwar in seinem Buch Les écarts du cinéma nicht den Anspruch, das Verhältnis zwischen Bild und Ton zu behandeln, aber dies hält ihn nicht davon ab, eine Definition des Kinos aufzustellen. Rancière stellt das Kino stets in Abgrenzung zu anderen Künsten dar. Dieses Vorgehen steht quer zur Idee des Kinos als einem Mischwesen, indem die Grenzen, die aufgedeckt werden, Grenzen zu anderen Künsten sind, statt Grenzen innerhalb des Kinos, die diesem auf verschleierte Weise eigen sind. Nur auf diese Weise kann Rancière schließlich zur einfachen Feststellung gelangen, dass das Kino zeigt, was es nun einmal zeigt.10 Diese Bemerkung kann nur die Unterlassung der Dimension des Tones widerspiegeln. Ist es doch gerade der Ton, der das Kino auf das Ungezeigte hin öffnet. Der Klang des Ringsum – Tarkovskijs Nostalghia Als ich den Ton in Nostalghia11 ohne die Bilder hörte, fiel mir auf, dass alles, jedes Detail, einen Klang hat. Mehr als 25 Geräuschmotive, man könnte fast von Klangfiguren sprechen, breiten sich im Film aus, auf eine außergewöhnlich organische Art und Weise. Dies könnte logisch und banal scheinen, wenn die Geräusche ausdifferenzierter verwendet worden wären. Ich merkte aber, dass die Intensität der Klänge oft völlig gleichwertig ist, d.h. jeder Klang gleich wichtig ist. In vielen Fil-

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10 »Le cinéma, lui, montre, ce qu’il montre.«, in: Jacques Rancière, Les écarts du cinéma, Paris 2011, S. 18. 11 Nostalghia, Andrej Tarkovskij (Regie), Italien 1983, DVD Alamode Film 2010, 125 Minuten.

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men spielt die Musik eine wesentlichere Rolle als die Geräusche, weil die Musik künstlerisch ist. Das Geräusch ein sich öffnenden Tür wird dem Zuschauer nicht auffallen. Es ist ein sekundäres, unwürdiges Geräusch, ein Alltagsgeräusch ohne weitere Wichtigkeit. Bei Tarkovskij hat hingegen alles, was man sieht, ein Geräusch, das eine starke Präsenz besitzt. Denn das Geräusch drückt die innere Stimme des Gegenstands aus und verleiht ihm eine Aura. Dazu kommen noch die Geräusche, deren Quelle nicht sichtbar ist: Es gibt in diesem Film mehr Geräusche als bildliche Motive! Kein einziger Gegenstand in diesem Film ist dekorativ. Als Beispiele dafür will ich im Folgenden zwei Geräuschmotive untersuchen. Von Glas und Gewässer Fangen wir mit dem Wasser an. Bei Tarkovskij regnet es hier und da, es tropft, es plätschert, es fließt, es läuft aus, es quellt. »[...] alla pioggia, vera e propria cifra stilistica di questo cinema.«12 Es handelt sich immer um ein Wasser, das in einem scheinenden Stillstand ist, eine bewegliche Betäubung, immer aktiv und doch da, griffbereit, und schon weit entfernt. Das Meer ist abwesend, Tarkovskij ist kein Mann der Unendlichkeiten, sondern ein Beobachter des Details. L’acqua, i ruscelli, i fiumiciattoli, mi piaccono molto, è un acqua che mi raconta molte cose. Il mare, invece, lo sento estraneo al mio mondo interiore perché è uno spazio troppo casto per me. A me, per il mio caratterem sono più care les cose piccole, il microcosmo, piuttosto che il macrocosmo.13

Die Kreation von Tarkovskij entsteht nicht aus monumentalen Ideen, sondern aus der Realität der einfachen Dingen, aus dem Ort, le lieu,

12 Roberto Calabretto, »La musica cinematografica per me, in ogni caso è una componente naturale del mondo dei suoni«, in: Roberto Calabretto (Hg.), Andrej Tarkovskij e la musica, [o.O.] 2010, S. 41. 13 Interview mit Andrej Tarkovskij in Calabretto, 2010, S. 46.

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würde Yves Bonnefoy sagen, der Welt, der wir zugewiesen sind.14 Das erklärt auch Tarkovskijs Liebe zum Haiku, die Poesie des Details, als subtile, reine und komplexe Beobachtung des Lebens. Poesie, die für Tarkovskij dem Wesen des Kinos besonders nahe ist. Nebel Die Präsenz des Wassers in Nostalghia ist zunächst nicht hörbar, Wasserklänge tauchen erst nach zwölf Minuten auf. Nein, zuerst ist das Wasser stumm, es ist kristallisiertes Wasser, bereits verwandeltes Wasser, verdunstetes Wasser, nämlich Nebel. Die ganze Ouvertüre des Filmes liegt im Nebel, Form des Wassers, die alles infiltrieren, die den ganzen Raum erobern kann. Das Wasser erscheint tatsächlich in verschiedenen Zuständen. Und der Nebel gehört zu der einzigen unhörbaren Form des Wassers, eine Form, welche die visuelle Stimmung prägt, Stimmung des Unscharfen und des Traums. Nichts ist klar, am wenigsten die Zeit, da der Nebel sich zerstreuen, sich verstreuen kann ohne vektorielle Abfolge, er kann sich fragmentieren, sich plötzlich öffnen oder in Baumästen hängen bleiben. Die ersten Klänge eines Wassers kommen gleich nach einer Nahaufnahme auf das melancholische Gesicht der Madonna del Parto von Piero della Francesca (Abb. 1). Ein Zoom auf das Gemälde, auf die Konturzüge des Nackens, der Schultern und auf die Kurven der Frau, wellenartig, der Augen, die sich im Mund wiederholen, die Kurven der Augenbrauen, die die Nase abrunden und diesen Riss in der Stirn, Marke der Zeit, Narbe, die, wie eine Erinnerung, die sanfte Gebogenheit der Züge aufnimmt.

14 Vgl. Yves Bonnefoy, »Dans le leurre du seuil«, in: Yves Bonnefoy, Poèmes. Du mouvement et l’immobilité de Douve. Hier régnant désert. Pierre écrite. Dans le leurre du seuil, Paris 1982.

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Abb. 1: Piero della Francesca, La Madonna del Parto, Fresko um 1455, 260 x 203 cm, in Nostalghia, TC: 00:11:52.

Gleich danach erklingt Wasser, als könnte man nach einem solchen Anblick nur Natur hören, um den Blick nicht zu übersättigen. Das Geräusch des Wassers ist ein Geräusch eines Baches. Die Quelle, der Bach bleibt eine Weile verborgen, und als der Protagonist sich niederbeugt, um eine aus dem Nirgendwo herabgefallene Feder aufzusammeln, erwartet man den Bach zu sehen. Stattdessen sieht man einen Spitzenschleier und ein Glas im Schlamm liegen (Abb. 2); da ist zwar Wasser, aber als schlammige Lache und nicht als Wasserlauf. Mit dem ersten Wassergeräusch kommt gleich eine Diskrepanz zwischen Bild und Klang. Das Geräusch ist viel zu laut, viel zu flüssig für eine solche stagnierende Quelle. Außerdem wird das Wasser von Glockengebimmel begleitet, Glocken, die gar nie gezeigt werden, als kämen sie, wie die weiße Feder aus dem Anderswo, aus dem Himmel oder gar aus dem Inneren der Figur. Da diese Einstellung in Sepiatönen gehalten ist, kann man zunächst dieses »falsche« Geräusch als Teil einer Sepiawelt wahrnehmen, die Farbänderung deutet eine Parallelwelt an. So lässt sich dieses Wassergeräusch als Teil dieser anderen Realität erklären, merkwürdigerweise ohne dass man erstaunt wäre:

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Andere Farbe, keine Orientierung mehr, wieso dann auch nicht ›unpassender‹ Wasserlärm? Abb. 2: Verlorene Heimat des Protagonisten Andrej, Erde, Glas und Schleier im Schlamm, in Nostalghia, TC: 00:12:28.

Die Folge der Einstellung zeigt Andrejs Heimat, sein Haus, begleitet von russischen Gesängen. Man denkt also noch mehr, dass man sich in dem Gedächtnis der Hauptrolle befindet, demnach, dass die übertriebenen Wasserklänge Projektionen seiner Erinnerungen sind. Diese Interpretation wird verstärkt, wenn die gleichen Wassergeräusche zum zweiten Mal vorkommen. Andrej ist im Hotel, wo er mit Eugenia auf die Empfangsdame wartet. Als diese erscheint, dreht sich Andrej um, läuft der Kamera frontal entgegen und die Wassergeräusche erklingen, bevor das andere Dekor überhaupt zu sehen ist. Dann kommt die gleiche Sepiawelt wieder, eine lächelnde Frau dreht sich um, als würde sie Andrej anschauen. Man versteht dank diesem Anblick, dass sie für ihn keine Fremde ist. Dann kommen wieder das gleiche Heimathaus und die Glockenklänge. Und während man eine Szene aus einer anderen Welt, jene, die Andrejs Gedächtnis bewohnt, sieht, sprechen Eugenia und die Hotelangestellte weiter. Zwei Welten überlagern sich. In der

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nussbranntwein-kolorierten Welt rennen Kinder und ein Hund, der in einen Wasserteich springt. Seine Pfoten knattern im Wasser und die Einstellung schließt mit den Geräuschen des herausspritzenden Wassers. Tropfen Als das Wasser zum dritten Mal im Film erklingt, sind es Tropfen. Als Andrej die Fensterläden seines Zimmers aufmacht, erklingt ein Tropfen, der aus dem Innenraum zu kommen scheint, da es draußen nicht regnet und der Klang wie in einem leeren Raum erschallt. Dennoch werden uns keine Anhaltspunkte gegeben für den Grund des Tropfengeräusches. Selbst als Andrej ins Badezimmer geht und den Wasserhahn aufmacht, hören wir keinen einzigen Tropfen, sondern das dumpfe Blubbern des Abflusses. Der Tropfen ist unerklärlich. Die dunkle Stimmung des Raums und das eher unangenehme Licht der Nachttischlampe, deren Glühbirne ein knisterndes Geräusch, ein hohes Echo des Tropfens, von sich gibt, machen einen unheimlichen Eindruck. Der Tropfen erklingt hier als ein Rest Erinnerung, ein Fragment von Andrejs Gedächtnisgerüst, eine Reminiszenz des zweiten Lands. Aber der Tropfen kündigt auch die nächste Szene an, wenn Eugenia vor Andrejs Tür, im Flur steht. Der Ablauf ist also: 1. Andrej macht das Fenster auf: Tropfen. Andrej macht das Fenster zu und das Licht an. Er geht ins Badezimmer, erkundet sein Zimmer. Geräusch einer Münze. 2. Die Zimmertür öffnet sich von alleine und Eugenia steht wie eine Erscheinung da, vor ihm, und fragt ihn, ob er seine Frau (die russische) anrufen will (später erscheint die russische Frau Andrej im Traum, als er in seinem Bett liegt, zusammen mit Eugenia); der Besuch des dunklen Zimmers wird also von Frau zu Frau unterbrochen. Die Dunkelheit des Raums kontrastiert mit der leichten blonden Eugenia, die, lachend, über ihre eigenen Füße stolpert. 3. Es fängt an zu regnen. Andrej macht das Licht aus und das Fenster auf.

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Regen Der Regen beginnt in dem Moment, in dem Andrej sein Buch, das Eugenia in der vorigen Szene in der Händen trug, heftig auf den Boden wirft, als würde diese Geste, einem Dirigenten gleich, den Einsatz für den Beginn der Regenstimme geben, als würde seine Wut einen Riss im Himmel hervorrufen. Besonders schön wird der Regen indirekt eingeführt: Man hört das Schnarchen des Regenteppichs und sieht die Schatten des fließenden Wassers auf der Wand vor dem Fenster, links im Bild, und rechts im Badezimmer bewegliche Schatten, die sich in dem ganzen Raum ausbreiten; der ganze Raum vibriert, aber man hat den eigentlichen Regen noch gar nicht gesehen. Erst wenn Andrej die Fensterläden aufmacht, werden vertikale Wasserstriche sichtbar. Die Konstruktion des Bildes ist an dieser Stelle interessant, denn jeder Bildausschnitt, in dem Regen sichtbar ist, bildet ein Rechteck, ein Rahmen (Abb. 3). Die laterale Wand des Fensterrahmens auf der linken Seite des Zimmers, das offene Fenster, links neben dem Bett und rechts, das Badezimmer, das sich hinter einem türlosen Rahmen befindet. Jede Präsenz des Bildes ist ein Bild für sich, ein Bild, das je eine andere Perspektive auf das Naturphänomen öffnet. Es gibt das fließende, hindernislose und regelmäßige Wasser auf der Wand, das ein ruhiges Spektakel abgibt. Es gibt das realere Wasser, ein dichtes, dickflüssiges Wasser, das sich nach unten verfeinert und in die Natur verweht wird. Schließlich gibt es rechts im Badezimmer ein Wasser, das nur noch ein rhythmisches Blinken ist.

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Abb. 3: Andrej in seinem Hotelzimmer, es regnet. In Nostalghia, TC: 00:25:08.

Die Einstellung mit den drei Bildern, dem Bett und Andrej in der Mitte dehnt sich. Wir schauen endlos diesen Regen an. Dann zoomt die Kamera, langsam, nähert sich dem Bett und verengt die Einstellung. Alles ist sehr dunkel, man erkennt kaum, dass ein Hund aus dem Badezimmer kommt (die Schwierigkeit dieser Erkenntnis liegt natürlich auch an der Befremdlichkeit des Ereignisses), die anderen Bilder verschwinden, man sieht nur noch Andrej, liegend, das Gesicht im Bett vergraben. Die ganze Szene ist also vom Regen getragen. Der Regen ist bei Tarkovskij ein sehr wichtiger Klang, den er in jedem Film reichlich benutzte. Auch ästhetisch spielt der Regen eine Rolle: In seinen Erzählungen aus der Jugend, die Tarkovskij zwischen 1960 und 1962 verfasste, begleitet der Regen die Nacht des jungen Protagonisten Nikolaï in der kurzen Novelle La nuit d’avant le voyage. Eine Seite ist dem Regen gewidmet, beschrieben als »pluie battante et glaciale dans une gamme de tons bleus-violets [...] épais rideau de pluie [...] un réverbère ruisselant de torrents d’eau bouillonante, [...] des traînées grises, obliques, [...]«, und schließlich zitiert er in seiner Novelle diese Verse:

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Bruyante, la pluie se fraie un chemin Telle une larme paresseuse, sur la fenêtre Turquoise, l’aube qui vient de naître Au-dessus des toits se lève enfin.15

In dieser bildhaften Sprache wird der Regen als Farb- und Formelement beschrieben. Der Protagonist ist selber Maler und versucht ein Landschaftsbild zu malen, in dem die Stimmung sicher eine wesentliche Rolle spielt. Tarkovskij selbst hatte erwogen, Kunst zu studieren, was sich oft durch die malerische Komposition der Einstellungen erraten lässt. Auch wenn Tarkovskij in seinem Text einen Schwerpunkt auf den optischen Nerv legt, ist es bemerkenswert, dass der Regen bereits Teil seiner Welt ist. Aber wer seine literarischen Texte gelesen hat, weiß, dass alle seine Filme bereits da, in diesen Jugendwerken angelegt sind. Der Regen, wie alle grundlegenden Klangmotive in seinen Filmen, ist nicht nur Illustration, Atmosphäre oder realistisches Ausdrucksmittel, sondern vielmehr ein Klang und eine Bewegung, deren Existenz vom Inneren der Figuren her zu wehen scheint, eine Zeichnung und eine Geräuschkulisse des Wasserelements, Träger von Träumen und Gedanken. [...] la pioggia non sia un semplice elemento neutro, al contrario annuncia, prepara i personaggi a sentire l’istante decisivo, diviene condizione del sogno o del ricord.16

Es ist wahr, dass der Regen einen nachdenklichen, ruhigen und selbstverinnerlichten Andrej begleitet. Bald sogar legt er sich auf das Bett hin und schließt die Augen. Sepiabilder kommen zurück, Andrej träumt, Andrej erinnert sich, er mischt Gegenwart und Vergangenheit, Maria und Eugenia, die russischen Volksstimmen erklingen wieder, aber der Regen hat aufgehört, es tropft wie in einer Höhle. Ist das De15 Andrej Tarkovskij, Récits de jeunesse, Paris 2004, S. 13–14. 16 Antoine de Baecques, »Andrej Tarkovskij«, zitiert nach: Calabretto, 2010, S. 47.

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kor keine Höhle geworden? Der Hintergrund der Szene ähnelt bildhaft einer feuchten mineralischen Wand. Diese Hintergrundeinstellung evoziert eine dicke Schicht von Ölmalerei, wo Messer und Pinsel tiefe Spuren hinterlassen haben. Die Frauen umarmen sich, flüsternd. Maria, die russische Frau, ist plötzlich schwanger und liegt neben Andrej, in seinem Bett. Der Regen hat also diese zwiefältige Welt gebracht, wo das Da und das Anderswo völlig gemischt sind. Als ob der Regen ein Rauschtunnel wäre, ein Mittel der Metamorphose, das dem Held beim Entfliehen hilft, denn wenn das Bild da ist, das Bild eines ErinnerungsWahns oder Phantasmas, schweigt der Regenschauer. Alles wird auf unregelmäßiges Tröpfeln reduziert, auf einen unmöglichen, inexistenten Zeitfluss. Alles ist Dualität, alles fließt ineinander, man findet in dieser Szene, was den ganzen Film prägt: eine Spiegel-Struktur ohne wahre Mitte, eine Gleichheit der Teile, die ineinander verschmelzen und doch vollkommen kontrastieren – denken wir an die Frauen, die eine mit hochgestecktem dunklen Haar, die andere mit langen blonden Locken, die sich aber küssen. Es handelt sich um die Ausradierung der Grenzen. Draußen und drinnen. Es regnet ja im Zimmer. Es regnet immer drinnen, das Wasser feuchtet die Wände und die Böden an. Das ist ein typisches Merkmal für Tarkovskij. »Il pleut toujours dans les maisons car l’homme est à la fois à l’intérieur et à l’extérieur d’elles, pris dans le désir essentiellement poétique de désirer l’ailleurs là où l’ici s’affirme.«17 Der Klang des Regens ist regelmäßig, ein Rauschen, einheitlich, ab und zu von markierten, höheren individuellen Tropfen unterbrochen. Der Regen bildet einen hypnotischen Klanggrund, der aber aus einem unerklärlichen Tropfen (den wir bereits erwähnten) entstanden ist und auf welchen erneute unerwartete Klänge eintreten: Damit will ich auf die schrillen Geschirrklänge, die scheinbar wegen der Ungeschicktheit

17 Nach Yves Bonnefoy, L’arrière-pays, in: William Karl Guerin, »Nostalghia de Andreï Tarkovski. Une esthétique de la mise à plat«, in: Ecrans de Cinéma n° 319–320 (1985), S. 23.

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des Hundes ausgelöst werden, zu sprechen kommen. Es ist klar, dass der Hund ein Glas oder einen Teller umkippt, aber woher kommt das Geschirrstück? Es ist relativ selten, dass man auf dem Boden eines Hotelzimmers solche Objekte antrifft. Woher der Hund? Alles bleibt unklar, aber der Hund scheint seine Präsenz durch diesen durchdringenden Klang manifestieren zu wollen. Als ob auch er zu den Gedanken des Protagonisten gehören würde. Diese Szene ist ohne die aquatischen Gesänge kaum denkbar. Ist es nicht das Wasser, das die Spuren verwischt? Das flüssige Element ist hier also eine Brücke, ein Schlüssel der Träume, »l’apertura ad una nuova dimensione«.18 Das Wasser ist ein Dienerin der Psyche oder ein Weg zur Introspektion, es ist aber auch eine Kraft der Natur, die an sich, für sich ihre Tiefe besitzt. Es ist ein Element, das Tarkovskij gerne dem Feuer gegenüberstellt und wie jede Naturerscheinung ist das Wasser nicht voraussehbar, unkontrollierbar und inkommensurabel. Die nicht ganz plausiblen Klänge, die man in Andrejs Raum hört, sind, denke ich, nicht als unheimliche zu verstehen, wie beim ersten Eindruck, sondern als Teile der Autonomie der Natur, die nicht nur symbolisch eine Rolle spielt, sondern bereits ihren eigenen Ort besitzt, unabhängig von Andrej, unabhängig vom Hund und von den Erinnerungen. »L’acqua è anche possibilità di redenzione, perdone, liberazione*, affracamento […]«,19 schreibt wieder Robert Calabretto. Gewiss nehmen der Regen und das Wasser allgemein eine wesentliche Rolle in der Seelensuche Andrejs ein, sie unterstützen seine inneren Bilder und befreien ihn dadurch vielleicht auch, aber Regen und Wasser sind vor allem Stimmen der Natur, die unbestimmte Empfindungen ausdrücken und nicht bloß mit einem einzigen Symbol beschrieben werden können. Tarkovskij schrieb: »Der Ton soll in der Schwebe bleiben. Gleich, ob er Musik ist, eine Stimme oder nur der Wind.«20

18 Calabretto, Andrej Tarkovskij e la musica, S. 47. 19 Ebenda, S. 46. 20 Andrej Tarkovskij, Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, Ästhetik und Poetik des Films. Übers. von Hans-Joachim Schlegel. Berlin 2009, S. 235.

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Geklirre Die Existenz des Wassers als autonome Empfindungswelt enthüllt sich in einer zentralen Szene des Films, die Michel Chion bereits folgendermaßen beschrieb: »La séquence de la pluie chez le fou, qui fait sonner et tinter des bouteilles d’eau sur différentes notes, évoque même une ›belle installation d’artistes‹.«21 Es handelt sich um die Szene, in welcher Andrej Domenico, den Narren des Dorfes besucht, am Ende des ersten Teils des Films. Diese Szene folgt kurz auf den Beginn des Regens. Andrej betritt einen großen Raum mit nur wenigen Möbeln, einem Bett, einem Stuhl und einem Türfragment, wo Flaschen und ein Krug auf dem Boden stehen, grün, braun, weiß, hingestellt, wie für eine Choreographie. Die Sonne scheint und es regnet, auch der Hund legt sich wie die Flaschen auf den Boden hin. Und Andrej schaut zu: Es gibt einen Raum mit zentralen Pilastern in der Mitte, Flaschen auf dem Boden und dem Hund. Alles ist im Verrotten begriffen, die Steine der Mauer, aus dem kaputten Boden wachsen Pflanzen empor und das Dach ist wohl durchlöchert, da es drinnen regnet – überall am Boden glänzende Wasserlachen. Alles erschallt: Das Licht, die Schatten und die Klänge. »Le lieu était désert, le sol sonore et vacant,/la clé facile dans la porte«22 Es ist, als ob der Film plötzlich nicht mehr da wäre. Man hört den Regen fallen und den Klang der Tropfen die gläserne Textur der Flaschen behämmern (Abb. 4).

21 Michel Chion: Andreï Tarkovski. Cahiers du cinéma (2007), S.74. 22 Aus dem Gedicht Hic Est Locus Patriae (1978). In: Yves Bonnefoy, Poèmes. Du mouvement et l’immobilité de Douve. Hier régnant désert. Pierre écrite. Dans le leurre du seuil, Paris 1982, S. 95.

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Abb. 4: Flaschen auf dem Boden im Haus vom Protagonisten Domenico, in Nostalghia, TC: 00:53:59.

Alles scheint ›richtig‹ betont zu sein. Aber plötzlich geht der Blick im strahlenden, schaumigen Wasser verloren. Schnitt. Domenico bietet Andrej, der, wer weiß wie, sich plötzlich in einem anderen Raum befindet, Wein und Brot an. Domenico schaut in den Spiegel: Erst überrascht, dann erschrocken, skeptisch, verachtend ohne dabei das Kauen des Brotes zu unterlassen. Das Spannende an dieser gestischen Abfolge ist der Moment, in dem er sich von seinem eigenen Bild abwendet, als sei das vorher Gesehene nicht da gewesen, wie ein bestimmtes Vergessen seines Selbst. Nachdem er seufzend eingeatmet hat, sieht man die vorigen läutenden Flaschen in einer Nahaufnahme. Die Kamera filmt circa 30 Sekunden lang zwei verlorene Flaschen, eine braune, eine grüne, die, wie Blumen, vom Wasser begossen werden. Die Aufmerksamkeit wird geweckt, in dem Moment, wo man das Ereignis genau beobachtet. Die Detailaufnahme ist voller unstimmigen Details. Das Wasser fällt nicht direkt auf die Flaschen, sondern versetzt: Die Flasche, die im Vordergrund steht, scheint von dem Wasser viel mehr berührt zu werden als die zweite im Hintergrund (Abb. 5). Dennoch bleibt das Innere der ersten Flasche bewegungslos, während das andere schüttelt und wackelt. Gehört der Klang wirklich zu dem, was er-

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scheint? Er wirkt wie eine Übertreibung, als ob der Zoom nicht nur dazu diente, das visuelle Bild besser sehen zu können, sondern das Innere der Szene zu enthüllen suchte. »I Rumori, nei Film di Tarkovskij, sono omnipresenti e si organizzano come una vera e propria partitura musicale.«23 Die abstrakte Natur dieser Szene zeigt, dass Tarkovskij den intrinsischen Wert der Klänge zeigen wollte. Es ist eine Art klangliches Stillleben. Tarkovksij beobachtet den Moment eines Treffens, Alltagsgegenstände und Natur vereinigen sich und produzieren eine dritte Dimension: jene des Klangs. Das ist die erste Ebene. Die zweite Ebene ist jene des Verschwindens, wo die Fusion der Elemente überholt wird, eine Ganzheit kreiert wird, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert. Es ist der Moment, wo der Zuschauer ins Zweifeln kommt und sich fragt, ob alles wirklich stimmt. Die Erkenntnis der leichten »Falschheit« ist kein Ziel an sich und man sollte da nicht anhalten; denn es stimmt wiederum doch. Es gibt mit anderen Worte eine Schöpfung, die nicht komplett fassbar ist, etwas Irrationales: Das sich im Film kreierende Bild überschreitet das erste filmisch kreierte Bild. Es ist ein Moment des Suggerierens. Diese Szene stellt ein Kunstwerk dar, das seine ganze Potenzialität entbirgt. Der Ton wird hier zur Musik: »Eine auf wirklich adäquate Weise organisierte tönende Welt ist schon ihrem Wesen nach musikalisch [...]«.24 Es zeigt auch ganz gut, dass Tarkovskij mit dem Ton keine Bildillustration suchte, sondern ihm einen selbständigen Platz zuschreiben wollte. Für den Regisseur ist ein naturalistisches Tonband unmöglich, da nicht alle Geräusche, die mit einem Bild existieren – wir leben immer umhüllt von mehreren Geräuschen – in einer Einstellung gleich vorhanden sein können: »Was heraus käme, wäre eine wahre Kakophonie.«25. Man muss also eine Auswahl treffen. Diese Szene scheint mir paradigmatisch für die Poetik des ganzen Films: Ein simples Ereignis, das Schicht um Schicht bis zu seinem in-

23 Calabretto, Andrej Tarkovskij e la musica, S. 41. 24 Tarkovskij, Die versiegelte Zeit (Anm. 20), S. 233. 25 Ebenda, S. 323.

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nersten Kern entblättert wird. Diese Geste der Verselbständigung kippt, etwas öffnet sich, das aber unfassbar bleibt. Für sich ist die Öffnung geschlossen, für uns bleibt sie ein Rätsel, da es nicht mehr hier (im Dasein des Films) ist. Der Klang in dieser Szene ist nicht mehr ringsum, er bildet ein Überum. Michel Chion, der den Klang von Tarkovskij ganz allgemein als Jenseits der Bilder, au-delà des images, zusammenfasste, übertreibt ein wenig, wenn er sagt, dass alle Klänge Tarkovskijs unter der gleichen Eigenschaft einzuordnen sind. Dennoch hat er dieses Phänomen besonders schön beschrieben: »On perçoit des sons qui sont déjà sur l’autre versant de la vie. Ils sont au-delà des images. Le spectateur peut les ouïr, rien dans l’image viendra les souligner ou y répondre. Le son chez Tarkovskij appelle à une autre dimension, il est parti ailleurs, désengagé du présent.«26 Dieses au-delà oder mit einem Ausdruck des Dichters Bonnefoy, dieses »pays alentour«,27 das Umland, ist im ganzen Film, in jedem Detail, vielleicht vor allem in Details, latent da, und es ist dieses au-delà, das den Film zusammenhält, als unsichtbarer Faden. Quelle Als klingende Wasserelemente haben wir bis jetzt Regen und Tropfen untersucht, die ich als absteigende Motive kennzeichnen würde. Es gibt aber auch die aufsteigenden: Darunter fallen das kochende Wasser der Bäder, die Quelle des Dorfes, die Quelle der Suche. Das Wasser von Bagno Vignoni wird bei seiner ersten Erscheinung klanglich nicht besonders betont. Einzelne Tropfen und ein extra-diegetisches Blubbern weisen auf das Wasser hin, ohne dass es realistisch wirkt. Es ist einfach Wasser, universales Wasser, wen kümmert seine Art? Die Geräusche der Wasserquelle sind ein wenig überall, vor, neben, hinter und im Bad, aber wohl nicht mit den Bewegungen der Badegäste synchronisiert. Das Wasser existiert ohne sie, vor allem ohne sie. Zu den Trop-

26 Chion, Le son au cinéma (Anm.5), S. 105. 27 Yves Bonnefoy, L’arrière-pays, Albert Skira 1972, S. 73.

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fen hört man ein eher ruhiges, murmelndes Wasser, als würde es sich selbst streicheln. In Wirklichkeit macht dieses Bassin kaum Geräusche. Das konnte ich selber feststellen, als ich den Ort besuchte. Man hat also hier Wassergeräusche unter dem Vorwand, dass Wasser auf der Leinwand zu sehen ist, man schaut einer Badeszene zu, aber die Geräusche besitzen eine Unabhängigkeit, sie sind nicht real, nicht naturalistisch, sie laufen an der Narration blind vorbei. Sie ignorieren die Ignoranz oder die Oberflächlichkeit der vier Badegäste, die mit der Hoffnung, jünger zu werden und länger zu leben ins Becken steigen. Am Schluss des Films, vor den Befreiungsszenen von Domenico und Andrej, ist das Geräusch des hochgehenden Wassers deutlicher. Andrej fährt nach Bagno Vignoni zurück, dann erfolgt die Suggestion Domenicos. Als er mit einem Auto ankommt, wird das Becken geputzt. Das Becken ist halb leer und sieht wie eines der Gelände Jean Tinguelys aus: Alteisen, Kleingeld und Schrott und immer diese mit einer dicken Farbschicht bedeckten Flaschen. Die Flasche: Gegenstand des Ateliers, Komplize von Morandi und so vieler anderer Maler. Eine Frau, die an die Jeanne d’Arc von Carl Theodor Dreyer erinnert, sammelt mit einem Kollegen die toten Gegenstände. Das Wasser ist am Sieden und bricht als Brunnen auf der Wasseroberfläche hervor. Es wird hier deutlich, dass das Wasser direkt aus der Erde kommt. Es gibt in diesem Klang etwas Rundes, etwas Glattes, etwas Stummes im Vergleich zu den Tropfen, die immer wieder erschallen, als würden sie in ein Born hineinfallen: einen kontinuierlichen Wirbel. Es ist eine klare Wallung, die nicht unterseeisch sein kann, da man die gedämpfte Tiefe einer unendlichen Wasserfläche nicht hört. Dennoch ist es schwer festzustellen, um welche Art von Blasen es sich handelt. Auch in dieser Szene ignoriert das Wasser die Bewegungen der Reinigungsleute des Bassins. Das Wasser ist da, war immer da und sein Geräusch bleibt unwandelbar. Der zirkuläre Klang der Wallung bildet quasi einen Boden für die Resonanz der anderen Gegenstände, zum Beispiel des Geklimpers von Münzen. Wenn man das Wasser als Spiegel der Psyche von Andrej betrachtet (und viele haben in diesem Motiv diese Symbolik gelesen), dann wäre dieses Blubbern der Beweis eines schnell

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schlagenden Herzens, einer Art Prickeln vor der Überquerung des Bades, oberster Schritt zum Absoluten, Andrejs Rettung. Während der Überquerung schweigen die Blasen. Nur ein paar Tropfen, Echo des Jenseits, klingen nach. Die Klänge und die Bilder sind ganz auf den Menschen Andrej konzentriert. Während die Kamera den Körper fast in seiner ganzen Größe filmt – ein Körper, der immer in der Mitte des Bildes steht – kommen die Geräusche aus dem Inneren seines Körpers. Das Wasser tritt zurück, um der introspektiven und selbstreflexiven Deutung dieser Szene ihren ganzen Sinn zu geben. Die Schlussszene des Filmes bestätigt die These, dass der Klang eine eigene Prä-Existenz besitzt, dass das Wasser unabhängig von den bildlichen Bewegungen fließt. Das schon sehr symbolische Bild am Ende von Nostalghia zeigt Andrej und den Hund, die im Dekor von Andrejs Heimatland sitzen, eine Landschaft, die immer wieder in Sepiatönen im Film vorgekommen war. Das russische Bild mit Andrejs Haus ist selbst von einer italienischen zerfallenen Kirche umrandet (Abb. 5). Russland und Italien sind explizit visuell aneinandergelegt. Ohne auf die schwere symbolische Kraft dieses Bildes näher einzugehen, will ich hier auf das Wasser hinweisen. Andrej und der Hund sitzen am Rand einer Pfütze, die wir übrigens bereits erklingen hörten, als der Hund sie mit seinen pflatschend durchlief. Man kann dieses Wasser kaum anders beschreiben als eine Pfütze, nicht als See, nicht einmal als Teich. Es wäre sogar besser von einer Fläche zu reden, da selbst der flüssige Inhalt verdächtig ist. Nun aber sitzen beide, Mann und Tier am Ufer einer absolut stillen Fläche, in welcher sich die Apsis der Abtei widerspiegelt. Flaches, glattes und unbelebtes Wasser. Was man dazu aber hört ist der Klang eines Rieselns. Ein feines Rieseln, dessen Ursache auf keinen Fall die Lache ist. Es beginnt zu schneien. Aber auch der Schnee würde keinen solchen Klang erzeugen. Es gibt also keine visuelle Erklärung für den Gesang des Baches. Aber die Präsenz des Wassers im Bild macht den Ton, der off screen reibungslos funktionieren könnte, unlogisch. Man könnte wieder an eine mentale Stimme denken, die Stimme der Erinnerung, was aus dem einfachen Grund plausibel ist, dass das erste Geräusch von Andrejs Erinnerung das glei-

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che ist wie in dieser Schlussszene. Die Bedeutung dieses aparallelen Klangs ist aber auch die erste Stufe eines latenten Wahnsinns. Der Klang des Wassers, dieses beliebte Element von Tarkovskij, ist universal und facettenreich. Es fließt überall, zwischen jedem Stein, zwischen jedem Halm und jeder Ader. Omnipräsent, ist es eine absolute Wahrheit, die der Intuition des Charakters zugehört, die vom Charakter projiziert wird, die aber auch ohne ihn, ohne Kunst lebt. Der Film endet wie er anfängt mit einem Geräusch von Wasser, welches fremd und unerklärlich daher kommt und dessen Fließen Bild und Ton wie für alle Ewigkeit, über den Film hinaus, verbindet. Car absents sont les bruits réalistes. Tarkovski refuse la reproduction naturaliste du monde sonore, cherchant à distordre les sons réels [...]. Mais ce qui importe ici, c’est de relever ce décalage du son à l’image, car ce hiatus est aussi celui de 28

l’irrationnel du monde [...]

Abb. 5: Überlagerung der italienischen und heimatlichen Erden. Andrej mit seinem Hund vor einer Lache, in Sepia, Farbe der Erinnerung und des Traums. Es regnet Schnee. In Nostalghia, TC: 01:58:48.

28 Luca Governatori, Andreï Tarkovski. L’art et la pensée, Paris 2002, S. 34.

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Der Klang X Wir haben mit dem abschließenden Wasserton gesehen, dass er nicht logisch erklärbar ist, außer aus einer psychologischen Perspektive oder eben einer poetischen; er ist ein Klang eines Dorthins, eines weiteren Landes. Es gibt in Nostalghia fünf Klänge, deren visuelle Quellen nie gezeigt werden (dazu gehören der Donner, die Uhr und die Glocken, die ich beiseite lasse). Einer davon vermittelt exemplarisch die höchste Stufe der wahnsinnigen und poetischen Rolle des Tones in Nostalghia. Nennen wir diesen Klang zunächst X. Dieser Klang ist mit dem Knarren des Fahrrads von Domenico angedeutet. Als Andrej Domenico zum ersten Mal besucht und Eugenia versucht, Andrej einzuführen, strampelt Domenico auf einem befestigten Fahrrad, einer Art Fitnessvelo, das aber draußen installiert ist. Das drehende Rad erzeugt ein mechanisches Geräusch, regelmäßig und doch knirschend aufgrund des Rostes. Der abseitige Klang X erscheint zu Beginn der 45. Minute des Filmes. Sein Eintritt ist ziemlich unscharf und uneindeutig. Es ist auch ein mechanischer Klang, im Sinne einer Machine, machina, eines Geräts. Ein gerätliches Geräusch, ein organisiertes, künstlich komponiertes Geräusch im Vergleich zum Wasser, das wir als natürliche Klangquelle bezeichnen würden. Man kann sich an dieser Stelle aber fragen, warum man dieses Geräusch X maschinenhafter als ein natürliches wahrnimmt? Woher kommt die unmittelbare Assoziation des Klanges X mit einer künstlichen Quelle? Man kann diese Frage nun schwer beantworten. Die einzige vernünftige Erklärung ist, dass dieses Geräusch dem menschlichen Geist schon als mechanisches Geräusch vertraut ist, eingeschrieben in seinem allgemeinen Gedächtnis. Der mysteriöse Klang hat eine motorische Textur und erinnert also gleich an ein Werkzeug. Dennoch, woher kommt er? Um welches Werkzeug handelt es sich? Spielt das überhaupt eine Rolle? Der mysteriöse Klang beginnt also mit dem Besuch Andrejs bei Domenico. Und er wird die zentrale Szene, in der beide Helden sich wieder begegnen, mehr oder weniger begleiten, ganz pianissimo, schleichend, dann lauter oder ganz weg, bis

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er genau in der Mitte des Filmes explodiert, um darauf wieder eine Weile aufzuhören, während der wunderschönen Bildaufnahme des toskanischen Dorfes in der Vogelperspektive. Der Klang X taucht dann immer wieder auf, vor allem in Bezug auf Domenicos Sepiawelt. Auch er besitzt eine solche. Am Schluss des ersten Teils des Filmes sind zum ersten Mal Erinnerungsbilder von Domenico zu sehen. Wie Andrej, taucht er in sein Gedächtnis ein, welches Bilder einer anderen Zeit, einer anderen Farbe und Textur hervorruft. Der Ort seines Imaginären ist natürlich nicht Russland, sondern Italien, ein Dorf, wo er und seine Familie lebten. Fragmente seiner Lebensgeschichte, die bereits von den Badegästen skizziert wurde, kommen zum brüchigen Vorschein. Es handelt sich vermutlich um das Ende seiner siebenjährigen Einkapselung in seinem Haus mit seiner Familie, wie man es nebenbei über Gerüchte der Hotelgäste erfährt. Der Klang X, denkt man, könnte zu diesem Ort und zu der Welt Domenicos zählen. Ein Klang, den er mit seinem früheren Leben in Verbindung bringt. Als der Klang X zum zweiten Mal deutlich erklingt, geschieht es tatsächlich wieder in dem Ort der Reminiszenz Domenicos – kopfsteingepflasterte Gassen, Häuser mit Baugerüsten, Ruinen – obwohl Andrej jetzt Domenicos Platz übernommen hat. Der russische Schriftsteller läuft in den Träumen Domenicos, sein Gedächtnis verschmilzt mit Domenicos. Die Konfusion der Figuren bestätigt sich, als Andrej die Spiegeltür eines Schrankes aufmacht: Der Spiegel reflektiert nicht sein Bild, sondern das Porträt von Domenico. Turbine des Jenseits Aber kommen wir zurück zum Klang X. Ist es ein Werkzeugklang, Hobel oder Säge, von einem Motor aktiviert, weshalb der Klang in sich kreist und vibriert? Oder ist es ein Nebelhorn? Viele Kritiker haben den Klang X gleich und als einzige Lösung als Sägewerkgeräusch interpretiert. Hier ist ein Auszug von Andrea Truppins, Analyse, die ich stark relativieren würde:

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Throughout Nostalghia, a sound like that of an electric saw fades in and out, with no seeming connection with the action. It first occurs when Andrej enters Domenico’s partially ruined house.[...]The christian symbolism in Andrej wine and bread, plays him a recording o the chorale finale of Beethoven’s Ninth Symphony, and asks him to carry a candle across the pool of St. Catherine, an act that Domenico believes will save the world. [...] one begins to associate the sawing sound symbolically with Christ the Carpenter. The sound recurs in dream sequences, in the town of Bagno Vignoni [was übrigens nicht stimmt], even briefly in a street in Rome [ich wüsste nicht, wie sie auf Rom gekommen ist], giving it an omnipresence akin to God’s immanence in the universe.29 Es ist wahr, dass die christliche Religion in Bildern und thematisch im Film allgegenwärtig ist. Die prozessierenden Frauen in Santa Catharina zu Beginn des Filmes, eucharistische Anspielungen, die Idee der Opfergabe, des Märtyrertums sogar, mit Domenicos Selbstverbrennung am Ende des Films, all das gibt dem Film tatsächlich eine potenzielle Unterlage für eine christlich-symbolische Lektüre. Dennoch ist die Interpretation von Truppin übertrieben und einseitig. Die Verbindung mit Joseph ist wenig evident: Als der Sägeklang zum ersten Mal vorkommt, ist er parallel mit einem Landschaftsbild, ein Mikrokosmos von Andrejs Land, eigentlich ein von der Natur überwältigter Raum, der sich in der Nahaufnahme in eine riesige Landschaft verwandelt; Wasserrinnen werden zu Flüssen, Moos wird zu Wald und Schlamm wird zu einer Hügellandschaft, eine Art Modell in anderen Worten. Sonnenstrahlen rhythmisieren das Ganze und Vogelgesänge bilden eine weitere Klangebene. Wie zum Teufel kommt man auf Joseph den Zimmerer? Diese Interpretation reduziert die mögliche offene Vielseitigkeit des Klanges, denn das Symbol von Truppin ist hier geschlossen,

29 Andrea Truppin, »And Then There Was Sound : The Films of Andrei Tarkovsky«, in: Rick Altman (Hg.), Sound Theory, Sound Practice, New York/London 1992, S. 238.

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endgültig und widerspricht Tarkovskijs Definition des Symbols. Tarkovskij zitierte in seinem Buch Die versiegelte Zeit: Das Symbol ist nur dann ein wahres Symbol, wenn es in seiner Bedeutung unerschöpflich und grenzenlos ist [...]. Symbole sind unbegreiflich und mit Worten nicht wiederzugeben.30

Es scheint mir, als würde dieser unerklärliche Klang genau dieses Rätsel verkörpern, das unerschöpflich ist. Ein mechanischer Klang, der Empfindungen bei der Figur und beim Zuschauer erweckt, der immer wieder ohne visuelle Unterstützung zurückkehrt. Er ist wie eine Einheit, auch durch seinen zirkulären Schall, eine Monade, die alles ist, die aber nicht in ihrer Ganzheit zu fassen ist. Genau ihre störende Eigenschaft sollte unerklärlich bleiben. Wie mit dem Wasser, hört man einen Klang, der im Film ist, aber aus dem Jenseits kommt. Seine unmögliche Präsenz bedingt einen Glauben, der aber nicht nur auf den religiösen, christlichen Glauben eingeschränkt ist, sondern ein Glaube an das Absolute ist. Das Schnarchen des Klanges X ist ein Ruf der Zeit, die seine Abströmung manifestiert, und doch ohne, dass man die Bewegungen und das Abprallen wahrnimmt, die Zeit bleibt in diesem Klang extrem ausgedehnt, wenn nicht sogar versteinert. Lassen wir also die Maschine arbeiten. Wie würde man sonst die Dampfbootstute [TC 00:77:15-00.77.17] veranschaulichen? Vor dem frappierenden Geräusch des Bootes hört man in dieser Szenerie, die einmal mehr das braun-lila gefärbte Russland Andrejs darstellt, den unscharfen Schall eines Radios, das aber just davor ausgeschaltet wird; das Schiffsgeräusch ist keine Rundfunk-Übertragung. Was ist es denn sonst? Eine Anspielung auf die Arche Noah? In Nostalghia gibt es weder Ozeane noch Seen. Nichts, absolut nichts weist auf ein Boot hin und man könnte spekulieren, ob die Sirene die Sehnsucht, die Reise, die Flucht oder die Unendlichkeit der Welt symbolisiert. Aber es ist

30 Wjatscheslaw Iwanow (1866–1949), zitiert in: Tarkovskij, Die versiegelte Zeit, S. 153.

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einfach ein Klang einer plumpen Tonalität, roh und wenig melodisch, der auch aus dem au-delà erklingt. Die Reizung verwandelt sich in Wahrheit. Interessanterweise hat bis jetzt niemand über diesen Schiffsschrei ein Wort geschrieben. »Mir aber liegt an diesem Unbestimmten. Der Ton soll in der Schwebe bleiben, gleich, ob er Musik ist, eine Stimme oder nur der Wind.«31 Ich habe das notwendigste, obsessive Motiv des Wassers und den mechanischen, undefinierten und äußerst rätselhaften Klang, der von Domenicos Welt in den Film eingeführt wird, ausgewählt um zu zeigen, dass die Geräusche bei Tarkovskij nicht aus den Bilder kommen, sondern vor den Bildern bereits existierten und immer wieder zwischen Seelenzustand und Gedächtnis der Protagonisten, zwischen äußerlicher Wirklichkeit, dem Greifbaren, und einer dritten Dimension, die den Film überschreitet, reisen. Die Klänge sind bei Tarkovskij also nie illustrativ und nicht perfekt synchron, sondern immer mehr oder weniger versetzt. Sie entsprechen nicht unseren Erwartungen und sind entweder an der Grenze zur Abstraktion oder bereits wahnsinnig abstrakt. »When a concrete sound source is in fact revealed, it often contradicts what we have been led to expect«.32 Vielleicht zwingt diese irrationale, ungenaue Benutzung der Klänge den Zuschauer, sich in einen kontemplativen Zustand zu vertiefen, in ein augenblickliches Gleichgewicht, in dem Bewusstsein und Unbewusstsein schwer zu trennen sind. Ein Augenblick, in dem der Geist seine Gedanken nicht präzis aufreihen kann. Er kann beobachten, sich von der Beobachtung inspirieren lassen, aber er erliegt seiner eigenen Unfähigkeit, etwas Genaues zu formulieren. Tarkovskijs Filme sind Zeitflüsse, die man vergehen lassen soll wie eine Landschaft, die man aus dem Zug vor seinen Augen vergehen lässt.

31 Tarkovskij, Die versiegelte Zeit (Anm. 20), S. 235. 32 Truppin, And Then There Was Sound : The Films of Andrei Tarkovsky (Anm. 29), S. 239.

Steppen, Schleifen, Schlagen Eine tanzwissenschaftliche Sicht auf das Geräusch A NJA K. A REND

Ein Symposium zum Thema Geräusch – was hat da die Tanzwissenschaft zu suchen? Ist das Geräusch nicht ein spezifisch akustisches Phänomen, das in den Untersuchungsbereich von Musikwissenschaft, Psychoakustik oder ähnlicher Disziplinen fällt? Doch einmal mit dem Geräusch als Untersuchungsgröße konfrontiert, scheint plötzlich auch der Tanz mit einer Vielzahl an Geräuschen verbunden zu sein. Einen wichtigen Ausgangspunkt für meine Überlegungen stellt die Studie Geräusche und Film. Materialbezogene und darstellerische Aspekte eines Gestaltungsmittels des Filmwissenschaftlers Harald Wolff dar.1 Wolff versteht das Geräusch nicht ausschließlich als akustisches Ereignis, sondern sieht es in der Relation zu einer in erster Linie visuellen Kunst, dem Film. Hierbei greift er in großen Teilen auf wahrnehmungspsychologische Forschungen zum Geräusch zurück. Ein Zugang, der sich auch bei der Auseinandersetzung mit dem Tanz anbietet, weshalb ich bei meiner Betrachtung die von Harald Wolff entwickelten Definitionen übernehme. Über eine allgemeiner gehaltene Definition

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Harald Wolff, Geräusche und Film. Materialbezogene und darstellerische Aspekte eines Gestaltungsmittels, Frankfurt am Main 1996.

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nähert sich Wolff einer für seine Thematik passenderen und relevanteren Definition an, die auch mir als Grundlage dient: Ein Geräusch ist ein Hörreiz, der sich aus der Sicht der Psychoakustik anhand der Empfindungen Lautstärke, Geräuschhöhe, Timbre und Dauer beschreiben läßt. Innerhalb des wahrnehmungspsychologischen Konzepts stellen Geräusche bedeutungstragende Hörreize dar, die nach ihrer Identifizierung beim Wahrnehmenden mehr oder minder fest umrissene Vorstellungen hervorrufen. In diesem Zusammenhang werden •

natürliche Geräusche mit dem geräuscherzeugenden Objekt oder Vorgang



künstliche Geräusche mit der Bedeutung, die ihnen im Rahmen einer Kon-

(Geräuschquelle) und vention zugeordnet wurde, identifiziert. Eine Differenzierung der Geräusche von verbalen und musikalischen Hörereignissen erfolgt nicht auf der Grundlage reizbezogener Merkmale, sondern vor allem hinsichtlich der schallerzeugenden Quelle sowie des situativen Kontextes.2

Ein Geräusch wird hier also in erster Linie als ein Hörreiz verstanden, der sich durch seine schallerzeugende Quelle und den situativen Kontext von anderen Hörreizen wie zum Beispiel Klang oder Musik unterscheidet. Für die Untersuchung von Geräuschen im Tanz ist das wahrnehmungspsychologische Konzept, das Geräusche als Informationsbzw. Bedeutungsträger sieht, ein gewinnbringender Ansatz. Denn es geht hier weder um die Beschreibung noch um die Analyse, sondern um die Verwendung, also um den Platz, der dem Geräusch innerhalb des Tanzens gegeben wird, und um die Frage durch welche Parameter, Vorstellungen etc. das Geräusch den Tanz ergänzt und welche Bedeutungsveränderungen zu Tage treten. Die grundlegende Frage ist dabei, ob über die Betrachtung von Tanzgeräuschen Rückschlüsse auf das Konzept verschiedener Tanzstile möglich sind.

2

Ebenda, S. 135.

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Ein tanzender Körper erzeugt immer Geräusche Im Grunde geht jede Art von Tanz mit Geräuschen um. Dies liegt einfach daran, dass der sich im Raum bewegende menschliche Körper unermüdlich Geräusche erzeugt. Zum einen produziert er als lebendiges Wesen von sich aus Geräusche wie Atmen, Herzschlag, Husten, Niesen, Schlucken. Zum andern entstehen im Kontakt mit seiner Umwelt Geräusche – beim Gehen, Fallen oder Auf-dem-Boden-Rollen. Auch die Berührungen von zwei Körpern sind hörbar, so beim Streicheln oder Schlagen. Bewegt sich ein Mensch und tritt dadurch in eine körperliche Beziehung zu seinen Mitmenschen und seiner Umwelt, wird er auf verschiedenen Ebenen hörbar – also über die Erzeugung von Geräuschen akustisch wahrnehmbar. Da nun Tanz ohne den tanzenden, sich auf vielfältigste Art und Weise bewegenden menschlichen Körper nicht möglich ist, ist Tanz ohne Geräusche schlicht und einfach nicht existent. Je nach Epoche und Tanzstil gehen Choreographinnen und Choreographen, Tänzer und Tänzerinnen jedoch in unterschiedlichster Form mit der Geräuschhaftigkeit des tanzenden Körpers um. Mit einem kurzen Querschnitt über verschiedene zentrale Stationen der westlichen Tanzgeschichte möchte ich einen kursorischen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten im Umgang mit Tanzgeräuschen geben. Eine kleine Geschichte der Tanzgeräusche Im Barock galt der höfische Tanz – unter diesem Begriff können sowohl der Gesellschaftstanz als auch der Bühnentanz, die in dieser Zeit in vielen Aspekten ineinander übergingen, gefasst werden – als eine Kunstform, die den menschlichen Körper formt und diszipliniert. Indem sie den biologischen Körper in ein ästhetisches Modell einordnete, machte sie ihn zu einem gesellschaftlichen Körper bzw. einer Spiegelung oder auch Repräsentation der Gesellschafts- und damit auch der Weltordnung. Beim Tanzen entstehende Geräusche wurden weder fo-

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kussiert noch gänzlich vermieden. Schrittgeräusche sollten nicht prinzipiell hörbar sein, wurden in bestimmten Tänzen aber durchaus gezielt und bewusst durch stampfende oder schleifende Schritte integriert. Im romantischen und später Klassischen Ballett werden Tanz- oder Körpergeräusche gezielt vermieden. Der tanzende Körper, vor allem der weibliche, soll möglichst wenige Geräusche erzeugen und lautlos über den Boden schweben. Mit dem Ideal des Sphärischen und Übernatürlichen, das vor allem das Romantische Ballett prägt, versucht sich das Ballett nicht nur inhaltlich, sondern auch tanztechnisch – und hier spielt die Vermeidung von Geräuschen eine große Rolle – von den physikalischen Gesetzen der Schwerkraft (scheinbar) zu lösen. So entwickelten sich zum Beispiel Sprungtechniken, die ein fast lautloses Auftreten auf dem Boden ermöglichten. Geräusche, die nicht zu vermeiden sind, wie z.B. das Klackern von Spitzenschuhen, werden in den meisten Fällen von der Musik überdeckt. Tanz ohne Musik ist zu dieser Zeit noch nicht denkbar. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert beginnt sich in den USA der Modern Dance und in Europa der Ausdruckstanz bewusst vom als künstlich empfundenen klassischen Ballett zu lösen.3 Der natürliche und freie Körper, wie es emphatisch hieß, tritt in den Vordergrund und mit ihm die Idee, dass der Tanz das Innere des Menschen, seine Psyche und seine Emotionen nach außen bringen und damit sichtbar machen soll. Immer mehr Tänzerinnen und Tänzer verzichten auf Schuhe und einengende Kostüme, sie tanzen barfuß, mit offenen Haaren und losen Gewändern. Geräusche, die mit dem tanzenden Körper in Verbindung stehen wie Atmen oder hörbare Schritte, werden nicht mehr gezielt vermieden oder verdeckt. Sie werden als Teil des natürlichen Körpers akzeptiert, jedoch noch nicht als eigener Bestandteil in den Tanz oder die Choreographie integriert. Seit den 1960er Jahren stellen der Postmodern Dance, der zeitgenössische Tanz und das Tanztheater zunehmend den Körper an sich in

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Vgl. Sabine Huschka, Moderner Tanz. Konzepte, Stile, Utopien, Reinbek bei Hamburg 2002.

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den Mittelpunkt. So gewinnen auch alltägliche Bewegungen – wie Gehen, Sitzen oder sich Waschen – einen neuen Stellenwert innerhalb des Bühnentanzes. In dem Moment, in dem der Körper als Ganzes, in all seinen Eigenheiten und seiner Physis in den Mittelpunkt des Interesses rückt, werden auch die Geräusche des sich bewegenden Körpers als integraler Bestandteil desselben betrachtet und in die Auseinandersetzung mit Körper und Bewegung integriert. Körper- und Tanzgeräusche werden nicht mehr verdeckt, vermieden oder stillschweigend akzeptiert, vielmehr werden sie nun in den Tanz bzw. das Tanzen integriert, zum Teil sogar bewusst ausgestellt und fokussiert. Andere Bereiche des Tanzes, die ich hier allerdings nur kurz anreißen möchte, sind der Gesellschaftstanz, der Volkstanz und der Unterhaltungstanz. Die meisten Gesellschaftstänze integrieren die durch Bewegung entstehenden Geräusche ohne weiteres. Den Geräuschen scheint hier keine besondere Bedeutung beigemessen zu werden, sie sind einfach ein Teil des sich bewegenden Körpers. Der Volkstanz integriert verschiedene Geräusche wie selbstverständlich in einigen seiner Tänze. Sofort fällt hier vermutlich der Schuhplattler ins Auge, der ohne das dazugehörende Stampfen, Klatschen (»Poschen«) und Aufdie-Beine-Schlagen nicht denkbar ist. Das augenfälligste Beispiel aus dem Bereich des unterhaltenden Tanzes stellt sicherlich der Stepptanz oder besser gesagt der USamerikanische Tap Dance dar. Die durch die an den Schuhsolen montierten Eisenplatten entstehenden Geräusche sind ein essentieller Bestandteil dieses Tanzes. Sie bilden eine eigenständige Komponente neben Bewegung und Musik. Hier wird also das durch den sich bewegenden Körper erzeugte Geräusch verstärkt und verselbstständigt. Gleichzeitig sind die Geräusche der Steppschuhe aber auch ein integraler Teil von Bewegung und Musik. Der Wunsch, bestimmte Geräusche zu erzeugen, hat Einfluss auf die auszuführenden Bewegungen, ist also ein konstitutiver Bestandteil der Bewegung.

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Zwischen Vermeidung, Integration und Fokussierung Aus dieser Fülle an möglichen Untersuchungsgegenständen, habe ich drei mir typisch erscheinende Beispiele aus dem 20. Jahrhundert ausgewählt, an denen ich den unterschiedlichen Umgang mit Tanzgeräuschen illustrieren möchte. Zwei Fragen seien dabei leitend: Welche Geräusche sind vorhanden? Und wie wird mit den vorhandenen Geräuschen umgegangen? Petite Mort Jiří Kylián wurde 1947 in Prag geboren. Der tschechische Tänzer und Choreograph arbeitete viele Jahre beim Stuttgarter Ballett bevor er Direktor des Nederlands Dans Theater in Den Haag wurde. Insgesamt sind Kyliáns Arbeiten stilistisch schwer einzuordnen, können jedoch grob dem neoklassischen Ballett zugeordnet werden. Die Choreographie Petite Mort4 entstand 1991 und verwendet als Musik das Adagio aus W. A. Mozarts Klavierkonzert in A-Dur KV 488 und das Andante aus W. A. Mozarts Klavierkonzert in C-Dur KV 467. Sie beginnt jedoch ohne Musik. Die ersten Geräusche entstehen durch die in die Choreographie integrierten Degen – also durch Requisiten. Diese erzeugen jedoch erst dann Geräusche, wenn sie von den tanzenden Körpern bewegt werden. Der sich bewegende Körper versetzt also die Requisiten in Bewegung, die daraufhin hörbar werden. 4

Ich beziehe mich hier auf die Fernsehaufzeichnung einer Aufführung des Nederlands Dans Theater 1. Bei der Aufzeichnung handelt sich um eine Co-Produktion von NPS/NDT/RM Arts aus dem Jahr 1996. Die Analyse bezieht sich auf den Anfang der Choreographie: 0:00 – 3:10 Min. Vgl. Sonja Majkowski, Musik, Tanz, Kulturtransfer: Bronislawa Nijinskas »Les Noces« in der Rezeption von Jiří Kylián und Angelin Preljocaj unter dem Blickwinkel des Kulturtransfers, Magisterarbeit Universität Salzburg 2010; und Isabelle Lanz, Nederlands Danstheater, Den Haag: Een tuin met duizend bloemen: 1975–1995. Een monografie over hat werk van Jiri Kylian, Amsterdam 1995.

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Doch nicht nur durch die Degen werden Geräusche erzeugt, auch der tanzende Körper selbst ist hörbar. So hört man das Schleifen der Füße, und auch das Gehen wird nicht von anderen Geräuschen überdeckt. Besonders deutlich und wesentlich lauter ist das Klatschen auf die nackte Haut. Die Tänzer tragen kurze Hosen und sind ansonsten unbekleidet. Schlagen sie mit der flachen Hand auf ihren nackten Körper, ist das Klatschgeräusch deutlich vernehmbar. Nach einigen Minuten setzt leise die Musik ein. Der Modus der Bewegung ändert sich nicht, die vorher leise hörbaren Geräusche wie Gehen und das Nachschleifen der Füße werden nun aber von der Musik überdeckt. Das Ziehen der Degen durch die Luft oder das Schlagen auf die nackte Haut stechen auch mit der nun vorhandenen Musik heraus. Gegen Ende der hier betrachteten drei Minuten wird ein schwarzes Tuch mit Schwung über die gesamte Bühnenlänge gezogen. Dabei handelt es sich um ein gewolltes und gezielt eingesetztes rauschendes und knisterndes Geräusch des sich bewegenden Stoffes. Auffallend ist, dass in der ganzen Choreographie keine Atemgeräusche hörbar sind. Dies macht deutlich, dass es sich bei den hörbaren Geräuschen um bewusst eingesetzte und nicht um beim Tanzen natürlicherweise entstehende handelt. Zusammenfassend sind bei Petite Mort zwei Geräuschebenen auszumachen. Auf der ersten Ebene handelt es sich um Geräusche, die direkt durch den sich bewegenden Körper erzeugt werden. Die zweite Ebene bilden die Geräusche, die durch in Bewegung versetzte Requisiten entstehen. Rosas danst Rosas Anne Teresa de Keersmaeker wurde 1960 in Belgien geboren. Die flämische Tänzerin und Choreographin gründete in den 1980er Jahren ihre eigene Kompanie Rosas. Sie gehört heute zu den wichtigsten zeitgenössischen Choreographinnen. Rosas danst Rosas5 aus dem Jahr 5

Ich beziehe mich hier auf die filmische Umsetzung der Choreographie: Rosas danst Rosas, Rosas, filmische Umsetzung von Thierry de Mey, CoProduktion von Avila & Sophimages, NPS, BRTN TV2, ZDF/Arte u.a.,

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1983 ist de Keersmaekers erste Gruppenchoreographie. Die Musik stammt von den Komponisten Thierry de Mey und Peter Vermeersch. Kennzeichnend für diese Arbeit sind die Verwendung von Alltagsbewegungen, der Einsatz perkussiver Schwünge, sowie eine enge Verbindung zwischen Tanz und Musik. Die Tatsache, dass ich mich hier auf eine filmische Umsetzung der Choreographie beziehe und nicht auf die Aufzeichnung einer Bühnenaufführung, hat den einfachen Grund, dass mir keine Bühnenaufzeichnung in technisch guter Qualität zur Verfügung stand. Dass sich bei einer gezielten Filmfassung, die mit nahen Kamera- und somit auch Mikrofoneinstellungen arbeiten kann, andere akustische Realitäten erstellen lassen als bei einer Bühnenaufführung ist mir durchaus bewusst. Da es mir hier jedoch nicht um eine genaue Analyse einer bestimmten Bühnen- oder Filmfassung und deren spezifische akustische Realisierung geht, sondern um den allgemeinen Umgang mit Geräuschen in der Choreographie, können diese Unterschiede in einem ersten Betrachten des Materials vernachlässigt werden. Gleich zu Beginn der Choreographie wird die Ebene der Akustik nicht von der Musik gestaltet, sondern von den Körpern der Tänzerinnen. Deutlich hörbar fallen die vier Tänzerinnen auf den Boden. Durch ihren bewusst eingesetzten Atem und das Fallenlassen einzelner Körperteile auf den Boden entsteht eine durch Körperbewegungen und Körpergeräusche erzeugte rhythmische Ebene der Choreographie. Diese Bewegungen und die damit verbundenen Geräusche kreieren in der Choreographie selbst eine rhythmische Struktur. Dieser Einsatz von Tanzgeräuschen zieht sich durch die gesamte Choreographie. Neben dem Schleifen auf dem Boden werden auch immer wieder Geräusche durch Schläge auf den eigenen Körper erzeugt. Die Musik kommt im Laufe der Choreographie immer wieder als neue Ebene dazu. Der cho-

1997. Die Analyse bezieht sich auf zwei Ausschnitte aus der Choreographie: 2:36 – 3:10 und 7:45 – 9:20 Min. Vgl. auch: Anne Teresa de Keersmaeker/Bojana Cvejic, A Choregrapher’s Score. Fase, Rosas danst Rosas, Elena’s Aria, Bartók, Gent 2012.

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reographische Stil ändert sich jedoch nicht, was zur Folge hat, dass die Tanzgeräusche manchmal neben der Musik hörbar sind, manchmal aber auch von dieser überlagert werden. Die zwei zentralen Aspekte in dem Umgang mit Tanzgeräuschen in dieser Choreographie sind das Hörbarmachen von Körperenergie, hier spielt vor allem die Atmung eine große Rolle, und die Eigenständigkeit der Geräusche. Diese stehen selbstständig neben der Musik und der Bewegung. Tap Dance Chuck Green (1919–1997) war ein bekannter amerikanischer Stepptänzer, der im Kontext des aufkommenden Bebops einen neuen Steppstil kreierte. Insgesamt ist sein Stil eher langsam und individuell. Gleich zu Beginn einer seiner Nummern von 19906 fällt auf, dass Musik, Bewegung und Geräusch hier parallel laufen. Die Rhythmik ist in allen drei Komponenten der zentrale Bestandteil. An manchen Stellen setzt die Musik aus und auf der akustischen Ebene sind ausschließlich die Geräusche der Tanzschritte beziehungsweise der Steppschuhe zu hören. Hier ersetzt die Rhythmik der Schritte die musikalische Begleitung, das Tanzgeräusch wird zur Musik. Dies geschieht in erster Linie bei tänzerisch virtuosen Passagen in der Choreographie. Vereinzelt eingesetztes Händeklatschen ergänzt die Tanzgeräusche rhythmisch. Der Fokus der Geräuschbildung liegt aber deutlich auf den Tanzschritten beziehungsweise den Steppschuhen, deren Sohlen so gestaltet sind, dass sie unterschiedliche Tonhöhen und Klangfarben erzeugen können. Der Körper scheint hauptsächlich ein Mittel zu sein, um die spezifischen Steppgeräusche hervorzubringen. Da weder Atemgeräusche noch sonstige eher zufällige Geräusche hörbar sind, kann man davon ausgehen, dass nur gezielt erzeugte und eingesetzte Geräusche in der 6

Die Angaben sind bezogen auf folgende Aufzeichnung dieses Festivals: Dance Black America. A festival of modern, jazz, tap and African styles, Brookly Academy of Music, Hightstown [NJ], Dance Horizons Videos 2006. Die Analyse bezieht sich auf den Anfang einer Tap Dance Nummer von Chuck Green auf dem Festival Dance Black America, 0:49 – 2:15 Min.

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Choreographie vorhanden sind, in diesem Fall sogar erst die Choreographie ausmachen. Vom Tanzgeräusch zum Tanzkonzept Nach dem kurzen Überblick über den Umgang mit Tanzgeräuschen in der Tanzgeschichte und der näheren Betrachtung der drei angeführten Beispiele, die verschiedene Arten des Umgangs mit Tanzgeräuschen verdeutlicht haben – Vermeidung, Integration und Fokussierung – zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit Tanzgeräuschen einen neuen Blick auf den Tanz und dessen Körperkonzepte wirft. Ich möchte hier wieder auf die Studie von Harald Wolff zurückgreifen, der mit seinen Überlegungen zur Objektbezogenheit von wahrgenommenen Geräuschen einen Denkansatz liefert, der für die Tanzwissenschaft interessant ist. Wolff grenzt das Hören von Geräuschen gegenüber dem Hören von Musik folgendermaßen ab: Das Wahrnehmen von Geräuschen muß, anders als das Hören von Musik, als Objektwahrnehmung verstanden werden, d. h. daß nicht das Geräuschsignal eine kognitive Repräsentation erfährt, sondern das Objekt, das mit dem Signal verknüpft wird.7

Im Fall des Tanzes wäre das Objekt, das mit den jeweiligen Geräuschen verbunden wird, der Körper bzw. der tanzende Körper. Hört man, während man einen Tanz sieht, Geräusche wie Gehen, Atmen, Fallen oder Stampfen, dann wird nach oben angeführter Überlegung sofort auf einen menschlichen, sich bewegenden Körper rückgeschlossen. Das Objekt Körper gerät somit nicht nur visuell, sondern auch auditiv in das Bewusstsein. Wenn nun das Hören von Geräuschen des sich bewegenden Tänzerkörpers diesen in seiner Körperlichkeit in das Bewusstsein bringt, dann müsste in einem Umkehrschluss das Vermeiden dieser Geräusche den Körper auf der auditiven Ebene aus dem Blickfeld rücken. Sicherlich wird ein tanzender Körper als solcher nie 7

Wolff, Geräusche und Film (Anm.1); S. 133.

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vollständig aus dem Bewusstsein verschwinden, da die visuelle Wahrnehmung beim Tanz in den meisten Fällen nicht fehlen kann. Vermeidet man nun in einer Tanztechnik oder einer Choreographie gezielt Tanzgeräusche, so tritt der Tänzerkörper jedoch weniger in seiner Körperlichkeit hervor. Er wird vielmehr als ästhetisches Bild wahrgenommen. Diese Überlegungen lassen sich auf die angeführten Beispiele in Verbindung mit Kenntnissen aus der Tanzgeschichte übertragen. Während das klassische und mit diesem auch das neoklassische Ballett von einer Entmaterialisierung und einer gewissen Entmenschlichung des Körpers geprägt ist, stellt der zeitgenössische Tanz den Körper als menschlichen, real existierenden Körper in den Mittelpunkt. Der Tap Dance als Beispiel für einen aus dem unterhaltenden Kontext stammenden Tanz, orientiert sich an den alltäglichen Gegebenheiten – einer Parallelität von Körper, Bewegung, Geräusch und Musik. Als theatrales Ereignis ästhetisiert er diese übliche Situation jedoch und hebt sie, indem er zugleich und im selben Maße die Rolle des Tänzers und Musikers übernimmt, wieder aus dem Alltag heraus. Es zeigt sich, dass von der Art des Umgangs mit Geräuschen im Tanz auf die Bedeutung der Körperlichkeit und das Körperbild des jeweiligen Tanzstils geschlossen werden kann. Somit kann die Auseinandersetzung mit Tanzgeräuschen zu einem weiteren Verständnis dominierender Körperbilder und Konzepte des Tanzens führen.

The sound of obsolescence Wie aus alter Hardware Musik wird N INA J UKIĆ

Im Verlauf der Geschichte haben für gewöhnlich neue technologische Entwicklungen ihre Vorgänger ersetzt, weil sie als besser, schneller und handlicher erachtet wurden. Nun steigt jedoch trotz des rapiden technologischen Fortschritts die Zahl der Fälle, in denen Künstler ganz bewusst Technologien und Medien verwenden, die bereits als veraltet oder obsolet gelten. Wenn Benutzer absichtlich weniger fortgeschrittenen und wohl auch weniger praktischen Technologien in ihrem kreativen Streben den Vorrang geben, so ist das auf den ersten Blick ein ziemlich seltsames Phänomen. Es ist kaum zu übersehen, wie die heutige Popkultur im Bann des ›Retro‹ steht. Die Beispiele sind zahlreich, vom Trend der Lomografie, wo der Gebrauch billiger Analog-Kameras zelebriert wird, oder den Versuchen die Polaroid Fotografie wieder zu beleben, bis hin zum Revival der Vinyl-Platten, Audio-Kassetten und analogen Synthesizern. Wer kein Liebhaber von Spiegelreflexkameras ist, hat doch zumindest schon Instagram verwendet, um den mit dem iPhone geschossenen Fotos den Schein des Analogen zu verleihen. Die Frage drängt sich also auf: Woher stammt dieser Wunsch, veraltete Technologien mit eingeschränkten Möglichkeiten zu verwenden, anstatt die zugänglicheren,

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schnelleren und leiseren neuen Technologien zu nutzen? Wie kam dieses Phänomen auf und was hat es zu bedeuten? Ich werde mich lediglich auf einen Aspekt dieses Phänomens fokussieren: Obsolete Computer-Hardware, wie etwa Scanner oder Drucker, die als musikalische Instrumente verwendet werden. Zuallererst werde ich den zentralen Begriff der Obsoleszenz in der zeitgenössischen Kultur diskutieren. Danach sollen einige Videobeispiele analysiert werden, in denen mit alter Hardware Musik gemacht wird. Ich möchte untersuchen, wie der normalerweise unerwünschte Lärm dieser Maschinen in diesem Kontext aufhört, Lärm zu sein, um musikalisches Material zu werden – was mit einer veränderten Wahrnehmungsweise einhergeht. Zuletzt werde ich versuchen, die Frage nach der Bedeutung dieses Phänomens im heutigen Digitalzeitalter, speziell im Hinblick auf die Popkultur zu beantworten. Etwas Obsoletes ist nicht mehr in Gebrauch, gar nicht mehr brauchbar oder es gehört einem Stil an, der aus der Mode geraten ist, kurz: Es ist veraltet. Wie es Jonathan Sterne in seinem Artikel Out with the Trash: On the Future of New Media schreibt,1 ist die Verfügbarkeit von Computern eine der wirklich einschneidenden Neuerungen der heutigen Medienlandschaft. Die Computertechnologie strebt nicht nach Stabilität – denn es ist die Innovation, die den Markt frisch hält und Verkaufszahlen garantiert. Und den Herstellern ist mehr an kurzfristiger Profitsteigerung als an langfristiger Stabilität gelegen. Das Resultat ist, dass sich jetzt mehr funktionsfähige, aber obsolete technische Geräte anhäufen als je zuvor. Einige werden einfach weggeworfen, andere recycelt, wieder andere werden gelagert, weil sie ja schließlich noch funktionieren. Aber niemand hat wirklich vor, sie einmal wieder zu gebrauchen. Andererseits scheinen einige dieser veralteten Technologien fähig zu sein, die Schwelle zwischen Abfall und Gebrauchsgut in umgekehr-

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Jonathan Sterne, »Out with the Trash: On the Future of New Media«, in: Charles R. Acland (Hg.), Residual Media, Minneapolis 2007, S. 16–31.

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ter Richtung zu überschreiten, was Sterne »successive waves of nostalgic revivals«2 nennt. Vinylplatten sind dafür das beste Beispiel. Mein Vater versteht noch immer nicht, weshalb ich ihn so eindringlich davon abhielt, seine alten Schallplatten wegzuwerfen: Heute bilden sie einen wertvollen Teil meiner Plattensammlung. Die Wiederherstellung und Wiederaufwertung ausrangierter Artefakte und Moden – oder was Charles R. Acland die »secondhand retrospective sensibility«3 nennt – scheint ein bedeutendes Charakteristikum zeitgenössischer Kultur geworden zu sein. Man denke nur an das Aufsehen, das Simon Reynolds Buch Retromania: Pop Culture’s Addiction To Its Own Past4 auslöste, als es vor drei Jahren erschien. Die Debatte, die es anstieß, ist noch immer im Gange. Während Jonathan Sterne darauf hinwies, dass einige alte Technologien und Medien wie die Vinylplatte wieder in Mode kommen können, schloss er diese Möglichkeit für veraltete Hardware wie z.B. Diskettenlaufwerke aus. Es ist wohl wahr (auch wenn ich es nicht mit völliger Gewissheit behaupten möchte), dass niemand einen 8-bit Computer aus den 80er Jahren wie etwa den Commodore 64 in seiner ursprünglich intendierten Funktion als Bürocomputer verwendet. Wir werden aber sehen, dass entgegen Sternes Behauptung ausgemusterte Hardware heute wieder aufgewertet wird, und zwar durch kreative Zweckentfremdung. Selbst wenn sie nicht mehr so genutzt werden, wie es ihre Hersteller intendierten, inspirieren diese Maschinen eine erneute Verwendung. Denn ihre anderen, sekundären Qualitäten geraten in den Blick, besonders ihr Klang. Sterne erwähnt eine Ausnahme, wo alte Hardware wieder an Wert gewann. Die Rock-Band Man or Astroman?, die sich für ihre anachronistische Hingabe an Science-Fiction- Motive, Audio-Samples, obskure elektronische Geräte und ihre energiegeladenen Auftritte einen Na-

2

Ebenda, S. 26.

3

Charles R. Acland, »Introduction: Residual Media«, in: Charles R. Acland

4

Simon Reynolds, Retromania, New York 2011.

(Hg.), Residual Media, Minneapolis 2007, S. XIV.

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men machte. Einer ihrer Songs mit dem Titel Simple Text File, der im Jahr 2000 auf dem Album A Spectrum of Infinite Scale erschien, ist allein für einen Apple ImageWriter II komponiert, ein alter 9-NadelDrucker.5 Die Filmaufnahme einer Live-Performance des Songs zeigt, dass der Drucker nicht in seiner primären Funktion verwendet wird – zum Drucken also – sondern dass er live, als Musikinstrument gespielt wird: Und Klänge produziert statt Texte zu reproduzieren.6 Dies erinnert stark an den Geist des 1922 veröffentlichten Essays Production – Reproduction von László Moholy-Nagy,7 dem berühmten ungarischen Künstler, der am Bauhaus unterrichtete und sich entschieden für die Integration von Technologie und industrieller Produktion in die künstlerische Praxis aussprach. In dieser Schrift verlangte er, dass Medien, die normalerweise Reproduktionszwecken dienen, wie etwa das Grammophon, die Fotografie und der Film, auch in unüblicher Weise für die kreative Produktion verwendet werden sollen. Moholy-Nagy nannte drei Fragen, die gründlich untersucht werden müssen: »Wozu dient dieser Apparat (Mittel)? Was ist das Wesen seiner Funktion? Sind wir fähig und hat es einen Wert, den Apparat so zu erweitern, dass er auch der Produktion dienstbar wird?«8 Diese spielerische und kreative

5

Neben der Band Man or Astroman? gibt es viele andere Künstler und Musiker, die mit Nadeldruckern experimentierten, oftmals indem sie eigene Software entwickelten, um die Druckergeräusche zu kontrollieren. Einige erreichten ziemlich komplexe Resultate, wie zum Beispiel das Duo The User, die zwei Symphonien für solche Geräte komponierten. Doch viele dieser Arbeiten bleiben dem breiteren Publikum unbekannt, einige werden in Galerien als Installationen gezeigt und gehören primär der zeitgenössischen Kunst und Avantgardemusik an, wenn sie keine DIY-Experimente von passionierten geeks darstellen.

6

http://youtu.be/X5K3NSEu7kg (eingesehen am 26.3.2014).

7

László Moholy-Nagy, »Produktion – Reproduktion«, in: De Stijl Nr. 7 (1922) S. 97–101. (László Moholy-Nagy, »Production – Reproduction«, in: Krisztina Passuth, Moholy-Nagy, New York 1985, S. 289–290.)

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Ebenda, S. 289.

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Zweckentfremdung von Medien ist besonders fruchtbar, wenn es um obsolete Technologien geht. Denn sie enthüllt bis anhin unbeachtete oder vernachlässigte Potentiale. Viele Theoretiker und Kritiker, wie Acland und Reynolds, sehen den Hauptgrund für die allgegenwärtige Wiederauferstehung alter Medien in der Nostalgie nach vergangenen, technologisch einfacheren Zeiten. Ich gehe mit ihnen einig, dass Nostalgie bei diesem Phänomen eine wichtige Rolle spielt, aber ich glaube nicht, dass es der entscheidende Grund ist, weshalb sich immer mehr Künstler für alte und obsolete Medien und Technologien interessieren. Es muss mehr als Nostalgie im Spiel sein, denn es sind ja oft auch junge Menschen, die dieses Interesse zeigen. Ich glaube, dass dieses Phänomen vielmehr mit der Materialität, in diesem Fall der klingenden Materialität alter Medien zusammenhängt. Wenn alte Hardware wie Drucker und Scanner als Musikinstrumente verwendet werden, besteht eine Beziehung zwischen der Obsoleszenz dieser Maschinen und dem Klang, dem Geräusch, das sie produzieren. Ältere Technologie ist immer lauter, geräuschhafter als die neuere, sie liefert mehr Klangmaterial, und gerade hier liegt ihr Potential für die klanglich-kreative Zweckentfremdung. Das erste Beispiel, das ich genauer untersuchen möchte, ist ein Remix des Songs Nude von Radiohead, den James Houston 2008 realisierte.9 In seiner Coverversion verwendete James Houston den 8-bit Computer Sinclair ZX Spectrum, um die Stimmen der Lead- und

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Das Video findet man unter: http://youtu.be/pmfHHLfbjNQ. Houston schrieb über dieses Werk in den »About«-Zeilen auf YouTube: »Based on the lyric (and alternate title) ›Big Ideas: Don’t get any‹ I grouped together a collection of old redundant hardware, and placed them in a situation where they’re trying their best to do something that they’re not exactly designed to do, and not quite getting there. It doesn’t sound great, as it’s not supposed to.« Auch in den »Comments« unter dem Video findet man viele charmante Bemerkungen wie etwa: »never gonna be annoyed at my noisy hdd ever again :’)« und »I had that same printer for years; it never understood its potential.«

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Rhythmusgitarre zu spielen, den Nadeldrucker Epson LX-81 als Schlagzeug, den HP Scanjet 3c für die Basslinien und eine Reihe von alten Festplattenlaufwerken, die zu Lautsprechern umfunktioniert die Stimme und Effekte reproduzieren. Das Video lässt während etwa einer Minute nur Maschinengeräusche erklingen – Sinustöne, Rauschen, Klicken – was bei einigen Zuschauern Ungeduld und Verärgerung auslöste. So schrieb ein User: »i [sic] don’t see the reason for the first minute and a half – which is just noise and sounds nothing like nude. The rest is brilliant, but the start was grating enough to nearly put me off.«10 Als ich zum ersten Mal das Video sah, dachte ich, dass diese erste Minute allein aus künstlerischen Gründen so gestaltet wurde. Es gibt aber einen anderen Grund: Diese Geräuschminute verzögert den Beginn, weil Computer in den frühen 80er Jahren wirklich so waren: Es handelt sich exakt um die Zeit, die man abwarten musste, bis die Programme von den ZX Spectrum Kassetten hochgeladen waren. Die Geräusche stimmen in den Song ein, und wer diese Zeiten erlebt hat, dem kommen sicherlich einige Erinnerungen hoch. Ein anderes Beispiel ist ein Cover des Songs Somebody That I Used To Know von Gotye feat. Kimbra, das der YouTube-User BD594, dessen wirklicher Name James Cochrane ist, realisiert hat. Cochrane hat mehrere Popsongs unter Verwendung von veralteter Hardware gecovert, dieses Video ist mit über dreieinhalb Millionen Sichtungen sicherlich das populärste. Im Video sind verschiedene Maschinen und ein computer-kontrolliertes Glockenspiel zu sehen, die den Song mit einem HP Scanjet 3C in der Rolle des Sängers performen. Es ist entscheidend, dass es sich in beiden Fällen um Videos und nicht nur um Klangaufnahmen handelt. Man kann also den Maschinen zuschauen, wie sie die Musik machen. Die Videos sind Authentizität steigernde Faktoren, sie zeigen oder suggerieren zumindest, dass die Klänge wirklich aus den Maschinen selbst kommen. Das ist ein weite-

10 Ein Kommentar unter dem Video auf YouTube: http://youtu.be/pmfHH LfbjNQ (eingesehen am 23.4.2014).

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rer Grund für die Attraktivität der alten Technologie: Man kann sie öffnen und zusehen, wie sie arbeiten, während man dasselbe vom iPhone nicht behaupten könnte. Die Mechanismen der Technologie sind uns heute zumeist verborgen. Darüber hinaus ist wichtig, dass es sich bei der Musik um ein Cover eines Songs handelt, der bereits einer großen Zahl von Leuten bekannt sind. Nicht nur, weil die Videos deshalb ein viel größeres Publikum erreichen, sondern auch, weil die gecoverten Songs als Referenzpunkt funktionieren, die es erlauben, die Aufmerksamkeit der Hörer auf die Geräusche der Maschinen zu lenken: Weil uns die Songs schon vertraut sind, fokussieren wir uns ganz auf die Differenz, auf die Materialität der Klänge dieser Maschinen. Beim Vergleich dieser beiden Beispiele fällt auf, dass wir ihnen nicht ganz in derselben Weise zuhören. Wenn wir dem Cover von Somebody That I Used To Know zuhören, so sind wir zunächst überrascht, vielleicht amüsiert, einen Scanner eine bekannte Melodie singen zu hören. Weil uns die Melodie bereits vertraut ist, beginnen wir bald die einzelnen Besonderheiten des Klanges selbst wahrzunehmen, die ein solcher Scanner hervorbringt. Wir beginnen der »Körnung« seiner Stimme nachzuhorchen, wie es Roland Barthes sagen würde:11 Wir hören, wie der Scanner sein Bestes gibt, die hohen und tiefen Töne zu treffen. Houston hingegen belässt die Klänge der alten Hardware mehr oder weniger so, wie sie waren. Er verwendet sie als Musikinstrumente, vor allem aufgrund ihrer rhythmischen Qualität (außer die Festplattenlaufwerke, die eigentlich keine Instrumente, sondern Lautsprecher sind, die die Stimme von Thom Yorke übertragen). Wenn wir diesem Beispiel zuhören, nehmen wir plötzlich das musikalische Potenzial der gewöhnlichen Betriebsgeräusche dieser Maschinen wahr. BD594 verwendet die Hardware jedoch als menschliche Stimme. Der Scanner wird zum Sänger, wird manipuliert, um komplexe Melodien und Rhythmen vorzutragen und es ist reizend zu sehen, welche Mühe es ihm bereitet. Wir hören ihm zu, fast als sei es ein lebendiges Wesen.

11 Roland Barthes, Die Körnung der Stimme, Frankfurt 2002.

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Versuchen wir nun zu erklären, wie diese Geräusche alter Hardware als musikalisches Material behandelt werden und so neue Hörweisen provozieren, neue Bedeutungen gewinnen. Der Klang eines arbeitenden Druckers oder Scanners gilt für gewöhnlich als Lärm. Als solche erachtet man ihn als Ablenkung, als Ärgernis. Dies trifft besonders auf ältere Geräte zu, die in der Regel viel lauter und geräuschhafter als ihre heutigen Nachfolger sind. Wenn man sich eine Umgebung wie etwa ein Großraumbüro oder ein Kopierladen vorstellt, in der viel gedruckt und gescannt wird, dann kann man sich sicher sein, dass diesen Geräuschen nicht zugehört, sondern im besten Fall an ihnen vorbeigehört wird: »They are listened through, not listened to«, um es in den Worten Andy Birtwistles zu sagen.12 Als eine »allgegenwärtige Belästigung«13 und Ablenkung wird Lärm in den Hintergrund der bewussten Wahrnehmung gedrängt. Doch wenn diese Maschinen obsolet werden, wenn sie nicht mehr funktional sind, können sie zu Mitteln kreativen Ausdrucks werden, gerade dank ihrer sekundären Eigenschaften, die zur Zeit, als sie noch zur zeitgemäßen Büroausstattung gehörten, nichts als unerwünschte Nebeneffekte waren: ihre Klänge, ihre Geräusche. Das Buch Cinesonica von Andy Birtwistle handelt vom Film, aber auch von dem Geräusch, dem Grundrauschen, welches das Filmmaterial produziert, wenn es die Geräte der Klangwiedergabe durchläuft, sowie von den Betriebsgeräuschen, die von den Projektoren und den Lautsprechersystemen ausgehen. In alten Filmen war dieses Geräusch immer anwesend, vergleichbar etwa mit dem Bandrauschen von Audio-Kassetten. Die technologische Entwicklung zielte auf eine Reduktion dieses Rauschens (Dolby Noise Reduction), mit dem Ideal, die Technik gänzlich unhörbar werden zu lassen. Die technologische Entwicklung kann also als das Bestreben interpretiert werden, die Materialität des Mediums zu unterdrücken. Je neuer eine Technologie, desto leiser, kleiner, leichter, flacher ist sie. Man denke nur an den Touch-

12 Andy Birtwistle, Cinesonica. Sounding Film and Video, Manchester 2010. 13 Im Original: »ever-present annoyance«. Stanley R. Alten, Audio in Media, Belmont 2005, S. 232.

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screen, der eine extrem reduzierte Materialität besitzt, bei der nur noch minimale körperliche Betätigungen für die Steuerung der Technik aufgewendet werden müssen. Die Frage nach den Geräuschen der Technik könnte man mit Andy Birtwistle also zuspitzen: Während alte Technologie Geräusche von sich gab, ist die neue lautlos. Dies ist der Grund, weshalb diese alten Geräte heute für Künstler wieder interessant sind: Sie lassen sich physisch manipulieren und liefern mehr Klang, mehr musikalisches Material.14 Natürlich kommt hinzu, dass die Klänge, die einst als unübersetzbare Materialität, als Geräusch sich präsentierten, nun nostalgische Gefühle hervorrufen: Das Knistern der Filmbänder, das Klicken der Schallplattenkratzer, das Rauschen der Magnet-Kassetten, die Nadelschläge der Drucker. Die Webseite Museum of Endangered Sounds, auf der man die Geräusche altmodischer Geräte sich anhören kann, bringt diese Gefühle beispielhaft zum Ausdruck.15 Klänge, an denen man einst vorbeihörte, statt ihnen zuzuhören, beginnen nun ihre eigene Materialität zu enthüllen. Da der Lärmpegel zwischen neuer und alter Technologie sich so stark vermindert, sind wir, wenn wir diese alten Drucker und Scanner hören, unmittelbar empfänglich für ihr Vergangen-Sein, für ihr Abfallen ins jüngst Vergangene. Man hört einen Klang des Vergangen-Seins, ein Klang der Obsoleszenz. Lärm hört auf, bloßer Lärm, Klang ohne Bedeutung zu sein, und beginnt, die Vergangenheit zu symbolisieren. Ich möchte zum Schluss auch die politische Dimension des Phänomens ansprechen. Wenn es stimmt was Jacques Attali in seinem Buch Noise schreibt,16 wenn Musik die Zukunft vorher sagt und ›noise‹ die Quelle der Macht ist, was bedeutet es dann, die zurückgebliebenen Gebilde unserer Gesellschaft, jene von der dominanten Kultur vernachlässigten, unterschätzten und verkannten Dinge ihrer Zwecke zu entfremden? Handelt es sich dabei bloß um Nostalgie oder verbirgt sich

14 Birtwistle, Cinesonica. 15 http://savethesounds.info (eingesehen am 24.4.2014). 16 Jacques Attali, Noise, Minneapolis 1985.

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darin auch eine politische Aussage, die sich gegen die Konsumgesellschaft und ihrem unstillbaren Begehren nach den immer neuen und angesagten Waren richtet und dabei Unmengen an Abfall produziert? Handelt es sich hier um einen Akt der Subversion? Ich möchte die Frage offen lassen und statt einer eindeutigen Antwort ein weiteres Beispiel heranziehen. Es handelt sich um einen Werbefilm für einen Drucker der Firma Brother, der im Jahr 2012 lanciert wurde.17 In diesem Werbespot ist eine Sammlung veralteter Hardware zu sehen – Drucker, Scanner, Kopierer, Modems – die laut und fröhlich, mit dem ganzen Reichtum an Klängen, die einst unsere Büros erfüllten, in ein Cover von Bob Dylans Times They Are A-Changin’ einstimmen. Doch in jenem Moment, wo der Gesang den titelgebenden Vers erreicht, verstummt die altmodische Hardware auf einen Schlag und die Kamera fokussiert das neuste Modell von Brother. In Sekundenschnelle und mit nur drei kleinen Geräuschen druckt er die Zeile aus: Times They Are A-Changin’. Hier sieht man vor dem typischen Clash der Postmoderne, ihrer Paradoxie und Ironie. Eine kreative, künstlerische Zweckentfremdung alter Technologie wird eingespannt, um für neue Technologie zu werben. Die potentiell subversive Form kreativen Ausdrucks der Popkultur wird so verdreht, dass sich mit ihr noch mehr neue Waren verkaufen lassen. Interessanterweise gab es sehr viele negative Kommentare zu diesem YouTube-Video. Die User warfen Brother vor, James Houstons Werk ohne Erwähnung oder sonstige Anerkennung billig zu imitieren, was so weit ging, dass sich die Firma ebenfalls in UserKommentaren zu rechtfertigen begann. Entscheidend ist nicht, ob Brother die Idee von James Housten geklaut hat oder nicht, denn es haben lange vor Houston schon viele andere mit ähnlichen Ideen gearbeitet. Interessant ist vielmehr, dass Brother genau erkannt hat, wie relevant und wirksam die musikalische Verwendung alter Computer Hardware sein kann, und dass viele User sich daraufhin verpflichtet fühlten, die

17 http://youtu.be/Sb5gxT45CNY (eingesehen am 26.3.2014).

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jungen Künstler und ihre Ideen gegen die Vereinnahmung durch das Unternehmen zu verteidigen. Man könnte die Behauptung wagen, dass das Interesse an der Materialität der Medien ins Herz jener Besorgnis trifft, die das Digitale zurzeit in unserer Kultur auslöst. Tess Takahashi18 hat darauf hingewiesen, dass materiale Qualitäten wieder zum Zentrum der Avantgarde werden und die Frage aufgeworfen, welche historischen und kulturellen Veränderungen eine solche Rückkehr ankündigt. Ich möchte dem hinzufügen, dass materielle Qualitäten ebenso in den Mittelpunt der Popkultur geraten sind, im Visuellen wie in der Musik. Was dies für unsere Kultur und Gesellschaft zu bedeuten hat, bleibt jedoch offen.

Übersetzt von Christoph Haffter

18 Tess Takahashi, »After the Death of Film: Writing the Natural World in the Digital Age«, in: Visible Language 42 (2008), Sp. 45–69.

Folge dem Klang1 Musik und Sound in Audiogames Y VONNE S TINGEL -V OIGT

»Ein Schrei in der Nacht gibt dir ein Zeichen, aber nur dein Verstand kann dir den Weg zeigen.«2 Nicht nur sehende Jugendliche und Erwachsene verbringen ihre Freizeit mit Spielen vor dem PC. Audiogames sind Spiele für Blinde oder Menschen mit einer Sehbehinderung. Die virtuelle Welt, die nicht visuell erfasst werden kann, basiert auf Klang. Als Hilfsmittel gelten somit Sound, Musik und die Sprachausgabe (z.B. indem Fragen vorgelesen oder andere akustische Hinweise gegeben werden). So sind diverse Ego-Shooter, Abenteuerspiele, aber auch Autorennen speziell für diese Zielgruppe entwickelt. Daneben gibt es Onlinespiele, die von Blinden und Sehenden gleichermaßen gespielt werden können, da hier nicht mit aufwendigen Grafiken oder

1

Teile dieses Artikels finden sich im Kapitel »Audiogames« in: Stingel-Voigt, Yvonne: Soundtracks virtueller Welten. Musik in Videospielen, Glückstadt 2014.

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Spiele.com, Spielinfo Blind, online Browserspiel. http://www.spielen.com/ spiel/blind.html. (eingesehen am 25.01.2014).

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Spezialeffekten gearbeitet wird und auch die entsprechenden akustischen Hilfsmittel Anwendung finden.3 Ein ausdrücklich für Sehbehinderte und Blinde entwickeltes Spiel ist Der Tag wird zur Nacht. Es wurde 2003 von Studenten an der Hochschule der Medien Stuttgart entwickelt. Es handelt sich dabei um ein Spiel, das sich an Kinder im Alter von ca. 10 bis 14 Jahren richtet. Ihnen wird im Intro erklärt, dass sich die Handlung im antiken Pompeji zur Zeit des Ausbruchs des Vesuvs abspielt. Durch diesen Vulkanausbruch verdunkelt sich die Welt. Und aus diesem Grund bleibt auch der Bildschirm ungenutzt. Alle Spieler sind nun vollkommen auf ihr Gehör angewiesen. Nach der Einführung in die Story werden die Tastenbelegung sowie das Ziel des Spiels erklärt. Es gilt, innerhalb einer vorher festgelegten Zeit, verschiedene Räume zu durchqueren, um die Spielfigur in Sicherheit zu bringen. Diese virtuellen Räume sind ausschließlich auditiv erfahrbar. Auch die Navigation ist allein aufgrund zu erhörender Hinweise sinnvoll ausführbar. Befindet sich ein Hindernis im Weg, sind dumpfe Geräusche, Scheppern von Geschirr, das Miauen einer Katze oder ähnliches zu hören. Trifft die virtuelle Figur des Spielers auf einen freien Durchgang, ertönt das Geräusch einer sich öffnenden Tür. Diese virtuellen Ton-Räume sind recht komplex, und auch das ist hörbar. Je größer ein Raum ist, desto mehr Hall besitzen die dort vorhandenen Geräusche. Manche gesuchten Gegenstände senden auch eigene akustische Signale aus. So erklingt beispielsweise das Plätschern von Wasser. Dieses signalisiert den Brunnen im Hof, zu dem der Spieler hinfinden muss. Das ist nicht so einfach, da das Signal (das Plätschern) aus zahlreichen Nebengeräuschen herausgefiltert werden muss. Je näher man dem Brunnen kommt, desto lauter hört man ihn. Die Richtung, die der Spieler in dieser akustischen virtuellen Welt einschlägt, wird von einem Sprecher angesagt (z.B. »Drehung links«). Um von der eigenen geräuschhaften Alltagsrealität möglichst wenig gestört

3

Vgl. Webseite des Bildungszentrums für Blinde und Sehbehinderte, bbs Nürnberg. www.bbsnürberg.de/index.php?option=com_content&view=article &id=31&Itemid=61 (eingesehen am 25.01.2014).

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oder beeinflusst zu werden, bietet es sich an, während des Spielens Kopfhörer zu benutzen. Neben dem Vorhaben, die Kommunikation zwischen behinderten und nichtbehinderten Kindern zu fördern, verfolgte das Projekt der Hochschüler konkrete Zielsetzungen: Zu Beginn des Projekts stand die Idee, ein Spiel für Blinde und Sehbehinderte zu entwickeln, das mit einem herkömmlichen PC ohne Hilfsmittel für Behinderte gespielt werden kann. [...] Der Benutzer braucht weder Sprachausgabe noch Braillezeile. Es genügt ein PC mit Soundkarte und PC-Lautsprecher oder Kopfhörer. Zusätzlich sollte das Spiel selbsterklärend sein. Die Kinder sollten ohne fremde Hilfestellung sofort mit dem Spielen beginnen können. [...] Weiterhin vermittelt das Spiel den sehenden Kindern das Gefühl des NichtSehen-Könnens und trägt dazu bei, bei ihnen eine Sensibilität für die Situation der Blinden zu entwickeln.4

Audiogames gibt es nicht nur als Blindensoftware. Besonders im Bereich der Mobile- und Independent-Games wird allerhand experimentiert. Sound und Musik können hier auf verschiedenste Weisen eingesetzt werden. Sie erlangen unter Umständen einen besonderen Stellenwert und sorgen für eine neue Erfahrung der Spieler. Es ist ein SichAbsetzen, ein Ausbruch vom herkömmlichen Spielerlebnis, denn die Konzentration auf den Bereich Audio und damit das Schaffen und Erleben unsichtbarer virtueller Welten ist noch eher unkonventionell. Nahezu blind ist der Spieler bei Rain.5 Die virtuelle Welt kann er durchaus sehen. Was nicht direkt sichtbar ist, ist seine Spielfigur, sein Avatar. Im virtuellen Regen sind gerade mal dessen Umrisse zu erahnen, im Trockenen ist er nicht auszumachen. Manchmal hört man seine Schritte, dann wieder ist zu hören, wenn er Gegenstände an-

4

http://www.dertagwirdzurnacht.de/entstehung.html. (eingesehen am 12.05.2013).

5

Rain, Playstation C.A.M.P. 2013.

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rempelt oder umstößt. Dazu erklingt das Clair de Lune von Claude Debussy.6 Auch Zombies, Run!7 ist ein Spiel, das sich nicht an Blinde oder Sehbehinderte wendet. Es ist eine App für das Smartphone, die mit Kopfhörern angewendet werden sollte, und führt ebenfalls in eine vorwiegend akustische Spielwelt. Um zu spielen, wählt man zunächst einen Weg durch eine reale Umgebung aus. Diese Joggingstrecke ist dann der Ort der Handlung. Der Spieler bewegt sich durch eine reale Landschaft, der dann während des Spielgeschehens akustisch und optisch fiktive virtuelle Elemente hinzugefügt werden. Der jeweilige Standpunkt und die Geschwindigkeit des Spielers werden per GPS in Echtzeit erfasst. Dadurch kann er von den virtuellen Feinden (Zombies) verfolgt werden, die auf dem Bildschirm als rote Markierungen sichtbar werden. Die Aufgabe des Spielers ist es nun, zu rennen und sich nicht von diesen Zombies kriegen zu lassen. Mit Kopfhörern wird das Spiel zum Audiogame. Bild und Ton bilden gemeinsam eine augmented reality. Der Spieler ist direkt in das interaktive Hör-Abenteuer verwickelt. Er hört Mitteilungen (zum Beispiel wo sich Zombies in der unmittelbaren Umgebung befinden) und es werden ihm günstige Laufrichtungen vorgeschlagen. Zwischen solcherlei Hinweisen, die die Story beinhalten, hört der Spieler Musik aus seiner eigenen Playlist, die er zuvor bestimmt hat. So hat er einen direkten Einfluss auf die ›couleur locale‹ der akustischen virtuellen Welt. Seine Musikauswahl kann an seine derzeitige Stimmung angepasst sein oder nach dem Empfinden des Spielers besonders gut zum Sport (Jogging) passen. Eine andere akustische Horrorwelt findet der Spieler bei Papa Sangre8 vor: »Die Monster sehen wahrscheinlich noch schlimmer aus, als sie sich anhören. Du kannst dich also glücklich schätzen, dass es zu

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Vgl. Yvonne Stingel-Voigt, Soundtracks virtueller Welten. Musik in Videospielen, Glückstadt 2014, S. 95.

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Zombies, Run!, Six to Start and Naomi Alderman, 2012.

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Papa Sangre, Somethin’ Else, 2010.

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dunkel ist, um sie zu sehen.«9 Das Ziel dieses Spiels besteht darin, Musiknoten zu sammeln und gleichzeitig unsichtbaren Ungeheuern zu entkommen. Ein wenig visuelle Unterstützung gibt es hier schon. Auf dem Display sind ein Kompass sowie zwei Fußsymbole zu sehen, mit deren Hilfe sich die Spielfigur durch die bildlose virtuelle Welt steuern lässt. Der Weg ist zu erhören. Der Klang der zu erreichenden Noten weist die Richtung. Klingt er dumpf, befindet sich das Ziel hinter dem Spieler. Ein klarer Ton bedeutet, dass es sich geradeaus befindet. Der Spieler hört sich durch diese Welt von Klang und Geräusch. Obwohl die virtuelle Welt von Papa Sangre keinerlei sichtbares Bild hat, beinhaltet sie komplexe Strukturen. So sind Rauminformationen hörbar. Der Spieler lernt zwischen knarzenden Holzdielen, rauschendem Gras und durch schmatzende Geräusche gekennzeichneten Treibsand zu unterscheiden. Zusätzlich führt ein Erzähler durch das Spiel, der manchen Tipp gibt. Die restliche Soundkulisse besteht hauptsächlich aus plötzlich auftretenden Geräuschen. Diese auditiven Überraschungen tragen zur allgemeinen Spannung des Games bei. Stellenweise sind einzelne hohe und schrille gestoßene Violintöne hörbar. Sie erinnern an den Einsatz von Musik in Grusel- oder Horrorfilmen. Akustische Hinweise zu beurteilen und auszuwerten war im Verlauf der Evolution stets ein Überlebensmechanismus des Menschen, er ortete Gefahren wie potenzielle Beute.10 »Von Geräuschen auf Quellen zu schließen«11 kann heute noch, z.B. im Straßenverkehr, von lebenswichtiger Bedeutung sein. Barbara Flückiger erklärt, dass eine »konkrete Form des auditiven Abtastens einer Lautsphäre als Reaktion auf die Frage: Was klingt«12 gelte. Wenn in akustischen Spielwelten ein

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»Mit Sätzen wie diesen beschreiben die Entwickler der Firma Somethin’ Else ihr Audiogame ›Papa Sangre‹.« aus: http://www.spiegel.de/netzwelt/ games/0,1518,818842–5,00.html (eingesehen am 17.04. 2012).

10 Vgl. Barbara Flückiger, Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films, Marburg 2002, S. 102. 11 Ebenda, S. 102. 12 Ebenda, S. 102.

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Rezipient einzig auf seinen Hörsinn angewiesen ist, um sich die fiktive Welt räumlich und atmosphärisch vorzustellen und sich darin zurechtzufinden, wird das Medienerlebnis zu einer körperlichen Erfahrung. Ohne Musik und Geräusche würde die Spielwelt nicht existieren. Klangobjekte, die mittels Musik und Sound dargestellt werden, müssen identifiziert, bewertet und lokalisiert werden. Die feindlichen Objekte bewegen sich als Klang von einer Seite zur anderen und werden lauter und leiser. Um sie zu bekämpfen oder ihnen ausweichen zu können, müssen sie sich meist frontal zum Spieler befinden. Diese Position muss dann exakt erhört werden. Es gibt ebenfalls Spiele, die Modifikationen bereits existierender konventioneller Spiele sind. Angelehnt an den in den späten 1990er Jahren populären Ego-Shooter Quake,13 gibt es beispielsweise das Hörspiel Audioquake14 Blinde Spieler profitieren hier von einer zusätzlichen Sprachausgabe. So wird ihnen ermöglicht, das Spiel online gegen andere (sehende) Spieler zu spielen. Etwas komplexer verhält es sich in Shades of Doom,15 der Audioversion des Ego-Shooters Doom,16 bei dem Mutantenwesen, die den Spieler durch ein zerstörtes Labor jagen, abgeschossen werden müssen. [...] Windgeräusche markieren Kreuzungen, ein unterschwelliges Trommeln kündigt Abzweigungen im finsteren Labyrinth an, die Computergegner geistern knurrend und grunzend durch die Gänge und tauchen als Piep- und Pfeiftöne im Visier des Spielers auf.17

An den Spieler sind verschiedene auditive Anforderungen gerichtet. Er muss hören, was klingt, wie es sich anhört (z.B. welches Material), aus welcher Richtung es zu hören ist und welche Klangobjekte sich even-

13 Quake, id-software 1996. 14 Audioquake, agrip.org.uk 2007. 15 Shades of Doom, gmagames 2001. 16 Doom, id-software 1993. 17 http://www.sueddeutsche.de/digital/audiogames-spielen-ohne-zu-sehen1.910667-2 (eingesehen am 01.05.2012).

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tuell in Bewegung befinden. Die Identifikation dieser oft fiktiven Klangobjekte wird in einem Tutorial erlernt. Trotzdem sind komplexe Transferleistungen unabdingbar. Ist beispielsweise das Geräusch von Schritten zu hören, ist es am Spieler, zu unterscheiden, ob diese von ihm selbst oder von einem Gegenspieler stammen. Daraus kann er ableiten, ob es sich um eine Gefahrensituation handelt oder nicht. Der Klang dieser Schritte ist also ein Geräusch, das aus einer Interaktivität mit der virtuellen Welt hervorgeht. Es kann auf weitere Fakten geschlossen werden. Stammen die Schritte von einem virtuellen Gegner, können eventuell Rückschlüsse auf seine Größe gezogen werden (schwere oder leichte Schritte), auf die Beschaffenheit des Raumes (großer oder kleiner Raum, in einem Gebäude oder draußen) und auf das Wesen des Eintretenden (Stöckelschuhe oder Roboterfüße).18 Der Klang der Geräusche gibt Hinweise auf Raumstrukturen und auf andere Anwesende in diesem Raum. Die gesamte Atmosphäre wird auditiv wahrgenommen. »[D]ie Atmosphäre ist kein fester Gegenstand, sondern eine Art Wahrnehmungshaltung, ein Wahrnehmungsgegenstand.«19 Wie stark die physische Sinneswahrnehmung mit der psychischen Interpretation des Wahrgenommenen zusammenhängt, zeigt das nächste Beispiel. Für das Abenteuerhörspiel Deep Sea20 tragen die Spieler eine blickdichte Maske und Kopfhörer. Sie sind somit vorübergehend blind, erhalten aber einen intensiven Sound, um sich während des Spielgeschehens in der auralen virtuellen Welt zu orientieren. In der Maske sind außerdem Mikrofone enthalten, die die Atemgeräusche des Spielers aufnehmen. Über die Kopfhörer werden die auditive Spielhandlung sowie die aufgenommenen Atemgeräusche wiedergeben. Deep Sea spielt an Bord eines U-Bootes. In dieser Unterwasserwelt müssen

18 Vgl. auch die Auflistung von Schritten bei Flückinger, Sound Design (Anm. 10), S. 104f. 19 Andreas Rauh, Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen, Bielefeld 2012, S.27. 20 Deep Sea, WRAUGHK 2012.

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Seeungeheuer bekämpft werden. Dazu ist es wichtig, so leise und ruhig zu atmen, dass die auditiven Spielinformationen nicht überhört werden. Atmet der Spieler zu laut, wird er das Spiel verlieren. Dies wird spürbar, indem aus den Kopfhörern ein Radioton erklingt, dessen Lautstärke ansteigt, bis der Spieler gezwungen ist, die Gasmaske mit den Kopfhörern abzunehmen.21 Die gesamte Soundscape von Deep Sea bis hin zu diesem spannungsgeladenen Ende ist furchterregend. Dadurch fällt das ruhige Atmen schwer. Der Spieler ist mehrfach eingeschränkt. Er kann nichts sehen und der Luftvorrat im Inneren der Maske ist eingeschränkt. Diese haptische Wahrnehmung in Verbindung mit der schauderhaften Atmosphäre dieser Klangwelt sorgen für Stress beim Spieler. Die Anspannung steigt auch physisch an. Die Atmosphäre des Spiels wird körperlich spürbar. Es wird zu einer immersiven Erfahrung. Auf der Webseite heißt es: »Deep Sea is a game about being vulnerable.«22 Die auditive Atmosphäre von Deep Sea entspricht der Unterwasserthematik. Es sind verschiedenste Geräusche hörbar, wie das Plätschern und Blubbern von Wasser. Auch eine Art Walgesang und das Geräusch schwerer, sich langsam bewegender Objekte, wie U-Boote oder anderer großer Kreaturen sind hörbar. Dass die meisten dieser Klänge virtuelle Feinde darstellen, ist alarmierend. Sind sie laut, befinden sich die Feinde in der unmittelbaren Umgebung. Die Klangkulisse beinhaltet außerdem die eigenen akustisch verstärkten Atemgeräusche des Spielers, fiktive Funksprüche sowie eine untermalende Musik. Diese besteht aus einzelnen synthetisch erzeugten Tönen und den eher harmonisch wirkenden Klängen von Streichern. Miteinander kombiniert wirkten die Geräusche und die Musik seltsam verfremdet und irreal. Da der Spieler aber nicht in erster Linie der musikalischen Untermalung zuhört, sondern in einer recht komplexen Klangumgebung agiert, bemerkt er es vielleicht gar nicht, wenn die Musik endet

21 Vgl. auch http://www.spiegel.de/netzwelt/games/sechs-kuriose-audiogamesim-test-a-818842-3.html (eingesehen am 01.06. 2012). 22 http://wraughk.com/deepsea/ (eingesehen am 01.06. 2012).

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und nur noch der Sound der unterschiedlichen Unterwasserwesen zu hören ist. Die Musik unterstützt hier sozusagen die Einfühlung in die Spielatmosphäre. Der restliche Sound ist wiederum so musikalisch (wie zum Beispiel die Walgesänge), dass Musik und Sound ineinandergreifen und so die Grundatmosphäre überzeugend bilden. Neben der affektiven Einflussnahme auf den Spieler und der auditiven Illustration der Atmosphäre innerhalb der virtuellen Welt kann Musik dabei behilflich sein, das Spiel besser zu verstehen. Der Spieler wird nach und nach auf die jeweiligen Motive und Signale konditioniert und weiß, ob er sich in Sicherheit oder in einer Gefahrensituation befindet. Dann kann er entsprechend vorsichtig agieren.23 Eine Immersion stellt sich bei Deep Sea leicht ein. Da keine visuelle Komponente vorhanden ist, der Spieler also ganz besonders auf die eigene auditive Wahrnehmung angewiesen und zudem der haptische Sinn betroffen ist, rückt die emotionale Atmosphäre dieser virtuellen Welt besonders nahe an den Spieler heran. Blind begibt man sich auf unbekanntes Terrain. Ohne Sehvermögen tritt man den Feinden gegenüber. Dabei gilt es, vorsichtig zu sein und nach Möglichkeit keine Fehler zu machen. Wird ein Ziel verfehlt, kostet es Konzentration und Zeit, die Ziele erneut auditiv zu lokalisieren. Deep Sea produziert Beklemmung und Angst. Diese Gefühle sind die eigentlichen Gegner im Spiel. Wird die Angst zu stark, reagiert der Körper des Spielers, seine Atemintensität steigt und er wird verlieren. Audiogames sind sozusagen blind games. Der Sound erzählt die Geschichte. Im Kopf der Rezipienten entstehen Bilder. Computerspiele finden in der Regel in virtuellen Welten statt. In Audiogames manifestieren sich diese virtuellen Welten allein auf der auditiven Ebene. Der Einsatz von Musik in Audiogames ist – wie in konventionellen Spielen auch – sehr unterschiedlich und meist abhängig vom jeweiligen Spielti-

23 Vgl. Yvonne Stingel-Voigt, »The Path – Klangkartografie im Computerspiel«, in: Julia Schröder (Hg.) Auditive Perspektiven 2, Berlin 2013. http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2013-2/stingel-voigt-yvonne-6/PDF/ stingel-voigt.pdf (eingesehen am 12.05.2013).

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tel. Da Musik in konventionellen Videospielen eine handlungsverdeutlichende Funktion haben kann (sie kann beispielsweise durch den Einsatz von Leit- und Erinnerungsmotiven eine Struktur herstellen), könnte Musik auch in Audiogames eine wichtige Bedeutungsträgerin werden. Musik besitzt das Potenzial, eine intensive Einfühlung in das Spielgeschehen bzw. die Spielwelt zu fördern. Sie kann direkt auf die Stimmung der Rezipienten wirken. Das Hören von Musik (auch wenn es im Videospiel eher nebenbei geschieht) ist stets eine »sinnliche Erkenntnis«.24 Einerseits erhält ein Spiel durch das Vorhandensein von Musik ein ästhetisches Konzept. Andererseits kann sie weit darüber hinausgehende Funktionen erfüllen. Auch wenn sich der Vergleich zunächst aufdrängt, ist Videospielmusik grundsätzlich komplexer gestaltet als beispielsweise Filmmusik, da sie oft zufallsgeneriert ist und sich bei adaptiv programmierter Musikausgabe an das Spielgeschehen und oftmals auch das Spielerverhalten anpasst. Musik und Spiel werden dann durch Interaktivität miteinander verbunden. Gerade bei fehlender Grafik können Sound und Musik stark zum Verständnis des Spielgeschehens beitragen, da Musik auf die Affekte des Spielers wirken, Botschaften transportieren und direkt mit dem Spielgeschehen verbunden sein kann.

24 Eckhard Weymann/Martin Deuter, »Die Musik modifiziert mein Gefühl, im Raum zu sein«. Ein Gespräch mit Gernot Böhme, in: Musiktherapeutische Umschau Online, Band 26, Heft 3/2005. http://www.musikthera pie.de/fileadmin/user_upload/medien/pdf/mu_downloads/interview_boeh me-mu.pdf (eingesehen am 12.05.2013).

Scheitern des Dokuments – Dokument des Scheiterns Ein Gespräch mit Gilles Aubry

Der Klangkünstler Gilles Aubry hat als Teilnehmer des GeräuschSymposiums in Basel seine Arbeit Les âmes amplifiées vorgestellt: Seine künstlerische Forschung entstand im Rahmen des Global Prayer Project,1 das Künstler wie Wissenschaftler um die Frage neuer Manifestationen von Religiosität in urbanen Kontexten rund um die Welt versammelt. Aubry hat Evangelisierungskampagnen und Seelenbefreiungszeremonien neuer Kirchen der Pfingstbewegung in Kinshasa (Kongo) begleitet und mit Tonaufnahmen dokumentiert. Aus dieser Feldforschung gingen unter anderem der Audio-Essay L’Amplification des âmes sowie die Performance Les âmes amplifiées hervor. In einem Gespräch mit Christoph Haffter berichtet er von seiner Arbeit im Dazwischen: Zwischen Noise-Musiker und Klangkünstler, zwischen artistic und scientific research, zwischen neokolonialer Repräsentation und ethnologischer Feldforschung.

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Vgl. http://globalprayers.info

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Christoph Haffter Spielt die Unterscheidung zwischen Geräusch, noise, bruit auf einen und der Musik, musikalischer Klänge auf der anderen Seite für deine Arbeit als Musiker eine Rolle? Gilles Aubry Dieser Unterschied spielt für meine Arbeit als Musiker eigentlich keine Rolle. Aber sie spielt eine wichtige Rolle für meine Arbeit als Künstler. Denn ich verstehe mich nicht einfach als Komponist oder Musiker, sondern ich bin Musiker und Künstler. Diesen Unterschied mache ich, weil es in meiner künstlerischen Arbeit sehr oft um die kulturelle, ja materielle Interpretation von klanglichen Phänomenen geht: Also der Interpretation von Musik wie auch nichtmusikalischen Produktionen oder Emanationen von Sounds. In diesem Sinne interessiert es mich, wie die unterschiedlichen Leute über diese Aspekte sprechen, ob und wann sie etwas als Geräusch wahrnehmen. Ich nehme dann in gewisser Weise die Position eines Forschers oder eines Beobachters ein und versuche unterschiedliche Diskurse über die Klangproduktion und die Materialität der Musik, d.h. deren Verstärkung, Fixierung, Speicherung und Verteilung oder Dissemination zu verfolgen. Das hilft mir wiederum, die unterschiedlichen Klangquellen in einer kompositorischen Weise zu organisieren, welche nicht nur die formellen Aspekten des Erklingenden berücksichtigt, sondern die Klänge zugleich als mögliche Formen von Diskursen versteht, als Klänge also, die mit bestimmten Absichten, Bedeutungen, Menschen und Situationen in Verbindung stehen. Diese Verbindung zwischen abstrakten Klängen und den Menschen, welche diese Klänge verursachen, ist für mich entscheidend. CH Deine Arbeit besteht also nicht vorrangig darin, die aufgenommen Geräusche zu musikalisieren – wenn du verschiedene Situationen akustisch dokumentiert, geht es nachher nicht darum, aus diesem Material Musik zu machen. GA Nein, oder nicht im klassischen Sinne. Ich bin natürlich sehr an der Frage nach der Definition von Musik interessiert, aber ich fühle mich

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seit Jahren nicht mehr ganz zu Hause im Musikbereich. Ich habe mich ganz spontan außerhalb des rein Musikalischen positioniert: Entweder halb in der Anthropologie, in der Kulturgeschichte, und auch eher in der bildenden Kunst, die wahrscheinlich aus historischen Gründen viel mehr gewohnt ist ihre Arbeiten zu reflektieren. Die bewusste Positionierung der Kunst im geschichtlichen Verlauf, in der Vielfalt der Praktiken, der Ideen – diese Reflexion selbst als Teil der künstlerischen Praxis zu verstehen, ist für mich sehr wichtig. Ich definiere mein Tun als eine Kombination aus unterschiedlichen Ansätzen, mit Klang umzugehen. Natürlich bleibt die musikalische Annäherung immer noch wichtig, sie eröffnet nach wie vor einen guten Zugang zum Resultat der künstlerischen Arbeit: Die Leute kommen zusammen, wenn es ein Konzert oder auch eine Performance oder eine Installation gibt, und so ist das immer noch ein Format, das ich sehr schätze. Generell könnte man aber sagen, dass meine Arbeit zu einer Art Dekonstruktion der Musik beiträgt. Meiner Meinung nach ist es schwierig sich heute als Komponist zu definieren, ohne gleichzeitig eine Art Reform der Musik zu initiieren; wenn man tatsächlich immer noch etwas avantgardistisches machen möchte, dann sollte man unbedingt eine gewisse Form der Selbstreflexion in sein musikalisches Schaffen integrieren, also sein Tun in der Komposition thematisieren. CH Du beschreibst Deine Arbeit als artistic research, als eine künstlerische Forschung, die sich in ein größeres Forschungsprojekt eingliedert, wobei die Musik, die Performance Les Âmes amplifiées nur einer der verschiedenen Outputs bildet. Wie trägt deine Tätigkeit zu diesem Projekt bei und wie unterscheidet sie sich von einer scientific research? GA Man muss die verschiedenen Dinge auseinanderhalten: Was ich in Basel vorgestellt habe, war eine Performance, die sich auf das Material der Audiodokumentation eines Seelenbefreiungsdienstes in Kinshasa stützt. Was als CD publiziert wird, ist die Dokumentation selbst, nicht die Konzertversion. Während des Konzerts wird diese Dokumentation

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zusätzlichen Operationen unterzogen: Die Spatialisierung, weitere Verzerrungen, Feedbacks – performative Strategien sozusagen. Aber es gibt einen Unterschied zwischen dem, was ich veröffentliche und dem, was ich im Konzert spiele. Die Klangdokumentation, fast im ethnographischen Sinne, wird begleitet durch eine Menge von Ideen, Strategien, die ich mit der Zeit zu entwickeln und zu reflektieren versuche. Diese Überlegungen finden sich ausdrücklicher in der Publikation und im Audioessay L’Amplification des Âmes wieder. Was ist wissenschaftlich und was nicht? Da gibt es keinen strengen, keinen absoluten Unterschied, es hat viel mehr mit dem Kontext zu tun, in dem diese unterschiedlichen Outputs präsentiert werden. In Basel zum Beispiel war die Performance eine Konzertsituation, es gab nicht viel zu diskutieren. Ich wollte dort erfahren und gleichzeitig beobachten, wie das Publikum mit dieser Konzertform umgeht, wie es rezipiert und vielleicht genießt. Während ich in meinem Vortrag am Nachmittag versucht habe konzeptuelle und wissenschaftliche Aspekte, Ideen, die mit dieser Praxis in Verbindung stehen, zu artikulieren. Im Konzert geht es um eine Wiederaneignung des Materials, es muss in Echtzeit etwas passieren. Der Kontext dieser Arbeit war der einer künstlerischen Forschung im Rahmen des Projektes global prayers, für die ich als Klangkünstler eingeladen wurde. Es ging darum den Impakt neuer religiöser Bewegungen in urbanen Räumen zu studieren, nicht unbedingt aus dem Blickwinkel der Religionswissenschaft, sondern eher der urban studies. In diesem Rahmen gab es auch ein Interesse, die Funktion zu analysieren, die Sounds in der Aneignung von Raum und in der Konstruktion von neuen religiösen Orten im urbanen Kontext einnehmen. Dieses große Projekt lief auch parallel in anderen Großstädten. Ich hatte zusammen mit der Soziologin Gerda Heck bereits in Berlin angefangen, weil es dort auch einige afrikanische Kirchen gibt. Dank einer dieser Kirchen, deren Hauptsitz in Kinshasa war, hat sich dieser Kontakt in den Kongo ergeben. Ich war zweimal dort. Das erste Mal um einen Überblick zu bekommen: Wir sind in verschiedene Kirchen gegangen, haben sehr viel einfach beobachtet, die Kontakte etabliert. Beim zwei-

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ten Mal bin ich alleine hin um präzise mit einer dieser Kirchen, der Libambu Ministry Church, zusammen zu arbeiten. In dieser Zeit hat dort eine Evangelisierungs-Kampagne statt gefunden, d.h. sie haben eine Aktion organisiert, um neue Mitglieder zu gewinnen. Diese Kampagne habe ich verfolgt und dokumentiert. Im Moment, da die Aufnahmen für Les âmes amplifiées entstanden, war ich sehr vertraut mit der Gemeinde, mit dem Pastor Libambu, den Leuten. Ich war akzeptiert, ein wenig wie ein Mitglied der Familie. Sie waren sehr gastfreundlich. Ich hatte alle Freiheit, mich in dieser Situation zu bewegen. Diese spezifische Aufnahme ist der Höhepunkt meiner Forschung, weil ich dabei selbst quasi überrascht wurde: Es war so stark und intensiv, dass es für mich wirklich den Charakter und die Ästhetik eines Noise-Konzerts hatte. Ich hatte die gleichen Empfindungen und Emotionen, die ich in Europa, vor allem in Berlin vorher kennengelernt und als NoiseMusiker praktiziert habe. Das hat mir einfach sehr viel Freude bereitet und zwar nicht wegen der Ähnlichkeit – es geht nicht um Brüderschaft – sondern weil es zeigte, dass eine solche Ästhetik auch anderswo, in einem vollkommen neuen Kontext entstehen kann. Dadurch veränderte sich mein Verständnis für die Spezifizität von Noise-Konzerten. CH Wie setzt Du diese Erfahrung in Deiner Performance um? Im Gegensatz zur Noise-Musik muss man bei Deiner Arbeit ja wissen, was hier erklingt: Es scheint für deine Kunst unverzichtbar, dass man den Kontext der Aufnahmen kennt und mit erfährt. GA Genau, es ist ein Spiel damit. Ein wichtiger Aspekt dieser Performance ist, dass ich versuche, den Aufnahmekontext transparent genug zu präsentieren, ohne viele Hintergrundinformationen zu geben – bis auf einige wenige Zeilen im Titel der Performance und im Programmheft, die den Ort der Aufnahme und einige allgemeine Informationen vermitteln. Das Wesentliche aber passiert in der Performance selbst. Es gibt die Tondokumentation, die ich in diesem Fall vom Computer über vier Tracks laufen lasse. Ich erlaube mir einige Transformationen, aber ich will nicht, dass es zu abstrakt wird, sodass die ursprüngliche aufge-

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nommene Situation nicht mehr erkennbar würde. Ich versuche ein paar klare Elemente im Laufe der Performance beizubehalten, in diesem Fall fängt es an mit einem Sound-Check, was ein sehr klares, identifizierbares Moment, die Vorbereitung der Performance darstellt. Dabei fragt man sich natürlich, ob dieser Sound-Check live stattfindet oder ob es Teil der originalen Aufnahme ist. Und so gibt es immer wieder Verwirrungselemente, die ich instrumentalisiere, um ein reflexives Hören zu kreieren. Wenn diese Sachen einmal festgesetzt sind, wenn eine solche reflexive Haltung provoziert ist, geht es um Musikalität, um eine andere Temporalität und andere Modi des Hörens. Man hat also eine Introduktion, die ich so transparent wie möglich abspiele, nicht zu viele Manipulationen, man hört Stimmen, Verzerrungen, Feedbacks, die wesentlichen Aspekte der aufgenommenen Situation. Man hört auch das Publikum. Das sind einfache aber wichtige Elemente, die im besten Fall identifiziert werden sollten, damit man ein Bewusstsein entwickelt, dass es sich um eine Dokumentation handelt. Am Anfang herrscht also ein wenig Unsicherheit; was ist jetzt? Ist das jetzt fast wie eine Filmvorführung? Oder spielt der Performer etwas dazu? Wird es animiert, verstärkt, dramatisiert? Dann erkennt man die Merkmale der Live-Performance, meine Operationen und die beiden Aspekte werden im Laufe der Performance miteinander kombiniert bis zu einem Punkt, wo sie miteinander verschmelzen. Es gibt einen solchen Wendepunkt, wo das Publikum gleichzeitig als Teilnehmer einer Performance und als Rezipient einer Dokumentation, als Beobachter adressiert wird. Ich präsentiere etwas, das wie ein übliches Noise-Konzert klingt, aber es gibt tatsächlich schon ein Publikum im Tonband, das heißt indirekt, dass ihr als Publikum ein wenig überflüssig seid; dazu musst ihr euch irgendwie positionieren, also was wollt ihr sein? CH Wunderbar ist auch das Ende der Aufnahme, wo das Publikum in der Aufnahme applaudiert, und man nicht recht weiß, ob man mitmachen soll oder nicht …

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GA Das ist eine Art Hijacking der Konzertsituation und ein Kommentar dazu. Gleichzeitig ist es auch eine Affirmation und keine Absage an diese Form. Es ist eine Bestätigung, die aber komplexer und reflexiv vorgestellt wird. CH In der Arbeit mit field recordings verschiebt sich die Leitdifferenz zwischen Geräusch und Musik vielleicht hin zu einer anderen Unterscheidung, die Murray Schafer mit den Ausdrucken Hi-Fi und Lo-Fi bezeichnet, d.h. akustische Umgebungen auf der einen Seite, in denen unterschiedliche Klangquellen vereinzelt wahrnehmbar sind oder einzelne Ereignisse in den Vordergrund treten können, was sozusagen das Musikalische, das künstlerisch Wertvolle wäre. Und andererseits Umgebungen, in denen der Grundpegel an Geräuschen so hoch ist oder die verschiedenen Elemente der Aufnahme einander auf eine Weise überdecken, dass man nur noch ein undifferenziertes Chaos wahrnimmt. Wenn du als Musiker nicht mehr einer traditionellen Definition von Musik als organisiertem Klang anhängst, besteht nun Deine Arbeit vielmehr darin, die verschiedenen Aufnahmen so zu kombinieren, dass daraus eine Hi-Fi Situation entsteht? Dass Du also ein eher monotones Grundmaterial mit Differenzen anreicherst? GA Das spielt sicherlich eine Rolle. Die Ideen und Theorien von Schafer sind seit Jahren immer Referenzen gewesen, die ich reflektiert habe; aber es scheint heutzutage fast zu einfach ihnen zu widersprechen. Vor allem seine Romantisierung des idealen Naturklangs im Gegensatz zu den weniger reinen Klängen, wie der Stadtklang. Diese Trennung ist selbstverständlich problematisch. An diesem Punkt bin ich sogar mehr an einer neuen Interpretation von Schafer interessiert, die sich nicht nur auf dieses Statement fokussiert, sondern vielmehr auf die tatsächliche Praxis, die Schafer und seine Kollegen damals eingeübt haben, indem sie viel Zeit damit verbrachten, Feldaufnahmen zu machen. Ich glaube, dass diese Kompositionspraxis auf dem Feld für mich viel wesentlicher ist als die resultierende Komposition zum Beispiel. Heute wird die Kunst vor allem als Praxis definiert und wenn

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man das so betrachtet, hat das, was sie damals gemacht haben, noch eine Gültigkeit, die reicher ist, als was nachher darüber geschrieben wurde. Was meine Arbeit betrifft, ist es wieder eine Frage von Ambiguität. Denn es mir wichtig ist, die Soundscape dieser Kirche, die im Sinne Schafers Lo-Fi ist, zu präsentieren, also eine Dokumentation einer sehr lauten, verzerrten, chaotischen Situation anzubieten, aber sie zugleich so Hi-Fi wie möglich zu präsentieren. Meine Interpretation von Hi-Fi fokussiert sich auf die Wahrnehmbarkeit von Unterschieden, von Nuancen und vor allem von Komplexität. Diese Komplexität kann auch in einer Soundscape enthalten sein, die sich erstmal wie eine Lo-FiUmgebung anhört. Konkret in Les âmes amplifiée lässt sich das an der Aufnahmetechnik festmachen: Ich habe die Situation doppelt aufgenommen, bzw. in vier gleichzeitig aufgenommenen Tonspuren zwei unterschiedliche Perspektiven sich ergänzen lassen; die eine Perspektive ist eine Stereo-Feldaufnahme mit einem mobilen Richtmikrofon. Die zwei anderen Spuren stammen hingegen direkt aus dem Mischpult und stellen eine unmögliche Perspektive dar: Niemand hat das, was ich da aufgenommen habe, tatsächlich in dieser Situation so gehört, weil das Signal nicht vor den Lautsprechern aufgenommen wurde, sondern die elektronischen Signale wirklich aus den Mischpultbussen stammen. Die Kombination von Richtmikrofonen und Mischpultaufnahmen ist zwar eine ziemlich konventionelle Technik für Live-Aufnahmen, aber in der Ethnographie ist es eher weniger üblich. CH Könnte man diese doppelte Aufnahme als eine musikalische Interpretation der in der Ethnologie viel diskutierten teilnehmenden Beobachtung verstehen? GA Ja, tatsächlich, die Absicht geht in diese Richtung. Man kann heute, mit Blick auf den postkolonialen Diskurs, nicht mehr glauben, einen kalten, distanzierten, unsichtbaren Beobachterstandpunkt einnehmen zu können. Es scheint absolut notwendig sich irgendwie selbst im Dokumentationsprozess zu reflektieren; das lässt sich am leichtesten

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durch die mobile, subjektive Aufnahmeperspektive direkt in der Situation machen. CH Indem Du das Mikrofon in die Hand nimmst und dich in der Menge bewegst … GA Ja, genau so ist es geschehen. Ich habe auch mit der Reaktion der Leute gespielt: Sie sprachen lauter, wenn sie mich mit dem Mikrofon sahen. Die zwei anderen Spuren direkt aus dem Mischpult nennt man in der Musikindustrie backup tracks, mit denen man Instrumente verstärken kann, wenn sie zu schwach sind. In meinem Fall boten sie hingegen die Möglichkeit eine andere Perspektive gleichzeitig einzunehmen. In den Mischpult kamen vor allem die Mikrofone des Pastors und manchmal seiner Assistenten, d.h. die Stimmen der spirituellen Autorität. Es ist eine Art trockene Dokumentation dieser höheren Stimme und zugleich dokumentiert es auch, wie die Mikrofonierung verwaltet wurde, weil man hört, wie die Mikrofone immer wieder ein und ausgeschaltet werden. Und plötzlich ist da wirklich eine Stille oder nur das Rauschen der Elektronik. Der Raum, den die Mikrofone als Hintergrund der Stimmen erfahrbar machten, verschwindet dann auf einmal. In dieser Hinsicht haben diese Tonspuren etwas sehr direktes, stabiles und unreflektiertes, nicht subjektives. CH In Deiner Performance sind mir drei wesentliche Verbindungen zwischen Noise und Gottesdienst aufgefallen: Die Verstärkung, die Verzerrung und die Glossolalie, das Zungenreden fernab der sinnvollen Rede. Zuerst zum Verstärker, der ja auch den Werktitel liefert: Es fällt auf, dass die Stimme in erster Linie verstärkt wird, um die Grenzen des Raumes zu überschreiten. Die Verstärkung trägt die Stimme aus der Kirche hinaus in die Straße, um dort ein großes Publikum anzusprechen. Andererseits scheint es auch im Noise einen Zusammenhang zu geben zwischen der extremen Lautstärke und der religiösen Idee einer von Körper und Raum unabhängigen Stimme, eines übermächtigen, allgegenwärtigen Klangs.

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GA Ja, so wird Stimme im religiösen Kontext eingesetzt. Dass das auch in Noise-Konzerten benutzt wird, würde ich nicht behaupten. In einem religiösen Kontext geht es darum, nach Außen zu strahlen und Leute direkt auf der Straße zu verführen, damit sie in die Kirche reinkommen. Im Gegensatz dazu geht es in der Noise-Musik nicht so sehr um eine zentrifugale Bewegung, sondern es ist vielmehr eine InsiderGeschichte. Erstmal passiert es meistens indoors, weil die Immersion viel schwieriger draußen zu erzeugen ist. In Kinshasa war das anders. Was sie dort Kirche nennen ist eine parcelle, also ein Stück Terrain, eine Art Hof ohne Dach, also eine Hofkirche. Der Raum war so klein, dass sie die Tür geöffnet haben und weitere Stühle draußen auf die Straße hingestellt haben. Und es gab auch zwei weitere Lautsprecher auf der Straße. Trotzdem haben sie es geschafft, eine immersive Stimmung und einen körperlichen Charakter zu kreieren. Noise ist hingegen wie ein Simulacrum eines Rituals, es gibt immer eine Art Priester, ein Frontmann oder wenigstens die Band, dann kommen die Getreuen, das Publikum, die gerne mitmachen möchten. Da sieht man Ähnlichkeiten, aber es ist nicht dasselbe, denn man versucht ja nicht neue Anhänger zu gewinnen. In der Noise-Musik schaut man eher zu, dass der Nachbar sich nicht beklagt! Die Situation in Kinshasa war sehr spezifisch. In diesem Ritual wird der Name Jesus sieben Mal gerufen, jedes Mal um die Gefolgschaft von einem Problem zu befreien. Ein Befreiungsdienst, eine heilende Praxis; das Publikum geht dorthin um befreit zu werden. CH Was sind die Problemkategorien? GA Es sind existentielle Probleme: Krankheiten, Unfruchtbarkeit, Geld natürlich, Sterbefälle, »Blockierungen«. Zu jedem Jesus-Ruf wird dann auch je nach Art des Problems ein böser Geist angerufen. Diejenigen, die sich betroffen fühlen, beginnen zu springen und in Zungen zu reden als Zeichen, dass sie wahrlich unter diesem Problem leiden. Wenn das passiert, kommt der Pastor und befreit jede Person von dem bösem Geist, indem er die Hände auf den Kopf der Person legt und sagt: Bö-

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ser Geist! Verlass diesen Körper! Du hast kein Recht da zu sein! So ungefähr, es gibt auch Variationen, Zwischenspiele. Die Kirchgemeinde ist sehr aktiv, ich hatte den Eindruck, einer kollektiv inszenierten Performance beizuwohnen. CH Nur die Stimme des Pastors ist verstärkt, teilweise auch die der Assistenten. Das erzeugt eine interessante Differenz, die religiöse Differenz zwischen Priester und Laien wird so technisch markiert, zwischen der Stimme des Repräsentanten des Göttlichen, der Sprache Gottes gegenüber dem Volk, das nicht verstärkt ist. Es gibt auch Momente des Dialogs zwischen Cantor und Chor, wie bei einem Kyrie Eleison. GA Die Stimme des Pastors dirigiert die ganze Zeremonie, aber es kommt manchmal vor, dass auch die behandelte Person mikrofoniert wird. Vor allem wenn sie in Zungen redet, das hört man in der Aufnahme. Der Pastor hält dann das Mikrofon vor den Mund des Patienten. Damit kann er die Besessenheit der Person beweisen: Da ist er, der Geist, ich habe ihn identifiziert! Und dann nimmt er wieder das Mikrofon und macht eine Befreiungsoperation. CH Wie funktioniert diese Glossolalie? Es geht in deinem Werk ja immer um eine Medienreflexion und man könnte schematisch sagen: Auf der einen Seite gibt es die Verzerrung, das Rauschen, den SoundCheck, wo das Medium selbst aufdringlich wird und selbst die Botschaft verdrängt. Und auf der anderen Seite geschieht bei der Glossolalie das Umgekehrte: Die Sprache Gottes ist so überwältigend, die Botschaft ist so stark, dass das Medium, dass die natürliche Sprache explodiert. GA Ich kann nicht kompetent über die Glossolalie sprechen, ich bin da kein Fachmann. Die Glossolalie ist eine alte Praxis, und nach Kinshasa kam sie über die Pfingstbewegung aus Amerika. Sie kann verschiedene Funktionen und Bedeutungen haben und sowohl Gutes wie Böses an-

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zeigen, böse wie gute Geister. Es kann auch die Wiedergabe einer Botschaft Gottes sein. Jeder und jede kann in dieser Gemeinde etwas von Gott bekommen, die Idee der Gabe ist sehr wichtig. Manche sprechen in Zungen, andere haben die Gabe, die Glossolalie zu interpretieren, wieder andere finden die Gabe in der Musik, sie singen zum Beispiel. Interessant ist auch der Fall der Komposition. Es wurde oft beschrieben, dass Gott der einzige Komponist sei, d.h. die Leute, die komponieren, sind keine Komponisten. Die Texte eines Stückes, die zur Komposition führen, »empfangen« sie während der Nacht und sie werden anschließend in einem Gremium auf ihre Echtheit diskutiert. Sie müssen akzeptiert werden, damit daraus musikalische Stücke werden können. Melodie und Rhythmus sind ein wenig nebensächlich, aber die Textkomposition kommt von Gott. Die Glossolalie ist eine komplexere Manifestation. Meistens kamen aber böse Geister zum Ausdruck. Die Zeremonie findet auf Lingála statt, eine lokale Sprache, die viele französische Elemente und christliches liturgisches Vokabular hat. Entscheidend ist, dass die Liturgie des Pastors relativ traditionell ist. Sie ist keineswegs exotisch. Das ist ein Aspekt, der mir wichtig ist, weil die Ästhetik durch Verstärkung und Verzerrung einen ungewöhnlichen Charakter hat und man glauben könnte, das Ganze sei ein verrücktes afrikanisches Ritual. Sie ist aber absolut konventionell, wie in der Pfingstkirche, wo es üblich ist in Zungen zu sprechen. In den 70er kamen die amerikanischen Evangelisten, die diese Menschen damals stark beeindruckt haben. Das hat dazu geführt, dass lokale Pastoren sich diese Methoden aneignen. Es ist also ein relativ neues Phänomen dort. Das ist das Komplexe der Situation: Die einheimischen Traditionen werden von solchen Kirchen bekämpft und gleichzeitig immer wieder thematisiert. Es ist eine Strategie der Kirche: Man muss den Aberglauben zeigen um sich davon zu befreien. Der Glaube an eine Welt der Toten etwa, an eine Welt der Geister, ist sehr präsent.

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CH Wie steht es mit dem dritten Aspekt, der Verzerrung. Die Pastorstimme ist extrem verzerrt. Das hat technische Gründe, aber es geht sicher auch darüber hinaus … GA Ob diese Verzerrung nur ein ungewolltes Nebenprodukt ist oder ob sie gewollt ist, als Teil der Ästhetik oder als Strategie? Ich fühle mich nicht in der Lage, das klar zu beantworten, denn eine sichere Lage gibt es nicht. Die technischen Elemente, die Anlagen sind von einer ziemlich schlechten Qualität. Der Pastor baut seine eigenen Lautsprecher und ist sehr stolz darauf. Es gibt Videos, wo man ihn beim Bau seiner Lautsprecher sieht. Es ist eine zusätzliche Gabe, die nur er besitzt: Er weiß, wie man so was baut. Andere Kirchenmitglieder helfen ihm dabei. Manche fertig gebaute Lautsprecher werden dann in eine Plastikhülle verpackt. Nicht um sie zu schützen, sondern um den Eindruck zu geben, dass sie ganz neu sind, noch in der Verpackung, als hätte man sie gekauft. Das wird ganz offen beschrieben, es ist kein Geheimnis. Das ist eine große Leistung für den Pastor. Er erzählte auch, wie er früher die Predigt ohne Lautsprecher hielt und sich dabei die Stimme abnutzte bis es geblutet hat. Die Lautsprecher können nicht mächtig genug sein, je mehr Watt, desto besser. Es gibt eine große Konkurrenz zwischen den Kirchen, eine Art Wettbewerb um die Demonstration des Status: Je grösser oder teurer die Anlage, desto besser ist die Kirche. Die Verzerrung symbolisiert die übernatürliche Macht des Pastors, und sie ist ein sehr wirkmächtiges Medium. Der Pastor kann damit seine Stimmlage ändern, er brüllt und kann die verschiedenen Momente der Zeremonie mit starken Kontrasten strukturieren. Er kreiert dadurch eine Dramaturgie. Der Pastor kann durch Verzerrungen und Lautstärke Effekte erreichen – gerade bei der Glossolalie, die er auch selbst praktiziert – die sehr beeindruckend sind und mit denen er seine Macht konsolidiert. Die Lautstärke ist eine Macht und schreibt sich auch in die Kontinuität lokaler Traditionen ein. Sie hat den Effekt einer Betäubung, laute Trommeln oder Gesänge haben immer die Wahrnehmung

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auf besondere Weise affektiert. Im religiösen Diskurs geht es aber darum, mit den lokalen Traditionen zu brechen. CH Man könnte ja eigentlich meinen, dass diese schlechte Tonqualität – die Verzerrung und das Übersteuern – die Überzeugungskraft des Pastors schmälern würde, gerade weil mit ihr die Vermittlung auffällig wird: Seine Stimme ist nur ein Produkt der Technik. Gleichzeitig ist es, als sei die Verzerrung das Resultat eines Kampfes, in dem die Stimme und der Glaube gegen die Grenzen der Technik anrennen: Die Widerständigkeit der irdischen Materialität wird durch die Kraft des Glaubens überwunden, transzendiert. GA Ja, der Pastor sagte selbst, dass die Lautsprecher, die Lautstärke niemals als Zweck in sich zu betrachten sind, sie sind nur Diener. Es geht um Transzendenz. Ich würde sagen, dass die Technik auch wie eine Maske funktioniert. Die Verzerrung erinnert an andere Rituale, die mit Masken funktionieren, wo der menschliche Körper, in diesem Fall die Stimme, einen anderen Charakter bekommt, geheimnisvoller, monströser wird: Sie spielt mit dem Schreck und der Verführung. Der Pastor muss auf jeden Fall ein großer Showman sein! CH In Deiner Performance erzeugen diese Schnittstellen zwischen Noise und Gottesdienst eine Ambiguität. Sie spielt mit den zwei Räumen, dem aktuellen Publikumsraum, wo man selbst an einem Ereignis teilnimmt und dem repräsentierten Raum, den man sich aus einer Distanz vorstellt. Wenn Verzerrung und Lautstärke extrem werden, verschmelzen beide Räume ineinander. GA Ich beschäftige mich sehr mit den Problemen der postkolonialen Repräsentation und durch diese Lautstärke und Verzerrungen wird diese Problematik letztlich transformiert. Es stellt sich die Frage, ob nicht auch Noise eine koloniale Repräsentation sein könnte. In der Theorie der Kommunikation wird Noise immer als Störung im Kommunikationsweg betrachtet, als könnte Noise nichts mehr repräsentieren, außer

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eventuell sich selbst. Und auch das kann bei diesem Werk, dass sich in einem Grenzbereich befindet, der Fall sein: Man kann dieses Werk anders interpretieren, je nachdem, ob man es distanziert, leise hört oder es live und laut erlebt. Meine Hoffnung ist, dass der objektivierende, repräsentierende Charakter der Dokumentation durch die performative Re-Kontextualisierung entweder völlig evakuiert wird – bei dieser Lautstärke geht es nicht mehr um Repräsentation – oder falls ein objektivierender Charakter verbleibt, dass dieser zumindest durch die extreme Situation herausgefordert wird; denn man kann sich nicht mehr als ein Subjekt gegenüber einem Objekt verhalten, man kann nicht mehr eine Distanz nehmen, eine Differenz ziehen, zwischen dem subjektiven Beobachter und den seltsamen, exotischen, afrikanischen Objekten, die man studieren könnte. Es ist ein Versuch diese Beziehung ObjektSubjekt zu verwirren: In der konkreten, körperlichen Involviertheit wird man selbst zum Akteur der Performance, man wird quasi KoKomponist. In diesem Sinne – so wäre mein Ziel – kann man das Werk nicht mehr als eine weitere neokoloniale Repräsentation interpretieren. CH Arbeitest Du auch deshalb ohne Bilder? Du verwendest ja Archivmaterial, du nimmst viele Tonspuren, selbst von Filmen: Warum reduzierst du die Dokumente auf das Hörbare? GA Das ist eine experimentelle Annäherung, die sehr eng mit meinem Wunsch verbunden ist, neokoloniale Repräsentationen zu vermeiden. Wobei ich natürlich weiß, dass man das nicht einfach erreicht, indem man Bilder löscht. Aber es ist ein Weg die repräsentative Potentialität von Tonaufnahmen zu explorieren, was nicht üblich ist. Es gibt klassische Formate oder Strategien, der Fernsehdokumentarfilm etwa, wo das Bild eine wichtige Rolle spielt, und dort gibt es natürlich gerne exotische Bilder: Gerade in einem Seelenbefreiungsritual sind die Bilder der Gesichter sehr beeindruckend, etwa von besessenen Frauen, deren Gesichtsausdrücke tragisch, ergreifend sein können. Genau das wollte ich nicht zeigen. Das wurde sehr oft gemacht.

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CH Wenn ein solches Bild gezeigt wird, besteht die Gefahr, dass das Publikum nichts als eine längst sedimentierte Interpretation sieht. GA Ja und Stereotypen abruft, zwischen Mitleid und Herablassung, Paternalismus. Solche Repräsentationen gibt es genug. Es gab bereits Dokumentationen über diese Kirchen, wo auch schwierige Fälle verfolgt werden, die tragische Konsequenzen hatten: marchand de miracle ist ein Beispiel eines Filmes, der die Kirchen auf ein trügerische Business reduziert. Ich wollte andere Aspekte nach vorne bringen, die Aneignung der Technologie einerseits, der Religion andererseits, die zusammen eingeführt wurden. Denn die Missionare kamen ja auch mit Tonmaschinen und im Laufe der Jahre haben sich die Bewohner die Religion sowie die Maschinen angeeignet: Zuerst akzeptiert und dann transformiert, damit sie sich darin erkennen können. CH Bilddokumentation und Tondokumentation: Bei Kittler findet man die Idee, dass, während der Film immer wieder die Wunschbilder des Imaginären und der Text die Reduktionen des Symbolischen reproduziert, alleine die Tonaufnahme, der Sound fähig ist, das Reale erfahrbar zu machen, also einen unmittelbaren Zugang zum Wirklichen erlaubt. GA Ja, dieser Gedanke hat etwas Wahres. In diesem Projekt wollte ich aber eher zeigen oder fragen, inwiefern auch das Hören kulturell konstruiert und Teil der modernen, kapitalistischen, kolonialen Geschichte ist. Der Audio-Essay L’Amplification des Âmes vereint viele unterschiedliche Klangdokumente, die aus vielseitigen Perspektiven, mit verschiedenen Zielen und Technologien produziert worden sind. Die Abwesenheit der Kamera ist natürlich ein wichtiger Aspekt meiner Arbeit. Es ist zunächst leichter ohne Kamera zu arbeiten! Man kann sich leichter bewegen, auch wenn die großen Mikrofone sichtbar sind. Es ist die Frage, ob man bei einer ethnographischen Studie diskret, unsichtbar oder sehr sichtbar, aktiv sein soll. Ich finde die Art von 2

Gilles Remiche, Marchands de miracles, Les films de la Passerelle 2006.

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Jean Rouch überzeugend, wie er die Situation sehr dezidiert inszeniert, sodass die Menschen zeigen, wie sie gesehen werden wollen. Welche Art von Bildern stellen denn Tonaufnahmen dar? Kann man von Bildern sprechen? Oder sind das Spuren? Man sagt oft, dass Tonaufnahmen als Spuren erscheinen, weil sie keinen scharfen ikonischen Charakter haben. Sie haben eher den indexikalischen Charakter einer Spur: Ein Ereignis, das in Kontakt mit dem Aufnahmematerial getreten ist. Ich tue aus experimentellen Gründen so, als wären Klangbilder möglich. Das ist natürlich eine Provokation. Es gibt ja auch Realitäten, die nicht klingen und die sich nicht über eine Klangaufnahme dokumentieren lassen – insofern ist es eine Strategie des Scheiterns. Wie Judith Butler es formuliert hat: Ein Scheitern der Dokumentation und die Dokumentation dieses Scheitern sollte dazu führen, dass man kritisch mit Bildrepräsentationen umgeht. CH Michel Chion hat oft gegen dieser Idee polemisiert: Ein Brunnen klingt in Kinshasa gleich wie in Paris, das Indexikalische der Klangspur ist letztlich nicht erfahrbar. Was zählt ist nur der konkrete Klang auf dem Band. Er kann Leute nicht ernst nehmen, die in die Wüste gehen um das Geräusch eines Steines aufzunehmen, der zu Boden fällt, weil sie letztlich auf magische Qualitäten und Transporte zurückgreifen. GA Darüber würde ich mich gerne mit ihm austauschen. Michel Chion hat sicher sehr wenige solche Erfahrungen gemacht! Er spricht aus seinem Studio hinter seinem Tisch. Ich glaube auch, dass so etwas wie die Aura eines Objektes durch eine Aufnahme schwer vermittelt werden kann. Aber es gibt trotzdem einen Unterschied, ob man einen Klang hier oder dort aufnimmt: Weil ein Klang nie alleine aufgenommen wird. Zum Beispiel klingt der Brunnen in einem Kinostudio oder in einer öffentlichen Raumsituation ganz anders, egal ob in Paris oder in

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Vgl. Judith Butler, Precarious Life: Powers of Mourning and Violence, New York 2004.

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Kinshasa. Chion hat viel über Klänge in Verbindung mit Bildern, vor allem Kinobildern geschrieben. Das sind relevante Texte, aber die kulturellen Aspekte sind nicht direkt in der Manifestation des Klanges zu suchen. Ich glaube, das fängt bereits in der Bedingungen der Aufnahmesituation an. Ob die Aufnahme tatsächlich gelingt, wie sie ermöglicht wird; in all den Anstrengungen, die zur Aufnahme führen. Es ist eine falsche Diskussion, glaube ich. Ein einfacher Klang ist vielleicht dort nicht anders als hier, aber es sind trotzdem unterschiedliche Dokumente, die verschiedene Funktionen haben. CH Für Michel Chion zählt natürlich nur, was im künstlerischen Resultat, was im Kunstwerk wahrzunehmen ist, während Deine Arbeit nicht in den einzelnen Werken eine Vollendung findet. GA Tatsächlich besteht das Kunstwerk für mich nicht nur aus einem »Endprodukt«, sondern eher aus einer Konstellation von sich ergänzenden Teilen, die mit unterschiedlichen Praxen und Formaten in Verbindung stehen: Forschung, Dokumentation, Installation, Performance, Essay, Präsentation, Publikation… Jedes Format funktioniert autonom und existiert gleichzeitig in Verbindung mit den anderen, als Teil eines komplexen, offenen Werks.

Autorinnen und Autoren

Anja Arend, aufgewachsen in Stuttgart und Bremen, schloss 2012 ihr Masterstudium der Musik- und Tanzwissenschaft mit den Studienergänzungen Geschichte und Kath. Theologie an der Universität Salzburg ab. Mit einem Erasmus-Stipendium nahm sie am Nordic Master of Dance Studies mit Kursen in Tampere, Kopenhagen und Trondheim teil. In ihrem Dissertationsprojekt an der Universität Salzburg befasst sie sich derzeit mit der Verbindung von europäischem Hofballett und Tanz im frühen Unterhaltungstheater. Gilles Aubry, 1973 geboren, lebt als Klangkünstler seit 2002 in Berlin. Seine künstlerische Praxis basiert auf einem auditiven Zugang zum Realen, der die Erforschung kultureller und historischer Aspekte der Klangproduktion wie Klangrezeption mit einbezieht. Indem er Ethnographie, kritischen Diskurs und Klangexperimente verbindet, schafft Aubry Installationen, Audio Essays und Filme ohne Bilder. Seine klanglichen Bilder (phonographies) von mehr oder weniger identifizierbaren Situationen stehen für den Versuch, problematische Aspekte visueller Repräsentation herauszufordern. Florian Henri Besthorn begann seine musikalische Ausbildung in München, gefolgt von einem geisteswissenschaftlichen Studium an der Universität des Saarlandes, welches er als Magister Artium abschloss. Derzeit promoviert er an der Universität Basel über die Bedeutung des

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Körpers im Werk Jörg Widmanns. Neben der Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehraufträgen und div. musikpädagogischen Projekten, hospitierte er an namhaften Mehrspartentheatern, dem Musikverlag Schott Music und war 2012 Stipendiat der Paul Sacher Stiftung. Dahlia Borsche studierte Musikwissenschaft, Musikethnologie und Soziologie an der FU Berlin. Während ihres Studiums arbeitete sie als studentische Hilfskraft am interdisziplinären Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« (FU Berlin) sowie als Produktionsassistentin des internationalen Festivals für zeitgenössische elektronische, experimentelle und digitale Musik club transmediale (Berlin). Darüber hinaus ist sie seit vielen Jahren als DJane und Veranstalterin tätig. In den Jahren 2009–2013 war sie als Mitarbeiterin der Abteilung Angewandte Musikwissenschaft der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt mit einem Forschungsschwerpunkt auf zeitgenössischer Musikforschung und Popmusik beschäftigt. Seit dem SS 2013 promoviert Dahlia Borsche an der Universität Köln bei Prof. Frank Hentschel über Geräuschmusik zwischen Kunst und Popkultur. Michel Chion, geboren 1947 in Creil (Frankreich), ist einer der bedeutendsten Komponisten von musique concrète unserer Zeit. Er hat mit dem Begründer dieser Gattung, Pierre Schaeffer, zusammengearbeitet und zahlreiche Bücher und Essays über Tonbandmusik und zum Verhältnis von Ton und Bild im Kino veröffentlicht. Daneben trat er als Filmregisseur und Kritiker in Erscheinung, unter anderem als Redaktor der Cahiers du Cinéma. Er verfasste wichtige Monographien über Bergman, Fellini, Tarkovskij und David Lynch. Seine theoretische Arbeit am Audiovisuellen vermittelte er dank mehrerer Professuren, unter anderem am Lehrstuhl für audiovisuelle Kunst der Sorbonne Nouvelle in Paris.

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Charris Efthimiou ist 1978 in Griechenland geboren. Er hat ein Master in Komposition. Ph.D zu Mozarts Symphonien. Seit 2012 senior lecturer in Musiktheorie und Musikgeschichte und seit 2013 Post Doc. Monographie zu Metallicas Riffs und Mozarts Symphonien. Publikationen zu R. Wagner, dem symphonischen Werk von Arthur Honegger, L. Janacek, J. S. Mayr, die Trio Sonaten von J. L. Krebs und zu Heavy Metal. Demetre Gamsachurdia wurde 1988 in Tbilisi, Georgien geboren. Als Enkel des ersten Präsidenten Georgiens musste er 1992, nach dessen gewaltsamen Sturz und Bürgerkrieg mit seinen Eltern in die Schweiz emigrieren. Ersten Klavierunterricht erhielt er von seiner Mutter. Im Alter von zehn Jahren begann er zu komponieren. Neben seiner schulischen Ausbildung hat Demetre Gamsachurdia Klavierunterricht bei Slobodan Todorociv und Stéphane Reymond genommen. Zu seinen Lehrern im Bereich Komposition gehörten die bekannten Schweizer Komponisten Roland Moser, Rudolf Kelterborn und René Wohlhauser. Für das Jahr 2010 erhielt er ein Stipendium der Fritz Gerber Stiftung für junge Talente. 2011 schloss er mit Auszeichnung den BachelorStudiengang sowohl in Komposition als auch für Klavier an der Musikhochschule der Musik-Akademie Basel ab. Seit 2011 setzt er sein Studium (Master) im Fach Klavier und Komposition fort. Christoph Haffter, geboren 1988, studiert Musikwissenschaft und Philosophie an der Universität Basel, der Université Paris 8 und zur Zeit an der Humboldt Universität zu Berlin. 2011 Bachelor of Arts. Er schreibt regelmäßig über zeitgenössische Musik, u.a. für die Zeitschrift Dissonance, den Südwestrundfunk 2, die Donaueschinger Musiktage und die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt. Camille Hongler, geboren 1986, studierte Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Basel. 2012 Master of Arts. Wissenschaftliche Mitarbeit beim Ausstellungsprojekt Fundstücke eines Lebens: der Komponist Evgenij Gunst und wissenschaftliche Assistenz beim Institut für zeitgenössische Kunst KW in Berlin.

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Nina Jukić wurde 1985 in Zagreb geboren, wo sie Musikwissenschaft (M.A. 2010) sowie Kunstgeschichte und Englisch (M.A. 2012) studierte. Zurzeit doktoriert sie an der Universität für angewandte Kunst in Wien (Abteilung für Medientheorie) mit einer Arbeit zur Verwendung obsoleter Technologien und Medien in zeitgenössischer Pop-Kultur. Christian Kämpf studierte seit 2005 Musikwissenschaft, evangelische Theologie und Journalistik an der Universität Leipzig, der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg und der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Mit einer Arbeit über bürgerliche Musikästhetik um 1800 schloss er sein Studium im Juli 2011 als Magister Artium ab. 2008 bis 2011 war er als freier Mitarbeiter im Lektorat eines Leipziger Musikverlages tätig. Im Oktober 2011 begann er ein Zweitstudium im Masterstudiengang Philosophie an der Universität Erfurt. Seit September 2012 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen mit einem Dissertationsprojekt zur Ästhetik des Phantastischen in der Musik des 19. Jahrhunderts. Silvan Moosmüller, geboren 1987 in Luzern, studierte Musikwissenschaft und Germanistik an der Universität Basel und ist derzeit engagiert bei der SNF-Förderprofessur Literatur- und Kulturwissenschaften der Universität Luzern. Daneben schreibt er für verschiedene Magazine und Zeitungen. Den derzeitigen Forschungsschwerpunkt bilden Fragen des Interdisziplinären (Literatur und Musik). Bastian Pfefferli studierte Schlagzeug bei Matthias Würsch an der Musikhochschule Basel, wo er sein Bachelorstudium mit Auszeichnung abschloss. Er setzte sein Studium in Rueil Malmaison, Paris bei Eve Payeur fort, wo er den »Prix de virtuosité à l’unaimité« erhielt. Mit Perkussionisten wie Françoise Rivalland und Jean Pierre Drouet vertiefte er seine Kenntnisse im zeitgenössischen Musiktheater. Neben dem klassischen Schlagzeug interessiert er sich für traditionelle und aussereuropäische Musikkulturen, wie dem balinesischen Gamelan, der persischen Zarb und der Basler-Trommel. 2010 war er Stipendiat der

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Friedl Wald-Stiftung und im selben Jahr war er auch Teilnehmer der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik. Er arbeitete mit Komponisten wie Georg Friedrich Haas, Vinko Globokar, Philippe Manoury, James Clarke, Martin Matalon, Jacques Rebotier und Robin Hoffmann. Unter anderem spielte er mit dem Ensemble Phoenix Basel, dem Bolt Ensemble aus Melbourne und dem Basler Sinfonieorchester. Yvonne Stingel-Voigt studierte Musikwissenschaft und Neuere deutsche Philologie. Ihre Forschungsinteressen umfassen Themen der Musikpsychologie und -soziologie. Ihre Dissertation, die sie an der Freien Universität Berlin verfasst hat, erschien Anfang 2014 im Verlag Werner Hülsbusch unter dem Titel Soundtracks virtueller Welten – Musik in Videospielen. An die Promotion schließt sie eine Lehramtsausbildung für die Primar- und Sekundarstufe beim Land Berlin an. Weitere Informationen unter: www.yvonne-stingel.de. Thibaut Walter geboren 1978, ist Klangkünstler (En pire, ex-U2) und besitzt einen Doktor in Religionswissenschaften. Im Moment forscht er zu auralen Wissenschaften am Institut für Medizingeschichte der Universität Lausanne (IUHMSP). Parallel dazu ist er künstlerischer Kodirektor und musikalischer Programmegestalter des Festivals für Underground Film und Musik LUFF in Lausanne. Er ist auch Mitbegründer und Leiter einer Buchreihe Rip on/off im Verlag Van dieren in Paris, welche Schriften von Klangkünstlern veröffentlicht. Bastian Zimmermann studierte in Frankfurt Musikwissenschaft und Philosophie und arbeitet als Autor, für diverse Musikzeitschriften und das Radio, sowie als freier Filmemacher (Der große, vergängliche Haut-Film). Im Frühjahr 2014 erschien unter seiner Mitherausgeberschaft ein Gesprächsband mit dem Impromusiker Rüdiger Carl Ab Goldap im weissbooks Verlag.

Musik und Klangkultur Jörn Peter Hiekel, Wolfgang Lessing (Hg.) Verkörperungen der Musik Interdisziplinäre Betrachtungen September 2014, 234 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2753-4

Teresa Leonhardmair Bewegung in der Musik Eine transdisziplinäre Perspektive auf ein musikimmanentes Phänomen November 2014, 326 Seiten, kart., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2833-3

Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.) Unlaute Noise/Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 Februar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2534-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Musik und Klangkultur Christina Richter-Ibáñez Mauricio Kagels Buenos Aires (1946-1957) Kulturpolitik – Künstlernetzwerk – Kompositionen April 2014, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2662-9

Daniel Siebert Musik im Zeitalter der Globalisierung Prozesse – Perspektiven – Stile Dezember 2014, 230 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2905-7

Christian Utz Komponieren im Kontext der Globalisierung Perspektiven für eine Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts Februar 2014, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2403-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de