Germany 1815-1945: Deutsche Geschichte in britischer Sicht [Reprint 2013 ed.] 9783110828726, 9783110004892

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Germany 1815-1945: Deutsche Geschichte in britischer Sicht [Reprint 2013 ed.]
 9783110828726, 9783110004892

Table of contents :
Zur deutschen Ausgabe
Verzeichnis der Landkarten
Einleitung von C. J. Child
I. Österreichs Vorherrschaft und Niederlage: Schaffung des Deutschen Reiches (1815–1871)
Deutschland 1815
Österreichs Vorherrschaft (1815–1858)
Preußens Sieg in Deutschland (1858–1871)
Wirtschaftliche Entwicklung (1815–1871) von W. O. Henderson
II. Das Deutsche Reich in Glanz und Niederlage (1871–1918)
Die Ära Bismarcks
Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung (1871–1914) von W. O. Henderson
Die Regierung Wilhelms II
Der erste Weltkrieg (1914–1918)
III. Die Weimarer Republik (1918–1933) und das Nationalsozialistische Deutschland (1933–1939)
Die Weimarer Republik
Das nationalsozialistische Deutschland
IV. Deutschland im Zweiten Weltkrieg (1939–1945) von D. C. Watt
Index

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Die kleinen de-Gruyter-Bände / Band 2

fe s

>

Die kleinen Bände

E. J. Passant · W. O. Henderson

Germany 1815-1945 Deutsche Geschichte in britischer Sicht

Walter de Gruyter & Co.

Dies Buch erscheint unter einer Lizenz der Cambridge University Press, England, bei der die Originalausgabe 1959 unter dem Titel „A Short H i s t o r y of Germany 1815—1945" herauskam. Die Ubersetzung ist von J. Länder.

© Copyright 1962 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sdie Verlagshandlung · J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J . Trübner * Veit & Comp., Berlin 30 — P r i n t e d in Germany — Alle Rechte der Ubersetzung, des Nadidrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — audi auszugsweise — vorbehalten. Archiv-Nr. 47 65 62/2. Satz und Druck: Thormann & GoetsA, Berlin-Neukölln

Zur deutschen Ausgabe Der Leser dieses fairen kleinen Buches möge sich vor Augen halten, daß es ursprünglich als eine Informationsschrift f ü r die N a v a l Intelligence Division der Britischen Admiralität geschrieben wurde. Für die Publikumsausgabe von 1959 wurden die nach dem Kriege erschienenen Forschungen zur deutschen Geschichte eingearbeitet. An dem Text dieser Ausgabe wurde hier nichts geändert, auch dort nicht, wo der Historiker dem Autor einen Fehler wird nachweisen können, und auch dort nicht, wo der deutsche Leser im allgemeinen die Dinge anders sehen möchte. In der deutschen Ausgabe wurde lediglich der Literaturanhang fortgelassen, der speziell f ü r die englischen Leser zusammengestellt war, und einige erläuternde Fußnoten und Skizzen blieben weg, die f ü r eine deutsche Ausgabe entbehrlich schienen. Ernest James Passant war Dozent am Sidney Sussex College, bevor er ins Britische Auswärtige Amt und in die N a v a l Intelligence Division der Admiralität eintrat, bei seinem Tode im Jahre 1955 war er Director of Research im Auswärtigen Amt. Die Kapitel über die wirtschaftliche Entwicklung stammen von Professor W. O. Henderson, University of Manchester, das einleitende Kapitel stammt von Clifton J. Child, das Kapitel über die Epoche 1939—1945 wurde 1959 f ü r die Publikumsausgabe von Donald C. W a t t hinzugefügt. Der Verlag

Inhalt Zur deutschen Ausgabe

V

Verzeichnis der Landkarten

VIII

Einleitung von C. J. Child

1

I. Österreichs Vorherrschaft und Niederlage: Schaffung des Deutschen Reiches (1815—1871)

12

Deutschland 1815

12

Österreichs Vorherrschaft (1815—1858)

21

Preußens Sieg in Deutschland (1858—1871) Wirtschaftliche Entwicklung (1815—1871) von W . Henderson

48 O.

II. Das Deutsche Reich in Glanz und Niederlage (1871—1918) Die Ära Bismarcks Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung von W . O. Henderson

69 94 94

(1871—1914) 114

Die Regierung Wilhelms II

130

Der erste Weltkrieg (1914—1918)

149

I I I . Die Weimarer Republik (1918—1933) und das N a t i o n a l sozialistische Deutschland (1933—1939)

167

Die Weimarer Republik

167

Das nationalsozialistische Deutschland

211

IV. Deutschland im Zweiten Weltkrieg (1939—1945) von D . C. Watt

229

Index

266

Verzeichnis der Landkarten 1. Österreich und Preußen 1815

13

2. und 3. Die deutschen Kleinstaaten 1815

20

4. Schleswig-Holstein 1864

60

5. Die Freie Reichsstadt F r a n k f u r t a. M. und umliegende Gebiete 1833

70

6. Der Zollverein und der Steuerverein 1834

72

7. Der Beitritt Braunschweigs zum Zollverein 1837—1844 . .

73

8. Der neue Zollverein 1867

78

9. Deutsche Kolonien in A f r i k a 1914

110

10. Deutsche Kolonien im Pazifik 1914

111

11. Der deutsche Angriff 1914

149

12. Die "Westfront bis 21. M ä r z 1918

150

13. Die W e s t f r o n t vom 21. März bis 11. November 1918

152

14. Der Friede von Brest-Litowsk

159

15. Deutschland 1919

170

16. Die Volksabstimmung in Schleswig 1920

171

17. Sprachenkarte des polnischen Korridors 1928

173

18. Westdeutschland 1919

175

19. Der deutsche Vormarsch in der U d S S R 1941—1943

241

20. Der deutsche Rückzug aus der U d S S R 1943—1944

243

EINLEITUNG

Die Anarchie des Heiligen Römischen Reiches Bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein blieben die Deutschen auf dem Weg zur nationalen Einheit hinter den anderen V ö l kern Westeuropas zurück. Während die R e f o r m a t i o n in E n g land schließlich nur zu größerer Einheit beitrug, sprengte sie Deutschland auseinander. D e r Augsburger Friede ( 1 5 5 5 ) , der die erste Phase der Religionskriege beendete, verewigte die Teilung: er gestattete jedem Herrscher zu entscheiden, ob sein Territorium katholisch oder protestantisch sein sollte. D e r Westfälische Friede (1648), der nahezu hundert J a h r e später die zweite Phase — den Dreißigjährigen K r i e g — abschloß, führte den Zersplitterungsprozeß noch weiter f o r t ; er schwächte das einzig verbliebene S y m b o l der Einheit, nämlich das Heilige Römische Reich. E r unterminierte die Reichsautorität, indem er die Souveränität der Gliedstaaten anerkannte, die nun sogar Verträge mit fremden Staaten abschließen durften, und er bestätigte die Zersplitterung des Reiches, die seit dem Mittelalter v o r sich gegangen w a r . I n den anderthalb Jahrhunderten, die diesem Friedensschluß folgten, blieb Deutschland ein Mosaik von mehr als 1 8 0 0 Staatsgebilden, deren S k a l a sich nach Größe und Einfluß v o n den siebenundsiebzig größeren weltlichen Fürstentümern über die einundfünfzig Reichsstädte und f ü n f u n d v i e r z i g Reichsdörfer bis zu den 1 4 7 5 von Reichsrittern beherrschten Territorien dehnte. D a s Reich — obgleich noch immer das letzte konstitutionelle B a n d zwischen den Fürstentümern — erwies sich jetzt als Hindernis f ü r die Einheit. Seine Schwäche forderte die Fürsten zur Machtvergrößerung geradezu heraus. Doch so schwach w i e es w a r , fühlte es sich moralisch verpflichtet, wenigstens ver-

1

Passant

1

Einleitung suchsweise den Schutz seiner kleineren Glieder (ζ. B . der Reichsritter und Reichsstädte, letzten Stützen eines echten „Reichspatriotismus") zu übernehmen; dadurch verhinderte es eine Vereinigung der Starken auf Kosten der Schwachen. Aber weder die Starken noch die Schwachen konnten auf Führerschaft von Seiten des Reiches hoffen — das von dem Juristen und Historiker Samuel von Pufendorf im 1 7 . Jahrhundert ein „Monstrum" genannt wurde. Die Habsburger, die, außer dreier Jahre während Maria Theresias Herrschaft, von 1438 bis 1806 ununterbrochen die Kaiserkrone trugen, kümmerten sich längst mehr um ihre österreichischen Belange als um das Reich als Ganzes. Ihr Beispiel mußte daher die partikularistischen Interessen der kleineren deutschen H ö f e stärken. Überdies waren die Habsburger Katholiken. Dies und die Tatsache einer katholischen Mehrheit im Reichstag zu Regensburg machten das Reich in den Augen Preußens und Hannovers bestenfalls zu einem Werkzeug der Vorherrschaft des katholischen Südens über den protestantischen Norden, schlimmstenfalls jedoch zu einer Bedrohung der Religionsfreiheit, die der Norden mit der Reformation gewonnen hatte.

Die kulturelle Erneuerung im achtzehnten Jahrhundert Die Anarchie des niedergehenden Reiches und der „Sultanismus" der deutschen Fürsten führte dazu, daß allgemein unter den Gebildeten eine Abneigung gegen Politik und sogar gegen politische Literatur, die sich mit „bloßen Tatsachen" beschäftigte, entstand. Viele dieser Gebildeten wandten sich, erst unter dem Einfluß Voltaires und später der Französischen Revolution, dem Weltbürgertum zu. Trotzdem hat die A u f klärung, obwohl sie Nationalstolz verleugnete oder verw a r f , mit ihrer großen dichterischen und geistigen Blüte und zusammen mit dem folgenden „Sturm und D r a n g " sowie der Romantik entscheidend zur Schaffung einer deutschen „Kulturnation" beigetragen. Diese Zeit umspannt etwa Goethes Leben 2

Einleitung (1749—1832). Meinecke

Sie w a r

ein wichtiger Schritt, w i e

ausgeführt hat,*

in Richtung

auf

Friedrich

den

modernen

Nationalstaat. D e r Sturm und D r a n g (etwa v o m Erscheinen von

Goethes

Götz

v o n Berlichingen

1773

bis zu

Schillers

R ä u b e r n 1 7 8 1 ) gab Deutschland ein Nationaltheater — gleich manch

einer es nicht anerkennen

wollte.

ob-

Tatsächlich

w a r e n es gerade diejenigen, die ihre patriotischen Beweggründe am wenigsten eingestehen wollten, welche das meiste getan hatten, um Deutschlands R u h m in E u r o p a zu vergrößern. Sie w a r e n es, die den Nationalstolz der Deutschen auf ihre K u l t u r erweckten und damit später sowohl die politischen R o m a n t i k e r in ihrem K a m p f gegen N a p o l e o n als auch die Liberalen im 19. Jahrhundert in ihrem Streben nach einer a n die klassische Tradition anknüpfenden politischen Verfassung beeinflußten. D a s galt v o r allem v o n Lessing, der seinem L a n d e in Bezug auf Literaturkritik einen ehrenvollen P l a t z erobert hatte und doch die Vaterlandsliebe als einen heroischen Fehler abtat, v o n dem frei zu sein er sich glücklich schätzte. D a s galt aber auch f ü r K a n t , der Deutschland einen führenden R a n g im europäischen Denken erstritten hatte und

doch eine berühmte

politische

Schrift dem G e d a n k e n internationaler Ordnung, jenseits nationaler Grenzen, widmete.

Der Aufstieg

Preußens

Wenn auch an politischen Nationalismus, w i e ihn ein späteres Zeitalter kennenlernen sollte, im 18. Jahrhundert in Deutschland noch nicht zu denken w a r — der K a m p f um Vorherrschaft hatte unter den deutschen Staaten bereits begonnen. Allerdings gab es nur zwei Mächte — Österreich und Preußen — , die f ä h i g waren, eine entscheidende R o l l e in Deutschland zu spielen. D e r Ehrgeiz, dem Friedrich der G r o ß e nach eigenen W o r ten im J a h r e 1 7 4 0 folgte, verstrickte die beiden Mächte um die Mitte des Jahrhunderts in einen gefährlichen K o n f l i k t . D e r * F. Meinecke, Weltbürgertum und N a t i o n a l s t a a t , S. 23 ff.



3

Einleitung

Preis, der winkte, w a r gewiß weniger der Anspruch auf nationale Führerschaft als vielmehr die Gelegenheit, neue Territorien für sich zu gewinnen. Immerhin hatte Preußen durch die Entwicklung seiner militärischen Reserven (es hatte kaum andere) mit dem Ziel territorialer Vergrößerung einen Vorsprung im späteren Kampf um die politische Hegemonialstellung. Preußen verdankte seine Macht, die es im 18. Jahrhundert erringen konnte, vor allem zwei Herrschern von außergewöhnlichem Format: dem Kurfürsten Friedrich "Wilhelm ( 1 6 4 0 — 1688), von den Zeitgenossen und der Nachwelt „Großer K u r f ü r s t " genannt, und dem dritten König der Hohenzollern, Friedrich dem Großen ( 1 7 4 0 — 1 7 8 6 ) . Der Große Kurfürst befreite Brandenburg von der Schwäche und Schande, in die es während des Dreißigjährigen Krieges gefallen w a r ; er hatte das Land, als er starb, zum stärksten protestantischen Staat im Reiche gemacht. Getreu den toleranten Traditionen seines Hauses suchte er, schließlich mit Erfolg, f ü r die Kalvinisten die gleichen politischen und religiösen Privilegien zu sichern, die der Augsburger Friede ( 1 J 5 5 ) den Protestanten zugestanden hatte. Als Feldherr vollbrachte er eine außergewöhnliche Leistung: er befreite Ostpreußen, das außerhalb des Reiches lag und in dem sich 1 7 0 1 sein Nachfolger selbst zum König krönte, von polnischer Lehnsherrlichkeit. Als Organisator gab er seinen nur lose miteinander verbundenen Territorien eine zentrale Verwaltung; er baute Berlin wieder auf, machte es zu einer wirklichen Hauptstadt und schuf in späteren Jahren die Voraussetzungen dafür, daß sich die Bevölkerung vervierfachen konnte. E r kräftigte Landwirtschaft und Industrie und belebte den Handel. V o r allem aber gab er Preußen ein stehendes, gut ausgebildetes Heer, das von einem fähigen Stab gelenkt wurde und mit der gleichen Präzision wie die Zivilverwaltung funktionierte. In der Zeit zwischen dem Tod des Großen Kurfürsten und der Thronbesteigung Friedrichs des Großen machte Preußen 4

Einleitung

weitere militärische und verwaltungstechnische Fortschritte. Friedrich I. ( 1 6 8 8 — 1 7 1 3 ) gab ihm eine Krone, die seine zerstreuten Provinzen fester miteinander verband. Sein Sohn, der befähigte, wenn auch etwas bäuerische und strenge Friedrich Wilhelm I. ( 1 7 1 3 — 1 7 4 0 ) hinterließ Preußen ein zentralisiertes Finanzsystem und eine Zivilverwaltung, ein kodifiziertes Zivilund Verwaltungsrecht, eine im allgemeinen gesunde Wirtschaft, in der neue Industrien aufblühen konnten, und ein stehendes Heer von etwa 90 000 Mann mit einem Rekrutierungssystem, das jeden Militärbezirk verpflichtete, eine auf der Bevölkerungszahl basierende Anzahl Männer zu stellen. In der Zivilverwaltung übernahm Friedrich der Große die Regierung in dem Rahmen, wie er von seinem Vater hinterlassen worden w a r ; er änderte nur das, was er infolge der Zeitumstände und der großen territorialen Erwerbungen seiner Regierungszeit (Schlesien 1 7 4 2 , Ostfriesland 1744, Westpreußen und Ermland 1 7 7 2 ) ändern mußte. Seine große Leidenschaft w a r das Heer, das er auf die ständige Stärke von i j o o o o Mann brachte, welches jedoch mehr als acht Millionen von elf Millionen Talern Steuereinkommen verschlang und Mirabeau zu der Bemerkung veranlaßte, Preußen sei kein Land, das eine Armee, sondern eine Armee, die ein Land habe. Aber die größte Leistung Friedrichs, des fähigsten Hohenzollern und erfolgreichsten Realpolitikers vor Bismarck, w a r die, daß er seine hervorragende Militärmaschinerie nutzte, um Preußen — ein Land ohne natürliche Grenzen — in die vorderste Reihe der europäischen Mächte zu bringen. Anders als sein Vater und Großvater, die dem Haus Österreich gegenüber loyal geblieben waren, w a r er bereit, jede Schwierigkeit Habsburgs auszunutzen — so das Fehlen eines männlichen Erben, dem 1740 die Kaiserkrone hätte zufallen können —, um Preußens Einfluß und Territorium zu vergrößern. E r konnte, wenn es in seine Pläne paßte, mit dem Wiener H o f zusammenarbeiten, wie er es tatsächlich bei der ersten Teilung Polens ( 1 7 7 2 ) tat. Doch da ihm die Habsburger nie den R a u b Schlesiens vergeben konnten, 5

Einleitung ging die Zusammenarbeit nicht tief und änderte wenig an dem langen Schatten österreichisch-preußischer Rivalität, der erst redit seit Friedrichs Herrschaft auf die deutsche Geschichte der nächsten hundert Jahre fiel. Der Versuch mit dem Fürstenbund, der ihn während der letzten Monate seines Lebens beschäftigte (Juli 178$ bis August 1786), legt -den Gedanken nahe, daß er, hätte er nur ein wenig länger gelebt, die Habsburger nicht nur zum K a m p f um die augenblickliche militärische Überlegenheit, sondern um die dauernde politische Führung in Deutschland herausgefordert hätte.

Der Zusammenbruch der alten Ordnung in Deutschland Friedrich der Große w a r noch nicht ein Jahrzehnt tot, als der Zusammenbruch der alten Ordnung in Frankreich — von Dichtern und Denkern in Deutschland mit großem Jubel begrüßt — die ersten durchgreifenden Neuerungen auch westlich des Rheins bewirkte. In der T a t durfte man nun nicht erwarten, daß das politische Mosaik des Heiligen Römischen Reiches die militärischen A n g r i f f e überleben würde, denen es durch die Einmischung der deutschen Fürsten in den Revolutionskriegen ausgesetzt war. Die wesentlichen Veränderungen, die die Französische R e v o lution und Napoleons Herrschaft audi in Deutschland mit sich brachten, seien kurz zusammengefaßt. D e r erste Koalitionskrieg, an dem sich Preußen seit 1792 beteiligte und aus dem es sich durch den schamlosen Basler Separatfrieden 1795 zurückzog, brachte den Franzosen den Besitz preußischer Territorien (Mörs, Cleve, Obergeldern) westlich des Rheins, f ü r die sie ihren früheren Besitzern Kompensationen östlich des Rheins versprachen. Z w e i J a h r e später, beim Friedensschluß von Campo Formio zwischen Frankreich und Österreich, bezahlten die Habsburger ihre Niederlage mit den rheinischen Besitzungen, mit den österreichischen Niederlanden und Mailand (für die sie Venedig, Istrien und Dalmatien erhielten); außerdem 6

Einleitung stimmten sie der Annektion des gesamten deutschen Gebietes westlich des Rheins durch Frankreich zu. Der zweite Koalitionskrieg, der zur Niederlage Österreichs bei Marengo und Hohenlinden (1800) und Annahme des Vertrages von Lunéville ( 1 8 0 1 ) führte, brachte als Kehraus den „Reichsdeputationshauptschluß" vom Februar 1803. Hier wurden vom deutschen Reichstag, unter dem Diktat Napoleons, die geistlichen Fürstentümer säkularisiert und die Reichsstädte „mediatisiert", wobei im ganzen 1 1 2 kleinere politische Gebilde zugunsten größerer Staaten wie Bayern, Baden und Württemberg beseitigt wurden. Der Koalitionskrieg (die Koalition wurde 180$ von Pitt geschaffen) führte nach der Niederlage Österreichs bei Austerlitz im Dezember 1805 zur Abtrennung der westdeutschen Staaten vom Heiligen Römischen Reich und zur Gründung des Rheinbundes unter französischer Vormundschaft (17. Juli 1805); damit verringerte sich die Zahl der deutschen Staaten auf vierzig, und drei Wochen später kam das längst überfällige Ableben des Heiligen Römischen Reiches.* Endlich reduzierte Preußens Niederlage bei Jena am 14. Oktober 1806, welcher der vernichtende Friede von Tilsit (1807) folgte, die Besitzungen der Hohenzollern auf die Hälft« des früheren Bestandes: westlich der Elbe kamen Preußens Gebiete an das neue Königreich Westfalen, im Osten verlor Preußen an das junge Großherzogtum Warschau all das, was es durch die zweite und dritte Teilung Polens 1793 und 1795 erworben hatte. Preußens

Wiederaufstieg

ι8ογ—1814

Die Niederwerfung durch Napoleon stellte sich für Preußen als große Chance heraus. Die Begrenzung seines Heeres auf 42 000 Mann zwang Scharnhorst und Gneisenau zur Verbesserung von Waffen und Ausbildung, zur Entlassung alter * Bekanntlich hat F r a n z I I . bei seinem Rücktritt als Kaiser des früheren Reiches den Titel »Kaiser v o n Österreich" beibehalten.

7

Einleitung

und unfähiger Offiziere und zur Schaffung einer Militärreserve durch Einziehung aller tauglichen Männer auf kurze Zeit. Der teilweise Zusammenbruch des alten Verwaltungssystems — teilweise, weil der Aufstieg der nächsten Jahre die Kraft des vom Großen Kurfürsten geschaffenen und von seinen Nadifolgern vollendeten Systems erwies — erzwang die Reformen, die Stein als leitender Minister ab August 1807 durchsetzte. Diese wiederum stärkten Preußens Struktur vor allem dort, w o Friedrichs Kriege sie zerrüttet hinterlassen hatten. Das Edikt über die Bauernbefreiung vom 9. Oktober 1807, das die Leibeigenschaft aufhob, ebnete den Weg für soziale Erneuerung, und die nachfolgende Städte- und Gemeindeordnung sdiuf die Grundlage für ein modernes System der Selbstverwaltung. Die Jahre 1806—1815 bezeugten den Beginn eines editen völkischen Aufbruchs. Die Reformen, die auf Stein und seine Minister zurückgingen und mit keiner Neuerung unter dem Großen Kurfürsten und Friedrich zu vergleichen waren, wurden von einer Bewegung unterstützt, welche die Gebildeten und den Mittelstand umfaßte; freilich reichte sie nicht bis zu den Bauern und Handwerkern hinab und fand auch keinen Anklang bei einigen Vertretern des Adels, deren Privilegien sie bedrohte. Stein schrieb selbst, er sei von der Idee ausgegangen, den sittlichen, religiösen und vaterländischen Geist der Nation zu erwecken. Hierbei erhielt er Hilfe von einer bemerkenswerten Reihe nicht-preußischer Gelehrter, die die Hohenzollern-Politik der Toleranz nach Berlin gezogen hatte — unter ihnen der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der 1799 in Preußen Asyl gefunden hatte, als er von den Behörden in Weimar des Atheismus beschuldigt worden war. Z w i schen dem 13. Dezember 1807 und dem 20. März 1808 hielt Fichte die berühmten „Reden an die deutsche Nation", in denen er „für Deutsche schlechtweg von Deutschen schlechtweg" redete und eine „Nationalerziehung" als Ausweg aus allen Schwierigkeiten pries. Seine Ideen beeinflußten nachdrücklich den Minister Wilhelm von Humboldt, den Vater vieler neu8

Einleitung

zeitlicher Reformen, und er selbst hatte die Ehre, an der Gründung der Universität Berlin 1809—1810 beteiligt zu sein. Den Gebildeten war es, wenigstens zum Teil, zu verdanken, daß der Befreiungskrieg nach dem katastrophalen französischen Rückzug aus Rußland 1 8 1 2 einem echten „Volkskrieg" näher kam als je zuvor in der deutschen Geschichte (noch Hitler versuchte vergeblich den Geist eines solchen „Volkskriegs" in den Jahren 1944—4J wiederzuerwecken). Scharnhorsts Landwehrgesetz ging von der Voraussetzung einer Nation in Waffen aus, und des Königs „Aufruf an Mein Volk" vom 17. März 1 8 1 3 forderte die Opfer, die ein Volkskrieg verlangte. Obgleich Preußen verstümmelt war, trat es in diesem Krieg als der gegebene Führer hervor. Den schwankenden Friedrich Wilhelm III. — im Februar 1 8 1 2 hatte er nodi einen Vertrag mit Napoleon unterzeichnet, der der Grande Armée den Durchmarsch gewährte —, zwangen Stein vom Exil am Zarenhofe aus und York als Kommandeur des preußischen Hilfskorps, das die französische Armee nach Moskau begleitet hatte, zur Entscheidung. Am 28. Februar 1 8 1 3 führte der Vertrag von Kaiisch Preußen in den Krieg. Sechs Monate später trat Österreich den Verbündeten zur Seite. Schließlich machte die Niederlage Napoleons im Oktober bei Leipzig seine Schützlinge, die kleineren deutschen Staaten, zu einem Frontwechsel reif, und noch vor Jahresende hatten die Verbündeten den Rhein nach Frankreich überschritten. Im März 1814 hatten sie Paris erobert, und innerhalb von zwei Wochen hatte Napoleon abgedankt ( 1 1 . April). Napoleons im März 18 i j beginnender Versuch, die Macht wieder an sich zu reißen, scheiterte endlich mit der Schlacht bei Waterloo (BelleAlliance) am 18. Juni 1 8 I J .

Oer

Ausgleich

1814—181;

Der Wiener Kongreß unternahm keinen Versuch, jene chaotischen territorialen Zustände des 18. Jahrhunderts neu zu 9

Einleitung beleben, und als Ergebnis neununddreißig wichtigsten

Staaten

waren

die

seiner Arbeit blieben

in

Deutschland

Auswirkungen

nur

zurück. des

mehr

Doch

am

Kongresses

auf

Österreich und Preußen, die beiden Rivalen um die Führung in Deutschland. Österreich sicherte seinem Kaiser den ständigen Vorsitz im neugeschafienen Deutschen Bund, der das alte Heilige Römische Reich ersetzen sollte. Aber der Kaiser von Österreich,

der

gleichsam mystischen Würde des Heiligen Römischen Reiches beraubt, war zu sehr mit dem Zusammenhalt seiner vorwiegend nicht-deutschen Länder beschäftigt, als daß man ihn ohne weiteres als Verteidiger des Deutschtums akzeptiert hätte. A u f dem Wiener

Kongreß

erhielt

er

seine

italienischen

Besitzungen

zurück und bekam dazu die Lombardei als Ersatz für die V e r zichterklärung auf die südlichen Niederlande; er herrschte, von der kleinen deutschen Basis der Ostmark, über mehr Tschechen, Ungarn, Polen, Serben, Kroaten und Italiener als über Deutsche und w a r daher der N a t u r seines Nationalitätenstaates nach nicht geeignet,

die Führung

über das erwachende

deutsche

Nationalgefühl zu übernehmen. Während Österreich also aus dem Wiener Kongreß in seinem Charaker

als deutscher Staat

eher geschwächt

als

gestärkt

hervorging, betonte der Rivale Preußens durch Neuerwerbungen seine Ansprüche auf die (deutsche Führung. D e r Verlust der östlichen Gebiete seines polnischen Territoriums an Rußland wurde mehr als aufgewogen durch den Erwerb des rein deutschen Rheinlands und Westfalens, Gebiete reich an Bodenschätzen, wichtig für die Kontrolle des Rheins und kulturell bedeutsam. Preußens westdeutsche Besitzungen

waren

zwar

noch voneinander getrennt, aber dieser Umstand gab besondere Veranlassung,

nach ihrer

Vereinigung

mit

den

preußischen

Kernlanden zu trachten. I n der Epoche des Nationalismus, in die sich Europa nunmehr stürzte, bekam Preußen durch seinen deutschen Charakter einen großen Vorteil gegenüber Österreich im K a m p f um die Führung. Hinzu kamen: die außergewöhn-

10

Einleitung

liehe Energie und der Fleiß der Bevölkerung, die reichen Bodenschätze des bald entwickelten Ruhrgebietes, eine tüchtige und unbestechliche Verwaltung und ein Heer, das seinen Wert unter Friedrich dem Großen bewiesen hatte. Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts sollten sich diese Aktivposten als entscheidend f ü r den Anspruch Preußens auf Führung in Deutschland erweisen.

ERSTES

KAPITEL

Österreichs Vorherrschaft und Niederlage — Schaffung des Deutschen Reiches (1815- 1871) DEUTSCHLAND 1 8 1 $

Politische Zerrissenheit

und

Konservativismus

Trotz des Wachsens nationaler Selbstbesinnung in den acht Jahren bis 1815 war der Ausdruck „Deutschland" wie das Wort „Italien" kaum mehr als eine geographische Bezeichnung. Die durch Napoleon herbeigeführte weitreichende Zerschlagung deutscher Kleinstaaten ließ immer nodi neununddreißig rivalisierende souveräne Gebiete zurück. Außerdem waren jetzt die Fürsten nur umso besorgter, ihre Unabhängigkeit zu wahren, weil sie sich derart dezimiert sahen. Herrscher, wie die von Bayern, Württemberg und Baden, die während der Napoleonischen Zeit an Gebiete und Würde zugenommen hatten (in Bayern und Württemberg gab es jetzt Könige), waren entschlossen, ihre errungenen Vorteile zu halten und, wenn möglich, auszudehnen; andere, die aus dem Exil zurückkehrten oder Gebiete verloren hatten (wie in Sachsen), waren entschlossen, ihre alten Rechte durchzusetzen und jedes Privileg zu schützen, das ihnen geblieben war. Die beiden deutschen Großmächte, Österreich und Preußen, rivalisierten sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands, und keiner von ihnen würde sich dem anderen in der Führung unterwerfen, selbst dann nicht, wenn es im Interesse deutscher Einigkeit war. Dem Kaiser von Österreich w a r der Vorrang Österreichs in deutschen Angelegenheiten angesichts der vielen Jahrhunderte, in denen die Habsburger als Heilige Römische Kaiser regiert hatten, Voraussetzung. Preußen war

12

Deutschland 18 li

ein Neuling, der sein Glück auf Kosten der Nachbarn gemacht hatte, besonders Österreichs selbst durch den Raub Schlesiens durch Friedrich den Großen. Für die preußischen Könige und ihre Berater war Preußens Unterordnung unter Österreich undenkbar; denn dies würde die zähe Arbeit und schwer errungenen Erfolge aller preußischen Herrscher seit dem Großen Kurfürsten zunichte machen. Audi die Sache der deutschen nationalen Einigung konnte keinen Herrscher zu Opfern auf Kosten ihrer Länder bewegen. Beide deutsche Großmächte waren darüberhinaus weder rein deutsche noch hauptsächlich deutsche Staaten (wie Österreich, Karte i). Österreich war zunehmend ein Nationalitäten-

13

I. Schaffung

des Deutschen

Reiches

1815—1871

Staat geworden, und nach i 8 i j waren die nicht^deutschen Nationalitäten — Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen, Serben, Slowenen, Italiener — zahlenmäßig stärker als die deutschen der alten Ostmark. Für einen derart zusammengesetzten Staat bedeutete die Doktrin der Nationalität als Redit zur Selbstbestimmung nur völlige Auflösung. Schon durch seine Zusammensetzung mußte Österreich den Nationalismus um jeden Preis verhindern, deutschen Nationalismus so sehr wie jeden anderen. Metternich betrachtete die deutsdie Einheit als schändliches Ziel, das es zu bekämpfen galt. Audi Preußen gab die nationale Doktrin ernste Probleme auf. Z w a r waren die 1 8 1 5 neuerworbenen Gebiete hauptsächlich deutsch im Charakter (Niedersadisen, SchwedisdiPommern, die wichtigen Gebiete östlich und westlich des Rheins); aber die Territorien im Osten, nach den polnischen Teilungen übernommen und vom Wiener Kongreß als preußisch anerkannt, waren nicht nur von höchster strategischer Wichtigkeit, sondern symbolisierten auch den Sieg Preußens über die Slawen in jener Gegend nach jahrhundertelangen Kämpfen. Diese Landstriche verbanden das „Kolonialland" Ostpreußen dem Herzland der Monarchie, sie beherrschten die Mündung der Weichsel und Danziig, und sie wurden vorwiegend von Polen bevölkert. Wenn die Anerkennung der Nationalitätendoktrin und ihre Befürwortung in Deutschland bedeutete, möglicherweise das Risiko eines Verlustes dieser neuerworbenen Länder an ein wiedererstarktes Polen einzugehen, würde sidi kein preußischer Herrscher jener Sache annehmen. Auf Grund ihrer nicht-deutschen Bevölkerungsteile waren Österreich und Preußen gezwungen, sich sowohl auf die Autorität der Dynastie als auch auf die des Staates als Garantien innerer Einheit zu stützen. Persönliche Treue zum Monarchen und Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das von seinen Beamten vertreten wurde, mußten von den Untertanen jeder Nationalität gefordert werden. Und in beiden deutschen Staaten war es für die deutsche Bevölkerung und besonders den Adel 14

Deutschland

1815

sowie die oberen Klassen (die Offiziere und höheren Beamten) leidit, solche Treue zu halten. In Preußens östlichen Provinzen machte dieses System die Preußen zu den Herren der Polen, und überall in Österreich gab es den Deutsch-Österreichern Vorteile über die nicht-deutschen Nationalitätengruppen. Auch führten die nationalen Unterschiede innerhalb der beiden deutschen Großmächte dazu, daß die Regierungen allen Bestrebungen nach einer demokratischen Volksvertretung feindselig gegenüberstanden, die den nicht-deutschen Bevölkerungsteilen die Möglichkeit gegeben hätte, ihre nationalen Belange an den Tag zu bringen und zu fördern. Aber auch die Herrscher in den rein deutschen Staaten wie Bayern, Sachsen oder Mecklenburg waren ¡gleicherweise gegen die liberal-nationale Idee; denn deren Durchsetzung hätte eine Minderung ihrer Autorität und Macht bedeutet (selbst wenn sie ihre Throne behalten hätten), und außerdem war in Österreich und Preußen das Prinzip der Monarchie in einer zutiefst konservativen Ordnung gegründet und wurde von ihr gehalten. Schon seit 1648 hatten die Höfe der zahlreichen deutschen Fürsten den Mittelpunkt des gesellschaftlichen und politischen Lebens gebildet. Der Geburtsadel hatte in Deutschland mehr bedeutet und wurde mehr betont als etwa im vorrevolutionären Frankreich oder in England, wie Madame de Staël bemerkte. Der Adel betrachtete eine Heirat mit Bürgerlichen als „mésalliance" und hielt strikt an den Privilegien fest, die er von der Vergangenheit übernommen hatte. Dodi in den Jahren vor 1 8 1 5 war seine gesellschaftliche und politische Stellung durch die Reformen Steins und Hardenbergs angegriffen worden, durch die staatlichen Zentralisierungstendenzen besonders in Preußen und die Ausbreitung der Klasse höherer Beamter, obwohl allerdings viele von ihnen selbst adlig waren. Andererseits blieb das Offizierskorps fast völlig adlig; es versuchte immer noch, die einflußreichsten Stellen im Rat des Fürsten zu besetzen; und seine gesellschaftliche Vorrangstellung wurde von den unteren Gesellschaftsschichten eingestanden. 15

/. Schaffung

des Deutschen

Reiches 1815—1871

Tatsächlich spielte keine G r u p p e eine wichtigere R o l l e im Deutschland des 1 9 . Jahrhunderts als die preußischen J u n k e r , die Herren des einst slawischen Grundbesitzes östlich der Elbe, der das Rückgrat der preußischen Beamtenschicht und des O f f i zierskorps darstellte."' Sie w a r e n Preußen im Gegensatz zu den deutschen Nationalisten, denn sie w a r e n überzeugt, daß der existierende preußische Staat, monarchisch und undemokratisch, ihre agrarischen

Interessen am

ehesten förderte, und

Stein

w a r ihnen unsympathisch sowohl seiner Idee einer deutschen Einheit

als

auch seiner L a n d r e f o r m e n

wegen.

Es w a r

das

„ J u n k e r p a r l a m e n t " v o n 1848, das eine wichtige Rolle bei der Unterdrückung der R e v o l u t i o n in Preußen im gleichen J a h r spielte; zu dieser Zeit erfreute sich Bismarck ihres Vertrauens, der sich rühmte: „Ich bin ein J u n k e r und w i l l auch Vorteile d a v o n haben." D i e Tatsache, daß sich die Politik dieser G r u p p e v o n persönlichen Vorteilen beherrschen ließ, zeigt sich darin, daß sie einerseits die Übernahme der Eisenbahnen durch den S t a a t unterstützte (weil diese nur so bis in die östlichen Provinzen gelegt würden), w ä h r e n d sie andererseits scharf gegen Bismarck wegen der Auflockerung der „ K r e i s o r d n u n g "

von

1872

zu

Felde zogen. Nicht einmal die Treue zum Thron konnte sie d a v o n abhalten, sich mit Wilhelm I I . wegen seines

„neuen

K u r s e s " zu entzweien. D a s Bürgertum begann sich zahlenmäßig und finanziell zu entwickeln. D o d i noch w a r es im großen ganzen, sowohl durch seine Interessen als auch sein G e f ü h l , an die bestehende O r d nung gebunden und sah seinen Mittelpunkt im H o f . D i e Stadtbevölkerung hatte sich scharf in Klassen gespalten, und sogar in den freien Reichsstädten w a r die Macht in Dingen der Selbstverwaltung in die H ä n d e wohlhabender Erb-Oligarchien übergegangen. I n Preußen und vielen der kleineren Staaten * Der Ausdruck „Junker" („Jungherr") galt ursprünglich den Söhnen adliger Familien jenseits der Elbe, auch als „Fahnenjunker"; im 19. Jahrhundert bezeichneten die Liberalen damit den konservativen Landadel („Junkertum") im allgemeinen.

16

Deutschland 18 li w a r das Recht der Selbstverwaltung, das früher einmal gewonnen worden w a r , durch die Macht des Herrschers ersetzt worden, entweder faktisch oder legal; nur teilweise wurde dieses Recht durch die Städte- und Gemeindeordnung v o n 1808 wieder hergestellt. D e r G r a d der Abhängigkeit einer Stadtbevölkerung v o m H o f kann durch die Analyse der Berliner Bevölkerung v o n 1785 bewiesen werden. V o n 141 000 Einwohnern hing über ein Drittel (57 000) direkt v o m H o f ab, und es gab nur 10 000 richtige „Bürger". Multipliziert man diese Zahlen entsprechend der Vielzahl der deutschen H ö f e , erkennt man, welch ein allgemeines Interesse an der Erhaltung der Fürstenherrschaft die Fürsten sich geschaffen hatten. Auch auf dem Lande, w o 18 i j noch drei Viertel der deutschen Bevölkerung lebte, glichen die Zustände in vielen Gebieten noch denen der Feudalherrschaft. In Preußen büßte das Gesetz

von

1807

zur

Bauernbefreiung

viel

durch

spätere

Interpretationen ein; die Freiheit, die die Bauern bekamen, mußten sie sich buchstäblich unter großen O p f e r n erkaufen. In Österreich und Bayern wurde die Leibeigenschaft erst 1848 „abgeschafft", und auch dann w a r der Emanzipierungsprozeß alles andere als umfassend. D i e Gerichtsbarkeit des Gutsherrn dauerte in den östlichen Provinzen Preußens bis nach 1918 an; obgleich es unter der Bauernschaft des Rheinlandes größere Freiheiten gab, w a r die Gesellschaftsordnung auf dem Lande im allgemeinen doch statischer und klassenbewußter als in den Städten. A b e r auch hier zeigte sich der vorherrschende Einfluß des H o f e s und Adels. So verlor die ideelle Bewegung in Richtung -auf N a t i o n und Liberalismus, die sich während der Befreiungskriege in Preußen geltend gemacht hatte, viel v o n ihrem Antrieb, nachdem der fremde

Eindringling

einmal

verscheucht

worden

war.

Der

Mehrheit des Adels und sogar vielen des Bürgertums wurde der Nationalstaatsgedanke mit seiner Bedrohung der kleinen H ö f e und traditionellen Ordnung der Gesellschaft (und seinen von

2

der Französischen Revolution

Passant

abgeleiteten

einebnenden 17

I. Schaffung

des Deutseben

Reiches

1815—1871

Tendenzen) ebenso zuwider wie dem Souverän selbst. i 8 i j gab es zwar viele Österreicher, Preußen, Bayern usw., aber es gab verhältnismäßig wenig Deutsche. Außerhalb der Universitäten und literarischen Salons gab es nur wenige, die bereit waren, ihre Treue gegenüber dem regierenden Hof der Idee deutscher Einheit unterzuordnen. Und wenn es so wenige nationalbewußte Deutsche gab, so gab es noch weniger Demokraten. Die bestehende Ordnung war in der Hauptsache von dem souveränen Fürsten geschaffen worden, um den sie kreiste. Protestantismus und Katholizismus predigten ohne Unterschied die Pflicht der Unterwerfung unter den Staat. Die Wut der Napoleonischen Kriege hatten einen recht weithallenden Ruf nach einer starken und einigen Nation ausgelöst, die einem zukünftigen Eindringling widerstehen könnte. Doch 1815 und noch viele Jahre danach hielt die Mehrzahl der Deutschen an den bestehenden Autoritäten fest, von denen sie sich Frieden und Sicherheit versprach, und vertraute der Vernunft der Fürsten, die die Interessen der Einzelstaaten ausgleichen und aufeinander abstellen würde zum Schutz sowohl der vagen Größe „Deutschland" als auch des vertrauten und geliebten engeren „Vaterlandes".

Der deutsche

Bund

Es ist daher nicht überraschend, daß die Organisation, die 1815 für „Deutschland" ins Leben gerufen wurde, wenig Vorkehrungen für gemeinsames nationales Handeln traf. Verschiedene Vorschläge wurden in Wien diskutiert, und der Einfluß Hardenbergs, des preußischen Ministers des Auswärtigen, ging von Anfang an darauf, eine Verfassung zu erstreben, die wenigstens einige Ziele der deutschen nationalen Bewegung und auch des Liberalismus befriedigte. Doch der Einfluß Metternichs war zu stark. Die Bundesakte von 181 j verpflichtete zwar die deutschen Herrscher, ihren Untertanen Verfassungen zu geben; aber da die zeitliche Grenze von einem Jahr (die im 18

Deutschland 1815 ersten Textentwurf enthalten war) später fallen gelassen wurde, gab die endgültige Akte dem deutschen Volk — nach Görres — nicht mehr als ein unbegrenztes Recht auf Hoffnungen f ü r die Zukunft. Schließlich erinnerte die Verfassung, die von der Bundesakte geschaffen wurde, nur allzusehr an jene des alten Reiches. Österreich erhielt den ständigen Vorsitz des neuen Bundes; das einzige Regierungsorgan w a r ein Bundestag, der ständig in Frankfurt/M. tagte. Der Bundestag hatte einen engeren R a t von siebzehn Delegierten, mit einem Abgeordneten für jeden der elf größeren Staaten, während die anderen sechs Stimmen zusammen den restlichen gehörten; außerdem gab es eine allgemeine Versammlung oder Plenum von neunundsechzig Mitgliedern, in der jeder Staat wenigstens eine Stimme hatte, während die größeren Staaten vier, drei oder zwei Stimmen erhielten. Im engeren R a t genügte bei Abstimmungen eine einfache Mehrheit, dagegen war im Plenum eine Zwei-DrittelMehrheit notwendig, und sogar diese wurde in der Bundesakte als unzureichend erklärt, wenn „Grundgesetze, . . . organische Bundeseinrichtungen, . . . jura singulorum oder Religionsangelegenheiten" behandelt wurden. D a jeder Abgesandte an die Weisungen seiner Regierung gebunden war, ist es kein Wunder, daß der Bundestag sprichwörtlich f ü r Unfähigkeit und Verzögerung und eher ein Hindernis als eine H i l f e für die Sache der deutschen Einheit wurde. Außerdem umschloß der Deutsche Bund weder alle Gebiete der deutschen Staaten noch waren seine Mitglieder alle deutsch. Österreich und Preußen hielten große Teile ihres Herrschaftsgebietes außerhalb des Bundes (Karte i), um dort ihre Souveränität unabhängig vom Bundeseinfluß zu bewahren. Fremde Monarchen waren Mitglieder des Bundes, so weit er ihre Besitzungen einbezog, z. B. der König von Dänemark für Holstein, der König von England f ü r Hannover (bis 1837), der König von Holland f ü r Luxemburg. So w a r der Bund kaum nationaler und kaum politisch stärker als das Reich, das 2*

19

I. Schaffung des Deutschen Reiches

20

1815—1871

Österreichs Vorherrschaft

1815—1858

Karten 2 und 3. Deutsche Kleinstaaten 1815 (nadi einer zeitgenössischen Karte). Die untere Karte ist eine Vergrößerung des quadratischen Ausschnittes in der oberen Karte. 1 Kaiserreich Österreich; 2 Königreich Preußen; 3 Königreich Bayern; 4 Königreich Sachsen; 5 Königreich H a n n o v e r ; 6 Königreich Württemberg; 7 Großherzogtum Baden; 8 Kurfürstentum Hessen-Kassel; 9 Großherzogtum Hessen-Darmstadt; 10 Herzogtümer Holstein und Lauenburg (zum Königreich Dänemark); 11 Großherzogtum Luxemburg (zum Königreich der Niederlande); 12 Herzogtum Braunschweig; 13 Großherzogtum Mecklenburg (M.-Schwerin und M.-Strelitz); 14 Herzogtum Nassau, Fürstentum Nassau-Weilburg; 15 Großherzogtum Sachsen-Weimar; 16 Herzogtum Sachsen-Gotha; 17 Herzogtum Sachsen-Koburg; 18 Herzogtum Sachsen-Meiningen; 19 Herzogtum Sachsen-Hildburghausen; 20 Großherzogtum Oldenburg; 21 Herzogtümer Anhalt-Dessau, Anhalt-Bernburg, Anhalt-Kothen; 22 Fürstentum Schwarzburg; 23 Fürstentum Hohenzollern; 24 Fürstentum Liechtenstein; 25 Fürstentum Waldeck; 26 Fürstentum Reuß; 27 Fürstentümer Lippe-Detmold und Schaumburg-Lippe; 28 Landgrafschaft Hessen-Homburg; 30 Freie Stadt Bremen; 31 Freie Stadt F r a n k f u r t ; 32 Freie Stadt H a m b u r g ; 33 Freie Stadt Lübeck. Napoleon 1806 zerstört hatte. E r konnte nur dann handeln, wenn der Einfluß einer der zwei deutschen Großmächte auf die anderen Mitglieder vorherrschend wurde, oder wenn beide gemeinsam handelten (Karten 2 und 3). ÖSTERREICHS VORHERRSCHAFT l 8 l j — l 8 j 8

Die erste Phase der 18if

Reaktion

schien Metternich einigen Grund zu haben, die Mög-

lichkeit nationaler und liberaler Bewegungen in den deutschen Staaten

zu fürchten. Neben dem Versprechen

verfassungs-

mäßiger Regierung in der Bundesakte hatten einzelne deutsche Herrscher ihren Untertanen nicht nur selbst Versprechen gegeben, sondern diese sogar zu erfüllen begonnen (wenn audi nur in wenigen Fällen). So erhielten Sachsen-Weimar ( 1 8 1 6 ) , Württemberg ( 1 8 1 9 ) , Bayern ( 1 8 1 8 ) , Baden ( 1 8 1 8 ) Verfassungen, die mehr oder weniger repräsentativen Körperschaften gewisse Rechte verliehen, wenn auch in keinem Fall Regierungsgewalt; Friedrich Wilhelm III. hatte mehr als einmal und

21

I. Schaffung des Deutschen Reiches 1815—1871 besonders eindrucksvoll 1 8 1 4 Volksvertretungen für Preußen versprochen. Audi Alexander von Rußland stand nodi immer unter dem Einfluß liberaler Ideen und hatte dem polnischen Königreich, das seit dem Wiener Vertrag zu Rußland gehörte, eine Verfassung zugebilligt. D a Rußland nach 18 i j ohne Zweifel die stärkste Militärmacht auf dem Kontinent war, kam der H a l tung des Zaren größte Wichtigkeit zu. Die in der Bundesakte getroffenen äußerst begrenzten Vorkehrungen f ü r gemeinsames Handeln aller deutschen Staaten brachten Proteste von Schriftstellern wie Görres ein, dem Herausgeber des Rheinischen Merkur und Verfasser einer Arbeit zur zukünftigen deutschen Verfassung ( 1 8 1 6 ) ; die Sehnsucht nach größerer nationaler Einheit bewegte viele der jüngeren Generation, besonders der Studenten. 18 i j gründeten einige Studenten an der Universität Jena die Burschenschaft, deren Ziele patriotischer und vor allem liberaler Natur waren. 1 8 1 7 führte das Wartburg-Fest der Dreihundertjahrfeier der Reformation und der Erinnerung an den Sieg über Napoleon bei Leipzig zur Gründung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft. Indem die Studenten mit den älteren studentischen Organisationen, die an Fürstentreue gebunden waren, brachen und eine Nationalbewegung zu bilden suchten, forderten sie Metternich geradezu heraus. Auch hatten sie auf der Wartburg Symbole der Reaktion verbrannt, u. a. ein Buch zur deutschen Geschichte von Kotzebue, der gelegentlich in russischen Diensten gestanden hatte. Als Kotzebue dazu 1 8 1 9 von einem Mitglied der Burschenschaft, K a r l Sand, ermordet wurde, ergriff Metternich die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte, die Reaktion in Bewegung zu bringen. Sogar Hardenberg gab nun zu, daß eine preußische Verfassung unmöglich geworden war, und Metternich zögerte nicht, aus der Lage seinen Vorteil zu ziehen. 1 8 1 9 war auch Alexanders Liberalismus im Abklingen begriffen, und Kotzebues Ermordung unterstützte seinen Über22

Österreichs Vorherrschaft

1815—1858

tritt zur Reaktion. Metternich war daher in der Lage, seine Überredungskünste auf Friedrich Wilhelm III. von Preußen auszudehnen, ohne einen Gegendruck von Alexander zu fürchten. Er fand eine leichte Aufgabe vor. Friedrich Wilhelm bedauerte bereits die Versprechungen an seine Untertanen; er wurde nicht nur von seiner zunehmend stärker werdenden Neigung zu Repressalien dominiert, sondern auch von den ultra-konservativen Feudalen am Hof. Im März 1818 hatte er in einer Kabinettsorder verkündet, daß die Zeit für weiters Verfassungsreformen noch nicht gekommen sei. Jetzt, nachdem er sich mit Metternich im Juli 1 8 1 9 zu Teplitz getroffen hatte, instruierte er seinen Kanzler Hardenberg, mit dem österreichischen Minister die nötigen Maßnahmen zur Verhinderung des Ausbreitens revolutionärer Gedanken und Praktiken in Deutschland abzustimmen. Die beiden Großmächte trafen sich unter Metternichs Führung in Karlsbad (August 1819) und versicherten sich der Zustimmung der größeren Staaten zu einer Reihe von Unterdrückungsdekreten, die ihre Ziele darstellten; auf diese Weise erreichten sie die einhellige Zustimmung des Bundestags, diese Dekrete als solche des Bundes zu veröffentlichen. Die Karlsbader Beschlüsse besiegelten die Vorherrschaft Österreichs und der Reaktion in Deutschland für die nächsten dreißig Jahre. Erst im Revolutionsjahr 1848 wurden diese Einflüsse ernstlich erschüttert, und obgleich Metternich 1848 stürzte, folgte doch noch eine weitere reaktionäre Periode unter Österreichs Führung (1850—1858). Während jener dreißig Jahre wurden alle deutschen Staaten Polizeistaaten (wenn sie es nidit schon vorher gewesen waren). Presse und Erziehung wurden streng kontrolliert. Patriotische Professoren, die nationale Einheit verlangten, wurden von ihren Lehrstühlen vertrieben. Die Burschenschaft hatte keinen ernsthaften Einfluß mehr und wurde bald zu einer Replik jener Trink- und Duellierkorps, die die älteren Landsmannschaften im frühen neunzehnten Jahrhundert abgelöst hatten. Die Hoffnung auf 23

I. Schaffung des Deutschen Reiches

1815—1871

nationale Einheit und Volksvertretung in einer alldeutschen Versammlung lebte weiter in einigen K ö p f e n und w u r d e nach 1 8 4 0 allgemein wiedererweckt. A b e r die Leichtigkeit, mit der die K a r l s b a d e r Beschlüsse akzeptiert und in die T a t umgesetzt wurden, sogar in den „liberalen" süddeutschen Staaten, zeigt, wie schwach doch eigentlich der Wunsch nach Freiheit in den Deutschen und wie stark das Prinzip monarchischer Autorität war. Indem sich Friedrich Wilhelm v o n Preußen mit Kaiser F r a n z und Metternich verbündete, machte er es seinen Untertanen klar, daß er nicht die Absicht hatte, liberale Einrichtungen oder eine parlamentarische Regierungsform innerhalb der preußischen Monarchie zu dulden. D i e Provinzialstände, die schließlich 1 8 2 3 hauptsächlich auf Betreiben einer altpreußischen Gruppe, auf Wahrung der alten Privilegien bedacht, zusammengerufen worden waren, hatten ein Übergewicht an Vertretern des A d e l s ; als Vertreter der Städte wurden nur städtische Landbesitzer zugezogen; und die Bauernschaft w a r hoffnungslos in der Minderheit. Diese Provinzialstände hatten keine gesetzgebende Macht, obwohl sie gegenüber der P r o v i n zialverwaltung das R e d i t hatten, Vorschläge zu unterbreiten, die dem K ö n i g weitergeleitet wurden, der sie entweder annehmen oder ablehnen konnte. A b e r ihre H a u p t f u n k t i o n e n beschränkten sich auf K o m m u n a l f r a g e n , und keine V o l k s vertretung f ü r ganz Preußen w u r d e ins Leben gerufen. Erst 1 8 4 7 sollte es so etwas geben. Es existierte also keine spürbare Entwicklung eines Verfassungsgedankens. Auch hörte Preußen bis zum T o d e Friedrich Wilhelm I I I . 1 8 4 0 fast a u f , als G r o ß macht zu zählen, weil es seine Politik ganz der österreichischen untergeordnet hatte. D i e Periode des sogenannten Dualismus in der deutschen F r a g e w i r d besser die der österreichischen F ü h rerschaft genannt.

Die Revolution von i8jo und die zweite Phase der Reaktion 1 8 3 0 brachen in Frankreich und Polen Revolutionen aus; es gab A u f s t ä n d e in Italien, im Kirchenstaat sowie in M o d e n a und 24

Österreichs Vorherrschaft

1815—1858

P a r m a . I n jedem einzelnen F a l l wurden diese Bewegungen v o m Nationalgedanken und Liberalismus zusammen inspiriert. Diese Ereignisse blieben f ü r Deutschland nicht ohne Folgen. In Hessen-Kassel und Braunschweig setzte man 1 8 3 1 und 1 8 3 2 verhältnismäßig liberale Verfassungen durch, und der Thronbesteigung Wilhelms I V . in E n g l a n d folgte in H a n n o v e r die A n n a h m e einer sehr konservativen Verfassung, die von dem Historiker D a h l m a n n entworfen worden w a r . Allerdings: Die Herrscher v o n Hessen-Kassel und Braunschweig w a r e n derart egoistisch, korrupt und geizig, daß sogar Metternich und der Deutsche Bundestag gewisse Beschränkungen ihrer Macht über die unglücklichen Untertanen schlechterdings nicht mißbilligen konnten; und die Entwicklung in H a n n o v e r , das noch dem englischen K ö n i g unterstand, w a r eine zwangsläufige Folge der Annahme der „ R e f o r m B i l l " v o n 1 8 3 2 . Metternichs Politik w u r d e durch die Revolutionen v o n 1 8 3 0 nicht erschüttert, im Gegenteil, sie w u r d e gestärkt. I n Italien griffen österreichische Truppen ein, um die päpstliche Kontrolle über den Kirchenstaat wiederherzustellen und die Freiheitsbewegungen in Modena und P a r m a zu unterdrücken. I m Osten mobilisierte Preußen einen Teil des Heeres, um die preußischrussische Grenze in Polen zu überwachen; es wies einen H i l f e ruf polnischer Aufständischer zurück und internierte die polnischen Truppen, die nach der Niederlage durch die Russen auf preußisches Gebiet übergewechselt w a r e n . Z u d e m unterzeichneten R u ß l a n d , Preußen und Österreich 1 8 3 3 den Vertrag v o n Münstergrätz, in dem R u ß l a n d und Österreich sidi gegenseitig ihre polnischen Besitztümer garantierten. D i e G e f a h r liberalnationaler Revolutionen verstärkten die B a n d e zwischen den autokratischen Mächten, und bis zum Revolutionsjahr v o n 1848 stellten alle drei Mächte eine geschlossene Front gegen die Ausbreitung liberaler Ideen oder Einrichtungen innerhalb ihrer Herrschaftsgebiete dar. Innerhalb des Deutschen Bundes wurden gleichfalls die Ereignisse v o n 1 8 3 0 und der folgenden J a h r e durch Österreich und 25

I. Schaffung des Deutschen Reiches 1815—1871 Preußen ausgenutzt, um den Unterdrückungsapparat zu stärken. 1 8 3 1 erneuerte die Burschenschaft ihre politische Tätigkeit und hielt 1 8 3 2 in der bayerischen P f a l z das Hambacher Fest ab. Unter dem schwarz-rot-goldenen Banner der Burschenschaft — dem späterem Symbol der liberal-nationalen Bewegung und der Weimarer Republik — wurden Reden für freie Einrichtungen und internationale Verbrüderung gehalten. Polnische und französische Revolutionäre von 1830 nahmen teil. A n sich hätte diese Demonstration jeder starken Regierung harmlos scheinen müssen, aber f ü r Österreich und Preußen bedeutete sie Revolutionsgeist, und beide Staaten entschieden sich f ü r weitere Unterdrückungsmaßnahmen. Metternich und Ancillon, der preußische Minister des Auswärtigen (seit 1832), entwarfen mit der Billigung ihrer Monarchen sechs Artikel, die die Kontrolle des Bundestages über die inneren Angelegenheiten der deutschen Staaten wesentlich vergrößerte und deren Herrscher verpflichtete, gegenüber dem Liberalismus keine Zugeständnisse zu machen. Die Könige von Bayern und Württemberg wurden überredet, die sechs Artikel zu unterstützen, welche dann vom Bundestag in Frankfurt angenommen wurden. Zusätzlich wurden weitere Unterdrückungsmaßnahmen beschlossen: öffentliche Versammlungen und Revolutionsabzeichen wurden verboten, verdächtige Politiker unter Überwachung gestellt, Edikte zur Kontrolle von Universitäten und Presse erneuert und Herrschern H i l f e versprochen, die von Revolutionsbewegungen bedroht wurden. Der Bundestag, den Metternich 1 8 1 5 als mögliches Werkzeug deutschen Nationalgefühls und Liberalismus' unter preußischer Führung gefürchtet hatte, w a r jetzt auf Grund der österreichisch-preußischen Allianz zu einem Werkzeug antinatiionaler und anti-liberaler Politik geworden. Daher verlor er in den Augen aller auf nationale Einheit und freie Einrichtungen hoffenden Deutschen jedes Ansehen. So lange sich Preußen mit Österreich zu Unterdrückungsmaßnahmen zusammentat, gab es keinen anderen Ausweg, als die national26

Österreichs

Vorherrschaft

1815—1858

liberalen Ziele durch organisierten Volksaufstand zu verwirklichen. N o d i sechzehn Jahre Lang, von 1 8 3 2 bis 1848, gelang es Metternich, sein System am Leben zu halten; oberflächlich gesehen schienen die deutschen Staaten während der dreißiger Jahre eher intoleranter als liberaler zu werden. In HessenKassel wurde die neue Verfassung durch den Kurprinzen und seinen verhaßten Minister Hassenpflug ( 1 7 9 4 — 1 8 6 2 ) zur Wirkungslosigkeit verurteilt. 1837 kam durch die Thronbesteigung Königin Viktorias ihr Onkel, Ernst August, Herzog von Cumberland, auf den Thron von Hannover, und er erklärte sofort die Verfassung von 1833 f ü r null und nichtig, da er für sie nicht mitverantwortlich gewesen war. Der Historiker Dahlmann und sechs seiner Kollegen von der Universität Göttingen protestierten und verloren daraufhin ihre Professuren. In Bayern trat König Ludwig in das reaktionäre Lager über, und sein Minister K a r l von Abel ( 1 7 8 8 — 1 8 5 9 ) setzte die Unterdrückungspolitik mit Schärfe durch. N u r in Baden, Württemberg und Sachsen erhielt sich in den Jahren 1830 bis 1840 ein gewisser begrenzter Liberalismus. Die nationale Einheitsbewegung

1840—1848

Nach 1840 setzte ein Wandel ein. A m 7. Juni dieses Jahres starb Friedrich Wilhelm I I I . ; ihm folgte sein unstäter Sohn Friedrich Wilhelm IV., dem der letzte deutsche Kaiser so sehr ähnelte. Der Tod des alten Königs, dem man aus Hochachtung viele Forderungen nicht hatte stellen wollen, erzeugte in ganz Preußen eine Atmosphäre der Erwartungsfreude. Endlich glaubte man, die preußische Regierung würde jetzt eine liberalere, nationalere und von Österreich unabhängigere Politik verfolgen. Diese Hoffnungen wurden durch die Maßnahmen des neuen Königs noch erhöht. Arndt, der in Prosa und Poesie das Verlangen nach nationaler Einheit verkündet hatte, erhielt seine Professur in Bonn zurück; Dahlmann erhielt dort bald 27

I. Schaffung des Deutschen Reidies 1815—1871 einen Lehrstuhl, und die Brüder Grimm, die mit ihm zusammen aus Göttingen vertrieben worden waren, erhielten Berufungen nach Berlin. Hermann von Boyen ( 1 7 7 1 — 1 8 4 8 ) , Veteran der Befreiungskriege, wurde wieder zum Kriegsminister ernannt; dieses Amt hatte er zur Zeit der Karlsbader Beschlüsse aufgeben müssen. Kein Wunder, daß jetzt die liberal-nationalen K r ä f t e in Preußen annahmen, eine neue Ä r a hätte begonnen. Zur gleichen Zeit erhielt der deutsche Nationalismus einen doppelten Antrieb. Schwierigkeiten mit Frankreich führten in der französischen Presse und Abgeordnetenkammer zu Drohungen gegen das Rheinland und regten als Antwort die zwei berühmten Lieder an: Beckers „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein" und Schneckenburgers „Die Wacht am Rhein". Die Krise in den Beziehungen zu Frankreich ging bald vorüber, aber der Enthusiasmus für deutsche Einheit wuchs und erhielt neuen Antrieb durch die problematisch werdenden Beziehungen der Herzogtümer Schleswig-Holstein zur dänischen Krone. Die Schleswig-Holstein Frage. 1839 hatte Christian V I I I . den dänischen Thron bestiegen, und es war bekannt, daß eine starke Partei den neuen König drängen würde, die Personalunion der zwei Herzogtümer mit Dänemark in eine völlige Vereinigung mit dem dänischen Staat umzuwandeln. Holstein war Mitglied des Deutschen Bundes, Schleswig nicht. Die Bevölkerung Holsteins war fast gänzlich, die Schleswigs überwiegend deutsch in Sprache, Eigenart und Anschauung. Die Herzogtümer bestanden auf ihrer Unzertrennlichkeit und wollten darüber hinaus auch Schleswig dem Deutschen Bund angliedern. In den Herzogtümern und in Norddeutschland wudis seit 1839 die Agitation gegen die dänischen Pläne. Kritisch wurde die Lage erst beim Tode Christians V I I I . im Januar 1848 (sie wird weiter unten besprochen). Aber die Ohnmacht und Tatenlosigkeit des Bundestags bei der Beschäftigung mit dem möglichen und sogar wahrscheinlichen Verlust zweier 28

Österreichs Vorherrschaft

1815—1858

„deutscher" Provinzen trug wesentlich zum Anwachsen der Bewegung f ü r nationale Einigkeit zwischen 1 8 4 0 und 1848 bei. 1 8 4 6 nahm der Bundestag einen Entschluß an, der dänische K ö n i g möge die Redite des Bundes und Holsteins respektieren; aber es w u r d e auch an die deutschen Staaten appelliert, den patriotischen Enthusiasmus ihrer Untertanen zu zügeln. U n d selbst dieser spärliche Protest erfolgte erst vier J a h r e nach dem „offenen B r i e f " des Dänenkönigs, in dem f ü r Schleswig das gleiche Erbfolgerecht w i e f ü r das übrige dänische K ö n i g reich beansprucht wurde. Angesichts der lauen H a l t u n g Österreichs und der militärischen Ohnmacht des Bundes gab es wenig H o f f n u n g auf wirksame Intervention, falls der dänische K ö n i g (der sich der Unterstützung Rußlands und Frankreichs erfreute) die Herzogtümer der dänischen Monarchie eingliedern würde. Schleswig-Holstein w u r d e f ü r viele Jahre, schreibt Erich Mareks, das S y m b o l aller deutschen Übel, die blutende Wunde, die die N a t i o n ohne A u f h ö r e n schmerzte, der schärfste Stachel im geistigen Widerstand und im neuen Willen zur Einheit. D i e hauptsächlichste innere K r a f t , die in dieser Zeit zur nationalen Einheit trieb, w a r ein erstarkendes gebildetes Bürgertum, das in freien Berufen, in Industrie und H a n d e l tätig w a r und dem die politische und gesellschaftliche Teilung Deutschlands ebenso sinnlos wie hinderlich w a r . D e r Zollverein unter preußischer Führung trug v o n 1 8 3 4 an zum Verlangen nach noch engerer nationaler Einheit bei. Allein seine Lückenhaftigkeit und das problematische Verhältnis Österreichs zu ihm gaben Gelegenheit, über die endgültige Form deutscher Einheit nachzudenken. 1 8 4 1 erschien Friedrich Lists „ N a t i o n a l e s System der politischen Ö k o n o m i e " , das den Nationalstaat als natürliche Einheit der Wirtschaftsproduktion betrachtete und die E i n führung hoher Schutzzölle zum Zwecke der Förderung deutscher Industrien befürwortete. D i e Partikularinteressen der deutschen Herrscher, nicht zuletzt der Österreichs und Preußens, zusammen mit dem Einfluß Englands führten dazu, daß das nationale deutsche Bürgertum

29

I. Schaffung des Deutschen Reiches 1815—1871 seine Forderungen nach deutscher Einheit mit solchen nach freier Volksvertretung, also einem deutschen Parlament, verband. N u r eine umgreifend nationale Bewegung, die zu einer echten Vertretung des gesamten Volkes führte, konnte — so glaubte man — das Zögern der deutschen Herrscher überwinden, Teile ihrer Souveränität zu opfern. Schon 1839 wurden Treffen von Abgesandten verschiedener deutscher Staaten zum Zwecke der Diskussion gemeinsamer Probleme abgehalten. Im Herbst 1847 trafen sich radikale Politiker aus verschiedenen Staaten in Offenburg und gemäßigtere Liberale in Heppenheim, um Programme zu entwerfen. Die „Deutsche Zeitung" wurde in Heidelberg herausgegeben; sie drückte die Ansichten der gemäßigteren Liberalen aus. Der Ursprung der späteren National-Liberalen Partei ist hier zu sudien. Die liberal-nationale Flut stieg. Die von Metternich gebauten Dämme und Deiche wurden bedroht, und weder Österreich noch Metternich selbst konnten dagegen etwas tun. Seit dem Tode des Kaisers Franz (1835) entwickelte sich auf Grund der Schwäche seines Nachfolgers Ferdinand eine scharfe Rivalität zwischen Metternich und den anderen österreichischen Ministern; das Resultat war, daß Österreich kaum noch eine einheitliche Regierung hatte — nur noch eine Reihe verschiedener Ministerien. In dieser Lage und noch dazu von nationalen Bewegungen in den nicht-deutschen Gebieten bedroht, w a r es Österreich unmöglich, der deutschen Einheit nachzugehen; es konnte audi nicht von den deutschen Liberal-Nationalen als Ausgangspunkt eines vereinten Deutschland, nach dem sie sich sehnten, betrachtet werden. Doch konnte kein deutscher Patriot, besonders wenn er katholisch war, ohne schlechtes Gewissen eine Lösung des Problems deutscher Einheit ins Auge fassen, bei der die Deutschen Österreichs ausgeschlossen würden. N u r aus Gründen praktischer Notwendigkeit und auf Kosten der Vaterlandsliebe dachten einige Deutsche an eine „kleindeutsche" Lösung ohne Österreich statt an eine „großdeutsche"; denn das 30

Österreichs

Vorherrschaft

1815—1858

letztere war wegen des heterogenen Charakters der habsburgischen Gebiete unmöglich. Preußen und die nationale Bewegung. Zwischen 1830 und 1848 wandten sich also die Gedanken der Deutschen, die Einheit ersehnten, in Richtung Preußen als ihrem naturgemäßen Führer. Obgleich Preußens Politik nicht weniger egoistisch oder reaktionär als die Österreichs gewesen war, war der preußische Staat „deutscher" als sein südlicher Rivale. Preußen hielt an Weichsel und Njemen gegen die Slawen Wacht, am Rhein gegen Frankreich. Seine Regierung, wenn auch autokratisch, war wenigstens tüchtig, und seine Beamten verdienten durch ihre Gründlichkeit und Ehrlichkeit immerhin ein gewisses Maß an Hochachtung, wenn sie auch unbeliebt waren. Auf preußischem Gebiet, besonders in Schlesien und im Rheinland, gingen einige der größten industriellen Entwicklungen vor sich, wie es auch Preußen und speziell seine Beamtenschaft gewesen waren, die den Zollverein geschaffen hatten und ihn unterhielten. Jetzt, nach 1840, schienen die Handlungen des neuen Königs eine freisinnigere Politik zu versprechen und die Erfüllung der Versprechen seines Vaters für eine Verfassung in Aussicht zu stellen. Wenn sich nur diese Hoffnungen als begründet erweisen sollten, könnte ein liberales Preußen mit Hilfe der Nation ein vereintes liberales Deutschland schaffen, selbst gegenüber der Opposition Metternichs und der deutschen Fürsten. Die Ereignisse sollten bald die Nichtigkeit dieser Hoffnungen zeigen. Friedrich Wilhelms IV. Ansichten zur Regierungsführung entsprangen einem unhistorischen, mystischen Feudalismus. Er hielt sich streng an das Gottesgnadentum, und seine Vorstellung eines geeinten Deutschland lief auf ein wiederbelebtes Heiliges Römisches Reich hinaus, in dem der Kaiser von Österreich den Ehrenvorsitz führen und der König von Preußen sein Stellvertreter sein würde. Was die Einzelheiten eines vereinten Deutschland betraf, so hatte Friedrich Wilhelm darüber keine klaren Ideen, aber er war ebenso gegen jeden 31

l. Schaffung des Deutschen Reiches

1815—1871

Versuch zur Ausschließung Österreichs wie gegen jede Konzession in Sachen Volkssouveränität. Doch war das Verlangen nach einer Verfassung für das gesamte Gebiet der Monarchie so stark, daß Friedrich Wilhelm 1842 Ausschüsse der Provinzial-Landtage nach Berlin berief; aber es stellte sich heraus, daß diese Maßnahme alles andere als ausreichend war. 1847 gab er daher gegen den R a t Metternichs und seines Bruders und Erben Wilhelm, des Prinzen von Preußen (des künftigen ersten deutschen Kaisers), eine Kabinettsorder heraus, in der er einen „Vereinigten Landtag" gebildet aus den Provinzial-Landtagen für April nach Berlin einberief. Friedrich Wilhelm eröffnete die Sitzung selbst, und um seine Absichten völlig klar zu machen, erklärte er: „ . . . daß ich es nun und nimmermehr zugeben werde, daß sich zwischen unseren Herr Gott im Himmel und dieses Land ein beschriebenes Blatt, gleichsam als eine zweite Vorsehung, eindränge, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren." Die dem Vereinigten Landtag gewährten Rechte waren äußerst beschränkt, und als er im Juni 1847 geschlossen wurde, war die Meinung im Lande allgemein die, daß des Königs Vorstellungen völlig unzureichend waren, die Frage der Verfassung zu lösen. A m Vorabend des großen Revolutionsjahrs war Preußen von verfassungsmäßiger Regierung noch zu weit entfernt, um zum Führer der liberal-nationalen Bewegung in Deutschland zu werden. Die Revolutionen

von 1848 und die dritte Phase der

Reaktion

Die weit verbreitete Unzufriedenheit mit den bestehenden Regierungsformen der einzelnen deutschen Staaten und des Bundes zeigte sich mit überraschender Plötzlichkeit im Frühling des Jahres 1848. A m 22. Februar bradi in Paris eine Revolution aus, und innerhalb weniger Wochen gab es in fast allen deutschem Staaten Aufstände. A m 1 3 . März trat Metternich zurück und mußte Wien heimlich verlassen, um nach England zu fliehen, während seine Nachfolger Österreich eine demokra32

Österreichs

Vorherrschaft

1815—1858

tische Verfassung versprachen. Am 18. März versprach Friedrich Wilhelm IV. seinem Volk sowohl eine liberale Verfassung als auch eine Reform des Bundes unter preußischer Führung. In den Monaten März und April trafen Baden und Württemberg, Bayern und Sachsen, Hannover und Hessen und die Hansestädte durchgreifende verfassungsmäßige Änderungen in liberaler Richtung. Außerdem gab der Bundesrat seine Zustimmung zu einer Reform der Bundesverfassung selbst, und die Regierungen von Österreich und Preußen sowie die der kleineren Staaten erlaubten ihren Bürgern sowohl an den vorbereitenden Treffen deutscher Liberaler in Frankfurt zum „Vorparlament,, (bei dem die Schritte zu einer Reform der Verfassung besprochen wurden) teilzunehmen, als auch Abgeordnete zur Nationalversammlung des deutschen Volkes in Frankfurt imi Mai zu wählen. Während weniger kurzer Monate schien es, als wäre das liberal-nationale Goldene Zeitalter gekommen, und als würde Deutschland fast ohne Blutvergießen nationale Einheit ,und eine auf demokratischer Grundlage gewählte Regierung in einem echten Bundesstaat sowie in den Einzelstaaten genießen. Doch bis i 8 j o waren die Zugeständnisse, die die deutschen Herrscher ihren Untertanen gemacht hatten, fast überall zurückgenommen. Die Einheitsbewegung war zusammengebrochen und die Nationalversammlung war aufgelöst worden. Zum Teil waren dafür die Uneinigkeit und die Unerfahrenheit der Politiker schuld. Aber im Grunde war es die Stärke jener oben beschriebenen konservativen Kräfte, welche die Hoffnungen des deutschen Liberalismus zerstörte. Revolution und Reaktion in Österreich. Im österreichischen Reich brachen mehrere Revolutionen gleichzeitig aus. Die italienischen Provinzen traten unmittelbar der italienischen Nationalbewegung bei; und als sie der König von Sardinien unterstützte, stand Habsburg nicht nur rebellischen Untertanen, sondern auch einer ausländischen Macht gegenüber. Die Tatsache, daß Radetzky und viele der besten österreichischen 33 3

Passant

I. Schaffung

des Deutschen

Reiches

1815—1871

Truppen bis zum Sieg bei Novara im März 1849 in Italien standen, erklärt vieles von dem, was 1848 in Wien geschah. Hier war, nach anfänglichen Zugeständnissen durch die kaiserliche Regierung im März, eine Verfassung im Namen des Kaisers für die gesamte Monarchie im April veröffentlicht worden, die ein Parlament mit zwei Kammern ins Leben rief, dem die Minister verantwortlich waren. Unter dem Druck der Revolutionäre wurden im Mai sowohl der vorgeschlagene Reichstag als auch die Wahlgesetze im demokratischen Sinne revidiert; am 17. Mai flohen der Kaiser und seine Familie nach Innsbruck. Einige Monate lang war ein Ausschuß von Studenten und Nationalgarde praktisch die einzige Regierung in Wien, bis der Reichstag am 22. Juli zusammentrat und über die Verfassung zu beraten begann. Aber der Ausbruch von Revolten in Ungarn und Böhmen und die Streitigkeiten zwischen den Nationalitäten des Reiches gab der kaiserlichen Regierung die Möglichkeit, die Kontrolle wiederzugewinnen. Prinz Windischgrätz (1787—1862) wurde, nachdem er einen Aufstand in Prag im Juni 1848 unterdrückt hatte, zum Kommandierenden aller kaiserlichen Truppen außerhalb Italiens ernannt und setzte das Heer auf Wien in Marsch, das er am 31. Oktober besetzte; er verhaftete die demokratischen Führer, von denen vierundzwanzig hingerichtet wurden. Sein Schwager Prinz Felix Schwarzenberg (1800—1852), ein entschiedener Vertreter der Autokratie, wurde jetzt an die Spitze des Ministeriums berufen. Dem Reichstag wurde gestattet, noch einige Zeit weiter zu debattieren, nachdem er in die Kleinstadt Kremsier in Böhmen verlegt worden war. Am 2. Dezember 1848 dankte jedoch Kaiser Ferdinand ab, ihm folgte der achtzehnjährige Franz Joseph auf den Thron. Am 7. März 1849 wurde der Reichstag aufgelöst, und Schwarzenberg veröffentlichte, allein im Namen des neuen Kaisers, eine Verfassung für die gesamte Monarchie. Am 23. März wurden die italienischen Rebellen und ihre Sardinischen Verbündeten entscheidend bei Novara besiegt, und noch vor Ende August wurde der 34

Österreichs

Vorherrschaft

1815—1858

Aufstand in Ungarn unter Kossuths Führung durch die gemeinsame Aktion der österreichischen und russischen Heere zersdilagen. Jetzt, da die Ordnung wiederhergestellt war, wurde die Verfassung als verfrüht betrachtet und durch Dekret im Dezember 1851 abgeschafft. Gleichzeitig setzte Schwarzenberg alle seine Energien ein, um die alte Ordnung im Deutschen Bund und seinen Mitgliedstaaten wieder einzuführen. Revolution und Reaktion in Preußen. Hier hatte der König, wenigstens im Augenblick, seine Zustimmung zur Sache der nationalen Einheit gegeben: er hatte im März 1848 Zugeständnisse an die Berliner Bevölkerung gemacht, den durch seine Truppen erschossenen Berlinern eine Geste der Achtung erwiesen, war in theatralischer Prozession durch die schwarzrot-gold bedeckten Straßen gezogen und hatte Reden gehalten, in denen er erklärte, daß er deutsche Freiheit und deutsche Einheit wollte und Preußen in Deutschland aufgehen sollte. Aber Friedrich Wilhelms Gefühle waren unbeständig und sein Wille unentschieden, während die preußische Militärkaste entschlossen war, den Staat vor einer demokratischen Regierung und gleichzeitig vor dem Aufgehen in einem demokratischen Deutschland zu bewahren. Das Schicksal Preußens und Deutschlands hing von der Stärke, Einheit und Handlungsfähigkeit der liberalen Kräfte in der preußischen Nationalversammlung und der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt ab. Unglücklicherweise waren die Liberalen sowohl in Berlin als auch in Frankfurt uneinig, und weder hier noch dort kam es zu schnellem Handeln. Man ließ sich zu längeren Verfassungsberatungen nieder, und in diesen Monaten ging die Chance der liberal-nationalen Bewegung vorüber. Obgleich in Preußen auf der Basis des Männerwahlrechts am 22. Mai eine Nationalversammlung zusammentrat und ein liberales Ministerium, in dem zwei rheinische Industrielle die Hauptpersonen waren, gebildet wurde, gaben doch die langen Debatten zu einer künftigen Verfassung den preußischen Konservativen Zeit, sich zu organisieren. Im August wurde bei 3»

35

l. Schaffung des Deutschen Reiches 181}—1871 einem Treffen preußischer Konservativer, hauptsächlich Adliger und Landbesitzer (dem sogenannten „Junkerparlament"), an dem Bismarck teilnahm, ein Bund mit dem Ziel gegründet, die Auflösung der preußischen Nationalversammlung zu verlangen, wenn notwendig auch durch Waffengewalt. Im Oktober, während die Versammlung ihre Debatten fortsetzte, waren der König und seine konservativen Ratgeber, unterstützt durdi das Heer, zum Handeln bereit. Am 31. Oktober entließ der König seine liberalen Minister und ersetzte sie durch ein völlig konservatives Kabinett, mit Otto von Manteuffel (1805—1882) als Minister des Inneren, später (November i8jo) auch des Äußeren und schließlich als Ministerpräsident. Am 9. November wurde die Nationalversammlung davon benachrichtigt, daß sie nach Brandenburg verlegt werde. Am nächsten Tag besetzte General Wrangel Berlin und löste die Bürigerwehr auf. Als das „Rumpfparlament" in Brandenburg zusammenkam, erhielt es am j. Dezember ein Dekret über seine eigene Auflösung; eine sehr begrenzte Verfassung wurde dem Volk vom König „aufoktroyiert". Sogar diese Verfassung war dem König nicht konservativ genug, und im Mai 1849 wurde die Wahlgesetzgebung durch die Einführung des berühmten Dreiklassenwahlrechts geändert, das bis in die letzten Tage des Jahres 1918 hinein erhalten blieb. Friedrich Wilhelm IV. konnte nur sehr schwer durch seine Minister überredet werden, den Eid auf die Verfassung abzulegen, und bis 1852 während der Hochflut der Reaktion wurde sie weiterhin in konservativer Richtung modifiziert. Die Frankfurter Nationalversammlung. Der Versuch der liberal-nationalen Bewegung, die deutsche Einheit auf verfassungsmäßiger Grundlage zu erlangen, wurde von der Nationalversammlung unternommen, die am 18. Mai 1848 in Frankfurt zusammentrat. Ihre Aufgabe wurde durch die politischen Meinungsverschiedenheiten unter den Mitgliedern erschwert, die aus extremen Konservativen und extremen Republikanern 36

Österreichs

Vorherrschaft

1815—1858

bestanden sowie aus allen dazwischenliegenden Schattierungen, aber vor allem durch die Rivalität der beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen. Da die Versammlung über keine bewaffneten Streitkräfte verfügte, hing die Ausführung ihrer Entscheidungen vom guten Willen der österreichischen und preußischen Regierung sowie in geringerem Maß von den Kleinstaaten ab. Während des Sommers 1848, als Österreich lahmgelegt war und Preußen dem nationalen Gedanken seinen Arm lieh, wurde ein scheinbarer Fortschritt auf dem Wege zur Einheit erzielt. Aber bis die Versammlung schlüssig geworden war, wie diese Einheit aussehen sollte, hatte die Reaktion in Österreich und Preußen bereits eingesetzt, und die Gelegenheit war vorbei. Als die Nationalversammlung in Frankfurt zusammentrat, stand sie als erstes dem Problem der Schaffung einer zentralen Regierung gegenüber. Am 27. Juni beschloß die Versammlung, die Regierungen der einzelnen Staaten zu ignorieren und einen Reichsverweser zu bestellen, der ein der Versammlung verantwortliches Ministerium bilden sollte. Am 29. Juni wurde der Erzherzog Johann von Österreich zum Reichsverweser gewählt, und im Juli wurde das Ministerium geformt. Aber es war von vornherein bedeutsam und von bösem Vorzeichen, daß der König von Preußen seine Truppen den Treueid gegenüber dem Reidisverweser nicht leisten ließ, obwohl dieser doch von den deutschen Regierungen anerkannt wurde. Bis zum Ende des Jahres 1848 widmete sich die Nationalversammlung Verfassungsfragen, in der Hauptsache den „Grundrechten" des deutschen Volkes, die das aussprachen, was wir inzwischen als Gemeinplätze politischer Freiheit zu betrachten gelernt haben. Sie wurden schließlich am 27. Dezember in den Verfassungsentwurf aufgenommen. Dieser enthielt u. a. Bestimmungen für einen Erbkaiser, einen Reichstag mit zwei Kammern (eine für die Staaten, die zweite für die Nation als ganze), ein dem Reichstag verantwortliches Ministerium, völlige Bundeshoheit über auswärtige Angelegen37

I. Schaffung

des Deutschen

Reiches 1815—1871

heiten, Heer, K r i e g und Frieden sowie ausreichende Steuerhoheit, um die Bundesausgaben bestreiten zu können. Der E r f o l g dieses Verfassungsentwurfes hing von der Haltung Österreichs und Preußens ab, aber bevor er überhaupt angenommen wurde, zeigten die Ereignisse in Schleswig-Holstein, wie wenig man sich auf den preußischen König in Sachen der nationalen Einheit verlassen konnte.

Das Wiederaufleben

der Schleswig-Holsteinischen

Frage.

Im Janaur 1848 bestieg Friedrich V I I . den dänischen Thron, und am 28. J a n u a r verkündete er eine Verfassung, die ihm vom verstorbenen König f ü r die dänische Monarchie vermacht worden war. Sie legte fest, daß die zwei Herzogtümer zwar ihre Ständevertretung behalten sollten, aber nur f ü r die lokalen Aufgaben, während sie in bezug auf Steuern und G e setzgebung mit Dänemark zu vereinigen seien, und Holstein sollte vom Deutschen Bund abgetrennt werden. Sofort erhoben sich in Schleswig und Holstein Proteste, Vorbereitungen f ü r bewaffneten Widerstand folgten. Der nächste männliche Erbe der Herzogtümer, Herzog Christian August von Augustenburg, erlangte am 27. M ä r z von Friedrich Wilhelm I V . Anerkennung der Unabhängigkeit und Unteilbarkeit der beiden Länder und dazu die Bestätigung der männlichen Erbfolge. Die Dänen suchten jetzt ihre Einverleibungspläne auf Schleswig zu beschränken und versprachen Holstein als Mitglied des Deutschen Bundes eine eigene Verfassung. Nicht nur Preußen, sondern auch das Vorparlament in Frankfurt und unter seinem Einfluß auch der Bundestag vertraten die Sache der Herzogtümer; in A p r i l und M a i trieben preußische und bundesdeutsche Truppen unter General Wrangel die Dänen aus den Gebieten und zogen in Jutland ein. A n diesem Punkte jedoch sah sich Preußen zu einem Rückzieher veranlaßt, auf Grund der Opposition des Zaren und Großbritanniens gegen die Ausdehnung deutschen Machtbereichs auf Ost- und Nordsee. Nach längeren Verhandlungen wurde am 26. August in Malmö der Waffenstillstand unterschrieben, der von der Frankfurter 38

Österreichs Vorherrschaft

1815—1858

Nationalversammlung und auch von den Dänen nur mit größtem Zögern angenommen wurde. Seine Wichtigkeit für die deutsche Geschichte liegt in der Tatsache, daß er zu dieser Zeit von weiten Kreisen deutscher Patrioten als ein Verrat Preußens an der nationalen Sache betrachtet wurde. Friedrich Wilhelms IV. Ablehnung der Kaiserkrone.. Auf die Haltung Preußens und seines Königs wurde im März 1848 weiteres Licht geworfen. Die Nationalversammlung entschloß sich schließlich, den Verfassungsentwurf anzunehmen und an die Errichtung eines geeinten Deutschland zu gehen. Dies bedeutete gleichzeitig die endgültige Entscheidung zwischen Großdeutschland und Kleindeutschland, da ein Erbkaiser für den neuen Bundesstaat gewählt werden mußte. Die Wahl vom 28. März mit 290 Stimmen f ü r Friedrich Wilhelm I V . bei 248 Stimmenthaltungen bedeutete den knappen Sieg der Kleindeutschen; eine Abordnung unter der Führung des hochgeachteten Präsidenten der Versammlung, Eduard Simson (Professor zu Königsberg, jüdischer Abstammung), reiste ab, um dem König von Preußen die Krone anzubieten. Aber seit den Berliner Märztagen w a r Friedrich Wilhelm auf seine starrsinnigen politischen Ideen zurückgefallen. E r war fest davon überzeugt, daß Österreich den Ehrenvorsitz in Deutschland führen sollte; er wollte die „Schweinkrone" — aus der H a n d des Volkes — nicht annehmen; müßte von Mitherrschern erwählt werden und bestand auf der militärischen Vorherrschaft Preußens, die durch jene gebilligt werden müßte. Beherrscht von diesen Ansichten, gab er eine derart verklausulierte Antwort, daß die Delegation mit Recht darin nur die Ablehnung sehen konnte. Die österreichische Regierung zog sofort (5. April) ihre Mitglieder aus der Nationalversammlung zurück. Die Könige von Bayern, Württemberg, Sachsen und Hannover erkannten die neue Verfassung nicht an. Im Mai zogen auch Preußen und Sachsen ihre Gesandten aus Frankfurt zurück; eine Gruppe der aktivsten Verfassungspolitiker, geführt von Dahlmann, schied freiwillig aus. Der Zusammenbruch der 39

I. Schaffung

des Deutschen

Reiches

1815—1871

Einheitsbewegung wurde von den Demokraten auf der Linken mit leidenschaftlichem Zorn beantwortet, und Versuche bewaffneten Aufstands wurden im Mai 1849 in Sachsen, Baden und der bayerischen Pfalz unternommen. Preußische Truppen unterdrückten sie (obwohl es auch in Preußen selbst Unruhen gab) und setzten damit den Verfassungskämpfen ein Ende. Der Bruch zwischen preußischer Monarchie und Volksbewegung für Einheit und Freiheit war eindeutig. Preußens Entwurf für die Einigung. Obwohl Friedrich Wilhelm von unten nichts annehmen wollte, hatte er dodi noch immer die Absicht, etwas von oben her für die nationale Sache — und Preußen — zu tun. Sein Plan war, einmal eine unter preußischer Führung stehende Union mit den anderen rein deutschen Staaten herbeizuführen, und zum anderen eine ständige Allianz mit Österreich, um die Ansprüche Habsburgs zu befriedigen. Das war die Lösung von 1870; aber sie war im voraus von Schwarzenberg abgelehnt worden, als er im März 1849 den Beitritt aller österreichischen Besitzungen in den Bund vorschlug. Es hätte dem preußischen König und seinem Ratgeber von Radowitz (1797—1853) klar sein müssen, daß das jetzt nach der Niederschlagung der ungarischen und italienischen Revolten wiedererstarkte Österreich auf keinen Fall dulden würde, sowohl seinen Platz als auch seine Vorherrschaft im deutschen Reich zu verlieren. Im Zuge ihrer Politik luden Friedrich Wilhelm und Radowitz im Mai 1849 die anderen Staaten ein, Bevollmächtigte zu einer Konferenz nach Berlin zu senden; es gelang ihnen, die Könige von Sachsen und Hannover dahin zu bringen, ihre bedingte Zustimmung zu einem deutschen Verfassungsentwurf zu geben, der konservativer war als der Frankfurter, der aber die preußische Führerrolle in dem vorgeschlagenen Bund anerkannte. Da jedoch der österreichische Gesandte nach dem ersten Tag ausschied und der bayerische keine Vollmachten hatte, wurde der bedingte Beitritt Sachsens und Hannovers sehr in seinem Wert beschränkt, und auch sie traten wieder 40

Österreichs

Vorherrschaft

1815—1858

aus, als vom Verwaltungsrat der „ U n i o n " beschlossen wurde, im Januar 1850 Wahlen f ü r ein Abgeordnetenhaus abzuhalten. Als diese Wahlen stattgefunden hatten, das Parlament im März in E r f u r t zusammengetreten w a r und im April eine Verfassung angenommen hatte, hatte Friedrich Wilhelm (der die Verfassung nicht einmal anerkannte) bereits Interesse an der Union verloren. Das wurde klar während der Konferenz am 9. Mai in Berlin, als er den Fürsten, die noch zum Bündnis gehörten, die Wahl ließ, sich nodi weiter zu diesem zu bekennen oder nicht. Während also der König derart schwankte, unternahm Schwarzenberg (nach dem erfolgreichen Abschluß der Habsburgischen Gegenrevolutionen) kräftige Schritte, um Österreichs Hegemonie in Deutschland wiederherzustellen. Das bedeutete u. a. die Wiederbelebung des alten Deutschen Bundes, wenn möglich mit Einschluß aller österreichisdien Besitzungen. Schon sechs Monate früher, am 30. September 1849, hatte er Preußens Zustimmung zu dem „Interim" gewonnen, in dem Österreich und Preußen zusammen die Führerschaft des Bundes bis zum ι . M a i i 8 $ o übernahmen. Im Februar 1850 gab er allgemein seine Zustimmung zu einer Verfassungsreform, die von den Königen von Bayern, Württemberg, Sachsen und Hannover vorgeschlagen wurde — die beiden letzten waren aus Preußens „ U n i o n " ausgetreten; wenige Tage v o r dem Ablauf des Interims versandte er von Österreich aus, als dem Präsidenten des früheren Bundes, Einladungen an die ehemaligen Mitgliedsstaaten, am 10. Mai in Frankfurt zum Zwecke der Wiedereinsetzung der Bundesautorität und der Besprechung einer Verfassungsreform zusammenzukommen. Hier, trotz der A b wesenheit Preußens und einiger seiner Verbündeter, ging Schwarzenberg daran, das Plenum des alten Bundestages erneut einzusetzen. Österreichs Aktion w a r eine unmittelbare Herausforderung Preußens, und die Frage tauchte auf, ob sie ihre Meinungsverschiedenheiten über die Zukunft Deutschlands unter Umständen auf dem Schlachtfeld austragen würden. 41

I. Schaffung

des Deutschen

Reiches

1815—1871

Olmütz und die Wiedergeburt des Bundes. Die Entscheidung in diesem Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland fiel im Herbst 1850. Schwarzenbergs Lage wurde ebenso gestärkt, wie die Friedrich Wilhelms dadurch geschwächt wurde, daß der Zar (den der König und Prinz Wilhelm von Preußen Ende Mai 1850 in Warschau besucht hatten) die preußische Politik gegenüber Dänemark und Deutschland ablehnte. Als daher die Gelegenheit kam, Preußens Festigkeit im Einstehen für die Union gegen den wiederbelebten Bund auf die Probe zu stellen, war Schwarzenberg auf dem Plan. Hessen-Kassel, ein früheres Mitglied der preußischen Union, gab die Gelegenheit her. Als der Landtag dieses Staates sich weigerte, für die Besteuerung zu stimmen, ohne die Einzelheiten von Einkommen und Ausgaben sehen zu dürfen, sprach ihn der Kurfürst auf Grund eines Bundesgesetzes von 1832 (das jedoch 1848 aufgehoben worden war) der Rebellion schuldig. Da auch die Staatsbeamten und Offiziere sich weigerten, ihren Eid gegenüber der Verfassung zu brechen, erklärte der König den Belagerungszustand, begab sich selbst nach Frankfurt und verlangte vom wiedererstandenen Bundestag die Bundesexekution gegen sein Land. Als Schwarzenberg und der Bundestag dem Antrag des Kurfürsten nachkamen, wurde Preußen in eine schwierige Lage gebracht. Denn Hessen-Kassel war nicht nur Mitglied der halb außer Kraft gesetzten preußischen Union gewesen, sondern wurde auch von zwei Militärstraßen durchzogen, die Preußen allein für den Durchzug seiner Truppen benutzen durfte. Würde Preußen der Bundesexekution tatenlos zusehen, oder eingreifen und damit einen Krieg mit Österreich riskieren? Zuerst schien es, als bliebe Preußen fest. Als bayerische Truppen Hanau besetzten, besetzten preußische Truppen Fulda und Kassel. Aber obgleich die Mobilisierung angeordnet wurde, hatte sich die preußische Regierung schon dazu entschieden, nachzugeben, denn sie wußte, daß Österreich vom Zaren unterstützt wurde. Ein Zusammentreffen zwischen Schwarzen42

Österreichs

Vorherrschaft

1815—1858

berg und Manteuffel (der nun Radowitz ablöste) wurde für den 28. Oktober nach Olmiitz verabredet, und am nächsten Tag unterzeichneten die beiden Minister die Olmützer Punktation, in der Preußen das Wesentliche der österreichischen Forderungen annahm. Die Bundesaktion in Hessen sollte weitergehen; die preußische Union aufgelöst werden; die SchleswigHolsteinische Frage in gemeinsamen Vorgehen gelöst werden; eine Konferenz ;der Regierungen die künftige Organisation Deutschlands diskutieren. Zur Zeit dieser Regierungskonferenz wurde der Bundestag formell wiedereingesetzt (16. Mai 1851), und zwar in der Form der Bundesakten von 1 8 1 $ und 1820. Die Schleswig-Holsteinische Lösung. Mit der Demütigung Preußens in Olmütz und Österreichs Sieg im Bundestag war es nicht getan, es folgte die Enttäuschung des deutschen Nationalstolzes in Schleswig-Holstein. Trotz des Waffenstillstandes von Malmö gab es zu Beginn des Jahres 1849 noch Hoffnung, daß die Sache der Herzogtümer und Deutschlands siegen würde. Als die Dänen den Waffenstillstand im Februar kündigten, und als Feindseligkeiten im April wieder aufgenommen wurden, errang ein Bundesheer von Preußen, Sachsen, Bayern unter dem preußischen General von Prittwitz zuerst große Erfolge und konnte in Jutland vordringen. Aber Friedrich Wilhelm war nun mehr darauf bedacht, Österreich und Rußland zu besänftigen, als die nationale Sache zu vertreten, und er hatte wenig Verständnis für eine Revolte von Untertanen gegen ihren Souverain. Am 10. Juli 1849 wurde zwischen Preußen und Dänemark ein zweiter Waffenstillstand unterzeichnet, der ein Jahr später (am 2. Juli) von einem Friedensvertrag abgelöst wurde, welcher zwar der Form nach die Rechte der zwei deutschen Großmächte respektierte, tatsächlich jedoch die Herzogtümer der Gnade des dänischen Königs überließ. Zwar führte die Statthalterschaft der Herzogtümer den Kampf bis zum Januar 1851 weiter, mußte aber dann Schleswig räumen, übergab die Macht einer österreichisch-preußischen Kommission und ließ Holstein von Januar 1 8 j i bis Februar 43

I. Schaffung

des Deutschen

Reiches

1815—1871

1852 in den Händen einer österreichischen Truppe, der eine preußische Abteilung beigegeben wurde. Der konservative Schwarzenberg hatte nicht die Absicht, sich der deutschen Sache in den Herzogtümern anzunehmen. Im Mai 1852 wurde zwischen den Großmächten (Österreich, Preußen, Rußland und Großbritannien) das Londoner Protokoll unterzeichnet, dem zufolge sowohl die Unantastbarkeit der dänischen Monarchie als auch das Erbfolgerecht in den Herzogtümern zugunsten des nächsten dänischen Kronerben anerkannt wurde. Die Dänen erkannten ihrerseits an, daß Schleswig und Holstein mit Dänemark nur durch Personalunion verbunden seien -und besondere Rechte der Selbstregierung durch ihre Provinzialstände haben sollten — außer in allgemein-dänischen Angelegenheiten. Das Abkommen war weder zufriedenstellend noch endgültig. Obgleich Herzog Christian August von Augustenburg seinen großen Besitz dem dänischen König für ein Entgeld übertragen hatte, wurde er nicht aufgefordert, sein „Recht" auf Erbfolge aufzugeben, weil die dänische Regierung erklärte, daß ein solches „Recht" niemals existiert hätte. Auch verpflichtete seine Annahme des Protokolls nicht seine Erben. Und obgleich die Dänen sich nodi vor dem Londoner Protokoll bereit gefunden hatten, den Herzogtümern besondere Behandlung angedeihen zu lassen (besonders Schleswig), wurde doch nichts unternommen, dieses Versprechen in die Tat umzusetzen. Außerdem unterzeichneten Österreich und Preußen das Protokoll als unabhängige Großmächte, nicht als Vertreter des Deutschen Bundes. Der Bundestag wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Die deutsche Nation und ihre Wünsche wurden durch ihre Herrscher vor und nach diesen Ereignissen völlig ignoriert. Das Schicksal der Deutschen in Schleswig und Holstein wurde entschieden nach den unmittelbaren Interessen der österreichischen und preußischen Regierung, die den Grundsatz der Nationalität als revolutionär betrachteten. Die Revolutionen von 1848 und der deutsche Nationedismus. Die Unterzeichnung des Londoner Protokolls, der Schwarzen44

Österreichs Vorherrschaft

1815—1858

bergs Tod unmittelbar vorausgegangen war, schien die Zwillingsbewegungen von Liberalismus und Nationalismus aus dem Jahre 1848 zum völligen Scheitern zu verurteilen. Liberale Verfassungen gab es nicht. Die deutsche Gesamtvertretung lag immer noch in den Händen der Regierungen, mit dem unzureichenden Organ des Bundestages. In den Einzelstaaten sah es nicht besser aus. In Österreich w a r die Verfassung bereits abgeschafft worden. Die preußische Verfassung war zu konservativ, als daß sie liberalem Geist eine Vertretung hätte gewährleisten können. Was die Liberalen in den Kleinstaaten gewonnen hatten, w a r 1852 fast alles wieder verloren. In keinem einzigen deutschen Staat war nadi den Revolutionen von 1848 das Prinzip einer den Volksvertretungen gegenüber verantwortlichen Regierung in die Tat umgesetzt worden. Audi schien es nicht, als ob die Sache der nationalen Einheit irgendwie vorangekommen war. Die Rivalität zwischen Österreich und Preußen, die den nationalen Zusammenschluß verhinderte, war offen ausgebrochen; der Sieg des multi-nationalen Österreich schien den Traum eines geeinten Deutschland auf unbestimmte Zeit nichts als Traum bleiben zu lassen. Auch die Herrscher der Kleinstaaten zeigten keine größere Bereitwilligkeit, ihre Macht und Privilegien zugunsten der nationalen Sache zu opfern. Es gab aber noch weitere entmutigende Lehren für die Liberal-Nationalen. Die Spaltungen in ihren eigenen Reihen hatten wesentlich zu ihren Mißerfolgen beigetragen. Darüberhinaus war es ganz klar geworden, daß ein freisinnig-einiges Deutschland niemals geschaffen werden würde, solange sich die deutschen Herrscher auf die Treue ihrer Truppen verlassen konnten und nur eine Hand voll echter Radikaler bereit war, ihnen mit Waffengewalt entgegenzutreten. N u r eine große Volkserhebung, die auch zum Kämpfen und zum gewaltsamen Absetzen der Herrscher entschlossen war und auch die Mittel dazu hatte, konnte mit Erfolg rechnen. Jedoch die gesellschaftliche Gesamtstruktur Deutschlands sowie die Anschauungen des Bürgertums, welches den Aufstand hätte 45

I. Schaffung

des Deutschen Reiches

1815—1871

anführen müssen, machte eine „französische Revolution" auf deutschem Boden unmöglich. Dabei sollte auch bei der Beurteilung solcher Ereignisse nicht vergessen werden, daß in keinem großen modernen Staat — außer Rußland — eine „französische Revolution" stattgefunden hat; und in Rußland auch nur am Ende eines langen und verheerenden Krieges und gegen eine Regierung, die noch absolutistischer gesonnen und weit weniger organisatorisch befähigt w a r als die Regierungen Deutschlands im Jahre 1848. Angesichts dieser Lage gerieten die deutschen liberal-nationalen Denker auf Jahre hinaus in Hilflosigkeit. A l s ihre Hoffnungen neu erwachten, schauten sie meistens noch immer auf ein freisinnigeres Preußen als den Staat, der die H o f f n u n gen erfüllen konnte; noch immer erkannten sie nicht die große Stärke der konservativen Kräfte in Preußen und den anderen Staaten, die sich ihnen entgegenstellten. Es w a r Bismarcks Triumph, ihren Liberal-Nationalismus in einen NationalLiberalismus umzuwandeln, in dem die liberale Idee den Zielen des konservativen Preußen, Deutschland zu einigen und zu beherrschen, nachstehen sollte. Die Reaktion in Preußen. D i e letzten Jahre der Herrschaft Friedrich Wilhelm I V . gehören zu den deprimierendsten in der preußischen Geschichte. Unter dem Einfluß einer pietistischen Freundesgruppe erging sich der K ö n i g in der V e r folgung von allem, was liberal war. Sein Minister des Inneren gebrauchte erbarmungslos seinen Einfluß gegen politisch unzuverlässige Kandidaten für den Landtag. Zusammen mit den Junkern wurde das Kommunalrecht auf dem Lande auf den Stand v o n v o r i 8 j o gebracht; die Grundbesitzer hatten also wieder das Feudalrecht grundherrlicher Rechtsprechung. Gegen die Gebildeten und Politiker wurde durch meineidliche Aussagen v o n Polizeispitzeln vorgegangen. A l l e Erziehungsstufen von der Dorfschule bis hinauf in .die Universitäten wurden streng überwacht. Wenn Friedrich Wilhelm gekonnt hätte, wie er wollte, wäre die Verfassung, auf die er geschworen hatte,

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Ôsterreiàs

Vorherrschaft

1815—1858

abgeschafft worden. Tatsächlich fand man bei seinem Tode ein Dokument, in dem er seine Nachfolger, die sich nicht wie er durch einen Eid würden binden lassen, beschwor, die von ihm geschaffene Verfassung zu widerrufen. Auch waren Friedrich Wilhelms außenpolitische Taten in diesen Jahren keineswegs bemerkenswert. Während des Krimkrieges schwankte er derart, daß Zar Nikolaus bemerkte, sein Schwager* ginge jeden Abend als Russe zu Bett und stünde jeden Morgen als Engländer auf. Zum Teil spiegelte dieses Schwanken gewisse Meinungsverschiedenheiten am H o f e ; die gemäßigten Konservativen, die dem Zaren Preußens „Demütigung" von Olmütz nicht vergessen konnten, vertraten die Westmächte, während die Junker Rußland als möglichen Kern einer neubelebten Heiligen Allianz bevorzugten. Doch überw o g im preußischen Ministerium des Äußeren die „westliche" Gruppe, die von Professor Bethmann-Hollweg (dem Großvater des Kanzlers unter Wilhelm II.) geführt wurde und im „Preußischen Wochenblatt" sich mit der „Kreuzzeitung" der Junker journalistisch schlug. Doch eine dritte Gruppe mit Bismarck als Sprecher (damals preußisches Mitglied des Bundestags) glaubte, daß man dem Zaren den H o f machen sollte, der — statt als Bollwerk der Reaktion — als Gegengewicht zu Österreich dienen konnte (welches die Intervention des Zaren von 1849 in Ungarn nicht vergessen hatte und dazu neigte, im Krimkrieg sich auf die Seite Englands und Frankreichs zu schlagen, deren Interessen in östlichen Fragen mit seinen zusammenfielen). Man müsse sich draußen nach Verbündeten umsehen, schrieb Bismarck, und von den europäischen Mächten könne man Rußland am leichtesten haben, das nur ,im Osten wachsen wolle, während Österreich und Frankreich auf Preußens Kosten zunehmen wollten. In der machiavellistischen Schule Frankfurter Bundespolitik hatte Bismarck bereits gelernt, daß Preußen früher oder * Nikolaus hatte als Großherzog Prinzessin Charlotte Luise, die Tochter Friedrich Wilhelms III. v o n Preußen, geheiratet.

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1. Schaffung

des Deutschen

Reiches

181Í—1871

später mit Österreich Krieg führen mußte, wenn es Deutschland unter seiner Führung einigen wollte. Die Freundschaftspolitik mit Rußland war mehr als eine Rückendeckung gegen den Sieg liberaler Prinzipien in Preußen; sie schützte Preußens Grenzen im Osten und machte sich in der Auseinandersetzung mit Österreich (1866) und Frankreich (1870) angenehm bezahlt.

PREUSSENS S I E G IN DEUTSCHLAND

I8J8—1871

Wilhelm I. und der Verfassungsstreit in Preußen Im Herbst 1857 umdüsterte sich der Geist Friedrich Wilhelm IV., und im November 1858 wurde sein Bruder Wilhelm, Prinz von Preußen, mit zweiundsechzig Jahren Regent. Dieser war vor allem Soldat, Konservativer, ein Hahenzollern. Seine Haltung gegenüber Österreich war zuerst kaum weniger loyal als die seines Bruders, abgleich nicht so romantisch verbrämt. Aber er war von Liberalen umgeben. Sein Sohn Friedrich, der eine Tochter Königin Viktorias geheiratet hatte, wollte Deutschland durch Preußen geeinigt sehen, indem es sich selbst liberalisierte und Deutschland durch moralische Eroberung gewann. Wilhelm selbst war diesem Kurs nicht gänzlich abgeneigt. Seine erste Handlung als Regent war die Entlassung Manteuffels, des Mannes von Olmütz, sowie der restlichen Minister seines Bruders; er ernannte ein liberaleres Kabinett unter Prinz Karl Anton von Hohenzollern.* Auch wies er an, der Einfluß der Regierung solle bei Wahlen nicht mehr ausgeübt werden. Wieder einmal schien es, als hätte eine neue Ära größerer Freisinnigkeit in Preußen begonnen. Der Erfolg des italienischen Einheitskampfes gegen Österreich (1859) begeisterte die liberalen Patrioten überall in Deutschland, und im selben Jahr wurde der Nationalverein * Vater des Prinzen Karl, späteren Königs von Rumänien, und Prinz Leopolds, des Kandidaten für den spanischen Thron 1870. 48

Preußens

Sieg in Deutschland,

1S58—187Î

durch den Hannoveraner Rudolf von Benningsen* und andere Liberale gegründet. Wie vor 1848, nur mit noch größerer Stärke, wunde die nationale Einheitsbewegung auf liberaler Grundlage erneuert. Werbe Versammlungen und Treffen Delegierter aus verschiedenen deutschen Staaten, um die Pläne aufeinander abzustimmen, wurden abgehalten, .und die Augen erwartungsfreudiger Liberaler richteten sich auf den neuen Herrscher Preußens. Aber der Regent zog aus der Niederlage Österreichs durch Frankreich und Sardinien andere Lehren. Während des Krieges mobilisierte Preußen seine Truppen, um das Bundesgebiet zu verteidigen, aber nicht einmal in der Stunde der Not wollte Österreich die Führerrolle im Bund oder über die Bundesarmee den Preußen überlassen. Als Resultat des italienischen Feldzugs zeigte sich, daß Österreich hartnäckig entschlossen war, Preußens Pläne in Deutschland auf alle Fälle zu vereiteln; ein weiteres Resultat w,ar die Aufdeckung der militärischen Schwädie beider Großmächte. Österreich war von Frankreich und Sardinien geschlagen worden, unid die preußische Mobilmachung war schwerfällig und unbefriedigend vor sich gegangen. Es bestätigte sich Wilhelms Uberzeugung, daß Preußen dringend einer drastischen Reform seiner Verteidigung bedürfe. A m 12. Januar i860 wurden daher in der Thronrede vor dem Landtag Heeresreformen (das Werk von Roons) umrissen. Das Feldheer sollte von zweihundert- auf dreihunderteinundsiebzigtausend Mann erhöht, der Militärdienst von zwei auf drei Jahre verlängert, neununddreißig neue Infantrie- und zehn Kavallerieregimenter sollten neu aufgestellt und 9V2 Millionen Thaler zusätzlicher Jahresausgaben aufgebracht werden. Die Reorganisation bedingte auch eine wesentliche Verringe* 1824—1902. Er versuchte vergeblich, H a n n o v e r aus dem Krieg 1866 herauszuhalten, trat auf Bismarcks Seite und nahm einen Platz im Reichstag des Norddeutschen Bundes ein; einer der Gründer der nationalliberalen Partei, brach mit Bismarck 1883 wegen dessen reaktionärer Politik.

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Passant

l. Schaffung des Deutschen Reiches

1815—1871

rung der L a n d w e h r , der viele Preußen gefühlsmäßig verbunden waren, und weniger Ausnahmen bei der Einziehung zum Militärdienst. D a s preußische H e e r sollte ferner mit moderneren W a f f e n ausgerüstet werden, und im E n d e f f e k t sollte Preußens Militärmacht verdoppelt werden. Wilhelm w a r fest entschlossen, diese P l ä n e durchzuführen. D i e Liberalen in der Z w e i t e n K a m m e r des Landtags hofften anfänglich, Konzessionen erwirken zu können. Sie bewilligten eine provisorische Summe f ü r i 8 6 0 , aber w a r e n entschlossen, v o r dem nächsten Budget Modifizierungen zu erlangen. A u s wirtschaftlichen und persönlichen Gründen w a r e n sie gegen den verlängerten Wehrdienst und aus politischen gegen die Machtzunahme der K r o n e sowie der Militärklasse. A b e r Wilhelm, unterstützt v o n der Ersten K a m m e r , v o n den militärischen Ratgebern und v o n dem, w a s er sich selbst als Pflicht zudiktierte, ließ nicht nach. A m 2. J a n u a r 1 8 6 1 w u r d e er beim Ableben seines Bruders K ö n i g . I m gleichen M o n a t w u r d e eine neue, demokratische Partei in Preußen gegründet, die Fortschrittspartei; nach den Wahlen am E n d e des Jahres sah sich die Regierung einer überwältigenden Opposition in der Z w e i t e n K a m m e r gegenüber, in die nur vierundzwanzig K o n servative kamen. A n f a n g 1 8 6 2 verlangte diese liberale Mehrheit ein ausführliches Budget und die Beschränkung der Dienstzeit auf zwei J a h r e . Wilhelm löste die K a m m e r n auf und brauchte bei der nächsten W a h l gegen seine Opponenten Regierungsdruck, allerdings ohne E r f o l g ; denn nur zwölf Konserv a t i v e w u r d e n diesmal gewählt. D i e liberaleren Minister weigerten sich, seine Politik mitzumachen, und traten zurück; Wilhelm w u r d e v o n seinem Sohn und anderen Ratgebern gewarnt, nidit ohne Budget zu regieren. Es schien nur zwei A u s w e g e zu geben: die Heeresreform aufzugeben und damit das parlamentarische System zu akzeptieren, oder zugunsten seines Sohnes abzudanken. Z u diesem kritischen Zeitpunkt entschloß sich Wilhelm auf v o n Roons R a t hin, Bismarck zu holen.

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Preußens

Sieg in Deutschland

1858—1871

Bismarck und seine Politik. Otto von Bismarck, 1 8 1 5 als Sproß einer alten pommerischen Junkerfamilie geboren, war 47 Jahre, als er am 22. September 1862 preußischer Ministerpräsident und Minister des Äußeren wurde. Als preußischer Gesandter in Frankfurt hatte er die Stärken und Schwächen Österreichs kennengelernt und war bereits damals überzeugt, daß Preußen allein durdi einen erfolgreichen Krieg mit Österreich Deutschland einigen konnte. In den Jahren unmittelbar vor 1862 war er preußischer Botschafter in St. Petersburg und Paris gewesen, hatte die Stellung seines Landes gestärkt und sich ein genaues Wissen der Außenpolitik Frankreichs und Rußlands sowie ihrer wahrscheinlichen Handlungsweisen in einer europäischen Krise verschafft. Besonders hatte er Napoleon III. Charakter abschätzen gelernt, über den er sagte, man überschätze seinen Verstand und unterschätze sein Herz. Bismarcks eine mächtige Leidenschaft war Preußens Größe, die durch die Stärke seines Heeres und die Feinheit seiner Diplomatie erreicht werden konnte. Als ihn daher der König, bereit zum Abdanken, falls er ihn im Stich lassen würde, um Rat bat, trat er in die Regierung ein unter der Voraussetzung, daß der König unter keinen Umständen abdanken und ihm seine volle Unterstützung im Kampf mit dem Landtag geben würde. Der Kampf spitzte sich schnell zu. Am 30. September versuchte Bismarck in einer versöhnlich gemeinten Rede, die Liberalen von ihrer Unnachgiebigkeit abzubringen; aber zur Sache der nationalen Frage fügte er hinzu, daß Deutschland nicht auf Preußens Liberalismus, sondern auf seine Macht schaue, und idaß die großen Fragen der Zeit nicht durch Reden und Mehrheitsentschließungen — die Fehler von 1848 und 1849 — entschieden würden, sondern durch „Blut und Eisen". Die preußischen Liberalen waren nur noch mehr verstimmt durch diese Geringschätzung ihrer demokratisch-friedlichen Einigungsbestrebungen und den Appell an die Macht. Sie lehnten das Budget mit einer großen Mehrheit ab und vertagten 4*

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1. Schaffung

des Deutschen

Reiches

181Í—1871

sich, während Bismarck ohne Budget und damit gegen die Verfassung weiterregierte. Als Inach einem Jahr weiteren Widerstands gegen die Regierungsvorschläge der Landtag im September 1863 aufgelöst wurde, brauchte Bismarck jeden Einfluß der Regierung gegen die liberalen Kandidaten — doch vergeblich. Bismarcks Regierungszeit begann damit mit einer völligen Verneinung alles dessen, was die Liberalen erhofft hatten. Anstatt durch Liberalismus moralische Siege zu gewinnen, hatten sich Preußens König und Minister in einen harten Kampf mit den Volksvertretern eingelassen, und das unter Mißachtung der öffentlichen Meinung in und außerhalb Preußens. Nicht nur der preußische Thronfolger wurde verstimmt (er zog sich einige Zeit aus dem Kronrat zurück) und das preußische Volk, sondern audi die Kleinstaaten und die vom Nationalverain verkörperte liberale öffentliche Meinung. Österreichs Plan für die Bundesreform. Bismarcks Politik schien umso tollkühner angesichts der österreichischen Anstrengungen, aus der wiederbelebten Nationalbewegung und der preußischen Krise Vorteil zu ziehen durch eine Reform des Bundes. Kaiser Franz Joseph hatte es gegenüber Wilhelm in Teplitz im Jahre i860 klargemacht, daß Österreich nicht gewillt war, irgendwelche Zugeständnisse betreffs des Primates des Bundes zu machen; als Preußen als Antwort auf einen undurchführbaren Plan von 1861 (den der sächsische Außenminister Beust gemacht hatte) eine engere Union unter seiner Führung vorschlug, protestierten Österreich und einige Kleinstaaten (Februar 1862). Als Preußen im August 1862 einen Handelsvertrag mit Frankreich abschloß, der Österreichs Hoffnungen auf einen Beitritt zum Zollverein einen bösen Schlag versetzte, verschlechterten sich die preußisch-österreichischen Beziehungen weiter. Im Dezember wies Bismarck in einer Reihe von Unterredungen mit dem österreichischen Botschafter Karolyi ganz geradezu darauf hin, daß Österreichs wahres Schwergewicht in Ungarn läge und daß es Preußen als gleichberechtigt in Deutschland akzeptieren sollte. Die ernsten 52

Preußens

Sieg in Deutschland

1858—1871

inneren Auseinandersetzunigen in Preußen, die ihren Höhepunkt 1863 erreichten, waren daher Österreich sehr willkommen, um eine ihm günstige Reform des Bundes durchzuführen. Gegen den Rat des österreichischen Außenministers Redlberg, der dennoch unverständlicherweise im Amte blieb, lud Franz Joseph die deutschen Fürsten ein, am 16. August 1863 in Frankfurt zusammenzukommen, um die Reform zu diskutieren. Der Fürstentag wurde unter des Kaisers persönlichem Vorsitz abgehalten. Aber die allgemeine Begeisterung des Anfangs wurde gedämpft durch die Begrenzheit der Vorschläge (eine Fürstenkammer unter österreichischem Vorsitz und eine von den Parlamenten der einzelnen Staaten beschickte Abgeordnetenkammer), die nicht ohne Gegenstimmen (Baden, Weimar, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Waldeck) angenommen wurden. Wenn auch diese Minderheit wenig eindrucksvoll war, so wog doch eine Abwesenheit sehr schwer. Trotz einer Einladung durch die Gesamtkörperschaft deutscher Prinzen, die Wilhelm vom sächsischen König selbst überbracht wurde, erlaubte Bismarck seinem König die Teilnahme nicht. Er wußte, daß irgendwelche Frankfurter Beschlüsse ohne Preußens Anwesenheit nichts wert waren; sie zeigten nur, wie wenig Österreich der deutschen Nation zu bieten hatte, und Bismarck parierte glänzend. Unter seiner Anleitung entwarf das Ministerium eine Reihe von Gegenvorschlägen. Preußen sollte mit Österreich im Bundesvorsitz gleichberechtigt sein, aber dis Abgeordnetenkammer sollte durch eine Nationalversammlung auf der Basis direkter Wahlen (nach staatlichen Bevölkerungsziffern) ersetzt werden. A u f dem Höhepunkt der Auseinandersetzung mit dem nach Dreiklassenwahlrecht gewählten preußischen Landtag berief sich Bismarck auf das liberal-nationale Prinzip allgemeinen Wahlrechts. Das w a r nicht bloßer Zynismus, obwohl die Liberalen seinen Vorschlag mit großer Skepsis aufnahmen. Unter der Voraussetzung der nötigen konservativen Sicherungen w a r die Sache ernst gemeint. 53

I. Schaffung

des Deutschen

Reiches

1815—1871

Die Schleswig-Holsteinische Frage. 1863 schien die Lage Preußens angesichts der inneren Auseinandersetzungen einigermaßen gefährlich; dazu kam jetzt Schleswig-Holstein. Am 15. November 1863 wurde durch den Tod Friedrichs VII. die Frage der Herzogtümer wieder in akuter Weise aufgeworfen; denn die erste Handlung seines Nachfolgers, Christian IX., bestand in der Unterzeichnung einer neuen Verfassung, durch die Schleswig dem dänischen Staat eingegliedert wurde, während Holstein als Mitglied des Deutschen Bundes mit der dänischen Krone nur durch Personalunion verbunden blieb. Die Bedrohung ihres Status hatte schon große Erregung in den Herzogtümern ausgelöst, die immer die Ansicht vertreten hatten, daß sie ein Recht auf Selbstregierung unabhängig vom dänischen Königreich besaßen. Die Lage wurde weiterhin durch die Tatsache kompliziert, daß die neue Verfassung ein nicht zu leugnender Bruch des Londoner Protokolls von 1852 war. Dazu kam, daß Friedrich von Augustenburg (dessen Vaters Zustimmung zu einer Lösung im dänischen Sinne 1852 „gekauft" worden war) die Herzogtümer für sich in Anspruch nahm, weil sein Vater ihm das Erbfolgerecht abgetreten habe und überhaupt der ganze Handel eine rein persönliche Angelegenheit saines Vaters gewesen sei, der die Erben nichts anginge. Von Anfang an stand die Mehrheit der öffentlichen Meinung in Deutschland leidenschaftlich hinter Herzog Friedrich (wie er sich nun nannte), ohne sich um juristische Spitzfindigkeiten zu kümmern, und verlangte eine endgültige Lösung der ganzen Frage durch die völlige Abtrennung der Herzogtümer von Dänemark und ihre Eingliederung als vereinter Staat in den Deutschen Bund. Diese Lösung, die von der Nationalversammlung und anderen Körperschaften unterstützt wurde, berücksichtigte weder die Anerkennung des Erbfolgerechts Christians I X . noch die Garantien der Unverletzlichkeit des dänischen Königreiches durch die Großmächte im Londoner Protokoll; sie bedeutete kriegerische Einmischung durch den Bundestag in 54

Preußens Sieg in Deutschland, 1858—1871 Schleswigs Angelegenheiten, das nie Teil des Bundes gewesen war. Zur Ausführung benötigte man die Unterstützung entweder Preußens oder Österreichs, da ohne das die Kräfte des Bundestages, die sich nur aus den Kleinstaaten rekrutierte, f ü r einen Krieg nicht ausgelangt hätten. Bismarck war sich von Anfang an über seine Ziele klar. Beim ersten Treffen des preußischen Kronrats nach dem Tode Friedrichs V I I . erinnerte er Wilhelm daran, daß jeder seiner Ahnen das preußische Gebiet vergrößert hatte und drängte ihn dazu, die Herzogtümer an sich zu reißen. Der König, schrieb Bismarck in seinen Erinnerungen, „schien geglaubt zu haben, daß idi unter bacchischen Eindrücken eines Frühstücks gesprochen hätte und froh sein würde, nichts weiter davon zu hören. Idi bestand aber auf der Einschaltung (ins Protokoll), die auch erfolgte. Der Kronprinz hatte, während .ich sprach, die H ä n d e zum Himmel erhoben, als wenn er an meinen gesunden Sinnen zweifelte; meine Kollegen verhielten sich schweigend". Bismarck war sich ohne Zweifel völlig der Tatsache bewußt, daß der König f ü r eine solche Lösung noch nicht bereit war, und hätte auch selbst in diesem Augenblick nicht auf militärischem Eingreifen bestanden. Aber er beabsichtigte, die Herzogtümer, wenn möglich, f ü r Preußen zu gewiinnen, und er erweckte so früh wie es nur ging in Wilhelms Geist das gleiche Verlangen, öffentlich lehnte er jedoch das Ansinnen des Landtags, die Ansprüche des Augustenburgers anzuerkennen, ab, da das dem preußischen Erfolg in den Herzogtümern einen Riegel vorschieben würde; er verfolgte vielmehr die Politik, mit Österreich auf der Basis des Londoner Protokolls zusammen zu handeln und vom dänischen König zu verlangen, er solle die Versprechungen des Protokolls betreffs besonderer Regierungsform f ü r die Herzogtümer einhalten. D a das eine Ungültigkeitserklärung der neuen dänischen Verfassung nach sich ziehen würde, war es sehr wahrscheinlich, daß die Dänen durch eine Weigerung einen casus belli liefern würden. Bismarcks Rechnung war, daß dann bei einer Besetzung der 55

I. Schaffung des Deutschen Reiches

ISIS—1871

Herzogtümer durch Österreich und Preußen, die ihre Vertragsrechte zu schützen hätten, die anderen Großmächte kaum widersprechen konnten. Gleichzeitig hätte man eine Einmischung des Bundestages verhindert und die Ansprüche des Augustenburgers wären nicht anerkannt worden. Das Schicksal der Herzogtümer würde in den Händen Österreichs und Preußens liegen. Daß diese Politik den ausdrücklichen Wünschen der deutschen Liberal-Nationalen zuwider lief, w a r für Bismarck von Vorteil; er wollte ihnen beibringen, daß nationale Ziele am besten durch Preußens Macht vertreten wurden. Österreich machte dabei mit, aber unter dem Vorsatz, Preußens Machtausdehnunig über die Herzogtümer nach Möglichkeit zu verhindern; dafür schienen gemeinsame Besetzung und zuletzt gemeinsame Verteilung der Beute die besten Garantien zu sein. Bismarcks geschickter Appell an Vertragsrechte und seine Stellungnahme gegen radikale demokratische Forderungen fanden günstige Aufnahme durch Franz Joseph, der der Verfassungspläne seines Ministers Anton von Schmerling ( 1 8 0 5 — 1 8 9 3 ) müde war. Durch gemeinsames Vorgehen gelang es Österreich und Preußen im Dezember 1863 im Bundestag mit der knappen Mehrheit von nur einer Stimme den Antrag durchzubringen, in Holstein eine Bundesaktion zu unternehmen, um den neuen Dänenkönig zu zwingen, die Versprechen aus dem Londoner Protokoll von 1852 zu halten. Immer mit demselben Ziel vor Augen schloß Bismarck einen Vertrag mit Österreich wegen gemeinsamen militärischen Vorgehens gegen Dänemark, falls Christian I X . sich weigern sollte (was er mit Sicherheit tun mußte), die Versprechen des Londoner Protokolls zugunsten der Herzogtümer einzuhalten. Im Vertrag von 1864 nahmen die Österreicher auch eine Klausel an, die das Schicksal Schleswig-Holsteins nach dem Krieg vollständig offen ließ. Artikel V sah vor, daß im Falle der Feindseligkeiten zwischen Dänemark und des folgenden vertragslosen Zustanids zwischen Dänemark und den deutschen Staaten die H ö f e von Österreich und Preußen sich das Recht der 56

Preußens Sieg in Deutschland

1858—1871

Bestimmung des zukünftigen Status der Herzogtümer durch ein Abkommen vorbehielten. Damit wurden audi die Ansprüche Friedrichs von Augustenburg ignoriert, der Bundestag w a r ausgeschaltet, und die liberal-nationale Lösung der Anerkennung des Augustenburgers und der Zulassung Schleswig-Holsteins zum deutschen Staatenbund w a r von vornherein ausgeschlossen, wenn nicht Österreich und Preußen später d a f ü r stimmen sollten. Vergeblich stimmte am 14. Januar 1864 der Bundestag mit 1 1 gegen 5 Stimmen gegen die unter Bismarcks geschickter Führung zusammengekommene Politik Österreichs und Preußens. A m 16. Januar stellten die beiden Mächte Dänemark ein Ultimatum, in dem sie die Zurückziehung der neuen dänischen Verfassung forderten. Als das Ultimatum abgelehnt wurde, rückten die Truppen in Schleswig ein. Bismarcks Politik hatte sich der Neutralität der europäischen Großmächte versichert; indem Österreich und Preußen ihre Ansprüche streng auf den Grund des Londoner Protokolls stellten, hatten sie es Rußland und England (als Unterzeichnern jenes Protokolls) fast unmöglich gemacht, auf Dänemarks Seite einzugreifen. Dänemark erhielt daher keinerlei militärische Unterstützung, und obgleich es tapfer kämpfte, überrannten die österreichisch-preußischen K r ä f t e sehr schnell Schleswig und betraten Jutland, w o die Dänen am 18. A p r i l geschlagen wurden. Mit den eroberten Herzogtümern in ihrer H a n d erklärten sich Österreich und Preußen zu einem Waffenstillstand und zu einer Konferenz in London bereit. Bismarck begann damit, daß er das Protokoll von 1 8 5 2 als ungültig erklärte, weil die Dänen es gebrochen hätten; die Zukunft der Herzogtümer w a r der Verhandlung anheimgegeben. Eine Reihe von Lösungen wurde untersucht, aber schließlich wurde die Konferenz abgebrochen (wie Bismarck erhofft hatte), und am 25. J u n i wurde der Krieg fortgesetzt. Bismarck hatte seine ersten Ziele erreicht. E r wußte, daß weder Rußland noch England oder Frankreich den Dänen militärische H i l f e geben würden. E r hatte das Protokoll von 1 8 5 2 zer57

I. Schaffung des Deutschen Reiches 1815—1871 rissen und damit audi Preußens Anerkennung, daß die Herzogtümer einen Teil der dänischen Monarchie bildeten. Nach der endgültigen Niederlage der Dänen würde das Schicksal Schleswig-Holsteins völlig in den Händen Österreichs und Preußens liegen; und obwohl mit Friedrich von Augustenburg verhandelt worden war, bestand keinerlei Bindung ihm gegenüber. Der Krieg ging für die Dänen böse aus; am 20. Juli 1864 waren sie zu einem erneuten Waffenstillstand gezwungen. Als der endgültige Vertrag am 27. Oktober in Wien unterzeichnet wurde, trat Dänemark die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an Österreich und Preußen ab — etwa zwei Fünftel des Gebietes der dänischen Monarchie (Karte 4). Jetzt hatte man sich über das endgültige Schicksal dieser Gebiete zu einigen. Die gemeinsame Herrschaft der beiden deutschen Großmächte würde sich höchstwahrscheinlich nicht als zufriedenstellende Lösung bewähren. Bismarck war entschlossen, die Herzogtümer f ü r Preußen zu gewinnen, wenn möglich ohne Krieg, aber falls notwendig (und falls er König Wilhelm mitreißen konnte) war er bereit zum höchsten Einsatz f ü r diesen wertvollen Preis. Jedoch ließ er sich Zeit. Preußen war 1864 auf den Krieg nicht vorbereitet, und die nächsten zwei Jahre vergingen mit einer Reihe von Verhandlungen zwischen Österreich und Preußen, um idas schwierige Problem zu lösen.

Österreichs Niederlage

durch

Preußen

Bismarck wurde in diesen Jahren durch die Schwäche und das Schwanken der österreichischen Politik unterstützt, aber er hatte mächtige Gegner in Preußen selbst. Dem König war der Gedanke eines Krieges mit Österreich zuwider; der Kronprinz und sowohl preußische als auch die gesamtdeutsche öffentliche Meinung waren f ü r die Anerkennung der Ansprüche; der preußische Landtag weigerte sich halsstarrig, Geld für das Heer zu bewilligen und würde fast mit Sicherheit für 58

Preußens Sieg in Deutschland

1858—1871

keine Kriegsanleihen stimmen. Obgleich die preußische Hilfe für Rußland bei der Unterdrückung des polnischen Aufstandes von 1863 sowie die österreichische Haltung während des Krimkrieges ein Eingreifen Rußlands gegen Preußen unwahrscheinlich machte, so w a r doch ein Krieg mit Österreich wegen des Ehrgeizes und Machthungers Napoleon I I I . ein gewagtes Unternehmen. Außerdem würde wahrscheinlich ;die Haltung der anderen deutschen Staaten, besonders Sachsens, Bayerns und Hannovers, einem preußischen Krieg zum Zwecke der Einverleibung Schleswig-Holsteins und der Machtvergrößerung auf Kosten der nationalen Einheit kaum freundlich sein. Vorsicht w a r auf jeden Fall geboten. Während der ersten Monate 1865 schien ein Krieg zwischen den zwei Mächten unvermeidlich zu sein, denn Österreich unterstützte jetzt die Ansprüche des Augustenburgers. Aber im Juli kamen in Österreich neue Minister, die neue Regierung zog ihre Unterstützung des Augustenburgers zurück und Schloß mit Preußen den Vertrag von Gastein (14. August 1865) ab. Preußen wurde das Herzogtum Lauenburg für 2V2 Millionen Thaler zugesprochen, und statt der gemeinsamen Herrschaft in den Herzogtümern regierte nun Preußen in Schleswig und Österreich in Holstein. Preußen erhielt auch den Kieler Hafen und die Kontrolle über die Militärstraßen durch Holstein nach Schleswig; Preußen hatte den vorteilhafteren Handel gemacht. Doch enthielt der Vertrag noch keine endgültige Lösung für die Herzogtümer (für Bismarck w a r er auch nur ein Überkleben der Risse), obgleich er noch andere außer den materiellen Vorteilen für Preußen brachte. Österreich hatte in ganz Europa an Prestige verloren, nicht zuletzt in Deutschland, indem es die Augustenburger Ansprüche hatte fallen lassen und so vielen der preußischen Forderungen nachgegeben hatte. Aber wenn Bismarck sein Endziel erreichen sollte, mußte er noch Wilhelms Bereitschaft zum Krieg erlangen und Preußens internationale Stellung sichern, wenn es zum Kriege kam. Er begann damit, daß er im Oktober 1865 Napoleon I I I . in 59

I. Schaffung

des Deutschen

Reiches

1815—1871

K a r t e 4. Schleswig-Holstein 1864. D e r nördliche Teil Schleswigs ging 1920 nach einer V o l k s a b s t i m m u n g an D ä n e m a r k .

Biarritz aufsuchte und ihn mit dem falschen Eindruck zurückließ, Preußen würde der Erwerbung Belgiens und möglicherweise auch deutscher Gebiete am Rhein zustimmen unter der 60

Preußens

Sieg in Deutschland

1858—1871

Bedingung französischer Neutralität. Danach traf er mit Italien ein Handelsabkommen (November 1865); und als Österreich darauf in unkluger Reaktion erneut die Augustenburgische Agitationstätigkeit in Holstein aufleben ließ, beendete Bismarck die Zusammenarbeit seit Gastein: er sandte der österreichischen Regierung eine scharfe Protestnote gegen die Duldung der Hetze gegen Preußen in den Herzogtümern. Es folgten sofort Verhandlungen mit Frankreich und Italien, und im März 1866 leiteten sowohl Österreich wie Preußen Teilmobilmachungen ein. Am 8. April verpflichtete sich Italien für die nächsten drei Monate zur Unterstützung Preußens; Napoleon III. war damit einverstanden, denn er war überzeugt, daß Österreich und Preußen sich gegenseitig erschöpfen würden und er auch wahrscheinlich ohne Krieg, durch bloße Interventionsdrohung, territoriale Gewinne am Rhein machen könne. Bismarck stärkte diese Illusion, wo er nur konnte. Mit der Unterzeichnung des italienischen Abkommens waren Bismarcks Pläne nahezu fertig aufgebaut. Was zu tun übrig blieb, war, Österreich so weit zu provozieren, daß es einen casus belli schaffen würde, und so mußte es möglich sein, König Wilhelm davon zu überzeugen, Österreich sei der Angreifer, und nicht Preußen. Zu diesem Zweck machte Bismarck am 9. April Vorschläge zu einer Einigung Deutschlands unter preußischer Führung, ohne Österreich und mit einem Parlament auf der Basis des allgemeinen direkten Wahlrechts. Das Echo in Deutschland war enttäuschend; unter dem Einfluß des Kronprinzen und der öffentlichen Meinung begann Wilhelm an der Politik seines Ministers zu zweifeln. Verhandlungen mit Österreich wurden im Mai und Juni fortgesetzt, und um Napoleons Intervention in einem Krieg auszuschließen, stimmte Bismarck sofort dessen Vorschlag zu einem europäischen Kongreß zu, während Österreich die Zusage von unannehmbaren Bedingungen abhängig machte. Endlich löste die österreichische Regierung Bismarcks Problem: angesichts der Ausgaben für dauernde Mobilmachung beschloß sie plötzlich, in der Schleswig-Hol61

I. Schaffung des Deutschen Reiches 1815—1871 steinischen Frage energisch zu werden, und hoffte, sich damit der Unterstützung der deutschen Kleinstaaten gegen Preußen zu versichern. A m ι . Juni schlug sie .dem Bundestag in Frankfurt vor, daß der Bund über das Schicksal der Herzogtümer entscheiden sollte. Bismarcks Antwort lief darauf hinaus, daß Österreich den Vertrag von Gastein verletzt habe und dadurch das frühere System gemeinsamer Verwaltung automatisch wieder in Kraft getreten sei — und ließ am 7. Juni preußische Truppen in Holstein einmarschieren. Österreich bezeichnete diesen Einmarsch als kriegerische Handlung und beantragte die Mobilmachung des Bundes gegen Preußen. Bayern, Sachsen, Hannover, Württemberg, Baden, Hessen und Nassau gaben Österreich bedingte Unterstützung. Bismarck erklärte daher den Bund für aufgelöst; so hatte er schließlich seinen Willen und seinen Krieg. Wie Cavour die Österreicher 1859 zum Krieg angestachelt hatte, so auch Bismarck 1 8 6 5 — 6 6 ; dadurch hatte er Wilhelms letzte Bedenken überwunden. Der Krieg von 1866 und der Frieden von Prag. Der Krieg der sechs Wochen krönte Bismarcks Diplomatie und bestätigte seinen politischen Instinkt. Von Anfang an waren die preußischen Armeen überall erfolgreich. Ende Juni hatten sie Hannover überrannt, und am 3. Juli wurden die österreichischen Hauptkräfte entscheidend bei Königgrätz geschlagen. Weniger als 2000 Preußen waren gefallen, etwas mehr als 7000 verwundet; wenn es Preußen vergönnt war, den Sieg auszunutzen, würde Deutschland ein anderes Gesicht haben und das Mächtegleichgewicht in Europa verschoben sein. Gefahr bestand nur in französischer oder russischer Einmischung. Napoleon trat zwar als Vermittler auf, seine Armeen waren jedoch nicht schlagbereit. Die Schnelligkeit der preußischen Siege hatte alle seine Berechnungen über den Haufen geworfen; durch die mexikanische Expedition geschwächt, war Frankreich nicht in der Lage, die allein erfolgversprechende schnelle Gegenhandlung einzuleiten. Napoleon war daher gezwungen, Preußens Gebietszunahme in Norddeutschland hinzunehmen, 62

Preußens Sieg in Deutschland 18S8—1871 vorausgesetzt, daß Österreich (mit der Ausnahme Venetiens) intakt blieb. Bismarck hat in seinen Erinnerungen von den Schwierigkeiten erzählt, die es kostete, um den König und das Militär zu überreden, sich mit einem gemäßigten Frieden abzufinden. Mit der Hilfe des Kronprinzen gelang es ihm jedoch, und der Friedensvertrag wurde am 23. August in Prag unterzeichnet und am 30. August ratifiziert. Der lange Kampf zwischen Österreich und Preußen um die Vorherrschaft in Deutschland war vorüber, und die „Schande" von Olmütz war getilgt. Im Friedensvertrag erhielt Preußen die Herzogtümer Schleswig und Holstein, mit der einzigen Ausnahme, daß Preußen nach einer Volksabstimmung den dänisch sprechenden Teil Schleswigs an Dänemark abtreten solle. (Diese Abstimmung wurde erst 1 9 1 8 nach Deutschlands Niederlage abgehalten; 1879 verzichtete Österreich anläßlich des österreichisch-deutschen Bündnisses auf das Recht, sie zu fordern.) Preußen stellte keine weiteren Gebietsansprüche an Österreich und erhielt eine sehr niedrig gehaltene Kriegsentschädigung. Bismarck erklärte sich bereit, Sachsen unid die süddeutschen Staaten unangerührt zu lassen. Aber der Vertrag erkannte im zweiten Artikel Preußens Recht an, Norddeutschland zu einem neuen Bund zusammenzuschließen; Österreich sollte auf jeden Fall davon ausgeschlossen sein, während den süddeutschen Staaten die Wahl frei blieb. Außerdem annektierte Preußen Hannover, Hessen-Kassel, Nassau und Frankfurt; sein Gebiet hing nun von Königsberg bis Köln ganz in sich zusammen. Was noch mehr wog als die Gebietserwerbungen (von 4 j o o q k m ) oder Bevölkerungszunahme (von 3 1 7 0 6 3 2 ) w a r seine einwandfreie Überlegenheit in Deutschland und die direkte politische und militärische Kontrolle über die anderen Mitgliedstaaten des neuen Norddeutschen Bundes (Karte 5), wie es in der neuen Verfassung dieser Körperschaft vorgesehen war, die vom neuen Reichstag am 16. April 1867 angenommen wurde. 63

I. Schaffung des Deutschen Reiches

1815—1871

Bismarcks Sieg über Österreich war auch ein Sieg über die liberalen Kräfte Preußens, obgleich das zu dieser Zeit nicht erkannt wurde. Der Minister verlangte vom preußischen Landtag Indemnität dafür, .daß er ohne des Landtags Bewilligung seit 1862 Steuern erhoben hatte, und er erhielt sie auch. Aber er machte es audi klar, daß weder er nodi der König die Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem gewählten Haus anerkannte, und er betonte idas Recht, ja die Pflicht des Königs, frei zu handeln, falls man parlamentarisch in eine Sackgasse geraten sollte. Nach 1866 gab es in Preußen keinen weiteren Fortschritt in Richtung auf eine parlamentarische Regierung; dies sollte erst 1918 nach dem Zusammenbruch geschehen. Noch schwerer wog, daß die Verfassung sowohl des Norddeutschen Bundes als auch des Deutschen Reiches praktisch dem preußischen Modell folgte, und daß die Nationalliberale Partei im Laufe der Zeit sich dieser Situation anpaßte und sogar den Kampf für die parlamentarische Regierungsform in Preußen oder im Reich aufgab.

Das preußisch-deutsche

Reich

Die drei Jahre von 1867 bis 1870 können nur als Periode der Vorbereitung Bismarcks auf den Kampf mit Frankreich angesehen werden, den er als unvermeidlich betrachtete, wenn Deutschland geeinigt werden sollte. Napoleon III. hatte einen schweren Rückschlag erlitten durch die Bildung einer so starken Macht wie dem Norddeutschen Bund an Frankreichs Ostgrenze. Im Herzen war er eigentlich nicht geneigt, Gebiete mit deutscher Bevölkerung zu erwerben, .aber es war für ihn politisch notwendig, einen Ausgleich zu finden; durch seine Verhandlung mit Österreich und Preußen hatte er schon 1866 angedeutet, daß seine Augen auf das Rheinland gerichtet waren. Daß die Staatskasse leer und das Heer schlecht ausgerüstet und noch schlechter organisiert war, wußte Bismarck wahrscheinlich besser als der Kaiser selbst. Kleinere Zugeständ64

Preußens Sieg in Deutschland, 1858—1871 nisse wollte er ihm machen, ohne jedoch einen Fußbreit deutschen Bodens aufzugeben. Falls der Krieg sich als notwendig erweisen sollte, war Bismarck zum sofortigen Handeln bereit. Während des österreichisch-preußischen Konflikts hatte Napoleon unter dem Einfluß seines Außenministers Drouyn de l'Huys sowohl Mainz als auch das Saargebiet für seine Neutralität gefordert. Er w a r glatt abgewiesen worden, und es wurden in der Folge eine Reihe von Verträgen zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten abgeschlossen, die darauf hinausliefen, daß im Falle eines Krieges der preußische König Oberkommandierender der deutschen Armeen sein sollte. Außerdem sah Bismarck zu, daß Napoleons Gebietsansprüche im Pariser „Siècle" durchsickerten, und angesichts der Entrüstung in Deutschland nahm Napoleon die Ansprüche zurück und stellte Drouyn bloß, der zurücktrat. Aber dann suchte er Preußens Zustimmung zur Annexion von Belgien und Luxemburg und bot gleichzeitig Preußen einen Bündnisvertrag an. Und wieder ließ Bismarck ihn so weit vorprellen, deutete sogar an, Belgien könne der „Wall Frankreichs" werden — um dann, auf die Gefahr eines Krieges hin, seine Zustimmung zu verweigern. Napoleon wagte den Kampf nicht, sondern wich zurück auf Verhandlungen mit Holland über den Kauf Luxemburgs, wo seit 1 8 1 5 eine preußische Garnison lag. Als Preußen auch diesem „Ersatz" widersprach, war Napoleon gezwungen, sich mit einer Konferenz in London zufrieden zu geben, auf der er nur die Zurückziehung der preußischen Garnison aus der luxemburger Festung und die Neutralisierung der Provinz selbst erlangte. Das war Napoleons letzter Schein eines Erfolges. Zwischen 1867 und 1870 verschlechterten sich die Beziehungen zu Italien, als Garibaldi Rom einzunehmen versuchte, aber durch französische Truppen bei Mentana geschlagen wurde; auch ergab sich aus den Verhandlungen mit Österreich darum nichts, weil dieses 1867 zur „Doppelmonarchie" reorganisiert worden war; denn die Ungarn waren nicht gewillt, für eine Erneuerung

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Passant

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I. Schaffung

des Deutschen

ReiAes

1815—1871

österreichischer Vorherrschaft in Deutschland zu kämpfen, die stets mit deutscher Hegemonie in Österreich verbunden gewesen war. Auf diese Weise blieb Napoleon angesichts der neuen deutschen Macht isoliert; denn auch in England und in Belgien selbst blieben seine Intrigen zum Erwerb Belgiens nicht unbekannt, während Rußland auf den Balkan schaute und das konservative Preußen mit Wahlwollen betrachtete. Frankreich hatte daher allen Grund zur Zurückhaltung und Bismarck zur Zuversicht, als in den ersten Tagen des Juli 1870 die französisch-preußischen Beziehungen arg angespannt wurden: Die spanische Regierung teilte dem französischen Botschafter in Madrid mit, daß Prinz Leopold von Hohenzollern-Siegmaringen von der katholischen Linie der preußischen Königsfamilie den Vorschlag angenommen hatte, zum König von Spanien erwählt zu werden. Für Franzosen war das (wie der Außenminister Herzog von Gramont vor dem Corps Législatif am 6. Juli erklärte) eine Erneuerung des Reiches Karls V.; de Gramonts Erklärung endete mit einer halb-verschleierten Kriegsdrohung, falls die Kandidatur Prinz Leopolds nicht zurückgezogen werden sollte. Am 9. Juli gab daher der französische Botschafter Benedetti in höflichen aber festen Worten in Ems den Standpunkt Frankreichs König Wilhelm bekannt; er erhielt des Königs Versicherung, daß dieser als Chef des Hauses Hohenzollern bereits Besprechungen mit Prinz Leopolds Vater gepflogen hatte und einer Zurückziehung der Kandidatur zustimmen würde, wenn der Prinz und sein Vater sich dazu entschließen sollten. Aber zu allem Unglück für Frankreich wollte de Gramont nun dem preußischen König eine Erklärung entreißen, die zeigen sollte, daß er französischem Druck nachgegeben hatte, zur Genugtuung für die öffentliche Meinung in Frankreich, besonders die Pariser Presse und die Nationalisten vom rechten Flügel. Sogar als am 13. Juni in Paris bekannt wurde, daß Leopolds Vater die Kandidatur seines Sohnes zurückgezogen hatte, und die Krise vorüber sdiien, instruierte de Gramont (ohne Wissen 66

Preußens Sieg in Deutschland

1838—1871

des Kabinetts) Benedetti, nodi ein Gespräch mit Wilhelm zu suchen und dessen formelle Versicherung zu erlangen, daß die Kandidatur nie und nimmer erneuert werden würde. A m 1 3 . Juli unternahm es Benedetti widerwillig, bei einem neuen Gespräch in Ems diese Instruktion auszuführen. Aber König Wilhelm weigerte sich, ein Versprechen „à tout jamais" zu geben; zwar sandte er einen Adjudanten, um Benedetti mitteilen zu lassen, daß ihm die Zurückziehung der Kandidatur bestätigt worden sei; doch fügte er hinzu, er habe dem Botschafter weiter nichts zu sagen. Das alles wurde von Ems nach Berlin gekabelt; durch Kürzung dieser Depesche bekam Bismarck in seinen Wortlaut des Telegramms eine scharfe Note, die darauf angelegt war, die Erbitterung der Franzosen noch weiter zu steigern. Er übergab seine Version sofort der Presse und allen preußischen Diplomaten im Ausland, mit dem Ergebnis, daß die Kriegspartei innerhalb der französischen Regierung spielend Herrin der Situation wurde, und am 19. Juli 1870 wurde Preußen der Krieg erklärt. In späteren Jahren war Bismarck eifrig bemüht, den Krieg von 1870 als ein Stück aus seiner Werkstatt hinzustellen. Obgleich als die unmittelbare Ursache de Gramonts Eifer zu gelten hat, für die öffentlichen Meinung Frankreichs Genugtuung durch eine diplomatische Niederlage Preußens zu erlangen, so wissen wir doch heute, daß Bismarck die Hohenzollem-Kandidatur weit aktiver gefördert hatte, als er es zugeben wollte. Soweit es diese Kandidatur war, die durch Drohung der „Einkreisung" Frankreichs die eigentliche Kriegsursache war, trägt Bismarck durch seine Förderung der Kandidatur — und durch seine provozierende Version der Emser Depesche zu einem kritischen Zeitpunkt — einen Hauptanteil an der Verantwortung am Kriegsausbruch. Andererseits ist es auch klar, daß de Gramont Preußen wenigstens so tief demütigen wollte, daß es einer militärischen Niederlage gleichkam, und seine Entschlossenheit kannte keine Skrupel hinsichtlich des Risikos.

5*

67

I. Schaffung des Deutschen Reiches

1815—1871

Wie 1866, so zeigte audi jetzt das preußische Heer, nun unterstützt durch Bayern, Württemberg und Baden, sehr schnell seine Schlagkraft und Überlegenheit. In wiederum etwas mehr als sechs Wochen w a r der entscheidende Feldzug vorüber. Noch vor Ende August w a r Bazaine, der Befehlshaber der Hauptmacht des französichen Heeres, in Metz eingeschlossen, und am 2. September wunden Napoleon und MacMahon mit 80 000 Mann bei Sedan zur Kapitulation gezwungen. In Paris brach die Revolution aus, die Republik wurde ausgerufen, und obgleich eine Regierung der nationalen Verteidigung den Widerstand noch einige Monate fortsetze, w a r doch Jules F a v r e gezwungen, am 29. J a n u a r 1 8 7 1 einen Waffenstillstand zu unterzeidinen. A m 26. Februar unterschrieben Thiers und Jules Favre die Friedenspräliminarien, und am 1 . März nahm sie die französische Nationalversammlung mit 546 gegen 1 0 7 Stimmen an. Frankreich trat Elsaß und Lothringen ab, versprach eine Reparationszahlung von 5000 Millionen Franc innerhalb von vier Jahren und akzeptierte die Besetzung einiger seiner östlichen Gebiete bis zur endgültigen Zahlung der Reparationen. Das zweite französische Imperium w a r zerschellt. Inmitten seiner Ruinen begann die Geschichte des „Zweiten Reiches": A m 18. Januar 1 8 7 1 wurde im Spiegelsaal von Versailles König Wilhelm von Preußen auf Ersuchen der Herrscher aller deutschen Staaten mit Ausnahme Österreichs zum deutschen Kaiser proklamiert. Bismarck hatte im Herbst mit den Regierunigen der süddeutschen Staaten verhandelt. Ihrem Partikularismus mußte er gewisse Zugeständnisse machen: Bayern z . B . erhielt das — geheim gehaltene — Recht, einen Abgesandten zu Friedensverhandlungen zu senden und von jeder „Reichsexekution" ausgeschlossen zu sein (diese Sonderrechte kamen erst 1 9 1 8 bzw. 1 9 3 2 ans Licht); so gewann er ihre Zustimmung zum Beitritt zum neuen Reich (Karte j ) . Die notwendigen Änderungen in der Verfassung des N o r d deutschen Bundes wurden gemacht, und die Verfassung des Reiches trat am 1 . Januar 1 8 7 1 in Kraft. 68

Wirtschaftliche

Entwicklung

1815—1871

WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG Χ 8 I Y — 1 8 7 1

Die wirtschaftliche

Lage Deutschlands

1815

A m Ende der Napoleonischen Kriege zeigte Deutschland nur wenige Merkmale seiner künftigen wirtschaftlichen Größe. Die Deutschen hatten viele Fähigkeiten zu materiellem Fortschritt, aber sie wurden durch ungünstige geographische, wirtschaftliche, politische un¡d soziale Faktoren gehindert. Sowohl Landwirtschaft

als

auch

Industrie

litten

unter

geographischen

Schwierigkeiten. Ein großer Teil der norddeutschen Tiefebene w a r unfruchtbar. D i e Moore und Heiden westlich und die Sumpftäler östlich der Elbe gaben dem Bauern

besondere

Probleme auf. Wichtige Bodenschätze lagerten an der Peripherie und konnten nicht ausgebeutet werden, bis nicht bessere Transportmöglichkeiten

existierten.

Deutschlands

wichtigste

Küste w a r die der Ostsee, deren Hanidelswege von nur untergeordneter Bedeutung waren; in den Tagen der Segelschiffe konnten die Nordseehäfen Haniburg und Bremen auf

den

atlantisdien Routen nicht mit den günstiger gelegenen britischen und holländischen H ä f e n konkurrieren. Weitere Schwierigkeiten, die die wirtschaftliche Entwicklung beschränkten, lagen in den schlechten

Verkehrsverhältnissen,

im fehlenden Investitionskapital für Industrien, in mittelalterlichen Gesellschaftsordnungen in Land unid Stadt und in den abträglichen Folgen der Kleinstaaterei mit den entsprechenden Zollschranken. Obgleich nach Artikel 19 der Bundesakte von 18 i j die Regelung des zwischenstaatlichen Handels und Verkehrs beim Bunde lag, unternahm doch der Frankfurter Bundestag keine Schritte, um das Wirtschaftsleben Deutschland

zu

organisieren, und die Einzelstaaten mußten selbst ihre wirtschaftlichen Probleme lösen. Preußens

Wirtschaftspolitik

und der

Zollverein

Wie audi die anderen Staaten litt Preußen nach 181 y unter einer schweren Wirtschaftskrise. Die gewonnenen Gebiete, wie

69

I. Schaffung des Deutschen Reiches

181}—1871

das Rheinland und Westfalen (die sich in der Zukunft als von großem ökonomischem Wert zeigen sollten), waren nodi unentwickelt. Die großen Entfernungen zwischen Memel im Osten und Trier im Westen, schlechte Verkehrswege und fehlender territorialer Zusammenhang zwischen westlichen und östlichen Provinzen stellten schwierige Probleme dar. Preußen unternahm erste Schritte, indem es Handelsverträge abschloß, Straßen baute und sich im Ausland über technische Fortschritte

K a r t e 5. Die freie Reichsstadt Frankfurt/M. und umliegende Gebiete 1833. Die K a r t e zeigt deutlich das Gebietschaos jener Zeit.

70

Wirtschaftliche Entwicklung

1815—1871

informierte. Aber der wichtigste Schritt war die Einführung des Maaßen'schen Zollgesetzes von 1818. Unter diesem Gesetz wurden viele Binnenzölle abgeschafft, und Außenzölle wurden nun an den Grenzen erhoben; das zog zwar einige Einkommensverluste nach sich, aber erleichterte den Handel zwischen Preußens zwei getrennten Provinzgruppen. Die meisten Rohstoffe waren zollfrei, während auf Fertigprodukten nur 10 °/o Einfuhrzoll und auf tropischen Produkten 20 bis 30 °/o lagen. Diese Zölle waren zu niedrig, um zum Schmuggeln zu verführen oder um mächtigere Nachbarn zu verstimmen. Waren, die preußisches Gebiet passierten, wurden mit einem Durchgangszoll nach Gewicht belegt, was sowohl eine brauchbare Einkommensquelle darstellte als auch als Waffe gegen kleine Nachbarn verwendet werden konnte. Das Zollgesetz brachte zwar Preußens Landwirtschaft und Industrie keine unmittelbare Hilfe, aber es erleichterte nach einiger Zeit die wirtschaftliche Entwicklung. Bald wurden verschiedene kleinere Enklaven in das preußische Zollsystem aufgenommen. Sie nahmen den preußischen Zoll (vertreten durch preußische Beamte) an und erhielten einen Anteil des gemeinsamen Einkommens, der nach ihrer Einwohnerzahl und der der preußischen Ostprovinzen berechnet war. Zollvereinigungen. Das Bestehen der vielen verschiedenen unabhängigen Zollgebiete war so lästig, daß mehrere Staaten in den 20'er Jahren Verhandlungen wegen Zollverträgen begannen. Drei solche Vereinigungen wurden 1828 gegründet. Die erste — zwischen Bayern und Württemberg — war nicht die erwünschte große süddeutsche Zollunion, wie sie anfänglich geplant war. Die zweite war die zwischen Preußen und HessenDarmstadt und ähnelte dem preußischen Verfahren der Einbeziehung der Enklaven, nur daß Hessen-Darmstadt seine eigenen Zollbeamten behielt. Die dritte war der Mitteldeutsche Handelsverein, der Hannover, Braunschweig, Sachsen und verschiedene Kleinstaaten in Mitteldeutschland umschloß. Er hatte 71

I. Schaffung des Deutschen Reiches

1815—1871

keinen gemeinsamen Zoll; sein Ziel bestand darin, Preußens Kontrolle der Hauptstraßen von den Nordseehäfen zu den Frankfurter und Leipziger Märkten zu verhindern. Aber Preußen machte diesen Plan zunichte. Es erleichterte den Handel zwischen Nord- und Süddeutschland, indem es durch Meiningen und Gotha Straßen nach Bayern, Württemberg und Frankfurt baute und die Initiative für Verhandlungen mit Holland ergriff, um den Rheinzoll zu vermindern. Das war die Arbeit von Motz, der zwischen 182J und 1830 preußischer Finanzminister war. Das Chaos der Zollgrenzen als Resultat der Kleinstaaterei zeigt sich besonders deutlich im Falle Frankfurt/M. (Karte 5). Preußen und die Gründung des Zollvereins. Der Mitteldeutsche Handelsverein brach unter den preußischen Schlägen

Karte 6. Der Zollverein und der Steuerverein 1834.

72

Wirtschaftliche Entwicklung

1815—1871

zusammen. Hessen-Kassel fiel 1 8 3 1 zum preußischen Zollsystem ab; auf diese Weise wurde eine wirtschaftliche Verbindung zwischen den preußischen Ost- und Westprovinzen hergestellt. Sachsen und Thüringen folgten. Inzwischen hatten sich Preußen und die süddeutschen Staaten einander genähert. 1834 bildeten Bayern und Württemberg mit Preußen und den beiden hessischen Staaten eine Zollunion. Dieser „Zollverein" umschloß ein Gebiet von etwa 400 000 qkm und eine Bevölkerung von fast 23V2 Millionen (Karte 6). Innerhalb von acht Jahren kamen Baden, Nassau, Frankfurt/M. und Luxemburg hinzu. Aber Hannover, Braunschweig und Oldenburg, der Rumpf des auseinandergefallenen Mitteldeutschen Handels-

Thedinghausen 18H

SO km

Karte 7. Der Beitritt Braunsdrweigs zum Zollverein 1837—44. Die Daten geben den Eintritt der verschiedenen Gebiete an. 73

I. Schaffung des Deutschen Reiches 181}—1871 blieben abseits und bildeten den „Steuerverein", während die Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck, die beiden mecklenburgischen Staaten, Schleswig und Lauenburg ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit bewahrten. Zwischen 1837 und 1844 schlossen sich die Braunsdiweiger Gebiete dem Zollverein an (Karte 7). Vereins,

Die Gründung des Zollvereins war nicht unmittelbar das Resultat des Anwachsens deutschen Nationalbewußtseins. Viele Staaten traten dem preußischen Zollsystem nur darum bei, weil sie keinen anderen Weg aus ihren finanziellen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten wußten. Eifersüchtig wahrten sie ihre Souveränitätsrechte und verhinderten, daß Preußen wesentliche politische Vorteile als führender Staat im Zollverein errang. Nur langsam zeigten sich die günstigen Auswirkungen des Zollvereins auf Industrie und Handel, doch der finanzielle Vorteil bei der Mitgliedschaft im Zollverein war weit schneller offenbar. Mit der Ausnahme Sachsens und Frankfurt/M. erhielten fast alle seine Mitglieder normalerweise höhere Einkünfte (gerechnet nach Einwohnerzahl), als sie selbst an Zöllen einnahmen. Dieser Faktor trug vielleicht mehr als alle anderen dazu bei, störrige Mitglieder bei der Stange zu halten. Es gab jedoch zwei Schwächen in der Organisation des Zollvereins. Erstens war Einstimmigkeit und nicht bloße Mehrheit nötig, damit ein Antrag auf der Generalkonferenz angenommen wurde. Dieses liberum veto war eine Waffe, die kleinere Staaten mit großer Wirkung gegen Preußen anwenden konnten. Zweitens liefen die ursprünglichen Abkommen des Zollvereins nur acht Jahre und konnten für bestimmte Zeiträume verlängert werden, so daß ein unzufriedener Staat Nachteile dadurch für sich abzugleichen vermochte, daß er mit dem Austritt aus dem Zollverein drahte, wenn die Abkommen abliefen. Sowohl Anfang der 1850er als auch Anfang der 1860er Jahre war der Zollverein nahe am Auseinanderbrechen. Angriffe gegen ihn hatten verschiedene Motive. Einige Staaten 74

Wirtschaftliche Entwicklung

1815—1871

wollten Preußen schwächen, sogar auf Kosten erneuter Zollschranken in ganz Deutschland. Andere wollten ihn in einem größeren Verband aller deutschen Staaten mit Einschluß Österreichs aufgehen lassen, genauso wie sie eine großdeutsche Lösung der politischen Einigungsbestrebungen wünschten. Der Wunsch des Volkes nach völliger wirtschaftlicher Einigung fand seinen Ausdruck in den Verhandlungen der Frankfurter Nationalversammlung in den Jahren 1848—9; der Verfassungsentwurf vom März 1849 sah auch vor, daß das Reich zum Zwecke von Handel und Zöllen geeinigt und von einer Zollgrenze umgeben sein soll und daß alle Binnenzölle abgeschafft werden sollten. Aber die Bundesbehörden konnten gewisse Ortschaften und Gebiete von der Zollunion ausschließen. Der Versuch, ein geeintes Deutschland zu schaffen, schlug fehl, und die Verfassung von 1849 blieb ein totes Stück Papier.

Österreich

und der

Zollverein

Nach 18 $0 waren die österreichischen Staatsmänner bedacht, Preußen auch die wirtschaftliche neben der politischen Führung in Deutschland zu entreißen. Der Versuch hierzu wurde unternommen von Bruck, der die Schiffahrtsgesellschaft „österreichischer L l o y d " mitbegründet hatte und einer der fähigsten Männer in der Wiener Geschäftswelt war. Er wurde im N o vember 1848 Handelsminister und sah zu, daß die österreichisch-ungarische Zollgrenze abgeschafft und die unerschwinglichen Habsburger Zölle gesenkt wurden, um damit die nötigen ersten Schritte auf dem Wege zu einer Zollunion mit Deutschland zu machen. Er plante die wirtschaftliche Vereinigung des Habsburger Reiches mit dem Zollverein, dem Steuerverein und den deutschen Staaten, die noch immer ihre ökonomische Unabhängigkeit hatten. Brucks Plan wurde von den ungarischen Landbesitzern (die die Aussicht auf Erschließung neuer Märkte für ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse begrüßten) und den Industriellen unterstützt, die deutsche 75

I. Schaffung

des Deutschen

Reiches

1815—1871

Konkurrenz nicht fürchteten. Aber er wurde von Industriellen in Niederösterreich und Böhmen bekämpft. In Deutschland fand Brucks Plan bei den Vertretern der Schutzzollpolitik günstige Aufnahme und wurde von den Freihandelspolitikern abgelehnt. Die süddeutschen Staaten hätten den Plan nur dann angenommen, wenn sie nach seiner Verwirklichung ebenso viel Einnahmen gehabt hätten wie im Zollverein. Preußen war unnachgiebig in seiner Ablehnung, denn wenn Brucks Plan Erfolg hätte, wäre es wirtschaftspolitisch unter Österreichs Kontrolle geraten. In Delbrück, einem hochintelligenten jungen Beamten des preußischen Handelsministeriums, fand Bruck seinen Mann. Delbrück stärkte Preußens Lage, indem er den Beitritt Hannovers und seiner Verbündeten zum Zollverein herbeiführte. Hannover erhielt 7$ °/o mehr Einnahmen, als es nach Einwohnerzahl hätte bekommen dürfen. Aber Preußen brachte dieses finanzielle Opfer, um einen nützlichen Freihandelspartner im Kampf mit den Schutzzollpolitikern Österreichs zu gewinnen und um das wirtschaftliche Bindeglied zwischen seinen östlichen und westlichen Provinzen auszubauen. Wenn die süddeutschen Staaten abschwenken sollten, war Preußen wenigstens der wirtschaftlichen Führung Deutschlands nördlich des Mains sicher. Die Süd- und Mittelstaaten verlängerten aber schließlich die Zollverein-Abkommen, und die österreichischdeutsche Zollunion fiel ins Wasser. Österreich erhielt in einem Handelvertrag vom Februar 1853 nur die Zustimmung, daß i860 Verhandlungen mit den deutschen Staaten über eine solche Zollunion beginnen und daß neue Zollkonzessionen eines Vertragspartners gegenüber einem dritten Staat auch automatisch dem anderen Vertragspartner zugute kommen sollten. Preußen hatte also Österreich aus dem Zollverein herausgehalten und den Steuerverein aufgeschluckt. Während Österreich seit Olmütz in der Politik das Übergewicht in Deutschland wiedergewonnen hatte, konnte es im Wirtschaftsleben Preußens Überlegenheit nicht erschüttern. Weitere Wirtschafts76

Wirtschaftliche Entwicklung

1815—1871

Verhandlungen zwischen Preußen und Österreich gegen Ende der i8joer Jahre erbrachten nur die Bildung eines deutschen Währungsvereins, der die Parität der drei Hauptwährungen festzusetzen versuchte. 1862 suchte Preußen eine österreichisch-deutsche Zollunion unmöglich zu machen, indem es mit Frankreich einen Handelsvertrag unterzeichnete, der drei Jahre später in Kraft treten sollte. Änderungen in den Zöllen des Zollvereins wurden vorgesehen, und viele Einfuhrzölle wurden gesenkt. Als Gegenleistung räumte Frankreich ein, daß allgemein seine Importe aus Gebieten des Zollvereins mit Zöllen belegt wurden, die so niedrig wie die kürzlich gegenüber England und Belgien gesenkten Zölle sein sollten. Während Sachsen die vorgeschlagenen Änderungen der Zollvereinzölle begrüßte, lehnten Bayern, Württemberg und Hannover sie zuerst ab; im Juli 1862 nahm nun Österreich Brucks Vorschläge zu einer österreichischdeutschen Zollunion mit Schutzzöllen wieder auf. Es strebte weit höhere Einfuhrzölle an, als sie im französisch-preußischen Handelsvertrag vorgesehen waren. Preußen wies diesen Vorschlag zurück, da es den Verlust seiner Vorherrschaft im Zollverein sowie die Aufgabe des französischen Handelsvertrags nadi sich gezogen hätte. Die Verhandlungen wurden auf preußischer Seite geschickt geführt. Bismarck, der 1862 Ministerpräsident geworden war, war von der politischen Notwendigkeit des Ausschlusses Österreichs aus dem Zollverein überzeugt, und die süddeutschen Staaten wurden dadurch bei der Stange gehalten, daß man ihnen die Wahl ließ, entweder den französischen Vertrag anzuerkennen oder aus dem Zollverein auszuscheiden. Das Resultat war, daß im Oktober 1864 alle Mitglieder dem Weiterbestehen des Zollvereins zustimmten. Österreich und Preußen kamen im April i 8 6 j zu einer Einigung. Die Präambel des Vertrages bezog sich auf eine künftige allgemeine deutsche Zollunion, aber keiner hatte dabei ernsthaft die Vorstellung, daß äie bald erreicht werden würde. 77

I. Schaffung des Deutschen Reiches 1815—1871 Die Vorzugszölle des Vertrags von 1853 wurden durch eine Maiscbegünstigungsklausel ersetzt, und Österreich verlor damit schon vor seiner militärischen Niederlage durch Preußen die Vorherrschaft in der Wirtschaft, die ihm Bruck hatte gewinnen wollen.

1866 folgte die Niederlage Österreichs und seiner Verbündeten im Krieg der sechs Wochen, und Preußens politische und ökonomische Überlegenheit in Deutschland stand nun jenseits jeden Zweifels. Die Verträge des Zollvereins waren automatisch außer Kraft getreten, als die Feindseligkeiten begonnen hatten; rechtmäßig war der Zollverein aufgelöst, obgleich er tatsächlich bestehen blieb. Zölle wurden weiterhin erhoben, und die Einkünfte wurden nach Berlin gesandt und unter den 78

Wirtschaßliche Entwicklung

1815—1871

Mitgliedern des Zollvereins wie früher verteilt — ein bemerkenswertes Beispiel für das „business -as usual" in Kriegszeiten. Der Zollverein nach 1866 (Karte 8). Der Norddeutsche Bund unter der Vorherrschaft Preußens, gewachsen durch die Eingliederung Hannovers und anderer deutscher Gebiete, war auch eine Zollunion, obgleich Hamburg und Bremen trotz der Mitgliedschaft im Bund ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit behielten. Die Staaten südlich des Mains, obgleich politisch unabhängig, traten ihm bei; ein neuer Zollverein entstand. Die alte Generalkonferenz (mit ihrem liberum veto) wurde durch einen Zollbundesrat ersetzt, in dem Entscheidungen auf Grund eines Mehrheitsbeschlusses gefällt wurden. Außerdem wurde ein gewähltes Zollparlament eingeriditet, das 1868 zum erstenmal zusammentrat — das erste Zusammentreten von gewählten Abgeordneten aus ganz Deutschland (ohne Österreich) seit der Frankfurter Nationalversammlung von 1848. Aber es wurde der Schauplatz ernster Auseinandersetzungen süd- und norddeutscher Staaten über politische und wirtschaftlidie Fragen, die zeigten, welche Differenzen zwischen den Staaten beiderseits der Mainlinie noch bestanden. Der Abgrund wurde erst durch den französisch-preußischen Krieg und die Schaffung des Deutschen Reiches von 1871 überbrückt. Entwicklung

von Verkehr

und

Schiffahrt

Die Entwicklung des Zollvereins hatte einen wichtigen Einfluß auf Beginn der industriellen Revolution in Deutschland. Gleich wichtig war die Verbesserung der Verkehrswege. Im frühen neunzehnten Jahrhundert hatten die schlechten Transportmöglichkeiten — besonders östlich der Elbe — wirtschaftlichen Fortschritt gehindert. Die erste deutsche Schotterstraße war 1753 in Bayern angelegt worden. Preußen begann vierzig Jahre später, seine Hauptstraßen zu verbessern. Napoleon baute Heerstraßen in Westdeutschland, wie die von Metz nach Mainz und Bremen. In den 1820er Jahren unternahm Preußen

79

I. Schaffung des Deutschen Reiches 1815—1871 ein Straßenbauprogramm, um Industrie und Handel zu fördern und die Pläne des Mitteldeutschen Handelsvereins zu vereiteln. Uber 4000 km neuer Straßen wurden zwischen 1 8 1 7 und 1828 gebaut. 1845 nannte ein englischer Reisender die rheinischen Straßen „luxuriös". Aber die große Zeit preußischen Straßenbaus lag zwischen 1845 und 1870, als die Gesamtlänge der preußischen Hauptstraßen von etwa 1 2 000 km im Jahre 1 8 3 7 auf fast 3 0 0 0 0 km im Jahre 1862 anwuchs. Während England und Frankreich ihr Hauptstr.aßennetz schon vor der Zeit der Eisenbahnen fertig hatten, ging in Deutschland die Entwicklung von Straße und Eisenbahn H a n d in Hand. Während viele Straßen im frühen neunzehnten Jahrhundert schlecht waren, boten Flüsse (besonders Rhein und Elbe) gute Transportmöglichkeiten. Die Hauptflüsse jedoch kreuzten die Grenzen verschiedener deutscher und ausländischer Staaten, und Durchfuhrzölle beeinträchtigten die Ausdehnung des Flußverkehrs. Abkommen, die zwischen 1 8 2 1 und 1 8 3 1 getroffen wurden, regulierten Zölle auf idem Rhein, der Elbe und Weser, aber erst in den 1860er Jahren wurden diese ärgerlichen Bürden entweder stark gemildert oder auf den Hauptflüssen ganz abgeschafft. N u r ein Dampfer machte 1 8 1 6 die Fahrt von Rotterdam nach Köln. Vierzehn Jahre später fuhren hier etwa ein dutzend. Dampfer erschienen auch auf der Donau. Die ersten Flußdampfer beförderten Passagiere, aber in der Folge wurde der Warentransport (wie Kohle von der Ruhr) wichtiger. 1841 eröffnete eine Gesellschaft Schlepperddenste für Rheinkähne. Außerdem wurden Kanäle gebaut; das größte Unternehmen war die Verbindung von Rhein, Main und Donau, das neun Jahre dauerte (1836—4$) und 30 Millionen Mark kostete. Die Entwicklung der Eisenbahnen. Es waren jedoch die Eisenbahnen, die Deutschlands industrielle Entwicklung wirklich erst ermöglichten. Sie erweckten die Nation aus ihrer wirtschaftlichen Stagnation und führten das zu Ende, was der 80

Wirtschaflliche Entwicklung 1815—1871 Zollverein begonnen hatte. Sie beeinflußten alle Lebensgewohnheiten derart stark, daß in den 1840er Jahren Deutschland schon ein ganz anderes Aussehen gewonnen hatte. Die ersten deutschen Eisenbahnen waren kurze Vorortstrecken (NürnbergFürth, Berlin-Potsdam, Braunschweig-Wolfenbüttel), aber 1839 wurde Dresiden als Hauptstadt Sachsens mit Leipzig, der Hauptwirtschaftsstadt, über 100 km hinweg verbunden. Ende 1846 gab es über 3000 km Eisenbahnlinien. In den 1860er Jahren waren die Hauptstrecken fertig. Drei Strecken verbanden West- und Ostdeutschland — eine durch die norddeutsche Tiefebene (Aachen—Berlin—Königsberg), eine durch Mitteldeutschland (Essen—Dresden—Beuthen) und eine dritte im Süden (Mannheim—München—Wien). Drei weitere Strecken verbanden Nord- und Süddeutschland — eine im Osten (Stettin—Berlin—Prag), eine in der Mitte (Hamburg—Kassel —München) und eine am Rhein (Amsterdam—Köln—Basel). Der Bau der Eisenbahnen förderte die Schwerindustrien, denn Schienen und Schwellen, Lokomotiven und Waggons mußten gebaut und Kohle mußte geliefert werden; wie auch anderswo mußte man starke ausländische Konkurrenz meistern. Als die Eisenbahnen fertig waren, gab es neue Gelegenheiten für die Entwicklung des Wirtschaftspotentials, besonders in den Grenzgegenden wie Schlesien. Eisenbahnen brachten auch die Deutschen verschiedener Staaten enger zusammen und schwächten den Partikularismus, der für Deutschlands politisches und gesellschaftliches Leben im 19. Jahrhundert so charakteristisch war. Das Deutsche Reich, erklärte Wilhelm Raabe, wurde mit dem Bau der ersten Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth gegründet. Das Ansteigen der Schiffahrt. Während die Eisenbahnen den Binnenhandel förderten, breitete die Handelsmarine den Überseehandel aus. Der Wiederaufstieg nach der Lähmung durch Napoleons Kontinentalsperre war nur langsam, und einige Zeit lang lag der deutsche Seehandel größtenteils in den Händen von Engländern und Holländern. Die Streitigkeiten 6

Passant

81

I. Schaffung

des Deutschen

Reiches

1815—1871

zwischen den deutschen Küstenstaaten, die strengen Schiffahrtsgesetze und differenzierten Hafengebühren ihrer Rivalen hinderten die Entwicklung der deutschen Schiffahrt. In den 1830er und 1840er Jahren dehnte sich Preußens Schiffahrt mit der Wiederaufnahme des baltischen Getreidehandels aius. Nodi wichtiger war die Stärkung der Hamburger und Bremer Schiffahrt auf den atlantischen Routen, und zwischen zwanzig und dreißig deutsche Schiffe brachten in den frühen 1830er Jahren Zucker und Kaffee aus Brasilien. Zu dieser Zeit war Bremen Deutschlands führender Hafen. Unter Bürgermeitser Smidts fähiger Führung baute Bremen 1827 den Vorhafen Bremerhaven. Er wurde der Haupthafen, von dem Auswanderer in die neue Welt gingen; 1852 passierten hier fast 60 000 von ihnen. Während Bremen vorwiegend Schiff ahrtszentrurn war, lag Hamburgs Bedeutung in seiner Handelstätigkeit. Es ist bemerkt worden, daß die Hamburger in der ersten Hälfte des Jahrhunderts hauptsächlich Handelsvertreter für England waren, und ohne Zweifel wurden Handel und Schiffahrt in dieser Zeit von britischen Interessen beherrscht. Der Wohlstand wurde von dem Brand 1842 vorübergehend gemindert; die Gründung der Hamburg-Amerika-Linie (1847) und des Norddeutschen Lloyd (1857) bedeutete dagegen den Anfang einer neuen Ära des Wohlstands für beide Hansestädte. In den i8joer Jahren trieben Hamburger Firmen — besonders die von W. O'Swald und A. Woermann — in West- und Ostafrika Handel, und ein Handelsabkommen wurde mit dem Sultan von Sansibar abgeschlossen. Der Hamburger Firma Gadeffroy gelang es in den späten 1850er Jahren, den samoanischen Koprahandel unter ihre Kontrolle zu bringen. Das waren jedoch nur bescheidene Anfänge; noch 1870 war die deutsche Handelsmarine kleiner als die französische, und die Tonnage ihrer Dampfer war im Vergleich mit der Englands unbedeutend. 82

Wirtschaftliche Entwicklung

1815—1871

Handelstonnage Deutschlands, Englands, der USA und Frankreichs 1870 1850 Gesamttonnage Dampfertonnage Deutschland 139 ooo 1 982 000 82 000 Frankreich 688 000 1072000 ι 54 000 5 691 000 ι 1 1 3 000 England 3 $6$ 000 USA 1 $ 86 ooo2 ι 517 000 193 000 Anwachsen von Kapital und Maschinenindustrie Ein weiterer Faktor beim Zustandekommen der industriellen Revolution war die Bereitstellung von Kapital. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts war Deutschland, verglichen mit England und Frankreich, ein armes Land. Kapital für Industrieunternehmen wurde vom Staate (ζ. B. für königliche Minen in Schlesien und die königliche Eisengießerei in Berlin) und von Einzelpersonen oder Familien (ζ. B. für Fabrikgründungen von Krupp in Essen, von Borsig in Berlin, von Harkort in Wien) gestellt. Dann kamen stille Teilhaberschaft — besonders in den Bergwerkgesellschaften — und Aktiengesellschaften. Außer in den Hansestädten (die das französische Handelsgesetz übernommen hatten) mußten Aktiengesellschaften anfangs ein besonderes Staatsprivilegium erwerben. Aber 1838 wurde in Preußen ein Eisenbahngesetz und 1843 ein umfassendes Gesetz für Aktiengesellschaften angenommen. In den 1850er Jahren wurden Finanzinstitute den Vorbildern des französischem Crédit foncier (für Bodenkredite) und Crédit mobilier (für Aktien-Emissionen) geschaffen. Das österreichische Kreditinstitut und die Darmstädter Bank waren solche Institute. In Preußen wurden Banken anderer Art eingerichtet (z. B. die Diskontogesellschaft, die Berliner Handelsgesellschaft und der Schlesische Bankverein). Das Aktienkapital deutscher Banken, Nur Hamburg und Bremen. 2 Nur Außenhandel. Quelle: Sir J . H. Clapham, Economic Development of France and Germany, Cambridge 1928, S. 1 1 2 , 3 5 6 . 1



83

I. Schaffung des Deutschen Reiches 1815—1871 die zwischen 1853 und 1857 gegründet wurden, betrug etwa 600 Millionen Mark, i860 gab es etwa 320 unlängst gegründete Gesellschaften (Aktiengesellschaften und stille Teilhaberschaften) mit einem Kapital von schätzungsweise 2400 Millionen Mark. Zu dieser Zeit wurde auch Frankfurt zu einem internationalen Zentrum für den Handel mit Staatspapieren. Ausländisches Kapital spielte ebenfalls eine Rolle im Anwachsen deutscher Industrien. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden englische, französische und belgische Gesellschaften in Westdeutschland eingerichtet. Wenigstens neunzehn englische Bergbaugesellschaften wurden in den 1850er Jahren am Rhein gegründet. Die Hibernia- und Shamrock-Minen blühten unter der Leitung eines tüchtigen Iren (W. T. Mulvany) auf. Eine Generation lang hatte Preußen sich bemüht, von seinen Nachbarn mit fortgeschritteneren Industrien zu lernen. Beuth, der der Lehrer der preußischen Industrie genannt wurde, unterstützte die Bildung des Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes ( 1 8 2 1 ) und gründete in Berlin und den Provinzen technische Schulen. Was er konnte, schaute er englischen Fabrikanten ab, ohne dabei besonders zimperlich zu sein. Der Aufstieg der Schwerindustrie. Die Ausbeutung der Stein- und Braunkohlenlager und die Entwicklung der Eisen-, Stahl- und verwandter Industrien legten das Fundament für Deutschlands industrielle Ausdehnung. Das Deutsche Reich sei eher auf Kohle und Eisen als auf Blut und Eisen gebaut worden, sagte Keynes. Die Kohlevorkommen an Ruhr und Saar und um Aachen wurden in den späten 1830er Jahren in kleinem Umfang mit Erfolg abgebaut. 1846 förderte Preußen nur etwas mehr als 3 Mill. Tonnen jährlich — viel weniger als Frankreich oder Belgien — , aber mit der Ausdehnung des deutschen Eisenbahnnetzes stieg auch die Kohleproduktion. Braunkohlenbergbau wurde ebenfalls erfolgreich betrieben. In den 1860er Jahren hatte Deutschland seine kontinentalen Rivalen als Kohleproduzent überflügelt, aber war immer noch weit hinter England. 84

Wirtschaftliche

Entwicklung

Kohleförderquantum

1815—1871

(in metrischen Tonrien)

Dtschld. u. Luxemburg England Kohle Braunkohle Frankreich Belgien i860 81300000 12300000 4400000 8300000 9600000 1871 i i # 000 000 29400000 8 joo 000 13 300 00013 700 000 Quelle: Sir J. H. Clapham, Economic Development oí France und Germany, S. 280—1. Die deutsche Kohlenindustrie eroberte die Heimatmärkte — das Rheintal, wo sie mit belgischer und sogar englischer Kohle konkurrierte, und Süddeiutschland, wo Holz als Brennstoff verwendet worden war. Nur in den Küstenstädten hielt sich englische Kohle. Im frühen 19. Jahrhundert besaßen die in den alten Metallindustrien beschäftigten Handwerker nodi ein großes Maß an überlieferten Fertigkeiten, aber als das Zunftwesen abgeschafft wurde, sank ihr Können. Die Eisenwerke Schlesiens und des Siegerlands, die Stahlwerke von Solingen und die Silberminen im Harz waren kleine Unternehmen nadi dem Handwerkssystem, aber in den 1840er Jaihren waren schon einige große Eisen-, Stahl- und Maschinenfabriken gegründet worden. Eine neue Ära wurde durch die Entwicklung der Eisenbahnen und durch den zunehmenden Verbrauch an Koks statt Holzkohle beim Verhütten eingeleitet. Die Eisenbahnen benötigten selbst Eisen- und Stahlwaren; sie trugen dazu bei, daß Eisen und Koks zusammenkamen und verbanden die Metallindustrien mit neuen Märkten. Erst nach i860 allerdings wurden diese Industrien schnell zu großen Unternehmen im heutigen Sinne. Während im Jahre I 8 J O Deutschland nur $29 000 t Roheisen produzierte verglichen mit Frankreichs 898 0001, so produzierte es 1875 2 000 000 t und Frankreich nur 1 448 000 t. Der Anstieg des Maschinenbaus ebnete den Weg für die Modernisierung anderer Industrien wie der Textilindustrie. Die Textilindustrie. Hier war der Fortschritt ungleidi85

I. Schaffung

des Deutschen

Reiches

1815—1871

mäßig. Die Herstellung von Leinen, Hanf und Wolle verblieb lange Zeit in den Händen bäuerlicher Heimarbeit unter Verwendung selbst gewonnenen Rohmaterials. In der Wollindustrie wurden dann die berufsmäßigen städtischen WeberHandwerker wichtiger als die nur nebenbei arbeitenden bäuerlichen Weber. Andererseits spielte sich die Herstellung von Baumwolle und Seide, für die Rohmaterialien eingeführt werden mußten, zwangsläufig im größerem Stile ab. Die Verteilung der Rohmaterialien an Spinner, Weber und Färber konnte nur durch die Tuchhändler erfolgen, die etwas Kapital hatten und als „Verleger" wirkten. Fabriken waren noch immer klein und einfach. In den 1840er Jahren wurden nur zwei von den zehn Baumwollspinnereien im Gebiet Krefeld durch Dampf betrieben, sechs im Handbetrieb und zwei durch Pferde. Erst nach 1 8 4 j wurden Maschinenspinnereien langsam in die Leinen- und Wollindustrien eingeführt, und Handspinnereien gab es noch nach der Reichsgründung. Zwischen 1850 und 1870 vollzogen sich in der Wollmanufaktur wichtige Änderungen, und als in den späten 1860er Jahren die Technisierung in großem Ausmaß durchdrang, konnte die heimische Schafwolle den Rohstoff-Bedarf nicht mehr befriedigen. Die Baumwollindustrie entwickelte sich nach 1840 ebenfalls schnell. Zu dieser Zeit wurden nur i j 000 bis 16000 t unbearbeiteter Baumwolle jährlich importiert, doch zwanzig Jahre später (1861) war die Menge auf 67000 t gestiegen. Es gab über 300 Baumwollwebereien, die 2 l U Mill. Spindeln hatten und 34 663 Personen beschäftigten; außerdem gab es über 150000 Handwebstühle. Die Wirtschaftskrise, die durch die Verknappung der Baumwolle eintrat (weil die Häfen der amerikanischen Südstaaten während des amerikanischen Bürgerkriegs blockiert wurden), hatte wichtigen Einfluß auf die Entwicklung dieser Industrie. Die Spinnereien mußten mehr Maschinen auf indische Baumwolle umstellen. In Sachsen ersetzten große Fabriken mit modernen Maschinen kleinere Unternehmen. Die Einführung kraftgetriebener Spindeln und 86

Wirtschaftliche

Entwicklung

1815—1871

Webstühle wurde durch das Abwandern der Handweber zu anderen Industrien und die zeitweilige Verbilligung englischer Textilmaschinen begünstigt. Ein offizieller preußischer Bericht stellte fest, daß die Knappheit an Baumwolle den technischen Fortschritt besonders beim Spinnen bedeutend gefördert habe. In den frühen 1870er Jahren verarbeitete die Industrie n é 000 t Baumwolle pro Jahr — mehr als Ve des Bedarfs der englischen Industrie. Chemische und elektrische Industrien. Die Entwicklung dieser beiden Industrien in den 1850er unid 1860er Jahren war für die Zukunft von besonderer Bedeutung. Wissenschaftliche Forschungsarbeiten aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts ermöglichten ihr Entstehen. Deutschland besaß für sie reichlich Rohstoffe. Die Staßfurter Vorkommen an Kali z. B. wurden nach 1861 schnell ausgebeutet, und Rohsalzerträge stiegen von 2000 t im Jahr 1861 auf 375 000 t zehn Jahre später. In der Elektroindustrie fiel die Zeit wissenschaftlicher Entwicklung in die 1860er Jahre, als Werner von Siemens den Dynamo erfand, und ihre Ausdehnung in die folgenden Jahrzehnte. Landwirtschaft. Auch hier wurde in dieser Zeit wesentlicher Fortschritt erzielt. Zwischen 1840 und 1870 trat an die Stelle der Dreifelderwirtschaft (Wechsel von Roggen, Gerste, Brache) mit Gemengelage und Flurzwang die Fruchtwechselwirtschaft mit „Separation" der Äcker. Die Verbesserung der Landwirtschaft verdankte viel der Arbeit Albrecht Thaers und Justus von Liebigs. Thaer betonte die Wichtigkeit von Einzäunung, tieferem Pflügen, besserem Anbauwechsel und besseren Geräten. Liebig war der Vater der modernen Landwirtschaftschemie. Er wies darauf hin, daß chemischer Dünger den Boden verbessern und den Ernteertrag erhöhen konnte. Diese neue Wissenschaft wurde durch Versuchsstationen der Universitäten, Landwirtsdiaftsschulen und besondere Winterschulen verbreitet, wo kurze Lehrgänge zu einer Jahreszeit abgehalten wurden, die Bauernsöhnen gelegen kam. Der Erfolg dieser Anstrengungen, junge Bauern zu schulen, kann durch die Entwicklung der Zuckerrübe 87

I. Schaffung des Deutschen Reiches 1815—1871 belegt werden, die an die Fertigkeit und das Wissen des Anpflanzers ungewöhnliche Anforderung stellt. In den späten 1860er Jahren kamen 2V2 Mill, t davon auf den Markt und 2 1 1 000 t Rohzucker wurden jedes Jahr produziert. Sozialwirkungen der industriellen Entwicklung Zunehmen der Bevölkerung. Diese Umwälzungen in Industrie und Landwirtschaft wurden durch Anwachsen und Umgruppierungen der Bevölkerung beeinflußt und beeinflußten ihrerseits Bevölkerungsbewegungen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wohnten in Deutschland weniger als 25 Mill. Mensdien. In der Mitte des Jahrhunderts gab es schon 35 Mill, und zur Zeit der Reichsgründung waren es 40 Mill. Anwachsen der Bevölkerung Deutschlands Deutschld. Preußen 1815 24 833 ooo1 10 319 993 182$ 28 X13 000 — 1835 30802000 13 692 889® 1845 34 290 000 — 1855 36138000 17202637 1865 39548000 19 254 6494 1875 425x8000 —

Sachsen

181}—ι8γο

Bayern

Württemb.



3707966 a

ι 410 327







i J95 6683

42511183

ι 627 122 3







2039176

4547239

ι 669 720

2 337 1924

4 807 192 4

17471874







»1816 21818 31834 41864 Quellen: P. Benaerts, Les Origines de la Grande Industrie Allemande, Paris 1933, S. 136. G. Stolper. 88

Wirtschaftliche Entwicklung

1815—1871

Dieser Zuwachs beruhte hauptsächlich auf der hohen Geburtenziffer und nicht auf einem Rückgang der Sterblichkeit. Eine Analyse der Altersgruppen zeigt, daß Deutschland ein Land junger Menschen war. 1868 war 45 % der preußischen Bevölkerung weniger als 20 Jahre alt. Die anwachsende Bevölkerung gab genug Arbeitskräfte für die sich ausdehnenden Industrien ab und erweiterte auch den Absatzmarkt für Fertigwaren. Im allgemeinen ging die Verstädterung langsam vor sich. In Preußen nahm die Stadtbevölkerung zwischen 1 8 1 6 und 1870 nur von 26,5 % der Gesamtbevölkerung auf 32,5 0/0 zu. In den 1860er Jahren kristallisierte sich jedoch die moderne Bevölkerungskarte Deutschlands klar heraus. Es gab drei Ballungszentren der Bevölkerung: Rheinland, Sachsen und Oberschlesien, obgleich die Hauptstädte und mittelalterlichen Städte noch immer viel größer waren als die neuen Industriezentren. Anwachsen deutscher Städte München Köln Essen Chemnitz Düsseldorf

1800 30 000 JO 000 4 000 14 000 10 000

1800—1880 1850 1 1 0 000 97 000 9 000 32 000 27 000

1880 230 000 145 000 57 000 95 000 95 000

Quelle: W. G. East, An Historical Geography of Europe, London 1935, S. 415. Soziale Probleme. In den größer werdenden Städten gab es alle jene sozialen Probleme, die allgemein die industrielle Revolution begleiteten. In den 1840er Jahren gab es schon Kritik an Hungerlöhnen, Kinderarbeit, schlechter Behandlung und Ausbeutung der Arbeiter. Löhne fielen in den frühen i8joer Jahren, aber stiegen dann stetig an. Es gab allerdings viel Not unter den schlechter bezahlten Arbeitskräften und jenen, die sich an aussterbende Gewerbe klammerten. 1863 gründete Lassalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein 89

I. Schaffung des Deutschen Reiches

1815—1871

(der bald darauf wieder einging), 1869 wurde die Sozialdemokratische Partei gegründet, die in der Politik des Landes eine so wichtige Rolle spielen sollte. Weder Industrie noch Landwirtschaft dehnten sich schnell genug aus, um den Lebensstandard der gesamten anwachsenden Bevölkerung auf der einmal erreichten Höhe z u halten. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wanderten viele Deutsche aus, besonders zwischen 1847 u n d 1854. 1847 allein verließen einige 90 000 Menschen das Land. Diese Auswanderung wurde manchmal auf politische Gründe zurückgeführt, aber tatsächlich waren diese von nur untergeordneter Wichtigkeit. D i e H a u p t ursache lag in den unbefriedigenden Zuständen in gewissen Landwirtschaftsgebieten. Revolution und Reaktion gab es zwischen 1848 unid 1854 überall in Deutschland, aber Auswanderer kamen hauptsächlich aus ländlichen Gegenden im Südwesten. Zwischen 1830 und i860 ging über eine Million Deutsche in die Vereinigten Staaten; die meisten siedelten sich nördlich des Ohio und östlich des Mississippi an sowie in Texas. Andere gingen nach Brasilien (in die Provinz Rio Grande do Sul) und Chile (Valdivia). Verschiedene Verbände wurden gegründet, um die Auswanderung 2u kontrollieren. Deutsche Überseeauswanderer

1821—ι8γο

I82I—1830

8 joo

I8$I—1860

ι 075 000

1831—1840

167000

1861—1870

832700

1841—I8JO

469300

Quelle: G. Stolper. Ebbe und Flut in der "Wirtschaft. Mit Deutschlands Industrialisierung gab es auch die mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden Ebbe- und Flut-Erscheinungen im Handel und Wirtschaftspaniken, die den „Wirtschaftszyklus" ausmachen. Dieses rätselhafte und beunruhigende Phänomen w a r in England seit dem Ende des 18. Jahrhunderts von Nationalökonomen und Staatsmännern beobachtet und diskutiert worden. A l s Deutschland seinen Platz unter den

90

Wirtschaftliche

Entwicklung

1815—1871

Industriestaaten des Kontinents einzunehmen begann, w a r es bald klar, daß auch hier ähnliche wirtschaftliche Kräfte am Werk waren. Es igab Notjahre 1 8 1 7 , 1847, 1857 und 1866. Das J a h r 1 8 1 7 bedeutete den Anfang einer Landwirtschaftskrise, die in den 1820er Jahren anhielt. Die Krise der späten 1840er Jahre w a r in der Ursache ebenfalls hauptsächlich landwirtschaftlicher Natur (dieKartoffelernte von 1845 w a r schlecht gewesen), aber der Zusammenbruch von Handelsfirmen in Hamburg, Bremen, Frankfurt/M., Karlsruhe und Mannheim stand mit der englischen Finanzkrise von 1847 im Zusammenhang. Die Depression von 1857 zeigte, wie sehr der Erfolg deutschen Handels vom Welthandel abhing. Es war eine Finanzkrise, die besonders Hamburg traf; 1 5 0 Firmen mit einer Gesamtschuld von 300 Mill. Mark brachen zusammen. Große Firmen wie Palmié in Berlin und Boskowitz in Wien und Budapest machten bankrott. Die Wirtschaftskrise der frühen 1860er Jahre beschränkte sich größtenteils auf die Baumwollindustrie und war eine Folge der plötzlichen Knappheit an Rahmaterial während des amerikanischen Bürgerkriegs. Die Krisen zwischen 1847 und 1866 verursachten große Not, aber sie führten zum Verschwinden kleiner Firmen, die mit veralteten Maschinen gearbeitet hatten, und verhalfen am Ende zu größerer industrieller Leistungsfähigkeit.

Deutschland

1871

Zur Zeit der Reichsgründung hatte Deutschland (ohne Österreich) schon die Grundlage seiner Industrien gelegt, die es während der nächsten fünfzig Jahre zum größten Industriestaat Europas machen sollte. Durch die Schaffung des Zollvereins, durch die Ausnutzung der Rohstoffe auf eigenem Boden (besonders seitens der neuen Schwer- und Chemikalienindustrie) und durch die Intelligenz und Energie seiner Wissenschaftler und Unternehmer (die eigene Fabrikationstechniken

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I. Schaffung des Deutséen

Reiòes

181Ï—1871

entwickelten) stärkte Preußen seine Vorherrschaft; aber seine Größe und Bevölkerung hatten ihm sowieso schon .die Führung des Reiches ¡gegeben, das es unter Bismarcks Diplomatie geschaffen hatte. Die Eingliederung Elsaß-Lothringens 1871 brachte neue Industriekräfte, und zwar in der Form lothringischen Eisenerzes und elsässischer Textilindustrie. Diese beschleunigten weiterhin die schnelle industrielle Entwicklung und ermöglichten es Deutschland, Frankreich zu überholen und vor dem ersten Weltkrieg mit England und den U S A als Fertigwarenproduzent in Wettbewerb zu treten. Doch der späte Beginn industrieller Umwälzungen in Deutschland konnte den autoritär-feudalen Standpunkt seiner herrschenden Klassen nicht ändern. In Preußens Ostprovinzen beherrschten die mächtigen Landbesitzer (die zum großen Teil Offiziere und Beamte stellten) weiterhin viel strenger ihre Arbeitskräfte als französische oder englische Gutsherren. Der Gutsherr in Ost- und Westpreußen war nicht nur im wirtschaftlichen Sinne „Herr", sondern er vertrat audi durch seine Gerichtsbarkeit die öffentliche Ordnung und war in vielen Fällen Richter in eigener Sache. Außerdem waren die Tagelöhner durch die Gesindeordnung ( 1 8 1 0 in Kraft getreten, als die Emanzipation von Frondiensten Wirklichkeit wurde, und durch Gesetz von 1854 bestätigt) so sehr der Willkür ihrer Brotgeber ausgeliefert, daß Dawson* noch 1908 sagen konnte: obgleich das Wort „Leibeigenschaft" nicht mehr verwendet wird, besteht diese dennodi dem Sinne und teilweise den Tatsachen nach. Auch waren diese Zustände nicht auf Preußen beschränkt; denn die meisten deutschen Staaten hatten ihre „Gesindeordnungen", und die Emanzipation von Fronabgaben spielte sich in Bayern tatsächlich später als in Preußen ab. Man muß sich ferner daran erinnern, daß das Recht der freien Abwanderung in die Städte und zur Industriearbeit erst nach der Bildung des Norddeutschen Bundes zugestanden * W. H. Dawson, The Evolution of Modern Germany. London 1908, S.275—6. 92

Wirtschaftliche Entwicklung

1815—1871

wurde, und daß in den Städten selbst das Zunftwesen (mit Pflichtlehrzeit) die Revolution von 1848 überlebte und in Preußen sogar durch ein Gesetz von 1849 neu belebt wurde. Sowohl in der Stadt als auf dem Lande war daher das 1871 geeinte Deutschland in mancher Hinsicht ein zutiefst konservativer Volkskörper, wirtschaftlich wie auch 'politisch gesehen; nur das Rheinland war verhältnismäßig frei, auf das französische Besetzung und der Code Napoleon eingewirkt hatten. Zwar waren die Unternehmer, die die neue Industriegesellschaft organisierten, weit davon entfernt, in ihren technologischen Methoden konservativ zu sein; aber in den Beziehungen zu den Arbeitskräften, die vom Land in die Stadt kamen, um ihre Lage zu verbessern, übernahmen sie das autoritäre Prinzip der Gutsherren, während die Arbeiter selbst noch nicht wußten, wie sie für soziale oder politische Rechte kämpfen sollten. Es war ja erst eine Generation her, daß die Leibeigenschaft abgeschafft worden war, und kein Arbeiter kannte eine freiheitliche Gesellschaftsordnung. Die Tatsache, daß in Deutschland die industrielle Revolution mit ihrer Organisation größerer Verbände zu einer Zeit stattfand, als der Einfluß feudaler Einrichtungen und Ideen noch so stark war und bevor man bürgerliche oder politische Freiheit kannte, ist von großer Bedeutung für die spätere Entwicklung.

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Z W E I T E S

K A P I T E L

Das Deutsche Reich in Glanz und Niederlage (1871—1918) D I E Ä R A BISMARCKS

Bismarcks System Das Wort eines deutschen Historikers, daß Innen- und Außenpolitik eines Staates nicht voneinander getrennt werden können, weil sie beide der Ausdruck der herrschenden gesellschaftlichen Kräfte seien, gilt mit besonderem Recht vom Deutschen Reich, wie es Bismarck geschaffen hatte. Die Geschichte Deutschlands seit 1871 kann nicht verstanden werden ohne einen Einblick in die politischen Kräfteverhältnisse, wie sie in der Verfassung angelegt waren, aiber audi, wie sie sidi in der Praxis abspielten. Die wesentlichen Züge der Bismarckschen Gründung waren, daß Preußen .das neue Reich beherrschte, und daß Preußen blieb wie es war, vom König regiert (so weit er genug Charakterstärke hatte, seinen Willen in die Tat umzusetzen) und dazu von der großenteils adligen, militärisch-bürokratischen Kaste. Im Landtag garantierte den Konservativen das Dreiklassenwahlrecht das Übergewicht, im Herrenhaus waren sie unter sich. Im neuen Bundesrat hatte Preußen absolutes Vetorecht über alle Verfassungsänderungen, und durch seinen Einfluß auf die kleineren Staaten war es praktisch sicher, daß gegen seinen Willen keine Vorlage jemals Gesetz werden würde. So brauchte Preußen die Opposition kleinerer Staaten nicht zu fürchten, deren unerschüttert bewahrte monarchisch-konservative Regierungsform vielmehr dazu beitrug, auch die Stellung des preußischen Königs in seinem eigenen Lande zu stützen. Die Präambel der Verfassung von 1871 macht den konservativen Charakter des neuen preußischdeutschen Reiches klar. Diese Verfassung geht nicht vom Volke 94

Die Ära Bismarcks aus, sondern ist gestiftet von den Herrschern der einzelnen Staaten. Bismarck hatte dafür gesorgt, daß Preußen nicht „in Deutschland aufging", auf keinen Fall in einem demokratischen Deutschland. Die Erhaltung der kleineren Dynastien w a r schon an sich eine Garantie f ü r die Hohenzollernherrschaft in Preußen. So blieb also im neuen preußisch-deutschen Reich der König Oberbefehlshaber des preußischen Heeres und kontrollierte persönlich die Ernennung seines Generalstabs und der höchsten Offiziere. Dazu wurde er 1 8 7 1 , nur mit einigen Einschränkungen in Bayern und den süddeutschen Staaten, der Kriegsherr des geeinten Deutschland. Die Methoden und die Disziplin des preußischen Heeres wurden audi auf die Truppen der anderen Staaten ausgedehnt, und die Weltanschauung der herrschenden Klassen Preußens machte ihren Einfluß durch das ganze Reidi geltend. Das Recht zu Kriegserklärung und Friedensschluß lag in den Händen des Kaisers, und da Preußen 3 /s des Reiches ausmachte, bestand kaum die Gefahr, daß die kleineren Staaten sich dem Kaiser entgegenstellen würden. Der vom Volk gewählte Reichstag hatte formell große gesetzgeberische Rechte und konnte den Haushalt kontrollieren; aber der eigentliche Regierungschef, der Reichskanzler, w a r nicht dem Reichstag, sondern dem Kaiser gegenüber verantwortlich, und als preußischer Ministerpräsident und Präsident des Bundesrates sprach er zum Parlament mit eindrucksvoller Autorität. Der Reichstag war von Anfang an politisch machtlos, da er in viele kleine Parteien zerfiel; und es war unwahrscheinlich, daß in Friedenszeiten sich eine klare und einige Mehrheit herausschälen würde. E r konnte nur bis zu einem gewissen Grade die Ragierungspolitik beeinflussen, und mit Redit ist er nur als ein „demokratisches Pflaster" auf der eisernen Struktur der preußisch-deutschen Regierung bezeichnet worden. Aus sich selbst hat Bismarck, als er die Reichsverfassung schuf, eine Dauereinrichtung gemacht. E r war unter Wilhelm I. weniger Beschränkungen unterworfen als ein 95

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 amerikanischer Präsident oder ein englischer Premier. Durch seine Dienste und seine starke Persönlichkeit hatte er sich Wilhelm I. unentbehrlich gemacht, durch Rüdetrittsdrohungen konnte er ihn immer herumbringen. Praktisch verfügte er über die große politische Macht des Souveräns und die seines eigenen Amtes zusammen. Turmhoch stand er über den Kollegen im preußischen Ministerium, und der Vizekanzler sowie die Staatssekretäre waren nur seine Untergebenen. Innen- und Außenpolitik lag in seinen Händen, und abgesehen von den Wünschen des Kaisers bestand die einzige Beschränkung seiner Macht darin, daß er einer arbeitsfähigen Mehrheit im Unterhaus des Landtags und im Reichstag bedurfte. In Bismarcks System gab es zwei große Fehler. Die enorme Macht, die er — buchstäblich — genoß, war vom Willen des Kaisers abhängig; und entweder er oder ein künftiger Kanzler konnte einen neuen Kaiser nicht so leicht beeinflußbar finden als Wilhelm I. In diesem Falle konnten Deutschland, und Europa, in Gefahr geraten, wenn des neuen Kaisers Charakter oder Fähigkeiten seinen Aufgaben nicht gewachsen waren. Zweitens mußte die Vorherrschaft des preußischen Heeres und der Junkerklasse zu politischen Spaltungen im Reich führen. Die Entwicklung demokratischer Ideen im Reich und in Preußen mußte die Forderung mit sich bringen, daß die eigentliche Grundlage der konservativen Macht, das preußische Dreiklassenwahlrecht, mit seinen schweren Ungerechtigkeiten dem System allgemeinen Wahlrechts anigepaßt werde, das sogar von Bismarck für Reichstagswahlen zugestanden worden war. Es gab keine logische Rechtfertigung dafür, daß die preußischen Bürger in Preußen keine Vertreter ihrer Ansichten erwählen konnten, während sie es jedoch im Reich tun durften. Bismarcks politische Verbündete

und

Gegner

Tatsächlich gab, sofort nach der Schaffung des Reiches, das allgemeine und geheime Wahlreicht Anlaß zu Mißverständ-

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Die Ära Bismarcks nissen und innerpolitischem Konflikt. Bismarcks eigene alten konservativen Freunde in Preußen fürchteten, daß er sich entschlossen hätte, stärker zu einem parlamentarischen Regierungssystem zu neigen; seine neuen national-liberalen Verbündeten hofften, durch ihre starke Vertretung im gewählten Parlament die bescheidene Macht, die dem Reichstag in der Verfassung garantiert war, etwas auszudehnen. Beide täuschten sich. Bismarck w a r wie jeder andere preußische Junker entschlossen, die Macht der Monarchie und der herrschenden Klasse aufrechtzuerhalten. Aber 1866 hatte er die Notwendigkeit eingesehen, breite nationale Bewegung, wie sie die Nationalliberalen vertraten, f ü r sein eigenes Einheitswerk einzuspannen. Besonders von 1866 bis 1870 w a r er darum bemüht, sich der H i l f e der süddeutschen Liberalen zu vergewissern. Z u weiteren Zugeständnissen jedoch dem Liberalismus gegenüber w a r er nicht bereit. E r beabsichtigte, sich selbst und die Monarchie jenseits -der Parteien zu halten, auch der konservativen, und sie alle (mit Ausnahme jener, die er als ausgesprochen staatsfeindlich ansah) für die Zwecke seines Staates zu gebrauchen. Die Jahre 1870 bis 1880, die als Bismarcks „liberale" Zeit angesehen worden sind, verdienen tatsächlich diese Benennung nicht. Z w a r stimmt es, daß er sich großenteils auf die nationalliberalen Stimmen im preußischen Landtag und im Reichstag stützte, um seine Innenpolitik durchzubringen; aber damit tat er schon mehr, als ihm lieb w a r , und er wurde dazu gebracht durch die engstirnige Opposition seiner alten preußischen Parteigänger, die einfach nicht verstehen wollten, daß gewisse Konzessionen dem Liberalismus gegenüber erforderlich waren, um die Einheit Deutschlands zu erlangen ohne gleichzeitig die konservativ-monarchischen Z u stände in Preußen preiszugeben. Antiliberale Aspekte der Politik Bismarcks. Sein Angriff auf die katholische Kirche, der „ K u l t u r k a m p f " , w a r gegen eine, seiner Meinung nach, politische Monstrosität gerichtet: nämlich die politische Partei auf religiöser Grundlage. Außer-

7

Passant

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II. Das Deutsche Reich 1871—1918 dem vertrat diese katholische Partei, das Zentrum, jede antipreußische K r a f t in innen- und außenpolitischen Dingen. Eine katholische Partei konnte sich mit den Großdeutschen im geschlagenen Österreich verbinden oder mit den katholischen Monarchisten in Frankreich. Tatsächlich war sie in aller Offenheit mit den Polen der preußischen Ostprovinzen verbunden (unter Ludwig Windthorst, dem früheren Justizminister Hannovers und jetzigem Führer des Zentrums), zudem mit den unversöhnlichen Vertretern des unlängst annektierten ElsaßLothringen und mit den Legitimisten Hannovers, die gegen die Eingliederung in den preußischen Staat protestierten. Bismarcks Angriff auf den Katholizismus wurde von den Nationalliberalen begeistert unterstützt, mit denen Falk, der preußische Kultusminister und Verantwortliche für die „Maigesetze" (1873), zusammenarbeitete. Die Nationalliberalen waren, wie auch Bismarck selbst, mehr aus verteidigungspolitischen Gründen gegen die Doktrin päpstlicher Unfehlbarkeit (die am 19. Juli 1870, dem Tag der französischen Kriegserklärung an Preußen, zum Dogma erhaben worden war) als aus echt liberalen Gründen. Eine liberale Partei, die außergewöhnliche Maßnahmen gegen die Überzeugungen einer religiösen Gemeinschaft unterstützt, wird sich sehr wahrscheinlich in großen Schwierigkeiten befinden, wenn ähnliche Maßnahmen gegen eine politische Partei vorgeschlagen werden. Der Kulturkampf. Wenigstens teilweise hatte der Kulturkampf seinen Ursprung in der Entschlossenheit der preußischen Regierung, diejenigen Katholiken (die sogenannten Altkatholiken) in ihren geistlichen Ämtern zu schützen, die das neue Dogma päpstlicher Unfehlbarkeit ablehnten. Der erste Schlag fiel im Juli 1 8 7 1 , als Bismarck die katholische Abteilung im preußischen Kultusministerium aufhob. Vier Monate später nahm der Reichstag f ü r das gesamte Reich eine neue Klausel im Strafgesetzbuch an (den sogenannten Kanzelparagraphen), mit Strafen f ü r den Mißbrauch der Kanzel zu politischen Zwecken. Aber es war hauptsächlich in Preußen (das von allen 98

Die Ära Bismarcks

deutschen Staaten die stärkste Tradition religiöser Toleranz hatte), wo antiklerikale Gesetzgebung weiter entwickelt wurde. Im März 1872 nahm der preußische Landtag ein Gesetz an, das die Leitung aller Schulen in Staatshände legte, und im Juni verbot der stark antikatholische Kultusminister Falk durch ein Regierungsdekret von zweifelhafter Legalität allen Mitgliedern religiöser Orden, in Schulen zu unterrichten. Im folgenden Jahr erreichte der Kampf seinen Höhepunkt, als es Falk durch die berüchtigten „Maigesetze" gelang, alles Kirchenleben den Staatsgesetzen zu unterwerfen. Am 4. Juli 1872 hatte außerdem der Reichstag auf eine Petition hin das Jesuitengesetz angenommen, das die Jesuiten vom Reichsgebiet verbannte. Diese Maßnahmen waren so streng, daß sogar die evangelische Kirche — und natürlich das katholische Episkopat — protestiert hatte. Die Katholiken taten im übrigen so, als gäbe es die Maigesetze nicht, und der preußische Staat war gezwungen, Inhaftierungen vorzunehmen und weitere Gesetze zu beschließen, um sich jener Diözesen und Pfründen anzunehmen, deren Bischöfe und Priester verhaftet worden waren. Durch ein preußisches Lanidgesetz vom 9. März 1874 (ergänzt durch ein Reichsgesetz vom 6. Februar 1875) über die Einführung der Zivilehe sowie durch das preußische Klostergesetz vom Mai 1875, das die Auslösung aller klösterlichen Orden in Preußen innerhalb von sechs Monaten vorsah, wurde noch mehr Druck ausgeübt. Trotz dieser Maßnahmen, die eine päpstliche Enzyklika vom J.Februar 1875 für ungültig erklärte, setzte die katholische Kirche ihren Widerstand fort. 1876 waren neun preußische Bistümer unbesetzt, und über 1400 Gemeinden waren ohne rechtmäßig eingesetzte Priester. Die Erregung unter den Katholiken war so stark, daß ein katholischer Böttchergeselle, Kullmann, im Juli 1874 versuchte, Bismarck zu ermorden. Jetzt hatte der Kanzler schon selbst eingesehen, daß die ganze Kirchenpolitik falsch gewesen war. Nach dem Tode Pius I X . 7*

99

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 im Februar 1878 eröffnete er mit dessen versöhnlicher gestimmten Nachfolger Leo X I I I . Verhandlungen. 1880, 1882 und 1883 wurden Gesetze beschlossen, die die Maigesetze wesentlich abänderten, und 1886—87 stellte weitere Gesetzgebung viele Rechte wieder her, die die Katholiken früher besessen hatten. Gewisse Verluste, die die katholische Kirche in Preußen erlitten hatte, wurden nicht wieder ausgeglichen; das Antijesuitengesetz z.B. wurde erst 1917 abgeschafft. Auch behielt sich der Staat das Recht vor, gegen alle kirchlichen Ernennungen Verwahrung einzulegen. Aber im Prinzip hatte schließlich der Kulturkampf mit einer Niederlage für Bismarck und die nationalistischen Protestanten, die ihn unterstützten, geendet. Bismarcks langsamer und vorsichtiger Rückzug von dem kompromißlosen Standpunkt von 1871 konnte die Tatsache nicht verbergen, daß sein vor dem Reichstag zu Beginn des Konfliktes gegebenes Versprechen („Nach Canossa gehn wir nicht") schlecht eingehalten worden war. Der Bruch mit den Nationalliberalen. Abgesehen von dem Verlangen, den Kulturkampf zu beenden, wollte sich Bismarck auch von jeder Abhängigkeit von den Nationalliberalen befreien. Deren Führer, Bennigsen, versuchte verschiedene andere prominente Nationalliberale mit in die preußische Regierung hineinzubringen, als er 1877 zum Regierungsbeitritt aufgefordert worden war. Diese Verhandlungen, die Bismarck ohne Wissen des Kaisers führte, brachten ihm einen scharfen Tadel ein, aber sie enthüllten auch die nationalliberalen Hoffnungen auf weitere Verwirklichung eines parlamentarischen Regierungssystems. Als sich nun im Winter 1877-78 eine Reichstagsmehrheit, bestehend aus Konservativen, Zentrum und einigen Nationalliberalen, zugunsten von Schutzzöllen bildete, ergriff Bismarck die Gelegenheit, sich mit seinen alten Freunden zu vertragen und die Nationalliberalen an der Zollfrage zur Spaltung zu bringen. Zur gleichen Zeit gaben ihm zwei Attentate auf den Kaiser im Frühling und Sommer 1878 neue Parolen zum Aufgebot der konservativen Kräfte. 100

Die Ära

Bismarcks

Indem er die Verantwortung für die Attentate auf die Sozialdemokraten schob und zu deren Unterdrückung ein Antisozialistengesetz verlangte, konnte er weiterhin die Konservativen an sich binden und noch wirkungsvoller die Liberalen spalten. Außerdem ließ sich das Zentrum, das im wesentlichen konservative Führer hatte (katholische Prälaten, Adlige und Industrielle), langsam in den Kreis der Regierungsparteien bringen. Der Angriff auf die Sozialisten. Zu diesen politischtaktischen Beweggründen kam bei Bismarck ein Widerwille gegen den Internationalismus der neuen sozialdemokratischen Partei unid gegen ihre politisch-wirtschaftliche Doktrin, die an den Grundfesten des bestehenden Staates rührte. Noch stand ihm das Beispiel der Ausschreitungen der Pariser Kommune lebhaft vor Augen, und vergessen war jegliche Sympathie oder Toleranz gegenüber einer Bewegung, mit der er in den i86oern geflirtet hatte — damals, als sie ihm durch Ferdinand Lassalle in mehr nationalistischer Form bekannt wurde und als er an die Möglichkeit einer gemeinsamen Front gegen die verhaßte Fortschrittspartei glaubte. So wurde 1878 nach einer Wahl, bei der die konservativen Parteien stark zugenommen hatten, ein strenges Antisozialistengesetz beschlossen und in Intervallen bis 1890 erneuert, das jede öffentliche Betätigung der sozialdemokratischen Partei und der mit ihr verbundenen Gewerkschaften zu unterdrücken versuchte. Der Angriff auf das schnell anwachsende städtische Proletariat löste den Angriff auf die katholische Minderheit ab. 1879 wurde ein Gesetz für Schutzzölle angenommen, zum Nachteil des Proletariats und zum Vorteil der Junker und Großgrundbesitzer, die nun das Bündnis mit den neuen Industrieherren (besonders der Schwerindustrie) einzugehen begannen, welches solch unselige Folgen für Deutschland und die Welt gehabt hat. Eine Erleichterung allerdings schenkte Bismarck den Arbeitern: Sozialversicherungen gegen Krankheit, Unfall und Alter, die durch eine kaiserlidie Botschaft vom Jahre 1881 angekündigt und in Gesetzen 101

IL Das Deutsche Reich 1871—1918 von 1883, 1884 und 1889 in die T a t umgesetzt wurden. Soweit es aber deren Zweck war, die Arbeiter von der Sozialdemokratie zu entwöhnen, waren sie ein Mißerfolg; die Ansicht Liebknechts, daß sie lediglieli den Nachtwächterstaat, den Büttelstaat repräsentierten, der wie ein Gefängnisaufseher über dem Volke stehe, wurde in weiten Kreisen geteilt. Das konservative System. 1 8 8 1 waren die wesentlichen innenpolitischen Züge des deutschen Regierungssystems ausgebildet und wurden — mit Ausnahme einer kurzen Periode unter Caprivi — bis 1 9 1 8 nicht geändert. Bismarck hatte sein Bündnis mit den preußischen Konservativen erneuert und es durch Einschluß der rechten Nationalliberalen sowie — weniger gern — des Zentrums erweitert. Allen diesen Verbündeten gegenüber hatte er seine Unabhängigkeit bewahrt, hatte die Nationalliberalen gebrochen und seine Parteigänger unter ihnen dahin gebracht, daß sie sich stillschweigend auch noch des letzten Restes von Liberalismus entäußerten: nämlich der Forderung nach parlamentarischer Regierung. Durch die kontrollierte Presse und bei den Wahlen wurde der ganze Regierungseinfluß gegen die Linksparteien geworfen, während die Sozialisten das Sozialistengesetz gegen sich hatten. Verwaltung und Polizei waren mit viel weiter gehenden Vollmachten ausgerüstet als bei uns (England), und damit verfügte die Regierung über ein weiteres Zwangsmittel bei der Ausübung ihrer Herrschaft. Das Schulsystem wurde bis in die Universitäten hinauf sorgfältig überwacht. Dahinter stand das Bündnis von Landwirtschaft und Industrie, und von dort rekrutierten sich Offiziere, höhere Beamte und Industriekapitäne. Eine parlamentarische Regierungsform hätte die Interessen aller dieser Gruppen bedroht, wenn sie nicht — wie in England — eine große nationale Partei organisieren konnten, die sich durch Kompromiß und Konzession über die Klassenunterschiede hätte stellen können. Aber der preußische Junker behielt seinen feudalen Standpunkt bei und zeigte kein Talent f ü r Kompromiß oder Anteilnahme; die neuen Industrie-

102

Die Ära

Bismarcks

herren, im selben Ideenkreis groß geworden, übertrugen das Herr-Untertan-Verhältnis von den Bauernhöfen auf die Fabriken. Im von ihnen beherrschten preußischen Landtag hielten sie am antiparlamentarischen System fest, da sie ihre Landsleute aus der Arbeiterschaft (die sich immer stärker den marxistischen Doktrinen der Sozialdemokratie verbanden) sowie die nationalen Minderheiten von Polen, Dänen, ElsaßLothringern fürchteten. Sie fanden das Verhandeln mit einem alleinherrschenden Kanzler sicherer und ertragreicher als den Versuch, eine Mehrheit ihrer Landsleute zur aktiven Unterstützung des Staates zusammenzuschließen.

Die nationalen

Minderheiten

Polen. Die innere Spannung in Deutschland wurde durch Bismarcks Politik gegenüber den nationalen Minderheiten, Polen und Elsaß-Lothringern, verschärft. Das Einstellen der Angriffe auf die katholische Kirche zog kein Nachlassen Bismarckscher Unterdrückungspolitik gegenüber den polnischen politischen Ansprüchen nach sich; 1886 übernahm er die Idee „innerer Kolonisation" polnischer Provinzen, indem er Land durch den preußischen Staat aufkaufen ließ, wofür 100 Mill. Reichsmark vorgesehen wurden, und Deutsche darauf ansiedelte. Das Ergebnis war enttäuschend; denn die deutschen Ansiedler waren nicht die besten, und einige heirateten Polinnen und ließen ihre Kinder unter polnischem Einfluß. Außerdem wurden die Polen in einem A k t der Selbstverteidigung nur zu größerer Aktivität angetrieben, begannen genossenschaftliche Einrichtungen zu organisieren und ein stärkeres Bewußtsein ihrer Nationalität zu entwickeln. Elsaß-Lothringen. Hier war Bismarcks Politik ebenso erfolglos. Die angegliederten Provinzen erhielten ein eigenes, verfassungsmäßiges Statut als „Reichsland", direkt dem Kaiser unterstellt, der durch einen Statthalter zu Straßburg vertreten wurde. Aber harte Bedingungen für jene, die für die fran-

toi

II. Das Deutsche

Reich 1871—1918

zösische Staatsangehörigkeit optiert hatten, Beschränkungen der französischen Sprache in Sdiule und als Amtssprache sowie scharfe Kontrolle der Schulen selbst, an denen jetzt nur deutsdie Lehrer angestellt wurden, waren nicht gerade die besten Methoden, Sympathieen der Bevölkerung für die neuen Herrscher zu erwecken. Die Anhänglichkeit der Provinzen an Frankreich blieb stark; als sie 1874 eine Vertretung im Reichstag bekamen, schickten sie 15 Abgeordnete, die den anderen unversöhnlichen Gruppen, Polen und Sozialdemokraten, hinzugerechnet werden mußten, für die das Deutsche Reich in seiner bestehenden Form, sei es aus nationalen oder sozialen Gründen, unannehmbar war. Die Dänen Schleswigs. Bismarcks Behandlung der Dänen Schleswigs war nicht viel taktvoller. Der Volksentscheid, der im Prager Vertrag vorgesehen war und den nordschleswiger Dänen die Möglichkeit der Selbstbestimmung geben sollte, fand nicht statt, und die Befreiung von der Verpflichtung, ihn abzuhalten, war eine der Bedingungen des Bündnisses mit Österreich von 1879. Die dänischen „Optanten", die das Recht zur Wahl dänischer Staatsbürgerschaft hatten, wurden zum Militärdienst im preußischen Heer oder zum Verlassen des Landes gezwungen, und die dänische Sprache wurde in den Schulen langsam durch Deutsch ersetzt. Obgleich die schleswiger Dänen für das Reich keine militärische Gefahr darstellten, behandelte sie Bismarck so, daß dieser Punkt ein Schandfleck seiner Politik bliab. Wo Deutschland an seinen Grenzen nicht-deutsche Elemente umschloß, herrschte Härte und Unterdrückung auf der einen und Unzufriedenheit und Feindseligkeit auf der anderen Seite.

Auswirkungen

der Bismarckschen Politik auf die Parteien

Die Auswirkungen der entschiedenen Opposition Bismarcks gegen jede Erweiterung parlamentarischer Regierungsform waren sowohl im Reich als auch in Preußen ernster Natur.

104

Die Ära

Bismarcks

Die Parteien, die jeder Verantwortung für die Regierungspolitik enthoben waren und keine Gelegenheit hatten, durch Erfahrung die Kunst des Regierens zu erlernen, wurden zunehmend reine Interessenvertretungen, deren Hauptfunktion es war, auf den Kanzler im Namen der Gruppen, die sie vertraten, Drude auszuüben. Konservative und zum kleineren Teil Freikonservative vertraten die Landwirtschaft; Nationalliberale das große Unternehmertum; Freisinnige die akademischen Berufe und vom Großhandel jene Kreise, die für Freihandel waren; das Zentrum den Katholizismus; Sozialdemokraten die Interessen der Arbeiterschaft. Aus diesem Grunde betrachteten die Parteien jede Frage eher vom Standpunkt taktischer Vorteile für sich selbst aus als von dem der nationalen Wohlfahrt. Außerdem folgte aus dem Ausschluß der Parteien aus der praktischen Regierungsarbeit, daß die in den zentralen Ausschüssen alt eingesessenen Parteiführer einen immer stärkeren Einfluß auf die Mitglieder ausübten, denn qualifizierter Nachwuchs für die Regierungsaufgaben wurde nicht benötigt. Das Parteileben unter Bismarck hatte etwas Illusionistisches, verglichen mit dem in England, wo es um das Wohl und Wehe der Regierung geht. Das bestärkte die Deutschen in ihrer Neigung, in jeder politischen Partei den Ausdruck einer „Weltanschauung" zu sehen und die totale Sonderstellung einer Partei gegenüber allen anderen zu betonen. Sogar Bismarck selbst hatte Schwierigkeiten mit seinem System. Nach 1879 konnte er fest mit der Unterstützung der Konservativen und Nationalliberalen rechnen, aber das Zentrum, das ihm noch den Kulturkampf nachtrug, war nie ein verläßlicher Verbündeter; die Freisinnigen hofften immer nodi, daß Kronprinz Friedrich eine parlamentarische Regierungsform gutheißen würde, wenn er einmal die Thronnachfolge antreten sollte. Aber durch Appell an den Patriotismus, wie nach dem Anschlag auf des Kaisers Leben (1878) oder wegen der Gefahr eines französischen Angriffs (1887), war Bismarck in der Lage, 105

II. Das Deutsche

Reich 1871—1918

für seine Maßnahmen Regierungsmehrheiten zu bekommen. Und im schlimmsten Fall war er bereit, drastischere Maßnahmen zu ergreifen, wie er sie dem jungen Kaiser gegenüber in den ersten Monaten des Jahres 1890 empfahl. Bismarcks konservative

Außenpolitik

Grundideen. Bismarck begann auch seine Außenpolitik von einer im wesentlichen konservativen Grundlage aus, und zwar in zweifacher Hinsicht. Er wollte nicht nur die Unterstützung des russischen und österreichischen Reiches, die beide das autokratische Prinzip vertraten, sondern nach der Schaffung deutscher Einheit betrachtete er audi das Deutsche Reich als „saturiert", als einen Staat, der sich aus Abenteuern heraushalten und seine Energien der Aufgabe widmen müßte, die gewonnenen Gebiete und Positionen zu bewahren. Vor allem war also Bismarck idarauf aus, jade Verbindung von Staaten zu verhindern, die sein geschaffenes Werk bedrohen könnte. Darum bemühte er sich um eine Isolierung Frankreichs, wo Revanchegelüste für 1870/71 aufkommen mußten, und eine Annäherung an Rußland und Österreich. Da er zuerst standfest eine Politik kolonialer Expansion ablehnte, war es möglich, mit England auf gutem Fuß zu stehen und Frankreich von dem Gedanken abzulenken, die verlorenen Provinzen wiederzugewinnen, indem er dessen koloniale Ziele in Indochina und Afrika unterstützte. Diese außenpolitischen Grundsätze wurden von Bismarck selbst nicht immer beachtet, denn die Logik der Ereignisse war auch für ihn ziu stark. Zwar gewann die Idee eines konservativen Dreikaiserbundes etwas an Boden, ohne noch feste Gestalt anzunehmen, als 1872 in Berlin zwischen den drei Herrschern und ihren Außenministern Unterhaltungen gepflogen wurden; später, 1881, wurde ein Vertrag abgeschlossen, der Rußlands besondere Interessen in Bulgarien und Österreichs in der Herzegowina anerkannte. Der Vertrag sah ferner 106

Die Ära Bismarcks wohlwollende Neutralität der beiden anderen Reiche vor, falls eins von einer vierten Macht angegriffen werden sollte. Französischer Wiederaufstieg nach ι8γι. Aber vor dem Vertrag von 1881 hatten zwei Ereignisse gezeigt, wie schwierig es sein würde, Frankreich wirksam zu isolieren sowie Rußland und Österreich zusammenzubringen. Dem schnellen Wiederaufstieg Frankreichs nach 1 8 7 1 , der Zahlung der Kriegsschuld (1873) und dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen folgten provozierende Artikel in der französischen Presse, die dazu führten, daß sowohl Moltke als auch Bismarck einen Präventivkrieg erwogen. Aber als in der Berliner „Post" im April 1875 ein Versuchsballon losgelassen wurde mit der Überschrift „Ist der Krieg in Sicht?", intervenierten Königin Viktoria und der Zar persönlich bei Kaiser Wilhelm; als die Kriegsangst geschwunden war, sandte der russische Außenminister Gortschakow an alle seine europäischen Legationen eine Depesche folgenden Wortlauts: „Maintenant la paix est assurée." Damit unterstellte er, daß Bismarck den Krieg gewollt habe und nur durch russische Intervention an der Ausführung gehindert worden sei. Dieser Zwischenfall zeigte deutlich, daß Frankreichs Isolierung nur relativ und die Politik Rußlands gegen weitere preußisch-deutsche Machtzunahme gerichtet war. Deutschland und Rußland. Bismarcks Versuch, beim Berliner Kongreß von 1878 als „ehrlicher Makler" aufzutreten, brachte ihm und Deutschland den Groll des Zaren sowie weiter russischer Kreise ein, denen es schien, das Bismarck seinen Einfluß fast gänzlich zu Österreichs Nutzen verwendete. Es schmerzte Rußland, daß es (unter Drude von England und Österreich und von Bismarck so gut wie im Stich gelassen) einige der den Türken im Vertrag von San Stefano (1878) abgerungenen Vorteile wieder aufgeben mußte; dies schien ihm auch eine schlechte Belohnung für die wohlwollende Neutralität gegenüber Preußen in den Kriegen 1866 und 1870/71. Der Z a r drückte sich derart unverblümt aus, daß 107

Π. Das Deutsche Reich 1871—1918 Bismarck 1879 mit Österreich Verhandlungen über ein Verteidigungsbündnis führte; durch Rücktrittsdrohungen zwang er Wilhelm I., im Oktober 1879 dieses Bündnis anzunehmen. Der Abschluß dieses Vertrages wurde Rußland noch vor Ablauf des Jahres bekannt, und das alte Vertrauensverhältnis zwischen Rußland und Deutschland blieb für immer zerstört. Der Dreikaiserbund von 1880 stellte ein „détente" zwischen den drei Reichen dar, aber obwohl er 1884 erneuert wurde, konnte er doch die akute Krise von 1885/86 nicht verhindern, als die Serben (die damals unter österreichischen Schutz standen) das von Rußland protegierte Bulgarien angriffen; 1887 lief der Vertrag aus und wurde nicht erneuert. Die Rivalität zwischen Rußland und Österreich auf dem Balkan w a r zu scharf, um Bismarcks Vorstellungen von einem Dreierpakt viel Lebenskraft zu lassen; und Bewegungen nationalistischer Leidenschaft — Panslavismus auf der einen, Pangermanismus auf der anderen Seite — entstanden. Z w a r gelang es Bismarck, durch den Rücksicherungsvertrag von 1887 die Tür nach St. Petersburg offenzuhalten; aber der Vertrag vertrug sich äußerst schlecht mit Deutschlands Verpflichtungen gegenüber Österreich und wurde streng geheim gehalten; die, Grenzen seiner Wirksamkeit zeigten sich noch vor Bismarcks Sturz in den ersten Schritten einer Annäherung zwischen Rußland und Frankreich, durch Anleihen und Gewehrverkäufe. Trotz all seinem Geschick mußte Bismarck mitansehen, wie sein Albtraum, eine antideutsche Koalition, Wirklichkeit zu werden begann. Die Gründung des Dreibundes. Im Gegensatz zu den zunehmenden Schwierigkeiten, gleichzeitig Rußland und Österreich auf Deutschlands Seite zu halten, gelang es Bismarck, das österreichisch-deutsche Bündnis durch Einbeziehung Italiens (1882) zum Dreibund zu erweitern; er buchte ferner f ü r sich den österreichisch-rumänischen Vertrag von 1883, dem Deutschland im selben Jahr beitrat. Aber beide Abkommen trieben Rußland und Frankreich nur noch stärker zueinander; der Wert der italienischen Partnerschaft unterlag zudem einer 108

Die Ära

Bismarcks

wesentlichen Einschränkung: er hing von den guten Beziehungen zu England ab, weil zwischen Italien, Österreich und England ein Mittelmeerabkommen bestand (1887); audi war jeder italienische Außenminister vor Mussolini sehr darauf bedacht, nichts zu riskieren, was einen Konflikt mit der britischen Seemacht heraufbeschwören konnte.

Der Beginn der

Expansion

Bismarck und die Kolonialfrage. Bismarcks Versuch, ein Bündnis konservativer Mächte zu schließen und Frankreich zu isolieren, hatte mit Schwierigkeiten zu kämpfen; sein Prinzip, daß das Deutsche Reich saturiert sei, begann er in den 1880er Jahren aufzugeben. Er trat in den Wettbewerb kolonialer Expansion in A f r i k a und im Pazifik ein, und nun wurde es für ihn und seinen Nachfolger noch schwieriger, deutschfeindliche Koalitionen zu verhindern. Noch 1880 schrieb Prinz Hohenlohe, damals Statthalter Elsaß-Lothringens, nach einem Gespräch mit Bismarck, der Kanzler wolle wie früher nichts von Kolonien hören, er sage, man habe keine entsprechende Flotte, um sie zu schützen. Er habe auch von seinem, des Prinzen Bericht über französische Pläne in Marokko gesprochen und erklärt, man könne nur zufrieden sein, wenn Frankreich das Land besetze. — In Übereinstimmung damit unterstützte Bismarck Frankreichs Errichtung eines Protektorats in Tunis (Mai 1881), was von seinem Standpunkt aus den Vorteil hatte, daß Frankreich mit Italien verwickelt wurde; ebenso wohlwollend sah er der englischen Intervention in Ägypten zu (1882), die schließlich zu englischer Hoheit über das Land führte. Aber es entstanden neue Strömungen in Deutschland. 1882 wurde der Deutsche Kolonialverein gegründet. Das schnelle Fortschreiten der Aufteilung Afrikas und die Forderungen deutscher Forscher, Missionare und Händler nach Regierungsunterstützung warf die Fra,ge auf, ob Deutschland nicht seinen Anteil an der Beute verlangen sollte. 109

IL Das Deutsche Reich 1871—1918

Karte 9. Deutsche Kolonien in Afrika 1914. Zu beachten ist die neue Grenze des Kamerun von 1911.

Gleichzeitig wuchs die Auswanderung nach Übersee, die in den 1870er Jahren sehr gering gewesen war, schnell an, bis in einem Jahr 220 000 Deutsche unter fremde Herrsdiaft kamen. In Anpassung an diese Tatsachen änderte Bismarck seine Haltung. 1882 versprach er dem Bremer Handelsimperialisten Lüderitz Regierungsunterstützung für das spätere Deutsch-Südwestafrika; daraufhin erwarben in den nächsten zwei Jahren Lüderitz und Kollegen durch Verträge mit den Eingeborenenhäuptlingen Rechte über den Großteil der Küste zwischen Portugiesisch-Westafrika und ider Kapkolonie. Das deutsche Kolonialreich (Karten 9, 10). Zwischen 1884 und 1890, als Bismarck abtrat, wurde der Hauptteil des 110

Die Ära Bismarcks

deutschen Kolonialreiches erworben. Deutsch-Südwestafrika, Togoland und Kamerun wurden 1884 einverleibt, und die Marshall-, Brown- und einige der Salomon Inseln 1885. 1884 wurde auch in Übereinstimmung mit Frankreich zu Berlin eine Konferenz abgehalten, die das ganze Kongobecken als den Kongostaat in die Hänide der Internationalen Afrikanischen Gesellschaft (die von König Leopold von Belgien geschaffen worden war) legte und damit englische Pläne vereitelte, die Kongomündung zu kontrollieren. 1885 erkannte England in einem Abkommen Deutschlands Souveränität über einen großen Teil Neu-Guineas (das Kaiser-Wilhelm-Land) und über den Bismarck-Archipel im Pazifik an. Schließlich waren auch die Verhandlungen, die zum Abkommen über Deutsch-Ost-Afrika (Tanganyika) führten und im Juli 1890 von Caprivi abgeschlossen wurden, nodi von Bismarck begonnen worden. Diese schnalle Expansion in Übersee war nicht ohne Folgen

111

II. Das Deutsche Reich

1871—1918

für die deutsch-englischen Beziehungen geblieben. Die englischen Regierungen nahmen, etwas unbegründet, das Erscheinen eines neuen Rivalen übel; die Australier notierten die Besitznahme der Inseln vor ihrer Küste durch die Deutschen mit Bitterkeit. Diese neue Politik stand im krassen Widerspruch zu Bismarcks früheren Prinzipien. Sie zeigte den kräftigen Anfang einer neuen deutschen Expansionsbewegung an. Aber in einer Hinsicht setzte Bismarck den deutschen Zielen Grenzen. Er unternahm keine Schritte, eine Flotte zu bauen, die in der Lage war, den Engländern die Vorherrschaft zur See streitig zu machen, und auf Grund vieler seiner Äußerungen kann es keinen Zweifel geben, daß er einen Kolonialkrieg abgelehnt hätte. Zu ausdauernd beherrschten die Schwierigkeiten der deutschen Stellung in Europa sein Denken. Auch sollte nicht vergessen werden, daß es Bismarck war, der gesagt hat, die wichtigste politische Tatsache in der modernen Welt sei, daß Engländer und Amerikaner die gleiche Sprache sprächen. Es ist möglich, daß die bittere Erfahrung zweier großer Kriege schließlich Bismarcks Nachfolger doch noch von der Wahrheit dieses Wortes überzeugen wird.

Der Sturz Bismarcks Die Thronbesteigung Wilhelm II. Der Tod des alten Kaiser Wilhelm I. im Jahre 1888 und der seines Sohnes und Nachfolgers Friedrich III. im selben Jahr brachte Friedrichs Sohn, Wilhelm II., auf den Thron, der damals 29 Jahre alt war. Eitel, romantisch, vielseitig, eigenwillig, unbesonnen im Ausdruck, zwischen äußerstem Selbstvertrauen und nervöser Niedergeschlagenheit schwankend, hatte Wilhelm II. Züge, die stark an seinen Großonkel Friedrich Wilhem IV. erinnerten; sein Charakter sollte die kommenden Ereignisse wesentlich mitbestimmen. Er liebte das „métier du roi", und ohne die Fähigkeit angestrengter Arbeit und immerwacher Aufmerksamkeit — Fähigkeiten, die Friedrich II. zum „Großen" gemacht 112

Die Ära Bismarcks hatten. — war er dodi entschlossen, seinen Willen durchzusetzen und den Kanzler zum Gehorsam zu bringen. Bismarck, jetzt über siebzig, daran gewöhnt, sich als unersetzlich und Initiator und Ausführender der Staatspolitik zu betrachten, würde es sicherlich nicht leicht fallen, sich in die neue Lage zu fügen. Wilhelm II. Bruch mit Bismarck. Nach einer kurzen Zeit der Verständigung, während der der neue Kaiser Besuche abstattete, zeigten sich die ersten Schwierigkeiten im Winter 1889/90. Da flüsterte man in der Umgebung des Kaisers, die eigentliche Frage sei, ob die Bismarck-Dynastie oder die Hohenzollern-Dynastie in Deutschland herrschen sollte, und im Grunde genommen ging es tatsächlich darum, wer letztenendes die Politik machte. Der unmittelbare Anlaß zum Bruch war der Wunsch des Kaisers, eine Politik sozialer Reformen und Versöhnung zu betreiben, während Bismarck ihn zu einer Politik konservativen Widerstands drängte — wenn nötig, auch zu offenem Bruch mit der Verfassung von 1 8 7 1 , einer Erklärung aller deutschen Herrscher zwecks Abschaffung des allgemeinen Wahlrechtes und zur Verkündigung einer neuen Verfassung mit wesentlicher Beschränkung der Rechte des Reichstags. Es ist schwer, sich darüber klar zu werden, wie ernst es Bismarck mit seinen Vorschlägen meinte, aber sie enthüllten jedenfalls deutlich das ihnen zugrunde liegende Problem. Sollte der Kaiser oder der Kanzler Politik machen? Als Wilhelm verlangte, daß eine preußische Kabinettsorder von 1852 aufgehoben würde, die dem preußischen Ministerpräsidenten das Recht verlieh, jeder Audienz eines Ministers beim König beizuwohnen, lag der Zwiespalt klar zu Tage. Angesichts des Widerstands Bismarcks verlangte der Kaiser seinen Rücktritt, und am 18. März 1890 nahm der große Kanzler seinen Abschied. Der kritische Punkt der Geschichte des preußisch-deutschen Reiches war erreicht und was das bedeutete, wurde treffend ausgedrückt durch die berühmte Karikatur des Londoner „Punch": „Der Lotse geht von Bord!" Bismarcks Erbe. 8

Passant

So lange Bismarck Kanzler war, hatte 113

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 das preußisch-deutsche Reith eine einheitliche Führung; denn Bismarck hatte Kaiser, Militär, preußische Minister unter seinem Einfluß. Jetzt sollte die Herrschaft auf den jungen, unerfahreren Kaiser übergehen, aber seine Unstetigkeit und sein Temperament machten es wahrscheinlich, daß er weder Bismarcks Urteilskraft zeigen noch in der Lage sein würde, die Folgerichtigkeit der Politik des großen Kanzlers fortzusetzen. Außerdem w a r Bismarcks Erbe schwer zu verwalten. In I n n e n - u n d Außenpolitik w a r er dem Grundsatz „Teile und herrsche" gefolgt. A b e r es begannen sich die Umrisse einer Koalition gegen Deutschland abzuzeichnen, und durch Bismarcks Kolonialpolitik w a r Deutschlands Wunsch nach Ausdehnung gereizt worden. Im Reich selbst w a r trotz Parteien-, Nationalitäten-, Glaubens-, Klassen- und Kleinstaatenkampf die industrielle Entwicklung stark fortgeschritten, die dem Expansionistrieb neue K r a f t und neue Dringlichkeit gab, aber auch die sozialen Spaltungen verschärfte. V o r einer D a r stellung der Regierung Wilhelms II. ist es notwendig, sich das wirtschaftliche Wachstum anzusehen, das zutiefst Deutschlands Politik in den Jahren vor 1914 beeinflußt hat.

DEUTSCHLANDS

WIRTSCHAFTLICHE

Das neue

ENTWICKLUNG

1871—1914

Reich

Zwischen 1871 und 1914 schritt die Entwicklung des Industriekapitalismus in Deutschland mit solcher Geschwindigkeit fort, daß Länder wie England, w o die industriellen U m wälzungen früher begonnen hatten, nicht nur eingeholt, sondern auch in gewissen Sektoren überholt wurden. Ein schnelles Bevölkerungswachstum begleitete diese Entwicklung und stellte der Industrie die nötigen Arbeitskräfte. Während Deutschlands Bevölkerung 1871 nur 41 Millionen betrug, w a r sie 1915 auf fast 68 Millionen angestiegen; Frankreich, das v o r 1870 mit Elsaß-Lothringen noch größer als Deutschland gewesen war, hatte 1914 nur 40 Millionen Einwohner. Dieses schnelle A n 114

Wirtschaftliche

Entwicklung

1871—1914

wachsen der Bevölkerung, von der 19 i j ein Drittel unter fünfzehn Jahren war, erzeugte ein Gefühl der Dringlichkeit ebenso schneller und kontinuierlicher Ausdehnung in neue Märkte, um für die steigende Produktion Absatz zu finden. Die Schaffung des Deutschen Reiches 1871 trug ebenfalls zu dieser schnellen Expansion bei. Denn die Eingliederung ElsaßLothringens schenkte Deutschland große neue Eisenerzlager, die in Zusammenarbeit mit der bestehenden Schwerindustrie von Ruhr und Saar und der blühenden Baumwollindustrie ausgebeutet werden konnten; in den 1890er Jahren wurden zudem wertvolle Kalivorkommen im Elsaß entdeckt und abgebaut. Auch die 1871 hergestellte Einheit war wirtschaftlich vorteilhaft. Einheitlichkeit von Zoll, Post und Konsulardienst trugen zur wirtschaftlichen Belebung bei. Die chaotischen Währungs-, Gewidit- und Maßsysteme wurden beseitigt; Thaler und Gulden wurden durch die Mark ersetzt und das metrische System eingeführt. Obgleich das Steuersystem unter der Bundesregierung die direkte Besteuerung den Einzelstaaten überließ und einigen von ihnen noch besondere Privilegien gewährte, war doch die Reichskontrolle der Zölle ein höchst wichtiger Faktor in der deutschen Handelsexpansion; vor 1914 hatte die Reichsregierung zur zunehmend umfangreicher werdenden Finanzierung des Rüstungsprogramms einen Anteil an den Erbschaftssteuern erworben, und sie erhielt 1 9 1 3 einen besonderen „Wehrbeitrag" vom ganzen Land. Der späte Beginn der großen Entwicklung der deutschen Industrien ermöglichte es den Unternehmern, aus den Erfahrungen und Fehlern der Rivalen aus anderen Ländern zu profitieren. Der amerikanische Nationalökonom Veblen hat darauf hingewiesen, daß Deutschland für seine Fabrikanlagen nicht an antiquierte Orte und Routen gebunden war; da es keine veraltete Ausrüstung und keine unzeitgemäßen Handelsverbindungen hatte, waren die Industriekapitäne auch in der Lage, die besten und höchstentwickelten Verarbeitungstechniken zu übernehmen, anstatt sich mit Kompromissen zwischen dem

8*

115

IL Das Deutsche

Reich 1871—1918

Allerbesten und dem, was vor einigen Jahren oder Jahrzehnten das Beste gewesen war, zufrieden zu geben. Die unmittelbaren Folgen des Sieges über Frankreich von 1871 waren nicht immer günstig. Deutschland bekam nach dem Krieg eine Summe von 4 Milliarden Mark als Wiedergutmachung, und da es die Übernahme des Goldstandards für seine Währung erwog, fügte es seinen Reserven den Teil der Wiedergutmachung hinzu, der in Gold gezahlt wurde. Aber der Erhalt der Reparationen verführte zu verstärkten Börsenspekulationen, was von einem Volk, das sich über seine Sieige und neugewonnene Einheit begeisterte, nicht anders zu erwarten war. 1873—74 gab es einen ungesunden Wirtschaftsaufschwung, besonders im Eisenbahnbau und der Schwerindustrie. Als die Krise folgte, machten 160 von 857 gerade gegründeten Gesellschaften bankrott, und während der 1870er Jahre blieben sowohl Landwirtschaft wie Industrie in der Krise stecken. Dann erholten sich die deutschen Industrien, auch infolge des höheren Schutzzolles von 1879, so daß Deutschland innerhalb von fünfundzwanzig Jahren der führende Industriestaat auf dem Kontinent war und erfolgreich mit England auf verschiedenen Überseemärkten in Wettbewerb stand.

Die Schwerindustrien (Kohle, Eisen und, Stahl) Kohleproduktion. Die Ausbeutung der Kohle vorkommen war eine der Grundlagen, auf der Deutschlands industrielle Stärke beruhte. 1871 wurden weniger als 38 Mill, t Kohle (einschl. Braunkohle) erzeugt, während England 118 Mill, t produzierte. Aber 1913 stieg Deutschlands Ertrag auf 279 Mill, t und Englands auf 292 Mill. t. Die Hauptkohlengebiete waren Ruhr, Saar, Lothringen und Oberschlesien. Das Ruhrgebiet war das wichtigste, sein Anteil stieg von weniger als der Hälfte der Gesamtproduktion Deutschlands im Jahre i860 auf mehr als 60 % im 20. Jahrhundert. Es versorgte die Eisenund Stahlindustrien Westfalens, des Rheinlands, Lothringens,

116

Wirtschaftliche

Entwicklung

1871—1914

Belgiens, Luxemburgs und Nordfrankreichs mit Kohle und Koks. Der Kohleumschlag der Häfen Duisburgs und Ruhrorts stieg von 1,64 Millionen Tonnen im Jahre 1870 auf 18,26 Millionen Tonnen im Jahre 1913. Kohleabbau in Deutschland und England Deutschland Kohle u. Braunkohle Anzahl der Bergleute (int)

ι8γι—1913 England Kohle (int)

1871

37 9 0 0 0 0 0

125 0 0 0

118 0 0 0 0 0 0

1880

59 100 0 0 0

179 0 0 0

149 0 0 0 0 0 0

1890

89 100 0 0 0

262 000

184 0 0 0 0 0 0

1900

149 8 0 0 0 0 0

414 000

228 8 0 0 0 0 0

I9IO

192 300 0 0 0

621 0 0 0

268 7 0 0 0 0 0

I9I3

279 000 000

689 000

292 000 000

Quellen: Spalte 1 u. 3. Sir J. H . Clapham, Buchtitel s . o . S. 281. Spalte 2 M. Baumont, La Grosse Industrie allemande et le Charbon. Paris 1928, S. 528.

Da das starke Anwachsen der deutschen Kohlenindustrie im Vergleich zu England so spät vor sich ging, wurden große Fabriken mit modernen Herstellungsanlagen gebaut. Schon 1895 beschäftigte das durchschnittliche Kahleunternehmen nicht weniger als joo Leute. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts führte Deutschland Köhle nach Frankreich, Belgien, Holland und der Schweiz aus, obgleich es nodi immer Kohle aus England und Österreich einführte. Kohlenförderung der vier Hauptabbaugebiete 1910-1913 (in metrischen t)

Ruhr

Oberschlesien

Saar (preuß. Teil)

ElsaßLothringen

1910

89315000

34461000

10823000

1911

93800000

36 623 0 0 0

114J9000

2 686 000 3033000

1912

103093000

41543000

11663000

3539000

1913

114487000

43801000

12223000

3796000

Quelle: M. Baumont, s. o., S. 36.

117

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 Die Ruhr: Eisen und Stahl. Die Ruhr war das Hauptzentrum nicht nur des Kohlebergbaues, sondern auch der Eisenund Stahlindustrien. 1900 wurde die Hälfte des Roheisens in diesem Gebiet produziert, 30 °/o in Lothringen und Luxemburg und i j °/o in Schlesien unid im Saargebiet. Aber die Schwesterindustrien — Werkzeuge, Maschinen — lagen mehr zerstreut. Die Eingliederung Lothringens verschaffte Deutschland große Lager von „Minette"-Eisenerzen, deren Umfang zuerst nicht voll bekannt war. Dein Aufschwung der Stahlindustrie in den frühen 1870er Jahren folgte schnell eine Krise; 1876 lag fast die Hälfte der 435 Hochöfen brach. Ein Wiederaufschwung setzte mit der Einführung des Thomas Gilchrist-Verfahrens zur Gewinnung von Stahl aus phosphorhaltigen Erzen ein, die es in Lothringen und Luxemburg reichlich gab, und in den 1880er Jahren gab es eine ungeheure Zunahme der Eisen- und Stahlproduktion. Zwischen 1880 und 1890 stieg der Ausstoß von Roheisen von 2,73 Millionen Tonnen auf 4,66 Millionen Tonnen und der von Stahl von 1,55 auf 3,16 Millionen Tonnen. Die deutschen Hüttenleute und Stahlverarbeiter lernten viel von ihren englischen Konkurrenten. Sie achteten auf die Frage des Standortes ihrer Werke und kannten die Bedeutung der Konzentration in ihren Industrien. Kohlenbergwerke, Hüttenwerke und Maschinenfabriken kamen in den 1890er Jahren langsam unter gemeinsame Aufsicht, und große Eisenund Stahlwerke wurden durch die Vereinigung kleinerer Firmen geschaffen. 1910 ließ Deutschland sowohl England als auch die kontinentalen Konkurrenten mit einer Produktion von 14,79 Millionen Tonnen Roheisen und 13,15 Millionen Tonnen Stahl hinter sich und produzierte trotz des lothringischen Erzes nidit genug Eisenerz für seine Industrien: fast 10 Mill. Tonnen wurden importiert, davon ein Drittel aus Schweden. Die Schaffung der großen Schiffswerften in Hamburg, Bremen und Stettin war nur ein Aspekt des bemerkenswerten Fortschritts der Eisen- und Stahlindustrien; dazu kam die Herstellung von Waffen aller Art, was nicht weniger 118

Wirtschaftliche

Entwicklung

1871—1914

wichtig war. Außerdem wurden Eisen- und Stahlwaren exportiert; 1913 betrug ihr Wert über hundert Millionen englische Pfund. Roheisen- und Stahlproduktion 1880—1938 Stahl Roheisen 000 500 000 000

ι 3 7 13

548 164 372 149

000 000 000 000

(metr. t)

1880 1890 1900 I9IO

2 729 4 658 8 521 14 794

1929 1933

13 190 000 5 180 000

ι j 990 000 7 440 000

Grenzen von 1919

1938

18 497 000

23 219 000

einschl. Saar u. österr.

einschl. Luxemburg

Quellen: Clapham, S. 285; H . Levy, Industrial Germany. Cambridge 1935, S. 46; League of Nations Statistical Yearkbook 1938—9. Genf 1939, S. 146—7.

Chemische und

Elektroindustrien

Zwei neue Gruppen von Herstellern nahmen einen wichtigen Platz in Deutschlands Wirtschaftsstruktur ein — Chemischeund Elektroindustrie. Schon 1840 hatte Dr. John Bowring in einem Bericht über den Zollverein festgestellt, daß die Chemie in Deutschland weiter fortgeschritten war als in England. In den 1860er Jahren wurde mit der systematischen Ausbeutung der Kalisalzvorkommen von Staßfurt-Leopoldshall südlich von Magdeburg begonnen. Die Industrie chemischer Grundstoffe stellte Chemikalien teilweise für Fabriken (ζ. B. Munitionsfabriken) und teilweise für die Landwirtschaft (Kunstdünger) her. Intensive wissenschaftliche Forschungen, besonders zur Verwendung von Nebenprodukten der Kohle, ebnete den Weg für die Entwicklung der Industrie chemischer Nebenstoffe, deren zwei Hauptzweige sich mit der Herstellung von Farbstoffen und pharmazeutischen Produkten beschäftigten. Die 119

IL Das Deutsche

Reid> 1871—1918

Waren der deutschen Farbenindustrie erlangten Weltruhm, und der Wert der Exporte erreichte 1913 fast 10 Mill. engl. Pfund. Auch die pharmazeutische Industrie hatte einen guten Ruf. Die Chemikalienindustrie beschäftigte 1903 etwa 150000 Arbeiter; ihre großen Konzerne arbeiteten schon in frühen Entwicklungsstadien zusammen. Zwei wichtige Interessengemeinschaften wurden 1904 und 1916 gebildet, und in der Folge entstand das I. G. Farben-Kartell, das die gesamte Industrie beherrschte. Die Elektroindustrie entstand in den 1880er und 1890er Jahren. Deutsche Experimente und Erfindungen — besonders die Werner von Siemens' — trugen zur Grundlegung der Industrie bei, aber es war die praktische Nutzanwendung elektrischer Erfindungen in Amerika, aus der deutsche Hersteller ihre Anregungen zur Entwicklung der neuen Formen von Beleuchtung und Energie bezogen. Wie in der Chemikalienindustrie war, fast von Anfang an, die Bildung großer Konzerne auch ein besonderer Zug der Elektroindustrie. Das wurde durch die Notwendigkeit der Wiederbelebung der Industrie nach der Krise von 1900—2 noch betont. Kurz vor dem ersten Weltkrieg waren zwei Konzerne, die von Siemens und Emil Rathenau gegründet worden waren, in beherrschender Lage: nämlich Siemens und Halske (Berlin-Nürnberg) sowie die A E G (Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft), die aus der deutschen Edison Gesellschaft entstanden war. Der Bau von Telegraph und Telephon war ein wichtiger Zug in der frühen Entwicklungsphase, danach kamen Kabel, elektrische Beleuchtung und elektrische Straßenbahnen, schließlich elektrische Eisenbahnen, Kraftwerke und der Funk. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts hatten sich zwei Hauptzweige entwickelt: Der Generatoren- und Kraftwerkbau auf der einen Seite; auf der anderen die Elektrizifizierung von Eisenbahn, Schmelzöfen, Maschinen und die Unterhaltung von Kraftwerken und Überlandleitungen. 1906—07 wurden hier 107 000 Arbeiter beschäftigt. Wenige Jahre später (1913) war die Hälfte des 120

Wirtschafiliche

Entwicklung

1871—1914

elektrotechnischen Welthandels in deutschen Händen. Ohne Zweifel war die Schaffung dieser Industrie die größte industrielle Errungenschaft des modernen Deutschland. Textilindustrien Auch hier wurde beträchtlicher Fortschritt erzielt. Mit dem schnellen Bevölkerungszuwachs wurde Deutschland von importierter Wolle immer abhängiger, trotz leichten Ansteigens der Eigenproduktion nach 1850. 1880 lieferte in Deutschland fabrizierte Wolle 2/s der benötigten Menge, aber 1910 war dieser Anteil prozentual stark gesunken. Keine andere große Nation war so sehr von importierter Wolle für die Winterbekleidung ihrer Bevölkerung abhängig wie Deutschland. Die Zahl der Heimarbeiter in den Textilindustrien nahm schnell ab, und 1895 gab es von ihnen nur nodi 28 000 aus einer Weberschaft von 153 000; 4/s der Spinner arbeiteten in großen Fabriken, von denen jede im Durchschnitt 200 Arbeiter beschäftigte. Die Wollindustrien lagen weit zerstreut — in Sachsen, Schlesien, Thüringen, Elsaß, Berlin, Aachen —; aber die Fabriken nahmen an Größe zu und an Zahl ab. Leinen- und Baumwollindustrien zeigten die gleichen Züge, nämlich Abhängigkeit von eingeführten Rohstoffen, stetiges Anzahl von Fabriken und Arbeitern in der Wollindustrie 1882—192) 1882 1895 1907 I92J1

Fabriken 48 200 379OO 17 300 10 900

Arbeiter 206 400 269 900 227 700 215 000

1

Grenzen von 1919. Quelle: Deutsche Wirtschaft, 1928, S. 154 (Hg. Statistisches Reidisamt. Berlin 1930).

Ausscheiden von Heimarbeitern und Schaffung großer, moderner Fabriken. Die Konkurrenz innerhalb der Baum-

121

II. Das Deutsche

Reich

1871—1918

Wollindustrie, die durch die Eingliederung Elsaß-Lothringens erworben wurde, beschleunigte den Vorgang. 1895 gab es 304 große Baumwollspinnereien, die fast 70 000 Personen beschäftigten, während der Verbrauch von Rohmaterial von 3 7 5 0 0 t im Jahre 1878 auf 3 7 0 0 0 0 t in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts anstieg. Die Baumwollindustrie w a r hauptsächlich im Rheinland, in Westfalen, Sachsen, Schlesien und Süddeutschland (einschl. des Elsaß) konzentriert. Zunahme der Industrieverflechtung Zwei hervorstechende Züge der modernen industriellen Entwicklung in Deutschland verdienen Beachtung: das Anwachsen der Kartelle und die ungewöhnlich enge Verbindung zwischen Banken und Industrie. Kartelle sind Firmenvereinigungen, deren Funktion es ist, Preise, Produktionsmenge und Vertriebsmethoden der verschiedenen Mitglieder zu kontrollieren sowie in einigen Fällen selbst den Verkauf zu übernehmen. Kartelle können entweder „horizontal" oder „vertikal" sein. Das erstere ist eine Verbindung von Firmen, die dasselbe Produkt herstellen; das letztere ist ein Verband von Unternehmen, die an verschiedenen Herstellungsstufen eines Artikels mitwirken. Die Vereinigung von Stahlfirmen ist ein horizontales Kartell; der Verband von Firmen, dem Kohlenbergwerke, Eisen- und Stahlwerke und Maschinenfabriken gehört, ist ein vertikales Kartell. Versuche, die Entwicklung von Kartellen immer den gleichen Ursachen zuzuschreiben, sind unbefriedigend. Viel« Faktoren begünstigten Kartellbildungen. Einige Verbindungen wurden hergestellt, als das Geschäft darniederlag, da eine große Produktionseinheit den Sturm besser überstehen kann als mehrere kleinere Firmen. Andere entwickelten sich unter Schutzzöllen; denn gemeinsame Unternehmungen können eine Reihe von Firmen in die Lage versetzen, die durch Einfuhrzölle ge122

Wirtschaftliche

Entwicklung

1871—1914

schaffenen Vorteile auf dem Inlandsmarkt voll auszunutzen. Der Besitz eines naturgegebenen Monopols — wie der Produktion von Kali — kann ebenfalls industrielle Verflechtungen begünstigen, und aus soldier Lage konnten auf Auslands- und Inlandsmärkten die großen Firmen am meisten machen. In den neuen Chemikalien- und Elektroindustrien konnte ausreichendes Kapital für die hohen Investitionen zu Forschungszwecken leichter durch große Konzerne beschafft werden als durch kleine Firmen. Anwachsen der Kartelle nach 1873. Zur Zeit des Zollvereins gab es einige frühe Industrieverbindungen, aber erst nach der Krise von 1873 wurden Kartelle von Bedeutung geschaffen. Ihre Entwicklung wurde durch die Schutzzölle von 1879 begünstigt, und die Kartellkommission von 1905 zählte 3 J 2 Industrieverbindungen auf, während schon zwanzig Jahre später die Schätzung bei 3000 Kartellen lag. Es ist bedeutsam, daß in den Grundinidustrien einige wenige große Kartelle eine vorherrschende Stellung erreichten. Unter den monopolistischen Verbindungen waren das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, der Stahlverein, die I. G. Farbenindustrie und die A E G . In Deutschland erfreuten sich Kartelle des Rechtsschutzes, ihre Abkommen wurden vom Gesetz wie jeder andere Vertrag (behandelt. In anderen Ländern sah man Industriekombinate oft mit .großem Mißtrauen an. In England standen Abkommen zu Wettbewerbsbeschränkungen nicht unter Rechtsschutz, und in iden Vereinigten Staaten entstanden AntiMonopol-Gesetze. Banken und Industrie. Die Größe der einzelnen Industrieanlagen und die Bildung von Kartellen bedingten die ungewöhnlich engen Beziehungen zwischen Banken und Industrie, die schon in den Tagen des Zollvereins ein bezeichnender Zug deutscher Wirtschaftsentwicklung waren. In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts gab es etwa fünfundzwanzig wichtige Geschäftsbanken. Die vier großen „D"-Banken (Darmstädter Bank von 1853, Diskontogesellschaft von 1856, 123

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 Deutsche Bank von 1870 und Dresdner Bank von 1872) saugten langsam viele ihrer Konkurrenten auf. Die Banken gaben Anleihen, vor allem wirkten sie bei der Gründung von Gesellschaften mit und gewährten derart langfristige Kredite, daß sie im allgemeinen in den betreffenden Firmen Geschäftspartner waren. Sie hatten Vertreter in den Aufsichtsräten und bestimmten auf diese Weise Industrieplanung mit, und sie förderten die Bildung von Kartellen, um die Firmen, denen sie Kredite gewährt hatten, vor Konkurrenz zu schützen. Deutsche Banken spielten audi eine wichtige Rolle im Außenhandel. Zweigstellen wurden an wichtigen Handelszentren in der ganzen Welt errichtet. Banken waren auch die Ersten, die deutsche Wirtschaftsexpansion in zurückgebliebenen Ländern vorantrieben, besonders in Vorderasien, in Südamerika und dem Fernen Osten, und dabei immer in enger Berührung mit der Regierung standen. Die finanzielle Seite des deutschen „Dranges nach dem Osten" w a r in nicht geringem Maße in den Händen der Deutschen Orientbank, die Zweigstellen in der Türkei, in Ägypten und Marokko hatte. Die Deutsch-Asiatische Bank (1889) förderte deutsche Interessen in Schantung und sonstwo in China. Die Deutsche Ubersee-Bank und die Deutsch-Südamerikanische Bank waren in Lateinamerika tätig. Andererseits erwies es sich als schwierig, von deutschen Banken finanzielle Unterstützung für Unternehmen in Deutschlands eigenen Kolonien zu erhalten.

Außenhandel Die umfassende Entwicklung der deutschen Industrien wurde von einem starken Ansteigen des Außenhandels begleitet. Zwischen 1872 und 1914 stieg der Wert der Importe von 173 250000 auf 538 51 j 000 engl. Pfund und der Wert der Exporte von 124600000 auf 504825000 engl. Pfund. Es wurden Lebensmittel (ζ. B. Fleisch, Molkereiprodukte, Kaffee) sowie Rohstoffe ( z . B . Wolle, Baumwolle) eingeführt 124

Wirtschaftliche

Entwicklung

1871—1914

und eine große Vielzahl von Fertigwaren ausgeführt. Drei wichtige Veränderungen im Außenhandel zwischen 1 8 7 1 und 1 9 1 4 verdienen Beachtung. Erstens nahm die Ausfuhr industrieller Fertigwaren einen immer wichtigeren Platz ein; zwischen 1873 und 1 9 1 3 stieg ihr Anteil von 38 auf 63 °/o der Gesamtausfuhr. Zweitens wurde Deutschlands Handel Wert des Außenhandels i860—191 j (in engl. Pfund) (ausschließt der Wiederausfuhr Feinmetalle) i860 1872 1880 1890 1900 1910 1913

Ausfuhr 70000000 124600000 148850000 170500000 237650000 373 735 0 0 0 504825000

Einfuhr 54750000 173250000 142200000 213650000 302150000 446705000 538515000

Quellen: Für 1860 W. H. Dawson, The Evolution of Modern Germany. London 1911, S. 64. Sonst: G. Stolper, German Economy 1870—1940. London 1940; S. 52. außerhalb Europas zunehmend gewichtiger. 1889 betrug der Export nach europäischen Ländern 80 % und der Import 7 7 % ; 1 9 1 2 betrug dieser Export immer noch fast drei Viertel des Gesamtexports, aber der Import aus europäischen Ländern betrug nur noch 56,2 % des Gesamtimports. Drittens wurde die Außenhandelsbilanz mehr und mehr passiv. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag der Wert der Ausfuhren 60 000 000 engl. Pfund unter dem Wert der Einfuhren. Dieses Defizit wurde durch ausländische Zahlungen f ü r deutsche Schiffahrtsdienste und Zinsen deutscher Auslandsinvestierungen (die 1 9 1 4 zwischen ι 000 000 000 und 1 2 5 0 000 000 engl. Pfund lagen) ausgeglichen. Deutschlands Auslandsinvestierungen betrugen allerdings zwischen 1906 und 1 9 1 0 nur ein Zehntel der Gesamtinvestierungen, während Englands Auslandsinvestierungen in dieser Zeit drei Viertel der Gesamtanlagen betrugen. 125

IL Das Deutsche Reich

Verkehrswege

und

1871—1918

Handelsmarine

Die große Ausdehnung des deutschen Innen- und Außenhandels verdankte viel dem Ausbau der Verkehrswege, Zwar gelang es Bismarck nicht, die Eisenbahnen unter Reichskontrolle zu bringen, aber er brachte langsam viele Privatlinien in die Hände des preußischen Staates. Einige von ihnen — wie die Ludwigsbahn in Hessen-Darmstadt — lagen außerhalb Preußens. 1 9 1 0 gab es in Deutschland ein Eisenbahnnetz von über j o 000 km; davon gehörten Preußen etwa zwei Drittel und Bayern sowie anderen Staaten ein Drittel. Die Eisenbahnen waren Profitunternehmen. Das Reichseisenbahnamt, das 1873 geschaffen wurde, vereinheitlichte die Fahrpreise im ganzen Land. Es fiel der Weimarer Republik leicht, das gesamte Eisenbahnnetz zu verstaatlichen. Zwischen Vs und XU des deutschen Güterverkehrs wurde von den Binnenschiffahrtsstraßen bewältigt. Unter den wichtigeren Gütern, die zu Wasser transportiert wurden, waren Getreide und Holz in Ostdeutschland und Kohle und Eisen in Westfalen sowie dem Rheinland. Zwei wichtige neue Kanäle wurden gebaut: der Kaiser-Wilhelm-Kanal (fertiggestellt und eröffnet 1895) und der Dortmund-Ems-Kanal (der dem Ruhrgebiet einen Zuganigsweg zur Nordsee gab, ohne daß holländisches Gebiet berührt wurde). Diese Kanäle waren Verlustunternehmen und vom Staate subventioniert. 1905 wurde mit der Arbeit am Mittelland-Kanal begonnen, der den Dortmund-Ems-Kanal mit der Elbe verbinden sollte. Anwachsen der Schiffahrt. Nach 1871 bediente sich der deutsche Überseehandel mehr und mehr deutscher Schiffe. Als das Reich gegründet wurde, hatte es 4519 Handelsschiffe (mit 982 355 t); fast alle waren Segelschiffe. Das Anwachsen der Handelsmarine war besonders augenfällig, nachdem Hamburg und Bremen in den 1880er Jahren dem Reichszollsystem beigetreten waren. Die Dampfschifftonnage Hamburgs stieg von 99000 t im Jahre 1880 auf 746000 t im Jahre 1900; die Bremens von $9 000 auf 375000 t. 1914 hatte Deutschland 126

Wirtschaftliche

Entwicklung

1871—1914

mit 3 ooo ooo t (wovon i /s Hamburger und Bremer Linien gehörten) eine größere Handelsmarine als jede andere Macht mit Ausnahme Englands (i 1700000 t). Die drei größten Schiffahrtsgesellschaften waren die Hamburg-Amerika-Linie, der Norddeutsche Lloyd und die Hansa. 1913 hatte die Hapag eine Flotte von 172 Dampfschiffen (1 028 762 t), und weitere 19 Dampfer (268 766 t) waren im Bau. Profite in den Jahren 1886—1913 lagen bei 26000000 engl. Pfund, und durchschnittlich wurden 7 °/o Dividende jährlich gezahlt. Handelsmarinen Deutschlands, Englands und der Vereinigten Staaten 1900 1910—1912 1870 3 000 000 ι 942 0 0 0 D 982 0 0 0 2 JOO 0 0 0 England G ι 348 0 0 0 82 0 0 0 9 304 0 0 0 1 1 700 0 0 0 D $ 601 0 0 0 7 208 0 0 0 lo 700 0 0 0 Verein. St. G ι 113 0 0 0 928 0 0 0 D 827 0 0 0 ι 517 0 0 0 618 0 0 0 341 0 0 0 Deutschland G 193 0 0 0 G = Gesamttonnage; D = Dampfschifîahrtstonnage. Quellen: Clapham, s.o., S. 356; Statistisches Jahrbudi, s.o., S. 46. Zwei Gesellschaften, die mit den Kolonien in regem Verkehr standen, waren die Woermann-Linie und die Deutsdie Ostafrika-Geseilsdiaft (beide in Hamburg). Andere wichtige Linien waren die Deutsch-Australische Dampfschiffgesellschaft, die Deutsdie Levantelinie und die Deutsch-Amerikanische Petroleum-Gesellschaft. Es entwickelte sich eine große Schiiisbauindustrie; die Vulkanwerft in Stettin und Blohm und Voss in Hamburg waren von besonderer Wichtigkeit. Das deutsche Kolonialreich Koloniale Ziele. Deutschland behielt seine Kolonien nur dreißig Jahre und hatte also kaum genügend Zeit, sie voll zu entwickeln. Das Wirtschaftspotential der Überseegebiete sowie 127

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 die Einkaufskraft der Eingeborenen erwiesen sich als unbeträchtlich.

Gummi

aus

Kamerun,

Kolonialreiche

Sisalhanf

2 9JO 000 33 000 ooo 1

England Frankreich

Ostafrika,

von 191 j

Fläche (qkm) Deutschland

aus

Bevölkerung 12 000 000

I i 500 000

400 000 000 j 6 000 000

2 000 000

38 000 000

2 4 0 0 000 2 100 000

15 JOO 000

Holland Belgien Portugal

17 000 000

Japan

300 ooo 2

USA Italien

324 000

10 000 000

I JOO 000

I 600 000

Spanien Quelle: P. Leutwein, Berlin 1922, S. 399.

250 000 Dreißig

Jahre

deutsche

7 000 000

700 000 Kolonialpolitik.

Diamanten aus Südwestafrika, Phosphate aus N a u r u und K o p r a v o n Samoa waren kein Ausgleich für Eroberungs- und Unterhaltskosten des Kolonialreiches. Versuche, eine G r o ß produktion v o n Baumwolle, K a k a o und T a b a k in den afrikanischen Kolonien in G a n g zu bringen, erzielten nur sehr bescheidene Erfolge. Keine der wichtigeren Afrikakolonien hatte ein ausgeglichenes Budget, und bis 1913 mußte der deutsche Steuerzahler etwa 50 000 000 engl. P f u n d für Kolonialschulden zahlen. Der Kolonialhandel betrug am Vorabend des ersten Weltkriegs gerade V2 % des Gesamthandels. 1914 waren weniger als 24 000 Deutsche in den Kolonien, die meisten von ihnen Beamte, Soldaten und Polizisten und nicht etwa Ansiedler. Doch der begrenzte U m f a n g unid die relative A r m u t der Kolonien stärkte nur den Wunsch vieler Deutscher nach Ausdehnung, nach einem größeren „ P l a t z in der Sonne". Betrachtete man die großen Kolonialreiche Englands und Frankreichs, 1 Einsdil. Ägypten und Sudan.

128

2

Einschl. Korea.

Wirtschaftliche

Entwicklung

1871—1914

so fühlte man sich betrogen. Der deutsche Kolonialverein (später die Deutsche Kolonialgesellschaft), der Flottenverein, der Alldeutsche Verband waren entschlossen, Unterlassungssünden der Vergangenheit wieder gutzumachen. Ihre Absichten richteten sich auf den Vorderen Orient und auf Afrika, und ganz ohne Zweifel gab es unter den Flottenpropagandisten eine Gruppe, welche an einen Krieg gegen England und Frankreich dachte und danach an die Auflösung der Kolonialreiche beider Länder, um Deutschlands kolonialen Ehrgeiz zu befriedigen. Diese Wünsche wurden sowohl durdi das Gefühl der Abhängigkeit anderen Ländern gegenüber, was die Rohstoffversorgung betraf, als auch durdb das Anwachsen der Bevölkerung gestärkt. Dazu kam die Furcht, daß Deutschland in Zeiten der Arbeitslosigkeit entweder von den aufstrebenden Sozialisten und Gewerkschaften in innere Unruhen gestürzt oder zum Menschenexport — Auswanderung — gezwungen werden könnte — was Caprivi 1891 als einzige Alternative zur Warenausfuhr bezeichnete. Das Deutschland, Wilhelms II. Große Umwälzungen als Resultat der Industrialisierung waren in dem Deutschland vor sich gegangen, in dem Wilhelm II. regieren sollte. Große Industrieherrscher, Überwacher der allmächtigen Kartelle, verbanden sich politiseli und auch gesellschaftlich mit der alten Gruppe der landsässigen Junker. Die Krupp, Stumm, Thyssen u. a. wollten in ihren eigenen Industrien ebenso absolut herrschen, wie es die preußischen Landbesitzer auf ihren Gütern taten. Trotz des schnellen Aufstieges der Gewerkschaftsbewegung lehnte es nodi 1905 der Zentralverband deutscher Industrieller ab, Tarifverhandlungen aufzunehmen, und erst am Vorabend des ersten Weltkriegs konnte er zu einer Änderung seiner Auffassung bewogen werden. Das Bürgertum konnte sich ideologisch nicht mit dem Marxismus der Sozialdemokratie befreunden und gesellschaftlich verachtete es deren Anhänger; es folgte den Ideen und der Führung der

9

Passant

129

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 preußischen Aristokraten und Unternehmer. Die nachbismarcksche Gesellschaft, über die Wilhelm II. herrschte und zu der er seinen Teil an Prahlerei und ruhelosem Ehrgeiz beisteuerte, nahm an Vermögen, Zahl und Produktionskapazität mit großer Geschwindigkeit zu. Sie hatte viele der weniger schönen Eigenschaften des Neureichen. Sie w a r ehrgeizig, wurde immer materialistischer und betete Macht und Erfolg an. Die schnellen Umwälzungen und Bevölkerungsverschiebungen, die die moderne Industrie begleiten, zerbrachen die alten heimatlichen Bindungen und Traditionen. Doch die monarchisch-feudale Tradition des Volkes und die autokratische Struktur des Staates machten den Kaiser zum Mittelpunkt der Loyalität und legten ihm die schwere Bürde auf, die Expansionsbestrebungen seines Volkes in vernünftige und gemäßigte Bahnen zu lenken.

D I E REGIERUNG WILHELMS

Der „neue

II.

Kurs"

Die ersten vier Jahre der Regierung Wilhelms II. gaben nur wenige Andeutungen der neuen expansionistischen Tendenzen. Ganz im Gegenteil: wie die ersten Jahre der Herrschaft Friedrich Wilhelms IV., Wilhelms I. und Bismarcks nach 1871 versprachen auch sie ein liberaleres Regime, bis sie schließlich .die Hoffnungen enttäuschten. Caprivi als Kanzler. Eine Zeit lang stimmten Wilhelm und seine Berater und sogar einige einflußreiche Politiker überein, daß Bismarck von einem General abgelöst werden sollte — wenn es auch nur darum war, um diesem ein Minimum jener Autorität zu verschaffen, die Bismarck besessen hatte. Fast wäre die Wahl auf General von Waldersee, Moltkes Nachfolger als Generalstabschef, gefallen, wenn dessen Name nicht mit der extremen Rechten verbunden gewesen wäre. Waldersee wurde daher zugunsten des kommandierenden Generals des 10. Armeekorps in Hannover, von Caprivi,

130

Die Regierung Wilhelms II. übergangen, einem Manne der gemäßigten Politik und ehrenhafter Gesinnung, der bereits große Fähigkeiten als Administrator bewiesen hatte und mit dem Programm innen- und außenpolitischer Verständigung übereinstimmte, das der junge Kaiser entworfen hatte. Zwischen 1890 und 1894, als Caprivi abdankte, wurden das Antisozialistengesetz fallengelassen, die Unterdrückungspolitik sowohl in Polen (wo ein Pole Erzbischof von Posen wurde) als audi in Elsaß-Lothringen beträchtlich gelockert, und nach einer Senkung des Zolls für ausländische Güter wurden eine Reihe von Handelsverträgen mit Nachbarländern abgeschlossen, die für die nächsten zehn Jahre niedrigere Schutzzölle bedingten. Auch wurde die Macht der Junker in den Ostprovinzen leicht eingeschränkt, indem der preußische Landtag ein freilich arg verstümmeltes diesbezügliches Gesetz annahm. Der Reichstag nahm Gesetze zur Schaffung von Arbeitsgerichten und zur Begrenzung der Frauen- und Kinderarbeit an; das neue Wehrgesetz senkte die Dienstzeit in der Infanterie von drei auf zwei Jahre. Außenpolitisch wurde 1890 die Entscheidung getroffen, den geheimen Rückversicherungsvertrag mit Rußland nicht zu erneuern, für dessen Verlängerung Bismarck gekämpft hatte, bevor er stürzte; man glaubte nun, daß er mit den Bedingungen des Dreibundes nicht harmonisierte. Aber Zar Alexander III. hielt sehr viel von Caprivi, und der junge Kaiser, der in der Außenpolitik nodi immer dynastischen Beziehungen vertraute, machte alle Anstrengungen, mit Rußland auf freundschaftlichem Fuße zu bleiben — besonders dann, als sein ihn bewundernder Vetter Nicolaus II. im November 1894 den Thron bestieg. Doch der gegenseitige Besuch russischer und französischer Flotteneinheiten in den Jahren 1891 und 1893, der dem Abschluß des Zweibunds zwischen diesen beiden Mächten vorausging, war eine Warnung dafür, daß vielleicht ein Preis für Ehrlichkeit gezahlt werden müßte. Widerstand gegen die Politik des Kaisers. Die Auswirkungen des „neuen Kurses" in innenpolitischen Angelegen9·

131

II. Das Deutsche Reich

1871—1918

heiten stellten sich bald als unangenehm heraus. D i e preußischen J u n k e r gingen in Opposition; die Kreuzzeitung, ihr Organ, schrieb über die niedrigeren Schutzzölle, der deutsche L a n d w i r t sei nun geneigt, den Kaiser als seinen politischen Feind zu betrachten. I m J a n u a r 1 8 9 3 w u r d e der B u n d der L a n d w i r t e gebildet und im gleichen J a h r der Ostmarkenverein organisiert, der gegen die kaiserliche pro-polnische Politik protestieren sollte. D i e Sozialgesetzgebung erreichte ihr Ziel nicht, nämlich den Arbeiter v o n der Sozialdemokratie zu trennen, die jetzt v o n ihren Fesseln befreit w a r . B e i den Wahlen v o n 1 8 9 3 verzeichnete die S P D einen Zuwachs v o n weit über 300 000 Stimmen; mit 44 Sitzen w u r d e sie die viertstärksce Partei im Reichstag. Zuerst trat der Kaiser der konservativen Opposition mit festen Worten entgegen: denjenigen, die in zunehmendem Maße ihre Unzufriedenheit mit dem neuen K u r s ausdrückten, wolle er ruhig aber entschieden erwidern, sein K u r s sei richtig, und er werde ihn weiterhin verfolgen. A b e r gegen Ende 1 8 9 3 hatte sein eigener, angeborener Konservativismus, auch wegen des geringen Erfolges seiner Maßnahmen, den nur oberflächlichen Liberalismus ersetzt. D e r Einfluß der Militärkreise, in denen er sich bewegte, die Lockungen einer aktiveren Außenpolitik, die seiner eigenen Ruhmsucht und den Expansionsbestrebungen des Volkes entgegenkam, überwanden die einstigen Vorhaben sozialer Verständigung. I m Oktober 1894 dankte C a p r i v i ab, der sich schon lange darüber im K l a r e n gewesen w a r , die Unterstützung seines Herrschers verloren zu haben, und der „neue K u r s " hatte sein E n d e erreicht.

Konservativismus

und

Expansionsbestrebungen

D i e J a h r e nach C a p r i v i s Sturz waren, innenpolitisch

ge-

sehen, v o n reaktionären K r ä f t e n diktiert. U n t e r den nächsten zwei K a n z l e r n (Fürst v o n Hohenlohe 1 8 9 4 — 1 9 0 0 , Fürst v o n Bülow 132

1900—09)

gab

es z w a r

Ausweitungen

der

Sozial-

Die Regierung

Wilhelms

II.

Versicherungsgesetze und 1899 sogar ein Gesetz, das durch die Erlaubnis des Zusammenschlusses von Verbänden in ganz Deutschland die Entwicklung der Gewerkschaften stark beschleunigte; aber deutsche Historiker haben nicht zu Unrecht diese Jahre die Stumm-Ära genannt, nach Baron von StummHalberg, einem Schwerindustriellen aus dem Saarland, der nicht nur sozialdemokratische, sondern audi christlich-soziale Agitation in seiner Gegend verbot. Des Kaisers Sinnesänderung zeigte sich deutlich darin, daß er die 1890 den evangelischen Pastoren gegebenen Anweisungen, sich mit sozialen Fragen zu beschäftigen, 1894 zurückzog. Er befahl ihnen nun, sich auf die geistliche Wohlfahrt ihrer Herde zu beschränken. Die Reaktion an der Macht. Während also die sozialdemokratische Partei und Presse sowie die Gewerkschaftsbewegung große Fortschritte machten, so daß 1912 die S P D 4250000 Stimmen bekam und mit 110 Abgeordneten die größte Partei im Reichstag wurde, machte die Staatspolitik diesem Anwachsen des Radikalismus keinerlei Zugeständnisse. Im Gegenteil — Pläne für eine konservative „Revolution", wie sie Bismarck 1890 vorgeschlagen hatte, wurden 1895 in konservativen Kreisen offen diskutiert, und die Unterdrückungsmaßnahmen der Polizei wurden durch eine lange Reihe von Bestrafungen für Majestätsbeleidigung ergänzt. 1902 wurde audi, bevor die Handelsverträge Caprivis ausliefen, durch von Bülow ein Zollgesetz beschlossen, das die Einfuhrzölle auf Getreide wesentlich erhöhte und den deutschen Fabrikanten weiteren Schutz gegen ausländische Fertigwaren gab. Der Bund der Landwirte und der Zentralverband deutscher Industrieller triumphierten auf Kosten der Arbeiterklasse. Außerdem versteifte sich die kaiserliche Politik gegenüber den völkischen Minderheiten in den polnischen Provinzen und in Elsaß-Lothringen. Bismarcks Ideen zur inneren Kolonisation polnischen Gebietes wurden wieder aufgenommen, Regierungsdekrete verboten praktisch die polnische Sprache auf den Schulen, und von Bülow setzte unmittelbar vor seinem 133

II. Das Deutsche Reith 1871—1918 Sturz im Jahre 1909 im preußischen Landtag ein Gesetz durch, das die Regierung ermächtigte, polnisdie Landbesitzer zwangsweise zu enteignen. Wie zu erwarten gewesen war, stärkten diese Maßnahmen nur die nationalistischen Bestrebungen der Polen. Propagandaverbände und Expansionsbestrebungen. Ton und Ziel deutscher Politik wurden hauptsächlich durch die verschiedenen Propagandaverbände, die nach 1890 florierten, angegeben. Oscmarkenverein, Kolonialverein, Flottenverein, der Alldeutsche Verband betrieben Propagandafeldzüge ultrapatriotischer Natur. Ihre Mitgliedschaft überschnitt sich, und ihre Direktorien und Ausschüsse setzten sich aus großen Landbesitzern sowie Industriellen zusammen, von denen audi das nötige Geld kam. Der Deutsche Flottenverein wurde vom Leiter der Reederei Woermann .und von den großen Eisen-, Stahl- und Kohlemagnaten Krupp und Stumm unterstützt, die 800 000 Mark in seinen Fonds zahlten und zwei Zeitungen zu seiner Verfügung stellten. Dafür erzielten die Krupp und Stumm große Gewinne aus dem Flottenrüstungsprogramm zwischen 1898 und 1914. Der Alldeutsche Verband, der aggressivste unter all diesen Vereinen, erhielt finanzielle Unterstützung von den Herren der Schwerindustrie — Kirdorf, Stinnes, Borsig und Röchling. Zu seinen Gründern gehörte Alfred Hugenberg, der bei Krupp Direktor und nach 1918 Leiter des Ufa-Konzerns sowie der größte Zeitungsmagnat der Weimarer Republik wurde. 1928 wurde er Führer der Deutschnationalen Partei, und seine Verbindung mit Hitler war mit-verantwortlidi für die Machtergreifung der NaziPartei. Außerdem wurden die Alldeutschen durch eine österreichische Gruppe inspiriert, die in den neunziger Jahren unter ihrem Führer Schönerer als heftig antisemitisch und großdeutsch im Parlament wie auch außerhalb desselben die spätere Nazibewegung vorwegnahm. Die Regierungsnähe dieser Propagandabünde war ganz unterschiedlich, und manchmal wurden sie vom Kaiser und von Bülow selbst als ausgesprochen lästig 134

Die Regierung Wilhelms II. empfunden. Aber sie waren dodi der Ausdrude — und Antreiber — des aggressiven Expansionismus weiter Kreise des deutschen Adels und Bürgertums in Armee, Verwaltung, Landwirtschaft und Industrie. Deutschlands

Isolierung

Die Außenpolitik Deutschlands während der fünfzehn Jahre (1894—1909) nach dem Sturz Caprivis entsprach den E x pansionstendenzen, die auf das schnelle industrielle Wachstum folgten und durch die Propagandaverbände ausgedrückt wurden. Aber diese Politik wurde derart unsystematisch durchgeführt, und die allgemeine Lage war schon in sich derart ungünstig, daß Deutschland, während es nur wenig an Boden gewann, das Mißtrauen und die Feindschaft der Großmächte auf sich zog und abhängig wurde vom einzig übriggebliebenen Verbündeten: von Österreich. Die Außenpolitik des Kaisers. Der Mangel an Folgerichtigkeit, der die deutsche Außenpolitik beherrschte, beruhte auf der Struktur der Regierung selbst. Der Kaiser versuchte, die Politik zu bestimmen, aber seine Ideen waren zusammenhanglos und sein Eingreifen ohne System. Seine Entschlossenheit, eine große Flotte aufzubauen, entfremdete ihn von England, während er tatsächlich doch keine Neigung verspürte, gegen dieses oder irgendein anderes Land zu kämpfen. Er verließ sich auf die persönliche Freundschaft mit dem Zaren (nannte ihn „ N i k k i " in seinen Briefen) und spielte mit dem Gedanken, eine große kontinentale Liga zu organisieren. Aber die Tage, in denen Außenpolitik von dynastischen Sympathien gemacht wurde, waren vorüber. Rußlands Rivalität mit Österreich in Balkanfragen und seine Allianz mit Frankreich machten einen vereinten Kontinent unmöglich. Außerdem wurde die Politik des Kaisers von Marschall (Staatssekretär im Auswärtigen Amt bis 1897), Bülow (Staatssekretär 1897—1900, Kanzler 1900—09) und Holstein 135

II. Dai Deutsche

Reich 1871—1918

(Geheimer Legationsrat im Auswärtigen Amt) durchkreuzt. Von diesen Männern war wohl Holstein der gefährlichste, denn er übte aus dem Hintergrund einen mächtigen und beinahe stereotyp kurzsichtigen Einfluß aus, bis zu seiner Entlassung 1906. Obgleich sie alle sich darin einig waren, daß Deutschland Weltpolitik machen müßte und jedes Stück Land, das irgendwo in der Welt zu haben war, erwerben sollte, entweder durch Diplomatie oder verhüllte Drohungen, war doch die allgemeine Auswirkung dieser Politik der „Kompensationen" und des Mangels an Folgerichtigkeit, mit der sie durchgeführt wurde, nur die, daß alle anderen Mächte Deutschland als gefährlichen potentiellen Feind und unzuverlässigen Freund betrachteten. Englisch-deutsche Beziehungen. 1890 wurde zwischen Deutschland und England ein Abkommen getroffen, in dem die Grenzen Deutsch-Ost-Afrikas (Tanganyika) zu Gunsten Deutschlands festgelegt wurden, Helgoland kam unter deutsche Herrschaft, während britische Vorherrschaft in Zanzibar und Souveränität in Uganda anerkannt wurde. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern blieben eine Zeit lang herzlich, aber das Abkommen vom Jahre 1890 wurde scharf vom Kolonialverein und den Großdeutschen angegriffen; auch hatte Marschall, schon vor Caprivis Sturz, ein Grenzabkommen mit Frankreich (1894) bezüglich Kameruns getroffen, welches den Franzosen einen Weg zum Nil öffnete, hatte sich (1893) mit den Vereinigten Staaten zusammengetan, um Rhodes' Plan zur Erlangung der Kontrolle über die Eisenbahn von Pretoria nach Lourenço Marques zu vereiteln, und hatte schließlich deutsche Kriegsschiffe in die Delagoa-Bai geschickt (1894), als England von Portugal die Erlaubnis suchte, dort Truppen zu landen. Das Telegramm des Kaisers an Krüger, den Präsidenten der Buren, zur Zeit des Jameson-Überfalles auf den Burenfreistaat (1896), in dem er ihm dazu gratulierte, die Unabhängigkeit seines Landes gegen Angriffe von außen bewahrt zu haben, war bekanntlich eine mildere Alternative

136

Die Regierung Wilhelms

II.

gegenüber sehr viel ernsteren Schritten, die in der Wilhelmstraße vorgeschlagen wurden. Doch erregte es heftige Feindschaft in England; und vom deutschen Standpunkt aus w a r es, da es den Buren nichts nützen konnte, ein A k t taktloser Dummheit. Es erschien den Engländern als ein ungerechtfertigter Eingriff in Angelegenheiten ihres Imperiums und erregte U n willen gegen Deutschland als Handelsrivalen; noch dazu wurde der Dreibund geschwächt, als Salisbury im Jahre 1897 sich weigerte, das Mittelmeerabkommen (zum Zwecke der E r haltung des status quo) zu erneuern, welches eine wichtige Rolle gespielt hatte, Italien den Bund schmackhaft zu machen. Doch der Kaiser und seine Berater waren felsenfest davon überzeugt, daß die Differenzen zwischen England und dem Zweibund zu ernst waren, um ein dauerhaftes Abkommen zu erlauben. D i e wirtschaftliche Durchdringung der Türkei durch die Deutsche Bank und der Bau der Berlin-Bagdad-Bahn wurde fortgesetzt, mit Marschalls Einverständnis. D a ß dadurch englische, und russische Interessen in Persien und Indien bedroht werden konnten, wurde durch Zeitungsartikel der Alldeutschen offenbar, in denen die Rede w a r von deutscher Vorherrschaft im Nahen Osten und im Persischen Golf. Der Kaiser brachte 1898 bei seinem Besuch in Damaskus (nur zwei Jahre nach dem türkischen Massaker an den Armeniern) einen Trinkspruch auf Sultan Abdul H a m i d aus: „Möge Seine Majestät der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, welche auf der Erde zerstreut in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, daß zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein w i r d " . Und das englische Bündnisangebot von 1 9 0 1 fand in Berlin keine ernsthafte Resonanz. Doch verbesserten sich noch zwischen 1898 und 1902 die englisch-deutschen Beziehungen. 1898 wurde ein Übereinkommen zur Frage der portugiesischen Kolonien erzielt, falls Portugal gezwungen werden würde, sie zu verkaufen; 1899 wurde die Samoa-Frage durch Anerkennung der deutschen 137

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 Souveränität über die Inseln Upolu und Savaii gelöst, während England anderswo Rechte erhielt. Während des ganzen Burenkrieges war Deutschlands Politik gegenüber England durchaus korrekt, und der Kaiser lehnte Krügers Ersuchen um diplomatische Intervention ab, obgleich die deutsche öffentliche Meinung leidenschaftlich anti-englisch war. Englisch-deutsche Flotten-Rivalität. Seit 1898 allerdings trat eine neue Erscheinung in den deutsch-englischen Beziehungen auf, nämlich die Flotten-Rivalität, obwohl man sich erst seit Ende 1901 in England hierüber Sorgen zu machen begann. Ein Flottengesetz nach dem anderen wurde zwischen 1898 und 1914 vom Reichstag angenommen; die deutsche Kriegsmarine wurde zu einer furchtbaren Waffe und zwang England, der deutschen Herausforderung entgegenzutreten. Die Kosten des Schiffsbauprogramms auf beiden Seiten der Nordsee legten den englischen und deutschen Steuerzahlern schwere Bürden auf; in England entstand, besonders nach der Einsetzung einer liberalen Regierung im Jahre 1906, nicht nur Verärgerung über das Verschleppen sozialer Reformen wegen des Flottenbaus, sondern auch ehrliche Furcht, daß sich der „sichere Schild" der britischen Flotte, auf der die Weltgeltung des Landes beruhte, als unzureichend erweisen könnte. Der Hauptbetreiber des Flottenrüstungsprogramms war Tirpitz, der 1897 als Staatssekretär ins Reichsmarineamt eintrat. Vom Kaiser erhielt er begeisterte Unterstützung; auch der Flottenverein und der Kolonialverein trieben kräftig Propaganda für eine große Flotte. Noch schwerer wog, daß man sich weigerte, auf englische Vorschläge zur beiderseitigen Rüstungsbegrenzung zu hören. Die diesbezügliche Haager Konferenz von 1907, Warnungen des deutschen Botschafters in London und Gespräche beim Besudi Eduards VII. 1908 in Deutschland — all dies war vergebens. 1901 hatte der Kaiser gesagt, die Zukunft liege auf dem Wasser, und er betrachtete jeden Versuch einer anderen Macht, die deutsche Flotte zu beschränken, als unerträglich und beleidigend. 138

Die Regierung Wilhelms II. Audi die Haldane-Mission von 1 9 1 2 blieb ohne Erfolg — obwohl Europa ein Jahr zuvor schon an der Sdiwelle eines Weltkrieges gestanden hatte — und der Flottenhaushalt von 1 9 1 2 / 1 3 sah weitere Bauten vor (bis 1920 sollte die Flotte aus 41 Schlachtschiffen für die heimischen Gewässer, aus 8 großen und 18 kleineren Kreuzern für die überseeischen Stützpunkte bestehen). Aus diesem Grund war England gezwungen, seinerseits seine Flotte zu verstärken. Die Spannung zwischen den beiden Ländern, die mit Notwendigkeit aus dieser FlottenRivalität entstand, dauerte an bis zum Ausbrudi des Krieges von 1914. England, und der Zweibund. Bülow und Holstein erkannten die möglichen Auswirkungen der Flotten-Rivalität auf die deutsdi-englischen Beziehungen nicht, als sie 1901 Englands erneuten vortastenden Schritten zu einem Bündnis kühl begegneten. Bülow sah in der englischen Drohung, sich mit dem Zweibund zu arrangieren, nur ein zum Angst-Einjagen erfundenes Schreckgespenst. Wie töricht dies war, zeigte sich bald: Es wurden zwischen England und Frankreich Verhandlungen eröffnet, die 1904 zu Abkommen über alle nodi offenen Kolonialfragen führten. Da Italien 1902 ebenfalls mit Frankreich ein Abkommen getroffen hatte, das für Frankreich Aktionsfreiheit in Marokko und Italien in Tripolis vorsah, war der Dreibund stark geschwächt worden, und die Phase der Isolierung Deutschlands und Österreich hatte begonnen. In den Beziehungen zu Rußland, die Bismarck immer als von grundsätzlicher Wichtigkeit betrachtet hatte, waren der Kaiser und seine Berater ebenso ungeschickt. 1897, nach der Ermordung von zwei deutschen Missionaren, besetzte Deutschland Kiautschou (Tsingtau), obgleich Rußland bereits mit China wegen der Übernahme der Kontrolle über dieses Gebiet verhandelt hatte. Die Eroberung einer fernöstlichen Basis, die von allen Meinungsrichtungen in Deutschland warm begrüßt wurde, verlor durch die russische Besetzung von Port Arthur und die englische Pacht von Wei-hai-wei seinen Wert. Am 139

IL Das Deutsche Reich 1871—1918 Vorabend des russisch-japanischen Krieges (1904/5) ersuchte der Kaiser beim Zaren mit großer Dringlichkeit, einen Kreuzzug gegen Japan zu führen, aber er bot ihm keine militärische Unterstützung an, und die schwere Niederlage der Russen wurde von anti-deutschen Kreisen am Zarenhofe dazu benutzt, des Kaiser Aufrichtigkeit anzuzweifeln. Der Vertrag von Björkö (Juli 1905), der bei privater Zusammenkunft zwischen Kaiser und Zar in Finnland abgesprochen war, stellte des Kaisers letzten Versuch dar, einen Kontinentalbund aufzubauen, der den Zwei- und Dreibund umschließen würde. Aber der Versuch schlug wegen Rußlands Verpflichtungen Frankreich gegenüber fehl und resultierte schließlich in einer Abkühlung zwischen Deutschland und Rußland. Der zunehmende deutsche Einfluß in Konstantinopel, die schnelle Ausdehnung der wirtschaftlichen Durchdringung der Türkei, zusammen mit den weitreichenden Konzessionen, die die türkische Regierung 1903 den Förderern der Berlin-Bagdad-B.ahn machte (mit ihrem vorgeschlagenen Netz von Linien zur persischen Grenze und zum Persischen Golf), stießen bei den Russen auf noch größere Ablehnung als bei den Engländern. Rußland hatte nach der Niederlage im Fernen Osten seine Augen wieder auf den Balkan geworfen, auf Konstantinopel, Kleinasien und Persien und stand dort den Plänen Österreichs auf dem Balkan und denen Deutschlands in der Türkei gegenüber. Auswirkungen der Isolierung. Ende 1905 war Deutschland fast völlig isoliert. Das war das Ergebnis der seit 1897 gemeinsam geführten Politik des Kaisers, Bülows und Holsteins. Die Auswirkungen zeigten sich schnell. Nach der Bildung der englisch-französischen Entente begannen die Franzosen in Marokko sofort ihre Herrschaft zu erweitern; anfangs wehrte sich Deutschland nicht dagegen, aber im März 1905 überredete Bülow den Kaiser, in Tanger zu landen, und die Marokko-Frage erhielt eine neue Bedeutung. Unter deutschem Druck wurde die Algeciraskonferenz (1906) abgehalten, wo sich Deutschland, abgesehen von zweifelhafter und zögernder 140

Die Regierung Wilhelms

II.

Unterstützung durch Österreich, allein fand. Das schließlich zustandegekommene Abkommen erkannte formell die Unabhängigkeit des Sultans sowie das Prinzip der „offenen Tür" im Handel aller Nationen an. Aber die deutsche Demonstration in Tanger stellte sich als Fehlschlag heraus. Frankreich sorgte nun für eine Verständigung zwischen Rußland und England, die 1907 zu einer Reihe von Abkommen führte, wodurch nicht nur alle noch offenen Fragen zwischen Rußland und England beigelegt wurden, sondern es auch zu einer russisch-französischen Verständigung mit Japan zur Aufrechterhaltung des status quo in Ostasien kam, während Spanien in ein ähnliches Abkommen in Bezug auf das Mittelmeer hineingezogen wurde. Deutschland stand nun allein da; nur Österreich war noch auf seiner Seite, und es erhielt die zweifelhafte Unterstützung Italiens und Rumäniens. Bülow, der für diese Lage zum großen Teil die Verantwortung trug, begann jetzt vom „Einkreisen" Deutschlands zu sprechen. Die Alldeutschen waren wütend, daß der Kaiser und Bülow in Marokko keine Gebietsgewinne zu verzeichnen hatten; denn dort, an der Küste des Atlantik, hätten sich deutsche Marinestützpunkte bauen lassen. Abhängigkeit

Deutschlands von

Österreich

Deutschland, das nun der Triple-Entente Rußlands, Frankreichs und Englands gegenüberstand, war damit auf den Dreibund als einzige Unterstützung angewiesen — und das hieß auf Österreich, da Italien unzuverlässig war. Österreichs Beziehungen zu Rußland verschlechterten sich jedoch schnell, weil es den Bestand der Monarchie durch das Anwachsen der panserbischen Bewegung in Serbien bedroht sah, die von der panslawistischen Partei in Rußland kräftigen Beistand erhielt. Als die vorderasiatische Frage 1908 durch die Revolution der „Jungtürken" aufs neue aufgeworfen wurde, ergriff der österreichische Außenminister die Gelegenheit der augenblicklichen 141

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 militärischen Schwäche Rußlands und stellte Rußland und ganz Europa von ein fait accompli: er annektierte Bosnien und die Herzegowina ( j . 10. 1908). Ferdinand von Bulgarien, im Zusammengehen mit Österreich, erklärte gleichzeitig seine Unabhängigkeit von türkischer Vorherrschaft. In Serbien entstand sofort erbitterter Widerstand, und Rußland stand vor der unangenehmen Aufgabe, entweder die Serben von ihrem Pochen auf Gegenmaßnahmen abzubringen oder aber in einen Krieg gegen Österreich einzutreten. Schließlich wählte Rußland den ersten Weg, und der Krieg wurde abgewendet. Aber die Krise hatte Deutschlands Abhängigkeit von Österreich klar gezeigt und war ebenso eindeutig ein Vorbote des Kriegsausbruches von 1914. Bülow gab Österreich, aus Furcht, seinen letzten Verbündeten zu verlieren, uneingeschränkte Unterstützung in der serbischen Frage und schrieb an den österreichischen Außenminister, er werde die Entscheidung, die dieser schließlich treffen würde, als von den Umständen diktiert ansehen; damit stellte er einen Blankoscheck aus. Obgleich der angesichts der Kriegsgefahr unternommene Rückzug Rußlands Deutschland und Österreich einen großen diplomatischen Erfolg einbrachte, führte er doch augenblicklich zu einer intensivierten Kriegsvorbereitung in Rußland und Frankreich und gleichzeitig zu der erhöhten Entschlossenheit, 'daß so etwas nicht ein zweitesmal vorkommen dürfe. Auch war während der Krise Italien von seinen Verbündeten ignoriert worden, und man hatte sich auf Englands Neutralität verlassen. Sollte die gleiche Situation wieder entstehen, konnte man nicht darauf vertrauen, daß diese beiden Mächte ihre stummen Rollen weiterspielen würden, und wenn sie es nicht taten, war Krieg die Folge. Die Gefahren der Situation, in die Deutschland und Europa durch die unverantwortlichen deutschen Außenpolitiker gebracht werden konnten, wurden bis zur Karrikatur durch ein Interview mit dem Kaiser im „Daily Telegraph" vom 28. Oktober 1908 illustriert, während des Höhepunkts der bosnischen Krise. 142

Die Regierung Wilhelms II. Wilhelm hatte das Interview als Beweis seiner friedlichen Absichten geben wollen, aber er zeigte derart seine Eitelkeit und Verständnislosigkeit, daß die Engländer von der Feindseligkeit Deutschlands gegenüber ihrem Lande überzeugt wurden; er drohte auch Japan, Rußland und Amerika, indem er andeutete, die deutsche und englische Flotte sollten zusammen die großen Fragen im Pazifik lösen. Das Interview war sowohl in England als in Deutschland eine Sensation und führte hier sogar zu Protesten der konservativen Partei. Obwohl Bülow den Kaiser dazu bringen konnte, für die Zukunft ein Versprechen größerer Vorsicht zu geben, so zeigte sich doch die ganze Nichtigkeit der Parteien im Reichstag dadurch, daß es ihnen nicht gelang, Fortschritte auf parlamentarische Kontrolle der Regierung hin zu machen. Nach einem Nervenzusammenbruch erholte sich der Kaiser wieder, und nachdem er Bülow entlassen hatte, verfiel er in die alte Gewohnheit, Reden zu halten. Das deutsche Regierungssyscem blieb unverändert. Bethmann-Hollweg als Kanzler. Das Erbe, das Bethmann-Hollweg antrat, war schwer, und er war von Natur aus nicht der Mann, der es verwalten konnte; denn obgleich er gute Absichten hatte, fehlten ihm doch Charakterstärke und außenpolitische Erfahrung. Das Resultat war, daß Tirpitz' Einfluß auf den Kaiser noch stärker und gefährlicher wurde, besonders weil Kiderlen-Wächter, der 1910 zum Staatssekretär des Äußeren aufrückte, beim Kaiser keine Sympathien genoß und von diesem nur zögernd und nur durch Bethmann-Hollwegs Verwendung zu seinem Amt zugelassen worden war. Die Teilung Europas in zwei Lager, die eifrig gegeneinander aufrüsteten, legte eine Zeit lang allen Ländern größte Vorsicht auf, und nach der bosnischen Krise wurden von allen Seiten Versuche zur friedlichen Verständigung gemacht. Aber 1 9 1 1 wurden sie plötzlich durch die zweite Marokko-Krise und durch den italienischen Angriff auf Tripolis unterbrochen. Die Krise war durch die Ausweitung französischer Herrschaft in 143

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 Marokko provoziert worden, aber wurde von Kiderlen derart linkisch behandelt, daß sich Deutschland ins Unrecht setzte. Die Aussendung des Kanonenbootes „Panther" nach Agadir, w o es am i . J u l i eintraf, stimmte mit der alldeutschen Agitation zum Zwecke der Annektion des westlichen Marokko überein und w a r beabsichtigt, Frankreich auf die Möglichkeit eines Krieges hinzuweisen, falls es sich nicht zu großen Entschädigungen (man sprach vom gesamten französischen Kongo) als Preis f ü r Deutschlands Hinnahme der französischen MarokkoKontrolle herbeiließ. Das Ereignis w a r eine europäische Sensation und zog die erste kriegerische Rede von L l o y d George nach sich, was selbst ein Ereignis war. Aber der Kaiser w a r fest entschlossen (wie Kiderlen genau wußte), wegen Marokko keinen Krieg zu beginnen; zur großen Verärgerung der A l l deutschen und des Kolonial- und Flottenvereins w a r Deutschland gezwungen, französischer Vorherrschaft im letzten verfügbaren Teil A f r i k a s zuzustimmen gegen Abtretung zweier Gebietsstreifen im französischen Kongo. Während der ganzen Krise stand England fest bei Frankreich, während Deutschland sich wieder einmal seiner Isolierung und damit seiner A b hängigkeit von Österreich bewußt werden mußte. Der italienische Angriff auf Tripolis im September 1 9 1 1 wurde auf Grund vorheriger Versprechen durch die DreibundVerbündeten und Rußland unternommen, nicht zuletzt auch auf Grund des Versprechens Frankreichs, dessen Bedingung die Annektion Marokkos gewesen war. Die militärischen Operationen endeten im Oktober 1 9 1 2 , als die Türken Frieden suchten, um dem neuen Angriff seitens des Balkanbunds entgegentreten zu können, bis der Kampf um die Beute zum zweiten Balkankrieg führte ( 1 9 1 3 ) . Während dieser Kriege übten Deutschland und England ihren Einfluß aus, Österreich und Rußland zur Mäßigung zu bestimmen; diese gemeinsamen Friedensbemühungen sowie die drohende Wahrscheinlichkeit einer erneuten Kriegsgefahr veranlaßten Sir E d w a r d Grey zu weiteren Friedensbemühungen. Aber obwohl sich

144

Die Regierung Wilhelms It. 1 9 1 3 — 1 4 die Kolonialfragen und der Bagdadbahn-Disput einer Lösung näherten, verhinderten doch des Kaisers und Tirpitz' hartnäckiges Festhalten am Flottenprogramm eine wirkliche Verständigung zwischen den beiden Ländern. Während in Marokko-Fragen Kiderlen und Bethmann-Hollweg aggressiv und der Kaiser versöhnlich gewesen waren, waren in Flottenfragen audi der Kaiser und Tirpitz hart; sie müssen die Verantwortung für das NichtZustandekommen deutschenglischer Verständigung tragen, welche allein 1914 den Krieg hätte verhindern können. Welches Kalkül hier zugrunde lag, kam in einem Brief Jagows an den deutschen Botschafter in London vom 26. Februar 1914 zum Ausdrude, in dem es hieß: der Botschafter sei zu pessimistisch, wenn er die Ansicht vertrete, daß im Kriege England auf jeden Fall auf der Seite Frankreichs gegen Deutschland zu finden sein werde; schließlich habe man die Flotte nicht umsonst gebaut . . . Als es die Probe aufs Exempel galt, ging diese Rechnung nicht auf — sie zeigte nur, wie schlecht die Deutschen England kannten. Sarajevo

und der Kriegsausbruch

1914

Die entscheidende Krise kam im Sommer 1914. Österreich war bereits durch die Ergebnisse der Balkankriege im Alarmzustand. Rußlands Einfluß auf dem Balkan hatte sich besonders in Serbien verstärkt, das an Einwohnerzahl und Gebietsumfang erheblich gewonnen hatte. Die panserbische Bewegung wuchs an Intensität und bedrohte Österreichs Nationalitätenstaat nicht nur in Bosnien und der Herzegowina, deren Bevölkerung vorwiegend aus Serben bestand, sondern audi die serbisch durchsetzten Provinzen im südlichen Ungarn sowie in Kroatien und Dalmatien. Der greise Kaiser, der 1848 den Thron bestiegen hatte, stand den Ereignissen hilflos gegenüber. Conrad von Hötzendorf, Chef des Generalstabs, war überzeugt, daß ein militärischer Schritt gegen Serbien sofort unternommen werden müßte, bevor die Auflösung in öster-

10

Passant

145

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 reich zu weit fortgeschritten und bevor Rußland zum Krieg gerüstet sei. Diese Ansicht vertrat er unermüdlich; und als am 28. Juni 1 9 1 4 der Thronfolger Franz Ferdinand von einem bosnischen Serben in Sarajevo ermordet wurde, akzeptierte der Außenminister Berchtold sofort von Hötzendorfs Ansichten: Serbien müsse gestraft und entmachtet werden, jetzt oder nie, ohne Rücksicht auf selbst das schwerste Risiko. Und bei dieser Politik machten der Kaiser und Bethmann mit. Wie in der Krise von 1908 ließen sie Österreich in den Angelegenheiten mit Serbien freie Hand und versicherten es ihrer vollen Unterstützung. Sie taten das mit dem klaren Wissen, daß Rußland höchstwahrscheinlich an einem österreichisch-serbischen Kriege teilnehmen und Deutschlands Teilnahme mit Sicherheit Frankreich und vielleicht England hineinziehen würde. Z w a r versuchten sie in den späteren Verhandlungsstadien, auf Veranlassung Sir Edward Greys, Österreichs Politik zu mildern: jedoch erst, als es bereits zu spät war. Durch seine nervöse „Weltpolitik", durch des Kaisers blinde Entschlossenheit zum Flottenbau und durch seine eigensinnige Weigerung, die Wirkungen dieser Politik auf England abzuwägen, w a r Deutschland isoliert und von Österreich abhängig geworden. Und nun, in dem Augenblick, als der letzte zuverlässige Verbündete für das unlösbare Nationaliätenproblem die kriegerische Lösung wählte, honorierten der Kaiser und Bethmann-Hollweg den „Blankoscheck", den schon Bülow 1908 gegeben hatte. Hierzu wären sie durch den Text des Dreibundes nicht verpflichtet gewesen; indem sie es taten, machten sie den europäischen Krieg, der schon wahrscheinlich genug war, zur unentrinnbaren Gewißheit. Das ist das Maß ihrer persönlichen Verantwortung.

Die politische Situation in Deutschland

1914

Bei Ausbruch des Krieges war die deutsche Heimatfront in einer angespannten Lage. Das Wachstum der S P D und der 146

Die Regierung

Wilhelms

II.

Gewerkschaften war durch die Entstehung eines linken Flügels des Zentrums begleitet worden, der die christlichen (katholischen) Gewerkschaften repräsentierte, so daß die Möglichkeit einer Reichstagsmehrheit zugunsten des Prinzips parlamentarischer Regierung, fußend auf Zentrum, Freisinnigen und Sozialdemokraten, aufgetaucht war. Diese Lage wird deutlich im Wahlergebnis von 1912, wenn man es mit den vorhergehenden vergleicht: Parteienstärke Konservative und Freikonservative Nationalliberale Freisinnige Zentrum Sozialdemokraten Polen, Dänen, Elsaß-Lothringer und Hannoveraner Antisemiten

im Reichstag unter Wilhelm II. 1890 1893 1898 1903 1907 93 42 76 106

100

35

44

53 48 96

79 46 49 102 56

75 51 39 100 81

84 54 49 105 43

iyi2 57 45 42 91 110

38 35 34 29 33 32 II 21 16 13 5 13 (Aus: Die deutschen Parteiprogramme, Bd. II, Hg. W. Mommsen

u. G. Franz, Leipzig u. Berlin 1932.)

Man sieht, daß eine Koalition von Freisinnigen, Zentrum und Sozialdemokraten eine klare Mehrheit in jenem Reichstag von 1912 haben konnte, der den ganzen Krieg hindurch bis zur Revolution von 1918 bestand. Die Möglichkeit einer solchen Koalition zeigte sich in den Debatten über die ZabernAffaire (im Elsaß) von 1913, als nach dem anmaßenden Verhalten eines jungen Offiziers unrechtmäßigerweise das Kriegsrecht erklärt wurde und es zu einem Vorgehen mit Bajonetten gegen die protestierende Menge kam. Das Mißtrauensvotum im Reichstag gegen den Kanzler wurde mit 293 gegen 54 Stimmen angenommen — nur Konservative stimmten in der Minderheit. Doch wie im Falle der Daily-Telegraph-Affaire 10»

147

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 gingen die Oppositionsparteien nicht zusammen vor, um die Regierung zur Verantwortlichkeit gegenüber dem Reichstag zu bringen. Das Mißtrauensvotum schwächte Bethmann-Hollwegs Position nicht, und der Ortskommandant von Zabern wurde bald darauf vom Kaiser mit einem Orden ausgezeichnet. Die preußischen Herrschaftsschichten hatten ihre Einstellung zur demokratischen Regierungsform tatsächlich so wenig geändert, daß 1909 eine zaghafte Vorlage der Regierung, das Dreiklassenwahlrecht leicht abzuändern, derart durch den Preußischen Landtag verstümmelt wurde, daß sie zurückgezogen werden mußte. Die besitzenden Klassen wollten keine ihrer Privilegien aufgeben, und die Alldeutschen und die Anhänger des Flotten- und Kolonialvereins waren zu einem Kriege bereit, von dem sie sich die Verwirklichung der Ziele deutscher Expansionsbestrebungen erhofften. Ihre politischen Gegner — Freisinnige, Zentrum und Sozialdemokratie — waren untereinander zu uneinig, um eine stätige Politik verfolgen zu können — nicht einmal langte es zum Erreichen des Grundprinzips der Demokratie, der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber den gewählten Abgeordneten. U n d als der Krieg kam, bewiesen die deutschen Politiker des linken Zentrumsflügels und der Linken, daß ihr Patriotismus stärker w a r als ihr Streben nach politischer R e f o r m . Sie verbanden sich f ü r die Kriegsdauer mit der Rechten zu einem politischen „Burgfrieden" und stimmten f ü r die nötigen Kriegsanleihen. Polen, Elsässer und Dänen mochten den Krieg als die einzige Gelegenheit betrachten, aus dem Deutschen Reich auszubrechen; aber so lange die kaiserliche Autokratie schnelle Kriegserfolge versprechen konnte, standen die deutschen Parteien auf ihrer Seite. Sogar als enttäuschte Hoffnungen stiller Verzweiflung Platz gemacht hatte, als die Linksparteien überzeugt waren, daß weiterer Gehorsam gegenüber Kaiser und Oberkommando nur Unglück f ü r Deutschland bedeutete, befreite sich die latente Spannung im Reich bismarckscher Prägung nicht spontan zu offenem Konflikt, um die alten Regierungskräfte zu ver148

Der erste Weltkrieg

1914—1918

drängen. Erst die Auflösung in der Niederlage gab im disziplinierten Deutschland den Anlaß zu einer Bewegung, die nach Revolution aussah. DER

ERSTE W E L T K R I E G

(1914—1918)

Der Krieg zu Lande Die Mobilmachung des deutschen Heeres im Jahre 1 9 1 4 ging reibungslos und schnell vor sich, und die Anwendung des Schlieffen-Plans, zu dem die Verletzung belgischer Neutralität

K a r t e 11. schattiert.

Der

deutsche Angriff

1914.

Höhen

über 2 0 0 m

sind

gehörte, wurde beschlossen. Der militärische Vorteil einer schnellen Entscheidungsschlacht, die durch Aufrollen des linken Flügels der Franzosen erreicht werden sollte, wurde als groß genug angesehen, um die Nachteile abzugleichen, selbst wenn 149

II. Das Deutsche Reich

1871—1918

dazu der Kriegseintritt Englands gehören sollte. Für die Entscheidung, in Belgien einzumarschieren, gab BethmannHollweg vor dem Reichstag und der Welt eine lahme Entschuldigung ab — die militärische Notwendigkeit habe keine Wahl gelassen. Die große Drehbewegung von sieben deutschen Armeen wurde erst an der Marne zum H a l t gebracht (8. u. 9. September); sie hätte vielleicht ihren Zweck erreicht, wenn nidit Moltke, der Chef des Generalstabs, so weit von der Front weg gewesen wäre, in Luxemburg, und nicht zu diesem kritischen Zeitpunkt zwei Armeekorps an die Ostfront geschickt hätte. Diese beiden Korps kamen in Ostpreußen an, als Hindenburg und Ludendorff die eingedrungenen Russen schon entscheidend

Karte 12. Die Westfront bis zum 21. März 1918. Französisches Gebiet ist schattiert.

150

Der erste Weltkrieg

1914—1918

bei Tannenberg geschlagen hatten und die Provinz schnell von Feindkräften gesäubert wurde. I m Westen erstarrte im September 1 9 1 4 der Krieg in den Schützengräben, und vier Jahre lang zog sich der Stellungskrieg mit wechselnden Erfolgen hin, mit riesigen Menschen Verlusten und riesigem Materialverschleiß, aber, bis zum August 1 9 1 8 , ohne ein entscheidendes Resultat. Die erste und zweite Schlacht von Y p e r n (Oktober 1 9 1 4 bis A p r i l 1 9 1 5 ) , die französisch-englischen Offensiven im September 1 9 1 5 in der Champagne, der große deutsche Angriff bei Verdun (Februar 1 9 1 6 ) , die Schlacht an der Somme (Juli 1 9 1 6 ) , auf die schließlich der deutsche Rückzug zur Hindenburglinie (Siegfriedstellung) folgte (März 1 9 1 7 ) — alles w a r gleich entscheidungslos. N u r die Erschöpfung der Kriegführenden schritt fort. Der teure Fehlschlag des Angriffs von Nivelle auf Chemin des Dames im A p r i l 1 9 1 7 , auf den schwerwiegende Meutereien im französischen Heer folgten, ließen den Gedanken aufkommen, daß es Frankreich sein könnte, das als erstes die Waffen niederlegen würde. Schon hatte das berühmte Generalspaar Hindenburg und Ludendorff im August 1 9 1 6 die Leitung des Oberkommandos aus Falkenhayns Händen genommen, der Moltke nach der Schlacht an der Marne ersetzt hatte. Es w a r sicher, daß die beiden durch erbarmungslose Entschiedenheit und glänzende Organisation alles tun würden, was überhaupt getan werden konnte. Außerdem w a r Serbien im November 1 9 1 5 , trotz anfänglicher österreichischer Mißerfolge 1 9 1 4 , überrannt worden. Bulgarien trat den Mittelmächten im Oktober 1 9 1 5 bei und glich damit den Verlust Italiens aus, das Österreich im Mai 1 9 1 5 den Krieg erklärt hatte. Trotz einer erfolgreichen russischen Offensive in Galizien und obwohl Rumänien sich den Alliierten angeschlossen hatte, konnten sich 1 9 1 6 die deutschösterreichischen K r ä f t e im Osten behaupten und sogar vor Jahresende Rumänien besetzen. A n f a n g 1 9 1 7 waren beide Seiten der Verzweiflung nahe; deutsche Erfolge im Osten wurden durch schwere Verluste an 151

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 der Somme und Ancre ausgeglichen, und im Herbst 1916 standen einmal nur fünf deutsche Divisionen im Westen als Reserve. Daß die Friedensnote Präsident Wilsons im Dezember 1916 in der Entente auf kein Edio stieß, führte dazu, daß sich Hindenburg und Ludendorff für den uneingeschränkten Unterseebootkrieg einsetzten, den audi die Marine wünschte, dem sich aber im Februar 1916 Bethmann-Hollweg entschieden widersetzt hatte. Anierikas Kriegseintritt. Der Beginn des U-Bootkriegs wurde auf den 1. Februar 1917 festgesetzt; in einem Memorandum des Admiralstabes war errechnet worden, daß innerhalb eines Jahres der Krieg siegreich beendet sein würde. Zwar brachte der neue U-Bootangriff England dem Verhungern nahe, doch führte er auch Amerika in den Krieg (6. April 1917),

Karte 13. Westfront vom 21. März bis 11. November 1918. Frankreich ist schattiert dargestellt. 152

Der erste Weltkrieg

1914—1918

womit eine riesige Reserve an erstklassigen Soldaten, sobald diese ausgebildet waren, und ein großer Vorrat an Munition und Schiffen f ü r die Alliierten geschaffen wurde. Außerdem wurden die Alliierten, besonders die Franzosen, ebenso ermutigt, wie die Deutschen entmutigt wurden, die bereits ernsthaft unter der englischen Blockade zu leiden hatten. Nicht einmal die Auflösung Rußlands in der März und Oktoberrevolution 1 9 1 7 (während der zweiten ergriffen die Bolschewisten, zum Frieden entschlossen, die Macht) konnte Deutschland f ü r die amerikanische H i l f e an die Alliierten entschädigen. Doch 1 9 1 7 waren amerikanische Landstreitkräfte noch nicht bereit, ernsthaft in den K a m p f einzugreifen, und die Niederlage in der dritten Schlacht bei Y p e r n wurde durch die Engländer nur teilweise durch den begrenzten E r f o l g bei Cambrai (November 1 9 1 7 ) ausgeglichen, als Tanks zum erstenmal in größerem Einsatz verwendet wurden. D i e Niederlage der Italiener bei Tolmein-Flitsch (Oktober 1 9 1 7 ) zwang die Alliierten, englisch-französische Truppen zur Unterstützung zu senden, und den Hoffnungen der Alliierten wurde im Dezember 1 9 1 7 ein weiterer Schlag versetzt, als die bolschewistische Regierung einen Waffenstillstand mit den Mittelmächten Schloß. Z u A n f a n g des Jahres 1 9 1 8 hatte das deutsche Oberkommando, das nun von jeder Bedrohung an der russischen Front befreit w a r , die Wahl, entweder die vorteilhafte militärische Lage f ü r Friedensverhandlungen auszunutzen, oder aber eine letzte Anstrengung zum Sieg über die Alliierten im Westen zu unternehmen, bevor amerikanische Verstärkungen in genügender Anzahl eintreffen und jedes deutsche Unternehmen von vorneherein zum Scheitern verurteilen würden. Trotz der Friedensresolution des Reichstags im J u l i 1 9 1 7 wählten Hindenburg und Ludendorff den letzteren Weg. Sie legten daher den Bolschewisten den harten Friedensvertrag von Brest-Litowsk auf (März 1 9 1 8 ) und bereiteten sich auf einen endgültigen und — wie sie hofften — entscheidenden

153

II. Das Deutsche

Reich 1871—1918

Schlag gegen die Alliierten im Westen vor. Der Schlag kam im März 1918 an der Front von Arras bis hinunter nach Reims. Die Alliierten wurden weit zurückgeworfen. Amiens war bedroht, Montdidier wurde erobert und, obgleich Reims aushielt, ein großer Winkel bei Château-Thierry bis an die Marne vorgetrieben. Doch wieder wurde keine Entscheidung erreicht; ein untergeordneter Angriff in Flandern gewann zwar ebenfalls unter schweren Verlusten an Boden, aber erzwang den Durchbruch nicht, der allein den Sieg bringen konnte. Ludendorff hatte die letzten Reserven vergeblich geopfert. Die Krise überbrückte schließlich interalliierte Rivalitäten, und Foch wurde der Oberbefehlshaber, an dem es bisher gefehlt hatte. Amerikanische Verstärkungen trafen ein. Die U-Bootgefahr wurde schnell eingedämmt. Ludendorff machte einen letzten Großangriff an der Marne bei Château-Thierry (1 j . — 1 7 . Juli), aber als dieser ohne Erfolg blieb, ging die Initiative endgültig auf die Alliierten über. Am 8. August 1918 begann bei Amiens die alliierte Gegenoffensive und setzte auch an den anderen Frontabschnitten ein. Sie war von Anfang an erfolgreich und blieb es auch, an diesem oder jenem Abschnitt, bis zum Waffenstillstand. In der Zwischenzeit hatte sich Österreich der Auflösung genähert, und den Alliierten wurde die Tür in Ungarn durch den Zusammenbruch Bulgariens im September geöffnet. Am 29. September war sogar Ludendorff überzeugt, daß der Krieg verloren war und daß um einen Waffenstillstand ersucht werden müßte. Er war ebenso davon überzeugt, daß eine parlamentarische Regierung eingesetzt werden müßte, um günstige Bedingungen für Deutschland zu erhalten; der liberal gesinnte Prinz Max von Baden wurde Kanzler, um die Veränderungen durchzuführen. Bevor die Waffenstillstandsverhandlungen zu Ende geführt wurden, brach in Deutschland die Revolution aus, der Kaiser dankte ab. Mit Ebert als Kanzler, einem Sattlerhandwerker, nahm die neue Republik am 1 1 . November 1918 die Waffenstillstandsbedingungen an. 154

Der erste Weltkrieg

1914—1918

Der Seekrieg und die Blockade Die Revolution 1 9 1 8 begann mit Meutereien in der deutschen Kriegsmarine (29.—30. Oktober), und zwar in K i e l ; die Unzufriedenheit in der Marine stammte zum großen Teil daher, daß die deutsche Flotte seit dem Ausbruch des Krieges zur Tatenlosigkeit verurteilt w a r . Von A n f a n g an wurde Tirpitz vom Kaiser und von Pohl, dem Stabschef, ignoriert; sie verfolgten die Politik, die Hauptschlachtflotte zu schonen. Aber mit den Seestreitkräften außerhalb der Nordsee bekam es die englische Flotte zu tun. Im August 1 9 1 4 w a r es die erste Aufgabe f ü r die englischfranzösischen Kräfte im Mittelmeer, den Schlachtkreuzer „Goeben" und den leichten Kreuzer „Breslau" entweder zu versenken oder gefechtsunfähig zu machen. Durch eine Reihe von Zufällen oder taktischen Fehlern entkamen sie aus den italienischen Gewässern und fuhren am 10. August 1 9 1 4 in die Dardanellen ein, nachdem sie von Enver, dem Führer der Kriegspartei unter den Jungtürken, dazu Erlaubnis erhalten hatten. Ihre Geschütze, die Konstantinopel beherrschten, stärkten Envers Argumente zur Vereinigung mit den Mittelmächten, und die türkische Kriegserklärung folgte im November 1 9 1 4 . Z u diesem Zeitpunkt griff Admiral Cradock, der die K r ä f t e in südamerikanischen Gewässern kommandierte, Admiral von Spees viel stärkeres Ostasien-Geschwader am K a p Coronel an ( i . N o v e m b e r 1 9 1 4 ) , mit dem Resultat, daß Cradocks Flaggschiff „ G o o d H o p e " und der Kreuzer „Monmouth" versenkt wurden. Aber die ursprüngliche Lage wurde durch Admiral Sturdees Sieg bei den Falkland-Inseln wieder hergestellt (8. Dezember), als die „Gneisenau", das Flaggschiff, die „Scharnhorst", „Leipzig" und „Nürnberg" versenkt wurden und nur die „Dresden" entkam. Obgleich diese durch ständige Mißachtung der Neutralität abgelegener chilenischer Besitzungen bis M ä r z 1 9 1 5 aushielt, richtete sie wenig Schaden an. Der gefährlichste Kreuzer im Kaperkrieg w a r die „Emden", 155

II. Das Deutsche

Reich 1871—1918

die am 9. November bei den Kokosinseln ihr Ende fand. Von dieser Zeit an wurden die Meere von den englischen und französischen Flotten beherrscht, und Expeditionskorps konnten daher die deutschen Kolonien in Afrika und im Pazifik erobern. Obgleich es den alliierten Flotten im März 19 i j nicht gelang, die Dardanellen zu erobern, so hingen doch die folgenden Unternehmungen (März 1 9 1 J — J a n u a r 1916) völlig von der alliierten Seestreitmacht ab; auch die Armeen in Saloniki, Mesopotamien, Palästina und Syrien stützten sich auf sie. Nicht nur wurden die Seewege von und nach Indien frei gehalten, sondern alliierte Armeen konnten auch nach anfänglichen Mißerfolgen Bagdad erobern (März 1917), Palästina einnehmen und im Dezember 1 9 1 7 in Jerusalem einmarschieren; 1918 griffen sie erfolgreich Bulgarien an, das sich am 10. September ergab. Trotz des Höhepunktes des deutschen U-Bootkrieges gelang es den alliierten Flotten, die weit verstreuten Fronten untereinander zu verbinden, was entscheidend zum schließlichen Siege beitrug. Noch wichtiger war die Blockade Deutschlands, die nach den ersten U-Bootangriffen im Februar 1915 immer schärfer wurde. Bis zum Ende des Jahres 1916 wurde der deutsche U-Bootkrieg sowohl durch die beschränkte Anzahl der UBoote als auch durch Bethmann-Hollwegs Entschluß begrenzt, Amerikas Geduld nicht zu sehr auf die Probe zu stellen. Über die Skagerrakschlacht (31. Mai—1. Juni 19x6) konnte die englische Flotte nicht sehr zufrieden sein; es zeigte sich besonders, daß die deutschen Schiffe besser gebaut, ihre Zielvorrichtungen genauer und die panzerdurchschlagenden Granaten wirkungsvoller als die englischen waren. Doch innerhalb eines Monats berichtete Scheer, der deutsche Flottenchef, dem Kaiser, es könne keinen Zweifel geben, daß sogar der größte Sieg in einer Seeschlacht England nicht zum Frieden zwingen würde; ein siegreiches Ende in nicht zu weiter Ferne könne nur erwartet werden durch U-Bootaktionen gegen den englischen 156

Der erste Weltkrieg

1914—1918

Handel. Die Skagerrakschlacht war nicht vergeblich geschlagen worden, und die englische Überlegenheit in Schlachtschiffen hielt die deutschen Hochseeflotten für den Rest des Krieges — mit wenigen Ausnahmen — in ihren Häfen. Dadurch und durch die Abziehung vieler fähiger Offiziere und Unteroffiziere für die U-Boote wurde die Moral geschwächt; schon im Juni und Juli 1 9 1 7 gab es Meutereien, die nicht nur Unzufriedenheit mit Versorgung und Unterbringung, sondern auch den Wunsch nach Friedensverhandlungen offenbarten. Doch der unbegrenzte U-Bootkrieg 1 9 1 7 erwies sich vorerst als eine tödliche Bedrohung der alliierten Nachschublinien. Die deutsche Kriegsmarine hatte mehr und mehr U-Boote gebaut; von April bis Juni wurden über zwei Millionen Tonnen alliierten Schiffsraums versenkt. Aber das Begleitzugsystem, das von April 1 9 1 7 an eingeführt und später durch Unterstützung amerikanischer und japanischer Zerstörer noch wirksamer wurde, verminderte die Versenkungsziffern beträchtlich; die Gesamtversenkungen 1 9 1 8 (Januar bis November) lagen nur 600000 t höher als für April bis Juni 1 9 1 7 . Die U-Bootgefahr · blieb groß, aber die darauf gegründeten deutschen Siegeshoffnungen erwiesen sich als trügerisch. Die Anzahl der versenkten U-Boote, die auf 180 von 360 in Dienst befindlichen geschätzt wurde, begann den Kampfgeist der Mannschaften zu brechen. 1 9 1 8 war daher die Stimmung unter den Mannschaftsgraden der deutschen Kriegsmarine sehr schlecht; das Gerücht, Admiral Scheer wolle im Oktober die gesamte Flotte auslaufen lassen, um den Engländern einen entscheidenden Schlag zu versetzen und damit vielleicht die Waffenstillstandsverhandlungen zu einem Abschluß zu bringen, rief Meutereien hervor. Sie begannen auf der „Thüringen" und der „Helgoland" in Kiel (29. und 30. Oktober) und übertrugen sich schnell auf andere Teile der Flotte. In Hamburg kamen zu den Matrosen auch Heeresreservisten, und bald gab es in ganz Deutschland Soldaten-, Matrosen- und Arbeiterräte. Es ist nicht ohne historische 157

II. Das Deutsche Reith 1871—1918 Gerechtigkeit, daß der Zusammenbrach der deutschen Disziplin gerade in der Flotte beginnen sollte, die vom Kaiser und Tirpitz so mühevoll aufgebaut worden war und für die sie leichten Herzens die englische Freundschaft hingegeben hatten. Deutschland zwischen Sieg und

Niederlage

Die militärischen Anstrengungen Deutschlands in diesen vier Jahren gehören mit zu den eindrucksvollsten der Geschichte. Uberlegen in Ausrüstung und im Nachschubwesen, hatte Deutschland — begünstigt durch die Oktober-Revolution von 1917 — die russischen Armeen zerschlagen und beherrschte nach -dem Frieden von Brest-Litowsk den ganzen westlichen Raum Rußlands. Finnland, die baltischen Provinzen, Polen, die Ukraine bis zu den Toren des Kaukasus waren zu dieser Zeit unter seiner Herrschaft, und die Türkei war sein Bundesgenosse (Karte 14). Der Traum eines Großdeutschland, das Herr über Millionen von Slawen war, mit genug „Lebensraum" für die unbegrenzte Ausdehnung der deutschen Herrenrasse, war verwirklicht worden. Dodi im Augenblick seiner Verwirklichung zerfiel das so mühsam errichtete Gebäude schon wieder: durch den tödlichen Druck der Blockade, die Erschöpfung des Volkes und der deutschen Westarmeen, auch durch den Zusammenbruch der heterogenen Gebiete, die Österreich ausmachten. Deutschland hatte sich „zu Tode gesiegt". Aber zu der Niederlage hatte auch die alliierte Seemacht beigetragen, die für Blockade und Nachschub verantwortlich war. Und die französischen und englischen Landstreitkräfte, die während der vier Jahre die Hauptlast des Krieges getragen hatten, erhielten endlich ihren Lohn, da sie den letzten entscheidenden Schlag gegen Deutschland ausführen konnten. Deutschland, ohne Österreich, hatte über 1 800 000 Gefallene und 4 200 000 Verwundete. Die Sterblichkeitsziffern infolge von Krankheiten unter der Zivilbevölkerung sind nicht genau 158

Der erste Weltkrieg

3 7

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1914—1918

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Karte 14. Der Friede von Brest-Litowsk. bekannt, aber müssen sehr hoch gewesen sein. Im November 1918 lag Deutschland hilflos am Boden. Und doch, audi Deutschland hatte den Sieg schon vor Augen gehabt, durch den es sich, im modernen technischen Zeitalter, zum Herren Europas gemacht hätte. Mit dem Getreide und den Mineralschätzen der Ukraine und dem ö l des Kaukasus, Herr über Adria und Agäis, mit vorherrschendem Einfluß in der Türkei, bis zum Persischen Golf und bis Suez vordringend; das Baltikum kontrollierend, mit unerschöpflichen Vorräten hochwertiger schwedischer Eisenerze versorgt, mit den Schwerindustrien Lothringens, der Saar, dem Lüttidier Gebiet, Böhmens und der Steiermark zu seiner Verfügung, wäre es bald in der Lage gewesen, den Würgegriff der englischen Flotte 159

II. Das Deutsche Reith 1871—1918 aufzubrechen und Ägypten sowie Nordafrika zu erobern. Dieser Traum, dessen Verwirklichung in den ersten Monaten von 1 9 1 8 so nahe gewesen war, zerging in der Niederlage. Aber er blieb in vielen Deutschen zurück als ein Ideal, welches noch der Verwirklichung harrte. Die Geschichte der Weimarer Republik ist zum großen Teil die des vergeblichen Versuchs der deutschen Linken, diese Eroberungs- und Ausbeutungsträume durch andere zugkräftige Ideale zu ersetzen, so daß Hitler und seine Nazi-Großdeutschen 1933 die alten Träume im Ernst erneuern konnten. Die Diktatur Ludendorffs und die deutsche Revolution Obgleich alle Parteien im Reichstag, einschließlich der Sozialdemokraten, den Burgfrieden von 19x4 angenommen hatten und von der Regierung strenge Pressezensur sowie Versammlungsverbot eingeführt worden war, entwickelte sich doch im Laufe des Krieges die Forderung nach einer parlamentarischen Regierungsform. Dabei spielten die Länge des Krieges eine Rolle, die Frage nach den deutschen Kriegszielen, die Lebensmittelknappheit wagen der Blockade und die russische Revolution von 1 9 1 7 . Die Grundlage des preußisch-deutschen Reiches, die Macht des Kaisers als oberstem Kriegsherrn, verschwand bei Ausbruch des Krieges; denn Wilhelm II. machte wenig Anstrengungen, die militärische Führung zu bestimmen, als mißtraue er seinen eigenen Fähigkeiten. Nach und nach übte er weniger und weniger Einfluß auf die Entscheidungen des Oberkommandos aus. Er w a r sich dieser Einschränkung bewußt und machte bittere Randnotizen zum praktischen Erlöschen seiner Autorität. Als Hindenburg und Ludendorfif im August 1 9 1 6 den Generalstab übernahmen, übten sie bald eine gemeinsame Diktatur in politischen und militärischen Fragen aus. Ludendorfi hatte dabei die Führung, und wenn er mit BethmannHollwegs Politik nicht übereinstimmte, lehnte er jede Verant-

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Der erste Weltkrieg

1914—1918

wortung für Maßnahmen, die er als die Kriegsführung beeinträchtigend erachtete, ab und drohte mit seinem Rücktritt. Durch diese A r t der Erpressung, die der Bismarcks gegenüber Wilhelm I. ähnelte, errang er völlige Macht über den Kaiser und führte eine bisher nie dagewesene Kontrolle der gesamten Politik durch das Oberkommando ein — d. h., durch Hindenburg und ihn selbst. V o n 1916 bis 1918 wurde Deutschland durch eine Militärdiktatur regiert. Im Juli 1917 erreichte Ludendorff die Entlassung Bethmann^Hollwegs, der sich dem uneingeschränkten U-Bootkrieg widersetzt hatte und für Ludendorffs Geschmack allzu geneigt war, den Reichstagparteien der Mitte und der Linken sein Ohr zu leihen. Sowohl Michaelis, der BethmannHollweg ersetzte, als auch Hertling, der im Herbst Kanzler wurde, wurden mit der Zustimmung Ludendorffs gewählt, und beide erachteten es als ihre erste Pflicht, Ludendorffs Politik zu machen. Kritik an der Kriegführung. Dodi in der deutschen Arbeiterschaft und im Bürgertum wuchs zunehmend die kritische Haltung gegenüber dem bestehenden System. Schon im Dezember 19 i j stimmten zwanzig Sozialdemokraten gegen eine Kriegsanleihe; sie bildeten 1916 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD). Eine nodi radikalere Gruppe, der Spartakusbund, wurde von der temperamentvollen Rosa Luxemburg gegründet und angeführt. Diese beiden Gruppen, obgleich klein an Zahl, repräsentierten den weit verbreiteten Wunsch nach Frieden, der 1917 zu den Meutereien in der Flotte wie auch zu einer Reihe von Streiks in Berlin, Leipzig und anderen Städten führte. In Leipzig verlangten die Arbeiter nicht nur höhere Lebensmittelrationen, sondern auch einen sofortigen Friedensabsdiluß ohne Annektionen, Wiederherstellung aller bürgerlichen Rechte und die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts in allen Wahlen für öffentliche Körperschaften im Reich, in den Bundesstaaten und in den Gemeinden. 161 11

Passant

II. Das Deutsche Reich

1871—1918

Unter dem Einfluß dieser Kundgebungen öffentlicher Meinung und audi aus der Überzeugung heraus, daß angesichts des Fehlschlagens des U-Bootkrieges Deutschlands Lage hoffnungslos geworden war, sdilug das Zentrumsmitglied Erzberger im Reichstag eine Resolution zugunsten eines Friedens ohne Annektion vor. Sie wurde mit den Stimmen eines Teils der Nationalliberalen, mit denen der Freisinnigen, des Zentrums und der Sozialdemokraten angenommen und auch vom neuen Kanzler Michaelis akzeptiert, allerdings mit der bedeutsamen Einschränkung, wie er sie interpretiere. D i e demokratische Koalition, die im Reichstag seit 1 9 1 2 immer möglich gewesen war, schien zu guter Letzt zustandegekommen zu sein. Tatsächlich hatten Ludendorff, die Konservativen und rechts stehenden Nationalliberalen jedoch nicht die Absicht, ihre Politik von der Entscheidung des Reichstags abhängig zu machen. Konservative und Nationalliberale verbanden sich zur Vaterlandspartei, einem alldeutschen Bund unter neuem Namen, und versuchten, die patriotische Stimmung im Lande hochzupeitschen. Z w a r wurde nach Michaelis' Sturz die Regierung nach außen hin durch die Ernennung Payers, eines Freisinnigen, zum Vizekanzler unter Hertling erweitert, doch machten die Mehrheitsparteien im Reichstag im Winter und Frühling 1 9 1 7 — 1 8 keine ernsthafte Anstrengung, wirklich die Regierungskontrolle zu übernehmen oder ihre Friedenspolitik durchzusetzen. Im Gegenteil; als nach der bolschewistischen Oktoberrevolution 1 9 1 7 Rußland um Frieden nachsuchte und sich das Kriegsglück noch einmal auf Deutschlands Seite schlug, akzeptierte der Reichstag die „annektionistischen" Bedingungen des Vertrages von Brest-Litowsk. Sogar die Sozialdemokraten beschränkten sich darauf, sich der Stimme zu enthalten. U n d tatsächlich verfolgte Ludendorff während der ersten neun Monate des Jahres 1 9 1 8 weiter die Politik des Krieges mit Annektionszielen, der von den preußischen Konservativen, Landbesitzern und Industriellen gewünscht wurde. E r unterdrückte die Streiks, die im J a n u a r in Berlin ausbrachen, indem

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Der erste Weltkrieg

1914—1918

er das Kriegsrecht verhängte. E r zwang den Kaiser, den Chef des Zivilistenkabinetts zu entlassen. Mit seiner Billigung lehnte der preußische Landtag die Regierungsvorlage zum gleichen Wahlrecht mit einer Mehrheit von über fünfzig Stimmen ab. Wenn die Stimmung im Volke radikaler wurde, so war es doch ein verzweifelter Radikalismus; und man war zu eingeschüchtert, um ihn zu zeigen. Bis zu dem Augenblick, als die militärische Niederlage von Ludendorff selbst zugegeben werden mußte, blieb die alte, konservative, preußisch-deutsche Ordnung intakt — nur daß die beherrschende Gestalt eines Ludendorff den Kaiser um vieles überragte. Passivität der demokratischen Parteien. Die völlige Passivität der demokratischeren Parteien im Reichstag zeigte sich am deutlichsten in der Stunde der Niederlage. Denn es war Ludendorff, der am z. Oktober ein Stabsmitglied nach Berlin sandte, um Deutschlands hoffnungslose Lage deutlich zu machen; eine neue, demokratischere Regierung, die dem Reichstag gegenüber verantwortlich war, mußte gebildet werden, um die günstigsten Bedingungen zu erreichen. Es w a r das deutsche Oberkommando, das ohne Druck seitens politischer Parteien das Fehlschlagen seiner Politik zugab und verlangte, das kaiserliche System müsse durch eine parlamentarische Demokratie ersetzt werden. Sogar zu diesem Zeitpunkt machten die demokratischen Parteien keine Anstrengungen, die Regierung zu übernehmen. Prinz M a x von Baden wurde Kanzler und nahm in sein Kabinett nicht nur Mitglieder des Zentrums (Erzberger, Trimborn) und Freisinnige auf (Payer, Haussmann), sondern auch Sozialdemokraten (Bauer, Scheidemann). A m 5. Oktober gab der Reichstag seine Zustimmung zu einer parlamentarischen Regierungsform, dann aber vertagte er sich bescheiden bis zum 22. Oktober; während dieser Zeit wurden die nötigen Gesetzesvorlagen vorbereitet. Als sie schließlich am 26. Oktober angenommen wurden, vertagte er sich wiederum bis zum 9. N o vember. Sogar die plötzliche Annahme des Prinzips gleichen

11*

163

II. Das Deutsche Reich 1871—1918 Wahlrechts in Preußen (iJ.Oktober) ging zum großen Teil auf Ludendorffs Einfluß zurück. Ludendorff dankte am 26. Oktober ab, aber die erste deutsche Revolution von 1918 — die Annahme der parlamentarischen Regierungsform — war sein Werk. Der Charakter der zweiten „RevolutionDie zweite Revolution von 1918 brach am 29. Oktober mit Meutereien in der Kriegsmarine aus. Aber es ging dabei gegen den Plan eines Verzweiflungsangriffes auf die englische Flotte und um die Behebung von Mißständen im Dienst, und nicht um Verfassungsänderungen. Wie wenig revolutionär der Charakter der Erhebung war, zeigte sich in der Forderung der Matrosen, sie wollten in Zukunft einen Offizier nur einmal, zu Beginn jeder Begegnung, mit „Herr . . a n r e d e n müssen. Aber als sich die Bewegung von Kiel zu den Soldaten in Hamburg ausdehnte, nahm sie revolutionärere Form an. Arbeiter- und Soldatenräte nach sowjetischem Vorbild wurden aufgestellt, die Abdankung des Kaisers und der Fürsten wurde verlangt, und der Spartakusbund drang auf radikale Verstaatlichungen. Obgleich die Mehrheitssozialisten die revolutionäre Strömung so weit unterstützten, daß sie die Abdankung des Kaisers erreichten, nahm ihr Führer Ebert die Ausrufung der Republik doch nur darum an, weil ihn Stheidemann dazu gezwungen hatte. Eberts Haltung gegenüber der äußersten Linken zeigte sich in seinen Worten, er hasse die Revolution wie die Sünde. Seine Regierung, obgleich sie die Berliner Soldaten- und Arbeiterräte repräsentierte und von Sozialdemokraten und Mitgliedern der USPD gebildet wurde, behielt doch Erzberger und einige Liberale und machte es sofort klar, daß sie — wenn es ginge — keine Revolution nach russischem Vorbild dulden würde. Die deutsche „Revolution" von 1918 war tatsächlich eher ein Zusammenbruch als eine Revolution. Sie war das Resultat von Niederlage und Hunger und nicht eines revolutionären Geistes in den breiten Massen des deutschen Volkes. Das Fehlen von Gewalt gegenüber deutschen Fürsten, 164

Der erste Weltkrieg

1914—1918

deren Abdankung der des Kaisers folgte, war Beweis dafür. Und die Meihrheitssozialisten unter Ebert, erfüllt von der deutsdien Ordnungsliebe, interpretierten die Wünsche der meisten ihrer Landsleute gewiß richtig, als sie die Sozialrevolution zurückwiesen, wie wenig auch ihre Handlungen mit dem radikalen Parteiprogramm übereinstimmten. Doch bestand noch einige Monate nach dem 9. November die Gefahr einer radikaleren Revolution durch den Spartakusbund und einige unabhängige Sozialisten. Aber nach dem Fehlschlagen des Versuchs, einen republikanischen Freiwilligenverband aufzustellen, setzte Noske (der sozialdemokratische Kriegsminister) die Gegenrevolutionären Gruppen junger Reaktionäre, die von Großindustriellen und Landbesitzern finanzierten Freikorps, gegen die Verfechter eines russischen Kommunismus ein. In Berlin wurden Rosa Luxemburg und Liebknecht und viele ihrer Parteigänger aus der Arbeiterklasse ermordet. In Bayern wurde Eisner, unter dem eine linksradikale Sozialistenregierung gebildet worden war, ermordet; die Freikorps beseitigten jede Gefahr der Bolschewisierung mit erbarmungsloser Brutalität (1. und 2. Mai 1919); unter anderen wurden zwanzig harmlose katholische Handwerker, die man für Spartakisten hielt, erschossen. Die antikommunistische Handlungsweise der sozialdemokratischen Regierung Eberts bewies das Schwanken und den Konservativismus, die allmählich das Parteiprogramm weitgehend sinnlos gemacht hatten. Eine starke Parteibürokratie, eng verbunden mit den Gewerkschaften, war aufgebaut worden und unterstand einem Komitee älterer Leute von mittelmäßiger Fähigkeit, deren Hauptsorgen darin bestanden, den Parteiapparat intakt zu halten und gelegentlich kleine taktische Erfolge zu erzielen. Sie vertraten die gelernten Handwerker, aber waren dabei in mancher Hinsicht so konservativ wie jede andere Schidit in Deutschland; wenn es zu einer revolutionären Lage kam, verlangten sie Ruhe und Ordnung um jeden Preis und auf jeden Fall. Dadurch trennten sie die deutsche 165

11. Das Deutsche Reich

1871—1918

Arbeiterklasse unvermeidlich in zwei unversöhnliche Gruppen und verschlossen den jüngeren und aktiveren Männern die Partei. Ihre echte Hingabe an das demokratische Prinzip war in den Augen der jüngeren Generation nur ein unzureichender Ersatz für die Sozialrevolution.

166

D R I T T E S

K A P I T E L

Die Weimarer Republik (1918—1933) und das Nationalsozialistische Deutschland (1933—1939) D I E WEIMARER REPUBLIK

Die demokratische

Verfassung

und der Versailler

Vertrag

Sobald Ebert im November 1 9 1 8 die Macht in Händen hatte, erklärte er, daß eine Nationalversammlung auf der Grundlage allgemeinen Wahlrechts gewählt werden würde, um über das politische Schicksal Deutschlands zu entscheiden. Die Wahlen fanden am 19. Januar 1 9 1 9 statt; vor diesem Datum hatten sich die Parteien des alten Reichstages wiedergebildet und sich in einigen Fällen einen neuen Namen gegeben. Die alten Konservativen und Freikonservativen zusammen mit einigen Nationalliberalen bildeten die Deutschnationale Volkspartei; die Reste der Nationalliberalen wurden die Deutsche Volkspartei; die einstigen Freisinnigen (Fortschrittlichen) nannten sich jetzt Deutsche Demokratische Partei. Das Zentrum und die Sozialdemokraten behielten ihren Namen bei, während die Unabhängigen Sozialisten eine eigene Gruppe links von der S P D bildeten. Die Wahlen fanden statt noch bevor das Wenige an revolutionärem Schwung, was man so nennen konnte, erstorben war, und bevor die Bestimmungen des Versailler Vertrages bekannt wurden. Das Wahlresultat verdient mit dem von 1 9 1 2 und mit denen späterer Wahlen der Weimarer Republik verglichen zu werden. Ein Blick auf das Resultat von 1 9 1 9 zeigt, daß die S P D im Augenblick ihrer größten zahlenmäßigen Stärke keine H o f f -

167

III. Weimarer Republik und NS-Deutschland

1918—1939

nung auf die Bildung einer homogenen Mehrheitsregierung hatte und daß ein sozialistisches Deutschland nicht durch demokratische Methoden geschaffen werden konnte. Von Anfang an hing daher die S P D von „bürgerlichen" Partnern wie dem Zentrum und den demokratischen Parteien ab; Deutschland standen eine Reihe von Koalitionsregierungen bevor. 1912 1919 1920 1924 1924 1928 1930 (März) (Dez.) Konservative und Freikonservative (Deutschnationale Volkspartei) Nationalliberale (Dt. Volkspartei) Zentrum (Bayr. Volkspart., vom Zentrum nach 1919 getrennt) Freisinnige (Dt. Demokr. Partei) Sozialdemokraten Unabh. Sozialdem. Kommunisten Nationalsozialisten

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Aus: Die deutschen Parteiprogramme, 1918—30, Hg. W. Mommsen usw. Das Wesen der neuen Verfassung. Die Annahme der Weimarer Verfassung am 31. Juli 1919 machte aus dem preußisdi-deutschen Reich, wenigstens der Form nach, einen voll demokratischen, obgleich noch halbföderalen Staat. Der Präsident wurde vom ganzen Volk gewählt. Kanzler und Minister waren dem Reichstag gegenüber verantwortlich, der auf der Grundlage allgemeinen Wahlrechts gewählt wurde. Alle Grundrechte anderer demokratischer Staaten — Rede-, Presse168

Die Weimarer und

Versammlungsfreiheit,

haftung, Fragen

Schutz

Volksabstimmungen —

waren

Partikularismus

in

der

Republik

zu

vor

Verfassung

der „Länder"

•willkürlicher

bestimmten verankert.

wurde durch den

Ver-

politischen Der

alte

Grundsatz

„Reichsrecht vor Landesrecht" wesentlich geschwächt; besonders Preußens Vorherrschaft wurde sorgfältig beschnitten,

indem

man aus dem alten Bundesrat den „Reichsrat" mit stark reduziertem Aufgabenbereich machte. Obgleich das Prinzip des Privatbesitzes anerkannt war, wurde doch die Möglichkeit der V e r staatlichung mit Entschädigung sowie die der Einsetzung zentraler und kommunaler Wirtschaftsbeiräte geschaffen, so daß eine gewisse Staatskontrolle über Industrie und Landwirtschaft gesichert schien. Die Behauptung, Deutschland habe jetzt die „freieste Verfassung der W e l t " , war nicht ungerechtfertigt. Was eine Verfassung wert ist, zeigt sich darin, wie sie funktioniert; und was an der Verfassung vom theoretischen Standpunkt aus als Perfektion gelten konnte, war praktisch nicht ungefährlich in einem so tief in politische Lager aufgeteilten Lande, wo man auch das „Nimm und gib" demokratischer Politik noch nicht gewohnt war. D i e alte Einheit, durch die Person des Kaisers und durch Persönlichkeit und A m t des Kanzlers, wie Bismarck es gestaltet hatte, gewährleistet, hatte sich unter Wilhelm I I . und Bülow schlecht bewährt. Aber jetzt wurde dem deutschen V o l k nicht nur zugemutet, seine Treue von einer königlichen Figur, die über der Parteipolitik stand, zu lösen, es sollte sie auch noch auf einen sozialdemokratischen Präsidenten übertragen, oder auf einen Kanzler, der vielleicht eine „Weltanschauung" vertrat, die man zutiefst ablehnte. Ferner bedeutete die Demokratisierung der verschiedenen Länder, daß gleichzeitig mit einer von Sozialdemokraten und Zentrum gebildeten preußischen Koalitionsregierung eine in der Hauptsache bürgerlich-nationale Regierung im Reich, eine halbkommunistische Regierung in Sachsen und eine extrem rechte, reaktionäre Regierung in Bayern an der Macht sein konnte. Eine solche Situation, die 169

III. Weimarer Republik und NS-Deutschland

1918—1939

es 1923 tatsächlich gab, brachte ernste Gefährdung der nationalen Einheit mit sich. Schließlich litt das deutsche V o l k in jeder politischen Krise unter dem Anblick langwierigen Parteienstreites über eine neue Regierung; und das zu einer Zeit, als der Drude von außen durch die siegreichen Alliierten vor allem eine starke und einige Regierung erforderte, wie sie die Deutschen bisher ja auch gehabt hatten. Dieser „Kuhhandel", wie ihn die Feinde der Demokratie nannten, wurde verschlimmert durch das Fehlen von Verantwortungsbewußtsein in den verschiedenen Parteiführern als Folge des Bismarck sehen Systems und durch die Starrköpfigkeit in weltanschaulichen Dingen, welche so äußerst charakteristisch für das deutsche V o l k ist. Ein nodi größeres H a n d i k a p für die neue demokratische Republik war die Tatsache, daß ihre Verfassung nur wenige Wochen nach der erzwungenen Annahme des Versailler V e r -

Karte 15. Deutschland 1919. 170

Die "Weimarer

Republik

träges (22. Juni 1919) eingeführt wurde. Für viele patriotische Deutsche war einer der stärksten Gründe zur Annahme der Demokratie der „gute" Friede auf der Grundlage der vierzehn 171

111. Weimarer

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und NS-Deutsdiland

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Punkte Präsident Wilsons gewesen, auf den sie gehofft hatten. Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Der Waffenstillstand wurde nicht auf der Grundlage dieser vierzehn Punkte geschlossen, und der Friedensvertrag mußte nicht allein mit den USA, sondern auch mit England und Frankreidi abgeschlossen werden, die die Hauptlast des Krieges getragen hatten, und mit anderen Alliierten. Dodi die Hoffnung blieb, und viele Deutsche glaubten, die Alliierten hätten die moralische Verpflichtung, Präsident Wilsons Programm durchzuführen. Die Bedingungen des Versailler Vertrags. Die Gebietsklauseln des Vertrages von Versailles (Karte 15) stimmten im allgemeinen mit den Grundsätzen des Präsidenten überein, doch sie gingen weiter, als es die Deutschen angenommen hatten. Die Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich (Punkt 8), die Schaffung eines unabhängigen polnischen Staates mit freiem und sicherem Zugang zum Meer, die Wiederherstellung Belgiens, Rumäniens, Serbiens (Punkt 7, 1 1 ) , die Anerkennung eines tschechoslowakischen Staates konnten als logische Schlußfolgerung der vierzehn Punkte betrachtet werden, genauso wie die Entscheidung, in Nordschleswig eine Volksabstimmung abzuhalten (Karte 16), um die neue Grenze zwischen Dänemark und dem Reich festzulegen. Aber der Umfang der Gebiete, die ans wiederhergestellte Polen fielen, und besonders die Abtrennung Danzigs und Ostpreußens vom Reidiskörper (Karte 17) verursachte viel Bitterkeit, die noch durch die folgende Teilung Oberschlesiens nach der Volksabstimmung vom November 1921 erhöht wurde, bei der jedoch die Mehrheit der Einwohner für Deutschland gestimmt hatte. Und die Klausel, die ausdrücklich den Zusammenschluß Deutschlands und Österreichs verbot, schien vielen Deutschen als eine Verweigerung des Rechts auf Selbstbestimmung, das von den Alliierten erbarmungslos angewandt wurde, wenn es zu Deutschlands Nachteil war. Neben diesen Härten waren die Abtrennung Eupen-Malmedys an Belgien und die für fünfzehn Jahre vorgesehene französische Kontrolle der Saar 172

Die Weimarer Republik

Karte 17. Sprachenkarte vom polnischen Korridor 1918. Vorwiegend deutsche Sprachgebiete sind schraffiert. Grenzen von 1919.

unter einer Völkerbundskommission nur verhältnismäßig kleine Übel. Aber als unmittelbare Folge der Gebietsabtretungen verlor Deutschland 14,6 % seines bestellbaren Landes, 74,5 °/o seiner Eisenerze, 68,1 °/o seines Zinks und 26 °/o seiner Kohlevorkommen. Der Versailler Vertrag enthielt jedoch noch vieles andere, was — wie eigentlich zu erwarten gewesen war — in Präsident Wilsons liberalem und etwas unrealistischem Programm nicht zu finden war. Während die vierzehn Punkte von einer freien, offenen und absolut unparteiischen Lösung aller Kolonialfragen sprach (Punkt 5), sah der Vertrag die Abtrennung deutscher Kolonien vom Mutterland und die Bildung von Mandaten für sie vor, die den Alliierten zufielen. Die Abrüstung (Punkt 4) wurde einseitig Deutschland auferlegt, das den Wehrdienst abschaffen und sein einst starkes preußischdeutsdies Heer auf 100 000 Mann beschränken mußte, deren 173

III. Weimarer Republik und NS-Deutschland

1918—1939

Bewaffnung von einer Abrüstungskommission überwacht werden sollte; ein großer Teil der Flotte sollte übergeben werden, fand aber tatsächlich bei Scapa Flow ein nicht unwürdiges Ende. In Artikel 231 des Vertrages (dem sogenannten Kriegsschuld-Paragraphen) bekannte sich Deutschland zu seiner und seiner Verbündeten Verantwortlichkeit „für alle Verluste und Schäden, die die Alliierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben". Die Verpflichtung, riesige Reparationen in noch unbekannter Höhe zu zahlen, war schlimm genug für die Deutschen; aber das Eingeständnis, daß die volle Verantwortung für den Krieg bei Deutschland und Österreich lag, war weit schlimmer. Um den Vertrag durchzusetzen, sollten schließlich alliierte Armeen fünfzehn Jahre lang am Rhein stehen, und das Rheinland sollte ständig entmilitarisiert sein (Karte 18). Die Auswirkungen des Vertrages auf Deutschland. Die Versailler Vertragsbedingungen kamen für Deutschland im ganzen und für die republikanischen Parteien im besonderen als ein furchtbarer Schlag. Obgleich die Heerführer, einschließlich Hindenburg, erklärten, daß Widerstand unmöglich sei, und obgleich Hermann Müller, der Sozialdemokrat, und Johannes Bell, der Zentrumspolitiker, eher Ehre als Schmähungen dafür verdienen, daß sie die Verantwortung der Unterzeichnung übernahmen, schlachteten die Rechtsparteien die Annahme des Vertrages durch die SPD und das Zentrum (die Demokraten schieden lieber vorübergehend aus der Regierung aus, um nicht die Verantwortung mitzuübernehmen) in den folgenden Jahren ohne irgendwelche Skrupel aus. Emsig wurde die Legende vom „Dolchstoß" in den Rücken des Heeres aufgebaut; Deutschlands Niederlage sei von den „Novemberverbrechern" der „schwarzen Internationale" (den Katholiken) und der „roten Internationale" (den Sozialdemokraten) herbeigeführt worden. Dahinter oder daneben stehe die „gelbe Internationale" (die Juden). Die Tatsache, daß Hugo Preuß, 174

Die Weimarer

Republik

Karte 18. "Westdeutschland 1919.

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III. Weimarer Republik und NS-Deutséland 1918—1939 der Demokrat, der die Weimarer Verfassung entworfen hatte, Jude war, wurde nicht vergessen. Walter Rathenau, der jüdische Direktor der AEG, der zusammen mit Möllendorf die deutsche Kriegsindustrie organisiert hatte und als Reichsminister für Wiederaufbau und nach dem Krieg als Außenminister gute Arbeit geleistet hatte, wurde ermordet (1922). Ein Grund für das schließliche Fehlschlagen der Weimarer Republik war die Langmut, mit der die Verfassungsparteien ihre Feinde gewähren ließen. Man machte keinen Versuch, Beamtenschaft oder Richterstand zu säubern; man war unfähig, seine eigenen Parteianhänger vor reaktionären Richtern zu schützen oder genügende Bestrafung gewalttätiger junger Nationalisten, die „patriotische" Verbrechen begingen, durchzusetzen. Diese Zeichen der Schwäche gingen zum Teil zurück auf das strikte Festhalten am Prinzip der Legalität, welches beim Zentrum, bei SPD und Demokraten wie ein Glaubensbekenntnis galt. Dazu kam das tiefsitzende Verlangen der politischen Linken nach Ordnung und ihre Abhängigkeit von „nationalen" Elementen, wie der neuen Reichswehr, die man zur Unterdrückung innerer Unruhen brauchte; Noskes Einsatz der Freikorps war dafür das erste Beispiel. Die Feind'e der Republik. Diese Lage wurde von Anfang an radikal durch die Feinde der Republik ausgenutzt. Die Landbesitzer und Industriellen waren auch von der Revolution im Besitz ihrer Güter und Fabriken gelassen worden; das Offizierskorps bildete sich wieder und wählte mit äußerster Sorgfalt Unteroffiziere und Mannschaften für die Reichswehr aus. Alle betrachteten es als ihre vaterländische Pflicht, den militanten jungen Patrioten der Freikorps-Organisationen ihre heimliche oder offene Unterstützung zu geben. Schon am 15. Januar 1919 bildeten die Führer der deutschen Schwerindustrie — Krupp, Kirdorf, Stinnes, Vogler, Röchling und andere — einen antibolschewistischen Bund, dem sie viele Millionen Mark zur Verfügung stellten. Diese Gelder wurden zur Finanzierung des Freikorps und anderer extremer natio176

Die Weimarer

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nalistischer und antirepublikanischer Gruppen benutzt. Von Anfang an waren die Führer der Schwerindustrie sich bewiußt, daß ihre großen Fabriken, die in den vier Kriegsjahren stark gewachsen waren, unter einem pazifistischen Regime nicht gewinnbringend in Gang gehalten werden konnten. Durch die Deutschnationale Volkspartei kämpften sie und der preußische Landbesitz, der an Offiziers- und Beamtenposten für seine Söhne interessiert war, den alten Kampf um politische und gesellschaftliche Vorherrschaft im Reichstag. Und da sie Unterstützung weiterer Bevölkerungskreise benötigten, um ihren Ansprüchen Stärke zu verleihen, ermutigten sie alle ultranationalistischen Bewegungen, die durch den Versailler Vertrag entstanden waren. Inflation und internationale Krisen. Von 1919 bis 1924 war die Geschichte der Weimarer Republik eine Serie von Krisen infolge alliierter Forderungen nach Erfüllung des Vertrages. Bei jeder Krise leistete die Regierung jeden möglichen Widerstand, trat dann angesichts eines Ultimatums zurück, wurde mit großen Schwierigkeiten erneut gebildet — und gab nach. Konferenzen in Paris und London (1921), in Cannes und Genua (1922) folgten schnell aufeinander. 1922 verlor die deutsche Mark (die normalerweiser zu 4 Mark pro Dollar gehandelt wurde) schnell an Wert, und dem Fehlschlag einer weiteren Konferenz in London am 22. Dezember 1922 folgte die Entscheidung der Reparationskommission, daß Deutschland seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei (28. Dezember) und die Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich (Januar 1923). Von diesem Augenblick an war der Wertverlust der Mark katastrophal. Schon im Januar 1922 bekam man für einen Dollar 191,80 Mark; im Januar 1923 17972,00 Mark. Danach ging der Kurs in schwindelnde Höhen, so daß die Mark im November praktisch wertlos war; denn für einen Dollar gab es 4 200 000 000 Mark. In der Zwischenzeit waren die inneren Feinde der Republik aktiv gewesen. Schon im März 1920 unternahm in Berlin der 12

Passant

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alldeutsch orientierte Generallandschaftsdirektor Kapp einen Putsch mit Unterstützung der Brigade Ehrhardt, einer Freikorpsorganisation, deren Auflösung von den Alliierten verlangt war. Die Regierung ging zuerst nach Dresden und dann nach Stuttgart. Die neaie Reichswehr blieb in dem Konflikt neutral, aber die Beamten in den Ministerien weigerten sich, von Kapp Weisungen entgegenzunehmen. Als ein Generalstreik der Arbeiter ausgerufen wurde, war Kapps Lage hoffnungslos, und seine Bewegung brach zusammen. Jedoch die Ereignisse, die folgten, zeigten deutlich die Schwäche der demokratischen Republik; während die „roten" Arbeiter des Ruhrgebiets, die gegen Kapps Anhänger revoltierten, durch Reichswehr und Freikorpstruppen blutig zusammengeschlagen wurden, erhielt Erhandts Brigade keine Bestrafung. Die Gewerkschaften, deren Eingreifen entscheidend zur Rettung der Republik baigetragen hatte, erhielten Versprechen über eine weitere Demokratisierung der Reichswehr, der Polizei und der Beamtenschaft sowie über Maßnahmen zur Verstaatlichung der Industrie. Aber keins dieser Versprechen wurde gehalten. Die Wahlen von 1920 zeigten, daß das Vertrauen zu den republikanischen Parteien stark erschüttert worden war und die Rechtsparteien durch den Kapp-Putsch gewonnen hatten. Eines der Resultate dieser Angelegenheit war, daß Noske sein Amt als Reichswehrminister verlor und zum Oberpräsidenten von Hannover relegiert wurde. Aber da seine Stelle von Geßler, einem Politiker der Demokraten, eingenommen wunde, der den Reichswehrgeneralen freie Hand ließ und ihnen unbequeme Untersuchungen zu ihren Handlungen ersparte, wurde die Republik nicht gestärkt. Der Kapp-Putsch zeigte, daß radikale Republikaner wenig Schutz von der Republik erwarten konnten, und daß „nationale" Gruppen wenig zu fürchten hatten. In den nächsten zwei Jahren konzentrierten sich diese Gruppen militanter junger Patrioten, die einmal auf 300 000 ¡geschätzt wurden, in Bayern, wo eine sehr reaktionäre Regierung im Amt war. 178

Die Weimarer

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Es gab eine Reihe von Ermordungen republikanischer Führer. Rathenaus Ermordung ist schon erwähnt worden; Erzberger, der Führer der Waffenstillstandsabordnung, wurde 1 9 2 1 ermordet; Eberts Leben wurde bedroht, und auf Scheidemann wurde ein Attentat unternommen. Als nach Erzbergers Mord die Regierung im September 1 9 2 1 versuchte, gegen die Täter schärfer vorzugehen, stieß sie auf heftige Opposition seitens der Rechten und auf Sezessionsdrohungen seitens Bayerns. Während der Jahre 1 9 2 1 und 1922 hielt diese innere Spannung an, besonders nach der alliierten Entscheidung, Oberschlesien zu teilen; die Ruhrbesetzung (Januar 1923) und die darauf folgende hoffnungslose Inflation brachte die Republik an den Rand des Chaos. Im Rheinland versuchten die Franzosen, Separatistenregierungen einzusetzen; im Ruhrgebiet gingen die Arbeiter zu passivem Widerstand gegen die Besatzung über; in Sachsen und Thüringen kamen militante Sozialisten und Kommunisten ans Ruder; in Bayern spielten Kahr und General von Lossow mit der Idee einer Gegenrevolution in dem Augenblick, da das Land die Einheit am dringendsten brauchte. Die Krise ging so tief, daß endlich auch in Frankreich gemäßigtere Stimmen zu Gehör kamen; in Deutschland zeigte Gustav Stresemann von der Deutschen Volkspartei jene Urteilskraft und jenen Mut, die einen Staatsmann vom Politiker unterscheiden. A m 13. August 1923 wurde er Kanzler und Außenminister (er blieb Kanzler bis zum 23. November und Außenminister bis zu seinem Tod 1929). E r stellte den passiven Widerstand ein und nahm mit den Alliierten, die vor ihrer eigenen Politik Angst bekamen, Verhandlungen auf; dann bereitete er sich auf die Auseinandersetzungen mit der extrem Rechten und Linken vor. Die Zeit Stresemanns

(1923—29)

Stresemanns erste Aufgabe war es, der Zentralregierung Autorität zu verschaffen. Im Oktober hatte der reaktionäre bayerische Ministerpräsident K a h r dem Reich praktisch den 12»

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Krieg erklärt, indem er in Bayern die Reichswehr übernahm mit General von Lossow als „Treuhänder" des deutschen Volkes an der Spitze. Diese hochverräterische Haltung wurde noch verschlimmert durch die gleichzeitige Konzentration von rassenhetzerisch-nationalen Gruppen in und um Bayern, mit denen Kahr in Verbindung stand; unter diesen waren Hitlers Nationalsozialisten, denen Ludendorff die Macht seines persönlichen Ansehens lieh. Hitlers Münchner Putsch. Vielleicht um der Reichswehr ein Vorgehen gegen die bayerischen Nationalisten schmackhafter zu machen, wurde sie zur Unterdrückung der sozialistisch-kommunistischen Regierungen in Sachsen und Thüringen (29. Oktober) eingesetzt — ein völlig verfassungswidriges Vorgehen. Jedoch war es immer noch möglich, daß die bayerisdie Regierung und die extremen Nationalistengruppen einen Coup gegen das Reich unternehmen würden; Hitler versuchte, diesen Coup zu erreichen, indem er am Abend des 8. November in eine Versammlung im Bürgerbräu-Keller in München, auf der Kahr und Lossow sprachen, einbrach