Gerichtliche Psychiatrie [2., vollst. neubearb. Aufl. Reprint 2018] 9783111539126, 9783111171012

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Gerichtliche Psychiatrie [2., vollst. neubearb. Aufl. Reprint 2018]
 9783111539126, 9783111171012

Table of contents :
VORWORT ZUR 1. AUFLAGE
VORWORT ZUR 2. AUFLAGE
INHALT
Abkürzungen
A. Allgemeines
B. Das Strafrecht
C. Die Strafprozessordnung
D. Bürgerliches Recht
E. Allgemeine, gerichtliche Psychopathologie
F. Spezielle gerichtliche Psychopathologie
Erklärung von Fachausdrücken
Sachverzeichnis
Verzeichnis der besprochenen Paragraphen
Autorenverzeichnis

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LANGELÜDDEKE

Gerichtliche

Psychiatriea

PROFESSOR

DR. MED. ALBRECHT

LANGELÜDDEKE

Gerichtliche Psychiatrie ZWEITE,

VOLLSTÄNDIG NEUBEARBEITETE

W A L T E R

D E

G R U Y T E R

&

AUFLAGE

CO.

VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG • J. G U T T E N T A G , VERLAGSBUCHHANDLUNG

• GEORG R E I M E R

• K A R L J. T R Ü B N E R

B E R L I N

1959

V E I T 4 COMP.

© Copyright 1950,1959 by Walter de Gruyter Sc Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung

- Georg Reimer - Karl J. Trübner - Veit & Comp., Berlin

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen und der Übersetzung, vorbehalten. Printed in Germany. - Archiv-Nr. 51 55 59 S a t z : Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 • D r u c k : Franz Spiller, Berlin SO 36

V O R W O R T Z U R 1. A U F L A G E Das von H O C H E herausgegebene ausgezeichnete Standardwerk über gerichtliche Psychiatrie ist in seiner letzten Auflage 1934 erschienen. Seither sind wesentliche Neuerungen auf dem Gebiet der Rechtsprechung zu verzeichnen, Neuerungen, an denen auch die Psychiatrie erheblich interessiert ist. Es machte sich daher schon seit einer Reihe von Jahren das Bedürfnis nach einer Neubearbeitung des Stoffes geltend, und zwar sowohl bei Psychiatern als auch bei Juristen, die, wie ich in Vorlesungen immer wieder feststellen konnte, das Bedürfnis haben, der Persönlichkeit des Rechtsuchenden gerecht zu werden. Ich hatte daher schon während des Krieges mit Vorarbeiten für eine Neubearbeitung begonnen und habe die Arbeit trotz mancher Schwierigkeiten, die sich aus der Neuordnung des Rechts unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen ergaben, fortgesetzt. Im Sommer 1946 lag das Buch im wesentlichen fertig vor, konnte damals aus äußeren Gründen aber noch nicht veröffentlicht werden; ich habe den Stoff später einer nochmaligen Überarbeitung unterzogen. Das Buch ist vorwiegend gedacht für die auf dem Gebiete der Rechtspflege tätigen Ärzte und Juristen. Dem entspricht die Anlage: ich habe in den rechtlichen Teilen die höchstrichterliche Rechtsprechung weitgehend berücksichtigt, so daß, wie ich hoffe, eine schnelle und ausreichende Orientierung darüber möglich ist. Die beiden letzten Teile des Buches — allgemeine und spezielle Psychopathologie — sollen nicht die vorhandenen eingehenden Darstellungen ersetzen; für den ärztlichen Gutachter sind sie nur so weit gedacht, als sie ihm Anhaltspunkte für die aus dem ärztlichen Befunde zu ziehenden rechtlichen Schlüsse geben sollen. Dagegen soll der Jurist sich kurz über die psychopathologischen Erscheinungen und die psychiatrischen Krankheitsbilder orientieren können. Dazu genügte eine knappe, sich auf das Wesentliche beschränkende Darstellung. Daß diese wegen der vielfachen Verwendung von Fachausdrücken für den Juristen nicht ganz leicht zu lesen sein wird, ließ sich leider nicht vermeiden; ich habe daher zur Erleichterung des Lesens eine Erklärung der wichtigsten Fachausdrücke angeschlossen. Ein Lehrbuch soll im allgemeinen die gesicherten Ergebnisse wiedergeben. Ich habe darüber hinaus, wo es mir nötig erschien, die Problematik berührt und auf Schwächen der Gesetzgebung in offener, aber, wie ich glaube, sachlicher Kritik hingewiesen.

Zu danken habe ich für mancherlei Hinweise, namentlich von Juristen. Mein Dank gehört weiter meiner Frau f ü r ihre Mithilfe bei der Besorgung der Korrekturen, schließlich aber dem Verlag, der trotz aller äußeren Schwierigkeiten die Geduld nicht verlor. Marburg/Lahn, im Sommer 1950

A. Langelüddeke

V O R W O R T Z U R 2. A U F L A G E Die zweite Auflage dieses Buches ist ihrem Ziel, vornehmlich der Praxis zu dienen, treu gebheben. Auf Anregungen, die mir in dankenswerter Weise gegeben wurden, habe ich die Alkoholdelikte, soweit ihnen Rauschzustände zugrunde liegen, stärker zusammengefaßt, und ebenso habe ich die in der Praxis so bedeutsamen Sittlichkeitsdelikte in einem besonderen Kapitel behandelt. Das dazugehörige Kapitel über Entmannung als Behandlungsmöglichkeit beruht weitgehend auf eigenen, aber noch nicht abgeschlossenen Untersuchungen. Die Neufassung des Jugendgerichtsgesetzes erforderte eine Neubearbeitung der damit zusammenhängenden Fragen. Ebenso hielt ich es f ü r geboten, der Frage nach der sozialen Prognose ein besonderes Kapitel zu widmen. I n den übrigen Kapiteln habe ich Probleme, die häufiger auftauchen, z. B. den Selbstmord in seinem ursächlichen Zusammenhang mit irgendwelchen Schädigungen, wenigstens kurz angeschnitten. Soweit sie den Psychiater interessieren, habe ich auch die Bestimmungen der mitteldeutschen Gesetzgebung behandelt. Bei aller Verschiedenheit der Auffassungen lag mir daran, die Zusammengehörigkeit beider Teile Deutschlands zu betonen. Die Behandlung des Entwurfs f ü r den allgemeinen Teil eines neuen Strafgesetzbuches wird, wie ich hoffe, zum Nachdenken darüber anregen. Aus zahlreichen Äußerungen und Zuschriften habe ich ersehen können, daß mein Buch sich in der Praxis bewährt hat. Dankbar bin ich für alle Hinweise, Anregungen und Hilfen, die ich von zahlreichen Kollegen und amtlichen Stellen sowohl aus West- als auch aus Mitteldeutschland erhalten habe. Namen zu nennen, würde zu weit führen. Ich bin mir klar darüber, daß nicht alle Fragen behandelt sind, die den Praktiker beschäftigen. Ich habe mich aber bemüht, das Wichtigste zu erörtern und durch Anführung der Literatur eine Vertiefung zu ermöglichen. Bei der Vielfältigkeit der Probleme mag dabei das eine oder andere übersehen worden sein. Das bitte ich zu entschuldigen. Ich hoffe aber, daß auch die 2. Auflage ihren Zweck, dem Gutachter ein Berater und Helfer zu sein, dem Juristen die Möglichkeit der Orientierung zu geben, erfüllen wird. Hamburg, im Herbst 1958

A. Langelüddeke

INHALT Seite

Vorwort

V

Abkürzungen

TX A. Allgemeines

1. Einleitung 2. Der Gutachter und seine Tätigkeit

1 7

B. Das Strafrecht ]. Die Zurechnungsfälligkeit der geistig Abnormen

13

a) Der Geisteszustand zur Zeit der Tat b) Die biologischen Voraussetzungen Die Bewußtseinsstörung Die krankhafte Störung der Geistestätigkeit und die Geistesschwäche . . c) Die psychologischen Voraussetzungen

19 20 20 34 35

Die verminderte Zurechnungsfähigkeit Die Zurechnungsfähigkeit bei geistig Defekten Die Zurechnungsfähigkeit der Taubstummen Die Maßregeln der Sicherung und Besserung Die strafrechtliche Behandlung der Alkohol- und Suchtdelikte Die strafrechtliche Behandlung der Sittlichkeitsdelikte Die Entmannung als Behandlungsmöglichkeit von Sittlichkeitsverbrechern Die Beurteilung der sozialen Prognose Die strafrechtliche Behandlung der Jugendliehen und Heranwachsenden . Das mitteldeutsche Jugendgerichtsgesetz Sexuelle Delikte an Geisteskranken Verfall in Siechtum oder in Geisteskrankheit Die Verantwortlichkeit des Irrenarztes und Irrenpflegers Bestimmungen aus dem Entwurf des Allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuchs von 1958 16. Das allgemeine Strafrecht in Mitteldeutschland

42 50 56 57 67 85 101 112 123 143 146 150 154

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

167 174

C. Die Strafprozeßordnung 1. Der Geisteskranke als Zeuge 2. Der Geisteskranke als Angeschuldigter, Angeklagter und Verurteilter . .

183 187

D. Bürgerliches Recht 1. 2. 3. 4.

Vorbemerkungen Die Geschäftsfähigkeit Die Entmündigung Die Pflegschaft

5. Prozeß- und Eidesfähigkeit

194 196 209 228 231

VIII 6. 7. 8. 9.

Inhalt

Geisteskrankheit und Testierfähigkeit Die Deliktfähigkeit H a f t u n g und Kausalität im bürgerlich-rechtlichen Sinne Geisteskrankheit und Ehe B. Allgemeine, gerichtliche

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Psychopathologie

Vorbemerkung Störungen des Wahrnehmens Störungen des Gedächtnisses Störungen des Denkens Störungen der Affektivität Störungen des Trieblebens F. Spezielle gerichtliche

233 237 239 253

272 273 279 283 292 297 Psychopathologie

1. Vorbemerkung 2. Angeborene und früh erworbene Schwachsinnszustände (Idiotie, Imbecillität, Debilität) 3. Psychische Störungen nach Hirnverletzungen 4. Die psychischen Störungen infolge von Syphilis 5. Die epidemische Enzephalitis 6. Psychische Störungen des höheren Lebensalters und andere organische Hirnerkrankungen 7. Psychische Störungen bei körperlichen Erkrankungen 8. Die psychischen Störungen bei den Generationsvorgängen des Weibes . . 9. Die psychischen Störungen durch Alkohol 10. Vergiftungen u n d Suchten a) Das Opium und seine Abkömmlinge b) Das Kokain c) Dolantin, Polamidon, Cliradon d) Phanodorm, Optalidon e) Das Pervitin f) Haschisch, Marihuana g) Andere Vergiftungen 11. Krampfkrankheiten a) Die genuine Epilepsie b) Andere Krampfkrankheiten 12. Die Gruppe der Schizophrenien 13. Der manisch-depressive Formenkreis 14. Psychopathische Persönlichkeiten 15. Abnorme Reaktionen und Entwicklungen

302

324 331 337 341 347 350 353 355 356 357 358 359 360 360 363 367 379 384 393

Erklärung von Fachausdrücken

400

Sachverzeichnis

405

Verzeichnis der besprochenen Paragraphen

416

Autorenverzeichnis

421

302 307 313 319

ABKÜRZUNGEN Achilles-Greif ÄM AZPs BGB BGH BGHSt BGHZ Bleuler Bumke DJ DJZ DM DmW DZgM EG E G 1938 Ewald Exner Fortschr. GgG

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H . Giese

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Gürtner HESt.

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Hoche I, I I , I I I

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Hoffmann HRR J G G 1923 J G G 1952 J G G 1953 JW JZ KRG LdSt LK MKrB MKrPs. MoKrim.

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K o m m e n t a r zum Bürgerlichen Gesetzbuch 21. Aufl. 1958 Ärztliche Mitteilungen Allgemeine Zeitschrift f ü r Psychiatrie Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtsh of Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Lehrbuch der Psychiatrie. 9. Auflage 1955 H a n d b u c h der Geisteskrankheiten Deutsche Justiz Deutsche Juristenzeitung Die Medizinische Deutsche medizinische Wochenschrift Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin Ehegesetz von 1946 Ehegesetz vom 6. VII. 1938 Neurologie und Psychiatrie 3. Aufl. 1954 Kriminologie 3. Aufl. 1949 Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung Die Sexualität des Menschen, H a n d b u c h der medizinischen Sexualforschung. S t u t t g a r t 1955 Das kommende Strafrecht Höchstrichterliche Entscheidungen der Oberlandesgerichte und der obersten Gerichte in Strafsachen H a n d b u c h der gerichtlichen Psychiatrie I. Aufl. 1901, I I . Aufl. 1908, I I I . Aufl. 1934 Hoffmann-Stephan, K o m m e n t a r zum Ehegesetz von 1946, 1950 Höchstrichterliche Rechtsprechung Jugendgerichtsgesetz vom 16. II. 1923 Mitteldeutsches Jugendgerichtsgesetz vom 23. V. 1952 Westdeutsches Jugendgerichtsgesetz vom 4. V I I I . 1953 Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kontrollratsgesetz Lehrbuch des Strafrechts der Deutschen Demokratischen RepuKlîljD11K Leipziger K o m m e n t a r Monatsschrift f ü r Kriminalbiologie u n d Strafrechtsreform Monatsschrift f ü r Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform Monatsschrift f ü r Kriminologie und Strafrechtsreform

X

Abkürzungen

MDR = Monatsschrift f ü r Deutsches Recht NA = Der Nervenarzt NJ = Neue Justiz NJW = Neue juristische Wochenschrift Palandt = K o m m e n t a r zum Bürgerlichen Gesetzbuch 14. Aufl. 1955 Ps.neur. Wschr. = Psychiatrisch-neurologische Wochenschlift RG = Reichsgericht RGSt. = Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen RGZ = Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen RJGG = Reichsjugendgerichtsgesetz vom 6. X I . 1943 RKG = Entscheidungen des Reichskriegsgerichts RMG = Entscheidungen des Reichsmilitärgerichts v. Scanzoni = K o m m e n t a r zum Ehegesetz von 1938. 2. Aufl. Schönke = Schönke-Schröder, K o m m e n t a r zum Strafgesetzbuch 7. Aufl. 1954 Staudinger = K o m m e n t a r zum BGB StGB = Strafgesetzbuch StPO = Strafprozeßordnung TestG = Gesetz über die Errichtung von Testamenten u n d Erbverträgen vom 31. VII. 1938 verm. Z = verminderte Zurechnungsfähigkeit Volkmar = Großdeutsches Eherecht, K o m m e n t a r Warn.Rsps. = Warneyer Rechtsprechung Wyrsch = Gerichtliche Psychiatrie 2. Aufl. 1955 (betr. Schweizer Verhältnisse) Z = Zurechnungsfähigkeit Zb.Neur. = Zentralblatt f ü r die gesamte Neurologie und Psychiatrie Z.Neur. = Archiv f ü r Psychiatrie und Nervenkrankheiten vereinigt m i t Zeitschrift f ü r die gesamte Neurologie und Psychiatrie ZivArch. = Archiv f ü r die zivilistische Praxis, Neue Folge ZPO = Zivilprozeßordnung ZStW = Zeitschrift f ü r die gesamte Strafrechtswissenschaft ZU = Zurechnungsunfähigkeit

A. A L L G E M E I N E S 1.

Einleitung

Im Vergleich zur Rechtswissenschaft ist die Psychiatrie als Wissenschaft noch sehr jung. Ihre eigentliche Entwicklung begann langsam etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Aber erst allmählich wurde sie zu einer naturwissenschaftlichen Disziplin. Noch K A N T war der Meinung, die Behandlung Geisteskranker sei Sache der Philosophen, noch in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war eine moraltheologische Betrachtungsweise üblich — man sah in den Geisteskrankheiten Folgen der Sünde —, und erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts fand die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise Eingang in die Psychiatrie. Mit ihr bahnten sich Fortschritte an, die im Laufe der Zeit dahin führten, daß aus der Vielfalt der Meinungen, der Systeme, sich eine gewisse Einheitlichkeit in der Einteilung und Abgrenzung der Geisteskrankheiten entwickelte, die auch heute noch trotz mancher Auflösungstendenzen zu Recht besteht und jedenfalls eine schnelle und leichte Verständigung ermöglicht1). Man begann klinisch-naturwissenschaftlich zu denken und auch die Psyche des Menschen als etwas zu begreifen, was mit dem menschlichen Körper und seinen Funktionen in innigster Wechselwirkung steht. Aus dieser Denkweise ergab sich jedoch ein gewisser Gegensatz zum Juristen. Dieser war gewohnt, formal-logisch zu denken; jeder Begriff hatte für ihn einen bestimmten Gehalt, ihm war naturwissenschaftliches Denken im allgemeinen ebenso fremd, wie dem Arzt das formal-logische Denken des Juristen. Ein zweiter Gegensatz in der Betrachtungsweise ergab sich daraus, daß das kriminelle Geschehen von verschiedenen Blickpunkten aus gesehen wurde. Während der Psychiater den Täter in den Vordergrund stellte und von ihm, von seiner Wesensart die Tat zu verstehen suchte, war für den Juristen die Tat und deren Erfolg das Wesentliche. Aus dieser Divergenz des Denkens und der Sicht entstanden in früheren Zeiten manche Unstimmigkeiten. Der psychiatrische Sachverständige galt vielfach als ein notwendiges Übel, der seinen schützenden Arm auch da über den Delinquenten hielt, wo es nicht angebracht schien. Dieser Vorwurf war sicher in manchen Fällen berechtigt, kaum jedoch bei wirklich Sachverständigen. 1 ) Große Verdienste hat sich dabei KBAEPELIN erworben, den man den LINNE der Psychiatrie nennen könnte. Diese Verdienste werden durch die Weiterentwicklung der Psychiatrie, die durch FBETJD und andere Autoren angeregt und fortgeführt ist, in keiner Weise geschmälert.

1 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

2

Allgemeines

Allmählich nun glichen sich die Gegensätze aus: der Jurist schob mehr und mehr auch den Täter in den Blickpunkt seines Interesses; der Psychiater lernte das formal-logische Denken des Juristen, der letztere das naturwissenschaftliche Denken des Arztes besser bewerten. An die Stelle des früheren Mißtrauens ist ein vertrauensvolles sich gegenseitig befruchtendes Zusammenarbeiten getreten2). Zwei Aufgaben sind es vornehmlich, die der psychiatrische Sachverständige zu erfüllen hat: 1. soll er der Gehilfe des Richters sein; er soll durch sein Gutachten zur Findung des Rechts beitragen. Diese Aufgabe ist die praktisch wichtigere; ihr sollen in erster Linie die folgenden Ausführungen dienen. 2. soll er die wissenschaftlichen Grundlagen schaffen helfen, auf denen die rechtliche Behandlung der geistig Abnormen aufgebaut werden kann. Kriminalpolitik ist, wie ASCHAFFENBURG bemerkt3), ohne psychiatrische Vorund Mitarbeit nicht denkbar4). Diese wissenschaftliche Arbeit muß, wenn sie erfolgreich sein soll, gemeinsam mit Juristen, Psychologen, Erblichkeitsforschern und Soziologen geschehen. Gegenstand der gerichtlichen Psychiatrie und damit der folgenden Darstellung ist der Mensch; aber nicht der Mensch schlechthin, sondern in seinen Beziehungen zur Rechtspflege. Dabei ist die Zahl der Fragestellungen umfangreicher geworden: Früher war im Strafrecht einzig die Frage der Zurechnungsfähigkeit zu prüfen und für die Beantwortung derselben der Geisteszustand eines Menschen zu einer bestimmten Zeit und seine Auswirkungen für eine bestimmte Tat festzustellen. Heute ist darüber hinaus zu prüfen, ob die öffentliche Sicherheit die Unterbringung eines Zurechnungsunfähigen oder vermindert Zurechnungsfähigen erfordert, eine Frage, die eine vorausschauende Betrachtungsweise nötig macht. Das gleiche gilt für prognostische Fragen, die im Jugendgerichtsverfahren, aber auch bei drohender Sicherungsverwahrung und bei der vorzeitigen Entlassung Strafgefangener zu beantworten sind. Weniger einschneidend sind die Veränderungen im bürgerlichen Recht; aber auch hier sind Fragen für eine bestimmte Zeit und bestimmte Rechtsgeschäfte (Geschäftsfähigkeit, Testierfähigkeit, Prozeßfähigkeit) wie Zukunftsfragen (Entmündigimg, Ehescheidung) zu beantworten. Der jeweilige Zustand eines Menschen ist das Ergebnis aus Anlage und Umwelteinflüssen. Beide lassen sich nur begrifflich trennen;in derWirklich2 ) Das hat u. a. in der Gründung verschiedener forensisch-psychiatrischer Gesellschaften und in der von Juristen und Psychiatern gemeinsam herausgegebenen Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (früher Kriminalpsychologie bzw. Kriminalbiologie) seinen Ausdruck gefunden. 3

4

) I n HOCHE I I I , S. 2.

) In den Werken mancher Juristen — ich nenne nur M E Z O E R S Kriminalpolitik (Stuttgart 1942) und E X N E R S Kriminologie nimmt die Erörterung psychiatrischer Probleme einen breiten Baum ein.

Einleitung

3

keit bilden sie ein Ganzes: „denn die Anlage erlangt erst Bedeutung durch ihre Entfaltung an Umwelterlebnissen; was aber als Umwelt erlebt wird und wie es erlebt wird, hängt", wesentlich „von der Anlage der erlebenden Persönlichkeit ab" 5 ). Will man daher einen Menschen richtig würdigen, will man sein Tun verständlich machen, so wird man diese Faktoren herausarbeiten und in ihrer dynamischen Wechselwirkung darstellen müssen. So ist es schon nicht gleichgültig, aus welchem Volke jemand stammt. Wir wissen, daß die Mordziffem im heißblütigen Italien die der ruhigen Nordländer weit überwiegen, und müssen das nach allen vorliegenden Untersuchungen mit dem Volkscharakter in Verbindung bringen. J a selbst innerhalb Deutschlands waren recht deutliche Unterschiede zwischen der überwiegend nordischen Bevölkerung Nordwestdeutschlands und den Randbezirken vorhanden, die sich nicht allein auf den höheren Alkoholverbrauch der letzteren zurückführen lassen. I m Einzelfall hat freilich die Herkunft kaum einmal etwas zu bedeuten. Viel wichtiger ist die Familie, die erbliche Belastung. H O C H E meint freilich, es werde von Ärzten, Verteidigern und auch Richtern dieser Frage ein übertriebener Wert beigelegt 6 ). Er meint, entweder sei der Mensch gesund, und dann sei es unerheblich, ob seine Mutter oder sein Großvater krank waren. Oder er sei krank; dann sei das Ausmaß seiner Abnormität für unser Gutachten entscheidend, nicht aber die Frage, woher die Krankheit rühre. Diese Ansicht ist nur teilweise richtig, nämlich bei Fragen, die die Gegenwart oder gar die Vergangenheit betreffen, also etwa bei der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit oder der Geschäftsfähigkeit. Schon dabei kann man jedoch an der familiären Belastung nicht vorübergehen; sie ist für die Diagnose manchmal von ausschlaggebender Bedeutung. Wir denken z. B. an Depressionszustände unklarer Art, bei denen ähnliche Zustände in der Familie oder auch nur das Vorhandensein bestimmt gearteter Persönlichkeiten (syntone Pykniker) die Diagnose wesentlich sicherer stellen lassen, oder an Krämpfe, über die wir uns aus den vorliegenden Berichten kein genaues Bild machen können, bei denen Epilepsie in der Aszendenz ein wichtiger Baustein für die Erkennung werden kann. Dann aber ist die Wahrscheinlichkeit, daß Menschen aus schwer belasteten Familien selbst abnorm sind, zweifellos größer als bei gesunden Familien. Wird dem Verteidiger, dem Staatsanwalt oder dem Untersuchungsrichter eine solche Belastung bekannt, so würde ich es für einen unverzeihlichen Fehler halten, wenn man sie als etwas Gleichgültiges betrachten würde. Ich habe jedenfalls in solchen Fällen den Verteidigern stets geraten, eine fachärztliche Untersuchung auch dann anzuregen, wenn ihr Klient selbst nicht grob auffällig war. Wir wissen gar zu gut — und es wird später noch Gelegenheit sein darauf einzugehen —, daß einwandfrei Geisteskranke jahrelang als vielleicht etwas sonderbar, aber doch gesund erscheinen können. Der Gutachter hat dann die Aufgabe, die 6

) EXNER, Kriminologie 3. Aufl. 1949, S. 19. ) Handbuch, 3. Aufl., S. 255ff.

8



4

Allgemeines

Bedeutung der erblichen Belastung auf ihr richtiges Maß zurückzuführen. Diese wächst erheblich, sobald es sich um Zukunftsfragen handelt, um das voraussichtliche spätere Verhalten. Wenn es gelingt, dafür aus der ererbten Anlage Anhaltspunkte zu gewinnen, so bedeutet das eine erstrebenswerte Sicherung des eigenen Urteils. Daß für manche Fragen, z. B. für die Aufhebung der Ehe, die erbliche Belastung von ausschlaggebender Bedeutung sein kann, sei einstweilen nur am Rande vermerkt. Der ererbten Anlage, dem Genotypus, steht die Umwelt gegenüber. Wissenschaftlich unterscheidet man eine innere Umwelt von der äußeren. Die innere Umwelt ist im Einzelfall nicht faßbar, spielt auch für unsere Fragen keine Rolle. Dagegen sind die äußeren Umwelteinflüsse von recht erheblicher Bedeutung: Es ist schon nicht gleichgültig, ob die Ehe der Eltern gut ist oder ob sie durch Zank und Streit beherrscht wird. Das gute oder schlechte Vorbild der Eltern ist ein wesentlicher Umweltfaktor, zumal gerade damit zusammenhängende Erlebnisse das kindliche Gemüt in einer Zeit treffen, wo es am eindrucksfähigster^ ist. Erziehung zu Hause und in der Schule, kirchliche Einflüsse, Freundschaften, Lektüre, Kino, evtl. Jugendverbände, Vereine, Sport, Beruf, Wehrmacht, aber auch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, Krankheiten und Lebensschicksale sind Faktoren, die Beachtimg verdienen. Welche Wirkungen so katastrophale Umwälzungen, wie wir sie jetzt erlebt haben, auf die Kriminalität haben, hat die Statistik mit dürren Zahlen gezeigt. Aus der Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt ergibt sich erst der Mensch, mit dem wir es in der Wirklichkeit zu tun haben (sog. Phänotypus). Das gilt für den gesunden Menschen, das gilt ebenso für den Abnormen, mit dem es die Psychiatrie zu tun hat. Dabei ist ein kurzer Exkurs darüber notwendig, was wir unter „abnorm" verstehen. Als „normal" bezeichnen wir das menschliche Erleben, Verarbeiten und Handeln, das innerhalb einer uns vorschwebenden Durchschnittsbreite in einer bestimmten Gesellschaft (Stand, Volk) liegt. Was von dieser Durchschnittsbreite abweicht, nennen wir „abnorm". Diese Begriffe sind, wie wir gleich sehen werden, anfechtbar; ihr Ersatz durch „gesund" und „krank" führt jedoch nicht weiter, weil hier ähnliche Unsicherheiten in der Begriffsbildung obwalten. Zunächst ist an der obigen Formulierung zu bemängeln, daß eine Grenzsetzung zwischen normal und abnorm nicht möglich ist. In der Tat ist es ganz dem Belieben des Untersuchers überlassen, wo er die Grenze zwischen beiden ziehen will. Irgendeine Vereinbarung darüber ist wegen der Flüssigkeit der Grenzen nicht möglich. Ein weiterer Mangel dieser Begriffsbestimmung ist, daß er Menschen umfaßt, die wir gewöhnlich als völlig normal anzusehen pflegen, z. B. alle bezüglich ihrer Intelligenz über den Durchschnitt Hinausragenden. Wir müssen daher, wollen wir den praktischen Bedürfnissen gerecht werden, den Begriff des Abnormen auf das Handeln einschränken, und können nun sagen, daß wir es mit denjenigen Menschen zu tun haben, die infolge einer von einem gedachten Durchschnitt abweichenden psychischen Verfassung in

Einleitung

5

irgendeiner Weise den Anforderungen des Lebens nicht gewachsen sind. Bei einer solchen Fassung des Begriffs fallen unter ihn sowohl die anlagebedingten wie die erworbenen Geisteskrankheiten und ebenso die Schwachsinnszustände und die abnormen Persönlichkeiten. Dabei ist der Begriff abnorm nicht identisch mit krank, wie hier schon bemerkt sei: ein „Einspänner" etwa ist zwar abnorm, aber er muß keineswegs krank sein. Daß bei dem Mangel an festen Grenzen auch zwischen Sachverständigen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Zuordnung solcher Zustände auftreten können, liegt auf der Hand. Solche Divergenzen werden noch verständlicher, wenn man weiß, daß eine völlig objektive Beurteilung von Menschen überhaupt unmöglich ist, da jede, aber auch jede Erkenntnis eines anderen Menschen von Faktoren abhängig ist, die im Untersucher selbst liegen. Die Psychiatrie beschäftigt sich also mit abnormen psychischen Zuständen und Verhaltungsweisen. Da das Psychische nichts für sich Existierendes ist, sondern mit der uns anlagemäßig gegebenen körperlichen Verfassung gekoppelt ist, genügt es nicht, nur die psychischen Ablaufsweisen zu durchmustern; in jedem Falle ist auch eine gründliche körperliche Untersuchung erforderlich, die sich auf den Körperbau, die Funktion der einzelnen Organe und besonders des Nervensystems erstreckt. Erst aus dem körperlichen und psychischen Befunde kann eine Diagnose abgeleitet werden. Von der früheren Ansicht, Geisteskrankheiten seien Gehirnkrankheiten, ist man freilich etwas abgekommen. Sicherlich ist das Gehirn das Organ, das bei den Geisteskrankheiten am meisten beteiligt ist. Aber auch andere Organe haben ihre Bedeutung für das Psychische. So spielen das sog. vegetative Nervensystem (die Lebensnerven) und die endokrinen Drüsen (Schilddrüse, Hoden, Eierstöcke usw.) für das Psychische eine nicht unbedeutende Rolle. Über die Zusammenhänge im einzelnen wissen wir freilich noch nicht allzuviel: es gibt Geisteskrankheiten wie etwa die progressive Paralyse oder die lobäre (sog. PiOKsche) Atrophie, die mit schweren Zerstörungen im Gehirn einhergehen. Bei anderen Geisteskrankheiten, und zwar auch solchen schwerster Art, wie etwa bei den Verblödungszuständen der Schizophrenen, finden wir mit den bisher bekannten Methoden so gut wie keine Veränderungen im Gehirn. Hier steht unsere Forschung noch in den Anfängen 7 ). Über die körperliche Bedingtheit hinaus folgt das Psychische seiner eigenen Gesetzlichkeit. Hier hat die Psychiatrie enge Berührung mit der Normalpsychologie. Doch hat sich die in der Regel gelehrte Psychologie für psychiatrische Bedürfnisse als nur zum Teil brauchbar erwiesen. Daher haben sich die Psychiater vielfach ihre eigene Psychologie bilden müssen 8 ). ') Neuerdings haben Oskar und Cecil Vogt gemeint, deutliche Zellveränderungen feststellen zu können (Ärztl. Forschung 1948, H. 7/8); andere namhafte Autoren haben jedoch Zweifel daran geäußert. 8 ) Am bekanntesten ist die „Medizinische Psychologie" von Kketschmer, die in zahlreichen Auflagen erschienen ist; sehr wertvoll ist die „Allgemeine Psychopatho-

6

Allgemeines

Bei der Untersuchung kommt es nun nicht allein darauf an, einen Querschnitt durch den zu untersuchenden Kranken zu legen, d. h. seinen augenblicklichen Zustand festzustellen. Ebenso wichtig, ja für manche Zwecke, etwa die Stellung der Prognose, wichtiger ist der Längsschnitt: Wir müssen wissen, woher der Kranke stammt, wie seine Vorfahren beschaffen waren, was er in der Schule, im Beruf geleistet hat, ob er früher krank war, wie sich seine körperliche und geistige Entwicklung gestaltet hat, welche Interessen er hatte, welche Umwelteinflüsse auf ihn einwirkten und anderes mehr. Erst aus der kritischen Bewertung von Quer- und Längsschnitt wird sich etwas Endgültiges für unsere Beurteilung ergeben. Geisteskrankheiten, die bei bis dahin gesunden Menschen auftreten, be" zeichnen wir als Psychosen. Grundsätzlich verschieden davon ist, was wir Psychopathie nennen. Darunter verstehen wir charakterliche Abartigkeiten verschiedener Art, die jedoch im Gegensatz zu den Psychosen für die betreffenden Personen nicht als wesensfremd erscheinen, sondern ihnen von jeher eigentümlich waren. Nicht jeden Abartigen bezeichnen wir als Psychopathen, sondern mit K U B T S C H N E I D E R nur denjenigen, der entweder selbst an seiner Abartigkeit leidet, oder an dessen Abartigkeit andere leiden. Näheres darüber wird namentlich der letzte Teil dieses Buches bringen. Die Mehrzahl der Psychosen hat äußere und innere Ursachen. Je nachdem die ersteren oder letzteren überwiegen, bezeichnen wir sie als exogen oder endogen. So beruhen die sogenannten Erbkrankheiten überwiegend auf der ererbten Anlage, sind also endogen; wir wissen jedoch aus Untersuchungen an eineiigen Zwillingen, daß auch bei den sogenannten endogenen Psychosen, z. B. der Schizophrenie, irgendwelche äußeren, uns bisher nicht bekannten Ursachen hinzukommen müssen, damit die Erkrankung manifest wird. Die verschiedenartigen Alkoholpsychosen (z. B. Delirium tremens, K O R S A K O W psychose) haben als wesentliche Ursache den übermäßigen Alkoholgenuß, sind daher exogen. Ob jemand jedoch an einer dieser Psychosen erkrankt, hängt von der Widerstandsfähigkeit seines Körpers gegenüber dem Alkohol ab, also von inneren Faktoren. Äußere Ursachen gibt es zahlreiche: Infektionskrankheiten aller Art (z. B. Typhus, Lungenentzündung, Gesichtsrose, Fleckfieber), Erkrankungen innerer Organe (erwähnt seien gewisse Blutkrankheiten und Krebs), Vergiftungen verschiedener Art (Alkohol, Opium und seine Abkömmlinge), Gehirnkrankheiten (Hirnhautentzündungen, Enzephalitiden, Hirngeschwülste, Hirnverletzungen). Die wichtigste äußere Ursache ist neben dem Alkohol die Syphilis, die freilich ihre frühere Bedeutung verloren hat. logie" von Karl JASPERS, 4. Aufl., Berlin und Heidelberg 1946. Ferner sei verwiesen auf GRUHLE, Verstehen und Einfühlen, Berlin, Göttingen und Heidelberg 1953; ders. Verstehende Psychologie, Stuttgart 1948, BASH, Lehrbuch der allgemeinen Psychopathologie, Stuttgart 1955, DBSTUNIS, Einführung in die medizinische Psychologie, 1955.

Der Gutachter und seine Tätigkeit

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Daneben gibt es Psychosen, die durch unmittelbare Einwirkung besonderer Erlebnisse auf das Seelenleben entstehen. Wir bezeichnen sie als psychogene Reaktionen oder als reaktive Psychosen. Dahin gehören z . B . reaktive Depressionszustände, „hysterische" Dämmerzustände, manche Haftpsychosen. Die Erscheinungsweise, das Symptombild der einzelnen Erkrankungen hängt nun keineswegs allein von den Ursachen ab. Neben den pathogenetischen Faktoren unterscheiden wir pathoplastische. Wie sich etwa jemand eine Sinnestäuschung zu erklären versucht, hängt von seinem Wissen über die derzeitigen technischen Errungenschaften ab: was der einfache primitive Mensch auf die Einwirkung von Hexen zurückführt, bringt ein anderer mit Radioapparaten in Verbindung. Das Wahnerleben eines klugen, hochgebildeten Mannes ist sehr viel reicher als das eines Tagelöhners, die Wahnideen des männlichen Geschlechts sind abwechslungsreicher als die des weiblichen, bei dem erotische Ideen vorherrschen. Das Greisenalter hat eine andere Symptomatologie der Geisteskrankheiten als das reife Alter, und dieses wieder eine andere als die Pubertät. Der Verlauf der Psychosen ist recht verschieden. Die reaktiven Psychosen und diejenigen exogenen Psychosen, die nur Begleiterscheinungen anderer, körperlicher Erkrankungen sind, pflegen relativ schnell abzuklingen; andere exogene Psychosen, z. B. die progressive Paralyse, führen, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt werden, zu schwerem geistigem Siechtum und schließlich zum Tode. Bei manchen Erkrankungen kann es zu recht guten Besserungen mit leichten oder schwereren Defekten, sogenannten Remissionen, kommen, die lange anhalten können. Derartige Remissionen werden z. B. bei der progressiven Paralyse bei geeigneter Behandlung oft beobachtet. Das manisch-depressive Irresein verläuft periodisch, in Phasen: Zeiten völliger Gesundheit wechseln mit Zeiten des Krankseins ab. Bei der Schizophrenie sprechen wir schließlich von Schüben: durch einen Krankheitsschub wird eine mehr oder weniger deutliche Niveausenkung hervorgerufen, die nach Remissionen von unbestimmter Dauer durch neue Schübe verstärkt werden kann. I m einzelnen werden wir bei der Darstellung der speziellen gerichtlichen Psychopathologie auf diese Fragen zurückkommen.

2. Der Gutachter und seine

Tätigkeit

Der Arzt, der als psychiatrischer Gutachter tätig sein soll — nur dieser interessiert hier —, muß verschiedene Voraussetzungen erfüllen: einmal muß er das Gebiet, auf dem er Gutachten abgeben soll, also die Psychiatrie, auch wirklich beherrschen. Dieser anscheinend so selbstverständlichen Forderung genügen keineswegs alle Ärzte. Man erlebt in dieser Beziehung immer wieder erstaunliche Dinge. Auf dem Gebiete der Psychiatrie glauben auch vielfach Laien, und zu diesen gehören auch die praktischen Ärzte, sachverständig zu sein. Dabei ist die Ausbildung der Studenten auf der Universität in keiner

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Allgemeines

Weise für eine gutachterliche Tätigkeit ausreichend. Man bemüht sich, den Stoff gedächtnismäßig zu bewältigen, sieht in der klinischen Vorlesung auch Kranke; sobald man aber selbst Geisteskranke untersuchen soll, ist man anfangs doch oft recht ratlos. Das ist mir so ergangen, das ist, wie ich mich habe überzeugen können, auch anderen, anerkannt tüchtigen Ärzten so ergangen. Auch meine Erfahrungen bei Prüfungen im Staatsexamen haben mir bestätigt, daß bestenfalls gut angelerntes Wissen vorhanden war, daß aber von einem wirklich verständnisvollen Eindringen in psychiatrische Probleme keine Rede seinkonnte. Das ist auch garnicht verwunderlich. Psychiatrisches Verständnis erwirbt man sieh erst durch jahrelanges Bemühen an den Kranken selbst. Dabei pflegt man drei Stadien zu durchlaufen: das erste besteht in einer innerlich noch nicht genügend verarbeiteten Stoffaneignung; da glaubt man schon alles zu wissen und zu können. Im zweiten Stadium setzen die Zweifel ein, es erscheint alles so wenig klar, die Grenzen so fließend, die Bilder so wechselvoll, daß man an seinem eigenen Können verzweifeln möchte. Erst im dritten Stadium lernt man diese Schwierigkeiten zu überwinden, sich Klarheit zu verschaffen, wo Klarheit möglich ist, Grenzfälle als solche zu erkennen, sich selbst aber die nötige innere Sicherheit zu erwerben. Der Nichtfachmann bleibt oft im ersten Stadium stecken; er ist dann als Gutachter gefährlich. Mein Bestreben bei der kurzfristigen Ausbildung etwa für das Kreisarztexamen ging deshalb dahin, dieses Stadium zu überwinden und das zweite des Zweifeins zu erreichen. Die zweite Voraussetzung ist, daß der Gutachter sich die juristischen Begriffe zu eigen macht, und daß er lernt, mit diesen zu arbeiten. Das muß in der Form des Gutachtens zu erkennen sein. Die Frage etwa, ob jemand zurechnungsfähig für eine bestimmte Tat sei, zerfällt in vier Einzelfragen: 1. ist die ärztliche Diagnose zu stellen; 2. ist zu untersuchen, wie unter Berücksichtigung der Diagnose der Geisteszustand zur Zeit der Tat war; 3. ist zu fragen, ob dieser Geisteszustand einer der sogenannten biologischen Voraussetzungen (Bewußtseinsstörung, krankhafte Störung der Geistestätigkeit, Geistesschwäche) zuzuordnen ist und 4. ist bejahendenfalls die psychologische Auswirkung dieses Zustandes klarzulegen. In dieser Beziehung lassen auch die fachärztlichen Gutachten noch recht viel zu wünschen übrig; sie behandeln solche Fragen viel zu summarisch.

Ich hatte als Mitglied des gerichtsärztlichen Ausschusses der Provinz Hessen-Nassau Gelegenheit, die in der Provinz erstatteten Entmündigungsgutachten zu sehen; den hier gestellten Forderungen genügten diese Gutachten nur ausnahmsweise, obwohl an ihnen, ärztlich gesehen, nur wenig auszusetzen war. Es ist aber nötig, daß man sich an den Wortlaut und an den Sinn der rechtlichen Vorschriften hält; nur dann kann der Richter wirklich etwas mit dem Gutachten anfangen, nur auf diese Weise werden sich auch Meinungsverschiedenheiten zwischen Richter und Sachverständigem auf ein Mindestmaß reduzieren lassen.

Der Gutachter und seine Tätigkeit

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Drittens muß völlige Objektivität verlangt werden. Daß das ganz gelingt, ist kaum zu erwarten. Niemand kann sich völlig frei machen von Sympathie und Antipathie 1 ); man muß sich aber bemühen, das zu tun. Das ist keineswegs immer leicht. Wir Ärzte sind gewohnt zu helfen; das ist unsere schönste Aufgabe. Wenn wir daher einen uns sympathischen Menschen zu begutachten haben, so laufen wir Gefahr, das Gutachten zu seinen Gunsten zu färben. Helfen soll auch derGutachter, aber nicht dem zu Begutachtenden, sondern dem Richter bei seinem Bestreben, die Wahrheit zu finden u n d danach Recht zu sprechen. Das ist eine Aufgabe, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Gefährdet ist die Objektivität auch bei Privatgutachten. Daher sollte man sich nach Möglichkeit n u r vom Gericht als Gutachter bestellen lassen; sehr mit Recht wird von diesem ein von ihm angefordertes Gutachten dem Parteigutachten vorgezogen. Wird dem Facharzt von privater Seite das Ansinnen gestellt, ein Gutachten zu erstatten, so kann er, eventuell auf dem Wege durch den Anwalt, seine Beauftragung durch das Gericht erreichen. Immer wird das nicht gelingen; namentlich in zivilen Streitigkeiten wird man auch privatgutachterliche Tätigkeit nicht ganz vermeiden können. Wenn man auf seinen Ruf als Gutachter bedacht ist, t u t man jedoch gut, sich zu beschränken. Schließlich ist es erforderlich, daß der Gutachter selbst eine gewisse Freude an seiner Tätigkeit hat. Nur wenn er bereit ist, sich die oft recht große Mühe zu machen, die mit der Begutachtung verbunden ist, kann er wirklich etwas leisten. Das Gutachten soll das Notwendige enthalten, aber keinen überflüssigen Ballast. Es soll zunächst das Material aufzählen, auf das es sich stützt (Akten usw.); bei strafrechtlichen Gutachten soll es eine kurze Darstellung der Tat, bei zivilrechtlichen streitigen Verhandlungen auch eine Wiedergabe der verschiedenen Standpunkte enthalten. Notwendig ist auch die Sammlung aller Hinweise auf den Geisteszustand aus den Akten. Dabei vermeide man, soweit es sich u m unwesentliche Dinge handelt, das wörtliche umständliche Abschreiben aus den Akten. Das Wichtige gehört wörtlich ins Gutachten, aber auch n u r dieses; das Gutachten gewinnt nur dadurch. Es ist selbstverständlich, daß die Gründlichkeit nicht darunter leiden darf. Es sind ferner die eigenen Ermittlungen (Angaben der Angehörigen, Zeugnisse, Beurteilungen durch Arbeitgeber, alte Krankengeschichten), der eigene Befund und die eigenen Beobachtungen anzuführen. F ü r die Beurteilung wichtige Beobachtungen anderer müssen freilich, soweit es sich nicht u m ärztliche Feststellungen handelt, durch Vernehmung der Auskunftspersonen in derHauptverhandlung sichergestellt werden (§250 StPO) 2 ).Schließlich ist !) L A N G E L Ü D D E K E , Zur Psychologie des Psychographierens, Z. f. angew. Psychologie 20, 1922. 2 ) Urteil des BGH, 3. Strafsenat, vom 7. 6. 1956. Hier hatte der Gerichtsarzt die Mutter eines 17jähr. Mädchens, dessen Glaubwürdigkeit zu prüfen war, gehört und

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Allgemeines

die Stellungnahme des zu Begutachtenden zur vorliegenden Frage wichtig. Auch hierbei kann man bei aller Gründlichkeit sich kurz fassen. Es ist nicht erforderlich, den gesamten Körperbefund ins Gutachten aufzunehmen, wenn dieser völlig normal ist; auch weitläufige Intelligenzprüfungen sind überflüssig bei Menschen, deren gute Intelligenz feststeht. Ich halte es für verfehlt, eine besondere Reihenfolge für die Einzelheiten vorzuschreiben; die Ordnung des Materials kann so oder so geschehen. Man sollte sich nach der Art des Materials und nicht nach einem Schema richten. Natürlich muß eine klare Disposition erkennbar sein. Der Materialsammlung folgt das eigentliche Gutachten, das zunächst die rein ärztliche Klärung des Falles bringen und dann auf Grund dieser Klärung die rechtlichen Fragen behandeln soll. Ganz allgemein ist zu sagen: das Gutachten soll keine mit Fachausdrücken gespickte, gelehrte Arbeit sein, sondern eine auch für den Laien lesbare, verständliche, auf ein praktisches Ziel ausgerichtete Darstellung 3 ). Nicht jeder Fall ist völlig zu klären; manchmal bestehen über eine Frage auch wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten. Dann soll man sie dem Richter unterbreiten, soll aber seine eigene Meinung dazu sagen und sie begründen. Auch in zweifelhaften Fällen soll man bei aller Würdigung der Zweifel dem Richter sagen, was man selbst für wahrscheinlich hält. Das schriftliche Gutachten ist, soweit es sich um Strafsachen handelt, etwas vorläufiges, etwas, was dem Richter sagt, wie voraussichtlich die Beurteilung sein wird. In der Regel stimmt das endgültige mündliche Gutachten, das in der Hauptverhandlung erstattet wird, damit überein. Manchmal ist man jedoch auf Grund des Verhaltens des Angeklagten und infolge von Zeugenaussagen gezwungen, sein Gutachten abzuändern. Mit gutem Recht soll daher der Sachverständige von Anfang an der Verhandlung beiwohnen. Auch das mündliche Gutachten muß in seiner Ausdrucksweise dem Verständnis der Richter, insbesondere der Laienrichter angepaßt sein. Man kann nicht einfach genug sprechen, wenn Schöffen oder Geschworene zu richten haben. Aber auch der gelehrte Richter ist dankbar, wenn er nicht mit vielen Fachausdrücken, die er nicht versteht, bombardiert wird. Für die Hauptverhandlung lege man sich eine Disposition zurecht, nicht mehr; innerhalb derselben läßt sich alles Notwendige, auch evtl. Neues, das die Verhandlung ergeben hat, unterbringen. Man spreche frei, kurz und so klar, daß Zweifel an der Meinung des Sachverständigen nicht entstehen. Es ist nicht gleichgültig, ob der Sachverständige selbst unsicher erscheint, oder ob er durch seine eigene, gutbegründete Sicherheit überzeugend wirkt. Ein psychiatrisches Gutachten ist eine geistige Leistung, die Wissen und mancherlei besondere Fähigkeiten voraussetzt, oft mit erheblicher Arbeit und namentlich mit einem hohen Maß von Verantwortung verbunden ist. das Ergebnis in seinem Gutachten verwertet. Der Umstand, daß die Mutter in der Hauptverhandlung nicht gehört war, ist als Revisionsgrund anerkannt. 3 ) Ähnlich Grüble in Gutachtentechnik. Springer, 1955, S. 58.

Der Gutachter und seine Tätigkeit

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Die ärztliche Standeswürde verlangt daher eine angemessene Entlohnung. Auch wenn man berücksichtigt, daß der Sachverständige, namentlich der beamtete Arzt, staatliche Aufgaben zu verrichten hat, war die Bezahlung oft genug unwürdig 4 ). Der § 84 StPO sagt dazu: Der Sachverständige hat nach Maßgabe der Gebührenordnung Anspruch auf Entschädigung für Zeitversäumnis, auf Erstattung der ihm verursachten Kosten und außerdem auf angemessene Vergütung für seine Mühewaltung 6 ). Maßgebend dafür ist jetzt das „Gesetz zur Änderung und Ergänzung kostenrechtlicher Vorschriften" v o m 26. Juli 1957, in d e m der Artikel V I I die „Entschädigimg v o n Zeugen und Sachverständigen" behandelt (Bundesgesetzblatt 1957 Teil I, S. 902). D a s Gesetz ist neu, so daß sich noch keine bestimmten Gewohnheiten bilden konnten. Nur darauf sei hier hingewiesen, daß jedes psychiatrische Gutachten besondere fachliche Kenntnisse erfordert, daß daher eine Entschädigung von DM 5,— für jede Stunde in keiner Weise mehr angemessen erscheint 6 ). Die für den Psychiater wichtigsten Bestimmungen der Strafprozeßordnung mögen hier kurz angeführt werden 7 ). § 73. (1) Die Auswahl der zuzuziehenden Sachverständigen und die Bestimmung ihrer Anzahl erfolgt durch den Richter. (2) Sind für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige öffentlich bestellt, so sollen andere Personen nur dann gewählt werden, wenn besondere Umstände es fordern. § 74. (1) Ein Sachverständiger kann aus denselben Gründen, die zur Ablehnung eines Richters berechtigen, abgelehnt werden. Ein Ablehnungsgrund kann jedoch nicht daraus entnommen werden, daß der Sachverständige als Zeuge vernommen worden ist. (2) Das Ablehnungsrecht steht der Staatsanwaltschaft, dem Privatkläger und dem Beschuldigten zu. Die ernannten Sachverständigen sind den zur Ablehnung Berechtigten namhaft zu machen, wenn nicht besondere Umstände entgegenstehen. (3) Der Ablehnungsgrund ist glaubhaft zu machen; der Eid ist als Mittel der Glaubhaftmachung ausgeschlossen. § 75. (1) Der zum Sachverständigen Ernannte hat der Ernennung Folge zu leisten, wenn er zur Erstattung von Gutachten der erforderlichen Art öffentlich bestellt ist, oder wenn er die Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung der Begutachtung ist, öffentlich zum Erwerb ausübt, oder wenn er zu ihrer Ausübung öffentlich bestellt oder ermächtigt ist. (2) Zur Erstattung des Gutachtens ist auch der verpflichtet, welcher sich hierzu vor Gericht bereit erklärt hat. § 76. (1) Dieselben Gründe, die einen Zeugen berechtigen, das Zeugnis zu verweigern, berechtigen einen Sachverständigen zur Verweigerung des Gutachtens. Auch aus anderen Gründen kann ein Sachverständiger von der Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens entbunden werden 8 ). 4 ) Vor Jahren erhielt ich für ein schwieriges Gutachten einen Stundenlohn von RM 0,50, während mein Schreiber RM 2,— erhielt. 5 ) Ebenso § 67 der mitteldeutschen StPO. e ) Dazu Meyer-Höver, Gesetz über die Entschädigung von Zeugen und Sachverständigen. II. Auflage. 7 ) Die mitteldeutschen Bestimmungen, S. 177. 8 ) Über das Recht der Zeugnisverweigerung s. S. 158 u. 178.

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Allgemeines

(2) Für die Vernehmung von Richtern, Beamten und anderen Personen des öffentlichen Dienstes gelten die besonderen beamtenrechtlichen Vorschriften . . . § 77. Im Falle des Nichterscheinens oder der Weigerung eines zur Erstattung des Gutachtens verpflichteten Sachverständigen wird dieser zum Ersatz der Kosten und zu einer Ordnungsstrafe in Geld verurteilt. Im Falle wiederholten Ungehorsams kann neben der Verurteilung in die Kosten noch einmal auf eine Ordnungsstrafe erkannt werden. § 79. (1) Der Sachverständige kann nach dem Ermessen des Gerichts vereidigt werden. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft, des Angeklagten oder des Verteidigers ist er zu vereidigen. (2) Der Eid ist nach Erstattung des Gutachtens zu leisten; er geht dahin, daß der Sachverständige das Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen erstattet habe. (3) Ist der Sachverständige für die Erstattung von Gutachten der betreffenden Art im allgemeinen vereidigt, so genügt die Berufung auf den geleisteten Eid. § 80. (1) Dem Sachverständigen kann auf sein Verlangen zur Vorbereitung des Gutachtens durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten weitere Aufklärung verschafft werden. (2) Zu demselben Zweck kann ihm gestattet werden, die Akten einzusehen, der Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten beizuwohnen und an sie unmittelbar Fragen zu stellen. § 82. Im Vorverfahren hängt es von der Anordnung des Richters ab, ob die Sachverständigen ihr Gutachten schriftlich oder mündlich zu erstatten haben. § 83. (1) Der Richter kann eine neue Begutachtung durch dieselben oder durch andere Sachverständige anordnen, wenn er das Gutachten für ungenügend erachtet. (2) Der Richter kann die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen anordnen, wenn ein Sachverständiger nach Erstattung des Gutachtens mit Erfolg abgelehnt ist. (3) In wichtigeren Fällen kann das Gutachten einer Fachbehörde eingeholt werden. § 85. Soweit zum Beweis vergangener Tatsachen oder Zustände, zu deren Wahrnehmung eine besondere Sachkunde erforderlich war, sachkundige Personen zu vernehmen sind, gelten die Vorschriften über den Zeugenbeweis. Diese Bestimmungen bedürfen k a u m einer besonderen Erläuterung. D i e Frage, wieweit die ärztliche Schweigepflicht zur Verweigerung einer Aussage oder der Gutachtenerstattung berechtigt u n d evtl. verpflichtet, soll später (S. 159) besprochen werden. Nur z u m § 85 ein kurzer Hinweis! Gelegentlich wird der Arzt als sachverständiger Zeuge geladen. Seine Aussage ist dann aber regelmäßig zugleich ein Gutachten, soll der Richter mit der Aussage etwas anfangen können. Daher sollte er darauf dringen, als Sachverständiger gehört zu werden. D a s scheint früher manchmal auf Widerstand gestoßen zu sein. Ich habe es ausnahmslos ohne Schwierigkeiten erreicht.

B. D A S

STRAFRECHT

1. Die Zurechnungsfähigkeit

der geistig

Abnormen

Bis zum Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts herrschten in Deutschland fast ausschließlich die sogenannten absoluten Strafrechtstheorien, die die Strafe unter dem Einfluß der idealistischen, insbesondere der H E G E L sehen Philosophie metaphysich zu rechtfertigen suchten. Art und Maß der Strafe sollte sich nach der Schwere der begangenen Straftat und der Schuld richten. Sinn der Strafe war die Vergeltung. Erst durch I H E R I N G und v. L I S Z T ist der schon von A N S E L M VON F E U E R B A C H vertretene Zweckgedanke wieder in den Vordergrund getreten (sog. relative Theorien). Innerhalb der Zweckmäßigkeitserwägungen ging der Streit um Generalprävention und Spezialprävention. „Generalpräventiv" soll die Strafe auf die Gesamtheit der unter einem bestimmten Recht lebenden Menschen wirken; sie soll abschrecken: der einzelne wird gestraft, damit die anderen an den Ernst der Strafandrohung glauben. „Spezialpräventiv" soll dagegen die Strafe auf den einzelnen, den Täter, wirken und ihn von der Begehung weiterer Straftaten abhalten, indem man ihn entweder durch die Strafe erzieht, oder, wenn er nicht besserungsfähig ist, durch sichernde Maßnahmen aus der Gemeinschaft ausschließt. Der Streit zwischen den verschiedenen Richtungen ist durch das „Oesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung" vom 24. XI. 1933 (GgG) im Sinne der sogenannten „Zweispurigkeit der Sanktionen" entschieden worden: die Strafe wird vornehmlich nach der Schwere der Tat und der Schuld bemessen; neben die Vergeltung aber treten Maßnahmen der Sicherung und Besserung, wenn die Strafe allein dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit nicht genügt. In neuerer Zeit ist infolge der Erfahrungen der letzten Jahrzehiite der Zweckgedanke wieder etwas zurückgetreten: Die Strafe muß Rechtfertigung und Ziel aus dem Bereich des Ethos gewinnen; der Kern eines solchen Strafrechts ist das Schuldprinzip. Ob im zukünftigen Strafrecht die Zweispurigkeit erhalten bleiben wird, ist noch nicht sicher zu übersehen. Die Strafrechtskommission, die zur Zeit eine Strafrechtsreform vorbereitet, hat sich auf folgenden Standpunkt geeinigt: „DieStrafe soll der Schuld des Täters gerecht entsprechen. In diesemRahmen dient sie dazu, den Täter in die Gemeinschaft wieder einzugliedern, Straftaten zu verhüten und die Allgemeinheit vordem gefährlichen Täter zu schützen"1). ZStW 66, 1954, S. 572. Im jetzt vorliegenden Entwurf des allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuches ist die Zweispurigkeit beibehalten. S. S. 167.

Das Strafrecht

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Grundsätzlich gilt: Keine Strafe ohne Schuld. E s gibt nun mehrere Gründe, welche die Strafe ausschließen oder mildern; sie sind in den § 51—59 StGB, zusammengefaßt. In Stichworten ausgedrückt handelt es sich u m Taten, zu denen der Betreffende durch unwiderstehliche Gewalt oder durch Drohung mit Gefahr für Leib und Leben für sich oder seine Angehörigen genötigt war (§52), u m Notwehr (§53), u m Taten, die zur Beseitigung einer Gefahr für Leib und Leben aus einem unverschuldeten und anders nicht zu beseitigendem N o t s t a n d e begangen wurden (§ 54) u n d u m entschuldbaren Irrtum (§ 59). Weiter aber ist Voraussetzung für ein schuldhaftes Verhalten die Schuldfähigkeit (Zurechnungsfähigkeit) des Täters. Wer zur Zeit der Tat nicht schuldfähig (zurechnungsfähig) ist, ist nicht strafbar. Die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit ist nun zweifellos die wichtigste u n d praktisch bedeutsamste der gerichtlichen Psychiatrie. E s lohnt daher, einen kurzen Blick auf die Entwicklung dieses Begriffes zu werfen 2 ). Im römischen Recht trat Straffreiheit ein, wenn Unfähigkeit zu schuldhaftem Handeln (doli incapacitas) vorlag. Das geschah bei Geisteskrankheiten, von denen drei Arten, furor, mentacaptio und melancholia unterschieden wurden, und bei Kindern bis zum 7. Lebensjahre. Kinder vom 7. bis 14. Lebensjahre wurden bestraft, wenn sie die erforderliche Einsicht besaßen. Das kanonische Recht stimmt damit weitgehend überein. Die „peinliche Gerichtsordnung" Karls V. von 1532 sieht für Kinder bis zu 14 Jahren Straffreiheit oder mildere Bestrafung vor, doch war in besonders schweren Fällen sogar die Todesstrafe zulässig. Straffrei blieb ferner der Geistesgestörte, „der wissentlich seyner Sinne nit hätt". Es fehlt hier aber noch an einer einheitlichen Zusammenfassung der Zustände, die Zurechnungsunfähigkeit bedingen. Auch CARPZOW ist eine solche Zusammenfassung noch nicht geglückt. Er zählt, in seinem Werke 3 ) überall verstreut, die einzelnen Zustände von Zurechnungsunfähigkeit auf. Er unterscheidet als Geisteskrankheiten den furor, die dementia und die melancholia. Bei der Beurteilung kommt es ihm vorwiegend auf das Fehlen des bewußten verbrecherischen Willens an. In der Folgezeit werden nur langsam gewisse Fortschritte erzielt; noch wird die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit gelegentlich abhängig gemacht von der Schwere und dem Erfolg der begangenen Tat, z. B. von QUISTOBP4). KOCH6) ordnet die Fälle verminderter Zurechnungsfähigkeit der Fahrlässigkeit (culpa) zu. Im österreichischen Strafgesetz von 1768 werden zwar auch noch einzelne Zustände der Zurechnungsunfähigkeit aufgezählt, doch ist insofern ein Fortschritt unverkennbar, als wenigstens die Tendenz zur Zusammenfassung dieser Zustände hervortritt. Es heißt hier: „Eines Verbrechens können sich all und jede ohne Unterschied des Standes und des Geschlechtes schuldig machen, welche des Gebrauchs ihrer Vernunft und freien Willen haben. Dahingegen jene, welchen es an einem oder anderem mangelt, eines Verbrechens unfähig sind." Im einzelnen bleibt das jugendliche Alter bis zu 12 Jahren straffrei, bis zu 16 Jahren kann mildere Bestrafung erfolgen. Es wird auch praktisch ein Unterschied zwischen voller Zurechnungsunfähigkeit — bei „gänz2 ) Näheres darüber bringt BREHM, PS. neur. Wschr. 43, 1941, S. 251 ff. und LÜBBERS, Die Geschichte der Zurechnungsfähigkeit von Carpzow bis zur Gegenwart. Strafr. Abhandl. Bd. 385. Breslau 1938. 8 ) Practica nova imperialis Saxoniae rerum criminalium. Wittenberg 1665 (zit.

n a c h BREHM, 1. c.). 4

) Grundsätze des deutschen peinlichen Rechtes, Leipzig 1783. ) Institutiones juris criminalis, Jena 1783.

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Die Zurechnungsfähigkeit der geistig Abnormen

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licher Gemütsverrückung", bei den Toll- und Unsinnigen — und den vermindert Zurechnungsfähigen gemacht. Mit der Aufklärungszeit setzt dann der Streit über die Frage der Willensfreiheit ein. Ist unser Wille nicht frei, handeln wir, wie wir nach bestimmten uns innewohnenden Gesetzmäßigkeiten handeln müssen, so kann nicht mehr von Schuld die Rede sein, und ebensowenig wäre es dann möglich, „Vergeltung" und damit Strafe zu fordern. Damit würde schließlich auch der Begriff der Zurechnungsfähigkeit überflüssig werden. „Unsere Gesellschaftsordnung steht und fällt" wie S C H R Ö D E R sagt, „mit dem festen Glauben an die Willensfreiheit eines jeden, der nicht notorisch geisteskrank oder schwer geistesschwach ist . . . daran rütteln wollen in dem Sinne des Determinismus heißt gleichzeitig eine ganz neue Ordnung der Dinge fordern" 6 ). In der Tat würde in einem auf dem Boden des Determinismus erwachsenen Strafrecht kein Baum mehr für eine Strafe sein. Reine Zweckmäßigkeitserwägungen müßten es beherrschen. Ein derartiges Recht — schon die Bezeichnung „Strafrecht" wäre dafür verfehlt — ist bisher nur in Rußland konsequent durchgeführt. In Deutschland hat A N S E L M VON F E U E R B A O H erstmalig den Zweckgedanken in die strafrechtliche Betrachtungsweise eingeführt. Als Anhänger des Determinismus lehnte er folgerichtig die ethische Beurteilung des menschlichen Handelns ab. Mit der Strafandrohung verfolgte er den Zweck, abzuschrecken. Er definiert Zurechnungsfähigkeit als die „Gemütseigenschaft des Übeltäters, vermöge welcher für den vorliegenden Fall der Übertretung in ihm die psychologische Möglichkeit der Wirksamkeit des Strafgesetzes begründet war". Mit anderen Worten war für ihn Zurechnungsunfähigkeit gleichbedeutend mit der Unfähigkeit, sich durch Strafandrohung abschrecken zu lassen. Er war daher auch der Meinung, daß bei geistig Minderwertigen, die nicht ganz zurechnungsunfähig seien, das Strafmaß erhöht werden müsse, um den gewünschten Abschreckungserfolg zu erzielen 7 ). JARKE8) hat dann zum ersten Male die Zustände der Zurechnungsunfähigkeit auf den gemeinsamen Nenner des „Mangels an Willensfreiheit" gebracht. Das Fehlen der Willensfreiheit ist später, bis in die neueste Zeit hinein, für die Zurechnungsunfähigkeit ein sehr wesentliches Kriterium gewesen. Freilich sind schon früher modernere Formulierungen erkennbar; so heißt es z. B. im Entwurf zum preußischen Strafgesetzbuch von 1833: „Nur dem kann eine Handlung als Verbrechen zugerechnet werden, welcher die Rechtswidrigkeit derselben einzusehen und die Handlung zu unterlassen imstande war." Offenbar unter dem Einfluß HEGELscher Philosophie ist dann unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen, die sich gegen die ursprünglich rein psychologische Fassung des Entwurfs wandte, der § 51 des Strafgesetzbuches von 1871 entstanden, der bis zum Jahre 1933 gültig geblieben ist. Er hatte folgenden Wortlaut: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war."

Sicherlich, hatte diese Passung mancherlei Mängel. Dennoch ließ sich, wie mit Recht betont, damit arbeiten, wenn Richter und Sachverständige einsichtsvoll waren. Ich habe in einer recht umfangreichen Sachverständigentätigkeit kaum einmal Schwierigkeiten damit gehabt. ASOHAPFENBUEG

•) Mo.Krim. 25, 1934, S. 111. ') Dazu: F E T J E R B A C H , Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts. 1 8 0 5 ; G R Ü N H U T , Anselm von Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung. 1 9 2 2 ; B U C H E R B E R G E R , Der Zweckgedanke in Anselm von Feuerbachs Lehre von der Zurechnungsfähigkeit. Breslau 1932. 8 ) Lehrbuch des gemeinen Deutschen Strafrechts. 1827.

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Das Strafrecht

In seiner neuen, am 1.1. 1934 in Kraft getretenen und heute noch gültigen Fassung, die wesentliche Änderungen gebracht hat, lautet der § 51 nunmehr folgendermaßen9): (1) Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. (2) War die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe erheblich vermindert, so kann die Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs gemildert werden.

Gegenüber der früheren Fassung sind mehrere Abweichungen vorhanden: statt der früheren „Bewußtlosigkeit" heißt es jetzt „Bewußtseinsstörung"; als dritte Möglichkeit der Zurechnungsunfähigkeit ist die „Geistesschwäche" hinzugekommen, die sehr anfechtbare „freie Willensbestimmung" ist durch die Einsichts- und Handlungsfähigkeit ersetzt und schließlich ist im zweiten Absatz die verminderte Zurechnungsfähigkeit als etwas Neues hinzugetreten. Darauf wird noch einzugehen sein10). Ganz ideal ist die jetzige Fassung noch nicht; zu beanstanden war zunächst noch der Anfang: „eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden". Das führte nämlich dahin, daß der Anstifter eines Verbrechens, der sich einer zurechnungsunfähigen Person bediente, und der Gehilfe straffrei blieben. Das Reichsgericht hat sich früher eindeutig in dieser Richtung ausgesprochen11): „In keinem Falle kann aber eine Verurteilung des Gehilfen eintreten, wenn gegen den Haupttäter... Schuldausschließungsgründe als vorliegend erachtet sind." In der Tat habe ich selbst einmal einen solchen Fall erlebt, und noch 1934 hat ASCHAFFENBUKQ auf solche Möglichkeiten hingewiesen12). Man hat sich zwar bemüht, diesen unbefriedigenden Zustand zu umgehen; insbesondere bot die inzwischen wieder aufgehobene sog. Analogienovelle eine Handhabe in dieser Richtung; doch behielten diese Bemühungen immer etwas Gezwungenes. Dieser Übelstand ist erst durch die sogenannte Straf rechtsangleichungsverordnung vom29.V. 1943 und die Durchführungsbestimmungen hierzu vom gleichen Tage abgestellt worden. Nach der Neufassung der §§ 48—50 StGB kann der Anstifter und der Gehilfe, der einen anderen zu einer „mit Strafe bedrohten Handlung" bestimmt bzw. ihm dabei behilflich ist, nunmehr auch dann bestraft werden, wenn es sich um die Tat eines Zurechnungsunfähigen handelt; es liegt dann zwar keine strafbare, 9

) In Mitteldeutschland im Wortlaut ebenso. S. S. 175. ) Einen Überblick über die neuere Literatur darüber hat LEFERENZ, Fortschr. 22, 1954, S. 369 gegeben; hingewiesen sei weiter auf MEZOER, Kriminalbiologisohe Gegenwartsfragen Heft 1, 1953, S. 71 und GRUHLE ebendort, S. 84. ») JW 1905, S. 547. 10

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) I n HOCHE I I I , S. 9.

Die Zurechnungsfähigkeit der geistig Abnormen

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wohl aber eine mit Strafe bedrohte Handlung vor. § 50 StGB bestimmt dazu noch: (1) Sind mehrere an einer Tat beteiligt, so ist jeder ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen nach seiner Schuld strafbar. (2) Bestimmt das Gesetz, daß besondere persönliche Eigenschaften oder Verhältnisse die Strafe schärfen, mildern oder ausschließen, so gilt dies nur für den Täter oder Teilnehmer, bei dem sie vorliegen13).

Trotz dieser klaren Regelung wird es gut sein, auch dem § 51 StGB, einen Wortlaut zu geben, der jeden Irrtum in dieser Beziehung ausschließt. Die deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde hat neuerdings folgenden Wortlaut vorgeschlagen: „Nicht zurechnungsfähig ist, wer zur Zeit der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung oder wegen einer Bewußtseinsstörung unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln."

Damit würde die Gefahr, daß der Anstifter oder Gehilfe straffrei bliebe, weil der Täter zurechnungsunfähig war, beseitigt sein14). Die jetzige Formulierung des § 51 StGB folgt der sogenannten gemischten, biologisch-psychologischen Methode, d. h. es müssen zunächst bestimmte biologische Zustände, nämlich Bewußtseinsstörung, krankhafte Störung der Geistestätigkeit oder Geistesschwäche vorliegen 16 ). Danach ist weiter zu fragen, ob durch einen dieser Zustände bestimmte psychologische Voraussetzungen erfüllt sind. Erst dann gilt die Zurechnungsfähigkeit als aufgehoben oder erheblich vermindert. Handelt es sich also etwa um einen Täter, der zwar willensschwach ist, dessen Willensschwäche aber auf einer noch nicht als krank zu wertenden Charakteranlage beruht, so besteht für ihn nicht die Möglichkeit der Exkulpierung. Jedes Gutachten, das sich über die Zurechnungsfähigkeit aussprechen soll, hat daher verschiedene Fragen zu beantworten. Ich wiederhole sie hier noch einmal kurz 16 ): Zunächst ist der jetzige Geisteszustand des Täters festzustellen, dann der Geisteszustand zur Zeit der Tat. Weiter ist zu erörtern, ob dieser Zustand sich einem der drei genannten biologischen Zustände zuordnen läßt, und es hat schließlich, wenn das zutrifft, sich darüber auszulassen, wieweit durch solchen Zustand die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, beeinträchtigt war. Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, ist das Gutachten als ausreichend anzusehen 17 ). ls ) In Mitteldeutschland ist nur der § 49a etwas anders gefaßt; für die psychiatrische Beurteilung hat das keine Bedeutung. 14 ) Auf den weiteren Wortlaut dieses Vorschlags werde ich später noch zurückkommen. 16 ) Dazu ist freilich zu bemerken, daß schon dabei Psychologisches mitspielt. 16 ) S. S. 8. 17 ) Die weltanschauliche und nicht exakt zu beantwortende Frage, ob der Wille frei sei, ob man daher überhaupt von Schuld, Verantwortlichkeit, Zurechnungsfähigkeit sprechen kann, muß dabei außer Betracht bleiben. Vgl. dazu L E F E R E N Z , Die rechtsphilosophischen Grundlagen des § 51 StGB in NA 19, 1948, S. 364ff.

2 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Das Strafrecht

Manche Autoren sind der Meinung, daß die Beantwortung der psychologischen Fragen dem Richter überlassen bleiben müsse, daß der Gutachter sich nur darüber zu äußern habe, ob und wieweit die Tathandlung durch psychopathologische Krankheitssymptome beeinflußt werde18). Demgegenüber halte ich es für die Aufgabe des Sachverständigen, daß er seiner Meinung auch über die Zurechnungsfähigkeit klar Ausdruck gibt. Diese Auffassung wird auch von A S C H A F F E N B T J R G 1 9 ) und von FRANK 20 ), neuerdings auch vom Leipziger Kommentar21) vertreten. Abgesehen von formalen Gründen — der § 51 ist ein einheitliches Ganzes und zerfällt nicht in zwei Teile — sprechen gewichtige praktische Erwägungen für diese Auffassung: Der Richter ist nach oft betonter Meinung schon auf dem Gebiete der normalen Psychologie, erst recht aber, wenn es sich um psychopathologische Fragen handelt, Laie22). Er hat auch gar nicht die Möglichkeit, in einer kurzen Verhandlung, in der er den Täter meistens zum ersten Male, und zwar in einer ganz besonderen Situation sieht, sich wirklich ein zutreffendes Bild von der Persönlichkeit des Täters zu machen. Es gibt gewisse Fälle, die zu beurteilen dem Sachverständigen leicht werden; es gibt aber auch andere Fälle, über die sich auch der Sachverständige erst nach intensiver Beschäftigung mit dem Täter und erst nach Überwindung von mancherlei Zweifeln klar wird. Wie soll man das dem Richter so mundgerecht machen, daß keine Mißverständnisse vorkommen, daß er wirklich in jedem Falle die Meinung des Sachverständigen richtig erkennt ? Ich halte das auch bei beiderseitigem bestem Willen nicht für möglich. Nach meinen Erfahrungen, die in einer mehrere Jahrzehnte umfassenden Gutachtertätigkeit erworben sind, hat der Richter auch geradezu das Bedürfnis, die Ansicht des Sachverständigen über die Frage der Zurechnungsfähigkeit zu erfahren. Er will viel eher Auskunft über Fragen vom Gutachter haben, die dessen Kompetenzen überschreiten, als umgekehrt dessen Zuständigkeit einengen23). Ich bin jedenfalls, obwohl ich stets die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit beantwortet habe, niemals „in meine Schranken" zurückgewiesen worden, und ich glaube, daß der Sache so am besten gedient ist24). Die letzte Entscheidung trägt in jedem Falle der Richter, der sich über den Einzelfall seine eigene Meinung bilden muß. Er hat das Gutachten auf seine Überzeugungskraft zu prüfen und trägt Sicher ist, worauf WÜRTENBERGER, JZ 1954, S. 209 ff. hinweist, daß Werte wie Verantwortlichkeit, Schuld, Vergeltung in einer historisch gewordenen Kulturgemeinschaft existieren und berücksichtigt werden müssen. 18 ) So etwa DE CRINIS, Gerichtliche Psychiatrie. Berlin 1943, S. 228. 19

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) HOCHE I I I , S . 8 .

) Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich. 18. Aufl. 1931. VII, S. 150. ) LK IV, Nr. 11 zu § 51, S. 279. 22 ) S . WILMANNS, Die sogenannte verminderte Zurechnungsfähigkeit. Berlin 1 9 2 7 . 23 ) So bin ich früher wiederholt bei Tötungsdelikten nach der „Überlegung" gefragt worden, und auch bei der neuen Fassung des § 211 StGB spielte gelegentlich diese Frage nach den Motiven eine Rolle. 24 ) Ebenso K. SCHNEIDER, Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart 1953, S. 17. 21

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die letzte Verantwortung26). Der Sachverständige ist lediglich sein Gehilfe. Freilich: Je größer das Vertrauen des Gerichts zu seinem Gutachter ist, je mehr es aus diesem Vertrauen heraus bereit ist, dem Sachverständigen zu folgen, desto größer wird auch dessen Verantwortung. Sie ist in klaren Fällen, in denen Zweifel irgendwelcher Art nicht bestehen, leicht zu tragen. Handelt es sich aber um schwierige Fragen, bei denen Zweifel auftauchen, so ist die Verantwortung groß; den Sachverständigen, der sich dieser Verantwortung bewußt ist, beschäftigen solche Fälle noch im Schlaf. a) Der G e i s t e s z u s t a n d zur Z e i t der T a t Der Gutachter soll sich über den Geisteszustand zur Zeit der Tat äußern. Das ist nicht immer leicht. Fast ausnahmslos liegt die Untersuchung des Täters ja viel später als die Tat selbst. In der Regel liegen zwischen ihr und dem Zeitpunkt der Untersuchung Monate, manchmal sogar ein ganzes Jahr und mehr. Es ist selbstverständlich, daß wir bei der Untersuchung zunächst den Geisteszustand zu diesem Zeitpunkt feststellen. Dann aber haben wir zu prüfen, ob der Geisteszustand zur Zeit der Tat ebenso, ähnlich oder ganz anders war. So kann es vorkommen, daß eine manische Phase, ein schizophrener Schub, ein epileptischer Dämmerzustand, ein pathologischer Rauschzustand oder anderes mehr zur Zeit der Tat bestanden hat, zur Zeit der Untersuchung jedoch abgeklungen ist. Umgekehrt kann zur Zeit der Untersuchung eine geistige Störung vorhanden sein, etwa eine Haftpsychose, die zur Zeit der Tat noch nicht bestand. In manchen Fällen geben schon die Akten, die man nicht genau genug lesen kann, die nötigen Hinweise. Dabei kann nicht eindringlich genug empfohlen werden, sich nicht auf die laufenden Strafakten zu beschränken, sondern alle irgendwie greifbaren Akten heranzuziehen. Wenn aus den Akten sich ein ausreichendes Bild über den Geisteszustand zur Tatzeit nicht gewinnen läßt, muß man versuchen, aus Mitteilungen von Angehörigen, Bekannten, Amtspersonen (Pfarrer, Lehrer, Bürgermeister) in Verbindung mit den eigenen Angaben des Beschuldigten Anhaltspunkte für die Beurteilung des Geisteszustandes zur Zeit der Tat zu erhalten. Man muß zu diesem Zwecke freilich auch entsprechend eingehende und dem Einzelfall angepaßte Fragen stellen. Dem Laien fällt vielfach das einfache Beschreiben dessen, was er beobachtet hat, ziemlich schwer. Er versucht die von ihm beobachteten Erscheinungen zu deuten, ohne sie im einzelnen zu beschreiben. Damit ist dem Gutachter aber nicht gedient; ihm kommt es auf das wirklich Beobachtete an; er muß Wert legen auf die einfache Beschreibung von Handlungen, Äußerungen und Verhaltensweisen. Die Beurteilung des Beobachteten ist Aufgabe des Sachverständigen. Auch dabei versagt der Laie oft in erstaunlicher Weise: so habe ich es erlebt, daß ein Pfarrer mir einen recht guten Bericht über einen Angeklagten gab, in dem er die Symptome einer Schizophrenie — Beeinträchtigungs-, Verfolgungsideen und Sinnestäuschun26

) D a z u HÜLLE, JZ 1952, S. 296.

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gen — beschrieb; er hielt diese Symptome aber keineswegs für krankhaft. Lehrer geben oft Auskunft über Begabung und Schulleistungen, übersehen dabei aber nicht selten, daß andere Seiten der Persönlichkeit vielleicht viel wichtiger sind. Am besten wäre es natürlich, wenn der Gutachter mit den Auskunftspersonen selbst sprechen könnte. I n wichtigen Fällen, d. h. da, wo die Angaben eines Gewährsmannes von vielleicht ausschlaggebender Bedeutung sind, halte ich es sogar für geboten. I n solchen Fällen t u t man gut, die richterliche Vernehmung des Betreffenden unter Hinzuziehung des Sachverständigen zu beantragen. I n anderen Fällen kann man die Auskunftsperson durch einen Richter vernehmen lassen. In der Regel wird es genügen, sich schriftlich oder mündlich Fragen beantworten zu lassen. Dazu drängen schon praktische Erwägungen: Wenn nämlich mehrere weit auseinander wohnende Personen zu vernehmen sind, so erfordern die richterlichen Vernehmungen viel Zeit, und das Verfahren würde sehr verzögert werden. Schließlich sprechen sich Angehörige dem Arzt unter vier Augen leichter und offener aus als vor dem Richter. Da solche Auskünfte in der Hauptverhandlung nicht gewertet werden dürfen (S. 9), müssen wichtige Gewährsmänner unter Umständen als Zeugen geladen werden. b) D i e b i o l o g i s c h e n V o r a u s s e t z u n g e n . Die Bewußtseinsstörung Der Begriff „Bewußtseinsstörung" 26 ) ist an die Stelle des früheren unzweckmäßigen der „Bewußtlosigkeit" getreten. Wer bewußtlos ist, kann natürlich nicht handeln, kann daher auch keine kriminelle Handlung begehen. Tatsächlich ist mit dem Wechsel des Ausdrucks praktisch aber keine sachliche Änderung eingetreten, da „Bewußtlosigkeit" stets als „Bewußtseinstrübung" aufgefaßt worden ist. Was „Bewußtsein" eigentlich ist, läßt sich nicht definieren. Wir verstehen darunter einen Zustand, in dem wir einerseits das, was um uns herum ist (Gegenstandsbewußtsein), andererseits uns selbst (Selbstbewußtsein) irgendwie erleben. Die Art dieses Erlebens ist nicht gleichmäßig; sie wechselt von Mensch zu Mensch, sie ändert sich bei demselben Menschen von Augenblick zu Augenblick. Alles Erleben kann man nach seiner Intensität auf einer Skala anordnen, an deren einem Pol die höchstmögliche Bewußtheit liegt, deren anderer Pol von tiefster Bewußtlosigkeit gebildet wird.TAUSSiö27) spricht von Bewußtsein als „demjenigen normalen, näher nicht definierbaren inneren Zustand, in dem wir ungestört in der für uns üblichen Weise perzipieren und apperzipieren, was um uns herum und in uns vorgeht". Aber auch innerhalb dieses ungestörten Bewußtseins ist der jeweilige Zustand nicht der gleiche: Der Bewußtseinszustand eines 10jährigen Jungen, der mit stets 26 ) Näheres bei JAHRREISS in B U M K E S Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. I . Berlin 1928. B A S H , Lehrbuch der allgemeinen Psychopathologie. Stuttgart 1955. DESTTJNIS, Einführung in die medizinische Psychologie, Walter de Gruyter & Co., Berlin 1955. KRETSCHMER, Medizinische Psychologie. Stuttgart 1956. 27 ) Referat im Zb. Neur. 63, 1932, S. 353.

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wacher Aufmerksamkeit alles beobachtet,was in seinen Gesichtskreis kommt, ist ein ganz anderer als der etwa eines Gelehrten, der intensiv irgendeinem Problem nachsinnt und infolgedessen auch wichtige Ereignisse in seiner Umgebung nicht bemerkt. Man denke nur an das berühmte Beispiel des Archimedes, der die Eroberung seiner Vaterstadt Syrakus nicht bemerkte, weil er mit seinen Ideen beschäftigt war. In dem, was wir wahrnehmen, treffen wir schon eine Auswahl, und das Wahrgenommene unterliegt einer gewissen Rangordnung, die sich aus der uns innewohnenden Denkrichtung ergibt. Wir können dabei mit GRUHLE28) von einer bestimmten Klarheit und Helligkeit sprechen, mit der wir Vorgänge wahrnehmen, wobei unter „Klarheit" die Möglichkeit verstanden werden soll, den wahrgenommenen Inhalt so klar zur Verfügung zu haben, wie es die jeweilige äußere Situation erlaubt, während „Helligkeit" die Intensität ausdrückt, mit der der Wahrnehmende auf das Wahrgenommene gerichtet ist. Dabei muß weiter die innere Kontinuität des Erlebten erhalten sein, es muß außerdem die Möglichkeit bestehen, nach eigenem Ermessen sich so einzustellen, wie man will, es muß also „Selbstbeherrschung im Sinne subjektiver Freiheit" vorhanden sein. Dazu kommt der Ichgehalt der Bewußtseinsvorgänge, das heißt das Gefühl, daß ich, nicht ein anderer es ist, der wahrnimmt, erlebt, und schließlich das Selbstbewußtsein, das heißt die Möglichkeit, den Wahrnehmungsprozeß auf das eigene Ich zu richten. Jede dieser Seiten kann unabhängig von den andern für sich gestört sein. So sind die Klarheit und Helligkeit des Bewußtseins mehr oder weniger stark herabgesetzt in der Müdigkeit, bei vielen körperlichen Erkrankungen, im Schlaf, in deliranten Zuständen. Die Kontinuität ist (bei manchmal erhaltener Klarheit und Helligkeit) in Dämmerzuständen unterbrochen, und zu Störungen des Freiheitsgefühls kann es bei Handlungen kommen, die aus uralten Instinkten oder aus allmählich erworbenen Automatismen heraus entstehen, Handlungen, von denen wir sagen, wir hätten sie imbewußt, d. h. unabsichtlich, ungewollt begangen 29 ). Schwierig ist es oft genug, den Grad der Bewußtseinsstörung richtig einzuschätzen. Von der leichten Müdigkeit bis zum tiefen traumlosen Schlaf, vom Angetrunkensein bis zum sinnlosen Rausch, von der leichten Benommenheit bis zur völligen Bewußtlosigkeit gibt es Übergänge, bei denen die Beeinträchtigung des Klarheits- und Helligkeitsgrades nicht sicher abzuschätzen ist. In solchen Fällen werden sich Meinungsverschiedenheiten je nach der subjektiven Einstellung der Sachverständigen nicht ganz vermeiden lassen; man muß sie in Kauf nehmen, da eine scharfe Abgrenzung nicht möglich ist. Man wird in solchen Fällen nicht nur den äußeren Zustand zur Zeit der Tat, sondern auch die Gesamtpersönlichkeit, ihr sonstiges Verhalten, ihre gewöhnliche Reaktionsweise, be2E

) GRUHLE, Die Weisen des Bewußtseins. Z.Neur. 181, 1930, S. 78ff. Ähnlich HADAMIK, Mo.Krim. 86, 1953, S. 18ff. 29 ) In den Fällen der letzten Gruppe werden die Voraussetzungen des § 51 StGB freilich kaum einmal erfüllt sein.

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sondere Erlebnisfaktoren, die Persönlichkeitsfremdheit oder -adaquanz der Tat in Rechnung stellen müssen; man wird namentlich bei Affekthandlungen, die mit einer Bewußtseinsstörung einhergehen, das ganze Kräftespiel, das an der kriminellen Handlung beteiligt ist, zu untersuchen haben 30 ). Im Gesetz ist nun von Bewußtseinsstörung schlechthin die Rede. Grundlage für die Schuldausschließung kann also sowohl eine im Bereich des Normalen liegende wie auch eine krankhafte Bewußtseinsstörung sein. Zu den sogenannten normalen Bewußtseinsstörungen gehören z. B. Übermüdung, Schlaf, Schlaftrunkenheit, Nachtwandeln, hypnotische Zustände. Auch die Affekte sollen aus Zweckmäßigkeitsgründen hier abgehandelt werden. Zu den krankhaften Bewußtseinsstörungen rechnet man in der Regel Delirien, die abnormen Zustände der Gebärenden, Dämmerzustände und die bei weitem wichtigste, weil häufigste Bewußtseinsstörung, den Alkoholrausch. Im Zustande der Übermüdung kann es, insbesondere wenn man aus der Tätigkeit heraus für kürzere oder längere Zeit eine Ruhepause einschiebt, zu einer Veränderung des Bewußtseins kommen. Die Sinneseindrücke verlieren an Schärfe und Deutlichkeit, wir hören nur noch ungenau und sind nicht mehr imstande, das Gehörte oder Gelesene zu begreifen; das Denken wird mühevoll, die Gedanken entgleiten uns, wir werden unfähig, uns zu konzentrieren. Wiederum hören wir kurz vor dem Einschlafen Geräusche viel lauter als gewöhnlich. Aber nicht nur der Wahrnehmungsprozeß ist ungenauer, auch die Willensfunktion ist verändert. Jedermann weiß, wie schwer es ist, sich im Zustand der Übermüdung zu einer Tätigkeit aufzuraffen: „Daß Übermüdung die Fähigkeit, den Willen zu beherrschen, herabsetzen oder gar ausschließen kann, entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung" 31 ). In solchen Zuständen kann es zu Unterlassungsdelikten kommen; so kann etwa ein Lokomotivführer ein Signal übersehen, ein Weichensteller versäumen, die Weiche richtig zu bedienen, ein Kraftfahrer kann am Steuer seines Wagens einschlafen und dadurch Unfälle verursachen. Besonders die Langstreckenfahrer auf den eintönigen Autobahnen sind in dieser Beziehimg gefährdet. Auch Fehlbeurteilungen von Sinneseindrücken, wenn man nach kurzem Einnicken aufschreckt, können zu Unfällen führen 32 ). Die forensische Bedeutung des Schlafes ist gegenüber der Übermüdung gering. Schon ein altes Wort sagt: „Wer schläft, der sündigt nicht." Die Bewußtseinstrübung ist im Schlaf zweifellos stärker, aber selbst der tiefe, 30 ) Es wird dabei die dynamische Verbrechensbetrachtung, wie sie M E Z G E B fordert, nützlich sein, MKrPs. 19, 1928, S. 328; Moderne Strafrechtsprobleme, Marburger Akad. Reden Nr. 43; Kriminalpolitik, 2. Aufl., Stuttgart 1942. 31 ) HRR 1939, Nr. 1063. Es handelte sich um einen Lokomotivführer, der nach monatelanger Überbeanspruchung einen Arbeitstag von 14 y 2 Stunden hinter sich hatte. 32 ) Ich erinnere mich einer Segelfahrt als Student, bei der ich nachts, stark übermüdet, das von selbst laufende Boot steuerte. Ich war dabei eingenickt und hielt, als ich aufschreckte, den Mond für ein mir unbekanntes Seezeichen, und kurz darauf, nachdem er inzwischen höher gestiegen war, für ein Leuchtfeuer.

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traumlose Schlaf entspricht noch nicht einer völligen Bewußtlosigkeit, wie wir sie etwa nach einer Gehirnerschütterung, im Koma oder in tiefer Narkose erleben. Auch der tief Schlafende ist erweckbar, und man kann im Schlaf noch irgend etwas wollen, sich auf etwas einstellen. So kann man etwa zu einer bestimmten Zeit aufwachen; bei der Pflege Schwerkranker hört man auch leise Geräusche, die von diesem ausgehen, während man andere, lautere nicht bemerkt, weil sie nichts mit dem Kranken zu tun haben. Möglich erscheint es, daß jemand im Traum Handlungen begeht, die ihm sonst fremd sind. Damit kommen wir zur Erscheinung des Nachtwandeins (Schlafwandeins, Noctambulismus oder Somnambulismus). Dabei handelt es sich um traumhafte Erlebnisse, die den Schlaf nicht unterbrechen, die aber zu einer sonst ungewöhnlichen motorischen Tätigkeit führen. In der Regel besteht diese darin, daß der Schläfer aufsteht, irgendwelche harmlosen Hantierungen vornimmt und sich dann wieder hinlegt. Für den Laien am interessantesten und eindruckvollsten sind sie in der Form der Mondsucht geworden33). Forensisch beschäftigt uns das Nachtwandeln sehr selten. Ein Fall, den ich zu begutachten hatte, sei hier kurz wiedergegeben. Ein 18jähriger Mann, von leicht erregbarem Vater abstammend, in der Schule über Durchschnitt, mit lebhafter Phantasie, litt als Kind unter Nachtwandeln. Das war in den letzten Jahren zwar seltener geworden, doch war er des Nachts einmal aus dem Fenster gesprungen, ein anderes Mal war er über die Hühnerleiter auf den Heuboden geklettert. Am folgenden Tage hatte er nichts davon gewußt. Während seiner Zugehörigkeit zum Reichsarbeitsdienst lag er mit 15 Kameraden auf einem Zimmer. Eines Nachts war er zu einem derselben, mit dem er verfeindet war, ins Bett gestiegen und hatte beischlafähnliche Bewegungen gemacht. Auf Aufforderung des anderen, sein Bett zu verlassen, sagte er: „Ich gehe jetzt", bei der zweiten Aufforderung meinte er, er sei am Träumen. Erst bei der dritten Aufforderung verließ er das Bett, erzählte den Vorfall, den er nur zum Teil wiedergeben konnte, den Kameraden. Das Verfahren wurde aus § 51 StGB eingestellt34).

Die Schlaftrunkenheit führt selten zu Delikten, die dann aber in der Regel recht schwer sind; meistens handelt es sich um Gewalttaten. G U D D E N hat 1905 die ihm zugänglichen Fälle aus der Literatur gesammelt und veröffentlicht35). Die in den letzten 30 Jahren mitgeteilten Beobachtungen von D E L B R Ü C K , L E P P M A N N und K L I N G habe ich mit einem eigenen Fall mitgeteilt36). Es handelt sich dabei um eine verlangsamte Wiederkehr des klaren Bewußtseins nach dem Aufwachen aus dem Tiefschlaf. Dabei kann es zu einer Verkennung der Situation kommen, die gefährlich werden kann, wenn 35 ) Die Berichte darüber klingen freilich, wie auch HOCHE meint, vielfach märchenhaft und beschäftigen mehr die Phantasie von Laien als den Psychiater. 34 ) Neuerdings hat KRANZ auf einer Tagung in Mainz über einen Fall berichtet in KLEIST, Richter und Arzt, Ernst Reinhardt-Verlag, München 1956, S. 200; dazu am gleichen Ort WAGNER, S. 211. LANQELÜDDEKE, Delikte in Schlafzuständen, NA 1 9 5 5 , S. 2 8 . 36 ) Arch. Psychiatr. 40, S. 999. 38 ) NA 26, 1955, S. 28.

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die Aktionsfähigkeit schon vorhanden ist. Auch Traumvorstellungen können dabei mitspielen. Der 42jährige Waldarbeiter K. wohnte mit einer Familie F. in einem etwas einsam gelegenen Hause in der Nähe eines Truppenübungsplatzes. Wiederholt war es nach dem Kriege zu nächtlichen Belästigungen durch amerikanische Soldaten gekommen. Auch am 5. 7. 52 war abends eine gewisse Unruhe dadurch zustande gekommen, daß sich ein Soldat am Gatter und im Hofraum des Hauses zu schaffen machte. K. wurde nach einstündigem Schlaf durch seine Ehefrau geweckt; beide hörten Lärm und Hilferufe. K. lief sofort im Hemd aus dem Bett, ergriff die aus beruflichen Gründen stets bereit stehende Axt und lief im Dunkeln die sehr steile Treppe herunter. Unten kam er zu Fall, wie er meinte, durch einen Soldaten, sprang auf, glaubte im Dunkeln einen neuen Angreifer vor sich zu sehen und schlug ihn mit der Axt auf den Kopf. Im letzten Augenblick bremste er den Schlag, weil er den Sohn des F. erkannte. Dann aber glaubte er Hilferufe aus dem Zimmer zu hören, sprang hinzu und versetzte einem mit F. ringenden Soldaten mehrere Schläge und verletzte ihn schwer. Er hatte gehört, wie F. rief „schlag zu". Erst jetzt kam er zu sich und t a t alles, um Hilfe zu holen. Er war, wie sich feststellen ließ, beim Herunterkommen nicht angegriffen worden; es war auch nur ein Soldat dagewesen. F. hatte auch nicht gerufen, daß er zuschlagen sollte. K. hatte nach seinen Angaben die Situation völlig verkannt. Von sämtlichen Zeugen wurde ihm bescheinigt, daß er ein sonst absolut friedfertiger Mensch sei, dem niemand eine solche Tat zutraute. Er ist aus § 51 StGB exkulpiert worden.

Zu den normalen Zuständen mit verändertem Bewußtsein gehört auch die Hypnose. Ihre Bewertung hat sich sowohl in der Wissenschaft wie im Gerichtssaal geändert. Während man früher in ihr das Ergebnis eines mehr oder weniger mystischen Vorgangs sah, während man vielfach im Hypnotiseur übernatürliche Kräfte vermutete, bezeichnet man jetzt die Hypnose als „einen Zustand gesteigerter Suggestibilität, der seinerseits hervorgerufen ist durch Erweckung entsprechender Vorstellungen auf dem Wege der Suggestion durch eine zweite Person"37). Um die Suggestion wirksamer zu gestalten, wird durch besondere Methoden das Bewußtsein eingeengt, die Aufmerksamkeit des Hypnotisierten wird auf den Hypnotiseur und seine Suggestion konzentriert. Damit wird jedoch nicht jede freie Willensregung des Hypnotisierten unterbunden, seine Persönlichkeit bleibt intakt, und nichts wird getan, was ihr nicht entspricht38). Aus dieser Auffassung, die von fast allen Autoren der letzten Jahrzehnte geteilt wird, ergibt sich, daß zur Ausführung eines Verbrechens durch die Hypnose nur der bestimmt werden kann, der auch ohne Hypnose sich dazu bestimmen lassen würde. Alle Erfahrungen, besonders bei angeblichen Sexualdelikten an Hypnotisierten sprechen dafür, und Versuche, die bisher angestellt sind, um das Gegenteil zu beweisen, sind mißglückt oder nicht beweiskräftig39). 3

') AsCHAiTENBTJBG in HOCHE III, S. 13.

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) Ebenso W Y R S C H , S . 2 4 3 . ) Dazu besonders V O R K A S T N E R in B U M K E IV und namentlich Arch. Psychiatr. 73, 1925, S. 461. Dort Literatur. Ähnlich RAECKE, Zb.Neur. 53, 1929, S. 145 und früher H Ö P L E R und S C H I L D E R , Suggestion und Strafrechtswissenschaft, Wien 1926. Besonders lehrreich in dieser Beziehung sind Versuche, die zwei schwedische Forscher angestellt haben. B I L L S T R Ö M versuchte in 7 Fällen durch Hypnotisierung ver39

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Das Thema „Verbrechen in Hypnose" ist durch den Aufsehen erregenden Heidelberger Prozeß W A L T H E R wiederaufgenommen. L . MAYER 4 0 ) h a t den Fall eingehend dargestellt u n d ist zu der Überzeugung gelangt, daß es Walther in langer u n d komplizierter hypnotischer Dressur gelungen sei, eine junge F r a u zu einer Reihe verbrecherischer Handlungen zu bestimmen. Ich halte es f ü r möglich, daß in diesem Falle wirklich die Hypnose an den verbrecherischen Handlungen wesentlich beteiligt war. F ü r völlig beweiskräftig halte ich den Fall nicht 4 1 ). Ein ähnlicher Fall ist vor 1954 aus Dänemark berichtet worden. Gelingt der Wahrscheinlichkeitsbeweis f ü r den ursächlichen Zusammenhang von Hypnose und Verbrechen, so ist nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" Exkulpierung angebracht. Derartige Fälle sind aber so extrem selten, daß sie praktisch bedeutungslos sind. Sie sind daher auch aus dem Gerichtssaal so gut wie verschwunden, während sie in den zwanziger Jahren in den Argumenten mancher Verteidiger noch eine gewisse Rolle spielten. Nötig wäre in jedem Falle, in dem der Einfluß der Hypnose beh a u p t e t wird, den angeblich Hypnotisierten psychiatrisch untersuchen zu lassen. Sehr viel häufiger als bei den bisher erwähnten Bewußtseinsstörungen sind kriminelle Handlungen im Affekt. Damit wird ein in mehrfacher Beziehung schwieriges Kapitel angeschnitten 4 2 ). Wir scheiden zunächst alle jene Affekthandlungen aus, die auf dem Boden von Psychosen erwachsen u n d daher als Symptome derselben dem Begriff der krankhaften Störung der Geistestätigkeit zugeordnet werden können. Dazu gehören die Affekthandlungen der Schizophrenen, Zyklothymen, Epileptiker usw. Anders die Affekthandlungen der Psychopathen; sie unterscheiden sich von den Affekten Normaler vielleicht durch ihre leichtere Auslösbarkeit oder auch durch ihre Stärke, sind ihnen aber im Prinzip gleichzusetzen. Schon unser alltägliches Dasein mit seinem vielfach gewohnheitsmäßigen Handeln ist irgendwie gefühlserfüllt 4 3 ). Wir befinden uns in einer bestimmten Stimmung, sind froh, verdrießlich, mißgestimmt, gereizt u. dgl. Unsere Redächtiger Personen Verbrechen aufzuklären, aber immer vergeblich (Zb.Neur. 93, 1939, S. 533), und ERICKSON konnte nachweisen, daß es trotz ausgefeiltester Versuchstechnik und sogar Bindung an den Versuchsleiter nicht gelingt, in Hypnose antisoziale und kriminelle Handlungen zu erzwingen mit Ausnahme derjenigen Personen, die derartige Handlungen auch ohne Hypnose begangen haben würden Zb.Neur. 96, 1940, S. 151). Daran ändert m. B. auch die Auffassung von H A M M E R SCHLAG, Hypnose und Verbrechen, Basel 1954 nichts. 40

) Das Verbrechen in Hypnose und seine Aufklärungsmethoden. 1937. zugestimmt hat L A N G E (Mo.Krim. 29). M. E . berechtigte Zweifel hat B Ü R G E R - P R I N Z geäußert; s. dazu die Diskussion mit M A Y E R (Mo.Krim. 29, 1 9 3 8 , S . 1 9 4 , 5 2 7 u. 5 3 2 ) . 42 ) Beachtenswert hierzu sind die Ausführungen in H O C H E I I I , S. 19ff. und 296ff. und von MEZGER und M I K O R E Y , MKrB29, S. 444 ff. Neuerdings H A D A M I K , Mo.Krim. 36, S. 11. 43 ) Das vielfach mit Gefühl gleichbedeutend gebrauchte Wort „Empfindung" bedeutet im wissenschaftlichen Sprachgebrauch etwas anderes, 41

) MAYER

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aktionen den Anforderungen des Tages gegenüber hängen weitgehend von dieser Stimmungslage ab. Manchmal ist es irgendein besonderes Ereignis, das als Ursache einer vom Gewöhnlichen abweichenden Stimmungslage angesprochen werden kann; vielfach aber wissen wir selbst nicht, weshalb wir gerade so gestimmt sind: mangelhafter Schlaf, Träume, von denen wir nichts mehr wissen, körperliche Vorgänge irgendwelcher Art und anderes mehr mögen dabei mitspielen. Aber nicht nur das! Unser Denken und Handeln ist von Gefühlen, von Wünschen, Befürchtungen und Hoffnungen, von Abneigung und Zuneigung nicht nur begleitet; diese leiten weitgehend unser Denken und sind recht eigentlich die Triebfedern unseres Handelns. Selbst das wissenschaftliche Denken ist keineswegs frei davon, und oft genug ist zuerst der Wunsch da, daß irgend etwas so sein möge, wie wir es sehen, und unser Denken hat dann die Aufgabe, den entsprechenden Beweis dafür zu liefern. Stimmungslage und die auf ihrer Grundlage sich entwickelnden Gefühle sind nun keineswegs gleichmäßig; sie wechseln nach Art und Stärke, halten sich aber innerhalb gewisser Grenzen, so daß sie von uns beherrscht werden können. Man kann trotz gereizter Stimmung sich zwingen, anderen gegenüber freundlich zu sein, ja man kann, sogar, wenn man sich längere Zeit zur Freundlichkeit zwingt, die eigene Stimmung verbessern und schließlich aus dem Innern heraus freundlich sein. Aus diesem relativen Gleichmaß unseres Gefühlslebens heben sich nun stärkere Schwankungen ab, die wir Affekte nennen. Diese können, wie die Wut, der Zorn, der Schreck sich ganz akut zu großer Stärke erheben, sie können, wie der Kummer, die Sorge, die Angst, die Freude, allmählich ansteigen. Es handelt sich bei ihnen allen um komplizierte Gebilde, die je nach ihrer Art Lust- oder Unlustgefühle als Hauptbestandteil enthalten, an denen aber auch erregende und deprimierende, spannende und lösende Faktoren beteiligt sind. Forensisch besonders wichtig sind die erregenden und die depressiven Komponenten. Alle diese Affekte stehen niemals für sich da; sie sind stets an einen bestimmten Inhalt, eine Wahrnehmung, Vorstellung, ein Erlebnis gebunden: wir freuen uns auf ein Zusammentreffen mit einem guten Freunde oder auf ein leckeres Essen, wir ärgern uns, weil wir den Zug verpaßt oder ein Buch verloren haben, wir geraten in Zorn über eine kränkende Bemerkimg, wir sind traurig über den Tod eines geliebten Menschen. Inhaltleere Affekte gibt es nur in der Abstraktion, niemals jedoch in der Wirklichkeit. Wichtig ist, daß sich die Affekte auch körperlich auswirken und daß sie sich wiederum durch körperliches Geschehen beeinflussen lassen: die Aussicht auf ein gutes Essen läßt uns das Wasser im Munde zusammenlaufen, wir werden blaß vor Schreck, rot vor Zorn. Im Affekt kommt es nun auch bei sonst gesunden Menschen nicht selten zu strafbaren Handlungen, in der Regel zu Gewalttaten. In solchen Fällen taucht dann die Frage auf, ob durch den Affekt die Zurechnungsfähigkeit beeinträchtigt war, ob — anders ausgedrückt — eine Bewußtseinsstörung

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vorhanden war, durch die die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Täters herabgesetzt oder aufgehoben war. Dazu ist zunächst zu sagen, daß keineswegs bei jedem Affektverbrechen eine Bewußtseinsstörung vorliegt. Man k a n n mit SEELIG44) drei H a u p t t y p e n von Affektverbrechern unterscheiden,

den aggressiven Gewalttäter, den Krisenverbrecher und den primitivreaktiven Verbrecher. Zu der ersten Gruppe gehören robuste Kraftnaturen, die sich dieser K r a f t bewußt sind, gern damit protzen und bei jeder Gelegenheit, namentlich unter Alkohol zu Drohungen, Raufereien, Messerstechereien neigen, die Gegenstände zerschlagen, in der Trunkenheit Frau und Kinder mißhandeln und dergleichen mehr. Bei ihnen spielen Bewußtseinsstörungen keine Rolle; sie sind lediglich nach dem Grad ihrer etwaigen Abartigkeit — epileptoide, leicht erregbare, explosible Psychopathen — zu beurteilen. Bei der Gruppe der Krisen Verbrecher handelt es sich dagegen in der Regel um weiche, oft schwächliche Menschen, die an allem, was sie erleben, mit ihrem Gefühl stark beteiligt sind. Wenn diese Menschen in eine Situation geraten, deren Überwindung sie für aussichtslos halten, so können sie, aus diesem affekterfüllten Krisenerlebnis heraus zu schweren Gewalttaten kommen, obwohl sie von Haus aus alles andere als gewalttätig sind. Gedanklich sind ihre Taten meist irgendwie vorbereitet. Ein äußerer Anlaß kann die Tat herbeiführen. Auch bei ihnen liegt eine Bewußtseinsstörung nicht vor, es sei denn, daß zugleich die Merkmale der dritten Gruppe gegeben sind. Auch sie sind vorwiegend nach ihrer Persönlichkeit, nach der Art der Situation und nach der Stärke des Affekts zu beurteilen; den Gesamtzustand wird man, wie schon hier bemerkt sei, nach der Rechtsprechung der höchsten Gerichte als „krankhafte Störung der Geistestätigkeit" bewerten können, nicht aber als Bewußtseinsstörung . Beispiel: Etwa 40jähriger Mann, arbeitsam, ordentlich, aber empfindsam, vor dem letzten Kriege glücklich verheiratet, war zur Wehrmacht eingezogen. Als er zurückkam, wurde er auf Grund von Gerüchten eifersüchtig auf seine Frau, machte ihr ständig Vorhaltungen, war mißtrauisch allem gegenüber, was ihren Verkehr mit anderen Menschen betraf, so daß sie ihn schließlich verließ. Nach einigen Wochen, in denen sich Verwandte um Wiederherstellung der Ehe bemühten, kehrte sie zurück; es wurde abends mit den Verwandten Versöhnung gefeiert, wobei er aber auffallend still blieb. Am anderen Morgen fragte er seine Frau, ob sie denn wirklich mit anderen Männern etwas gehabt habe. Als sie das bejahte, holte er eine Axt und erschlug sie. Als sein Versuch, sich von der Eisenbahn überfahren zu lassen, mißlang — es ging kein Zug um diese Zeit — meldete er seine Tat bei der Polizei, war bei der sofort danach vorgenommenen Vernehmung noch stark mitgenommen. Er hatte vorher wiederholt Äußerungen getan, die auf eine gedankliche Vorbereitung der Tat schließen ließen. Abweichend von diesen Handlungen sind die aus einem Affekt zustande kommenden Primitivreaktionen zu beurteilen. Sie entstehen aus dem Augenblick, der Täter rechnet wenige Minuten vorher noch nicht damit, daß er etwas Derartiges tun könne. S E E L I G hat mehrere Beispiele dafür angeführt, von denen eines erwähnt sei: „Am 14. Juli 1949 tötete der erste Charakterdarsteller der Grazer Bühnen, ein 28jähriger 44

) Der kriminologische Typus des primitiv reaktiven Verbrechers in „Kriminalbiologische Gegenwartsfragen" Bd. VIII. 1955, S. 34ff.

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Schauspieler von hohem künstlerischem Format, der in scheinbar glücklicher Ehe lebte und mit besonderer Zärtlichkeit an dem vor 6 Wochen geborenen Kinde hing, seine Ehefrau, mit der er gerade die monatliche Wiederkehr des Hochzeitstages feiern wollte, durch zahlreiche Hiebe mit einem zufällig im Raum befindlichen Meißel, als ihm die Gattin, plötzlich ernst werdend, mitgeteilt hatte, daß sie ihm in letzter Zeit nicht stets die Treue gehalten habe und daß auch das Kind von einem anderen Manne gezeugt sei" 45 ).

In diesen Fällen taucht die Frage auf, ob das Bewußtsein gestört war. Das muß im Einzelfall geprüft werden. Vielleicht helfen dabei die folgenden Überlegungen etwas weiter. Das menschliche Bewußtsein ist in seiner Art etwas anderes als das von Tieren. Es ist sicher gebunden an die Funktion des Stammhirns, die namentlich bei Hirnerschütterungen gestört zu werden pflegt, es hat aber zugleich, wenn ich das so ausdrücken darf, Bestandteile, die vom Großhirn herkommen. So ist die Fähigkeit der Selbstbeherrschung, das Selbstbewußtsein als das Ergebnis eines Zusammenwirkens aller Hirnteile anzusehen. Wird durch den Affekt dieses Zusammenwirken gestört, so wird auch das Bewußtsein verändert, wir können nicht mehr „in der für uns üblichen Weise perzipieren und apperzipieren" 46 ), wir haben nicht mehr die Möglichkeit, uns so einzustellen, wie wir es normalerweise tun würden. Man kann in solchen Fällen, wo es sich um stärkste Affekte handelt, sehr wohl von einer Bewußtseinsstörung sprechen, und zwar auch dann, wenn es sich um gesunde Menschen handelt 47 ). Ob die Bewußtseinsstörung dann so schwer ist, daß auch die psychologischen Voraussetzungen des § 51 StGB erfüllt sind, muß wiederum sorgfältig geprüft werden. Die Anwendung des § 51 Abs. 1 StGB wird nur ausnahmsweise möglich sein; man wird damit zurückhaltend sein müssen, weil, wie M E Z G E R mit Recht betont hat, die Grenzen zu Affekthandlungen ohne Bewußtseinsstörung flüssig sind und daher eine Unterminierung des Strafrechts droht, wenn man zu oft Zurechnungsunfähigkeit annehmen würde48). In Kürze seien die wichtigsten Punkte erwähnt, die bei der Beurteilung dieser Frage zu beachten sind: In den Mittelpunkt ist die Persönlichkeit des Täters zu stellen und dabei sehr sorgfältig die Frage zu prüfen, ob die Tat persönlichkeitsadäquat oder persönlichkeitsfremd war. Weiter ist von Bedeutung die körperliche und seelische Verfassung, in der sich der Täter zur Zeit der Tat befand: frisch und elastisch, ausgeruht oder müde, überarbeitet, kränklich, unter Alkohol stehend und in psychischer Beziehung ausgeglichen, froh, oder ärgerlich, gereizt, deprimiert, gespannt. Aber auch Freude kann plötzlich umschlagen. Ferner ist die Entwicklung der Tatsituation in allen Einzelheiten zu prüfen, namentlich 45

) 1. c., S. 37.

46

) T A U S S I G , 1. c .

" ) Der Ansieht von G R U H L E und H A D A M I K , daß Bewußtseinsstörungen nur anzunehmen seien, wenn zugleich etwa Schlaftrunkenheit, Hirnstörungen u. a. vorlägen, kann ich mich nicht anschließen. S. dazu BGH Urteil v. 10. 10. 57 in J Z 1958, S. 216. Weiter auch BGHSt. 6, S. 332, 7, S. 325; UNDEUTSCH in PONSOLD, S. 130 ff., dort weitere Literatur und Entscheidungen. 48

)

M E Z G E R U. M I K O B E Y , M K r B 2 9 , S . 4 4 6 u n d 4 6 8 .

Die Zurechnungsfähigkeit der geistig Abnormen

29

ist zu entscheiden, ob eine krisenhafte Entwicklung oder eine unerwartete, plötzlich eintretende Situation zur Tat führte, ob die Tat irgendwie gedanklich vorbereitet war. Für eine Bewußtseinsstörung würde sprechen, wenn Anzeichen für eine Verkennung der Situation, unzusammenhängende Reden während der Handlung sich nachweisen oder wahrscheinlich machen lassen, und ebenso ist das Verhalten kurz nach der Tat aufschlußreich: bei stärksten Affekten findet man hinterher noch starke Erregung, körperliche Erschöpfung, Unfähigkeit zu sachlichem Denken, Verwirrtheit, Selbstmordversuche, Schlaf und vielfach Selbstanzeige. In solchen Fällen ist der Eindruck, der bei der Polizei, evtl. bei der Vernehmung gewonnen wird, von großer Bedeutung. Wichtig ist schließlich, ob Gtedächtnisausfälle vorhanden sind. Vielfach werden Erinnerungslücken behauptet, und zwar meist derart, daß gewisse Einzelheiten noch erinnert werden, während andere nicht mehr gewußt werden. Auch in dieser Beziehung kann es wichtig sein, die Vernehmung möglichst bald nach der Tat durchzuführen. Die Entscheidung, ob solche Lücken echt oder vorgetäuscht sind, ist nicht immer einfach. Die Erinnerung pflegt mit der Zeit schlechter, die Lücken größer zu werden. Das kann verschiedene Gründe haben: Lüge, Verdrängung, Zweckmäßigkeitserwägungen können dafür bestimmend sein, aber auch ein Vergessen, weil der Täter sich seiner Handlung schämt. Ergibt die Untersuchung aber echte Gedächtnislücken, so wird dadurch deutlich, daß die Erlebnisse nicht mit dem Selbstbewußtsein verknüpft sind oder daß die schon vorhandene Verknüpfung durch irgendwelche Hirnvorgänge wieder zerstört ist. Erst aus der Gesamtheit der hier aufgeführten Einzelheiten wird sich ein einigermaßen zutreffendes Bild gewinnen lassen. Manchmal, wenn auch selten, kommt es vor, daß jemand während einer an sich beabsichtigten Tat in so schwere Erregung gerät, daß er schließlich als zurechnungsunfähig bezeichnet werden muß. Wenn die wirkliche Tat von der beabsichtigten nicht wesentlich abweicht, so ist die Zurechnungsfähigkeit im letzten Teil der Tat ohne Bedeutung 49 ). Die Entscheidung über solche Fragen ist aber eine rein rechtliche. Zu den Affekthandlungen gehört auch die Selbsttötung50). Diese beschäftigt den Gutachter in mehrfacher Hinsicht. Strafrechtlich hat er mit ihr zu tun, wenn es sich um einen sogenannten erweiterten Selbstmord handelt, wenn also jemand etwa seine Ehefrau oder seine Kinder getötet hat, während die Selbsttötung mißlingt oder aufgegeben wird. Weiter besteht die Möglichkeit, daß ein Arzt oder eine Pflegeperson zur Verantwortung gezogen wird, wenn ein Suizid infolge von Verletzung der Aufsichtspflicht zustande kommt (s. S. 157); in solchen Fällen können auch Ansprüche geltend gemacht werden, die zivilrechtlich zu entscheiden sind. Auch Testamente, die kurze Zeit *') BGH Urteil vom 21. 4. 1955 in NJW 1955, S. 1077. 50 ) Die Selbsttötung ist zwar kaum einmal Folge einer Bewußtseinsstörung; sie soll trotzdem hier abgehandelt werden, um die Affekthandlungen nicht zu zerreißen.

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Das Strafrecht

vor dem Suizid errichtet sind, werden manchmal angefochten. Schließlich spielen Selbsttötungen eine relativ große Rolle in der sozialen Gerichtsbarkeit, wobei die Frage des ursächlichen Zusammenhangs der Selbsttötung mit einem Kriegsleiden oder Unfall einerseits, der Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung andererseits zu beantworten ist (s. S. 251). Hier soll nur die erste Frage nach der Zurechnungsfähigkeit bei Selbsttötungshandlungen besprochen werden. Man kann die Selbsttötungen auf einer Linie anordnen, an deren einem Pol der sogenannte Bilanzselbstmord steht, während der andere Pol von den Selbsttötungen aus endogener depressiver Verstimmung oder besser aus psychotischen Motiven gebildet wird; zwischen beiden Polen liegen die sogenannten reaktiven Suizidhandlungen. Es ist nun keineswegs so, daß diese verschiedenen Selbsttötungsweisen sich scharf von einander trennen lassen; es sind vielmehr Mischungen verschiedener Art und verschiedenen Grades möglich. Am häufigsten ist der Bilanzselbstmord mit reaktiven Momenten und der reaktive Suizid mit endogenen Zügen kompliziert. In seltenen Fällen kann es auch wohl vorkommen, daß eine leichte endogene depressive Verstimmung zum Bilanzselbstmord beiträgt 61 ). Unter „Bilanzselbstmord" versteht man im Anschluß an H O C H E die Selbsttötung aus normal-psychologischen Motiven. Die Motive selbst können dabei durchaus verschieden sein: es kann sich, wie wir es am Ende des letzten Krieges vielfach erlebt haben, um eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten handeln (Beispiel: ROMMEL, GÖBING und andere); schwere Krankheiten, bei denen ein chronisches Siechtum zu erwarten ist, können zum Suizid als Ausweg führen; so fand F L E C K unter 24 Selbsttötungsversuchen bei Postenzephalitikem neben pathologischen Motiven 7, bei denen er einen Bilanzselbstmord der unheilbaren Krankheit wegen annahm 52 ). Es kann weiter eine Situation entstehen, in der aus Rücksicht auf die Familie Suizid verübt wird, namentlich dann, wenn ehrenrührige Handlungen mitspielen, und anderes mehr. Auch in diesen Fällen ist die Persönlichkeit des Täters mit seiner Affektivität am Suizid beteiligt, er bleibt nicht kalt; im Vordergrunde aber stehen sachliche, allgemein-verständliche Überlegungen. Kommt es in einem solchen Falle zu einem erweiterten Suizid mit Einverständnis der Getöteten, so wird man, wie hier vorweggenommen sei, die Voraussetzungen des § 51 StGB nicht bejahen können. Vor Gericht werden wir mit diesen Fällen höchst selten zu tun haben. Am anderen Pol stehen die Selbsttötungen aus psychotischen Motiven. In erster Linie sind es endogene Depressive aus der Gruppe der Zyklothymen. Dabei ist bemerkenswert, daß diese Suizide meist in einem Stadium vorgenommen werden, in dem die Depression noch relativ leicht, noch nicht besorgniserregend erscheint, daß auch alle Vorbereitungen für den Fall des ") Dazu DUBITSCHER, Der Suizid unter besonderer Berücksichtigung versorgungsärztlicher Gesichtspunkte, 1957; W. DE BOOR, Fortschr. 17, 1949, S. 483. 62 i Arch. Psych. 99, 1933, S. 233.

Die Zureehnungsfähigkeit der geistig Abnormen

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Todes zweckmäßig getroffen werden können, daß also Überlegungen hineinspielen können. Der Unterschied gegenüber dem Bilanzselbstmord besteht in diesen Fällen darin, daß aus Krankheitsgründen die Situation falsch beurteilt wird, daß Verfall in Geisteskrankheit befürchtet wird, wo mit Heilung zu zu rechnen ist, daß unbegründete Selbstvorwürfe mitspielen und dergleichen, daß also die Motive krankhaft erscheinen. Dazu kommen auch bei anderen psychisch Kranken, Schizophrenen, wesensveränderten Enzephalitikern, depressiven Dystrophikern63), Hirn verletzten Suizide vor, wobei die Motive dafür weit auseinander gehen können. In allen diesen Fällen ist die Anwendung des § 51 Abs. 1 geboten, weil, wie später noch erörtert werden soll, die Psychose exkulpiert. Die Zwischengruppe der reaktiven Suizide ist wohl die bei weitem größte. Innerhalb derselben gibt es wiederum zwei Untergruppen, die nicht scharf von einander getrennt werden können: einmal völlig gesunde Menschen, die einer für sie untragbaren Situation zum Opfer fallen. So verweist D U B I T S C H E R auf die Massenselbstmorde der Juden bei der Eroberung Palästinas durch Vespasian, auf die Eroberung Magdeburgs 1631, auf die Ereignisse beim Einmarsch der Russen in den ostdeutschen Raum. Solche Situationen können auch den psychisch Intakten zu Augenblickshandlungen hinreißen, die er sonst nie ausgeführt hätte. Die zweite Untergruppe besteht aus charakterlich abartigen Menschen, die aus recht verschiedenen Gründen reaktiv verstimmt werden und aus dieser Verstimmung heraus zu mehr oder weniger ernst gemeinten Suizidversuchen kommen. In beiden Untergruppen pflegt der Affekt das normale Maß beträchtlich zu übersteigen, so daß man berechtigt ist, wenn nicht eine Bewußtseinsstörung, so doch eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit anzunehmen. Beiden Gruppen wird man daher in der Regel erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit zuerkennen müssen. Es sei aber ausdrücklich betont, daß die hier vertretenen Ansichten nicht schematisch anzuwenden sind. Jeder einzelne Fall muß für sich betrachtet werden, es muß die Situation geprüft, die Persönlichkeit in allen Einzelheiten durchforscht werden. Erst dann darf eine Beurteilung abgegeben werden. Neben den bisher besprochenen Bewußtseinsstörungen, die auch bei durchaus gesunden Personen auftreten können, gibt es eine ganze Reihe von Bewußtseinsstörungen auf krankhafter Grundlage. Diese können natürlich ebensogut dem Begriff der „krankhaften Störung der Geistestätigkeit" untergeordnet werden. Dies gilt zunächst für die Fieberdelirien. Diese als solche zu erkennen, ist Sache des Arztes; auch nachträglich dürften sie im allgemeinen keine größeren diagnostischen Schwierigkeiten bereiten. Das gleiche gilt für Delirien bei Vergiftungen. Die abnormen Zustände der Gebärenden werden immer wieder mitangeführt, obwohl die Frage, ob sie einmal zur Anwendung des § 51 StGB führen 53

) SCHULTE, Portsohr. 26, 1958, S. 74.

Das Strafrecht

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können, wissenschaftlich nicht einwandfrei geklärt ist. Ein Gutachten der Königl. wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen h a t t e bei den Vorarbeiten für das jetzt gültige Strafgesetz den Zustand der Gebärenden als einen solchen bezeichnet, der in den Bestimmungen des § 51 berücksichtigt werden müsse. Selbstverständlich sind die Voraussetzungen für eine Exkulpierung gegeben, wenn psychische Störungen, etwa bei Eklampsie, Epilepsie, im Koma vorliegen. Auch eine Ohnmacht im unmittelbaren Anschluß an die Geburt kann wohl einmal zu einer Kindestötung führen, ohne daß die Absicht dazu bestand. Zweifelhaft erscheint es, ob bei einer normalen Geburt Zustände auftreten können, die die Exkulpierung erheischen. Innere Erregung, Sorge um die Zukunft, Furcht vor Schande, der sog. Ehrennotstand, Zerwürfnisse in der Familie, körperliche Schwäche, Blutverlust, heftige Schmerzen können bei unehelichen Müttern sicher einmal einen Zustand herbeiführen, in dem die Gebärende die Selbstbeherrschung verliert. Dazu handelt es sich, wie G U M M E R S B A C H ausführt 5 4 ), in der Regel um passive Naturen im Gegensatz zu den zielbewußten aktiven Abtreiberinnen. Sehr wichtig ist zu dieser Frage eine umfangreiche Untersuchung, die ELO65) in Finnland, freilich nur auf Grund der Akten von 415 Fällen von Kindesmord, angestellt hat. Er kommt zu dem Ergebnis, daß zwei Drittel der Täterinnen abnorme Persönlichkeiten (leicht Schwachsinnige und gemütskalte, rohe, aber auch erregbare Psychopathen) waren. Er folgert aus seinen Untersuchungen, daß für eine gesetzliche Privilegierung des Kindesmordes wegen des sog. Ehrennotstandes und der angeblichen seelischen Störung bei der Geburt, für die er niemals Anhaltspunkte fand, keine zwingenden Gründe vorhanden seien. Dieselbe Folgerung h a t auch GTTMMERSBACH gezogen 66 ). A S C H A F F E N BTJRC-57) hat eine genaue Beobachtung der bei normalen ehelichen wie unehelichen Geburten auftretenden Zustände von Erregung usw. durch einen psychiatrisch geschulten Frauenarzt gefordert, um sachliche Unterlagen f ü r die Frage zu erhalten, wie weit durch alle äußeren und inneren Umstände vorübergehende Bewußtseinstrübungen hervorgerufen werden können. Nach meinen Erfahrungen sind Bewußtseinsstörungen bei Kindestötungen große Ausnahmen. Der begleitende Affekt kann vom Richter im Rahmen der Möglichkeiten, die der § 217 StGB gibt, bewertet werden. Zu den krankhaften Bewußtseinsstörungen gehören auch die Dämmerzustände. Darunter versteht man in der Literatur Verschiedenes. Manche Autoren meinen damit Zustände der mehr oder weniger starken Benommenheit mit erschwerter Auffassung, unklarem, verlangsamtem Denken, mangelhafter oder fehlender Orientierung, manchmal mit delirartigen halluzinato64

) MKrB 28, 1937, S. 364. Die von GUMMERSBACH hier aufgeführten Fälle sind bemerkenswert wegen des nicht selten von Mitleid beeinflußten, sonst aber kaum zu rechtfertigenden Urteils durch Laienrichter. «) Referat im Zb.Neur. 98, 1941, S. 619. ") Wiener med. Wschr. 1938, S. 1151. " ) I n HOCHE I , S . 2 9 u n d I I I , S . 1 9 .

Die Zurechnungsfähigkeit der geistig Abnormen

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Tischen Erlebnissen oder illusionären Verkennungen; andere verstehen darunter zeitlieh scharf begrenzte Zustände von „verändertem Bewußtsein ohne auffälliges Hervortreten von Bewußtseinstrübung, Benommenheit oder Inkohärenz 6 8 ). Für die letztgenannte Art h a t Solbrig 5 9 ) die Bezeichnung „alternierendes Bewußtsein" vorgeschlagen. Während die erste Gruppe wegen der Aufdringlichkeit ihrer Symptome keine Schwierigkeiten macht, ist die zweite diagnostisch wie forensisch weniger einfach zu beurteilen, weil solche Zustände nach außen hin nicht besonders aufzufallen brauchen. „Betrachtet man . . . das Benehmen während des Ausnahmezustandes, so ist dies oft völlig klar: er handelt im Besitz seiner bisherigen Kenntnisse usw., oft klug, gewandt und äußerlich ganz korrekt; niemand merkt ihm etwas Besonderes an. Zuweilen aber erscheint er traumhaft verworren, nur Teilfunktionen gelingen ihm gut, aber der gesamte Zusammenhang erscheint u n k l a r " . . . 8 0 ) . Dann sehen wohl gute Bekannte, daß der Gesichtsausdruck verändert ist, sie wundern sich über die eine oder andere Äußerung, irgend etwas an der inkriminierten Handlung erscheint auffällig, unzweckmäßig. Wesentlich ist, daß nachher die Erinnerung an das in solchem Zustande Erlebte fehlt. Solche „Dämmerzustände" kommen bei Epilepsie, aber auch etwa bei Hirnverletzten und nach Vergiftungen vor. Ich habe einen derartigen Fall bei Bleivergiftung zu begutachten gehabt, der in diesem Zustande exhibierte 61 ). In diesen Fällen k o m m t es zu einer Kontinuitätstrennung des Bewußtseins, der Täter lebt während dieser Zeit gewissermaßen ein zweites Dasein. Es ist natürlich, daß es manchmal schwer fällt, das Gericht von der Abnormität eines solchen Zustandes zu überzeugen 62 ). Dabei ist freilich auch zu bedenken, daß nicht selten kriminelle Handlungen mit einem Dämmerzustand entschuldigt werden, während es sich in Wirklichkeit um einfaches Fortlaufen eines Psychopathen oder um durchsichtige Versuche sich herauszulügen handelt. Bei weitem die wichtigste, weil häufigste Form der zu kriminellen Handlungen führenden Bewußtseinsstörung ist der Alkoholrausch. Er soll wegen seiner großen Bedeutung gemeinsam mit anderen Rauschgiften und im Zu. sammenhang mit den dafür getroffenen besonderen Maßnahmen und Bestimmungen in einem eigenen Kapitel behandelt werden. Hier soll nur darauf hingewiesen werden, daß nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts der übermäßige Genuß geistiger Getränke, auch ohne daß sinnlose Trunkenheit und damit Bewußtlosigkeit vorzuliegen braucht, einen Rauschzustand er68

6e

) Jaspers, Allgemeine Psychopathologie.

) Zit. bei Gruhm, Zb.Neur. 131, S. 84. ,0 ) Gruhle, 1. c., S. 83. 61

) Im Kapitel über Vergiftungen und Suchten ist der Fall kurz beschrieben. ) Eine ganze Anzahl von kurz wiedergegebenen Beispielen epileptischer Dämmerzustände hat Knapp mitgeteilt (Arch. Psychiatr. 111, 1940, S. 322). 62

3 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

Das Strafrecht

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zeugen kann, der sich in einer die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Störung des Bewußtseins oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit äußert 63 ). Die krankhafte Störung der Geistestätigkeit und die Geistesschwäche Die Begriffe „krankhafte Störung der Geistestätigkeit'' und,,Geistesschwäche'' sollen hier gemeinsam abgehandelt werden, weil, wie wir sehen werden, die Geistesschwäche mindestens zum Teil in der krankhaften Störung der Geistestätigkeit aufgeht. Zur Zeit werden die beiden Begriffe in der Literatur verschieden und keineswegs besonders glücklich voneinander getrennt. A S C H A F F E N B U B G faßt unter Geistesschwäche die verschiedenen Schwachsinnsformen zusammen 64 ), D E C R I N I S meint damit angeborene und erworbene Schwachsinnszustände 66 ). Nach der Begründung sollte durch die Einführung der ,,Geistesschwäche" sichergestellt werden, daß auch Grenzzustände geistiger Erkrankung durch das Gesetz erfaßt würden 66 ). Dementsprechend meint das Reichsgericht 67 ), die Geistesschwäche unterscheide sich nur dem Grade, nicht der Art nach von der „krankhaften Störung der Geistestätigkeit". SCHÄFER-WAGNER-SCHAFHETTTLE 6 8 ) setzen den Begriff in Parallele mit dem Begriff der Geistesschwäche im § 6 Abs. 1 BGB. Eine solche quantitative Abstufung hätte jedoch nur Sinn, wenn die verschiedenen Grade verschiedene Rechtsfolgen nach sich ziehen würden, wie es im § 6 BGB die Begriffe Geisteskrankheit und Geistesschwäche tun. Da das nicht der Fall ist, verliert eine gradweise Abstufung jede Berechtigung. M. E. wäre eine Differenzierung nach folgenden Gesichtspunkten möglich 69 ): Die „krankhafte Störung der Geistestätigkeit" setzt voraus, daß vorher eine normale, nicht gestörte Geistestätigkeit vorhanden war. Man könnte daher diesem Begriff alle jene krankhaften Abartigkeiten unterordnen, die im Laufe des Lebens entstanden sind, also alle Psychosen, Vergiftungen und die erworbenen Verblödungszustände, z. B. die paralytische Demenz, die PiOKsche Krankheit, die arteriosklerotischen und senilen Prozesse usw., mit anderen Worten alle die psychischen Störungen, die nach unaerer heutigen Auffassung eine körperliche Grundlage haben, auch wenn wir über die Art derselben, wie bei der Schizophrenie oder den manisch-depressiven Erkrankungen, nichts aussagen können. Unter „Geistesschwäche" dagegen könnte man alle die psychischen Abartigkeiten verstehen, die von der Geburt oder jedenfalls von frühester Jugend an bestehen. Dazu würden dann also die an63 el

) JW 1938, S. 2270 u. 2947; DJ 1938, S. 1760; RKG 2, 1940, H. 3.

) I n HOCHE I I I , S. 3 3 .

«) 86 ) «') 68 )

Gerichtliche Psychiatrie S. 211. MEZGER, Grundriß S. 80. RGSt. 73, S. 121. Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher usw. Berlin 1934, S. 178.

«•) S. auch AZPs. 128,1944, S. 13Ö; ähnlich KAHN, MKTPS. 14, 1923, S. 259.

Die Zurechnungsfähigkeit der geistig Abnormen

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geborenen und früh erworbenen Schwachsinnszustände und die schweren Psychopathien zu rechnen sein 70 ). Eine solche Unterscheidung wäre sinnvoll; sie hat jedoch auch ihre Nachteile. Geistesschwäche in diesem Sinne wäre nämlich etwas ganz anderes als Geistesschwäche im Sinne des § 6 BGB. Man sollte aber vermeiden, gleichen Ausdrücken einen ganz verschiedenen Sinn unterzulegen. Dadurch, daß die Ausdrücke „Geistesstörung" und „Geisteskrankheit" im Ehegesetz wieder eine andere Bedeutung haben, ist auf dem Gebiete der Begriffsbildung ein recht erhebliches Durcheinander entstanden. Das Bestreben muß aber dahin gehen, die Ausdrucksweise klar und verständlich zu gestalten. Zahlreiche Juristen und Psychiater 71 ) sind daher der Meinung, daß die „Geistesschwäche" im § 51 StGB fortfallen könne. Dem entspricht der Vorschlag der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie, der oben (S. 17) wiedergegeben ist. Ich habe früher die gleiche Meinung vertreten, glaube jetzt aber, daß man trotz der bestehenden Bedenken den Begriff „Geistesschwäche" beibehalten sollte. Einmal sprechen praktische Erwägungen dafür: von Laien werden leichtere Schwachsinnszustände nicht als krankhaft bewertet. Zum anderen halten wir Psychiater die Psychopathen zwar für abnorm, aber nicht für krank und müßten diese große Gruppe ausschalten; es war aber gerade die Absicht, diese Grenzzustände mit zu erfassen 72 ). c) D i e p s y c h o l o g i s c h e n

Voraussetzungen

Mit dem Vorliegen einer der biologischen Voraussetzungen (Bewußtseinsstörung, krankhafte Störung der Geistestätigkeit, Geistesschwäche) ist nun keineswegs schon immer die Frage der Zurechnungsfähigkeit entschieden. Zwar exkulpiert nach einer stillen Übereinkunft eine echte Psychose, sobald ihre Diagnose feststeht oder wenigstens sehr wahrscheinlich ist, ohne weiteres ; in diesen Fällen wird allgemein angenommen, daß die psychischen Funktionen in einer für den Gesunden nicht einfühlbaren Weise verändert sind und daß in keinem Falle Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit ausgeschaltet werden können 73 ). Zu diesen Psychosen gehören die endogenen Geisteskrankheiten (Schizophrenie, manisch-depressives Irresein), die organischen Gehirnkrankheiten (z. B. progressive Paralyse, manche Formen der Lues cerebri, Demenzzustände bei Hirnarteriosklerose und im Senium), exogene Psychosen 70 ) Dazu MEZGER, Persönlichkeit und strafrechtliche Zurechnung. München 1926, S. 11. 71

) So TÖBBEN (DZgM 24, 1935, S. 98), B. MÜLLEB (ebenda, S. 115), E. SCHULTZE

(Deutsches Strafrecht, Neue Folge 2, 1935, S. 34), 'RITTERSHAUS (PS. neur. Wschr. 1934, S. 3). Von Juristen haben sich u. a. MEZGER (Deutsches Strafrecht, ein Grundriß. 1938, S. 80), GRAF z u DOHNA (Der Aufbau der Verbrechenslehre, 1936, S. 37)

und MAYER (Das Strafrecht des Deutschen Volkes, 1936, S. 287) gegen die besondere Nennung der Geistesschwäche ausgesprochen. 72 ) Der Entwurf von 1958 hat dafür eine „auf schwerer angeborener oder erworbener Abartigkeit beruhende seelische Störung" eingesetzt (S. dazu S. 168). 73 ) Die Frage der partiellen Zurechnungsfähigkeit wird später besprochen werden. 3*

Das Strafrecht

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bei körperlichen Erkrankungen, Vergiftungen, Fieberdelirien usw., Verwirrtheits- und Dämmerzustände bei allen Formen der Epilepsie. Daneben aber gibt es Abartigkeiten, die fließend vom Gesunden zum Kranken führen; hier kommt die psychologische Fragestellung zu ihrem Recht. Dabei ist z. B. an den Schwachsinn zu denken, der von der noch normalen Dummheit bis zur schwersten Idiotie alle Übergänge zeigt, an Rauschzustände vom „kleinen Schwips" bis zur sinnlosen Betrunkenheit, an Affekthandlungen, an Stimmungsschwankungen der Psychopathen, der Epileptiker u. a. m. In diesen irgendwie zweifelhaften Fällen ist also zu untersuchen, wie es um die Fähigkeit des Täters steht, das Unerlaubte der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Besitzt er beide Fähigkeiten, so ist er als zurechnungsfähig auch dann anzusehen, wenn eine der biologischen Voraussetzungen gegeben ist 74 ). Zunächst ist die Frage zu klären, was als „unerlaubt" gilt. „Unerlaubt ist", so sagt SCHÖNKE in seinem Kommentar 76 ), „was das Recht oder das Sittengesetz verbietet." Es handelt sich dabei um moralisch Unerlaubtes. Der Begriff ist weiter als der des „Ungesetzlichen", der früher im Jugendstrafrecht verwendet wurde, und als der des „Unrechts", der in das neue Jugendstrafrecht übernommen ist 76 ). Verhältnismäßig einfach ist die Prüfung der Einsichtsfähigkeit. Oft genug ist ihr Vorhandensein schon aus den Akten zu erweisen, aus der Art des Geständnisses sowohl wie aus dem anfänglichen Ableugnen. Bei Sittlichkeitsverbrechern z. B. läßt sich die Einsichtsfähigkeit oft daraus erschließen, daß den Kindern vom Täter verboten wird, über das Geschehene zu reden. Auch der Umstand, daß jemand wegen der gleichen Tat schon einmal bestraft war, läßt im allgemeinen darauf schließen, daß er wußte, daß er Unerlaubtes tat. Es kommt im übrigen nicht darauf an, daß der Täter zur Zeit der Tat das Unerlaubte derselben wirklich eingesehen hat, sondern nur darauf, daß er die Fähigkeit dazu hatte. Nun kann man sich über die Urteilsfähigkeit eines Menschen mit den in der Psychiatrie üblichen Methoden in der Regel wenigstens ein einigermaßen zutreffendes Bild machen. Die Prüfung geht ja auf den Intellekt, der ungefähr gleich bleibt, wenn sich nicht in der Zwischenzeit eine gröbere Demenz entwickelt hat. Freilich muß diese Prüfung mit aller Sorgfalt durchgeführt werden, man darf sich namentlich nicht mit der Prüfung der Schulkenntnisse begnügen, wenn man grobe Irrtümer vermeiden will. Ich hatte vor Jahren einen Mann wegen eines Sittlichkeitsdelikts zu begutachten, der als 15j ähriger wegen Schwachsinns exkulpiert war. Damals hatte er gebettelt und Zechprellereien auf das Geheiß seiner schwer psychopathischen Mutter begangen. Es waren damals nur die freilich sehr dürftigen Schulkenntnisse geprüft. Dieser angeb74

) RGSt. 73, S. 122; JW 1939, S. 87. ) 7. Aufl., S. 224. ">) Über diese Begriffe s. S. 130.

75

Die Zurechnungsfähigkeit der geistig Abnormen

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lioh Schwachsinnige hatte es inzwischen immerhin zum Lektor der englischen Sprache an einer südamerikanischen Universität gebracht.

Namentlich muß man wissen, daß es Hochintelligente gibt, die auf einem Gebiet restlos versagen; ich erinnere an W I L H . S C H M I D T , den Erfinder der Heißdampf-Lokomotive, der als Schlosserlehrling von einer Fachschule wegen mangelhafter Leistungen als ungeeignet zurückgeschickt wurde. Bekannt ist, daß die Rechenleistungen von Frauen oft recht dürftig sind. So habe ich mich einmal vergeblich bemüht, einer sonst durchaus klugen Studentin klar zu machen, daß man den Bruch 1 / 5 auch wie 0,2 schreiben könne. Umgekehrt haben manche Schwachsinnige einzelne gut ausgebildete Fähigkeiten; manche multiplizieren z. B. spielend vierstellige Zahlen im Kopf, andere haben ein erstaunliches Gedächtnis für Zahlen, wieder andere haben eine gewisse technische Begabung. Aber diese Fähigkeiten ragen wie hohe Bäume aus niedrigem Gestrüpp heraus und dürfen über den allgemeinen Tiefstand ihrer Fähigkeiten und ihres Könnens nicht hinwegtäuschen. In jedem Falle tut man gut, das durch Prüfungen gewonnene Bild durch die im Leben erzielten Leistungen zu kontrollieren. Dann werden Irrtümer nur selten vorkommen. Sehr viel schwerer ist die Feststellung, ob der Täter zur Zeit der Tat die Fähigkeit hatte, nach der vorhandenen Einsicht zu handeln"). Diese Fähigkeit bezieht sich auf sein Wollen, das vorwiegend aus seinem Gefühls- und Triebleben seine Impulse erhält. Dabei spielen seelische Vorgänge mit, die einer objektivierenden Prüfung nicht zugänglich sind. Sie sind auch zur Zeit der Untersuchung nicht mehr die gleichen wie zur Zeit der Tat. Wir können sie nur rekonstruieren, indem wir einfühlend und nacherlebend Motive und Entschluß zum kriminellen Handeln zu verstehen versuchen. Die Möglichkeit hierzu hängt aber nicht nur von der Einfühlungsfähigkeit des Unter suchers ab; es kommt auch darauf an, ob zwischen Täter und Gutachter der nötige Kontakt zustande kommt, ob der Täter zum Gutachter Vertrauen gewinnt oder nicht. Insofern haftet den Antworten auf diese Frage ein gewisser Unsicherheitsfaktor an, der aber mit in Kauf genommen werden muß. Handelt es sich um Psychosen, so sind wir nicht imstande, die innerseelische Situation nachzugestalten. Wir wissen nicht, was eigentlich in solchen Kranken vorgeht. Es gilt daher, wie ich schon oben sagte, als abgemacht, daß die Psychose mit seltenen Ausnahmen exkulpiert. Anders bei Psychopathen, Debilen, Angetrunkenen. Hier wird die Beurteilung bis zu einem gewissen Grade von der Einstellung des Sachverständigen abhängen. Wie soll man hier die nötige Sicherheit finden 1 Es handelt sich ja gerade bei diesen Persönlichkeitstypen oft nicht um persönlichkeitsfremde Taten, ") Kurt SCHNEIDER (Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit. 2. Aufl. 1953) hält diese Frage überhaupt für unbeantwortbar. Das ist in der Tat in allen den Fällen richtig, in denen die Tat aus plötzlichen Impulsen heraus entsteht. Gegen die Verallgemeinerung hat SEELIG m. E. mit Recht Bedenken geäußert (Zum Problem der Neufassung des § 51 in der Festschrift für Edmund Mezger, S. 213).

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Das Strafrecht

sondern gerade um adäquate Handlungen, die im Schwachsinn, in der Besonderheit des Psychopathen ihren eigentlichen Grund haben. Es kommt, wie das Reichsgericht sagt, darauf an, daß der Täter die Fähigkeit hat, die Anreize zur Tat und die ihr entgegenstehenden Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach seinen Willensentschluß zu bilden, dem verbrecherischen Antriebe also die nötigen Hemmungen entgegenzusetzen78). Nun setzt zwar die Prüfung dieser Fähigkeiten voraus, daß der Täter nicht nur die Fähigkeit zur Einsicht, sondern die Einsicht selbst in das Unerlaubte seines Tuns besaß 79 ); in der Wirklichkeit lassen sich aber intellektuelle und Willensfaktoren, wenn ich diesen Ausdruck für die Gesamtheit der übrigen zur Handlung drängenden seelischen Vorgänge anwenden darf, nicht voneinander sondern. Überlegungen werden weitgehend von Gefühlsvorgängen beherrscht, namentlich von Wünschen, Haß und Liebe. Niemand ist imstande, sich diesen Einflüssen ganz zu entziehen. Andererseits verhindert gerade die ruhige Überlegung die Verwirklichung von Wünschen krimineller Art. Dieses innige Ineinandergreifen ist von Bedeutung besonders bei Schwachsinnigen, bei denen zwar die Einsicht in das Unerlaubte ihrer Tat vorhanden sein kann, bei denen aber die Intelligenzmängel die Bildung ausreichender Hemmungsvorstellungen verhindern. Es wird auch hier darauf ankommen, aus dem bisherigen Leben des Täters, seiner Entwicklung, seinen Schul- und Berufsleistungen, seinem Ruf, seinen Neigungen und Interessen, seinen etwaigen Krankheiten und seiner Herkunft ein Gesamtbild seiner Persönlichkeit zu gewinnen und diese Persönlichkeit zur Tat in Beziehung zu setzen. Gerade hierbei spielt die Tat, ihre Ausführung, ihre Vorbereitung und ihre Motivierung eine Rolle 80 ). Damit kommen wir zu einer wichtigen Neuerung gegenüber der früheren Fassung des § 51 StGB. In dem dem Reichstag vorgelegten Entwurf des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund lautete der § 49: „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustand der Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch welchen seine freie Willensbestimmung in Beziehung auf die Handlung ausgeschlossen war."

Die Worte „in Beziehung auf die Handlung" waren auf das Verlangen des Sächsischen Landes-Medizinalkollegiums hinzugefügt. Es sollte dadurch das Erfordernis der Kausalverknüpfung von Krankheit und Tat ausdrücklich hervorgehoben werden, „da sonst zu befürchten sei, daß der Nachweis einer allseitigen Ausschließung der freien Willensbestimmung gefordert werden würde und dieser Nachweis in vielen unzweifelhaft zu exkulpierenden Fällen nicht erbracht werden könnte" 81 ). Diese Worte sind bei der dritten Lesung im Reichstag am 2 3 . V. 1 8 7 0 auf Antrag des Abgeordneten S A L T Z W E D E L "») RGSt. 57, S. 76. 79

)

S C H Ä F E R - W A G N E R - S C H A F H E U T L E , . 1. c . , S .

180.

) Geisteskranke können freilich aus durchaus krankhaften Motiven zielsicher handeln. 81 ) Zit. nach MEZGEK, Persönlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, S. 28. 80

Die Zurechnungsfähigkeit der geistig Abnormen

39

und Genossen gestrichen. Letzterer begründete den Antrag u. a. damit, daß es sich um eine Bestimmung von unberechenbarer Tragweite handele; denn durch sie werde „der Richter gezwungen, vom Sachverständigen den Nachweis zu verlangen, daß der Verbrecher durch die Geisteskrankheit an der freien Willensbestimmung in Bezug auf die Handlung gehindert war". Infolge dieser Streichung genügte das rein zeitliche Zusammentreffen von krankhafter Geistesstörung mit einem Delikt, um die Zurechnungsfähigkeit zu verneinen. Ein Nachweis, daß die Tat in ursächlichem Zusammenhang mit der krankhaften Störung der Geistestätigkeit stand, war nicht erforderlich. In der neuen Fassung des § 51 StGB wird jedoch nicht mehr einfach eine Störung der Verstandestätigkeit oder der Handlungsfähigkeit verlangt, sondern der Täter muß unfähig sein, das Unerlaubte der Tat, d. h. der von ihm speziell begangenen Tat einzusehen oder nach dieser Fähigkeit zu handeln. Damit ist die im Jahre 1870 gestrichene kausale Beziehung zwischen Geistesstörung und Tat wieder eingefügt, wenn auch in verändertem Wortlaut. Es kommt also nicht mehr allein auf den Täter an, sondern auch auf die Tat. Damit gewinnen nun Probleme an Bedeutung, die in der Diskussion der vergangenen Jahrzehnte mehr theoretisch als praktisch eine Rolle gespielt haben, die Probleme der partiellen Zurechnungsfähigkeit und der partiellen (temporären) Zurechnungsunfähigkeit. Unter partieller Zurechnungsfähigkeit versteht man die Möglichkeit, daß ein Geisteskranker und im allgemeinen Zurechnungsunfähiger einzelne Delikte begehen könnte, für die er verantwortlich zu machen wäre. Umgekehrt bezeichnet man die Möglichkeit, daß ein im allgemeinen Zurechnungsfähiger für manche Delikte nicht verantwortlich sein könnte, als partielle Zurechnungsunfähigkeit oder auf Vorschlag A S C H A F F E N B U B G S wegen der häufigen Verwechslung der beiden Begriffe m. E. weniger gut als „temporäre Zurechnungsunfähigkeit". Fast einhellig geht zunächst die Meinung der Autoren dahin, daß eine partielle Zurechnungsunfähigkeit nicht nur theoretisch möglich ist, sondern auch praktisch öfter anzunehmen ist 82 ). Dabei kommen beispielsweise Fälle folgender Art in Betracht: Ein Schwachsinniger ist etwa für einen von ihm begangenen Diebstahl voll verantwortlich, weil er durchaus die Einsicht in das Unerlaubte der Tat h a t ; derselbe Schwachsinnige muß aber vielleicht für eine Urkundenfälschung exkulpiert werden, weil er diesem komplizierteren Tatbestand intellektuell nicht gewachsen ist. Dazu gehören auch Fälle pathologischer Reaktion bei Affekten oder auf Alkohol (daher die Bezeichnung „temporär", die aber auf den Schwachsinnigen nicht paßt), die im Morphiumhunger begangenen Rezeptfälschungen Süchtiger, die Gewalttat des gereizten Epileptikers, Betrügereien im Zustande manischer Verstimmung und der82

) Widersprochen haben nur SEELIG, Die Prüfung der Zurechnungsfähigkeit durch den Richter, Graz 1920 und RÜMELIN, Der Geisteskranke im Rechtsverkehr, 1912. Zustimmend u. a. WETZEL, MKrPs. 10, 1914, S. 689; BEKZE, MKrPs. 1, 1904, S. 205 und namentlich ASCHAFFENBURG in HOCHE I, S. 30ff. und I I I , S. 27 und 41.

Das Strafrecht

40

gleichen. Auch gewisse Querulantentypen können hinsichtlich ihrer Zurechnungsfähigkeit verschieden beurteilt werden je nachdem ob es sich etwa um Diebstahl, Betrug oder um Taten handelt, die mit ihren wahnhaften Ideen zusammenhängen. Sehr umstritten ist dagegen das Problem der partiellen Zurechnungsfähig keit. Namhafte Autoren haben sich für und gegen sie ausgesprochen. Wir müssen daher etwas näher darauf eingehen. Die Diskussion ging aus von TH. ZIEHEN83), der sich 1899 rein theoretisch de lege ferenda die Frage vorlegte, ,,ob paranoische Wahnvorstellungen unter allen Umständen ein Exkulpationsgrund" seien. Er meinte, der Richter solle „den Nachweis verlangen dürfen, daß die Wahnvorstellung wirklich auch bei der psychologischen Entstehung der speziell unter Anklage stehenden Strafhandlung eine Rolle gespielt" habe. Er schreibt weiter: Man kann sich sehr wohl den Fall denken, wenn er auch äußerst selten sein wird, daß jemand, der durch Verführung moralisch verwahrlost ist, einerseits an Paranoia erkrankt und andererseits unabhängig von paranoischen Vorstellungen, lediglich auf Grund moralischer Verkommenheit Strafhandlungen sich zu Schulden kommen läßt. Offenbar hat die Paranoia in solchen Fällen gar keine exkulpierende Kraft 8 4 ). Diese Ansicht ist in der Folgezeit von einer Reihe von Autoren heftig bekämpft worden. Zunächst haben auf der Jahresversammlung deutscher Irrenärtze in Halle a. d. Saale im Jahre 1899 W O L L E N B E R G , F Ü R S T N E R , T T J C Z E K und H I T Z I G sich gegen Z I E H E N S Ansicht ausgesprochen. Im wesentlichen haben sie dagegen eingewandt, daß es isolierte Wahnideen nicht gäbe ( F Ü E S T N E B , T T J C Z E K ) ; W O L L E N B E R G erklärte, s. E. sei in allen den Fällen die Zurechnungsfähigkeit ausgeschlossen, in denen die Diagnose einer ausgesprochenen Geisteskrankheit gestellt sei 88 ). Demgegenüber betonte ZIEHEN86), daß er von isolierten Wahnideen nicht gesprochen habe; man müsse doch aber anerkennen, „daß selbst von schwer geisteskranken Individuen zahlreiche Handlungen ausgeführt werden, bei welchen ihre Geisteskrankheit nicht von Einfluß ist. Mag man immer an der Allgemeinheit aller Geistesstörungen festhalten, man wird doch nicht behaupten wollen, daß bei jeder Handlung die Geistesstörung wirksam ist. . . . Wie viele Paranoiker schließen Käufe und Verkäufe ab, ohne daß irgendein Symptom ihrer geistigen Störung mitspricht. Wenn man in all diesen Fällen davon sprechen wollte, daß die ganze Persönlichkeit erkrankt sei, so halte ich das für einen Humbug, der nicht .streng' genug verurteilt werden kann und die Psychiatrie auf das Tiefste diskreditieren muß". ) Mschr. f. Psychiatr. u. Neur. 5, 1899, S. 57 ff. ) Ähnliche Gedanken hatte, wie W O L L E N B E R G mitgeteilt hat (AZPs. S. 618) auf einer Tagung in London (1898 ?) schon M E R C I E R geäußert. 86 ) Mschr. f. Psychiatr. u. Neur. 5, 1899, S. 388ff. u. AZPs. 56, S. 615. 8 6 ) Mschr. f. Psychiatr. u. Neur. 5, 1899, S. 461. e3

84

56,

1899,

Die Zurechnungsfähigkeit der geistig Abnormen

41

Ablehnend haben sich in der Folgezeit z. B. W E T Z E L geäußert87), der sagt, es könne bei den psychischen Krankheitsprozessen nur Zurechnungsfähigkeit oder Zurechnungsunfähigkeit geben, nicht aber verminderte und auch nicht partielle Zurechnungsfähigkeit. AuchVOEKASTNER ist mit der Annahme einer partiellen Zurechnungsfähigkeit nicht einverstanden; er meint, wir seien „weit davon entfernt, einen so klaren Einblick in das Seelenleben der Geisteskranken zu haben, daß wir im Einzelfall das Hineinspielen krankhafter Motive trotz ihres scheinbaren Fehlens mit genügender Sicherheit ausschließen" könnten 88 ). Schließlich hat ASCHAFFENBTTRG sich energisch gegen die Annahme der partiellen Zurechnungsfähigkeit gewandt. Er hält es „für unmöglich, auch nur in einem Falle den Nachweis des Nichtzusammenhangs zu führen89). Bisher sei auch beweiskräftiges Material für das Bestehen der partiellen Zurechnungsfähigkeit nicht beigebracht worden. Namhafte Autoren haben sich jedoch auch für die partielle Zurechnungsfähigkeit ausgesprochen. So wollen E. BLEULER90) und KAHN91) leichte Fälle von Schizophrenie für gewisse Straftaten verantwortlich machen. Wichtig erscheint mir ein von B O N H O E F F E R berichteter Fall92), den ASCHAFFENBURG anscheinend übersehen hat. Es handelte sich um einen 32jährigen Mann, der zuerst im Alter von 12 Jahren wegen Diebstahls verurteilt war; bis zum 20. Jahre hatte er sich 6 Strafen mit zusammen 5 Jahren Gefängnis zugezogen und wurde emeut wegen einer Reihe von Diebstählen zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach zweijähriger Strafhaft, also im Alter von 22 Jahren erkrankte er an Beeinträchtigungsideen, die auf Gehörshalluzinationen und andere pathologische Erlebnisse zurückzuführen waren. Diese Ideen blieben in deutlichen Resten bestehen. Trotzdem wurde er wegen erneuten Diebstahls zu 7 Jahren Zuchthaus verurteilt. B O N H O E F F E R sagt dazu: „Bei einer gewissen Gattung paranoischer Zustände, von denen ,der kurz zitierte' Fall ein Beispiel ist, hieße es meiner Ansicht nach eine Überschätzung der Bedeutung der vorhandenen Wahnideen, wenn in ihrem Vorhandensein ohne weiteres ein die Zurechnungsfähigkeit ausschließendes Moment erblickt" würde. Er stimmt Z I E H E N auch darin zu, „daß vom Standpunkte des Rechtsbewußtseins die einzelne inkriminierte Tat pathologisch motiviert sein muß, wenn Exkulpation eintreten soll. Ebensowenig wird es in Abrede zu stellen sein, daß bei Geisteskranken kriminelle Handlungen vorkommen können, die lediglich als Fortsetzung einer vor Ausbruch der Geisteskrankheit schon vorhandenen verbrecherischen Vergangenheit aufzufassen sind." 87

) MKrPs. 10, 1914, S. 696.

88

) BUMKE I V , S. 177.

89

) I n HOCHE I I I , S. 24ff.

90

) Centralbl. f. Nervenheilkunde 32, 1909, S. 241 u. Vierteljahrsschr. f. Gerichtl. Med. 44, 1913, S. 11. Die hier angeführten Fälle wirken nicht überzeugend. M ) MKrPs. 14, 1923, S. 250. 92 ) Zentralbl. f. Nervenheilk. 22, 1899, S. 449.

Das Strafrecht

42

In neuerer Zeit hat MEZGER93) sich für die Möglichkeit einer partiellen Zurechnungsfähigkeit ausgesprochen; LAUTIER94) erklärte eine Frau mit Verfolgungswahn für zurechnungsfähig, die Diebstähle beging, die in keinem ersichtlichen Zusammenhange mit den Wahnideen standen, und G A U P P 9 5 ) hat in der Diskussion über einen die partielle Geschäftsfähigkeit betreffenden Vortrag B E B I N G E R S auf der Tagung der südwestdeutschen Psychiater 1 9 3 5 erklärt, er lasse auch den Begriff der partiellen Zurechnungsfähigkeit für manche Fälle gelten, z . B . für Gewohnheitsverbrecher, die reaktiv paranoisch würden, bei neuen Delikten analoger Art. Meine eigene Ansicht geht dahin: Zweifellos gibt es auch bei Geisteskranken zahlreiche Handlungen, auch solche krimineller Art, die mit der geistigen Erkrankung nichts zu tun haben; die partielle Zurechnungsfähigkeit ist daher in der Theorie zu bejahen. Praktisch wird es jedoch in der weitaus größeren Zahl der Fälle von psychotischen Störungen nicht möglich sein, das Fehlen eines Zusammenhanges zwischen Tat und Geistesstörung wahrscheinlich zu machen. Dieser Nachweis wird nur in sehr seltenen Fällen gelingen. Dabei wird, wie aus dem oben mitgeteilten Beispiel hervorgeht, die präpsychotische Persönlichkeit, die Art des Delikts und die zeitliche Lage der ganzen Deliktsreihe vor und während der Erkrankung eine bedeutsame Rolle spielen. Insbesondere ist zu prüfen, ob die anscheinend vor Ausbruch der Psychose liegenden Delikte nicht schon Ausdruck der beginnenden Psychose sind.

2. Die verminderte

Zurechnungsfähigkeit

Das deutsche Strafgesetz kannte bis 1933 die verminderte Zurechnungsfähigkeit nicht. Diese ist erst durch das GgG im Strafrecht verankert worden. Dabei wird eine erhebliche Herabsetzung der Zurechnungsfähigkeit verlangt, damit die Strafmilderung eintreten kann 1 ). Der Übernahme des Begriffs ging ein langer Kampf voraus. Während sich namentlich die Psychiater, aber auch namhafte Juristen für die Einführung der „verminderten Zurechnungsfähigkeit" einsetzten — erwähnt seien namentlich ASCHAFFENBURG und von den Juristen KAHL2) —, hat sich besonders der Psychiater W I L M A N N S sehr energisch dagegen gewehrt 3 ). Zweifellos gehört diese Frage zu den schwierig93

) Persönlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, S. 35. ) Zb.Neur. 53, 1928, S. 416. 95 ) Zb.Neur. 74, 1935, S. 572. !) Der Wortlaut des § 51 Abs. 2 StGB findet sich auf S. 16. 2 ) Namentlich in seiner Darstellung der „Geminderten Zurechnungsfähigkeit in der Vergleichenden Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts", Allg. Teil I, 1907, S. 1—78. 3 ) Die sogenannte verminderte Zurechnungsfähigkeit, Berlin 1927. Dort finden sich in einem umfangreichen Literaturverzeichnis auch Angaben über die zahlreichen Schriften ASCHAFFENBURGS ZU dieser Frage. WILMANNS wurde unterstützt durch HOMBURGER (Dtsch. med. Wschr. 1928, S. 1364). Kritisch dazu MEZGEB (Der Ge94

r i c h t s s a a l 96, 1928, S. 69) u n d FINGEB ( D e r G e r i c h t s s a a l 1928).

Die verminderte Zurechnungsfähigkeit

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sten und problematischsten der forensischen Psychiatrie; sie rührt an Grundfragen des Strafrechts überhaupt. Auch jetzt ist die Diskussion darüber nicht abgeschlossen. So hat sich W Ö L F L E wieder in ablehnendem Sinne geäußert 4 ), und in der Diskussion im Anschluß an einen Vortrag von B Ö N I N G im Juni 1955 wurden gleichfalls Bedenken geäußert, weil die Bestimmung anscheinend oft als Verlegenheitslösung benutzt wird 5 ). Hier können wir diese Problematik nur andeuten. Die Situation hat sich gegen früher insofern verschoben, als die Mehrzahl derer, für die die verminderte Zurechnungsfähigkeit erwünscht schien und daher gefordert wurde, die Psychopathen, anders beurteilt werden als früher. Früher hielt man die Psychopathien für leichtere Formen von Geisteskrankheiten, und da man Geisteskrankheiten und Gehirnkrankheiten gleichsetzte, sah man die Psychopathien als leichtere Gehirnkrankheiten an. Diese Auffassung hat sich im Laufe der Zeit grundsätzlich geändert: Heute sehen wir in den Psychopathen besondere Persönlichkeitstypen, Persönlichkeitsspielarten, die nur insofern abnorm sind, als sie von einer in Wirklichkeit nicht vorhandenen, aber vorstellbaren Norm, nach irgend einer Seite hin abweichen 6 ). Zwischen Psychopathie und Geisteskrankheit gibt es keine Übergänge; wenn wir in manchen Fällen etwa von schizoider Psychopathie nicht sicher sagen können, ob schon eine Schizophrenie vorliegt oder nur eine Psychopathie, wenn in solchen Fällen also Übergänge vorhanden zu sein acheinen, so liegt diese Unsicherheit der Beurteilung an der UnVollkommenheit unserer Untersuchungsmethoden, an der Unmöglichkeit, genaue Angaben über den Längsschnitt des geistigen Entwicklungsganges zu erhalten; an der prinzipiellen Verschiedenheit beider Zustände, der schizoiden Psychopathie und der Schizophrenie, ändert das nichts 7 ). Damit ist aber eine gradweise Abstufung der Verantwortlichkeit gegenüber den Geisteskranken nicht mehr möglich; die Psychopathen müssen strafrechtlich als eine eigene Gruppe gewertet werden, und diese Wertung wird, das unterliegt keinem Zweifel, im Einzelfall nach dem subjektiven Ermessen des Gutachters und des Richters vorgenommen werden. Dadurch wird eine gewisse Unsicherheit in der Beurteilung unvermeidbar. Besonders hervorgehoben und als Argument gegen die verminderte Zurechnungsfähigkeit ausgespielt wird sie von W I L M A N N S , der sich auf einen Ausspruch von R A D B E T J C H beruft: „Je mehr Grenzen, um so mehr Grenzfälle, je mehr Grenzfälle, um so mehr Streitfragen, um so mehr Rechtsunsicherheit". Wird nun durch die Einführung der verminderten Zurechnungsfähig4

) Verminderte Zurechnungsfähigkeit und Strafrechtsschuld, Breslau 1940. ) Der Entwurf von 1938 hat die Bestimmung beibehalten. e ) Unrichtig ist es aber zu sagen, sie besäßen „von Geburt an nur ein gewisses Minus an emotionalen Kräften" ( W Ö L F L S 1. C., S. 86); das trifft nur für eine bestimmte, kriminologisch freilich bedeutsame Gruppe zu. 7 ) So auch Kurt S C H N E I D E R (Die psychopathischen Persönlichkeiten), während K E E T S C H M E B , m. E. zu Unrecht, fließende Übergänge zur Geisteskrankheit annimmt (Körperbau und Charakter). 6

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Das Strafrecht

keit die Rechtsunsicherheit wirklich vergrößert ? Stimmten die Ansichten früher, als es noch keine verminderte Zurechnungsfähigkeit gab, so weit überein, daß die Beurteilung annähernd die gleiche war ? Betrachten wir diese Frage durch einen Vergleich der von drei prominenten Psychiatern während des ersten Weltkrieges begutachteten psychopathischen Soldaten! KLEIST und WISSMANN 8 ) nahmen bei 36 Fällen 13mal Zurechnungsunfähigkeit an; WEILER9) hat 13% seiner Soldaten, abgesehen von den eigentlichen Geisteskranken den Schutz des § 51 StGB zugebilligt; KLIENEBERGER 1 0 ) dagegen hat sämtliche 25 Psychopathen, über die er berichtet, für strafrechtlich verantwortlich erklärt. Hier traten also bei Autoren, denen man Wissen, Sorgfalt und Erfahrung nicht absprechen kann, Differenzen zwischen 0 und 36% auf. Mir scheint hier von einer gleichmäßigen Anwendung des Rechts auch ohne die verminderte Zurechnungsfähigkeit nicht gesprochen werden zu können; jedenfalls scheint mir die Gefahr, daß die Rechtsunsicherheit durch die Einführung der verminderten Zurechnungsfähigkeit vergrößert werde, nicht allzu groß; eine Angleichung der Meinungen ist sogar wahrscheinlicher. Es sind jedoch nicht nur die Psychopathen, für die die verminderte Zurechnungsfähigkeit gedacht war; sie ist auch für andere Gruppen anwendbar. Da ist zunächst die große Zahl der Schwachsinnigen. Bei ihnen trifft das zu, was man früher auch für die Psychopathen annahm, nämlich der fließende Übergang zwischen „gesund" und „krank" 11 ), ohne daß es möglich wäre, scharfe Grenzen zu ziehen. Ein solcher gleitender Übergang ist auch beim Altersabbau vorhanden, bei der beginnenden arteriosklerotischen und senilen Demenz, ein Gebiet, das mir, wie ich gestehe, oft große Schwierigkeiten macht, weil bei den Prüfungen nur geringe Abbauerscheinungen nachweisbar sind, und weil doch das Begehen eines ersten Delikts im höheren Alter auf eine Veränderung der Persönlichkeit hinweist. Dazu kommen einige wenige stärker wesensveränderte Epileptiker, mit Defekt geheilte Schizophrene und Paralytiker, Hirnverletzte, vorzeitige Versagenszustände 12 ) usw. Eine weitere Gruppe wird gebildet von den akuten und chronischen Vergiftungen mit Alkohol, den Abkömmlingen des Opiums und anderen Mitteln. Schließlich verdienen, freilich nur in besonderen Ausnahmefällen, Erschöpfungszustände erwähnt zu werden. Ganz besonders wichtig ist die strafrechtliche Beurteilung der Psychopathen, einmal, weil sich unter ihnen zahlreiche gefährliche Gewohnheitsverbrecher befinden, sodann aber auch, weil sie den Löwenanteil der psych8 ) AZPs. 76, 1920/21, S. 85. ») MKrPs. 13, 1922/23, S. 191. 10 ) Arch. Psychiatr. 94, 1931, S. 145. u ) In Wirklichkeit handelt es sich bei den vererblichen Schwachsinnsformen auch nur um Persönlichkeitsvarianten wie bei den Psychopathen, um Spielarten, denen wir aus soziologischen Gründen Krankheitswert zugestehen. 12

) s. MALLISON, AZPS. 124, 1949, S. 100.

Die verminderte Zurechnungsfähigkeit

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iatrisch zu Begutachtenden bilden. Sie müssen daher etwas näher besprochen werden. Psychopathen sind, wie schon oben gesagt ist, Persönlichkeitsspielarten, Variationen der Norm. Dabei bleibt die Frage der intellektuellen Veranlagung ganz außer Betracht: ein Psychopath kann zugleich auch schwachsinnig sein, er kann ebensogut über eine normale Intelligenz verfügen — und das ist die Regel —, er kann sogar genial sein. Es finden sich unter ihnen wertvollste Kulturbringer13) neben minderwertigen Faulenzern und Verbrechern. Der größte Teil der Psychopathen ordnet sich in ruhigen Zeiten reibungslos der Gemeinschaft ein. Der Begriff „Psychopath" ist daher, wenn man vom Biologischen, von seiner Fähigkeit sich innerhalb der natürlichen Lebensbedingungen zu behaupten, absieht, wertfrei. Erst den Einzelfall können wir mit dem Urteil „wertvoll" oder „minderwertig" versehen. Erfüllen nun diese Menschen alle oder zum Teil eine der biologischen Voraussetzungen des § 51 StGB, oder sind sie nicht vielmehr als gesund anzusehen und daher strafrechtlich voll zurechnungsfähig ?14) Es ist selbstverständlich, daß auch Psychopathen einmal bewußtseinsgestört sein können, z. B. im Fieber oder im Rausch; aber kann man sie generell oder zum Teil der „krankhaften Störung der Geistestätigkeit" oder der „Geistesschwäche" zuordnen ? Sicher hat sich unsere Auffassung von der strafrechtlichen Beurteilung der Psychopathen wesentlich geändert. Noch BIRNBAUM vertrat die Meinung, daß die Psychopathen kranke Menschen seien, und hielt sie generell für vermindert zurechnungsfähig16). Dem hat schon W E I L E E widersprochen, der vor einer einseitigen Bewertung des Begriffs „Psychopathie" im Sinne eines Strafmilderungsgrundes warnt16), und K U B T SCHNEIDER, dem wir Wesentliches für die Erkenntnis der Psychopathen verdanken, will auch den Abs. 2 des § 51 StGB den Psychopathen nur ausnahmsweise zubilligen17). Einen ähnlichen Standpunkt hat auch JOH. LANGE eingenommen, der schreibt, daß es nicht mehr als eine schlichte praktische Abmachung sei, wenn heute die psychopathischen Persönlichkeiten ebenso bestimmt für strafrechtlich verantwortlich erklärt würden, wie es als abgemacht gelte, daß bis auf wenige Einschränkungen die Psychose exkulpiere18). Sicher ist dieser strengere Standpunkt richtig, und er wird, wie sich auf der Tagung für praktische l s ) Dazu das wertvolle Buch von LANGE-EICHBAUH, „Genie, Irrsinn und R u h m " . 2. Aufl. München 1935. 14 ) Die Zurechnungsfähigkeit im strafrechtlichen Sinne unterscheidet sich von der im psychologischen Sinne dadurch, daß auch die Verbrecher als voll zurechnungsfähig behandelt werden, die zwar vermindert, aber nicht erheblich vermindert zurechnungsfähig sind. " ) Die psychopathischen Verbrecher. 1914. « ) MKrPs. 1 3 / 1 4 , 1 9 2 2 / 2 3 , S. 177. " ) Die psychopathischen Persönlichkeiten, 8. Aufl., 1946 und M K r B 29, 1938, S. 366. " ) In HOCHE I I I , S. 531.

Das Strafrecht

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Psychiatrie in Köln bei der Diskussion über ein Referat von C R E U T Z zeigte, von der ganz überwiegenden Mehrzahl der deutsehen Psychiater geteilt 19 ). Dennoch glaube ich, daß man manche Fälle von Psychopathie der „krankhaften Störung der Geistestätigkeit" oder der „Geistesschwäche" unterordnen kann und muß. Wie die normale Dummheit allmählich zu den als krankhaft zu bewertenden Schwachsinnszuständen hinführt, wobei es sich gleichfalls nur um anlagebedingte Abartigkeiten handeln kann, so gibt es neben vielen praktisch gesunden Psychopathen auch solche, die in ihrem Persönlichkeitsgefüge so grobe Disharmonien, so erhebliche Abweichungen von der Norm aufweisen, daß sie schon als krank im Sinne des Gesetzes gewertet werden können. Ich erinnere nur an manche pseudologistischen Lügner und Schwindler und an gewisse Querulantentypen. Das gilt namentlich dann, wenn zur psychopathischen Anlage andere vorübergehende oder dauernde Symptome hinzukommen, wie Affekte, besondere Erlebnisse, erschöpfende Zustände, Schwachsinn u. dgl. In der deutschen Wehrmacht sprach man offiziell von psychopathischen Abweichungen mit Krankheitswert 20 ). Eine andere Auffassung würde auch rechtlich zu Unstimmigkeiten führen: wir pflegen im Entmündigungsverfahren schwere Psychopathen der Geistesschwäche im Sinne des § 6 BGB zuzurechnen. Man kann denselben Psychopathen nicht das eine Mal für geistesschwach, das andere Mal für geistig gesund erklären, auch wenn man berücksichtigt, daß Geistesschwäche im Strafrecht etwas anderes bedeutet als im bürgerlichen Recht. Auch die von B E R I N G E R 2 1 ) zitierten Ausführungen von, E. S C H Ä F E R (in G Ü R T N E R , Das kommende Strafrecht), wonach die Rechtsordnung von Psychopathen einen stärkeren Widerstand gegen die verbrecherischen Neigungen verlange, entsprechend der allgemeinen Norm: „Du sollst, denn Du kannst", können bei dieser Frage nicht herangezogen werden. Abgesehen davon, daß dieser Standpunkt von der Strafrechtskommission in der zweiten Lesung aufgegeben worden ist, hat m. E. E R N S T S C H U L T Z E Recht, wenn er sagt, es sei nicht zu verlangen, daß Psychopathen einen stärkeren Widerstand gegen verbrecherische Neigungen aufbringen sollen22). Auch W Ö L F L E erkennt an (l.c.,S.87), daß manche Psychopathen unfähig sind, die nötige Willensanstrengung zur Bekämpfung krimineller Tendenzen aufzubringen. Hier ist wohl auch die Frage nach der verminderten Schuld mit der anderen Frage verwechselt, ob bei verminderter Zurechnungsfähigkeit die Strafe zu mildern sei23). Allgemein geht jedoch die überwiegende Meinung sowohl der Psychiater als auch der Juristen dahin, daß erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit bei 19

) AZPs. H l , 1939. ) Auch BUMKE hat einen ähnlichen Standpunkt vertreten. Lehrbuch der Psychiatrie, S. 144; ebenso KBANZ, Regensburger ärztl. Fortbildung 2, 1952. Anders LEFERENZ, Fortschr. Neur. 22, 1954, S. 384. 21 ) MKrB 30, 1939, S. 321. 22 ) Deutsches Strafrecht, Neue Folge 2, 1935, S. 34. 2S ) Ebenso RGSt. 74, 1941, S. 217. S. auch MEZGER, MKrB 30, S. 323. 20

Die verminderte Zurechnungsfähigkeit

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Psychopathen nur bei besonders gelagerten Fällen, daß Zurechnungsunfähigkeit nur in ganz seltenen Ausnahmefällen anzunehmen sei 24 ). Diese Meinung findet auch im Gesetz ihre Stütze in dem Worte „erheblich". D a s bedeutet, daß nicht jede Abweichung von der N o r m berücksichtigt werden soll, sondern nur wirklich ernstere, ins Gewicht fallende Abnormitäten 2 6 ). Schließlich spricht auch die amtliche Begründung zum Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher allgemein v o n Psychopathen, auf die der § 51 StGB anwendbar sein könnte. Danach umfaßt die „krankhafte Störung der Geistestätigkeit" tatsächlich alles, was irgendwie erheblich von der N o r m abweicht. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 51 S t G B ist freilich, wie auch das Reichsgericht betont, das Vorliegen auch einer der psychologischen Voraussetzungen 2 6 ). N a c h meinen Eindrücken geht man in neuerer Zeit in der Anwendung des § 51 Abs. 2 bei Psychopathen reichlich weit. E s ist zwar sehr bequem, einer 2i

) S. z. B. R Ü C K E R , DZgM 3 0 , 1 9 3 9 , S. 3 1 4 ; wie dieser mitteilt, haben sich auch in Tagungen der Forensisch-biolog. Arbeitsgemeinschaft der Universität Hamburg seitens der Psychiater B Ü R G E R - P R I N Z , von den Juristen S I E V E R T S in ähnlichem Sinne ausgesprochen. B R A U N (Med. Klin. 1 9 3 4 , S. 1 5 1 4 ) will Psychopathen nur ganz ausnahmsweise exkulpieren, z. B. bestimmte, ans Wahnhafte grenzende Querulanten. Auch K U R T S C H N E I D E R (Dtsch. med. Wschr. 1 9 3 4 , S . 3 0 ) will schweren Psychopathen verminderte Zurechnungsfähigkeit zuerkennen. S C H Ä F E R - W A G N E R - S C H A E H E U T L E (S. 182) gehen in der Anwendung des § 51, 2 StGB m. E. schon zu weit. Bemerkenswert zu dieser Frage ist die Auseinandersetzung B E R I N G E R S mit M E Z G E R (MKrB 3 0 , 1 9 3 9 ) u. M E Z G E R (DR 1 9 4 0 , S. 1 2 7 7 ) . M E Z G E R ist m. E. zuzustimmen, wenn er die Psychopathen nicht prinzipiell von der Anwendung des § 51 StGB ausschließen will; B E R I N G E R hat aber Recht, wenn er die Absicht M E Z G E R S , Psychopathen den § 5 1 , 2 StGB zuzubilligen, um ihre Unterbringung aus § 42 b zu ermöglichen, ablehnt. S K A L W E I T hat 1 9 3 8 in Köln ähnliche Gedanken wie M E Z G E R vertreten; B O S T R O E M hat dieser Auffassung widersprochen und fand nach meiner Erinnerung dabei die Zustimmung der weitaus größeren Zahl der Kongreßteilnehmer (AZPs. 111, 1939, S. 172ff.). 26 ) Interessant wäre ein Vergleich der praktischen Ergebnisse. M A U S E R (Beitrag zur Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit, Halle 1932) hat für Burghölzli mitgeteilt, daß dort im Laufe von 25 Jahren 291 Psychopathen begutachtet sind; davon wurden 111 (38%) für zurechnungsunfähig, ebensoviele für vermindert zurechnungsfähig und nur 69 (24%) für voll zurechnungsfähig erklärt. In der aargauischen Anstalt Königsfelden sind in den Jahren 1934—1947 sogar nur 9% der Psychopathen als voll zurechnungsfähig begutachtet worden (MOHR, Schw. Wschr. f. Neur. u. Psych. 60, 1947, S. 244). Ich habe in den Jahren 1937—45 128 Psychopathen strafrechtlich zu begutachten gehabt. Von ihnen habe ich 8 (6%) als zurechnungsunfähig, 34 (27%) als erheblich vermindert zurechnungsfähig und 86 (67%) als voll zurechnungsfähig bezeichnet. Unter den 8 Zurechnungsunfähigen waren dreimal Rauschgifte beteiligt, einmal Schwachsinn, zweimal pathologische Rauschzustände, einmal Nachtwandeln, einmal ein anderer Ausnahmezustand. Auch bei einer größeren Zahl der für vermindert zurechnungsfähig erklärten Psychopathen wirkten derartige Nebenumstände mit. Dazu kam, daß sich unter ihnen eine größere Zahl politischer Delinquenten befanden, bei denen ein anderer Maßstab angelegt wurde. 2e ) DR 1939, S. 987, Nr. 2; RGSt. 73, 1940, S. 121.

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Das Strafrecht

Entscheidung auszuweichen, aber auch der Psychiater sollte bedenken, daß sein Gutachten sich der Rechtsordnung einfügen muß, soll es nicht zu unerfreulichen Mißständen kommen. Man wird f ü r die Anwendung dieser Bestimmung bei Psychopathen daher verlangen müssen, daß wirklich erhebliche Abweichungen von der Norm vorliegen, und weiter muß die T a t mit diesen Abweichungen in einen motivischen Zusammenhang gebracht werden können. G r u h l e 2 7 ) hat auf diese eigentlich selbstverständliche Notwendigkeit hingewiesen. Daß Psychopathien, die lediglich aus der Rückfallskriminalität erschlossen werden, aus dem Anwendungsbereich des § 51 Abs. 2 herauszubleiben haben, hat C r e u t z mit Recht gefordert 28 ). Eine ganz andere Frage ist die, in welchen Fällen bei erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit die Strafe zu mildern sei. Die Strafmilderung ist in manchen Staaten obligatorisch. Damit hat man, wie z. B. ausDänemark berichtet wird, keine guten Erfahrungen gemacht. In anderen Staaten ist sie, wie auch bei uns, fakultativ, d. h. praktisch ganz in das Ermessen des Richters gestellt. Die verschiedene Behandlung der vermindert Zurechnungsfähigen widerspricht freilich dem Vergeltungsgedanken, der verlangt, daß die Strafe der Schuld entspreche 29 ). Unser Strafrecht, das dem Rechtsgefühl des Volkes entsprechend vornehmlich auf dem Vergeltungsprinzip aufgebaut ist, gibt jedoch daneben auch Zweckmäßigkeitserwägungen R a u m . Sobald das geschieht, kann es nicht zweifelhaft sein, daß die unterschiedliche Behandlung der Verbrecher und damit auch der vermindert Zurechnungsfähigen geboten erscheint. Gerade unter den letzteren befinden sich Menschen, die wegen ihrer geringen Widerstandsfähigkeit gegen verbrecherische Antriebe einer längeren Strafe bedürfen, entweder u m sie zu erziehen, soweit das überhaupt möglich erscheint, oder u m sie abzuschrecken, in beiden Fällen, um in ihnen die nötigen Hemmungen gegen die verbrecherischen Antriebe zu setzen. Ich habe schon vor 1934 das Gericht gelegentlich auf diese Notwendigkeit hingewiesen; auch jetzt pflege ich das in allen den Fällen zu tun, in denen mir Milde aus irgendwelchen Gründen, die in der Persönlichkeit des Täters liegen, nicht angebracht zu sein scheint. 27 ) Zb.Neur. 119, S. 153, weiter in Ponsold, Lehrbuch, der gerichtlichen Medizin, 2. Aufl., 1957 und Gutachtentechnik, Springer 1955, S.21. Dort 2 Beispiele: Gewalthandlung eines jähzornigen, zu Kurzschlußhandlungen neigenden Mannes in der Aufregung eines Streites; Exhibitionieren eines asthenischen, selbstunsicheren, ängstlichen Mannes, der sich nie an ein Mädchen herantraute. Das zweite Beispiel erscheint mir schon nicht ganz überzeugend. Nicht anwendbar ist der Abs. 2 etwa bei pseudologistischen, geltungssüchtigen Schwindlern trotz des motivischen Zusammenhangs. Dukob nennt es einen Nonsens, verminderte Zurechnungsfähigkeit gerade für die Geistesverfassung zubilligen zu wollen, die für das Gros der Rechtsbrecher typisch sei. (Verh. d. Schweiz. Ver. f. Straf-, Gefängniswesen u. Schutzaufsicht, Heft 24, 1946). Zur Problematik Leeerenz, SJZ 1949, S. 251. 28 ) AZPs. 111, 1939, S. 137; ähnlich Schönke, S. 226. 29 ) Einen Versuch, auch vom Vergeltungsprinzip aus die verschiedene Behandlung der Verbrecher zu begründen, hat Stock gemacht: Die Strafe als Dienst am Volke. Tübingen 1933.

Die verminderte Zurechnungsfähigkeit

49

Das Reichsgericht hat seine Stellungnahme zu dieser Frage geändert. Noch 1934 vertrat es die Ansicht, daß nur bei solchen vermindert Zurechnungsfähigen, die durch die Strafe erziehlich beeinflußbar seien, von einer Herabsetzung der Strafe abgesehen werden könne 30 ); dagegen solle bei den Tätern, an denen die Strafe wirkungslos abpralle (bei grober „Nichtachtung aller gesetzlichen Vorschriften"), die Strafe gemildert werden. Diese Auffassung ist m. E. mit Recht kritisiert worden 31 ). Der hier eingenommene Standpunkt und ebenso der aus einer späteren Entscheidung 32 ), der in seiner Begründung zu der Annahme verleiten könnte, daß die Milderung der Strafe bei erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit die Regel, die Beibehaltung der vollen Strafe dagegen die Ausnahme zu bilden habe, ist vom Reichsgericht selbst überwunden worden. In einer Entscheidung vom 16. 4. 37 33 ) wird darauf hingewiesen, daß die Vorschrift des § 51 Abs. 2 StGB ohne Zweifel bedeute, „daß es ohne Ausnahme dem freien Ermessen des Gerichts anheimgestellt ist, ob die Strafe im Falle erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit gemildert werden soll oder nicht." Es beruft sich dabei unter anderem auch auf die ärztliche Erfahrung, „nach der es verfehlt sei, Psychopathen durchweg milder zu behandeln als Gesunde, und nach der auf die abgeschwächte seelische Widerstandsfähigkeit der Psychopathen durch ernste Strafen viel nachhaltiger eingewirkt werden könne als durch allzu große Milde." Dieser Auffassung wird man vom Standpunkt des Psychiaters aus zustimmen. Es muß freilich betont werden, daß die Diagnose Psychopathie nun nicht prinzipiell zu einer Nichtanwendung der Kannvorschrift führen darf. Selbst ein asozialer Psychopath kann einmal aus einer unverschuldeten Notlage heraus zu einem Delikt kommen; liegen dann die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 vor, wäre es verfehlt, die Strafe nicht zu mildern 34 ). Bei wem soll nun aber die Strafe gemildert, bei wem soll sie beibehalten werden ? Die amtliche Strafrechtskommission hat zwei Gruppen unterschieden : Die chronischen oder habituell Minderwertigen sollen hinsichtlich der Strafzumessung behandelt werden wie die Vollzurechnungsfähigen, während den vorübergehend vermindert Schuldfähigen (Erschöpfungszustände nach Krankheit, Schwangerschaft usw.) die Strafe gemildert werden soll. Dazu sollten m. E. auch alle die Täter gezählt werden, bei denen man nach ihrer ganzen Persönlichkeit und nach den äußeren Umständen der Tat damit rechnen kann, daß nicht ein verbrecherischer Wille, sondern ein einmaliges Straucheln hinter der Tat gestanden hat. Nicht einverstanden kann ich mich mit einem Vorschlage von B R E H M 3 6 ) erklären, der analog der Rentenfestsetzung weitere Zwischenstufen der ver30

) DJ 1935, S. 1589. Entsch. vom 8. 11. 1934.

31

) V o n PREISER, D J 1 9 3 5 , S . 1 5 8 9 .

32

) RGSt. 69, 1936, S. 314. ) RGSt. 71, 1938, S. 179. Ähnlieh ZStW 63, 1951, S. 80 ff. 34 ) HE 2, S. 199 ff. 35 ) Ps. neur. Wschr. 1941. 33

HRR

15, 1939, S. 254. Dazu auch

4 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Aufl.

HEINITZ,

Das Strafrecht

50

minderten Zurechnungsfähigkeit einsehalten möchte. Alles das, was WILMANNS gegen die verminderte Zurechnungsfähigkeit überhaupt angeführt hat, t r i f f t in vermehrter Weise auf diesen Vorschlag zu. Praktisch würde ein solches Stufensystem zu einem unwürdigen Feilschen u m Prozente vor Gericht führen, und der Sachverständige würde sehr bald in eine wenig angenehme Stellung hineingeraten. Wenn sich zwei Sachverständige schon über den Wert eines Schirmes vor Gericht nicht einig werden können, wie soll man dann etwa eine Willensschwäche nach Prozenten berechnen ? Mit diesem grotesken Vorschlag dürfte BBEHM allein stehen; ich halte ihn f ü r völlig indiskutabel. Schließlich sei noch die Frage erwähnt, ob § 51, 2 auch anwendbar ist, wenn die erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit nicht nachgewiesen, sondern nur als möglich angenommen worden ist, d. h. ob in solchem Falle auch nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" zu verfahren ist. Das Reichsgericht h a t diese Frage bejaht 3 6 ); dem ist widersprochen 37 ) mit der Begründung, eine solche Auffassimg sei einer fest zufassenden Strafrechtspflege gefährlich. E s bestehe auch ein grundsätzlicher Unterschied zwischen § 51 Abs. 1 und 2 StGB. § 51, 1 entscheide zwischen Schuld und Nichtschuld, § 51, 2 sei nur eine Strafermessensrichtlinie. Ich halte diese Argumente für nicht zutreffend: eine Gefährdung der Strafrechtspflege erscheint mir ausgeschlossen, da der Richter ja, wenn er es für richtig hält, trotz Zuerkennung des § 51, 2 StGB die Strafe nicht zu mildern braucht; dem Täter aber werden unter Umständen, d. h. wenn er es verdient, die Wohltaten des Gesetzes zuteil. M. E. ist aber auch der § 51, 2 StGB erst sekundär eine Strafermessensrichtlinie; zunächst wird über den Grad der Schuld durch ihn entschieden: zwischen Schuld und Nichtschuld steht die verminderte Schuld. Ich halte daher die Entscheidung des Reichsgerichts f ü r richtig.

3. Die Zurechnungsfähigkeit

bei geistig

Defekten

I n diesem Kapitel sollen einige Krankheiten besprochen werden, die schwierig zu beurteilen sind u n d über die in der Literatur keine Einigkeit herrscht. Dazu gehören die behandelte Paralyse, die „geheilte" Schizophrenie, die enzephalitischen Folgezustände und die GehirnVerletzungen. Sie sind als Beispiele gedacht; sie sollen zeigen, wie notwendig es ist, den ganzen Menschen sowohl im Querschnitt als auch im Längsschnitt zu studieren. Erst die Verknüpfung beider Methoden f ü h r t zu sachlich brauchbaren Ergebnissen. Es besteht praktisch Einigkeit darüber, daß jede akute Psychose exkulpiert 1 ). Wie aber steht es mit der Zurechnungsfähigkeit, wenn die Psychose 36

) RGSt. 70, 1938, S. 128 und 73, 1940, S. 45. ) Deutsches Strafrecht 83, Neue Folge 6, 1939, S. 340. Der abweichende Standpunkt E. BLEULERS hinsichtlich leichter Fälle von Schizophrenie ist m. E. für das Strafrecht nicht haltbar, weil die Zurechnungsfähig37

Die Zurechnungsfähigkeit bei geistig Defekten

51

m i t oder gar ohne erkennbaren D e f e k t heilt ? Liegen a u c h hier die Voraussetzungen des § 51, Abs. 1 oder 2 vor ? D i e Meinungen darüber gehen auseinander. So h a b e n sich für die progressive Paralyse, die wir zuerst behandeln wollen, CABL SCHNEIDER2) u n d KIHN 3 ) für die generelle A n w e n d u n g des § 51, 1 S t G B b e i m remittierten Paralytiker ausgesprochen, ebenso in U n g a r n / o o 4 ) , w ä h r e n d GROSS u n d STRÄUSSLER6) u n d ebenso SALINGER6) v o n Fall z u Fall die E n t s c h e i d u n g treffen wollen. Dieser Ansicht h a t sich, w e n n ich ihn recht verstehe, a u c h ASCHAPFENBUBG7), freilich in sehr vorsichtiger Form, angeschlossen. I c h m ö c h t e , u m das P r o b l e m anschaulicher z u gestalten, zwei Fälle kurz wiedergeben, die ich vor über 30 Jahren in Hamburg-Friedrichsberg beh a n d e l t habe. 1. Der Lotse v. H . wurde wegen progressiver Paralyse etwa 1921 mit Malaria behandelt. Da er schwer erkrankt war, schien die Behandlung zunächst aussichtslos. Wider Erwarten besserte sich der Zustand des Kranken aber so weitgehend, daß ihm nach einigen Jahren von einer anderen Klinik die Fähigkeit, seinen alten Beruf auszuüben, wieder zuerkannt wurde 8 ). Er hat dann, solange ich ihn im Auge behalten konnte (bis 1935), diesen Beruf mit Erfolg ausgeübt und hat auch die großen Schiffe der Hapag elbauf- und abwärts gebracht. Ich habe ihn während dieser Jahre wiederholt mit vergleichbaren experimental-psychologischen Methoden untersucht und konnte jedesmal einen mäßigen Defekt von ungefähr gleicher Stärke nachweisen. 2. Der K a u f m a n n B. M., der an progressiver Paralyse litt, wurde von uns 1920 mit Malaria behandelt. Er h a t t e damals typische Größenideen, wollte u. a. aus einem Alkoholmonopol viele Goldmilliarden verdienen und damit die deutschen Kolonien zurückkaufen. E r wurde wegen Geisteskrankheit entmündigt. Infolge der Behandlung besserte sich sein Zustand schnell; die Entmündigung wurde wieder aufgehoben, und der Patient ging seinem Beruf wieder nach. Etwa 10 J a h r e später, während der Weltwirtschaftskrise, erschien er bei mir und bat mich um ein ärztliches Attest, auf das hin er wieder entmündigt werden könne. Auf meine erstaunte Frage nach dem Grunde des sonderbaren Begehrens erklärte er, er habe im Beruf Pech gehabt und müsse nun den Offenbarungseid leisten, wenn er nicht entmündigt würde. Das letztere erscheine ihm als das kleinere Übel. Eine mehrtägige Untersuchung ergab einen völlig sanierten Liquor, und bei den darauf gerichteten experimental-psychologischen Untersuchungen nicht die geringsten Ausfallserscheinungen. Auch klinisch waren Defekte irgendwelcher Art auch nicht andeutungsweise nachweisbar. E s h a n d e l t sich also i m Falle v. H . u m einen defektgeheilten, i m F a l l e B . M. u m einen vollständig geheilten Paralytiker. D i e hier a u f t a u c h e n d e n Fragen lassen sich n u n folgendermaßen formulieren: W i e würde die Zurechnungsfähigkeit in diesen beiden verschieden keit in diesen Fällen nicht zu beweisen ist. Anders bei der Frage der Geschäftsunfähigkeit ! 2 ) DZgM 7, 1926. 3 ) Die Behandlung der quartären Syphilis mit akuten Infektionen. 4 ) Zb.Neur. 64, S. 231. 6 ) ZNeur. 111, 1927. «) MKrPs. 19, 1928, S. 531. ') I n HOCHE I I I , S. 28.

8

) Wir selbst hatten wegen der großen Verantwortlichkeit des Berufs eine solche Bescheinigung abgelehnt. 4»

52

Das Strafrecht

gelagerten Fällen zu beurteilen sein, wenn nach der Behandlung ein Delikt verübt wäre: a) bei bisheriger Unbescholtenheit ? b) bei Verurteilungen schon vor der Erkrankung ? Kommt es schließlich dabei auf die Art des Delikts an ? Paralytiker pflegen erst im mittleren Lebensalter zu erkranken; man kann also ein leidlich zutreffendes Bild ihrer präpsychotischen Persönlichkeit gewinnen. Ist diese so beschaffen, daß die Tat persönlichkeitsfremd erscheint, so liegt im Falle v. H. die Sache klar: man wird ohne weiteres noch eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit annehmen können und wird an der Zurechnungsfähigkeit begründete Zweifel äußern müssen. Sehr viel schwieriger ist unter den gleichen Umständen der Fall B. M. zu beurteilen. Erscheint hier die Tat persönlichkeitsfremd und normalpsychologisch aus der Situation nicht verständlich, so wird man sich fragen müssen, ob wir nicht doch einen Defekt, vielleicht gerade auf moralischem Gebiet nicht erkannt haben, weil er schwer nachweisbar ist 9 ), ob nicht eben das Delikt selbst Ausdruck des sonst nicht erkennbaren Defektes ist. Ich denke dabei etwa an ein Sittlichkeitsdelikt, an einen durch die äußere Lage nicht begründeten Diebstahl, an eine unbegreifliche Fahrlässigkeit. Ich bin der Meinung, daß man auch moralische Defekte, sofem sie Folge einer schweren Grehirnkrankheit sind, als „krankhafte Störung der Geistestätigkeit" werten kann und muß, und daß man daraus die nötigen Folgerungen ziehen muß. Diese Ansicht ist auch vom Reichsgericht vertreten. Fraglich ist, wie man in solchen Fällen den Zeitfaktor einschätzen soll. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, daß Menschen mit seit langem stationär gewordenen leichten Defekten nicht anders zu beurteilen sind als Menschen mit angeborenen intellektuellen oder charakterlichen Abartigkeiten, also als leicht Schwachsinnige oder Psychopathen 10 ). Ich glaube, daß man hier vorsichtig sein und jedenfalls die Art der Tat weitgehend berücksichtigen muß 11 ). Anders liegen die Dinge, wenn schon vor der Psychose eine möglicherweise sogar gleichartige Kriminalität bestanden hat. Auch dann kommt es wohl auf die Art der Tat an, wenigstens im Falle v. H. I m allgemeinen würde man jedoch sagen müssen, daß bei v. H. zwar eine „krankhafte Störung der Geistestätigkeit" vorliege, daß er aber nicht wegen dieser, sondern wegen seiner kriminellen Veranlagung zu seiner Tat gekommen sei12). Das würde erst recht für B. M. gelten. Der Einwand, der dagegen erhoben werden könnte, daß durch jede paralytische Erkrankung Gehirnsubstanz zugrunde gehe und daß dadurch eine Veränderung des ganzen Menschen hervorgerufen werde, erscheint mir nicht stichhaltig. Auch beim Himverletzten sind oft 8 ) Man kann zwar die ethische Begriffsbildung, nicht aber die moralischen Qualitäten eines Menschen prüfen. 10 ) Das hat z. B. MEZGER, Persönlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, S. 37, getan. u ) Ähnlich GBUHLE, Gutachtentechnik, 1955, S. 17/18. Daß die zivilrechtliche Beurteilung die gleiche sein müsse, halte ich freilich wegen der veränderten Beweislast nicht für richtig. 12 ) Ebenso GBUHLE, Gutachtentechnik, S. 18.

Die Zurechnungsfähigkeit bei geistig Defekten

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erhebliche Veränderungen im Gehirn vorhanden, und doch wird man ihn nicht für jede Tat, die er etwa begeht, exkulpieren können. Schließlich habe ich schon auf die Art des Delikts hingewiesen. Mir scheint in der Tat auch dieses nicht ohne Bedeutung zu sein. Handelt es sich um eine Tat, die an sich einfach und aus dem Augenblick geboren ist, so werden wir sie anders beurteilen müssen, als wenn sie vorher überlegt und in der Ausführung kompliziert ist, sich auch vielleicht über längere Zeit erstreckt, besonderer Vorbereitungen bedarf usw. Zusammenfassend kann also gesagt werden: Die generelle Exkulpierung defektgeheilter oder voll remittierter Paralytiker ist m. E. nicht gerechtfertigt. Jeder Fall muß auf die Gefahr der Meinungsverschiedenheit und ungleichmäßigen Beurteilung hin für sich betrachtet und bewertet werden 13 ). Noch schwieriger ist die Beurteilung der remittierten Schizophrenen. Mit bin ich entgegen B L E U L E R zunächst der Meinung, daß jede auch leichte Form der Schizophrenie, soweit sie nicht zum Stillstand gekommen ist, ohne Rücksicht auf die Schwere der Erkrankung die Zurechnungsfähigkeit ausschließt, da wir keine Möglichkeit haben, den Grad der schizophrenen Willensstörung in einem gegebenen Zeitpunkt richtig einzuschätzen. Daher wird es nicht möglich sein, die Zurechnungsfähigkeit des Täters zu beweisen. ASCHAFFENBURG14)

Bei unserer Frage handelt es sich jedoch um die zum Stillstand gekommene, abgelaufene Erkrankung. Hier sind wir in einer viel ungünstigeren Lage als bei der progressiven Paralyse. Während diese vornehmlich die Verstandesleistungen schädigt, die wir mit unseren Mitteln prüfen können, während wir uns aus dem Ergebnis dieser Prüfung und aus der körperlichen einschließlich der serologischen Untersuchung ein wenigstens einigermaßen sicheres Urteil über den Gesamtzustand bilden können, ist die rein ärztliche Feststellung eines schizophrenen Defektes oft viel schwieriger. Die Schizophrenie läßt nämlich die Verstandesleistungen ganz oder fast ganz intakt, sie macht auch keine körperlichen Symptome, sie schädigt aber die übrige Persönlichkeit, die Affektivität, den Willen und was damit zusammenhängt. Diese Schäden sind in schweren Fällen ohne weiteres erkennbar, in leichteren aber sind sie objektiv kaum faßbar. Sie werden vom Geübten und Erfahrenen oft mehr gefühlsmäßig erkannt, können aber dem Laien nur sehr schwer deutlich gemacht werden. Objektiv darstellen läßt sich ein solcher Defekt nur durch einen Vergleich mit der präpsychotischen Persönlichkeit. Aber auch diese Aufgabe wird dadurch erschwert, daß die Schizophrenie meistens oder mindestens sehr häufig in einem Alter zum Ausbruch kommt, in dem 13

) Ähnlich will auch BOSTROEM (DZgM 24, 1935, S. 75) die defektgeheilten Paralytiker individuell behandelt wissen. Nach einer Zusammenstellung, die er von 2232 malariabehandelten Paralytikern verschiedener Autoren bringt, waren nur 9 (0,4%) kriminell geworden. 14

) I n HOCH® i n , S. 3 1 .

Das Strafrecht

54

von einem Abschluß der Persönlichkeitsentwicklung noch nicht gesprochen werden kann. Dazu haben wir kaum einmal die Möglichkeit, die prä- und postpsychotische Persönlichkeit des Täters aus eigener Kenntnis zu vergleichen, wir sind vielmehr angewiesen auf Beobachtungen von Verwandten, Freunden, Arbeitgebern, die den zu stellenden Anforderungen nur selten genügen. Manchmal lassen sich aus dem beruflichen Werdegang wichtige Schlüsse ziehen: die Erkrankung führt zu einem „Knick der Lebenslinie", •und es kommt bei leidlicher Remission zu einer Stabilisierung auf einem tieferen sozialen Niveau. In manchen Fällen fehlt jedoch auch die Niveausenkung, so daß wir von praktischer Heilung sprechen können. So wird schon gelegentlich die Diagnose nicht sicher zu stellen sein. Ist das aber wenigstens mit einiger Wahrscheinlichkeit gelungen, so beginnen die Schwierigkeiten bei der forensischen Beurteilung. Auch hier können nur ganz allgemeine Richtlinien gegeben werden. Eine generelle Exkulpierung solcher Fälle halte ich nicht für angängig; doch ist äußerste Vorsicht bei der Beurteilung geboten. Zu berücksichtigen sind: die präpsychotische Persönlichkeit, die seit dem akuten Schub verflossene Zeit, der etwa vorhandene Defekt und die Art der Tat, ihre Motivierung und die nachträgliche Stellungnahme zu ihr. Gelegentlich führt die Überlegung weiter, ob der Täter besser in eine Strafanstalt oder in eine Heilanstalt gehört. An dieser Stellungnahme ändert die jetzt gebräuchliche Therapie der Schizophrenie nichts; ich kann nicht finden, daß sie die forensische Lage irgendwie verändert hat 18 ). Von geringerer Bedeutung sind die kriminellen Handlungen von durch Enzephalitis Wesensveränderten (s. S. 319). Hier handelt es sich bei ungestörter Intelligenz um einen organischen Einbruch in das Persönlichkeitsgefüge, „welcher in der Hauptsache das dynamische Verhältnis von Trieben und zugeordneten Hemmungsmechanismen stört" 1 6 ). Besonders wichtig sind die Zustände postenzephalitischer Trieb- und Dranghaftigkeit, die manchmal ganz plötzlich und unerwartet zum Ausbruch kommen und zu Körperverletzung, Sachbeschädigung, Diebstahl, ganz besonders häufig aber zu Sexualdelikten führen. Schwierigkeiten machen die psychopathieähnlichen Zustände, die jedoch wegen ihrer organischen Bedingtheit anders zu beurteilen sind als die angeborenen Psychopathien. Man findet sie namentlich bei solchen Personen, die in noch jugendlichem Alter erkrankt sind. Auch sie sind, ähnlich wie bei der Schizophrenie am Knick der Persönlichkeitsentwicklung und an der Niveausenkung zu erkennen, nur ist die Vorgeschichte eine andere, und es finden sich fast immer wenn auch leichte neurologische Symptome der abgelaufenen Erkrankimg. 15

) Neuere Arbeiten hierüber stammen von NIEDEITTHAL (AZPS. 102, 1934, S. 232,

und, ihm widersprechend, v o n TRUNK, AZPS. 103, 1935, S. 197. Dazu KAHN, MKrPs.

14, 1922, S. 250 und BLEULER, Centralbl. f. Nervenheilk. 32, 1909, S. 241. 16 ) STEKTZ, MKrPs. 22. 1931. S. 320.

Die Zurechnungsfähigkeit bei geistig Defekten

55

Die forensische Beurteilung dieser Zustände ist verschieden. Während A s c h a i t e n b u b g 1 7 ) entschieden für Zurechnungsunfähigkeit und nachfolgende Sicherungsmaßnahmen eintritt, möchte S t e r t z 1 8 ) nicht generell die Zurechnungsfähigkeit verneinen. M. E. kommt volle Zurechnungsfähigkeit nur da in Frage, wo eine Persönlichkeitsveränderung nicht nachweisbar ist, und zwar unter Beobachtung aller der Momente, die ich für die Schizophrenie aufgezählt habe. Schließlich mögen die Hirnverletzten (s.S. 307) noch erwähnt werden, deren Zahl im zweiten Weltkriege noch größer zu sein scheint als im ersten Weltkriege 19 ). Die Folgen von Hirnverletzungen, sei es durch Schuß oder durch stumpfe Gewalt (Commotio, Contusio) sind außerordentlich verschieden. Ein großer Teil heilt ohne nennenswerte psychische Veränderungen ab; andere Verletzte sind jedoch schwer geschädigt, und zwar nicht nur durch lokale Ausfälle (Lähmungen, Seh- und Sprachstörungen usw.), sondern es kommt manchmal auch zu erheblichen Veränderungen der Persönlichkeit nach verschiedenen Richtungen. Manche Hirnverletzte erscheinen stumpf, ohne eigene Initiative, ohne Ausdauer, andere sind übertrieben geschäftig, unbedenklich, hemmungslos, kindisch. Bei einigen ist die Fähigkeit sich einer Gemeinschaft einzuordnen, sich der militärischen Zucht unterzuordnen, deutlich gestört. Sie kümmern sich nicht um Anordnungen, versprechen zwar bei Vorhaltungen sich zu bessern, versagen aber im nächsten Augenblick wieder, so daß manchmal nichts übrigbleibt, als sie auf eine geschlossene Abteilung zu verlegen, zumal sie auch durch Strafen kaum beeinflußbar sind 20 ). Die Fähigkeit, das Unerlaubte ihres Tuns einzusehen, ist bei ihnen erhalten; ihre Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, hat dagegen schwerste Einbuße erlitten. Auch in diesen Fällen muß man namentlich bei intakter prätraumatischer Persönlichkeit, Zurechnungsunfähigkeit, in leichteren Fällen erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit bejahen. Daß auch hier die Art der Tat von Bedeutung ist, braucht kaum noch erwähnt zu werden. Hinzuweisen ist noch darauf, daß es Hirnverletzte mit ziemlich groben anatomischen Veränderungen gibt, die psychisch durchaus intakt oder nur leicht geschädigt erscheinen, und umgekehrt können verhältnismäßig geringe anatomische Verletzungen beider Stirnhirnpole erhebliche Wesensveränderungen bewirken. Ein Parallelismus zwischen anatomischer Schädigung und psychischer Veränderung besteht jedenfalls nicht 21 ). ") In Hoche III, S. 30. 18

) 1. o. dort ein sehr lehrreicher Fall. ) Genauer gesagt ist die Zahl der überlebenden Hirnverletzten größer, was offenbar mit der besseren primären Versorgung an der Front zusammenhängt. 20 ) Ich kann das hier nur andeuten. Ich hatte sowohl 1918 als Arzt an einer Hirnverletztenabteilung wie während des letzten Krieges als Chefarzt eines Lazaretts mit einer Sonderabteilung für Hirnverletzte wiederholt Gelegenheit, solche Fälle zu sehen. 21 ) S c h w e l l n u s , DZgM 25, 1936, S. 334, hat einen hirnverletzten Mörder beschrieben, der psychisch intakt erschien, anatomisch aber ausgedehnte Veränderungen des rechten Schläfenlappens und Stirnhirns zeigte. 19

56

Das Strafrecht

4. Die Zurechnungsfähigkeit

der

Taubstummen

1

Der jetzt gültige § 55 StGB ) lautet: Ein Taubstummer ist nicht strafbar, wenn er in der geistigen Entwicklung zurückgeblieben und deshalb unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. War die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zur Zeit der Tat aus diesem Grunde erheblich vermindert, so kann die Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs gemildert werden.

Wir wissen über die Kriminalität der Taubstummen nichts Genaues: Die Reichsstatistik gibt keine Auskunft darüber, umfangreichere Untersuchungen über diese Frage liegen nicht vor. Offenbar ist ihre Neigung zu kriminellen Handlungen gering; jedenfalls habe ich während meiner über 35jährigen Gerichtspraxis keinen Taubstummen zu begutachten gehabt. Taubstumm im Sinne dieser Vorschrift ist nach SCHÖNKE 2 ) nur, „wer die Hör- und Sprechfähigkeit von Geburt an nicht besessen oder in so früher Kindheit verloren hat, daß dies noch als Entwicklungshemmung gewirkt h a t " . Wer also im späteren Leben durch Krankheit oder Verletzung taubstumm geworden ist, fällt nicht unter diese Bestimmung. Dazu ist freilich zu sagen, daß bei einem großen Prozentsatz der Taubstummen Hörreste vorhanden sind und daß es infolge der verfeinerten Unterrichtsmethoden auch nicht selten gelingt, Taubstummen das Sprechen beizubringen. Das zu wissen, ist namentlich für den Richter nötig, damit er den Begriff „taubstumm" nicht zu eng faßt. Wesentlich für die Beurteilung ist das Fehlen oder der frühzeitige Verlust des Hörvermögens. Dadurch wird das Erlernen des Sprechens entweder ganz verhindert oder mindestens stark gehemmt, obwohl diese Fähigkeit potentiell vorhanden ist. Das Fehlen des Hörvermögens wirkt sich für die geistige Entwicklung in viel stärkerem Grade aus als etwa die Blindheit, weil bei der Taubheit — nicht bei der spät erworbenen — die Möglichkeit des unmittelbaren Sich-in-Beziehung-setzens zu anderen Menschen fehlt. Namentlich leidet das Denken darunter, daß es dem Taubstummen nicht möglich ist, abstrakte Begriffe zu bilden. Er gleicht insofern dem Primitiven, der Bezeichnungen hat für einen Mann, der geht, einen Mann, der steht, einen Mann, der ißt usw., der aber den abstrakten Begriff „Mann" noch nicht hat. Daß auf diese Weise die intellektuelle Entwicklung notleidet, ist begreiflich. Erst durch mühsamen Unterricht durch besonders geschulte Lohrkräfte gelingt es, Fortschritte zu erzielen. Daher ist auch der Taubstumme, der keinen Unterricht genossen hat, einem „gänzlich Schwachsinnigen" gleichzustellen. Aber auch die Charakterbildung ist vielfach eine andere als beim gesunden Hörfähigen. Die Ursachen der Taubstummheit sind verschieden; manche Fälle beruhen auf erblicher Anlage, manche auf frühzeitiger Erkrankung, andere sind wahrscheinlich durch Gehirnblutungen während der Geburt ent1

) In Mitteldeutschland derselbe Wortlaut, als § 58. ) S. 240.

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Die Maßregeln der Sicherung und Besserung

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standen. Im letztgenannten Falle ist es nicht verwunderlich, wenn außer dem Gehör auch andere Gehirnfunktionen gestört werden. Man begegnet deshalb bei Taubstummen nicht nur Verstandesmängeln, sondern auch Fehlentwicklungen der übrigen Persönlichkeit. Mißtrauen und Empfindlichkeit, Egoismus, Eigenwilligkeit bis zur Starrköpfigkeit, Mangel an Selbstbeherrschung und Selbsterkenntnis, an Einsicht und Verantwortungsgefühl, Weltunerfahrenheit und Leichtgläubigkeit, Klatsch- und Verleumdungssucht, Neid und Eifersucht findet man bei ihnen in höherem Maße als bei Hörfähigen 3 ). Dabei entspricht jedoch die soziale Einstellung der Taubstummen durchaus derjenigen Gesunder; sie läßt sich durch Unterricht, besonders aber durch Gemeinschaftserziehung entwickeln. Aus diesen kurzen Darlegungen dürfte zur Genüge hervorgehen, daß der Taubstumme durchaus die Sonderstellung, die ihm das deutsche Strafrecht, abweichend von zahlreichen anderen Ländern, einräumt, verdient. Richtig ist auch, daß das Gesetz nicht nur die Verstandesleistung, sondern auch die aus dem Charakter ableitbare Handlungsfähigkeit berücksichtigt. Wird einem Taubstummen der Schutz des § 55 StGB ganz oder teilweise zuerkannt, so kann die Strafe gemildert werden; außerdem unterliegt er den Maßnahmen der Besserimg und Sicherung, also in erster Linie der Einweisung in eine Heil- oder Pflegeanstalt gemäß § 42 b StGB. Mir scheint der Vorschlag Aschaffenbttrgs, geeignete Fälle zur Erziehung und Fortbildung statt dessen einer Taubstummenanstalt zu überweisen, recht beachtlich. Dafür kämen namentlich solche Fälle in Betracht, die bis dahin eine sachgemäße Ausbildung nicht genossen haben. Wenn man den Begriff „Heilanstalt" nicht auf psychisch Kranke beschränkt, wäre das heute schon möglich. Die letzte Entscheidung über die Anwendbarkeit des § 55 StGB trifft der Richter. Er wird der Hilfe des Taubstummenlehrers, aber auch des Psychiaters nicht entraten können. Der letztere wird gemeinsam mit dem Taubstummenlehrer die Frage der Zurechnungsfähigkeit und die weitere, damit zusammenhängende Frage nach der Gemeingefährlichkeit zu prüfen haben 4 )

5. Die Maßregeln der Sicherung und Besserung D i e U n t e r b r i n g u n g in e i n e r H e i l - o d e r P f l e g e a n s t a l t Die deutschen Sicherungsmaßnahmen haben im Auslande verschiedene Vorläufer gehabt. Zuerst sind zu Anfang dieses Jahrhunderts in einigen amerikanischen Staaten entsprechende Gesetze erlassen, deren Wirkung jedoch gering war. Das erste wirksame Gesetz dieser Art ist der Habitual Criminals Act von Neusüdwales aus dem Jahre 1905, dem die anderen australischen Staaten sich bald anschlössen, und der 1908 vom englischen

Stjtbemeistbb, Freie Wohlfahrtspflege 5, 1931, S. 547. ) Im Entwurf von 1958 ist für Taubstumme keine besondere Regelung geschaffen; gegebenenfalls ist für sie der § 23 des Entwurfs anwendbar. 3

)

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Das Strafrecht

Mutterlande nachgeahmt wurde. Der Erfolg in Australien bestand darin, daß die schwere Kriminalität innerhalb von 7 Jahren fast auf die Hälfte sank1). In Deutschland wurde eine ähnliche Regelung von den sogenannten Strafrechtsreformern unter Führung von v. L I S Z T und unter wesentlicher Beteiligung der Psychiater2) erstrebt. Die Behandlung der Zurechnungsunfähigen entsprach in keiner Weise den Wünschen der Psychiater. Dem aus § 51 StGB Freigesprochenen geschah in der Regel nichts. Das Gericht hatte nicht die Möglichkeit, von sich aus etwa den Täter in eine Heil- oder Pflegeanstalt einzuweisen. Es konnte bestenfalls die Verwaltungsbehörde auf besonders gemeingefährliche Verbrecher aufmerksam machen. Ob diese dann die Unterbringung veranlaßte, blieb zweifelhaft. Vielfach jedenfalls lebte der zurechnungsunfähige Täter in Freiheit weiter und hatte vermöge seines „Jagdscheins" die Möglichkeit zu weiteren Delikten, ohne daß er verurteilt werden konnte. Diese Situation war weder für den Richter noch für den psychiatrischen Sachverständigen befriedigend. Nach langen Vorarbeiten sind durch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung" (GgG) vom 24. XI. 1933 Bestimmungen Gesetz geworden, die nach mehrfacher Änderung jetzt folgendermaßen lauten: § 42 a. Maßregeln der Sicherung und Besserung sind Die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt, die Unterbringung in einem Arbeitshaus, die Sicherungsverwahrung, weggefallen, die Untersagung der Berufsausübung, die Entziehung der Erlaubnis zum F ü h r e n von Kraftfahrzeugen 3 ). § 4 2 b . (1) H a t jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit (§ 51 Abs. 1, § 55 Abs. 1) oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit (§ 51 Abs. 2, § 55 Abs. 2) begangen, so ordnet das Gericht seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt an, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert. Dies gilt nicht bei Übertretungen 4 ). 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

(2) Bei vermindert Zurechnungsfähigen t r i t t die Unterbringung neben die Strafe. § 42 c. Wird jemand, der gewohnheitsmäßig im Ü b e r m a ß geistige Getränke oder andere berauschende Mittel zu sieh n i m m t , wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das er im Rausch begangen h a t , oder das mit einer solchen Gewöhnung in ursächlichem Zusammenhang steht, oder wegen Volltrunkenheit (§ 330 a) zu einer Strafe verurteilt, u n d ist seine Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer E n t ') Näheres s. HEINDL, J a h r b ü c h e r der Charakterologie 2/3, 1926, S. 451 ff. ) Besonders A S C H A F F E N B U R G h a t sich immer wieder dafür eingesetzt. 3 ) Als 7. P u n k t war ursprünglich Reichsverweisung vorgesehen; diese ist später fortgefallen. Die unter P u n k t 5 früher erwähnte E n t m a n n u n g gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher ist weggefallen. 4 ) I n Mitteldeutschland ist der §20a und damit auch § 42 a Ziff. 4 (Sicherungsverwahrung) fortgefallen. 2

Die Maßregeln der Sicherung und Besserung

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Ziehungsanstalt erforderlieh, um ihn an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Unterbringung an. § 42d. (1) Wird jemand nach § 361 Nr. 3 bis 5, 6a bis 8 zu Haftstrafe verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe seine Unterbringung in einem Arbeitshaus an, wenn sie erforderlich ist, um ihn zur Arbeit anzuhalten und an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen. (2) Dasselbe gilt, wenn jemand, der gewohnheitsmäßig zum Erwerbe Unzucht treibt, nach § 361 Nr. 6 zu Haftstrafe verurteilt wird. (3) Wegen Betteins ist die Anordnung nur zulässig, wenn der Täter aus Arbeitsscheu oder Liederlichkeit oder gewerbsmäßig gebettelt hat. (4) Arbeitsunfähige, deren Unterbringung in einem Arbeitshaus angeordnet wird, können in einem Asyl untergebracht werden. § 42e. Wird jemand nach § 20a als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher verurteilt, so ordnet das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert. § 42 f. (1) Die Unterbringung dauert so lange, wie ihr Zweck es erfordert. (2) Die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt darf nicht länger als 2 Jahre dauern. (3) Die Dauer der Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt und der Sicherungsverwahrung ist an keine Frist gebunden. Die erste Unterbringung in einem Arbeitshaus oder einem Asyl darf nicht länger als zwei Jahre, die wiederholte nicht länger als vier Jahre dauern. Bei diesen Maßregeln hat das Gericht jeweils vor dem Ablauf bestimmter Fristen zu entscheiden, ob der Zweck der Unterbringung erreicht ist. Die Frist beträgt bei einer Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt und der Sicherungsverwahrung 3 Jahre und bei der Unterbringung in einem Arbeitshaus oder einem Asyl 6 Monate. Ergibt sich bei der Prüfung, daß der Zweck der Unterbringung erreicht ist, so hat das Gericht die Entlassung des Untergebrachten anzuordnen. (4) Das Gericht kann auch während des Laufes der in den Absätzen 2 und 3 genannten Fristen jederzeit prüfen, ob der Zweck der Unterbringung erreicht ist. Wenn das Gericht dies bejaht, so hat es die Entlassung des Untergebrachten anzuordnen. (5) Die Fristen laufen vom Beginn des Vollzugs an. Lehnt das Gericht die Entlassung des Untergebrachten ab, so beginnt mit dieser Entscheidung der Lauf der in Absatz 3 genannten Fristen von neuem. § 42 g. (1) Sind seit der Rechtskraft des Urteils drei Jahre verstrichen, ohne daß mit dem Vollzug der Unterbringung begonnen worden ist, so darf sie nur noch vollzogen werden, wenn das Gericht es anordnet. Die Anordnung ist nur zulässig, wenn der Zweck der Maßregel die nachträgliche Unterbringung erfordert. (2) In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in der der Unterzubringende eine Freiheitsstrafe verbüßt oder auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird. § 42h. (1) Die Entlassung des Untergebrachten gilt nur als bedingte Aussetzung der Unterbringung. Das Gericht kann dem Untergebrachten bei der Entlassung besondere Pflichten auferlegen und solche Anordnungen auch nachträglich treffen oder ändern. Zeigt der Entlassene durch sein Verhalten in der Freiheit, daß der Zweck der Maßregel seine erneute Unterbringung erfordert, und ist die Vollstreckung der Maßregel noch nicht verjährt, so widerruft das Gericht die Entlassung. (2) Die Dauer der Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt und der erstmaligen Unterbringung in einem Arbeitshaus oder einem Asyl darf auch im Falle des Widerrufs insgesamt die gesetzliche Höchstdauer der Maßregel nicht überschreiten.

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Das Strafrecht

§ 42 i. (1) Die im Arbeitshaus oder in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten sind in der Anstalt zu den eingeführten Arbeiten anzuhalten. Sie können auch zu Arbeiten außerhalb der Anstalt verwendet werden, müssen jedoch dabei von freien Arbeitern getrennt gehalten werden. (2) Die in einer Heil- und Pflegeanstalt, einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt Untergebrachten können innerhalb oder außerhalb der Anstalt auf eine ihren Fähigkeiten und Verhältnissen angemessene Weise beschäftigt werden. § 421. (1) Wird jemand wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das er unter Mißbrauch seines Berufes oder Gewerbes oder unter grober Verletzung der ihm kraft seines Berufes oder Gewerbes obliegenden Pflichten begangen hat, zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten verurteilt, so kann ihm das Gericht zugleich auf die Dauer von mindestens einem und höchstens 5 Jahren die Ausübung des Berufes, Gewerbes oder Gewerbezweiges untersagen, wenn dies erforderlich ist, um die Allgemeinheit vor weiterer Gefährdung zu schützen. (2) Solange die Untersagung wirksam ist, darf der Verurteilte den Beruf, das Gewerbe oder den Gewerbezweig auch nicht für einen anderen ausüben oder durch eine von seinen Weisungen abhängige Person für sich ausüben lassen. (3) § 36 Abs. 1 gilt entsprechend 6 ). Wird die Vollstreckung der Freiheitsstrafe oder einer neben der Strafe erkannten, mit Freiheitsentziehung verbundenen Maßregel der Sicherung und Besserung bedingt ausgesetzt, so wird die Probezeit auf die Frist angerechnet. (4) Das Gericht kann die Untersagung der Berufsausübung wieder aufheben, wenn der Zweck der Maßregel ihre Fortdauer nicht mehr erforderlich erscheinen läßt. Die Aufhebung ist frühestens zulässig, nachdem die Maßregel ein J a h r gedauert hat. Sie gilt nur als bedingte Aussetzung der Untersagung und kann bis zum Ablauf der im Urteil für ihre Dauer festgesetzten Zeit widerrufen werden; die Dauer der Untersagung darf auch im Falle des Widerrufs insgesamt die im Urteil für ihre Dauer festgesetzte Zeit nicht überschreiten. § 42 m. (1) Wird jemand wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung, die er bei oder in Zusammenhang mit der Führung eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der dem Führer eines Kraftfahrzeugs obliegenden Pflichten begangen hat, zu einer Strafe verurteilt oder lediglich wegen Zurechnungsunfähigkeit freigesprochen, so entzieht ihm das Gericht die Fahrerlaubnis, wenn er sich durch die Tat als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat. Gegenüber dem Inhaber eines ausländischen Fahrausweises ist die Entziehung nur zulässig, wenn die mit Strafe bedrohte Handlung einen Verstoß gegen Verkehrsvorschriften enthält. (2) Wird die Fahrerlaubnis entzogen, so ist ein von einer deutschen Behörde ausgestellter Führerschein im Urteil einzuziehen. In ausländischen Fahrausweisen ist die Entziehung zu vermerken. (3) Die Fahrerlaubnis erlischt mit der Rechtskraft des Urteils. Das Gericht bestimmt im Urteil eine Frist, vor deren Ablauf die Verwaltungsbehörde keine neue Fahrerlaubnis erteilen darf. Die Frist beträgt mindestens sechs Monate und höchstens fünf Jahre. Sie wird von dem Tage ab berechnet, an dem das Urteil rechtskräftig geworden ist. Das Gericht kann die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis auch für immer untersagen. (4) Erscheint die Maßregel nicht mehr erforderlich, um die Allgemeinheit vor Gefährdung zu schützen, kann das Gericht die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis nachträglich durch Beschluß gestatten. § 42 n. Maßregeln der Sicherung und Besserung können nebeneinander angeordnet werden. 6

) Betrifft Berechnung der Fristen.

Die Maßregeln der Sicherung und Besserung

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Schließlich mögen aus der Strafprozeßordnung die wichtigsten hierher gehörigen Bestimmungen hier ihren Platz finden: § 80 a. Ist damit zu rechnen, daß die Unterbringung des Beschuldigten in einer Heil- oder Pflegeanstalt, einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt angeordnet werden wird, so soll schon im Vorverfahren einem Sachverständigen Gelegenheit zur Vorbereitung des in der Hauptverhandlung zu erstattenden Gutachtens gegeben werden. § 126a. (1) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, daß jemand eine mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit begangen hat und daß seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt angeordnet werden wird, so kann das Gericht durch Unterbringungsbefehl seine einstweilige Unterbringung anordnen, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert. Die Tatsachen, die diese Annahme rechtfertigen, sind aktenkundig zu machen. (3) Der Unterbringungsbefehl ist aufzuheben, wenn der in ihm angegebene Grund der Unterbringung weggefallen ist oder wenn das Gericht im Urteil die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt nicht anordnet. Durch Einlegung eines Rechtsmittels darf die Freilassung nicht verzögert werden. § 246 a. Ist damit zu rechnen, daß die Unterbringung des Angeklagten in einer Heil- oder Pflegeanstalt, einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt angeordnet werden wird, so ist in der Hauptverhandlung ein Arzt als Sachverständiger über den geistigen und körperlichen Zustand des Angeklagten zu vernehmen. H a t der Sachverständige den Angeklagten nicht schon früher untersucht, so soll ihm dazu vor der Hauptverhandlung Gelegenheit gegeben werden. § 429 a. Liegen Anhaltspunkte dafür vor, daß der Beschuldigte eine mit Strafe bedrohte Handlung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangen hat, und führt die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren wegen der Zurechnungsunfähigkeit des Beschuldigten nicht durch, so kann sie den Antrag stellen, seine Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt selbständig anzuordnen (Sicherungsverfahren). §456b. Eine mit Freiheitsentziehung verbundene Maßregel der Sicherung und Besserung, die neben einer Freiheitsstrafe angeordnet ist, wird erst vollzogen, wenn die Freiheitsstrafe verbüßt, bedingt ausgesetzt oder erlassen ist. Jedoch kann die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt ganz oder teilweise vor der Freiheitsstrafe vollzogen werden. § 456 c. (1) Das Gericht kann bei Erlaß des Urteils auf Antrag oder mit Einwilligung des Verurteilten das Inkrafttreten der Untersagung der Berufsausübung durch Beschluß aufschieben, wenn das sofortige Inkrafttreten des Verbots für den Verurteilten oder seine Angehörigen eine erhebliche, außerhalb seines Zwecks liegende, durch späteres Inkrafttreten vermeidbare Härte bedeuten würde. Hat der Verurteilte einen gesetzlichen Vertreter, so ist dessen Einwilligung erforderlich. § 462 Abs. 4 gilt entsprechend. (2) Die Vollstreckungsbehörde kann unter denselben Voraussetzungen die Untersagung der Berufsausübung aussetzen. (3) Der Aufschub und die Aussetzung können an die Leistung einer Sicherheit oder an andere Bedingungen geknüpft werden. Aufschub und Aussetzung dürfen den Zeitraum von 6 Monaten nicht übersteigen. (4) Die Zeit des Aufschubs und der Aussetzung wird auf die für das Berufsverbot festgesetzte Frist nicht angerechnet. Schließlich sei noch erwähnt: Die Öffentlichkeit kann für die Hauptverhandlung oder für einen Teil davon ausgeschlossen werden, wenn das Verfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einer Heil- oder Pflegeanstalt neben einer Strafe oder ausschließlich zum Gegenstand hat (Gerichtsverfassungsgesetz § 171a).

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Das Strafrecht

Ich habe es für zweckmäßig gehalten, die Bestimmungen über Sicherung und Besserung hier im Zusammenhang anzuführen, obwohl manches davon erst in den folgenden Kapiteln näher besprochen werden soll. Es erleichtert den Überblick und läßt besser die vorhandenen Möglichkeiten erkennen. Absichtlich habe ich auch die §§ 42d und e mit erwähnt, obwohl sie zunächst für den Psychiater unwichtig erscheinen. Man findet aber unter den gewohnheitsmäßigen Bettlern und Vagabunden soviel abnorme Persönlichkeiten (einschließlich psychotischer Defektzustände), und unter den Psychopathen so zahlreiche Gewohnheitsverbrecher, daß mir die Kenntnis dieser Bestimmungen auch für den Psychiater wichtig erscheint. Dazu kommt, daß der § 42n die Anordnung mehrerer Maßregeln nebeneinander möglich macht; es kann also z. B. ein defektschizophrener Bettler sowohl einem Arbeitshaus wie auch, sofern er mindestens erheblich vermindert zurechnungsfähig ist, einer Heil- oder Pflegeanstalt überwiesen werden, und ebenso kann ein psychopathischer Gewohnheitsverbrecher, der als vermindert zurechnungsfähig gilt, nicht nur in einer Heil- oder Pflegeanstalt, sondern auch in Sicherungsverwahrung untergebracht werden 6 ). Die Frage aber, wohin solche Kriminelle gehören, ist nicht nur für das einzelne Individuum, sondern auch für die dafür bestimmten Anstalten, wie wir noch sehen werden, von Bedeutung. Schließlich sind diese Bestimmungen auch wichtig für die Frage der sozialen Prognose, die später behandelt werden soll. Bei den genannten Maßregeln steht die Sicherung im Vordergrunde; eine wirkliche Besserung dürfte nur in sehr beschränktem Maße möglich sein: bei manchen Geisteskranken etwa, bei denen das Verbrechen nur Symptom der Erkrankung ist, bei Trinkern und Süchtigen, wenn man sie richtig anpackt. Wieweit der Gewohnheitsverbrecher durch Sicherungsverwahrung zu bessern ist, scheint mir recht zweifelhaft. Sie mag auf manche abschreckend wirken, bei manchen mag auch die verbrecherische Energie infolge des fortschreitenden Alters nachlassen. Daß eine wirkliche innere Umstellung erfolgt, dürfte zu den Ausnahmen gehören. Genaue, allen kritischen Ansprüchen genügende Untersuchungen sind in so unruhigen Zeiten wie der jetzigen, in der die Umweltfaktoren sich so grundlegend geändert haben und so bedeutungsvoll geworden sind, kaum noch möglich. Ob die geradezu kläglichen Erfahrungen, die man in Frankreich mit der Resozialisierung von Verbrechern auf Neu-Kaledonien gemacht hat 7 ), auf unsere Verhältnisse übertragbar sind, weiß ich nicht. Es wäre möglich, daß das Verbleiben der Verwahrten auf der Insel, das damit verbundene nicht vermeidbare Zusammentreffen mit anderen Entlassenen sich ungünstig ausgewirkt hat. e ) Nach MEZGER (PS. neur. Wschr. 1935, S. 30) ist die Strafverschärfung gemäß § 20a StGB auch für vermindert Zurechnungsfähige anwendbar; für sie steht damit auch die Sicherungsverwahrung des § 42 e offen. ') Darüber hat HEINDL berichtet (Jahrb. der Charakterologie 1, 1924, s. 89 ff.). Danach wurden einmalige Schwerverbrecher in 1%, Gewohnheitsverbrecher überhaupt nicht resozialisiert.

Die Maßregeln der Sicherung und Besserung

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Die Anordnung der Maßregeln setzt zwar eine mit Strafe bedrohte Handlung voraus; doch hängt sie, soweit es sich um die Unterbringung gemäß § 42b oder 42c handelt, nicht von der Schwere der Tat ab. Es handelt sich nicht um Sühnemaßnahmen, die der jeweiligen Schuld entsprechen, sondern um Zweckmäßigkeitsmaßregeln, die von der Schwere der Schuld unabhängig sind, die nur dem Schutze der Allgemeinheit und, soweit möglich, der Besserung des Täters dienen sollen. Ihr Sinn ist Rückfallbekämpfung durch eine der Persönlichkeit angepaßte Sonderbehandlung 8 ). Wenn die Voraussetzungen für die Anordnung einer Maßregel nach § 42 a StGB gegeben sind, so muß diese grundsätzlich erfolgen; nur die Untersagung der Berufsausübung ist dem pflichtgemäßen Ermessen des Richters überlassen. Gegen Jugendliche kann nur die Unterbringung aus § 42b angeordnet werden; außerdem kann die Entziehung der Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen angeordnet werden 9 ). Wie wir schon sahen, ist die Unterbringung eines nach § 51 Abs. 1 StGB zurechnungsunfähigen oder nach § 51, Abs. 2 vermindert zurechnungsfähigen Täters, die uns jetzt beschäftigen soll, zwingend vorgeschrieben, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert 10 ). Von der Unterbringung kann nur abgesehen werden, „wenn sie bei der gegebenen Sachlage nicht oder nicht dauernd ausreicht, um der Allgemeinheit einen genügenden Schutz vor weiteren Störungen der öffentlichen Sicherheit zu gewähren. Dann ist gegebenenfalls zu anderen zulässigen Sicherungs- oder Besserungsmaßregeln, z. B. der Sicherungsverwahrung zu greifen". Voraussetzung für die Unterbringung ist neben der Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung die Feststellung mindestens der erheblich verminderten Zurechnungsfähigkeit des Täters. Während der Strafmilderungsgrund aus § 51 Abs. 2 auch dann anwendbar ist, wenn verminderte Zurechnungsfähigkeit zwar nicht sicher nachgewiesen, aber doch als möglicherweise gegeben anzusehen ist, genügt eine solche Möglichkeit für die Anordnung der Unterbringung nicht; es muß vielmehr festgestellt werden, daß zur Zeit der Tat verminderte Zurechnungsfähigkeit vorlag. Eine weitere Voraussetzung ist, daß der Unterzubringende ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat; eine Übertretung genügt nicht. Die Unterbringung vermindert Zurechnungsfähiger kann auch nur angeordnet werden, wenn sie zu Strafe verurteilt werden. Es ist nicht statthaft, auf Grund eines Straffreiheitsgesetzes das Verfahren einzustellen und selbständig die Unterbringung des vermindert Zurechnungsfähigen in einer Heil- oder Pflegeanstalt anzuordnen 11 ). Während diese Fragen vornehmlich den Richter angehen, hat der psychiatrische Sachverständige zum inneren Tatbestand, nämlich zu der Frage 8 ) E X N E R , ZStW 53, 1934, S. 631. o) JGG vom 4. 8. 1953 § 7. 10 ) RG vom 21. 4. 1936; JW 65, 1936, S. 1975. u ) JW 1935, S. 2367.

Das Strafrecht

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Stellung zu nehmen, ob der Täter die öffentliche Sicherheit gefährdet. Das ist nach der amtlichen Begründung und nach mehreren Reichsgerichtsentscheidungen dann der Fall, „wenn künftig mit bestimmter Wahrscheinlichkeit gegen den Bestand der Rechtsordnung gerichtete Handlungen zu erwarten sind, und auf andere Weise als durch Anordnung der jeweils in Betracht kommenden Sicherungsmaßnahmen keine Abhilfe zu erwarten ist" 12 ). Es genügt jedoch, daß die Tat die Gefahr des Täters für die öffentliche Sicherheit in irgendeiner Weise erkennen läßt, wenn nicht allein, so doch im Zusammenhang mit dem sonstigen Verhalten des Täters. Dabei können, für den Psychiater selbstverständlich, auch frühere Verurteilungen verwertet werden, bei denen Rückfalls Verjährung eingetreten ist 13 ). Die Frage der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ist keineswegs immer leicht zu entscheiden. Sie hängt nicht allein von der Persönlichkeit des Täters und von der Art der Erkrankung ab, sondern auch von dem Milieu, in das er nach seiner Entlassung kommt, von der Aufsicht, die ihm zuteil werden kann, von der Einsicht und der Zuverlässigkeit seiner Angehörigen, aber auch von der jeweiligen Gesamtsituation: in unruhigen Zeiten, in denen die Verführung und die Verführbarkeit gerade mancher abnormer Menschen gesteigert ist, wird man sich leichter entschließen, die Unterbringung vorzuschlagen als in ruhigen Zeiten. Die letzte Entscheidung hat auch hier der Richter: Er muß im Urteil ausdrücklich feststellen, daß zuverlässige Anzeichen vorliegen, daß der Täter, wenn er nicht in einer Heil- oder Pflegeanstalt untergebracht würde, die Rechtsordnung der menschlichen Gemeinschaft auch ferner in empfindlicher Weise stören würde 14 ). Zu fragen ist auch, ob nicht weniger einschneidende Maßnahmen genügen, um etwa bestehende Gefahren abzuwenden, z. B. freiwilliger Eintritt in eine Anstalt, Bestellung eines Vormunds oder Pflegers, Betreuung durch zuverlässige Angehörige 15 ); auch Schutzaufsicht ist vorgeschlagen worden 16 ). Sie ist jedoch in großen Städten wirkungslos und erschwert in kleineren Orten die soziale Einordnung 17 ). Auch die übrigen Möglichkeiten haben den Nachteil der Unsicherheit: Wer sich z. B. vor Gericht bereit erklärt, freiwillig in eine Anstalt zu gehen, braucht sich, wenn das Urteil rechtskräftig geworden ist, nicht an sein Versprechen zu halten: ein Vormund hat nur selten so guten Kontakt mit seinem Mündel, daß er auf sein Handeln wirklich Einfluß gewinnt, und wirklich einsichtige Angehörige findet man nur selten. Dennoch 12 ) RGSt. 73, S. 304. Dazu weiter die amtliche Begründung; ferner JW 1935, S. 2366 u. 1938, S. 166; RGSt. 69, S. 242; HRR 1937, Nr. 201; v. d. Heydt, Arch.

Psychiatr. 107, 1938; Schäfer-Waqner-Schafhe utle, S. 120; Langelüddeke,

AZPs. 123, 1944, S. 145 f. 13 ) RGSt. 68, 1935, S. 351. ") HE 2, S. 192. Dort Hinweis auf Olshausen, 12. Aufl. Anmerkung 5 zu § 42 b.

Einzelheiten s. Schönke, S. 132. 15

) RGSt. 69, 1936, S. 13; HRR 1938, Nr. 40; JW 1935, S. 935 u. 1938, S. 166.

16 17

) Von Aschafeenbtjro in Hoche III.

) Oft ist sie praktisch undurchführbar.

Die Maßregeln der Sicherung und Besserung

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scheinen mir in manchen Fällen derartige Maßnahmen nützlich und angebracht zu sein. Die freiwillige Aufnahme kommt z. B. bei Beginn einer Paralyse zum Zwecke der Behandlung in Betracht ; bei senilen Sittlichkeitsverbrechern kann die Betreuung durch Verwandte oder die Aufnahme in ein Altersheim gute Dienste leisten. Schon oben ist angedeutet, daß die Gefährdimg der öffentlichen Sicherheit u. a. von der Art der Erkrankung abhängt. Hierzu hat das Reichsgericht entschieden, daß die Unterbringimg aus § 42 b in allen den Fällen nicht in Betracht kommt, in denen es sich um schnell vorübergehende krankhafte Störungen der Geistestätigkeit handelt 18 ). Dazu gehören Delirien bei körperlich Erkrankten, pathologische Rauschzustände u. dgl. M. E. ist jedoch eine Einschränkung dieses an sich richtigen Grundsatzes am Platze: Wenn jemand z. B. an häufigeren epileptischen Dämmerzuständen leidet, in denen er mit Strafe bedrohte Handlungen begeht oder begehen kann, so liegt die Gefahr in der Wiederholung der an sich kurzen Bewußtseinsstörungen ; ähnlich ist es mit pathologischen Rauschzuständen, wenn der Betreffende nicht völlig abstinent lebt. Man wird daher von Fall zu Fall diese Frage entscheiden müssen. Gelegentlich wird die Meinung vertreten, eine Einweisung sei nicht erforderlich, weil durch den Täter nur die Sicherheit einer Person gefährdet sei, während das Gesetz „Allgemeingefährlichkeit" verlange, d. h. die Gefährdung eines größeren Personenkreises. Ich halte diesen Standpunkt für abwegig : Jeder einzelne ist doch ein Teil der Allgemeinheit, und derjenige, der einen einzelnen Menschen bedroht, gefährdet die öffentliche Sicherheit in der Person eben dieses Menschen. Eine klare Entscheidung darüber besteht soweit ich sehe, nicht : Es heißt zwar, die Gefährdung „eines begrenzten Personen kr eises" reiche aus 19 ); ob aber die Gefährdung eines einzelnen genügt, geht nicht daraus hervor. Ein Wort noch zur Unterbringung von Querulanten! Der nur lästige Täter kommt für die Unterbringung nicht in Betracht. Nur lästig ist, wer sich damit begnügt, durch schriftliche Eingaben Behörden und Beamte zu einer Tätigkeit zu veranlassen, durch die ihre Arbeitskraft unnötig in Anspruch genommen wird, oder auch die Ehre einzelner angreift, ohne daß diese dadurch ernsthaft in ihrem Rechtskreis bedroht werden 20 ); dagegen ist die öffentliche Sicherheit als gefährdet anzusehen, wenn zu befürchten ist, daß Gerichte oder Verwaltungsbehörden dadurch an Ansehen und Vertrauen verlieren, daß wahnhafte Ideen des Täters über angeblich erlittene Ungerechtigkeit in weiteren Bevölkerungskreisen geglaubt werden 21 ). 18

) HRR 1939, Nr. 366; RGSt. 73, 1940, S. 44. ) SCHÖNKE, S. 132. — Im Entwurf von 1958 wird im § 86 ausdrücklieh die Gefährlichkeit des Täters auch „für einzelne andere" als Grund für die Unterbringung angeführt. Damit würde diese Frage geklärt sein. 20 ) JW 1935, S. 2367; 1938, S. 2331; HRR 1938, Nr. 40. 19

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) D J 1 9 3 8 , S . 4 2 4 ; H R R 1 9 4 0 , N r . 1 1 4 ; H E S t . 1, S . 2 4 0 , d a z u BUBLITZ i n KLEIST,

Richter und Arzt, Ernst Reinhardt Verlag 1956, S. 153. & L & n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Das Strafrecht

Liegen neben den Voraussetzungen des § 42 b noch die für die Anordnung einer anderen Maßregel vor, so können sie nebeneinander angeordnet werden (§ 42n). Diese Möglichkeit ist wichtig, namentlich wenn es sich um leicht Schwachsinnige oder psychopathische Täter handelt, die unter den Begriff des gefährlichen Gewohnheitsverbrechers fallen (§ 20 a). Derartige Verbrecher können im gewöhnlichen Strafvollzug wie auch in der Sicherungshaft gehalten werden. Der Sachverständige sollte in solchen Fällen nach Möglichkeit die Unterbringung in Sicherungsverwahrung vorschlagen, einmal wegen der erhöhten Fluchtgefahr, weiter aber um die Heil- und Pflegeanstalten von unerwünschten Elementen nach Möglichkeit freizuhalten 22 ). Es muß unbedingt dahin gestrebt werden, daß die Anstalten ihren Charakter als Heil- und Pflegeanstalten behalten, daß sie nicht zu Bewahranstalten für Verbrecher herabsinken. Handelt es sich um wirklich Geisteskranke im medizinischen Sinne, so ist kein Zweifel, daß ihre Unterbringung und Behandlung Sache der Heil- und Pflegeanstalten ist. Die Belastung mit psychopathischen und leicht schwachsinnigen Verbrechern ist jedoch für die Anstalten nicht tragbar 23 ). Durch die Anhäufung asozialer Elemente werden innerhalb der Anstalt Sicherungsmaßnahmen nötig, die den Krankenhauscharakter der Anstalten in der Richtung der Gefangenenanstalten ändern; die oft notwendige und erwünschte Disziplinierung solcher vielfach schwieriger Menschen ist mit den Mitteln der Anstalten nicht durchzuführen; der Ruf und das Ansehen der Anstalten leidet; man kann es schließlich den nicht verbrecherischen Geisteskranken und ihren Angehörigen nicht verübeln, wenn sie der Gesellschaft mit Verbrechern möglichst aus dem Wege gehen. Der Vorschlag MEZGERS24), besondere Heilanstalten für alle nach § 42b Eingewiesenen zu errichten, ist unter den derzeitigen Verhältnissen undurchführbar; er ist auch nicht zweckmäßig. Vorläufig ist daher die Sicherungsverwahrung das Gegebene. Der hier vertretenen Auffassung hat auch das Reichsgericht zugestimmt 25 ). P. S C H E O E D E E hat darüber hinausgehend auf der Dresdener Tagung der Psychiater und Neurologen 1935 den Vorschlag gemacht, dem § 42 b den folgenden Zusatz zu geben 26 ): „Für solche vermindert zurechnungsfähigen Rechtsbrecher, welche ungeeignet für eine Heil- und Pflegeanstalt sind, kann Sicherungsverwahrung angeordnet werden, auch wenn sie nicht gefährliche Gewohnheitsverbrecher im Sinne des Gesetzes sind."

Dieser Vorschlag ist durch den m. E. besseren im Entwurf von 1958 (s. Fußnote 24) überholt. 22

) Siehe auch RGSt. 70, 1937, S. 128.

23

) D a z u CREUTZ, A Z P S . 1 1 1 , 1 9 3 9 ; SCHOTTKY, A Z P s . 1 1 7 , 1 9 4 1 ; ASCHENBRENNER,

Der Nervenarzt 15, 1942; MAKOWSKY, Ps.neur. Wschr. 1940; günstiger HÜRTEN, AZPs. 106, 1937. 24 ) M R r B 30, 1936, S. 323. I m Entwurf von 1958 sind dafür besondere Bewahrungsanstalten, die sich im Auslande bewährt haben, vorgesehen. Diese Regelung dürfte die zweckmäßigste sein. 25 ) RGSt. 73, 1940, S. 103. 26 ) Zb.Neur. 78, 1936, S. 171.

Die strafrechtliche Behandlung der Alkohol- und Suchtdelikte

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Verfahrensrechtlich sei nur kurz auf die Möglichkeit hingewiesen, die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt ganz oder teilweise vor einer neben ihr verhängten Freiheitsstrafe zu vollziehen (§ 456b StPO), weiter auf die Möglichkeit der einstweiligen Unterbringung Zurechnungsunfähiger oder vermindert Zurechnungsfähiger (§ 126a StPO). Die letztgenannte Möglichkeit kann man bei frisch erkrankten Untersuchungsgefangenen, etwa bei beginnender progressiver Paralyse oder anderen behandlungsbedürftigen Kranken ausnützen. Gegen Zurechnungsunfähige, bei denen das gegen sie laufende Strafverfahren aus § 51, Abs. 1 StGB eingestellt ist, kann ein Verfahren mit dem Ziele der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt durchgeführt werden (§ 429a StPO). Auf die Wichtigkeit dieser Möglichkeit braucht wohl kaum hingewiesen zu werden. Die Auswahl der Anstalt ist nicht Sache des Gerichts, sondern der Vollstreckungsbehörde27). Die sehr wichtige Möglichkeit der bedingten Entlassung soll in- einem späteren Kapitel besprochen werden. 6. Die strafrechtliche Behandlung und Suchtdelikte

der Alkohol-

Daß der Alkoholgenuß verbrechenfördernd wirkt, ist allgemein anerkannt. Auch die absolute Zahl der Alkoholdelikte ist beträchtlich. So wurden in den Jahren 1 9 1 0 — 1 9 1 3 in Bayern durchschnittlich 8 0 3 2 Personen in der Trunkenheit straffällig, darunter durchschnittlich 140 Gewohnheitstrinker; das warenrund 1 0 , 6 % der Gesamtkriminalität1). Diese Zahl war später ( 1 9 2 6 — 2 9 ) zwar auf 1029 (30) Personen zurückgegangen; das ändert jedoch nichts an der Bedeutung des Alkohols für das Zustandekommen von Verbrechen. Bei den genannten Zahlen stand ganz im Vordergrunde die Körperverletzung mit 52,4 bzw. 52,0 vom Hundert. Rechnet man Körperverletzung, Bedrohimg, Beleidigung, Sachbeschädigung, Widerstand und Hausfriedensbruch zusammen, so ergeben sie rund 92 bzw. 85% der Straftaten. Aber auch Sittlichkeitsdelikte sind unter Alkoholwirkung nicht selten: unter den Rauschtaten des Jahres 1 9 2 6 waren es über 4 % , und E B E R zählte unter 100 Blutschandefällen 17 Rauschtaten2). Die Alkoholkriminalität ist von äußeren Faktoren stark abhängig; sie wächst bei günstiger Wirtschaftslage mit ihren besseren Löhnen und der " ) RGSt. 70, 1940, S. 177; JW 1939, S. 621. Näheres darüber b e i E x N E R , S. 197. Weiter zu diesem Kapitel BINDER, Schweizer Arch. f. Neur. u. Psych. Bd. 35/36,1935; BECKER, Med. Welt 1937, S. 1438; MEZGER und MIKOREY, M K r B . 27, 1936, S. 4 1 0 ; sehr ausführlich MEGGENDORFER in BTJMKE

VII; weiter ELBEL, Der Blutalkohol, G. Thieme. 1956; PONSOLD, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. G. Thieme, 2. Aufl. 1957, S. 244; SCHLEYER, Der öffentl. Gesundheitsdienst 12, 1950/51, S. 461 und ROMMENEY, DZgM 41, 1952, S. 277. Hier eine Anzahl von Fällen. 2 ) Errechnet aus SCHEIFF, Straftaten in der Volltrunkenheit, Konrad Trietsch Verlag, Würzburg 1940; EBER, Die Blutschande. Krim. Abhlgen. Nr. 30. 5*

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Das Strafrecht

geringeren Arbeitslosigkeit; sie ist abhängig von Trinkgewohnheiten, vom Temperament des betreffenden Volksteils, von der Möglichkeit der Alkoholbeschaffung. In Hamburg standen von 188 Straffällen, deren Gutachten mir noch vorliegen, die Alkoholdelikte, d. h. die Delikte, bei denen der Alkohol die Hauptrolle spielte, mit 29 an zweiter Stelle. In Marburg sind unter 262 Straffällen aus den Jahren 1937—1945 nur 3 Alkoholdelikte. Wahrscheinlich war das die Folge der Alkoholknappheit während des letzten Krieges. Zweifellos am wichtigsten ist der Rausch in seinen verschiedenen Formen. Ihm gegenüber treten alle anderen alkoholbedingten Störungen, die Dipsomanie, das Delirium tremens, die Alkoholhalluzinose usw., ja selbst der chronische Alkoholismus an Bedeutung stark zurück; sie sollen deshalb in einem späteren Kapitel behandelt werden. Hier beschränken wir uns auf Rauschtaten. Schon kleine Gaben Alkohol verändern, wie Kkaepelin und seine Schüler in zahlreichen Arbeiten zeigen konnten3), die geistigen und körperlichen Funktionen. Ich selbst konnte unter natürlichen Verhältnissen bei einer Reihe von Personen eine Herabsetzung der Schießleistungen unter geringen Alkoholmengen beobachten. Schon Gaben von 10—40 Gramm Alkohol erschweren die Auffassung, setzen die Merkfähigkeit herab, steigern die Ablenkbarkeit4). Die geistige Arbeit, das Überlegen, das Urteilen wird bei den meisten Menschen beeinträchtigt, die sittlichen Hemmungen werden mehr oder weniger ausgeschaltet. Subjektiv dagegen besteht meistens ein Wohlgefühl und der Eindruck der gesteigerten Leistungsfähigkeit. Bei größeren Mengen von Alkohol kommt es zum Rausch. Dieser verläuft nun bei den verschiedenen Menschen und bei ein und demselben Menschen unter verschiedenen inneren und äußeren Umständen nicht gleichartig. Man unterscheidet daher einfache und abnorme Räusche, wobei zu beachten ist, daß der zunächst einfache Rausch bei besonderen Gelegenheiten in einen abnormen Rausch übergehen kann, als dessen Extrem der sogenannte pathologische Rausch zu betrachten ist. Der einfache Rausch, d. h. die gewöhnliche, innerhalb gewisser Grenzen schwankende Reaktion auf akuten Alkoholexzeß verläuft mit gewissen Varianten etwa folgendermaßen: Bei nicht gar zu schnellem Trinken kommt man zunächst in das Stadium des Angeregtseins: man fühlt sich behaglich, beschwingt, die Gedanken scheinen schneller zu fließen, gewisse Hemmungen fallen fort, Herz und Mund öffnen sich, ein Gefühl der Kraft, des Könnens, der Zuversicht durchströmt den Trinker. In Wirklichkeit ist freilich schon in diesem Stadium die Auffassimg, wie experimentelle Untersuchungen gezeigt haben, erschwert, s ) Niedergelegt in den von Kraepelin herausgegebenen „Psychologischen Arbeiten". 4 ) Nach S c h l e y e r (a. a. O.) beginnt die Einschränkung der Wahrnehmungs-, Konzentrations-, Reaktions-, Koordinations- und Kritikfähigkeit sowie des stereoskopischen Sehens schon bei höchstens 0,5°/ 00 Blutalkohol.

Die strafrechtliche Behandlung der Alkohol- und Suchtdelikte

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und die Merkleistungen sind ungenau. Im folgenden Stadium des Angeheitertseins verstärken sich die Symptome: die Gedanken werden, wie bei der Manie, nach oberflächlichen Anklängen aneinander gereiht, man kommt vom Hundertsten ins Tausendste, ist nicht mehr imstande, irgendein Problem gründlicher zu erörtern. Dabei ist die Ermüdbarkeit gesteigert, das Urteilen beeinträchtigt. Um so mehr wird jedoch die Richtigkeit der eigenen Meinung betont, gute Gründe werden durch Erheben der Stimme ersetzt, und da jeder sich und seine Meinung zur Geltung bringen möchte, so pflegt es in einer angeheiterten Gesellschaft ziemlich laut herzugehen. In diesem Stadium schwinden die Sorgen, das Wohlgefühl ist gesteigert, der Angeheiterte oder Angetrunkene fühlt sich im Besitz besonderer Kräfte. Schon jetzt ist eine solche Gesellschaft für einen völlig nüchternen einigermaßen anspruchsvollen Menschen schwer erträglich: man fühlt sich abgestoßen von der schalen Oberflächlichkeit und Ideenflüchtigkeit der Unterhaltung, von der Neigung zum Renommieren, zu öden Witzen. Schon aber geht das Angeheitertsein mehr und mehr in die Betrunkenheit über. Die Gespräche werden zusammenhanglos, die Sprache der einzelnen Trinker wird unsicher, schwerfällig, die Gesichtszüge wirken schlaffer, die Beherrschung von Wort und Tat geht verloren. Dabei ist noch vielfach ein Bewegungsdrang vorhanden, der infolge Fehlens der gedanklichen Hemmungen oft genug zu wenn auch harmlosen gesetzwidrigen Handlungen f ü h r t : grober Unfug, nächtliche Ruhestörung u. dgl. sind die häufigsten Delikte 6 ). Doch zeigt sich bei manchen schon in diesem Stadium erhöhte Reizbarkeit, Neigung zum Krakeelen und Stänkern, und es kann zu unerfreulichen Kurzschlußhandlungen kommen. Bei weiterem Trinken treten die höheren sittlichen Gefühle zurück, Hemmungen fallen mehr und mehr fort; gleichzeitig macht sich eine zunehmende Lähmung aller Funktionen bemerkbar, die bis zur völligen Bewußtlosigkeit führen kann. Dafür ist namentlich die Unsicherheit der Bewegungen, die lallende Sprache, die sehr stark erschwerte Auffassung nach außen hin kennzeichnend. Körperlich fällt das gerötete und oft gedunsene Gesicht und bei der Untersuchung die mangelhafte oder fehlende Lichtreaktion der Pupillen auf 6 ). Auf die Gestaltung des Rausches hat offenbar die Persönlichkeit Einfluß; sie färbt ihn und erzeugt die verschiedenen Varianten. Neben dem häufigsten euphorischen Rausch mit Glücksgefühl und Neigung zu allgemeiner Verbrüderung findet man den dysphorischen Rausch, bei dem Gereiztheit, Neigung zu Händeln, Verlust der Selbstbeherrschung das Bild bestimmen. Dazu kommen, wenn auch seltener, die stillen Trinker, die wenig sagen, nur dasitzen, ganz unauffällig sind, bis sie plötzlich schwer betrunken unter den Tisch fallen oder einschlafen. 5 ) Während des Krieges war ich als Chef einer Studentenkompagnie dankbar, daß alkoholische Getränke knapp wurden; ich hatte viel weniger zu strafen. e ) Manche Autoren halten die Lichtreaktion der Pupillen für belanglos; sie fehlt auch nur in seltenen Fällen. Dann aber scheint mir das ein bedeutsames Zeichen zu sein.

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Das Strafrecht

Frauen und Kinder sind gegen Alkohol viel weniger widerstandsfähig als Männer. Regelmäßiger Alkoholgenuß steigert zunächst die Widerstandsfähigkeit, bei längerem Mißbrauch, in späterem Alter und bei organischen Hirnerkrankungen und namentlich bei Hirnverletzungen nimmt sie wieder ab. Davon weichen nun die sogenannten abnormen Rauschzustände ab; schon nach relativ kleinen Alkoholmengen kann die Stimmung gereizt werden, es kann zu extremen Enthemmungserscheinungen, zu schweren, ja tobsüchtigen Entladungen kommen, die zu persönlichkeitsfremden Handlungen führen. Für den Beobachter bleibt aber das Handeln sinnvoll und verständlich. Die Erinnerung an das im Rausch Vorgefallene ist hinterher meist nur summarisch vorhanden. Neigung zu Händeln, Verlust der Selbstbeherrschung kennzeichnen das Bild. Sinnestäuschungen fehlen bei dieser Form; dagegen sind Beeinträchtigungsideen nicht selten. Schließlich der sogenannte „pathologische Rausch", der selten ist und wohl zu oft angenommen wird. Beim Zustandekommen dieser Rauschzustände spielt die persönliche Anlage eine Rolle; daneben wirken äußere Umstände begünstigend. In der Regel handelt es sich um irgendwie abartige Menschen, die zu solchen Rauschzuständen neigen, ganz besonders um solche, die zum weiteren Umkreis der Epilepsie gehören; aber auch ganz Gesunde können gelegentlich in auch für sie ungewöhnlicher Weise auf Alkohol reagieren. Besonders gefährdet sind alle organisch Hirnkranken einschließlich der Hirnverletzten, denen aus diesem Grunde nicht ernst genug völlige Abstinenz empfohlen werden muß. Zu den begünstigenden äußeren Faktoren zählen erschöpfende Einflüsse, überstandene Erkrankungen, Übermüdung, mangelhafte Ernährung, seelische Erregungen aller Art. Manchmal genügen schon geringe Mengen Alkohol zur Auslösung solcher Räusche. Am häufigsten sind die von Bonhoeffeb als epileptoid bezeichneten Räusche, die anscheinend gewisse Beziehungen zur Epilepsie haben, meist plötzlich, ohne besondere Vorzeichen, aus friedlicher Verfassung heraus einsetzen, mit Verlust der Orientierung, Verkennung der Situation, auch wohl einzelnen Sinnestäuschungen einhergehen und nach kürzerer oder längerer Zeit mit einem tiefen Schlaf und Erinnerungslosigkeit an die fragliche Zeit enden. Daneben sind seltener delirante Räusche und Rauschdämmerzustände. Während dieser Zustände kommt es nicht selten zu brutalen Gewalttaten, sinnlosen Erregungen und namentlich auch zu sexuellen Vergehen, meist zu exhibistischen oder zu homosexuellen Handlungen bei sonst anscheinend normal veranlagten Menschen. Ein von mir begutachteter Fall möge hier erwähnt werden: A. A., 24 Jahre alt, Chauffeur, kräftig gebaut, gut beurteilt, sonst durchaus solide, trank nach Arbeitsschluß in der Zeit von 17 bis 23 Uhr in Gesellschaft von Freunden rund 3 Liter Bier. Zwischendurch machten sie Besorgungen, wobei er eine harte Mettwurst kaufte. Abends entstand in einem Lokal ein Streit zwischen dem Wirt und einer anderen Gruppe, wobei sie die Partei des Wirtes nahmen. Es kam zu einer harmlosen Schlägerei. Kurz darauf riß sich A. auf dem Wege zu einem Café, wo man nach einer Tasse Kaffee Schluß machen wollte, von seinen Freunden los und lief mit

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so großer Geschwindigkeit fort, daß die anderen ihn nicht einzuholen vermochten und ihn daher laufen ließen. Er lief dann in eine Nebenstraße und bedrohte dort nach Aussage eines Zeugen diesen mit einem Revolver. Als der Zeuge flüchtete, folgte er ihm, jedoch immer die Bäume als Deckung benutzend. Der Zeuge lief dann in einen Park und verlor ihn aus den Augen. Es konnte weiter festgestellt werden, daß A. im Park einige Frühbeetfenster zerschlug und dann über einen Zaun in einen Garten stieg. Dort wurde er von einer Frau bemerkt, die ihren Hund auf ihn hetzte; dieser griff aber nicht an und verhielt sich überhaupt auffallend still. A. stieg dann weiter in einen Nebengarten und von dort mit gezücktem Messer in ein offenstehendes Parterrefenster. Ein dort schlafendes japanisches Ehepaar fuhr aus den Betten auf; der Japaner bot A. Geld an; das schlug er ihm jedoch aus der Hand, griff den Japaner an und brachte ihm mit dem Messer eine Verletzung am Rücken bei. Es gelang dem Japaner dann, ihn so lange festzuhalten, bis seine Frau mit der Polizei kam, A. festnahm und zur Wache brachte. Dort verfiel er schnell in Schlaf, wußte beim Erwachen von all diesen Erlebnissen seit der Zeit des Fortlaufens nichts. Ein Revolver wurde bei ihm nicht gefunden; angeblich hatte er nie einen besessen. — Ich habe einen pathologischen Rauschzustand angenommen, für den die harmlose Schlägerei die auslösende Ursache war. Als Revolver hat anscheinend die harte Mettwurst gedient, die später dem Hunde vorgeworfen wurde, so daß dessen auffallendes Verhalten sich zwanglos erklärt. Das Verfahren wurde aus § 51 StGB alter Fassung eingestellt.

Der Fall zeigt verschiedene wichtige Anzeichen des pathologischen Rausches: einmal die Art der Auslösung, auf die ich schon hinwies; weiter den für einen Mann dieses Alters und seiner kräftigen Körperkonstitution mäßigen Alkoholgenuß, der sich auf 6 Stunden verteilte; dann den plötzlichen Beginn, die Sicherheit der Motorik, den terminalen tiefen Schlaf, das Fehlen der Erinnerung. Der Umstand, daß A. Deckung hinter den Bäumen suchte, deutet darauf hin, daß er die Situation wahnhaft verkannte; sein Verhalten gegenüber dem Hunde zeigt nur, daß in solchem Zustande auch anscheinend zweckmäßige Handlungen vorgenommen werden können7). Nicht immer sind die Rauschzustände so ausgeprägt und so sicher zu beurteilen wie der hier beschriebene; manchmal kommt man über eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose nicht hinaus. Als Gutachter bekommt man den Täter in der Regel erst in nüchternem Zustande zu Gesicht. Man wird dann namentlich zu prüfen haben, ob Hinweise auf fehlende Orientierung und Verkennung der Sachlage während des Rausches zu erkennen sind, ob die Handlungen verständlich sind oder nicht. Manche Autoren sind der Ansicht, daß solche Räusche nur auf der Grundlage von organischen Hirnschäden oder psychopathischer Anlage zustande kommen. Dem kann man m. E. nicht zustimmen. Bei dem oben wiedergegebenen Fall handelte es sich um einen sonst völlig unauffälligen, gut beurteilten Mann ohne erkennbare psychopathische Wesenszüge. Auch R O M M E N E Y (1. c.) berichtet über ähnliche Fälle und ') PABKES (Zb.Neur. 53, 1929, S. 224) berichtet über einen Mord im pathologischen Rausch. Ein Sachverständiger meinte in der Verhandlung: „Ein mit pathologischer Trunkenheit Behafteter kann ein Automobil oder ein Flugzeug führen oder eine Rede im Parlament halten, ohne daß man ihm etwas anzumerken braucht " Diese Behauptung scheint mir etwas weit gegangen.

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sagt, daß der Rausch „die psychische Normalität so wenig wie die sozialpsychische Vollwertigkeit" mit seinen bedenklichen Folgen verschone. Was hat nun der Gutachter im Einzelfall zu beachten ? Zunächst wird es in vielen Fällen möglich sein, den Alkoholgehalt des Blutes festzustellen. Dieser beträgt normalerweise 0,03°/ 00 ; ein Gehalt von etwa l,0°/ 00 führt zu Angeheitertsein, von etwa l,5°/ 00 zu leichten, von 2,0°/00 zu mittleren Räuschen, von etwa 2,5°/ 00 an zu schwerer Betrunkenheit. Von etwa 3,0°/ 00 an droht die Gefahr einer tödlichen Vergiftung; doch sind Fälle bis zu 6,0°/ 00 bekannt geworden, die die Vergiftung überlebt haben. Diese Zahlen bilden Anhaltspunkte, lassen aber allein ein Urteil über die Zurechnungsfähigkeit eines Täters nicht ohne weiteres zu. Es wird vielmehr nötig sein, bei der Beurteilung alle äußeren Faktoren mit der Persönlichkeit des Täters und den besonderen Tatumständen in Beziehung zu bringen. Erst daraus läßt sich eine brauchbare Entscheidung ableiten. Es ist schon nicht gleichgültig, was man trinkt. Bier hat eine andere Wirkung als Schnaps, Sekt eine andere als Wein; es gibt leichte und schwere Weine, wobei die berauschende Wirkung neben dem Alkoholgehalt auch von den aromatischen Stoffen abhängt. Schon aus diesem Grunde ist die Bestimmung des Blutalkohols, so sehr sie als Anhalt für die genossene Menge erwünscht ist, keineswegs von ausschlaggebender Bedeutung für die Frage der Zurechnungsfähigkeit 9 ). Zu dieser unterschiedlichen Wirkung der Getränke kommt nun weiter aber die Persönlichkeit des Trinkenden. Jedermann weiß, wie verschiedenartig die verschiedenen Menschen auf Alkohol reagieren: der eine kann viel, der andere weniger vertragen; der eine wird heiter, ausgelassen, ein zweiter laut und streitsüchtig, ein dritter sitzt still daneben, ist ganz unauffällig und fällt, wenn er aufsteht, vielleicht um. Weiter ist zu beachten das Alter, Gewicht, Körperkonstitution, Gewöhnung. Dazu kommt die Tagesdisposition: Allgemeinbefinden, Stimmung, etwa voraufgegangene Erregung, Kummer, Sorge, Krankheiten, Erschöpfungszustände, Nahrungsaufnahme, Schlaf, Wetter; das alles ist wichtig für die Alkoholwirkung. In schweren Räuschen treten Bewußtseinsstörungen bis zu völliger Bewußtlosigkeit auf, andere Räusche können als krankhafte Störung der Geistestätigkeit gewertet werden. Dieser Auffassung widerstrebt zwar unsere gefühlsmäßige Einstellung zum Rausch. Weil die Wirkung des Alkohols allgemein bekannt ist, weil der Rausch vermeidbar ist, weil der Alkoholgenuß bei uns nicht als verwerflich, sondern vielmehr als zu fröhlicher Geselligkeit zugehörig gilt, wird er nicht als eine Geistesstörung betrachtet. Wissenschaftlich gesehen unterliegt es jedoch keinem Zweifel, daß der Rausch von seinen leichtesten bis zu seinen schwersten Formen wie jede andere Vergiftung mit psychischen Störungen nichts anderes ist als eine mehr oder BIRNBAUM 8 )

8 ) Rriminalpsychopathologie und psychologische Verbrecherkunde. Springer. 1931. B ) Ähnlich auch VON DER HEYDT, Fortschr. 8, 1936, S. 415.

Berlin.

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weniger schwere Geistesstörung exogener Art. Jede andere Vergiftungsfolge, etwa nach Haschisch- oder Tollkirschengenuß, würden wir zweifelsohne als krankhafte Störung der Geistestätigkeit anerkennen. Wo soll man aber die Grenze ziehen? Wo beginnt die erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit, wo die Zurechnungsunfähigkeit ? Und wer soll diese Zustände beurteilen ? Der Richter oder der Psychiater ? Zweifellos besitzt auch die Mehrzahl der Richter auf Grund eigener Erfahrung ausreichenden Sachverstand für den gewöhnlichen Rausch. Oft genug aber werden pathologische Räusche als solche von Laien gar nicht erkannt. Oder der Rausch fällt in den Beginn einer progressiven Paralyse, oder er ist verknüpft mit einer manischen Phase, oder es ist als Grundlage eine explosive, epileptoide Persönlichkeit oder eine Hirnverletzung mit Alkoholintoleranz vorhanden. In allen diesen Fällen dürfte der Psychiater am Platze sein. Die Abgrenzung der verschiedenen Zurechnungsfähigkeitsgrade nach Alkoholgenuß gehört im übrigen zu den schwierigsten Aufgaben des Sachverständigen. In vielen Fällen ist sie kaum lösbar. Auch die „schwankende Haltung des Reichsgerichts", auf die A S C H A F F E N B U K G 1 0) hinweist, läßt die Unsicherheit auf diesem Gebiete erkennen. Im letzten Jahrzehnt seines Bestehens war das Reichsgericht geneigt, die Zurechnungsunfähigkeit auch auf nicht sinnlose Betrunkenheit auszudehnen. Zwei Entscheidungen mögen die Stellungnahme des Reichsgerichts beleuchten. Ein Kraftwagenführer hatte, obwohl er erkannte, daß er infolge reichlichen Alkoholgenusses nicht die gerade Fahrtrichtung einzuhalten vermochte, die Fahrt fortgesetzt und dadurch einen Unfall herbeigeführt 11 ). Das Reichsgericht führt dazu aus: „Die Tatsache, daß der Angeklagte infolge Alkoholgenusses nicht mehr imstande war, seinen Kraftwagen sicher zu führen, schließt nicht ohne weiteres in sich, daß seine Fähigkeit, das Unerlaubte seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsstörung erheblich vermindert war (§ 51, 2 StGB). Da die sichere Führung eines Kraftfahrzeuges in ganz besonders hohem Maße die Fähigkeit erfordert, die geistigen und körperlichen Kräfte anzuspannen, kann die Fähigkeit, ein solches Fahrzeug sicher zu führen, infolge Alkoholgenusses aufgehoben sein, ohne daß eine erhebliche Verminderung der Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Fähigkeit zu handeln vorliegen muß." In einem anderen Falle war ein Radfahrer, der infolge Alkoholgenusses schläfrig geworden war, vom Rade gestürzt, und nur mit Mühe hatte er wieder aufsteigen können; plötzlich, von der rechten nach der linken Straßenseite hinüberwechselnd, war er mit einem Motorrade zusammengestoßen. Das Reichsgericht wies die Sache zur erneuten Verhandlung mit folgender Begründung zurück: „Der übermäßige Genuß geistiger Getränke kann, auch ohne daß sinnlose Trunkenheit und damit Bewußtlosigkeit vorzuliegen braucht, einen Rauschzustand erzeugen, der sich in einer die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Bewußtseinsstörung oder krankhaften Störung der Geistestätigkeit äußert. Es kann hierbei die Bestimmbarkeit des Willens durch vernünftige Erwägungen so weitgehend gehemmt sein, daß die freie Willensbestimmung nach § 51, 1 StGB ausgeschlossen ist" 12 ). 10

u

) I n HOCHE I I I , S . 4 6 f .

) RGSt. 69, 1936, S. 364. " ) H R R 15, 1939, Nr. 19.

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Was kann nun in der Praxis getan werden, um ein einigermaßen zutreffendes Bild zu gewinnen ? Abgesehen vom Blutalkohol steht im Zusammenhang damit das Protokoll über das Verhalten des Täters bei der Blutentnahme und die daraus sich ergebende Beurteilung des Trunkenheitsgrades zu dieser Zeit zur Verfügung. Schon dabei zeigt sich, daß der dabei festgestellte Zustand dem Blutalkoholgehalt nicht zu entsprechen braucht. Bei relativ geringem Alkoholgehalt des Blutes können schon deutliche Zeichen der körperlichen und psychischen Beeinflußung erkennbar sein, wie umgekehrt völlig geordnetes Verhalten bei hohem Blutalkoholgehalt beobachtet werden kann 13 ). Wichtig kann auch die Vernehmung von Zeugen sein, die dann freilich besondere Sorgfalt erfordert. Es genügt nicht zu fragen, ob der Täter angeheitert, betrunken, sinnlos betrunken oder aber nüchtern war; man muß sich vielmehr das Gesamtverhalten beschreiben lassen: die Motorik, die Art des Sprechens (Lautheit, Unsicherheit, Lallen), den Inhalt der Reden (geordnet oder nicht), etwaige Besonderheiten wie Ärger, Zorn, Streit u. dgl. Man muß sich nur darüber klar sein, daß manche Menschen sich infolge ihrer Erziehung auch in der Betrunkenheit zu beherrschen verstehen und daher viel weniger betrunken wirken als sie in Wirklichkeit sind, daß andererseits die nachträglichen Erinnerungsmängel nicht imbedingt auf eine besonders schwere Betrunkenheit hinweisen müssen, daß sie gern auch vorgetäuscht werden. Die Meinungen, ob man Alkoholversuche anstellen soll, sind geteilt. Wir haben früher manchmal, keineswegs immer, einen gewissen Nutzen davon gesehen14). Man führt dabei zwei verschiedene Versuche durch: der erste erstreckt sich über 10 Tage. Dabei soll nach Möglichkeit je zweimal am Taehistoskop, am Dynamometer und mit fortlaufendem Addieren gearbeitet werden. Zwischen die zwei täglichen Versuchsreihen wird eine Pause von 20 Minuten eingeschoben. Am 6., 8. und 10. Tage wird zu Beginn der Pause 40 ccm (bei Frauen 25 ccm) absoluter Alkohol verdünnt mit ebensoviel Wasser und 20 ccm Himbeersirup gegeben. Diese Menge muß schnell, möglichst in einem Zuge ausgetrunken werden. DieLeistungszu- oder -abnahmen an den Alkoholtagen werden mit denen der alkoholfreien Tage verglichen. Eine Steigerung der körperlichen Kraft bei gleichzeitiger Herabsetzung der Auffassungs- und Addierleistung scheint mir für eine Neigung zu pathologischen Rauschzuständen zu sprechen. Auch der Wechsel der Leistungen ist manchmal bemerkenswert. 13 ) In einem Falle, den ich vor einiger Zeit zu begutachten hatte, war bei der Blutentnahme unmittelbar nach der Tat nur aufgefallen, daß die Pulsfrequenz mit 84 Schlägen nicht besonders groß war. Im übrigen waren alle Bewegungen sicher, die Sprache, das Verhalten unauffällig. Die Diagnose lautete: „leicht unter Alkoholwirkung". Der Blutalkoholgehalt betrug 2,5°/ 00 . Einen ähnlichen Fall hat ELBEL beschrieben: bei 2,45% hatten die Zeugen nichts von Trunkenheit bemerkt. DZgM 8 1 , 1 9 3 9 , S. 102. 1J ) Ähnlich TÖBBEN, DZgM 83, 1940, S. 111.

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Der zweite Versuch besteht darin, daß dem Täter im „gemütlichen" Zusammensein möglichst der Alkohol in reichlicher Menge vorgesetzt wird, den er vor der Tat genossen hat. Die wirkliche Situation dabei nachzuahmen, ist natürlich unmöglich; dem Versuch haftet stets etwas Wirklichkeitsfremdes an. Dennoch hat auch diese Methode ihren Nutzen: die Patienten gehen aus sich heraus, und einmal beobachteten wir, wie ein auf diese Weise betrunken gemachter Beobachtungskranker plötzlich anfing Fliegen zu fangen, die gar nicht da waren; er hatte sog. trunkfällige Halluzinationen. Manchmal sah ich auch einen unerwartet plötzlichen Umschlag von harmloser Angetrunkenheit in schwere Betrunkenheit 18 ). Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß diese recht zeitraubenden Versuche vom Arzt, am besten vom Gutachter selbst durchgeführt werden müssen; die Beobachtung dabei ist von so großer Wichtigkeit, daß man sie nicht dem Personal überlassen kann. Praktisch ist für die Beurteilung etwa folgendes zu beachten: wenn man auf Grund des gesamten Materials zu dem Ergebnis kommt, daß ein pathologischer Rausch vorgelegen hat, so ist m. E. nach § 51 Abs. 1 zu exkulpieren. Im übrigen wird man außer der Form und dem Verlauf des Rausches (der abnorme Rausch wird im allgemeinen eher die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 oder 2 erfüllen, als der einfache Rausch) unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu fragen haben, ob die unter Alkoholwirkung begangene Tat persönlichkoitsfremd oder persönlichkeitsadäquat war 16 ). Wenn ein bis dahin unbestrafter, ordentlicher 50jähriger Mann im Rausch eine Straftat begeht, so wird man sieh schon deswegen mindestens scheuen, ihn für voll zurechnungsfähig zu erklären; wenn es sich um eine Tat handelt, die seiner Persönlichkeit fremd ist, bedarf es nicht unbedingt einer „schweren" Betrunkenheit, um doch begründete Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit zu äußern. Handelt es sich um eine persönlichkeitsadäquate Tat, so taucht die Frage auf, ob der Täter sich ohne Alkohol beherrscht hätte. Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß jemand gewisse Tendenzen hat, deren Verwirklichung strafbar wäre, die er aber in nüchternem Zustande nicht zur Wirkung kommen läßt. Auch relativ geringe Alkoholmengen können in solchen Fällen enthemmend wirken 17 ). So werden sexuelle Delikte nach SCHLEYER18) meist bei dem mäßigen Blutalkoholgehalt von etwa l,5°/ 00 begangen. In einem solchen Falle kann man m. E. unter Umständen — man wird stets die ganze Persönlichkeit zu berücksichtigen haben — auch bei einem einfachen Rausch 15

) Schwierigkeiten derart, daß sich jemand weigerte, die Versuche durchzuführen, habe ich kaum einmal gehabt. 16 ) Dazu ROMMENEY, Ungewöhnliche Formen des Alkoholrausches. DZgM 41, 1 9 5 2 , S. 2 7 7 . 17 ) S. dazu HÜLLE, JZ 1952, S. 297, der sich gegen die Neigung wendet, nur die sinnlose Trunkenheit als Exkulpierungsgrund gelten zu lassen. 18 ) Der öff. Ges. Dienst 12, S. 461.

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den Abs. 2 des § 51 StGB anwenden. D a ß man gelegentlich die Wirkung des Alkohols weitgehend vernachlässigen kann, möge der folgende Fall zeigen 1 9 ). G., 31 Jahre alt, ist ein sehr geschickter Taschendieb; er ist deswegen in den letzten 10 Jahren 5mal verurteilt; insgesamt hat er 7% Jahre Gefängnis und Zuchthaus hinter sich. 1949 hatte er eine Serie von mindestens 50 Taschendiebstählen ausgeführt, ohne dabei erwischt zu werden. Im August 1957 wurde er gemeinsam mit einem anderen, der die Rolle des „Deckers" übernahm, an zwei Sonnabenden beobachtet, wie er wieder Taschendiebstähle auszuführen versuchte. Beim zweiten Male wurde er verhaftet. Die Blutuntersuchung ergab 2,5°/ 00 (s. Fußnote 13); sein Verhalten war im übrigen völlig geordnet. Am ersten Sonnabend hatte er nach eigenen Angaben nur ganz wenig getrunken. Ich habe in diesem Falle die volle strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit bejaht, weil der Alkohol bei seinem Tun offensichtlich nur eine ganz nebensächliche Rolle gespielt hatte. Trotz aller Bemühungen aber wird stets eine nicht zu unterschätzende Unsicherheit in der Beurteilung der Rauschzustände bleiben. J e nachdem man das Vergeltungsprinzip oder den Schutz der Gesellschaft voranstellt, wird man in der Annahme v o n Zurechnungsunfähigkeit oder verminderter Zurechnungsfähigkeit mehr oder weniger weit gehen. Der dadurch entstehenden Rechtsuiisicherheit entgegen zu wirken, sind in den verschiedenen Ländern verschiedene Bestimmungen erlassen. In Deutschland dient dazu der § 3 3 0 a StGB. Dieser lautet: Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch den Genuß geistiger Getränke oder durch andere berauschende Mittel in einen die Zurechnungsfähigkeit (§51 Abs. 1) ausschließenden Rausch versetzt, wird mit Gefängnis- 20 ) oder mit Geldstrafe bestraft, wenn er in diesem Zustand eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht. Die Strafe darf jedoch nach Art und Maß nicht schwerer sein als die für die vorsätzliche Begehung der Handlung angedrohte Strafe. Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein, wenn die begangene Handlung nur auf Antrag verfolgt wird. Der strafbare Tatbestand des § 330 a besteht nach der im wesentlichen einhelligen Meinung in der Rechtsprechung u n d im Schrifttum darin, daß sich der Täter vorsätzlich oder fahrlässig in einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rausch versetzt. Das Begehen einer mit Strafe bedrohten Handlung ist daneben eine Bedingung der Strafbarkeit. Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs ist also die schuldhafte Unmäßigkeit, u n d zwar wegen der Gefährdung der Allgemeinheit, die aus der toxisch bedingten Bewußtseinsstörung erwachsen kann. Zum Tatbestand des § 3 3 0 a S t G B gehört jedoch nicht das Wissen des Täters, daß er im Rausch zu irgend19

) Ähnlich auch S E I B E R T , Zum Einwand der Trunkenheit. N J W 1954, S. 1028 u. J Z 1954, S. 212. Außerdem ist hinzuweisen auf BGHSt. 1, S. 385, nach dem planmäßiges Handeln nicht ohne weiteres den Schluß auf Zurechnungsfähigkeit zuläßt, und DALLINGER, MDR 1953, S. 596, der ein Urteil des BGH vom 23. 6. 1953 anführt, wonach das teilweise erhaltene Erinnerungsvermögen kein unbedingter Hinweis dafür ist, daß der Täter zurechnungsfähig war. 20 ) Ursprünglich war die Dauer der Gefängnisstrafe auf 2 Jahre begrenzt; das ist seit 1941 geändert. In Mitteldeutschland ist der Wortlaut des § 330a der gleiche wie in Westdeutschland. WÜRTENBERGER,

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welchen strafbaren Handlungen neigt 21 ). Es ist also nicht erforderlich, daß der Täter sich schon einmal unter Alkoholwirkung strafbar gemacht hat. Auch der bis dahin unbestrafte, gut beleumundete Täter kann aus dieser Vorschrift bestraft werden 22 ). Hinsichtlich des inneren Tatbestandes ist erforderlich Vorsatz oder Fahrlässigkeit, die sich auch darauf beziehen müssen, der Trinker könne im Rausch irgendwelche Ausschreitungen strafbarer Art begehen. Diese Voraussicht oder Voraussehbarkeit versteht sich freilich in der Regel von selbst 23 ). Es genügt daher im allgemeinen, wenn der Vollrausch als solcher schuldhaft herbeigeführt wurde. Der Täter handelt vorsätzlich, wenn er weiß oder in Kauf nimmt, daß er durch die Rauschmittel in einen Zustand gerät, der sein Unterscheidungs- oder Hemmungsvermögen aufhebt; er handelt fahrlässig, wenn er diese Folgen des Genusses der Rauschmittel hätte erkennen müssen und können 24 ). Daß sich jemand vorsätzlich einen Rausch antrinkt, in dem er zurechnungsunfähig ist, wird selten vorkommen, häufiger wird Fahrlässigkeit nachweisbar sein, wie MEZGER mit Recht bemerkt. Handelt es sich um einen pathologischen Rausch, so wird man zu fragen haben, ob die genossene Alkoholmenge im allgemeinen geeignet ist, schwere Betrunkenheit hervorzurufen; ist das nicht der Fall, wird der § 330a kaum anwendbar sein. Weiter ist aber zu prüfen, ob der Täter schon einmal einen pathologischen Rausch gehabt hat, oder ob eine besondere Empfindlichkeit gegen Alkohol bei ihm besteht; in diesem Falle muß man von ihm Abstinenz verlangen, und es ist dann auch ein geringer Alkoholgenuß vorwerfbar 26 ). Das bedarf in diesen Fällen einer besonders sorgfältigen Prüfung 2 6 ). Die vorliegende Bestimmung gilt aber nur, wenn der Täter vor dem Rausch weder eine Tat begehen wollte noch eine solche voraussah noch ihre Möglichkeit fahrlässig außer acht ließ. Versetzt sich dagegen jemand in einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rausch mit dem Vorsatz, in diesem Rausch eine bestimmte Straftat zu, begehen, und führt er die verbrecherische Tat im Vollrausch dann auch aus, so ist er aus der Strafvorschrift zu verurteilen, die er im Rausch verletzt hat (sog. actio libera in causa) 27 ). Das gilt auch dann, wenn jemand sich 21

) BGHSt. 1, S. 124 u. 2, S. 17 (entgegen OLG Oldenburg, JZ 1951, S. 460). ) BGHSt. 1, 124. Hier wird der Fall eines bis dahin völlig einwandfreien Mannes erwähnt, der aus Freude über einen nach angestrengter Arbeit erzielten Erfolg in l1/2 Stunden eine volle Literflasche Schnaps getrunken hatte und dann eine Mitbewohnerin durch Gewalt nötigte, den außerehelichen Beischlaf zu dulden. 23 ) BGHSt. 10, S. 247. 22

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) SOHÖNKE, S. 913. BGHSt. 1, S. 124.

) So auch TÖBBEN, DZgM 33, 1940, S. 112. Dazu BGHSt. 4, S. 73, wonach der Tatbestand des § 330a StGB auch erfüllt ist, wenn sich jemand schuldhaft durch Alkoholgenuß in einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden epileptoiden Rausch versetzt und in diesem eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht. 28 ) BGHSt. 1, S. 196 und 4, S. 73. ") RGSt. 70, S. 85ff. und 73, S. 182.

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fahrlässig in einen solchen Rauschzustand versetzt hat und außerdem fahrlässig nicht bedacht hat, daß er im Rauschzustand etwa eine gefährliche Körperverletzung begehen könnte 2 8 ). Die Bestimmung des § 330a StGB, gilt auch dann nicht, wenn durch den Rauschzustand nur eine erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit erzeugt ist; in diesem Falle gibt der § 51, 2 StGB, ausreichende Möglichkeiten der Bestrafung und, wenn nötig, der Sicherung oder Besserung. Wenn es dagegen zweifelhaft bleibt, ob der verschuldete Rausch die Zurechnungsfähigkeit des Täters ausgeschlossen oder nur erheblich vermindert hat, so ist er nach einer neueren Entscheidung des Bundesgerichtshofs nach § 330 a StGB zu verurteilen 29 ). Das Reichsgericht hat sich schließlich auf den Standpunkt gestellt, daß für eine Bestrafung nach § 330a der Rausch die alleinige Ursache der Zurechnungsunfähigkeit sein müsse, daß also die Mitwirkung anderer Ursachen, z. B. einer Schädelverletzung, für das Zustandekommen der Zurechnungsunfähigkeit die Strafbarkeit nach § 330a hindere 30 ). Doch steht der Bestrafung nicht entgegen, wenn die Volltrunkenheit durch eine besondere Veranlagung (Alkoholempfindlichkeit), sei es auf körperlicher oder psychischer oder gemischter Grundlage, begünstigt wird 31 ). I m ganzen ist die Diskussion über diese Bestimmung noch keineswegs abgeschlossen. I m vorherstehenden ist die derzeitige Situation gekennzeichnet; wie sie sich weiter entwickeln wird, ob sie in einen neuen Strafgesetzentwurf übernommen wird, ob sie durch einen Zusatz eingeschränkt wird oder in anderem Wortlaut wieder erscheinen wird, bleibt abzuwarten. Sicher hat sie auch in ihrer gegenwärtigen Form, trotz mancher Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten in der Auslegung, eine unangenehm empfundene Lücke ausgefüllt. I m § 330 a StGB wird nun nicht nur von geistigen Getränken, sondern auch von „anderen berauschenden Mitteln" gesprochen. Es erscheint daher zweckmäßig, sie hier kurz mit abzuhandeln, soweit sie Gemeinsames miteinander haben. Die Besonderheiten dieser Mittel sollen in einem späteren Kapitel besprochen werden. Es handelt sich um sogenannte Rauschgifte und andere Gifte und die durch sie erzeugten Suchten. Die Art der Suchten hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte zweifellos verlagert. Um 1920 waren Suchtmittel im wesentlichen das Morphium und das Kokain. A S C H A F F E N BUEG erwähnt 1934 außerdem noch den Äther. Inzwischen ist infolge der Opiumgesetzgebung das Kokain so gut wie ganz verschwunden, das Morphium und die übrigen Abkömmlinge des Opiums (Pantopon, Heroin, Eukodal u. a.) haben an Bedeutung insofern verloren, als Süchtige mit Tagesdosen von 1—2 Gramm Morphium, wie man sie früher häufig sah, heute zu 28

29

) RGSt. 70, S. 87. SCHÖNKE, S. 912.

) BGHSt. 9, S. 390. Ausführlich ist der Fall geschildert in der JZ 1957, S. 352; Bedenken dagegen hat SCHNEID EWIN geäußert. JZ 1957, S. 324. 3 °) RGSt. 7«, S. 85. 31 ) HRR 1938, Nr. 190.

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den Seltenheiten gehören. An die Stelle dieser früher fast ausschließlich gebrauchten Mittel sind jetzt andere getreten. Zu erwähnen sind namentlich Polamidon, Dolantin, Cliradon, weiter das Weckmittel Pervitin. Daneben spielen namentlich Schlafmittel eine gewisse Rolle, unter ihnen hat sich namentlich das Phanodorm als suchtbildend erwiesen. Auch die Zahl der Süchtigen hat je nach der besonderen politischen Lage gewechselt. Nach dem 1. Weltkriege war ihre Zahl stark angestiegen; sie sank dann von etwa Mitte der zwanziger Jahre allmählich ab. 1942 hat K O S M E H L mitgeteilt, daß seit 1932 bei der Zentrale zur Bekämpfung von Rauschgiftvergehen 4100 süchtige Rechtsbrecher gemeldet waren, darunter 2384 Morphinisten, 254 Eukodal-, 469 Dicodid-, 260 Opiumsüchtige. Dazu kamen 465 Kokainisten, 108 Dolantin- und 84 Pervitinsüchtige. Nach dem Stande vom 15. 9. 1942 waren wegen Rauschgiftsucht 756 Personen untergebracht, 544 Männer und 212 Frauen, unter ihnen 200 Ärzte. Von diesen 756 waren 337 in Berlin ansässig. Während des 2. Weltkrieges nahm die Zahl der Süchtigen wieder erheblich zu: in der Landesheilanstalt Marburg waren in den Jahren 1937—1940 nur zwei Süchtige behandelt, 1941—1944 dagegen 25, darunter 18 Ärzte 32 ). Nach dem 2. Weltkriege kam es anscheinend zu einer weiteren Zunahme 33 ); erst seit 1949 war ein Rückgang zu verzeichnen. Die Zahl der erfaßten Süchtigen in Westdeutschland betrug 1956 4784 Personen, davon waren 2826 Männer und 1958 Frauen; gegenüber 1955, wo 5106 Personen ermittelt wurden, hat die Zahl etwas abgenommen. An erster Stelle stehen immer noch die Morphiumsüchtigen . Hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit der Süchtigen wird man zunächst fragen müssen, welcher Art die Persönlichkeit des Täters ist und welcher Art das Delikt war. Handelt es sich um die Beschaffung des Suchtmittels etwa durch Rezeptfälschungen oder dergleichen, so wird man namentlich dann den § 51 Abs. 1 oder 2 anwenden dürfen, wenn schon ein längerer Mißbrauch vorliegt, der die Widerstandskraft des Täters geschwächt hat, namentlich aber, wenn die Tat im Zustande der Abstinenz und des Mittelhungers begangen ist 34 ). Man wird dabei jedoch insofern einen Unterschied zwischen den verschiedenen Mitteln machen müssen, als die Entziehungserscheinungen verschieden schwer sind. Namentlich bei größeren Morphiumdosen muß man mit solchen Erscheinungen rechnen. Freilich sind diese Entziehungserscheinungen gegenüber früher wesentlich geringer geworden. Das hängt einmal damit zusammen, daß, worauf schon hingewiesen ist, die Dosen wesentlich 32

) Diese Zahl gibt kein zutreffendes Bild von dem Anteil der Ärzte an den Suchten, da auch Ärzte aus nicht zuständigen Aufnahmebezirken kamen. 33 ) Nach SCHWARZ stieg die Zahl der in den mitteldeutschen Universitätskliniken behandelten Süchtigen von 30 im Jahre 1945 auf 86 im Jahre 1947, um in den folgenden Jahren über 82, 56 auf 40 im Jahre 1950 zu sinken. 3i

S.

) Ähnlich JOH. LANGE in HOCHE I I I , S. 480 und ASCHAFFENBURG ebendort,

41.

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kleiner geworden sind, zum andern auch damit, daß die Art der Entziehung anders geworden ist. Während früher die allmähliche Entziehung üblich war, die sich über 2—4 Wochen hinzog, pflegt man jetzt schlagartig die Mittel abzusetzen. Bei der früher geübten Methode übertrieb der Süchtige oft in grotesker Weise seine Beschwerden, um den Arzt zur zusätzlichen Verabfolgung einer Spritze zu bewegen. Bei der abrupten Entziehung ist das nicht mehr möglich. Immerhin sind auch bei den jetzt gebräuchlichen Dosen von Morphium die in Frieren, Schwitzen, Husten, Niesen, Durchfällen und einer gewissen quälenden inneren Unruhe bestehenden Erscheinungen nicht gerade angenehm. Dazu spielt immer noch auch die Angst vor diesen Erscheinungen mit. Abgesehen von den für Süchtige charakteristischen Delikten — Erschleichen, Diebstahl und Fälschen von Rezepten, Diebstahl von Rauschgiften und Betäubungsmitteln sowie Vielverschreiben solcher Mittel — kann es auch zu anderen Straftaten kommen. Wenn diese im akuten Rausch begangen werden, z. B. Sexualdelikte im Kokainrausch, Gewalttätigkeiten unter Marihuana, so wird Exkulpierung aus § 51 Abs. 1 in Betracht kommen. In vielen Fällen wird dann aber auch Verurteilung nach § 330 a StGB möglich sein. Daß, wenn auch selten die Frage nach der actio libera in causa auftaucht, sei nur angedeutet 38 ). Handelt es sich dagegen um andere Delikte, etwa, wie ich es erlebt habe, um die Vortäuschung eines Einbruchdiebstahls zum Zwecke eines Versicherungsbetruges und im Zusammenhang damit um einen Meineid, so scheint mir das weniger mit dem Morphiummißbrauch als mit der kriminellen Anlage des Täters zusammen zu hängen. Das Gesetz begnügt sich aber nicht mit der Verurteilung der Rauschtäter; es will sie auch bessern. Zu diesem Zwecke kann der Rauschtäter, wenn nötig, in einer Trinkerheil- oder Entziehungsanstalt untergebracht werden 36 ). Dafür müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein: 1. muß der Täter gewohnheitsmäßig im Übermaß geistige Getränke oder andere berauschende Mittel zu sich nehmen; 2. muß er wegen eines Verbrechens oder Vergehens, das er im Rausch begangen hat oder das mit einer solchen Gewöhnung in ursächlichem Zusammenhange steht, oder wegen Volltrunkenheit (§ 330a) zu einer Strafe verurteilt sein, und 3. muß die Unterbringung erforderlich sein, um ihn an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen. Die Voraussetzimg des gewohnheitsmäßigen Zusichnehmens von geistigen Getränken usw. ist erfüllt, „wenn der durch Gewöhnimg erworbene Hang den Täter so beherrscht, daß er ihm immer wieder nachgibt" 37 ). Ein täglicher oder häufig wiederholter Genuß ist nicht erforderlich 38 ); es genügt, daß je36 ) Zu diesem Kapitel aei hingewiesen auf „Bekämpfung von Rauschgiftdelikten", Bericht über eine Arbeitstagung im Bundeskriminalamt Wiesbaden. Herausgeber: Bundeskriminalamt 1956. Es handelt sich um eine Sammlung von Vorträgen, die zahlreiche beachtenswerte Einzelheiten enthalten. 36 ) Wortlaut des § 42c, S. 58. 37

38

) SCHÖNKE, S. 135; BGHSt. 8, S. 340.

) RGSt. 74, S. 218.

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mand zeitweise (Quartalstrinker) oder bei passender Gelegenheit (Gelegenheitstrinker) dem Hange folgt. Dazu ist zu sagen: Wenn unter „Quartalstrinker" die Dipsomanen verstanden werden, so scheint mir der Begriff des Gewohnheitsmäßigen über Gebühr gedehnt. Richtig ist, daß der Dipsomane, der echte Quartalstrinker, gewohnheitsmäßig nüchtern und solide ist, und nicht nach Alkohol verlangt; und dann kommt es über ihn, und alles Sträuben hilft ihm nicht; er steht unter einem Zwange, dem er nicht widerstehen kann. Man muß einmal erlebt haben, wie verändert sonst ganz vernünftige Menschen in solchen Zuständen sind. Von „Hang" kann da nicht mehr die Rede sein. Unklar ist, was „im Übermaß" bedeutet. Weder SchäfekWagner-Schaeheutle noch Schönke sagen darüber etwas. M. E. kann es nicht auf die Menge der genossenen Getränke ankommen, sondern nur auf die das Verhalten verändernde Wirkung, zu der es bei dem einen nur geringer Mengen bedarf, während der andere erhebliche Mengen verträgt. Anders liegen die Dinge bei den anderen berauschenden Mitteln (Morphium u. dgl.); hier scheint mir schon das regelmäßige Zusichnehmen auch geringer Dosen „übermäßig" zu sein. Man könnte die Worte „im Übermaß", über die man sich nur schwer wird einigen können, ebensogut fortlassen; das könnte man um so eher, als die zweite Voraussetzung die Folgen des gewohnheitsmäßigen Genusses behandelt. Die zweite Voraussetzung für die Einweisung ist die Bestrafung wegen eines Verbrechens oder Vergehens. Der Verurteilung können drei Möglichkeiten zugrunde hegen: ein im Rausch begangenes Delikt (z. B. Körperverletzimg, Widerstand) oder eine mit der Gewöhnung in ursächlichem Zusammenhang stehende strafbare Handlung (z. B. Zechprellerei, Rezeptfälschung) oder Volltrunkenheit (§ 330 a). Nur im letzten Falle genügt auch eine Übertretung. Rietzsch weist mit Recht darauf hin, daß im Gesetz eine Lücke besteht 39 ), insofern die Unterbringung zurechnungsunfähiger Süchtiger, mit Ausnahme der nach § 330 a Verurteilten, nach § 42 c nicht möglich ist. Diese wäre aber dringend erwünscht. In manchen Fällen kann man sich mit dem § 42b helfen, nämlich dann, wenn die Trunksucht auf einer geistigen Erkrankung beruht 40 ). Neuerdings hat der BGH die Möglichkeiten dadurch erweitert, daß auch das Zusammentreffen einer körperlichen Disposition zum krankhaften Rausch mit Alkoholsucht, der der sonst zurechnungsfähige Beschuldigte aus eigenem Willen nicht begegnen könne, die Unterbringimg nach § 42b StGB rechtfertigen kann 41 ). Auch Rauschmittelsüchtige können nach § 42b StGB untergebracht werden, wenn sie auf Grund ihrer körperlichen und seelischen Beschaffenheit immer wieder rückfällig werden42). Da aber die öffentliche Sicherheit keineswegs regelmäßig in diesen Fällen ge39 4

) In Gürtneb, S. 155.

°) RGSt. 73, S. 46 u. 179. BGH in JZ 1951, S. 695. «) BGHSt. 7, S. 35; 10, S. 57. 42 ) BGHSt. 10, S. 353 und NJW 1957, S. 429, Nr. 14. 0 L a n g e l i i d t l e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Das Strafrecht

fährdet ist, ist dieser Weg nicht immer gangbar. Ich halte die folgende Fassung für nützlicher: Hat jemand, der gewohnheitsmäßig geistige Getränke oder andere berauschende Mittel zu sich nimmt, im Rausch oder in ursächlichem Zusammenhang mit solcher Gewöhnung eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen, und ist seine Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt erforderlich, um ihn an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen, so ordnet das Gericht die Unterbringung an, bei einer Verurteilung neben der Strafe. Dies gilt nicht bei Übertretungen.

Die besondere Erwähnung des § 330a konnte hier fortfallen; hinsichtlich der Übertretungen, die bisher verschieden behandelt wurden, wäre Gleichmäßigkeit erreicht; namentlich aber würden die Zurechnungsunfähigen ebenso erfaßt, wie die Zurechnungsfähigen, und darauf kommt es m. E. in erster Linie an 43 ). Schließlich muß es nötig sein, den Täter an ein „gesetzmäßiges und geordnetes Leben" zu gewöhnen. Darunter wird die Vermeidung des übermäßigen Genusses geistiger Getränke oder anderer berauschender Mittel und durch sie hervorgerufener Straftaten verstanden 44 ). Dieses Streben nach Mäßigkeit läuft in der Praxis auf die Forderung völliger Abstinenz hinaus. Ich halte für den gesunden Menschen, der sich beherrschen kann, mäßigen Alkoholgenuß durchaus für erlaubt; in allen den Fällen, in denen eine Einweisung aus § 42 c erforderlich wird, muß jedoch imbedingt Abstinenz verlangt werden. Das gilt sowohl für Trinker als auch für Arzneimittelsüchtige; für die letzteren ist auch Enthaltsamkeit von Alkohol geboten. Wenn selbst Fachärzte Arzneimittelsüchtigen den Genuß von Alkohol erlauben, so halte ich das für einen Kunstfehler: die auch durch mäßigen Alkoholgenuß erzeugte Widerstandsschwäche führt oft genug zu erneutem Arzneimittelmißbrauch. Sind die hier behandelten Voraussetzungen erfüllt, so ist die Unterbringung zwingend vorgeschrieben. Steht zweifelsfrei fest, daß die Unterbringung nicht geeignet ist, den Süchtigen an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben zu gewöhnen, so ist sie auch nicht erforderlich. In solchem Falle würde, wenn die Voraussetzungen dazu erfüllt sind, die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt in Betracht kommen 46 ). Wenn andere Mittel genügen, das erstrebte Ziel zu erreichen, wie freiwilliger Eintritt in eine Entziehungsanstalt, Anschluß an einen Enthaltsamkeitsverein, Durchführung einer Kur außerhalb der Anstalt, so ist die Unterbringung ebenfalls nicht erforderlich, wenn die Durchführung genügend gesichert ist. Das dürfte freilich bei allen schwe43 ) Die entsprechende Bestimmung des Entwurfs von 1958 (§ 87) sieht auch die Unterbringving schuldunfähiger Täter vor; Voraussetzung soll die Gefahr weiterer erheblicher rechtswidriger Taten sein. Die Gewöhnung „an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben" ist fortgelassen. Die Dauer der erstmaligen Unterbringung ist auf 2 Jahre begrenzt; die wiederholte Unterbringung auf 4 Jahre (§ 96). «) JW 1935, S. 452. 4S ) JW 1935, S. 452.

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ren Fällen zweifelhaft sein; namentlich bei den Arzneimittelsüchtigen ist äußerste Skepsis geboten 46 ). Nach der neuen Fassung des Strafgesetzbuchs vom 23. 8. 1953 besteht die Möglichkeit, die Vollstreckung einer Gefängnisoder Haftstrafe zur Bewährung auszusetzen (§ 23 StGB) 47 ); dazu kann das Gericht dem Süchtigen u. a. auferlegen, „sich einer ärztlichen Behandlung oder einer Entziehungskur zu unterziehen" (§ 24 Abs. 1, Z. 3). Wenn Richter und Sachverständige in solchen Fällen zusammenarbeiten, so kann sicher in einem größeren Prozentsatz Gutes erreicht werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, die aus § 42 b und c StGB Eingewiesenen zunächst in einer entsprechenden Anstalt unterzubringen und die Strafe erst nach Beendigimg der Anstaltsunterbringung zu vollstrecken (§ 456 b StPO). Ich halte diese Bestimmung in manchen Fällen für außerordentlich zweckmäßig, insbesondere auch bei Süchtigen. Dadurch wird die Möglichkeit geschaffen, zunächst eine sachgemäße Behandlung durchzuführen, und das Gericht kann mit der Strafaussetzung zur Bewährung das Ergebnis dieser Behandlung abwarten. Es bestehen also für die Behandlung der Trinker und der übrigen Süchtigen, soweit ihre Behandlung angebracht erscheint, zwei Wege: einmal Strafaussetzung zur Bewährung unter der Bedingung einer Entziehungskur; zum andern zunächst Einweisung nach § 42 c StGB, wobei die Frage der Strafaussetzung oder der Verbüßung der Strafe von dem Erfolg der Behandlung und der dabei gewonnenen Beurteilung der Prognose abhängig gemacht werden kann. Von verschiedenen Seiten 48 ) ist bemängelt, daß die Befristung der Unterbringung auf 2 Jahre (§ 42f) zu kurz sei. Auch ich bin der Ansicht, daß eine Möglichkeit geschaffen werden müßte, rückfällige Trinker und Süchtige länger als 2 Jahre unterzubringen; gerade diese Rückfälligen gefährden am meisten die öffentliche Sicherheit. Der Entwurf von 1958 bringt darin einen wesentlichen Fortschritt. Darüber hinaus aber wäre es wünschenswert, Mittel und Wege zu finden, Trinker und Rauschgiftsüchtige rechtzeitig, d. h. bevor sie in irgendeiner Form versagen, zu behandeln, sie vor dem endgültigen Verkommen zu schützen und sie wieder in vernünftige Bahnen zu lenken. E. S C H U L T Z E fordert zu diesem Zwecke das Antragsrecht der Staatsanwaltschaft für die Entmündigung Trunksüchtiger und die Möglichkeit der Entmündigung auch 46 ) Bei früheren Gelegenheiten habe ich bei zwei Eukodal- bzw. Morphinsüchtigen Einstellung des Verfahrens erreicht, nachdem die Betreffenden sich zur Erfüllung bestimmter Pflichten bereit erklärt hatten. Eine Schwester, die im Krankenhaus Eukodal gestohlen hatte, verpflichtete sich zu einer sechs Monate dauernden Entziehungskur in der Anstalt, dreijähriger Unterstellung unter meine Kontrolle, Berufswechsel und Zahlung einer Buße. Es kommt dabei natürlich auf die Persönlichkeit an; während die frühere Krankenschwester sich durchaus wunschgemäß entwickelt hat, hat der zweite Süchtige, ein Arzt, sehr schnell wieder versagt. 47 ) Wortlaut im Kapitel „Die Beurteüung der sozialen Prognose". 4S ) E. SCHULTZE, Deutsches Strafrecht, Neue Folge 2, 1935, S. 36ff.; ähnlich

ASCHAFFENBURG i n HOOHE I I I , S . 6 5 f .

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Das Strafrecht

der Rauschgiftsüchtigen. Mir scheint der § 6, 3 BGB in seiner jetzigen Fassung nicht geeignet, dieses Ziel zu erreichen. Namentlich der Rauschgiftsüchtige wird in der Regel zu spät durch die Entmündigung erfaßt 49 ). Weitgehenden Gebrauch sollte man von der Entmündigung von Trinkern machen; besonders vorteilhaft scheint mir die Stellung unter vorläufige Vormundschaft, die den Vorzug hat, daß sie dem Trinker den Antrieb zur Besserung gibt, um der endgültigen Entmündigung zu entgehen. Als Vormund sollte ein Berufsvormund ausgewählt werden. Nur ein solcher kann sich die für sein Amt nötigen Kenntnisse aneignen und sich zugleich seiner Mündel, die in der Regel sehr aussprachebedürftig sind, in ausreichender Weise annehmen. Die in Abs. 1 des § 42h 6 0 ) formulierten Vorschriften lassen sich gut für die weitere Betreuung entlassener Rauschgiftsüchtiger und Trinker ausnützen. Es wird nach meinen Erfahrungen auch von Psychiatern viel zu wenig beachtet, daß mit der Entlassung aus der Anstalt die Behandlung Rauschgiftsüchtiger noch nicht abgeschlossen ist. Jetzt beginnt nämlich eine Zeit der erhöhten Rückfallsgefahr, über die man dem Süchtigen nach Möglichkeit hinweghelfen muß. Er bedarf gerade jetzt eines Haltes. Man muß ihn daher noch längere Zeit irgendwie in der Hand behalten, muß ihn regelmäßig sehen und untersuchen können. Um das zu erreichen, kann das Gericht ihm bei der Entlassung besondere Pflichten auferlegen. Als zweckmäßig haben sich mir folgende Vorschläge bewährt: für die Dauer von 2—3 Jahren müssen sich die Süchtigen anfangs alle 2—3 Wochen, später seltener bei einem bestimmten, in der Behandlung Süchtiger erfahrenen Arzt, am besten dem Anstaltsarzt, sonst dem zuständigen Amtsarzt, vorstellen. Alle 2—3 Monate haben sie sich auf telefonische Bestellung am gleichen Tage in der Anstalt für 3 Tage einzufinden, wo sie wie frische Suchtkranke isoliert und beobachtet werden 61 ). Im Laufe der Jahre kann man die Zügel etwas lockern. Auf diese Weise lassen sich in manchen Fällen gute Erfolge erzielen. Schließlich sei in diesem Zusammenhang noch der § 330b StGB erwähnt, der denjenigen mit Strafe bedroht, der „wissentlich einer Person, die in einer Trinkerheilanstalt oder einer Entziehungsanstalt untergebracht ist, ohne Erlaubnis des Leiters der Anstalt geistige Getränke oder andere berauschende Mittel verschafft. . ."

Das ist für die Durchführung der Entziehung natürlich wichtig. Hier scheint mir auch der gegebene Ort, kurz auf den § 421 hinzuweisen, der das Berufsverbot betrifft 62 ). Drei Voraussetzungen müssen für die An49 ) Dazu Langelüddeke, DZgM 27, 1937, S. 290; auch Többen fordert die Bewahrung der nicht kriminellen Bauschgiftsüchtigen, die nicht entmündigt werden können (DZgM 28, 1937, S. S9). Hartmanns Vorschläge (Die Entmündigung als Mittel der Verbrechensverhütung, Bonn 1937, S. 104ff.) reichen nicht aus. 50 ) Wortlaut S. 59. 61 ) Bei der jetzt gegebenen Möglichkeit, mittels der Papierchromatie Suchtmittel im Harn nachzuweisen, wird eine solche Isolierung nur bei besonderem Verdacht (Gewichtsabnahme, Pupillenstörungen, Verdacht auf Injektionsstellen) nötig sein. 52 ) Wortlaut S. 60.

Die strafrechtliche Behandlung der Sittlichkeitsdelikte

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Ordnung der Maßregel erfüllt sein: 1. muß der Täter ein Verbrechen oder Vergehen begangen haben unter Mißbrauch seines Berufes oder Gewerbes oder unter grober Verletzung der ihm kraft seines Berufes oder Gewerbes obliegenden Pflichten; 2. muß auf eine Freiheitsstrafe von mindestens 3 Monaten erkannt sein und 3. muß das Berufsverbot erforderlich sein, um die Allgemeinheit vor weiterer Gefährdung zu schützen. Die erste dieser, drei Voraussetzungen ist erfüllt, wenn beispielsweise ein Arzt unerlaubte Abtreibungen oder Sterilisationen vornimmt oder wenn er seine Schweigepflicht verletzt, wenn ein Gastwirt in seiner Gaststätte ein Absteigequartier unterhält, wenn ein Lehrer seine Stellung zu unsittlichen Handlungen an den ihm anvertrauten Kindern ausnützt, wenn ein Buchhändler illegale oder unzüchtige Schriften verbreitet usw. Im allgemeinen wird die Mitwirkung eines Psychiaters dabei kaum erforderlich sein. Am häufigsten wird sein Rat erwünscht sein bei Verstößen gegen die Rauschgiftgesetze. Betroffen sind dabei vornehmlich Ärzte, Apotheker und Pflegepersonen. Bestimmte Regeln lassen sich dafür kaum aufstellen ; jeder Einzelfall erfordert eine auf ihn abgestimmte Behandlung. Ein Berufsverbot ist für den Arzt oder für den Apotheker auch eine viel einschneidendere Maßnahme als für Pflegepersonen, weil ein gleichwertiger Beruf wieder eine längere Ausbildung voraussetzt. Schon aus diesem Grunde ist die oben vorgeschlagene Beaufsichtigung nach der Entlassung aus einer Entziehungsanstalt so wünschenswert: es kann durch sie ein Berufsverbot vermieden werden. Krankenschwestern und männlichen Pflegepersonen soll man, wenn sie süchtig geworden sind, möglichst frühzeitig empfehlen, ihren Beruf zu wechseln. Bei allen spielt natürlich auch die wirtschaftliche Lage — Ehe, Kinder, aber auch das Alter — eine Rolle.

7. Die strafrechtliche Behandlung der

Sittlichkeitsdelikte1)

Die Verstöße gegen die Sittlichkeit sollen gesondert behandelt werden, weil der Psychiater besonders häufig gutachtlich mit Delinquenten dieser Art zu tun bekommt. Unter Sittlichkeitsdelikten werden Straftaten verstanden, die bei aller Verschiedenheit im einzelnen sich irgendwie auf das Geschlechtsleben des Menschen beziehen. Sie sind im Strafgesetzbuch in seiner Fassung vom 25. 8. 1953 in den Paragraphen 173—184b zusammengefaßt. Diese enthalten recht verschiedene Tatbestände, deren Wertung schon immer der Rechtsdogmatik und der Rechtspolitik erhebliche Schwierigkeiten bereitet hat. Auf der einen *) Die Literatur über dieses Gebiet ist sehr umfangreich; die medizinischen Fragen sind von verschiedenen Autoren behandelt in H. G I E S E , Die Sexualität des Menschen, Handbuch der medizinischen Sexualforschung. Enke, Stuttgart 1955. Dort sind weitere Literaturangaben zu finden; die Sittlichkeitsdelikte sind darin von SIEVERTS und H A R D W I G vom rechtlichen Standpunkt aus erörtert. Ausführlich hinsichtlich der Entstehung der Perversionen namentlich I. H. SCHULTZ, Organstörungen und Perversionen im Liebesleben. 1952.

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Das Strafrecht

Seite werden sexualethische Anschauungen vertreten, aus denen heraus z. B. der mann-männliche Verkehr mißbilligt wird. Obwohl im Laufe der Zeit diese Anschauungen gewechselt haben, obwohl ihre Entwicklung bei verschiedenen Völkern außerordentlich unterschiedlich ist, sind sie am gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung stark beteiligt. Auf der anderen Seite fragt rationelles Denken, in welchen Fällen ein Rechtsgut schutzbedürftig sei, und verlangt, daß nur dort gestraft werden soll, wo eine solche Schutzbedürftigkeit vorliegt. Hiergegen wird man einwenden können, daß „eine die Würde des Menschen wahrende Sexualordnung selbst ein wichtiges Schutzgut" ist 2 ). Zweifel an der Schutzbedürftigkeit bestehen nicht, soweit es sich um die freie sexuelle Selbstbestimmung und die Sexualsphäre junger Menschen handelt. Zur ersten Gruppe gehören die Notzucht (§ 177 StGB), die Nötigung einer Frau zur Unzucht (§ 176 I Ziffer 1), die Schändung willensunfähiger Frauen (§176 I Ziffer 2) und die Beischlaferschleichung (§179); auch gewisse Formen der Beleidigung (§ 185) können hierher gerechnet werden. Unter die zweite Gruppe fallen die Unzucht mit Kindern (§ 176 I Ziffer 3), die Unzucht unter Ausnutzung eines Erziehungsverhältnisses (§ 174 Ziffer 1), die Verführung (§ 182), die mann-männliche Verführung (§ 175a Ziffer 3), die Gefährdung der Jugend durch unzüchtige und schamlose Schriften, Abbildungen usw. (§ 184 I Ziffer 2 und 184 a). Diese Schutzbedürftigkeit besteht auch dann, wenn man berücksichtigt, daß sexuelles Erleben in irgendwelchen Verhaltensweisen schon in der Jugend, ja in der Kindheit häufig ist; es darf aber nicht in eine Entwicklung störend eingegriffen und damit die zukünftige Gestaltung gefährdet werden. Bei der Unzucht mit volljährigen Abhängigen (§§ 174 Ziffer 2 und 175a Ziffer 2) liegen die Gründe für eine Bestrafung nicht so einfach zutage: Der Sinn dieser Strafvorschriften ist zunächst, abhängige Personen vor Angriffen gegen ihre Geschlechtsehre zu schützen. Bestrafung erfolgt aber auch dann, wenn die abhängige Person mit der Verletzung ihrer Geschlechtsehre einverstanden ist, ja selbst dann, wenn die Anregung dazu von ihr ausgeht. Nach der Auffassung des Bundesgerichtshofs müssen die in den §§ 174 und 175 a genannten Verhältnisse und Beziehungen grundsätzlich von allen geschlechtlichen Einflüssen freigehalten werden. Hier gilt also der Schutz der Sauberkeit namentlich auch der öffentlichen Ämter und Anstalten3), d. h. es soll ein überpersönliches Rechtsgut geschützt werden. Schließlich bleibt eine Gruppe, in der zum Schutz grundlegender sexualethischer Anschauungen gestraft wird. Dazu gehört die Blutschande (§ 173), die mann-männliche Unzucht (§ 175 und 175a), die Unzucht mit Tieren (§ 175b), die Kuppelei und Zuhälterei (§§ 180, 181, 181a), die Erregung öf) S I E V E R T S und H A R D W I G a. a. O . Den Standpunkt, daß eine Reihe von Bestimmungen aufgehoben werden können, weil kein zu schützendes Rechtsgut vorliege, hat J Ä G E R , Strafgesetzgebung und Rechtsgüterschutz bei Sittlichkeitsdelikten vertreten (Beiträge zur Sexualforschung, 12. Heft). 3 ) BGHSt. 2, S. 93; 1, S. 122; HESt. 1, S. 292; RGSt. 76, S. 149. 2

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fentlichen Ärgernisses (§ 183), Verbreiten und Vertrieb unzüchtiger Schriften, Darstellungen und Gegenstände (§ 184 I), Veröffentlichung ärgerniserregender Gerichtsberichte (§ 184b) sowie gewisse Übertretungen (§ 361). Über die Entwicklung der Sexualkriminalität mögen folgende Zahlen angeführt werden: In Österreich stieg die Zahl der Verurteilten nach einer Mitteilung von G R A S S B E R G E R 4 ) von 1 8 8 3 — 1 9 1 4 etwa auf das Doppelte an, und die Kurve stieg nach einer Unterbrechung durch den ersten Weltkrieg weiter. In Deutschland wurden in den Jahren 1911/13 32,1 Sittlichkeitsdelikte auf 100 000 Einwohner berechnet abgeurteilt. Nach einem starken Abfallen während des Krieges waren es in den Jahren 1931/33 27,3. Diese Zahl stieg 1936 auf 39,1; das war jedoch die Folge der besonders intensiven Verfolgung der Homosexuellen, die allein mit 10,2 auf 100 000 gegenüber rund 1,7 in den Jahren 1931/33 beteiligt waren. Aus der BundespoZizeistatistik ergibt sich, daß die bei der Kriminalpolizei eingegangenen Anzeigen wegen unzüchtiger Handlungen mit Kindern 1955 gegenüber 1938 um 5 5 % höher liegen. Die absolute Zahl der angezeigten Sittlichkeitsdelikte stieg von 47 712 im Jahre 1950 über 51 460 im Jahre 1951 auf 60 181 im Jahre 1952. Sie sank 1953 auf 57 905, 1954 auf 55 516. Darunter befanden sich 1954 16 329 unzüchtige Handlungen an Kindern, 4 340 Notzuchtsdelikte, 6 526 Fälle von Unzucht unter Männern. Welche Bedeutung diese Delikte auch für den Psychiater haben, geht daraus hervor, daß von 425 aus § 42 b und 42c Eingewiesenen, über die C R E U T Z 1938 berichtet hat, 214 Sittlichkeitsdelikte begangen hatten, der bei weitem größte Teil von ihnen Unzucht mit Kindern unter 14 Jahren. Der reife Sexualtrieb hat eine verwickelte Geschichte; ihre ausführliche Wiedergabe würde hier zu weit führen5). In Kürze läßt sich etwa folgendes sagen: Der Geschlechtstrieb selbst geht auf Lustgewinn aus; die Bezeichnung „Fortpflanzungstrieb" ist insofern nicht ganz richtig, als der Trieb zwar der Fortpflanzung dient, aber keineswegs zunächst darauf gerichtet ist. In dieser Beziehung gleicht er in seiner einfachsten Art dem Geschlechtstrieb des Tieres.' Prinzipiell unterscheidet sich aber der menschliche Sexualtrieb vom tierischen dadurch, daß er fähig ist, höhere Stufen zu erreichen. Wenn ein Mann seinen Geschlechtstrieb bei einer Prostituierten befriedigt, so tut er nichts anderes als das Tier. Im Verkehr der Geschlechter aber spielt im allgemeinen der Eros mit: nicht jeder Partner taugt für jeden; es wird eine Wahl getroffen, Menschen die sich gegenseitig anziehen, finden sich zusammen. Die höchste Stufe aber, die dem Tier völlig unzugänglich ist, ist die Liebe, die dem Geschlechtsakt die höchste Weihe gibt, und die fortbesteht, auch wenn der eigentliche Geschlechtstrieb erlischt. 4)

österr. Jur. Ztg. 7, 1952, S. 225. Hingewiesen sei auf M . B L E U L E R , S. 10 ff., wo die Entwicklung der Sexualität in Verbindung mit anderen persönlichkeitsprägenden Einflüssen besprochen wird; E W A L D , S . 350 und v. STOCKERT in H. GIESE, S. 2 7 9 ; UNDEUTSCH, Die Sexualität im Jugendalter. Studium generale 3, 1950. 6)

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Die Entwicklung dieses Triebes beginnt nun schon in früher Kindheit. Schon das Kleinkind zeigt eine lustbetonte Erregbarkeit gewisser Körperzonen. Neben dem Munde sind es die Genitalien und die Analgegend. Masturbation und Erektionen — letztere vielfach wohl durch die gefüllte Blase bedingt — sind keine Seltenheiten. Die anfänglich mit besonderer Teilnahme verfolgte Harn- und Stuhlentleerung wird, sobald die erwünschte Reinlichkeit erreicht ist, einschließlich der dabei in Aktion tretenden Körperteile mit einem Tabu belegt. Gerade dieses Verbot reizt die Kinder zum gegenseitigen Zeigen und Besehen an. Namentlich das Alter von 3—5 Jahren ist für dieses Erwachen der Neugier und der Lusterweckung wichtig. Schon in dieser Zeit können Einflüsse namentlich seitens der Eltern für die spätere Entwicklung bestimmend werden. Dabei hat das Verhältnis der Eltern zueinander und zum Kinde eine im Einzelfall unterschiedliche Bedeutung. Im Schulalter pflegt die Periode kindlich-sexueller Aktivität gegenüber anderen Vorgängen zunächst abgelenkt zu werden: die Bindung an Kameraden, das Sichdurchsetzenmüssen, die Autorität des Lehrers, Interessen sachlicher Art stehen im Vordergrunde. Mit der Vorpubertät, nicht selten schon mit 9 oder 10 Jahren, namentlich aber mit der Pubertät, beginnt eine Periode, in welcher anfangs noch die „körperlich-sexuellen Bedürfnisse getrennt, ja gegensätzlich erlebt werden"6). In dieser Zeit ist mutuelle Onanie sehr häufig. Bei etwa zwei Drittel der Jungen kommt es nach KINSEY7) zum ersten Samenerguß. In dieser Zeit bestehen vielfach Beziehungen zu etwa gleichaltrigen, gleichgeschlechtlichen Kameraden, ohne daß eigentlich homosexuelle Neigungen vorhanden sind; die sexuellen Regungen sind in dieser Zeit noch wenig zielbestimmt und richtungsunklar. Darauf folgt dann die spezifische Zuwendung zum anderen Geschlecht8). Bei der weiblichen Jugend ist die Entwicklung des Geschlechtslebens sehr viel unbestimmter. Während nach K I N S E Y 9 2 % der 15jährigen Jungen Erfahrungen mit dem eigenen Orgasmus erworben haben, gilt das für gleichaltrige Mädchen in weniger als 25%. Dafür wird die Frau später von ihrem Geschlechtsleben in ihrer Gesamtheit erfaßt, was mit den biologischen Vorgängen der Gravidität und Geburt seine Erklärung findet. » Nach dem Erreichen der geschlechtlichen Reife folgt eine verschieden lange Zeit, in der sich das Geschlechtsleben auf der Höhe hält; doch sinkt schon während dieser Jahre die Aktivität langsam und stetig ab, und schließlich kommt es früher oder später zur Altersimpotenz. Der Zeitpunkt, an dem diese eintritt, ist für die einzelnen Menschen sehr verschieden. Im Alter von 4 0 Jahren sind nach K I N S E Y schon 2 % der Männer impotent. Nach Vollendung des 55. Lebensjahres wächst die Zahl der Impotenten allmählich an; mit 70 Jahren sind ungefähr 27%, mit 75 Jahren über 55% impotent. Doch 6 ) M . BLEULER, S . 1 5 . ' ) K I N S E Y , POMBOY, MARTIN.

Sexual behavior human male. Philadelphia u. London 1948. Damit stimmen meine eigenen Erfahrungen freilich nicht überein. 8 ) Ähnlich LANGE-BOSTROEM. Lehrbuch der Psychiatrie, S. 20.

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gibt es Männer, die bis ins höchste Alter potent bleiben: ich sah Eifersuchtsideen bei einem 78jährigen Mann, der mit seiner 73jährigen Frau noch regelmäßig den Beischlaf ausübte. Bei dem komplizierten Entwicklungsgang des Geschlechtslebens, bei den zahlreichen Hemmungen, die ihm von außen erwachsen, bei der Verschiedenart der Anreize, die die Sexualbetätigung formen, ist es natürlich, daß es Störungsmöglichkeiten gibt, die den Ablauf des Sexualaktes wesentlich beeinflussen. So kommt es, daß es schon nicht einfach ist, zu sagen, was eigentlich das „Normale" auf sexuellem Gebiete ist. Man darf gerade hier den Begriff der Norm nicht zu eng fassen. Die Unterschiede in der Stärke des Geschlechtstriebes, in der Schnelligkeit seiner Entwicklung, in der Dauer seines Bestehens sind erheblich. Von der frigiden Frau, von dem sexuell bedürfnislosen Mann führt eine ununterbrochene Reihe zu jenen Menschen, deren ganzes Dasein unter der Herrschaft ihres Geschlechtstriebes steht. Wir kennen sexuelle Früh- und Spätentwicklung, die zum Teil durch Klima und Rasse, sicher aber auch durch konstitutionelle Eigenarten bedingt sind. Daß sexuelle Handlungen von Kindern, masturbatorische Akte in der Pubertät noch nichts für die spätere Entwicklung zu bedeuten brauchen 9 ), ist oben schon gesagt; es gibt andererseits Verzögerungen bis in den Beginn des 3. Lebensjahrzehnts. Wie unterschiedlich die Stärke des Sexualtriebes ist, hat Schultz-Hencke auf Grund psychotherapeutischer Analysen bei seinem freilich besonderen Krankengut des Instituts für psychogene Erkrankungen in Berlin festgestellt 10 ). Dazu gibt es jahreszeitliche Schwankungen, die sich in der größeren Geburtenzahl während der Wintermonate ausprägen, und Schwankungen während des individuellen Lebens, etwa in den sogenannten männlichen Wechseljahren mit ihrem Nachlassen der Potenz bei Erhaltenbleiben der Libido. Auch die Masturbation in der Pubertät haben wir gelernt als normales Übergangsstadium anzusehen. Abartig wird sie im späteren Leben erst dann, wenn sie gewissermaßen Selbstzweck wird. Wo sie dagegen als Notbehelf erscheint, etwa im Zölibat, wenn die Stärke des Geschlechtstriebs nicht mit der des Partners übereinstimmt, wenn keine Möglichkeit zur Ausübung des Sexualverkehrs vorhanden ist — etwa an der Front —, ist sie als normale Ersatzhandlung anzusehen. Der Mensch beginnt nun weitgehend mit amorpher Sexualität. Erst die verschiedenartigen Einflüsse, die das Leben mit sich bringt, das Verhältnis zu den Eltern, besondere Erlebnisse, Verführung, Zufälle aller Art formen allmählich den Menschen als Sexualwesen, und es kann je nach der Art dieser Einflüsse und je nach der Besonderheit der zugrunde liegenden Persönlichkeit zu Abartigkeiten verschiedener Art kommen. Dabei spielen Besitz-, Geltungs- und Liebesstreben einerseits, Gehemmtheit, Bequemlichkeit und 9

) Dabei sehen wir von frühzeitigen neurotischen Entwicklungen ab. ) Beiträge zur Sexualforschung, Heft 1, 1952, S. 43; danach schwankt die normale sexuelle Bedürftigkeit des Mannes zwischen täglich etwa 3 mal und alle vier Wochen einmal, die der Frau zwischen täglich einmal und alle zwei bis drei Monate. 10

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Neigung, besondere Ansprüche zu stellen, mit. ,,So kann die sexuelle Erregung sich ganz an den eigenen Körper binden. Auch ohne dies kann sich aus seelischem Niveau jene autoerotisch-narzistische Komponente entwickeln, die manche eitlen egozentrischen Menschen auszeichnet. Während die gereifte Sexualität den Partner nicht nur als Phantom nimmt, sondern als Geschlechtsgenossen, mit dem die sexuelle Entspannung erstrebt wird, bleibt zahlreichen Menschen jenes letzte Triebziel versperrt; autoerotische Tendenzen behalten das Übergewicht und führen unter Umständen zu Störungen des Ablaufs der Sexualhandlung, der Libido und der Potenz. Es kann ferner jene Durchgangsperiode der Zuwendung zum Gleichgeschlechtlichen sich verewigen, so daß es zu klarer Homosexualität kommt; es können sich neben den heterosexuellen homosexuelle Strebungen erhalten, ja, in Andeutung bleiben sie wohl im Hintergrund des Erlebens recht vieler Menschen lebendig; und schließlich gibt es unbedingt klar ausregulierte, ausschließlich auf das andere Geschlecht gerichtete Persönlichkeiten. Auf dem geschilderten Wege gibt es jedoch noch weitere Klippen. Wie der eigene Körper zum Triebziel werden kann, so vermögen auch Umstände, die nur lose und zufällig mit dem Sexualtrieb zusammenhängen, das eigentliche Ziel zu verdrängen. So kann etwa die sexuelle Entspannung gebunden werden an äußere Umstände, die zufällig die erste sexuelle Erregung begleiteten (Qualität des Partners, seine Kleidung, spezifische Sinnesreize, starke Erregung, notwendige Aggression, beschämende Umstände, körperliche Mißhandlungen usw.), so daß es zu den verschiedensten qualitativen Abirrungen des Sexualtriebes kommt, — allerdings wohl nie ohne eine entsprechende unzureichende Veranlagung" 11 ). Betrachten wir nunmehr die Besonderheiten, die vornehmlich zu Delikten führen, so stehen im Vordergründe die Hypersexuellen einerseits, die Triebschwachen andererseits, also die quantitativen Abweichungen. Die erste Gruppe finden wir namentlich unter den Notzüchtern (§§ 176—178) vertreten; es ist verständlich, daß ein besonders starker Sexualtrieb leichter zu kriminellen Handlungen drängt. Mehrfach haben mir Männer, die abgesehen von solchen Delikten als durchaus hochwertig anzusehen sind, und die früher entmannt worden sind, gesagt, daß sie ohne diese Maßnahme nicht mit ihrem Trieb fertig geworden wären. Die zweite Gruppe vergeht sich namentlich an Kindern. Im Vordergrunde stehen dabei unzüchtige Handlungen an Kindern (§ 176 I Ziffer 3); aber auch der Notzucht fallen Kinder nicht so selten zum Opfer; v. H E N T I G und V I E R N S T E I N 1 2 ) fanden unter 101 Opfern der Notzucht, deren Alter zwischen 2 und 68 Jahren lag, 34 Kinder bis zu 10 Jahren, 72 bis zu 14 Jahren. An den Unzuchtshandlungen sind vielfach Schwachsinnige und alte Männer beteiligt, weil sie hier den geringsten Widerstand finden. Es wäre aber falsch anzunehmen, daß es vornehmlich alte Männer sind, die sich an Kindern vergehen; bei ihnen sind solche Sexualdelikte zwar relativ häufiger als bei vollkräftigen Männern: etwa U

) LANGE-BOSTROEM 1. c., S. 21.

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) Bei HELLWIG, Vierteljahrschrift für gerichtliche Medizin 47, 1914, S. 315.

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8°/0 der Gesamtkriminalität der über 60jährigen sind Sittlichkeitsverbrechen, während sie bei den Vollkräftigen noch nicht 1 % ausmachen 13 ). Dagegen führen die Besonderheiten des Rückbildungs- und Greisenalters nicht zu einer absoluten Zunahme dieser Delikte 14 ). Auf je 100 000 Lebende berechnet liegt der Höhepunkt der Sittlichkeitsverbrechen überhaupt mit 48 Fällen bei den 16—18jährigen, um dann langsam abzusinken 15 ). Wie groß aber der Anteil der Kinderschänder ist, zeigt eine Mitteilung von NASS18) aus der Haftanstalt Kassel-Wehlheiden: von 717 Strafgefangenen waren 234 Sittlichkeitsverbrecher; darunter hatten sich 211 an Kindern vergangen. Die psychologische Situation dieser Männer ist sehr verschieden: Jugendliche Spätentwickler, pädagogischer Eros, längeres Darniederliegen der sexuellen Funktionen infolge Gefangenschaft, Dystrophie usw., altersbedingte Hemmschwäche, Charaktereigentümlichkeiten, Milieueinflüsse, oft genug mehrere dieser Besonderheiten miteinander kombiniert. Sicher stehen diese Delikte bei weitem an erster Stelle. GRASSBEBGEB17) schätzt, daß in Österreich 1936 8% der unter 14jährigen Mädchen irgendwie sexuell mißbraucht seien. Neben diesen quantitativen Varianten findet sich nun eine große Zahl qualitativer Abweichungen, die sich vielfach miteinander kombinieren. Wie diese Abirrungen zustande kommen, ist im Einzelfall selbst bei ausgeprägten Verhaltensweisen psychologisch in der Regel nur bis zu einem gewissen Grade verstehbar zu machen. Man darf annehmen, daß Persönlichkeitseigenheiten einerseits, Erlebnisse irgendwelcher Art andererseits an der Formung des Geschlechtstriebs beteiligt sind. Es bleiben aber Grenzen, über die wir bisher wenigstens bei unseren Erklärungsversuchen nicht hinauskommen 18 ). Im Folgenden sollen die wichtigsten Abweichungen kurz erwähnt werden; ihrer Vielfalt gerecht zu werden, ist kaum möglich, aber auch nicht nötig. Mit Sadismus bezeichnet man die geschlechtliche Verirrung, bei der die Voraussetzung der Befriedigung im Zufügen von Schmerzen liegt. Auch im normalen Geschlechtsakt sind Andeutungen davon öfters zu finden in Form von Saugen, Beißen, festem Zupaoken. In seinen abnormen Formen steigert 13

14

) EXNER 1. c. S . 1 5 8 .

) ROMMENEY, Kriminalbiologische Gegenwartsfragen 1953, S. 69; eine eigene Untersuchung über 147 in Marburg abgeurteilte Sexualverbrecher ergab unter 60 Verbrechen gegen den § 176 I Ziff. 3 bis zum 40. Lebensjahre 30, zwischen 40 und 60 Jahren 16, im 7. Lebensjahrzehnt 10 und im Senium 4 Verurteilungen. Der Nervenarzt 1951, S. 371. LÄ ) DÜNNBIER, zit. von EXNEK, 1. c. S. 151. Danach kamen in den Jahren 1929/34 auf die 14—21jährigen 104 Sittlichkeitsverbrechen, auf die 21—30 jährigen 66, um in den folgenden Jahrzehnten über 30, 28, 22 auf 15 für die 60—70 jährigen abzusinken. Über die Altersverteilung bei der Unzucht mit Kindern hat NASS, Mo.Krim. 37,1954, S. 70. berichtet. Danach lag der Höhepunkt in den Jahren 1952/53 in den Kasseler Fällen im Alter von 31—50 Jahren. " ) Mo.Krim. 37, 1954, S. 71. 17 ) a. a. O. 18

) S o a u c h BÜRGER-PRINZ i n H . GIESE, D i e S e x u a l i t ä t d e s M e n s c h e n , S. 5 4 6 .

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sich diese Neigung über Schlagen, Brennen, Stechen, Schneiden bis zum Lustmord. Gewiß sind derartige Delikte nicht allzu häufig, aber wegen ihrer Folgen doch so schwerwiegend, daß jeder einzelne Fall zählt. Unter den Mordmotiven ist jedenfalls der Mord aus sadistischen Trieben häufig. R O E S NEB fand unter 187 vollendeten und versuchten Morden 21 Fälle dieser Genese 19 ); davon stammen freilich 9 Morde und 7 Mordversuche von dem Massenmörder Kürten. Neben diesen Kapitalverbrechen kommen Handlungen in Betracht, die äußerlich den Eindruck einfacher Züchtigungen machen können. So hat Spranger über Prügelexekutionen aus seiner Schulzeit berichtet, die er später als leicht sadistischer Natur erkannte 20 ). Immer dort, wo Schlagen und Prügeln in sichtlichem Mißverhältnis zu dem Anlaß dazu stehen, muß an Sadismus gedacht werden. Meist steht die Person, die geschlagen wird, im sozialen Leben tiefer als der Schläger und gleichzeitig pflegt sie jünger zu sein. Für die Verurteilung ist Voraussetzung, daß die Handlung objektiv das Scham- und Sittlichkeitsgefühl verletzt. Es muß aber auch subjektiv die Handlung in wollüstiger Absicht vorgenommen sein. Um das zu beweisen, bedarf es der Erfahrung, unter Umständen aber auch genauester Durchleuchtung der Täter. Es handelt sich bei ihnen vielfach um Männer, die mit einem gewissen Macht- und Geltungsstreben innere Unsicherheit, Störung des Selbstgefühls und Minderwertigkeitskomplexe verbinden21). Ein von mir begutachteter 46 jähriger Mann schlug an 8 verschiedenen Tagen ein 18jähriges Mädchen, das sich jedesmal vorher nackt hatte ausziehen müssen, mit einer Peitsche, nachdem er vorher mit ihm gebetet hatte; hinterher sah er sich die Striemen an, die durch sein Schlagen zustande gekommen waren. Das letztere tat er angeblich, um zu sehen, daß er nicht geschadet habe. In Wirklichkeit stellt die Rötung der flagellierten Teile eines der Hauptreizmittel dar. Beim Masochismus, dem Gegenteil des Sadismus wird sexuelle Befriedigung im Erleiden von Schmerzen erstrebt. Masochistische Regungen finden sich nicht selten angedeutet auch bei normalen Frauen; bei Männern sind sie seltener, nehmen manchmal groteske Formen an, haben aber keine nennenswerte forensische Bedeutung. Wichtiger ist der Exhibitionismus, oder, wie es richtiger heißen sollte, der Exhibismus, das Zurschaustellen der Genitalien zum Zwecke der geschlechtlichen Befriedigimg. Es wird strafrechtlich nach § 183 StGB verfolgt. Es handelt sich um ein häufiges Delikt, das nach unserer Erfahrung auch oft 19

) MKrB 29, 1938, S. 213; dazu kamen acht Fälle im Anschluß an Sittlichkeitsdelikte, um eine Anzeige zu verhüten, das vergewaltigte Opfer am Schreien zu hindern, um seinen Widerstand zu brechen, um es von seinen Qualen zu erlösen. 20 ) SPRANGER, Psychologie des Jugendalters, 9. Aufl., Leipzig 1927, S. 122. 21 ) Dazu KRAFFT-EBING-HARTWICH, Psychopathia sexualis 1937; WÖRENKAMP u. PERKAUF, Erziehungsflagellantismus. Wien 1930; FRANZEN, Flagellomanie. Hamburg 1956; I. H. SCHULTZ, Organstörungen und Perversionen im Liebesleben. 1952.

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zu Rückfällen führt 22 ). Man hat dabei gewisse Unterscheidungen gemacht: der echte Exhibitionist, der beim Entblößen den Beobachter in sein unzüchtiges Handeln einbezieht, dem es darauf ankommt, welchen Eindruck er auf den Beobachter macht, wird getrennt vom unechten Exhibitionisten, dem das mehr oder weniger gleichgültig ist. Das Exhibieren findet in verschiedenen Formen statt: Bloßes Zeigen des schlaffen oder erigierten Gliedes oder dasselbe mit gleichzeitiger oder nachfolgender Ejakulation oder schließlich Zeigen des erigierten Gliedes mit gleichzeitiger Masturbation. Ob man berechtigt ist, die letzte Form noch als Exhibieren zu bezeichnen, erscheint K O L L E im Anschluß an R I E S E fraglich; der letztere meint, es handele sich in diesen Fällen nur um eine ,,in der Öffentlichkeit vollzogene Selbstbefriedigung" ; wobei zu bemerken ist, eben um eine in der Öffentlichkeit vollzogene. Der gewöhnliche Onanist scheut die Öffentlichkeit; es muß also doch wohl im Masturbieren vor anderen ein besonderer Reiz liegen. Es handelt sich dabei um einen psychosexuellen Infantilismus, um ein Stehenbleiben auf einer frühen Entwicklungsstufe, auf der das Schauen und Zeigen vorherrscht. Abgesehen von den Schwachsinnigen, Epileptikern und Geisteskranken sind es fast durchweg abnorme Persönlichkeiten, die zum Exhibismus neigen. Es sind selbstunsichere, schüchterne, oft schamhafte, unausgeglichene, überempfindliche Menschen mit leicht erregbarer Phantasie und starker Abhängigkeit von Stimmungen. Im Ganzen handelt es sich überwiegend, wie Hoche mit Recht bemerkt, um Charakterschwächlinge. Geisteskranke finden sich unter ihnen ziemlich selten; etwas häufiger sind es Schwachsinnige, gelegentlich Enzephalitiker 23 ). Gesunde unerfahrene Männer finden sich gelegentlich unter den Exhibisten; sie versuchen auf diese Weise Anschluß zu gewinnen. Im übrigen ist die Neigung Jugendlicher zu diesem Delikt gering; es handelt sich meist um Männer im reifen Alter mit dem Höhepunkt im vierten Jahrzehnt, während Greise wiederum kaum beteiligt sind. Die Häufigkeit der echten konträren Sexualem'pfindung ist früher aus propagandistischen Gründen stark übertrieben; man kann aus den Erfahrungen der Großstadt nicht auf die Allgemeinheit schließen24). Darüber hinaus ist aber gleichgeschlechtliche Betätigung keineswegs identisch mit Homosexualität ; vielmehr sind es oft genug verführerische Situationen, besonders unter Alkoholeinfluß, die auch Menschen mit an sich durchaus gesunden Trieben zu anormaler Befriedigung reizen. In gewissen Lagen — ich erinnere an Internate, an die Zeiten der sexuellen Entbehrung der Frontsoldaten — ist 22

) In einem Palle fand ich nicht weniger als 22 Verurteilungen bis zu der dann mit Erfolg durchgeführten Entmannung. Über die Häufigkeit des Delikts mögen folgende Hinweise dienen: 1931 sollen 3100 Verurteilungen vorgekommen sein (HOCHE I I I , S. 3 4 5 ) ; 1 9 3 6 w a r e n e s 2 9 2 3 (SCHÖNKE-SCHRÖDER, S. 5 5 4 ) . F ü r die Z e i t

nach 1945 nimmt BADEB einen zahlenmäßigen Rückgang der exhibitionistischen Handlungen an (Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität. 1949, S. 71); doch sollen solche Taten nicht selten mit Gewalthandlungen zusammenfallen. 23 ) Ich sah einen Fall nach Bleivergiftung. S. dort S. 360. 24 ) SPRANGER, 1. c., S. 107, spricht von „Sensationswissenschaft".

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die mutuelle Onanie als eine sogar in den Bereich des Normalen gehörige Handlung anzusehen. Die mannigfachen Probleme, die mit der Homosexualität zusammenhängen, beschäftigen auch heute noch verschiedene Wissenschaftsgebiete ; es würde zu weit führen, wenn ich an dieser Stelle alle Fragen, die zur Erörterung stehen, aufrollen würde. Einigermaßen gesichert erscheint mir folgendes: Es ist, wie auoh sonst, selbstverständlich, daß bei der gleichgeschlechtlichen Betätigung Anlage und Umwelteinflüsse mitspielen. Daß die Anlage, d. h. die ererbte Konstitution damit zusammenhängt, wird zwar von einigen Autoren bestritten 25 ); ich halte es aber für sicher, daß es Menschen gibt, deren körperlichen und seelischen Eigenarten der gleichgeschlechtlichen Betätigung mehr oder weniger weit entgegen kommen, so daß es nur eines geringen Anstoßes bedarf, um ihre Triebrichtung für die Dauer festzulegen. Weibliche Züge etwa des Knochenbaues, glatte Haut, runde Oberschenkel, gerade begrenzte Schambehaarung, angedeutete Brüste findet man bei Männern, ebenso wie männliche Züge bei Frauen; das gleiche gilt auch für die Charakterstruktur: Eitelkeit, die sich in der Neigung zu Putz zeigt, weibliche Geschmacksrichtung, Mimik, Gang, manchmal Exaltiertheit, Schwärmerei usw. Auch in ihren Freundschaften spielen Eifersüchteleien, Klatsch und Gehässigkeit mit 26 ). Solche körperlichen Züge kommen von der schwächsten Andeutung bis zur starken Ausprägung auch bei normal empfindenden Menschen vor 27 ); es scheint aber, daß unter den gleichgeschlechtlichen Männern vorzugsweise gynäkomorphe Athletiker und andromorphe Astheniker zu finden sind 28 ). Diese körperlichen Besonderheiten allein genügen aber nicht; es müssen psychische Besonderheiten dazu kommen. Man kann solche Menschen, die in besonders ausgeprägter Weise zu gleichgeschlechtlicher Betätigung disponiert sind, als echte Homosexuelle bezeichnen. Aber auch bei ihnen sind die Eindrücke, die sie in früher Jugend und in der Vorpubertät empfangen, mitbestimmend. Ist bei ihnen aber eine Triebrichtung erst einmal festgelegt, bleibt sie auch stabil. Neben diesen „echten" Homosexuellen, deren Zahl ziemlich klein sein dürfte, gibt es sehr viel mehr „unechte", Pseudohomosexuelle. Bei ihnen sind die Einflüsse, denen sie ausgesetzt sind, neben besonderen charakterlichen Eigenheiten und anderen Faktoren bedeutungsvoll 29 ). Schüchternheit 26

26

) SOLANO, z i t . v o n K O C H U. H Ö H N

) Dazu H A N S B L Ü H E R , „Die Rolle der Erotik in der menschlichen Gesellschaft", worin manches freilich anfechtbar ist. 27 ) Dazu SCHLEGEL, Konstitution und Sexualität. Beiträge zur Sexualforschung, H . 1, 1 9 5 2 , S . 3 8 . 28

29

) SCHLEGEL, 1. c . , S . 4 0 .

) Unter entmannten Homosexuellen fand ich bisher 2, deren Neigung sich nach der Entmannung schlagartig auf das weibliche Geschlecht umstellte. STÜRTTP hat nach einer persönlichen Mitteilung in Dänemark ähnliche Beobachtungen gemacht. Diesen für mich überraschenden Wechsel glaube ich damit erklären zu können, daß die Betreffenden aus Angst vor Versagen beim weiblichen Geschlecht auf das männliche Geschlecht auswichen. Nach der Entmannung hatten sie aber für ihr Versagen eine

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dem anderen Gesohlecht gegenüber, Versagen beim ersten heterosexuellen Verkehr, Verführung und anderes mehr kann die Triebrichtung beeinflussen. H O C H E sagt in der letzten Auflage seines Handbuchs (S. 339): „Die allgemein gültige Tatsache, daß alle Triebe den zugeordneten Vorstellungsinhalt nicht mitbringen, sondern erwerben, läßt es in gewissen Grenzen vom Zufall abhängen, an welche äußeren Eindrücke Triebvorstellungen sich anknüpfen." So ist es psychologisch verständlich, daß auch der Normale scheinbar zu konträren sexuellen Empfindungen kommt und daß der in seiner Triebrichtung Unsichere durch entsprechende sexuelle Erlebnisse in der konträren Richtung fixiert wird. Auf diese Weise erklärt sich auch am einfachsten das häufige gleichzeitige Vorkommen von homo- und heterosexuellen Neigungen. Tatsächlich sind viele sog. Homosexuelle verheiratet und haben Kinder. Bei Männern, die in älteren Jahren zu homosexuellen Handlungen kommen, ist es auch nicht so selten der Reizhunger, das Übersättigtsein, das solche Handlungen begünstigt. So sah ich während des letzten Krieges einen bis dahin normal empfindenden, durchaus maskulin gebauten Offizier des Arbeitsdienstes, der, durch das Leben in Paris sexuell übersättigt, anfing, sich an seinen Untergebenen zu vergreifen. Ein umfassendes Geständnis schützte ihn vor der Todesstrafe. Man kann hinsichtlich ihrer Entstehungsweise verschiedene Gruppen unterscheiden : Die neurotische Homosexualität, bei der Erziehungsfehler und Entwicklungsstörungen mitwirken, wo es zu einem Ausweichen in kindhafte oder jugendhafte Ersatzreaktionen kommt; die Pubertäts-Homosexualität, bei der die homosexuelle Tendenz vor Abschluß der Pubertät durch entsprechende Erlebnisse fixiert wird, und kompensatorische Homosexualität auf Grund besonderer Verhältnisse in der Gefangenschaft, in Gefängnissen, Internaten und Heimen. Homosexualität auf Grund geistiger Erkrankungen ist außerordentlich selten. Die Annahme einer vererbbaren homosexuellen Anlage wird am meisten gestützt durch die Untersuchungen von LANG30), der statistisch feststellen konnte, daß unter den Vollgeschwistern Homosexueller mehr männliche Individuen sind als dem Bevölkerungsdurchschnitt entspricht; dieser Befund ist von J E N S C H bestätigt worden. Die beiden Autoren ziehen hieraus den Schluß, daß ein Teil dieser männlichen Geschwister verkappte weibliche Individuen, sog. Umwandlungsmännchen seien. Diese an sich nicht zu bestreitende statistische Feststellung läßt sich freilich auch anders deuten. I. H. SCHULTZ31) weist in einer Bemerkung zu einer entsprechenden Arbeit glaubhafte Entschuldigung, so daß sie nunmehr ihrer eigentlichen Neigung ohne Angst folgen können. 30 ) Mo.Krim. 32, 1941, S. 162; JENSCH, Arch. f. Psychiatrie 112, 1941, S. 527 und 679. Zu ähnlichen Ergebnissen kam KALLMANN, zit. bei v o n VEBSCHTTER in

H. GIESE, S. 217f., während sie von DARKE (ebendort) nicht bestätigt werden konnten. Durchaus ablehnend P. SCHRÖDER, Mo.Krim. 82, S. 241. 31 ) Z.Neur. 157, 1937, S. 575.

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L Ä N G S darauf hin, daß die homosexuelle Tendierung, die er als „Entwicklungsstörung der Liebesfähigkeit" auffaßt, neben anderen Möglichkeiten insbesondere zwei Situationen ihr Entstehen verdanke: einmal der des männlichen Einzelkindes mit der „bösen, kalten Mutter" und dem „guten, weichen Vater". Dadurch komme es zur „Frühvernichtung des Liebeswertes der ,Frau' und zu einer Liebesfestlegung auf die eigene Person und die Person des Vaters und auf die Lebensformel ,Frau schlecht, böse; Mann gut, lieb'". Besonders wichtig ist aber hier ein zweiter Typus, der vom „lieben Brüderchen". „Es handelt sich um Männer, deren Kinderjähre auch häufig bis zur Jugendzeit hinauf durch eine überwiegend oder rein von Brüdern gebildete Geschwisterreihe entscheidend bestimmt werden". Hier vollzieht sich die Bindung an das eigene Geschlecht „durch Umweltsättigung mit Bewunderung, Hilfe, Verstehen, Zärtlichkeit usw. im Nehmen und Geben." Man sieht, auch durch die Arbeit von L A N G ist dieses Problem noch nicht geklärt. Die darüber hinausgehenden Behauptungen von hormonalen Umwandlungen, von endokrinen Störungen sind bisher den Beweis schuldig geblieben 32 ); ebensowenig ist bisher die Vererbbarkeit einer etwa vorhandenen homosexuellen Anlage zu erweisen33). Auch die letzte Diskussion zwischen L A N G und I . H. SCHULTZ 3 4 ) hat letzte Sicherheit über diese Frage nicht erbracht.

Daß homosexuelle Handlungen sich mit sadistischen, masochistischen, namentlich auch fetischistischen Tendenzen verbinden können, braucht nicht im einzelnen ausgeführt zu werden. Bei manchen Männern kann die Homosexualität als Unterform des Fetischismus begriffen werden 35 ); ich selbst sah einen Herrn aus bester Familie, der besonders von schmutzigen Matrosen gereizt wurde. Besonders unerfreuliche Nebenerscheinungen der Homosexualität sind neben anderen das Strichjungenwesen und das Erpressertum. Strichjungen spielen in Großstädten eine Rolle 36 ). Schon ihre Zahl zeigt, daß hier ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenmoment liegt. Ihrem Alter nach waren von 352 Hamburger Strichjungen 120 achtzehn Jahre und jünger, 142 gehörten zur Altersgruppe von 19—21 Jahren, 71 zu den 22—25 jährigen; 19 waren über 25 Jahre alt. Nur 55 von ihnen waren selbst homosexuell. Hält man die sonstigen äußeren Verhältnisse in den Bedürfnisanstalten, den Invertierten32

) Nach LEMKE sind Fälle, bei denen sich eine endokrine Störung begründen läßt, „in der Minderzahl". „Trotzdem" ist er der Ansicht, daß die „Homosexualität. . . die Auswirkung einer endokrinen Störung" ist. So kann man m. E. nicht argumentieren. Ebensowenig scheint mir sein Fall H. beweiskräftig. 33 ) Ähnlich BÜRGER-PRINZ, Mo.Krim. Biol. 29, 1938, S. 433. 34 ) Beiträge zur Sexualforschung, Heft 11, 1957, S. 79 u. 89. 35

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) S. I . H . SCHULTZ, 1. c., S . 2 0 6 .

) Dazu REDHARDT, Beiträge zur Sexualforschung, Heft 5, 1954, der über Beobachtungen an 45 Strichjungen in Frankfurt/Main berichtet, und G. KUHN, Das Phänomen der Strichjungen in Hamburg. Diss. 1955, der sehr eingehend 352 Strichjungen aus den Jahren 1948—1954 hinsichtlich verschiedener Fragen bearbeitet hat; ermittelt hatte die Kriminalpolizei in diesen Jahren 513.

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lokalen, den öffentlichen Freiluft- und Badeanstalten dazu, so erkennt man, daß hier dem Unwissenden mancherlei Gefahren drohen. Diese Strichjungen sind nun keineswegs alle harmlos. Sie verstehen mindestens zum Teil die strafbaren Handlungen anderer durch Erpressung auszunutzen 37 ). Für die Opfer einer solchen Erpressung ist der § 154 StPO bedeutsam: „Ist eine Nötigung oder Erpressung durch die Drohung begangen worden, eine Straftat zu offenbaren, so kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung der Tat, deren Offenbarung angedroht worden ist, absehen, wenn nicht wegen der Schwere der Tat eine Sühne unerläßlich ist" 38 ).

Für die gewöhnlichen homosexuellen Handlungen dürfte das zutreffen, soweit es sich um Vergehen gegen den § 175 StGB handelt. Forensisch hat sich die Situation gegenüber früher geändert. Der § 175 alter Fassung verstand unter widernatürlicher Unzucht nur dem natürlichen Beischlaf ähnliche Handlungen 39 ). Seit 1935 wird dagegen „ein Mann, der mit einem, anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt" mit Gefängnis bestraft. Insbesondere gehören dahin onanistische Handlungen, unzüchtige Berührungen, z. B. Anfassen des Geschlechtsteils über den Kleidern oder der Zungenkuß 40 ). Unzucht mit einem anderen treibt, wer den Körper des anderen Mannes als Mittel für die Erregung oder Befriedigung der Geschlechtslust benutzt. Dabei ist eine körperliche Berührung nicht notwendig; es genügt schon das gleichzeitige Onanieren 41 ). An dieser Rechtsprechung hat auch der Bundesgerichtshof in mehreren Entscheidungen festgehalten 42 ). Die Zahl der Verurteilungen auf Grund des § 175 hat stark geschwankt: 1931 wurden wegen Vergehens gegen den § 175 StGB 643 Männer verurteilt; 1936 waren es infolge der Änderung der Vorschrift, die eine weitgehende Erfassimg der Taten zuließ, insbesondere aber infolge der Einstellung des Nationalsozialismus 5321 Personen geworden 43 ). Die Frage, ob der § 175 StGB in seiner jetzigen Form bestehen bleiben soll, wird verschieden beantwortet, je nach dem Standpunkt, der eingenommen wird: JÄGER44) möchte die Strafbarkeit homosexueller Betätigung auf den § 175 a StGB beschränken, da beim § 175 ein Rechtsgut, das geschützt werden müsse, nicht vorliege; mit ähnlicher Begründung hat die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung in einer Eingabe an die gesetzgebenden Organe des Bundes in Bonn die Streichung des § 175 gewünscht. Andererseits hält K U H N die Beibehaltung der Bestrafung auch der einfachen Homo37 ) R. SCHUSTER, Die Erpressungskriminalität im Bezirk des LG Wuppertal, Jena 1940, berichtet über einen homosexuellen Transportunternehmer, der von seinen „Freunden", die er bei sich aufgenommen hatte, ermordert wurde (S. 23). 38 ) In Mitteldeutschland: „wenn nicht überwiegende Interessen der Strafrechtspflege die Verfolgung notwendig erscheinen lassen". 3 ») RGSt. 23, S. 289; 48, S. 234. 4 ») RGSt. 70, S. 224. 41 ) RGSt. 78, S. 80; JW 1939, S. 541; DJ 1940, S. 404. 42 ) BGHSt. 2, S. 293; 4, S. 323; 8, S. 1. 43 ) KOCH, Über Sittlichkeitsverbrecher. Leipzig 1940, S. 15. 44 ) 1. c.

7 L a n g e l ii d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Sexualität mit Rücksicht auf das Strichjungenwesen für geboten. Er sagt, jede zahlenmäßige Verschiebung der homosexuellen Freier habe stets eine entsprechende Verschiebung in der Zahl der Strichjungen zur Folge. Solange die Allgemeinheit die widernatürliche Unzucht als etwas Abartiges, Anstößiges, Unsittliches empfinde, werde sich, wie die Erfahrungen in Schweden gezeigt hätten, auch mit der Aufhebung des § 175 daran nichts ändern. Ich habe in der ersten Auflage dieses Buches mich für die Aufhebung des § 175 ausgesprochen; das möchte ich nach den großstädtischen Erfahrungen einschränken; man sollte ihn, wie Badeb das meint, wenn auch mit Einschränkungen bestehen lassen. Dagegen wäre die homosexuelle Prostitution, also das Strichjungenwesen und die Propaganda, d. h. die Auswüchse auf diesem Gebiet zu bekämpfen. Daß die Jugend geschützt werden muß, daß der § 175a Ziffer 3 StGB beibehalten werden muß, darüber besteht Einigkeit. Jugendliche sind ja wegen der Undifferenziertheit und der deshalb bestehenden stärkeren Bestimmbarkeit ihres Geschlechtstriebes besonders gefährdet. Schwärmerische ideale Neigungen zwischen Jugendlichen unter sich bedeuten notwendige Entwicklungsphänomene. Darüber hinausgehende Zärtlichkeiten weisen schon auf eine sexuelle Komponente hin. Wenn es aber erst einmal zu gleichgeschlechtlichen Handlungen gekommen ist, so kann sich im Jugendlichen leicht die Überzeugung festsetzen, daß solches Tun ihm gemäß sei, daß bei ihm eine angeborene Inversion vorliege. Er wird vielleicht danach leben und durch Gewöhnung nicht mehr davon loskommen. Spbanger sagt dazu, daß es kein besseres Mittel gäbe, Invertierte zu züchten, als die Theorie von der angeborenen Inversion. Jede von außen kommende Verführung aber muß in diesem Alter besonders deletär wirken. Mit Recht wird deshalb der Verführer Jugendlicher besonders hart bestraft. Die lesbische. Liebe, d. h. gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Frauen braucht hier nur kurz erwähnt zu werden, weil sie in Deutschland straflos ist und weil auch nicht zu erwarten ist, daß Strafbestimmungen etwa wie in Österreich erlassen werden. Das mag vom Standpunkt der Gleichberechtigung der Geschlechter inkonsequent erscheinen, ist aber deshalb berechtigt, weil Handlungen dieser Art die Öffentlichkeit viel weniger berühren als die gleichgeschlechtlichen Handlungen von Männern. Die Sodomie, die widernatürliche Unzucht mit Tieren (§ 175b) führt jedes Jahr in Deutschland zu etwa 200 Straffällen. Sie ist im Gegensatz zur homosexuellen Betätigung eine vorwiegend ländliche Angelegenheit, einmal wegen des regelmäßigen Umgangs mit Haustieren, zum anderen weil in der Landwirtschaft vielfach leicht Schwachsinnige Verwendimg finden, die neben Jugendlichen besonders zu diesem Delikt neigen. Die Dunkelziffer ist recht groß. Eine sehr merkwürdige Gruppe bilden die sog. Transvestiten, d. h. die Menschen, die das Bestreben haben, die Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen. In den letzten Jahren haben namentlich Bübger-Prinz,

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und G I E S E 4 5 ) diese Abartigkeit eingehend behandelt. Es zeigt sich dabei, daß auch diese Gruppe keineswegs einheitlich ist. Man hat sich bemüht, verschiedene Formen zu unterscheiden; am vorläufig praktischsten teilt man wohl in heterosexuelle und homosexuelle Formen ein. So sind manche von ihnen verheiratet, haben Kinder. Das Wesentliche an ihnen ist, daß sie als Frau erscheinen, daß sie Frau sein möchten. Das geht in manchen Fällen so weit, daß sie auf Kastration drängen, daß sie sich sogar operativ eine Scheide anlegen lassen. Sie können sich weiblich gerieren, können aber durchaus männliche Berufe erfüllen. Ihre Neigung, sich zu verkleiden, kann manchmal die Merkmale einer Sucht annehmen. Disponierend können besondere Konstitutionstypen, Unentschiedenheit der Geschlechtsspezifität, charakterliche Gegebenheiten, namentlich eine stärkere Labilität und anderes bedeutsam sein. Einzelzüge dieser Abartigkeit finden sich manchmal bei den Exhibisten 46 ). ALBKECHT

Sie führt hinüber zu einer anderen Gruppe, den Fetischisten, die wegen der Besonderheit ihrer Handlungen eine wenn auch nicht allzugroße Bedeutung haben. Auch im normalen Liebesleben spielen Haltung und Stimme, der Duft und einzelne Teile des Körpers und der Kleidung, Gebrauchsgegenstände des Partners als seine Symbole eine gewisse Rolle. Bei den abartigen Formen verschwindet der Partner hinter seinem Symbol, und dieses fängt an, als selbständiger Sexualreiz zu wirken. Haare, Kleidungsstücke, Taschentücher, namentlich Schuhe werden dann begehrte Gegenstände. Diese Neigungen können so weit gehen, daß der eigentliche Sexualakt nicht mehr begehrt wird. Einer meiner Patienten, ein etwa 55jähriger Herr in guter sozialer Position, war Schuhfetischist. Er hatte zu Hause eine ganze Sammlung von Damenschuhen. Seine Ehefrau, mit der er viele Jahre verheiratet war, war virgo intakta. Die Art der Beschaffung der begehrten Gegenstände, etwa durch Zopfabschneiden oder Diebstahl kann kriminell sein. Bei diesen Handlungen kann zusätzlich auch der Reiz, der in der Gefahr ertappt zu werden liegt, sexuell erregend wirken; so ist es zu verstehen, daß Handlungen dieser Art manchmal in Sichtweite von Polizeibeamten vorgenommen werden 47 ). Auch die Kleiderschlitzer gehören hierher. In Verbindung mit anderen Abartigkeiten kann es zu schweren Delikten kommen. Es würde zu weit führen, wollten wir alle sexuellen Abartigkeiten, die strafrechtlich keine Bedeutung haben, anführen. Nur auf eine Möglichkeit 45 ) Zur Phänomenologie des Transvestitismus bei Männern. Beiträge zur Sexualforschung Heft 3, 1953. Dort weitere Hinweise. 46 ) Ich sah kürzlich einen Exhibisten, der gern weibliche Unterkleidung, u. a. schwarze Damenstrümpfe trug. 47 ) Einen solchen Fall hat E W A L D beschrieben (Z.Neur. 189, 1952, S. 93); er ist auch von mir und B Ü R G E R - P R I N Z begutachtet; s. dazu L A N G E L & D D E K E in Richter und Arzt. München/Basel 1956, S. 108, wo ich zu den verschiedenen Ansichten — E W A L D : Zwangshandlung, daher § 51 Abs. 1 ; B Ü R G E R - P R I N Z und ich: voll verantwortlich — Stellung genommen habe. 7*

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will ich kurz noch eingehen, das ist der Diebstahl, der ohne daß fetischistische Neigungen vorhanden sind, zu sexueller Befriedigung führen kann. Beispiel: Eine Frau in gesicherter wirtschaftlicher Lage, infolge des Krieges seit mehreren Jahren von ihrem Ehemann getrennt, stiehlt in der Notzeit nach dem Kriege Gegenstände, die sie für ihr Kind nötig hat, aber sonst nicht bekommen kann. Beim Stehlen tritt sexuelle Entspannung ein. Daraufhin stiehlt sie in der Folgezeit Gegenstände verschiedener Art, die sie nicht gebrauchen kann, die sie bei sich liegen läßt oder verschenkt, weil sie auf diese Weise Entspannung findet. Nach der Rückkehr ihres Mannes tritt an die Stelle dieser Triebbefriedigung wieder der normale Verkehr.

Die Frage der Zurechnungsfähigkeit für sexuelle Delikte kann für alle die genannten Abartigkeiten gemeinsam behandelt werden: Zunächst kann gesagt werden, daß die Art der etwaigen Perversion für diese Frage ohne Bedeutung ist: es ist gleichgültig, ob wir es mit einem KinderBchänder, einem Sadisten, einem Fetischisten, Leichenschänder oder mit Homosexuellen verschiedener Art zu tun haben. Nicht die Tat, nicht die Art der Perversion, sondern lediglich die Persönlichkeit des Täters ist dafür maßgebend, und dabei muß die Beurteilung auch von den sonst üblichen Maßstäben Gebrauch machen. Das heißt: die Psychose exkulpiert auch bei diesen Delikten, die psychopathischen Persönlichkeitsabartigkeiten tun es nicht, nach unserer Ansicht auch dann nicht, wenn es sich um sogenannte echte Homosexuelle handelt, bei denen die angeborene körperliche und psychische Anlage besonders zur Homosexualität disponiert48). Besonders zu untersuchen ist in jedem Falle, ob etwa Hinweise auf früher überstandene Kinderkrankheiten, insbesondere auf Enzephalitiden gegeben sind. Auch Hirnverletzungen können gelegentlich zu einer Unfähigkeit führen, auftauchenden Antrieben zu widerstehen. Ebenso wird man an Geburtstraumen, an enzephalitische Herde bei Kinderkrankheiten zu denken haben. Andererseits wird man bei Greisen nach Abbauerscheinungen zu suchen haben. Alkoholwirkung, die nicht selten mitspielt, ist je nach Lage des Einzelfalls zu bewerten. Nicht selten wird vom Täter angegeben, er habe unter Zwang gehandelt. Dazu ist zu sagen: Wir haben zu unterscheiden Drangzustände bei organisch Hirnkranken, Zwangshandlungen bei Zwangskranken, den sogenannten Anankasten und das subjektive Gefühl eines Zwanges bei sonst gesunden Personen. 48) w i r können in dieser Beziehung dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 5. 7. 1956 — AZ 4 StR 230/56 — nicht folgen; auch bei „angeborener Homosexualit ä t " kann von einer „Zwangshaftigkeit des Handelns" nicht gesprochen werden. Diese unsere Auffassung stimmt überein schon mit der Meinung von H O C H E ; in der gleichen Richtung hat sich L E M K E ausgesprochen, obwohl er für die Homosexualität eine endokrine Grundlage annimmt, und B Ü R G E R - P R I N Z sagt, die Voraussetzungen für den Absatz 2 des § 51 StGB schwänden weitgehend; denn das Gesetz müsse den Mann mit seinen vitalen Schwierigkeiten voraussetzen. Schließlich stellen die Homosexuellen selbst ihren abartigen Trieb als etwas Gesundes hin und kämpfen u. a. mit dieser Begründung um die Abschaffung des § 175 StGB.

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Bei der ersten Gruppe, den Drangzuständen auf organischer Grundlage, kann sich der Kranke gegen den plötzlich auftretenden Drang nicht wehren. Weil die Handlung in solchen Fällen auf dem Boden eines kranken Gehirns erwächst, ist zu exkulpieren, sofern die Handlung aus dem Augenblick entsteht, also wirklich eine Dranghandlung ist. In Betracht kommen, worauf schon hingewiesen ist, namentlich Enzephalitiker, gelegentlich auch Hirnverletzte. Zwangskranke werden außerordentlich selten kriminell, weil sie noch fast immer in der Lage sind, ihre Handlungen abzustoppen. Handelt es sich um reine Zwangskranke, so wird man im Einzelfall aus den Tatumständen und der Persönlichkeit sorgfältig abzuwägen haben, ob der § 51 anzuwenden ist oder nicht. Der Absatz 2 dürfte in der Mehrzahl der Fälle anwendbar sein. Für die Handlungen Gesunder, auch der Psychopathen, bei denen nur das subjektive Gefühl des Zwanges besteht, das dann gern als „unwiderstehlicher" Zwang oder Drang bezeichnet wird, kann durchaus zugegeben werden, daß der Widerstand gegen solche aus der vitalen Sphäre auftauchenden Triebhandlungen nicht immer leicht ist. Er muß aber von sonst gesunden Menschen verlangt werden. Auch ein starker Geschlechtstrieb muß von Gesunden beherrscht werden. Hier kommt weder der Absatz 1 noch der Absatz 2 des § 51 in Betracht 49 ).

8. Die Entmannung als Behandlungsmöglichkeit von Sittlichkeitsverbrechern Für den Arzt ist mit der Entscheidung über die Zurechnungsfähigkeit die Frage noch nicht beantwortet, ob und auf welche Weise der Delinquent vor weiteren sexuellen Entgleisungen bewahrt werden kann. Eine solche Möglichkeit besteht in der Entmannung, die hier deshalb besprochen werden soll. Von 687 unausgelesenen nicht entmannten Sexualdelinquenten, deren Strafregisterauszüge ich auswerten konnte, wurden 269 = 39% rückfällig, davon 121 = 17,5% mehrfach bis zu lOmal; HARTSUIKEB schätzt die Rückfangefahr sogar auf 60—70%, was m. E. etwas zu hoch gegriffen ist. Unter den Entmannten, die ich bearbeiten konnte, fand ich einen mit 20, zwei mit 22 einschlägigen Vorstrafen. Jedem, der mit diesen Menschen zu tun hat, gleichgültig, ob Arzt oder Jurist, drängt sich die Frage auf, ob und gegebenenfalls wie man ihnen helfen könne, wie man sie von ihren perversen Antrieben befreien oder wie man wenigstens erreichen könne, daß diese Triebe beherrscht werden. Dazu ist io Übereinstimmung mit WIETHOLD1) zunächst zu sagen, daß bei vielen Sittlichkeitsverbrechern eine Strafe hemmend wirkt. Die Mehrzahl der 49 ) Ein ähnlicher Standpunkt wird auch von DUKOB für Schweizer Verhältnisse vertreten. Schweizer Z. f. Strafrecht 66, 1951, S. 418ff. 1 ) Kriminalbiologische Behandlung von Sittlichkeitsverbrechern in Beiträge zur Sexualforschung, Heft 2, S. 37.

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Sittlichkeitsverbrecher wird nur einmal verurteilt, und unter ihnen befinden sich Menschen, die infolge besonderer äußerer Umstände — Alkohol, Gelegenheit — trotz im übrigen intakter Persönlichkeit einmal versagen, die nach einer Strafe aber die nötigen Hemmungen aufbringen. Zu dieser Gruppe gehören auch manche alte Männer, sofern ihre Persönlichkeit noch erhalten geblieben ist. Die Versuche, mit Medikamenten den Geschlechtstrieb zu dämpfen, stecken noch in den Anfängen. FBIEDEMANN2) hat 1952 über Erfolge mit sogenannten Östrogenen Stoffen, d. h. weiblichen Hormonen berichtet; er spricht von hormonaler Kastration und meint, es sei auf diese Weise eine freilich reversible Dämpfung der Libido zu erreichen. "Über ähnliche Erfolge mit einem Epiphysenpräparat hat NIEDERMEYEB3) berichtet, während LEINEWEBER4) sehr viel skeptischer ist. Auch BAAN8) meint, man könne eine hormonale Therapie nur selten, und dann nur mit größter Vorsicht anwenden. In Betracht kommt eine derartige Behandlung wohl nur zur Dämpfimg eines starken Triebes; sie ist außerdem langwierig und hängt weitgehend vom guten Willen des Patienten ab. In geeigneten Fällen läßt sich mit Psychotherapie zweifellos Gutes erreichen 6 ). Das geht aus den darüber vorliegenden Berichten einwandfrei hervor. Freilich sind dieser Behandlung Grenzen gesetzt, über die ein so guter Kenner wie I. H. SCHULTZ') sagt, nur bei Menschen mit einer überdurchschnittlichen Fein- und Tiefveranlagung sei regelmäßig eine Besserungs- und Heillingsmöglichkeit gegeben. E r f ä h r t dannfort: „Ist ein Kranker mit psychosexuellen Störungen weitgehend in der gesamten Persönlichkeit defekt, ist er urteilsschwach, verstockt, verlogen, ethisch minderwertig, willensschwach oder haltlos, so wird es häufig nicht gelingen, einen Fortschritt zu erreichen; nicht deswegen aber, weil etwa die psychosexuellen Anomalien an sich schwer zu behandeln oder ganz unheilbar wären, sondern weil es sich bei diesen Menschen um von der Natur Zukurzgekommene, im ganzen Seelenleben Krüppelhafte handelt, die zu dem unerläßlichen vollen menschlichen Einsatz in der gemeinsamen Arbeit der Psychotherapie nicht in der Lage oder nicht gewillt sind. Nicht gewillt sind auch häufig Menschen, denen die abnorme Betätigung entweder so viel sexuelle Lust oder so viel seelische Beglückung bedeutet, daß sie jede Beeinflussung, jede gemeinsame Heil2

) Beiträge zur Sexualforschung, H. 2, S. 65. ) Ebendort, S. 62. 4 ) Ebendort, S. 74. 6 ) Zur Frage der Behandlung von Sittlichkeitsdelinquenten. Ebendort, S. 24. s ) Dazu I. H. SCHULTZ, Organstörungen und Perversionen im Liebesleben. München/Basel 1952 und BAAN, 1. c. Der Amerikaner CONN konnte bei 19 von 23 Sittlichkeitsverbrechern auf diese Weise Erfolge erzielen; auch PIETSCH hatte als Gefängnisarzt in geeigneten Fällen Erfolg mit dieser Behandlungsart. KÜHLER, Mo.Krim. 38, 1 9 5 5 , S. 1 0 0 . 7 ) 1. c. S. 125. 3

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arbeit entwickelnder und aufbauender Arbeit ablehnen"'). K Ü H L E R erwähnt aus England, daß dort von 124 Sexualverbrechern nach entsprechender Behandlung nur 20 wieder in Haft geraten seien; dabei seien unter ihnen 72 Rückfällige gewesen. Das ist zweifellos zahlenmäßig ein Erfolg (rechnet man mit der oben wiedergegebenen Rückfallwahrscheinlichkeit von 39% bei Erstdelinquenten, 17,6% bei Rückfälligen, hätte man mit 28 Rückfälligen rechnen müssen); es fehlt indessen eine Angabe über die Zeit, die der Beobachtung zugrunde liegt. S T Ü R U P hat aus der dänischen Anstalt Herstedvester über 58 Entlassene berichtet, von denen 25 rückfällig wurden. SACHS9), der ebenfalls in Herstedvester tätig ist, meint denn auch, der Unsicherheitsfaktor sei doch recht beträchtlich. Die letzte Behandlungsmöglichkeit ist die Entmannung. Sie soll hier etwas eingehender behandelt werden, weil gerade von SittlichkeitsVerbrechern nicht selten gefragt wird, ob die Neigung zu sexuellen Delikten durch eine solche Operation beseitigt oder wenigstens stark eingeschränkt werden könne. Es möge zuerst eine kurze Übersicht über die entsprechende Gesetzgebung in anderen Ländern gegeben werden10). Die ersten Gesetze dieser Art sind in den Vereinigten Staaten von Amerika erlassen worden. Nach einer Zusammenstellung von STEINWALLNER11) war in Kalifornien, Nevada und Iowa schon vor Jahrzehnten die Kastration gestattet. Die entsprechenden Ge8

) Ähnlich verlangt SPEER (Bericht über denKongreß f ü r Neurologie und Psychiatrie 1947, S. 23) die Formbarkeit der Persönlichkeit, und WENDT (Mo.Krim. 40, S. 208) meint zwar, daß sexuelle Perversionen unter gewissen Voraussetzungen psychotherapeutisch angreifbar seien, äußert sich aber hinsichtlich der Pervertierten, die wegen eines solchen Vergehens angeklagt seien, sehr skeptisch über den Behandlungserfolg, da bei ihnen ein echter Wille zur Behandlung meist fehle; sie seien im Grunde mit ihrer Perversion zufrieden und gingen nur unter dem Druck der Situation zum Arzt. 9 ) Mo.Krim. 38, 1955, S. 86. 10 ) An wichtigen Arbeiten über diese Frage seien genannt: LANGE, Die Folgen der E n t m a n n u n g Erwachsener (an H a n d der Kriegserfahrungen dargestellt), Leipzig 1934; WOLF, Die Kastration bei sexuellen Perversionen und Sittlichkeitsverbrechen des Mannes. Basel 1934 (betrifft Schweizer Erfahrungen); XINGAS, Die Kastration als Sicherungsmaßnahme gegen Sittlichkeitsverbrecher. Berlin 1937 (Literatur!); SAND, Die legale Kastration. Zehnjährige Erfahrungen in Dänemark. Gutes Referat im Zb.Neur. 99, 1941, S. 151; KOLLE, Fortschr. d. Neur. 6, 1934, S. 223 (Kritische Verarbeitung der älteren Erfahrungen); STRIEHN, Kastration. Bleicherode 1938; MEYWERK, MKrB 34, 1943, S. 1, dazu meine Kritik, MKrB 34, 1943, S. 148; JENSCH, Untersuchungen an entmannten Sittlichkeitsverbrechern. Leipzig 1944 (vorsichtig i n d e r B e u r t e i l u n g ) . LANGELÜDDEKE i n MEZGER/SEELIG, K r i m i n a l b i o l o g i s c h e

Ge-

genwartsfragen. S t u t t g a r t 1953, S. 48. WIJFFELS, H e t Castratievraagstük. Amsterdam 1954. (Niederländische Erfahrungen.) Peter BROWE, Zur Geschichte der Entmannung. Breslau 1936 (eine religions- und rechtsgeschichtliche Studie). Eugène PITTARD, La castration chez l'homme. 1934 (betr. rumänische Skopzen). STÜRUP, Sexual offenders and their treatment in Denmark and the other Scandinavian countries in International Review of the Criminal Policy Nr. 4, Juli 1953. u ) Fortschr. d. Erbpathol. usw. 1, 1937/38, S. 193 ff.

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setze sind jedoch wieder aufgehoben worden; der Staat Oregon läßt aber in seinem noch heute gültigen Gesetz vom 24. 2.1923 und der dazu ergangenen Abänderung vom 24. 2. 1925 ausdrücklich die Kastration von „moralisoh Degenerierten" und „sexuell Pervertierten" zu. Führend auf diesem Gebiete ist Dänemark geworden, wo seit 1929 auf Grund des sogenannten Pioniergesetzes die freiwillige Entmannung von Sittlichkeitsverbrechern möglich ist. Dort sind seither nach einer persönlichen Mitteilung des Kopenhagener Gerichtsarztes Knud SAND über 800 Entmannungen vorgenommen. In Norwegen ist die Entmannung seit 1934, in Finnland mit einer Änderung seit 1935, in Island seit 1938, in Schweden seit 1944 gesetzlich geregelt. In den Niederlanden und in der Schweiz ist sie ohne besondere Gesetze unter bestimmten Voraussetzungen gleichfalls zulässig. Die Zahl der Entmannten liegt in Holland, Norwegen und Schweden etwa bei mindestens je 200. In Deutschland war die zwangsweise Entmannung zulässig, wenn bestimmte Voraussetzungen hinsichtlich der Zahl, der Art und der Schwere von Sexualdelikten und der daraus resultierenden Verurteilungen erfüllt waren, und wenn die Gesamtwürdigung der Taten ergab, daß es sich um einen gefährlichen Sittlichkeitsverbrecher handelte. Ihre Anordnung stand im freien, pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, das zu dieser Maßregel nur greifen sollte, wenn eine sorgfältige Prüfung ergab, daß die Allgemeinheit bei der Vornahme des Eingriffs von weiteren Untaten des Verbrechers verschont bleiben würde, und wenn der ihm durch den Eingriff zugefügte Schaden und die Unsicherheit des Erfolges wenig bedeutete im Vergleich zu der Gefahr, die der Sittlichkeitsverbrecher bei Unterlassung des Eingriffs für die Allgemeinheit darstellte. Eine Entscheidimg des Gerichts war nur möglich nach gründlicher ärztlicher Untersuchung, die zwingend vorgeschrieben war. Neben der zwangsweisen war eine freiwillige Kastration möglich bei Vergehen gegen den § 175 StGB, die gleichfalls nur unter Beachtung der nötigen Vorsichtsmaßregeln zulässig war. Bis 1940 einschließlich sind 2006 Entmannungen vorgenommen. Für die folgenden Jahre fehlen sichere Zahlen. Rechnet man für die Jahre 1941—1944 je 200 Entmannungen, so kommt man auf eine Zahl von rund 2800. Die Frage nun, ob man Sittlichkeitsverbrecher entmannen darf, ist m. E. in erster Linie ein ethisches Problem. Wenn man auch annehmen darf, daß in den nordischen Ländern auch die ethischen Voraussetzungen erwogen sind, so haben gerade wir nach den früheren Erfahrungen doch die Pflicht, diese Frage besonders sorgfältig zu prüfen. Ich habe mich deshalb in den letzten Jahren mit Juristen, Ärzten und namhaften Theologen beider Konfessionen eingehend darüber unterhalten. Das Ergebnis dieser Erörterungen möchte ich kurz zusammenfassen. Es gibt zwei Möglichkeiten des Vorgehens : man kann einmal die Kastration als Strafe anordnen, man kann sie zum anderen als freiwillige Heilmaßnahme zulassen.

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Im ersten Falle liegen die Dinge ziemlich einfach: da der Staat mindestens theoretisch das Recht hat, die Todesstrafe zu verhängen, hat er auch das Recht, eine Körperstrafe, die weniger einschneidend ist, gesetzlich festzulegen. Daher ist auch von der Kirche ein Einspruch gegen die strafweise Kastration nie erhoben worden, und noch 1930 hat Papst Pius XI. in einem Rundschreiben dagegen nicht opponiert, wie ich dem sehr lesenswerten Buch des katholischen Theologen BROWE „Zur Geschichte der Entmannung" entnommen habe und wie es mir von anderer Seite bestätigt ist. Eine strafweise Wiedereinführung der Kastration ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten; wir haben daher zu prüfen, ob eine freiwillige Entmannung zulässig ist, und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen. Hier macht sich nun eine Schwierigkeit bemerkbar: Die Freiwilligkeit ist in der Regel nicht echt, sie besteht nur scheinbar. In Wirklichkeit handelt es sich um die Wahl zwischen zwei Übeln, zwischen der Gefahr von Rückfällen mit dem Erleiden mehr oder weniger hoher Freiheitsstrafen auf der einen Seite und dem Verlust wertvoller männlicher Eigenschaften auf der anderen Seite. In der Situation, in der sich der Sittlichkeitsverbrecher befindet, wird er möglicherweise eine Wahl treffen, die er unter anderen Bedingungen nicht getroffen hätte. Nun ist freilich eine solche Zwangsentscheidung keineswegs etwas Außergewöhnliches; wir werden ja auch sonst nicht selten genug gezwungen, ähnliche Entscheidungen zu treffen, d. h. zwischen zwei Übeln zu wählen. Man denke, um nur ein Beispiel zu nennen, etwa an eine Frau, der wegen krebsiger Knoten beide Brüste weggeschnitten werden sollen. Sie verliert durch eine solche Operation wertvolle Reize; läßt sie sich aber nicht verstümmeln — und es ist eine Verstümmelung — stirbt sie in absehbarer Zeit. Nun könnte man einwenden, daß es sich hier um eine Situation handelt, die uns schicksalsmäßig befällt, an der wir nicht schuldig sind, während der Sittlichkeitsverbrecher durch seine Schuld in eine außergewöhnliche Situation geraten ist. Wenn man aber sieht, wie trotz schwerster Strafen immer wieder Rückfälle auftreten, so wird man doch zugeben müssen, daß auch hierbei das Schicksal seine Hand im Spiele hat, indem es uns eine Anlage gibt, an der wir nichts ändern können. Das Ergebnis meiner Untersuchungen und der sich daran anknüpfenden Diskussionen war kurz gesagt folgendes: Gegen eine Entmannung von Sittliohkeitsverbrechern ist, auch wenn die Freiwilligkeit nur eine Wahlentscheidung ist, vom ethischen Standpunkt aus nichts einzuwenden, wenn 1. andere Möglichkeiten der Besserung und Heilung nicht gegeben sind, wenn 2. die Entmannung wirklich Besserung der sexuellen Triebhaftigkeit und damit der Straffälligkeit verspricht und wenn 3. keine ungünstigen Persönlichkeitsveränderungen von erheblicher Bedeutung zu erwarten sind. Die erste dieser Voraussetzungen ist bereits kurz besprochen. In jedem Falle wird man zu prüfen haben, ob die Verhängung einer Strafe genügt, ob namentlich eine psychische Behandlung Erfolg verspricht. Die erste Verurteilung wegen eines Sittlichkeitsdelikts genügt nur ausnahmsweise, etwa

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bei besonders ausgeprägter, schwer beherrschbarer Triebstärke, um die Vornahme der Operation zu rechtfertigen. Die zweite Frage geht dahin, ob durch die Entmannung mit ausreichender Sicherheit weitere Sittlichkeitsdelikte vermieden werden können; ergänzend ist zu fragen, ob und in welcher Weise die sonstige Kriminalität dadurch beeinflußt wird. Aus der ausländischen Literatur ist dazu folgendes zu sagen: Aus Holland hat Hartsuiker über 53 Delinquenten berichtet, die in den Jahren 1938—1942 entmannt sind, bei denen der Eingriff also über 10 Jahre zurücklag. Davon waren zur Zeit des Berichts 4 gestorben; rückfällig war keiner geworden. Von 123 später kastrierten Fällen sind 4 rückfällig geworden, d. h. für die Gesamtzahl von 172 Fällen etwa 2,3%. W I J I T E L S hat über 71 Fälle berichtet. Versager gab es nach seinem ausführlichen Bericht bei Idioten und einem Schizophrenen, im übrigen war das Resultat nur bei einem polymorph-perversen hysterischen Psychopathen ungünstig. S A N D hat 1940 aus Dänemark über günstige Resultate berichtet; nach einer persönlichen Mitteilung hat sich an dieser Beurteilung nichts geändert. S T Ü R U P hat 1953 über 199 Sexualverbrecher berichtet, die bis 1948 in der Psychopathenbewahranstalt Herstedvester untergebracht waren. Von ihnen waren 175 entlassen, davon 117 kastriert, 58 nicht. Rückfällig wurden von den Entmannten 5 = 4,3%, von den Nichtentmannten 25 = 43%, also genau das Zehnfache. Nachträglich sind von diesen 25 noch 17 entmannt worden, ohne daß bisher bei ihnen ein Rückfall eingetreten ist. Insgesamt sind danach von 134 Entmannten 5 = 3,7% rückfällig geworden. Dabei handelte es sich durchweg um Homosexuelle, die sich an Jugendlichen vergangen hatten; auch diese Rückfälligen sind nach anfänglichem Versagen später frei geblieben. In Deutschland sind während der Zeit des Nationalsozialismus mehrere Arbeiten erschienen, so von B U N S M A N N , M E Y W E R K , R O D E N B E R G und namentlich von J E N S C H , die eine Rückfälligkeit zwischen 1,32 und4,9% fanden. Die letzte von J E N S C H stammende Zahl weicht von den übrigen dadurch ab, daß sich unter den von ihm verwerteten 465 Fällen 159 Homosexuelle befanden, die eine besonders hohe Rückfälligkeit, nämlich in 10,8% aufwiesen. Der Rest von 306 Fällen hatte eine Rückfallziffer von rund 2%. Alle diese Arbeiten konnten aber nur etwas Vorläufiges sein, weil die Zeit nach der Entmannung noch zu kurz war; sie betrug in vielen Fällen nur drei Jahre, zum Teil noch weniger. Da aber Rückfälle bei nicht Entmannten noch nach vielen Jahren vorkommen, war eine erneute Nachprüfung geboten. Diese ist im Gange, aber noch nicht abgeschlossen. Die im folgenden genannten Zahlen sind daher mit Vorbehalt zu betrachten, geringe Verschiebungen sind möglich. Auf Grund von Strafregisterauszügen, die bis zum Jahre 1953 reichen also eine Zeit von 9 bis etwa 18 Jahren nach der in den Jahren 1934—1944 durchgeführten Entmannung umfassen, ließen sich bei 1036 Entmannten bis 1953 25 Rückfällige feststellen, unter ihnen einer, bei dem aus dem Strafregisterauszug nicht sicher hervorgeht, ob die Straftat nicht schon vor der

Die Entmannung als Behandlungsmöglichkeit von Sittlichkeitsverbrechern

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Entmannung geschehen war. Dazu kommt jedoch ein 1937 Entmannter, der 1957, also nach rund 20 Jahren rückfällig geworden ist 12 ). Bei den übrigen 24 Entmannten lag zwischen Operation und Rückfall ein Zeitraum von 1—8 Jahren. Das bedeutet eine Rückfallhäufigkeit von rund 2,5%. Dazu kommt freilich eine bisher nicht zu beurteilende Dunkelziffer, die hier nicht berücksichtigt zu werden braucht, weil sie auch bei den psychotherapeutisch Behandelten und den Unbehandelten nicht bewertet ist. Auch die Zahl der in Sicherungsverwahrung oder in Heilanstalten Untergebrachten kann wegen ihrer Geringfügigkeit vernachlässigt werden, zumal die Sicherungsverwahrten wohl alle nach 1945 entlassen sind. Beachtlich dagegen ist die Zahl der inzwischen Gestorbenen. Dazu läßt sich sagen: I n Hamburg waren von 157 als wohnhaft gemeldeten Entmannten 14 verzogen; von den restlichen 143 waren bis 1953 19, d. h. 13,3% gestorben. Rechnet man vorsichtig mit 20% Gestorbener, wobei zu beachten ist, daß auch diese im allgemeinen noch längere Zeit gelebt haben, so bleiben 828, auf die 26 Rückfällige zu beziehen sind. Das entspricht einem Hundertsatz von 3,14. Diese Ziffer entspricht den ausländischen Erfahrungen; sie stimmt auch insofern mit den Mitteilungen von S T Ü R U P und J E N S C H überein, als bei den Rückfälligen die Homosexuellen deutlich überwiegen. Ergänzend sei noch bemerkt, daß OHM13) bei 224 Berliner Fällen 8 Rückfällige fand, d. h. 3,5%. E s kann nach diesen Zahlen und den ausländischen Erfahrungen keinem Zweifel unterliegen, daß die Entmannung kriminaltherapeutisch trotz einzelner Fehlschläge eine Wirkung hat, die von keiner der anderen Methoden erreicht wird. Eine weitere Frage geht dahin, ob die sonstige, nicht sexuelle Kriminalität durch die Entmannung beeinflußt wird. Diese Frage ist gleichfalls schon früher untersucht worden; namentlich hat M E Y W E R K gemeint, in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle komme durch die Entmannung eine überaus günstige Beeinflussung der kriminellen Neigungen zustande. E r berechnete die Zahl der Resozialisierten auf 89%. Ich habe diese Zahl schon 1943 einer eingehenden Kritik unterzogen und gesagt, daß die Zeit für eine sachliche Beurteilung dieser Frage noch zu kurz sei. Die Meywerkschen Zahlen waren zudem recht unkritisch gewonnen. Auch OHM berichtet über recht günstige Zahlen: seine 224 Probanden hatten vor der Entmannung 565 nicht sexuelle Delikte begangen, nach der Entmannung nur noch 69. Indessen ist damit die Frage, ob die Resozialisierung eine Folge der Entmannung sei, nicht beantwortet. Die kriminelle Aktivität steigt ja bis etwa zum 25. Lebensjahr an, um dann stetig abzusinken. Welche Wirkung das Altern, welchen Einfluß eine verbüßte Strafe hat, ist im Einzelfall schwer zu beurteilen. Liegt etwa zwischen der letzten Verurteilung wegen eines nicht sexuellen Delikts eine Zeitspanne von 5 oder 6 Jahren, so ist nicht recht einzusehen, weshalb f ü r das spätere Straffreibleiben die Entmannung ursächlich sein soll. Eine sachliche Beurteilung ist nicht leicht: wenn der Gelegenheitstäter vor der Ent12 13

) Hier sollen Hormonpräparate zum Rückfall beigetragen haben. ) Bisher nicht veröffentlicht.

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Das Strafrecht

mannung einmal verurteilt ist, nach der Entmannung nicht mehr, so sagt das nichts; eine einigermaßen zutreffende Beurteilung ist nur möglich, wenn vor der Entmannung kriminelle Neigungen deutlich werden. Ich habe daher aus den wegen anderer Delikte Vorbestraften eine Gruppe ausgesondert, die im Alter von 31—45 Jahren entmannt waren. Man kann einerseits annehmen, daß sich stärkere kriminelle Neigungen vor dem 30. Lebensjahr zeigen; andererseits ist mit 45 Jahren die kriminelle Aktivität noch nicht so weit abgesunken, daß mit einiger Sicherheit aus Altersgründen eine Resozialisierung zu erwarten wäre. Aus diesen Fällen habe ich weiter die herausgesucht, bei denen vor der Entmannung mindestens 3 Verurteilungen mit zusammen mindestens 1 Jahr Freiheitsentzug zustande gekommen waren. Auch dann ist die Entscheidung oft schwierig und nicht in jedem Falle einwandfrei zu treffen. Ich fand Resozialisierung infolge der Entmannung in 32% der Fälle; 4 % erschienen gebessert, 16% zweifelhaft, 47% unverändert und ein Fall war verschlechtert. Einige Beispiele mögen das zeigen: Fall 177: Mit 36 Jahren entmannt. 23 Vorstrafen, meist wegen Betteins und schweren Diebstahls mit über 6 Jahren Gefängnis, etwa 14 Monaten Haft und Arbeitshaus. Letztes Delikt 1 Jahr vor der Entmannung. Hinterher noch eine Strafe, aber 11 Jahre nach der Entmannung über 4,— DM oder zwei Tage Haft. Fall K : Mit 42 Jahren entmannt nach 3 Delikten der Notzucht bzw. des Versuchs dazu. Mit 13 Jahren Einsteigediebstahl beim Nachbar. 5 Verurteilungen wegen Raubes, schweren Diebstahls, Gefangenenmeuterei, Körperverletzung, Diebstahls mit 3 Jahren 2 Monaten Gefängnis, 3 Jahren 4 Monaten Zuchthaus. Letzte Verurteilung 1 3 U Jahr vor der Entmannung. 2 Ehen geschieden. Nach der Entmannung im Jahre 1937 keine Verurteilung mehr. Potenz erloschen, lebt trotzdem in glücklicher 3. Ehe, hat Vertrauensstellung. Sagt selbst: Ich habe vorher ein zügelloses Leben geführt, ich war eigentlich zu allem fähig. Ich bin ein ganz anderer Mensch geworden. Diesen positiv zu bewertenden Fällen steht der folgende Fall St. gegenüber, der keine Wirkung erkennen läßt: Geboren 1900. Entmannt 1925. Vorher 13mal verurteilt wegen Landfriedensbruchs, Diebstahls, Betrugs, Betteins; nach der Entmannung 8 weitere Verurteilungen. Jetzt in Sicherungsverwahrung.

Das sind ziemlich klare Fälle. In anderen war es schwieriger zu entscheiden ; so war ein Mann im Zusammenhang mit dem letzten Sittlichkeitsdelikt 9 Jahre im Zuchthaus. Diese lange Haftzeit kann die Aktivität auch ohne Entmannung herabsetzen, und es kann dadurch zu einer Resozialisierung kommen. In der 2. Gruppe mit weniger als 3 Strafen vor der Entmannung schien mir die bessernde Wirkung weniger deutlich; das war aber auch kaum anders zu erwarten, da sich Besserungen bei so geringen Vorstrafen natürlich schwer nachweisen lassen. Bei über 200 Fällen habe ich nur bei 18 Entmannten Resozialisierung infolge der Entmannung angenommen, 7 mal dagegen Verschlechterung des Verhaltens, die nicht unbedingt als Folge der Entmannung gewertet werden kann. Die große Mehrzahl schien mir nicht oder kaum verändert oder, soweit sie sich günstig entwickelten, konnte das ebensogut Folge des fortschreitenden Lebensalters sein. Das post oder propter ist in diesen Fällen also schwer zu entscheiden. Im ganzen läßt sich

Die Entmannung als Behandlungsmöglichkeit von Sittlichkeitsverbrechern

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meines Erachtens die frühere reichlich optimistische Beurteilung einiger Autoren hinsichtlich der Resozialisierung nicht bestätigen; immerhin soheint es auch mir, daß in einer Reihe von Fällen eine Beruhigung eintritt: die bisherige Aktivität weicht einer mehr passiven Hinnahme des Gegebenen, entsprechend etwa den Geschlechtsunterschieden, die von E X N E R für die verschieden große und verschiedenartige Kriminalität der Geschlechter verantwortlich gemacht worden sind. Das Ergebnis stimmt übrigens auch überein mit noch zu erwähnenden Feststellungen, die Joh. L A U G E bei Kriegskastraten des 1. Weltkrieges gemacht hat. Diese ordneten sich in anscheinend besonders guter Weise sozial ein. Die Wirkung auf Libido und Potenz ist in früheren Veröffentlichungen schon behandelt worden. Das Ergebnis ist, kurz gesagt, daß Libido und Potenz in der überwiegenden Zahl der Fälle mehr oder weniger schnell erlosch oder wenigstens bis zur Bedeutungslosigkeit abnahm; es blieben jedoch eine ganze Anzahl von Fällen mit völlig erhaltener Funktion zurück. Besonders wertvoll sind in dieser Beziehung die Untersuchungen von Joh. LANGE14) an über 300 Soldaten, die 1914/18 durch verstümmelnde Schußverletzungen oder wegen einer Genitaltuberkulose entmannt waren. Von den 220 Entmannten, die zur Zeit der Verstümmelung noch ledig waren, hatten 165 zum Teil mehrfach geheiratet. Nicht wenige unter ihnen hatten „eine nennenswerte Einbuße der Libido offenbar nicht oder mindestens Jahre hindurch nicht erlitten", und auch die Potenz war bei einzelnen anscheinend lange Zeit erhalten, wenn auch in der Regel in abnehmendem Maße. Dem entsprechen ältere Berichte15) wie neuere Erfahrungen16). Bei Strafgefangenen oder Sicherungsverwahrten wird man eher mit zu günstigen Angaben hinsichtlich des Erfolges zu rechnen haben, weil sie natürlich hoffen, die Zeit ihrer Haft dadurch abzukürzen. Bei jetzt vorgenommenen Besprechungen zeigte sich, daß in der überwiegenden Zahl der Fälle Potenz und Libido nach relativ kurzer Zeit geschwunden waren; jedoch fanden sich auch Entmannte, bei denen beides, wenn auch in abgeschwächter Form bis jetzt erhalten geblieben ist. In manchen, freilich seltenen Fällen sollen sogar Schwierigkeiten in der Beherrschung des Triebes vorhanden sein17). Nach der Operation treten in etwa 2/3 der Fälle Beschwerden in der Form von aufsteigender Hitze und stärkerem Schwitzen auf; im allgemeinen 14) Med. Klinik 1934, S. 1081; ausführlicher in „Die Folgen der Entmannung Erwachsener", Leipzig 1934; JENSCH, 1. c. 15 ) Zusammengestellt bei MEYWERK, MKrB 34, S. 13. l e ) Z. B. FROMMER, DJ 1938, S. 1063, der über 100 Entmannte berichtet und in 6—7% Libido bzw. Potenz, freilich nach relativ kurzer Zeit (1—4 Jahre) erhalten fand. 17 ) H. GIESE berichtete mir über einen solchen Fall. Zwei unter den von mir untersuchten Homosexuellen haben auch jetzt noch sexuelle Beziehungen zu einem Partner.

110

Das Strafrecht

schwinden diese Beschwerden nach verschieden langer Zeit. Soweit jetzt derartige Erscheinungen noch vorhanden sind, wurden sie meist erst auf besondere Fragen danach geäußert. Veränderungen auf körperlichem, Gebiet von wesentlicher Bedeutung ließen sich nicht feststellen. In etwa a/3 der Fälle fand sich ein eigenartig schlaff wirkendes Gesicht mit etwas fahler Gesichtsfarbe. Die Veränderung ist schwer zu beschreiben; für den Kundigen ist sie deutlich erkennbar. Regelmäßig ändert sich das Haarkleid: Die Körperbehaarung schwindet in der Regel ganz, auch die Behaarung der Achselhöhlen wird mehr oder weniger geringer, die Schambehaarung nimmt weibliche Formen an. Dagegen ändert sich der Bartwuchs kaum, und das Haupthaar wird eher kräftiger: in zwei Fällen waren auf der vorher vorhandenen Glatze sogar wieder Haare gewachsen. Die Haut wird weicher. Die Konsistenz der Muskulatur hängt von der Tätigkeit ab, die der Betreffende ausübt; in der Mehrzahl der Fälle wirkt sie aber schlaff. Der Verlauf der Gewichtskurve ist verschieden: Zunahmen sieht man vornehmlich bei Pyknikern. Es kommt aber auch häufig zu Gewichtsabnahmen. Auch dabei hat man zu prüfen, ob eine Gewichtszunahme Folge der Entmannung ist: So wog ein 1934 Entmannter bei einer Länge von 1,50 m 1938 52 kg, 1956 wog er 75 kg; die Gewichtszunahme war aber erst vor 3 Jahren plötzlich aufgetreten. Die Fettverteilung ist insofern auffällig, als in ziemlich vielen Fällen die Brüste angedeutet — in seltenen Fällen ausgeprägter — weibliche Formen annahmen. Nach P i t t a b d sollen auch die Hinterbacken stärker hervortreten. Insgesamt sind die Veränderungen auf körperlichem Gebiet nicht derart, daß sie eine Gegenindikation bilden könnten. Auf psychischem, Gebiet sind Persönlichkeitsveränderungen in der Richtung des Energiemangels, der Herabsetzung der Initative oder dergleichen nur vereinzelt zu verzeichnen gewesen. Soweit Änderungen der Stimmung oder der affektiven Beteiligung auftreten, sind sie eher als Ausdruck der Persönlichkeitsanlage aufzufassen. In wenigen Fällen kommt es zu ausgeprägteren Minderwertigkeitsgefühlen. Die beruflichen Leistungen sinken kaum einmal ab; in nicht seltenen Fällen besteht der Eindruck besserer sozialer Einordnung, des erhöhten Strebens und der größeren Leistungsfähigkeit. In wenigen Fällen ist über eine negativ sich auswirkende Veränderung berichtet, so von D o n a l i e s , der über einen durch Minenexplosion kastrierten Mann berichtet, dessen schon vorher vorhandene Geltungssucht sich nach der Verletzung so steigerte, daß er straffällig wurde: er unterschlug 10000 Mark zur Beschaffung von Alkohol, der die Voraussetzung zur Demonstration seiner Männlichkeit für den Angeklagten war 18 ). Derartige Beobachtungen bilden indessen große Ausnahmen, und es ist immer daran zu erin1S )

DZgM 40, 1951, S. 611.

Die Entmannung als Behandlungsmöglichkeit von Sittlichkeitsverbrechern

Hl

nern, daß Charaktereigenschaften, wie sie bei Sexualverbreohern nicht selten sind, auch ohne Entmannung zu Delikten nicht sexueller Art führen können. Der von MENDE19) berichtete Fall eines Parkinson nach Entmannung kann m. E. nicht als Folge derselben angesehen werden. Im ganzen gesehen ist eine Verschlechterung also nicht zu erwarten. Dem entspricht auch die Einstellung der Entmannten zur Operation. Die Mehrzahl ist zufrieden, zum Teil froh oder glücklich; es sind vorwiegend die intelligenteren, sozial gehobenen Probanden. Etwa 1 / i äußert sich unzufrieden : Dabei handelt es sich ganz überwiegend um Debile, auch um Männer, deren einziger Lebensinhalt ihre Sexualität war. In wenigen Fällen scheint mir die Unzufriedenheit begründet zu sein. Eine weitere Gruppe der Zwiespältigkeit ist mit dem kriminaltherapeutischen Erfolg zufrieden, unzufrieden aus anderen Gründen (kann nicht heiraten — kann seiner Frau nicht das Letzte geben — kommt sich nicht vollwertig vor usw.). Das Ergebnis dieser kurzen Darstellung geht dahin, daß die anfangs genannten Voraussetzungen für eine Entmannimg gegeben sind: es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Aufhören der sexuellen Delikte zu erwarten, und die Entmannimg zieht auf körperlichem und psychischem Gebiet keine solchen Veränderungen nach sich, daß deswegen von ihr abgeraten werden müßte. Es ist aber jeder einzelne Fall auf das gründlichste zu prüfen. Man sollte zunächst die Entmannung nicht vor dem 25. Lebensjahre vornehmen; mir scheint sie auch weniger erfolgversprechend bei sogenannten echten Homosexuellen, wenn sich bei diesen über die rein sexuelle Triebhaftigkeit hinaus erotische Bindungen entwickelt haben, wenn bei ihnen ein ausgesprochenes Liebesbedürfnis besteht. Bei den Exhibisten und auch bei anderen Selbstunsicheren ist die Frage anderer Behandlungsmöglichkeiten zu prüfen. Es wäre zweckmäßig, wenn in jedem der Länder einige wenige besonders sachverständige Ärzte mit der Prüfung der Einzelfälle beauftragt würden. Rechtlich gesehen ist die Entmannung in den Ländern, in denen das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses noch gilt, nach diesem möglich (§ 14), wenn sie nach amts- oder gerichtsärztlichem Gutachten erforderlich ist, um den Mann von einem entarteten Geschlechtstrieb zu befreien, der die Begehung weiterer Verfehlungen im Sinne der §§ 175—178, 183, 223—226 StGB befürchten läßt 20 ). Sonst ist dafür maßgebend der § 226a StGB: „Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung des Verletzten vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt".

Dabei kommt es darauf an, ob der Tat Anstößiges anhaftet 21 ). Das wird man von der Entmannung nicht sagen können, wenn die Voraussetzungen dafür wirklich gründlich geprüft sind. Hinsichtlich der Einwilligung des Betreffenden ist folgendes Verfahren zu empfehlen: Ist nach Durchführung 19 20

21

) Psychiatrie, Neurologie u. med. Psychologie 4, 1952, S. 115 ) SCHÖNKE, Der Nervenarzt 22, 1951, S. 161.

) RGSt. 74, S. 95, BGHSt. 4, S. 91.

Das Strafrecht

112

der Untersuchung ein Erfolg der Entmannung zu erwarten, und hat sich der Proband zunächst bereit erklärt, so gebe man ihm für 24 Stunden ein Merkblatt, das je nach Lage des Falles einen etwas verschiedenen Wortlaut haben kann 22 ), das auf den Wert der Operation hinweist, aber auch die wenn auch geringe Möglichkeit ihres Versagens und namentlich die körperlichen Veränderungen erwähnt. Daß er dieses Merkblatt gelesen habe, lasse man sich bescheinigen. Ebenso lasse man sich die Einwilligung zur Operation schriftlich geben. Handelt es sich um leicht Schwachsinnige, überlege man, ob nicht ein Pfleger bestellt werden soll, der dann in Zusammenarbeit mit dem Vormundschaftsgericht die Zustimmung geben kann. Auf diese Weise, die sich mir bewährt hat, wird Sicherheit gegen eine spätere Anzeige geschaffen. Schwer Schwachsinnige, Schizophrene entmannen zu lassen, scheint mir nach den Erfahrungen in der Schweiz wenig angebracht.

9. Die Beurteilung

der sozialen

Prognose

Im Strafgesetzbuch von 1953 finden sich, ähnlich wie im Jugendstraf recht einige Bestimmungen, die richtig nur Anwendung finden können, wenn man sich über die soziale Prognose wenigstens einigermaßen klar geworden ist 1 ). Das ist einmal der schon früher (S. 590) erwähnte § 42 e, auf Grund dessen in bestimmten Fällen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert. Das sind ferner die §§ 23—26, deren erster die Strafaussetzung zur Bewährung regelt, während der letztere die vorzeitige bedingte Entlassung aus der Strafhaft möglich macht. Die Paragraphen haben, soweit sie für den Sachverständigen von Bedeutung sind, folgenden Wortlaut: § 23: (1) Das Gericht kann die Vollstreckung einer Gefängnis- oder Einschließungsstrafe von nicht mehr als neun Monaten oder einer Haftstrafe aussetzen, damit der Verurteilte durch gute Führung während einer Bewährungszeit Straferlaß erlangen kann (Strafaussetzung zur Bewährung). (2) Strafaussetzung zur Bewährung wird nur angeordnet, wenn die Persönlichkeit des Verurteilten und sein Vorleben in Verbindung mit seinem Verhalten nach der Tat oder einer günstigen Veränderung seiner Lebensumstände erwarten lassen, daß er unter der Einwirkung der Aussetzung in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen wird. (3) Strafaussetzung zur Bewährung darf nicht angeordnet werden, wenn 1. das öffentliche Interesse die Vollstreckung der Strafe erfordert oder 2. während der letzten fünf Jahre vor Begehung der Straftat die Vollstreckung einer gegen den Verurteilten im Inland erkannten Freiheitsstrafe zur Bewährung oder im Gnadenwege ausgesetzt oder 22

) Bei intelligenten Probanden, bei denen mit Minderwertigkeitsgefühlen zu rechnen ist, kann man darauf hinweisen, daß so wertvolle Menschen wie Origenes, Abälard und Narses Kastraten waren. 1 ) Zur Entwicklung und zum Zweck dieser Bestimmungen sei nur hingewiesen a u f E . SCHMIDT, Z S t W 6 4 , 1952.. S . 4 u n d d i e R e f e r a t e v o n GRÜNHUT u n d SIMSON

ebendort, S. 127 und 140; M. P. VRIJ, ZStW 66, S. 218; SIMSON, ZStW 67, S. 48; LACKNER, J Z 1 9 5 3 , S. 4 2 8 .

Die Beurteilung der sozialen Prognose

113

3. der Verurteilte innerhalb dieses Zeitraumes im Inland zu Freiheitsstrafen von insgesamt mehr als sechs Monaten verurteilt worden ist. (4) In den Fällen des Absatzes 3 Nummern 2 und 3 wird in die Frist die Zeit nicht eingerechnet, in der der Täter eine Freiheitsstrafe verbüßt oder auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt wird. Nach § 24 kann das Gericht dem Verurteilten besondere Auflagen machen, z. B. Weisungen zu befolgen, die sich auf Aufenthaltsort, Ausbildung, Arbeit oder Freizeit beziehen, sich einer ärztlichen Behandlung oder Entziehungskur zu unterziehen, sich der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers zu unterstellen. Solche Anordnungen kann das Gericht noch nachträglich treffen, ändern oder aufheben. Die Bewährungsfrist beträgt zwei bis fünf Jahre. § 24 a. Der Bewährungshelfer (. . .) wird von dem Gericht bestellt. Er überwacht nach dessen Anweisungen während der Bewährungszeit die Lebensführung des Verurteilten und die Einhaltung der Auflagen. Nach § 25 wird die Strafe nach Ablauf der Bewährungsfrist erlassen, wenn der Verurteilte sich bewährt hat. Das Gericht kann die Aussetzung widerrufen, wenn sich herausstellt, daß die Voraussetzungen dafür falsch waren oder wenn der Verurteilte in irgendeiner Weise versagt. § 26: (1) Das Gericht kann den zu zeitiger Freiheitsstrafe Verurteilten mit seiner Zustimmung bedingt entlassen, wenn dieser zwei Drittel der Strafe, mindestens jedoch drei Monate, verbüßt hat und erwartet werden kann, daß er in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen wird. (2) Die Bewährungszeit darf die Dauer des Strafmaßes auch im Falle einer nachträglichen Verkürzung nicht unterschreiten. (3) Im übrigen gelten die Vorschriften der §§ 24, 24a und des § 25 Satz 1 und Abs. 2 sinngemäß.

Mit diesen Bestimmungen ist die deutsche Gesetzgebung einer Entwicklung gefolgt, die schon im vorigen Jahrhundert in Amerika mit der bedingten Aussetzung ihren Anfang genommen hat 2 ); in etwas anderer Form (sog. sursis) ging sie in Europa von Frankreich aus : es war die vom Richter angeordnete Aussetzung einer erkannten Strafe mit dem Ziel des Erlasses bei guter Führung während einer Probezeit3). Dieses System hat sich allmählich über ganz Europa ausgebreitet. Es handelt sich dabei namentlich um die Vermeidung von schädlich wirkenden kurzfristigen Freiheitsstrafen. In allen drei Fällen, der Aussetzung einer Strafe auf Bewährung, der bedingten Entlassung und der Sicherungsverwahrung handelt es sich um die Prognose, d. h. um die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit, ob ein Verurteilter sich voraussichtlich sozial einordnen wird oder ob er voraussichtlich rückfällig wird. Das ist, wie E X N E R sagt, „die schwierigste Aufgabe der praktischen Kriminologie". Gutachten über diese Frage werden in den letzten Jahren häufiger verlangt, und zwar überwiegend bei „gefährlichen Gewohnheitsverbrechern", bei denen das Gericht über die Sicherungsverwahrung zu entscheiden hat, seltener bei der bedingten Entlassung, während bei der Aussetzung der Strafe auf Bewährung die Gerichte in aller Regel ohne Zuziehung eines Gutachters entscheiden. 2 3

) 1878 im Staat Massachusetts mit der sog. Probation. ) Nach einem Entwurf René BÉRENGERS aus dem Jahre 1884. Dazu GRÜNHUT

u n d SIMSON a . a . O., LACKNER, J Z 1 9 5 3 , S . 4 2 8 u n d JAGUSCH, J Z 1 9 5 3 , S . 6 8 8 . 8 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

114

Das Strafrecht

Aus Gründen der Zweckmäßigkeit soll mit der sozialen Prognose der gefährlichen Gewohnheitsverbrecher begonnen werden; dabei werden alle die einzelnen Umstände besprochen werden müssen, die auch für die beiden anderen Kategorien wichtig sind. Zu beurteilen, wann jemand gem. § 20a StGB als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher zu bewerten ist, ist Sache der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts. Mit dieser Frage hat dar Sachverständige nichts zu tun. Nach § 42 e StGB ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung aber nur möglich, wenn die öffentliche Sicherheit die Verwahrung erfordert. Das ist dann der Fall, wenn nach der Persönlichkeit des Täters die Gefahr besteht, daß er auch in Zukunft erheblichere Angriffe gegen strafrechtlich geschützte Rechtsgüter irgendwelcher Art unternehmen werde, und wenn keine anderen Maßnahmen oder Umstände in Betracht kommen, die einen ausreichenden Schutz der Allgemeinheit verbürgen 4 ). Es muß sich auch bei den zu erwartenden Straftaten um solche von erheblicher Schwere handeln 6 ). Die Art der Prognosestellung hat nun im Laufe der Jahre sich allmählich gewandelt; es hat sich bei den Bemühungen darum mit Sicherheit eines gezeigt : daß eine einigermaßen sichere Prognose Verständnis nicht nur für die psychologische bzw. psychopathologische Beurteilung des Täters voraussetzt, daß dazu auch eine gewisse Erfahrung auf kriminologischem Gebiet gehört. Auch dann sind Irrtümer keineswegs ausgeschlossen, wie die Nachprüfung der gestellten Prognosen ergeben hat 6 ). Als 1934 die Sicherungsverwahrung eingeführt wurde, war man zunächst auf die mehr oder weniger intuitiven Beurteilungen durch Richter, Anstaltsleiter und Anstaltsärzte angewiesen. Es wurde dann zuerst in Bayern, später im ganzen Reiche der kriminalbiologische Dienst eingerichtet; es wurden ausführliche Fragebogen ausgearbeitet, die mit ihren Eintragungen zu übergeordneten Sammelstellen gelangten, in denen danach dann entsprechende Gutachten erstattet wurden. Die Nachprüfung dieser Prognosen nach einigen Jahren ergab indessen, daß die ungünstigen Prognosen in etwa 27%, die günstigen Prognosen sogar in etwa 40% der Fälle unrichtig waren. Man hat danach versucht, die Prognose durch statistische Verfahren zu sichern. Die Anregimg dazu ging von Amerika aus, wo 1928 B Ü R G E R S 7 ) ein Punktverfahren ausgearbeitet hatte, nach dem man glaubte, mit größerer Sicherheit die Frage der Rückfallwahrscheinlichkeit beurteilen zu können. Bei dieser Methode wurden 21 Gutpunkte, die prognostisch bedeutsam erschienen, im Einzelfall so verwertet, daß man die Zahl der für den Verbrecher zutreffenden Gutpunkte feststellte. Es zeigte sich, daß in einer Gruppe mit mehr als 14 Gutpunkten nur 2%, in einer Gruppe mit weniger als 5 Gut4

) RGSt. 68, S. 271, 72, S. 358, BGHSt. 1, S. 67. ) BGHSt. 1, S. 95. 6 ) S. dazu LEFERENZ, Zur Problematik der kriminologischen Prognose. ZStW 68, 1956, S. 233. 7 ) BUKGERS : Journal of Crime-Law and Criminology 19, 1928, S. 205. 6

Die Beurteilung der sozialen Prognose

115

punkten 7 6 % rückfällig wurden. Das Ehepaar GLUECK 8 ) suchte die Methode dadurch zu verfeinern, daß den einzelnen Punkten verschiedenes Gewicht beigelegt wurde. In Deutschland hat auf Veranlassung von E X N E R zunächst S C H I E D T 9 ) ein Verfahren nach der Methode von B Ü R G E R S ausgearbeitet. N a c h Ausmerzung einiger Faktoren, die kein wesentliches kriminogenes Gewicht hatten (z. B . uneheliche Geburt, Gefängnis- oder Zuchthausstrafe) stellte er eine Liste von 15 Punkten auf, die sich auf die Prognose ungünstig auswirkten. Später haben Untersuchungen v o n M E Y W E R K und SCHWAAB 1 0 ) die Ergebnisse von SCHIEDT im wesentlichen bestätigt. E s wurden dabei die folgenden Punkte als für die Prognose ungünstig bewertet: 1. 2. 3. 4. 5.

Erbliche Belastung; Kriminalität in der Aszendenz; Schlechte Erziehungsverhältnisse; Schlechter Schulerfolg; Nichtbeendigung einer angefangenen Lehre; 6. Unregelmäßige Arbeit; 7. Beginn der Kriminalität vor dem 18. Lebensjahre; 8. Mehr als vier Vorstrafen;

9. 10. 11. 12. 13.

Besonders rasche Rückfälligkeit; Interlokale Kriminalität; Psychopathie; Trunksucht; Schlechtes allgemeines Verhalten in der Anstalt; 14. Entlassung aus der Anstalt vor dem 36. Lebensjahre; 15. Schlechte soziale und Familienverhältnisse nach der Entlassung.

Die Autoren stellten auf Grund ihrer Untersuchungen die folgenden Tabellen über die Rückfälligkeit auf: Tabelle I

Gruppe

Zahl der ungünstigen Anzeichen

I II III IV V VI

0 1— 3 4— 6 7— 9 10—11 12—15

8

Unter 500 Münchener

Unter 200 Hamburger

F ä l l e n (SCHIEDT)

F ä l l e n (MEYWERK)

Zusammen

Zahl der Fälle

davon rückfällig

Zahl der Fälle

davon rückfällig

Zahl der Fälle

davon rückfällig

30 101 170 118 50 31

1 = 3% 1 5 = 15% 6 9 = 41% 81 = 69% 47 = 94% 31 = 100%

4 40 40 67 37 12

0 = 0% 5 = 13% 10 = 25% 60 = 90% 34 = 92% 12 = 100%

34 141 210 185 87 43

1 = 3% 20 = 14% 79 = 38% 141 = 76% 81 = 93% 43 = 100%

) Sheldon and Eleanor GLUECK: Five hundred criminal careers. New York 1933, zuletzt: Unraveling Juvenile Delinquency, New York 1950. 9 ) SCHIEDT: Ein Beitrag zum Problem der Bückfallprognose. München 1936. 10 ) MEYWERK: MKr.B 29, 1938, S. 422; SCHWAAB: Die soziale Prognose bei rückfälligen Vermögensverbrechern. Kriminal.Abhandl. Heft 43. SCHWAAB ließ die Kriminalität in der Aszendenz als zu wenig zuverlässig fort. TRUNK hatte bei 100 Sicherungsverwahrten teilweise abweichende Ergebnisse. MKr.B 28, 1937. 8*

Das Strafrecht

116

Tabelle II

Gruppe

I II III IV V VI

Zahl der ungünstigen Anzeichen 0— 4 5- 6 7— 8 9—10 11—13 14

Unter 400 mehrfach vorbestraften Vermögensverbrechern (SCHWAAB) Zahl der Fälle 8 48 75 122 136 11

davon rückfällig 0 = 0% 6 = 12,5% 4 6 = 61% 80 = 66% 133 = 98% 11 = 100%

Diese Prognosetafeln haben gewisse Mängel: sie machen keinen Unterschied in der Art der Delikte, und den einzelnen Punkten wird der gleiche Wert beigemessen. Die Art der Delikte ist nicht gleichgültig; selbst in der Gruppe der Vermögensverbrecher ist der Gelegenheitsdieb anders zu beurteilen als der systematisch arbeitende Einbrecher, und dieser wiederum verhält sich mit zunehmendem Alter anders als der Betrüger, der selbst in höherem Alter noch frisch und unternehmungslustig genug sein kann, um auf seine Art Erfolge zu erzielen. Darüber gibt es, soweit ich sehe, bisher keine eingehenderen Untersuchungen. Der zweite Mangel ist schon seit längerer Zeit erkannt. Nach dem Beispiel des Ehepaars GLTTECK hat in Deutschland G E H E C K E zuerst den Versuch gemacht, jedem Punkt seinen besonderen Wert beizulegen11). Seine dazu aufgestellte Tabelle hat aber wenig Zustimmung gefunden. In den letzten Jahren hat nun der Schweizer frühere Jugendstaatsanwalt FREY12) für Jugendliche diesem Mangel abzuhelfen versucht. Er hat eine Prognosetafel aufgestellt, deren einzelne Faktoren nicht nach rein statistischen Gesichtspunkten ausgewählt sind, die vielmehr in einem inneren Zusammenhange stehen. Seine Tafel „stellt gewissermaßen in konzentriertester Form die Längsschnitt- und Querschnittanalyse der Persönlichkeit eines Frühkriminellen nach Anlage, Umwelt und sozialem Verhalten bis zum Datum der Prognoseerstellung dar. Sie ist gewissermaßen eine nach den Kriterien der Prognosefaktoren angeordnete Kriminalbiographie in knappester Fassung." Er unterscheidet dabei mit Rücksicht auf die Jugend seiner Probanden — es handelt sich um Frühkriminelle der Jugendanwaltschaft Basel-Stadt — eine Vorprognose und eine Nachprognose. Die Vorprognose gibt die Voraussage der Resozialisierungswahrscheinlichkeit vor der Versorgung, die Nachprognose baut auf dem Verhalten während der Versorgung und in der Bewährungszeit auf. Die Nachprognose wird frühestens drei Jahre nach der Entlassung aus der Versorgung und nicht vor Vollendung des 24. Lebensjahres gestellt. Aus Vorprognose und Nachprognose ergibt sich dann die Endprognose. Er gibt den einzelnen Faktoren nun einen „Basispunktwert" (BPW), der von 5 bis U

) GERECKE: Zur Frage der Rückfallprognose. MKr.B 30, 1939, ) F R E Y : Der frühkriminelle Rückfallverbrecher. Basel 1 9 5 1 .

12

S. 35.

Die Beurteilung der sozialen Prognose

117

65 reicht. Dieser Wert wird je nach der Ausprägung des Faktors mit einem Koeffizienten multipliziert, der zwischen 0 und 5 liegt. Der Koeffizient 0 wird benutzt, wenn in bezug auf einen bestimmten Faktor überhaupt nichts Negatives vorliegt. Der relative Punktwert (rPW), der auf diese Weise errechnet ist, kann in seinen Extremen also bei 0 und 65 x ö = 325 liegen. Der Basispunktwert der Vorprognose kann danach im ungünstigsten Falle auf 200 X 5 = 1000, bei der Nachprognose auf 100 X 5 = 500 steigen. Der Vorteil der Methode besteht darin, daß die verschiedenen Faktoren unterschiedlich bewertet sind: so ist die Gestaltung der Freizeit nicht von der gleichen Bedeutung wie das Verhalten während der Bewährungsperiode; ihr Nachteil liegt darin, daß der Koeffizient, mit dem der Basispunktwert multipliziert wird, vom Untersucher abhängt. Damit kommt in die Berechnung ein subjektiver Faktor, der nicht auszuschalten ist. Die Tabelle enthält folgende F a k t o r e n : Vorprognose I. Erbliche Belastung. B P W : 35 1. I m allgemeinen (Psychosen, Psychopathien, Trunksucht, Debilität usw.). 2. Kriminalität in der Verwandtschaft. I I . Persönlichkeitstypus. B P W : 50 3. Abnormer Charakter, insbesondere Psychopathie. 4. Intelligenz. 5. Psychosen. 6. Psychogene Stigmata. 7. Geburtstrauma. 8. Somatische Stigmata. I I I . Milieu im Elternhaus. B P W : 15 9. Zivile Stellung (ehelich, unehelich, Adoptivkind, Waise, Scheidungskindsituation, Stellung in der Geschwisterreihe). 10. Soziale und ökonomische Verhältnisse (Beruf des Vaters, Einkommen, Wohnverhältnisse usw.). 11. Erzieherische Verhältnisse im Elternhaus oder am Pflegeort (Verhältnis der Eltern zu einander, erzieherische Fähigkeiten, Verhältnis zu den Geschwistern). IV. 12. Freizeitmilieu. B P W : 5 (Interessen, Lektüre, Kino, Bar, Tanz, Umgang). V. Erziehungsschwierigkeiten. B P W : 30 13. Vorschulalter. 14. Schulalter (Leistungen, Schwänzen, Verhältnis zu Mitschülern u n d Lehrern). 15. Nachschulalter (Art der Arbeit, Wechsel, Verhältnis zu Arbeitgebern u n d Mitarbeitern). VI. 16. Einstellung zur Tat. B P W : 10 (Einsicht, Reue, Selbstbeurteilung). B P W : 35 VII. 17. Frühkriminalität. (Alter beim ersten Delikt, Rückfallintervalle usw.). V I I I . 18. Art der Delikte. B P W : 20 (modus operandi, Hauptdeliktsrichtung, Komplicen usw.).

118

Das Strafrecht

Nachprognose IX. Verhalten während der Versorgung. B P W : 35 19. Im allgemeinen. 20. Ausreißen. 21. Delikte während der Versorgung. X. Verhalten wahrend der Bewährungsperiode. B P W : 65 22. Zivile und Berufsverhältnisse. 23. Rückfälle nach der Versorgung. 24. Definitive Bewertung des Persönlichkeitstyps. Für die Nichtrückfälligen ergab die auf diese Weise gestellte Vorprognose einen niedrigsten Punktwert von 113, einen höchsten Punktwert von 559, einen Prognosemittelwert von 419. Die entsprechenden Werte für Gelegenheitsverbrecher sind 472, 669 und 573, für Rückfallsverbrecher 588, 955 und 766. F R E Y stellt das Ergebnis in der folgenden Tabelle dar: Zusammenstellung der Grenzwerte der Prognosekategorien der Rückfallswahrscheinlichkeit nach Vorprognose, Nachprognose und Endprognose. Kategorie

Grenzwerte d. Vor-Pr.

I

0— 350

II

Grenzwerte d. Nach-Pr. 0—

Grenzwerte d. End-Pr.

75

0— 425

300— 575

50— 150

350— 725

III

475— 675

125— 300

600— 975

IV

600— 850

250— 450

850—1300

V

800—1000

400— 500

1200—1500

Grad der Rückfallwahrscheinlichkeit Spätere Rückfälle auch unter ungünstigen Umweltverhältnissen unwahrscheinlich Vereinzelte Rückfälle unter ungünstigen Umweltverhältnissen nicht ausgeschlossen Gelegentliche Rückfälle wahrscheinlich, Entwicklung zum Rückfallsverbrecher unwahrscheinlich (Typus des Gelegenheitsverbrechers) Rückfälle auch unter günstigen Umweltverhältnissen mit Sicherheit zu erwarten, Möglichkeit der späteren Entwicklung zum Gewohnheitsverbercher (Typus des Rückfallsverbrechers) Rückfälle mit Sicherheit zu erwarten, spätere Entwicklung zum Gewohnheitsverbrecher äußerst wahrscheinlich (Typus des unverbesserlichen Gewohnheitsverbrechers)

Diese Tabellen, die zunächst für Jugendliche gedacht sind, sind auch brauchbar für Erwachsene, wenn man die Nachprognose von einem Delikt ansetzt, das in ein ziemlich frühes Lebensalter fällt u n d für den einzelnen besonders ins Gewicht fällt. Die Methode hat, worauf ich schon hinwies, den Nachteil, daß der Koeffizient, mit dem der Basispunktwert multipliziert wird, von der Beurteilung des Gutachters abhängt. Diese wird aber bei

Die Beurteilung der sozialen Prognose

119

mehreren Gutachtern stets innerhalb gewisser Grenzen schwanken. Sie hat den Vorteil, daß sie die Menschen- und Sachkenntnis des Gutachters, seine intuitive Erfassung der Persönlichkeit des Täters mit objektiven Daten verbindet und so der ersteren eine bessere Grundlage gibt. Dabei ist zuzugeben, daß innerhalb der einzelnen Faktoren schon mancherlei unterschiedlich zu bewerten ist; es ist z. B. nicht gleichgültig, ob jemand ältestes oder jüngstes Kind in einer Geschwisterreihe ist. Das wird aber durch die Vielzahl der Faktoren ausgeglichen. Was hat man nun bei der Begutachtung im einzelnen zu beachten ?13). Zunächst ist wichtig die Art der Delikte. Man kann im wesentlichen vier Kategorien unterscheiden: Diebstahl, Betrug, Tätlichkeitsverbrechen und Sittlichkeitsverbrechen. Andere Deliktsarten wie etwa Hehlerei, Urkundenfälschung, Zechprellerei u. a. kommen vornehmlich im Zusammenhang mit diesen Richtungen vor. Bei der Beurteilung der sozialen Prognose für die Frage der Sicherungsverwahrung haben wir es mit ganz geringen Ausnahmen mit wiederholt rückfällig gewordenen Verbrechern zu t u n ; wir können aus der Art der Delikte schon bestimmte Hinweise auf die Persönlichkeit gewinnen. Mit F E E Y bin ich der Ansicht, daß die Tat weitgehend Ausfluß der Persönlichkeit ist, „Tat und Täter bilden eine dynamische Einheit" 14 ). Die Art der Taten kann daher schon für die Prognose bedeutsam sein. Für unser Gutachten muß im Vordergrunde die Täterpersönlichkeit selbst stehen. Es sind in erster Linie irgendwie abnorme Persönlichkeiten, mit denen wir es dabei zu tun haben. Wir können hier auf Einzelheiten nicht eingehen und wollen uns mit einigen Hinweisen begnügen 15 ). Einfach Willensschwache, auch in der Kombination mit Impulsivität, zeigen im allgemeinen kein planmäßiges Handeln. Es sind die Gelegenheitsdiebe, die zum schweren Diebstahl namentlich dann kommen, wenn sie unter den Einfluß anderer Krimineller geraten. Dabei werden sie leicht rückfällig, weil sie der Versuchung durch zufällige Situationen unterliegen. Auch die hyperthymen Psychopathen werden leicht rückfällig. Infolge ihrer Lebhaftigkeit und Umtriebigkeit geraten sie leicht in verführerische Situationen; zum andern sind ihre Delikte manchmal durch eine ausgesprochen betriebsame Tätigkeit, Unverfrorenheit und Mangel an Planmäßigkeit gekennzeichnet. Besonders gefährlich sind die gemütskalten Psychopathen. Für sie sind die schweren Begehungsformen kennzeichnend: der planmäßig zu Werke gehende Einbrecher, der kaltblütig und oft mit außerordentlicher krimineller Intensität handelt, gehört zu dieser Gruppe, die durch große Rücksichtslosigkeit und krassen Egoismus gekennzeichnet ist. Es sei hier 1S ) Dazu MERGEU, Methodik kriminalbiologischer Untersuchungen. 1953. Dort weitere Literaturhinweise. 14 ) 1. c. S. 297. 15 ) Eingehend werden diese Probleme von FREY behandelt, der auch eine ganze Anzahl von Beispielen wiedergibt. Wenn diese Beispiele auch Jugendliche betreffen, so sind sie doch auch für die Beurteilung Erwachsener von Bedeutung.

120

Das Strafrecht

auf etwas hingewiesen, was m. E. nicht immer richtig erkannt wird: Haltlosigkeit wird öfters der Willensschwäche gleichgesetzt. Das ist nicht richtig: es gibt Menschen, denen der innere Halt, etwa an einer religiösen Überzeugung, an ethischen Grundsätzen fehlt. Sie sind gewiß haltlos, können aber bei der Durchführung ihrer kriminellen Handlungen eine große Energie und Zielstrebigkeit aufbringen; andere, die etwa einen religiösen Halt gefunden haben, versagen wegen ihrer Willensschwäche trotz dieses Halts. Unter den Betrügern finden sich namentlich geltungssüchtige Psychopathen, deren Hinterhältigkeit, Scheinheiligkeit, Gemeinheit sich nicht selten darin zeigt, daß sie sich bei ihren Taten übler Vertrauensbrüche schuldig machen. Wenn mit ihrer Geltungssucht Gemütskälte zusammentrifft, wenn sie dazu noch die nötige Intelligenz besitzen, so sind es die prädestinierten Betrüger und Hochstapler. Eine letzte Gruppe der impulsiven Psychopathen zeigt nach F B E Y keine Bevorzugung bestimmter Delikte. Bei ihnen fehlt die Planmäßigkeit; gewisse Delikte, namentlich Tätlichkeitsdelikte, Widerstand usw. kommen bei ihnen relativ häufig vor. Im ganzen gehören sie, wenn nicht andere Eigenschaften dazu treten, zu den polytropen Verbrechern. Aufgabe des Gutachters ist es also in erster Linie, aus seinen Untersuchungen des Täters selbst und aus der Art der von ihm begangenen Delikte sich ein Bild über seine Persönlichkeit zu machen. Er hat sich aber weiter um die Aufklärung einer ganzen Reihe von Fragen zu bemühen, der Fragen nämlich, die in den von S C H I E D T und F B E Y aufgestellten Listen aufgeführt sind16). Auch hier können nur einige Hinweise gegeben werden. Zur Frage der erblichen Belastung kommt es weniger auf Belastung mit Geisteskrankheiten an; wichtiger ist es zu wissen, welche Art von Persönlichkeiten namentlich die Eltern sind oder waren, ob bei ihnen auffallende Eigenschaften irgendwelcher Art erkennbar sind. Von den Großeltern ist in der Regel nicht viel zu erfahren. Dagegen gelingt es meistens, ein gewisses Bild der Geschwister zu gewinnen. Sichere Angaben über etwaige Kriminalität der Eltern oder anderer Verwandter erhält man nur auf dem Wege über das Gericht oder die Staatsanwaltschaft. Wichtig ist auch die Einstellung des Täters zur Tat; dabei ist freilich zu beachten, ob die etwa gezeigte Reue echt ist, ob sie nicht nur aus Zweckmäßigkeitsgründen demonstriert wird. Namentlich bei Sittlichkeitsverbrechern hat man nicht selten 16

) Erschwert wird das durch ein neuerliches durchaus berechtigtes Urteil des Bundesgerichtshofs vom 7. 6. 1956, 3 StR 156/56 (zum § 250 StPO). Danach darf das Gericht Nachrichten, die sich der Sachverständige z. B. durch Befragen der Eltern oder der Ehefrau verschafft, oder Zeugnisse von Arbeitgebern, die er einholt, nicht ohne weiteres als richtig unterstellen, muß vielmehr unter Umständen die Auskunfterteilenden als Zeugen vernehmen. Trotz dieser Entscheidung wird es zweckmäßig sein, sich Nachrichten, die wichtig sein können, zu beschaffen und dann dem Gericht anheimzustellen, was davon durch Zeugenvernehmung erhärtet werden soll. Krankengeschichten und ärztliche Auskünfte fallen nicht unter die nachzuprüfenden Unterlagen.

Die Beurteilung der sozialen Prognose

121

den Eindruck, daß alles das, was als Reue, als Einsicht gezeigt wird, im Grunde unecht ist, daß derartige Handlungen -— etwa Wechsel seitige Masturbation eines Jugendführers mit den ihm anvertrauten Jungen — eigentlich als gutes Recht angesehen werden. Es ist weiter zu untersuchen, wie der bisherige äußere Werdegang verlaufen ist; dabei scheue man sich nicht, genaue Angaben über Schulbesuch, berufliche Ausbildung, Arbeitsstellen chronologisch festzulegen und, soweit nötig, nachzuprüfen. Dabei kommt es nicht allein auf die Leistungen an, sondern auf den Arbeitswillen, die Zuverlässigkeit, das Gesamtverhalten. Die Neigung zu übermäßigen Ausgaben, zu Angebereien pflegt schon frühzeitig hervorzutreten. Weiter ist zu beachten das Milieu des Elternhauses, das Verhältnis der Eltern zueinander, die Stellung innerhalb der Geschwisterreihe, die Wohnverhältnisse, die für die sexuelle Entwicklung bedeutsam sein können, die eigenen Interessen, die Neigung zum Alkohol usw. Dazu kommen besondere Erlebnisse, und auch die Bedeutung von gewissen Allgemeinerscheinungen (Nachkriegszeit) ist zu beachten. Wichtig ist weiter die Art der Kriminalität, auf die bereits hingewiesen ist, namentlich auch das Tempo der Rückfälligkeit, die sozialen Verhältnisse nach Verbüßung von Strafen, die Frage, ob ein wirklich verständlicher Anlaß für ein Rückfalldelikt gegeben war. Auch das Alter ist zu beachten; der schwere Diebstahl erfordert Kraft, Geschicklichkeit, Gewandtheit. Diese lassen mit dem Alter nach, so daß die Prognose in höherem Alter sich bessert. Der Betrüger dagegen kann sein Tun auch in höherem Alter noch fortsetzen; Heiratsschwindler arbeiten noch mit fast 70 Jahren mit Erfolg. Beachtlich ist weiter das Verhalten während der Strafhaft: dabei kommt es nicht allein darauf an, ob sich der Gefangene in die Ordnung der Strafanstalt einfügt. Gutes Verhalten sagt an sich noch nichts über das zukünftige Leben; denn die Gründe, auf denen ein solches Verhalten beruht, sind durchaus unterschiedlich: der willensschwache Psychopath pflegt sieh, wenn er nicht zufällig von anderen Strafgefangenen in übler Weise beeinflußt wird, im allgemeinen anzupassen, er macht keine größeren Schwierigkeiten. Trotzdem kann er nach der Entlassung bei der ersten Gelegenheit wieder versagen. Auch der erfahrene Gewohnheitsverbrecher kann in der Strafanstalt sich ordentlich führen, und manche geltungssüchtigen Betrüger sind stolz auf „Vertrauensstellungen", die ihnen gegeben werden. Auch daraus lassen sich weder günstige noch ungünstige Schlüsse für die Zukunft ziehen. Ungünstig für die Prognose ist dagegen schlechtes Allgemeinverhalten: schlechte Arbeitsleistungen, querulatorische Tendenzen, übler Einfluß auf andere Gefangene, anmaßendes, großtuerisches Wesen. Immer wird man versuchen müssen, hinter die äußere Passade zu sehen, sich ein Urteil zu bilden über das, was in dem Menschen vorgeht, den wir zu beurteilen haben. Reue, die nicht selten angenommen wird, ist etwas Gutes, sie muß aber echt sein. Nützlich für die Beurteilung dieser Frage sind die Strafanstaltsakten.

122

Das Strafrecht

Schließlich sind auch die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, in die ein Verurteilter nach seiner Entlassung kommt, zu prüfen. Kann man ihm rechtzeitig Arbeit verschaffen ? Wo kann er unterkommen ? In seiner Familie ? Bei Bekannten ? Oder in einem Heim, in dem als Notbehelf eine ganze Reihe entlassener Krimineller untergebracht ist ? Ist jemand da, der sich seiner annimmt, so daß er einen gewissen Halt hat ? Welcher Art sind seine Bekannten, welcher Art ist seine Familie ?17) Insgesamt hat man sich auf Grund dieser äußeren Umstände, vornehmlich aber auf Grund der sich daraus ergebenden Persönlichkeit ein Urteil zu bilden; man t u t dann gut, seine auf diese Weise gewonnene Prognose an Hand der oben wiedergegebenen Methoden zu kontrollieren. Man kommt auf diese Weise zu einer Wahrscheinlichkeit; etwas Sicheres kann man nur in Ausnahmefällen sagen. Die hier behandelten Fragen sind nicht nur für die erstmalige Unterbringung von Bedeutung; Sicherungsverwahrte haben die natürliche Tendenz, ihre Verwahrungszeit zu beenden. Stellen sie entsprechende Anträge, so taucht die Frage auf, ob sich bei ihnen selbst, in ihrer Persönlichkeit etwas geändert hat, und weiter ist die schon besprochene Frage nach den äußeren Lebensverhältnissen von Bedeutung. Die Erfahrungen, die man mit der Entlassung von Sicherungsverwahrten gemacht hat, sind nicht ermutigend; DREHER18) hat von einigen Jahren mit Recht vor zu schnellen Entlassungen gewarnt. Ganz überwiegend handelt es sich doch um Anlagetäter, und bei diesen kann eine wirkliche Änderung nicht erwartet werden 19 ). Auch dabei kommt es jedoch auf die Art der Delikte an: bei Tätlichkeits- und bestimmten Sittlichkeitsverbrechen wird die Prognose mit zunehmendem Alter besser. Auch besonders ungünstige Umweltbedingungen können einmal zur Entwicklung einer Verbrechensneigung führen. Daß die zukünftigen Verhältnisse von Bedeutung sind, zeigen folgende von S C H I E D T und S C H W A A B mitgeteilten Zahlen: Bei

500

unausgelesenen Fällen fand

SCHIEDT20):

von 56, die in gute Verhältnisse kamen, wurden rückfällig 14%, von 339, die in normale Verhältnisse kamen, wurden rückfällig 44%, von 105, die in schlechte Verhältnisse kamen, wurden rückfällig 83%.

Die entsprechenden Zahlen bei 400 vorbestraften Vermögensverbrechem, über die SCHWAAB21) berichtet hat, lauten: Von 42 in günstigen Verhältnissen 17 ) Ich hatte kürzlich einen Betrüger zu begutachten, der zu seiner Mutter gekonnt hätte. Diese hatte aber während seines ganzen Lebens seine Verstöße gegen die Ordnung — Schulschwänzen, Betrügereien — gedeckt, war selbst wegen gemeinsam mit ihm begangener Delikte bestraft, hatte während seiner Haft immer wieder Durchsteckereien versucht. 18 ) Deutsche Richterzeitung 35, 1957, S. 51.

") 20

E X N E R : 1. c. S . 3 1 4 .

) 1. c. S. 62. 21 ) 1. c. S. 47.

Die strafrechtliche Behandlung der Jugendlichen und Heranwachsenden

123

wurden 5%, von 144 in normalen Verhältnissen 42%, von 214 in schlechten Verhältnissen 89% rückfällig. Für die Strafgefangenen, die nach dem Ablauf von zwei Dritteln ihrer Strafzeit den Entlassungsantrag stellen, werden die bisherigen Ausführungen ebenfalls Anwendung finden können; die Situation ist freilich insofern eine andere, als es sich keineswegs immer um Gewohnheitsverbrecher handelt. Daher wird das entsprechende Gericht auch seltener die Hilfe eines Sachverständigen in Anspruch nehmen. Das geschieht vornehmlich dann, wenn etwa zwischen Verteidigung und Gericht Meinungsverschiedenheiten bestehen, die auf diese Weise geklärt werden sollen. In allen Fällen, das sei noch einmal betont, kann absolute Sicherheit kaum einmal erreicht werden 22 ).

10. Die strafrechtliche Behandlung der und Heranwachsendenx)

Jugendlichen

Kinder und Jugendliche sind, wenn sie eine mit Strafe bedrohte Handlung begangen hatten, von jeher im allgemeinen milder beurteilt worden als Erwachsene; entweder bestrafte man sie überhaupt nicht, oder man setzte die Strafe mehr oder weniger herab. Im ganzen aber behandelte man sie wie Erwachsene: die Strafe diente auch bei ihnen der Vergeltung und der Abschreckung, und es kamen die gleichen Strafen zur Anwendung, denen auch der Erwachsene unterlag. Lediglich machte sich in den letzten Jahrhunderten allmählich die Tendenz bemerkbar, die Altersgrenze, von der ab der Täter voll strafmündig erschien, nach oben zu verschieben. Noch das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 hatte jedoch das 12. Lebensjahr als Grenze und regelte das gesamte Jugendstrafrecht in drei Paragraphen (§§ 55—57). Erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts begann sich allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, daß das Kind, daß auch der Jugendliche nicht einfach ein kleiner Erwachsener sei, daß daher auch eine andere, auf ihn zugeschnittene Behandlung nötig sei. Sonderbestimmungen für jugendliche Rechtsbrecher sind erst eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Bahnbrechend auf diesem Gebiete war England, das zwar auch jetzt noch kein in sich abgeschlossenes Jugendstrafrecht besitzt, das aber ein vollständig aus22 ) Ergänzend zu diesem Kapitel sei noch auf folgende Veröffentlichungen hingewiesen: STUMPFL, Die Ursprünge des Verbrechens. 1936; von NEUREITER, Kriminalbiologie 1940; von ROHDEN, Einführung in die kriminalbiologische Methodenlehre, 1 9 3 3 ; L E N Z , Grundriß der Kriminalbiologie, 1 9 2 7 ; ASCHAFFEIS BÜRG, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, 1933; KRANZ, Lebensschicksale krimineller Zwillinge, 1936; Mitteilungen der Krim.biol.Gesellschaft Bd. 6: Der Jugendliche im Lichte der Kriminalbiologie, W. Steinebach, München 1951; SEELIG, Lehrbuch der Kriminologie,

1 9 5 1 ; SAUER, K r i m i n o l o g i e , 1 9 5 0 ; E . MEZGER, Kriminologie, 1 9 5 1 ; NASS, E r f o r s c h u n g

der Täterpersönlichkeit im Ermittlungsverfahren; STUMPFL, Kriminalität und Vererbung im Handbuch der Erbbiologie des Menschen, Bd. V, Teil II, S. 1254. S. dazu DALLINGER-LACKNER, Jugendgerichtsgesetz, Kommentar. 1955.

124

Das Strafrecht

gebautes, vorwiegend auf der „Probation of Offenders Act" von 1907 und der „Children Act" von 1908 beruhendes System entwickelt hat. Dieses besteht im wesentlichen darin, daß die jüngeren Minderjährigen in Erziehungsoder Besserungsanstalten, die älteren anstatt in eine Strafanstalt in eine sog. Borstalschule 2 ) kommen, wo sie während einer unbestimmten, nur innerhalb gewisser Grenzen festgelegten Zeit erzogen und an ein geregeltes Leben gewöhnt werden. Dazu kommt die Möglichkeit, einen Angeklagten unter Auferlegung bestimmter Bedingungen und gegen Abgabe einer Friedensbürgschaft vorläufig unbestraft zu lassen. 1912 folgte Belgien, 1913 Ungarn mit Sonderbestimmungen, die sich in Ungarn an das französische System anschlössen, d. h. die Prüfung der Einsichtsfähigkeit einbezogen. Erst nach Beendigung des ersten Weltkrieges sind dann im Laufe der Zeit in allen Kulturstaaten besondere Bestimmungen für jugendliche Verbrecher geschaffen worden 3 ). In Deutschland setzte sich namentlich unter dem Einfluß der Strafrechtsschule Franz v. Liszts allmählich die Ansicht durch, daß die Strafe gerade bei Jugendlichen auch andere Zwecke verfolgen müsse4). Zunächst versuchte man, diese neue Auffassung in die Reformpläne für ein allgemeines deutsches Strafrecht einzubauen. Nachdem diese Versuche aus verschiedenen Gründen mißlungen waren, und nachdem der erste Weltkrieg die Arbeiten unterbrochen hatte, entschloß sich der damalige Reichsjustizminister Dr. SCHIFFER ZU einer selbständigen Behandlung des Jugendstrafrechts. Das Ergebnis dieser Bemühungen war das Jugendgerichtsgesetz vom 16. 2. 1923. Dieses Gesetz brachte mancherlei Fortschritte; es brachte namentlich den Gedanken der Erziehung des Täters: der Richter hatte, wenn er die Schuld des Täters festgestellt hatte, nunmehr zu prüfen, was zu geschehen sei, um den Täter vor weiteren Rückfällen zu bewahren und ihn wieder auf den rechten Weg zurückzuführen. Für kleinere Vergehen konnte er daher von einer Strafe absehen und statt dieser Erziehungsmaßregeln anordnen, und er hatte weiter die Möglichkeit, eine Freiheitsstrafe auszusetzen. Diese Möglichkeit war freilich noch mit manchen Mängeln behaftet: sie konnte auch bei schwerer Kriminalität angewandt werden, die Tätertypen wurden nicht genügend gewürdigt, die Aussetzung wurde als eine bloße Wohltat für den Täter angesehen, dem das weitere dann überlassen blieb. Vorzüge gegenüber der früheren Regelung bestanden weiter darin, daß besondere Jugendgerichte eingerichtet wurden, die von gerade auf diesem Gebiet erfahrenen Richtern, Jugendschöffen und Jugendstaatsanwälten besetzt sein sollten. Mit der Einschaltung der Jugendgerichtshilfe konnte man 2

) BOBSTAL ist der Ort, wo diese Schulen zuerst entstanden sind. Näheres darüber

bei EXNER, M K r P s . 21, 1 9 3 0 , S. 4 7 3 , QTTENTIN u n d SIEVERTS, B l . f. G e f ä n g n i s k d e .

68, 1937, S. 165 und SIEVERTS, ZStW 50, S. 551. 3

) PARZINGER, Die Jugend im Strafrecht des In- und Auslandes. 1919—1939. Berlin 1941. 4 ) Von den damaligen Psychiatern hat namentlich ASCHAFFENBURG wesentlich an diesem Wandel der Auffassung mitgewirkt.

Die strafrechtliche Behandlung der Jugendlichen und Heranwachsenden

125

auch die Lebensverhältnisse der Jugendlichen besser erforschen. Schließlich wurde die NichtÖffentlichkeit der Verhandlungen eingeführt, die Möglichkeit der Untersuchungshaft eingeschränkt und die Ermittlung der persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten vorgeschrieben. Nach diesem Gesetz war ein Jugendlicher •— als solcher galt, wer über 14, aber noch nicht 18 Jahre alt war — nicht strafbar, „wenn er zur Zeit der Tat nach seiner geistigen oder sittlichen Entwicklung unfähig war, das Ungesetzliche der Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen."

Das Gesetz schloß sich insofern dem. französischen System an, als es die Prüfung des Unterscheidungsvermögens, des sog. discernement, beibehielt. Darüber hinaus aber entwickelte es die Definition der Strafmündigkeit weiter, indem es neben der nötigen Reife des Verstandes auch eine entsprechende Entwicklung des Willens verlangte. Bald nach 1923 setzten die Erörterungen über eine Weiterbildung des Jugendstrafrechts wieder ein; die Entwicklung hat auch nach 1933 keine folgenschweren Rückschläge, sondern eine kontinuierliche Fortbildung gebracht, die im Reichsjugendgerichtsgesetz von 1943 ihren Ausdruck fand. Dieses Gesetz läßt zwar in einzelnen Bestimmungen, die nach 1945 kaum noch zur Anwendung kamen, nationalsozialistisches Denken erkennen, etwa in der Auflockerung der unteren Altersgrenze bis zum 12. Lebensjahr, in der Behandlung der älteren Jahrgänge nach dem Erwaehsenenstrafrecht, wenn es sich um charakterlich abartige Schwerverbrecher handelte, im ganzen ist aber gegenüber dem Gesetz von 1923 ein erheblicher Fortschritt unverkennbar: es wurde der Jugendarrest eingeführt, weiter die Jugendgefängnisstrafe und damit eine überwiegend pädagogische Behandlung in den entsprechenden Anstalten möglich gemacht; es wurde eine Mindestdauer der Strafe von 3 Monaten festgesetzt und so die Verhängung der erzieherisch sinnlosen Kurzstrafen vermieden; es wurde namentlich die Jugendgefängnisstrafe von unbestimmter Dauer eingeführt und die Dauer der Strafe selbst in gewisser Weise von der Tat unabhängig gewählt, so daß nicht die Vergeltung, sondern der erziehliche Einfluß das wichtigere wurde. Dementsprechend wurde auch die Einheitsstrafe eingeführt, so daß auch bei mehreren Verfehlungen nur eine einheitliche Reaktion erfolgte. Daneben wurden die Vorschriften über die Vollstreckung und den Vollzug verbessert und die Möglichkeit geschaffen, den Strafmakel durch Richterspruch nach relativ kurzer Zeit zu beseitigen. Dagegen wurde die Strafaussetzung auf Probe wieder aufgegeben. Die besondere Behandlung der Halberwachsenen war wegen der Kriegsereignisse nicht recht möglich; sie unterblieb noch, obwohl Erörterungen darüber schon im Gange waren. Dieses Gesetz bedeutete, und darin lag sein zweifelloser Fortschritt, eine grundsätzliche Abkehr von der früheren Methode: nicht mehr wie ein „kleiner Erwachsener", sondern jugendgemäß, nach seinem eigenen Wesen, sollte der jugendliche Täter beurteilt werden. Dementsprechend trat auch die erzieh-

126

Das Strafrecht

liehe Tendenz im Gesetz klar zutage. Nicht nur sühnen wollte es, sondern durch die Art der Sühne zugleich den Täter sittlich heben und ihn wieder in die Gemeinschaft einordnen. Sowohl die Erziehungsmaßregeln als auch die Zuchtmittel (Jugendarrest, Auferlegung besonderer Pflichten, Verwarnung) dienten diesem Gedanken. Nach dem letzten Kriege traten dann bald Bestrebungen hervor, diese Tendenzen weiter zu führen 6 ). Nach mancherlei Vorarbeiten, die namentlich darauf abzielten, die in das Gesetz von 1943 eingeschlossenen nationalsozialistischen Gedanken zu beseitigen und einige dringend geforderte Reformen nachzuholen, ist dann nach einer sehr wesentlichen Ausweitung durch Ausschüsse des Bundestages das Jugendgerichtsgesetz vom 4. 8. 1953 geschaffen worden. Gegenüber dem Gesetz von 1943 bringt das jetzt gültige Gesetz eine Reihe bedeutsamer Neuerungen, von denen die auch für den Sachverständigen wichtigsten hier zunächst kurz angeführt sein mögen. §1 (1) Dieses Gesetz gilt, wenn ein Jugendlicher oder ein Heranwachsender eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist. (2) Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist. (3) Strafrechtlich ist nicht verantwortlich, wer zur Zeit der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist. §5 (1) Aus Anlaß der Straftat eines Jugendlichen können Erziehungsmaßregeln angeordnet werden. (2) Die Straftat eines Jugendlichen wird mit Zuchtmitteln oder mit Jugendstrafe geahndet, wenn Erziehungsmaßregeln nicht ausreichen. (3) Von Zuchtmitteln und Jugendstrafe wird abgesehen, wenn die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt die Ahndung durch den Richter entbehrlich macht. §7 Als Maßregeln der Sicherung und Besserung im Sinne des allgemeinen Strafrechts können nur die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder die Entziehung der Erlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen angeordnet werden (§42a Nr. 1 und 7 des Strafgesetzbuchs). §9 Erziehungsmaßregeln sind 1. die Erteilung von Weisungen, 2. die Schutzaufsicht. 3. die Fürsorgeerziehung.

Weisungen (§ 10) sind Gebote und Verbote, die die Lebensführung der Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen. Sie werden weitgehend abhängig sein von der Situation, in der sich der Jugendliche befindet; unter anderem kann der Richter dem Jugendlichen mit 6

) PETERS,

Werdendes Jugendstrafrecht. Bonn 1947.

Die strafrechtliche Behandlung der Jugendlichen und Heranwachsenden

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Zustimmung des Erziehungsberechtigten auferlegen, sich einer heilerzieherischen Behandlung zu unterziehen (§ 10, Abs. 2). §13 (1) Der Richter ahndet die Straftat mit Zuchtmitteln, wenn Jugendstrafe nicht geboten ist, dem Jugendlichen aber eindringlich zum Bewußtsein gebracht werden muß, daß er für das von ihm begangene Unrecht einzustehen hat. (2) Zuchtmittel sind 1. die Verwarnung, 2. die Auferlegung besonderer Pflichten, 3. der Jugendarrest. (3) Zuchtmittel haben nicht die Rechtswirkung einer Strafe. Sie werden nicht in das Strafregister eingetragen und begründen nicht die Anwendung von strafrechtlichen Rückfallvorschriften.

Dazu ist hinsichtlich des Jugendarrests auf seine Formen — Freizeitarrest, Kurzarrest, Dauerarrest — hinzuweisen, die im einzelnen in § 16 geregelt sind. Die Jugendstrafe ist in den §§ 17—19 geregelt, die wegen ihrer Wichtigkeit wörtlich wiedergegeben seien: §17 (1) Die Jugendstrafe ist Freiheitsentzug in einer Jugendstrafanstalt. (2) Der Richter verhängt Jugendstrafe, wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen, oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist. §18 (1) Das Mindestmaß der Jugendstrafe beträgt sechs Monate, das Höchstmaß fünf Jahre. Handelt es sich bei der Tat um ein Verbrechen, für das nach dem allgemeinen Strafrecht eine Höchststrafe von mehr als zehn Jahren Zuchthaus angedroht ist, so ist das Höchstmaß zehn Jahre. Die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts gelten nicht. (2) Die Jugendstrafe ist so zu bemessen, daß die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist. §19 (1) Der Richter verhängt Jugendstrafe von unbestimmter Dauer, wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen, die in der T a t hervorgetreten sind, eine Jugendstrafe von höchstens vier Jahren geboten ist und sich nicht voraussehen läßt, welche Zeit erforderlich ist, um den Jugendlichen durch den Strafvollzug zu einem rechtschaffenen Lebenswandel zu erziehen. (2) Das Höchstmaß der Jugendstrafe von unbestimmter Dauer beträgt vier Jahre. Der Richter kann ein geringeres Höchstmaß bestimmen oder das Mindestmaß (§18 Abs. 1) erhöhen. Der Unterschied zwischen dem Mindest- und dem Höchstmaß soll nicht weniger als zwei Jahre betragen. (3) Die Jugendstrafe von unbestimmter Dauer wird nach den für das Vollstrekkungsverfahren geltenden Vorschriften (§ 89 Abs. 3 und 4) in eine bestimmte Jugendstrafe umgewandelt, sobald der Jugendliche aus dem Strafvollzug entlassen wird.

Eine Neuerung gegenüber dem Gesetz von 1943 ist die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung (§ 20) und die Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe (§ 27). Im ersten Fall wird eine ausgesprochene Strafe, die

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Das Strafrecht

nicht mehr als ein Jahr betragen darf, ausgesetzt; im zweiten Fall wird vom Richter zwar die Schuld festgestellt, mit der Verhängung einer Strafe aber gewartet in der Hoffnung, daß der Jugendliche sich wieder einordnet. In beiden Fällen soll ein Bewährungshelfer die Lebensführung des Jugendlichen, die Erfüllung der ihm erteilten Weisungen und auferlegten Pflichten beaufsichtigen. Wichtig für den Sachverständigen ist der §21, der die Voraussetzungen für die Aussetzung der Jugendstrafe behandelt. §21 Der Richter darf die Vollstreckung der Jugendstrafe nur aussetzen, wenn die Persönlichkeit des Jugendlichen und sein Vorleben in Verbindung mit seinem Verhalten nach der Tat oder einer günstigen Veränderung seiner Lebensumstände erwarten lassen, daß er infolge der Aussetzung und unter der erzieherischen Einwirkung in der Bewährungszeit künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird. Der Richter soll auch berücksichtigen, ob der Vollzug der Jugendstrafe eine Erziehungsmaßregel gefährden würde.

Aus dieser Darstellung ergeben sich gegenüber dem Gesetz von 1943 neben zahlreichen Verbesserungen und Ergänzungen zwei wesentliche Neuerungen: die Erhöhung des Mindestmaßes der Jugendstrafe von 3 auf 6 Monate und die Aussetzung der Jugendstrafe bzw. ihrer Verhängung auf Bewährung. Schon der Ausdruck „Jugendstrafe" an Stelle des früheren „Jugendgefängnis" zeigt den prinzipiellen Unterschied gegenüber dem Erwachsen enstrafrecht an: die Zielsetzung ist rein erzieherisch geworden. Drei Monate, von denen womöglich noch Untersuchungshaft abgeht, genügen aber in keinem Falle, einen erzieherischen Erfolg zu erzielen. Schwierigkeiten können dabei auftreten, wenn es sich um eine Tat handelt, für deren Ahndung Zuchtmittel nicht ausreichen, eine Strafe von 6 Monaten aber zu schwer erscheint. Dann stehen dem Richter die anderen Möglichkeiten — etwa Jugendstrafe, aber Aussetzung mit Auferlegung besonderer Pflichten —• zur Verfügung. Die Aussetzung der Strafe war schon im Gesetz von 1923 enthalten; sie hatte sich aber, wie schon erwähnt, wenig bewährt, weil man den Jugendlichen sich selbst überließ. Inzwischen sind im Ausland reichlich Erfahrungen gesammelt, und von den jetzigen Bestimmungen, die diese Erfahrungen berücksichtigen, darf man hoffen, daß sie bessere Ergebnisse bringen werden. Wichtig ist dabei zweierlei: der Richter soll dem Jugendlichen für die Bewährungszeit Weisungen erteilen oder ihm Pflichten auferlegen; dazu kommt, daß ein hauptamtlicher Bewährungshelfer zur Beaufsichtigung zur Verfügung steht. Das scheint besonders wichtig, weil von der Art der Aufsicht, von dem persönlichen Kontakt des Bewährungshelfers mit dem Jugendlichen, von seinem Verständnis und seiner Fähigkeit, auf berechtigte Wünsche des Jugendlichen einzugehen, außerordentlich viel abhängt. Das kann aber nur jemand, der die nötigen Erfahrungen gesammelt hat, und der sich dieser Aufgabe wirklich voll widmen kann. Daß solche Erfahrungen nicht in kurzer Zeit erworben werden können, liegt auf der Hand; es wird einer längeren Einlaufzeit bedürfen, ehe man sich über den Erfolg dieser Bestimmungen ein Urteil bilden kann.

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Für den Sachverständigen sind abgesehen v o n dem schon erwähnten § 21 folgende Bestimmungen wichtig: §3 Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter dieselben Maßnahmen anordnen wie der Vormundschaftsrichter. §43 (1) Nach Einleitung des Verfahrens sollen so bald wie möglich die Lebens- und Familienverhältnisse, der Werdegang, das bisherige Verhalten des Beschuldigten und alle übrigen Umstände ermittelt werden, die zur Beurteilung seiner seelischen, geistigen und charakterlichen Eigenart dienen können. Der Erziehungsberechtigte und der gesetzliche Vertreter, die Schule und der Lehrherr oder der sonstige Leiter der Berufsausbildung sollen, soweit möglich, gehört werden. Die Anhörung des Lehrherrn oder Ausbildungsleiters unterbleibt, wenn der Jugendliche davon unerwünschte Nachteile, namentlich den Verlust seines Arbeitsplatzes, zu besorgen hätte. § 38 Abs. 3 ist zu beachten. (2) Bei Fürsorgezöglingen erhält die Fürsorgeerziehungsbehörde Gelegenheit zur Äußerung. (3) Soweit erforderlich, ist eine Untersuchung des Beschuldigten, namentlich zur Feststellung seines Entwicklungsstandes oder anderer für das Verfahren wesentlicher Eigenschaften herbeizuführen. Nach Möglichkeit soll ein zur kriminalbiologischen Untersuchung von Jugendlichen befähigter Sachverständiger mit der Durchführung der Anordnung beauftragt werden. §73 (1) Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungsstand des Beschuldigten kann der Richter nach Anhören eines Sachverständigen und des Verteidigers anordnen, daß der Beschuldigte in eine zur kriminalbiologischen Untersuchung Jugendlicher geeignete Anstalt gebracht und dort beobachtet wird. Im vorbereitenden Verfahren entscheidet der Richter, der für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständig wäre. (2) Gegen den Beschluß ist sofortige Beschwerde zulässig. Sie hat aufschiebende Wirkung. (3) Die Verwahrung in der Anstalt darf die Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten. Daraus ergeben sich die dem Sachverständigen zufallenden Aufgaben: er hat die Fragen der Verantwortlichkeit, der Prognose, evtl. auch der Erziehbarkeit der Jugendlichen zu klären. Bei der Frage nach der Verantwortlichkeit ist zunächst zu prüfen, ob e t w a die Voraussetzungen des § 51 S t G B vorliegen. D a s wird nur ausnahmsweise der Fall sein. Liegen sie vor, erübrigt sich die weitere Untersuchung. Die Verantwortlichkeit geistig gesunder Jugendlicher ist durch den oben wiedergegebenen § 3 JGG geregelt. Der Wortlaut dieses Paragraphen ist der gleiche geblieben wie im Gesetz v o n 1943. Gegenüber der Fassung v o n 1923 unterscheidet er sich in mehreren Punkten. Zunächst ist die Verantwortlichkeit jetzt positiv bestimmt, während sie früher negativ formuliert war. Dadurch wird für den Gutachter nichts geändert. D a für die Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Täter reif genug sein muß, sowohl das 9 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Das Strafrecht

Unrecht der Tat einzusehen als auch nach dieser Einsicht zu handeln, genügt das Fehlen einer dieser Fähigkeiten, um die Verantwortlichkeit auszuschließen. Anders liegt die Sache iür den Richter: die positive Fassung zwingt ihn in viel stärkerem Maße als die negative, die Frage der Verantwortlichkeit zu prüfen. Der Ausdruck „reif" an Stelle des früheren „fähig" ändert sachlich nichts; es verdeutlicht nur „den biologisch-psychologischen Vorgang des Hineinwachsens" des Jugendlichen in die Gemeinschaft 6 ). Der Ausdruck,,Unrecht'' an Stelle des früheren, ,das Ungesetzliche'' soll bedeuten, daß der Jugendliche befähigt sein muß zu erkennen, „daß seine Handlung vom Recht mißbilligt wird, d. h. daß sie mit einem geordneten und friedlichen Zusammenleben der Menschen unverträglich ist und daher nach der Rechtsordnung nicht geduldet werden kann (RG in DR 1944, S. 659). Recht und Unrecht muß der Jugendliche nicht nur allgemein auseinanderhalten, sondern gerade den Unrechtscharakter seiner konkreten Handlung zutreffend beurteilen können". Nicht verlangt wird dagegegen die Fähigkeit, das Tun als eine den Strafgesetzen zuwiderlaufende oder strafbare Handlung zu erkennen (RGSt. 68, S. 99; RG in DR 1944, S. 659)7). Nicht ganz so einfach erscheint der Unterschied gegenüber „das Unerlaubte" im § 51 StGB. DALLINGER-LACKNER meinen zwar, sachlich dürfte die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen, gleichbedeutend sein mit der im § 51 StGB geforderten Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen. Uns will es scheinen, der Begriff des Unerlaubten sei der weiteste der in Betracht kommenden Ausdrücke, der des Ungesetzlichen der engste, während der des Unrechts zwischen beiden steht. Die Ansicht von K O H L R A U S C H - L A N G E 8 ) , das Unerlaubte sei „rechtsfreier" als das Unrecht, scheint uns richtig zu sein, und DALLINGER-LACKNER sagen schließlich selbst, die Fähigkeit, lediglich das Unmoralische oder Sittenwidrige — und das ist doch das Unerlaubte — des Verhaltens einzusehen, genüge nicht; denn Unmoral sei nicht immer gleichbedeutend mit Unrecht 9 ). Die Prüfung des Reifegrades erfordert eine besondere Kenntnis der Jugendpsychologie und der Kriminalbiologie; es ist daher die Frage aufgeworfen, wer für diese Prüfung sachverständig sei, der Psychologe oder der Psychiater. Ich würde für schwierige Fälle eine Zusammenarbeit beider für nützlich halten. In jedem Falle müssen außerdem Kenntnisse auf dem Gebiete der Kriminalbiologie 10 ) vorhanden sein. Ist ein ausgebildeterJugendpsychiater zur 6 ) PETERS, Reichsjugendgerichtsgesetz v. 6.11.1943. 2. Aufl. W. de Gruyter & Co., Berlin 1944, S. 35; s. auch S. 26.

') DALLINGER-LACKNER, S. 102. 8 ) Zit. v o n DALLINGEE-LACKNEB.

') Das Reichsgericht hat einen ähnlichen Standpunkt vertreten (RGSt. 68, S. 137), wenn es sagt, bei der Unfähigkeit, das Unerlaubte einzusehen, sei die Möglichkeit der Schuldausschließung gegenüber der Unfähigkeit, das Unrechtmäßige einzusehen, verengt. 10 ) Der Ausdruck „Kriminalbiologie", soweit er hier gebraucht ist, umfaßt auch die Kriminalpsychologie.

Die strafrechtliche Behandlung der Jugendlichen und Heranwachsenden

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Verfügung, sollte er ausreichen. H a t ein Psychiater keine ausreichenden Erfahrungen auf dem Gebiete der Jugendpsychologie, t u t man gut, einen Jugendpsychologen hinzuzuziehen. Gegen die alleinige Verwendung des Jugendpsychologen habe ich gewisse Bedenken: es ist manchmal keineswegs einfach, etwa eine beginnende Schizophrenie zu erkennen oder auszuschließen. Dafür fehlt dem Normalpsychologen in aller Regel die dazu erforderliche Erfahrung und Sachkenntnis. Dazu kommt, daß keineswegs selten zwar eine eigentliche psychische Krankheit nicht vorhanden ist, daß aber psychische Abartigkeiten, leichtere Intelligenzschwäche, namentlich aber abnorme Charakterzüge das Bild beeinflussen; in solchen Fällen wird der Jugendpsychiater die größere Erfahrung haben. Er wird leichter die oft recht schwierige Frage beantworten können, ob die etwa festgestellte ungesteuerte Triebhaftigkeit des Jugendlichen nur entwicklungsbedingt ist oder ob eine abartige Anlage oder Entwicklung die gesamte Persönlichkeit so in Mitleidenschaft zieht, daß die Voraussetzungen des § 51 StGB erfüllt sein können. Im übrigen wird es vornehmlich auf die Persönlichkeit des Sachverständigen ankommen. Im allgemeinen soll die Untersuchung so durchgeführt werden, daß der Jugendliche nicht aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen wird, das heißt ambulant. Ist er infolge seines Verhaltens in ein Erziehungsheim gekommen oder in Untersuchungshaft geraten, kann die Untersuchung damit verbunden werden. In Fällen, in denen eine ambulante Untersuchung aus irgendwelchen Gründen nicht zum Ziele führt, kann der Richter nach Anhörung eines Sachverständigen und des Verteidigers anordnen, daß der Beschuldigte in eine Anstalt gebracht wird, damit dort der Entwicklungsstand festgestellt wird (§ 73). Handelt es sich dabei um die Frage, ob etwa eine psychische Erkrankung vorliegt, wird man am besten eine psychiatrische Klinik oder Anstalt zur Begutachtung auswählen. In diesem Falle ist der § 81 StPO anzuwenden. Wenn dagegen nur der Verdacht auf eine zwar gestörte Entwicklung, wie sie etwa in der Pubertät vorkommt, vorhanden ist, soll eine Anstalt ausgewählt werden, die zur kriminalbiologischen Untersuchung besonders geeignet ist. Dafür sollten in erster Linie jugendpsychiatrische Kliniken und Anstalten, soweit solche vorhanden sind, ausgewählt werden. Auch bei der Auswahl der Anstalt kommt es m. E. in erster Linie auf die Persönlichkeit des Gutachters, auf seine jugendpsychologischen, -psychiatrischen und kriminalbiologischen Kenntnisse an. In Betracht kommt eine derartige Anordnung wohl nur dort, wo es sich um schwerere Taten handelt, bei denen eine längere Strafe oder eine Jugendstrafe von unbestimmter Dauer zu erwarten ist. In leichteren Fällen kann von einer Unterbringung selbst dann abgesehen werden, wenn Zweifel am Entwicklungsstand des Jugendlichen nicht völlig ausgeräumt werden können. Es soll jedoch durch die Unterbringung nicht nur die Frage geklärt werden, ob der Täter die nötige Reife hat; es soll auf diese Weise „der Entwicklungsstand" geprüft werden, um dem Richter die Auswahl des richtigen Reaktionsmittels zu ermöglichen. Das ist überhaupt eine sehr wichtige Aufgabe des 8»

Das Strafrecht

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Sachverständigen, der dadurch mithelfen soll, den besten Weg für dieWiedereinordnung des Jugendlichen zu finden. Aufgabe des Sachverständigen ist es demnach, ein Bild von der Persönlichkeit des Jugendlichen zu gewinnen 11 ). „Es kommt dabei auf die Persönlichkeit mit ihren ererbten körperlichen, geistigen, seelischen und charakterlichen Anlagen an, wie sie sich unter dem Einfluß innerer (endogener) und äußerer (exogener, umweltlicher) Faktoren tatsächlich entfaltet und entwickelt hat" 12 ). Alle diese Faktoren müssen in ihrem dynamischen Zusammenwirken, in ihrer inneren wechselseitigen Verflechtung gesehen werden. Bei der Prüfung der Umweltbedingungen ist die allgemeine Umwelt und die persönliche Umwelt zu unterscheiden und in ihrer Wirkung auf den Jugendlichen zu prüfen. Das Gesetz schreibt im § 43 Abs. 1 die Ermittlung der Lebens- und Familienverhältnisse, des Werdegangs, des bisherigen Verhaltens des Beschuldigten und aller der Umstände vor, die zur Beurteilung seiner seelischen, geistigen und charakterlichen Eigenart dienen können. Es sollen nach Möglichkeit der Erziehungsberechtigte, die Sehlde, der Lehrherr und sonstige Leiter der Berufsausbildung, soweit nicht unerwünschte Nachteile dadurch für den Beschuldigten zu besorgen sind, gehört werden. Das geschieht im allgemeinen durch die Jugendgerichtshilfe. In vielen Fällen wird es aber nützlich sein, sich ein Urteil aus eigener Kenntnis zu bilden. Namentlich wird man gut tun, die Eltern selbst zu sehen; man wird gelegentlich Hinweise dabei erhalten, die für die Beurteilung wichtig sind13). Besonders bedeutsam sind die Familienverhältnisse; oft gehen schon von ihnen erziehungswidrige Einflüsse aus. Es kommt darauf an, ob die Ehe der Eltern geordnet ist, ob sie ein gutes oder schlechtes Beispiel geben, ob der Jugendliche einziges Kind ist oder Geschwister hat, an welcher Stelle der Geschwisterreihe er steht, ob er zu streng oder zu nachsichtig behandelt ist, u

) Das Schrifttum über diese Fragen ist recht umfangreich; hier können nur einige Hinweise gegeben werden: Exner, Kriminologie, 3. Aufl., 1949; Frey, Der frühkriminelle Rückfallverbrecher, 1951; Bader, Soziologie der deutschen Nachkriegskriminalität, 1949; Mo.Krim. 36, 1953, S. 38; Illchmann-Chbist, Die forensisch-medizinische Beurteilung der Jugendlichen und Heranwachsenden in Ponsold, S. 61; Potryktjs, Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz; Landeskriminalamt Wiesbaden, Bekämpfung der Jugendkriminalität 1955 (Vortragssammlung). Der Jugendliche im Lichte der Kriminalbiologie, 1951, Vorträge, gehalten auf der 6. Tagung der Kriminalbiologischen Gesellschaft; Leferenz, Die Kriminalität der Kinder. Tübingen 1957; Spranger, Psychologie des Jugendalters, 22. Aufl. 1951; Tumlirz, Die Reifejahre, 1954. Dort ausführliche Literaturangaben; von Stookert, Einführung in die Psychopathologie des Kindesalters. 2. Aufl. 1949; Tramer, Leitfaden der jugendrechtlichen Psychiatrie. 1947. 12

) Dallinger-Laokner, S. 377.

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) Ein etwa 16jähriger Jugendlicher hatte ein gleichaltriges Mädchen, das sich ihm sexuell verweigert hatte, erwürgt und war hinterher durch seine Gefühlskälte aufgefallen, so daß der Verdacht einer beginnenden Schizophrenie auftauchte. Die als Zeugin in der Hauptverhandlung gehörte Mutter wirkte durch ihre Gefühlskälte geradezu erschütternd und erklärte so die Wesensart ihres Sohnes.

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ob er in der Familie das Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit hat. Nachteilig ist es, wenn die mütterliche Sorge durch Heimerziehung ersetzt wird, namentlich wenn das Heim alle paar Jahre gewechselt wird, so daß sich kein Heimatgefühl bilden kann. Wichtig ist weiter die Schule. Wird sie ohne Schwierigkeiten bewältigt, spricht das wenigstens für die intellektuelle Reife. Ein Versagen in der Schule kann verschiedene Ursachen haben, denen man unter Umständen nachgehen muß: ein Lehrer kann zum Lernen anspornen, ein anderer zum Nichtstun. Dem einen Lehrer kann der Jugendliche sympathisch sein, dem anderen unsympatisch. Daraus ergeben sich leicht Differenzen, Schwierigkeiten, Gegeneinstellungen. Frühzeitiges häufigeres Schulschwänzen ist immer verdächtig auf eine psychische Fehlentwicklung. Weiter kommen schon jetzt die äußeren Lebensbedingungen als Bildimgsfaktoren in Betracht: Wohlhabenheit und Luxus, einfache Bürgerlichkeit, dürftige Wohnverhältnisse, Stadt oder Land, weiter besondere Interessen — Kino, Sport, Neigung zum Lesen, Vergnügungen, Tanz, Freundes- und Kameradenkreis, Vereine, früher Jungvolk und ähnliches — sind von Bedeutung. Weiterhin ist wichtig die Berufsausbildung, ihre Art, ob der Beruf dem Jugendlichen liegt, ob er ihm mehr aufgedrängt ist, das Verhältnis zu den Arbeitskameraden, zum Lehrherrn, häufiger Wechsel der Arbeitsstellen, Aufgeben der Lehre, Einflüsse äußerer Art, die jetzt stärker werden. Schließlich ist auch die körperliche Eigenart zu berücksichtigen: der muskelkräftige, seiner Kraft bewußte Jugendliche handelt anders als der zarte Junge, der körperlich zurückgeblieben ist oder der Körperbehinderte, der dadurch auch in seiner ganzen Persönlichkeitsentwicklung entscheidend beeinflußt werden kann. MEZGER und ebenso EXNER unterscheiden eine vitale, emotionale, rationale Schicht. Alle drei durchdringen sich gegenseitig, namentlich die beiden letztgenannten. Aber auch die vitale Schicht ist für die emotionale von Bedeutung: ein sportlich gut durchtrainierter Körper gibt ein ganz anderes Selbstgefühl als ein schwächlicher. Dabei wird man weiter aber folgendes zu beachten haben: die körperlichgeistige Entwicklung verläuft nicht gleichmäßig; sie ist durch Phasen gekennzeichnet, wobei die körperlichen Phasen den psychischen nicht parallel laufen; die Wachstumszeiten wechseln vielmehr miteinander ab und zwar dergestalt, daß das körperliche Wachstum jeweils dem geistigen Wachstum vorangeht. Auf körperlichem Gebiet haben STRATZ14) und andere Anthropologen das erste Lebensjahr, weiter das 5.—7. und das 11.—15. als die Zeiten des starken Längenwachstums festgestellt. Zwischen diesen Zeiten liegen die Phasen vornehmlich der geistigen Entwicklung. Dabei hat sich, 14 ) Der Körper des Rindes. 10. Aufl. 1923. Dazu weiter W . ZELLER, Entwicklungsdiagnose im Jugendalter. 1938. TRAMER, Leitfaden der jugendrechtlichen Psychiatrie. Basel 1947, unterscheidet sogar in der Entwicklung des Charakters 9 verschiedene Stufen, 4 mehr labile und 5 überwiegend stabile. Auf seine Darstellung des Entwicklungsablaufs (S. 46/55) und seine Störungen (S. 55/69) sei besonders hingewiesen.

Das Strafrecht

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wahrscheinlich als Folge von Zivilisationsfaktoren, im Laufe der letzten Jahrzehnte eine auffallende Wachstumsbeschleunigung der Kinder ergeben, und es ist eine Vorverlegung auch der Geschlechtsreife in Erscheinung getreten, die in den Städten ausgeprägter ist als auf dem flachen Lande 16 ). Das Wachstum selbst verläuft bei Knaben anders als bei Mädchen: bis etwa zum 9. Lebensjahr ist es etwa gleich; dann überholen die Mädchen die Knaben bis etwa zum 15. Lebensjahre, um dann wieder von den Knaben überholt zu werden. Das Wachstum der Mädchen ist mit etwa 18 Jahren abgeschlossen, das der Knaben erst mit etwa 24 Jahren. Es kann dabei zu körperlichen Reifungshemmungen kommen, die dann häufig auch mit seelischen Gleichgewichtsstörungen verknüpft sind. Auf psychischem Gebiet kann man bis zum Ende der Reifung drei Stufen unterscheiden, die frühe Kindheit (etwa 2.—5. Lebensjahr), das Schulalter (7.—11. Lebensjahr) und die Reifejahre (13.—17. Lebensjahr). „Für die geistige Haltung der frühen Kindheit ist wesentlich die naive Ichbezogenheit und der phantastische Illusionismus, für das Schulalter die naive Außenwelteinstellung und das Streben nach Erfassen der Wirklichkeit, für die Reifejahre die kritische Ichbezogenheit und die Einstellung auf Seelisch-Persönliches" (Ttjmlirz). In der frühen Kindheit entwickelt sich das erste noch überwiegend gefühlsmäßige Bewußtsein vom Ich. Dieses „Ich" tritt mehr und mehr in den Vordergrund, verlangt Anerkennung, und es kommt, sobald diese nicht erfolgt, aus oft nichtigen Kleinigkeiten zu Trotzreaktionen, am stärksten ausgeprägt etwa im 4. und 5. Lebensjahr. Die zweite Periode, das Schulalter, ist vornehmlich dadurch gekennzeichnet, daß sich das Interesse des Kindes vom Ich der Außenwelt zuwendet; es wird gewissermaßen sachlicher. Zugleich aber erwachsen dem Kinde in dieser Zeit Aufgaben und Pflichten: es muß sich einordnen in eine zunächst noch fremde Welt, in Gemeinschaften, in denen es nicht mehr eine besondere Rolle spielt. Dabei entwickelt sich das Interesse für die Außendinge, das Erwerben gewisser Fähigkeiten steht im Vordergrunde, gefühlsmäßige Bindungen treten zurück, wenn auch die Beziehungen zu den Eltern, der Familie, dem Heim erhalten bleiben. In dieser Zeit treten oft gewisse Schwierigkeiten auf: kindliches Lügen, zum Teil als Scherz, zum Teil aus phantastischen Neigungen, kleine Diebstähle, Ausreißen werden für die Erziehung zu besonderen Problemen. Allmählich aber übernimmt das Verstandesleben, das Denken und Beurteilen mehr und mehr die Führung, und in den letzten Jahren dieser Periode wird das Lernen, das Wissen wollen, bei Knaben namentlich das Interesse für technische Dinge bestimmend. In dieser Zeit wirken die Kinder meist affektiv ausgeglichen, bestimmt, froh, gefestigt. Dieser relativ stabilen Zeit folgt nun mit der Periode der Reifejahre eine vielfach recht labile, unruhige Phase der Präpubertät, die bei Mädchen etwas früher liegt als bei Knaben. Während es bei Mädchen in dieser Zeit nach 15

) de Rudder, zit. nach von Stockest, S. 61.

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B Ü H L E R Z U einer körperlichen Erschlaffung mit Gefühlen der Hemmung, der Benachteiligung, des ungerecht Behandeltwerdens mit daraus ableitbaren Trotzreaktionen kommt, die mit dem Einsetzen der Menstruation aufhören, herrscht bei Knaben ein überschäumendes Kraftgefühl vor. Dazu kommt eine stärkere Affekterregbarkeit und Reizbarkeit und aus einer gewissen inneren Unsicherheit heraus eine Neigung zur Opposition auf jeden Fall, aus der heraus es dann leicht zu Konflikten aller Art kommt. In dieser Zeit erscheinen die Knaben vielfach unbeherrscht, streben nach Selbständigkeit auch den Eltern gegenüber, haben dabei aber noch die natürliche Verbundenheit zu ihnen. Im ganzen wirken sie unausgeglichen, oft frech, unsicher, vorschnell im Urteil und Handeln. Das zeigt sich auch in ihrer Motorik, die ihre frühere Grazie verliert und irgendwie tapsig wirkt. Dazu kommt in dieser Zeit das Auftauchen der ersten deutlichen sexuellen Gefühle. Die Entwicklung der Sexualität beherrscht nun die eigentliche Pubertät. Mit ihr in engem Zusammenhang entsteht das Streben nach Geltung und Macht, und in Verbindung mit dem noch stärker aufgelockerten Gemüt kommt es in dieser Phase leicht zu Explosionen, zu wenig motivierten Wutanfällen, Taktlosigkeiten, aber auch zu Verstimmungen unbestimmter Art. Wie im Einzelfall diese Zeit verläuft, hängt natürlich weitgehend von dem Charakter, der Differenziertheit, auch von den äußeren Gegebenheiten ab. CHAKLOTTE

Allmählich kommt es nun nach dieser Periode der inneren Zerrissenheiten und Zerspaltenheiten zu einer inneren Ausgeglichenheit und Harmonisierung, zur Beherrschung der Realitäten, zu einem sachlichen Durchdenken der Gegebenheiten, zur Berücksichtigung auch der Interessen der Mitmenschen. Dabei herrscht vielfach noch eine gewisse Unbekümmertheit. Diese Entwicklung geht nun keineswegs bei allen Jugendlichen gleichmäßig vor sich; nicht selten bleiben Eigenheiten, Verhaltens- und Denkweisen, wie sie in der Pubertät vorherrschen, noch längere Zeit erhalten und finden sich noch in den Lebensjahren, in denen das Gesetz von „Heranwachsenden" spricht. Das Gesetz verlangt nun, daß der Jugendliche reif sein müsse, das Unrecht seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Das erfordert auch ein kurzes Eingehen auf die Entwicklung des Rechtsgefühls 16 ). Das Gefühl für Recht und Unrecht erwacht im Kinde schon in recht jungen Jahren, lange bevor von einem verstandesmäßigen Begreifen, von einer Urteilsbildung über Tatbestände die Rede sein kann. So wird von Kindern etwa die ungleiche Verteilung von Leckereien, das Nichthalten eines Versprechens als unbillig empfunden. Dieses Gefühl tritt bei Knaben und Mädchen bei verschiedenen Gelegenheiten auf, es ist bei einem Kinde stark entwickelt, bei anderen kaum angedeutet. Es ist angeboren, das heißt, man 16

) Dazu H O C H E , Das Rechtsgefühl in Justiz und Politik. Berlin 1 9 3 2 ; SPRANGER, Psychologie des Jugendalters. TRAMER, Leitfaden der jugendrechtlichen Psychiatrie. Basel 1 9 4 7 . H A L L E R M A N N , Psychopathologie der jugendlichen Kriminellen usw. in „Bekämpfung der Jugendkriminalität".

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hat es oder hat es nicht; es unterliegt aber auch den Einflüssen in erster Linie des Elternhauses, dann aber auch den besonderen äußeren Umständen 17 ). Dieses Rechtsgefühl gerät nun immer wieder in Konflikt mit den Wünschen und Trieben, die das Kind irgendwie zu befriedigen sucht. Dabei setzen sich in der Regel zunächst die egoistischen Strebungen durch. Unbekümmert setzt es sich über fremde Rechtsinteressen hinweg. Erst allmählich lernt es unter dem Einfluß der Erziehung im Elternhause und in der Schule auch die Interessen anderer zu achten; sein Rechtsgefühl beschränkt sich nicht mehr auf das eigene Ich, altruistische Gefühle werden in ihm wach. Allmählich bildet der Mensch in sich verstandesmäßige und gefühlsmäßige Hemmungen aus, die sein Handeln regulieren und ihn am unbekümmerten, rücksichtslosen Durchsetzen der eigenen Wünsche hindern. Diese bestehen weiter, durchbrechen bei Gelegenheit noch alle Schranken, und erst im reiferen Alter gewinnt der Mensch die volle Selbstbeherrschung, die ihn vor dem Begehen von Delikten schützt. Diese Entwicklung geht nicht bei allen Menschen gleichmäßig vor sich, insbesondere geht, wie wir oben schon gesagt haben, die Entwicklung des Verstandes nicht immer der Reifung des Charakters parallel. Zahlreiche deliktfördernde Einflüsse dringen noch auf den jungen Menschen ein: der Reiz des Verbotenen, Kino, Kriminalromane, gleichaltrige Kameraden, Klassengemeinschaften, — in der Masse wird der einzelne verantwortungslos —, Verführung, die Pubertät mit ihren Schwankungen und Unausgeglichenheiten, ihrer Neigung zu Kritik und Auflehnung, ihrer Freude am Abenteuerlichen, das Bedürfnis, seine Männlichkeit zu beweisen und anderes mehr. Tatsächlich setzt die Kriminalität auch schon früh ein. Sie beginnt etwa mit dem 7. Lebensjahre, steigt dann schnell an und erreicht zwischen dem 21. und 25. Lebensjahre ihren Höhepunkt, um dann langsam aber stetig abzusinken 18 ). Auch die Art der kriminellen Handlungen weicht namentlich hinsichtlich der relativen Häufigkeit von der der Erwachsenen ab. Während die unter 14 jährigen an der Gesamtkriminalität mit rund 3 % beteiligt sind, beträgt ihr Anteil an den vorsätzlichen Brandstiftungen 27 % 1 9 ), an fahrlässigen Brandstiftungen 13%, an Diebstahl aller Arten 7—9%, an unzüchtigen Handlungen mit Kindern 5%. Das ändert sich erheblich in der Gruppe der Jugendlichen, die im 1. Halbjahr 1954 mit etwa 6,9% an der Gesamtkriminalität beteiligt waren. Bei ihnen steht an erster Stelle der Diebstahl von Sprengstoff, Munition und Waffen mit 29%; dann folgt die vorsätzliche Brandstiftung mit 19%, schwerer Diebstahl mit 18%, unzüchtige Handlungen mit Kindern mit 17%, Unzucht zwischen Männern mit 15%. Über 17 ) Daß Hungerzustände und Kriegszeiten diese Entwicklung stören, hat die Erfahrung reichlich gelehrt. 18 ) EXNER, Kriminologie, S. 149. 19 ) Die Zahlen betreffen das 1. Halbjahr 1954; sie stammen von H O L L E in „Bekämpfung der Jugendkriminalität".

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dem Durchschnitt liegen weiter u. a. der Kraftfahrzeug-Diebstahl mit 16%, Raub und räuberische Erpressung sowie Notzucht mit je 10%, Kindestötung mit 8%. Bei den Heranwachsenden deren Anteil an der Gesamtkriminalität 7,8% betrug, stehen im Vordergrunde der Kraftfahrzeug-Diebstahl mit 27%, Aufruhr — Auflauf — Landfriedensbruch mit 23%. Raub und räuberische Erpressimg sind mit 18%, gefährliche und schwere Körperverletzung mit 11%, Notzucht und Unzucht zwischen Männern mit je 13% vertreten. Prüft man dagegen, wie die Verteilung der Straftaten innerhalb der Altersgruppen ist, so steht bei den Kindern der Diebstahl bei weitem an erster Stelle. Von je 100 ermittelten Tätern sind 58 Knaben, 56 Mädchen Diebe, 7 Knaben, 3 Mädchen Brandstifter, 2 Knaben, 3 Mädchen ha]?en Sittlichkeitsdelikte begangen. Der Diebstahl sinkt bei den Jugendlichen auf 44 bzw. 50, bei den Heranwachsenden auf 32 bzw. 38, bei den Erwachsenen auf 14 bzw. 18%,. Sittlichkeitsverbrechen sind am häufigsten bei den 16—18jährigen, Körperverletzungen bei den 21—25jährigen 20 ). Dabei sind die Taten Jugendlicher nicht anders als die von Erwachsenen. Auch die Motivierung unterscheidet sich nicht wesentlich von der der Erwachsenenkriminalität 21 ). Man wird sich aber im Einzelfall immer wieder zu fragen haben, wie es kommt, daß sonst gesunde Jugendliche zu kriminellen Handlungen kommen; der Sachverständige hat dabei die Aufgabe, unter Berücksichtigung aller Anlage- und Umweltfaktoren sowie der besonderen Situation, aus der die Handlung entstanden ist, zu prüfen, ob der Täter schon die erforderliche sittliche Reife hatte, und welche Maßnahmen geeignet erscheinen, um ihn wieder in die Gemeinschaft einzuordnen. Dabei wird auch vielfach die Frage nach der Prognose auftauchen. Sie ist wichtig einmal für die Frage, welche Art der Reaktion (Zuchtmittel der verschiedenen Art, Jugendstrafe) zweckmäßig ist, zum anderen, wenn es sich um Aussetzung der Strafe zur Bewährung oder die vorzeitige Entlassung handelt (s. § 21). In diesen Fällen wird es Aufgabe der Jugendgerichtshilfe sein, soweit wie möglich namentlich die Umweltverhältnisse des Jugendlichen festzustellen: die Art etwaiger familiärer Bindungen, Herkunft, Entwicklung, Tätigkeit, sonstige Umwelt. Dem Sachverständigen erwächst die Aufgabe, eingehend sowohl den körperlichen Zustand des Jugendlichen zu untersuchen, namentlich aber die Persönlichkeit des Jugendlichen, seine Neigungen, Strebungen und Versagenstendenzen zu prüfen 22 ). Als Hilfsmittel kann dabei die im 20

) E X N E R , 1. c . S . 1 5 1 . ) B A D E R , Soziologie der

Jugendkriminalität. ) Der internationale Kongreß für Kriminologie faßte 1938 folgende Entschließung: „1. Das bei der Erforschung der Persönlichkeit des Verbrechers anzuwendende Verfahren soll umfassend und einheitlich sein, d. h. es soll eine analytische Zergliederung und einen synthetischen Wiederaufbau der Persönlichkeit versuchen, wobei es der vorhergehenden Erkenntnis aller während der Persönlichkeitsentwicklung und gegenwärtig wirksamen genealogischen, biographischen, soziologischen, somatischen und psychischen Elemente und schließlich jener Umstände bedarf, welche die Per21

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Das Strafrecht

Kapitel über die soziale Prognose wiedergegebene Prognosetafel von F R E Y dienen, aber eben nur als Hilfsmittel. Gerade bei Jugendlichen sind die verschiedenen Einzelfaktoren nicht gleichmäßig zu beurteilen. So bedeutet das Fehlen von Vorstrafen -— bei einem Erwachsenen von 30 Jahren schon ein sehr wichtiger Umstand — noch recht wenig. Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß eine kriminelle Anlage erst jetzt zum Durchbruch kommt oder daß der Jugendliche eben wegen seines Alters noch nicht in den Verdacht strafbarer Handlungen gekommen ist. Umgekehrt darf man auch Vorstrafen noch nicht ohne weiteres in ungünstigem Sinne deuten; man muß vielmehr im Einzelfall die Hintergründe der Taten prüfen23). Ist jemand zu einer längeren oder unbestimmten Strafe verurteilt, so ist die Frage nach der Prognose mit aller Vorsicht zu beantworten; ein mißglückter Versuch, die Strafe auf Bewährung auszusetzen, schadet unter Umständen erheblich. In welchen Fällen wird man sich nun für eine Aussetzung der Strafe aussprechen können ? Man hat dafür bestimmte Tätertypen, wie im Erwachsenenstrafrecht, so auch im Jugendstrafrecht herausgearbeitet. Dabei kommt es naturgemäß auf den Ausgangspunkt an, nach dem die Typen aufgestellt sind. Im Jugendstrafrecht erwähnen D A I L I N G E B - L A C K N E R 2 4 ) die folgenden Typen, bei denen die Aussetzung eventuell versucht werden kann: Die erste Gruppe ist die der noch ungefestigten jugendlichen Täter, „bei denen schon eine gewisse allgemeine Neigung zur Begehung strafbarer Handlungen vorliegt, die aber noch nicht in der Persönlichkeit fest verwurzelt, sondern überwiegend durch ungünstige Umwelteinflüsse (Verführung, Not u. dgl.) verursacht ist und im Zuge der weiteren Reifung behebbar erscheint". Diese Gruppe ist gekennzeichnet durch ihre im ganzen positive Persönlichkeitsstruktur; Jugendliche dieser Art finden sich bei entsprechender Führung und zunehmender Reife des Charakters vielfach zurecht26). Die zweite Gruppe wird gebildet von den typischen Pubertätsverbrechern. Zu ihnen gehören die jugendlichen Täter, die in ausgesprochenen Pubertätskrisen plötzlich nach bis dahin unauffälliger Entwicklung irgendwelche zum Teil schwere Delikte begehen. Dazu gehört auch ein Teil der jugendlichen Sittlichkeitsverbrecher und schließlich in der Entwicklung retardierte Jugendliche, die zu Kurzschlußhandlungen neigen. Nicht geeignet, weil prognostisch ungünstig, sind fortgeschritten Verwahrloste oder solche Jugendliche, die eine Neigung zu frühkriminellem Berufsverbrechertum erkennen lassen. sönlichkeit im Augenblick des Verbrechens ungünstig beeinflußten." (Römischer Kongreß für Kriminologie. Berlin 1939, S. 62.) 23 ) Dazu LEFEKENZ, Die Kriminalität der Kinder. Tübingen 1957. L. teilt insgesamt 80 Fälle mit, die er hinsichtlich ihrer pädagogischen Beeinflußbarkeit in drei Gruppen der gut, mäßig und nicht formbaren Kinder aufteilt. 24 ) S. 218. 25 ) Dazu SEELIG in „Der Jugendliche im Lichte der Kriminalbiologie". 1951, S . 51.

Die strafrechtliche Behandlung der Jugendlichen und Heranwachsenden

139

Man muß sich klar darüber sein, daß alle noch so sorgfältigen Prognosestellungen in einer gewissen Anzahl von Fällen sich später als falsch erweisen werden. Das läßt sich trotz aller Bemühungen nicht vermeiden. Die Schwierigkeit dem Erwachsenen gegenüber liegt in dem Fehlen eines längeren Lebensabschnitts. Daran kann durch alle noch so vorzüglichen wissenschaftlichen Arbeiten bestenfalls eine Einschränkung der Fehlbeurteilungen erreicht werden; ein fehlerloses Arbeiten in dieser Beziehung ist nicht möglich. Ganz kurz sei noch ein Problem erwähnt, das neuerdings aufgetaucht ist, die Frage nämlich, wie das Verhältnis zwischen mangelnder Altersreije und Verbotsirrtum zu beurteilen ist 26 ). Man unterscheidet einen unverschuldeten und verschuldeten Verbotsirrtum. Ein unverschuldeter Verbotsirrtum liegt vor, wenn der Täter weder das Bewußtsein hatte noch bei gehöriger Anspannung seines Gewissens haben konnte, mit seiner Tat Unrecht zu t u n ; ein verschuldeter Verbotsirrtum liegt vor, wenn der Täter das Unrechtsbewußtsein nicht hatte, bei gehöriger Anspannung des Gewissens aber haben konnte. An sich wird man sagen können, daß beim Vorhandensein der Altersreife der Täter bei „gehöriger Anspannung seines Gewissens" auch hätte fähig sein müssen, die Einsicht in das Unrechtmäßige seines Tuns zu gewinnen. Dennoch ist er in dieser Beziehung anders zu beurteilen als der Erwachsene: auch reife Jugendliche pflegen sich über ihre Taten weniger Gedanken zu machen als Erwachsene, sie handeln vielfach noch ohne rechtes Nachdenken, mehr aus dem Augenblick heraus, sind in ihren Wertvorstellungen noch weniger gefestigt als der Erwachsene. I m Falle des verschuldeten Verbotsirrtums hat der Täter jedenfalls die Fähigkeit, das Unrecht seiner Tat einzusehen. Wieweit dabei der etwa gefragte Sachverständige auf Besonderheiten der Entwicklung hinzuweisen hat, hängt vom Einzelfall ab. Die Beurteilung Heranwachsender27) Das Jugendgerichtsgesetz vom 4. 8. 1953 hat gegenüber den früheren Bestimmungen als wesentliche Neuerung die Einbeziehung der Halberwachsenen, 18—20jährigen eingeführt, sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Für den Sachverständigen sind wichtig die §§ 105 und 106: §105 (1) Begeht ein Heranwachsender eine Verfehlung, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist, so wendet der Richter die für einen Jugendlichen geltenden Vorschriften der §§4 bis 32 an, wenn 1. die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, daß er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder 2. es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt. (2) Das Höchstmaß der Jugendstrafe für Heranwachsende beträgt zehn Jahre. 2

«) BGHSt. 2, S. 194; NJW 1952, S. 593; JZ 1952, S. 335; MDR 1952, S. 371. ) Dazu der Kommentar von DALLINGER-LACKNER, der das Wesentliche zusammenfassend und mit reichliehen Hinweisen auf die Literatur behandelt hat. 27

140

Das Strafrecht

§106 (1) Ist wegen der Straftat eines Heranwachsenden das allgemeine Strafrecht anzuwenden, so kann der Richter an Stelle von lebenslangem Zuchthaus auf eine Zuchthausstrafe von zehn bis fünfzehn Jahren und an Stelle einer zeitigen Zuchthausstrafe auf Gefängnisstrafe von gleicher Dauer erkennen. (2) Von der Anordnung der Sicherungsverwahrung und der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte oder der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter kann der Richter absehen.

In Westdeutschland hat die Beteiligung der Heranwachsenden an der Gesamtkriminalität in den Jahren 1950 bis 1. Halbjahr 1954 11,55% betragen28). Für den Heranwachsenden kommt die Anwendung des § 3 JGG nicht in Betracht; er ist stets strafmündig, und seine Verantwortlichkeit ist lediglich nach § 51 StGB zu beurteilen. Nun ist aber bekannt, daß die Entwicklung der Jugendlichen, worauf schon hingewiesen wurde, nicht gleich schnell und nicht immer gleichmäßig erfolgt. Es gibt Heranwachsende, deren körperliche und psychische Entwicklung abgeschlossen ist, die in jeder Beziehung dem Erwachsenen gleichen, es gibt andererseits solche Heranwachsende, die noch sehr deutlich die Züge Jugendlicher tragen, die unausgeglichen, unbekümmert, ungefestigt wirken. Weiter ist es nicht selten, daß die körperliche Entwicklung abgeschlossen ist, daß damit die psychische Entwicklung aber nicht Schritt gehalten hat. In diesen Fällen soll der Richter die Entscheidung treffen, ob das Jugendgerichtsgesetz oder das Erwachsenenrecht anzuwenden ist. Das kann nach dem Wortlaut des § 105 einmal dann geschehen, wenn der Täter nach seiner ganzen Persönlichkeit einem Jugendlichen gleichsteht, zum anderen dann, wenn die Tat Züge aufweist, wie man sie bei den Taten Jugendlicher findet. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Entscheidung über diese Frage oft keineswegs einfach ist. Sie erfordert ein Eindringen in das äußere und innere Dasein des jungen Menschen, die weit über das hinausgeht, was im Erwachsenenstrafrecht üblich und durchführbar ist. Es muß einerseits der Entwicklungsgang geklärt werden, dazu aber auch die Art der Umwelteinflüsse, und namentlich muß geprüft werden, ob das Persönlichkeitsbild noch deutliche Züge von Jugendlichen trägt. Das ist bei der Kompliziertheit der verschiedenartigen Komponenten, bei ihrem Verflochtensein oft recht schwierig. In Zweifelsfällen namentlich wohl dann, wenn es sich um schwere Delikte handelt, wird der Richter nicht umhinkommen, einen Sachverständigen mit dieser Aufgabe zu betrauen, der dann die Aufgabe hat, die Charakterzüge deutlich zu machen, die auf eine noch nicht vollendete geistige und sittliche Entwicklung hindeuten. Dazu sei bemerkt: Im Gesetz ist zwar die körperliche Entwicklung nicht erwähnt; ich habe aber schon auf die Möglichkeit der ungleichmäßigen körperlichen und psychischen Entwicklung hingewiesen. Gerade aus dieser 28

) Nach 7,8% an.

D ALLINGER-LACKNER;

HOLLE

gibt für das

1.

Halbjahr

1954

nur

Die strafrechtliche Behandlung der Jugendlichen und Heranwachsenden

141

Diskrepanz ergeben sich nicht selten Schwierigkeiten. Man wird also auch den körperlichen Zustand, und zwar sowohl die vorauseilende wie die retardierte Entwicklung berücksichtigen müssen. Das Gesetz spricht von geistiger und sittlicher Entwicklung. Der Sinn dieser Vorschrift kann nicht darin liegen, daß die Anwendung des Jugendgerichtsgesetzes nicht möglich ist, wenn etwa die intellektuelle Reife dem über 18jährigen entspricht. Es kann durchaus vorkommen, daß auch die intellektuelle und Charakterentwicklung nicht gleichmäßig vor sich geht. Wesentlich erseheint, daß das Gefühls- und Triebleben noch nicht durch rationale Erwägungen gesteuert wird. Vielfach tragen die Rechtsbrüche noch den Charakter „infantiler Triebhandlungen oder expansiver Einbrüche sexualer Drangzustände aus der vital-seelischen in die Persönlichkeitsschicht"29). Die Handlungen tragen oft die Zeichen des Unüberlegten, des Zufälligen, des Handelns aus dem Augenblick, aus dem Impuls heraus. Wichtig ist dazu auch das sonstige Verhalten in der Familie, in der Umgebung: ob der junge Mensch sich zu Hause einfügt oder ob er das Bestreben hat, seine eigenen Wege zu gehen, sich loszulösen, zu opponieren, unbegründete Ansprüche zu stellen, den Anordnungen der Eltern sich trotzig zu widersetzen, das alles ist zu prüfen. Dazu kommt in manchen Fällen eine eigenartige Unsicherheit gegenüber der Ordnung der Erwachsenen, deren Sinn noch nicht recht erkannt wird, ein unkritisches, vertrauensseliges Anlehnungsbedürfnis an Menschen, deren Einfluß er dann leicht unterliegt. Man hat weiter versucht, gewisse Tätertypen herauszuarbeiten und aus ihnen Anhaltsmöglichkeiten für die Zuordnung zu den Jugendlichen oder den Erwachsenen zu finden. Nim hat jede Typisierung ihre Schwächen; bei aller Anerkennimg des Wertes solcher Gruppen, die eine Verständigimg erleichtern, wird es doch immer auf den Einzelfall ankommen. Im Anschluß an DALLENGER-LACKNER mögen hier die drei Gruppen der Entwicklungstäter, der Verwahrlosungstäter und der Anlagetäter genannt sein30). Zu den Entwicklungstätern gehören die heranwachsenden Rechtsbrecher, die weder eine anlagemäßige Disposition zur Kriminalität noch auffällige Milieuschäden erkennen lassen. Bei ihnen stehen die Disharmonien der Pubertätszeit, die noch nicht völlig abgeklungen sind, im Vordergrunde. Sie sind die eigentlichen Motoren für kriminelle Handlungen. Sie werden daher im allgemeinen zweckmäßiger wie Jugendliche behandelt. Die Verwahrlosungstäter sind nicht gleich zu beurteilen. Bei einem Teil derselben sind Milieuschäden wesentlich: Verlust der Eltern, Aufwachsen in oft veränderter Umgebung, Fehlen von wirklichem Zugehörigkeitsgefühl, aber auch schlechtes Beispiel, Diebstahl und andere Delikte des Vaters oder auch der Mutter u. dgl. mehr. Meist läßt sich diese Verwahrlosung bis in die 21

30

) ILLCHMANN-CHRIST, ZStW 65, S. 226, 235.

) WÜRTENBERGER, Bekämpfung der Jugendkriminalität (S. 95), unterscheidet 1. Situations- und Konfliktstäter, 2. Entwicklungs-, vor allem Pubertätstäter und 3. Neigungstäter.

Das Strafreoht

142

frühe Jugend verfolgen. Neben den rein oder überwiegend umweltgeschädigten Tätern gibt es in dieser Gruppe aber auch solche, deren Anlage der Verwahrlosung entgegenkommt, bei denen das kriminelle Handeln aus dem anfänglich mehr triebhaften, impulsiven Tun allmählich in ein planmäßiges, zweckhaftes übergeht. Die Beurteilung dieser Gruppe wird nicht einheitlich sein können. Die Anlagetäter sind im allgemeinen erkennbar am frühen Beginn der kriminellen Handlungen, an der häufigen Wiederholung solcher Handlungen, an seiner Unbeeinflußbarkeit und an besonderen Charaktereigenschaften, wie namentlich Gemütskälte 31 ), ausgesprochener Egoismus, Willensschwäche, Geltungssucht, Erregbarkeit usw. Vielfach sind psychopathische Züge deutlich. In ihrer kriminellen Haltung sind sie in der Regel schon fest bestimmt, so daß sie nicht mehr als Jugendliche gewertet werden können. Wie bei allen Typenbildungen ist es oft schwer zu entscheiden, ob man Grenzfälle dem einen oder anderen Typ zurechnen soll; auch Kombinationen sind nicht selten. Immer wieder muß vom psychiatrischen Standpunkt gesagt werden: alle diese Gruppierungen sind Hilfsmittel, Anhaltsmöglichkeiten. Wesentlich ist nur der jeweilige Mensch, das einzelne Individuum in allen seinen Besonderheiten. Als Gutachter hat man sich vor Spekulationen zu hüten. Die Erforschung des Einzelschicksals ist unsere Aufgabe; diese soll aber mit aller Genauigkeit vorgenommen werden. Neben der Persönlichkeit des Heranwachsenden ist auch zu prüfen, ob die Tat nach ihrer Art, den Umständen oder den Beweggründen als Jugendverfehlung anzusehen ist. Dazu läßt sich allgemein sagen: Taten, die Überlegung, planmäßiges Handeln, besondere Kenntnisse erfordern wie Betrügereien, Hochstapelei, schwere Urkundenfälschung kommen dabei nicht in Betracht. Am häufigsten wird bei Diebstahl und Sittlichkeitsdelikten zu fragen sein, ob dabei die oben erwähnten Besonderheiten mitgewirkt haben. Dazu kommen manchmal Verletzung anderer Menschen, Zerstörimg von Gegenständen, Kraftfahrzeugdiebstähle, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, Gewaltverbrechen und andere. Darüber wird im allgemeinen kaum der Sachverständige gefragt werden. Der Richter wird das in der Regel selbst beurteilen können. Die Entscheidung, ob das Jugendgerichtsgesetz Anwendung finden soll, liegt stets beim Richter. Kurz hingewiesen sei noch auf eine Gruppe solcher Heranwachsender, die zwar noch Züge Jugendlicher aufweisen, bei denen man aber wegen etwa vorhandener Intelligenzschwäche oder besonderer psychopathischer Wesenszüge annehmen muß, daß mit einer weiteren Entwicklung nicht zu rechnen ist. In solchen Fällen wird, worauf das Wörtchen „noch" im § 105 Abs. 1 Ziffer 1 hinweist, die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts zweckmäßig sein, weil ein Erfolg durch erziehliche Maßnahmen in solchen Fällen nicht zu erwarten ist. 31

) LEFERENZ

fand unter seinen nicht formbaren Kindern diesen Zug auffallend oft.

Das mitteldeutsche Jugendgerichtsgesetz

143

Der § 106 sieht schließlich die Milderung gewisser Strafen vor bei Heranwachsenden, die nach dem allgemeinen Strafrecht zu behandeln sind. Das wird namentlich dann geschehen können, wenn noch Aussicht besteht, daß der Täter sich nach der günstigen Seite entwickeln wird.

11. Das mitteldeutsche

Jugendgerichtsgesetz

In Mitteldeutschland gilt das Jugendgerichtsgesetz vom 23. 5. 1952; ebenso im Sowjetsektor von Berlin. Dieses Gesetz unterscheidet sich von dem in Westdeutschland gültigen in verschiedenen Punkten. Auch in ihm steht jedoch der Erziehungsgedanke im Vordergründe; das geht so weit, daß auch die Eltern und andere Erziehungspflichtige in das Verfahren einbezogen werden. Neben der Erziehungsaufgabe steht der Schutz der Errungenschaften der antifaschistisch-demokratischen Ordnung (§2 und Einleitung). Im einzelnen sei erwähnt: Das Gesetz gilt für Jugendliche, die über vierzehn aber noch nicht achtzehn Jahre alt sind (§1). Daß Heranwachsende nicht besonders berücksichtigt sind, hängt wohl damit zusammen, daß in Mitteldeutschland die Jugendlichen schon mit 18 Jahren mündig werden, also als „Erwachsene" angesehen werden. Zur Erreichung des erstrebten Zieles (s. o.) „ordnet das Gericht in der Regel Erziehungsmaßnahmen an. Nur wenn es Erziehungsmaßnahmen für ungenügend hält, erkennt es auf Strafe" (§ 3). Die Verantwortlichkeit Jugendlicher behandelt der §4 (1) Ein Jugendlicher kann strafrechtlich nur zur Verantwortung gezogen werden, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, die gesellschaftliche Gefährlichkeit seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. (2) Erziehungsmaßnahmen können auch dann angeordnet werden, wenn der Jugendliche strafrechtlich nicht verantwortlich ist. §44 Das Jugendgericht kann nach Anhören eines Sachverständigen anordnen, daß der Jugendliche für höchstens sechs Wochen in einer zur psychologischen Untersuchung von Jugendlichen geeigneten Anstalt beobachtet wird.

Dazu sollen die Lebensverhältnisse des Jugendlichen, die Familienverhältnisse, die materiellen Lebensbedingungen und alle anderen Umstände erforscht werden, die zur Beurteilung der körperlichen und geistigen Eigenart des Jugendlichen dienen können (§ 5). Hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 51 StGB hatte der Oberste Gerichtshof am 12. 10. 1953 eine Entscheidung getroffen, nach der der § 51 Abs. 2 StGB bei Jugendlichen nicht anwendbar sein sollte. Für eine verminderte Verantwortlichkeit sei bei ihnen kein Raum; es seien in allen diesen Fällen die Bestimmungen des § 4 JGG ausreichend. Diese Auffassung ist mit Recht kritisiert worden. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß ein im Sinne des § 4 JGG reifer Jugendlicher durch Krankheit oder Alkohol in einen Zustand

144

Das Strafrecht

gerät, im welchem die Voraussetzungen für die Anwendung des § 51 Abs. 1 oder Abs. 2 StGB gegeben sind. Das Kammergericht hat denn auch in einem Urteil vom 9. 11. 1956 ausdrücklich gesagt und zutreffend begründet, daß es diese Auffassung nicht teile 1 ). Dem haben sich andere Autoren angeschlossen. Sehr mit Recht hat W . M Ü L L E R ausgeführt, es sei zunächst zu prüfen, ob der § 51 StGB vorliege; erst wenn dessen Voraussetzungen nicht gegeben seien, komme die Prüfung nach § 4 JGG in Betracht. Dieser Ansicht möchte ich mich anschließen 2 ). Neu im Gesetz ist, daß auch die Verantwortlichkeit der Erziehungspflichtigen bei jeder Verfehlung eines Jugendlichen zu prüfen ist. Erziehungspflichtige, die sich einer schweren Verletzung ihrer Pflicht zur Beaufsichtigung eines Jugendlichen schuldig gemacht haben, werden nach den allgemeinen Bestimmungen mit der Maßgabe bestraft, daß auf Gefängnis bis zu zwei Jahren erkannt werden kann (§ 7)3). Auch die Erziehungsarbeit der Schulen und sonstigen Einrichtungen muß berücksichtigt werden (§8). Als Erziehungsmaßnahmen sind Verwarnung, Erteilung von Weisungen, Familienerziehung unter Übertragung besonderer Erziehungspflichten, Schutzaufsicht und Heimerziehung aufgeführt (§9), unter den Weisungen sind verschieden geartete Verpflichtungen aufgezählt (§ 11). Dabei fällt dem Rat des Kreises die Aufgabe zu, über die Erfüllung dieser Pflichten zu wachen. Unter diesen Maßnahmen finden sich die Verwarnung und die Auferlegung von Pflichten, die in Westdeutschland den Zuchtmitteln zugeordnet sind; es fehlt der Jugendarrest. Als Strafe kommt „Freiheitsentziehung" — der Ausdruck „Jugendgefängnis" ist ebenso wie in Westdeutschland vermieden — von mindestens 3 Monaten, höchstens 10 Jahren zur Anwendung. Eine unbestimmte Verurteilung gibt es nicht. Dagegen kann unter gewissen Umständen — ähnlich wie im §20 des Reichsjugendgerichtsgesetzes vom 6. 11. 1943 — das Erwach senenstraf recht zur Anwendung kommen: §24

(1) Zur Sicherung der antifaschistisch-demokratischen Ordnung und zum Schutze der Bürger ist unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 das allgemeine Strafrecht anzuwenden, wenn der Jugendliche des vollendeten oder versuchten Verbrechens des !) N J 1 9 5 7 , S. 1 5 5 . 2

) D a z u PCHALEK N J 1957, S. 148; HAHN ebendort, S. 149; RANKE N J 1955,

S. 2 4 0 ; W . MÜLLER N J 1 9 5 7 , S . 4 2 3 ; REHSE N J 1 9 5 7 , S . 7 1 9 .

3 ) Eine ähnliche, wenn auch in ihrem Sinn abweichende Bestimmung, ist im westdeutschen § 143 StGB enthalten. Danach kann der Aufsichtspflichtige mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft werden, „wenn der zu Beaufsichtigende" — der noch nicht 18 Jahre alt ist — „eine als Verbrechen oder Vergehen mit Strafe bedrohte Handlung begeht, die der Aufsichtspflichtige durch gehörige Aufsicht hätte verhindern können". S. auch NJ 1956, S. 402, wo in einem Erfahrungsaustausch der Jugendstaatsanwälte die verschiedenen Arten der Aufsichtspflichtverletzungen der Eltern besprochen werden.

Das mitteldeutsche Jugendgerichtsgesetz

145

Mordes, der Vergewaltigung, der Sabotage oder eines Verbrechens, das gegen den Artikel 6 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Bepublik oder gegen das Gesetz zum Schutze des Friedens vom 15. Dezember 1950 (GBl. S. 1199) gerichtet ist, oder der wiederholten Begehung schwerer Verbrechen schuldig ist. Auf Todesstrafe darf gegenüber Jugendlichen nicht erkannt werden.

Als Maßregel der Sicherung und Besserung ist nur die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt zulässig (§ 23). Wie in Westdeutschland kann die Strafvollstreckung mit dem Ziel des Straferlasses auf Bewährung für mindestens zwei, höchstens vier Jahre ausgesetzt werden; eine solche „bedingte Verurteilung" kann nur in Verbindung mit der Anordnung von Erziehungsmaßnahmen ausgesprochen werden (§§18, 20)4). Die Aussetzung der Vollstreckung ist auch nachträglich noch möglich (§ 19); ebenso kann eine angeordnete Aussetzung später widerrufen werden (§ 20). Die Aussetzung der Verhängung einer Strafe ist nicht vorgesehen. Das Hauptverfahren unterscheidet sich vielfach von dem westdeutschen; hingewiesen sei nur darauf, daß die Eltern und sonstigen Erziehungspflichtigen an der Hauptverhandlung teilzunehmen haben (§ 38), daß die Verhandlung zwar im allgemeinen nicht öffentlich ist, daß aber das Gericht die Anordnung der Öffentlichkeit beschließen kann (§ 41, Abs. 1), daß außer Vertretern der Jugendgerichtshilfe und der Freien Deutschen Jugend — die auf Verlangen das Wort erhalten — auch andere Personen durch Beschluß des Jugendgerichts zugelassen werden können (§ 41, Abs. 2 S. 3). Die Strafe wird im „Jugendhaus" vollstreckt. Dort sind Schul- und Ausbildungseinrichtungen zu schaffen, damit die Jugendlichen die Ausbildung erhalten, die ihren geistigen und körperlichen Fähigkeiten entspricht; auch für die Erfüllung der Berufsschulpflicht ist zu sorgen (§56). Es wird für jeden Jugendlichen eine abgeschlossene Berufsausbildung erstrebt, und er wird je nach seinen Berufswünschen einem entsprechend eingerichteten Jugendhaus zugeführt. Die Jugendhäuser, die der Verwaltung des Ministeriums des Inneren unterstehen (§ 55), haben neben dem verantwortlichen Leiter entsprechend ausgebildete Erzieher und einen Arzt (§ 54). Der Leiter des Jugendhauses hat vor der Entlassung eines Jugendlichen für eine dessen Ausbildung entsprechende Arbeit und Unterbringung zu sorgen (§ 58). Die Aufgaben, die dem Sachverständigen erwachsen, sind im wesentlichen die gleichen wie in Westdeutschland; auch hier handelt es sich um die Verantwortlichkeit, die Prognose, die Erziehbarkeit. Die Frage der Berufseignung kann hier außer acht gelassen werden, da für sie der Psychiater nicht geeignet ist. Hingewiesen sei darauf, daß der Unrechtsbegriff in Mitteldeutschland einen anderen Gehalt hat als in Westdeutschland; er umfaßt Forderungen gesellschaftlicher Art, die in Westdeutschland keine Rolle spielen, in Mitteldeutschland aber anerzogen werden. 4

) Dazu K e r h a n n NJ 1956, S. 636.

10 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

Das Strafrecht

146 12. Sexuelle

Delikte

an

Geisteskranken

Es ist eine selbstverständliche Pflicht den uns anvertrauten Kranken und Pfleglingen gegenüber, daß sie vor allen sexuellen Angriffen geschützt werden. Das Gesetz bestimmt über Verstöße gegen diese Pflicht: § 174. Mit Zuchthaus oder Gefängnis nicht unter 6 Monaten wird bestraft, 1. wer einen seiner Erziehung, Ausbildung, Aufsicht oder Betreuung anvertrauten Menschen unter 21 Jahren oder 2. wer unter Ausnutzung seiner Amtstellung oder seiner Stellung in einer Anstalt für Kranke oder Hilfsbedürftige einen anderen zur Unzucht mißbraucht.

Mit diesem Wortlaut sind Mängel beseitigt, die immer wieder Anlaß zur Kritik gaben. In der früheren Fassung war nur von „öffentlichen Anstalten" die Rede — Privatanstalten waren demnach ausgenommen — und nach einer sehr anfechtbaren Entscheidung des Reichsgerichts1) wurden Krankenwärter nicht als Medizinalpersonen im Sinne des früheren § 174, 3 betrachtet. Beide Lücken sind jetzt geschlossen. Dabei ist der Grundgedanke der gesetzliehen Bestimmung derselbe geblieben; er besteht darin, „Überordnungsverhältnisse und Betreuungsverhältnisse von geschlechtlichen Motiven rein zu halten und die geschlechtliche Freiheit der abhängigen oder betreuten Personen vor Angriffen zu bewahren" 2 ). Der Tatbestand des § 174 Nr. 2 ist auch dann erfüllt, wenn die der Autorität unterworfene Person sich freiwillig preisgegeben und selbst die Anregung zur Unzucht gegeben hat 3 ). Täter können alle Personen sein, die in der Anstalt angestellt oder beschäftigt sind, nicht nur Beamte und Ärzte oder Medizinalpersonen. Die jetzige Fassung geht auch über den Regierungsentwurf von 1930 hinaus, der nur Unzuchtsdelikte an Frauen und Jugendlichen unter Strafe stellen wollte. Der jetzige Wortlaut ist als der umfassendere m. E. besser4). § 176. Mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren wird bestraft, wer . . . 2. eine in einem willenlosen oder bewußtlosen Zustande befindliche oder eine geisteskranke Frauensperson zum außerehelichen Beischlafe mißbraucht. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter 6 Monaten ein. § 177. Mit Zuchthaus wird bestraft, wer durch Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben eine Frau zur Duldung des außerehelichen Beischlafs nötigt, oder wer eine Frauensperson zum außerehelichen Beischlafe mißbraucht, nachdem er sie zu diesem Zwecke in einen willenlosen oder bewußtlosen Zustand versetzt hat. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter 1 Jahr ein. !) RGSt. 31, S. 246. ) Schönke S. 525; HBSt. 1, S. 291; BGHSt. 1, S. 58. S. auch S. 86. 3 ) BGHSt. 1, S. 122. Es handelt sich bei diesem Urteil um einen Krankenpfleger in einer Nervenklinik, der mit einem 24 jährigen wegen Geistesschwäche entmündigten Insassen Unzucht getrieben hatte. 4 ) Ähnlich A s c h a f f e n b u r g in Hoche III, S. 85; § 175 a meint andere Verhältnisse. 2

Sexuelle Delikte an Geisteskranken

147

§ 178. Ist durch eine der in den §§ 176 und 177 bezeichneten Handlungen der Tod der verletzten Person verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter 10 Jahren oder lebenslängliche Zuchthausstrafe ein.

Weshalb hier nur der außereheliche Beischlaf und nicht jede unzüchtige Handlung bestraft werden soll, ist nicht recht erklärlich, und das Gesetz ist insofern jedenfalls unzureichend. Es ist, wie A S C H A F F E N B U R G mit Recht sagt, „weder vom Standpunkt der Schutzbedürftigkeit noch von dem der Verwerflichkeit der Handlung aus ein nennenswerter Unterschied, ob die Straft a t einem regelrechten Beischlaf entspricht oder sich auf unzüchtige Handlungen beschränkt" 8 ). Während nun die Bestimmung des § 174 keine psychiatrischen Probleme aufwirft, da es auf den Geisteszustand des zur Unzucht Mißbrauchten nicht ankommt, werfen die §§ 176—178 besondere Fragen auf. Was uns hier beschäftigt, sind die Begriffe „willenlos", „bewußtlos" und „geisteskrank". Im allgemeinen wird der Psychiater glücklicherweise ziemlich selten zu diesen Prägen Stellung zu nehmen brauchen. Es kann jedoch vorkommen, daß er die „Geisteskrankheit" nach der geistigen Gesundheit zu abzugrenzen hat, d. h. daß er gefragt wird, ob die geschändete Prau als geisteskrank anzusehen sei oder nicht. Handelt es sich um eine echte Psychose, so ist die Entscheidung leicht, da nur deutlich erkennbare geistige Erkrankungen zur Verurteilung führen; wo also der Sachverständige Zweifel hat, wird Freispruch erfolgen müssen. Schwieriger ist die Entscheidung da, wo fließende Übergänge vorhanden sind, d. h. bei den Schwachsinnszuständen. Bei ihnen genügt es, wenn die Frau infolge ihres Geisteszustandes nicht in der Lage ist, zwischen einer dem Sittengesetz entsprechenden und ihm widerstreitenden Befriedigung des Geschlechtstriebes zu unterscheiden 6 ). Es kommt dabei natürlich darauf an, daß der Täter die Unfähigkeit der Frau erkannt hat, das an sie gestellte Ansinnen als unsittlich abzulehnen. Diese Frage bedarf im Einzelfalle einer besonderen Prüfung 7 ). Bei im engeren Sinne geisteskranken Frauen kommt es dagegen nicht darauf an, ob sie infolge ihrer Krankheit außerstande sind, Bedeutung, Folgen und sittliche Wertung des Geschlechtsverkehrs zu erkennen 8 ). Daher ändert auch die Zustimmung der Frau nichts an der Strafbarkeit der Handlung. Nur erhebliche Störungen sollen durch den § 176, 2 geschützt werden. Psychopathen und Leichtschwachsinnige werden durch ihn nicht erfaßt. Daß ein Urteil des Reichsgerichts vom 30. 11. 1881 die Fieberdelirien ausschließt, mutet uns heute befremdlich an; noch befremdlicher erscheint uns, daß sich dieses Urteil auf ein Gutachten der preußischen Deputation für das Medizinalwesen stützt 9 ). Ich glaube freilich, daß der Bundesgerichtshof diesen Standpunkt heute nicht mehr aufrechterhalten würde. 6

6

) I n HOCHE I I I , S . 8 9 .

) ') 8 ) 8 )

EG in JW 1934, S. 3132 u. DR 1940, S. 791, JZ 1952, S. 183. BGHSt. 2, S. 58. RGSt. 70, S. 32. Zit. nach VORKASTNER in BTJHKE I V , S. 196.

10«

148

Das Strafrecht

Eine andere, nicht zu unterschätzende Schwierigkeit ergibt sich aus der Frage: Hat der Täter um die Geisteskrankheit der geschändeten Frau gewußt ? Hier wird man m. E. in der Annahme des Nichtwissens sehr weitherzig sein müssen. Schon für den Sachverständigen ist es oft schwer eine Geisteskrankheit festzustellen, wieviel mehr für den Laien! Man wird auch berücksichtigen müssen, daß die Beziehungen der Partner zueinander häufig recht kurz sind, daß manche Geisteskranke, namentlich leicht Manische, die als solche kaum zu erkennen sind, einen gesteigerten Sexualtrieb haben und sich oft förmlich aufdrängen, und schließlich wird man die Neigung der Laien, Symptome einer Geisteskrankheit anders zu deuten, nicht übersehen dürfen. Als Beispiel dafür gebe ich auszugsweise den Brief eines Pfarrers wieder, den dieser mir über einen wegen eines politischen Vergehens Angeklagten geschrieben hat: „ A n z e i c h e n einer geiatigen E r k r a n k u n g sind mir bei P. H. n i c h t aufgefallen 1 0 ). Merkwürdig war an ihm eine große Abneigung gegen die M . . . er. E r glaubte einfach, daß ihm von allen Seiten im geheimen Schwierigkeiten gemacht würden. Selbst auf dem Wege zur Kirche wollte er gehört haben, daß ein Mann hinter ihm verächtlich .Lumpensammler' zu ihm gesagt habe . . . Als dieser Sohn im Osten gefallen ist, war H. wiederum überzeugt, daß jemand im Dorf etwas gemacht habe Es gibt allerlei Mächte, die da am Werke sind', meinte er . . . "

Es handelte sich bei diesem Patienten um eine schwere, offenbar jahrelang bestehende Schizophrenie. Was soll man aber sagen, wenn schon ein ernst zu nehmender Mann die Symptome der Geisteskrankheit beschreibt, sie aber nicht für den Ausdruck einer Geistesstörung hält ? Und wie oft begegnet es uns, daß Angehörige es nicht wahr haben wollen, daß ein Patient geisteskrank ist ? Es werden immer nur wenige Fälle übrigbleiben, in denen das Wissen des Täters um die Geisteskrankheit nachweisbar ist. Nur in diesen Fällen ist eine Verurteilung möglich, da sonst Freispruch aus § 59 StGB erfolgen muß: Wenn jemand bei Begehung einer strafbaren Handlung das Vorhandensein von Tatumständen nicht kannte, welche zum gesetzlichen Tatbestand gehören, so sind ihm diese Umstände nicht zuzurechnen.

Mißbrauch liegt auch dann nicht vor, wenn jemand mit einer schwer betrunkenen Frau den Beischlaf vollzieht, nachdem diese Frau vorher, in normalem Zustande, ihre Einwilligung gegeben hat. Schwierig ist die Entscheidung in einem von H Ü B N E R mitgeteilten Fall, in dem ein Mann auf Drängen der Mutter mit deren geisteskranker Tochter den Geschlechtsverkehr vollzogen hatte „um sie zu heilen" 11 ). Derartige Vorstellungen — „dem Mädchen fehlt ja nur ein Mann" — sind nicht selten. Auch abergläubische Vorstellungen spielen dabei manchmal mit. Es kommt für die Beurteilung darauf an, ob der Ausdruck „Mißbrauch" im Falle H Ü B N E R S objektiv oder subjektiv zu verstehen ist. Im letzteren Falle würde 10 ) n)

Von mir gesperrt. Lehrbuch der forensischen Psychiatrie. Bonn 1914, S. 191.

Sexuelle Delikte an Geisteskranken

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der Vorsatz fehlen 12 ). Ich würde mich für die objektive Fassung entscheiden, da die Behandlung Geisteskranker nicht Aufgabe von Laien sein kann; nur wenn ein entsprechender ärztlicher Rat vorläge — auch so etwas ist nicht unmöglich — würde ich der subjektiven Auffassung den Vorzug geben, würde freilich im ersten Falle weitgehend mildernde Umstände annehmen. Die Ausdrücke „Willenlosigkeit" und „Bewußtlosigkeit" sind begrifflich nicht streng voneinander zu scheiden. Ein wirklich willenloser Mensch dürfte in der Regel wenigstens auch bewußtlos sein13). Das meint das Gesetz, in dem der Begriff „Willenlosigkeit" nirgends definiert ist, aber nicht; es will auch solche Frauen schützen, deren Willen infolge Erschöpfung oder Schreck stark herabgesetzt ist, oder die ihren Willen nicht äußern können. SCHÖNKE-SCHRÖDER 1 4 ) nimmt Willenlosigkeit auch dann an, wenn die Frau ihren Willen zur Abwehr nicht geltend machen kann, weil sie bei klarem Bewußtsein z. B. durch Fesselung der Glieder oder Lähmung derselben gehindert ist. Andere lehnen diese Erweiterung ab 15 ). ASCHAFFENBTTRG meint, und VORKASTNER schließt sich ihm an, daß es auf die Unfähigkeit Widerstand zu leisten, ankomme; er versteht unter Willenlosigkeit den Zustand, der den Willen zur Abwehr aus irgend einem Grunde nicht zur Geltung kommen läßt 16 ). Ich glaube, daß diese Aulfassung sich aus dem Sinne des § 176 Abs. 1 und 3 ableiten läßt und daß sie den praktischen Bedürfnissen am ehesten gerecht wird. In beiden Fällen sind geistig gesunde Personen gemeint; auf krankhafter Grundlage brauchen die Zustände der Willenlosigkeit oder Bewußtlosigkeit nicht zu beruhen. Diese von B E C K E R in der Forensisch-Psychiatrischen Vereinigung zu Dresden ausgesprochene Ansicht 17 ) ist schon damals in der Diskussion bekämpft worden. Zu den Zuständen der Bewußtlosigkeit gehören tiefer Schlaf, Narkose, Ohnmacht, schwere Betrunkenheit; Willenlosigkeit im oben dargelegten Sinne kann bei Hypnose, Erschöpfung, heftigem Schreck, auch wohl in depressiven Phasen vorhanden sein. Bezüglich der einzelnen Zustände nur kurze Hinweise! Im natürlichen Schlaf an einer Frau den Beischlaf zu vollziehen, wird nur möglich sein, wenn der Schlaf infolge besonderer Umstände sehr tief ist. In den übrigen Bewußtlosigkeitszuständen besteht diese Möglichkeit natürlich; ebensowenig ist die Möglichkeit, daß die Hypnose einmal zu einem sexuellen Angriff mißbraucht wird, ganz abzulehnen, wenn auch die Wahrscheinlichkeit nur gering ist. Gelegentlich wird gegen den Narkotiseur oder Hypnotiseur die Anschuldigung des sexuellen Mißbrauchs erhoben. Man kann sich dagegen schützen, 12

13

) S o a u c h VORKASTNEB, a. a. O., S. 199.

) Jedoch nicht immer.

" ) S. 5 3 7 .

15

) Z. B. der Leipziger Kommentar und OLSHATTSEN.

16

) I n HOCH® I I I , S. 92.

") AZPs. 58. 1897, S. 879.

150

Das Strafrecht

indem man regelmäßig für beide Handlungen Zeugen zuzieht. Für die Hypnose steht dem aber entgegen, daß eine psychische Beeinflussung in Gegenwart Dritter in ihrer Wirkung mindestens stark eingeschränkt ist; jede Hypnose, die einen therapeutischen Erfolg haben soll, setzt ein Vertrauensverhältnis und damit volle Offenheit dem Arzt gegenüber voraus. Die letztere würde in Gegenwart eines Dritten Not leiden. Falsche Anschuldigungen können in erpresserischer Absicht erhoben werden. Doch kommen auch gutgläubige Handlungen dieser Art vor, wenn etwa geschlechtliche Erregungen in der Hypnose auftreten und nun Nachempfindungen davon die Überzeugung hervorrufen, sexuell mißbraucht zu sein. HÜBNER18) berichtet über einen sehr interessanten Fall dieser Art, in dem Träume von außerordentlicher sinnlicher Lebhaftigkeit diesen Verdacht erzeugt hatten. Ähnliches kann auch bei Narkosen passieren. Daß der Alkohol die Verführung erleichtert, ist so bekannt, daß es kaum erwähnt zu werden braucht. Daß er gelegentlich dazu benutzt wird, um seelischen Widerstand zu brechen, der sich nüchtern geltend machte, darf als ausgemacht gelten. Erwachsene Frauen aber kennen die Wirkung des Alkohols soweit, daß sie ihr Verhalten danach einrichten müssen. Daher dürften die Voraussetzungen des § 177 nur sehr selten gegeben sein. Erst recht trifft das für die Narkose und Hypnose zu, so daß der amtliche Entwurf vom Jahre 1925 diese Bestimmung ganz fallen gelassen hat.

13. Verfall in Siechtum oder in

Geisteskrankheit

§ 223. Wer vorsätzlich einen anderen körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit beschädigt, wird wegen Körperverletzung mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. § 224. Hat die Körperverletzung zur Folge, daß der Verletzte ein wichtiges Glied des Körpers, das Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder die Zeugungsfähigkeit verliert oder in erheblicher Weise dauernd entstellt wird, oder in Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis nicht unter einem Jahr zu erkennen. § 225. War eine der vorbezeichneten Folgen beabsichtigt und eingetreten, so ist auf Zuchthaus von zwei bis zu zehn Jahren zu erkennen. Nach § 228 sind mildernde Umstände zulässig für die §§ 223 und 224, nicht aber für § 225. § 229. Wer vorsätzlich einem anderen, um dessen Gesundheit zu beschädigen, Gift oder andere Stoffe beibringt, welche die Gesundheit zu zerstören geeignet sind, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft. Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung verursacht worden, so ist auf Zuchthaus nicht unter fünf Jahren und, wenn durch die Handlung der Tod verursacht worden, auf Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder auf lebenslängliches Zuchthaus zu erkennen.

Diese Bestimmungen führen hinein in die Probleme der Erfolgshaftung und des Kausalzusammenhangs. Die Erfolgshaftung ist ein Überbleibsel aus primitiveren Rechtszuständen. Sie besteht darin, daß weniger auf die Ab18

) 1. c., S. 187.

Verfall in Siechtum oder in Geisteskrankheit

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sieht des Täters, die bei seiner Handlung vorwaltet, also auf die Schuld, als eben auf den Erfolg dieser Handlung gesehen wird. Das moderne Rechtsgefühl verlangt zwar, daß die Strafe der Schuld angemessen sein soll; ausnahmslos ist das im geltenden Recht jedoch nicht durchgeführt, die Höhe der Strafe wird vielmehr auch dann vom Erfolg abhängig gemacht, wenn dieser Erfolg nicht beabsichtigt war (so etwa in den §§ 224, 226). Man unterscheidet daher Erfolgsverbrechen, von bloßen raiverbrechen. Gegen die übertriebene Bewertung des Erfolges wird seit langem auch von Juristen opponiert. Unter dem Einfluß des Willensstrafrechts sind wir geneigt, die Absicht und die Beweggründe in den Vordergrund zu stellen1). Bei den Erfolgsverbrechen ist nun ursächlicher Zusammenhang zwischen Willensbetätigung und Erfolg erforderlich. Damit kommen wir zur Frage nach dem Kausalzusammenhang. Ist die Körperverletzung die Ursache des Siechtums (einschließlich der Lähmung) oder der Geisteskrankheit ? Hier stehen sich zwei Theorien gegenüber, die sog. Äquivalenz- oder Bedingungstheorie und die sog. Adäquanztheorie2). Nach der herrschenden, auch vom Reichsgericht vertretenen Lehre ist „haftungsbegründende Ursache im Strafrecht jede Bedingung des konkreten Erfolges. Alle Bedingungen sollen nicht nur in kausaler, sondern auch in juristischer Beziehung gleichwertig, jede Bedingung haftungsbegründende Ursache des Erfolges sein". Nach der Adäquanztheorie dagegen „ist Ursache im Strafrecht nicht jede, sondern nur diejenige Bedingung des konkreten Erfolgs, die generell geeignet ist, einen solchen Erfolg herbeizuführen. Ursache soll nicht jede, sondern nur die dem Erfolg adäquate Bedingung sein" 3 ). Wir Ärzte bevorzugen die Adäquanztheorie, die auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts (einschließlich des Versicherungsrechts) ausschließlich zur Anwendung kommt. Im Stralrecht dagegen bedient man sich der Äquivalenztheorie aus rein praktischen Erwägungen heraus; sie kann hier keinen Schaden anrichten, weil jede Bestrafung eine rechtswidrige Handlung voraussetzt, die zugleich schuldhaft sein muß, d. h. der Täter hätte bei seinem Handeln wenigstens den schädlichen Erfolg voraussehen müssen 4 ). Wenn das Reichsgericht selbst in einem Urteil vom 23. 6. 19395) die Äquivalenz1

) Näheres über Erfolgshaftung s. MEZGER, Strafrecht, 1933, S. 261 ff.; kurz und sehr klar SCHWINGE, Militärstrafgesetzbuch, 3. Aufl., 1940, S. 8f. 2 ) Dazu MEZGER, 1. c., S. 109ff. 3 ) Ausführlicher soll der Kausalzusammenhang im Abschnitt über Bürgerliches Recht behandelt werden; dort wird die Adäquanztheorie bevorzugt. 4 ) Dazu der Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 5. Aufl., § 15, Nr. 1, S. 79: „Maßgebend für diese Begrenzung können nur die praktischen Bedürfnisse des Rechtslebens, nicht andere, philosophische, logische, naturwissenschaftliche sein" und § 15 Nr. 2, S. 81: „Ihre praktische Korrektur erhält dieser weitgehende Ursachenbegriff durch die Beschränkung, die die für die Strafe allein maßgebende Zurechnung der Schuld bringt." M Ztschr. d. Akad. f. deutsch. Recht 1939, S. 615.

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Das Strafrecht

theorie verlassen hat, wie KNOLL 6 ) meint, ohne sich wohl ganz darüber klar zu sein, so wird man daraus auf eine Änderung der Rechtsprechung nicht schließen dürfen. Wichtig ist diese Frage für die sog. Neurosen, die später eingehender behandelt werden sollen. Hier sei nur auf folgendes hingewiesen: Der Richter pflegt bei Verhängung einer Strafe auch den Erfolg der strafbaren Handlung mit zu bewerten. Die Neurosen täuschen nun vielfach schwere Gesundheitsschäden vor, während sie in Wirklichkeit, wie später zu zeigen sein wird, irgendwie wunschbetonte, zweckgerichtete, von der subjektiven Mitwirkung des Verletzten abhängige Reaktionen des letzteren sind. Es würde dem Beschuldigten gegenüber ungerecht sein, wollte man die neurotischen Störungen ebenso werten wie organisch bedingte Krankheitserscheinungen oder Verletzungsfolgen. Ein von mir konstruiertes, aber durchaus im Bereich der Möglichkeit liegendes Beispiel möge das erläutern: Bei einer harmlosen Rauferei gibt jemand einem anderen eine Ohrfeige. Dieser reagiert darauf einige Tage später mit einer Lähmung beider Beine, bei der verschiedene Motive (Rachsucht, Geltungsbedürfnis, Verlangen nach Entschädigung) mitwirken können. In solchen Fällen, in denen die Krankheitssymptome nicht organisch bedingt sind, wäre die Anwendimg der Adäquanztheorie dringend erwünscht, weil hier die Schuld des Täters sonst viel zu groß erscheint. Unter Siechtum wird ein chronischer Krankheitszustand verstanden, der, den Gesamtorganismus des Verletzten ergreifend, ein Schwinden der Körperkräfte und Hinfälligkeit zur Folge hat und dessen Heilung sich überhaupt nicht oder doch der Zeit nach sich nicht bestimmen läßt7). Damit wird stets auch, wie E. SCHTXLTZE mit Recht bemerkt, eine erhebliche Herabsetzung der Erwerbsfähigkeit verbunden sein8). Für den Psychiater sind in dieser Beziehung wichtig die Hirnverletzungen einschließlich der Gehirnerschütterung und der Gehirnkontusion und die vielfach mit ihnen verbundenen oder auch ohne sie auftretenden psychogenen Störungen. Die Hirnverletzungen sind in ihren Folgeerscheinungen so verschiedenartig, daß sich nichts Generelles über sie sagen läßt. Bei ihrer Beurteilung ist insofern Vorsicht geboten, als noch nach langer Zeit eine allmähliche Verschlechterung des Zustandes auftreten kann. Namentlich mit spät auftretenden epileptischen Anfällen muß gerechnet werden. Die Beurteilung der Folgeerscheinungen von Hirnerschütterungen und Hirnkontusionen ist, wie der letzte Krieg gezeigt hat, nicht ganz einfach. Es gehört Erfahrung und Können dazu, um wirklich vorhandene Beschwerden von Übertreibungen zu unterscheiden. Nach den Erfahrungen, die seit dem Kriege gemacht worden sind, klingen die Beschwerden nach Hirnerschütterung meist nach kurzer Zeit ab. Das hängt jedoch ab von der Schwere der 6) 1941, ') 8)

In ARENDTS, Rechtswissenschaft, Ursachenbegriff und Neurosenfrage. Leipzig S. 92. RGSt. 72, S. 322 u. 346. Ärztl. Sachverst. Ztg. 1898.

Verfall in Siechtum oder in Geisteskrankheit

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Hirnerschütterung, vom Alter des Betroffenen und von seiner Anlage. Wenn sie nach 2 Jahren nicht geschwunden sind, muß man entweder an eine Gehirnkontusion, d. h. an eine sog. Gehirnprellung denken oder aber an eine rentenwunschbedingte Fixierung der Beschwerden. Eine Entscheidung läßt sich manchmal nur durch das Luftenzephalogramm treffen, das aber nur mit Zustimmung des Geschädigten angefertigt werden darf. Auch dieses ist ebenso wie das Elektenzephalogramm nur im Zusammenhang mit allen übrigen Symptomen von Bedeutung; so kann eine geringfügige Asymmetrie der Hirnhöhlen ebensogut angeboren sein, wie manche andere körperliche Ungleichheiten 9). Auf die psychogenen Störungen habe ich schon kurz hingewiesen. Bei ihnen hängt die Prognose vielfach von Faktoren ab, die wir nicht in der Hand haben: von der Einstellung der Angehörigen, dem mehr oder weniger zweckmäßigen Verhalten des Hausarztes, den wirtschaftlichen Verhältnissen usw. Wir werden diese Frage später ausführlich zu besprechen haben. Geisteskrankheiten, die durch Verletzung herbeigeführt sind, sind sehr selten. Auch darüber haben sich die Anschauungen geändert. Noch während des ersten Weltkrieges glaubten wir, daß die sog. endogenen Psychosen (Schizophrenie und manisch-depressives Irresein) durch körperliche oder seelische Traumen entstehen könnten, und haben in zahlreichen Fällen deshalb Dienstbeschädigung angenommen. Gerade aber der Krieg hat in allen kriegführenden Ländern übereinstimmend gezeigt, daß diese Meinung falsch war. Heute wissen wir, daß bei diesen Psychosen das Wesentliche eine ererbte Anlage zur Krankheit ist und daß durch Verletzungen schlimmstenfalls einmal eine dieser Krankheiten vorzeitig ausgelöst werden kann, daß also die Verletzung höchstens eine Teilursache, aber nicht die wichtigste ist. Auch das ist übrigens selten. Ähnlich ist es mit der progressiven Paralyse. In allen diesen Fällen wird man einen Kausalzusammenhang nur dann annehmen können, wenn es sich um eine erhebliche Verletzung gehandelt hat und wenn die Erkrankung sich im unmittelbaren Anschluß an die Verletzung entwickelt hat. Oft genug werden sich erste Anzeichen der Erkrankung auch schon für die Zeit vor der Verletzung nachweisen lassen. Hirnverletzungen und traumatische Epilepsie sind nur dann zu den Geisteskrankheiten zu rechnen, wenn deutliche psychische Veränderungen vorhanden sind. Die Körperverletzung beschränkt sich nicht nur auf Verletzungen durch Schlag, Stich usw.; auch andere Gesundheitsschädigungen sind, wie aus § 223 StGB hervorgeht, unter den Begriff der Körperverletzung zu rechnen. Für den Psychiater sind Vergiftungen verschiedener Art von einer gewissen Bedeutung. Ich sah einmal eine Vergiftung durch Thallium, das eine Frau 9 ) S. dazu KLOOS in SCHÖNEBERG, Die ärztliche Beurteilung Beschädigter. 1955, S. 365; Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen. 1954, S. 105; sehr eingehend TÖNNIS, Ärztl. Forschung 1948, S. 180; DEMME in

FISCHER, HERGET, MOLINEUS, D a s ärztliche G u t a c h t e n i m V e r s i c h e r u n g s w e s e n , 2.

Aufl., 1955, Bd. II, S. 1113; BAY, Handb. d. inn. Medizin, Bd. V, S. 373ff.

154

Das Strafrecht

ihrem Sohne, inKuchen gebacken, mit in die Klinik brachte. Auch bei Kohlenoxydvergiftungen kommen länger dauernde Psychosen vor. Es kann auch einmal vorkommen, daß ein morphinistischer Arzt ohne ausreichende Indikation einem Patienten Morphium gibt und ihn dadurch süchtig macht. Freilich spielen diese Fälle praktisch eine nur sehr untergeordnete Rolle.

14. Die Verantwortlichkeit

des Irrenarztes und

Irrenpflegers

Hierüber sei nur das Wichtigste in kurzen Zügen gesagt! Der Irrenarzt, insbesondere der Anstaltsleiter trägt nicht nur dem Kranken und seinen Angehörigen, sondern auch der Allgemeinheit gegenüber ein hohes Maß von Verantwortung. Sobald ein Kranker in eine Klinik, ein Krankenhaus oder in eine Anstalt aufgenommen ist, übernimmt der Leiter der Anstalt die Fürsorgepflicht für ihn in weitestem Umfange. Er hat einerseits für sachgemäße ärztliche Behandlung zu sorgen, andererseits Verletzungen des Kranken durch andere und Verletzungen anderer durch den Kranken zu verhindern. Diese Aufgaben haben in einer Irrenanstalt entgegengesetzte Vorzeichen: Vom Standpunkt der ärztlichen Behandlung aus geht die Tendenz dahin, dem Kranken möglichst viel Freiheit zu lassen; der Schutz des Kranken vor sich selbst und der Schutz anderer vor dem Kranken erfordert dagegen strenge Beaufsichtigung. Die Aufgabe des Irrenarztes besteht darin, beide Tendenzen so aufeinander abzustimmen, daß im Einzelfall der gerade diesem Falle angepaßte Mittelweg gefunden wird. Dabei ist das Pflegepersonal ausführendes Organ und als solches in seinemBereiche mitverantwortlich. Für die Auswahl des Pflegepersonals ist wiederum der Anstaltsleiter verantwortlich. Über die Aufnahme von Kranken sind die Bestimmungen in den Ländern des Bundesgebietes sehr verschieden; sie können daher hier nicht im einzelnen wiedergegeben werden. Es wäre sehr erwünscht, wenn für das ganze Bundesgebiet eine einheitliche Regelung geschaffen würde 1 ). Das erste Gesetz dieser Art ist das Badische Irrenfürsorgegesetz vom 25. 6. 1910, das sich ausgezeichnet bewährt hat. In Hessen, wo mir die Verhältnisse näher bekannt sind, ist nach einer Aussprache in Darmstadt 2 ), in der Psychiater und Juristen zu Wort kamen, unter Mitwirkung von Psychiatern ein Freiheitsentziehungsgesetz zustande gekommen, das sich trotz gewisser Mängel nach anfänglichen Schwierigkeiten als im ganzen brauchbar erwiesen hat. Es wurde dadurch auch ein regelmäßiger Kontakt zwischen Richtern und Psychiatern geschaffen, dessen Wert für beide Teile zutage trat 3 ). EHRHARDT und VILLINGER haben in den Ärztl. Mitteilungen 1954, S. 636 einen entsprechenden Entwurf veröffentlicht; mit dem Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes „über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehungen" konnte sich die Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater nicht einverstanden erklären. 2 ) Richter und Arzt, S. 24ff. und JZ 1951, S. 432. 3 ) Die strittige Frage, ob der Vormund eines wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigten Volljährigen berechtigt ist, sein Mündel in einer psychiatri-

Die Verantwortlichkeit des Irrenarztes und Irrenpflegers

155

Bei den Kranken, die nicht nach einem dieser Gesetze aufgenommen sind, setzt sich der aufnehmende oder der behandelnde Arzt, aber auch der Anstaltsleiter der Gefahr aus, wegen Freiheitsberaubung verurteilt zu werden. Die Bestimmungen darüber sind im § 239 StGB enthalten. Dieser lautet : 1. Wer vorsätzlich und widerrechtlich einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise des Gebrauchs der persönlichen Freiheit beraubt, wird mit Gefängnis oder mit Geldstrafe bestraft. 2. Wenn die Freiheitsentziehung über eine Woche gedauert hat oder wenn eine schwere Körperverletzung des der Freiheit Beraubten durch die Freiheitsentziehung oder die ihm während derselben widerfahrene Behandlung verursacht worden ist, so ist auf Zuchthaus bis zu zehn Jahren zu erkennen. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter einem Monat ein. 3. Ist der Tod des der Freiheit Beraubten durch die Freiheitsentziehung oder die ihm während derselben widerfahrene Behandlung verursacht worden, so ist auf Zuchthaus nicht unter drei Jahren zu erkennen. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter drei Monaten ein.

In den Jahren nach 1945 sind mehrere Verfahren dieser Art durchgeführt worden, die nach meiner Kenntnis zwar sämtlich mit dem Freispruch der Anstaltsdirektoren endeten, aber doch die Gefahren deutlich machten, die dem pflichtbewußten Psychiater aus der Diskrepanz zwischen dem Verlangen des Kranken einerseits, der ärztlich wohl begründeten Ansicht andererseits erwachsen können. Durch die entsprechende Gesetzgebung ist diese Gefahr geringer geworden. Danach bedürfen Einweisungen durch die Polizei und durch Behörden der richterlichen Bestätigung; dagegen bedarf der nach den Vorschriften des BGB bestellte Vormund zur Einweisung seines Mündels in eine geschlossene Anstalt keiner richterlichen Anordnung 4 ). Schon die Unterbringung des Kranken erfordert eine gewisse Erfahrung. Der Kranke kommt zunächst je nach seinem Verhalten auf eine ruhige oder unruhige Aufnahmeabteilung mit ständiger Wache. Bessert sich sein Zustand, so wird er auf freiere Abteilungen verlegt, wird im Garten, in der Landwirtschaft, im Büro, in Handwerkerstuben, in Familien oder in sonst geeigneter Weise beschäftigt und so allmählich wieder für die Freiheit vorbereitet. Dabei lassen sich Entweichungen nicht ganz vermeiden. So paradox es klingt: eine Anstalt, in der keine Entweichungen vorkommen, ist eine schlecht geleitete Anstalt. Bei ihr ist die Beaufsichtigungstendenz zuungunsten der ärztlichen Bestrebungen zu stark betont. Anders liegt die Sache bei Untersuchungsgefangenen, bei denen ärztliche Rücksichten hinter den öffentlichen Aufgaben zurücktreten müssen. Gerade bei ihnen erlebt man jedoch selten Entweichungen, weil sie vielfach an der Begutachtung interessiert sind. Für sie haftet das Pflegepersonal wie die Gefangenenaufseher; sehen Anstalt unterzubringen, ist vom Bundesgerichtshof bejaht worden (JZ 1952, S. 47). 4 ) BGHZ 17, S. 10, Beschluß vom 30. 3. 1955. Der von einer Freiheitsentziehung Betroffene angeblich Geisteskranke ist in dem Verfahren nach Art. 104 II GG prozeßfähig. BVerwG Urteil vom 12. 11. 1954. JZ 1955, S. 242; er kann daher gegen die Unterbringung klagen.

156

Das Strafrecht

es ist nach § 121, oder, soweit es sich um Beamte handelt, nach § 347 StGB strafbar. Schwierig ist die Unterbringung gemeingefährlicher verbrecherischer Geisteskranker, die gemäß § 42 b StGB eingewiesen sind. Ich habe darüber bereits oben (S. 660) einiges gesagt. Der Anstaltsleiter trägt hierbei naturgemäß eine besondere Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. E r soll aber auch die ärztliche Behandlung nicht vernachlässigen und darf die Untergebrachten im Rahmen der Anstaltsmöglichkeiten beschäftigen. Daß bei ihnen einmal der § 346 StGB in Frage kommen könnte, wie AscHAi1f e n b t t r g meint 5 ), ist zwar theoretisch möglich, praktisch aber unwahrscheinlich. Der Paragraph betrifft u. a. Anstaltsbeamte, die „wissentlich jemand der im Gesetz vorgesehenen Strafe oder Maßregel" entziehen. Da Vorsatz erforderlich ist — Fahrlässigkeit genügt nicht —, wird ein solches Delikt kaum einmal zustande kommen. Die Behandlung erregter Kranker hat sich im Laufe der letzten 50 Jahre erheblich geändert. Aus eigener Erfahrung läßt sich darüber etwa folgendes berichten: Als ich vor dem 1. Weltkriege in einer später polnisch gewordenen Anstalt tätig war, war es dort üblich, erregte Frauen — Frauen sind im allgemeinen stärker erregt als Männer — zu „wickeln". Man umwickelte sie mit einem feuchten Bettlaken, um das eine Wolldecke so eng gepackt wurde, daß die Patientin sich nicht bewegen konnte. Nur der Kopf sah aus dem Paket hervor. So ließ man sie manchmal 24 Stunden liegen. In anderen Fällen benutzte man eine Hängematte, die man am Fuß- und Kopfende des Bettes befestigte, so daß sie frei über der Matratze schwebte. Die Hängem a t t e wurde dann, nachdem die Patientin hineingelegt war, über ihr verschnürt. Sie konnte sich dann zwar bewegen, konnte aber ihren Platz nicht verlassen. Dazu wurde Isolierung in Einzelzellen und medikamentös Scopolamin, evtl. mit Morphium kombiniert angewandt. Später habe ich in anderen Anstalten auch Zwangsjacken gesehen. Daß schon in jener Zeit eine andersartige Behandlung möglich war, sah ich nach dem ersten Weltkriege in der damaligen Hamburger Anstalt Friedrichsberg, in der man ohne Wickel, ohne Hängematten, ohne Zwangsjacken bei nur vorübergehender Isolierung auskam. Hier wurden Dauerbäder gern verwendet. Vorübergehende Isolierungen sind auch heute noch ein brauchbares Mittel, um akut Erregte zu beruhigen. Dauerbäder werden kaum noch angewandt, weil sie relativ viel Personal erfordern und weil es gelegentlich dabei zu Schädigungen des Kranken dadurch kommt, daß heißes Wasser zugelassen wird, ohne daß der Kranke vorher aus der Wanne genommen ist. In solchen Fällen ist Bestrafung aus §§ 230 oder 222 StGB möglich. Die beiden Paragraphen haben jetzt folgenden Wortlaut: § 230. Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung eines anderen verursacht, wird mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. § 222. Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Gefängnis bestraft. 6

) In Hoch® III, S. 106.

Die Verantwortlichkeit des Irrenarztes und Irrenpflegers

157

Zur Bestrafung kann u. a. auch die Isolierung eines Kranken ohne ärztliche Anordnung führen, wenn der Kranke sich in der Zelle selbst verletzt oder tötet. Den Suizid in den Anstalten völlig zu verhindern, ist kaum möglich. Meistens handelt es sich um depressive Kranke; auf die Gefahr eines Selbstmordes bei ihnen muß das Pflegepersonal hingewiesen werden. Ist der Selbstmord durch Fahrlässigkeit ermöglicht worden, so droht gleichfalls Bestrafung. Nicht selten aber töten sich solche Kranke in einer Krankheitsphase, in der die Besserung schon so weit fortgeschritten scheint, daß lreiere Behandlung angeordnet wird. Irgendwelche plötzlich auftauchenden Impulse führen dann zu sehr ernsthaften Selbstmordversuchen 6 ). Die Art der Behandlung hängt weitgehend davon ab, wieviel Personal zur Verfügung steht. In den letzten Jahrzehnten haben sich nun sehr wesentliche Änderungen in der Behandlung erregter Kranker vollzogen: man hat beruhigend wirkende Medikamente gefunden, in manchen Fällen hilft die Schockbehandlung ; als sehr beruhigend hat sich eine systematische Arbeitstherapie bewährt, durch die die Kranken abgelenkt werden. Diese von S I M O N in der Anstalt Gütersloh entwickelte Methode wird auch jetzt noch weitgehend angewandt. Ein Wort noch zur Entlassung der Kranken! Dabei haben wir am allermeisten mit uneinsichtigen und oft mißtrauischen Angehörigen zu kämpfen. Wir werden Entlassungsanträgen gern unsere Zustimmung geben, wenn keine besondere Gefahr zu befürchten ist und wenn wir wissen, daß der Kranke, der keineswegs vollständig geheilt sein muß, in eine geordnete Umgebung kommt, in der genügende Aufsicht möglich ist. Besteht Selbstmordgefahr, so können wir den Angehörigen nur von der Herausnahme abraten, müssen den Kranken aber auf ihr Verlangen entlassen. In solchen Fällen ist es zweckmäßig, sich durch Unterschrift ausdrücklich bestätigen zu lassen, daß der Kranke gegen ärztlichen Rat aus der Anstalt herausgenommen ist. Gemeingefährliche Kranke wird man mit Hilfe der Gerichte auch gegen den Willen der Angehörigen halten können. Der Beruf des Irrenarztes und des Irrenpflegers fordert Entsagimg und Idealismus. Kein ärztlicher Beruf ist undankbarer als der des Irrenarztes, der allen möglichen Angriffen und Verdächtigungen, leider auch in der Presse ausgesetzt ist. Notwendig ist als Ausgleich, daß er in der Öffentlichkeit wenigstens dadurch Resonanz findet, daß die Geisteskranken nicht als Menschen niederer Art betrachtet werden, sondern als Unglückliche, deren Los man nach Möglichkeit erleichtern soll. Vergessen wir nicht, daß viele bedeu6 ) Über Selbstmordgefahr bei Manisch-Depressiven konnte ich feststellen: Von 110 manisch-depressiven Männern, die 1904—1913 in der Landesheilanstalt Marburg behandelt waren, waren 1941 92 gestorben, davon 23 (25%) durch Selbstmord; von 231 Frauen waren 176 gestorben, davon 18 (10%) durch Selbstmord (Ztschr. f. psych. Hygiene 14, 1941, S. 1.)

Das Strafrecht

158 tende Männer — ich nenne nur Geisteskranke endeten.

HÖLDERLIN, R . SCHUMANN, NIETZSCHE

— als

Die Verantwortlichkeit des Irrenarztes und des Personals erstreckt sich auch auf das Berufsgeheimnis, das durch den § 300 StGB geschützt wird. Dieser lautet: (1) Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis offenbart, das ihm in seiner Eigenschaft 1. als Arzt, Zahnarzt, Apotheker oder Angehöriger eines anderen Heilberufs, der eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert, 2.

...

a n v e r t r a u t worden oder bekannt geworden ist, wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen bestraft. (2) Den im Absatz 1 Genannten stehen ihre berufsmäßig tätigen Gehilfen u n d die Personen gleich, die zur Vorbereitung auf den Beruf an der berufsmäßigen Tätigkeit teilnehmen. Dasselbe gilt f ü r denjenigen, der nach dem Tode des zur W a h r u n g des Geheimnisses nach Absatz 1 Verpflichteten das von dem Verstorbenen oder aus dessen Nachlaß erlangte Geheimnis unbefugt veröffentlicht. (3) Handelt der Täter gegen Entgelt oder in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen oder jemandem einen Nachteil zuzufügen, so ist die Strafe Gefängnis. Daneben kann auf Geldstrafe e r k a n n t werden. (4) Die Verfolgung t r i t t n u r auf Antrag ein. Die Strafprozeßordnung sagt dazu noch folgendes: § 53: I. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt: 1. Geistliche . . .; 2. Verteidiger des Beschuldigten . . .; 3. Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer (vereidigte Bücherrevisoren) und Steuerberater, Ärzte, Zahnärzte, Apotheker u n d H e b a m m e n über das, was ihnen in dieser Eigenschaft anvertraut worden oder b e k a n n t geworden ist; 4. Mitglieder des Bundestages . . .; 5. Redakteure, Verleger, Herausgeber. . . ; 6. I n t e n d a n t e n , Sendeleiter . . . I I . Die in Absatz I Nr. 2 u n d 3 Genannten dürfen das Zeugnis nicht verweigern, wenn sie von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden sind. § 53 a : I . Den in § 53 Abs. I Nr. 1 bis 4 Genannten stehen ihre Gehilfen u n d die Personen gleich, die zur Vorbereitung auf den Beruf an der berufsmäßigen Tätigkeit teilnehmen. Über die Ausübung des Rechts dieser Hilfspersonen, das Zeugnis zu verweigern, entscheiden die in § 53 Abs. I Nr. 1 bis 4 Genannten, es sei denn, d a ß diese Entscheidung in absehbarer Zeit nicht herbeigeführt werden k a n n . II. Die E n t b i n d u n g von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit (§ 53 Abs. II) gilt auch f ü r die Hilfspersonen.

Diese Bestimmungen haben im Laufe der Zeit gewechselt; der § 300 StGB war ersetzt durch den § 13 der Reichsärzteordnung vom 13. 12. 1935, der in seinem dritten Absatz noch sagte: „Der Täter ist straffrei, wenn er ein solches Geheimnis zur Erfüllung einer Rechtspflicht oder sittlichen Pflicht oder sonst zu einem nach gesundem Volksempfinden berechtigten Zweck offenbart und wenn das bedrohte Rechtsgut überwiegt." Dieser Paragraph ist

Die Verantwortlichkeit des Irrenarztes und Irrenpflegers

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jetzt wieder durch den gegenüber der früheren Fassung etwas abgeänderten § 300 StGB ersetzt. Dieser dient einem hohen Zweck7), nämlich der Schaffung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient, ohne das eine sachgemäße Beratung und Behandlung nicht möglich ist. Das gilt besonders für den Psychiater. Hat jemand eine Blinddarmoperation durchgemacht, so hat er in der Regel keinen Grund, das zu verheimlichen. Ganz anders ist es, wenn es sich um Fragen psychischer Art handelt, die mit dem Arzt besprochen werden. Dabei werden oft genug Dinge berührt, die das Innerste des Menschen betreffen, Handlungen, deren er sich schämt, deren Kenntnis ihn in der Achtung anderer herabsetzen würde. Hier ist wirklich Schweigen geboten. Was soll nun geheim gehalten werden ? Vieles von dem, was uns berichtet wird, ist ja mehr oder weniger bekannt. Dazu ist zu sagen, daß Tatsachen, die über den Kreis der Wissenden hinausgedrungen sind, die einem größeren Personenkreis, der nicht durch individuelle Beziehungen miteinander verbunden ist, bekannt geworden sind, nicht mehr als geheim angesehen werden können. Die Bestimmung spricht von „fremden Geheimnissen". Damit soll gesagt werden, daß die Schweigepflicht des Arztes nicht nur Tatsachen des Privatlebens betrifft, sondern auch Dinge, die er bei einer Beratung zufällig erfährt, die aber aus irgendeinem Grunde geheim bleiben sollen. Es kommt dabei darauf an, daß nach praktischer Lebenserfahrung ein vernünftiges Interesse an der Geheimhaltung besteht. Das Reichsgericht hat solche Tatsachen als Geheimiiisgegenstand bezeichnet, „deren Bekanntwerden nicht im Interesse der betreffenden Person liegt, vielmehr geeignet ist, deren Ehre, Ansehen oder Familienverhältnisse zu beeinträchtigen oder zu schädigen". Das Geheimnis muß dem Arzt eben in seiner Eigenschaft als Arzt anvertraut oder bekannt geworden sein. Es kann, um ein Beispiel anzuführen, passieren, daß der Arzt bei seiner Untersuchung das Vorhandensein einer alten Lues feststellt, von der der Untersuchte nichts wußte. Dann ist bei dieser Gelegenheit dem Arzt etwas bekannt geworden, was er geheimzuhalten hat. Die Geheimhaltungspflicht umfaßt auch den Befund, die Heilungsaussichten, die etwaigen Folgen für Beruf und Privatleben des Kranken, aber auch strafbare Handlungen. Der Paragraph spricht von unbefugter Offenbarung. Daraus ergibt sich die Frage, wann der Arzt befugt ist, die ihm anvertrauten Geheimnisse zu offenbaren. Darüber enthält die Bestimmung nichts. In Kürze läßt sich darüber etwa folgendes sagen. Die Berechtigung zur Offenbarung ergibt sich zunächst aus Gesetzen und Verordnungen, z. B. bei übertragbaren Krankheiten, bei denen eine Meldepflicht besteht. ') Die folgenden Ausführungen sind namentlich E. SCHMIDT und SCHÖNKESCHRÖDER entnommen. Siehe weiter auch GRÜTER, Ärztl. Mitteilungen 1956, S. 64, 99 u. 470; von juristischer Seite RAHN, Ärztl. Mitteil. 1955, S. 187 „Von den Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht". Dazu WEISSER, Ärztl. Mitteil. 1956, S. 78 und RAHN ebendort, S. 79.

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Das Strafrecht

Den Versicherungsträgem gegenüber besteht eine beschränkte Auskunftspflicht, damit es ihnen möglieh wird, Grund und Höhe der eigenen Leistungspflicht zu bestimmen und die eigene Leistungspflicht gegen die anderen Versicherungsträger abzugrenzen. Die Sozialgerichte fordern nach meinen Erfahrungen Auskünfte und Krankengeschichten nur an, nachdem der Kläger damit sein Einverständnis erklärt hat. Für die sachliche Beurteilung der jeweiligen Frage sind sie in diesen Verfahren von großem Wert. In solchen Fällen kann der Arzt alles sagen was er weiß. Dasselbe Verfahren ist anzuwenden, wenn Behörden irgendwelcher Art Auskünfte wünschen. Es kann nun sein, daß der Arzt in eine Situation gerät, in der die Geheimhaltungspflicht mit anderen Pflichten in Widerspruch gerät; in solchen Fällen muß er die Pflichten gegeneinander abwägen. Er ist z. B. zur Offenbarung befugt, wenn er als Angeklagter ohne sie seine Verteidigung nicht wirkungsvoll führen könnte8). Der Psychiater befindet sich überhaupt in dieser Beziehung in einer etwas anderen Lage als die übrigen Ärzte. Während bei den letzteren sich die Diagnose aufbaut auf der vom Kranken selbst erhobenen Vorgeschichte (der sog. Eigenanamnese) und dem Befund, sind für den Psychiater auch die Angaben der Angehörigen, guter Freunde, Kollegen, ja selbst Fremder, die zufällig Beobachtungen anstellen konnten, wie Hausbewohner, Nachbarn u. dgl. (Fremdanamnese) manchmal von größter Bedeutimg. Der Kontakt des Arztes mit den Angehörigen ist daher auch in der Regel viel intensiver als bei körperlichen Erkrankungen. Man muß die Angehörigen über mancherlei, was im Krankheitsbilde wichtig erscheint, befragen, muß sie aber auch darüber unterrichten, einmal um ihnen die Notwendigkeit weiterer Anstaltsbehandlung plausibel zu machen, dann aber auch, um ihnen bei der Entlassung eine sachgemäße Pflege und Beaufsichtigung zu ermöglichen. Dabei können leicht auch Fragen auftauchen, die das Berufsgeheimnis berühren. Ich will nur eine dieser Möglichkeiten erwähnen. Eine sehr häufige Frage ist die nach der Ursache der Geisteskrankheit. Soll man nun den Angehörigen sagen, daß etwa eine Syphilis die Ursache der Paralyse ist ? Bei entfernteren Verwandten würde ich das ablehnen; wie aber ist es bei der Ehefrau ? Man kann darüber im Zweifel sein, weil Paralytiker nicht mehr ansteckungsfähig sind und insofern keine Gefahr für die Ehefrau besteht; eine solche Auskunft könnte auch bei brüchiger Ehe einmal zur Ehescheidung führen. Andererseits besteht ein Interesse daran zu wissen, ob die gesund erscheinende Ehefrau nicht bereits infiziert ist; sie könnte dann noch rechtzeitig einer gründlichen Behandlung zugeführt und vor der auch ihr drohenden Paralyse geschützt werden. Ich habe mich in der großen Mehrzahl der Fälle, das heißt, überall da, wo mir das eheliche Verhältnis intakt schien, zur Auskunft entschlossen, wobei ich auf das lange Zurückliegen der Infektion und die Möglichkeit, daß der Patient selbst von der Infektion nichts gewußt habe, 8

) BGHSt. 1, S. 366.

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hingewiesen habe 9 ). Ich habe niemals eine Ehescheidung aus diesem Grunde erlebt, habe auch nie Schwierigkeiten gehabt, wohl aber in einer gewissen Anzahl der Fälle, die ich auf etwa 10% schätze, die bereits infizierte Ehefrau einer sachgemäßen Behandlung zuführen können. Wichtig sind für uns folgende Fragen: Was dürfen wir als Zeugen vor Gericht aussagen ? Wie steht es mit der Geheimhaltungspflicht bei Personen, die uns zur Begutachtung zugewiesen sind ? Darf man Gutachten über Kranke an Privatpersonen abgeben ? Wie hat man bei Veröffentlichungen zu verfahren ? Wie steht es mit dem Verleihen und der Herausgabe von Krankengeschichten ? Als Zeuge vor Gericht hat der Arzt das Recht, seine Aussage über das zu verweigern, was ihm in seiner Eigenschaft als Arzt anvertraut oder bekannt geworden ist 10 ). Er muß aussagen, wenn ihm vom Kranken die Erlaubnis erteilt wird. Er hat außerdem das Recht zur Aussage, „wenn sie zur Erfüllung einer Rechtspflicht oder sittlichen Pflicht oder sonst zu einem nach allgemeinem Sittlichkeitsempfinden berechtigten Zweck erfolgt und wenn das bedrohte Rechtsgut überwiegt" 11 ). Im Interesse des Vertrauensverhältnisses, das zwischen Arzt und Patient herrschen soll, ist es m. E. geboten, von dem Aussageverweigerungsrecht soweit wie möglich Gebrauch zu machen. Man kann jedoch in einen Gewissenskonflikt geraten und muß sich dann entscheiden. Dafür ein Beispiel: Darüber, daß ein Homosexueller unzüchtige Handlungen mit einem erwachsenen Mann begangen hat, würde ich die Aussage verweigern; das bedrohte Rechtsgut ist hier so gering, daß auch sehr namhafte Juristen für die Aufhebung des § 175 StGB, eingetreten sind. Verführt jedoch der gleiche Homosexuelle Jugendliche, so würdeich mich verpflichtet fühlen, dieses Geheimnis zu offenbaren, wenn andere Möglichkeiten, ihn von diesem Tun abzubringen, nicht gangbar erscheinen. Dagegen befindet sich der Arzt in einer ganz anderen Lage, wenn er als Gutachter über eine von ihm sonst nicht behandelte Person zugezogen wird; das gilt auch für die aus § 81 StPO zur Begutachtung Eingewiesenen. Hier ist der Arzt Gehilfe des Richters; etwaige Geheimnisse werden ihm nicht in seiner Eigenschaft als Arzt, sondern als Gutachter anvertraut 1 2 ). H ü b n e b meint daher, der Sachverständige solle den zu Untersuchenden vorher über das andersartige Verhältnis aufklären, ihn gewissermaßen warnen. V o b k a s t n e r und auch A s c h a f f e n b u b g haben das nicht f ü r erforderlich gehalten. M. E. hängt es vom Einzelfall ab, wie man sich verhalten soll. H a t jemand die ihm zur Last gelegten Taten gestanden, so liegt kein Bedürfnis für eine solche Warnung vor. Bestreitet der Beschuldigte die Tat, so pflege 9

) Der oft zitierte Satz: „omnis syphiliticus mendax" ist sicher falsch. Gerade bei Paralytikern sind die Anfangserscheinungen der Lues oft so gering, daß sie übersehen oder als harmlos gewertet werden. 10 ) Siehe den oben wiedergegebenen § 53 StPO; ebenso § 383 ZPO. n ) Schönke S. 859. 12 ) Ähnlich E. Schmidt, 1. c., S. 32. 11 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Das Strafrecht

ich ihn darauf hinzuweisen, daß ich als Gutachter nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet bin. Handelt es sich um eine Person, die der Gutachter früher schon behandelt hat, so kann er m. E. mit der Begründung, daß er wegen der ärztlichen Schweigepflicht in einen inneren Konflikt gerate, die Begutachtung ablehnen; in einem solchen Falle müßte ihn sonst der Patient von seiner Schweigepflicht befreien. Selbst dann halte ich eine Ablehnung für möglich, wenn etwa in der von mir geführten Krankengeschichte Aussagen anderer enthalten wären. Gutachten über Kranke an Privatpersonen zu erstatten, auch wenn es sich um Angehörige handelt, halte ich nur dann für imbedenklich, wenn der Kranke selbst einverstanden und geschäftsfähig ist. Man weiß nie, was mit solchen Gutachten geschieht. Anders ist es mit kurzen Attesten, die für bestimmte Zwecke, z. B. für einen Entmündigungsantrag gefordert werden. Auch in ihnen sollte jedoch nichts enthalten sein, was der Geheimhaltung bedarf. Zur Frage der Veröffentlichungen ist zu sagen, daß die Allgemeinheit ein berechtigtes Interesse an der wissenschaftlichen Verwertung unserer Beobachtungen und Erfahrungen hat. Daher läßt sich die Wiedergabe von Krankengeschichten nicht vermeiden. Man muß dann aber darauf achten, daß der Name des Kranken nicht erkennbar ist und daß bei etwaigen Abbildungen das Gesicht nach Möglichkeit verdeckt ist. Ganz zu verwerfen ist es, wie ich das erlebt habe, daß Bilder, die ein Kranker gemalt hatte, in der „Woche" veröffentlicht wurden mit der Unterschrift „Malerei eines paralytischen Offiziers". Die Ehefrau des Patienten war mit Recht darüber entrüstet. Als Gehilfen des Arztes sind alle mit dem Kranken dienstlich befaßten Personen anzusehen, d. h. Büropersonal, Pflegepersonen, Sekretärinnen, aber auch die Ehefrau des Arztes, wenn sie in der Praxis des letztgenannten irgendwie tätig ist und in dieser Eigenschaft etwas vom Kranken erfahren hat. Auch Hausangestellte gehören unter Umständen dazu, ebenso Personen, die zur Vorbereitung auf den Beruf an der beruflichen Tätigkeit teilnehmen, also Medizinstudenten, Famuli, Pflichtassistenten, Lehrschwestern u. dgl. Bei klinischen Vorlesungen habe ich zu Beginn der Vorlesung stets auf die Notwendigkeit und die Pflicht der Geheimhaltung hingewiesen, habe auch Kranke nur mit ihrer Zustimmung vorgestellt und dabei alles vermieden, was sie verletzen konnte. Das Verleihen von Krankengeschichten hat einen immer größeren Umfang angenommen. Soweit es sich dabei um ärztlich geleitete Dienststellen handelt — Kliniken, Anstalten, Krankenhäuser, Sanatorien, Gesundheitsämter — , hat das seinen guten Sinn. Die Beurteilung wird dadurch auf eine viel breitere Grundlage gestellt. Behörden nicht ärztlicher Art sind dagegen Krankengeschichten nicht auszuhändigen. Früher hatte die Staatsanwalt-

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schaft das Recht, Krankengeschichten zu beschlagnahmen. Dieses Recht ist durch den § 97 der Strafprozeßordnung aufgehoben, der lautet: (1) Der Beschlagnahme unterliegen nicht 1. schriftliche Mitteilungen zwischen dem Beschuldigten und den Personen, die nach § 52 oder § 53 Abs. I Nr. 1 bis 3 das Zeugnis verweigern dürfen; 2. Aufzeichnungen, welche die in § 53 Abs. I Nr. 1 bis 3 Genannten über die ihnen vom Beschuldigten anvertrauten Mitteilungen oder über andere Umstände gemacht haben, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht erstreckt. 3. Andere Gegenstände einschließlich der ärztlichen Untersuchungsbefunde, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der in § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Genannten erstreckt. (2) Diese Beschränkungen gelten nur, wenn die Gegenstände im Gewahrsam der zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten sind; Gegenstände, auf die sich das Zeugnisverweigerungsrecht der Ärzte, Zahnärzte, Apotheker und Hebammen erstreckt, unterliegen der Beschlagnahme auch dann nicht, wenn sie im Gewahrsam einer Krankenanstalt sind. Die Beschränkungen der Beschlagnahme gelten nicht, wenn die zur Verweigerung des Zeugnisses Berechtigten einer Teilnahme, Begünstigung oder Hehlerei verdächtig sind, oder wenn es sich um Gegenstände handelt, die durch ein Verbrechen oder Vergehen hervorgebracht oder zur Begehung eines Verbrechens oder Vergehens gebraucht oder bestimmt sind, oder die aus einer solchen Straftat herrühren. (3) . . . (4) Die Absätze 1 bis 3 sind entsprechend anzuwenden, soweit die in § 53 a Genannten das Zeugnis verweigern dürfen. (5) . . .

Damit ist eine alte ärztliche Forderung erfüllt worden. Lediglich, wenn der Arzt selbst sich strafbar gemacht hat (etwa Kunstfehler, verbotene Schwangerschaftsunterbrechung) besteht die Möglichkeit einer Beschlagnahme. Auch wenn der Patient den Arzt von der Schweigepflicht entbindet, ändert das nichts daran, daß die Krankengeschichten, Karteikarten, Röntgenbefunde usw. beschlagnahmefrei bleiben, der Arzt braucht sie nicht herauszugeben13). Das gleiche gilt für seine Gehilfen, soweit diese etwa schriftliche Aufzeichnungen im Gewahrsam haben. Hat der Arzt seine Unterlagen etwa einer Behörde überlassen, können sie dort beschlagnahmt werden, nicht dagegen in einem anderen Krankenhaus. Im ganzen stimme ich E B E R M A Y E R bei, der sagt: „Es ist richtig, daß die Schweigepflicht des Arztes keine unbedingte ist, daß Gesetz oder höhere Interessen ihn berechtigen, ja verpflichten können, das Schweigeverbot zu brechen; eine bestimmte Regel läßt sich hier nicht aufstellen; dem Pflichtund Taktgefühl des Arztes muß es überlassen bleiben, im einzelnen Falle zu entscheiden, ob er glaubt, reden zu dürfen; im allgemeinen aber wird es sich empfehlen, einen möglichst strengen Maßstab anzulegen und überall da zu schweigen, wo nicht Gesetz oder offenbar überwiegende Interessen ihn verpflichten oder ihm zu reden gestatten"14). 13

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) E . SCHMIDT, D m W 1 9 5 4 , S . 1 6 4 9 .

) Arzt und Patient in der Rechtsprechung. Berlin 1925, S. 67.

ll»

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Das Strafrecht

Ein weiteres auch den Psychiater interessierendes Problem betrifft die Aufklärungspflicht. Darüber hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom 10. 7. 1954 grundsätzliche Ausführungen gemacht 15 ). Es handelte sich um einen Schaden sersatzanspruch wegen einer bei der Elektroschockbehandlung aufgetretenen Fraktur des 12. Brustwirbels mit Lähmung des rechten Beines, Darmstörungen und Herzbeschwerden. Es ist dabei auf die Gefahren einer solchen Behandlung hingewiesen, die in der Literatur sehr unterschiedlich beurteilt sind — M Ü L L E R - S U U R hatte als Gutachter Knochenbrüche in 7 % der Behandelten angegeben16) —. Prinzipiell besteht nach diesem Urteil bei allen irgendwie gefährlichen Eingriffen die Pflicht, den Kranken über diese Gefahren aufzuklären, und es ist weiter im Urteil gesagt worden, daß auch psychische Krankheiten nicht dazu berechtigen, von jeder Aufklärung abzusehen. Dieses Urteil hat eine ganze Reihe von Stellungnahmen zur Folge gehabt 17 ); der Psychiater ist ja in dieser Beziehung in einer ganz anderen Lage als alle anderen Ärzte. Das Problem ist in allen seinen Teilfragen ausführlich behandelt von GÖPPINGER18), auf dessen ausgezeichnete Arbeit hier verwiesen werden kann. E r kommt praktisch zu etwa folgendem Ergebnis: Aufklärung wird vom BGH (und früher vom Reichsgericht) beim Vorliegen von typischen Gefahren verlangt. Als typisch sind solche bei der Behandlung möglicherweise auftretenden Gefahren zu bezeichnen, mit deren Eintritt man nach der medizinischen Erfahrung mit einer gewissen Häufigkeit — G Ö P P I N G E R nimmt im Anschluß an P E R V E T 1 9 ) über 1 % an — rechnen kann, denen man sicher wirkende Gegenmaßnahmen nicht entgegenstellen kann. Der Bundesgerichtshof hat die Wirbelfraktur auf Grund der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen, die m. E . zum Teil weit überholt sind, beim Elektroschock als typische Gefahr bezeichnet. Nun handelt es sich bei den psychisch Kranken ja vielfach um Menschen, die infolge ihrer psychischen Störung so verändert sind, daß man sie keinesfalls mit den geistig Gesunden gleichsetzen kann. Wieweit ist ein psychotischer Kranker imstande, eine rechtlich gültige Willenserklärung abzugeben ? Wie soll man ihn über die möglichen Folgen einer Schockbehandlung aufklären ? Wie hat man zu verfahren, wenn der Kranke aus krankhaften Gründen eine Behandlung ablehnt, die ihm wesentliche Besserung bringen kann, deren Nichtanwendung Verfall in Siechtum bedeuten kann ? Man denke z. B. an die früher einzig in Betracht kommende Malariabehandlung 15 ) Veröffentlicht in Ärztl. Mitteil. 39, 1954, S. 835. GOLDBACH, DZgM 42, 1953, S. 377 hat auf ein ähnliches Urteil des Oberlandesgerichts Prankfurt/Main vom 7. 3. 1951 hingewiesen. 1 6 ) Diese Zahl scheint mir reichlich hoch gegriffen, wenn wirklich mit aller Vorsicht gearbeitet wird; das wird durch die von GÖPPINGER (S. Fußnote 18) mitgeteilten Zahlen bestätigt. 17)

STAUDER, VON B A E Y E B , Z I E H E N , M e d . K l i n i k 1 9 5 5 , S . 1 6 8 u . a n d e r e .

ls)

Fortschr. 24, 1956, S. 53—107. Dort ausführliche und gründliche Erörterung

aller Fragen. Kürzer E . SCHMIDT in PONSOLD, S. 37. 19)

Med. Klinik 1955, S. 733.

Die Verantwortlichkeit des Irrenarztes und Irrenpflegers

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der progressiven Paralyse, die anfangs eine Sterblichkeit von über 10% der Fälle mit sich brachte! Das sind Fragen, die von Fall zu Fall entschieden werden müssen. Ist ein Kranker fähig, eine rechtswirksame Erklärung abzugeben, so soll man mit ihm reden, seine Einwilligung einholen, ihn, soweit es ratsam erscheint, aufklären über die möglichen Gefahren. Das ist möglich z. B. bei manchen endogenen Depressionen, auch wohl bei beginnenden Schizophrenien, solange die auftauchenden Erscheinungen noch als möglicherweise krankhaft erkannt werden. Auch der Psychotische kann unter Umständen vernünftig und sinnvoll handeln. Die Einwilligung und Ablehnung des Kranken ist, wie G Ö P P I N G E R sagt, „dann als beachtlich anzusehen, wenn er die Art und den Zweck der konkret vorgesehenen Behandlung ihrer Bedeutung nach zu erkennen und ausreichend zu würdigen weiß". Er meint, man könne auch bei sonst Geschäftsunfähigen unter Umständen eine partielle Geschäftsfähigkeit bejahen, zumal der Psychiater den Kranken nicht retrospektiv zu beurteilen habe, sondern hic et nunc. In der Marburger Landesheilanstalt sind wir bei den Kranken, die eine Willenserklärung nicht abgeben konnten, so verfahren, daß wir uns von den nächsten Angehörigen nach entsprechender Aufklärung eine schriftliche Einverständniserklärung geben ließen. Das hat zu keinerlei Schwierigkeiten geführt, ist aber, rechtlich gesehen, nicht ausreichend. Liegt Willensunfähigkeit vor, so kann beim Vorhandensein einer medizinischen vitalen Indikation auch ohne Einwilligung behandelt werden. Das gleiche gilt bei einer ernstlichen und erheblichen Gefährdung der Gesundheit des Kranken. Dazu kann unter Umständen bei Depressiven auch die Suizidgefahr gerechnet werden 20 ). Man kann dann übergesetzlichen Notstand geltend machen. Bei Kranken, bei denen eine vitale Indikation nicht vorliegt, bei denen auch keine unmittelbare Gefahr vorliegt, t u t man gut, eine Pflegschaft für die Person einrichten zu lassen, was bei geschäftsunfähigen Kranken keine Schwierigkeiten macht, oder die vorläufige Vormundschaft beantragen zu lassen. Beide3 ist, wenn schnelles Handeln geboten ist, im allgemeinen auch schnell zu erreichen, namentlich dann, wenn mit den Angehörigen die Angelegenheit vorher besprochen ist und wenn einer derselben dann zum Pfleger oder Vormund bestellt wird. Vormund und Pfleger sind dann freilich auf die etwa bestehenden Gefahren wirklich hinzuweisen. Was hier für die Elektroschockbehandlung gesagt ist, gilt natürlich auch für andere Behandlungs- und Untersuchungsmethoden, z. B. für die Malariabehandlung bei den syphilitischen Hirnkrankheiten, für die Insulinbehandlung, für operative Eingriffe am Gehirn aber auch für die Vornahme eines Luftenzephalogramms. 20

) So hat auch das OLG Frankfurt entschieden, und der BGH ist dieser Auffassung insofern beigetreten, als er das Armenrechtsgesuch der ehemaligen Patientin, die gegen dieses Urteil Revision einlegen wollte, abgelehnt hat. Siehe GÖPPINGKR, S. 84.

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Das Strafrecht

Eine andere Frage, die bei der für den Psychiater wenig befriedigenden Lage auftaucht, geht dahin, ob man durch gesetzliche Vorschriften der Lage der psychiatrisch tätigen Ärzte besser gerecht werden kann. Das ist in Bayern durch den § 6 des Verwahrungsgesetzes vom 30. 4. 1952 geschehen, der bestimmt, daß die in einer Heil- und Pflegeanstalt, einer Nervenklinik oder einer Entziehungsanstalt verwahrten oder vorläufig untergebrachten Personen dort der nach den Regeln der ärztlichen Kunst gebotenen oder zulässigen Behandlung unterliegen. G Ö P P I N G E B macht dazu den m. E. zweckmäßigen und durchaus vertretbaren Vorschlag, man solle „den Angehörigen, die nach den Bestimmungen der Fürsorge- und Verwahrungsgesetze zur Stellung eines Aufnahmeantrags berechtigt sind, das Sorgerecht bzw. das Recht der Vertretung zur Abgabe der Behandlungseinwilligung für den an einer Psychose erkrankten Patienten, der wegen seiner Krankheit nicht in der Lage sei selbst eine rechtswirksame Einwilligung zu geben, einräumen", gleichgültig, ob der Eintritt in die Klinik usw. freiwillig oder zwangsweise erfolge. Das würde etwa dem Verfahren entsprechen, wie es wohl vielfach schon früher geübt worden ist. Schließlich sei noch zur Frage der Schwangerschaftsunterbrechung bei psychisch Kranken einiges gesagt21). Über diese Frage hat der Vorstand der Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater wiederholt eingehend diskutiert. Das Ergebnis dieser Diskussionen geht dahin, daß psychische Erkrankungen nur ganz ausnahmsweise eine medizinische Indikation zur Schwangerschaftsunterbrechimg abgeben. Das gilt zunächst für die endogenen Psychosen. Tritt bei manisch-depressiven Kranken Suizidgefahr auf, so sind sie in geschlossene Abteilungen einzuweisen. Durch die Gravidität wird ihr Zustand und der Verlauf der Krankheit nicht wesentlich beeinflußt. Bei Schizophrenen wird man eine Unterbrechung in Erwägung ziehen, wenn durch frühere Schwangerschaften oder Wochenbetten neue Krankheitsschübe ausgelöst sind; es ist freilich nicht zu erwarten, daß durch die Interruptio der psychische Zustand gebessert wird. Eine Gegenindikation gegen Krampfbehandlung ist die Schwangerschaft nicht. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei AnfalMeiden; auch bei ihnen kann eine Unterbrechung nur erwogen werden, wenn es während der Gravidität zu einer Häufimg von Anfällen kommt, die in stationärer Behandlung nicht zu beherrschen ist. Bei den exogenen Psychosen kommt es auf die zugrunde liegende körperliche Krankheiten an. In erster Linie denkt man dabei an die Lues und die Tuberkulose. Dazu ist zu sagen, daß die Lues mit den heutigen Behandlungsmethoden ausreichend behandelt werden kann; auch die progressive Paralyse bildet im allgemeinen keinen ausreichenden Grund für eine Unterbrechung. 21

) Dazu NAUJOKS, Leitfaden der Indikationen zur Schwangerschaftsunterbrechung. Stuttgart 1954. Für genuine Epilepsie HERSCHMAITN, Dtsch. med. Wschr. 1949, S. 1110. VILLINGER, Zum Problem der Schwangerschaftsunterbrechung. Med. Wschr. 1950, S. 801. BTJMKE in „Richtlinien für Schwangerschaftsunterbrechung und Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Gründen". München 1936, S. 125.

Bestimmungen aus dem Entwurf des Allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuchs 167

Eine Ausnahme kann nur dann anerkannt werden, wenn die Gravidität zu einer rapiden Verschlechterung des Zustandes führt. Bei der Tuberkulose ist eine Unterbrechung grundsätzlich nur im Beginn der Schwangerschaft, höchstens bis zum Ende des dritten Schwangerschaftsmonats vertretbar. Die Meinungen der Lungenfachärzte sind im übrigen geteilt. In diesen Fällen wie bei allen anderen körperlichen Erkrankungen wird es nötig sein, entsprechende Fachärzte zu Rate zu ziehen. Die größte praktische Bedeutung haben die reaktiven Depressionen meist psychopathischer Persönlichkeiten. Namentlich wenn es sich um außereheliche Schwängerungen handelt, wenn bei der zukünftigen Mutter Abneigung gegen das Kind oder gegen den Erzeuger besteht, wenn wirtschaftliche Schwierigkeiten auftreten. In allen diesen Fällen wird man gut tun, die Schwangere in eine psychiatrische Abteilung einzuweisen und die Entscheidung der Klinik oder Anstalt zu überlassen. Charakterliehe Abartigkeiten, Neurosen, abnorme Reaktionen usw. geben für sich allein keine Indikation ab. Aus sozialer Indikation iät Schwangerschaftsunterbrechung nicht gerechtfertigt. Wo eine solche vorliegt, sollte man aber auf andere Weise dafür sorgen, daß die bestehende Not beseitigt oder wenigstens erträglich gemacht wird.

15. Bestimmungen aus dem Entwurf des Allgemeinen Teils eines

Strafgesetzbuchs

Das vorliegende Buch hat die Aufgabe, das geltende Recht zu behandeln. Wenn darüber hinaus in diesem Kapitel der kürzlich erschienene Entwurf des Allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuchs kurz besprochen wird, so liegt die Berechtigung dazu darin, daß auf diese Weise das Interesse an der künftigen Gestaltung des Rechts geweckt bzw. gesteigert werden soll. Der Entwurf gründet sich auf die Beschlüsse der Großen Strafrechtskommision in erster Lesung, die im Dezember 1956 abgeschlossen war1). Es kann hier natürlich nur auf einige grundsätzliche Erwägungen und auf die Bestimmungen hingewiesen werden, die für den psychiatrischen Sachverständigen wichtig sind. Grundsätzlich kann nach dem Entwurf eine Tat nur dann bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen war (§ 1) und wenn der Täter schuldhaft gehandelt hat; die Strafe darf das Maß der Schuld nicht überschreiten (§2). Damit bekennt sich der Entwurf zu einem Schuldstrafrecht. Aus der bisherigen Dreiteilung der Straftaten in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen konnten die letzteren fortgelassen werden, nachdem durch das Ordnungswidrigkeitenrecht Verstöße nicht krimineller Art aus dem Strafrecht ausgeschieden sind. Die bisherigen Strafx ) Die Berichte über die Beratungen sind von D R E H E R in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Band 66—70 veröffentlicht. Ein Referat darüber hat HEINITZ erstattet (ZStW 70, 1958, S. 1).

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Das Strafrecht

arten — Zuchthaus und Gefängnis — sind beibehalten; die ehrenvolle Freiheitsstrafe im Sinne der früheren Festungshaft und der bisherigen Einschließung ist für entbehrlich gehalten. Als Strafe für geringere Schuld ist „Strafhaft" vorgesehen. Diese soll regelmäßig nur für „Gestrauchelte" in Betracht kommen, nicht aber für „Neigungstäter", d. h. für Täter, die gegenüber der Versuchung Straftaten zu begehen anfällig sind (§ 53). Dafür kommen kleinere Delikte, z. B. Mundraub, Entwendung oder Betrug aus Not, Beleidigung, einfache Körperverletzung, Verkehrsstrafen u. dgl. in Betracht. Als Mindestmaß für Zuchthausstrafen sind 2 Jahre, für Gefängnis 1 Monat 2 ) vorgesehen. Die Strafhaft kann als Dauerhaft von 1 Woche bis zu 6 Monaten, oder als Freizeithaft von einer bis zu vier wöchentlichen Freizeithaften von je 36—48 Stunden verhängt werden. Für den Psychiater besonders wichtig sind die §§23 und 24, die die Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen (§ 23) und die verminderte Schuldfähigkeit (§ 24) behandeln. Sie lauten: § 23. Ohne Schuld handelt, wer zur Zeit der Tat wegen einer krankhaften oder einer auf schwerer, angeborener oder erworbener Abartigkeit beruhenden seelischen Störung oder wegen einer vorübergehenden Bewußtseinsstörung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. § 24. Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen einer krankhaften oder einer auf schwerer, angeborener oder erworbener Abartigkeit beruhenden seelischen Störung oder wegen einer vorübergehenden Bewußtseinsstörung zur Zeit der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 65 Abs. 1 gemildert werden.

Der Entwurf hält sich, wie alle Entwürfe seit 1909 und wie auch das geltende Recht an die sogenannte gemischte biologisch-psychologische Methode. Von der bisherigen Fassung des § 51 weicht er in dreifacher Beziehung ab: die vorgesehene Fassung „Ohne Schuld handelt" gegenüber der bisherigen Fassung „Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden" ist zweifellos ein Fortschritt, der immer wieder erstrebt worden ist. Sie entspricht praktisch der auch von mir früher vorgeschlagenen Formulierung „Nicht zurechnungsfähig ist". Gewisse Bedenken können gegenüber der Fassung der biologischen Voraussetzungen entstehen. Der Entwurf will damit die gesamten ins Gewicht fallenden angeborenen und erworbenen Abartigkeiten — endogene und exogene Psychosen, die schwereren Formen der psychopathischen Abartigkeiten, die Schwachsinnszustände — erfassen. Damit kann man sich durchaus einverstanden erklären. Mir erscheint es aber richtiger etwas anders zu formulieren: „Wegen einer krankhaften seelischen Störung oder wegen einer schweren, angeborenen oder erworbenen seelischen Abartigkeit oder wegen einer vorübergehenden Bewußtseinsstörung..." Das scheint mir zweckmäßiger aus folgendem Grunde: Die Störung einer wie immer auch gearteten Funktion setzt voraus, daß eben diese Funktion vorher intakt war. Das trifft 2

) Eine Mehrheit der Kommission hatte als Mindestmaß für eine Gefängnisstrafe 6 Monate vorgeschlagen.

Bestimmungen aus dem Entwurf des Allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuchs 169

zu für die endogenen und exogenen Psychosen, nicht aber für die psychopathische Veranlagung, nicht für angeborene Schwachsinnszustände. Der geltungssüchtige Psychopath, der betrügt, ist so, wie er zur Zeit des Betruges war, immer gewesen, er war von jeher abnorm, eine Störung liegt bei ihm nicht vor. Verlangt man bei ihm eine seelische Störung, so müßte er zur Tatzeit anders sein als gewöhnlich. Diese Formulierung könnte deshalb zu Schwierigkeiten Veranlassung geben, die durch die etwas abgeänderte Fassung vermieden werden kann 3 ). Die dritte Änderung besteht darin, daß „das Unerlaubte der Tat" ersetzt ist durch „das Unrecht der Tat". Das ist mit Rücksicht auf den inneren Zusammenhang der Vorschrift mit der Regelung des Verbotsirrtums in § 20 des Entwurfs und in Anlehnung an den § 3 JGG geschehen. Es soll dadurch das materiell Rechtswidrige der bestimmten Tat vom bloß Sittenwidrigen, das mit dem „Unerlaubten" erfaßt wird, abgegrenzt werden 4 ). Für den Sachverständigen wird die Beurteilung dadurch in manchen Fällen erschwert. Wenn sich z. B. ein leicht Schwachsinniger sodomistisch vergeht, so weiß er in aller Regel, daß sich das nicht gehört, daß das nicht erlaubt ist; ob er auch erkennen kann, daß es sich um ein Unrecht handelt, wäre sehr viel schwerer zu entscheiden. Zum § 24 ist hinsichtlich der Formulierung das gleiche zu sagen wie zum § 23. Innerhalb der Psychiatrie bestehen immer noch gewisse Meinungsverschiedenheiten, ob die Beibehaltung der „verminderten Schuldfähigkeit" zweckmäßig und berechtigt ist. Meine eigene Meinung geht dahin, daß eine solche Zwischenstufe für viele Fälle notwendig und geboten ist. Die Begründung dazu sagt ausdrücklich, leichte Psychopathien, Triebstörungen und Neurosen sowie leichte Schwachsinnsformen kämen für eine verminderte Schuldfähigkeit nicht in Betracht. Auch in diesen Fällen müsse der Kern der Persönlichkeit irgendwie beeinträchtigt sein. Dem ist m. E. zuzustimmen. Ebenso ist zu begrüßen, daß in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht nur die Möglichkeit einer Strafmilderung vorgesehen ist. Von den weiteren Bestimmungen kann der § 20 über den Verbotsirrtum einmal auch den Psychiater beschäftigen. Er lautet: Wer bei Begehung der Tat irrig annimmt, kein Unrecht zu tun, ist ohne Schuld, wenn der Irrtum ihm nicht vorzuwerfen ist. Ist ihm der Irrtum vorzuwerfen, so kann die Strafe nach § 65 Abs. 1 gemildert werden.

Neu ist eine Bestimmung über die Strafbarkeit des Versuchs in § 26 Abs. 3. Hat der Täter aus grobem Unverstand verkannt, daß der Versuch nach der Art des Gegenstandes oder Mittels, an oder mit dem die Tat begangen werden sollte, 3 ) LEFERENZ (ZgSt. 70, S. 35) möchte die „schwere Abartigkeit" überhaupt fortlassen und sich auf die „krankhafte seelische Störung" beschränken. Dagegen habe ich gewisse Bedenken: bei der verschiedenen Auffassung vom Krankheitswert der Psychopathieformen würde es in den Grenzfällen oft zu Meinungsverschiedenheiten kommen, die sich ungünstig auswirken müßten. 4 ) S. dazu S. 130.

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Das Strafrecht

überhaupt nicht zur Vollendung führen konnte, so kann das Gericht die Strafe nach seinem Ermessen mildern (§ 65 Abs. 2) oder von Strafe absehen.

Unter „groben Unverstand" ist „eine völlig abwegige Vorstellung von gemeinhin bekannten Ursachenzusammenhängen zu verstehen, die nicht auf Schwachsinn zu beruhen brauchen". Als Beispiele sind angeführt der Versuch einen Menschen durch „Totbeten" oder ein Tier durch „Behexen" zu töten, oder ein Abtreibungsversuch, wenn ohne weiteres zu erkennen war, daß keine Schwangerschaft vorlag. Der Strafaussetzung zur Bewährung sind die §§ 73—84 gewidmet. E s bestehen dafür zwei Möglichkeiten: einmal kann die Vollstreckung einer Strafe bis zu 9 Monaten Gefängnis oder Strafhaft ausgesetzt werden (§ 73), wenn zu erwarten ist, daß der Verurteilte nach seiner Persönlichkeit, seinem Vorleben, seinem Verhalten nach der T a t sich die Verurteilung zur Warnung dienen läßt und künftig ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen wird. Dabei sind zu berücksichtigen die Axt der T a t und ebenso die Lebensverhältnisse, in die der Verurteilte kommt (§74). Die Bewährungsfrist beträgt mindestens 2, höchstens 5 Jahre (§ 76). Das Gericht kann dem Verurteilten Auflagen machen (§77) oder Weisungen erteilen (§78); es kann ihn auch der Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellen (§ 79). Zum andern kann ein Strafrest unter bestimmten Voraussetzungen zur Bewährung ausgesetzt werden (§83). Dabei werden gelegentlich kriminalbiologisch fundierte Gutachten f ü r die Beurteilung der Prognose erforderlich sein. Wesentliche Neuerungen bringt der Entwurf in den Bestimmungen über ,,Maßregeln der Besserung und Sicherung". Das wird schon äußerlich aus dem Umfang dieses Titels (§§ 85—115) deutlich. Wie anfangs schon gesagt wurde, geht das Strafensystem des Entwurfs dahin, daß der Täter n u r nach dem Maße seiner Schuld bestraft werden darf. Aus kriminalpolitischen Erwägungen bedarf dieses System aber der Ergänzimg durch ein System von Maßregeln, das es ermöglicht, besserungsfähige Täter wieder in die Gemeinschaft einzuordnen, zugleich aber die Allgemeinheit vor gefährlichen Tätern z u sichern. § 85. Maßregeln zur Besserung und Sicherung sind 1. Die Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder in einer Bewahrungsanstalt6), 2. die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, 3. die Unterbringung in einem Arbeitshaus, 4. die Sicherungsverwahrung, 5. die vorbeugende Verwahrung, 6. die Sicherungsaufsicht, 7. die Entziehung der Fahrerlaubnis, 8. das Berufsverbot, 9. die Ausweisung.

Von besonderer Bedeutung ist dabei namentlich die Einführung der vorbeugenden Verwahrung und der Sicherungsaufsicht neben der Sicherungs6

) Der Ausdruck „Bewahrungsanstalt" wird evtl. geändert werden.

Bestimmungen aus dem Entwurf des Allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuchs 171

Verwahrung. Der Zweck dieser Maßnahmen ist verschieden: die vorbeugende Verwahrung, die bei Taten nach dem 16. und vor dem 27. Lebensjahr angeordnet wird, soll in erster Linie der Besserung des Täters dienen; es soll dadurch die Entwicklung zum Hangtäter verhindert werden. Die Sicherungsverwahrung, die eine Tat, die nach Vollendung des 25. Lebensjahres begangen ist, voraussetzt, soll zwar auch nach diesem Ziel streben; in erster Linie aber soll sie die Allgemeinheit schützen. Die Sicherungsaufsicht ist als Ergänzung beider Maßregeln gedacht für alle die Fälle, in denen die Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung ausgesetzt ist. Da für manche Entscheidungen der Gerichte auch prognostische Erwägungen in Betracht kommen, für die der Psychiater, der Psychologe, der Kriminalbiologe in Anspruch genommen werden kann, mögen hier wenigstens einige Hinweise gegeben sein. Für die Sicherungsverwahrung kommt in Betracht der „Hangtäter". Diese Bezeichnung ist an Stelle des jetzigen „Gewohnheitsverbrecher" gewählt, weil es nicht darauf ankommen darf, auf welche Weise der Hang zum Verbrechen zustande gekommen ist, ob er anlagemäßig bedingt ist, oder ob er durch Übung, Gewöhnung, Neigung sich entwickelt hat. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist nach Vollendung des 25. Lebensjahres möglich ; sind aber die Voraussetzungen derart, daß jemand als Hangtäter verurteilt wird — es müssen wenigstens drei vorsätzliche Straftaten, davon eine nach Vollendung des 25. Lebensjahres begangen sein, es muß außerdem die Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit oder für einzelne andere gegeben sein — (§ 89), so muß das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen; es setzt jedoch zugleich die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung aus und ordnet Sicherungsaufsicht an, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, daß diese Maßregel genügt, um den Täter zu einem gesetzmäßigen und geordneten Leben zu führen (§ 90 Abs. 1). Versagt der Täter während dieser Zeit, wird er erneut verurteilt, so wird die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung angeordnet (§ 90 Abs. 2). Bei Tätern, die vor Vollendung des 27. Lebensjahres bestimmte Voraussetzungen erfüllen, ordnet das Gericht die „vorbeugende Verwahrung" an (§ 91), deren Vollstreckung gleichfalls ausgesetzt und durch Sicherungsaufsicht ersetzt werden kann. Auch in diesen Fällen wird im Falle des Versagens die vorbeugende Verwahrung vollstreckt. Die Vorschriften sind so gefaßt, daß die jetzt vielfach bestehende Unsicherheit der Gerichte beseitigt werden soll. Ist eine längere Strafe zu verbüßen, so prüft das Vollstreckungsgericht vor dem Ende des Vollzuges, ob der Zweck der Maßregel die Unterbringung noch erfordert. Die Dauer der vorbeugenden Verwahrung darf 5 Jahre, die erste Unterbringung in Sicherungsverwahrung 10 Jahre nicht überschreiten; wenn der Schutz der Allgemeinheit es erfordert, kann Sicherungsverwahrung auch unbefristet angeordnet werden (§ 96). Für den Sachverständigen hat sich die Situation insofern geändert, als sich die Prognose jetzt auf die Zeit der Verurteilung bezieht.

172

Das Strafrecht

Für den Psychiater ist dabei das wichtigste die Unterbringung der schuldunfähigen oder vermindert schuldfähigen Täter. Darüber bestimmt der § 86. Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder in einer Bewahrungsanstalt. (1) Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 23) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 24) begangen und ergibt die Würdigung des Täters und der Tat, daß er infolge seines Zustandes eine erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit oder für einzelne andere bildet, so ordnet das Gericht die Anstaltsunterbringung an. (2) Auf Grund der Anordnung wird der Täter je nach der besonderen Behandlungsart, die sein Zustand erfordert, in einer Heil- oder Pflegeanstalt oder in einer Bewahrungsanstalt untergebracht. (3) Das Gericht kann bei der Anordnung der Unterbringung die Anstaltsart bestimmen. Beschränkt es sich auf die Anordnung der Unterbringung, so bestimmt das Vollstreckungsgericht die Anstaltsart. Das Vollstreckungsgericht kann die Entscheidung des erkennenden Gerichts über die Anstaltsart nachträglich ändern, wenn der Zustand des Untergebrachten es erfordert. Die Vollzugsbehörde kann darüber eine vorläufige Entscheidung treffen. (4) Das Gericht kann die Vollstreckung der Anstaltsunterbringung zur Bewährung aussetzen, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, daß der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht werden kann. Der Verurteilte ist der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers zu unterstellen.

Diese Bestimmung bringt gegenüber dem geltenden § 42 b StGB mehrere begrüßenswerte Neuerungen: In Absatz 1 sind die Voraussetzungen für die Unterbringung erweitert worden, insofern auch eine erhebliche Gefahr „für einzelne" genügt, um die Unterbringung herbeizuführen. Damit ist eine Frage, wie ich glaube, im Sinne auch der Psychiater geklärt, die manchmal zu Meinungsverschiedenheiten führte 6 ). Weit wichtiger aber ist es, daß die Unterbringung in Bewahrungsanstalten ermöglicht wird; auf diese Weise können behandlungsbedürftige oder pflegebedürftige Geisteskranke nach wie vor in Heilanstalten untergebracht werden; Psychopathen dagegen und andere Abartige, die der in Anstalten üblichen Behandlung nicht zugänglich sind, können in besonders dafür geschaffenen Anstalten untergebracht und auf speziell für sie geeignete Weise behandelt werden. Vorbild dafür sind namentlich die Einrichtungen gewesen, die sich in Dänemark seit längerer Zeit bewährt haben 7 ). Es wird wichtig sein, dort Arbeits- und evtl. berufliche Fortbildungsmöglichkeiten zu schaffen; zugleich wird bei dem einen oder anderen auch die psychotherapeutische Beeinflussung Erfolg haben können. Besonders begrüßenswert ist dieser Vorschlag auch deswegen, weil die Heilanstalten dadurch von Aufgaben entlastet werden, die ihnen mehr oder weniger wesensfremd sind. Zu begrüßen ist im Absatz 3 schließlich auch die Möglichkeit einer Änderung der Unterbringungsart. Es kann also ein Wechsel zwischen Heil- oder 6

) S. dazu die 1. Auflage dieses Buches, S. 66. ) An erster Stelle die unter Leitung von Dr. Bewahranstalt Herstedvester bei Kopenhagen. 7

STÜRUP

stehende Psychopathen-

Bestimmungen aus dem Entwurf des Allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuchs 1 7 3

Pflegeanstalt und Bewahrungsanstalt vorgenommen werden. Erwogen wird, ob die Möglichkeit des Wechsels der Unterbringungsart auch auf das Arbeitshaus, den Strafvollzug und die Sicherungsverwahrung ausgedehnt werden soll. Es würde dadurch eine, wie mir scheint, begrüßenswerte Beweglichkeit geschaffen werden. Der Absatz 4 gibt schließlich die Möglichkeit, die angeordnete Unterbringung unter gewissen Voraussetzungen auf Bewährung auszusetzen. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (der Ausdruck „Trinkerheilanstalt" ist als überflüssig fortgelassen) ist geregelt durch den § 87. (1) Wird jemand, der den Hang hat, geistige Getränke oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, wegen einer rechtswidrigen Tat, die er im Rausch begangen hat oder die auf seinen Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil seine Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an, wenn zu besorgen ist, daß er infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. (2) Das Gericht kann die Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung aussetzen, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, daß der Zweck der Maßregel auch dadurch erreicht werden kann.

Auch dieser Paragraph bringt gegenüber dem § 42c Änderungen. Die Unterbringung soll nach der neuen Fassung nur erfolgen, wenn zu befürchten ist, daß der Täter infolge seines Hanges „erhebliche" rechtswidrige Taten begehen werde. Die Begehung geringfügiger Taten soll nicht für die Anordnung genügen. Das würde z. B. wohl zutreffen für Rezeptfälschungen von Rauschgiftsüchtigen und ähnliche strafbare Handlungen. Das ist wegen der Schwere des Eingriffs zwar verständlich, in gewisser Weise aber zu bedauern, da nach der früheren Fassung auf diese Weise Süchtige ausreichend lange in einer geeigneten Anstalt gehalten werden konnten, um die Entziehung mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg durchzuführen. Die zweite Änderung besteht darin, daß nach der neuen Fassung auch Schuldunfähige untergebracht werden können, was nach geltendem Recht nur für aus § 330a Verurteilte möglich ist. Damit ist eine schon von RIETZSCH8) bemängelte Lücke geschlossen. Der zweite Absatz sieht wieder die Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung vor. § 88. Unterbringung in einem Arbeitshaus. (1) Hat jemand wegen einer Straftat, die er aus Arbeitsscheu oder aus einem Hang zu einem unsteten oder ungeordneten Leben begangen hat, oder wegen . . . Gefängnis bis zu neun Monaten oder Strafhaft verwirkt, so ordnet das Gericht seine Unterbringung in einem Arbeitshaus an, wenn es erforderlich ist, um ihn zu einem gesetzmäßigen und geordneten Leben zu führen. (2) Der Verurteilte wird, solange er arbeitsfähig ist, in einem Arbeitshaus, sonst in einem Heim für Arbeitsunfähige untergebracht. (3) Die Anordnung ist unzulässig, wenn der Täter als Hangtäter verurteilt oder vorbeugende Verwahrung gegen ihn angeordnet wird. 8 ) In GÜRTNER, Das kommende Strafrecht, S. 155. S. auch die 1. Aufl. dieses Buches S. 76.

174

Das Strafrecht

Dieser Paragraph regelt die Unterbringimg in einem Arbeitshaus. Während der § 42 d des geltenden Rechts sich vornehmlich auf Bettler, Landstreicher und Dirnen beschränkt, die zu Haftstrafen verurteilt sind, ist hier der Anwendungsbereich erweitert auf solche Täter, die zwar keine erheblichen Straftaten begehen, die aber durch ihre Haltlosigkeit, ihr unstetes Leben und ihre Arbeitsscheu mit dem Strafgesetz in Konflikt kommen. Es soll auf diese Weise versucht werden, diese Täter, die in der Regel Psychopathen sind, auf den rechten Weg zu bringen. Die Bestimmungen über das Berufsverbot (§§ 110/111) sind dem § 421 des geltenden Rechts nachgebildet. Das Berufsverbot wird aber nicht mehr von der Art und dem Maß der verwirkten Strafe abhängig gemacht, sondern von der Gefährlichkeit des Täters. Abweichend vom geltenden Recht kann auch ein Berufsverbot nicht nur befristet, sondern für immer angeordnet werden. Am 1.1. 1938 befanden sich 3624 Männer und 152 Frauen in Sicherungsverwahrung; am 1. 6. 1953 waren es 294 Männer und 24 Frauen 9 ). Aus diesen Zahlen ist allein schon zu entnehmen, daß eine gewisse Unsicherheit in der Anordnung eingetreten ist; es mögen auch wenig begründete vorzeitige Entlassungen häufiger gewesen sein, als es zweckmäßig war 10 ). Dabei war der Rückgang der schweren Kriminalität vor dem Kriege durch die straffere Durchführung der Sicherungsverwahrung mitbedingt 11 ). Die Freilassung der Sicherungsverwahrten im Jahre 1945 hat sich, wie zu erwarten war, nicht günstig ausgewirkt. Auch wenn man meint, die Zweispurigkeit der Verbrechensbekämpfung sei letzten Endes unehrlich, weil im Grunde die Verwahrung nichts anderes als Strafe und daher nicht gerecht sei, wird man H A L L 1 2 ) zustimmen müssen, wenn er sagt, dieser Konflikt zwischen Notwendigkeit und Gerechtigkeit sei unlösbar. Indessen wird dann die Frage aufgeworfen werden müssen: Gerechtigkeit gegenüber wem ? Dem Hangtäter oder der Allgemeinheit ? Volle Gerechtigkeit ist im Leben auch des nicht kriminellen Menschen nicht möglich; sie ist ein unerreichbares Ideal. Bei der Abwägung der Interessen der Allgemeinheit gegenüber denen des Kriminellen scheint mir der Entwurf einen gangbaren Mittelweg gefunden zu haben.

16. Das allgemeine Straf recht in

Mitteldeutschland

Das mitteldeutsche Strafrecht weicht in seiner Sinngebung vom westdeutschen Strafrecht wesentlich ab1). Es kann nicht Aufgabe dieses Buches sein, beide miteinander zu vergleichen. Es handelt sich hier lediglich um die ») HALL, ZStW 70, 1958, S. 42.

10 U

) S. auch DBBHER, D R Z 35, 1957, S. 51.

) H . MAYK, MKRB 29, S. 3 1 ; E d g a r SCHMIDT, D I . 1 9 3 8 , S . 194.

12

) 1. c., S. 59. ) Sehr aufschlußreich dafür ist das „Lehrbuch des Strafrechts der Deutschen Demokratischen Republik" Berlin 1957, das eine Gemeinschaftsarbeit von 11 Verfassern ist. Die Redaktion lag bei den Professoren Dr. Geräts, Dr. Lekschas, Dr. Renneberg. Im Folgenden wird es abgekürzt mit „LdSt" bezeichnet. x

Das allgemeine Strafrecht in Mitteldeutschland

175

Tätigkeit des psychiatrischen Sachverständigen und nur die Bestimmungen sollen hier angeführt werden, die dafür irgendwie bedeutsam sind. Die strafrechtliche Zurechnungsfähigheit wird definiert als „die Fähigkeit des Menschen, die gesellschaftliche Bedeutung seines konkreten Handelns zu erkennen und nach dieser Erkenntnis sein künftiges Verhalten zu bestimmen" (KÜHLIG in LdSt., S. 396). Voraussetzung für die Zurechnung von Handlungen ist die Freiheit des Willens. Nach E N G E L S heißt aber Freiheit des Willens „nichts anderes als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können". „Unzurechnungsfähigkeit ist die durch Bewußtseinsstörung, krankhafte Störung der Geistestätigkeit, Geistesschwäche oder Taubstummheit bedingte und zur Zeit der Tat gegebene Unfähigkeit eines Menschen, die gesellschaftliche Bedeutung der Tat zu erkennen oder nach dieser Erkenntnis sein Verhalten zu bestimmen". Der Wortlaut des § 51 StGB ist der gleiche geblieben wie in Westdeutschland; ebenso entspricht der § 58, der die Verantwortlichkeit der Taubstummen regelt, völlig dem westdeutschen § 55. Es kann daher auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden, wobei nur zu beachten ist, daß zwischen dem sittlichen Unerlaubten, von dem das Gesetz ursprünglich ausgegangen ist, und dem gesellschaftlich Schädlichen ein gewisser Unterschied besteht2). In den §§ 47—50, die die Beurteilung der Teilnahme regeln, hat der § 49 a einen etwas anderen Wortlaut erhalten, ohne daß sachlich etwas dadurch geändert wird, so daß auch derjenige bestraft wird, der einen Zurechnungsunfähigen zu einer Tat bestimmt. Besonderer Ausführungen bedarf es dafür nicht. Dagegen bestehen gegenüber den westdeutschen Bestimmungen wesentliche Unterschiede hinsichtlich der „Maßregeln der Sicherung und Besserung: Der § 20 a StGB, der über die Voraussetzungen für die Anordnimg der Sicherungsverwahrung handelt, ist „gegenstandslos" geworden (Urteil des OG vom 23. 12. 1952 — NJ 1953, S. 54); damit ist auch die Sicherungsverwahrung (§ 42e) fortgefallen; sie ist nach R E N N E B E R G (LdSt. S. 657) mit den demokratischen Grundsätzen des Strafrechts der DDR nicht vereinbar. Geblieben sind3) die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt (§ 42 b), 2 ) Man wird das „gesellschaftlich Schädliche" eher mit dem Begriff „Unrecht" bezeichnen können. Über die Begriffe „das Unerlaubte, Unrecht, Ungesetzliche" s. das Kapitel über Jugendstrafrecht (S. 130). Weiteres s. ANTON, NJ 1956, S. 240, der namentlich Hinweise gibt, wann ein psychiatrischer Sachverständiger zuzuziehen sei; seiner Deutung der partiellen Zurechnungsfähigkeit = lucida intervalla kann ich mich nicht anschließen. Mit der partiellen Zurechnungsfähigkeit ist etwas anderes gemeint (s. S. 47ff.). St. BATAVIA, NJ 1957, S. 754 hält, m. E. mit Recht, an der verminderten Zurechnungsfähigkeit fest, warnt aber vor übertriebener Anwendung namentlich bei kriminellen Psychopathen. Von Juristen hat RANKE, NJ 1955, S. 239 sehr beachtenswerte und klare Ausführungen zum § 51 StGB gemacht; er weist mit Recht darauf hin, daß der Richter die letzte Entscheidung habe. 3 ) Nach der ersten Durchführungsverordnung zur Strafprozeßordnung vom 31. 8.1954 im GBl. der DDR 1954, S. 777.

176

Das Strafrecht

in einer Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt (§ 42 c), in einem Heim für soziale Betreuung 4 ) (§ 42 d StGB und § 23 der Verordnung zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten vom 11. 12. 1957) und die Untersagung der Berufsausübung (§421). Die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder in einem Arbeitshaus wird von R E N N E B E R G gewissermaßen als ein Durchgangsstadium betrachtet, das sich nicht vermeiden lasse, weil die Nachwehen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sich nicht so schnell beseitigen ließen (LdSt. S. 665 und 668). Die Voraussetzungen für die Unterbringung gem. §§ 42b—d sind praktisch die gleichen wie in Westdeutschland. Die Untersagung der Berufsausübung wird dagegen als echte Strafe angesehen ( R E N N E B E K G LdSt. S. 588), da sie neben dem empfindlichen Eingriff in die Rechte und Interessen des Verurteilten zugleich eine sehr drastische und wirksame moralisch-politische Verurteilung des von ihm begangenen Verbrechens darstelle. Auf diese Weise soll der Täter an der Begehung weiterer Verbrechen auf dem Gebiete seines Berufs gehindert werden, was freilich mehr einer Sicherungsmaßnahme entspricht. Die §§ 42g—i, 421 und n sind im Wortlaut die gleichen wie in Westdeutschland 5 ). Lediglich der § 42f unterscheidet sich vom westdeutschen Wortlaut hinsichtlich der Dauer der Unterbringung in einem Arbeitshaus. Es kann daher auf die früheren Ausführungen verwiesen werden. Nach § 2 der ersten Durchführungsbestimmung zur Strafprozeßordnung entscheidet über die Aufhebung einer Maßnahme der Sicherung das Gericht (§ 42f). Nach Einweisung in eine Anstalt haben der Staatsanwalt und der Leiter der Anstalt laufend zu überprüfen, ob der Zweck der Unterbringung erfüllt ist, und wenn dies der Fall ist, entsprechende Anträge an das Gericht zu stellen. Die §§ 330a und 330b, die Delikte in der Trunkenheit und unerlaubte Verschaffung von geistigen Getränken und anderen berauschenden Mitteln in Trinkerheilanstalten regeln, sind im Wortlaut gleich geblieben. Die Bestrafung sexueller Delikte nach den §§ 173—185 entspricht gleichfalls dem westdeutschen Strafrecht. Vom Wortlaut weichen nur folgende Bestimmungen ab: § 173 Abs. 2 lautet: „Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie sowie zwischen Geschwistern wird mit Gefängnis bis zu 2 Jahren bestraft". Der Abs. 5 ist durch eine ergänzende Bemerkung ersetzt, die folgendermaßen lautet: „In den Fällen des § 173 Abs. 2 des StGB tritt Bestrafung nicht ein, wenn die Ehe, auf der die Schwägerschaft beruht, zur Zeit der Tat nicht mehr bestand; das Gericht kann von Strafe absehen, wenn die häusliche Gemeinschaft der Ehegatten zur Zeit der Tat aufgehoben war. Die Tat wird nicht mehr verfolgt, wenn Befreiung vom Ehehindernis des § 1310 des Bürgerlichen Gesetzbuches erteilt ist" (ersetzt durch § 4 des KRG Nr. 16 vom 20. 2. 1946). 4

) Das entspricht praktisch dem westdeutschen „Arbeitshaus". ) In der mir vorliegenden Ausgabe des Strafgesetzbuches von 1954 ist freilich die Behandlung von Sicherungsverwahrten noch geregelt. 5

Das allgemeine Strafrecht in Mitteldeutschland

177

§ 175 lautet: Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen ; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. § 175 b fällt aus, da er im § 175 schon behandelt ist. Die Entmannung von Sittlichkeitsverbrechern, die in Westdeutschland auf freiwilliger Grundlage noch erlaubt ist, dürfte in Mitteldeutschland kaum möglich sein, weil dort der § 226 a StGB fortgefallen ist. Die Verletzung des Berufsgeheimnisses lautet:

ist durch den § 300 geregelt. Dieser

(1) Rechtsanwälte, Advokaten, Notare, Verteidiger in Strafsachen, Ärzte, Wundärzte, Hebammen, Apotheker sowie die Gehilfen dieser Personen werden, wenn sie unbefugt Privatgeheimnisse offenbaren, die ihnen kraft ihres Amtes, Standes oder Gewerbes anvertraut sind, mit Geldstrafe oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft. (2) Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. I m übrigen hat sich im Wortlaut derjenigen Bestimmungen, die in den früheren Kapiteln angeführt sind, nichts geändert, was für den Psychiater von Bedeutung sein, könnte. Sehr viel umfangreicher sind die Abweichungen der mitteldeutschen Strafprozeßordnung vom 2. 10. 1952 gegenüber der westdeutschen. E s mögen hier die Bestimmungen folgen, die irgendwie in Betracht kommen 6 ). Recht zur Aussageverweigerung §47 (53) (1) Zur Verweigerung der Aussage sind berechtigt: 1. Geistliche über das, was ihnen bei der Ausübung der Seelsorge anvertraut ist; 2. Rechtsanwälte und Ärzte über das, was ihnen bei Ausübung ihres Berufes anvertraut ist; Dieses Recht besteht nicht, soweit nach den Strafgesetzen eine Pflicht zur Anzeige besteht. (2) Rechtsanwälte und Ärzte dürfen die Aussage nicht verweigern, wenn sie von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit befreit sind. (3) . . . Dazu ist zu bemerken: Die Anzeigepflicht besteht nach § 139 StGB bei bestimmten schweren Verbrechen wider das Leben, Raub, Menschenraub, Münzverbrechen, dazu bei Hochverrat, Landesverrat und Wehrmittelbeschädigung. Anzeigepflicht besteht weiter nach § 5 der Verordnung über die Bestrafung von unbefugtem Waffenbesitz. Nach dem Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. 12. 1957 gehört weiter dazu eine Reihe von Delikten, die als „Verbrechen gegen den Staat und die Tätigkeit seiner Organe" zusammengefaßt sind (§§ 13—15, 17, 18, 21—23). Dafür ist der § 131 aufgehoben. 6 ) Hinter die Paragraphen sind stets die entsprechenden der westdeutschen StPO gesetzt.

12 L a t l g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

178

Das Strafrecht

Nichtvereidigung § 52 (60) Nicht zu vereidigen sind: 1. Personen, die zur Zeit der Vernehmung das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die wegen mangelnder Verstandesreife oder wegen Verstandesschwäche von der Bedeutung einer Aussage vor Gericht und ihrer Beeidigung keine genügende Vorstellung haben; 2. . . .

Auswahl und Behandlung des Sachverständigen § 60 (1) Sachverständigengutachten sollen von dem Untersuchungsorgan, dem Staatsanwalt oder dem Gericht bei den entsprechenden staatlichen Dienststellen angefordert werden. Die Dienststelle kann einen ihrer Mitarbeiter mit der Vertretung des von ihr erstatteten Gutachtens vor Gericht oder mit der selbständigen Erstattung des Gutachtens beauftragen. (2) Andere Sachverständige sind dann als Gutachter heranzuziehen, wenn besondere Umstände es erfordern. (3) Die von einer staatlichen Dienststelle Beauftragten und die sonst herangezogenen Sachverständigen sind zur Erstattung des Gutachtens verpflichtet. (4) Als Sachverständiger soll nicht tätig werden, auf den die Ausschließungsgründe des § 20 Ziffer 1—4 zutreffen 7 ). § 61. Erscheint der Sachverständige auf eine Ladung nicht oder verweigert er die Erstattung des Gutachtens ohne genügende Begründung, so können ihm die Kosten und eine Ordnungsstrafe auferlegt werden. § 62. (1) Der Sachverständige kann vereidigt werden. (2) Der Eid ist nach Erstattung des Gutachtens und mit der Erklärung zu leisten, daß der Sachverständige das Gutachten unvoreingenommen und nach bestem Wissen erstattet habe. § 63 entspricht dem westdeutschen § 80. Weiter sind wichtig § 64 (ähnlich § 246 a). Ist damit zu rechnen, daß die Unterbringung des Beschuldigten in einer Heil- und Pflegeanstalt oder einer Entziehungsanstalt angeordnet werden wird, so soll schon im Ermittlungsverfahren einem Sachverständigen Gelegenheit zur Vorbereitung des in der Hauptverhandlung zu erstattenden Gutachtens gegeben werden. § 65 (entspricht § 81). (1) Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Beschuldigten kann auf Antrag eines Sachverständigen angeordnet werden, daß der Beschuldigte in eine öffentliche Heil- und Pflegeanstalt gebracht und dort beobachtet wird. Im Ermittlungsverfahren entscheidet der Staatsanwalt, nach Eröffnung des Hauptverfahrens das Gericht 8 ). (2) Die Verwahrung in der Anstalt darf die Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten. § 66 (entspricht § 81a und § 81c). (1) Die körperliche Untersuchung des Beschuldigten einschließlich der Entnahme von Blutproben darf zur Peststellung von Tatsachen angeordnet werden, die für das Verfahren von Bedeutung sind. ') Durch die Straftat Verletzte, Verwandte des Beschuldigten, der Vormund des Beschuldigten oder Verletzten, oder wer in der Sache in anderer Punktion tätig war. 8 ) Hier besteht ein Unterschied gegenüber Westdeutschland insofern, als Voraussetzung für die Unterbringung ein Antrag des Sachverständigen ist, während in Westdeutschland ein Sachverständiger nur vorher gehört werden muß.

Das allgemeine Strafrecht in Mitteldeutschland

179

(2) Andere Personen dürfen ohne ihre Einwilligung nur untersucht werden, wenn festgestellt werden muß, ob bei ihnen eine bestimmte Spur oder Folge einer strafbaren Handlung vorhanden ist. (3) Die Anordnung steht dem Richter, im Ermittlungsverfahren dem Staatsanwalt oder dem Untersuchungsorgan zu. § 67 (84) betr.

Sachverständigengebühren.

Unterbringung § 151 (entspricht 126a). (1) Bestehen wichtige Gründe für die Annahme, daß jemand die zur Untersuchung stehende Handlung im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangen hat und daß seine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt angeordnet werden wird, so kann das Gericht auf Antrag des Staatsanwalts durch Unterbringungsbeschluß seine einstweilige Unterbringung anordnen, wenn die allgemeine Sicherheit es erfordert. Die Gründe sind in dem Unterbringungsbefehl anzugeben. Die Absätze 2 und 3 entsprechen im Wesentlichen denen des § 126 a StPO. § 260 (entspricht 429 a). Liegen die Voraussetzungen für die Unterbringung eines Beschuldigten in einer Heil- und Pflegeanstalt vor und führt der Staatsanwalt das Strafverfahren deshalb nicht durch, so kann er beim zuständigen Gericht den Antrag stellen, die Unterbringung des Beschuldigten anzuordnen. Für das Verfahren gelten sinngemäß die Vorschriften über das Strafverfahren, wobei der Antrag der Anklage gleich steht (§ 261). Die Hauptverhandlung kann, wenn der Zustand des Beschuldigten seine Teilnahme unmöglich macht, auch ohne ihn durchgeführt werden. Das kann entweder nach seiner Vernehmung im Termin geschehen (§ 262) oder, wenn auch das nicht möglich ist, nach vorheriger richterlicher Vernehmung unter Zuziehung eines Sachverständigen (§ 263). Strafaufschub Der Strafaufschub ist geregelt durch die §§ 338 und 339, die im Wortlaut fast übereinstimmen mit den §§ 455 und 456 der westdeutschen StPO. Hinzu kommt § 342. Die Vollstreckung der Maßnahme der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verjährt drei Jahre nach Eintritt der Rechtskraft. Krankenhausaufenthalt § 343 (461 [1]). Wiederaufnahme des Verfahrens § 317 (359 Nr. 5) (1) Ein durch rechtskräftige Entscheidung abgeschlossenes Verfahren kann wieder aufgenommen werden, 1. wenn Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht werden, die dem Gericht zur Zeit der Entscheidung nicht bekannt waren und die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen eine andere Entscheidung zu begründen geeignet sind. 2.

...

(2) Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist ausgeschlossen, wenn der Angeklagte freigesprochen ist und seit der Rechtskraft des Urteils fünf Jahre vergangen sind. § 318 (praktisch 363 [1]). Nach § 319 kann auch nach dem Tode des Verurteilten von seinem Ehegatten, seinen Eltern, Kindern oder Geschwistern beim Staatsanwalt ein Gesuch auf Wiederaufnahme des Verfahrens eingereicht werden (ähnlich § 371); dieser veranlaßt dann das Weitere. 12*

180

Das Strafrecht

Bedingte

Strafaussetzung

§ 346 (1) Das Gericht kann nach Erlaß des Urteils die Vollstreckung der Freiheitsentziehung mit dem Ziel des Straferlasses aussetzen, wenn a) das Vorleben und die Persönlichkeit des Täters sowie die Umstände des Verbrechens dies rechtfertigen und b) zu erwarten ist, daß der Verurteilte während seiner Bewährungszeit sich so verantwortungsbewußt verhält, daß auch für die Zukunft mit einer gewissenhaften Erfüllung seiner Pflichten als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik gerechnet werden kann. (2) Beträgt die Strafe mehr als sechs Jahre Freiheitsentziehung, so darf eine Aussetzung der Strafvollstreckung erst erfolgen, wenn mindestens die Hälfte der Strafe verbüßt ist. (3) Ist durch das Verbrechen ein materieller Schaden verursacht worden, so soll dem Verurteilten auferlegt werden, nach besten Kräften den Schaden wieder gutzumachen. (4) Die Bewährungszeit ist auf mindestens zwei und auf höchstens fünf Jahre zu bemessen. (5) Auf Zusatzstrafen finden diese Bestimmungen keine Anwendung. (6) Nach Antritt der Strafe haben der Staatsanwalt und der Leiter der Strafvollzugsanstalt laufend zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für eine Strafaussetzung eingetreten sind, und gegebenenfalls entsprechende Anträge zu stellen.

Dazu hat das Oberste Gericht am 29. 4. 1953 Richtlinien erlassen, in denen es heißt, die Strafe und ihre Vollstreckung diene dem Schutz des Staates und der Bürger vor verbrecherischen Angriffen einzelner und erziehe zur gewissenhaften Befolgung der Gesetze. Eine bedingte Strafaussetzung könne daher nur erwogen werden, wenn die Zwecke der Strafe durch sie nicht gefährdet oder gar vereitelt würden; sie habe weder mit der früheren Bewilligung von Bewährungsfrist etwas zu tun, noch sei sie eine Gnadenmaßnahme. Sie sei vielmehr eine besondere, an bestimmte gesetzliche Voraussetzungen geknüpfte Maßnahme der Strafvollstreckung. Diese Voraussetzungen seien das Vorleben und die Persönlichkeit des Verurteilten, die Umstände und die Erwartung künftigen verantwortungsbewußten Verhaltens. Diese Richtlinien sind freilich durch einen Beschluß des Obersten Gerichts vom 30. 4. 1956 wieder aufgehoben, weil ihr Inhalt die erzieherische Wirkung der Strafvollstreckung erschwere (NJ 1956, S. 263). Die Meinungen über die bedingte Strafaussetzung sind anscheinend von vornherein geteilt gewesen. Auf der einen Seite bekämpfte man sie als Korrektur der Strafurteile, bemängelte, daß durch die kommentarlose Anordnung eine gewisse Unsicherheit hervorgerufen sei, daß die von den Haftanstalten abgegebenen Beurteilungen oft unvollkommen seien; man trat für schärfere Sichtung ein, sprach von einer „etwas ins Uferlose geratenen Gewährung der bedingten Strafaussetzung", eine solche Strafpolitik sei kein Mittel, um der Kriminalität wirksam entgegen zu treten 9 ), andererseits trat 9

) Mühlbkrger, NJ 1956, S. 387; KUSCHEL, NJ 1957, S. 295; KERN, NJ 1957,

S. 726.

Das allgemeine Strafrecht in Mitteldeutschland

181

man für häufigere Anwendung der bedingten Strafaussetzung ein und kritisierte, daß sie zu wenig angewendet würde 10 ). Wegen der Unsicherheit in der Anwendung sind deswegen im April 1957 vom Generalstaatsanwalt besondere Anweisungen gegeben11). Durch das Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. 12. 1957 (StEG) 12 ) ist einerseits der „öffentliche Tadel" als neue Strafart eingeführt (§§ 3—6); das Gericht kann weiter unter bestimmten Umständen die öffentliche Bekanntmachung einer Strafe anordnen (§ 7). Wichtig erscheint die „bedingte Verurteilung", die in den §§ 1 und 2 geregelt ist 13 ). § 1. (1) Eine Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe bis zu 2 Jahren kann bedingt ausgesprochen werden, wenn der Grad der Gesellschaftsgefährlichkeit der Tat, die Umstände, unter denen sie begangen wurde, und das Verhalten des Täters vor und nach Begehung der Straftat dies rechtfertigen. Die bedingte Verurteilung bewirkt, daß die festgesetzte Strafe nur vollstreckt wird, wenn der Verurteilte während einer vom Gericht festzusetzenden Zeit von 1—5 Jahren (Bewährungszeit) eine neue Straftat begeht, für die eine mehr als dreimonatige Gefängnisstrafe ausgesprochen wird. (2) Die bedingte Verurteilung erstreckt sich nicht auf Zusatzstrafen. § 2. Ist die Bewährungszeit abgelaufen, ohne daß die Bedingung für die Vollstreckung der Strafe eingetreten ist (§1 Absatz 1), so stellt das Gericht durch Beschluß fest, daß der Verurteilte als nicht bestraft gilt.

Hier ist anzufügen die „Anordnung über die Eingliederung entlassener Strafgefangener in den Arbeitsprozeß" vom 27. 12. 195514), die in sieben Paragraphen zusammenfassend folgendes verfügt: Die Strafvollzugsbehörden haben über den bevorstehenden Abgang eines Strafgefangenen nach Möglichkeit spätestens vier Wochen vorher die Räte des zuständigen Kreises zu benachrichtigen (§ 3). Diese haben den entlassenen Strafgefangenen auf deren Wunsch geeignete Arbeitsstellen nachzuweisen (§4). Die Eingliederung in den Arbeitsprozeß soll dort erfolgen, wo die günstigsten Voraussetzungen für eine positive Entwicklung, besonders durch Einbeziehung in die politische, kulturelle und gesellschaftliche Arbeit, gegeben sind. Das ist in erster Linie in den Betrieben der volkseigenen Wirtschaft der Fall (§ 1). Diese zuletzt genannte Anordnung, durch die die Schwierigkeiten der Wiedereingliederung mindestens sehr verringert werden können, ist m. E. sehr zu begrüßen. Ob die weitgehende Möglichkeit der Strafaussetzung zur Bewährung sich als zweckmäßig erweisen wird, ob die kritischen Äußerungen zum § 346 StPO nicht auch für die bedingte Verurteilung zu gelten haben, muß die Zukunft lehren. Hinzuweisen ist schließlich auf das Gesetz über Eintragung und Tilgung im Strafregister (StRG) vom 11. 12. 1957. Nach § 8 dieses Gesetzes werden die Eintragungen gestaffelt nach der Schwere der Strafe getilgt. Die kürzeste 10

) Kbüqer, NJ 1957, S. 105. ) HAID, NJ 1957, S. 794.

1X 12

) GBl. der D D R , Teil I, 1957, S. 643. ) Dazu R e n n e b e r o im LdSt. S. 598. 14 ) GBl. der DDR, Teil I, 1956, S. 273. 13

182

Das Strafrecht

Frist — bei öffentlichem Tadel sowie bei Freiheitsentziehung bis zu drei Monaten oder bei Geldstrafe bis zu 500 DM — beträgt zwei Jahre. Die Fristen reichen über 3, 5 und 7 Jahre bis zu 10 Jahren, im letztgenannten Falle bei einer Freiheitsentziehung von mindestens 5 Jahren und bei alleiniger Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt. Daß die kürzeren Fristen die soziale Einordnung erleichtern, leuchtet ein; weshalb die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt erst nach einer so langen Frist getilgt werden soll, ist dem Wortlaut des Gesetzes nicht zu entnehmen.

C. D I E

STRAFPROZESSORDNUNG1) 1. Der Geisteskranke

als Zeuge

Ein Teil der zur Prozeßordnung gehörigen Bestimmungen ist schon früher in den Kapiteln besprochen, bei denen diese Bestimmungen irgendwie wichtig waren. Hier soll ergänzend zunächst die Frage erörtert werden, wie Zeugenaussagen Geisteskranker zu bewerten sind, ob sie vereidigt werden können, wann sie nicht vereidigt werden dürfen. Die Bestimmungen über die Vereidigung von Zeugen haben in den letzten Jahrzehnten gewechselt. Während früher der Zeuge vor seiner Vernehmung den Eid zu leisten hatte, daß er nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde, ist 1934 der Nacheid an die Stelle des Voreids getreten 2 ). Auch heute wird der Zeuge nach Abschluß seiner Vernehmung vereidigt. § 66 c. (1) Die Vereidigung erfolgt in der Weise, daß der Richter an den Zeugen die Worte richtet: „Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, daß Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben" und der Zeuge hierauf die Worte spricht: „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe." (2) Der Eid kann auch ohne religiöse Beteuerung geleistet werden. (3) Der Schwörende soll bei der Eidesleistung die rechte Hand erheben.

Geändert haben sich die Vorschriften, wer vereidigt werden soll. 1934 hatte man die Eidesleistung auf wenige Fälle beschränkt. Darüber, ob ein Zeuge vereidigt werden sollte oder nicht, entschied das Gericht „nach pflichtgemäßem Ermessen". Von der Vereidigung der Zeugen wurde im allgemeinen abgesehen, wenn der Angeklagte, der Staatsanwalt und der Verteidiger darauf verzichteten, und wenn das Gericht die Zeugenaussage auch ohne Eid für glaubwürdig hielt. Das ist seit 1950 geändert, und der heutige Rechtszustand ähnelt weitgehend dem vor 1933. Danach wird von der Vereidigung bei bestimmten Verwandtschaftsgraden abgesehen, weiter, wenn der Zeuge selbst durch den Angeklagten irgendwie geschädigt ist und schließlich, wenn es sich um Aussagen ohne wesentliche Bedeutung handelt. 1 ) Seit dem Erscheinen der 1. Auflage ist wieder ein einheitliches Recht geschaffen worden; die wichtigsten mitteldeutschen Bestimmungen sind bereits im vorigen Kapitel angeführt. 2 ) Gesetz zur Beschränkung der Eide im Strafverfahren vom 24.11.1933; in Kraft getreten am 1.1. 1934.

184

DIE Strafprozeßordnung

§ 6 0 . Von der Vereidigung ist abzusehen: 1. bei Personen, die zur Zeit der Vernehmung das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder die wegen mangelnder Verstandesreife oder wegen Verstandesschwäche v o m Wesen und von der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung haben. § 61. Von der Vereidigung kann nach dem Ermessen des Gerichts abgesehen werden: 1. bei Personen, die zur Zeit der Vernehmung das sechzehnte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben.

und mit ihm V O R K A S T N E R 4 ) nehmen an, daß mit dem Begriff „Verstandesreife" die angeborene, mit „Verstandesschwäche" die erworbene Geistesschwäche getroffen werden solle. Das ist offenbar jedoch nicht gemeint. Der Ausdruck „Reife" legt doch den Gedanken nahe, daß dabei an eine zwar verzögerte, aber doch normale Spätentwicklung gedacht ist. Demgegenüber wäre unter „Verstandesschwäche" sowohl der angeborene wie der erworbene Schwachsinn zu verstehen. Dafür spricht auch der oben wiedergegebene Wortlaut des § 61 Ziffer l 5 ). Die Geisteskrankheit ist nicht besonders angeführt; es bestehen aber wohl keine Bedenken, sie dem Begriff der Verstandesschwäche unterzuordnen, wenn die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind. A S C H A F F E N B U R G hat gefordert, grundsätzlich alle Aussagen von der Vereidigung auszuschließen, die sich auf Wahrnehmungen beziehen, die während eines krankhaften Geisteszustandes gemacht sind. Um diese Forderung klar zum Ausdruck zu bringen, hat A S C H A F F E N B U R G folgende Fassung des § 6 0 StPO vorgeschlagen: Von der Vereidigung ist abzusehen: ASCHAFFENBURG3)

1. Bei Personen, die zur Zeit der Vernehmung das sechzehnte Lebensjahr nicht vollendet haben; ferner bei solchen, deren Aussagen und Wahrnehmungen durch Geisteskrankheit oder Geistesschwäche beeinflußt sind.

Ich würde es für gut halten, die Worte „Geisteskrankheit oder Geistesschwäche" zu ersetzen durch „Geisteskrankheit, Verstandesschwäche oder mangelnde Verstandesreife". Damit würde auch die normale Verzögerung der Verstandesentwicklung mit erfaßt werden. Bei dem gegenwärtigen Rechtszustand schließt nun aber eine Geistesschwäche, ja selbst eine Geisteskrankheit die Beeidigung nicht aus 6 ). Es kommt dabei nicht auf die Güte und Zuverlässigkeit der Aussage an, sondern darauf, ob der Zeuge vom Wesen des Eides und seiner Bedeutung keine genügende Vorstellung hat. Das muß selbst bei Geisteskranken und Entmün3 4

) I n HOCHE I I I , S . 1 2 2 . ) I n BUMKE I V , S . 2 0 8 .

6 ) Ähnlich Eberh. SCHMIDT, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz. 1957, S. 142, der sagt, die Vereidigung des eben erst eidesmündig Gewordenen könne sich aus der bei ihm feststellbaren Verstandesunreife verbieten. 6 ) LÖWE-ROSENBERG, Kommentar zur Strafprozeßordnung, 20. Aufl., 1954, S. 189. Dort Hinweise auf RGSt. 20, S. 60 und 38, S. 395.

Der Geisteskranke als Zeuge

185

digten individuell geprüft werden 7 ). Das zu tun, ist in erster Linie Sache des vernehmenden Richters; nur ausnahmsweise wird ein Sachverständiger mit der Prüfung dieser Frage betraut werden. Zweifel an der Eidesfähigkeit genügen dabei nicht 8 ). Es muß durchaus zugegeben werden, daß z. B. Altersschwachsinnige, intellektuell nicht geschädigte Wahnkranke durchaus vom Wesen und der Bedeutung des Eides eine genügende Vorstellung haben. Es fragt sich dann aber, wie es mit der Glaubwürdigkeit ihrer Aussage steht. Diese Frage ist in der Praxis keineswegs immer leicht zu beantworten, weil Geisteskranke zwar durchaus wahrheitsgemäß aussagen können, weil aber Wahrheit und Dichtung in ihren Aussagen oft so eng verflochten sind, daß auch die Dichtung fälschlich für wahr gehalten werden kann. Auch im normalen Dasein ist unsere Wahrnehmung ungenau, unsere Erinnerung lückenhaft. Schon die erstere ist keineswegs so objektiv, wie wir geneigt sind, anzunehmen. Tatsächlich wird schon das Wahrgenommene im Sinne eines Urteils darüber umgebildet. Unser Urteil ist aber u. a. von affektiven Regungen verschiedener Art abhängig, von Wünschen, Hoffnungen, Strebungen, von Sympathie und Antipathie, und wir verfälschen Vorgänge je nach unserer Stellungnahme zu ihnen schon in der Wahrnehmung. Noch stärkeren Umwandlungen unterliegen Erlebnisse in der Erinnerung. Namentlich wenn nach längerer Zeit über einen Vorgang berichtet werden soll, versagt unser Gedächtnis in vielen Punkten. Zeugen, die alles ganz genau wissen, sind daher mit größter Vorsicht zu bewerten. Aber selbst jüngst Vergangenes schwindet in oft erstaunlicher Weise aus unserer Erinnerung. Ich habe selbst einmal ein derartiges Erlebnis gehabt, über das ich kurz berichten möchte: Im Alter von 13 Jahren hatte ich in der Pause zwischen zwei Stunden irgendwelchen Unfug gemacht. Der Lehrer, der mir durchaus gewogen war, fragte in der folgenden Stunde nach dem Täter. Obwohl er Straffreiheit zusicherte, meldete ich mich nicht. Ich hatte in der kurzen Zeit von etwa einer halben Stunde die Tat völlig vergessen und war ehrlich entrüstet darüber, daß sich niemand meldete. Nach der Stunde fragte ich meine Mitschüler, wer denn der Täter gewesen sei, und war unangenehm überrascht, als ich selbst der Tat bezichtigt wurde. Ich bestritt zunächst; erst als mir Einzelheiten vorgehalten wurden, kam die Erinnerung, anfangs bruchstückweise, dann im ganzen wieder. Ich habe mich dann beim Lehrer sofort als Täter gemeldet. Ich war von der Angelegenheit auf das Peinlichste berührt, nicht weil ich die Tat begangen hatte, sondern weil ich durch mein Schweigen beim Lehrer in den Verdacht der Feigheit oder gar der Unehrlichkeit zu kommen fürchtete. Weshalb ich damals das Geschehene aus dem Gedächtnis verdrängt habe, ist mir bis heute unklar geblieben.

Ich war damals noch sehr jung; und ich erinnere mich nicht, später Ähnliches erlebt zu haben. Aber wäre es nicht möglich, daß sich auch Erwachsene einmal unter der Wirkung eines Affekts einer Tat nur bruchstückweise erin') RGSt. 33, S. 393. 8 ) RGSt. 47, S. 297.

Die Strafprozeßordnung

186

nern ? Und zwar nicht nur als Beschuldigte, sondern auch als Zeugen ? Oder daß ein Vorgang ganz anders in der Erinnerung vorhanden ist, als er in Wirklichkeit war ? Sicher aber ist, wie die Forschungen zur Psychologie der Aussage ergeben haben, unsere Erinnerung überhaupt durchaus ungenau und lückenhaft, und zwar auch dann, wenn es sich um gleichgültige Beobachtungen handelt. Wieviel unsicherer wird unsere Aussage aber dann, wenn es sich um Dinge handelt, die die gesamte Öffentlichkeit interessieren, die im kleinen Kreise immer wieder besprochen, in den Zeitungen breitgetreten werden ? Wie, wenn der Zeuge etwa in politischen Prozessen gegen den Angeklagten affektiv eingestellt ist? Hier aus dem Gewirr einander widersprechender, voreingenommener, verlogener Aussagen die Wahrheit herauszufinden, ist nicht selten eine kaum lösbare Aufgabe. Ist der Zeuge nun gar geisteskrank oder war er es zur Zeit, als er die Tat beobachtete, so ist die Gefahr der falschen Aussage noch viel größer. Sicher ist, daß manche Geisteskranke ebenso richtige Angaben machen können wie Gesunde. Ob sie das aber tun, läßt sich kaum mit Sicherheit sagen. Vielfach sind ihre Angaben von wahnhaften Vorstellungen oder Sinnestäuschungen beeinflußt; sie selbst sind dann von der Richtigkeit ihrer Aussagen fest überzeugt, obwohl diese objektiv falsch sind. Besonders gefährlich sind in dieser Beziehung leicht manische Kranke; sie neigen zu allerlei unbegründeten Beschuldigungen, die sie selbst für wahr halten, und tragen sie mit so starker innerer Anteilnahme vor, daß leicht das Gefühl wach wird, es müsse etwas Wahres daran sein. Diese Zeugen sind so gefährlich, weil sie auf den Laien nicht krank zu wirken brauchen. Zu den Laien rechne ich in diesem Falle auch die Mehrzahl der praktischen Ärzte, deren Interesse für Psychiatrie in der Regel mit dem Staatsexamen aufhört. Falsch beurteilt wird auch leicht die Zuverlässigkeit alter Leute. Diese können auf den, der nur mit alltäglichen Fragen zu ihnen kommt, noch einen geistig ganz klaren Eindruck machen. Sobald man sich aber näher mit ihnen befaßt, merkt man, daß hinter der erhaltenen äußeren Fassade eine erstaunliche Leere herrscht, und daß sie auf die einfachsten Fragen keine richtige Antwort mehr zu geben wissen. Gerade kurz Zurückliegendes wird von ihnen schlecht oder gar nicht behalten. Gefährlich sind schließlich, um nur noch ein Beispiel zu nennen, die sog. Pseudologisten, die Wahrheit und Dichtung in ihrer Erinnerung so vermengen, daß sie schließlich selbst an die Wahrheit ihrer Lügereien glauben. Handelt es sich um psychisch intakte Zeugen, an deren Glaubwürdigkeit Zweifel geäußert werden, so kommt als Sachverständiger dafür der Normalpsychologe in Betracht; handelt es sich um psychisch Abnorme, so ist der Psychiater am Platze, unter Umständen gemeinsam mit dem Normalpsychologen 9 ). Zu prüfen ist in solchen Fällen abgesehen von der Gesamtpersönlichkeit für den speziellen Fall, ob der Zeuge das von ihm Berichtete, 9

) Dazu

UNDEUTSCIT,

Aussagepsychologie in

PONSOLD,

S.

191

ff.

Der Geisteskranke als Angeschuldigter, Angeklagter und Verurteilter

187

so wie er es dargestellt hat, überhaupt hat wahrnehmen können. Wenn anders darüber keine Klarheit zu schaffen ist, wird man an Ort und Stelle zu prüfen haben. Weiter ist die Erinnerungsfähigkeit zu untersuchen. Dabei ist zu beachten, daß Gleichgültiges leicht vergessen wird, während Vorgänge, die unter starker affektiver Beteiligung erlebt werden, während vieler Jahre in allen Einzelheiten haften bleiben können. Schließlich ist auch die Art der Darstellung des Erlebten wichtig: es kommt darauf an, ob der Zeuge sachlich das Wahrgenommene wiedergibt oder ob er mit allen möglichen eigenen Gedanken und Urteilen darüber berichtet. Kurz muß noch auf die Rolle hingewiesen werden, die Geisteskranke als Anzeiger angeblicher Verbrechen spielen10). Es kann sehr leicht vorkommen, daß Sinnestäuschungen irgend einem angeblichen Feinde zur Last gelegt werden. Daß es sich dabei um Täuschungen kranker Menschen handelt, wird in der Regel schnell erkannt. Aber auch sonst ist gerade der psychiatrisch tätige Arzt, insbesondere der Anstaltsarzt der Gefahr unberechtigter Anzeigen ausgesetzt 11 ). Im allgemeinen kommen solche Anzeigen über die Staatsanwaltschaft nicht hinaus, weil ihre Unsinnigkeit leicht erkennbar ist. Die Ereignisse der letzten Jahre haben aber gezeigt, daß auch durchaus pflichtbewußte Ärzte auf solche Anzeigen hin mit Gerichtsverhandlungen zu rechnen haben, die sich bei der vielfach geübten Berichterstattung durch die Presse für das Ansehen des Betreffenden nicht gerade günstig auswirken, und es kann durchaus sein, daß Unschuldige, auch Nichtärzte, infolge einer solchen, auf wahnhaften Erlebnissen beruhenden Anzeige, erhebliche Nachteile haben. A S C H A F F E N B U R G hat deshalb die Möglichkeit gefordert, Zeugen, die selbst eine Anzeige erstattet haben, oder auf deren Antrag eine Strafverfolgung eingeleitet ist, auf ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen; sie, wenn nötig, sogar zu diesem Zwecke in einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt beobachten zu lassen. So sehr die Verwirklichung einer solchen Forderung in manchen Fällen erwünscht wäre, so bestehen doch erhebliche Bedenken gegen sie. Durchführbar und für den Zeugen zumutbar wäre m. E. eine ambulante Untersuchung, die dann aber durch einen Facharzt geschehen müßte, weil nur dieser die dafür nötige Zeit und Erfahrung hat. Eine solche Untersuchung wäre auch wohl nur mit Zustimmung des Anzeigenden durchführbar. 2. Der Geisteskranke

als Angeschuldigter, und Verurteilter

Angeklagter

Geisteskrank kann ein Verbrecher zur Zeit der Tat sein; er kann in der Zeit zwischen der Tat und der Hauptverhandlung und schließlich nach der 10

) BRESLER, Die pathologische Anschuldigung. Halle/Saale, 1907. ) Ich selbst bin wegen fahrlässiger Tötung, Verleitung zum Meineid, Bruch des Briefgeheimnisses, Freiheitsberaubung angezeigt worden. Abgesehen von einer Anzeige wegen Freiheitsberaubung, die mit Freispruch endete, sind alle diese Verfahren schnell eingestellt worden. 11

188

Die Strafprozeßordnung

Verurteilung geisteskrank werden. Für alle diese Fälle ist eine besondere gesetzliehe Behandlung vorgesehen. Besteht zunächst eine Geisteskrankheit zur Zeit der Tat, oder auch nur der Verdacht einer solchen, und damit die Möglichkeit der Zurechnungsunfähigkeit und der Unterbringung aus § 42 b StGB, so kann schon im Vorverfahren die Untersuchung durch einen Sachverständigen angeordnet werden (§ 80 a StPO; Wortlaut S. 58). Die Auswahl des Sachverständigen erfolgt durch den Richter, der nach Möglichkeit die dazu öffentlich bestellten Sachverständigen heranziehen soll (§ 73; Wortlaut S. 11). Im allgemeinen wird von den Gerichten zunächst der Amtsarzt herangezogen; Ausnahmen von dieser Regel bilden die Orte, an denen sich eine psychiatrische Klinik, ein psychiatrisches Krankenhaus oder eine Heil- und Pflegeanstalt befinden. Dort werden auch manchmal Anstaltsärzte zur ersten ambulanten Untersuchung herangezogen. Ergibt sich vor Erhebung der öffentlichen Anklage, daß der Täter zur Zeit der Tat zurechnungsunfähig war, so wird je nach der Sachlage das Verfahren eingestellt oder mit dem Ziel der Unterbringung des Täters durchgeführt. Über die Einstellung des Verfahrens entscheidet in diesem Stadium die Staatsanwaltschaft (§ 170 StPO) 1 ), in allen späteren Stadien das Gericht. Manchmal genügt jedoch eine ambulante Untersuchung nicht, um Klarheit zu schaffen. Dann kann das Gericht die Beobachtung des Angeklagten in einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt anordnen. Erforderlich dafür ist, daß vorher ein Sachverständiger, der in diesem Falle nicht Psychiater zu sein braucht, gehört wird. Die entsprechenden Bestimmungen finden sich im § 81 StPO. § 81. (1) Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Beschuldigten kann das Gericht nach Anhörung eines Sachverständigen und des Verteidigers anordnen, daß der Beschuldigte in eine öffentliche Heil- oder Pflegeanstalt gebracht und dort beobachtet wird. Im vorbereitenden Verfahren entscheidet das Gericht, das für die Eröffnung der Hauptverhandlung zuständig wäre. (2) Dem Beschuldigten, der keinen Verteidiger hat, ist ein solcher zu bestellen. (3) Gegen den Beschluß ist sofortige Beschwerde zulässig. Sie hat aufschiebende Wirkung. (4) Die Verwahrung in der Anstalt darf die Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten.

Wichtig ist, daß dem Beschuldigten, der verdächtig ist, zurechnungsunfähig oder vermindert zurechnungsfähig zu sein, für das Beobachtungsverfahren ein Verteidiger bestellt werden muß, sofern er nicht schon einen hat. Das ist berechtigt, weil damit zu rechnen ist, daß der Beschuldigte selbst nicht in ausreichender Weise sein Recht wahrnehmen kann. Das Gericht entscheidet nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen. Nach der jetzigen Bestimmung kann es — anders als früher, wo der Antrag eines *) S o LÖWE-ROSENBERG, D i e S t r a f p r o z e ß o r d n u n g .

Der Geisteskranke als Angeschuldigter, Angeklagter und Verurteilter

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Sachverständigen Voraussetzung war — die Unterbringung auch dann anordnen, wenn der gehörte Sachverständige sie nicht für nötig hält. Die Beschwerde gegen den Beschluß des Gerichts hat selten Erfolg; das ist verständlich, da der Gerichtsbeschluß ja zur Klärung von höchst wichtigen Fragen dient. Dazu kommt, daß gerade Geisteskranke, die sich selbst für gesund halten, gegen den Beschluß gern Beschwerde erheben, die dann in ihrem eigenen Interesse zurückgewiesen werden muß. Die Beobachtungszeit von 6 Wochen genügt in manchen Fällen nicht, endgültige Klarheit über die Diagnose zu schaffen. Namentlich manche Fälle von schleichend verlaufender Schizophrenie lassen sich in dieser Zeit nicht sicher diagnostizieren. In solchen Fällen wird der Sachverständige auf die bestehenden Schwierigkeiten hinzuweisen haben; er sollte auch den Mut zu einem ,,non liquet" aufbringen. Eine Verlängerung der Beobachtungszeit würde in solchen Fällen aber auch nicht weiter führen; im allgemeinen reicht die Zeit von 6 Wochen zur Klärung des Falles. § 81 a. (1) Eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten darf zur Feststellung von Tatsachen angeordnet werden, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Zu diesem Zweck sind Entnahmen von Blutproben und andere körperliche Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, ohne Einwilligung des Beschuldigten zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. (2) Die Anordnung steht dem Richter, bei Gefährdung des Untersuchungserfolges durch Verzögerung auch der Staatsanwaltschaft und ihren Hilfsbeamten (§152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) zu.

Zu den Eingriffen, die manchmal auf den Widerstand des Beschuldigten stoßen, gehört die Entnahme von Hirnflüssigkeit durch Lumbal- oder Subokzipitalpunktion und die Luftenzephalographie. In solchen Fällen darf der Arzt den Eingriff nicht ohne weiteres gegen den Willen des Beschuldigten durchführen; das würde gegen das Grundrecht des Beschuldigten auf körperliche Unversehrtheit verstoßen. Er hat aber die Möglichkeit, eine richterliche Anordnung zu erreichen. Voraussetzung dafür ist, daß einerseits der Eingriff für das Strafverfahren bedeutsam ist, daß er andererseits ohne gesundheitliche Gefährdung durchgeführt werden kann. Es ist also folgender Weg zu beschreiten: Lehnt der Beschuldigte einen dieser Eingriffe ab, so muß der Gutachter beim Gericht die Anordnung des Eingriffs beantragen. Er muß dabei begründen, weshalb er diesen Eingriff für nötig hält; er muß weiter auf etwa zu erwartende Schäden hinweisen. Ein Beschluß über die Anordnung ist dann nicht mehr anfechtbar 2 ). Bei den erwähnten Eingriffen muß man mit vorübergehenden Kopfschmerzen rechnen; andere Schäden sind kaum zu erwarten. Die Lumbalpunktion steht zwar beim Publikum in dem Rufe, schlimme Folgen zu hinterlassen; diese Meinung ist jedoch völlig unberechtigt. Darüber, daß derartige Untersuchungen in gewissen zweifelhaften Fällen von Bedeutung sein können, besteht kein Zweifel3). 2 3

) OLG Hamburg, Beschluß vom 22. 11. 1948 in HESt. 2, S. 84. ) BGHSt. 8, S. 134 ff.

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Die Strafprozeßordnung

Ergibt die Beobachtung und Untersuchung eine Geistesstörung, durch die die Voraussetzungen der §§51 und 42b StGB wahrscheinlich erfüllt sind, so besteht die Möglichkeit, durch das Gericht die einstweilige Unterbringung des Beschuldigten in einer Heil- oder Pflegeanstalt anordnen zu lassen (§ 126a StPO; Wortlaut S. 61). Das ist, worauf ich oben schon hingewiesen habe, dann besonders wichtig, wenn dringende Behandlungsbedürftigkeit, etwa bei beginnender Paralyse besteht. Wird der Täter nach Begehung der Tat geisteskrank, so ist sehr gründlich zu prüfen, ob die Geisteskrankheit nicht nur scheinbar erst nach der Tat ausgebrochen ist. Gerade die häufigsten Psychosen entwickeln sieh oft allmählich. Sie werden von der Umgebung vielfach gar nicht bemerkt, oder es werden die etwaigen Veränderungen, soweit sie bemerkt werden, nicht als Symptome einer Geisteskrankheit erkannt. Sicher ist es oft genug so, daß die Psychose schon zur Zeit der Tat bestand. Ist sie wirklich erst nach der Tat ausgebrochen, so kann das Verfahren vorläufig eingestellt werden. Hierüber sagt der § 205 StPO: Steht der Haupt Verhandlung für längere Zeit die Abwesenheit des Angeschuldigten oder ein anderes in seiner Person liegendes Hindernis entgegen, so kann das Gericht das Verfahren durch Beschluß vorläufig einstellen. Der Vorsitzende sichert, soweit nötig, die Beweise 4 ).

Diese Bestimmung berührt die Präge der Verhandlungsfähigkeit Geisteskranker. Man versteht darunter, kurz gesagt, die Fähigkeit, sich zu verteidigen. Soll man sie bejahen oder nicht ? Man muß sich darüber klar sein, daß bei ihrer Verneinung das Verfahren in unliebsamer Weise in die Länge gezogen wird. Das Verfahren würde eingestellt werden, müßte nach der Genesung oder Besserung wieder aufgenommen werden, und besonders Psychopathen mit Neigung zu reaktiven psychischen Erkrankungen hätten die Möglichkeit, das Verfahren im fortgesetzten Wechsel zwischen Erkrankung und Genesung jahrelang hinzuziehen. Auch andere Gründe sprechen für eine möglichst weite Passung des Begriffs „Verhandlungsfähigkeit". Das Verfahren kommt dadurch zu einem Abschluß, der die für den Täter so nötige sachgemäße Behandlung erst möglich macht. Das Reichsgericht hat denn auch in der Verhandlung mit einem zweifellos Geisteskranken keine Gesetzesverletzung gesehen 6 ). In der Tat ist, wie das Wort „kann" zeigt, die Einstellung des Verfahrens nach § 205 StPO fakultativ; sie kann auch nur dann erfolgen, wenn die Geisteskrankheit des Täters der Fortsetzung des Verfahrens „entgegensteht". Das wird kaum einmal der Fall sein. Praktisch wird daher die Frage nach der Verhandlungsfähigkeit kaum einmal gestellt. Das pflegt nur dann zu geschehen, wenn der Täter nach der Tat in einen psycho4 ) In Mittledeutschland kann nach § 195 StPO die Hauptverhandlung unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne den Angeklagten durchgeführt werden. Das gilt nach §§ 236 ff. namentlich für Flüchtige. Nach § 241 StPO stellt aber das Gericht das Verfahren vorläufig ein, wenn die Hauptverhandlung ergipt, daß sich in Abwesenheit des Angeklagten weder seine Schuld noch seine Nichtschuld feststellen läßt. 6 ) RGSt. 19, S. 324. In Mitteldeutschland ähnlich § 165 StPO.

Der Geisteskranke als Angeschuldigter, Angeklagter und Verurteilter

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genen Ausnahmezustand gerät, für die Tat selbst aber verantwortlich ist. In solchen Fällen ist die Verhandlungsfähigkeit m. E. zu bejahen6). Man erlebt es immer wieder, daß solche Zustände nach Abschluß des Verfahrens sehr schnell abklingen. Sie sind im übrigen seit dem Inkrafttreten des GgG im Jahre 1934 kaum noch aufgetreten7). Zu hüten hat man sich vor der Verwechslung rein psychogener Zustände mit echten Psychosen, die in der Haft mit psychogenen Symptomen überdeckt wurden; ich habe schon manchen schizophrenen oder paralytischen „Simulanten" gesehen. Nur in seltenen Fällen muß das Fehlen der vollen Verhandlungsfähigkeit als Mangel bezeichnet werden, nämlich dann, wenn der Angeklagte aus § 51 StGB freigesprochen wird, während er bei voller geistiger Gesundheit in der Lage gewesen wäre, seine Unschuld zu beweisen. In solchen Fällen ist leider eine Wiederaufnahme des Verfahrens nicht möglich8). Wird der Täter nach der Verurteilung geisteskrank, so kommen die folgenden Bestimmungen dafür in Betracht: § 455. (1) Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist aufzuschieben, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt. § 456. (1) Auf Antrag des Verurteilten kann die Vollstreckung aufgeschoben werden, ßofern durch die sofortige Vollstreckung dem Verurteilten oder seiner Familie erhebliche, außerhalb des Strafzwecks liegende Nachteile erwachsen. (2) Der Strafaufschub darf den Zeitraum von vier Monaten nicht übersteigen. (3) Die Bewilligung k a n n an eine Sicherheitsleistung oder andere Bedingungen g e k n ü p f t werden. §461. (1) Ist der Verurteilte nach Beginn der Strafvollstreckung wegen K r a n k heit in eine von der Strafanstalt getrennte Krankenanstalt gebracht worden, so ist die Dauer des Aufenthalts in der K r a n k e n a n s t a l t in die Strafzeit einzurechnen, wenn nicht der Verurteilte mit der Absicht, die Strafvollstreckung zu unterbrechen, die K r a n k h e i t herbeigeführt hat. (2) Die Staatsanwaltschaft h a t im letzteren Falle eine Entscheidung des Gerichts herbeizuführen. § 463 a. (2) Bei der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt ist der Aufschub der Vollstreckung auf Grund des § 455 Abs. 1, bei der Sicherungsverwahrung der Aufschub auf Grund des § 456 nicht zulässig.

Die Bestimmungen sind verschieden, je nachdem die Strafvollstreckung begonnen hat oder nicht. Der Sinn des § 455 besteht darin, daß bei Geistes 6

) Zustimmend V O R K A S T N E R in B U M K E I V , S. 2 0 4 ; zurückhaltender A S C I I A F F E N in H O C H E I I I , S. 1 3 0 ; eingehend ist die Problematik dieser Frage besprochen v o n L E P P M A N N , VON H E N T I G und B E R I N G E R , sämtlich i n derÄrztl. Sachverst. Ztg. 8 9 , 1 9 3 3 , S. 1 7 0 , 1 7 5 u. 3 1 5 . ') Gesehen habe ich sie namentlich bei Personen, die mit der Todesstrafe zu rechnen h a t t e n : so erkrankte ein Postbeamter, der im Laufe eines J a h r e s rd. 1000 Feldpostbriefe unterschlagen und beraubt h a t t e , an einer Pseudodemenz, die zunächst zu einer Verwechslung mit einer arterio-sklerotischen Demenz f ü h r t e ; der Anstifter zu einem Morde übertrieb während der Beobachtung sichtlich. Beide waren aber in der H a u p t v e r h a n d l u n g wieder durchaus fähig, sich zu verteidigen. 8 ) Ob in einem solchen Falle Revision eingelegt werden kann, ist umstritten. J Z 1958, S. 374. BURG

Die Strafprozeßordnung

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kranken der Strafzweck nicht erreicht werden kann, solange eben die Geisteskrankheit besteht. Außerdem spielen wohl praktische Erwägungen mit: Von Geisteskranken ist die Befolgung der Strafanstaltsordnung nicht zu erwarten; Störungen sind nicht zu vermeiden. Die Strafhaft wird daher aufgeschoben; sie muß aber nach der Genesung angetreten werden. F ü r die Frage, wann der Verurteilte der Strafe zuzuführen sei, spielen verschiedenartige Erwägungen mit: ärztlich gesehen ist es zweckmäßig, den Verurteilten nicht zu früh der Strafhaft zu überweisen; die Gesundheit des Täters m u ß soweit gefestigt sein, daß sie den Einflüssen der H a f t gewachsen ist. Andererseits haben manche Verurteilte das verständliche Bestreben, die Strafe möglichst schnell zu erledigen. Aufgabe des Arztes ist es, beide Tendenzen in Einklang miteinander zu bringen. Daß bei der Einweisung gemäß § 4 2 b StGB ein Aufschub nicht erforderlich ist, daß er vielmehr zweckwidrig wäre, leuchtet ohne weiteres ein. Der Anstaltsaufenthalt ist in diesem Falle ja das zweckmäßigste und beste, was dem Verurteilten widerfahren kann. Der § 461 StPO behandelt die gleiche Frage nach Beginn der Strafvollstreckung. Danach soll die Zeit, die ein Verurteilter krankheitshalber in einer Krankenanstalt verbringt, auf die Strafzeit angerechnet werden. Das gilt nicht nur bei körperlicher, sondern auch bei geistiger Erkrankung 9 ). Dieser Bestimmung steht nun freilich der § 45 der Strafvollstreckungsordnung entgegen, der eine „Unterbrechung der Vollstreckung" vorsieht, wenn der Verurteilte wegen körperlicher oder geistiger Erkrankung nach den Vollzugsbestimmungen vollzugsunfähig ist. Eberh. S C H M I D T meint dazu, es sei zweifelhaft, ob diese Bestimmung mit dem § 461 StPO in Einklang zu bringen sei. Schrifttum und Praxis sehen eine solche Unterbrechung überwiegend als zulässig und mit § 461 StPO verträglich an 10 ). Der Aufenthalt in einem Krankenhaus wird auf die Strafzeit nicht angerechnet, wenn der Verurteilte ihn etwa durch Verschlucken von Glassplittern, Nägeln usw. oder durch Simulieren verschuldet h a t ; wohl aber wird ein ernsthafter Selbstmordversuch angerechnet, denn: wer aus dem Leben gehen will, will etwas anderes als „Unterbrechung der Strafhaft". Stellt sich bei einem Verurteilten nachträglich heraus, daß er schon zur Zeit der Tat geisteskrank und zurechnungsunfähig war, so kann das Verfahren wieder aufgenommen werden. Die Strafprozeßordnung sagt hierüber: § 359. (1) Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist zulässig: 5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Sicherung und Besserung zu begründen geeignet sind. § 363. (1) Eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu dem Zweck, eine andere Strafbemessung auf Grund desselben Strafgesetzes herbeizuführen, ist nicht zulässig. 9

) Eberh.

10

SCHMIDT, L e h r k o m m e n t a r

S. 1275.

) Ausführlich dazu OLG Köln in MDR 1955, S. 123 und N J W 1955, S. 234.

Der Geisteskranke als Angeschuldigter, Angeklagter und Verurteilter

193

(2) Eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu dem Zweck, eine Milderung der Strafe wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit herbeizuführen, ist gleichfalls ausgeschlossen. § 366. (1) In dem Antrag müssen der gesetzliche Grund der Wiederaufnahme des Verfahrens sowie die Beweismittel angegeben werden.

Es ist selbstverständlich, daß nicht nur der Kranke, sondern auch seine Familie ein Interesse daran hat, daß der Kranke vom Makel des Verbrechens gereinigt werde. Man t u t gut, wenn der Kranke sich nicht selbst vertreten kann, einen Pfleger zum Zwecke der Wiederaufnahme des Verfahrens bestellen zu lassen. Diesem wird dazu eine kurze ärztliche Bescheinigung auszustellen sein, aus der die Wahrscheinlichkeit der Zurechnungsunfähigkeit zur Zeit der Tat hervorgeht. Bevor das Wiederaufnahmeverfahren betrieben wird, wird man sich natürlich an Hand der Akten vergewissern, daß das Verfahren aussichtsreich ist. Auch für den Fall, daß der Verurteilte inzwischen gestorben ist, kann das Wiederaufnahmeverfahren durchgeführt werden. Antragsberechtigt sind dann der Ehegatte, Verwandte in auf- und absteigender Linie und die Geschwister des Verstorbenen (§361). Von diesen Personen „kann der Antrag nur mittels einer von dem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift oder zu Protokoll der Geschäftsstelle angebracht werden" (§ 366 Abs. 2 StPO). Über die Zulassung des Antrages auf Wiederaufnahme des Verfahrens entscheidet das Gericht, dessen Urteil mit Antrag angefochten wird (§ 367 Abs. 1 StPO). § 371. (1) Ist der Verurteilte bereits verstorben, so hat ohne Erneuerung der Hauptverhandlung das Gericht nach Aufnahme des etwa noch erforderlichen Beweises entweder auf Freisprechung zu erkennen oder den Antrag auf Wiederaufnahme abzulehnen. (2) Auch in anderen Fällen kann das Gericht, bei öffentlichen Klagen jedoch nur mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft, den Verurteilten sofort freisprechen, wenn dazu genügende Beweise bereits vorliegen. (3) Mit der Freisprechung ist die Aufhebung des früheren Urteils zu verbinden. War lediglich auf eine Maßregel der Sicherung und Besserung erkannt, so tritt an die Stelle der Freisprechung die Aufhebung des früheren Urteils.

13 L a n g e i ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

D. B Ü R G E R L I C H E S 1.

RECHT

Vorbemerkungen

Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) regelt die privaten, individuellen Interessen. Es hat auch früher gewisse Normen gegeben, die in ganz Deutschland galten, Normen, die sich aus gewohnheitsrechtlichen Regeln ableiteten; ein einheitliches Recht gab es aber nicht. Im 15. Jahrhundert wurde dann das römische Recht übernommen. Aber dieses Recht, das sogenannte „Gemeine Recht", kam infolge der besonderen deutschen Verhältnisse keineswegs immer zur Geltung, da nach dem Grundsatz verfahren wurde „Stadtrecht bricht Landrecht, Landrecht bricht Reichsrecht". Allmählich erhielten einzelne Länder zwar kodifizierte Gesetzessammlungen, so Bayern 1756, Preußen 1794, Baden 1809, Österreich 1811. Aber erst nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 wurde es möglich ein allen Ländern gemeinsames Gesetz zu schaffen. Nach langen sorgfältigen Vorarbeiten (drei Entwürfe!) wurde der dritte Entwurf vom Reichstag mit wenigen Änderungen am 1. 7. 1896 angenommen; am 1. 1. 1900 trat das BGB in Kraft, das in seinem Gedankengut im ganzen auf dem durch deutschrechtliche und moderne Gedankengänge abgewandelten römischen Recht beruht. Inzwischen sind zwar eine ganze Reihe von Änderungen an der ursprünglichen Fassung vorgenommen; für die psychiatrische Tätigkeit ist davon das sogenannte Ehegesetz von 1938 von Bedeutung. Dieses Gesetz ist zwar nach Beendigung des letzten Krieges aufgehoben und durch das Kontrollratsgesetz 16, das Ehegesetz 1946 ersetzt worden; die meisten seiner Bestimmungen sind aber erhalten geblieben. Weiter war das Erbrecht durch das „Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erb Verträgen" vom 31. 7. 1938 (TestG) neu geregelt. Die dafür in Betracht kommenden Bestimmungen sind in den §§ 2229—2264 wieder in das BGB eingebaut worden. Eine Ergänzung hat das BGB durch das Jugend-Wohlfahrtsgesetz vom 9. 7. 1922 (RGBl. S. 633) mit seinen Änderungen vom 1. 2. 1939 (RGBl. S. 109) und vom 28. 8. 1953 (RGBl. S. 1053) gefunden. Das BGB berücksichtigt den Einfluß krankhafter Geisteszustände bei den Rechtsgeschäften und den unerlaubten Handlungen oder, mit Bezug auf die handelnde Person, bei der Geschäftsfähigkeit und der Deliktsfähigkeit (Verantwortlichkeit für unerlaubte Handlungen), die beide unter der Bezeichnung Handlungsfähigkeit zusammengefaßt werden. Dazu kommen besondere Diese Vorbemerkungen sind für den Arzt bestimmt, dem Juristen sagen sie nichts, waa er nicht wüßte.

Vorbemerkungen

195

Fragen im Eherecht, im Erbrecht, im Personenrecht und schließlich im Sozialrecht, die für den Psychiater wichtig sind. Sie sollen in den folgenden Kapiteln behandelt werden. Hier sollen nur ganz kurze Hinweise auf einige wichtige Begriffe gegeben werden. Rechtsfähig ist nach dem Gesetz jeder Mensch mit der Vollendung der Geburt (§1). Die Rechtsfähigkeit ist ein Verhältnisbegriff; sie „setzt eine Rechtsgemeinschaft voraus, innerhalb deren sie begründet ist als eine Eigenschaft der Mitglieder derselben"2). Volle Rechtsfähigkeit kommt auch heute noch nicht allen Mitgliedern einer Rechtsgemeinschaft zu; so sind z. B. Fremde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts beschränkt rechtsfähig und ebenso etwa Jugendliche, die erst nach Erreichung eines bestimmten Alters das Wahlrecht erhalten3). Dagegen besteht keine Beschränkung zum Erwerb und Haben von Vermögenswerten4). Während in früherer Zeit Rechtsungleichheit die Regel war, geht die Tendenz des modernen Rechts dahin, Rechtsgleichheit zu schaffen. Während die Rechtsfähigkeit das ganze Leben hindurch besteht, unabhängig von der geistigen Entwicklung und von etwaiger geistiger Abnormität, ist die volle Geschäftsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, selbständig Rechtsgeschäfte im eigenen Namen vorzunehmen, eine Eigenschaft, die erst im Laufe des Lebens entsteht. Das Kind ist zunächst geschäftsunfähig. Mit Vollendung des 7. Lebensjahres wird es beschränkt geschäftsfähig (§ 106); erst mit der Vollendung des 21. Lebensjahres, mit der Volljährigkeit (§ 2) wird die volle Geschäftsfähigkeit erreicht. Nur in Ausnahmefällen kann jemand, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, durch Beschluß des Vormundschaftsgerichts für volljährig erklärt werden (§ 3). Er tritt dann in die Rechte, die sonst nur dem 21jährigen zukommen: er wird voll geschäftsfähig, wird als Mann ehemündig, die elterliche Gewalt über ihn (§ 1626) und die etwaige Altersvormundschaft (§ 1882) enden5). Nur der Geschäftsfähige kann selbständig Rechtsgeschäfte tätigen. Der Begriff des Rechtsgeschäfts ist im BGB selbst nicht näher bestimmt. Im ersten Entwurf zum BGB wird es bezeichnet als „eine Privatwillenserklärung, gerichtet auf die Hervorbringung eines rechtlichen Erfolges, welcher nach der Rechtsordnung deshalb eintritt, weil er gewollt ist" 6 ). Der Kern eines jeden Rechtsgeschäfts ist eine Willenserklärung. Willenserklärungen sind nach S T A U D I N G E R ( S . 396) „solche Handlungen, d. h. irgendwie wahrnehmbare Betätigungen des menschlichen Willens, welche nach der Lebens) STAUDINGER I , S . 4 1 .

2

) In Westdeutschland mit 21 Jahren, in Mitteldeutschland und Ostberlin mit 18 Jahren. 4 ) Dieses Recht ist in Mitteldeutschland stark beschnitten. 5 ) In Mitteldeutschland tritt nach dem „Gesetz über die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters" vom 17. 5. 1950 die Volljährigkeit und damit die Ehemündigkeit mit der Vollendung des 18. Lebensjahres ein. 3

6

) Z i t . n a c h SOHULTZE i n HOCHE I I , S . 1 8 4 .

13»

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Bürgerliches Recht

erfahrung einen Schluß darauf zulassen, daß durch sie der Handelnde eine Gestaltung oder Veränderung privater Rechtsverhältnisse vornehmen will". Man unterscheidet einseitige Rechtsgeschäfte, zu denen die Abgabe der Willenserklärung eines Menschen genügt (z. B. Errichtung eines Testaments, Kündigung) und zweiseitige7) Rechtsgeschäfte, wenn zwei Parteien sich über einen Sachverhalt einig geworden sind, einen Vertrag geschlossen haben. So ist jeder Kauf ein zweiseitiges Rechtsgeschäft; das gleiche gilt von der Eheschließung. Zu einem Vertrage gehören also zwei sich deckende Willenserklärungen, der Antrag und die Annahme. Man unterscheidet weiter empfangsbedürftige und nicht empfangsbedürftige Rechtsgeschäfte. Zu den letzteren gehört etwa die Errichtung eines Testaments, zu den ersteren die Kündigung. In diesem Falle muß die Willenserklärung, die an eine bestimmte Person gerichtet ist, dieser zugehen. Dafür sind entsprechende Wege vorgeschrieben. Die Gültigkeit von Rechtsgeschäften hängt ab von der Innehaltung bestimmter vorgeschriebener Formen; weiterhin aber müssen sie auch inhaltlich die Anforderungen erfüllen, die von der Rechtsordnung erwartet werden: das mittels des Rechtsgeschäfts Bezweckte muß z. B. gesetzlich zulässig sein; es darf auch nicht gegen die guten Sitten verstoßen. Genügt das Rechtsgeschäft diesen Anforderungen nicht, so ist es fehlerhaft. Es kann dann, je nach der Sachlage, für nichtig erklärt oder angefochten werden. Nichtig ist „dasjenige Rechtsgeschäft, welches die gewollte oder dem Anschein nach gewollte Wirkung überhaupt nicht herbeiführt" 8 ). In diesem Falle ist es so, als ob das Rechtsgeschäft überhaupt nicht abgeschlossen wäre. In anderen Fällen kann der Wille und die abgegebene Willenserklärung des einen Vertragschließenden auseinander gehen; das Rechtsgeschäft kann infolge eines Irrtums mangelhaft sein. In diesem Falle kann es von dem Irrenden angefochten werden. Die Anfechtung erfolgt in der Regel durch eine empfangsbedürftige Willenserklärung gegenüber dem sog. Anfechtungsgegner. Das Rechtsgeschäft behält in diesem Falle seine Gültigkeit bis die anfechtende Willenserklärung abgegeben ist. Das nichtige Rechtsgeschäft ist von Amts wegen und bedingungslos unwirksam, während die Anfechtung von einem der Vertragschließenden abhängt. 2. Die

Geschäftsfähigkeit

Die Geschäftsfähigkeit wird im Gesetz nicht positiv umschrieben, sondern dadurch bestimmt, daß die Ausnahmen von ihr geregelt werden, nämlich die Geschäftsunfähigkeit und die beschränkte Geschäftsfähigkeit und ihre Wirkungen. ') Auch mehrseitige Rechtsgeschäfte sind möglich. e

) Staudinger I, S. 404.

Die Geschäftsfähigkeit

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Wann jemand geschäftsunfähig ist, ergibt sich aus dem § 104 BGB. Dieser lautet: Geschäftsunfähig ist: 1. wer nicht das 7. Lebensjahr vollendet hat; 2. wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist; 3. wer wegen Geisteskrankheit entmündigt ist.

Die Absätze 1 und 3 sind ohne weiteres verständlich; einer Erläuterung bedarf nur der Absatz 2, der sich in seinem Wortlaut eng an die alte Fassung des § 51 StGB anlehnt. Im ersten Entwurf war eine ganz andere Formulierung gewählt worden 1 ). Er lautete: „Dasselbe' 1 , nämlich Geschäftsunfähigkeit, „gilt 'von einer Person, welche des Vernunftgebrauchs, wenn auch n u r vorübergehend, beraubt ist, für die Dauer dieses Zustandes, ingleichen von einer Person, welche wegen Geisteskrankheit entmündigt ist, solange die Entmündigung besteht". Der Ausdruck „des Vernunftgebrauchs beraubt", das alte „mente captus", begegnete jedoch lebhafter Kritik, und die II. Kommission t r a t einem Antrage bei, die dem Absatz folgende Fassung gab: „Geschäftsunfähig ist: 2. wer sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen wird". Man hielt diesen sich eng an den § 51 StGB anlehnenden Wortlaut f ü r vorteilhaft, weil man damit den Einfluß abnormer Zustände auf die Geschäftsfähigkeit wie auf die strafrechtliche Deliktsfähigkeit in sachliche Übereinstimmung bringe, weil weiter die reichlich vorhandene strafrechtliche Literatur über diese Fragen die Beurteilung erleichtere. Später hat man dann die „Bewußtlosigkeit" in einem anderen Paragraphen untergebracht 2 ) und durch die Forderung einer gewissen Dauer der Geistesstörung eine weitere Einengung der Geschäftsunfähigkeit geschaffen. Das ist zweifellos geschehen, weil man die Zustände der Bewußtlosigkeit und der vorübergehenden Störungen der Geistestätigkeit — also etwa Betrunkenheit, Fieberdelirien — nicht mit dem Makel der Geschäftsunfähigkeit belasten wollte. Der Ausdruck „krankhafte Störung der Geistestätigkeit" ist, ebenso wie im § 51 StGB zunächst soweit wie möglich zu fassen. E r umfaßt nicht nur die sogenannten echten Psychosen, sondern auch Schwachsinnszustände aller Art, abnorme Zustände bei Hysterie, Psychopathie u. dgl. Mit den Begriffen „Geisteskrankheit" und „Geistesschwäche" des § 6 BGB hat er nichts Näheres über die geschichtliche Entwicklung findet man aus der Feder von

E. Schtjltzb in Hoch® I. 2

) S. S. 199.

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Bürgerliches Recht

zu t u n ; sowohl der Geisteskranke wie auch der Geistesschwache im Sinne des § 6 BGB kann geschäftsunfähig sein3). Die Möglichkeit, Geschäftsunfähigkeit anzunehmen, wird jedoch durch zwei Bedingungen erheblich eingeschränkt: 1. muß die krankhafte Störung der Geistestätigkeit so schwer sein, daß durch sie die freie Willensbestimmung ausgeschlossen ist und 2. darf der Zustand seiner Natur nach kein vorübergehender sein. Durch die erste Bedingung, den Ausschluß der freien Willensbestimmung als Folge der krankhaften Störung der Geistestätigkeit, wird eine sehr starke Einschränkung nach der quantitativen Seite hin erzielt. Nicht jede Abweichung von der Norm soll zur Geschäftsunfähigkeit führen — das würde unerträgliche Konsequenzen im Geschäftsleben nach sich ziehen —, es ist eine erhebliche Schwere dieser Abweichung erforderlich. Mit dem Ausdruck „freie Willensbestimmung" will der Gesetzgeber nichts zu der Frage sagen, ob es einen freien Willen gibt oder nicht. Diese Frage läßt er offen. Daher sind auch Erörterungen über sie im Gutachten unangebracht. Weil der Ausdruck jedoch metaphysische Fragen anregt, hat er mancherlei kritische Betrachtungen zur Folge gehabt, und man hat sich bemüht, ihn durch andere, weniger verfängliche Formulierungen zu ersetzen. Besondere Anerkennung hat dabei A s c h a f f e n b u b g gefunden, der von der „Aufhebung der normalen Bestimmbarkeit durch normale Motive" spricht 4 ). Nach einer Entscheidung des B>eichsgerichts ist als geschäftsunfähig nach § 104, 2 BGB „derjenige anzusehen, dessen Erwägungen und Willensentschlüsse nicht mehr auf einer der allgemeinen Yerkehrsauffassung entsprechenden Würdigung der Außendinge und Lebensverhältnisse beruhen, sondern durch krankhaftes Empfinden, krankhafte Vorstellungen und Gedanken oder durch Einflüsse dritter Personen dauernd derart beeinflußt werden, daß sie tatsächlich nicht mehr frei sind, vielmehr sich den genannten regelwidrigen Einwirkungen schranken- und hemmungslos hingeben und von ihnen widerstandslos beherrscht werden" 6 ). Hier sei gleich noch eine andere Frage berührt, die der Anfänger leicht übersieht, nämlich die Frage der Beweislast. Hier besteht gegenüber dem Strafrecht ein prinzipieller Unterschied. Sowohl das Strafrecht wie das bürgerliche Recht gehen von der Voraussetzung aus, daß die von ihm erfaßten Personen geistig gesund sind. Sobald jedoch Zweifel an der geistigen Gesundheit auftauchen, haben diese im Strafrecht eine andere Bedeutung als im Zivilrecht. I m Strafverfahren hat der Richter, der einen Angeklagten zu beurteilen hat, dessen Zurechnungsfähigkeit zu beweisen; bestehen Zweifel an derselben, so kommen diese dem Angeklagten zugute; er muß freigespro3

) RGZ 162, S. 223 und 130, S. 71. ) Ähnlich das Reichsgericht, das eine normale Bestimmbarkeit durch vernünftige Erwägungen verlangt (Warn.Rspr. 1917, Nr. 234). 6 ) RGZ 162, S. 228; 103, S. 400; Warn.Rspr. 1918, Nr, 156. 4

Die Geschäftsfähigkeit

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chen werden. Im Zivilverfahren dagegen muß, wenn die Geschäftsunfähigkeit eines Prozessierenden behauptet wird, diese bewiesen werden; Zweifel genügen hier nicht 6 ). Die Beweislast fällt demjenigen zu, der die Behauptung der Geschäftsunfähigkeit aufstellt, die Klage darauf gründet oder die Einrede der Geschäftsunfähigkeit macht 7 ). Steht dagegen allgemeine Geschäftsunfähigkeit gemäß § 104 Abs. 2 BGB fest, so sind „lichte Augenblicke", sog. lucida intervalla, vom Gegner zu beweisen 8 ). Ein solcher Beweis erfordert nicht eine jeden Zweifel oder jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende Gewißheit; eine solche wäre z. B. bei der Beurteilung des Geisteszustandes Gestorbener nicht zu erlangen. „Der Richter muß sich vielmehr mit einem so hohen Grade von Wahrscheinlichkeit begnügen, wie er bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Mittel der Erkenntnis entsteht. Ein solcher, für das praktische Leben allein brauchbarer Grad von Wahrscheinlichkeit gilt als Wahrheit, und das Bewußtsein des Richters von dem Vorliegen einer so ermittelten hohen Wahrscheinlichkeit als die Überzeugung von der Wahrheit" 9 ). Bei solchen Anforderungen kann es durchaus vorkommen, daß jemand in einem Strafverfahren freigesprochen wird, weil Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit bestehen, daß sich seine Geschäftsunfähigkeit aber für die gleiche Zeit nicht beweisen läßt. Das geht so weit, daß jemand, der im medizinischen Sinne geisteskrank ist, noch nicht geschäftsunfähig zu sein braucht, wie verschiedene Urteile höchster Gerichte betont haben 10 ). Andererseits schließt eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit, die die Fähigkeit zu wirtschaftlichen Besorgungen, wie sie etwa im Haushalt fortgesetzt vorzunehmen sind, bestehen läßt, Geschäftsunfähigkeit gemäß § 104 Abs. 2 BGB nicht aus11). Die zweite Bedingung ist die längere Dauer der Störung. Sie erscheint zweckmäßig, weil es natürlich unsinnig wäre, jemanden für geschäftsunfähig zu erklären und damit geschäftlich unmöglich zu machen, der etwa im Rausch oder im Fieberdelir oder in ähnlichen schnell vorübergehenden Zuständen Geschäfte getätigt hat, die er sonst nicht abgeschlossen hätte. Es fragt rieh, was man unter „längerer Dauer", der positiven Fassung des Ausdrucks „seiner Natur nach nicht vorübergehend'" verstehen soll, mit anderen Worten, wann § 104 Abs. 2, wann § 105 Abs. 2 anzuwenden ist. Dieser lautet: Nichtig ist auch eine Willenserklärung, die im Zustande der Bewußtlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird.

Man wird gut tun, sich den Sinn der in den §§ 104, 2 und 105, 2 enthaltenen Bestimmungen klar zu machen. Offenbar haben sie zwei verschiedene 6

) Dieser Hinweis erscheint mir auch deshalb nötig, weil m. E. die Tendenz der Sachverständigen, Geschäftsunfähigkeit anzunehmen, vielfach zu weit geht. ') RG in Warn.Rspr. 4, Nr. 9. 8 ) Warn.Rspr. 28, Nr. 167. °) RGZ 102, S. 321; 162, S. 229; RGSt. 61, S. 206. 10 ) Erwähnt seien nur RG Das Recht 1907, Nr. 3756 und RGZ 103, S. 399. u ) RG Das Recht 1908, Nr. 3527.

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Tendenzen: auf der einen Seite soll der geistig Abnorme vor unberechtigter Ausbeutung, vor den Folgen grober Fehlhandlungen geschützt werden; auf der anderen Seite darf die Rechtssicherheit im geschäftlichen Verkehr nicht dadurch Not leiden, daß etwa Rechtsgeschäfte ohne wirklich zwingenden Grund annuliert werden. Vergleicht man das Gewicht dieser beiden Tendenzen miteinander, so hat die allgemeine Rechtssicherheit offenbar das Vorrecht zu beanspruchen gegenüber dem Schutz des Kranken. Das ergibt sich auch daraus, daß ihm die Beweislast für die von ihm behauptete Geschäftsunfähigkeit aufgebürdet ist. Wenn aber der allgemeinen Rechtssicherheit nicht dadurch geschadet wird, so wird es zulässig sein, im Einzelfall diejenige der beiden Bestimmungen zur Anwendung zu bringen, die für den Kranken die zweckmäßigere, d. h. im allgemeinen weniger einschneidende ist. Man wird mit anderen Worten berechtigt sein, bei der Entscheidung zwischen § 104, 2 und § 105, 2 Zweckmäßigkeitserwägungen zu folgen in solchen Fällen, in denen die Frage der Dauer der Geistesstörung zu Zweifeln Veranlassung gibt. Tatsächlich ist es ja nicht möglich, zwischen den in den §§ 104 und 105 gemeinten geistigen Störungen eine scharfe Grenze zu ziehen. Auch H Ü B N E R läßt sich daher in zweifelhaften Fällen von praktischen, nicht von medizinischen Gesichtspunkten leiten. Er schreibt: „Bin ich der Meinung, daß durch Feststellung der Geschäftsunfähigkeit dem Kranken gedient ist, indem er unter Umständen vor weiteren Schädigungen bewahrt bleibt, so prüfe ich, ob sich der § 104 anwenden läßt und spreche mich evtl. für diesen aus. Handelt es sich dagegen um ein einzelnes Vorkommnis, das womöglich auch noch weit zurückliegt, und sind weitere Nachteile für den Patienten nicht zu besorgen, so genügt meiner Ansicht nach die Anwendung des § 105" 12 ). Gemeint sind mit, .vorübergehender Störung der G eistestätigkeit'' nur Psychosen von ganz kurzer Dauer, also etwa epileptische oder hysterische Dämmerzustände, Alkoholdelirien, kurzdauernde exogene Psychosen. In juristischen Kommentaren sind auch zirkuläre Psychosen mit angeführt 13 ). Das wird von V O R K A S T N E B bekämpft. Der „zirkuläre Wahnsinn" hat freilich bei den Beratungen gerade dieses Paragraphen eine Rolle gespielt; mir scheint es jedoch nur in besonders gelagerten Fällen gerechtfertigt zu sein, derartige Psychosen in den Wirkungsbereich des § 105, 2 einzubeziehen. Das wird namentlich dann möglich sein, wenn in Zukunft mit weiteren für den Kranken bedenklichen Geschäften nicht mehr zu rechnen ist. Als dritte selbstverständliche und daher im Gesetz nicht besonders erwähnte Bedingung kommt hinzu, daß die so geartete Störung der Geistestätigkeit zur Zeit des Rechtsgeschäfts oder der Rechtsgeschäfte, die angefochten werden, vorhanden sein muß. 12

) Lehrbuch der forensischen Psychiatrie. Zustimmend VORKASTNEB in BTJMKE

I V , S. 2 7 4 . 13

) So rechnet z. B. STATJDINOER (I, S. 547) das zirkuläre Irresein zu den vorübergehenden Störungen der Geistestätigkeit.

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Der Wortlaut des § 105, 2 gibt noch zu einigen Hinweisen Veranlassung. Der Ausdruck ,,Bewußtlosigkeit", der aus dem §51 StGB alter Fassung übernommen ist, ist selbstverständlich nicht wörtlich zu nehmen, da der Bewußtlose nicht handeln kann. Gemeint ist, wie aus wiederholten Entscheidungen höchster Gerichte hervorgeht, eine Bewußtseinsstörung, wie sie im strafrechtlichen Teil unter § 51 besprochen ist (S. 20ff.) 14 ). Eine Wiederholung des dort Gesagten ist daher nicht erforderlich. Bemerkenswert ist weiter, daß im § 105 B G B nur von „Störung der Geistestätigkeit" gesprochen wird; es ist also das Wort „krankhaft" fortgelassen. Das kann man als Vorteil ansehen, weil es dadurch möglich wird, auch solche Störungen der Geistestätigkeit einzubeziehen, die gewöhnlich nicht als krankhaft gelten, z. B. Betrunkenheit. Wer die Gebräuche kennt, die vielfach noch beim Abschluß namentlich von Käufen üblich sind, der weiß, welche Rolle gerade der Alkohol dabei spielt, und daß er oft genug benutzt wird, um noch bestehende Widerstände zu beseitigen. Was aber noch mehr auffällt, ist der Umstand, daß im Gegensatz zu § 104, 2 keine Einschränkung nach der quantitativen Seite erfolgt ist. Im Wortlaut ist von einem Ausschluß der freien Willensbestimmung nicht die Rede. Der Gesetzgeber kann aber nicht jede Störung der Geistestätigkeit gemeint haben. E. SCHULTZE gibt dafür eine plausible Erklärung 15 ). Er schreibt, man habe bei der Herausnahme der Bewußtlosigkeit aus der ursprünglich von der I I . Kommission vorgeschlagenen Fassung des § 104, 2 (s. oben) den die freie Willensbestimmung betreffenden Relativsatz fortgelassen, weil für den Laien Bewußtlosigkeit gleichbedeutend mit Ausschluß der freien Willensbestimmung sei. Die „vorübergehende Störung der Geistestätigkeit" sei bei einer späteren Redaktion eingeschoben und dabei die quantitative Einschränkung übersehen worden16). Schon SCHULTZE weist im Anschluß an COSACK17) darauf hin, daß die Forderung des Ausschlusses der freien Willensbestimmung sich aus dem Sinn der Rechtsregel ergebe. Für die Auslegung der Bedeutung einer Rechtsregel solle man nicht am Wortlaut kleben, man müsse über diesen Wortlaut hinaus in die wahre und wirkliche Bedeutung der Rechtsregel einzudringen versuchen; dabei sei namentlich der Zusammenhang der Regel mit dem sonstigen geltenden Rechtssystem sowie mit dem früheren Recht und außerdem der Zweck, den die Regel erkennbar verfolge, genau zu beachten. Soweit ich sehe, sind die Verfasser der gangbaren Lehr- und Handbücher der gerichtlichen Psychiatrie darüber 1 4 ) In diesem Sinne haben sich mehrere Entscheidungen höchster Gerichte ausgesprochen, so RG Das Recht 1907, S. 995; RMG Jahrb. 1910, S. 14; RG Goltd. Arch. 42, S. 45.

")

I n HOCHE I, S. 1 9 9 .

) Im Entwurf I I (§ 79, Abs. 2) hieß es zunächst: „Nichtig ist auch die Willenserklärung, welche in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande von Bewußtlosigkeit abgegeben wird". 1 7 ) Lehrbuch des bürgerlichen Rechts. 16

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einig, daß auch für den § 105 BGB sinngemäß der Ausschluß der freien Willensbestimmung zu fordern ist 18 ). Fragen wir nun, welche Zustände von krankhafter Störung der Geistestätigkeit in Betracht kommen, so können wir zunächst vereinfachend sagen, daß alle echten längerdauernden Psychosen die Voraussetzungen des § 104, 2 erfüllen. Freilich sind schon hier gewisse Einschränkungen erforderlich, die mit der Wirksamkeit der modernen Therapie zusammenhängen. Ich habe oben (S. 51) einen Lotsen erwähnt, der als defektgeheilter Paralytiker große Schiffe auf der Elbe auf- und abwärts brachte. Es ist kein Zweifel daran, daß dieser Lotse als geschäftsfähig angesehen werden müßte. Aber auch in anderen Fällen, in denen Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit f ü r kriminelle Handlungen noch erlaubt wären, wird man die Geschäftsunfähigkeit nicht beweisen können. Jedenfalls wird man verlangen müssen, daß noch deutliche Zeichen der Erkrankung nachweisbar sind 19 ). Schwierigkeiten bereiten, wie mir die Erfahrung der letzten J a h r e gezeigt hat, die Depressionszustände. Handelt es sieh um endogene Zustände dieser Art von erheblicherer Ausprägung, so wird man Geschäftsunfähigkeit annehmen müssen, weil das Denken dieser Kranken nicht der wirklichen, sondern einer eingebildeten, in Wirklichkeit nicht vorhandenen Situation entspricht (z. B. unbegründete Selbstbeschuldigungen). Anders sind reaktiv Depressive zu beurteilen, bei denen ein wirklich vorhandener Grund die Verstimmung verständlich macht. Bei ihnen ist die Fähigkeit, eine Sachlage zu durchdenken, erhalten geblieben; sie können selbst unmittelbar vor einem Selbstmord noch der Lage entsprechende Anordnungen treffen. Auch ihr Handeln bleibt aus der gegebenen Situation heraus verständlich, so daß im Strafverfahren — etwa bei einem erweiterten Selbstmord — meist nur der Absatz 2 des § 51 StGB zur Anwendung kommen kann. Bei ihnen wird sich der Beweis der Geschäftsunfähigkeit kaum einmal führen lassen, es sei denn, daß äußere Beeinflussungen wirksam gewesen sind. Bei Epileptikern wird Geschäftsunfähigkeit nur bei schwereren Verblödungszuständen angenommen werden können. Bei Schwachsinnigen kommt es auf den Grad des Schwachsinns an; hier wird sich ein Grenzgebiet ergeben, in dem eine sichere Beurteilung nach der einen oder anderen Seite unmöglich ist. Ob der Schwachsinn angeboren oder früh erworben ist, ist f ü r die Beurteilung von untergeordneter Bedeutung. Im allgemeinen wird der später erworbene Schwachsinn, die Demenz, schwerer gewertet werden müssen als der früh erworbene oder angeborene Schwachsinn, weil in den letztgenannten Fällen ein länger bestehender Ruhezustand und damit eine, wenn auch 18

) Dem hat das Reichsgericht sich angeschlossen (RGZ 105, S. 270; 162, S. 228; 103, S. 400; JW 1936, S. 1205; eingehende Begründung in RGZ 74, S. 110. S. auch Enneccertts, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, 14. Aufl., Bd. I, S. 356, Anm. 10. Ebenso S t a u d i n g e r I, S. 547. 19 ) Die umgekehrte Tendenz, den Begriff der Geschäftsunfähigkeit weiter zu fassen als den der Zurechnungsunfähigkeit im strafrechtlichen Sinne, halte ich für falsch. Ähnlich V o r k a s t n e r in Btjmke IV, S. 272 und G r u h l e in Hoche III, S. 166.

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schwachsinnige, so doch besser in sich geschlossene Persönlichkeit vorhanden ist. Kommen zum Schwachsinn noch andere regelwidrige Beeinflussungen hinzu, insbesondere eine übermäßige Beherrschtheit durch den Einfluß anderer Personen, so kann dadurch, wie aus mehrfachen Entscheidungen hervorgeht, Geschäftsunfähigkeit bedingt werden 20 ). Das kommt auch bei Senilen unter Umständen in Betracht. Die Geschäftsunfähigkeit eines Psychopathen wird praktisch nie zu bejahen sein, wenn nicht gleichzeitig etwa Schwachsinn vorliegt. Die vorübergehenden Störungen der Psychopathen fallen bestenfalls unter den § 105, 2. Ähnliches gilt für die Alkoholiker. Hier kommen nur die schwersten Störungen — Korsakow-Syndrom, Halluzinose, sofern sie länger dauert, schwerer Eifersuchtswahn — in Betracht. Umstritten war die Frage der partiellen Geschäftsunfähigkeit und der partiellen Geschäftsfähigkeit. Die Diskussion darüber ist auch heute noch nicht ganz abgeschlossen 21 ). Als partiell geschäftsfähig bezeichnet man einen generell Geschäftsunfähigen, der nur für einzelne Geschäfte, für ein begrenztes Gebiet geschäftsfähig ist, als partiell geschäftsunfähig einen im allgemeinen Geschäftsfähigen, der auf einem bestimmten Gebiet als geschäftsunfähig angesehen werden muß. G E B A U E R unterscheidet davon noch eine ,,relative Geschäftsunfähigkeit", die noch einen Schritt weiter geht als die Teilgeschäftsunfähigkeit. Während die letztere innerhalb ihres Bereichs wieder absolut, d. h. für alle Geschäfte gültig ist, müßte bei der relativen Geschäftsunfähigkeit von Fall zu Fall entschieden werden. E r hat diesem Gedanken entsprechend vorgeschlagen, die §§ 104, 2 und 105, 2 durch eine Bestimmung zu ersetzen, die der neuen Fassung des § 51 StGB entspricht und dem § 2229 Abs. 4 BGB angepaßt ist: „Geschäftsunfähig ist; wer wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder wegen Bewußtseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln." Diese Fassung würde auf das einzelne Rechtsgeschäft abgestellt sein, ähnlich wie im Strafverfahren die Frage der Zurechnungsfähigkeit nicht allgemein, sondern f ü r eine spezielle Tat zu beantworten ist. So bestechend diese Formulierung zunächst erscheint, so sehr sie auch der ärztlichen Auffassung entgegen kommen würde, so stehen ihr m. E. doch erhebliche Bedenken gegenüber. E s würde mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer nicht tragbaren Rechtsunsicherheit führen, wenn der gleiche Mensch f ü r ein Geschäft als geschäftsunfähig, f ü r ein anderes als geschäftsfähig bezeichnet werden könnte. Bei der noch zu behandelnden Testierfähigkeit ist die Sachlage eine andere, weil es sich dabei in aller Regel um eine einmalige Willenserklärung handelt, der weitere nicht zu folgen pflegen. I m Geschäftsleben aber muß 20

) EG Urteil vom 21. 3. 38; JW 1938, S. 1591. Dort weitere Hinweise. ) Dazu namentlich GEBAUER, Die Lehre von der Teilgeschäftsunfähigkeit und ihre Polgen; Arch. f. d. zivil. Praxis, Bd. 153,1954, S. 332. LEFERENZ, Fortsohr. 1954, S. 397. 21

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mit der dauernden Geschäftsfähigkeit des Partners gerechnet werden, man darf nicht Gefahr laufen, daß in einzelnen Fällen Geschäftsunfähigkeit desselben angenommen wird. Ich habe in der ersten Auflage dieses Buches mich deswegen in einem eigenen Vorschlage auf eine abgeänderte Formulierung des § 104, 2 beschränkt, habe dabei die längere Dauer der Geistesstörung beibehalten und nicht speziell auf ein Rechtsgeschäft, sondern allgemeiner auf „Rechtsgeschäfte" abgestellt. Ich gebe den Vorschlag etwas abgeändert und dem § 2229 BGB angepaßt wieder: Geschäftsunfähig ist, wer sich in einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, durch den er unfähig ist, die Bedeutung von Willenserklärungen einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln 22 ). Damit würde auch von vornherein klargestellt, daß es sich keineswegs nur um die Frage handelt, ob die betreffende Person intellektuell ihren Aufgaben gewachsen ist; das ist ein Fehler, in den Laien leicht verfallen. Der Geisteskranke braucht aber intellektuell nicht geschädigt zu sein. Er kann unter Umständen durchaus scharfsinnige Überlegungen anstellen. Aber unser Denken steht, wie immer wieder betont werden muß, nicht für sich allein, es wird gesteuert durch affektive Strebungen, es unterliegt dem Einfluß unserer Wünsche, nicht selten auch der Überredungskunst anderer. Viel stärker ist die affektive Lenkung durch besondere krankhafte Vorstellungen, sog. Wahnideen, bei Geisteskranken ausgebildet. Diese Ideen bleiben aber vielfach im Hintergründe; sie werden vom Laien nicht bemerkt, ja selbst der erfahrene Psychiater hat manchmal Mühe, sie ans Tageslicht zu bringen. Ebensosehr wie der Verstand sind daher die anderen Seiten der Persönlichkeit, Temperament, Affektivität, Willensvorgänge zu berücksichtigen. Die Frage der partiellen Geschäftsunfähigkeit hat in der Rechtsprechung eine besondere Entwicklung durchgemacht. In Übereinstimmung mit namhaften Psychiatern hatte zunächst das Reichsgericht in einem Urteil vom 21. 3. .1938, das die Frage des angeborenen Schwachsinns behandelt, die Meinung vertreten, Geschäftsunfähigkeit könne für einen bestimmten Kreis von nicht alltäglichen Geschäften vorliegen23). Diese Auffassung ist indessen vereinzelt geblieben, und das oberste Gericht für die britische Zone hat in einer neueren Entscheidung eine auf besonders schwierige Geschäfte beschränkte partielle Geschäftsunfähigkeit nicht anerkannt: das bloße Unvermögen, die Tragweite einer Willenserklärung zu erfassen, könne die Anwendung des § 104, 2 BGB nicht begründen; eine solche Anerkennung müsse eine große Rechtsunsicherheit zur Folge haben 24 ). 22 ) Für den früher gewählten Ausdruck „die Zweckmäßigkeit von Rechtsgeschäften" scheint mir die Fassung im § 2229 besser, weil sie weiter ist. Dagegen halte ich den Ausdruck „unfähig" für klarer als „in der Lage", und statt „und nach dieser Einsicht zu handeln" halte ich im Anschluß an den § 51 StGB das „oder" usw. für zweckentsprechender. 23 ) JW 1938, S. 1590; ähnlich Warn.Rspr. 1933, Nr. 91; RGZ 162, S. 229; 130, S. 71. 24 ) Urteil vom 14. 7. 1953; N J W 1953, S. 1342.

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Dagegen ist der Gedanke der beschränkten Geschäftsunfähigkeit in der Rechtsprechung anerkannt auf dem Gebiet des Querulanten wahns und der krankhaften Eifersucht. Der Standpunkt, daß die Krankheit den ganzen Menschen ergreift, widerspricht dieser Auffassung nicht, da die Annahme einer partiellen Geschäftsunfähigkeit keine partielle Geistesstörung voraussetzt, sondern nur, daß diese Störung sich effektiv partiell äußert 26 ). Umgekehrt liegen die Dinge beim Paranoiker, dessen Intelligenz intakt geblieben ist. Hier können einmal Situationen eintreten, wo zwischen Krankheit und Rechtsgeschäft auch beim besten Willen dazu keinerlei Beziehungen hergestellt werden können. In einer Strafsache würde man trotzdem vielleicht noch Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit äußern; da aber Geschäftsunfähigkeit bewiesen werden muß, wird man in solchen Fällen um die Annahme einer partiellen Geschäftsfähigkeit selbst dann nicht herumkommen, wenn der Kranke im übrigen weitgehend von seinen Ideen beherrscht wird 26 ). In der Praxis spielen die sog. lichten Augenblicke, die lucida intervalla, eine gewisse Rolle. Ihre Annahme besagt, daß in einen Zustand geistiger Gestörtheit kürzere oder längere Zeiten eingeschaltet sein können, in denen der Kranke klar und sachlich denken und entscheiden kann. Der sonst Geschäftsunfähige gilt in diesen Augenblicken als geschäftsfähig. Das betrifft namentlich die arteriosklerotischen psychischen Störungen und kann bei der Errichtung von Testamenten bedeutsam werden. Es können dabei Besserungen von wenigen Tagen, ja von Stunden vorkommen, die sehr weit gehen. Hier kann man mit Recht von luciden Intervallen sprechen 27 ). Auch bei manchen anderen Krankheiten kommt es zu einem Wechsel der Erscheinungen: ein endogen Depressiver ist in der Regel abends aufgeschlossener als morgens, und bei symptomatischen Psychosen können Zeiten der Verwirrtheit mit klaren Stunden abwechseln. In allen diesen Fällen wird sich freilich nachträglich nur schwer mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sagen lassen, daß Geschäftsfähigkeit bestanden habe. Jedenfalls ist hier vorsichtige Zurückhaltung geboten. Wenn es sich um die Abfassung eines Testaments handelt, wird in solchen Fällen der Notar gut tun, einen Psychiater zuzuziehen, damit nicht später die Testierfähigkeit angezweifelt werden kann. Bei wegen Geisteskrankheit Entmündigten haben lucide Intervalle keine Bedeutung; sie sind generell geschäfts- und testierunfähig 28 ). ) G E B A U E R 1. c., S . 3 4 2 . Von Psychiatern hat sich B E B I N G E R für eine partielle Geschäftsfähigkeit bzw. -Unfähigkeit ausgesprochen (DZgM 24, S. 275); ebenso G A U P P und KRETSCHMER (Zb.Neur. 74, S . 5 7 2 ) ; auch GRTTHLE, der sie früher bekämpft hat ( H O C H E I I I , S . 1 6 9 ) , hat sie später für bestimmte Fälle anerkannt (Nerv. Arzt 13, 1940, S. 544). 26 ) Ähnlich G A U P P und K R E T S C H M E R , während G R U H L E von der Annahme einer partiellen Geschäftsfähigkeit abrät (Nerv.Arzt 13, 1940). 27 ) Ebenso M. BLEULER, Lehrbuch der Psychiatrie, 9. Aufl. 1955, S. 181; weiter 25

LEFERENZ, Portschr. 1954, S. 3 9 8 . 28

) PALANDT, S. 7 7 .

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Für Nichtigkeitserklärungen gemäß § 105 Abs. 2 kommen in erster Linie alkoholische Rauschzustände, seltener epileptische oder hysterische Dämmerzustände, Delirien, manische oder depressive Phasen, Fieber, Schlafzustände, Hypnose u. ä. in Betracht. Daß die Begutachtung nicht selten Schwierigkeiten macht, leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß das angefochtene Rechtsgeschäft oft lange zurückliegt, daß es sich manchmal um Personen handelt, die bereits gestorben sind, deren Testament nun angefochten wird. Hier kommt es, wie schon an dieser Stelle ausgeführt werden soll, darauf an, den Geisteszustand zur Zeit der Abfassung des Testaments festzustellen. Dazu bedarf es der ganzen Kunst ärztlicher Anamneseerhebung. Man darf sich nicht mit oberflächlichen Angaben begnügen; insbesondere genügt es nicht, worauf auch Grtjhle hinweist, daß man Stammtischfreunde befragt, die den Betreffenden nur wenige Stunden in der Woche in ganz bestimmten Situationen getroffen haben. Sie merken von der geistigen Erkrankung nichts, weil der alte Herr noch sehr nett aus seiner Jugend zu erzählen weiß, weil er in eingelaufenen Denkgeleisen bleibt. Dabei weiß er vielleicht nicht einmal genau, welches Jahr wir schreiben, und zu Hause liest er die Zeitimg fünfmal am Tage, weil er immer wieder vergißt, daß er sie schon gelesen hat. Das bemerkt die ständige nähere Umgebung, die Ehefrau, die Kinder, die Hausgehilfin. Die letztere kann, da sie an der Sache uninteressiert zu sein pflegt, eine recht wichtige Zeugin sein. Der Gutachter muß gerade bei solchen Aufgaben sich selbst sein Material zu beschaffen suchen. Er tut gut, die Anwälte beider Parteien dabei zu Hilfe zu nehmen. Bei der Befragung der betreffenden Zeugen, die durch den Richter geschehen muß, sollte er zugegen sein; er hat dann die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Auch dann bleibt es nicht selten schwer, die verschiedenen Aussagen gegeneinander abzuwägen, weil der eine oder andere Zeuge am Ausgang des Rechtsstreites interessiert ist. Manchmal kann der Inhalt des Testaments oder des Vertrages einen Hinweis geben. Wenn aber etwa ein Notar den Vertrag entworfen hat, der von den Parteien nur unterschrieben ist, so läßt sich daraus auch nichts erkennen. Vielfach werden, worauf ich im strafrechtlichen Teil schon hingewiesen habe, selbst deutliche Zeichen einer Geisteskrankheit von Laien nicht erkannt; auch der Notar pflegt ebenso wie der praktische Arzt in dieser Beziehung Laie zu sein, und es ist nicht zu verlangen, daß er in der kurzen Zeit des Vertragsabschlusses psychische Störungen bemerkt. Die Geisteskrankheit braucht übrigens nicht erkennbar hervorgetreten zu sein. Auch das mit einem für den Handelnden unerkennbar Geisteskranken geschlossene Rechtsgeschäft ist nichtig; einen Schutz gutgläubiger Vertragsgegner des Geschäftsunfähigen gibt es nicht 29 ). Soweit Schwachsinnige nicht generell geschäftsunfähig sind, besteht eine andere Möglichkeit, sie vor mißbräuchlicher Ausnutzung zu schützen! 29

) RG JW 1916, S. 422; Staudingeb I, S. 545. Urteil des RG vom 13. 2. 1928.

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§ 138 lautet: I. Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig. II. Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren läßt, welche den Wert der Leistung dergestalt übersteigen, daß den Umständen nach die Vermögensvorteile in auffälligem Mißverhältnisse zu der Leistung stehen. Das Oberlandesgericht Kassel hat einen auf diese Weise zustande gekommenen Vertrag für nichtig erklärt, weil es gegen die guten Sitten verstoße, in bewußter Ausnutzimg der Geistesschwäche einer Person mit dieser ein sie benachteiligendes, für den Vertragsgegner aber vorteilhaftes Geschäft abzuschließen 30 ). Ähnlich hat das Reichsgericht in einem Urteil vom 12. 2. 1908 entschieden, in dem es heißt: „Das Gesetz sieht einen Verstoß gegen die guten Sitten schon in der Ausbeutung der bloßen Unerfahrenheit. Die Ausbeutung der geistigen Minderwertigkeit und Beschränktheit eines Menschen enthält unbedenklich einen Verstoß gegen die guten Sitten in noch weit höherem Maße"31). Neben der Geschäftsunfähigkeit gibt es eine beschränkte Geschäftsfähigkeit. Die darauf bezüglichen Bestimmungen lauten: § 106. Ein Minderjähriger, der das 7. Lebensjahr vollendet hat, ist nach Maßgabe der §§ 107 bis 113 in der Geschäftsfähigkeit beschränkt. § 114. Wer wegen Geistesschwäche, wegen Verschwendung oder wegen Trunksucht entmündigt oder wer nach § 1906 unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist. steht in Ansehung der Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen gleich, der da» 7. Lebensjahr vollendet hat. Beschränkt geschäftsfähig sind demnach Jugendliche, die das 7. Lebensjahr vollendet haben, bis zum vollendeten 21. Lebensjahr bzw. bis zur Volljährigkeitserklärung; ferner die wegen Geistesschwäche, Verschwendung oder Trunksucht entmündigten oder unter Vormundschaft gestellten Personen. Die Wirkungen der Geschäftsunfähigkeit ergeben sich aus den §§105 Abs. 1, 131 Abs. 1 und 8, die der beschränkten Geschäftsfähigkeit aus den §§ 107—113, 131 Abs. 2 und 8. Das Wichtigste sei hier angeführt. § 105 Abs. 1. Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig. § 131 Abs. 1. Wird eine Willenserklärung einem Geschäftsunfähigen gegenüber abgegeben, so wird sie nicht wirksam, bevor sie dem gesetzlichen Vertreter zugeht. Das gleiche gilt, wenn die Willenserklärung einer in der Geschäftsfähigkeit beschränkten Person gegenüber abgegeben wird. Bringt die Erklärung jedoch der in der Geschäftsfähigkeit beschränkten Person lediglich einen rechtlichen Vorteil oder hat der gesetzliche Vertreter seine Einwilligung erteilt, so wird die Erklärung in dem Zeitpunkte wirksam, in welchem sie ihr zugeht. Abs. 8. Wer geschäftsunfähig oder in der Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, kann ohne den Willen seines gesetzlichen Vertreters einen Wohnsitz weder begründen noch aufheben. 30 ) Mtjgdan und Falkmann, Rechtsprechung der Oberlandesgerichte, Bd. XII, S. 239; Urteil vom 11. 1. 1906. 31 ) RGZ 67, S. 393.

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Bürgerliches Recht

§ 107. Der Minderjährige bedarf zu einer Willenserklärung, durch die er nicht lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangt, der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters. § 108 Abs. 1. Schließt der Minderjährige einen Vertrag ohne die erforderliche Einwilligung des gesetzlichen Vertreters, so h ä n g t die Wirksamkeit des Vertrages von der Genehmigung des Vertreters ab. § 110. Ein von dem Minderjährigen ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters geschlossener Vertrag gilt als von Anfang an wirksam, wenn der Minderjährige die vertragsmäßige Leistung mit Mitteln bewirkt, die ihm zu diesem Zweck oder zu freier Verfügung von dem Vertreter oder mit dessen Zustimmung von einem Dritten überlassen worden sind. § 111. Ein einseitiges Rechtsgeschäft, das der Minderjährige ohne die erforderliche Einwilligung des gesetzlichen Vertreters vornimmt, ist unwirksam. N i m m t der Minderjährige mit dieser Einwilligung ein solches Rechtsgeschäft einem anderen gegenüber vor, so ist das Rechtsgeschäft unwirksam, wenn der Minderjährige die Einwilligung nicht in schriftlicher F o r m vorlegt und der andere das Rechtsgeschäft aus diesem Grunde unverzüglich zurückweist. Die Zurückweisung ist ausgeschlossen, wenn der Vertreter den anderen von der Einwilligung in Kenntnis gesetzt hat. § 112. Ermächtigt der gesetzliche Vertreter mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts den Minderjährigen zum selbständigen Betrieb eines Erwerbsgeschäfts, so ist der Minderjährige f ü r solche Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig, welche der Geschäftsbetrieb mit sich bringt. Ausgenommen sind Rechtsgeschäfte, zu denen der Vertreter der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bedarf. § 113. Abs. 1. E r m ä c h t i g t der gesetzliche Vertreter den Minderjährigen, in Dienst oder in Arbeit zu treten, so ist der Minderjährige f ü r solche Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig, welche die Eingehung oder Aufhebung eines Dienstoder Arbeitsverhältnisses der gestatteten Art oder die Erfüllung der sich aus einem solchen Verhältnis ergebenden Verpflichtungen betreffen. Ausgenommen sind Verträge, zu denen der Vertreter der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bedarf.

Daraus geht hervor, daß der Geschäftsunfähige keine rechtsgültige Willenserklärung abgeben kann; er kann keinen Vertrag schließen, kein Testament errichten, keine Ehe eingehen. Ihm gegenüber abgegebene Erklärungen werden erst wirksam, wenn sie dem gesetzlichen Vertreter zugegangen sind. Er kann auch ohne Zustimmung des gesetzlichen Vertreters einen Wohnsitz weder begründen noch aufheben. Das heißt: der gesetzliche Vertreter hat das Recht, seinen Aufenthaltsort zu bestimmen. Das ist unter Umständen wichtig für die etwa nötige Unterbringung in einer Anstalt. Die Frage, ob der Vormund hierzu das Recht habe, war in den letzten Jahren umstritten. Namentlich in Hessen wurde auf Grund des dort gültigen Freiheitsentziehungsgesetzes die Meinung vertreten, auch in diesen Fällen sei eine besondere gerichtliche Entscheidung erforderlich. Nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs bedarf der Vormund zur Einweisung seines Mündels in eine geschlossene Anstalt jedoch keiner richterlichen Anordnung32). 32 ) Beschluß vom 30. 3. 1955 N J W 1955, S. 867; ein späterer Beschluß des Landgerichts Wiesbaden ( N J W 1956, S. 270), der auch in diesen Fällen f ü r Hessen eine besondere gerichtliche Entscheidung verlangt, ist vom Referenten, m. E. mit Recht als nicht zutreffend bezeichnet worden.

Die Entmündigung

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Dem wegen Geisteskrankheit Entmündigten und daher Geschäftsunfähigen ist aber das Recht geblieben, gegen den Entmündigungsbeschluß die Anfechtungsklage zu erheben (§ 664 ZPO) und die Wiederaufhebung der Entmündigung zu beantragen (§ 675 ZPO). Er hat weiter das Recht, gegen seine Unterbringung in einer Heilanstalt und gegen die Fortdauer der Anstaltsverwahrung zu klagen. In allen diesen Punkten gilt er als prozeßfähig 33 ). Die Willenserklärung eines auf einem bestimmten Lebensgebiet beschränkt Geschäftsimfähigen ist auf diesem Gebiet gleichfalls nichtig 34 ). Das gilt etwa für Querulanten für das Gebiet, auf dem sie querulieren. Der beschränkt Geschäftsfähige hat demgegenüber weit mehr Rechte. Auch er muß sich freilich die Bestimmung seines Wohnsitzes durch den gesetzlichen Vertreter gefallen lassen. Das ist besonders wichtig für die wegen Trunksucht Entmündigten, die ohne diese Bestimmung nicht sachgemäß zu behandeln wären. Die elterliche Gewalt des beschränkt Geschäftsfähigen wird beschränkt (§ 1676 BGB); er hat zwar neben dem gesetzlichen Vertreter des Kindes noch die Sorge für die Person desselben; bei Meinungsverschiedenheiten geht jedoch die Meinung des gesetzlichen Vertreters vor. Doch genießt er eine Reihe von Rechten, die dem Geschäftsunfähigen versagt sind: so kann etwa der minderjährige Student mit dem ihm zur Verfügung gestellten „Wechsel" selbständig wirtschaften; und wenn der beschränkt Geschäftsfähige ermächtigt wird, selbständig ein Erwerbsgeschäft zu betreiben, so ist er hierfür ebenso unbeschränkt geschäftsfähig wie für die Eingehung oder Aufhebung eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses. Das minderjährige Mädchen kann mit Zustimmung des gesetzlichen Vertreters mit dem 16. Lebensjahre, der junge Mann nach Volljährigkeitserklärung mit 18 Jahren eine Ehe eingehen. Ebenso kann der wegen Geistesschwäche, Verschwendung oder Trunksucht Entmündigte mit Genehmigimg des gesetzlichen Vertreters heiraten (§ 3 EG). Dagegen kann der letztere zwar ein Testament widerrufen (§ 2253 BGB), aber kein Testament errichten (§ 2229 BGB), während dem Minderjährigen, wenn er das 16. Lebensjahr vollendet hat, dieses Recht im beschränkten Maße zusteht 35 ). Andere Wirkungen im Zivilprozeß (§§ 51, 52, 612 ZPO) und im ehelichen Güterrecht sollen hier nicht erörtert werden.

3. Die

Entmündigung

Während die Frage, ob jemand für ein bestimmtes Rechtsgeschäft geschäftsunfähig sei, ob eine Willenserklärung nichtig sei, fast immer für die Vergangenheit zu beantworten ist, gibt es Menschen, für deren Zukunft 33 ) So OVG Berlin, Urteil vom 23. 7. 1952; JZ 1953, S. 186; OVG Münster, Beschluß vom 24. 11. 1952; JZ 1953, S. 187 und BGH Urteil vom 12. 11. 1954; JZ 1955, S. 242. Diese Auffassung entspricht dem Art. 104 GG, der geltendes Recht ist. Damit ist eine Forderung, die GRUHLE früher erhoben hat, erfüllt. 34 ) OGHZ IV, S. 66; Urteil vom 13. 4. 1950. 35 ) Siehe das Kapitel über Testierfähigkeit.

14 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Bürgerliches Recht

wegen ihres Versagens in der Gegenwart in der Weise gesorgt werden muß, daß ihnen ein Beistand gegeben wird. Das kann auf dem Wege der Entmündigung oder durch Einrichtung einer Pflegschaft geschehen. Hier soll zunächst die Entmündigung besprochen werden. Darüber bestimmt das BGB: § 6. Entmündigt kann werden: 1. wer infolge von Geisteskrankheit oder von Geistesschwäche seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag; 2. wer durch Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt; 3. wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt oder die Sicherheit anderer gefährdet. Die Entmündigung ist wieder aufzuheben, wenn der Grund der Entmündigung wegfällt.

Von vornherein muß betont werden, daß die Entmündigung und ebenso die Pflegschaft eine Schutzmaßregel darstellt, die im Interesse des Betreffenden verhängt werden soll, und daß andere Gesichtspunkte, etwa Gemeingefährlichkeit oder kriminelle Handlungen keine Rolle dabei spielen, wenn sie nicht selbst Folge einer geistigen Störung sind und sofern nicht die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind1). Dann können sie allerdings ein wichtiges Indiz für die Entmündigung werden. Man denke z. B. an einen Paralytiker, der im Beginn seiner Erkrankung kriminelle Handlungen begeht, aber sich selbst für gesund hält und daher jede Behandlung ablehnt. In einem solchen Falle, in dem das Verbrechen nur Symptom der Erkrankimg ist, dient die Entmündigung nur dazu, eine sachgemäße Behandlung zu erzwingen, dient damit dem Schutze und dem wohlverstandenen Interesse der betreffenden Person. Von manchen Autoren ist die Entmündigung auch als Mittel zur Verbrechensbekämpfimg bzw. -Verhütung angesehen und propagiert worden2). Sicherlich kann das soziale Scheitern, das Verwahrlosen, die Neigung zu Rechtsbrüchen als ein Nichtbesorgenkönnen von wichtigen Angelegenheiten bezeichnet werden; und wenn dieses Versagen auf einer seelischen Störung oder auf Trunksucht beruht, so ist die Entmündigung durchaus am Platze. Doch kann die Verbrechensverhütung nicht als primäres Ziel, sondern nur als sekundäre, allerdings erwünschte Begleiterscheinung aufgefaßt werden. Die Entmündigung darf keinen Strafzweck haben. Das primäre Ziel ist und bleibt der Schutz des Individuums. Der Schutzgedanke wird in § 6 Abs. 2 und 3 auf die Familie, in § 6 Abs. 3 auch auf andere ausgedehnt. Die Gefährdung dritter Personen kann bei Geisteskrankheit oder Geistesschwäche nur dann zur Entmündigung führen, 2)

RGZ 38, S. 191 ff. Statjdinger I, S. 92.

In dieser Beziehung ist vornehmlich zu verweisen auf Wilmajtns, Die verminderte Zurechnungsfähigkeit, S. 369 ff. und Hartmann, Die Entmündigung als Mittel der Verbrechensverhütung, Bonn 1937.

Die Entmündigung

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wenn sie die zweckentsprechende Besorgung der eigenen Angelegenheiten beeinträchtigt. Niemals darf das Interesse etwa eines Gläubigers oder des Antragstellers Zweck der Entmündigung sein, sofern es nicht mit dem Interesse des zu Entmündigenden übereinstimmt3). Nach dem Wortlaut des § 6 B G B bestehen drei Möglichkeiten für die Entmündigung: 1. wegen Geistesstörung (Geisteskrankheit und Geistesschwäche) ; 2. wegen Verschwendung und 3. wegen Trunksucht. Der Paragraph bedarf, soweit es den Absatz 1 betrifft, in verschiedener Hinsicht einer Besprechung. Zunächst ist wichtig das Wörtchen „kann" des ersten Satzes. Nicht jeder, der infolge von Geisteskrankheit oder Geistesschwäche seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag, muß entmündigt werden. Entmündigt werden kann nur derjenige, dessen Entmündigung beantragt ist 4 ). Manche Autoren haben die Ansicht vertreten, daß bei mangelnder Fürsorgebedürftigkeit die Entmündigimg nicht zu erfolgen brauche und daß sich darauf das „kann" beziehe6). Diese Ansicht ist jedoch nicht zutreffend. In solchen Fällen darf nicht entmündigt werden. Dagegen muß die Entmündigung ausgesprochen werden, wenn der Antrag gestellt ist und die vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind. Für den Richter ist sie zwar Sache des Ermessens, aber nur insofern, als er das Ergebnis der vorzunehmenden Ermittelungen usw. nach freier Überzeugung zu prüfen hat; kommt er zu der Überzeugung, daß die Voraussetzungen gegeben sind, so muß er die Entmündigung aussprechen6). Der Richter hat also zu prüfen, ob die betreffende Person eines Vormundes bedarf. Das hängt, wie wir noch sehen werden, keineswegs von dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer seelischen Störung allein ab. Ein verblödeter Anstaltsinsasse ohne Vermögen, der keine sozialen Aufgaben irgendwelcher Art hat, für den nahe Angehörige sorgen, bedarf keines Vormunds. Die Entmündigung ist abhängig von der sozialen Lage der betreffenden Person, sie soll praktische Aufgaben lösen. Der Vormund soll die Angelegenheiten, die von der betreffenden Person nicht besorgt werden können, teilweise oder ganz übernehmen. Zwei Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit jemand nach § 6 Abs. 1 B G B entmündigt werden kann: 1. muß der zu Entmündigende unfähig sein, seine Angelegenheiten zu besorgen und 2. muß diese Unfähigkeit durch eine seelische Störung, eine Geisteskrankheit oder Geistesschwäche nach der Ausdrucksweise des Gesetzes, bedingt sein. Wir haben daher zunächst zu fragen, was man unter „Angelegenheiten" zu verstehen hat. Diese Frage ist eigentlich keine psychiatrische. In der Praxis hat es sich jedoch als notwendig erwiesen, daß der Psychiater sich 3

4

) STAUDINGER I , S . 9 2 .

) In Österreich bestand bis zum Jahre 1916 ein Entmündigungszwang. ) Siehe VORKASTNER, ]. c., S. 279.

5

6

) STAUDINGER I , S . 9 1 .

14*

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nicht nur darüber äußert, ob eine seelische Störung vorliegt, sondern über den gesamten Inhalt des § 6, 1 B G B . Da der Richter das Recht der ireien Beweiswürdigung hat, bleibt es ihm unbenommen, die Frage der Angelegenheiten von sich aus zu prüfen und seine etwa abweichende Meinung zur Geltung zu bringen. Unter „Angelegenheiten" wird nun die Gesamtheit der Angelegenheiten verstanden (RGZ 65, S. 201); das Unvermögen, einzelne oder einen bestimmten Kreis von Angelegenheiten zu besorgen, rechtfertigt eine Entmündigung nicht (RGZ 50, S. 201). Den wichtigsten Platz unter ihnen werden in der Regel die Vermögensangelegenheiten (unsinnige Geschäfte, Verweigerung von Steuerzahlung, Vernachlässigung der beruflichen Pflichten, größere Geldausgaben durch fortgesetztes aussichtsloses Prozessieren usw.) einnehmen. Daneben sind es die Rechte und Pflichten gegenüber der Familie, gegen Frau und Kinder. Dabei kommen in Betracht die Sorge für Pflege, für Kleidung und Ernährung, für Erziehimg (eine etwa den Neigungen und Fähigkeiten widersprechende Berufswahl, unbegründete Verweigerung geeigneten Schulbesuchs, Anhalten zu einem unsittlichen oder verbrecherischen Lebenswandel, Mißhandlungen u. a. m.) und schließlich die Sorge für die eigene Person (Verwahrlosung, Verhinderung sachgemäßer ärztlicher Behandlung, unsinnige Lebensweise). Besonderes Gewicht hat die Rechtsprechung darauf gelegt, ob der zu Entmündigende seiner Stellung im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben gerecht zu werden imstande sei, wie er sich insbesondere im Verkehr mit den öffentlichen Behörden verhalte, wieweit dabei krankhafte Gedanken zutage träten, und ob daraus geschlossen werden könne, daß sein Wahn seine gesamten Lebensverhältnisse beherrsche und gefährde'). Auch die Gefährdimg des elterlichen Ansehens kann dahin gerechnet werden. E s ist nun nicht so, daß der zu Entmündigende in allen diesen Beziehungen versagen muß; eine absolute Unfähigkeit zur Besorgung der Angelegenheiten ist nicht erforderlich. Aber die wichtigsten dieser Angelegenheiten müssen durch das Verhalten des Fürsorgebedürftigen in Mitleidenschaft gezogen werden. Mit anderen Worten: man wird für die Durchführung der Entmündigung nicht zu wenig, aber auch nicht restloses Versagen verlangen dürfen. Immer wird man sich in Zweifelsfallen die Frage vorlegen müssen, ob man dem Betreffenden — objektiv gesehen — etwas Gutes tut, ob man ihm nützt, wenn man ihm einen Vormund gibt. Das Gesetz spricht nun nicht von Angelegenheiten allgemein, sondern von „seinen" Angelegenheiten. Das bedeutet, daß in jedem Falle zu untersuchen ist, welches eigentlich der Kreis der Angelegenheiten ist, der erledigt werden müßte. Dieser Kreis kann je nach der sozialen Stellung des zu Entmündigenden sehr verschieden groß sein: die Angelegenheiten eines Tagelöhners sind andere als die eines Bauern und diese wieder andere als die eines Großkaufmanns. E s ist klar, daß seelische Störungen um so eher zu einem Versagen in 7

) RGZ 170, S. 344; RG JW 1905, S. 133; Warn.Rspr. 1910, Nr. 39.

Die Entmündigung

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der Besorgung der Angelegenheiten führen müssen, je komplizierter diese sind, je größer ihr Kreis ist. Daraus folgt etwas sehr Wichtiges: dieselbe seelische Störung wird in einem Falle die Entmündigimg nötig machen, im anderen nicht. Der leicht schwachsinnige Erbe eines Großkaufmanns bedarf des vormundschaftlichen Schutzes; als Arbeiter könnte er ohne solchen Schutz auskommen. Jedes Gutachten hat also die jeweiligen individuellen Verhältnisse zu berücksichtigen. Die Feststellung des Kreises der Angelegenheiten gehört in jedem Falle zu den wichtigsten Aufgaben des Gerichts und des Gutachters. Nur wenn der Sachverständige diesen Kreis kennt, wenn er weiß, welche Anforderungen normalerweise von dem zu Entmündigenden erfüllt werden müssen, ist er imstande, die ihm gestellte Frage zu beantworten. Auch das Wort „vermag" ist wichtig. Durch die Präsensform zeigt es eindeutig, daß das Nicht-beiorgen-können in der Gegenwart liegen muß. Es genügen nicht unbestimmte Gefahren, die in der Zukunft liegen; es muß wenigstens im allgemeinen die Unfähigkeit zur Besorgung der Angelegenheiten schon hervorgetreten sein, und sie muß zur Zeit der etwaigen Entmündigung noch bestehen. Freilich hat das Reichsgericht einen etwas weitherzigeren Standpunkt eingenommen. Nach einem Urteil vom 25. 5. 19398) genügt es zur Entmündigung wegen Geistesschwäche, daß der Betreffende, wenn er sich selbst überlassen bliebe, durch seine Wahnideen zu unvernünftigen Handlungen getrieben würde, die ihn auf den verschiedensten Lebensgebieten ernsthaften Gefahren aussetzen. Es handelte sich um eine Paraphrene mit Wahnideen politischen Inhalts. Sie konnte zwar ihr kleines Grundstück von 2 ha ordnungsgemäß verwalten, war aber von ihren Wahnideen so beherrscht, daß dadurch ihre gesamten Lebensverhältnisse in erheblichem Maße in Mitleidenschaft gezogen waren. Das reicht nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts aus, um die Entmündigung zu begründen 9 ). Danach genügen also schon die auf dem Gebiete der persönlichen Angelegenheiten drohenden Gefahren zur Entmündigung; auf die Gefahren auf dem Gebiete des Vermögens kommt es dann nicht mehr an. Eine solche Stellungnahme hat eine gewisse Berechtigung, aber auch gewisse Gefahren: eine Berechtigimg dann, wenn wirklich mit größter Wahrscheinlichkeit Fehlhandlungen zu erwarten sind, die den objektiven Interessen des zu Entmündigenden zuwiderlaufen; Gefahren insofern, als die Entmündigung auf bloße Vermutungen hin erfolgen könnte und zu wenig auf wirkliche Tatsachen Rücksicht genommen werden könnte. Nützlich könnte sich diese Entscheidung auf Rauschgiftsüchtige auswirken, über die noch zu sprechen ist. Auch das Wort „infolge" verdient besondere Erwähnung. Es bedeutet, daß das Nicht-besorgen-können der Angelegenheiten mit der seelischen Stö8 9

) RG DR 1939, S. 1520. ) Warn.Rspr. 1937, Nr. 5.

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rung ursächlich verknüpft sein muß. Nicht jedes Versagen beruht auf einer seelischen Störung: wenn jemand im Vertrauen auf einen guten Freund etwa eine Bürgschaft leistet und später erkennen muß, daß er sein Vermögen infolge seiner zu großen Vertrauensseligkeit verloren hat, wenn ein älteres Mädchen auf einen Heiratsschwindler hereinfällt und ihm seine Ersparnisse opfert, so haben beide zwar auch bei der Besorgung ihrer Angelegenheiten versagt, ohne daß jedoch eine seelische Störung vorzuliegen braucht. Hier wäre eine Entmündigung ebenso fehl am Platze wie bei fehlerhafter Erziehung, mangelhafter Anleitung, ungenügender Erfahrung. In beiden Fällen darf man annehmen, daß die einmal gemachten üblen Erfahrungen vor weiteren Fehlhandlungen schützen werden. Der Gutachter hat also die Aufgabe, den ursächlichen Zusammenhang zwischen seelischer Störung und Nichtbesorgen-können der Angelegenheiten aufzuzeigen. Das ist in manchen Fällen sehr einfach; es wird in der Regel ohne Schwierigkeiten wenigstens wahrscheinlich zu machen sein. Die wichtigste Voraussetzung einer Entmündigung nach § 6, 1 BGB ist das Vorliegen einer ,,Geisteskrankheit" oder „Geistesschwäche". Diese Ausdrücke geben immer wieder zu Mißverständnissen Veranlassimg, und zwar sowohl bei Richtern wie bei Sachverständigen; sie werden oft fälschlich mit den in der Medizin gebräuchlichen Begriffen gleichlautend gebraucht. B T J M X E hat daher vorgeschlagen, das Gericht solle unabhängig von der Diagnose bestimmen, ob Geschäftsunfähigkeit oder beschränkte Geschäftsfähigkeit vorliege. Es handelt sich bei diesen Ausdrücken um juristische Begriffe, die mit den volkstümlichen oder medizinischen Begriffen durchaus nicht übereinstimmen. Der Ausdruck „Geisteskrankheit" bedeutet hier einfach die schwerere, der Ausdruck „Geistesschwäche" die leichtere geistige Abartigkeit. Es handelt sich also um quantitative Abstufungen ohne jede Rücksicht auf die Art der Erkrankung 10 ). So ist z. B. ein schwer Schwachsinniger im medizinischen Sinne, also ein Idiot, geisteskrank im Sinne des § 6, 1, ein Schizophrener, also ein Geisteskranker im medizinischen Sinne, kann geistesschwach im Sinne des Gesetzes sein. J a , selbst hochintelligente Menschen können geistesschwach im Sinne der vorliegenden Bestimmungen sein, wenn sie etwa an hochgradiger Willensschwäche leiden. Der Ausdruck „Geistesschwäche" bedeutet also nicht, daß der Betreffende intellektuell minderwertig, unterbegabt, schwachsinnig sein muß, er bedeutet nur, daß eine seelische Abartigkeit vorliegt, die sich in bestimmter Weise bei der Besorgung der Angelegenheiten auswirkt, die den Betreffenden an der zweckmäßigen Besorgimg seiner Angelegenheiten hindert. Ich erinnere mich eines Patienten, der wenige Wochen nach der Entmündigung den Dr. phil. mit „gut" bestand. Trotz dieser Leistung war die Entmündigung erforderlich. Nach deren Aufhebung ist der homosexuelle, völlig haltlose Patient schnell verwahrlost und wieder kriminell geworden. Es kommt bei der Entscheidung zwischen 10 ) RGZ 50, S.203; 130, S. 71; RG Das Recht 13, S.458; BGB, 13. Aufl., § 86 I Z. 1.

ENNECCERUS-NIPPERDEY

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Geisteskrankheit und Geistesschwäche nicht auf eine bestimmte Diagnose an, sondern lediglich darauf, daß überhaupt eine seelische Störung vorhanden ist, auf die Schwere derselben und auf die Abschätzung ihres Einflusses auf die Handlungen des zu Entmündigenden. Im Vordergrunde steht die rein praktische rechtliche Folge: Ist die seelische Störung erheblich und ihr Einfluß auf die Handlungen des zu Entmündigenden beträchtlich, — so beträchtlich, daß der Betreffende für alle seine Handlungen eines besonderen Schutzes bedarf, so liegt eine Geisteskrankheit vor. Dabei braucht die freie Willensbestimmung nicht ausgeschlossen zu sein. Ist die Abartigkeit geringer, so daß dem zu Entmündigenden das Recht eingeräumt werden kann, bei der Besorgung seiner Angelegenheiten mitzuwirken, einen Teil derselben vielleicht gar selbständig zu erledigen, so spricht man von Geistesschwache. Auch diese Begriffe haben keine starren Grenzen. Sie sind vielmehr abhängig von dem Umfang der zu besorgenden Angelegenheiten. Der kleine Bauer, der wegen Geistesschwäche entmündigt werden muß, müßte, wenn er Großkaufmann wäre, vielleicht wegen Geisteskrankheit entmündigt werden. Er könnte bei der Bewirtschaftung seines Hofes, bei der alte eingeschliffene Gewohnheiten gröbere Verkehrtheiten verhindern, noch mitwirken. Wäre er Großkaufmann, so wäre die Möglichkeit von Fehlentscheidungen viel größer, ihre Bedeutung für den Bestand der Firma viel einschneidender, so daß eine Mitwirkung des Betreffenden für die Firma gefährlich werden könnte. Der Begriff „Geistesschwäche" im Sinne des § 6, 1 BGB bedeutet, worauf besonders hinzuweisen ist, nicht dasselbe wie im § 51 StGB. Ich habe im strafrechtlichen Teil bereits darauf hingewiesen. Dort umfaßt er, wie ich glaube dargelegt zu haben, die angeborenen oder im frühesten Lebensalter erworbenen psychischen Abartigkeiten: die verschiedenen Formen der Psychopathie und die Schwachsinnszustände. Es handelt sich dabei um eine qualitative Abgrenzung gegenüber der krankhaften Störung der (früher normalen) Geistestätigkeit und zugleich um eine Ergänzung dieser Zustände. Psychosen fallen dort nicht unter den Begriff der Geistesschwäche. Im Entmündigungsverfahren dagegen umfaßt der Begriff „Geistesschwäche" auch echte Psychosen, sofern diese in ihren Erscheinungen nur soweit von der Norm abweichen, daß gewisse Angelegenheiten mit Hilfe des Vormunds noch selbstständig erledigt werden können. Bei der Abfassung des Gutachtens sind nach dem Gesagten also folgende Fragen nacheinander zu erörtern: 1. ist zu untersuchen, ob eine seelische Störung vorliegt. Darunter sind alle irgendwie beschaffenen seelisch-geistigen Abartigkeiten zu verstehen, also alle Psychosen, alle Schwachsinnsformen, aber auch die psychopathischen Variationen der menschlichen Persönlichkeit. Es ist zu empfehlen, die Ausdrücke Geisteskrankheit und Geistesschwäche in diesem Abschnitt des Gutachtens zu vermeiden, oder, wenn sie sich nicht umgehen lassen, mit dem Zusatz „in medizinischem Sinne" zu versehen. Eine genaue Diagnose ist nicht unbedingt erforderlich; immerhin ist sie schon wegen

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der Prognose anzustreben, da bei kurz dauernden Erkrankungen natürlich eine Entmündigung überflüssig ist 1 1 ); 2. ist der Kreis der Angelegenheiten des zu Entmündigenden festzustellen und die Frage zu beantworten, ob dieser zur Zeit unfähig ist, sie zu besorgen. 3. ist zu prüfen, ob das etwaige Unvermögen zur Besorgung dieser Angelegenheiten ursächlich mit der festgestellten seelischen Störung zusammenhängt und 4. ist zu erörtern, in welchem Grade der zu Entmündigende noch an der Besorgung seiner Angelegenheiten mitwirken kann, ob also eine Geisteskrankheit oder eine Geistesschwäche im Sinne des Gesetzes vorliegt.

Auf zwei Formen geistig-seelischer Abartigkeit möge noch kurz hingewiesen werden, weil sie praktisch bedeutsam sind; das sind die Paranoiker, insbesondere die Querulanten und die Psychopathen. Bei den Querulanten handelt es sich in der Regel um Menschen, die formal ganz geordnet sind; aber durch ihre Eingaben oft recht lästig fallen und zahlreiche Prozesse führen. Um sie los zu werden, wird manchmal die Entmündigung betrieben. Wie GBTJHLE 12 ) mit Recht ausführt, soll die Entmündigung nicht zum Schutze der Behörden oder der Staatsanwaltschaft, sondern dem Wohle der betreffenden Person dienen. Wenn also der Querulant durch seine Prozesse sein Vermögen nicht nennenswert schädigt, und wenn er seine anderen Angelegenheiten in normaler Weise erledigt, so ist kein Grund für seine Entmündigung vorhanden, gleichgültig, worauf sein Querulieren beruht. Anders liegen natürlich die Verhältnisse, wenn er durch seine Prozesse sein Vermögen gefährdet, und wenn er sein ganzes Tun diesen Prozessen unterordnet, wenn ihm schließlich durch die Art seines Querulierens Gefahren in Form von Beleidigungsklagen drohen. In solchen Fällen ist die Entmündigung berechtigt, wie auch das Reichsgericht in mehreren Entscheidungen betont hat 13 ). Recht häufig befinden sich unter den Entmündigungskandidaten Psychopathen, in erster Linie Haltlose, Willensschwache, seltener Hyperthymiker oder Pseudologisten. Ihre Willensschwäche zeigt sich im beruflichen Versagen ; sie erreichen trotz ausreichender Intelligenz nicht das ihnen gesteckte Ziel, wechseln dauernd ihre Stellung, leben über ihre Verhältnisse. Sie geraten an den Alkohol oder an Rauschgifte, junge Mädchen verfallen der Prostitution, manche geraten auf die Laufbahn des Verbrechens oder verlieren den Kontakt mit ihren Angehörigen. In solchen Fällen ist die Entmündigung oft das einzige Mittel, den Betreffenden vor weiterem Schaden zu schützen und ihn wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Dem scheint die Auffassung der Psychiater entgegenzustehen, daß Psychopathen nur Persönlichkeitsvarianten seien, daß sie nur insofern abnorm seien, alssie von einem gedachten Durchschnitt abweichen, daß es sich also bei ihnen nicht um eine geistige Störung handele. Auch der angeborene vererbbare Schwachsinn ist nichts anderes als N

)

STATTDINGER I , S . 8 4 .

12

) I n HOCHE I I I , S . 1 7 8 .

13

) RG in Das Recht 1907, Nr. 798ff. Warn.Rspr. 1910, Nr. 309, 310; ähnlich

STAUDINGER I , S . 8 5 .

Die Entmündigung

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eine von einer angenommenen Norm abweichende Variante; niemand zweifelt aber daran, daß die stärkeren Abweichungen dieser Art Krankheitswert haben. Was nun auf dem Gebiete der Verstandestätigkeit recht ist, muß auch im Bereich des Charakters, auf dem Gebiete des Gefühls- und Willenslebens Gültigkeit haben. Auch hier haben stärkere Abweichungen von der Norm Krankheitswert. Freilich muß zugegeben werden, daß auf diesem Gebiete die Kriterien für die Entscheidung, ob eine Psychopathie schon Krankheitswert habe oder nicht, viel unsicherer sind als bei den Schwachsinnszuständen, daß sie viel mehr als dort von dem subjektiven Ermessen des Beurteilers abhängen. Die Rechtsprechimg hat lange gezögert, in der Psychopathie eine Geistesschwäche im Sinne des § 6, 1 BGB anzuerkennen. In seiner grundlegenden Entscheidung vom 18. 2. 1924 hat jedoch das Reichsgericht anerkannt, daß Geistesschwäche im Sinne des § 6 , 1 BGB auch bei Entartung des Charakters angenommen werden könne 14 ). Es heißt dort: „Die Revision übersieht, daß auch die Entwicklung des Charakters eine krankhafte Richtung nehmen und daß gerade Störungen des Gefühls- und Trieblebens auf psychopathischer Grundlage beruhen können. Wird durch die krankhafte Anlage die Charakterbildung nachteilig beeinflußt und treten Triebe und Leidenschaften als Äußerungen einer bestehenden Entartung auf, so ist es auch vom Rechtsstandpunkt aus nicht zu beanstanden, wenn hierin die Anzeichen einer Geistesschwäche psychopathischen Ursprungs gefunden werden . . ."

Dieses Urteil hat sowohl von juristischer wie von psychiatrischer Seite aus weitgehend Billigung gefunden 16 ); es würde einen unverzeihlichen Rückschritt bedeuten, wollte man von dieser Auffassung abgehen. Die Entmündigung wegen Verschwendung (§ 6, 2 BGB) braucht hier nur kurz gestreift zu werden, weil der Psychiater wohl kaum einmal damit zu tun hat. Unter Verschwendung ist der Hang zu unvernünftigen Ausgaben oder unwirtschaftlichem Gebaren, z. B. auf Grund von Leichtsinn, Prunkliebe o. dgl. zu verstehen 16 ). Auch unangebrachte Vertrauensseligkeit kann die Ursache sein17). Verschwendung kann auch im Verkommenlassen wirtschaftlicher Werte liegen18) oder darin, daß jemand Werte, die zu seinem Vermögen gehören, zwecklos ungenutzt läßt, wenn dies einem Hang zu unwirtschaftlichem Gebaren entspringt. Zusammenfassend läßt sich etwa sagen, daß derjenige ein Verschwender ist, der bei seinen Ausgaben weder Maß noch Ziel zu halten versteht, der übermäßige, zu seinem Vermögen oder Einkünften in keinem Verhältnis stehende unnütze Ausgaben macht und damit eine 14

) JW 1925, S. 937 ff. ) Literaturangaben bei H A R T M A N N a. a. O., S. 92; s. dazu auch RGZ 74, S. 111, wonach auch solche Zustände von „geistiger Unvollkommenheit" unter den Begriff der Geistesschwäche fallen, die nicht unter den psychiatrischen Begriff der Geisteskrankheit gehören. ") RG HRR 32, S. 929. 17 ) RG Leipz.Zschr. 17, S. 966. 18 ) RG JW 14, S. 862. 15

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Lebensweise führt, deren Fortsetzung die Gefahr des Notstandes für ihn oder seine Familie begründet. Unnütz sind Ausgaben, deren Sinn- und Zweck losigkeit von vornherein feststeht — also nicht solche Ausgaben, die aus irrtümlicher Beurteilung einer Situation entstanden sind —, aber auch z. B. Ausgaben für öffentliche oder Wohlfahrtszwecke, wenn sie über das vertretbare Maß hinausgehen19). Erforderlich ist, daß der zu Entmündigende sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt. Not ist hier als „Mangel der Mittel zur standesgemäßen wirtschaftlichen Existenz" zu verstehen20). Zur Familie sind nur die gesetzlich unterhaltsberechtigten Angehörigen einschließlich unehelicher Kinder zu rechnen21). Die Entmündigung wegen Verschwendung ist namentlich dann angebracht, wenn sich das Versagen des Betreffenden auf die Vermögensangelegenheiten beschränkt. Nicht selten sind Verschwender jedoch auch abnorme Persönlichkeiten, so daß sie, wenigstens zum Teil, auch nach § 6,1 entmündigt werden können. Insofern wäre die Hinzuziehung eines Psychiaters nützlich, als etwa die Verschwendung eines Manischen, einer beginnenden Paralyse ganz anders zu beurteilen ist als die eines Normalen. In solchen Fällen wäre namentlich Anstaltsbehandlung das in erster Linie Gebotene. Wichtiger ist die Entmündigung wegen Trunksucht (§ 6, 3 BGB). Auch hierbei ist die Mitwirkung eines Sachverständigen nicht vorgeschrieben; aber es steht den Gerichten frei, sich eines Sachverständigen zu bedienen, und manche Richter tun das auch, während andere nichts davon wissen wollen. So bestand früher in Hamburg22) ein enges Zusammenarbeiten bezüglich der Trinker zwischen der Vormundschaftsbehörde, dem Amtsgericht, der Trinkerfürsorge bei der Wohlfahrtsbehörde und den psychiatrischen Sachverständigen. Damals sind zahlreiche Trinker entmündigt worden; und es bestand bei den Beteiligten der Eindruck, daß sich diese Mühe lohne. Die Entmündigung hatte in diesen Fällen einmal das Gute, daß die Trinker auch gegen ihren Willen in der Anstalt zurückgehalten werden konnten, was ohne Entmündigung wenigstens nicht für die notwendige Dauer möglich gewesen wäre. Weiterhin hatte sie aber auch gerade bei den brutalen Trinkern eine günstige psychische Wirkung; sie merkten zu ihrem Erstaunen, daß da jemand war, der ihrer Brutalität ein energisches „Bis hierher und nicht weiter!" entgegensetzte, daß sie mit den bisherigen Mitteln nicht durchkamen. Nicht in allen Fällen ist die Entmündigung nötig; bei vielen noch nicht ganz verkommenen Trinkern hat die Drohung mit der Entmündigung eine ebenso gute, wenn nicht noch bessere Wirkung. In anderen Fällen genügt die 19

) STAUDINGER I , S . 8 6 . ) STAUDINGER I , S. 8 7 . 21 ) PALANDT, S . 1 4 AO

22

) In den Jahren 1927—1930; über die jetzigen Verhältnisse bin ich nicht orientiert.

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Stellung unter vorläufige Vormundschaft (§ 1906 BGB). Das hat den Vorteil, daß sich diese Maßnahme schnell durchführen läßt, daß sie sich aber auch leicht wieder aufheben läßt (s. S. 84). Der Begriff Trunksucht ist nun keineswegs etwas fest Umrissenes. Ich habe schon im strafrechtlichen Teil darauf hingewiesen, daß es dabei nicht nur auf die mehr oder weniger regelmäßig genossenen Alkoholmengen 23 ) allein ankommt, sondern auch auf den trinkenden Menschen. Dem einen schadet jahrelanger erheblicher Alkoholgenuß nicht, der andere verliert schon unter relativ geringen Mengen jeden inneren Halt. Es ist auch eine bekannte Tatsache, daß bei vielen Menschen die Widerstandskraft gegen den Alkohol mit zunehmendem Alter abnimmt, daß jemand, der früher viel vertragen konnte, später schon nach geringeren Mengen betrunken wird. Die Entmündigung wegen Trunksucht erfolgt jedoch aus rein praktischen Erwägungen: es kommt nicht so sehr auf die Regelmäßigkeit des Trinkens und die Mengen des genossenen Alkohols als vielmehr darauf an, daß der Betreffende seine Angelegenheiten infolge seines Trinkens nicht mehr zu besorgen vermag usw. Eine Reichsgerichtsentscheidung vom 27. 10. 1902 nennt denjenigen trunksüchtig, dessen Hang zu übermäßigem Trinken in solchem Grade krankhaft geworden sei, daß er die K r a f t verloren habe, dem Anreiz zum übermäßigen Genuß geistiger Getränke zu widerstehen 24 ). Dieser Definition, über die im allgemeinen Übereinstimmung besteht, kann man vom ärztlichen Standpunkt aus durchaus zustimmen. I n der Praxis wird man zunächst durch Befragen der Angehörigen, der Nachbarn, der Mitarbeiter, der Polizei, evtl. der Trinkerfürsorge und der Sozialbehörde festzustellen versuchen, ob und wieviel der Betreffende getrunken hat, ob er öfter betrunken war; und man wird froh sein, wenn körperliche Symptome die Ermittlungen bestätigen. Praktisch erscheint es mir gleichgültig, ob jemand infolge eines krankhaften Hanges oder aus Leichtsinn oder aus alter lieber Gewohnheit soviel trinkt, daß er die übrigen Bedingungen des § 6, 3 BGB erfüllt. Dem hat ein Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart Rechnung getragen, das den Umstand, daß ein aus öffentlichen Mitteln Unterstützter die ihm zufließenden Mittel in Alkohol anzulegen pflegte, als ausreichend zur Entmündigung wegen Trunksucht ansah 25 ). In der Begründung zu diesem Beschluß heißt es unter anderem, es könne nicht darauf ankommen, ob der zu Entmündigende jede nur denkbare Gelegenheit benutze, um Alkohol zu trinken, ob er sich häufig und stark betrinke, und ob er dem Hang zum Alkohol zu widerstehen vermöge oder nicht. Maßgebend sei vielmehr, 23

) Außer Alkohol käme etwa Äther in Betracht, der früher im Osten Deutschlands eine gewisse Rolle gespielt hat, jetzt aber seine Bedeutung als Rauschmittel verloren hat. Nach der herrschenden Meinung sind andere Rauschmittel nicht einbegriffen; man hat zwar an eine analoge Anwendung (§§ 42e, 330a StGB) gedacht, doch überwiegen die Bedenken gegen eine solche Handhabung ohne ausdrückliche Gesetzesvorschrift ( S t a u d i n g e r I, S. 88). 24 ) JW 1902, Beilage S. 280; RG Seuff.Arch. 68, S. 116. 25 ) JW 1936, S. 2942.

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ob er sich bemühe, ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein, oder ob er es vorziehe, seinem Hang zum Genuß alkoholischer Getränke nachzugeben, möge er dies auch nicht aus einem inneren krankhaften Zwange, sondern aus Leichtsinn und Gleichgültigkeit tun. Man wird also weiter die sozialen Auswirkungen des Trinkens zu prüfen haben. Dabei gewinnt manches ein anderes Aussehen als bei den seelischen Störungen. Während dort eine Entmündigung um so eher erforderlich wurde, je größer der Kreis der Angelegenheiten war, ist es bei den Trinkern im allgemeinen umgekehrt. Der wohlhabende oder gar reiche Trinker pflegt seine Angelegenheiten trotz des Trinkens noch recht lange besorgen zu können. Wenn er betrunken war, so erledigt sein Prokurist für den folgenden Tag das Nötigste, während er seinen Rausch ausschläft. Wenn er wieder nüchtern ist, holt er das Versäumte nach. Der Arbeiter dagegen verliert, wenn er fehlt, seinen Tageslohn, er hat keinen Vertreter, der für ihn arbeitet und verdient; manchmal versucht die Ehefrau die Familie zu erhalten; auf die Dauer gelingt das jedoch nur ausnahmsweise. Ähnlich ist es mit der Gefahr des Notstandes: auch hier ist der Wohlhabende besser dran als der einfache Arbeiter, der am Wochenende den größten Teil seines Wochenlohns vertrinkt. Nur in der Gefährdung der Sicherheit anderer sind Reich und Arm in der gleichen Lage. In der Tat habe ich nur selten erlebt, daß wohlhabende Patienten wegen Trunksucht entmündigt werden mußten; meistens waren es Personen aus ärmeren sozialen Schichten. Für die Unfähigheit, die Angelegenheiten zu besorgen verweise ich auf das zu § 6, 1 Gesagte. Daß durch die Trunksucht sehr leicht eine Zerrüttung der Vermögensverhältnisse, ein Versagen im Beruf, Vernachlässigung der Familie, Zerstörung des eigenen Ansehens und Rufes, Schädigung der eigenen Gesundheit herbeigeführt werden kann, bedarf wohl kaum eines Hinweises. Die Gefahr des Notstandes ist besonders groß in den ärmeren Schichten der Bevölkerung; gedacht ist aber auch an solche Trinker, die ein vorhandenes Vermögen nutzlos verschleudern oder infolge der Trunksucht mehr ausgeben als sie einnehmen, so daß zu besorgen steht, daß sie eines Tages mittellos werden und der öffentlichen Fürsorge anheimfallen 26 ). Die Gefährdung der Sicherheit anderer scheint mit dem Prinzip, daß die Entmündigung lediglich ein Schutz für den zu Entmündigenden sein soll, zu brechen. Scheint! Denn auch hier bedeutet die Entmündigung einen Schutz vor sich selbst, vor eigenem unbedachtem Handeln, vor schlimmeren Folgen. Zugleich wird der Schutzgedanke aber auch auf andere ausgedehnt. Freilich sind im allgemeinen die chronischen Alkoholiker, wie Statistiken ergeben haben, weniger zu Körperverletzungen geneigt als Gelegenheitstrinker. Sie kennen sich besser unter Alkohol und können sich daher leichter beherrschen, sind auch vielleicht gemütsstumpfer als die Gelegenheitstrinker. 26

) RGEntsch. vom 6. 5. 1911, Wichtige Entsch. 11. Folge, S. 24 und RGEntsch. vom 14. 5. 1914, Wichtige Entsch. 14. Folge, S. 13. Über „Not" s. bei Verschwendung.

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Polizeiakten und Vorstrafenliste werden hierbei für die Feststellung gute Dienste leisten. Für das Entmündigungsverfahren gelten die Paragraphen 645—687 der Zivilprozeßordnung (ZPO). Hier mögen die wichtigsten dieser Bestimmungen kurz zusammengefaßt werden. Die Entmündigung erfolgt nur auf Antrag bei dem zuständigen Amtsgericht (§§ 645 u. 648 ZPO). § 646. (1) Der Antrag kann von dem Ehegatten, einem Verwandten oder demjenigen gesetzlichen Vertreter des zu Entmündigenden gestellt werden, welchem die Sorge für die Person zusteht. Gegen eine Person, die unter elterliche Gewalt oder unter Vormundschaft steht, kann der Antrag von einem Verwandten nicht gestellt werden. Gegen eine Ehefrau kann der Antrag von einem Verwandten nur gestellt werden, wenn auf Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft erkannt ist oder wenn der Ehemann die Ehefrau verlassen hat oder wenn der Ehemann zur Stellung des Antrags dauernd außerstande oder sein Aufenthalt dauernd unbekannt ist. (2) In allen Fällen ist auch der Staatsanwalt bei dem vorgesetzten Landgericht zur Stellung des Antrags befugt. Das gilt für die Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche ; dagegen findet eine Mitwirkung des Staatsanwalts bei der Entmündigung wegen Verschwendung oder Trunksucht nicht statt (§ 680 ZPO). Das ist sehr zu bedauern, da gerade bei Trunksucht die am meisten Betroffenen, in der Regel die Ehefrau, sich häufig scheuen, den Antrag zu stellen, weil sie sich vor dem trunksüchtigen Ehemann fürchten 27 ). Sie ertragen vielfach das Martyrium einer solchen Ehe lieber weiter, als daß sie sich zum Entmündigungsantrag durchringen. Das hängt z. T. damit zusammen, daß die Entmündigung oft fälschlich als Strafe aufgefaßt wird; manche Angehörige entschließen sich leichter zur Stellung des Antrages, wenn man ihnen klar macht, daß ein solcher Antrag im wohlverstandenen Interesse des Patienten liegt. Als eehr nützlich hat sich die Möglichkeit erwiesen, über die Gemeinde oder den Fürsorge- oder Armenverband den Antrag stellen zu lassen, wie das nach § 680 Abs. 5 ZPO in den meisten Ländern möglich ist. Dadurch entfällt das Odium für die Angehörigen. Wir haben in Hamburg von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch gemacht. COHN28) hat freilich gemeint, die Entmündigung bedeute für den Betreffenden den „geistigen T o d " ; er möchte sie daher möglichst einschränken. Ich bin im Gegenteil der Meinung, daß man namentlich bei Trinkern zu ihrem eigenen Wohle möglichst frühzeitig entmündigen oder die Entmündigung wenigstens als Druckmittel benutzen sollte. Gesetzliche Vertreter, die für die Antragstellung in Betracht kommen, sind: der Vater und die Mutter als Inhaber der elterlichen Gewalt, auch die uneheliche Mutter, der Vormund, der Pfleger für die Person. Nicht antrags27

) Für die Antragsberechtigung der Staatsanwaltschaft haben sich auch BUMKE

(Z. A k a d . d t s c h . R e c h t 2, 1 9 3 5 ) , MEGGENDORFER ( F o r t s c h r . 10, 1 9 3 8 ) u n d BERINGER

(Jahreskurse f. ärztl. Fortb. 25, 1934) ausgesprochen. 28 ) JW 1925, S. 316.

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berechtigt sind Verschwägerte. Die Leiter der Irrenanstalten usw. sind nicht antragsberechtigt; sie haben aber die Möglichkeit, bei der Staatsanwaltschaft oder den Gemeinden und Fürsorgeverbänden einen entsprechenden Antrag anzuregen. Das sollte nur geschehen, wenn der Fall so weit geklärt ist, daß die Entmündigung gesichert erscheint. Die betreffenden Stellen gehen nach meinen Erfahrungen bereitwillig auf derartige Anregungen ein 29 ). Im Antrag soll gesagt werden, weshalb die Entmündigung stattfinden soll, also etwa wegen Geisteskrankheit oder Trunksucht usw. Statt der beantragten Entmündigung wegen Geisteskrankheit kann Entmündigung wegen Geistesschwäche ausgesprochen werden; wenn dagegen Entmündigung wegen Geistesschwäche beantragt ist, ist es umstritten, ob statt dessen die Entmündigung wegen Geisteskrankheit angeordnet werden kann. Dafür spricht das Prinzip der Wahrheitsermittelung von Amts wegen, das auch für das Entmündigungsverfahren gilt, dagegen die Abhängigkeit vom Antrag 30 ). Wird vor Einleitung des Verfahrens ein ärztliches Zeugnis verlangt (§ 649 ZPO), so tut man gut, sich in allen nicht ganz sicheren Fällen nicht festzulegen, sondern nur die seelische Abartigkeit evtl. unter Beifügung der Diagnose zu bescheinigen. Das Gericht hat dem zu Entmündigenden Gelegenheit zur Bezeichnung von Beweismitteln zu geben (§ 653 ZPO), ebenso dem gesetzlichen Vertreter, welchem die Sorge für die Person zusteht, sofern er nicht selbst die Entmündigimg beantragt hat. Hierbei macht sich ein gewisser Mangel bemerkbar: der zu Entmündigende sträubt sich in der Regel gegen die Entmündigung; er will sich gegen die aufgestellten Behauptungen verteidigen können. Auch wenn man selbst der Meinung ist, daß die Entmündigung nötig sei, sollte man dem zu Entmündigenden die „Verteidigung" ermöglichen, damit er nicht das Gefühl hat, entmündigt zu sein, ohne daß er ausreichend gehört ist. Dazu müßte ihm die Antragsbegründung zugänglich gemacht werden, und es müßte ihm bekanntgegeben werden, wer den Antrag gestellt hat. Erst dann hat er die Möglichkeit, Beweismittel anzugeben. Diese sollen doch dazu dienen, die Behauptungen des Antragstellers zu entkräften. Das können sie nur, wenn man den Antragsteller und seine Behauptungen kennt. Diese Bekanntgabe erfolgt aber fast immer erst im Termin. Wichtig sind die §§ 654—656 ZPO, die hier wörtlich folgen mögen: § 654. (1) Der zu Entmündigende ist persönlich unter Zuziehung eines oder mehrerer Sachverständiger zu vernehmen. Zu diesem Zwecke kann die Vorführung des zu Entmündigenden angeordnet werden. 29 ) Während die Stellung des Entmündigungsantrages im freien Ermessen der Verwandten und Eltern steht, müssen gesetzliche Vertreter, Vormund, Pfleger, Inhaber der elterlichen Gewalt, Staatsanwalt und antragsberechtigte Behörden nach pflichtgemäßem Ermessen sich für oder gegen die Antragsstellung entscheiden

(STAUDINGER I, S. 91).

30) P A L A N D T , S . 1 3 spricht sich dafür aus, überwiegend Bedenken.

STATJDIUGER I , S . 9 1 — 9 2

hat offenbar

Die Entmündigung

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(2) Die Vernehmung kann auch durch einen ersuchten Richter erfolgen. (3) Die Vernehmung darfnur unterbleiben, wenn sie mit besonderen Schwierigkeiten verbunden oder nicht ohne Nachteil für den Gesundheitszustand des zu Entmündigenden ausführbar ist. § 655. Die Entmündigung darf nicht ausgesprochen werden, bevor das Gericht einen oder mehrere Sachverständige über den Geisteszustand des zu Entmündigenden gehört hat. § 656. (1) Mit Zustimmung des Antragsstellers kann das Gericht anordnen, daß der zu Entmündigende auf die Dauer von höchstens sechs Wochen in eine Heilanstalt gebracht werde, wenn dies nach ärztlichem Gutachten zur Feststellung des Geisteszustandes geboten erscheint und ohne Nachteil für den Gesundheitszustand des zu Entmündigenden ausführbar ist (2) Gegen den Beschluß, durch den die Unterbringung angeordnet wird, steht dem zu Entmündigenden, dem Staatsanwalt und binnen der für den zu Entmündigenden laufenden Frist den sonstigen im § 646 bezeichneten Personen die sofortige Beschwerde zu.

Die Vernehmung im Termin wird sehr verschieden gehandhabt. Manche Richter betrachten sie nur als Formsache, weil sie meinen, sie seien doch in erster Linie auf die Mitwirkung des Sachverständigen angewiesen und überlassen diesem das weitere; andere fragen den zu Entmündigenden sehr ausführlich; namentlich pflegen sie Fragen nach dem Wissen evtl. auch Intelligenzprüfungsfragen zu stellen, offenbar durch den Ausdruck „Geistesschwäche" verführt, manchmal, obwohl an der guten Intelligenz des Betreffenden kein Zweifel ist. Im allgemeinen sind diese Vernehmungen nicht besonders ertragreich. M. E. sollte sich der Richter auf Fragen nach den „Angelegenheiten" beschränken und das andere dem Sachverständigen überlassen. Die „Angelegenheiten" sollten dagegen im Termin mit aller nur wünschenswerten Gründlichkeit behandelt werden. Bei schwer kranken oder stark erregbaren Psychotikern kann man unter Berufung auf § 654 Abs. 3 bitten, von der Vernehmimg abzusehen, die ja die Erregung meist noch steigert. Mit einem mündlichen Gutachten sollte man sich nur begnügen, wenn auch für den Laien die Geisteskrankheit des zu Entmündigenden und das Nichtbesorgenkönnen seiner Angelegenheiten klar zutage tritt. Das sind jedoch Ausnahmen. Im allgemeinen empfiehlt es sich, auch in klaren Fällen das Gutachten schriftlich zu erstatten. In schwierigen nicht ohne weiteres zu entscheidenden Fällen kann die Einweisung in eine Heilanstalt nützliche Dienste leisten. Vielfach kommt man mit kürzerer Zeit aus als mit der Höchstdauer von 6 Wochen. Ich habe in der Regel die nötigen Ermittelungen schon vor dem Anstaltsaufenthalt angestellt und erst nach ihrem Abschluß den zu Entmündigenden zur Aufnahme in die Anstalt aufgefordert. In eiligen Fällen, das heißt da, wo dringliche oder schwierige Angelegenheiten keinen Aufschub dulden, oder aber die betr. Person durch unsinnige Lebensweise (Trunksucht) oder durch die Weigerung sich sachgemäß

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behandeln zu lassen (etwa beginnende progressive Paralyse), selbst gefährdet erscheint 31 ), kann die vorläufige Vormundschaft gute Dienste leisten. § 1906 BGB bestimmt hierüber: Ein Volljähriger, dessen Entmündigung beantragt ist, kann unter vorläufige Vormundschaft gestellt werden, wenn das Vormundschafts gericht es zur Abwendung einer erheblichen Gefährdung der Person oder des Vermögens des Volljährigen für erforderlich erachtet.

Ich habe diese Möglichkeit öfters bei Trinkern mit gutem Erfolg benutzt. Nötig ist dazu, daß zunächst ein Entmündigungsantrag gestellt wird, und zwar durch einen Antragsberechtigten. Dann aber erspart die vorläufige Vormundschaft langes Warten und ermöglicht schnelles Handeln. Sie hat für den Trinker den Vorzug, daß sie nicht veröffentlicht zu werden braucht 32 ), Nichteingeweihte also nichts davon erfahren. Ist sie ausgesprochen, kann man das Verfahren nach § 681 ZPO ruhen lassen. § 681 ZPO lautet: Ist die Entmündigung wegen Trunksucht beantragt, so kann das Gericht die Beschlußfassung über die Entmündigung aussetzen, wenn Aussicht besteht, daß der zu Entmündigende sich bessern werde.

Die Aussetzung des Verfahrens hat nur dann einen Sinn, wenn in dieser Zeit der Trinker in einer f ü r ihn geeigneten Anstalt entwöhnt wird. Ihm hilft nur rigoroses Zugreifen. Begnügt man sich mit der Stellung des Antrags und Aussetzen des Verfahrens, so muß Bedingung für ein solches Entgegenkommen sein, daß er sich zu einer Entwöhnungskur von längerer Dauer — man rechne mindestens 6 Monate — entschließt. T u t er das nicht, bleibt nur die Möglichkeit der Entmündigung und der zwangsweisen Durchführung der Kur. Der Trunksüchtige muß dann dauernd völlig abstinent leben. Die Enthaltsamkeitsvereine t u n dazu ihr möglichstes; sie haben den Nachteil, daß intelligente Trinker sich in ihnen oft langweilen. U m ihnen das Gefühl der Langeweile zu nehmen, habe ich solchen Trinkern geraten, nicht nur passiv abstinent zu leben, sondern ihre Erfahrungen im Kampf gegen den Alkohol mit zu verwerten, sich aktiv daran zu beteiligen. Diese Überkompensation hat sich in manchen Fällen bewährt. Aber auch bei Geisteskranken kann die vorläufige Entmündigung manchmal gute Dienste leisten. Bei einem beginnenden Paralytiker, der Punktion und Behandlung ablehnte, bei dem auch die Pflegschaft nicht angebracht schien, habe ich einmal bei der Staatsanwaltschaft den Entmündigungsantrag angeregt, habe den Antrag zum Amtsgericht gebracht und habe bei dem Vormundschaftsgericht u m Stellung unter vorläufige Vormundschaft gebeten. Zufällig konnte dort auch gleich ein Vormund bestellt werden. Ich 31

) Eine erhebliche Gefährdung der Person des zu Entmündigenden kann auch darin liegen, daß er bei Nichtanordnung der vorläufigen Vormundschaft seinen Aufenthaltsort selbstständig weiter bestimmen könnte und daß er voraussichtlich weitere Straftaten begehen und sich dadurch der Gefahr erneuter Bestrafung aussetzen würde (KG JW 1937, S. 474). 32 ) Bei Entmündigung wegen Verschwendung und Trunksucht ist die Veröffentlichung vorgeschrieben (§ 687 ZPO).

Die Entmündigung

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suchte ihn auf, besprach mit ihm die Sachlage, erhielt von ihm die Erlaubnis zur Punktion und Malariabehandlung. Das alles war das Werk eines Vormittags. 6 Wochen später konnte der Patient wesentlich gebessert und durchaus einsichtig entlassen werden, und der Entmündigungsantrag konnte zurückgezogen werden. § 664 ZPO. (1) Der die Entmündigung aussprechende Beschluß kann im Wege der Klage binnen der Frist eines Monats angefochten werden. (2) Zur Erhebung der Klage sind der Entmündigte selbst, derjenige gesetzliche Vertreter des Entmündigten, welchem die Sorge für die Person zusteht, und die übrigen im § 646 bezeichneten Personen befugt.

Abs. 3 behandelt den Lauf der Fristen. § 668 ZPO. Will der Entmündigte die Klage erheben, so ist ihm auf seinen Antrag von dem Vorsitzenden des Prozeßgerichts ein Rechtsanwalt als Vertreter beizuordnen.

Die Anfechtungsklage kann auch von dem wegen Geisteskrankheit Entmündigten erhoben werden, der für diese Klage als prozeßfähig gilt. Er kann für diese Klage einen Prozeßbevollmächtigten bestimmen, einen Richter ablehnen und selbst Beschwerden einlegen33). Auch in diesem Verfahren muß der Entmündigte persönlich unter Zuziehung eines oder mehrerer Sachverständiger gehört werden (§ 671 Abs. 1 ZPO) 34 ). Zur Frage des Vormunds habe ich schon oben (S. 84) kurz Stellung genommen. Der Wirkungskreis des Vormunds ist nicht ganz der gleiche bei Minderjährigen und Volljährigen. Während der Vormund eines Minderjährigen das Recht und die Pflicht hat, für die Person und das Vermögen des Mündels zu sorgen, insbesondere den Mündel zu vertreten (§ 1793 BGB), das heißt, das Kind zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen (§ 1631 BGB), hat der Vormund eines Volljährigen für die Person des Mündels nur insoweit zu sorgen, als der Zweck der „Vormundschaft es erfordert" (§ 1901 BGB). Erziehungsmaßregeln wird er nur zur Bekämpfving der geistigen und sittlichen Mängel, die zur Entmündigung führten, treffen dürfen 35 ). Nach einer neuen Entscheidung des Bundesgerichtshofs hat er auch das Recht, sein Mündel in einer Trinkerheilanstalt oder Irrenanstalt unterzubringen (S. 155). Die Auswahl des Vormunds scheint mir so, wie sie jetzt gehandhabt wird, reformbedürftig. Handelt es sich um nahe Angehörige, so kann man sich im allgemeinen damit zufrieden geben. Sie haben ein Interesse daran, daß der Kranke zu seinem Recht kommt, und haben Verständnis für die Notwendigkeit der Entmündigung, besonders dann, wenn sie den Antrag selbst gestellt haben. Ausnahmen, bei denen egoistische Motive eine Rolle spielen, sind nach meinen Erfahrungen nicht gerade häufig. Oft aber wollen die nächsten Angehörigen das Amt nicht gern übernehmen, weil sie eine Entfremdung mit 33

34 36

) R G Z 6 8 , S . 4 0 4 ; STAUDINGER I , S . 5 4 3 ; R Ö H L , J Z 1 9 5 6 , S . 3 0 9 .

) RGZ 162, S. 36; D R 1939, S. 1520. ) Jahrbuch für Entscheidungen des Kammergerichts 43, S. 68.

15 L a n g e l ü d d e k e , G e r i c h t l i c h e Psychiatrie, 2. Auflage

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Bürgerliches Recht

dem Mündel oder — bei Trinkern — spätere Rache befürchten. Dann muß ein anderer als Vormund ausgewählt werden. Damit kann man nun als Psychiater wenig erfreuliche Erfahrungen machen 36 ). Das Verständnis mancher Vormünder für geistige Abwegigkeiten ist erschreckend gering; sie bemerken, wenn sie einmal mit ihrem Mündel sprechen, diese Abwegigkeiten nicht, halten es für gesund, die Entmündigung für Schikane oder üble Berechnung der Angehörigen. Manche kümmern sich überhaupt nicht um ihr Mündel. Jedenfalls habe ich oft genug den Eindruck gehabt, daß eine ausreichende Fürsorge durch den Vormund nicht gewährleistet wird. Auch bei den Trinkern fehlt es einfach an den dafür nötigen Kenntnissen. Der Vormund hat hier oft genug kein Verständnis für die Notwendigkeit der absoluten Abstinenz und steht der Ansicht des Arztes, daß es in solchen Fällen nur Abstinenz oder übermäßiges Trinken gäbe, zweifelnd gegenüber. Ich glaube, daß namentlich in den großen Städten der hauptamtlich tätige Berufsvormund das zu erstrebende Ziel ist —, der Berufsvormund, der sich seiner Mündel annehmen kann, sie regelmäßig aufsucht oder zu sich kommen läßt und der sich Kenntnisse auch hinsichtlich der seelischen Beschaffenheit aneignen kann. § 6 BGB bestimmt, daß die Entmündigung wieder aufzuheben ist, wenn der Grund der Entmündigung fortfällt. Das kann durch eine Änderung der äußeren Verhältnisse oder durch eine Änderung des Zustandes des Entmündigten geschehen. Die äußeren Verhältnisse können sich vereinfacht haben, der Kreis der Angelegenheiten kleiner geworden sein; andererseits kann der Zustand des Patienten sich gebessert haben, sei es, daß seine Psychose nach längerer Dauer eine Remission zeigt, daß bei Psychopathen eine Reifung der Persönlichkeit stattgefunden hat, daß Trinker längere Zeit gezeigt haben, daß sie ohne Alkohol zu leben imstande sind. Über die Art des Vorgehens bestimmt die Zivilprozeßordnung: § 675. Die Wiederaufhebung der Entmündigung erfolgt auf Antrag des Entmündigten oder desjenigen gesetzlichen Vertreters des Entmündigten, dem die Sorge für die Person zusteht, oder des Staatsanwalts durch Beschluß des Amtsgerichts. § 679. (1) Wird der Antrag auf Wiederaufhebung von dem Amtsgericht abgelehnt, so kann sie im Wege der Klage beantragt werden. (2) Zur Erhebung der Klage ist derjenige gesetzliche Vertreter des Entmündigten, dem die Sorge für die Person zusteht, und der Staatsanwalt befugt. (3) Will der gesetzliche Vertreter die Klage nicht erheben, so kann der Vorsitzende des Prozeßgerichts dem Entmündigten einen Rechtsanwalt als Vertreter beiordnen. (4) Auf das Verfahren sind die Vorschriften der §§ 665 bis 667, 669 bis 674 entsprechend anzuwenden.

Im ganzen sei man vorsichtig mit der Wiederbemündigung, insbesondere dann, wenn schwierigere Angelegenheiten vorliegen, oder wenn die Zeit der 36

) Dazu LEIBBRAND, Ärztl. Sachverst. Ztg. 37, 1931, S. 307.

Die Entmündigung

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Besserimg noch zu kurz ist. Das gilt namentlich für Manisch-Depressive, die in ihren manischen Phasen schnell erhebliehen Schaden anrichten können. Sehr wünschenswert wäre es, wenn man die Entmündigung auf Süchtige aller Art ausdehnen könnte 37 ). Ich denke dabei vornehmlich an Morphium und andere Abkömmlinge des Opiums, aber auch an Mittel wie Phanodorm, Dolantin, Optalidon, Pervitin, Cliradon, Polamidon u. a. In seltenen Fällen führt auch der Nikotinmißbrauch zu einer Gefährdung der Gesundheit. Man hat vorgeschlagen, die Bestimmungen für die Entmündigung wegen Trunksucht auf die übrigen Suchten auszudehnen. Das ist jedoch nicht ausreichend. Der Alkohol ist ein Genußmittel, das, in mäßigen Mengen genossen, die Lebensfreude erhöhen kann, ohne der Gesundheit zu schaden oder die Besorgung der Angelegenheiten zu beeinträchtigen. Nur bei dem verhältnismäßig kleinen Hundertsatz, der nicht maßzuhalten versteht, ist daher die Entmündigung erforderlich. Bei den übrigen Suchtmitteln ist aber die Gefahr viel größer. Das gilt für Opium, Morphium, Heroin, Dicodid, Acedicon, Kokain, aber auch für die oben genannten Mittel wie Phanodorm usw., die hier nicht besonders aufgezählt zu werden brauchen. Hier kann schon nach wenigen Einspritzungen oder anderweitigem Genuß, z. B. Schnupfen, sich eine unbezähmbare Sucht entwickeln, die aus eigener Kraft in den seltensten Fällen überwunden werden kann, und die mit geringen Ausnahmen zu Persönlichkeitsveränderungen mehr oder weniger schwerer Art, zu beruflichem Versagen, zu kriminellen Handlungen führt. Die Aussichten für eine Heilung sind um so besser, je früher die entsprechenden Maßnahmen eingeleitet werden. Bei diesen Suchten gilt es daher, so früh wie möglich einzugreifen. Bisher war es nur möglich, die Entmündigung auf dem Umwege über die Geistesschwäche zu erreichen, aber erst dann, wenn es schon zu spät war, wenn schon erhebliche Gesundheitsschäden eingetreten waren. Es müßte aber möglich sein, die Entmündigung durchzuführen, bevor das geschehen ist. Dazu reicht aber der § 6 , 3 BGB nicht aus: ihre Angelegenheiten können Süchtige meistens noch lange besorgen; die Sicherheit anderer gefährden sie nur ausnahmsweise; daß sie sich oder ihre Familie der Gefahr des Notstandes aussetzen, würde das häufigste Argument für die Entmündigung sein. Aber auch dieses versagt, wenn es sich um wohlhabende Süchtige handelt, bei denen die Ausgaben für die Suchtmittel keine Rolle spielen. Auch diese Süchtigen haben aber ein Anrecht auf Schutz vor ihrer eigenen Sucht. Ich habe schon früher Vorschläge gemacht, um diesem Übelstande abzuhelfen 38 ). Etwas abgewandelt wiederhole ich diesen Vorschlag: 3? ) Auch F r a e b verlangt Ausdehnung der §§ 6 und 114 B G B auf die Alkaloidsüchtigen (JW 1928, S. 2205; ebenso in „Die straf- und zivilrechtliche Stellungnahme gegen den Rauschgiftmißbrauch", Leipzig 1927, S. 235). Ebenso M e g q e n d o r f e r , Fortschr. 10, 1938, S. 3; V i l l i n g e r , Der Nervenarzt 14, 1941, S. 405 und andere. 38 ) ZNeur. 158, 1937, S. 439 u. DZgM 27, 1937, S. 298. Dort habe ich im Anschluß an andere Autoren auch die zwangsweise Entziehung vorgeschlagen.

15«

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Bürgerliches Recht

Entmündigt werden kann: Wer infolge Rauschgiftsucht oder Arzneimittelsucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag, oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt, oder sich oder andere gefährdet.

Der Schwerpunkt liegt hier auf der Gefährdung der eigenen Person. Jeder Rauschgiftsüchtige läuft Gefahr, früher oder später kriminell zu werden; er gefährdet auch seine Gesundheit, und zwar sowohl die körperliche als auch die psychische in erheblicher Weise. Auf diese Weise könnte man Rauschgiftsüchtige rechtzeitig entmündigen, sie zur Behandlung bringen und könnte sie nach der Entziehung noch genügend lange unter Aufsicht halten. Auch in diesen Fällen sollte die Staatsanwaltschaft schon wegen der Gefahr krimineller Entgleisungen antragsberechtigt sein und ebenso die für die Entmündigung wegen Trunksucht antragsberechtigten Behörden. Zweckmäßig wäre es m. E., wenn man die Trunksüchtigen ebenso behandeln und daher formulieren würde: „wer infolge Trunksucht oder Rauschgiftsucht...". Über die Wirkungen der Entmündigung können wir uns kurz fassen. Der wegen Geisteskrankheit Entmündigte ist geschäftsunfähig (§ 104, 3 BGB); alle anderen Entmündigten gelten als beschränkt geschäftsfähig, auch der unter vorläufige Vormundschaft Gestellte. Die Einzelheiten sind bereits im vorigen Kapitel besprochen.

4. Die

Pflegschaft

Wir haben bisher zwei Formen der Fürsorge für Geisteskranke kennengelernt : die Entmündigung wegen Geisteskrankheit und die Entmündigung wegen Geistesschwäche. Ihnen schließt sich als dritte, leichteste Form die Pflegschaft an, durch die die rechtlichen Fürsorgebestimmungen zu einem System abgerundet werden, das nur wenig Schwächen aufweist. Der Hauptunterschied zwischen Vormundschaft und Pflegschaft besteht darin, daß der Entmündigte stets in seiner Geschäftsfähigkeit mindestens beschränkt ist, während derjenige, der unter Pflegschaft steht, zwar gleichfalls geschäftsbeschränkt oder sogar geschäftsunfähig sein kann, es aber nicht notwendig zu sein braucht. Ein zweiter Unterschied besteht darin, daß die Vormundschaft stets eine allgemeine Fürsorge ist, während die Pflegschaft sich in der Regel auf die Sprge für einen bestimmten Kreis von Angelegenheiten beschränkt. Das Bürgerliche Gesetzbuch kennt zwei Gruppen von Pflegschaften: einmal solche, die neben der elterlichen Gewalt oder der Vormundschaft erforderlich werden, weil aus irgendeinem Grunde die Vertretung durch die Eltern oder den Vormund nicht ausreicht, und eine zweite Gruppe, die für besondere Fälle eingesetzt wird. Uns interessiert an dieser Stelle von diesen Möglichkeiten nur die Pflegschaft über Gebrechliche. Darüber bestimmt der § 1910 BGB: 1. Ein Volljähriger, der nicht unter Vormundschaft steht, kann einen Pfleger für seine Person und sein Vermögen erhalten, wenn er infolge körperlicher Gebrechen, insbesondere, weil er taub, blind oder stumm ist, seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag.

Die Pflegschaft

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2. Vermag ein Volljähriger, der nicht unter Vormundschaft steht, infolge geistiger oder körperlicher Gebrechen einzelne seiner Angelegenheiten oder einen bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten, insbesondere seine Vermögensangelegenheiten nicht zu besorgen, so kann er für diese Angelegenheiten einen Pfleger erhalten. 3. Die Pflegschaft darf nur mit Einwilligung des Gebrechlichen angeordnet werden, es sei denn, daß eine Verständigung mit ihm nicht möglich ist.

Wichtig sind in diesem Zusammenhange noch die folgenden Bestimmungen: § 1915, 1. Auf die Pflegschaft finden die für die Vormundschaft geltenden Vorschriften entsprechende Anwendung, soweit sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt. § 1918, 3. Die Pflegschaft zur Besorgung einer einzelnen Angelegenheit endigt mit deren Erledigung. § 1919. Die Pflegschaft ist von dem Vormundschaftsgericht aufzuheben, wenn der Grund für die Anordnung der Pflegschaft weggefallen ist. § 1920. Eine nach § 1910 angeordnete Pflegschaft ist von dem Vormundschaftsgericht aufzuheben, wenn der Pflegebefohlene die Aufhebung beantragt.

Einer Erläuterung bedarf zunächst die Frage, was unter „geistigem Gebrechen" zu verstehen ist. Manche Autoren haben die Ansicht vertreten 1 ), daß damit eine weitere Abstufung auf der Stufenleiter Geisteskrankheit, Geistesschwäche gemeint sei, denen sich das geistige Gebrechen in leichtester Form anschlösse. Diese Auffassung ist sicher falsch. Der Begriff umfaßt vielmehr alle geistigen Abweichungen von der Norm, von den leichtesten bis zu den schwersten, auch solche, die ihren Träger geschäftsunfähig nach § 104, 2 BGB oder entmündigungsreif wegen Geisteskrankheit erscheinen lassen2). Hier spielen nur praktische Erwägungen eine Rolle: Es würde eine starke Belastung der Gerichte sein und außerdem hohe Kosten verursachen, wollte man jeden Menschen, der entmündigungsreif ist, entmündigen. Die Praxis zeigt, m. E. mit Recht, Neigung, sich mit der Anordnung einer Pflegschaft auch dort zu begnügen, wo an sich die rechtlichen Voraussetzungen für eine Entmündigung wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche vorliegen würden 3 ). In unseren Heilanstalten ist die große Mehrzahl der Insassen, auch der geschäftsunfähigen, nicht entmündigt, weil in der Regel kein Bedürfnis dazu vorliegt, weil die geringfügigen Angelegenheiten, die für sie besorgt werden müssen, von den nächsten Angehörigen miterledigt werden. Nun aber kommt es ziemlich häufig vor, daß bei diesen Kranken, die im übrigen Angelegenheiten, die sie zu besorgen hätten, kaum haben, irgendeine Frage auftaucht, zu deren Erledigung ein gesetzlicher Vertreter erforderlich ist. Zwei Beispiele mögen das kurz zeigen: Ein Kranker, für den bisher die Krankenkasse den Aufenthalt in der Anstalt bezahlt hat, verliert diese Vergünstigung. An ihre Stelle tritt die Invalidenrente, die nun von der Anstalt beansprucht x 2

) Nach VORKASTNER, S. 315.

) R G J W 1 9 0 6 , S . 3 7 ; R G Z 5 2 , S . 2 4 0 ; STAUDINGER I , S . 7 8 . 3 ) STAUDINGER I , S . 7 8 .

Bürgerliches Recht

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wird. Zur Abtretung bedarf es der Erklärung eines gesetzlichen Vertreters. Für diesen Kreis der Angelegenheiten kann dem Kranken ein Pfleger bestellt werden. Ebenso ist etwa die Bestellung eines Pflegers im Ehescheidungsprozeß erforderlich, wenn der andere Ehegatte auf Scheidung wegen Geisteskrankheit klagt. Aus dem bisher Gesagten geht schon hervor, daß nicht die Gesamtheit der Angelegenheiten, sondern nur einzelne, oder ein bestimmter Kreis von Angelegenheiten betroffen sein muß. Dieser Kreis kann einzelne Vermögensangelegenheiten, Rechtsstreitigkeiten, aber auch die Person betreffen. Der letztgenannte Fall kann eintreten, wenn es etwa bei einer mit Lebensgefahr verbundenen Behandlung zweckmäßig erscheint, vorher die Zustimmung eines gesetzlichen Vertreters einzuholen. Der vom Vormundschaftsgericht bestellte Pfleger hat nur das Recht, innerhalb des ihm vorgezeichneten Kreises für den Gebrechlichen tätig zu sein. Erweitert sich etwa der zu erledigende Kreis der Angelegenheiten, so müssen seine Befugnisse dementsprechend gleichfalls erweitert werden. Der einem Geschäftsfähigen beigeordnete Pfleger ist nur staatlich bestellter Bevollmächtigter 4 ). Er hat nach den Weisungen des Pfleglings zu handeln; im Falle der Meinungsverschiedenheit gilt die Meinung des Pfleglings. Die Geschäfts- und Prozeßfähigkeit eines geschäftsfähigen Kranken wird durch die Bestellung eines Pflegers nicht berührt. Gewisse Schwierigkeiten gibt es manchmal bei der Frage nach der Verständigungsmöglichkeit. Manche Gerichte legen sie reichlich weit aus. Aus Entscheidungen oberster Gerichte ergibt sich jedoch eindeutig, daß der Pflegling nicht allein imstande sein muß, Sinn und Wesen der Pflegschaft zu verstehen, sondern daß er auch eine auf vernünftigen Erwägungen beruhende Willensmeinung äußern kann 5 ), die unbeeinflußt von krankhaften Vorstellungen ist. Das ist besonders wichtig bei Querulanten, deren Zustimmung zur Pflegschaft kaum einmal zu erreichen ist, und bei denen stets die Gefahr besteht, daß sie sie wieder zurückziehen. Hier ist eine Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 7. 1. 1913 bedeutsam 6 ), die im Anschluß an eine Reichsgerichtsentscheidung (RGZ 65, S. 200) die Verständigung mit einem Querulanten als ausgeschlossen bezeichnet. Ist der Kranke geschäftsunfähig, so ist auch eine Verständigung mit ihm als nicht möglich von höchsten Gerichten anerkannt 7 ). Ist aber eine Verständigung ausgeschlossen, so kann die Pflegschaft unabhängig von der Einwilligung des Betreffenden eingeleitet werden 8 ). Ein geschäftsunfähiger Geisteskranker kann auch gegen die Anordnung einer Pflegschaft nach § 1910 Abs. 2 BGB nicht 4

) ) 8 ) 7 )

6

8

Das Recht 33, 1929, S. 396. OLG München, Zschr. f. Rechtspflege in Bayern 3, 1907, S. 151. Wichtige Entsch. 13. Folge, S. 48. Nach RUMKE, Ztschr. Akad. Atsch. Recht 2, 1935, S. 167.

) R G J W 1 9 0 6 , S . 3 7 6 , 1 9 0 7 , S . 1 9 8 ; STAUDINGER I , S . 7 9 .

Prozeß- und Eidesfähigkeit

231

selbständig Beschwerde einlegen9). Da diese Entscheidungen, wie B U M S E meint, nicht überall bekannt sind, schlägt er vor, dem § 1910 anzufügen: „Eine Verständigung ist nicht möglich, wenn der Gebrechliche geschäftsunfähig i s t . "

Wenn der geschäftsiähige Pflegebefohlene die Aufhebung der Pflegschaft beantragt, so muß diesem Antrage stattgegeben werden. Ist er geschäftsunfähig, so kann er eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung nicht abgeben, sein Antrag verdient daher keine Beachtung 10 ). In der Regel wird vor der Aufhebung der Pflegschaft der Sachverständige vom Gericht gefragt, wie der Geisteszustand des Pfleglings sei, und ob das Bedürfnis nach Pflegschaft fortgefallen sei oder noch bestehe.

5. Prozeß- und

Eidesfähigkeit

Mit der Präge der Geschäftsfähigkeit hängt zusammen die Prozeßfähigkeit, die Eidesfähigkeit und die Testierfähigkeit. Die Prozeßfähigkeit 1 ) ist geregelt durch den § 52 der Zivilprozeßordnung. Dieser lautet in seinem Absatz 1: Eine Person ist insoweit prozeßfähig als sie sich durch Verträge verpflichten kann.

Demnach ist prozeßunfähig der Geschäftsunfähige, also das Kind unter 7 Jahren, der Geschäftsunfähige aus § 104, 2 BGB und der wegen Geisteskrankheit Entmündigte. Für den letzteren gilt eine Ausnahme: er ist prozeßfähig für die Anfechtungsklage im eigenen Entmündigungsverfahren (§ 664 Abs. 2 ZPO), er kann auch selbst die Wiederaufhebung der Entmündigung beim Amtsgericht beantragen (§ 675 ZPO). Außerdem ist auch der von einer Freiheitsentziehung betroffene angeblich Geisteskranke prozeßfähig, und zwar auch dann, wenn er gemäß § 104, 2 BGB geschäftsunfähig ist, wenn seine Klage sich gegen seine Unterbringung in einer Heilanstalt oder gegen die Fortdauer der Anstaltsverwahrung richtet. Das wird damit begründet, daß in diesem Falle das Bedürfnis nach einem Rechtsschutz ohne Mitwirkung dritter Personen für den Kranken noch stärker sei, als im Falle der Entmündigung 2 ). Der Minderjährige, der wegen Geistesschwäche, Verschwendung oder Trunksucht Entmündigte ist beschränkt geschäftsfähig. Er ist im allgemeinen prozeßunfähig 3 ), gilt aber in gewissen Fällen als voll geschäftsfähig und ») R G Z 145, S. 284; BGBZ 15, S. 262. ) Entscheidungen in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit I, S. 134 und 7, S. 82. 1 ) Dazu RÖHL, Prozeßfähigkeit Geisteskranker. J Z 1956, S. 309. 2 ) OVG Berlin Urteil vom 23. 7. 1952. J Z 1953, S. 186; ebenso OVG Münster, Beschl. vom 24. 11. 1952. J Z 1953, S. 187 und B G H Urteil vom 12. 11. 1954, J Z 1955, S. 242. Das Berliner Urteil verweist auf ZWEIGEBT, der die gleiche Meinung in einer Arbeit „Die Verfassungsbeschwerde" J Z 1952, S. 325 vertreten hat. 3 ) OLG Dresden. D R 1940, S. 821. 10

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Bürgerliches Recht

damit auch als voll prozeßfähig. Diese Ausnahme gilt zunächst im eigenen Entmündigungsverfahren, ferner wenn der Entmündigte vom gesetzlichen Vertreter mit Genehmigung des Yormundschaftsgerichts zum selbständigen Betrieb eines Erwerbsgeschäfts ermächtigt ist. In diesem Falle ist der Entmündigte für solche Rechtsgeschäfte unumschränkt geschäftsfähig und damit prozeßfähig, welche der Geschäftsbetrieb mit sich bringt 4 ). Das gleiche gilt für Prozesse solcher Art, die mit einem durch den gesetzlichen Vertreter gebilligten Arbeits- oder Dienstverhältnis zusammenhängen (§§ 112, 113, 114 BGB). Auch in Ehesachen gilt der in der Geschäftsfähigkeit beschränkte Ehegatte als prozeßfähig (§ 612 ZPO). Gelegentlich wird nun der Sachverständige, ohne daß eine Entmündigung vorliegt oder etwa die Feststellung der Geschäftsunfähigkeit getroffen ist, nach der Prozeßfähigkeit einer Person gefragt. Dann kann man folgendes Verfahren einschlagen: man untersucht zunächst, ob generelle Geschäftsunfähigkeit gemäß § 104, 2 BGB vorliegt. Ist das der Fall, ist auch die Prozeßfähigkeit zu verneinen. Damit ist jedoch die gestellte Frage noch nicht ausreichend beantwortet. Es kann nämlich sein, daß die Prozeßführung mit irgendwelchen wahnhaften Vorstellungen zusammenhängt, die sich nur um einen Komplex drehen, während die übrige Persönlichkeit intakt erscheint. Dann kann von einer auf ein bestimmtes Gebiet beschränkten Geschäftsunfähigkeit und damit auch von einer beschränkten Prozeßunfähigkeit gesprochen werden. Dieser Gedanke ist auch in der Rechtsprechung anerkannt 5 ), aber auf zwei bestimmte Gebiete, nämlich den Eifersuchtswahn in Ehesachen und den Querulantenwahn beschränkt. In solchen Fällen, in denen die Prozeßführung von krankhaften Vorstellungen bestimmt wird, kann die betreffende Person, ohne generell geschäftsunfähig zu sein und ohne daß ein Entmündigungsbedürfnis vorliegt, für prozeßunfähig erklärt werden. Läßt sich nach Erschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht klären, ob eine Partei zu einem bestimmten Zeitpunkt geistesgestört im Sinne des § 104, 2 BGB war, so kann sie gleichfalls nicht als prozeßfähig angesehen werden (BGHZ 18, S. 184). Das hat zur Folge, daß der Prozeß nur nach Bestellung eines gesetzlichen Vertreters weiter geführt werden kann, der dann die Klage zurückziehen oder auf das Erreichbare beschränken kann. § 53 ZPO. Wird in einem Rechtsstreit eine prozeßfähige Person durch einen Pfleger vertreten, so steht sie für den Rechtsstreit einer nicht prozeßfähigen Person gleich.

Der geistig Gebrechliche, der mit seiner Zustimmung einen Pfleger erhalten hat, bleibt an sich geschäftsfähig und prozeßfähig. Hat er aber selber seinen Pfleger mit der Vertretung in einem Rechtsstreit beauftragt oder ver4

) Ausgenommen davon sind nur solche Rechtsgeschäfte, zu denen der gesetzliche Vertreter der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bedarf. 6 ) BGH in „Das Recht" 1953, Nr. 435, H R R 1934, Nr. 42, RGZ 162, S. 228, BGHZ 18, S. 184.

Geisteskrankheit und Testierfähigkeit

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t r i t t ihn der Pfleger aus anderen Gründen in einem Rechtsstreit, so verliert er f ü r diesen Rechtsstreit — aber nur für diesen — seine Prozeßfähigkeit. Für den Psychiater ist diese Vorschrift ohne größere praktische Bedeutung. Der geistig Gebrechliche, für den ohne oder gegen seinen Willen ein Pfleger bestellt ist, weil eine Verständigung mit ihm nicht möglich war, ist auch f ü r das Pflegschaftsverfahren prozeßunfähig, kann daher gegen die Pflegerbestellung keine Beschwerde einlegen; das Reichsgesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit enthält keine dem § 664 ZPO entsprechende Sonderregelung. Die Eidesfähigkeit im bürgerlichen Rechtstreit ist durch den § 455 ZPO geregelt. Dieser lautet in der Fassung vom 20. 9. 1950: (1) Ist eine Partei nicht prozeßfähig, so ist vorbehaltlich der Vorschrift im Abs. 2 ihr gesetzlicher Vertreter zu vernehmen. Sind mehrere gesetzliche Vertreter vorhanden, so gilt § 449 entsprechend. (2) Minderjährige, die das sechzehnte Lebensjahr vollendet haben, sowie Volljährige, die wegen Geistesschwäche, Verschwendung oder Trunksucht entmündigt sind oder unter vorläufige Vormundschaft gestellt sind, können über Tatsachen, die in ihren eigenen Handlungen bestehen oder Gegenstand ihrer Wahrnehmung gewesen sind, vernommen und auch nach § 452 beeidigt werden, wenn das Gericht dies nach den Umständen des Falles für angemessen erachtet. Das gleiche gilt von einer prozeßfähigen Person, die in dem Rechtsstreit durch einen Pfleger vertreten wird.

Danach können Prozeßunfähige nicht vereidigt werden, wohl aber Prozeßbesehränkte. Man sollte mit der Vereidigung auch der wegen Geistesschwäche Entmündigten sehr zurückhaltend sein; am besten wäre es, man vereidigte geistig Abnorme überhaupt nicht; denn ob ein geistig Abnormer imstande ist, wahrheitsgemäß auszusagen, vermag auch der beste Richter nicht zu beurteilen. Ich habe im strafrechtlichen Teil (S. 186) schon darauf hingewiesen, daß namentlich leicht Manische, die bei einer Vernehmung vor Gericht durchaus gesund wirken können und deren Aussagen leicht geglaubt wird, weil sie selbst daran glauben, und weil ihre innere Überzeugung auf den Richter entsprechend wirkt, vielfach die Tatsachen auf das Gröbste verdrehen. Sie sind geradezu gefährliche Zeugen. Anders liegen die Dinge bei Personen, die wegen Trunksucht entmündigt sind; hier bestehen keine nennenswerten Bedenken gegen ihre Vereidigung.

6. Geisteskrankheit

und

Testierfähigkeit

Die Vorschriften über die Errichtung und Aufhebung eines Testaments sind durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Gesetzeseinheit vom 5. 3.1953 wieder in das Bürgerliche Gesetzbuch übernommen, und zwar mit nur geringen Änderungen gegenüber dem vorher gültigen „Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen" vom 31. 7. 1938 (TestG). Das BGB unterscheidet ordentliche und außerordentliche Testamentsformen. Die ordentliche Testamentsform besteht entweder in der Errichtung vor einem Richter oder vor einem Notar (§ 2231) oder in einer vom Erblasser

234

Bürgerliches Recht

eigenhändig geschriebenen und unterschriebenen Erklärung (§ 2247). Dabei soll der Erblasser angeben, zu welcher Zeit (Tag, Monat, Jahr) und an welchem Ort er die Erklärung niedergeschrieben hat, und er soll mit Vor- und Familiennamen unterzeichnen, da sonst Zweifel an der Gültigkeit des Testaments entstehen können. Diese Form kommt für Minderjährige oder Personen, die Geschriebenes nicht zu lesen vermögen, nicht in Betracht. Der Richter oder Notar soll sich davon überzeugen, daß der Erblasser testierfähig ist. Er soll seine Wahrnehmungen über die Testierfähigkeit in der Niederschrift angeben (§ 2241a III). Bei festgestellter oder höchstwahrscheinlicher Testierunfähigkeit soll er die Beurkundung ablehnen, nicht aber bei bloßen Zweifeln. Diese sollen freilich dem Erblasser mitgeteilt werden, und es soll der Inhalt der Mitteilung und die hierauf vom Erblasser abgegebenen Erklärungen in der Niederschrift festgestellt werden (§ 2241b II). Daneben sind als außerordentliche Testamentsformen zugelassen die Errichtung vor dem Bürgermeister oder Vorsteher eines Gutsbezirks oder deren Vertreter in Gegenwart von zwei Zeugen und die Errichtung durch mündliche Erklärung von drei Zeugen. Die erstere dieser Möglichkeiten kommt bei Lebensgefahr (§ 2249) und Verkehrssperre (§ 2250), die zweite bei Verkehrssperre bei so naher Todesgefahr, daß der Bürgermeister usw. nicht mehr zu erreichen ist (§ 2250) und bei Seereisen (§ 2251) in Betracht. Die außerordentlichen Testamentsformen gelten nur für eine beschränkte Zeit (§ 2252). Hinsichtlich der Zeugen bestehen gewisse Einschränkungen, die zusammengefaßt im wesentlichen besagen, daß nahe Verwandte und am Testament Interessierte als Zeuge nicht mitwirken können (§§ 2334ff.). Für den Psychiater haben die folgenden Bestimmungen Bedeutimg: § 2064. Der Erblasser kann ein Testament nur persönlich errichten. § 2229. I. Ein Minderjähriger bann ein Testament erst errichten, wenn er das sechzehnte Lebensjahr vollendet hat. II. Der Minderjährige oder ein unter vorläufige Vormundschaft gestellter Volljähriger bedarf zur Errichtung eines Testaments nicht der Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters. III. Wer entmündigt ist, kann ein Testament nicht errichten. Die Unfähigkeit tritt schon mit der Stellung des Antrags ein, auf Grund dessen die Entmündigung ausgesprochen wird. IV. Wer wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder wegen Bewußtseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, kann ein Testament nicht errichten. § 2230. I. Hat ein Entmündigter ein Testament errichtet, bevor der Entmündigungsbeschluß unanfechtbar geworden ist, so steht die Entmündigung der Gültigkeit des Testaments nicht entgegen, wenn der Entmündigte noch vor dem Eintritt der Unanfechtbarkeit stirbt. II. Hat ein Entmündigter nach der Stellung des Antrags auf Wiederaufhebung der Entmündigung ein Testament errichtet, so steht die Entmündigung der Gültigkeit des Testaments nicht entgegen, wenn die Entmündigung auf Grund des Antrags wiederaufgehoben wird.

Geisteskrankheit und Testierfähigkeit

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§ 2253. I. Der Erblasser kann ein Testament sowie eine einzelne in einem Testament enthaltene Verfügung jederzeit widerrufen. II. Die Entmündigung des Erblassers wegen Geistesschwäche, Verschwendung oder Trunksucht steht dem Widerruf eines vor der Entmündigung errichteten Testaments nicht entgegen.

Der § 2229 Abs. 4 ist für die Testamentserrichtung an die Stelle der §§ 104 Abs. 2 und 105 BGB getreten; er bildet gewissermaßen eine Unterart der Geschäftsfähigkeit und ist in m. E. zweckmäßiger Weise dem Wortlaut des § 51 StGB angeglichen. Daß wegen Geisteskrankheit Entmündigte nicht testierfähig sind, ist selbstverständlich. Fraglich könnte es sein, ob der beschränkt geschäftsfähige Entmündigte ein Testament errichten kann. Das wird durch den § 2229 Z. I I I ausdrücklich verneint. Eine Ausnahme davon macht nur der § 2230 Z. I, der bestimmt, daß das Testament eines Entmündigten Geltung haben soll, sofern dieser stirbt, bevor der Entmündigungsbeschluß unanfechtbar geworden ist. Das hindert natürlich nicht, das Testament anzufechten mit der Behauptung, der Erblasser sei zur Zeit der Errichtung des Testaments testierunfähig gewesen. Die Testierunfähigkeit muß dann freilich von dem Anfechtenden bewiesen werden. Widerspruchsvoll erscheinen zunächst die Absätze 2 und 3 des § 2229. Danach kann der unter vorläufige Vormundschaft gestellte Volljährige ein Testament errichten, der endgültig Entmündigte jedoch nicht; der letztere wird schon mit Stellung des Entmündigungsantrags dazu unfähig. Nun kann jemand unter vorläufige Vormundschaft nur dann gestellt werden, wenn ein entsprechender Antrag vorliegt. In einem Falle scheint also der Entmündigungsantrag für die Errichtung eines Testaments hinderlich zu sein, im anderen Falle nicht. Der Widerspruch wird dadurch behoben, daß es im Falle der vorläufigen Vormundschaft auf den weiteren Verlauf des Verfahrens ankommt. Bleibt es bei der vorläufigen Vormundschaft, so ist das Testament gültig; wird sie durch die endgültige Entmündigung abgelöst, so wird es ungültig. An den Sachverständigen treten im wesentlichen zwei Fragen heran: Einmal soll er sich gutachtlich über den Geisteszustand des verstorbenen Erblassers zur Zeit der Testamentserrichtung äußern. Diese Gutachten sind recht schwierig. Sie stützen sich ja nur auf Berichte von oft genug am Ausgang der Sache interessierten Zeugen. Schon oben ist darauf hingewiesen (S. 206), daß in solchen Fällen nicht der Stammtischbruder, sondern die Hausangestellte der bessere Zeuge ist. Schriftstücke aus früherer und aus der letzten Zeit, in manchen Fällen der verständliche oder unverständliche Inhalt des Testaments, die Neigung sich verwahrlosen zu lassen u. dgl., können Anhaltspunkte für die Begutachtung werden. Dagegen ist es nicht zulässig, die Testierfähigkeit nach der Schwierigkeit des Testaments abzustufen 1 ). Auch hier ist darauf hinzuweisen, daß für die Annahme von Testierunfähigkeit bloße Zweifel nicht genügen, daß vielmehr ein sehr hoher Grad !) N J W 1949, S. 544; MDR 1950, S. 731.

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Bürgerliches Recht

von Wahrscheinlichkeit gefordert werden muß. Die gewöhnlichen Alterserscheinungen (Nachlassen der Merkfähigkeit, Einengung der Interessen) allein genügen kaum einmal, da die Errichtung des Testaments keine rein verstandesmäßige Angelegenheit ist, sondern sehr wesentlich von gefühlsmäßigen Einstellungen abhängt. Auch das Vorliegen einer reaktiven Depression berechtigt im Gegensatz zur endogenen Depression m. E. selbst dann nicht zur Annahme von Testierunfähigkeit, wenn der Erblasser im Anschluß an die Errichtung des Testaments Selbstmord begangen hat. Auch in diesen Fällen hat man das Für und Wider sorgfältig abzuwägen. Die zweite seltenere Möglichkeit besteht darin, daß der Sachverständige zur Errichtung des Testaments mit herangezogen wird, daß er ein Gutachten über den Erblasser bei dieser Gelegenheit abgibt, um dessen Willen vor jeder späteren Anfechtung zu sichern. Auch dabei sollte man vorsichtig und mit aller Gründlichkeit verfahren; namentlich sollte man die Gründe für etwaige Abweichungen vom Gewöhnlichen aufzuklären suchen. Tatsächlich besteht bei der Testamentserrichtung alter Menschen die Gefahr, daß sie sich von Personen, die mit ihnen regelmäßig zu tun haben, nach der einen oder anderen Richtung hin beeinflussen lassen; sicher werden zahlreiche Testamente vollstreckt, die der Erblasser bei voller geistiger Gesundheit niemals errichtet hätte. KBETJSEB hat vorgeschlagen2), daß bei erheblichen Abweichungen von der gewöhnlichen Erbfolge eine ausführliche Begründung dafür gegeben werden solle, um so eine bessere Grundlage für die etwaige spätere psychiatrische Begutachtung zu schaffen. BUMKE3) hält diese Forderung vom psychiatrischen Standpunkt aus nicht für so wichtig, daß sie zum psychiatrischen Postulat erhoben werden müßte. Er weist auf die Möglichkeit der rechtzeitigen Entmündigung hin, um die Angehörigen vor unliebsamen Überraschungen zu schützen, betont freilich auch, daß von dieser Möglichkeit aus begreiflichen Gründen wenig Gebrauch gemacht wird. Die Ausnützung der Todesnot, die nach § 48 TestG eine Verfügung von Todes wegen nichtig machte, ist ins BGB zwar nicht übernommen, doch kann eine letztwillige Verfügung angefochten werden, soweit der Erblasser widerrechtlich durch Drohung zu ihr bestimmt worden ist (§ 2078 II). Eine Drohung kann auch in der Ausnützung der Todesnot liegen, doch muß dann die Art, in der auf ihn Einfluß genommen wurde, nach den gesamten Umständen sittlich anstößig sein4). Eine solche Ausnutzung, ein solcher Druck könnte für die Frage der Testierfähigkeit namentlich dann bedeutsam werden, wenn er auf eine schon sonst nicht vollwertige Persönlichkeit ausgeübt ist. Kurz hingewiesen sei schließlich noch auf die Vorschriften über den Abschluß eines Erbvertrages. Auch einen Erbvertrag kann der Erblasser nur 2

) Jur.-psychiatr. Grenzfragen IV, H. 7/8. ) Gerichtliche Psychiatrie, S. 86. 4 ) BGH Urt. vom 28. 3. 1956 NJW 1956, S. 988. 3

Die Deliktfähigkeit

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persönlich schließen (§ 2274), und er muß dazu unbeschränkt geschäftsfähig sein (§ 2275 I); nur wenn ein Ehegatte als Erblasser mit seinem Ehegatten einen Erbvertrag schließt, genügt es, wenn er beschränkt geschäftsfähig ist (§ 2275 II). Das gilt auch bei Verlobten (§ 2275 III). Dabei ist abweichend von der Testierfähigkeit die Ausdrucksweise des § 104 Abs. 2 BGB beibehalten.

7. Die

Deliktfähigkeit

Unter Deliktfähigkeit versteht man die Fähigkeit, unerlaubte Handlungen verantwortlich, d. h. schuldhaft zu begehen. Eine unerlaubte Handlung ist, wie S t a t t d i n g e r sagt, die Verletzimg des Rechts eines anderen oder, wie v o n Liszt es ausdrückt, jede schuldhafte, rechtswidrige Verletzung fremder, rechtlich geschützter Interessen 1 ). F ü r derartige unerlaubte Handlungen ist der Täter dem Geschädigten schadenersatzpflichtig, gleichgültig, ob eine schuldhafte Handlung im Sinne des Strafrechts vorliegt oder nicht. Das BGB setzt eine solche Schadenersatzpflicht nicht für bestimmte unerlaubte Handlungen fest, sondern stellt für die Haftimg aus solchen Handlungen allgemeine Regeln auf. Dabei wird der Zweck verfolgt, einerseits den Rechtskreis des einzelnen gegen widerrechtliche Eingriffe zu schützen 2 ), andererseits die Ersatzpflicht dem Verschulden des Täters anzupassen. Die grundsätzliche Einstellung ergibt sich aus § 823 BGB, der im folgenden Kapitel behandelt werden soll3). Ihm schließen sich einige ergänzende Vorschriften an, die die Schädigung des Kredits oder des beruflichen Fortkommens (§ 824), die Geschlechtsehre (§ 825) und Verstöße gegen die guten Sitten (§ 826) betreffen. Aus den §§ 827 und 828 ergeben sich die Voraussetzungen für die Deliktunfähigkeit. § 827. Wer im Zustande der Bewußtlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden nicht verantwortlich. Hat er sich durch geistige Getränke oder ähnliche Mittel in einen vorübergehenden Zustand dieser Art versetzt, so ist er für einen Schaden, den er in diesem Zustande widerrechtlich verursacht, in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihm Fahrlässigkeit zur Last fiele; die Verantwortlichkeit tritt nicht ein, wenn er ohne Verschulden in den Zustand geraten ist. § 828. Wer nicht das 7. Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Wer das 7., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat. Das gleiche gilt von einem Taubstummen.

Daraus ergibt sich im wesentlichen folgendes: Kinder unter 7 Jahren gelten als nicht verantwortlich. Jugendliche zwischen 7 und 18 Jahren sind 2 3

Zitiert bei H ü b n e r , Lehrbuch der forensischen Psychiatrie, S. 576.

) Achilles-Greiff, S. 438.

) Wortlaut s. S. 239.

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Bürgerliches Becht

bedingt deliktfähig. Von ihnen wird „die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht" verlangt. Diese Formulierung sehließt sich eng an die Fassung des früheren § 56 StGB an, der nur die intellektuelle Seite des Täters berücksichtigte, die untere Altersgrenze aber erheblich höher festsetzte. Die Kritik an dieser Fassung hat beim Jugendstrafrecht vor über 20 Jahren zu einer Erweiterung, zur Berücksichtigung auch der Willensseite geführt. Insofern ist die Bestimmung des BGB als veraltet und nicht ausreichend anzusehen. Es wäre sehr zu wünschen, daß auch hier die Entwicklung der Willenseigenschaften berücksichtigt würde. Verlangt wird nicht die Erkenntnis selbst, sondern eine geistige Entwicklung, die den Handelnden fähig macht, seine Verantwortlichkeit zu erkennen. Eine Entscheidung des Reichsgerichts vom 5.12.1902 sagt dazu: „Die Erkenntnis der Verantwortlichkeit erschöpft sich nicht in dem Bewußtsein des Unrechts des widerrechtlichen Eingreifens in eine fremde Rechtssphäre ( P L A N C K Nr. 2a zu § 828 BGB), sie erfordert vielmehr auch ein Verständnis der Pflicht, für die Folgen der Handlung einzustehen. Die Erkenntnis der Verantwortlichkeit deckt sich nicht mit der Erkenntnis der Gefährlichkeit der Handlung, aber auch nicht mit der Erkenntnis des dem Mitmenschen zugefügten Unrechts; sie geht vielmehr über beide hinaus" 4 ). In gleicher Weise wie für Jugendliche ist die Deliktfähigkeit der Taubstummen bestimmt; dabei sei daran erinnert, daß als taubstumm im Sinne des Gesetzes nur der von Geburt oder von frühester Jugend an Taubstumme gilt, weil dieser im Gegensatz zum später Ertaubten in seiner geistigen Entwicklung, namentlich in der Bildung abstrakter Begriffe stark gehemmt ist (Kap. B4). Die Verantwortlichkeit der Erwachsenen braucht hier nur gestreift zu werden. Die Bestimmungen schließen sich in ihrem ersten Satz eng an die alte Fassung des § 51 StGB an. Was darüber zu sagen wäre, ist bei der Besprechung der Zurechnungsfähigkeit und der Geschäftsfähigkeit erörtert und kann dort nachgelesen werden. Die Bestimmungen über die Verantwortlichkeit unter der Wirkung von geistigen Getränken oder ähnlichen Mitteln •— diesen kann man zwanglos auch die sog. Rauschgifte zuordnen — entsprechen dem allgemeinen Rechtsgefühl. Ohne Verschulden können sog. pathologische Rauschzustände und abnorme Alkoholreaktionen entstehen und ebenso solche Räusche, die durch äußeren Zwang oder durch Scherz entstehen. Letztere Möglichkeit ist durch Zusatz von Schnaps zu Bier oder Bowle gegeben; einen schweren sinnlosen Rausch sah ich 1945 kurz nach dem Waffenstillstand, der dadurch entstanden war, daß jemand gezwungen wurde, eine Flasche Kognak auszutrinken. Handlungen waren in diesem Zustande freilich nicht mehr möglich. Wichtig ist die Beweispflicht in den einzelnen Fällen. Für die Nichtverantwortlichkeit ist der Täter beweispflichtig, der als der Beklagte diese Ein4

) JW 1903, S. 25 d. Beilage.

Haftung und Kausalität im bürgerlich-rechtlichen Sinne

239

Wendung macht. Daher genügen nicht Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit; Deliktunfähigkeit kann vielmehr nur angenommen werden, wenn sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vorlag. Stellt nun der Kläger die Behauptung auf, der Täter habe sich durch geistige Getränke in einen vorübergehenden Zustand der NichtVerantwortlichkeit gesetzt, so ist er, der Kläger, dafür beweispflichtig; der Beklagte, also der Täter hätte schließlich zu beweisen, daß er ohne sein Verschulden in einen solchen Zustand geraten ist. Ein wegen Geisteskrankheit Entmündigter ist nicht notwendig unfähig, eine unerlaubte Handlung im Rechtssinne zu begehen 6 ). Für die Deliktunfähigkeit wird Ausschluß der freien Willensbestimmung verlangt, eine Voraussetzung, die bei der Entmündigung wegen Geisteskrankheit keine Rolle spielt. Daß auch der Nichtverantwortliche nach Maßgabe seines Könnens zum Schadensersatz herangezogen werden kann (§ 829), daß Eltern, Vormünder, Geschäftsherren dazu herangezogen werden können, wenn der Täter ihrer Aufsicht unterstellt ist (§§ 831, 832), soll nur kurz bemerkt werden.

8. Haftung

und Kausalität im bürgerlich-rechtlichen

Sinne

§ 823. Abs. 1 BGB lautet: Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersätze des daraus entstandenen Schadens verpflichtet. § 254.1. Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt, so hängt die Verpflichtung zum Ersätze sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teile verursacht worden ist. II. Dies gilt auch dann, wenn sich das Verschulden des Beschädigten darauf beschränkt, daß er unterlassen hat, . . . den Schaden abzuwenden oder zu mindern . . .

Die hier sich ergebenden Fragen der Erfolgshaftung und der Kausulität haben wir bereits im strafrechtlichen Teil kurz berührt; sie sind dort anders zu entscheiden als im bürgerlich-rechtlichen Sinne. Während wir dort nicht so sehr auf den Erfolg der strafbaren Handlung als auf die Beweggründe, die zu ihr führten, Wert legten, kann es nach dem allgemeinen Rechtsgefühl nicht zweifelhaft sein, daß der Schädiger dem Geschädigten ersatzpflichtig ist für den angerichteten Schaden. Neben dieser Haftung durch Verschulden gibt es eine sog. Oefährdungshaftung, die für Verletzungen etwa beim Betrieb der Eisenbahn, von Kraftwagen usw. in Betracht kommt und jetzt (durch Gesetz vom 15. 8. 1943) auch auf „Anlagen zur Fortleitung oder Abgabe von Elektrizität oder Gas" ausgedehnt ist. Der Sinn einer solchen Schadensersatzpflicht ohne Verschulden liegt darin, daß der Geschädigte zwangsläufig, ohne sich ihnen entziehen zu können, den Gefahren der moder5)

R G Z 108, S. 8 7 ; STAUDINGER, 9. Aufl., I, S. 4 2 4 .

240

Bürgerliches Recht

nen Wirtschaft, insbesondere des modernen Verkehrs ausgesetzt ist1). Dazu kommen auch die Ansprüche der Kriegsversehrten, die uns auch jetzt noch beschäftigen. Umstritten ist der Kausalzusammenhang. Hier stehen sich die Meinungen über bestimmte Fragen schroff gegenüber. Es kann nicht Aufgabe eines Lehrbuchs sein, den gesamten Fragenkomplex in allen Einzelheiten aufzurollen; zum näheren Studium dieser Fragen muß auf die ausführlicheren Darstellungen verwiesen werden2). Vier Beispiele mögen als Grundlage für unsere Ausführungen dienen: 1. Einem Jäger, der seine Jagdflinte fahrlässig entsichert h a t , geht versehentlich ein Schuß los, durch den er einen anderen Jäger verletzt. Diesem m u ß ein Unterschenkel amputiert werden. 2. Einem Manne fällt von einem Bau ein Stein aus geringer Höhe auf den K o p f ; normalerweise h ä t t e das keinen Schaden verursacht; unglücklicherweise aber h a t der Verletzte eine außergewöhnlich dünne Schädeldecke, so daß ein Schädelbruch u n d eine Hirnquetschung die Folge ist. 3. Ein Mann erleidet infolge Anfahrens durch ein Auto eine Hirnerschütterung mit einhalbstündiger Bewußtlosigkeit, aber sonst keinerlei Ausfallserscheinungen. E r wird im K r a n k e n h a u s behandelt, nach einer gewissen Zeit als völlig hergestellt entlassen. I m Laufe des EntschädigungsVerfahrens entwickeln sich allmählich nervöse Störungen, die immer stärker werden und ihn schließlich veranlassen, seine Arbeit einzustellen. 4. Ein Soldat fängt im Anschluß an einen harmlosen Eall auf ebener E r d e an zu zittern. E r wird deswegen aus der W e h r m a c h t entlassen. Abends sitzt er schüttelnd vor einem Konzerthaus und bittet um milde Gaben, die ihm reichlich zufließen. Hinterher geht er ohne zu schütteln zum Tanz.

Der erste und der letzte der hier kurz skizzierten Fälle sind ohne weiteres leicht zu entscheiden: es ist selbstverständlich, daß im Falle 1 Schadenersatz geleistet werden muß; im Falle 4. dagegen handelt es sich um einen Simulanten, der keinen Schadenersatz verdient, weil kein Schaden vorhanden ist. Sehr viel schwieriger sind die beiden mittleren Fälle zu beurteilen. Zunächst der Fall 2! Hier ist sicher der Fall des Steines auf den Kopf ursächlich J

) REINHARDT, Deutsches Recht, 2. Aufl., Marburg 1944, S. 50. ) I n Betracht kommen d a f ü r von Ärzten: D A N S A U E R u n d S C H E L L W O R T H , Neurosenfragen, Ursachenbegriff und Rechtsprechung, Leipzig 1 9 3 9 ; 2 . Aufl. von S C H E L L W O R T H 1 9 5 3 . Dort S c h r i f t t u m ; Q U E N S E L , Unfallneurose u n d Rechtsprechung des Reichsgerichts, Leipzig 1940; REICHARDT, Die psychogenen Reaktionen, einschließlich der sog. Entschädigungsneurosen, Berlin 1932; STIER, Über die sog. Unfallneurosen, Leipzig 1926; v. WEIZSÄCKER, Soziale K r a n k h e i t u n d soziale Gesundung. 2 . Aufl. bearbeitet von P I C H L E R 1 9 5 5 ; B R U N , Allgemeine Neurosenlehre, 1 9 4 6 . Von J u r i s t e n : namentlich die von A R E N D T S , C A R L , K N O L L , R O S S B A C H und K L U G verfaßten Beiträge mit einer Zusammenfassung von MARTINECK, die unter dem Titel „Rechtswissenschaft, Ursachenbegriff und Neurosenfrage" im Verlag v o n Thieme 1941 erscheinen sind; hier findet m a n im Anhang auch eine Zusammenstellung aller wichtigen diese Fragen betreffenden Entscheidungen. Ferner MOSCHEL, Die zivilrechtliche Bedeutung der Rentenneurose, Berlin 1936; W u s s o w , Das Unfallhaftpflichtrecht, 5. Aufl. 1954. 2

Haftung und Kausalität im bürgerlich-rechtlichen Sinne

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für die Verletzung, aber nicht allein. Ohne den Umstand, daß die Schädeldecke abnorm dünn war, wäre eine harmlose Beule die einzige Folge gewesen. Der Arzt ist in solchen Fällen geneigt, vom Normalen auszugehen und zu fragen, wie eine bestimmte schädigende Einwirkimg sich unter normalen Verhältnissen geltend gemacht haben würde. Er versucht die schon vor dem Unfall bestehenden anlagemäßig gegebenen oder erworbenen Abartigkeiten und die Wirkimg des Unfalls gegeneinander abzuwägen. Anders das Reichsgericht! Schon 1910 hat es sich dahin ausgesprochen, daß ein bestimmter tatsächlicher Umstand nicht allein die Ursache einer Schädigung zu sein brauche, um einen Schadensersatzanspruch zu begründen; es genüge der Nachweis, daß er mitgewirkt habe; jeder mitwirkende Umstand habe in diesem Sinne die gleiche kausale Bedeutung, sofern er aus dem Gesamtzusammenhang der Verursachung nicht hinweggedacht werden könne3). Diese Rechtsauffassung hat das Reichsgericht mit unwesentlichen Schwankungen bis indie letzte Zeit seines Bestehens hinein beibehalten. Ganz klar zeigt das eine Entscheidung aus dem Jahre 1942. Danach ist ursächlicher Zusammenhang auch dann in vollem Umfange gegeben, wenn ein Leiden, das später einmal, weil es anlagebedingt ist, in Erscheinung getreten wäre, durch einen Unfall manifest geworden ist4). „Wer unerlaubt gegen einen gesundheitlich anfälligen Menschen handelt, hat kein Recht darauf, so gestellt zu werden, als ob er einen völlig gesunden Menschen verletzt habe"6). Der ursächliche Zusammenhang der Handlung des Schädigers mit dem Schaden wird ferner nicht dadurch ausgeschlossen, daß der nämliche Erfolg, der durch die schädigende Handlung eingetreten ist, auch durch ein anderes Ereignis eingetreten wäre, das später bestimmt stattgefunden hätte 6 ). Dem sachverständigen Arzt fällt dieser klaren Einstellung gegenüber die Aufgabe zu, festzustellen, ob überhaupt die angeschuldigte Einwirkung eine mitwirkende Ursache war. Diese Aufgabe ist nicht immer leicht zu erfüllen, weil wir — das liegt in der menschlichen Natur begründet — mit unrichtigen Angaben, die teils wider besseres Wissen, teils gutgläubig abgegeben werden, zu rechnen haben. Wir müssen insofern leider Polizei und Staatsanwalt sein. Das gilt z. B. für Anfälle, die als Unfallfolge behauptet werden. Nicht so selten läßt sich dann feststellen, daß der Anfall nicht Folge, sondern Ursache des Unfalls war; und wenn man genaue Erkundigungen einzieht, erfährt man, daß auch schon vorher Anfälle bestanden haben. Die Schizophrenie wurde noch während des ersten Weltkrieges als Folge einer Dienstbeschädigung angesehen; aus dem zeitlichen Zusammenhang wurde, wie es bei Laien auch jetzt wieder in durchaus begreiflicher Weise geschieht, ein ursächlicher gemacht. Die statistischen Erhebungen der Nachkriegszeit ergaben aber die Haltlosigkeit dieser Annahme. Selbstverständlich kann auch einmal eine s

) ) 6 ) 8 )

4

RGZ RGZ RGZ RGZ

23, S. 160. 169, S. 118. 151, S. 283; 155, S. 41; Seuff. Arch. 95, Nr. 9. 141, S. 365; 144, g. 384; HRR 1935, Nr. 1008 u. 1937, Nr. 997.

16 L a n g e l f l d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Bürgerliches Recht

progressive Paralyse während des Krieges zum Ausbruch kommen; sie kann auch infolge der erhöhten Aufmerksamkeit, die man dem Unfallverletzten zuwendet, erstmalig nach dem Unfall bemerkt werden. In solchen Fällen wird der rechtzeitig zugezogene Facharzt aus der Schwere der nachweisbaren Defektsymptome Schlüsse auf die Dauer der Erkrankung ziehen können, deren Erscheinungen von Angehörigen oft erst spät als krankhaft gewertet werden. Früher spielten die Telefonschädigungen bei der Post eine große Rolle 7 ). Durch den elektrischen Schwachstrom sollten schwere nervöse Erscheinungen bedingt sein. Heute benutzen wir derartige Ströme zu therapeutischen Zwecken und zwar in einer Stärke, daß Bewußtlosigkeit und epileptiforme Anfälle erzeugt werden, und erzielen damit zweifellos in vielen Fällen wesentliche Besserungen des psychischen Zustandes bei bestimmten Geisteskrankheiten. Es gehört also zu den Aufgaben des Arztes, im Einzelfall aus dem genauen Hergang des Unfalls einerseits und dem Gesundheitszustand des angeblich Geschädigten vor und nach dem Unfall andererseits die Bedeutung des Unfalls oder der angeschuldigten Einwirkung klarzustellen. Diese Klarstellung sollte zunächst ohne Berücksichtigung der Rechtslage, lediglich nach ärztlich-wissenschaftlichen Gesichtspunkten geschehen; von diesem Standpunkt aus ist auch die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zu erörtern. Die rechtlichen Folgerungen daraus zu ziehen, kann dann dem Richter überlassen bleiben. Sehr viel größer ist die Diskrepanz der Meinungen zwischen Ärzten und Reichsgericht bei der sog. Unfallneurose, Entschädigungsneurose oder wie sie sonst noch genannt werden mag, die durch den Fall 3 kurz veranschaulicht ist. Es ist zum besseren Verständnis erforderlich, auf die Entstehung solcher Neurosen näher einzugehen und zunächst die ärztliche Auffassung darzulegen. Ein Bauer, der nicht versichert ist, fällt infolge eigenen Verschuldens durch die Luke seines Heubodens auf die Tenne und zieht sich eine Hirnerschütterung zu. Nach einigen Wochen Bettruhe steht er wieder auf und macht bald seine Arbeit wie früher; anfänglich etwa noch bestehende Beschwerden klingen nach einiger Zeit von selbst ab. Das ist der regelmäßige Verlauf solcher Unfälle bei allen Verletzten, die nicht in irgendeiner Form versichert sind oder anderweitige Ansprüche stellen können 8 ). Mit der Einführung der Unfallversicherung änderte sich nun dieses Bild: In zahlreichen Fällen kam es nicht zur Heilung, sondern es entwickelten sich allerlei Beschwerden, und diese nahmen namentlich dann zu, wenn die Rentengewährung auf Schwierigkeiten stieß, oder wenn die Höhe der bewilligten Rente nicht den gestellten Forderungen entsprach. Die ärztliche Wissenschaft nahm zunächst namentlich unter dem Einfluß des bedeutenden Neurologen OPPENHEIM an, daß diesen Beschwerden und Erscheinungen irgendwelche körperlichen Veränderungen zugrunde lägen, die mit den vorhandenen 7

) STIER, 1. O.

8

) Es gibt gewisse, aber seltene Ausnahmen.

Haftung und Kausalität im bürgerlich-rechtlichen Sinne

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Untersuchungsmethoden nur nicht faßbar seien. Dieser Auffassung trat im Laufe der Zeit immer stärker eine andere Ansicht gegenüber, die dahin ging, daß alle diese Beschwerden und Erscheinungen nicht in körperlichen Veränderungen ihren Grund hätten, sondern daß sie rein psychisch bedingt seien, daß sie durch normalpsychologische Motive in Gang gesetzt und in Gang erhalten würden; diese Motive, die in manchen Fällen dem Geschädigten selbst nicht völlig klar zum Bewußtsein kämen, erweckten in ihm die im übrigen völlig unbegründete Vorstellung, krank zu sein. Der Kampf der Meinungen wurde erst während des ersten Weltkrieges zugunsten der letztgenannten Ansicht entschieden, und zwar mit aller nur wünschenswerten Eindeutigkeit. Nach Verschüttungen oder Schreck traten in jener Zeit sowohl im deutschen Heere als auch in den uns feindlichen Armeen alle möglichen Erscheinungen auf: plötzliche Stummheit, Lähmung von Gliedern, groteske Gehstörungen, veitstanzähnliche Zuckungen, grobes Schütteln des ganzen Körpers, Anfälle u. a. m. Solche Erscheinungen beobachtete man aber nicht bei Schwerverwundeten, die kriegsunbrauchbar wurden, und bei Kriegsgefangenen, auch wenn sie aus schwerstem Trommelfeuer kamen, d. h. bei allen jenen, die nicht mehr gefährdet waren. Die Behandlung brachte auch für alle diese Störungen schnelle Heilung mit rein suggestiven Mitteln (elektrischem Strom, Hypnose u. a.), als angeordnet wurde, daß die sog. Kriegsneurotiker nicht wieder an die Front geschickt werden sollten. Daraus schloß man, daß nicht die angebliche Verschüttung, nicht der Schreck die eigentliche Ursache dieser Neurosen sein könne, daß das eigentliche Motiv dafür vielmehr das Streben sei, aus der Gefahrenzone herauszukommen. Dieses Motiv spielte uneingestanden eine Rolle bei dem im jahrelangen Grabenkampf überbeanspruchten und erschöpften Manne, voll bewußt bei dem Drückeberger, der bereits auf der Fahrt zur Front die Sprache verlor. Die hier gewonnene Erkenntnis erwies sich nun aber auch als besonders wichtig für alle Unfallverletzungen. War durch Ingangsetzung neurotischer Beschwerden kein Vorteil zu erreichen, so trat eine Neurose nicht auf; sie trat auch dann nicht auf, wenn die Ansprüche des Geschädigten voll befriedigt wurden, sei es in der Form einer Rente oder durch eine einmalige Abfindung. Erst dann, wenn der Geschädigte mit seinen Forderungen nicht durchdrang, wenn Versicherungs- oder Versorgungsamt sich nicht willfährig zeigte, wenn der Schädiger Widerstand gegen Entschädigungsforderungen leistete 9 ), wurden neurotische Beschwerden entwickelt, manchmal schon in Voraussicht der zu erwartenden Schwierigkeiten vor Beginn des Prozesses, in der Regel mit der Tendenz zur Verschlimmerung während der streitigen Verhandlungen. Dabei trifft an der Entwicklung solcher Neurosen auch viele Ärzte eine Schuld, die nicht rechtzeitig den neurotischen, d. h. zweckbedingten Charakter dieser Symptome erkennen und sie daher nicht rechtzeitig 9

) So auch Wussow, DR 1941, S. 2029.

16*

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abbiegen und bekämpfen10). Nicht alle Neurotiker sind übrigens „Entschädigungsneurotiker" ; sie allein kommen jedoch rechtlich in Betracht. Daneben gibt es aber auch andere Motive zur „Flucht in die Krankheit" ; sehr häufig iindet man neurotische Verstärkungen, „psychogene Überlagerungen" bei solchen Menschen, deren wirklich vorhandenen organisch bedingten Beschwerden nicht die verdiente Anerkennung finden. Bei anderen spielen häusliche Verhältnisse eine Rolle : der auf andere Weise nicht zur erstrebten Geltung Kommende zwingt durch seine „Krankheit" seine Familie, sich ihm zu widmen und macht sich so zum Mittelpunkt derselben. Angst vor Strafe, vor Rache, vor Kriegsdienst sind weitere Motive; Konflikte im Beruf, in der Familie werden auf diese Weise gelöst. Auch die Entschädigungsneurotiker, die allein uns hier zu beschäftigen haben, sind nicht schematisch hinsichtlich ihrer Motive anzusehen : Not, das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, das beneidete Beispiel erfolgreichen Rentenkampfes, reine Habsucht und andere Strebungen spielen in mannigfachen Schattierungen mit. f? Die ärztliche Wissenschaft hat aus diesen Erfahrungen den Schluß gezogen, daß der Unfall, die Verletzung nicht die Ursache der Neurose, sondern nur der äußere Anlaß dazu sei, daß eine Kausalität im naturwissenschaftlichen Sinne hier nicht vorliege, daß vielmehr eine nur im Psychischen wurzelnde Motivation die Neurose zur Entwicklung bringe11). Der Entschädigungsneurotiker ist, wie S E E L E B T sagt, „in dem Entwicklungsgang seiner Neurose nicht Objekt, sondern Subjekt, der Entschädigungsneurotiker wird von ihr nicht,befallen', sondern seine Subjektivität schafft sie, er wirkt in dem Entwicklungsgang seiner Neurose aktiv mit"; sie entsteht „aus seiner subjektiven Einstellung zu der Gesamtheit seiner Erlebnisse (im Kreis um den Unfall) und aus seiner psychischen Aktivität innerhalb dieser Einstellung"12). Dabei kann es nicht zweifelhaft sein, daß auch der Unfall eine Bedingung der Neurose, und zwar eine nicht hinwegzudenkende (conditio sine qua non) ist, daß insofern also gewisse Beziehungen zwischen Unfall und Neurose bestehen, ja daß die Neurose unter anderem auch durch ihn determiniert wird13). Diese Determinierung wird jedoch nicht als Kausalität im naturwissenschaftlichen Sinne aufgefaßt. Die ärztliche Wissenschaft hält demgemäß die Neurosen nicht für entschädigungspflichtig. Sie vertritt diesen Standpunkt auch deshalb, weil er — was rechtlich freilich ohne Bedeutung ist — im wohlverstandenen Interesse des Geschädigten liegt14). Seine Ge10

) Ich habe es erlebt, daß ein Facharzt für Chirurgie einem schweren Neurotiker als Hirngeschädigten eine Rente von 100% gewähren wollte; nervenärztliche Untersuchung hielt er für überflüssig. Ich konnte den Patienten in drei Tagen so weit fördern, daß er ohne weitere ärztliche Behandlung wieder voll arbeitsfähig wurde. u ) Nach D A N S A U E R und SCHELLWORTH ist Kausalität Determination im objektiven, Motivation Determination im subjektiven Sinne. 12 ) Zit. bei A R E N D T S , 1. c., S. 1 7 . ' l s ) So auch K L U G in A R E N D T S 1. c., S . 1 7 4 . 14 ) Wie schädlich sich die Berentung solcher Neurotiker für sie selbst auswirken kann, zeigen die Erfahrungen in den U S A , über die P A N S E kürzlich berichtet hat

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Blindheit und Arbeitsfähigkeit wieder zu erlangen, muß für jeden Verletzten erstrebenswerter sein als im Genuß einer Rente zu leben18). Die Rechtsprechung auf diesem Gebiet ist nun keineswegs einheitlich. Einig ist man sich darüber, daß eine entschädigungspflichtige zur Neurose tendierende Anlage durch eine äußere Verletzung nicht entstehen kann. Dagegen gehen die Rechtsauffassungen des Reichsgerichts einerseits, der Verwaltungsgerichte16) andererseits darüber auseinander, ob und gegebenenfalls welche rechtlich zu entschädigenden Wirkungen ein solches Ereignis (Unfall, Schreck, Verletzung) auf die Anlage ausübt. Das Reichsversicherungsamt und das Reichsversorgungsgericht und ebenso das Bundessozialgericht haben sich die ärztlich-wissenschaftliche Auffassung zu eigen gemacht. Das erstere hat in einer grundsätzlichen Entscheidung vom 24. 9. 1926 zu dieser Frage folgendermaßen Stellung genommen17): „Hat die Erwerbsunfähigkeit eines Versicherten ihren Grund lediglich in seiner Vorstellung krank zu sein, oder in mehr oder minder bewußten Wünschen, so ist ein vorangegangener Unfall auch dann nicht eine wesentliche Ursache der Erwerbsunfähigkeit, wenn der Versicherte sich aus Anlaß des Unfalls in den Gedanken krank zu sein, hineingelebt hat, oder wenn die sein Vorstellungsleben beherrschenden Wünsche auf eine Unfallentschädigung abzielen, oder die schädigenden Vorstellungen durch ungünstige Einflüsse des Entschädigungsverfahrens verstärkt worden sind."

Mit dieser Entscheidung ist der Neuanerkennung von Renten bei Unfallneurotikern ein Riegel vorgeschoben. Die Entziehung einer früher gewährten Rente wegen anderweitiger Beurteilung der Sach- oder Rechtslage ist dagegen vom Reichsversicherungsamt nicht für zulässig gehalten. Die private Unfallversicherung hat bereits 1920 als § 7 Ziffer 4 der allgemeinen Versicherungsbedingungen folgende Bestimmung getroffen: „Für psychische und nervöse Störungen, durch welche im Anschluß an einen (Tagung des ärztlichen Sachverständigenbeirats für Fragen der Kriegsopferversorgung im Oktober 1956). Danach umfassen die psychiatrischen Fälle etwa 50% des amerikanischen Versorgungswesens, und in einem eigens für sie in Brockton (in der Nähe von Boston) errichteten psychiatrischen Krankenhause sind etwa 500—600 Männer mit den gleichen Erscheinungen, wie sie bei uns im 1. Weltkriege aufgetreten sind, untergebracht. 15 ) Dem Standpunkt mancher Autoren, daß der Neurotiker asozial sei, kann ich mich nicht, wenigstens nicht generell anschließen; er erstrebt ja nur sein vermeintliches Recht. Auch wenn dieses Recht nur ein von ihm für richtig gehaltenes ist, kann ein solches Streben nicht als asozial bezeichnet werden. Ich kann auch der Meinung, es gäbe nur „schlechtgläubige" Neurotiker, nicht zustimmen. M. E. gibt es auch solche, bei denen das „zweckbestimmte Bewußtsein" (ARENDTS) nicht von vornherein vorhanden ist. Es gibt sicher keinen „unbewußten Willen", es gibt aber Strebungen, Wünsche, Triebe, die bei unseren Handlungen eine oft recht bedeutsame Rolle spielen, obwohl wir uns über sie durchaus nicht klar sind; um zur Klarheit über sie zu kommen, bedarf es oft genug einer eindringenden Analyse. 16 ) Mit Ausnahme des Reichswirtschaftsgerichts. 17 ) Amtliche Nachrichten des RVA, 1926, S. 480, Nr. 3238. Besprochen in der Dtsch. med. Wschr. 1927, S. 416.

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Unfall die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt ist, wird eine Entschädigung nur dann gewährt, wenn und soweit diese Störungen auf eine durch den Unfall verursachte organische Erkrankung des Nervensystems oder auf eine im Anschluß an den Unfall neu entstandene Epilepsie zurückzuführen sind." Die Invaliden- und Angestelltenversicherung ist auf Grund eines Gesetzes vom 7.12.1933 berechtigt, eine Rente „auch ohne Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Rentenempfängers" zu entziehen, „wenn eine erneute Prüfung ergibt, daß der Rentenempfänger nicht invalide (berufsunfähig) ist". I m Versorgungswesen ist mit Neufestsetzungen für den ersten Weltkrieg nicht mehr zu rechnen. Zweifellos sind damals zahlreiche Kriegsneurotiker zu Unrecht mit einer Rente bedacht worden. Die Entziehung dieser Renten, soweit sie noch bestanden, war ermöglicht durch eine Entscheidung des Reichsversorgungsgerichts 18 ), nach der „eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse im Sinne des Reichsversorgungsgesetzes § 57 (hier im Sinne der Anerkennung von Hysterie als DB.-Folge) auch dann gegeben ist, wenn zwar an den äußeren Erscheinungen sich nichts geändert, sich jedoch die Wesensgrundlage verschoben hat". Ähnlich bestimmte das 5. Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 3. 7.1934 in Artikel 2: „Rechtskräftige Entscheidungen können von den Verwaltungsbehörden geändert werden, wenn sie, ohne daß eine Veränderung der für die Entscheidung maßgebend gewesenen Verhältnisse eingetreten ist, der Sach- und Rechtslage nicht entsprechen, und wenn daher der Bezug der Versorgungsgebührnisse nicht oder nicht in der zugesprochenen Höhe gerechtfertigt ist. Die Änderung einer rechtskräftigen Entscheidung ist nur mit der vorherigen Genehmigung des Reichsarbeitsministers zulässig."

Für die Wehrmacht und den Reichsarbeitsdienst galten nach den Durchführungsbestimmungen zum § 4 Abs. 1 des Wehrmachtfürsorge- und -Versorgungsgesetzes vom 26. 8. 1938 (RGBl. I, 1938, S. 1077 und 1293) „als Körperschäden nicht Zustände, die nur in der Vorstellung bestehen oder seelisch bedingt sind." Damit war eine Regelung getroffen, die den ärztlichwissenschaftlichen Anschauungen entspricht 19 ). Dieses Gesetz ist ersetzt durch das Bundesversorgungsgesetz (BVG) in der Fassung vom 1.7.1957. Danach erhalten Personen, die durch eine militärische oder militärähnliche Dienstvorrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, auf Antrag Versorgung. Neurosen haben dabei keinen 18

1.

c.,

19

) Entscheid, des Reichsversorg.Ger. Bd. XII, S. 47, Nr. 31. Zit. nach ARENDTS S. 27.

) Im zweiten Weltkriege ist übrigens die Zahl der Neurotiker viel kleiner gewesen als im ersten; auch die Symptome waren lange nicht so grob wie 1914/18. Es handelte sich ganz überwiegend um „psychogene Überlagerungen"; es wurden z. B. bei einem Durchschuß des Unterarms die Muskeln nicht innerviert und dadurch eine Handlähmung vorgetäuscht, m. E. in der Regel nicht absichtlich.

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Krankheitswert im versorgungsrechtlichen Sinne. Sie bedingen keine Entschädigungspflicht, da sie mit einem schädigenden Ereignis zwar in einem psychischen, dagegen nicht in einem versorgungsrechtlich relevanten ursächlichen Zusammenhang stehen 20 ). Dem gegenüber steht die Rechtsprechung des Reichsgerichts, der sich das Reichswirtschaftsgericht unter gewissen Schwankungen im wesentlichen angeschlossen hat. In Kürze läßt sich darüber Folgendes sagen21). Das Reichsgericht geht in seiner Rechtsprechung von der Lehre des adäquaten Kausalzusammenhangs aus 22 ). Einen Kausalzusammenhang sieht es dann als gegeben an, „wenn eine Handlung oder Unterlassung im allgemeinen und nicht nur unter besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zur Herbeiführung des eingetretenen Erfolges geeignet gewesen ist 4 ' 23 ).

Bezüglich der Entschädigungsneurose sagt eine Entscheidung des mit dieser Frage vornehmlich befaßten VI. Senats 24 ): „Wenn die Rentenbegehrungsvorstellungen weder auf organische noch auf psychische durch den Unfall hervorgerufene Veränderungen zurückzuführen sind, die Tatsache des Unfalls vielmehr nur die äußere Veranlassung gewesen ist, aus der heraus die Gedanken des Verletzten sich darauf gerichtet haben, in den Genuß einer Entschädigung zu gelangen, so ist der adäquate Zusammenhang nicht gegeben."

Nach den Rechtsgrundsätzen, die das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung befolgt hat, ist für die Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und den etwa festgestellten nervösen Erscheinungen besteht, entscheidend, ob der Unfall nur der äußere Anlaß der die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigenden Erscheinungen ist, oder ob zwischen dem Unfall und diesen Erscheinungen, also auch der Entschädigungsneurose ein innerer Zusammenhang besteht 26 ). Ein innerer Zusammenhang ist vom Reichsgericht unter verschiedenen Umständen bejaht, so dann, wenn durch einen psychischen Schock oder einen Schreck, den der Verletzte beim Unfall erlitten hat, eine nervöse Störung hervorgerufen oder eine andere vorhandene krankhafte Anlage verstärkt worden ist und wenn darauf, wenn auch im Zusammenwirken mit 20 ) Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, 1954, S . 108. Dazu SCHELLWORTH in SCHÖNEBERG, Die ärztliche Beurteilung Beschädigter. 2. Aufl. 1955, S. 377. WITTER, Der Nervenarzt, 1956, S. 505. 21

22

) S. a u c h SEIFFERT, D R 1939, S. 611.

) Darüber s. auch S. 151; im Strafrecht bevorzugt es die Äquivalenztheorie, nach der jede Bedingung ohne Rücksicht auf ihren Wert haftungsbegründete Ursache ist. 23 ) RGZ 138, S. 126. 24 ) J W 1932, S. 3330; ähnlich BGHZ20, S. 137 s. unten. 25 ) J W 1932, S. 3330.

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anderen Umständen die Entschädigungsneurose zurückzuführen ist 26 ). Ferner bei der „Rentenpsychose eines übererregbaren, psychisch-abnormen und nervösen Schwächlings, wenn nämlich bei einem so gearteten Menschen infolge seines durch den Unfall beeinflußten Nerven- oder Seelenzustandes derartige Begehrungsvorstellungen sich aufdrängen und er infolge seines Zustandes sich nicht dessen bewußt wird, daß er die Vorstellungen bekämpfen könne und müsse", weiter, wenn Symptome einer schon vorhandenen krankhaften Anlage durch den Unfall ausgelöst und verstärkt werden und schließlich, wenn eine Neurose durch die Aufregungen bei der Führung des Entschädigungsprozesses entsteht, oder wenn entweder die Körperverletzung selbst nervöse Krankheitserscheinungen hervorgerufen hat, die durch die Prozeßaufregungen verschlimmert werden oder wenn diese Aufregungen selbst einen krankhaften Zustand herbeigeführt haben, oder wenn zwar zunächst eine nervöse Erkrankung nicht hervortritt, der allgemeine Krankheitszustand dann aber zu einer nervösen Erschöpfung geführt hat 2 7 ). Einen nur äußeren Anlaß hat das Reichsgericht angenommen, wenn etwa der Verletzte sich der verhältnismäßig unbedeutenden Unfallfolgen „als eines Mittels zur Erreichung dieses Zieles bedient", oder wenn die Nichterfüllung von unberechtigten Wünschen bei hysterischen oder nervenleidenden Personen einen ungünstigen Einfluß auf ihren Zustand ausübt, oder bei „durch Rentensucht hervorgerufenen Leiden", die „aus dem unberechtigten, allmählich krankhaft gesteigerten Wunsche entstanden sind, wegen des (ohne körperliche Schädigung verlaufenden) Unfalls gleichwohl eine Entschädigung zu erlangen". Weiter wird eine innere Beziehung abgelehnt, wenn die nervösen Erscheinungen nur an das Erleben des Unfalls anknüpfen, „ohne daß dieser gerade in der zutage getretenen Richtung auf die Gesundheit schädlich eingewirkt hätte." Nervöse Störungen, die nach einer Verletzung nicht allmählich wieder verschwinden, sondern sogar im Laufe der Zeit erst in Erscheinung treten, werden als Rentenhysterie nicht als Verletzungsfolge angesehen, da sie ausnahmslos auf Entschädigungsbegehrungsvorstellungen beruhen. Schließlich wird die innere Beziehung verneint, wenn der Verletzte aus seiner Charakteranlage heraus (auch aus psychopathischer Veranlagung) „den an sich ohne dauernde Einwirkung gebliebenen Unfall zum Anlaß nähme, Begehrungsvorstellungen nachzuhängen, die er ebensowohl auch unterdrücken könnte", „oder wenn er nur auf Grund seiner Veranlagung in der irrigen Vorstellung lebt, er sei krank und erwerbsunfähig". Eine Ursache für sich ist die Einwirkung Dritter, etwa der Ehefrau 28 ). 2B ) Z. B. JW 1932, S. 3330; GBTJCHOT 71, S. 392; JW 1936, S. 1356, Nr. 2 und viele andere. Näheres bei A R E N D T S , 1. c. S. 42, Anm. 109—111. 27 ) JW 1938, S. 105, Nr. 4; 1936, S. 1356, Nr. 2; DJZ 1932, Sp. 995 u. a. S, A R E N D T S , 1. c. S . 42, Anm. 112—114. 2S ) JW 1906, S. 231, Nr. 15; RGZ 103, S. 144; 108, S. 225; Entscheid, u. Mitteil, des Reichsversorgungsamts 15, S. 249, Nr. 4; JW 1924, S. 464, Nr. 8; HRR 1928. Nr. 1510; JW 1931, S . 3333, Nr. 1; RGZ 158, S . 34; DR 1942, S . 799; A R E N D T S , 1. c. S. 31 u. 42, Anm. 101—107; K N O L L , ebendort, S. 114.

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Neuerdings hat der Bundesgerichtshof wiederum zu dieser Frage Stellung genommen 29 ). Danach hat der Schädiger „grundsätzlich auch Beeinträchtigungen zu ersetzen, die auf einer durch die Körperverletzung ausgelösten seelischen Störung des Betroffenen beruhen. Die Haftung findet jedoch ihre Grenze, wenn die seelische Störung erst durch die — wenn auch — unbewußte — Begehrensvorstellung nach einer Lebenssicherung oder die Ausnutzung einer vermeintlichen Rechtsposition ihr Gepräge erhält und der Unfall zum Anlaß genommen wird, den Schwierigkeiten des Arbeitslebens auszuweichen". Zu einer grundlegenden Änderung ist es auch jetzt nicht gekommen; auch jetzt ist „Ursache" jede conditio sine qua non geblieben. Zurechenbar sollen dabei nur die Erfolge sein, für welche die gesetzte Bedingung adäquat ist, wobei als adäquat das angesehen wird, was erfahrungsgemäß generell geeignet ist, derartige Wirkungen hervorzurufen. Es ist hier nicht der Ort, an der Rechtsprechung des Reichsgerichts eingehende Kritik zu üben. Es ist auch selbstverständlich, daß niemand, der die Rechtsprechung des Reichsgerichts kennt, an der sachlichen Einstellung desselben auch nur den geringsten Zweifel haben kann; ebenso sind die von ihm angewandten Rechtsgrundsätze kaum angreifbar. Soviel aber muß gesagt werden, daß vom ärztlichen Standpunkte aus gesehen die „Entschädigungsbegehrungsvorstellungen" als der wesentliche Kern aller dieser Neurosen angesehen werden müssen, und daß neben diesem Kern alles andere praktisch bedeutungslos ist. Diese Einsicht, die längst Gemeingut aller sachverständigen Ärzte ist, hat sich bei den höchsten Gerichten noch nicht durchgesetzt. Allen Schwierigkeiten würde man am besten aus dem Wege gehen, wenn man nach dem Vorschlage von H O C H E gesetzlich bestimmte, daß nervöse Störungen, die nach einem Unfall (oder einer Verletzung) auftreten, nicht entschädigt werden, wenn sie bei einem nichtVersicherten Menschen (oder einem solchen, der keine Entschädigung zu erwarten hat) unter den gleichen Umständen nicht aufgetreten sein würden30). Solange eine solche oder ähnliche gesetzliche Bestimmung nicht besteht, hat der Gutachter die oft recht schwierige Aufgabe, in gründlichster Weise alles für die Klärung des Falles Wichtige festzustellen und daraus seine Beurteilung abzuleiten. Ich sage absichtlich „festzustellen", obwohl das eigentlich Aufgabe des Richters wäre. Es handelt sich aber bei dieser ärztlichen Aufgabe um Dinge, 29

) BGHZ 20, S. 137, Urteil vom 29. 2.. 1956. Kritisch dazu KNOLL, Der Bundesgerichtshof und die sogenannte Unfallneurose. Der mediz. Sachverständige 52, 1956, S. 97. Wtrssow, Das Unfallpflichtrecht, 5. Aufl., 1954 will zwar Neurosen ausschalten, die als Folge der Prozeßaufregungen anzusehen sind, meint aber, daß grundsätzlich die Urteile des Reichsgerichts zutreffend seien (S. 42ff.). Auch DANCKELMANN in PALANDT §249, Anm. 5daa äußerst gewisse Bedenken. 30 ) Zit. von BITMKE, Lehrbuch, S. 254; eine andere Lösung des Problems schlägt Wussow (DR 1941, S. 2029) vor, der meint, der Schaden sei nicht erstattungsfähig; m. E. sind seine Ausführungen jedoch angreifbar.

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die eben nur der Arzt in ihrer Bedeutung erkennen kann. Eventuell kann bei verschiedenen Möglichkeiten der Richter ihm angeben, welche von ihnen er seinem Gutachten zugrunde legen soll. Der Gutachter hat zunächst zu prüfen, wie die Anlage, der Körper- und Geisteszustand des Verletzten vor dem Unfall war; einen Anhalt kann man in vielen Fällen durch Beiragen der Krankenkassen erhalten; auch das „Arbeitsbuch" hat sich bei solchen Gelegenheiten bewährt; man erfuhr aus ihm die Arbeitgeber und konnte von diesen dann manchen wertvollen Fingerzeig erhalten. Die Angaben von Angehörigen pflegen dagegen bei diesen Prozessen wenig brauchbar zu sein; danach war der Verletzte in der Regel vorher „nie krank". Auch die Familienvorgeschichte ist wichtig; man kann aus ihr wenigstens Hinweise auf die Anlage erhalten. Die zweite Frage ist die nach der Art des Unfalls. Diese Feststellungen zu treffen, ist in erster Linie Aufgabe des Richters. Aber auch für den Arzt ist es wichtig zu wissen, wie schwer etwa der schlagende Gegenstand, die Höhe des Falles, die Beschaffenheit des Bodens, auf den der Verletzte fiel, war, mit welchem Körperteil er auffiel, ob er benommen, ohnmächtig, bewußtlos war, wie lange diese Zustände dauerten, ob Erbrechen auftrat, ob Wunden vorhanden waren oder Beulen und wo, ob der Verletzte über Schmerzen klagte, ob er sofort mit der Arbeit aufhörte oder erst noch weiter arbeitete und gegebenenfalls wie lange, ob seine Gesichtsfarbe sich änderte (Schreck) u. dgl. Sodann ist an Hand etwaiger ärztlicher Aufzeichnungen, Krankengeschichten, Zeugenaussagen die weitere Entwicklung des Zustandes zu verfolgen und eine eigene Untersuchung anzuschließen. Schließlich hat sich das Gutachten selbst über Anlage und Zustand vor der Verletzung, die unmittelbare Wirkung der Verletzung und ihre Folgen auszusprechen, wobei die organischen und die funktionellen Störungen zu würdigen sind, ganz besonders auch die letzteren in ihrer Entstehung und Motivierung, die meist aus der Gesamtheit der Faktoren erschlossen werden muß. Dabei können die oben angeführten Grundsätze des Reichsgerichts als Anhalt dienen, soweit es sich um Prozesse vor den zivilen Gerichten handelt. Bei der Unfallversicherung und den Versorgungsämtern genügt die Feststellung einer Neurose ohne organische Grundlage. Wenige Worte noch zur Frage des Mitverschuldens (§ 254 BGB). Voraussetzung für ein Mitverschulden ist der ursächliche Zusammenhang, da die Prüfung des Mitverschuldens natürlich nur dann einen Sinn hat, wenn der ursächliche Zusammenhang nachgewiesen ist. Ein Verschulden des Geschädigten liegt u. a. vor, wenn er Maßnahmen unterläßt, die ihm zur Abwehr des Schadens zu Gebote stehen, und deren Ergreifung ihm zuzumuten ist 31 ). Dazu gehört z. B. ärztliche Behandlung, auch die Duldung von Operationen, soweit sie aussichtsreich und nicht mit Lebensgefahr verknüpft sind. 31

) RGZ 52, S. 351; 100, S. 44.

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Die Notwendigkeit einer Narkose kann die Ablehnung einer Operation nicht unbedingt entschuldigen. Das gilt namentlich dann, wenn die Operation zur Verhütung einer gefährlichen Verschlimmerung des Leidens erforderlich ist 32 ). Dabei kann es vorkommen, daß der Sachkundige Fehler begeht; für diese hat jedoch auch der Schädiger aufzukommen, es sei denn, daß der Sachkundige, in diesem Falle also der Arzt, grobe Kunstfehler begeht 33 ). Da der Einwand des Mitverschuldens vom Beklagten bewiesen werden muß 34 ), und da dieser Beweis fast immer sehr schwer bei Neurosen zu führen ist, spielt diese Bestimmung des BGB trotz häufiger Hinweise des Reichsgerichts praktisch kaum eine Rolle. I m Gegensatz zum Versorgungswesen (s. oben) kann eine neue bessere medizinische Erkenntnis dann nicht beachtet werden, wenn im Vorprozeß der ursächliche Zusammenhang, z. B. der Erwerbsunfähigkeit mit einem bestimmten Unfall rechtskräftig festgestellt worden ist 35 ). Dieser Rechtsstandpunkt ist allgemein anerkannt; gewisse Ausnahmen, die sich auf den § 323 ZPO stützen, sind möglich, werden aber nur selten Erfolg haben können 36 ). In diesem Zusammenhang soll noch eine Frage erörtert werden, die uns gutachtlich häufiger beschäftigt, das ist die Selbsttötung als Folge von Unfällen oder Kriegsschäden. Das Kriegsbeschädigten-Leistungsgesetz vom 21. 3. 1947 (KBLG) sagt dazu: § 1. 1. Personen die durch unmittelbare Kriegseinwirkungen oder anläßlich militärischen oder militärähnlichen Dienstes Gesundheitsschädigungen erlitten haben, erhalten wegen der Folgen dieser Schädigung für sich und ihre Hinterbliebenen Leistungen nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung, soweit sich nach diesem Gesetz nichts anderes ergibt. § 2. 1. Zur Anerkennung einer Gesundheitsschädigung im Sinne des § 1 Abs. 1 genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs mit dem schädigenden Ereignis. 3. Eine absichtlich herbeigeführte Gesundheitsschädigung begründet keinen Leistungsanspruch.

Ganz ähnlich lauten die Bestimmungen im Bundesversorgungsgesetz vom 7. 8. 1953 (BVG) im § 1 Abs. 1—5. In den Verwaltungsvorschriften dazu ist unter Ziffer 9 gesagt: (1) Eine Schädigung ist nur dann absichtlich herbeigeführt, wenn sie von dem Beschädigten erstrebt war; Verschulden allein ist ohne rechtliche Bedeutung. (2) Selbstmord und die Polgen eines Selbstmordversuches gelten nicht als absichtlich herbeigeführte Schädigung, wenn eine Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung durch Tatbestände im Sinne des § 1 Abs. 1 oder 2 wahrscheinlich ist. 32 ) RGZ 139, S. 131; dagegen liegt kein Mitverschulden vor, wenn eine Operation bei Meinungsverschiedenheiten von Ärzten über den voraussichtlichen Erfolg der Operation abgelehnt wird (RGZ 129, S. 398). 33 ) RGZ 140, S. 9. 34 ) RGZ 159, S. 261. 36 ) RGZ 129, S. 320; es war hier später eine progressive Paralyse oder Lues cerebri aufgetreten. 36

) ARENDTS, 1. c. S . 3 3 .

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Es müssen also für die Zuerkennung einer Witwen- oder Waisenrente zwei Voraussetzungen erfüllt sein: erstens muß eine Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung vorgelegen haben, und zweitens muß diese Beeinträchtigung Folge der Verletzung, Krankheit oder der besonderen Kriegsverhältnisse gewesen sein. Eine prinzipielle Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 14. 7. 1955 möge das unterstreichen 37 ): „Eine bei klarem Verstand und freier Willensentschließung begangene Selbsttötung ist eine absichtlich herbeigeführte Gesundheitsschädigung im Sinne des Art. 2 Abs. 3 KBLG ( = Kriegsbeschädigten-Leistungsgesetz), die den Anspruch auf Versorgung ausschließt. Der Begriff ,Absicht' im Sinne dieser Vorschriften ist nicht gleichbedeutend mit Vorsatz. Absichtliches Handeln liegt vielmehr nur dann vor, wenn sich der Wille über das vorsätzliche Handeln hinaus auf ein bestimmtes Ziel, das erreicht werden soll, richtet." Ein Versorgungsanspruch ist nach § 11 der Durchführungsverordnung vom 1. 5. 1949 zum KBLG „dann gegeben, wenn die Selbsttötung im Zustande der Bewußtlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden oder sie wesentlich beeinträchtigenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen war und dieser Zustand mit Wahrscheinlichkeit durch Auswirkungen im Sinne des Art. 1 Abs. 1 KBLG verursacht worden ist." Bei der Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs sind als Ursachen im Rechtssinne nur diejenigen Einzelbedingungen zu erachten, die wegen ihrer besonderen Beziehungen zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. In der Urteilsbegründung ist dazu ausgeführt: „Absichtliches Handeln bedeutet, daß der Handelnde nicht nur einen bestimmten Erfolg gewollt oder in Kauf genommen hat, sondern daß er diesen Erfolg als Ziel seines Handelns erstrebt hat. Das frühere RVA hat in der grundsätzlichen Entscheidung vom 23. 3. 1912 (AN 1912 S. 823) darauf hingewiesen, daß in der Sozialversicherung die Absicht ähnlich wie im Strafrecht die Richtung des Willens auf ein bestimmtes Ziel, das erreicht werden soll, bedeute. Absicht geht somit weiter als Vorsatz, zu dem das Bewußtsein von sämtlichen Tatbestandsmerkmalen genügt." Näheres über die verschiedene Bewertung der Selbsttötung habe ich im Kapitel über Bewußtseinsstörungen (S. 30) ausgeführt. Bei den Gutachten, die darüber zu erstatten sind, sind die Meinungen auch der Psychiater oft genug verschieden; nicht anzuerkennen ist der sogenannte Bilanzsuicid, nicht anzuerkennen ist auch die Selbsttötung auf dem Boden einer endogenen Depression, wobei, wie wir früher schon ausgeführt haben, Mischungen recht häufig sind. Ganz überwiegend kommen reaktive Verstimmungen dafür in Betracht. Selbsttötungen, die während des Krieges passierten, ") Entscheidungen des Bundessozialgerichts 1, 1956, S. 155.

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kommen auch jetzt noch gelegentlich zur Verhandlung; die Entscheidung ist dann auch für den Sachverständigen nicht einfach, namentlich reichen die vorhandenen Unterlagen in der Regel für eine sichere Beurteilung oft nicht aus. In allen irgendwie unklaren Fällen muß man versuchen, diese Unterlagen zu vervollständigen: Photographien, Briefe, Beurteilungen von Kameraden und Vorgesetzten, soweit sie erreichbar sind, können in ihrer Gesamtheit Hinweise geben38). Einzelheiten können hier nicht angeführt werden. Wichtig erscheint eine Entscheidung des Landessozialgerichts Schleswig vom 15. 9. 1955 39 ), in der es heißt: „Selbstmord kann als auf den besonderen Umständen des militärischen Dienstes beruhend regelmäßig nur dann angesehen werden, wenn die Umstände auch bei einem größeren Personenkreis zu gleichen Folgen hätten führen können." Das wird man statistisch kaum immer belegen können. M. E. tut man gut, sich in Gedanken in die Lage des Betreffenden zu versetzen und sich dann zu fragen, ob wohl unter den gegebenen Umständen der eine oder andere ähnlich gehandelt hätte. Ein Beispiel möge das zum Schluß erläutern: Sanitätsfeldwebel, 47 Jahre alt, begeht am 21. 12. 1944 Selbsttötung durch Erschießen. Er war im 4. Polarwinter in Nordnorwegen und Nordfinnland. Während des Sommers vorher hatte er wiederholt in Briefen geschrieben, daß er vor dem Winter Angst habe, daß er ein Grauen davor empfinde. Er hatte dann noch seiner Frau zu Weihnachten liebevolle Briefe geschrieben, war aber doch durch eine depressive Verstimmung seinen Kameraden aufgefallen. Das war begründet durch Sorge um seine Familie, die ausgebombt und an der Mosel in der Gegend der damaligen Gefechtstätigkeit untergebracht war. Dazu kam, daß er wenige Tage vor Weihnachten, dem 6. Weihnachtsfest außerhalb der Familie, fast allein war, abgeschnitten von der Außenwelt in der Polarnacht. Auf mein Gutachten, in dem ich einen ursächlichen Zusammenhang mit den Kriegseigentümlichkeiten bejaht habe, ist der Witwe die Rente zugesprochen.

Nach Auskunft von Ärzten, die im hohen Norden tätig waren, war eine solche deprimierende Wirkimg des Klimas auch sonst nicht selten.

9. Geisteskrankheit und Ehe Die bürgerliche Ehe war im B G B durch die §§ 1297—1588 geregelt. Teile dieser Bestimmungen, nämlich das Recht der Eheschließung und der Ehescheidung, waren durch das sog. Ehegesetz vom 6. 7. 1938 ersetzt. Dieses Gesetz ist von dem Kontrollrat durch ein neues für das gesamte deutsche Gebiet gültiges Gesetz vom 20. 2. 1946 abgelöst worden, das am 1. 3. 1946 in Kraft getreten ist. Zum Teil ist das neue Ehegesetz wieder zu den alten 38 ) Ausführliche Hinweise auf einzelne Schädigungen findet man in Dubitscheb, Der Suicid unter besonderer Berücksichtigung versorgungsrechtlicher Gesichtspunkte. 1957. Schuldt, Der Freitod in der Sozialversicherung; Soziale Sicherheit 4, 1955, S. 237; de Booe, Fortschr. 17, 1949, S. 483. 39 ) Aktenzeichen LJW 144/55.

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Grundsätzen des BGB zurückgekehrt; überwiegend hat es jedoch die Vorschriften des Ehegesetzes von 1938 beibehalten. Nach dem jetzt gültigen Gesetz kann der Geschäftsunfähige eine Ehe nicht eingehen (§2). Das BGB kannte diese Bestimmung bei den allgemeinen Ehevoraussetzungen nicht; sie wurde im Ehegesetz von 1938 eingefügt, und wirkt insofern nicht ganz vollständig, als die „Bewußtlosigkeit" und die „vorübergehenden Störungen der Geistestätigkeit" nicht erwähnt sind, die bei den Nichtigkeitsgründen sowohl im § 1325 des BGB, als auch im § 22 des EG 1938 wie im jetzt gültigen § 18 besonders enthalten sind. Auz 1 ) meint, diese Fälle seien praktisch so wenig bedeutsam, daß ihre besondere Erwähnung bei den Ehevoraussetzungen entbehrlich erscheine. Diese Begründung hält v. S C A N Z O N I 2 ) nicht für überzeugend. Ich möchte mich dieser Ansicht anschließen: entweder konnte man, wie früher auf die Erwähnung auch der Geschäftsunfähigkeit verzichten unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß volle Geschäftsfähigkeit selbstverständliches Erfordernis für die Eheschließung sei; wollte man das nicht tun, wäre es besser gewesen, alle Möglichkeiten aufzuzählen. Wichtig erscheint mir der folgende Paragraph : § 3. (1) Wer minderjährig oder aus anderen Gründen in der Geschäftsfähigkeit beschränkt ist, bedarf zur Eingehung einer Ehe der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters.

(2) . . . (3) Verweigert der gesetzliche Vertreter oder der Sorgeberechtigte die Einwilligung ohne triftige Gründe, so kann der Vormundschaftsrichter sie auf Antrag des Verlobten, der der Einwilligung bedarf, ersetzen.

Diese Bestimmung interessiert den Psychiater insofern, als nach ihr wegen Geistesschwäche, wegen Trunksucht oder Verschwendung Entmündigte heiraten können. Ich halte diese Vorschrift vom Standpunkt des Arztes aus gesehen für wenig zweckmäßig. Wie sollen diese Menschen, die mit ihren eigenen Angelegenheiten nicht fertig werden, nun auf einmal den doch komplizierteren Angelegenheiten einer Familie genügen können ? Wie sollen sie Kinder sachgemäß erziehen können, Kinder zumal, die bei der besonderen Wesensart der elterlichen Entmündigten ja wahrscheinlich auch Eigenheiten haben, die vom Gewöhnlichen abweichen und ihnen die Anpassung an das Leben mit seinen Forderungen erschweren? Glaubt man wirklich, daß ein entmündigter Trinker sich in der Ehe zu einem soliden Menschen entwickeln werde ? Glaubt man, daß ein Verschwender unter dem Einfluß der neugegründeten Familie sparsam sein werde ? Ist es wahrscheinlich, daß ein haltloser Psychopath nun plötzlich seine Haltlosigkeit verlieren werde ? Solche Ehen begünstigen, heißt nichts anderes, als unglückliche Familien, JW 1938, S. 2069. ) v. SCANZONI, S . 5 . HOFFMANN-STEPHAN ( S . 23) meinen, die Bestimmung sei nur der Vollständigkeit halber aufgenommen; weshalb dann nicht wirkliche Vollständigkeit erstrebt ist, ist nicht recht einzusehen. 2

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Not und Elend schaffen. Gerechtfertigt wäre diese Bestimmung nur, wenn man in der Ehe nichts anderes sähe als ein staatlich sanktioniertes sexuelles Verhältnis. Eine solche Degradierung hat aber dem Gesetzgeber, wie aus anderen Bestimmungen des Gesetzes hervorgeht, durchaus ferngelegen. Man wird mir einwenden, daß ja durch die Einschaltung des gesetzlichen Vertreters bzw. des Vormundschaftsrichters die Gewähr für eine vernünftige Anwendung gegeben sei. Dieser Meinung muß ich nach meinen Erfahrungen entschieden widersprechen. Der Vormund ist im allgemeinen gar nicht fähig, die hier liegenden Gefahren und Schwierigkeiten zu überblicken und richtig zu würdigen. Ich sehe dabei ganz ab von den Vormündern, die in der Heirat ihres Mündels eine gute Gelegenheit sehen, sich von der lästigen Verpflichtung zu befreien. Aber auch der durchaus gutwillige pflichtbewußte Vormund versagt hierbei in der Regel. Wie weit verbreitet ist z. B. die Meinung, daß durch Geschlechtsverkehr Geisteskrankheiten geheilt werden können! Wie wenig weiß der Laie von den der Nachkommenschaft drohenden Gefahren! Wie wenig ist er imstande, aus seiner Erfahrung heraus die Möglichkeiten von Reibungen zwischen den Eheleuten zu übersehen! Jede Ehe erfordert schließlich von jedem der Partner, daß er auf die eine oder andere Gewohnheit verzichtet, daß er sich auf die Wünsche des Partners einstellt. Das gelingt schon dem Durchschnittsmenschen nicht immer, oft genug erst nach anfänglichen Schwierigkeiten. Bei Abnormen aber — und bei Entmündigten handelt es sich immer um irgendwie Abartige — ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie sich am Ehepartner reiben, daß es zu immer wiederkehrenden Streitigkeiten kommt, viel größer. Man denke nur daran, wie die mangelhafte Autorität des entmündigten Ehemanns sich bei einem Streit mit der Ehefrau auswirken würde. Nur in seltenen Ausnahmefällen kann man mit gutem Gewissen einer Eheschließung zustimmen. M. E. gibt es zwei Wege, solche von vornherein verfehlten Ehen zu vermeiden : Einmal kann man die Eheschließung Entmündigter verbieten. Für diejenigen Entmündigten, die heiraten wollen, wäre dann die Wiederbemündigung Voraussetzung für die Eheschließung. Da bei diesem Verfahren ein Arzt als Sachverständiger zugezogen werden muß, würden wenigstens die gröbsten Gefahren vermieden werden können. Die zweite Möglichkeit bestände in der Einschaltung einer psychiatrischen Beurteilung, nach der dann der Vormundschaftsrichter — nicht der gesetzliche Vertreter — über die Eheschließung zu entscheiden hätte. Eine Ehe kann aus verschiedenen Gründen aufgelöst werden: sie kann für nichtig erklärt, aufgehoben oder geschieden werden. Aus dem Abschnitt, der die Nichtigkeit der Ehe behandelt, interessiert den Psychiater nur der § 18, der folgendermaßen lautet: § 18. (1) Eine Ehe ist nichtig, wenn einer der Ehegatten zur Zeit der Eheschließung geschäftsunfähig war, oder sich im Zustand der Bewußtlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit befand.

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(2) Die Ehe ist jedoch als von Anfang an gültig anzusehen, wenn der Ehegatte nach dem Wegfall der Geschäftsunfähigkeit, der Bewußtlosigkeit oder der Störung der Geistestätigkeit zu erkennen gibt, daß er die Ehe fortsetzen will. Die Vorschrift geht über das Eheverbot des § 2 hinaus (s. oben); am Wortlaut, der mit dem § 22 EG 1938 übereinstimmt 3 ), ist zu bemängeln der Ausdruck „Störung der Geistestätigkeit". Gemeint ist, wie das Reichsgericht schon früher mehrfach betont hat, eine die freie Willensbestimmung ausschließende Störung der Geistestätigkeit1). Das gilt, wie früher bereits auseinandergesetzt worden ist, auch für den § 105 BGB, der hier zugrunde gelegt ist. Von weit größerer praktischer Bedeutung ist die Aufhebung der Ehe. Unter ihren Gründen sind für unsere Betrachtungen besonders wichtig die §§ 32 und 33. § 32. (1) Ein Ehegatte kann Aufhebung der Ehe begehren, wenn er sieh bei der Eheschließung über solche persönlichen Eigenschaften des anderen Ehegatten geirrt hat, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden. (2) Die Aufhebung ist ausgeschlossen, wenn der Ehegatte nach Entdeckung des Irrtums zu erkennen gegeben hat, daß er die Ehe fortsetzen will, oder wenn sein Verlangen nach Aufhebung der Ehe mit Rücksicht auf die bisherige Gestaltung des ehelichen Lebens der Ehegatten als sittlich nicht gerechtfertigt erscheint. §33. (1) Ein Ehegatte kann Aufhebung der Ehe begehren, wenn er zur Eingehung der Ehe durch arglistige Täuschung über solche Umstände bestimmt worden ist, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe von djr Eingehung der Ehe abgehalten hätten. (2) Die Aufhebung ist ausgeschlossen, wenn die Täuschung von einem Dritten ohne Wissen des anderen Ehegatten verübt worden ist, oder wenn der Ehegatte nach Entdeckung der Täuschung zu erkennen gegeben hat, daß er die Ehe fortsetzen will. (3) Auf Grund einer Täuschung über Vermögensverhältnisse kann die Aufhebung der Ehe nicht begehrt werden. § 35. (1) Die Aufhebungsklage kann nur binnen eines Jahres erhoben werden. (2) Die Frist beginnt . . . mit dem Zeitpunkt, in welchem der Ehegatte den Irrtum oder die Täuschung entdeckt. . . . Der Absatz 1 des § 32 ist hervorgegangen aus dem § 1333 BGB; er hatte im.§ 37 EG von 1938 eine erweiterte Fassung gefunden, insofern dort nicht von „persönlichen Eigenschaften", sondern von „Umständen, die die Person des anderen Ehegatten betreffen" gesprochen wurde. Der Absatz 2 ist unverändert aus dem Ehegesetz von 1938 übernommen; er entspricht dem § 1337 Abs. 2 BGB, fügt diesem jedoch einen zweiten Ausschließungsgrund hinzu, nämlich den der „sittlich gebotenen Aufrechterhaltung der Ehe". Dagegen ist im § 33 von Umständen die Rede (ebenso im § 1334 BGB und § 38 EG 1938); diese Umstände müssen natürlich irgendeine Beziehung zum Ehepartner haben. So kann etwa Kriminalität der Familie, um nur ein Bei®) § 1325 BGB weicht im Abs. 2 dem Wortlaut, aber nicht dem Sinne nach ab. 4 ) R G Z 74, S. 111 u . 103, S. 4 0 0 ; 162, S. 1 2 8 ; v . SCANZONI, S. 40, VOLKMAB, S . 1 0 3 u n d HOFFMANN u n d STEPHAN, S. 2 4 U. 76.

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spiel zu nennen, ein Grund sein, die Ehe aufzuheben, vorausgesetzt freilich, daß eine arglistige Täuschung vorliegt6). Auch das Vorhandensein von erblichen Geisteskrankheiten in der Familie könnte wohl gelegentlich als solcher Umstand angesehen werden, auch wenn noch keine persönliche Eigenschaft im Sinne des § 32 vorliegt. Für den Psychiater ist bei weitem die wichtigste Bestimmung die des § 32. Hier ist zunächst zu fragen, was unter „persönlicher Eigenschaft" zu verstehen ist. Das Reichsgericht sagt darüber folgendes6): „Als ¡persönlich' im Sinne des § 1333 BGB" (der dem § 32 EG 1946 entspricht) „muß eine Eigenschaft dann gelten, wenn sie einer Person, und zwar nicht bloß als ein außer ihr Liegendes, mehr oder weniger Vorübergehendes und Zufälliges, sondern dergestalt wesentlich zukommt, daß sie als Ausfluß und Betätigung ihres eigentlichen Wesens, als ein wesentlicher Bestandteil ihrer Persönlichkeit erscheint. In diesem Sinne kann auch die sittliche Bescholtenheit, der schlimme Leumund, den eine Person sich erworben hat, eine persönliche Eigenschaft darstellen. Diese Bescholtenheit und dieser Leumund sind in ihrer Dauer unabhängig von der Dauer des Handelns, das sie veranlaßt hat. Sie können also auch bei der Eheschließung der Parteien weiterbestanden haben, trotzdem die Entstehungsursache jahrelang zurückliegt" 7 ). Das Reichsgericht führt das an Hand von Beispielen, die kriminelle Handlungen betreffen, weiter aus. Dabei sind auch die Lebensverhältnisse der Parteien zu berücksichtigen8). Nicht als Irrtumsgrundlage gelten dagegen solche persönlichen Verhältnisse, die „in einem rein äußerlichen Zusammenhang mit einer Person stehen, die Persönlichkeit als solche nicht berühren, z. B. Beruf, gesellschaftliche Stellung, Herkunft, Einkommens- und Vermögensverhältnisse9). Den Psychiater interessieren im wesentlichen zwei Fragen: 1. Ist die vor oder nach der Eheschließung entstandene Geisteskrankheit eine persönliche Eigenschaft und gegebenenfalls in welchem Umfange ? 2. Unter welchen Voraussetzungen ist die Anlage zur Geisteskrankheit als persönliche Eigenschaft im Sinne des § 32 anzusehen ?

Nicht jede Geisteskrankheit ist als persönliche Eigenschaft zu werten; nicht dazu gehören alle exogenen Erkrankungen, insbesondere die vorübergehenden Geistesstörungen bei körperlichen Erkrankungen. Aber auch die progressive Paralyse kann als persönliche Eigenschaft nicht gelten, es sei denn, daß der Ehegatte zur Zeit der Eheschließung schon an einer Syphilis 6

) Das Reichsgericht erwähnt einen Fall, in dem die Mutter der Beklagten gewohnheitsmäßig Abtreibungen vorgenommen hatte, und in dem auch die beiden Schwestern der Mutter sich strafbar gemacht oder einen unsittlichen Lebenswandel geführt haben sollten (JW 1939, S. 156 u. RGZ 150, S. 183). 6 ) H R R 1930, Nr. 1460. ') RGZ 52, S. 306/310; 95, S. 289; 104, S. 335; 146, S. 243; RGR-Komm. § 1333, Anm. 3. 8 ) BGHZ 25, S. 67. ") R G Z 1 0 4 , S. 3 3 ; HOFFMANN-STEPHAN, S. 1 0 4 . 17 L a n g e l a d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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litt, die d a n n ihrerseits die Voraussetzungen des § 32 E G erfüllt. H a t dagegen der eine E h e g a t t e vor der E h e eine endogene Psychose überstanden, so ist darin eine persönliche Eigenschaft zu erblicken 1 0 ). Dabei ist das Gericht a n die Feststellung anderer Gerichte (früher z. B. Erbgesundheitsgerichte) n i c h t gebunden, es h a t selbständig u n d u n a b h ä n g i g die E h e a u f h e b u n g zu prüfen 1 1 ). D a s scheint mir richtig, d a im E r b g e s u n d h e i t s v e r f a h r e n jeder Zweifel d e m K r a n k e n z u g u t e k o m m e n m u ß , w ä h r e n d im E h e a u f h e b u n g s s t r e i t auch die Interessen des anderen, gesunden E h e p a r t n e r s berücksichtigt werden können. Als persönliche Eigenschaften sind auch Verhaltensweisen u n d Reaktionsweisen auf psychopathischer Grundlage anzusehen. Stellt sich z. B. w ä h r e n d d e r E h e heraus, d a ß j e m a n d zu phantastischen Lügen neigt, so d a ß m a n i h m nichts glauben k a n n , so k a n n ein gegenseitiges V e r t r a u e n , wie es in einer E h e bestehen soll, sich n i c h t entwickeln; a u c h hysterische Reaktionen, k r a n k h a f t e s Mißtrauen u n d Eifersucht können hierher gerechnet werden. F e r n e r k o m m e n in B e t r a c h t namentlich Epilepsie, Schizophrenie, manisch-depressive E r k r a n k u n g e n , angeborener Schwachsinn 1 2 ). Aber n i c h t n u r n a c h a u ß e n hervortretende, f ü r jeden erkennbare Besonderheiten sind als persönliche Eigenschaften zu werten, sondern auch die nicht sichtbare, aus b e s t i m m t e n U m s t ä n d e n n u r erschließbare Anlage zu b e s t i m m t e n Geistesk r a n k h e i t e n . E s k a n n j a j e m a n d , der ganz gesund erscheint, eine e r e r b t e u n d vererbbare K r a n k h e i t s a n l a g e in sich t r a g e n ; ein erscheinungsbildlich (phänotypisch) gesunder, wertvoller Mensch k a n n erbbildlich (genotypisch) selbst gefährdet sein u n d d u r c h seine Anlage seine etwaigen N a c h k o m m e n gefährden. Die R e c h t s p r e c h u n g h a t sich auf diesem Gebiet, e n t s p r e c h e n d den F o r t s c h r i t t e n , die die Wissenschaft g e m a c h t h a t , erst allmählich entwickelt, h a t j e t z t aber einen S t a n d erreicht, dem m a n als Arzt d u r c h a u s zus t i m m e n k a n n , — einen S t a n d , der sich von Übertreibungen f e r n h ä l t , aber in d u r c h a u s genügenderWeise den Erkenntnissen der E r b Wissenschaft Rechnung trägt. NITSCHE h a t t e 1936 die Ansicht vertreten, d a ß die E h e a u f h e b u n g möglich sein müsse, wenn Geschwister, ein Onkel oder eine T a n t e eines Eheg a t t e n n a c h der Verheiratung e r b k r a n k werde 1 3 ). D e m h a t L U X E M B U R G E R m i t R e c h t widersprochen 1 4 ). L U X E N B U R G E R h a t Teilanlagen f ü r Schizophrenie f ü r etwa 1 9 % der Bevölkerung errechnet. Bei einer so weiten Verbreitung der K r a n k h e i t s a n l a g e würden u n t r a g b a r e Folgen entstehen, wenn 10 ) RGZ 148, S. 399; für Schizophrenie war das schon vorher bejaht (RGZ 145, S. 12). u ) RGZ 151, S. 1. 12 ) HOFFMANN-STEPHAN, S.122ff.; dort weitere Hinweise. Bemerkenswert ist eine Entscheidung des BGHZ 25, S. 78, durch die eine Ehe wegen Narkolepsie aufgehoben wurde, auch dadurch, daß die besonderen kleinbäuerlichen Lebensverhältnisse berücksichtigt sind. 13 ) AZPs. 104, 1936, S. 225. 14 ) Ztschr. psych. Hygiene 10, 1937, S. 185; dazu weiter BERINGER, AZPs. 111, 1939, S. 1.

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man jede Ehe nur deswegen aufheben könnte. Er hält eine Eheaufhebung nur dann für berechtigt, wenn der Beklagte „Träger des vollen, zur Krankheit disponierenden Anlagesatzes" ist. Er fordert vom Erbbiologen „große Zurückhaltung" gegenüber der Anfechtung bzw. Aufhebung der Ehe aus Erbgesundheitsgründen. Das Reichsgericht hat noch 1920 eine „bloße krankhafte Anlage" als Eigenschaft im Sinne des § 1333 BGB abgelehnt 16 ). Dieser Standpunkt ist allmählich aufgegeben. Es wird jetzt ein Unterschied gemacht, je nachdem die Anlage vererblich ist oder nicht. Ist sie nicht vererblich, so begründet sie die Aufhebung der Ehe nur dann, wenn sie nach ärztlicher Erfahrung mit Notwendigkeit zur Geisteskrankheit führen muß 16 ). Eine unbestimmte Besorgnis genügt in diesem Falle nicht 17 ). Anders liegen die Dinge, wenn der Beklagte Träger einer vererbbaren Anlage ist. In diesem Falle wird nach heutiger Auffassung die Aufhebung zuzulassen sein, wenn mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, daß die aus der Ehe hervorgehenden Kinder erheblich über dem Durchschnitt der Gefahr geistiger Erkrankung ausgesetzt sind 18 ). Das Reichsgericht hat nach einigen stark kritisierten Entscheidungen, die hier nicht besonders erwähnt zu werden brauchen, weil sie wissenschaftlich nicht haltbar und überholt sind 19 ), zunächst folgen de Entscheidung getroffen: „Ist ein Ehegatte, auch wenn bei ihm selbst keine Anzeichen einer geistigen Erkrankung hervorgetreten sind, Träger einer sich auf die Nachkommenschaft vererbenden Anlage zu einer periodisch zum Ausbruch kommenden Krankheit, dann ist eine solche Anlage eine persönliche Eigenschaft im Sinne des § 1333 BGB und begründet für den gesunden Ehepartner das Anfechtungsrecht" 20 ). Diesen sehr weitherzigen Standpunkt hat das Reichsgericht m. E. mit Recht, durch zwei spätere Urteile dahin eingeschränkt, daß durch eine solche Anlage nicht regelmäßig die Aufhebung der Ehe gerechtfertigt werde. Wesentlich sei vielmehr die Gefährdung der Nachkommenschaft. In einem dieser Fälle war die Mutter des einen Ehegatten schizophren; die Wahrscheinlichkeit, daß Nachkommen aus dieser Ehe krank wurden, betrug 2,42% nach G Ü T T - R Ü D E N - R U T T K E , 3 % nach L U X E N B U B G E R gegenüber 0 , 8 % bei der Durchschnittsbevölkerung 21 ). Das zweite Urteil vom 3. 7. 1942 betraf 15

16

) MEQGENDORFER, Ziv.Arch. 145, S. 217.

) RGZ 148, S. 398; JW 1930, S. 989; Das Recht 1930, Nr. 1510. ") RGZ 168, S. 64. Warn.Rspr. 34, Nr. 11. 18 ) HOFFMANN-STEPHAN, S. 123. Dort mehrere Hinweise, namentlich auf RGZ 168, S. 64. 19

) JW 1936, S. 249 u. S. 1668; ähnlich RGZ 151, S. 4. Dagegen MEINHOP, JW

1936, S. 3 4 4 5 , LIEBNITZ, D t s c h . Ä r z t e b l . 1936, S. 9 2 u n d MASSFELLER, D J S. 1287 u. J W 1936, S. 3 0 4 5 . 2

1936,

°) MASSFELLER, D J 1936, S. 1287 u. J W 1936, S. 3045.

21

) Urteil vom 13. 10. 1938 (JW 1939, S. 106); dazu RGZ 153, S. 78; 158, S. 268 u. JW 1937, S. 616. 17*

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die Tochter einer manisch-depressiven Mutter 22 ). Die Beklagte war 30 Jahre alt, erscheinungsbildlich völlig gesund. Die Gefahr, daß Kinder aus dieser Ehe erkrankten, war nur unwesentlich größer als bei der Durchschnittsbevölkerung, so daß gegen die Erzeugung von Kindern keine Bedenken bestanden . Die Erkrankungswahrscheinlichkeit der Beklagten selbst war zwar erheblich größer als beim Durchschnitt (24,4% gegenüber 0,44% ira Durchschnitt); „scheidet aber eine Gefährdung der Nachkommenschaft aus . . ., so steht die Eigenschaft des einen Eheteils als Träger krankhafter Erbanlagen einem normalen Eheleben nicht ohne weiteres entgegen. Es kann also im Regelfall unbedenklich abgewartet werden, ob die Krankheit manifest wird." Gegen dieses Urteil hat v. SCAJSTZONI in einer Bemerkung dazu Bedenken geäußert; er meint, es rücke zu sehr von dem inneren Gedanken der Eheaufhebung ab. Mir scheint dieses Urteil dem individuellen Interesse ebenso gerecht zu werden wie dem Interesse der Gesamtheit. Die häufigste vererbbare Geisteskrankheit ist zweifellos die Schizophrenie. Nimmt man mit LUXENBURGER an, daß 1 9 % der Bevölkerung Teilanlagen zur Schizophrenie hat, so bedeutet das, daß solche Teilanlagen in rund 34% aller Ehen vorhanden sind 23 ). Dazu kommen noch die Anlagen zu anderen Erbkrankheiten. Die Eheaufhebungen würden ins Uferlose wachsen, wollte man die Anlage allein ohne jede Einschränkung als Eheaufhebungsgrund ansehen. MASSFELLER h a t zu dieser Frage ausgeführt, und dieser Ansicht möchte ich mich anschließen, eine sichere Entscheidung sei nur in drei Fällen möglich, nämlich 1. wenn entweder beide Elternteile schizophren seien oder wenn 2. zwar nur ein Elternteil schizophren, der betreffende Ehegatte selbst aber ald schizophrenieähnlicher Psychopath oder sonst geistig abnormer Typ anzusehen sei, oder 3. wenn zwar nur ein Elternteil schizophren sei, der betreffende Ehegatte aber schon ein Kind geboren oder, wie man hinzusetzen muß, erzeugt habe, das schizophren oder ein schizophrenieähnlicher Psychop a t h sei24). Die letztgenannte Möglichkeit wird dabei kaum in Betracht kommen, da die Ehe dann in der Regel mindestens etwa 2 Jahrzehnte besteht und mit weiterer Nachkommenschaft nicht zu rechnen ist. Zu den Anlagen, die zur Aufhebung der Ehe führen können, gehört auch die aus irgendeiner Ursache vorhandene, aber erst während der Ehe erkennbare erhöhte Reaktionsbereitschaft oder gesteigerte Vulnerabilität, vorausgesetzt, daß die Reaktionen aus dem Bereich des Normalen deutlich herausfallen 26 ). 22

) RGZ 168, S. 61; DR 1941, S. 517. ) Diese Zahl kommt dadurch zustande, daß in rund einem Fünftel der Fälle, d. h. in rund 4% Anlageträger zusammentreffen; diese 4% sind von 38% abzuziehen. 23

24

) J W 1937, S. 616, A n m . ; ähnlich LIEBNITZ, D J , S. 1466.

25

) DR 1939, S. 1327. Es handelte sich um eine reaktive geistige Erkrankung, als deren Ursache Geburt eines Kindes, Wechsel der Hausangestellten, Erkrankung des Kindes, Versetzung des Klägers anzusehen waren, Ereignisse also, wie sie kaum in einer Ehe ausbleiben. Dazu kam Selbstmordneigung und der Umstand, daß die Be-

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Der Ausdruck „bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe ' enthält einen objektiven und subjektiven Maßstab. Der objektive Maßstab ist nur aus der allgemeinen Auffassung vom Wesen der Ehe zu gewinnen. Diese unterliegt im Laufe der Zeiten gewissen Wandlungen ; sie ist innerhalb derselben Gesellschaft verschieden je nach dem kirchlichen Bekenntnis. In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts schien es, als ob die Institution der Ehe eine Krise durchmache. Die Ehe erschien in vielen literarischen Produkten als nicht viel mehr als ein sexuelles Verhältnis, das man, sobald man seiner überdrüssig wurde, am besten löse. Selbst von ernst zu nehmenden Männern wurden Vorschläge zur Reform der Ehe gemacht, die praktisch zu einer Auflösung der Ehe überhaupt geführt hätten 26 ). Allen diesen Tendenzen gegenüber hat sich die wirkliche Ehe erhalten. Wir dürfen heute ihr Wesen etwa so kennzeichnen: Die Ehe ist eine von der Gemeinschaft gewollte und von ihr geschützte, auf gegenseitiger Treue, Liebe und Achtung beruhende dauernde Lebensgemeinschaft zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum Zwecke der Erzeugung von Kindern und ihrer Erziehung zu tüchtigen Menschen 27 ). Die beanstandete Eigenschaft muß also nach verständiger Würdigung geeignet sein, das Zustandekommen einer solchen Gemeinschaft zu verhindern. Dabei muß freilich berücksichtigt werden, daß auch in einer guten Ehe jeder Ehepartner auf den anderen Rücksicht zu nehmen hat, daß beide Geduld üben müssen, daß gelegentlich Streitigkeiten vorkommen. Der subjektive Maßstab liegt dagegen in der Einstellung gerade des irrenden Ehegatten zu der betreffenden Eigenschaft, zu den betreffenden Umständen. Es ist also zu prüfen, ob gerade ihn diese Eigenschaft, diese Umstände von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden 28 ). Dabei soll jedoch nach der Meinung des Reichsgerichts den allgemeinsittlichen Gesichtspunkten gegenüber den persönlichen Interessen das größere Gewicht zukommen 29 ). Mit anderen Worten: nur wenn die Eigenschaft objektiv geeignet ist, die Aufhebung der Ehe zu rechtfertigen, hat die subjektive Einstellung des Klägers Bedeutung. Hat also, um das an zwei Beispielen kurz zu erläutern, der Beklagte zur Zeit der Eheschließung eine Lues gehabt, von der der andere nichts wußte, so ist eine Eigenschaft vorhanden, die objektiv die Aufhebung der Ehe rechtfertigen würde. Es kommt dann darauf an, wie sich der andere Partner zu dieser Entdeckung stellt. Handelt es sich dagegen etwa um eine gewisse Überempfindlichkeit eines Partners, die aber klagte während ihrer geistigen Erkrankung versucht hatte, ihre beiden Kinder zu töten. Hier wäre wohl auch Scheidung nach § 44 EG möglich gewesen. 2e ) Zu erinnern ist etwa an die von L I N D S E Y und E V A N S vorgeschlagene Kameradschaftsehe (deutsch von N U T T , 1928), deren gute Absicht nicht zu verkennen ist. 27 ) Diese Charakterisierung beruht auf v. SCANZONI, S . 1, und auf einem Vorschlag der Akademie für deutsches Recht in MÖSSMER, Neugestaltung des deutschen Ehescheidungsrechts, S. 11. 28

29

) VOLKMAR, S . 1 4 1 ; P A L A N D T , S . 2 2 2 9 ; H O F F M A N N - S T E P H A N , S . 1 1 6 .

) RGZ 158, S. 268 u. RG JW 1939, S. 106.

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mit etwas Geduld durchaus ertragen werden könnte, so liegt objektiv kein Grund zur Aufhebung der Ehe vor; dann ist es ohne Bedeutung, wie sich der andere Partner dazu einstellt. Der Absatz 2 des § 32 (ebenso § 37 EG von 1938) schränkt die Aufhebungsmöglichkeit gegenüber dem § 1333 BGB ein: die Aufhebung ist nicht nur dann ausgeschlossen, wenn der irrende Ehegatte nach Entdeckung seines Irrtums die Ehe bestätigt, sondern auch dann, wenn sie mit Rücksicht auf die bisherige Gestaltung des ehelichen Lebens sittlich nicht gerechtfertigt erscheint. Der Sinn dieser Bestimmung liegt darin, daß sich ein Ehegatte nicht auf einen Aufhebungsgrund soll berufen können, der im Laufe einer langjährigen Ehe seine Bedeutung verloren und in keiner Weise ungünstig auf die Gestaltung der Ehe eingewirkt hat und einwirken wird30). Die Aufhebungsklage ist an eine bestimmte Frist geknüpft, die mit dem Zeitpunkt beginnt, in welchem der Ehegatte den Irrtum oder die Täuschung entdeckt. Diese Frist beträgt jetzt ein Jahr (§ 35; ebenso § 40 EG 1938), während sie früher nur ein halbes Jahr betrug. Diese Verlängerung entsprach einem allgemeinen Bedürfnis. Neben anderen Gründen spielt bei Geisteskranken noch der Umstand eine Rolle, daß oft genug der gesunde Ehegatte hofft und glaubt, die Krankheit könne sich noch bessern. Das gilt namentlich für bis dahin glückliche Ehen. Es bedarf erst einer durch die Krankheit erzeugten inneren Lösung, bevor sich in solchen Fällen der gesunde Ehegatte entschließt, verstandesmäßigen Erwägungen zu folgen. Selbst die Frist von einem Jahr genügt in vielen Fällen nicht, um diese innere Lösung herbeizuführen31). Nach meinen eigenen Erfahrungen sind daher Ehescheidungsklagen nach § 45 EG viel häufiger als Aufhebungsklagen. Wichtig ist die Frage, wann die Frist zu laufen beginnt. Das geschieht keineswegs schon immer mit der Kenntnis allein, daß der andere Ehegatte geisteskrank ist. Wird z. B. die Aufhebungsklage auf das Vorliegen einer Erbkrankheit gestützt, so rechnet die Frist erst von dem Tage, an welchem der klagende Ehegatte erfahren hat, daß es sich um eine Erbkrankheit handelt. Maßgebend ist also, wann der klagende Ehegatte Kenntnis erhält von der persönlichen Eigenschaft oder den Umständen, auf die er seine Klage stützt32). Das ist berechtigt, da der Laie mit großer Zähigkeit äußere Ursachen für die Entstehung von Geisteskrankheiten verantwortlich macht. Man tut gut, über die erfolgte Aufklärung eine Notiz in die Krankengeschichte zu machen. Von den Ehescheidungsgründen interessieren den Psychiater vornehmlich die §§ 44 und 45. Doch scheint es mir zweckmäßig, auch die §§ 42 und 43, in 30)

RGZ 159, S. 183; DR 1939, S. 172. Wam.Rspr. 1940, Nr. 7. Eine eigenartige, wohl durch die sakramentale Bedeutung der Ehe in der katholischen Kirche bedingte Stellungnahme fand ich bei dem Ehemann einer schwer defekten Schizophrenen. Zur Ehescheidung oder -aufhebung konnte er sich nicht entschließen, fragte aber ganz ernst, ob wir Ärzte seine Frau nicht durch eine Spritze von ihrem Leiden erlösen könnten. 32 ) RG Urteil vom 28. 11. 1938; J W 1939, S. 635. 31 )

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denen die Ehescheidung wegen Verschuldens behandelt wird, mit anzuführen, weil eine Eheverfehlung auch Voraussetzung des § 44 ist. § 42. (1) Ein Ehegatte kann Scheidung begehren, wenn der andere die Ehe gebrochen hat. (2) Er hat kein Recht auf Scheidung, wenn er dem Ehebruch zugestimmt oder ihn durch sein Verhalten absichtlich ermöglicht oder erleichtert hat. § 43. Ein Ehegatte kann Scheidung begehren, wenn der andere durch eine schwere Eheverfehlung oder durch ehrloses oder unsittliches Verhalten die Ehe schuldhaft so tief zerrüttet hat, daß die Wiederherstellung einer ihrem Wesen entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht mehr erwartet werden kann. Wer selbst eine Verfehlung begangen hat, kann die Scheidung nicht begehren, wenn nach der Art seiner Verfehlung, insbesondere wegen des Zusammenhangs der Verfehlung des anderen Ehegatten mit seinem eigenen Verschulden, sein Scheidungsbegehren bei richtiger Würdigung des Wesens der Ehe sittlich nicht gerechtfertigt ist. § 44. Ein Ehegatte kann Scheidung begehren, wenn die Ehe infolge eines Verhaltens des anderen Ehegatten, das nicht als Eheverfehlung betrachtet werden kann, weil es auf einer geistigen Störung beruht, so tief zerrüttet ist, daß die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht erwartet werden kann. § 45. Ein Ehegatte kann Scheidung begehren, wenn der andere geisteskrank ist, die Krankheit einen solchen Grad erreicht hat, daß die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben ist, und eine Wiederherstellung dieser Gemeinschaft nicht erwartet werden kann. § 46 behandelt die Scheidung wegen ansteckender oder ekelerregender Krankheit. § 47. In den Fällen der §§ 44—46 darf die Ehe nicht geschieden werden, wenn das Scheidungsbegehren sittlich nicht gerechtfertigt ist. Dies ist in der Regel dann anzunehmen, wenn die Auflösung der Ehe den anderen Ehegatten außergewöhnlich hart treffen würde. Ob dies der Fall ist, richtet sich nach den Umständen, namentlich auch nach der Dauer der Ehe, dem Lebensalter der Ehegatten und dem Anlaß der Erkrankung. N a c h dem früheren Scheidungsrecht des B G B konnte eine E h e m i t geringen Ausnahmen nur dann geschieden werden, wenn ein Verschulden vorlag; Zerrüttung war nur dann ein Scheidungsgrund, wenn sie schuldhaft herbeigeführt war. Die einzige Ausnahme bildete der § 1569 B G B , dem der jetzige § 45 mit gewissen Abweichungen entspricht. I m jetzigen Ehegesetz (und ebenso im E G 1938) ist nun neben das Verschuldungsprinzip gleichberechtigt das Zerrüttungsprinzip getreten. Jede Ehe ist eine Art Lotteriespiel: m a n merkt erst später, ob man einen Treffer gezogen hat. Jede E h e verlangt von beiden Ehegatten aber auch den Willen, sich anzupassen, Rücksichtnahme auf den anderen, Zurückstellen eigener Wünsche. D a s fällt manchem schwer, manchem gelingt es gar nicht. E s k o m m t dann überhaupt nicht zu einer rechten Ehe. Oder aber die zunächst scheinbar glücklichen Ehegatten leben sich allmählich auseinander, weil nach dem Abkühlen der Leidenschaften sich herausstellt, daß die verschieden gearteten Persönlichkeiten nicht zueinander passen. Solche Ehen, die in Wirklichkeit nur noch Konkubinate sind, sind sowohl v o m Standpunkte der Ehegatten wie v o n d e m der

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Allgemeinheit sinnlos. Das neue Gesetz hat dem in den angeführten Bestimmungen und namentlich im § 48 Rechnung getragen. Ohne Verschulden ist nach dem Ehegesetz von 1946 die Ehescheidung in vier Fällen möglich, nämlich dann, wenn 1. ein auf einer geistigen Störung beruhendes Verhalten des einen Ehegatten vorliegt, das ohne diese Störung schuldhaft wäre (§ 44); 2. wenn durch Geisteskrankheit bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind (§ 45); 3. bei ansteckender oder ekelerregender Krankheit (§ 46) und 4. wenn die Zerrüttung durch dreijährige Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft deutlich geworden ist (§ 48).

Von diesen Möglichkeiten interessieren hier nur die beiden ersten. Der Scheidungsanspruch aus § 44 EG setzt ein ehezerrüttendes Verhalten des geistig gestörten Ehegatten voraus, das sich sachlich als schwere Eheverfehlung im Sinne von § 42 oder 43 darstellt 33 ). Es genügt nicht, daß die Ehe durch die unmittelbaren Wirkungen der geistigen Störung auf das eheliche Verhältnis, insbesondere eine dadurch bewirkte Beeinträchtigung der geistigen Gemeinschaft der Eheleute zerrüttet worden ist 34 ). Die Anwendung des § 44 EG setzt weiter voraus, daß ohne die Geistesstörung des beklagten Eheteils Scheidung aus seinem Verschulden erfolgen könnte; sie entfällt also, wenn im Falle des § 42 EG die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen würden 36 ). Aus dem Wortlaut des § 44 ergeben sich für den Sachverständigen zunächst drei Fragen, zu denen er Stellung zu nehmen hat: 1. Liegt eine geistige Störung vor ? 2. Beruht die objektiv festgestellte Eheverfehlung, deren Art das Gericht dem Sachverständigen anzugeben hätte, auf der etwa vorhandenen geistigen Störung ? 3. Ist die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft zu erwarten ?

Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir zunächst wissen, wa3 „geistige Störung" im Sinne des § 44 EG bedeutet. Die verschiedenen Kommentare neigen dazu, die leichteren Abnormitäten hierher zu rechnen, während sie dem § 45 die schwereren vorbehalten 86 ). So werden erwähnt etwa Hysterie, Suchten verschiedener Art, leichtere Psychopathie, Neurasthenie, Zwangsneurosen, echte Kleptomanie, krankhafte Bigotterie, krankhafte Zanksucht und Eifersucht u. a. Das Reichsgericht versteht darunter „alle geistig und seelisch vom Normalen abweichenden Zustände (im Vorstellungs-, Willens- oder Triebleben), die zwangsläufig ein dem gesunden Menschen fremdes Handeln und Unterlassen zur Folge haben und ähnlich P A L A N D T . ) Die Voraussetzungen sind in objektiver Beziehung dieselben wie in §§ 42 u. 43 (RGZ 1 6 0 , S. 305). 35 ) RG DR 1943, S. 1105. 3E ) VOLMAR, v. SCANZONI, P A L A N D T , dazu auch MEGGENDORFER, Ziv.Arch. 1 4 5 , 33

) R G Z 164, S. 52; R G D R 1940, S. 1885;

34

S . 1 9 9 ff. HOFFMANN-STEPHAN, S. 2 0 4 .

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einen solchen Grad aufweisen, daß der beklagte Ehegatte für sein Verhalten nicht verantwortlich oder jedenfalls nicht voll verantwortlich gemacht werden kann" 3 7 ). Dabei soll es nicht auf bestimmte, diagnostisch abgrenzbare Geisteskrankheiten ankommen, sondern vielmehr auf einzelne abnorme Handlungsweisen, z. B. auch „nervöse Störungen" wie Psychoneurose oder Zwangsneurose. So kann eine Ehe durch den zwangsmäßig auftretenden Wunsch des einen Ehegatten, der andere Ehegatte möge sterben, ihm möge etwas Böses zustoßen, ohne Verschulden zerrüttet werden 38 ). Mir scheint, daß die hier angeführten geistigen Abwegigkeiten dadurch ziemlich stark beschnitten werden, daß die Frage der Verantwortlichkeit auftaucht. Diese ist zwar im Wortlaut nicht ausdrücklich genannt; es heißt hier lediglich, die Eheverfehlung müsse auf einer geistigen Störung beruhen. Aus der Gegenüberstellung der Überschriften der beiden Gruppen von Ehescheidungsgründen „Scheidung wegen Verschuldens (Eheverfehlungen)" und „Scheidung aus anderen Gründen" ergibt sich aber, daß in der zweiten Gruppe ein Verschulden nicht vorliegen darf. Das kann bei einer objektiv vorhandenen Eheverfehlung nur dann der Fall sein, wenn der beklagte Ehepartner für seine Handlungsweise nicht verantwortlich zu machen ist. Selbst wenn man sich mit dem Reichsgericht (s. oben) mit einer erheblich verminderten Verantwortlichkeit begnügen will39), so scheiden doch manche der oben aufgeführten Zustände für die Anwendung des § 44 aus. Der Sachverständige wird z. B. bei einer „leichteren Psychopathie" nur volle Verantwortlichkeit annehmen können. Täte er das nicht, würde er sich in Widerspruch mit sich selbst setzen müssen, da er im Strafverfahren unmöglich allen leichteren Psychopathen die Vergünstigung auch nur des § 51 Abs. 2 StGB zubilligen könnte; er müßte sie sonst der Mehrzahl der Verbrecher überhaupt zugestehen. Wenn daher v ScAirzoNi meint, die Sachverständigen legten hier immer noch einen zu strengen Maßstab an, so kann ich dieser Auffassung nicht zustimmen 40 ). Das Reichsgericht hat übrigens in einer neueren Entscheidung 41 ) den gleichen Standpunkt vertreten. Danach ist ein Verschulden nur dann nicht gegeben, wenn infolge des krankhaften Geisteszustandes die freie Willensbestimmung des Beklagten ausgeschlossen ist, oder wenn mit anderen Worten dem Beklagten die Fähigkeit gefehlt hat einzusehen, daß sein Verhalten geeignet war, die Ehe zu zerrütten, oder aber 37 ) RG DR 1942, S. 1553; RGZ 161, S. 106; ähnlich OLG Stettin JW 1939, S. 696. 38 ) RGZ 161, S. 106. 39 ) Das Reichsgericht hat später mit Recht Zurechnungsunfähigkeit verlangt; s. folgende Ausführungen. 40 ) Auch Bf,RINGER (Nervenarzt 11, 1938, S. 554) fordert mit Recht, daß die abartige Wesensverfassung hochgradig sein müsse; ebenso M e g g e n d o r f e r (Fortschr. 11, 1939, S. 12 u. Ziv.Arch. 145, S. 228). 41 ) RGZ 163, S. 341; ähnlich RG DR 1939, S. 1327: „Bei der Prüfung des Sachverhalts . . . ist zu untersuchen, ob das Verhalten des beklagten Ehegatten eine Eheverfehlung darstellen würde, wenn er dafür verantwortlich wäre."

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die Fähigkeit, sein Verhalten nach dieser Einsicht einzurichten. Dieser Auffassung hat sich der Bundesgerichtshof angeschlossen, der verlangt, die von der Norm abweichende geistige Beschaffenheit des Beklagten müsse derartig sein, daß die „Verantwortlichkeit ausgeschlossen" sei42). Damit würde der Beklagte für die von ihm behauptete Zurechnungsunfähigkeit beweispflichtig 43 ). I m übrigen wird durch die Annahme der vollen Verantwortlichkeit die Ehescheidung nicht erschwert, da immer ja eine Eheverfehlung vorliegen muß, die an sich genügt, um die Ehescheidung zu begründen. Freilich reihen sich die §§43 und 44 E G nicht lückenlos aneinander; es sind vielmehr Fälle denkbar, in denen beide nicht anwendbar sind. Das kann dann der Fall sein, wenn die Zurechnungsfähigkeit des beklagten Ehegatten zwar nicht aufgehoben, aber gemindert war. Dann kann die vorhandene Störung der Geistestätigkeit den etwa begangenen Handlungen die Eigenschaft als schwere Eheverfehlung nehmen und dadurch die Ehescheidung unmöglich machen 44 ). Hier müßte ein Weg gefunden werden, um diese Lücke auszufüllen. Denn es ist klar, daß in solchen Fällen die Zerrüttung der Ehe in gleicher Weise vorhanden ist wie in den Fällen der §§43 und 44; es bedeutet eine unbillige Härte gegenüber dem klagenden Ehegatten, eine solche Ehe weiter bestehen zu lassen. Am einfachsten wäre es wohl, wenn man im § 43 statt „schwere Eheverfehlung" einfach „Eheverfehlung" setzte. Durch die weitere Forderung, daß durch diese Ehe Verfehlung eine so tiefe Zerrüttung der Ehe eingetreten sein muß, daß die Wiederherstellung einer ihrem Wesen entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht erwartet werden kann, ist schon zum Ausdruck gebracht, daß nicht jede Eheverfehlung gemeint ist. Bei Fortlassung des Beiwortes „schwer" käme es aber f ü r die Frage der Ehescheidung nur mehr auf die zerrüttende Wirkung der Eheverfehlung an ; die Schuld würde dann eine Frage von sekundärer Bedeutung werden; sie könnte fehlen, vermindert sein oder in vollem Umfange gegeben sein, ohne daß dadurch die Möglichkeit der Scheidung berührt würde. Nach diesen Ausführungen wird sich sagen lassen : Man wird zwar geistige Abartigkeiten der verschiedensten Art in Erwägung ziehen können; die Voraussetzungen des § 44 EG werden jedoch nur dann erfüllt sein, wenn durch die geistige Abartigkeit die Verantwortlichkeit aufgehoben oder mindestens erheblich vermindert 45 ) ist. Daraus ergibt sich zwangsläufig, daß die geistige Störung einen immerhin erheblichen Grad erreicht haben muß. Abgesehen von den leichteren psychotischen Zuständen (Manie, leichtere Formen der Schizophrenie u. dgl.), durch die noch nicht die geistige Gemein42

) BGHZ 1, S. 132. ) Entscheidung des OLG Hamburg vom 20. 5. 1957 (8 U 62/56): „Ein Ehegatte, der sich gegenüber einer auf sein Verschulden gestützten Scheidungsklage seines Ehepartners auf einen Schuldausschließungsgrund beruft, muß ihn beweisen (vgl. BGHZ 18, S. 189)." 44 ) RGZ 168, S. 341; 164, S. 248; 169, S. 117 (dort ein instruktives Beispiel); RGR-Komm. zu BGB, 8. Aufl. « ) RGZ 159, S. 316. 43

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schaft aufgehoben ist, die daher auch nicht die Voraussetzungen des § 45 erfüllen, kommen m. E. nur schwerste Psychopathien und andere beträchtliche Abweichungen von der Norm für die Anwendung des § 44 EG in Frage. Unter „dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft" ist nicht dasselbe zu verstehen wie unter „geistiger Gemeinschaft" im § 45. Es ist die „auf gegenseitiger Treue, Liebe und Achtung beruhende dauernde Lebensgemeinschaft", also nicht ein bloßes äußeres Zusammenleben, sondern ein Leben im Einklang miteinander. Der Begriff der „geistigen Gemeinschaft" ist vom Reichsgericht wiederholt umschrieben. So heißt es in einem Urteil 4 6 ): „Die geistige Gemeinschaft der Ehegatten äußert sich in der gegenseitigen Anteilnahme an dem, was das geistige Leben der Ehegatten erfüllt, also namentlich an dem körperlichen und geistigen Wohl des anderen Ehegatten und der Kinder, sowie an sonstigen Familienangelegenheiten. — Diese Anteilnahme darf aber nicht lediglich eine innere, sich auf bloße Gefühlsäußerungen beschränkende sein, sondern muß sich durch Handlungen, die sich als Ausfluß des gemeinsamen Denkens und Fühlens des Ehegatten darstellen, praktisch betätigen . . . " Die geistige Gemeinschaft ist die Voraussetzung der Lebensgemeinschaft; die letztere umfaßt mehr als die erstere, sie begreift namentlich in höherem Maße als die erstere alle gefühlsmäßigen Bindungen in sich, die in der Ehe mitspielen 47 ). Dabei ist die im Schrifttum kaum berührte Frage zu erörtern, was im Einzelfall „Lebensgemeinschaft" und „geistige Gemeinschaft" zu bedeuten habe 48 ). M. E. haben beide Begriffe einen ganz verschiedenen Inhalt, je nach der Qualität der Ehepartner. Geistige Gemeinschaft mit einem hervorragenden Wissenschaftler ist etwas ganz anderes als mit einem Tagelöhner. Bei diesem wird man nur geringe Ansprüche stellen dürfen, bei jenem dagegen wird man mehr verlangen dürfen als etwa die Sorge um das tägliche Brot. E s handelt sich also um relative Begriffe, die abhängig sind von Faktoren, die in den Ehegatten selbst liegen. Die Frage nun, ob die Wiederherstellung der Lebensgemeinschaft zu erwarten sei, führt zu der anderen Frage, ob bei einer etwa zu erwartenden Heilung der geistigen Störung (z. B. einer manischen Phase) ohne weiteres mit einer solchen zu rechnen sei. Hierüber liegen verschiedene Entscheidungen des Reichsgerichts vor, die diese Frage verneinen 48 ). Übereinstimmend bringen sie zum Ausdruck, daß zur Zeit der letzten Tatsachenverhandlung die geistige Störung nicht mehr zu bestehen brauche, daß es lediglich darauf 46

) ) einen 48 ) chem 49 ) 47

JW 1915, S. 785; ähnlich RGZ 98, S. 296; 100, S. 109. Ähnlich B e r i n g e r (Nervenarzt 11, S. 553), der in der Lebensgemeinschaft weiteren Begriff sieht, der mehr psychologische Sachverhalte einschließt. Soweit ich sehe, hat nur G r u h l e die gleiche Frage aufgeworfen und in gleiSinne beantwortet (in Hoche III, S. 205). RGZ 159, S. 317; DR 1939, S. 383 u. S. 1072; 1940, S. 2161; 1941, S. 1603.

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ankomme, daß die tiefe Zerrüttung noch anhalte und daß sie die Folge der durch die geistige Störung entschuldigten Eheverfehlung sei. Es kommt auch nicht, wie V O L K M A R meint50), darauf an, daß mit einer künftigen Wiederholung des ehewidrigen Verhaltens des beklagten Ehegatten gerechnet werden müsse. Für die Aufstellung eines solchen Erfordernisses bietet weder der Wortlaut noch der Sinn des Gesetzes eine ausreichende Grundlage. Aus der Heilbarkeit der geistigen Störung ist also nicht auf die Heilbarkeit der Ehezerrüttung zu schließen61). Um die Frage, ob die Wiederherstellung der Lebensgemeinschaft wahrscheinlich sei, im Gutachten entscheiden zu können, bedarf es m. E. nicht nur der Kenntnis des zu begutachtenden Ehegatten, sondern auch der Kenntnis des klagenden Ehegatten, dessen Einstellung zum anderen Ehegatten, dessen Fähigkeit, Verfehlungen des beklagten Ehegatten zu verwinden. Die Unheilbarkeit der Zerrüttung kann nicht unter dem Gesichtspunkt verneint werden, daß es Pflicht des klagenden Ehegatten sei, trotz der ihm widerfahrenen Kränkung an der Ehe festzuhalten62). Den klagenden Ehegatten aber kennt der Gutachter in der Regel nicht. Daher wird man gutachtlich diese Frage in manchen Fällen überhaupt nicht beantworten können; man wird nur auf die Heilbarkeit oder Unheilbarkeit der geistigen Störung verweisen können und die Entscheidung dem Richter überlassen müssen, zweckmäßig mit dem Hinweis, daß zur Beantwortung dieser Frage die Kenntnis beider Eheleute erforderlich sei53). Schließlich sei noch eine kurze Bemerkung über die Trunksucht hier angeschlossen. Beharrliche Trunksuchb war und ist auch jetzt noch eine schwere Eheverfehlung64). Nach altem Recht mußte aber der Mißbrauch des Alkohols schuldhaft sein. Diese Feststellung traf vielfach auf Schwierigkeiten. Durch Anwendung des § 44 EG wird manche durch die Trunksucht des Mannes zerrüttete Ehe geschieden werden können. Gutachtlich hat der Sachverständige nach diesen Ausführungen folgende Fragen zu beantworten: 1. ob beim Beklagten eine geistige Störung vorliegt und welcher Art diese ist; 2. ob die ihm vorgeworfenen ehelichen Verfehlungen Ausfluß der festgestellten Störung sind; 3. ob die Geistesstörung so schwer ist, daß die Verantwortlichkeit für die begangenen Eheverfeh50

) VOLKMAR, Großdeutsches Eherecht, S. 190. ) v. SCANZONI, Scheidung ohne Verschulden, S. 15, und SOMMER, Dtsch. med. Wschr. 1935, S. 638, der auf ein entsprechendes Urteil des Reichsgerichts vom 4. 12. 1933 verweist; schließlich RGZ 166, S. 346. 52 ) RGZ 169, S. 279. 53 ) v. SCANZONI schreibt dazu (DR 1941, S . 1603, Anm.) „Die Frage, ob die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft erwartet werden kann, ist auch von Umständen abhängig, die in der Person des gesunden Ehegatten liegen. Seine eheliche Gesinnung und innere Bindung kann durch die aktiven Auswirkungen der geistigen Störung des kranken Teils . . . so vollkommen aufgehoben sein, daß auch die totale, rückfallfreie Genesung des kranken Ehegatten zur Wiederherstellung einer guten, vertrauten Lebensgemeinschaft nicht mehr zu führen vermag." Dem ist durchaus zuzustimmen. 54 ) So auch das RG JW 1936, S. 176. 51

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lungert aufgehoben war, und 4. ob die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft zu erwarten ist. Der Wortlaut des § 45 EG 65 ), der an die Steile des § 1569 BGB getreten ist, unterscheidet sich von letzterem in drei Punkten. 1. § 1569 BGB spricht von „Verfall" in Geisteskrankheit. Daraus konnte man den Schluß ziehen, der betreffende Ehegatte dürfe erst während der Ehe geisteskrank geworden sein, eine Scheidung sei daher nicht möglich, wenn er schon zur Zeit der Eheschließung geisteskrank gewesen sei. Dieser Auffassung, die in der Praxis der Gerichte auch früher schon keine große Bolle spielte — die meisten Gerichte fragten nicht, wann die Krankheit entstanden sei — ist durch die neue Fassung der Boden entzogen. Es kann nach dem jetzigen Wortlaut nicht mehr zweifelhaft sein, daß der Zeitpunkt der Erkrankung gleichgültig ist. 2. Während früher die Geisteskrankheit mindestens 3 Jahre bestanden haben mußte, bevor die Scheidung möglich wurde, genügt es heute, daß überhaupt eine Geisteskrankheit vorhanden ist. 3. Während früher die Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft ausgeschlossen sein mußte, wird heute nur gefordert, daß sie nicht mehr erwartet werden kann.

Der Sachverständige hat wieder drei Fragen zu beantworten: 1. ob der beklagte Ehegatte an einer Geisteskrankheit leidet; 2. ob die Krankheit einen solchen Grad erreicht hat, daß die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben ist und 3. ob die Wiederherstellung dieser Gemeinschaft nicht zu erwarten ist.

Der Sinn des Begriffs ,,Geisteskrankheit" dieser Bestimmung hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Ursprünglich deckte er sich mit dem gleichlautenden medizinischen Begriff, was daraus hervorgeht, daß die Störung so schwer sein mußte, daß sie praktisch dem „geistigen Tode" gleichkam. Von dieser Forderung ist man langsam abgegangen, in katholischen Gegenden langsamer als in protestantischen. Heute deckt sich der Begriff nicht mehr mit dem medizinischen, er umfaßt auch Störungen, die ärztlich nicht als Geisteskrankheit anzusehen sind. Unter ihn fallen alle erheblichen Abweichungen von der Norm, sei es des Verstandes-, Willens- oder des Gefühlslebens. Die Störung muß nur so schwer sein, daß die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben und ihre Wiederherstellung nicht zu erwarten ist 66 ). Das ist namentlich dann der Fall, wenn die Geisteskrankheit unheilbar oder die Heilung wenig wahrscheinlich ist. Man hat versucht, zwischen der „geistigen Störung" des § 44 und der „Geisteskrankheit" des § 45 EG Gradunterschiede zu konstruieren; die „geistige Störung" sollte die leichteren, die „Geisteskrankheit" die schwereren Abartigkeiten umfassen. Darauf kann es jedoch nicht ankommen. Die geistige Störung kann in beiden Fällen gleich schwer sein, nur daß im Falle des § 44 ohne ihr Vorhandensein eine Schuld vorliegen würde, im Falle des § 45 dagegen nicht. Ist also beispielsweise ein Paralytiker seiner Ehefrau 65 56

) Ebenso der des § 51 EG von 1938. ) BEITZKE, Eamilienrecht, 1947, S. 51.

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untreu geworden, so ist seine Ehe aus § 44 zu scheiden; hat er dagegen nichts getan, was ihn schuldig erscheinen läßt, so kann die Ehe nur aus § 45 geschieden werden, vorausgesetzt, daß die geistige Gemeinschaft aufgehoben ist. Das eine Mal wäre die Frage der Verantwortlichkeit, das andere Mal die der geistigen Gemeinschaft das Kriterium. Es ist also eine Abgrenzung der Begriffe „geistige Störung" und „Geisteskrankheit" garnicht erforderlich; sie ist in der Tat auch garnicht möglich, da Zurechnungsunfähigkeit, wie sie der § 44 EG verlangt, gleichfalls eine immerhin ziemlich schwere geistige Störung zur Voraussetzung hat. Ebensowenig ist m. E. eine Gleichsetzung mit dem Begriff Geisteskrankheit im § 6 BGB möglich. Richtig ist wohl, daß in vielen Fällen, in denen eine Entmündigung wegen Geisteskrankheit erforderlich ist, auch die geistige Gemeinschaft aufgehoben ist; das braucht jedoch keineswegs immer der Fall zu sein. Andererseits kann die geistige Gemeinschaft aufgehoben sein auch in Fällen, in denen nach § 6 BGB nur eine Geistesschwäche vorliegt. Bei allen diesen seelischen Störungen kommt es nicht allein auf die Art, sondern sehr wesentlich auf die Folgen der Störung an 57 ). Wir hatten bei der Besprechung des § 44 EG gesehen, daß die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht allein von der Heilbarkeit der Erkrankung abhängt, daß es auch auf den klagenden Ehegatten ankommt, ob dieser die dafür nötigen Voraussetzungen mitbringt. Eine ähnliche Frage taucht nun auch beim § 45 EG auf. v. ScAirzoNi68) meint, die Unmöglichkeit der Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft könne auch im gesunden Ehegatten begründet sein, „dessen eheliche Gesinnung und innere Bindung durch den Ausbruch der schweren Geisteskrankheit des anderen Teiles so vollkommen aufgehoben sein" könne, „daß auch die Genesung des Kranken zur Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft nicht mehr zu führen" vermöge. Demgegenüber ist m . E . darauf hinzuweisen, daß zwischen den §§ 44 und 45 EG ein sehr wesentlicher Unterschied besteht, insofern in einem Falle eine nur durch die Geistesstörung entschuldbare Eheverfehlung, im zweiten Falle aber nur eine unverschuldete Krankheit vorliegt. Nehmen wir als Beispiel folgendes an: Eine Ehefrau erkrankt an einer Manie; in diesem Zustande bringt sie allerlei Behauptungen über ihren Ehemann in Umlauf, die seinen Ruf auf das schwerste gefährden und ihn wenigstens zunächst beruflichen 57

) BERGENROTH, J W 1938, S. 2707. Auch HOFFMANN-STEPHAN, S. 207, meinen,

der Begriff Geisteskrankheit decke sich mit dem nach § 6 BGB, Geistesschwäche genüge nicht für eine Scheidung aus § 45 EG, selbst dann nicht, wenn sie in Stumpfheit, Teilnahmslosigkeit oder Verständnislosigkeit bestehe. Sie führen dafür eine Entscheidung des Reichsgerichts an (RGZ 164, S. 354). Sie meinen, in einem solchen Falle sei unter Umständen eine Scheidung aus § 44 EG möglich. Das könnte m. E. dann geschehen, wenn zugleich eine schwere Eheverfehlung vorläge. Wenn eine solche aber nicht vorliegt, sehe ich nicht ein, weshalb dann nicht eine Scheidung aus § 45 EG möglich sein soll. Die Vermengung dieser Begriffe halte ich nicht für richtig. 68 ) Scheidung ohne Verschulden, S. 17; DR 1940, S. 753.

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Schwierigkeiten aussetzen. Es ist durchaus verständlich, daß er auch nach Heilung der Manie die gefühlsmäßigen Bindungen zu seiner Ehefrau nicht wieder herstellen kann, daß in ihm ein Stachel sitzen bleibt, mit dem er nicht fertig wird. In diesem Falle wäre Scheidung nach § 44 EG möglich. Ganz anders liegt der Fall, wenn einer der Ehegatten an einer schweren Manie erkrankt, sie in einer Anstalt abwettert und nach geraumer Zeit wieder völlig gesundet. In diesem Falle muß m. E. auch vom gesunden Ehegatten die Treue und Liebe erwartet werden, die zu einer recht verstandenen Ehe gehört. In einem solchen Falle wäre das Scheidungsbegehren sittlich nicht gerechtfertigt; das würde nur dann der Fall sein, wenn der Anstaltsaufenthalt lange Zeit, etwa über 3 Jahre dauern würde, wenn also die Dauer der Trennung dem § 48 EG entspräche. Entscheidungen höchster Gerichte über diese Frage sind bisher, soweit ich sehe, nicht ergangen. Dieser Auffassung entsprechend steht dem gesunden Ehepartner bei Heilbarkeit der Geisteskrankheit kein Scheidungsrecht aus § 45 zu, selbst dann nicht, wenn seine eheliche Gesinnung infolge der Erkrankung zerstört worden ist 69 ). Die Scheidung wegen Geisteskrankheit aus den §§ 44 und 45 ist schließlich nach § 47 nicht immer zulässig, nämlich dann nicht, wenn sie den Beklagten außergewöhnlich hart treffen würde, d. h. wenn die mit der Scheidung gewöhnlich verbundene Härte übertroffen wird 60 ). Dazu kommt, daß das Scheidungsbegehren sittlich gerechtfertigt, das heißt den Anschauungen eines anständig und gerecht denkenden Menschen entsprechen muß. Dabei ist die Dauer der Ehe, das Alter des Beklagten, die Dauer der Erkrankung, das etwaige Verschulden des Klägers an der Erkrankung zu berücksichtigen. Eine Scheidung etwa wegen Altersschwachsinn wird regelmäßig abgelehnt werden 61 ). 59

) H o f f m a n n - S t e f h a n , S. 208. Dort weitere Hinweise. ) RGZ 160, S. 239 u. 306.

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61

) Beitzke, Familienrecht, S. 51.

E. A L L G E M E I N E GERICHTLICHE PSYCHOPATHOLOGIE 1.

Vorbemerkung

Das menschliche Leben in seinen gesamten Äußerungen ist etwas Einheitliches, Ganzes. Das gilt auch für die seelischen Vorgänge, das gilt ebenso für die Entwicklung der Persönlichkeit. Diese entsteht aus der Anlage, mit der der Mensch geboren wird, und der Umwelt, in die er hineingeboren wird. Auf körperlichem Gebiet bringt er bestimmte Wuchs- und Formtendenzen mit auf die Welt, die im allgemeinen von Umwelteinflüssen, sofern es sich nicht um Krankheiten handelt, wenig abhängig sind. Aber schon die körperliche Beschaffenheit wirkt sich irgendwie auch auf die psychische Beschaffenheit aus: ein kräftiger, durchtrainierter Körper wird eher zu einem gesteigerten Selbstbewußtsein führen als ein schwächlicher. Für die psychische Entwicklung bringt die Anlage Reaktionsbereitschaften mit, auf die die Umwelt einwirkt, und die ihrerseits wieder die Umwelt beeinflussen. Sicherlich sind den Möglichkeiten sich zu entfalten durch die Anlage Grenzen gesetzt; namentlich die intellektuellen Anlagen lassen sich nicht beliebig fortbilden. So wichtig diese aber sind, wichtiger noch ist die Entwicklung unserer Gefühls- und Willensanlagen, der Art, wie wir auf andere Menschen, auf besondere Erlebnisse reagieren, wie wir uns einstellen zu den Forderungen der Allgemeinheit. Dazu tragen alle die zahlreichen Menschen und Einrichtungen bei, mit denen wir im Leben zu tun haben. Aber auch das einzelne seelische Geschehen, sei es eine Wahrnehmung, sei es eine Stimmung, sei es eine Handlung, ist das Ergebnis komplizierter Vorgänge; so ist etwa bei einer Wahrnehmung nicht nur das Sinnesorgan, vermöge dessen wir wahrnehmen, beteiligt, sondern auch unser Denken, Urteilen, Fühlen und die ganze Summe unserer im Laufe des Lebens gewonnenen Erfahrungen. Wenn wir im folgenden daher im psychischen Geschehen Wahrnehmung, Denken, Fühlen usw. einzeln behandeln, so abstrahieren wir absichtlich von den anderen in den Einzelvorgang eingehenden Komponenten. Das geschieht, um die Darstellung zu vereinfachen, aber im vollen Bewußtsein dessen, daß die Wirklichkeit solche Abstraktionen nicht kennt. Im übrigen soll hier nicht etwa die gesamte Psychopathologie abgehandelt werden; sie soll es nur soweit, als das forensische Interesse es verlangt. Es kommt uns auch nicht darauf an, die unerschöpfliche Fülle der Erscheinungen aufzuzeigen. Der Sachverständige wird sich an gründlicheren Werken

Störungen des Wahrnehmens

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orientieren müssen. Die folgende Darstellung soll aber gerade auch dem Juristen die Möglichkeit geben, sich wenigstens über die für ihn wichtigsten psychopathologischen Erscheinungen zu unterrichten1).

2. Störungen des Wahrnehmens Alle Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens sammeln, werden durch die Sinnesorgane vermittelt. Ohne Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und ohne die Reize, die uns durch den Haut- und Muskelsinn vermittelt werden, wäre seelisches Leben unmöglich. Aber unsere Sinnesorgane sind keineswegs vollkommen. Auch die für unser seelisches Leben wichtigsten Sinnesorgane Auge und Ohr geben die sie treffenden Reize nicht immer einwandfrei wieder; so gibt es, um nur ein Beispiel zu erwähnen, musikalische Menschen, die Vierteltöne nicht unterscheiden können; auch Rot-Grün-Blindheit ist viel häufiger, als man gewöhnlich denkt. Abgesehen davon aber wird die Richtigkeit unserer Wahrnehmungen durch mannigfache verfälschende Einflüsse beeinträchtigt. Es ist zunächst nicht gleichgültig, in welcher Verfassung sich der Beobachter befindet, ob er geistig frisch oder ermüdet ist. Ist das letztere der Fall, so pflegt unsere Auffassung von den Vorgängen ungenauer zu sein; und, worauf schon hier hingewiesen sei, die Erinnerung an das Wahrgenommene verblaßt viel schneller. Es kommt natürlich auch sehr viel darauf an, ob wir irgendeinen Vorgang wirklich aufmerksam verfolgen oder ob wir ihn ohne rechtes Interesse, nur so nebenher in unser Gesichtsfeld bekommen. Verfälschend wirkt auch der Affekt; namentlich die Erwartung bewirkt auch bei Gesunden Täuschungen unserer Sinne, die in ihren Auswirkungen recht grob werden können. W. S T E R N berichtete in seinem Kolleg über folgende Beobachtung1): In einer Vorlesung von Studenten sagte der Vortragende, er wolle einmal prüfen, wie schnell sich Gerüche ausbreiten. Er öffnete zu diesem Zwecke unter allen Zeichen des Ekels ein Gefäß mit der Aufforderung, sich zu melden, sobald jemand den scheußlichen Geruch bemerke. Nach kurzer Frist meldete sich ein vorn sitzender Hörer; die Zahl derer, die den Geruch bemerkten, wuchs sehr schnell, schließlich war fast das ganze Auditorium von dem Geruch ergriffen, man hielt sich die Nase zu, ja selbst eine Ohnmacht stellte sich ein. — In dem Gefäß befand sich geruchloses Wasser.

Hierbei spielt nicht nur die Erwartung, sondern auch die Massensuggestion eine Rolle; die gemeinsame Erwartung kann — sie tut es nicht immer — stärker verfälschen als die Einzelerwartung: der eine glaubt etwas zu sehen, Für ein eingehenderes Studium ist in erster Linie J A S P E R S , Allgemeine Psychopathologie, 4 . Aufl., Berlin u. Heidelberg 1 9 4 6 , zu empfehlen; weiter B A S H , Lehrbuch der Allgemeinen Psychopathologie, Stuttgart 1955. Außerdem wird man mit Nutzen das Handbuch von BTJMKE, die Lehrbücher der Geisteskrankheiten von BXJMKE, B L E U L E R , E W A L D , K O L L E , L A N G E - B O S T R O E M , K R A E P E L I N - L A N Q E U . a. zu Rate ziehen können. Als Grundlage kann namentlich KRETSCHMER, Medizinische Psychologie, 11. Aufl., Stuttgart 1956 dienen. *) Ich gebe sie aus der Erinnerung wieder; sie mag sich also in Einzelheiten etwas anders zugetragen haben. 18 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche P s y c h i a t r i e , 2. A u f l a g e

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Allgemeine gerichtliche Psychopathologie

der andere sieht es dann schon genau. Andererseits kann gerade das Alleinsein bei nervösen Menschen und ängstlich gespannter Erwartung leichter zu illusionären Verkennungen führen, wenn beruhigende Korrekturen eines Zweiten fehlen. Schließlich aber ist, worauf ich schon hinwies, eine Wahrnehmung nichts f ü r sich Existierendes; sie enthält immer schon etwas Gedankliches, ein Urteilen; sie setzt ein Begreifen voraus, und in der Regel handelt es sich u m ein Wiedererkennen. Wir sind beim Wahrnehmen nicht unvoreingenommen, sondern ordnen die Sinneseindrücke, ohne uns im einzelnen Rechenschaft darüber zu geben, in bestimmte, uns bekannte Kategorien ein, oder bringen sie, wenn das nicht geht, in Beziehung zu ähnlichen Eindrücken. Dabei bestehb die Tendenz, sie unserer Erfahrung anzupassen. Aus solchen Verfälschungen der Wahrnehmungen einerseits, aus den später zu erörternden Erinnerungsfälschungen andererseits, ergeben sich die Ungenauigkeiten und Fehler in der Aussage der Zeugen, der Parteien, aber auch des Angeklagten. Die Psychologie der Zeugenaussagen h a t sich zu einem umfangreichen Sonderzweig der Psychologie entwickelt 2 ). Sicherlich ist kaum einmal eine umfangreichere Zeugenaussage vollständig richtig. Das Bestreben des vernehmenden Richters muß es sein, seine Vernehmungstechnik so zu gestalten, daß wenigstens möglichst viele Fehlerquellen ausgeschaltet werden. Nach Möglichkeit soll man den Zeugen wenigstens zunächst berichten lassen; der spontane Bericht h a t sich im allgemeinen als zuverlässiger erwiesen als ein Verhör. In vielen Fällen ist es freilich schon aus Zeitmangel kaum möglich, die Berichte über sieh ergehen zu lassen. Viele Menschen verstehen einfach nicht, eine Sache so darzustellen, wie sie war; sie bringen überall hinein ihre Deutungen, und manche Berichte bestehen nur aus Deutungen. Immerhin ist es praktisch wertvoll, auch in solchen Fällen zunächst einmal berichten zu lassen; man wird aus der Art solcher Berichte schon gewisse Schlüsse auf die Zuverlässigkeit der Aussage ziehen können. Muß der Richter fragen, so darf die Form der Frage die Antwort nicht nahelegen. Man sollte meinen, daß das allmählich Allgemeingut geworden wäre. Das ist jedoch keineswegs so. Ich habe oft genug noch Fragen erlebt von der F o r m : „Ist n i c h t . . . ?" oder gar: „Nicht wahr, so war e s . . . ?" und dann kommt die Sachlage, wie sie der Richter sieht. Auch Alternativfragen: „War es so oder so V sind gefährlich, weil der Zeuge leicht glaubt, eine der beiden Möglichkeiten bejahen zu müssen, während eine dritte oder vierte Möglichkeit gegeben wäre. 2

) Wesentlich daran beteiligt waren H. GROSS, W. S T E R N und 0. L I P M A N N . Die früher von den beiden Letztgenannten herausgegebene Zeitschrift für angewandte Psychologie enthält zahlreiche Beiträge zu diesem Thema, ebenso die von S T E R N herausgegebenen Beiträge zur Psychologie der Aussage. In neuerer Zeit hat P L A U T (Der Zeuge und seine Aussage im Strafprozeß, Leipzig 1931) diese Frage zusammenfassend behandelt. Dort auch Literaturverzeichnis. Das Wesentliche hat U N D E U T S C H in P O N S O L D , Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, S. 191 ff., kurz zusammengefaßt.

Störungen des Wahrnehmens

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Auf Einzelheiten einzugehen, würde zu weit führen. Nur eins sei noch angeführt: Kinderaussagen gelten vielfach als weniger zuverlässig als die Aussagen Erwachsener. In dieser Allgemeinheit ist jedoch eine solche Annahme falsch; zehn- oder elfjährige gesunde Jungen und Mädchen sind die besten Zeugen, die es überhaupt gibt. Ihre Beobachtung geht viel mehr ins einzelne als die Erwachsener, die nur das sehen, was ihnen wesentlich erscheint. Mit Vorsicht sind dagegen Aussagen junger Mädchen in der Pubertät und in der Vorpubertät zu verwerten — namentlich, wenn es sich um Sittlichkeitsprozesse handelt 3 ). Dazu kommt die Situation, in der der Aussagende sich vor Gericht befindet. Die dort herrschende, durch den Ernst des Gegenstandes gebotene Würde und Feierlichkeit ruft leicht eine gewisse Befangenheit hervor, die nicht immer überwunden wird. So kann es leicht vorkommen, daß Zeugen glauben, alles gesagt zu haben, und hinterher fällt ihnen ein, daß sie doch wichtiges, was sie unbedingt sagen wollten, vergessen haben. Alle die bisher besprochenen Fälschungen liegen noch durchaus im Bereiche der Norm. Innerhalb derselben beobachten wir aber schon Sinnestäuschungen, die wir als illusionäre Verkennungen zu bezeichnen pflegen. Wenn wir z. B. auf der Straße von weitem einen Bekannten zu sehen glauben, der sich in der Nähe als fremd entpuppt, wenn wir im Dunst der Dämmerung in der Ferne einen Mann sehen, der beim Näherkommen zu einem Baum wird — solchen Täuschungen unterliegen übrigens auch z. B. Hunde — so fallen diese Täuschungen sicher in das Gebiet der Illusionen. Derartige Beobachtungen zeigen, daß es auch hier eine scharfe Grenze nicht gibt. Bevor wir nun die Sinnestäuschungen besprechen, sind einige begriffliche Vorbemerkungen am Platze. Wir unterscheiden zunächst die (normale) Wahrnehmung von der Vorstellung. In der Wahrnehmung steht der Gegenstand nach J A S P E R S 4 ) leibhaftig mit Objektivitätscharakter, in der Vorstellung bildhaftig mit Subjektivitätscharakter vor uns. Unsere Wahrnehmungen können nun in mannigfacher Weise gestört sein. Zunächst gibt es Intensitätsveränderungen; forensisch am wichtigsten ist wohl die Schmerzunterempfindlichkeit (Analgesie und Hypalgesie) der Hysteriker; auch Qualitätsveränderungen kommen vor (etwa Gelbsehen bei SantoninVergiftung). Bemerkenswert sind auch die Störungen des Raumsinns, die namentlich bei Epileptikern gelegentlich beobachtet werden. Die Gegenstände erscheinen dann abnorm klein (Mikropsie) oder riesengroß (Makropsie), ganz nahe oder weit weg; im Meskalinrausch tritt ein Gefühl der 3 ) Dazu namentlich W. STERN, Jugendliche Zeugen in Sittliohkeitsprozessen, Leipzig 1926; UNDEUTSCH (a. a. O. S. 217) sagt dazu, daß mit gewissen Ausnahmen die Aussagen der Belastungszeugen in Sittlichkeitsprozessen fast ausnahmslos tatsächliche und selbsterlebte Vorkommnisse zum Gegenstand haben. Restlos aufrichtig und vollständig würden die Vorgänge aber nur in etwa der Hälfte der Fälle geschildert. 4 ) Allgemeine Psychopathologie, 4. Aufl., S. 52. 18*

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Raunrunendlichkeit auf. Schließlich kann auch der Zeitsinn verändert sein: die Ereignisse scheinen abnorm schnell oder umgekehrt abnorm langsam abzulaufen. Viel wichtiger aber als diese, von JASPERS als Wahrnehmungsanomalien zusammengefaßten Störungen sind die Erscheinungen, die mit dem gemeinsamen Namen Trugwahrnehmungen bezeichnet werden: die Illusionen, Halluzinationen und Pseudohalluzinationen. Unter Illusionen verstehen wir Verkennungen von wirklich vorhandenen Gegenständen. Beispiel: Ein an der Wand hängendes Handtuch wird für einen erhängten Menschen gehalten. Halluzinationen sind sinnlich vollkommen deutliche Wahrnehmungen mit Leibhaftigkeitscharakter im äußeren objektiven Raum, die sich von der normalen Wahrnehmung nur dadurch unterscheiden, daß ihnen eine reale Grundlage, ein äußerer Gegenstand fehlt. Pseudohalluzinationen sind lebhafte Phantasievorstellungen mit Bildhaftigkeitscharakter im inneren subjektiven Vorstellungsraum, die unabhängig vom Willen auftreten und von den Kranken wegen ihrer krankhaft gesteigerten Deutlichkeit zuweilen mit wirklichen Wahrnehmungen verwechselt werden. In der Praxis lassen sich diese verschiedenen Arten von Trugwahrnehmungen keineswegs immer sicher scheiden. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die man schon vielfach bei der einfachen Feststellung des tatsächlichen Erlebnisses hat, sind offenbar Übergänge zwischen den drei Formen vorhanden. Für sie alle trifft jedoch zu, daß der Kranke, der solchen Täuschungen unterliegt, sie für durchaus real hält, daß ihnen sogar eine unerschütterliche Überzeugungskraft innewohnen kann, daß ihre Macht auf die Kranken viel größer ist als der Einfluß normaler Wahrnehmungen. Bei einem etwaigen Widerspruch zwischen krankhaften und normalen Wahrnehmungen wird in der Regel die krankhafte das Übergewicht erlangen. Unter den einzelnen Sinnesgebieten steht das Gehör seiner Bedeutung nach weitaus an erster Stelle. Elementare Täuschungen wie Klingen, Klopfen, Rauschen, Glockenläuten treten dabei weit zurück hinter den höher organisierten Sinnestäuschungen, namentlich dem Hören von Worten, von Stimmen. Die Kranken selbst unterscheiden die Stimmen meist von den normalen Wahrnehmungen, was schon daraus hervorgeht, daß sie selbst den Ausdruck „Stimmen" dafür benutzen. Sie hören die Worte laut wie gewöhnliche Sprache oder von fern wie durchs Telefon; es sind Stimmen von Bekannten oder Unbekannten, von Männern oder Frauen, einzelnen oder mehreren. Sie lokalisieren die Stimmen in weite Ferne, in den Keller, in die unmittelbare Umgebung, in die Wand, aber auch in den eigenen Kopf oder in den eigenen Bauch. Manche Kranke hören Stimmen nur bei bestimmten Gelegenheiten, z. B. beim Fließen der Wasserleitung (sog. funktionelle Halluzinationen). Der Inhalt des Gehörten kann freundlich sein; meist aber sind es schimpfende, bedrohliche oder befehlende Stimmen. Eine besondere Form der Gehörs-

Störungen des Wahrnehmens

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täuschungen ist das Gedankenlautwerden, das darin besteht, daß die Kranken ihre eigenen Gedanken hören, als ob sie aus der Außenwelt oder aus dem eigenen Körper kämen. Derartige Täuschungen führen zu allen möglichen Erklärungsversuchen derselben, die abhängig sind von dem jeweiligen Stande der Technik einerseits, von dem Wissen des Kranken andererseits. Der Hexe des Primitiven steht das Radio des modernen Menschen gegenüber. Den Erklärungen entsprechen dann die Versuche, sich gegen die unzulässigen Beeinflussungen zu schützen. Dazu dienen Wattepfropfen in den Ohren, Wechsel der Wohnung, der manchmal vorübergehend hilft (sehr häufiger Wohnungswechsel ist immer verdächtig auf abnorme Geistesverfassung), Absuchen von Kellern und Böden nach besonderen Apparaten, Eingaben an die Behörden, Anzeigen an die Polizei. Schließlich aber greifen manche Kranke zur Selbsthilfe, gehen zur Polizei, stellen Strafanträge, bohren Zimmerdecken an, ja es kann paseieren, daß völlig ahnungslose Menschen ihren Ideen zum Opfer fallen. Forensisch wichtig können auch die „imperativen Stimmen" werden. Ein von Cramer erwähnter Fall möge das zeigen 8 ): „Eine erblich nicht belastete, bis dahin immer gesunde 32jährige Arbeiterfrau gerät am 6. Tage nach der 5., mit schweren Blutverlusten verknüpften Entbindung in einen Zustand, in dem ihr die ganze Umgebung rätselhaft, wie verändert vorkommt; es treten immer deutlicher werdende Stimmen auf: ,Du mußt den Kindern den Hals abschneiden', .schneide den Kindern den Hals ab wie den Hühnern'; die Stimmen werden mächtiger, sie beherrschen sie schließlich vollständig, so daß sie nicht mehr widerstehen kann und mit dem großen Küchenmesser den drei Kindern, welchen sie bisher eine liebende Mutter gewesen war, die Hälse durchschneidet."

Immerhin sind manchmal auch diese Stimmen beeinflußbar, wie folgendes eigene Erlebnis zeigt: Einer meiner Kranken antwortete auf meine Präge, was die Stimmen ihm sagten: „Ich soll Sie hinter die Ohren schlagen." Ich sagte ihm darauf, das soEs er lieber lassen, ich sei größer und stärker als er, und er würde dabei den kürzeren ziehen. Es geschah auch nichts. Kurz darauf erfuhr ich vom Oberpfleger, daß sich wenige Wochen vorher zwischen einem Medizinalpraktikanten und dem Kranken ein ähnliches Gespräch entwickelt hatte. Der Praktikant hatte ihm aber auf seine Drohung gesagt: „Tun Sie es doch mal!" Das hatte zum Erfolg gehabt, daß der Kranke den überraschten Praktikanten zu Boden geworfen und ihm einige Rippen eingetreten hatte. Nur dem zu Hilfe eilenden Pflegepersonal war es zu danken, daß nichts Schlimmeres passierte.

Sicher spielen derartige Stimmen bei manchen scheinbar unerklärlichen impulsiven Handlungen eine Rolle, übrigens nicht nur bei Körperverletzungen, wo sie am eindruckvollsten sind, sondern manchmal auch bei Diebstählen, wo die Entscheidimg über die Echtheit solcher Stimmen nicht immer ganz leicht fällt, weil sie den eigenen Wünschen und Gedanken des Kranken entsprechen können. 8

) Gerichtliche Psychiatrie, 3. Aufl., S. 21.

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Den Gehörstäuschungen gegenüber treten die anderen Sinne an Bedeutung zurück. Echte Halluzinationen auf optischem Gebiete sind bei klarem Bewußtsein selten. Sehr viel häufiger sind sie bei Bewußtseinstrübungen verschiedenen Grades, etwa bei Fieberdelirien, beim Delirium tremens der Trinker, bei manchen Vergiftungen, bei epileptischen und hysterischen deliriösen Dämmerzuständen. Sie gehen dabei unscharf in die illusionären Verkennungen und in die Pseudohalluzinationen über. Diese Täuschungen können, wenn auch selten, einmal Anlaß werden zu plötzlichen Gewalthandluxigen, wenn der Inhalt irgendwie furchterregend oder gar lebensbedrohlich erscheint, und wenn sie mit hochgradiger Angst verknüpft sind. Bei klarem Bewußtsein kommt es oft zu Personen verkennungen, oder es wird eine Handlung schon so gesehen, wie sie erwartet und gedeutet wird. HOCHE führt als Beispiel an, wie ein ängstlicher Kranker „sieht", daß seine Frau mit dem Zucker Gift ins Essen schüttet 6 ). Die Störungen des Geruchs und Geschmacks sind der Beschreibung viel weniger zugänglich als die der höheren Sinne; wir sind z. B . nicht imstande, jemandem, der den Geruch nicht kennt, begreiflich zu machen, wie Veilchen riechen. Dazu kommt, daß bei diesen einfacheren Sinnesvorgängen eine Entscheidung, ob im Einzelfall eine Illusion oder eine Halluzination vorliegt', kaum möglich ist. Berichte über entsprechende Erlebnisse sind deshalb auch relativ primitiv. Wir hören, daß die Speisen eigenartig schmecken und riechen, daß sie versalzen sind, daß sie Gilt enthalten (wobei das schon eine Deutung ist), daß giftige Gase ins Zimmer geleitet werden u. dgl. Die Kranken suchen sich dagegen zu schützen, indem sie die Fensterritzen verkleben, die Schlüssellöcher verstopfen; es ist aber verständlich, daß sie mißtrauisch werden, wenn sie es nicht schon sind, nach Feinden suchen und zu falschen Anschuldigungen kommen. Abnorme Sensationen des Körpergefühls sind häufig; wichtig sind insbesondere die der Genitalgegend, die namentlich bei Frauen dahin führen können, daß sie unsittliche Berührungen, aber auch Vergewaltigungen vermuten. Solche Kranken beklagen sich darüber, daß Nacht für Nacht fremde Männer zu ihnen kommen, aber auch der behandelnde Arzt wird nicht selten solcher Handlungen beschuldigt; H O C H E bemerkt mit Recht, daß hier eine der ärztlichen Berufsgefahren liegt. Auch bei Männern sind solche Sensationen zu beobachten: ihnen wird nachts der Samen „entzogen", es wird mit ihnen onaniert u. ä. Nicht jeder, der an Sinnestäuschungen leidet, ist geisteskrank; erst wenn er ihnen gegenüber kritiklos wird, wenn er sie wie die wirklichen Wahrnehmungen bewertet, wenn sein Handeln durch sie beeinflußt wird, sprechen wir von Geisteskrankheit; gewissen Sinnestäuschungen unterliegt auch der Gesunde. Freilich ist die Stellungnahme zu den Trugwahrnehmungen allein 6 ) Ein Beispiel für optische Sinnestäuschungen ist im Kapitel über psychische Störungen durch Alkohol angeführt.

Störungen des Gedächtnisses

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kein Grund, Geisteskrankheit abzulehnen; auch alte Halluzinanten, die zweifellos krank und in ihrer Persönlichkeit verändert sind, lernen bis zu einem gewissen Grade über ihre krankhaften Sinneserlebnisse hinwegzusehen; sie räumen ihnen keinen Einfluß auf ihr Handeln mehr ein. Daß aber jemand regelmäßig halluziniert, ohne daß zugleich seine Gesamtpersönlichkeit in Mitleidenschaft gezogen würde, kommt wohl kaum vor. 3. Störungen

des

Gedächtnisses

Wenn wir unserem Gedächtnis irgendwelche Wahrnehmungen oder Erlebnisse einverleiben wollen, so sind dazu verschiedene Akte erforderlich: wir müssen das Erlebte auffassen, wozu ein bestimmter Grad der Aufmerksamkeit gehört, und müssen das Aufgefaßte merken. Dieses Merken setzt eine Merkfähigkeit voraus. Wir nehmen an, daß auf diese Weise in unserem Gehirn irgendwelche Dauerveränderungen erzeugt werden, die wir freilich mit unseren Methoden nicht nachweisen können, daß es zur Fixierung dieser Veränderungen einer gewissen Zeit bedarf, daß die Bereitschaft des Gehirns zur Bildung solcher Veränderungen schwankt und daß es möglich ist, diesen Gedächtnisspuren (Engrammen) wieder Leben zu verleihen, indem wir das früher einmal Gemerkte wieder reproduzieren, indem wir uns seiner wieder erinnern. Wir unterscheiden dabei die Merkfähigkeit, mittels der wir neuen Gedächtnisstoff aufnehmen vom Gedächtnis, das den gesamten Besitz an früher aufgespeicherten Erinnerungen, also all unser Wissen umfaßt. Auch das Gedächtnis des Gesunden ist nun keineswegs treu: „Unsere Erinnerungsbilder", sagt Kbetschmer 1 ), „liegen nicht wie photographische Klischees fertig in unserem Gehirn, um alsbald, wenn man danach fragt, stereotyp reproduziert zu werden. Was nach einiger Zeit von einer erlebten Szene noch im Gedächtnis vorhanden ist, das sind vielfach nicht mehr als ein paar Reste von optischen, akustischen und taktilen Eindrücken, die schon im Entstehen seinerzeit mit fertigen anderweitigen Vorstellungselementen verschmolzen, bei späterer Wiedergabe oft in großem Umfang aus dem Gesamtvorstellungsschatz der erzählenden Person ergänzt werden, ohne daß dem Erzähler zum Bewußtsein kommt, irgend etwas anderes als feste ,beschwörbare' Erinnerung wiedergegeben zu haben." Mit diesen Worten ist schon das Wesentliche gesagt. Die folgenden Ausführungen können sie nur ergänzen. Das Gedächtnis der verschiedenen Menschen weist große Unterschiede auf: der eine merkt leicht und vergißt schnell, der andere prägt sich mühsam etwas ein, um es dann dauernd zu behalten; der eine hat ein vorzügliches Zahlengedächtnis, der andere kann keine Namen behalten; im ganzen erinnern wir leichter das, was wir in unseren Wissens- und Erfahrungsschatz sinnvoll einordnen können. x)

Medizinische Psychologie, 6. Aufl., dazu auch 11. Aufl., S. 34ff.

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Das Vergessen hängt von verschiedenen Umständen ab. Was wir gründlich gelernt haben, haftet besser als das nur oberflächlich Angeeignete. Das Gleichgültige wird schneller vergessen als das, was uns interessiert, als namentlich Erlebnisse mit stärkerem affektivem Gehalt. Dabei kommt es auf die Art der Gefühlsbetonung an: „ein glänzender Erfolg und eine schwere Kränkung vergessen sich nicht so leicht", sagt EBBINGHAUS2), dagegen verdrängen wir gern Mißerfolge und eigene Verfehlungen3). Dazu kommt, daß wir frühere Erlebnisse allmählich in unserer Erinnerung umgestalten; wir färben sie, nehmen ihnen die ihnen früher tatsächlich anhaftende negative Gefühlsbetonung etwa der Angst und versehen sie mit positiven Gefühlstönen etwa dem Gefühl der Bewährung in Gefahr. Dabei wird das wirklich Erlebte im Sinne dieser optimistischen Akzentverschiebung ergänzt, mit mancherlei Zutaten versehen; und schließlich ist das ursprüngliche Erlebnis kaum noch wiederzuerkennen. Alle die bisher erwähnten Erinnerungsfälschungen sind wenigstens bis zu einem gewissen Grade als durchaus normale Erscheinungen zu werten. Wenn wir nun die forensisch wichtigen Gedächtnisstörungen besprechen, so treffen wir zunächst auf Störungen der Merkfähigkeit. Wir finden sie bei allen organischen Hirnerkrankungen, die mit einem Abbau der Rindensubstanz einhergehen, also namentlich bei der progressiven Paralyse und den Alterserkrankungen, dazu bei allen Bewußtseinstrübungen. Die Ursache dafür liegt zum Teil in der erschwerten Auffassung (Bewußtseinstrübung), dem Mangel an Interesse (alte Leute), schlechter Aufmerksamkeit. Darüber hinaus muß jedoch auch angenommen werden, daß die Möglichkeit der Engrammbildung im Gehirn herabgesetzt ist. Wir finden eine Merkstörung schon bei alten Leuten, die neue Eindrücke nicht mehr gut behalten und deshalb gern in alten Erinnerungen schwelgen, die um so frühere Zeiten betreffen, je stärker die Störung wird. Anfänge solcher Störungen machen sich oft schon in einem Alter bemerkbar, in dem die übrige Persönlichkeit noch völlig intakt ist; Namen werden schlecht behalten, neue Gesichter nicht nicht so leicht wieder erkannt, das Gedächtnis für Zahlen läßt nach; es sind die Anfänge des Alterns, die sich so bemerkbar machen. Besonders ausgeprägt ist die Merkstörung bei der senilen Demenz. Klinisch wirken sich diese Störungen dahin aus, daß die Orientierung über Ort und Zeit verlorengeht. Namentlich das Zeitgedächtnis läßt schnell nach, und zwar pflegen die Kranken zuerst die Jahreszahl zu vergessen, während der Monat und selbst das Datum vielleicht noch gewußt werden. Bei stärkerer Ausprägung gehen auch diese verloren, und die gesamten zeitlichen Verhältnisse werden durcheinander geworfen. Man wird alten Leuten, die derartige Defekte haben, als Angeklagten glauben müssen, daß sie wesentliches ihrer strafbaren Handlungen vergessen haben. Als Zeugen sind sie dann gefährlich, wenn sie versuchen, ihre Gedächtnislücken durch Konfabulationen auszufüllen. Das ist 2

) Zit. nach BUMKE, Lehrbuch, S. 39.

3

) Dazu das selbst erlebte Beispiel (S. 185).

Störungen des Gedächtnisses

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namentlich beim KoRSAXOWschen Symptomenkomplex der Fall, der durch besonders starke Merkfähigkeitsstörungen, durch Neigung zu konfabulieren und durch starke Suggestibilität ausgezeichnet ist, vermöge deren es leicht gelingt, den Kranken zu allen möglichen phantastischen Aussagen zu bestimmen. I m allgemeinen sind derartige Konfabulationen, die auch bei Paralytikern und Manischen vorkommen, wobei sie durch deren optimistische Stimmungslage begünstigt werden, unschwer zu erkennen. Auch vor Gericht fallen die Kranken sehr bald dadurch auf, daß sie sich in Widersprüche verwickeln oder Unmögliches behaupten. Von diesen Konfabulationen sind zu unterscheiden die pseudobgistischen Erzählungen gewisser Psychopathen 4 ). Diese sind verschieden zu bewerten: sie sind meist nichts anderes als bewußte Schwindeleien; mit manchen aber geht die Lust am Fabulieren durch, und in ihrer Erinnerung fälscht sich das Erzählte zu wirklich Erlebtem um. Dieses Gemisch von Lüge und Erinnerungsfälschung kann gefährlich werden, wenn irgendein bestimmter Zweck verfolgt wird, wenn Animosität oder Geltungssucht mitspielt. Dann werden sexuelle Attentate, Raubüberfälle, Entführungen, Vergiftungsversuche erfunden und manchmal so glaubhaft begründet, daß es zu Verurteilungen kommt. Bumke 6 ) berichtet über einen derartigen Fall aus München, wo die Geschworenen eine von ihrem Dienstmädchen des Giftmordes beschuldigte F r a u auf Grund mehrerer ärztlicher Gutachten verurteilten. Gefährlich sind auch die leichteren Fälle dieser Art: sie erfinden keine großen Geschichten, verstehen aber sich in ein übertrieben gutes Licht zu setzen, reden von den großen Aufgaben, die sie zu erfüllen haben, vergießen Tränen der Rührung über das fabelhafte Ansehen, das sie deswegen angeblich genießen, und behaupten unter Umständen mit dem Brustton der Überzeugung und daher oft auch in überzeugender Weise alle möglichen Dinge, wobei sie sehr geschickt Widersprüche überbrücken. Sie sind als Zeugen besonders gefährlich, weil sie in der kurzen Zeit der Verhandlung nicht in ihrer Wesensart erkennbar sind. Sie haben in den politischen Prozessen der nationalsozialistischen Zeit sicher eine unheilvolle Rolle gespielt 6 ). Sind an den Konfabulationen wie an den pseudologischen Erzählungen Erinnerungsfälschungen beteiligt, so spielen in anderen Fällen Gedächtnisausfäüe eine Rolle. Es ist selbstverständlich, daß man für die Zeit einer Bewußtlosigkeit, etwa einer tiefen Ohnmacht, keine Erinnerung hat. Man weiß noch, wie einem schwarz vor Augen wurde und daß man umfiel; aber dann kommt bis zum Wiedererwachen eine Lücke, die ohne weiteres sich dadurch erklärt, daß man während dieser Zeit nichts auffassen und daher 4 ) (S. S. 388.) Die erste Darstellung dieser Typen stammt von Delbrück, Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler, Stuttgart 1891. E ) Lehrbuch, S. 211. 6 ) Vom Sondergericht in Marburg wurden daher in allen irgendwie zweifelhaften Fällen auch eingehende Berichte über die Zeugen eingeholt mit dem Ergebnis, daß sich nicht selten das Zeugnis solcher Personen als völlig wertlos erwies.

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auch nichts merken konnte. Anders ist es schon unter der Wirkung starker Schlafmittel. Ich hatte nach dem Aufwachen aus einem Schlaf, den eine mir versehentlich verabfolgte vierfache Maximaldosis von Scopolamin verursacht hatte, eine allerdings dunkle Erinnerung, daß ich irgendwie gefallen sei. Ich war in der Tat aus dem Bett gestiegen und dabei gefallen. Es gibt nun aber Gedächtnisausfälle nach Schädelverletzungen oder Hirnerschütterungen mit Bewußtseinsverlust, nach Erhängungsversuchen, Kohlenoxydvergiftungen, Schlaganfällen usw., die sich über die Zeit der Bewußtlosigkeit hinaus um Stunden, Tage, ja selbst Wochen ausdehnen, so daß der Betroffene also nicht weiß, was vor der Verletzung passiert ist. Man bezeichnet diese Erscheinung als retrograde Amnesie. Ähnliche Beobachtungen sind auch bei epileptischen Anfällen gemacht worden; sie können hier vielleicht auf eine schon vor dem Anfall bestehende Bewußtseinstrübung zurückgeführt werden. Nun erscheint eine retrograde Amnesie nicht wie ein aus dem übrigen Gedächtnisbesitz ausgestanztes Loch; es gibt nach rückwärts vielmehr Übergänge: neben der Zeit des vollständigen Erinnerungsausfalls steht eine Periode mit einzelnen Erinnerungen, die nach rückwärts an Zahl und Deutlichkeit zunehmen. Diese Amnesien sind theoretisch interessant und wichtig: es muß aus ihnen geschlossen werden, daß zum Fixieren von Gedächtnisspuren im Gehirn, zur Bildung von Engrammen eine gewisse Zeit benötigt wird. Bumke 7 ) berichtet über einen 25jährigen Mann, der sich in suizidaler Absicht einen Gehirnschuß beibrachte. Er hatte keine Erinnerung an die vier Tage der Bewußtlosigkeit und an zwei Tage vor der Tat (in denen die Motive zum Selbstmordversuch lagen); dann folgten nach rückwärts für etwa zwei Wochen Bruchstücke in Gestalt summarischer und traumhafter Eindrücke und endlich nachweislich unsichere und namentlich zeitlich falsch orientierte Erinnerungen noch für die letzten zwei bis drei Jahre. Die forensische Bedeutung der retrograden Amnesien ist namentlich für die Rekonstruktion von Unfällen nicht gering. Wenn etwa jemand über den Hergang eines Autounfalls, bei dem er bewußtlos wurde, nichts weiß, so kann ihm das nicht widerlegt werden, auch dann nicht, wenn er ein Interesse an dem Nichtwissen hat. Ähnliches gilt für Schlägereien. Wenn freilich jemand eine Erinnerungslücke behauptet, die nicht im unmittelbaren Anschluß an den Unfall (oder die Krankheit) vorhanden war, sondern erst später aufgetreten ist, so ist die organische Genese auszuschließen; dann liegt entweder eine psychogene Störung oder Simulation vor. Die Beurteilungen der Gedächtnisstörungen Geisteskranker ist nicht immer ganz leicht. Vielfach kommt es zu Erinnerungsfälschungen. Bestimmte Regeln lassen sich dafür nicht aufstellen. Bei Schwachsinnigen ist nicht nur die Merkfähigkeit meist recht gering; sie lügen auch gern obendrein, um irgend etwas zu erreichen. Meist lassen sich ihre Lügereien leicht als solche erkennen. Eine meiner Kranken beschuldigte z. B. einen älteren Pfleger des ') Lehrbuch, S. 43.

Störungen des Denkens

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oft wiederholten Geschlechtsverkehrs mit ihr; es stellte sich sehr schnell heraus, daß ihre Behauptungen völlig unmöglich waren. Sie hoffte, auf diese Weise entlassen zu werden. Ein unentwirrbares Gemisch von Wahrheit und Dichtung sind meist die Angaben manischer und hypomanischer Kranker; sie sind daher als Zeugen in der Regel nicht brauchbar. Depressive Kranke neigen zu Selbstbeschuldigungen; manchmal ist an ihnen ein wahrer Kern, der dann aber ins Maßlose übertrieben wird. Paralytiker, namentlich die euphorisch-manischen, sind außerordentlich suggestibel. Viele Angaben Geisteskranker über Mißhandlungen entspringen ihren Verfolgungsideen und Sinnestäuschungen. Von den Angehörigen werden sie oft genug geglaubt. Ist ein Kranker noch in ärztlicher Behandlung oder doch kürzlich gewesen, so ist jedenfalls der behandelnde Arzt hinzu zu ziehen, wenn die Glaubwürdigkeit zu beurteilen ist. Bei abgelaufenen Geisteskrankheiten muß daran gedacht werden, daß die krankhaften Erlebnisse während der Psychose nach Ablauf derselben gern umgemodelt werden; es wird versucht, sie in normalpsychologischer Weise zu deuten. Auch dazu müssen schlechte Behandlung, sexuelle Attentate u. dgl. herhalten.

4. Störungen des Denkens Wir unterscheiden formale und inhaltliche Denkstörungen. Die ersteren sind forensisch ohne größere Bedeutung; sie sollen trotzdem ganz kurz abgehandelt werden, u m dem Juristen das Verständnis psychiatrischer Gutachten zu erleichtern. Unser Denken operiert mit Vorstellungen und Begriffen. Vorstellungen sind Anschauungsbilder, die sich von den Wahrnehmungen durch ihre Bildhaftigkeit und ihren Subjektivitätscharakter — Wahrnehmungen erscheinen leibhaftig und haben Objektivitätscharakter — unterscheiden. Aus ihnen entstehen im Laufe langer Zeiten Begriffe, die zunächst noch ihre Entstehung aus der Anschauung erkennen lassen, in ihren höchsten und reinsten Formen jedoch schließlich des Anschaulichen gänzlich entkleidet sind. Voraussetzung für eine solche abstrakte Begriffsbildung ist eine hochentwickelte Sprache. Primitive Völker z. B. haben besondere Worte für einen Mann, der steht, einen Mann, der geht, einen Mann, der ißt usw., sie haben aber kein Wort f ü r den Begriff „Mann" schlechthin. Weil ihrer Sprache abstrakte Begriffe fehlen, ist es ihrem Denken unmöglich, sich zu der Höhe entwickelten Denkens hochkultivierter Völker zu erheben. Es ist jedoch ein I r r t u m zu meinen, daß ihnen diese Denkfähigkeit fehle. Gibt man ihnen das Werkzeug einer entsprechenden Sprache, so sind auch sie durchaus zu logisch-begrifflichem Denken befähigt; es sind dann nur graduelle Unterschiede vorhanden 1 ). Auch das Band lernt erst langsam mit abstrakten Begriffen umzugehen; kennzeichnend ist die Unfähigkeit dazu für Schwachsinnige, namentlich auf S. dazu R. Thurnwald, Z. f. Psychologie 147, 1940, S. 328.

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dem Gebiet der Zahlen: sie lösen etwa die Aufgabe: „3 Äpfel plus 5 Äpfel" sofort, dagegen nicht die Aufgabe „3 plus 5". Unser Denken ist nun ein geordnetes, inneres Handeln, dem. als Material Vorstellungen, Begriffe, aber auch wieder Urteile und Gedanken dienen. Es würde zu weit führen, hier auf die Gesetze des Denkens einzugehen. Es mag nur erwähnt werden, daß dabei die sog. Assoziationsgesetze eine Rolle spielen, daß das Auftauchen von Assoziationen von der jeweiligen Konstellation abhängig ist und daß jedes geordnete Denken eine Aufgabe, ein Ziel hat. Bei der Verfolgung dieses Ziels werden im allgemeinen nur die Vorstellungen und Gedanken zugelassen, die der Erreichung dieses Ziels dienlich sind. Wie das zu erklären ist, wissen wir nicht; wir wissen nur, daß die Auswahl der auftauchenden Vorstellungen usw. nicht in unserem Bewußtsein erfolgt. Wichtig ist, daß affektive Regungen das Denken stark beeinflussen, daß ganz besonders aber unsere Wünsche und unser Wille bei der Zulassung und Ablehnung von Denkmaterial eine maßgebliche Rolle spielen. Auch innerhalb der normalen Breite ist das formale Denken der Menschen recht verschieden: der eine beschränkt sich auf das Wesentliche und weiß es mit wenigen treffenden Worten zu sagen; am anderen Pol der Reihe stehen jene schwer ertragbaren Menschen, bei denen man nach einer halben Stunde immer noch nicht weiß, was sie eigentlich wollen, die tausend belanglose Einzelheiten berichten, bei denen das Wesentliche in den Hintergrund tritt. Der eine denkt schnell, ihm strömen die Gedanken zu; dem anderen fließen sie spärlich und träge. Wir finden solche Arten des Denkens aber auch bei Kranken, wo es pathologisch wirkt, entweder weil die Abartigkeit des Denkens übersteigert erscheint oder weil der Betreffende früher anders gedacht hat. Scharfe Grenzen gegenüber dem Gesunden gibt es hier nicht. Zunächst findet sich das umständliche Denken bei organischen Hirnerkrankungen. Dabei geht, wie schon gesagt wurde, der Blick für das Wesentliche verloren. Das Ziel wird zwar im Auge behalten, aber Wichtiges und Unwichtiges wird in derselben Breite behandelt; der Kranke kommt nicht vom Fleck. Unter Perseveration oder Haften verstehen wir einmal die stete Wiederkehr desselben Gedankens, vor allem aber die fälschlich gegebene gleiche Antwort auf verschiedene Fragen. Beispiel: Dem Kranken werden Bilder von Vögeln gezeigt. Das erste Bild bezeichnet er richtig als Schwan; die folgenden Bilder (Storch, Adler usw.) werden auch mit Schwan benannt. Diese Hafttendenz, die bei organischen Defektzuständen, namentlich aber bei der Epilepsie hervortritt, läßt sich im Assoziationsversuch und # im R O H B SCHAOHschen Formdeuteversuch auch in ihren leichteren Formen gut nachweisen. Als Stereotypie bezeichnet man gleichförmige, immer wiederholte Bewegungen, sprachliche Äußerungen oder auch gleiche, oft sinnlos erscheinende Gedanken, die ganz unabhängig von der jeweiligen Denksituation sich immer

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wieder durchsetzen. Wir finden derartige Störungen, die auch im Gesunden vorgezeichnet sind, vornehmlich bei Schizophrenen. Die Denkhemmung ist das Kennzeichen namentlich der depressiven und melancholischen Zustände. Das Denken fällt in solchen Zuständen ausgesprochen schwer; es bedarf der Anstrengung, um überhaupt zum Ziel zu kommen, das stark verlangsamt erreicht wird. Dabei pflegt die Vigilität der Aufmerksamkeit und ebenso die Ablenkbarkeit herabgesetzt zu sein. Die Weitschweifigkeit hat mit der Umständlichkeit gemeinsam, daß bei ihr Wesentliches und Unwesentliches mit der gleichen Liebe behandelt wird. Sie unterscheidet sich von ihr dadurch, daß das Denkziel leicht verlorengeht. Sie geht unscharf über in die Ideenflucht, bei der infolge der erhöhten Vigilität der Aufmerksamkeit und der gesteigerten Ablenkbarkeit die ursprüngliche Denkaufgabe verlorengeht, bei der jeder neue Eindruck — und solche Eindrücke und innere Bilder strömen fortgesetzt zu — ein neues Denkziel setzt, das sogleich zugunsten des nächsten wieder aufgegeben wird. Dabei bleibt wenigstens ein äußerer Zusammenhang gewahrt. Beispiel2): Ein Kranker wird gefragt: „Wie gehts ?" Er antwortet: „Es geht, wie's steht. In welchem Regiment haben Sie gestanden ? Herr Oberst ist zu Hause. In meinem Hause, in meiner Klause. Haben Sie Dr. Klaus3) gesehen 1 Kennen Sie Koeh, kennen Sie Virchow ? Sie haben wohl Pest oder Cholera ? Ach, die schöne Uhrkette! Wie spät ist es ?"

Die Ideenflucht ist das Kennzeichen manischer Zustände. Gelegentlich findet man die sog. ideenflüchtige Denkhemmung, bei der gleichzeitig Gedankendrang und Unfähigkeit, einen einzigen zusammenhängenden Gedanken zu fassen vorhanden sind. Das inkohärente Denken hat mit dem ideenflüchtigen gemeinsam, daß das Denkziel nicht festgehalten werden kann; das Hauptthema klingt jedoch immer wieder durch. Wir erleben derartiges bei starker Ermüdung. In stärkerer Form tritt es zusammen mit einem Zerfall der Begriffe im Traum und im Zustande der Bewußtseinstrübung auf. Beispiel (Fieberdelier)4): „Denk mal, seit einer halben Stunde war ich tot; da kam der Pastor und hat mich gestochen. Mein Knochen ist schräg durchgeschlagen. Ob unser Silberzeug alles verpackt ist 1 Nun streiten sie wieder alles, ich hatte das neue Testament noch gar nicht gesehen von dem Schwiegervater. Alles tot. Ich möchte meine Kassette mal selbst sehen. Man liegt da unter solchem Drahtbett und wird durchstochen. Überall sind zerfetzte Fahnen ausgehangen. Mutter, hast Du auch ein warmes Tuch ? Ein roher Arbeitsmann hat hier gewaltet statt eines Chirurgen, mein Knochen — dafür will ich Entschädigung haben."

Das zerfahrene Denken ist ein typisches Symptom der Schizophrenie. Es ist äußerlich vom inkohärenten Denken nicht zu unterscheiden, kommt aber auf andere Weise zustande und wird namentlich in grammatisch geordneter 2

) Von Liepmann, zit. von Bumke, Lehrbuch, S. 49. ) Ein Lustspiel. 4 ) Aus Btjmkb, Lehrbuch, S. 56; gekürzt.

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Weise, oft mit lebhaften Gesten und im Brustton der Überzeugung vorgebracht. Das Denkresultat wird ungewöhnlich und oft logisch falsch, weil die heterogensten Elemente miteinander in völlig gesetzloser Weise verknüpft werden, der Gedankengang an jeder beliebigen Stelle unterbrochen wird. Von den leichteren Formen des sprunghaften Denkens führt eine ununterbrochene Reihe zu den schwersten Formen des Wortsalats. Beispiel5): „Sie studierter Herr Chefarzt, dürfte ich mit Ihnen ohne Brille unter vier Augen reden 1 Eine Schachtel Zigaretten kostet jetzt im Kriege 20 Pfennig. Ich würde lachen. In Finsterbergen haben wir einen Tunnel, Herr Chefarzt, geben Sie das zu unter vier Augen ? Mit dem Spiegel und dem Wasser. Bier trinken kann ein jeder. Punktieren und dergleichen hängt mit dem Weltuntergang und der Wanduhr zusammen."

Einen Übergang zu den inhaltlichen Denkstörungen bildet das Zwangsdenken6). W E S T P H A L definiert: „Zwangsvorstellungen sind Vorstellungen, die, ohne daß ihre normale Gefühlsbetonung das erklärt, unter dem Gefühl des Zwanges in das Bewußtsein treten, sich durch Willensanstrengung nicht verscheuchen lassen und deshalb den Ablauf der Vorstellungen hindern und durchkreuzen, obwohl sie vom Kranken stets als ohne Grund determinierend und meist auch als inhaltlich falsch und als krankhaft anerkannt werden." Wir kennen auch im gesunden Seelenleben solche Vorgänge, etwa als Melodien, die wir nicht wieder loswerden können. Das krankhafte Zwangsdenken entspricht Triebregungen, die nicht restlos verdrängt und mit der moralischen Einstellung des Kranken nicht vereinbar sind. So kann z. B. hinter der Zwangsvorstellung schmutzig zu sein, die abgelehnt wird, aber trotzdem zum Waschen führt, eine tatsächliche oder triebhaft gewünschte moralische Beschmutzung stecken. So wichtig diese Störungen für die Diagnose sind, so gering ist ihre forensische Bedeutung. Sie werden darin bei weitem übertroffen von den inhaltlichen Denkstörungen, die wir als überwertige Ideen und als Wahnideen oder Wahnvorstellungen kennen. Die Ausdrücke „Idee" und „Vorstellung", wie sie herkömmlicherweise gebraucht werden, sind nicht ganz richtig; tatsächlich handelt es sich um wahnhafte Urteile oder Überzeugungen, oder wie man auch sagen kann, um krankhaft entstandene, durch nichts korrigierbare Irrtümer. Gewissermaßen eine Vorform der Wahnideen sind die sog. überwertigen Ideen. Dabei handelt es sich um Überzeugungen mit starker Affektbetonung, die das gesamte Denken des Betroffenen beeinflussen. Wir finden sie auch normalerweise, und zwar überall dort, wo es sich nicht um Wissen, sondern um Glauben handelt, d. h. dort, wo eine Berichtigung durch die Wirklichkeit, durch Beweise nicht möglich ist. Sie spielen eine Rolle im Sektenwesen, im politischen Leben, aber auch bei der Liebe und beim Haß. Der Inhalt solcher Ideen kann richtig sein, er ist aber unbeweisbar; sobald er verwirk5 e

) Aus KLOOS, Grundriß, S. 135; gekürzt. ) S. dazu das Kapitel „Psychopathische Persönlichkeiten" (Selbstunsichere).

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lieht werden kann, verliert die Idee den Charakter des Abnormen 7 ). Manche dieser überwertigen Ideen können allmählich zu Wahnideen ausgebaut werden; sie mögen anfangs noch einer gewissen Korrektur zugänglich sein, mögen sich auch innerhalb gewisser Grenzen noch verändern (mobile Wahnideen), können aber schließlich in ein festgefügtes System einmünden. Die Wahnideen teilt man nach ihrer Entstehungsweise in zwei große Gruppen: 1. die aus Affekten, aus Erlebnissen, aus Trugwahmehmungen verständlich hervorgegangenen sekundären Wahnideen, die meist als wahnhafte Ideen bezeichnet werden, und 2. die sog. primären, echten, psychologisch nicht ableitbaren Wahnideen, die phänomenologisch etwas Letztes sind. Auch sie erfahren allmählich vielfach eine psychologisch verständliche Verarbeitung. Zu der ersten Gruppe der wahnhaften Ideen gehört z.B. der Querulantenwahn in seinerüberwiegendenZahl. „Nachirgendeiner tatsächlichen oder vermeintlichen Kränkung seines Rechtsbewußtseins versucht der Querulant immer erneut, eine Berichtigimg des Unrechts herbeizuführen. Von Behörden, Staatsanwaltschaft, Gerichten, Obergerichten, Ministerien immer erneut abgewiesen, kommt er schließlich zu dem unkorrigierbaren Irrtum, die Richter, die eigenen Anwälte seien bestochen, die Zeugen hätten Meineide geleistet, man unterdrücke ihn, den Kranken, deshalb, weil man nicht Gefahr laufen wolle, den Sumpf der Justiz an die Öffentlichkeit zu bringen" 8 ). Aus depressiver Stimmung heraus entstehen in ähnlicher Weise hypochondrische, Kleinheits- und Versündigungsideen, aus der gehobenen Stimmung der Manischen oder der Paralytiker die freilich meist mobilen Größenideen. Der mißtrauische Alte, der etwas verlegt hat und es nicht wiederfindet, glaubt bestohlen zu sein; der Paranoide schließt aus Trugwahrnehmung auf Verfolger und leitet nach dem Motto: „Viel Feind, viel E h r " wiederum daraus die Überzeugung ab, etwas Besonderes zu sein, und dergleichen mehr. Bei der zweiten Gruppe entsteht der Wahn sozusagen aus dem Nichts; er ist plötzlich da, begünstigt vielfach durch eine besondere Stimmungslage, die Wahnstimmung: dem Kranken ist unheimlich zu Mute, es liegt etwas in der Luft, alles erscheint verändert, in besonderer Beleuchtung, eine mißtrauische, unbehagliche, unheimliche Spannung erfüllt ihn. In dieser, für den Kranken schwer erträglichen Lage bedeutet jeder bestimmte Gedanke, sei er auch noch so falsch, eine Erleichterung. Doch ist in vielen Fällen diese Wahnstimmung so wenig ausgeprägt, daß nur ganz intensives Befragen des Kranken sie ans Licht bringt; manchmal ist auch die Wahnidee plötzlich da und hat gerade deshalb eine so überzeugende Gewalt. 7 ) So galt Graf Zeppelin lange Zeit als Träger einer überwertigen Idee oder gar als wahnkrank, bis der Erfolg die Richtigkeit seiner Behauptungen erwies. 8 ) Lange-Bostroem, Lehrbuch, S. 45.

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Abgesehen von der Entstehungsweise ist die Wahnidee zu erkennen an der Unmöglichkeit ihres Inhalts und an ihrer Unkorrigierbarkeit. Der Inhalt der Wahnideen ist unmöglich. Viele Laien meinen, daß er ganz unsinnig sein müsse; dadurch unterscheidet er sieh jedoch nicht von dem, was auch von anderen, Nichtgeisteskranken geglaubt wird. Der Aberglaube auch Gebildeter leistet in dieser Beziehung manchmal Erstaunliches, oft offenbar aus einem gewissen mystischen Bedürfnis heraus. Es sei n u r an das Hellsehen und an die Materialisationen Verstorbener erinnert, aul die Großkaufleute und ernst zu nehmende Wissenschaftler hereinfielen 9 ). Die Art des Aberglaubens hängt dabei von der Bildung und der sozialen Schicht ab. In primitiven bäuerlichen Schichten spielt der böse Blick, das „Versehen" von Vieh, Hexerei und Zauberei noch immer eine größere Rolle als man gewöhnlich denkt 1 0 ). Das kann durchaus noch gesund sein. E s ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob es sich u m eine in den Bereich des Normalen gehörige abergläubische Meinung oder u m eine Wahnidee handelt. Diagnostisch ist in solchen Fällen die Art der Entstehung wichtig. Der Wahn ist schließlich unkorrigierbar. Auch hier ist eine scharfe Scheidung gegenüber dem normalen I r r t u m oder der noch gesunden abergläubischen Vorstellung kaum zu ziehen. Man versuche einmal, jemanden, der an Hellsehen glaubt oder an die Fähigkeiten der weisen Frau, Vieh zu verhexen oder zu heilen, von der Unrichtigkeit seiner Meinung zu überzeugen; man wird zunächst alle möglichen, nicht stichhaltigen Einwendungen über sich ergehen lassen müssen, und wenn das nicht hilft, deutlicher Ablehnung begegnen. Der Landarzt, der auf diese Weise die Konkurrenz der Dorfalten ausschalten wollte, würde sehr bald erfahren, daß er dabei den kürzeren zieht. Dennoch ist die Überzeugungskraft, mit der der Wahnkranke an seine Ideen glaubt, seine innere Sicherheit, viel größer als die des gesunden Aberglaubens. Zweifel an der f ü r ihn unumstößlichen Gewißheit gibt es nicht. Ein gewisser, freilich auch nicht durchgängiger Unterschied besteht darin, daß der Abergläubische mit seinem Glauben zurückhält; er geniert sich damit zu kommen, weil ihm die zu erwartende Kritik anderer peinlich ist. Er möchte seinen Glauben auch nicht erschüttern lassen, und er fürchtet, daß das geschehen könnte. Der Wahnkranke dagegen fordert die Kritik gern heraus; er sucht von sich aus zu überzeugen. Freilich gibt es auch hier Kranke, die ihren W a h n jahrelang f ü r sich behalten, nie darüber reden, und andere, die nicht mehr davon sprechen und ihn bei Fragen danach ablehnen. I n der Regel ist es nicht schwer, Wahnideen festzustellen und als solche zu erkennen. In manchen Fällen stößt die Differenzialdiagnose gegenüber dem noch in die normale Breite gehörigen Glauben (Sekten) und Aberglauben Ein Dokument der vorletzten Jahrzehnte ist in dieser Beziehung ein Buch von Olden, Propheten in deutscher Krise, Rowohlt-Verlag, Berlin 1932. Bemerkenswert ist auch Henning, Die Entlarvung der Hellseher, Ztschr. f. Psychologie 80, S. 104. 10 ) Joh. Kruse, Hexen unter uns ? Hamburg 1951; eine Sammlung von Berichten über Magie und Zauberglauben in unserer Zeit, die recht beachtlich ist.

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auf Schwierigkeiten, und man wird erst aus der Würdigung der Gesamtpersönlichkeit, ihrem Gewordensein und ihrem gegenwärtigen Zustand zu einer Entscheidung kommen. Das Mittel, um überhaupt zu erfahren, ob eine Wahnidee vorliegt oder nicht, ist die Aussprache. Dabei kommt es auf das Vertrauen des Patienten zum Arzt an. Nach ihrem Inhalt unterscheidet man verschiedene Arten von Wahnideen. Wir besprechen zunächst die depressiven Wahnideen, die man wieder in melancholische und hypochondrische Ideen unterteilt. Die melancholischen Wahnideen entstehen stets aui der Grundlage einer depressiven Stimmungslage; ob sie sich hier sekundär entwickeln, was zweifellos der Fall sein kann, oder ob sie der Depression koordiniert sind, ist nicht immer sicher zu entscheiden. In der Mehrzahl der Fälle trifft m. E. das letztere zu. Wenn z. B. ein Kranker, der eben Besuch von seiner Frau gehabt hat, behauptet, sie sei schon lange tot, so ist eine solche Idee aus der Depression heraus nicht mehr verständlich abzuleiten; man wird annehmen müssen, daß sie neben der Depression primär entstanden ist. Im allgemeinen sind es Ideen der Kleinheit, Minderwertigkeit, Versündigung, Schuldgedanken, Befürchtungen mancherlei Art, z. B. vor Strafe oder Höllenqualen usw., die unter diese Gruppe fallen. Forensisch spielt bei diesen Kranken namentlich der erweiterte Selbstmord eine Rolle, aber auch der Selbstmord allein, wenn er zu Schadenersatzansprüchen seitens der Angehörigen führt. Daß im erstgenannten Falle Exkulpierung geboten ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Beim zweiten handelt es sich um die Aufsichtspflicht der Anstalt, des Arztes, des Pflegepersonals. Solche Fälle sind häufiger als man denkt 11 ), und ich habe nicht immer — glücklicherweise nur „nicht immer" — den Eindruck gewonnen, daß die Juristen ausreichendes Verständnis für die Anstaltssituation hatten. Auch bei bester Aufsicht ereignen sich Selbstmorde, die nicht vorhersehbar sind 12 ). Weiter kommen derartige Kranke dadurch mit dem Strafrichter in Berührung, daß sie sich fälschlich aller möglichen Verbrechen bezichtigen, und zwar sowohl wirklicher, aber von anderen Personen begangener wie solcher, die nur in ihrer Einbildung existieren. Manchmal ist es nicht ganz einfach, diese Selbstbeschuldigungen zu entkräften, wenn es sich z. B. um Steuerhinterziehung, Schwarzhandel od. dgl. handelt. Daß auch zivilrechtlich die Geschäftsfähigkeit stark beeinträchtigt oder aufgehoben ist, liegt auf der Hand. Wichtig ist das für Testamentsänderungen, aber auch für falsche Konkursanmeldungen, Rücktritt von Verträgen u. dgl. Auch die Entu

) S. auch S. 157. ) Beispiel: Ein Friseur, der ein Rasiermesser vorn in der Jacke seiner Tasche trug, ging durch ein Krankenzimmer. Einer der Kranken sprang plötzlich aus dem Bett, riß ihm das Rasiermesser aus der Tasche und schnitt sich damit den Hals durch, obwohl eine entschlossene Pflegerin es mit aller Kraft zu verhindern versuchte. 12

19 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, Z.Auflage

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mündigung kann in Ausnahmefällen geboten sein; da diese Ideen mit der Depression zu schwinden pflegen, wird man meistens mit einer Pflegschaft auskommen. Die hypochondrischen Wahnideen betreffen den eigenen Körper, an dem irgendein unheilbares Leiden angenommen wird. Die entsprechenden Ideen reichen von den möglichen Leiden, etwa Krebs, Syphilis, Tuberkulose zu den merkwürdigsten Vorstellungen: die Speisen gehen durch die Speiseröhre unmittelbar in den Mastdarm, die Kranken sind ganz verfault, in ein Tier oder einen Stein verwandelt usw. Forensisch kommt gleichfalls Selbstmord in Betracht; in seltenen Fällen werden andere als Urheber des Leidens angesehen, und es kann einmal zu Angriffen auf sie kommen. Im übrigen gilt das für die melancholischen Wahnideen Gesagte. Für unsere Betrachtungen wichtiger ist die Gruppe der Verfolgungsideen einschließlich de3 Beziehungswahns. Den letzteren veranschaulicht am besten ein Beispiel, das von H O C H E mitgeteilt ist 13 ): „Cand. phil. O., 26 Jahre alt, Onanist. Nach monatelangen allgemeinen Erscheinungen während der Examensarbeiten wachsendes Mißtrauen gegen seine Umgebung; Bekannte, Brief boten, Schaffner grüßen anders oder sehen weg; am Biertisch werden unwahrscheinliche Dinge erzählt, um seine Intelligenz zu prüfen; ein Eisenbahnschaffner macht den anderen auf ihn aufmerksam; die Kellner geben ihm zuviel heraus, um zu zeigen, daß er ein armer Tropf sei, der es nötig habe; am Kegelabend erzählt der Wirt, daß er Kegel mit hohlen Köpfen angeschafft habe, um ihm zu verstehen zu geben, daß er ein ,Hohlkopf' sei; seine Wirtin untersucht sein Bettlaken auf Onaniespuren; Zeitungen, die er sich bestellt, werden nur teilweise geliefert, um ihm bestimmte Mitteilungen über ihn, die in den fehlenden Nummern stehen, vorzuenthalten; . . . im Gespräch fallen fortwährend ,Stichworte' aus seinen Briefen usw."

Es sind im allgemeinen mißtrauische Menschen oder solche, die episodisch zu Mißtrauen neigen, die solchen wahnhaften Deutungen unterliegen: alles, was in der Umgebung geschieht, steht dann in irgendeiner Beziehung zu ihnen, hat irgendeine auf sie bezügliche Bedeutung, die oft gar nicht verständlich erscheint14). Aus dem einfachen Beziehungs- und Bedeutungswahn kann sich ein Verfolgungswahn entwickeln. Das kann entweder auf Grund von Sinnestäuschungen geschehen oder aber aus dem Versuch heraus, die Beziehungsideen ursächlich zu erklären. Freilich ist auch das Denken in solchen Fällen nicht als normal anzusehen; es steht unter dem Einfluß stark affektbetonter determinierender Tendenzen. Sinnestäuschungen und Wahnideen sind koordinierte Erscheinungen, die sich gegenseitig stützen und gewissermaßen ihr Material austauschen. In diese Gruppe gehören auch die Eifersuchtsideen und der Querulantenwahn (S. 287). Forensisch führen derartige Ideen zu Beleidigungen, falschen Anschuldigungen, aber auch zu gewalttätigen Handlungen bis zu den schwersten Foru

) Handbuch III, S. 276. ) S. auch das Kapitel „Schizophrenie".

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men derselben. Daß auch einmal zivilrechtliche Folgerungen aus solchen wahnhaften Vorgängen gezogen werden, möge der folgende Fall zeigen: Eine Frau im mittleren Alter mit einer 14 jährigen unehelichen Tochter verklagte einen Oberleutnant der Polizei auf Alimentenzahlung; dieser bestritt die Vaterschaft und überhaupt Geschlechtsverkehr mit der Frau. Es stellte sich folgendes heraus: Die Frau hatte in der fraglichen Zeit in einem Braunschweiger Park nachts einen Fahnenjunker kennengelernt und an Ort und Stelle sogleich intimen Verkehr mit ihm gehabt. Sie wußte weder seinen Namen, noch hatte sie ihn jemals bei Tageslicht gesehen; als sie ihn kennenlernte, war es dunkel. Jetzt, nach über 15 Jahren, war sie Reinemachefrau in der Kaserne der hamburgischen Polizei geworden. Eines Tages sollte sie das Zimmer des Oberleutnants säubern, der krank im Bett lag. Sie befand sich an jenem Tage in einer eigenartigen, erwartungsvollen Stimmung. „Als ich ins Zimmer ging, wußte ich genau, daß der Oberleutnant derjenige war, der damals mit mir verkehrt hat; und als ich ihn dann sah, hatte ich keinen Zweifel mehr daran, ich erkannte ihn sofort wieder." Der Offizier war in jenen Jahren nie in Braunschweig oder Umgebung gewesen.

Die forensische Beurteilung mancher dieser Formen ist nicht einfach; es ist das Gebiet, auf dem sich der Streit über die partielle Zurechnungsfähigkeit, über die partielle Geschäftsfähigkeit bzw. -Unfähigkeit abspielt. Auch Ehescheidungsfragen spielen eine, wenn auch nicht bedeutende Rolle. Den depressiven stehen die expansiven oder Größenideen gegenüber. Sie entwickeln sich meistens, jedoch nicht immer bei gehobener Stimmungslage. Die Kranken wähnen besonders reich, mächtig, begabt zu sein. Das führt sie dazu, sich für Gott, den Kaiser von Atlantis, eine Gräfin, für Milliardäre oder große Erfinder zu halten. Einer meiner Kranken war Jesus, Barbarossa und Friedrich der Große zu gleicher Zeit, war am Kreuz gestorben, was ihn aber nicht hinderte, wieder zu leben. Eine Begründung für seine Ideen suchte er nicht; daß er das war, was er wähnte, war ihm selbstverständlich; es bedurfte nach seiner Meinung keiner weiteren Erklärung. Dabei empfinden die Kranken nicht den Widerspruch zwischen ihrer Selbsteinschätzimg und der Wirklichkeit. Der „Prinz von Hessen", der meint, die hessische Anstalt gehöre ihm, findet nichts dabei, daß er täglich einen Flur der Anstalt säubert. Forensisch stehen zivilrechtliche Fragen im Vordergrund, da die Kranken zu unsinnigen Geldausgaben, Geschäften, Geschenken neigen und so in Kürze ihre Familie an den Bettelstab bringen können. Fragen nach der Geschäftsfähigkeit, nach der Entmündigungsreife sind daher häufig. Strafrechtliche Fragen ergeben sich, wenn die vermeintlichen Interessen der Kranken mit anderen kollidieren oder wenn sonst die Größenideen sie zu irgendwelchen Handlungen treiben: Diebstähle, Amtsanmaßung, Sittlichkeitsdelikte kommen dabei in Betracht. Im ganzen ist zu sagen: Jede einwandfrei nachgewiesene Wahnidee beweist die geistige Erkrankung ihres Trägers. In strafrechtlicher Beziehung ergibt sich daraus in fast allen Fällen Zurechnungsunfähigkeit. Die Beantwortung der zivilrechtlichen Fragen ist einheitlich nicht möglich. 19*

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Anders zu beurteilen, sind die wahnhaften Einbildungen der Degenerierten, mancher Hysteriker und Psychopathen. Diese verfolgen irgendeinen Zweck und stehen zum Teil dem Schwindel nahe. Sie klingen auch, sobald die Situation sich für den Betreffenden bessert, schnell ab. Namentlich die Haft ist der Boden, auf dem sie entstehen: das Bestreben, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, sich in eine andere, bessere Wirklichkeit hineinzuträumen, auf eine Krankenabteilung zu kommen, sind die dabei mitspielenden Motive. Die entwickelten Ideen sind oft stark übertrieben, lassen aber das Motiv meist noch erkennen. Da sie erst nach der Tat, in der Haft, oder infolge einer besonderen Situation auftreten, sind sie forensisch von untergeordneter Bedeutimg.

5. Störungen der

Affektivität1)

Unter dem Begriff „Affektivität" fassen wir zusammen, was man als Gefühl, Stimmung, Affekt zu bezeichnen pflegt. ,,Gefühl" im wissenschaftlichen Sinne ist nicht identisch mit dem, was populär darunter verstanden wird. Den sogenannten fünften Sinn, der allmählich in die verschiedenen Sinnesqualitäten für Berührung, Schmerz, Temperatur, Lagesinn usw. zerlegt ist, rechnen wir unter die Empfindungen oder Wahrnehmungen. Es ist auch nicht dasselbe, wenn wir etwa sagen, wir hätten das Gefühl, es sei irgendetwas passiert. Als Gefühl dagegen bezeichnen wir unsere innere Anteilnahme an den Erlebnissen, unsere subjektive Stellungnahme zu ihnen. Diese Anteilnahme kann verschiedener Art sein: wenn wir etwa eine schöne Landschaft sehen, so freuen wir uns darüber, wir haben ein Lustgefühl; umgekehrt pflegen wir auf Regen, dem wir ausgesetzt sind, mit Unlustgefühlen zu reagieren. Vielfach begnügt man sich mit der Annahme dieses Gefühlspaares. Es ist richtig, daß Lust- und Unlustgefühle die stets irgendwie vorhandenen und daher wichtigsten Gefühle sind. Sie werden aber vielfach durch andere Gefühlsarten modifiziert. Wenn jemand z. B. eine uns kränkende Bemerkung macht, so haben wir nicht nur ein Unlustgefühl; damit verbunden ist ein Gefühl der Erregung, das einem Gefühl der Beruhigung weichen kann, wenn der andere etwa sagt, „so habe er das nicht gemeint". Wenn wir aus irgendeinem Grunde traurig sind, so kann bei einem schwachen Unlustzustand ein deprimierendes Gefühl deutlich werden. Das Gefühl der Ruhe können wir haben, wenn wir uns in eine Situation begeben, von der wir meinen, daß wir ihr sicher gewachsen sind. Gehen wir etwa in ein Examen, so kann ein Gefühl der Dazu KURT SCHNEIDER, Pathopsychologie der Gefühle und Triebe, Leipzig 1935; ders. Klinische Psychopathologie, 1950; BASH, Lehrbuch der allgemeinen Psychopathologie, 1955; KBETSCHMER, Medizinische Psychologie, 11. Aufl., 1956. — Manches von dem, was hier zu sagen ist, ist schon im Abschnitt „Bewußtseinsstörung" im strafrechtlichen Teil gesagt; Wiederholungen ließen sich nicht ganz vermeiden.

Störungen der Affektivität

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Spannung damit verbunden sein; dabei kann außerdem ein Lustgefühl vorhanden sein, wenn wir unserer Sache sicher sind und uns freuen, endlich so weit zu sein, oder auch ein Unlustgefühl, wenn wir Sorge haben müssen, ob wir bestehen werden. Und dieses Gefühl der Spannung kann wiederum durch ein Gefühl der Lösung ersetzt werden, wenn die Prüfung vorbei ist, wobei je nach dem Ausgang der Prüfung ein Lust- oder Unlustgefühl damit verknüpft sein kann. Mit der Annahme dieser „Elementargefühle" 2 ) wird man zwar keineswegs der Vielfalt der Gefühle gerecht, doch wird dadurch dai Verständnis der Affekte erleichtert. Alle unsere Erlebnisse sind mit irgendwelchen Gefühlen eng verschmolzen; selbst die alltäglichen Verrichtungen sind nur scheinbar gleichgültig; in Wirklichkeit sind sie es nur so lange, als sie unsere Dauergefühle, unsere Stimmung nicht stören, so lange sie in diese hineinpassen. Andererseits beeinflussen unsere Gefühle unsere Wahrnehmungen, unser Denken und namentlich unser Handeln. Sie sind neben den noch zu besprechenden vitalen Trieben die Motoren, die Triebfedern, die unser Handeln bestimmen. Man kann die Gefühle nach verschiedenen Gesichtspunkten einteilen. Wir unterscheiden nach dem Gegenstand, mit dem sie verknüpft sind, sinnliche und geistige Gefühle. Unter den ersteren sind die für die Psychiatrie wichtigsten die sogenannten Vital- oder Gemeingefühle. W U N D T sagt darüber : „Man pflegt speziell dasjenige Totalgefühl, das an die äußeren und inneren Tastempfindungen geknüpft ist, als das Gemeingefühl zu bezeichnen, indem man es als das Totalgefühl betrachtet, in welchem der gesamte Zustand unseres sinnlichen Wohl- oder Übelbeiindens zum Ausdruck kommt. Unter dem letzteren Gesichtspunkt müssen aber die beiden niederen chemischen Sinne, Geruchs- und Geschmackssinn, ebenfalls dem Empfindungssubstrat des Gemeingefühls zugerechnet werden." Naturwissenschaftlich gesprochen spiegelt das Gemeingefühl den vegetativen Gesamtzustand wider. Doch gehen auch Empfindungen der höheren Sinne in dieses Gefühl mit ein: ein schöner sonniger Tag beeinflußt das Gemeingefühl in ganz anderer Weise als ein trüber Regentag. Unter dem Begriff der geistigen Gefühle fassen wir alle jene komplexen seelischen Vorgänge und Erlebnisweisen zusammen, die wir etwa als ästhetische Gefühle, Ehrgefühl, Rechtsgefühl, Familiensinn, logische, ethische Gefühle usw. bezeichnen. Das Gemeingefühl pflegt, wenn auch unter leichten Schwankungen, unter normalen Verhältnissen ein gleichmäßig-dauerndes zu sein. Aus ihm erwächst vornehmlich die Stimmung, das heißt, die dauernde oder wenigstens länger anhaltende Gefühlslage, in der wir uns befinden. Bei Störungen des Gemeingefühls wird daher auch die Stimmung in gleichsinniger Weise verändert. 2 ) Die Annahme dieser Gefühlspaare — Lust/Unlust, exzitierend/deprimierend, Spannung/Lösung — stammt von W. WUNDT, dem bedeutendsten Psychologen um die Jahrhundertwende: Grundriß der Psychologie, 12. Aufl., Leipzig 1914.

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Am deutlichsten tritt das in der depressiven und in der manischen, krankhaft gehobenen Verstimmung hervor 3 ). Die höheren Gefühle können nun mangelhaft entwickelt sein; eine geringere Ansprechbarkeit derselben kommt aber auch als erworbener Zustand vor, namentlich bei der Schizophrenie. Versagen der ethischen Gefühle findet man nicht selten als erstes auffallendes Anzeichen organischer Hirnerkrankungen, bei der Paralyse, den arteriosklerotischen und den senilen Geistesstörungen. Namentlich die Sittlichkeitsdelikte solcher Kranken sind nicht selten die Folge dieses Gefühlsdefekts. Die mangelhafte Entwicklung namentlich der ethischen Gefühle ist häufig bei Schwachsinnigen, die dann leicht kriminell werden. „Moralisch Schwachsinnige", d. h. Menschen mit guter Intelligenz, aber mangelhafter Entwicklung oder gar völligem Fehlen ethischer Gefühle, gibt es wahrscheinlich häufiger, als wir meinen. Sie treten deshalb nicht so sehr hervor, weil sie wegen ihrer guten Intelligenz ihre Mängel geschickt zu verbergen verstehen. Ihre kriminellen Neigungen wissen sie in noch erlaubten Bahnen zu betätigen. Es sind jene kalten Rechner, denen ihre Familie, ihre Mitmenschen völlig gleichgültig sind, die alles nur unter dem Gesichtswinkel ihres Nutzens sehen. Forensisch sind diese Störungen für sich ohne größere Bedeutung. Sie sind wichtig als Symptome beginnender oder schon länger bestehender Geisteskrankheiten und können daher nur von dort aus beurteilt werden. Das gleiche gilt von den abnormen Gefühlserlebnissen, wie sie bei Schizophrenen vorkommen, dem Gefühl des Begnadetseins, des Klarsehens, den abnormen Glücksgefühlen usw. Wichtiger sind die Affekte. Darunter verstehen wir zusammenhängende GefühlsVerläufe, die sich aus den vorausgegangenen und den nachfolgenden Vorgängen als ein eigenartiges Ganzes herausheben, und die im allgemeinen zugleich intensivere Wirkungen auf das Subjekt ausüben 4 ). Eine scharfe Grenze gegenüber den Stimmungen besteht nicht; diesen stehen etwa die Affekte des Kummers, der Sorge, der Freude nahe. Forensisch spielen aber die akuten Unlustaffekte die bei weitem größere Rolle: Schreck, Angst, Zorn, Wut, Verzweiflung. Die Unterschiede in der Bereitschaft, auf irgendwelche Reize mit Affekten zu reagieren, sind bei den verschiedenen Menschen außerordentlich groß. Der normale, harmonische, ausgeglichene Mensch läßt sich auch durch heftige Reize nicht so leicht aus seiner Ruhe bringen. Es bedarf bei ihm schon besonderer Erlebnisse, um sein Blut in Wallung zu versetzen. Auch dann verliert er nicht so leicht die Selbstbeherrschung. Erleichtert werden starke Reaktionen auch bei ihm durch schwächende Einflüsse wie Alkohol, Überarbeitung, erschöpfende Krankheiten. Bei anderen, namentlich bei den erregbaren Psychopathen, genügen schon verhältnismäßig geringe Reize, um sie in Weißglut zu versetzen; auch Kopfverletzte, manche Epileptiker, a

) S. dazu das Kapitel „Der manisch-depressive Formenkreis", S. 379.

4

) W U N D T , 1. c., S . 2 0 4 .

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viele Manische sind abnorm reizbar. Besondere Beziehungen zur Affektivität hat das vegetative Nervensystem und namentlich manche endokrinen Drüsen. So geht die Hypersekretion der Schilddrüse bei der BASEDOWschen Krankheit mit Überempfindlichkeit, ihre Unterfunktion mit mangelnder affektiver Reaktionsfähigkeit einher. Auch bei der Dysfunktion anderer Drüsen machen sich Veränderungen der affektiven Ansprechbarkeit bemerkbar ; die affektiven Ausschläge stellen eine Art Maßstab für die Widerstandsfähigkeit des Gehirns dar. Jugendliche pflegen stärker zu reagieren als Erwachsene; Affektverbrechen sind daher auch bei älteren Menschen seltener als bei jungen. Ereilich gilt diese Regel nicht ausnahmslos: die Hirnarteriosklerose älterer Leute steigert die Reizbarkeit oft beträchtlich; bei ihr und anderen organischen Hirnerkrankungen, namentlich auch der progressiven Paralyse, finden wir besonders oft Affektschwankungen, die wir als Affektinkontinenz bezeichnen. Man kann solche Kranke durch eine geeignete Bemerkung leicht vom Weinen zum Lachen bringen und umgekehrt. Starke Affekte haben entsprechende Wirkung auf den Körper und auf die psychischen Funktionen. Schon auf einfachere Lust- und Unlustgefühle etwa nach Geschmacksreizen lassen sich experimentell Blutverschiebungen innerhalb des Körpers nachweisen, wie namentlich LEHMANN und W E B E B gezeigt haben. Bei starken Affekten werden sie auch nach außen hin sichtbar: wir werden blaß vor Schreck, rot vor Zorn. Daneben kennen wir alle möglichen anderen körp3rlichen Erscheinungen; ich erwähne nur heftige Atmung, Herzklopfen, Angstschweiß, Muskelschwäche, Zittern, unfreiwilligen Abgang von Urin oder Kot. Dazu kommen Ausdruckserscheinungen wie Lachen, Weinen, wutverzerrte Gesichter und Gesten aller Art. Ganz besonders wichtig ist, daß die heftigen Affekte die Tendenz haben, sich irgendwie motorisch zu entladen und dadurch zu lösen. Am harmlosesten ist in dieser Beziehung das „aufgeregte" Hin- und Herlaufen oder das „mit der Faust auf den Tisch schlagen"; auch das Schimpfen gehört hierher. Das sind, bildlich gesprochen, Ventile, durch die der überspannte Dampf abgeblasen wird. Die Wirkung ist jedoch bei verschiedenen Menschen nicht gleichartig; was dem einen zur Lösung, zur Entspannung nützlich ist, dient dem anderen dazu, sich erst recht mit Affekt vollzupumpen, zu beladen. Aus beiden Tendenzen heraus kommt es nicht selten zu Delikten der Bedrohimg, Beleidigung, des Hausfriedensbruchs, aber auch zu schwersten Gewalttaten. Begünstigt werden derartige Delikte durch die Veränderung der psychischen Funktionen, die als Fassungslosigkeit, Verwirrtheit, mehr oder weniger starker Verlust der Besonnenheit und schließlich als sogenannter Schreckstupor sich bemerkbar machen kann. Man hat solche Erscheinungen namentlich bei schweren Erdbeben beobachtet. Sie sind bei den doch ebenso furchtbaren Luftangriffen des letzten Krieges anscheinend viel seltener aufgetreten. Man wird annehmen dürfen, daß bei den letzteren durch die Erwartung eine der Entstehung von schwersten Affektzuständen abträgliche

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Einstellung erzielt worden ist, daß unerwartete Ereignisse zu schwereren Affektausbrüchen führen. Dabei kommt es dann nicht einmal so sehr auf die Schwere des affektauslösenden Ereignisses an. So konnte ich im Beginn der jetzigen Besetzung bei unerwartet angeordneter Räumung von Wohnungen einen recht weitgehenden Verlust der Besonnenheit beobachten. Das wird nun auch durch andere Erfahrungen bestätigt: Das lange erwartete Hinscheiden eines geliebten Menschen wird bei allen schmerzlichen Gefühlen als Erlösung empfunden, der plötzliche unerwartete Tod desselben Menschen kann einen psychischen Schock auslösen. Ganz allgemein kommt es also nicht auf das Erlebnis an, das den Affekt auslöst, sondern auf die gesamte seelische Situation, in der er entsteht. Manchmal löst eine geringfügige Kleinigkeit einen Affekt aus, der zu ihr in gar keinem Verhältnis zu stehen scheint. Prüfen wir die Sachlage näher, so finden wir das, was man als Affektstauung bezeichnet. Ein Mann etwa, der von seinem Vorgesetzten ständig mit bissigen Bemerkungen, mit kleinen Nadelstichen traktiert wird, dessen Tätigkeit, mag er tun was er will, immer nur ironisiert wird, sammelt allmählich eine innere Wut in sich auf, die zur Entladung drängt, und schließlich genügt eine Kleinigkeit, um diese Entladung herbeizuführen. Dahin gehört auch der sogenannte Zuchthausknall, dessen Hauptursache die allmählich unerträglich werdende Freiheitsbeschränkung ist. Schließlich gibt es eine Affektverzögerung, die gleichfalls an einem Beispiel kurz erläutert sein möge: Jemand verliert durch den Tod seine Lebensgefährtin; er scheint ihn gefaßt zu ertragen. In der Tat ist ihm die Größe des Verlustes zunächst gar nicht recht zu Bewußtsein gekommen; erst allmählich fängt er an zu begreifen; und nun packt ihn der Schmerz, die Trauer, das Gefühl der Vereinsamung immer stärker, und ein halbes Jahr später begeht er Selbstmord. Daß Affekte geistesgesunder Menschen zu „Bewußtlosigkeit" im klinischen Sinne führen, ist außerordentlich selten. Dagegen finden wir Bewußtseinstrübungen geringeren und stärkeren Grades, namentlich bei den sogenannten Grenzzuständen, also bei den psychopathischen Persönlichkeiten, aber auch bei Hirn verletzten, Arteriosklerotikern und anderen. Besteht für die Zeit des Affekts Erinnerungslosigkeit oder sind nur einzelne Erinnerungen vorhanden, so sprach man früher von -pathologischen Affekten. Bei der forensischen Beurteilung der Affekte 5 ) kommt es zunächst auf die klinische Grundlage an. Handelt es sich um den Affekt eines Geisteskranken, etwa eines Schizophrenen, so ist die Geisteskrankheit für die Beurteilung wichtiger als der Affekt, der dann nur Symptom der Geisteskrankheit ist und als solches zu werten ist. Bei der Epilepsie, für die die Reizbarkeit eine kennzeichnende Charaktereigenschaft ist, wird man zwar nicht ohne weiteres exkulpieren, wird aber die pathologische Grundlage besonders bewerten und jedenfalls deshalb eher zur Annahme von Zurechnungsunfähigkeit kommen 5

) S. dazu S. 26.

Störungen des Trieblebens

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als bei den Grenzzuständen. Der Nachweis einer Psychopathie als Grundlage des Affekts kann natürlich nicht ohne weiteres zur Exkulpierung führen; hier kommt es auf die Stärke des Affekts an. In freilich sehr seltenen Fällen wird man auch bei Psychopathen und selbst bei Normalen einmal Zurechnungsunfähigkeit annehmen müssen. Dabei wird die äußere wie die innere Tatsituation, die Art der Tat (Persönlichkeitsadäquanz), das Verhalten nach der Tat, die Erinnerung (Lücken oder völlige Amnesie), eventuell körperliche Begleiterscheinungen, die übrigens bei verschiedenen Menschen verschieden sind, in Rechnung zu setzen sein. Forensisch bedeutungsvoll ist, wenn auch nicht besonders häufig, die reaktive Depression, die auf Ereignisse, besondere Situationen, Erlebnisse eintritt. Bei ihr kommt es, ähnlich wie bei der endogenen Depression manchmal zum erweiterten Selbstmord. Ein Beispiel möge das erläutern: SS-Offizier, der sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, kommt nach Schluß des Krieges nach mühseliger Fußwanderung nach Hause, froh, wieder daheim zu sein. Er trifft seine Frau verzweifelt an; sie berichtet ihm, daß SS-Angehörige auf das Grausamste behandelt werden, und hat daher schon Schlafmittel für einen Suizid besorgt. Von einem Ausgang in die Stadt kommt er selbst stark deprimiert über das, was er dort gehört hat, zurück, und es wird nunmehr, weil man keinen anderen Ausweg sieht, der Entschluß gefaßt, mit den beiden Kindern aus dem Leben zu gehen. Zuerst gibt man der etwa 10 jährigen Tochter eine größere Menge Veronal, auf die sie mit einem solchen Erregungszustand reagiert, daß der Vater sich entschließt, sie durch einen Stich ins Herz zu töten. Dann nimmt man gemeinsam Veronal. Alle drei werden bewußtlos in eine Nervenklinik gebracht, wo die Frau stirbt. Die ältere Tochter und der Offizier werden gerettet; letzterer ist, als er wieder zu sich kommt, ganz verzweifelt. — Er wurde dann angeklagt; die psychiatrische Beurteilung durch zwei Kliniken schwankte zwischen voller strafrechtlicher Zurechnungsfähigkeit und Annahme des Abs. 2 des § 51 StGB. Ich habe mich der letzteren Auffassung angeschlossen, und das Gericht beschloß entsprechend. In der Straf haft erwies sich der Verurteilte alsein absolut vertrauenswürdiger Mensch, der eine Vertrauensstellung einnahm.

Disponierend für Störungen der Affektivität wirken im übrigen Erkrankungen, Erschöpfungszustände und namentlich Alkohol, letzterer besonders in Verbindung mit großer Hitze, Schlägen auf den Kopf oder anderen abnormen Zuständen. Er disponiert jedenfalls besonders zu den pathologischen Affekten. Die krankhaft heiteren Affekte haben kaum strafrechtliche, wohl aber zivilrechtliche Bedeutung. Da ihnen regelmäßig irgendwelche Geisteskrankheiten zugrunde liegen, richtet sich die Beurteilung nach dem Grundleiden.

6. Störungen des

Trieblebens

Während man Gefühle als „unmittelbar als angenehm oder unangenehm erlebte passive Ichzustände" definieren kann 1 ), haftet den Trieben etwas Aktives an, ein Streben sich zu verwirklichen. Eine strenge Scheidung gegenK. SCHNEIDER, Pathopsychologie der Gefühle und Triebe, S. 22. Dabei handelt es sich um den reinsten, einfachsten Typ der Gefühle. Daß in der Regel andere Komponenten damit verknüpft sind, habe ich im vorigen Kapitel schon erwähnt.

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über den Gefühlen ist wiederum nicht möglich. All unser Erleben ist irgendwie triebhaft durchsetzt, ohne daß uns das immer klar wird. Unsere Triebe (von K L A G E S als Triebfedern bezeichnet) bilden die Grundlage unseres Wollens. Aus den zahlreichen Trieben heben sich besonders heraus der Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb oder richtiger Geschlechtstrieb. Sie sind dem Körper besonders nahe verhaftet; man bezeichnet sie daher auch als leibliche oder vitale Triebe 2 ). Ihnen gegenüber -.teilt man die seelischen Triebe, z. B. Streben nach Macht, Geltung, Ehre, Reichtum, aber auch nach Pflichterfüllung, Demut, Reinheit usw. Man könnte diese Triebe als Setbstentfaltungstriebe zusammenfassen. Für unsere Zwecke sind nur die Triebe wichtig, die sich in Handlungen umsetzen; e3 sind ganz überwiegend der Nahrungstrieb und der Geschlechtstrieb. Diese Triebe stehen nun nicht für sich; sie unterliegen Hemmungen, die je nach den sozialen Gelegenheiten und den Kulturkreisen verschieden stark sein können. Sie werden anerzogen und mit den jeweils herrschenden ethischen Anschauungen nach Möglichkeit in Einklang gebracht. Was dann, im Leben an Trieben zu Tage tritt ist das Ergebnis von Trieb und Hemmung. Triebhaftigkeit kann daher bei normalen Hemmungen durch überstarke Triebstärke oder bei normaler Triebstärke durch mangelhafte Hemmungen zustande kommen. Umgekehrt kann Triebschwäche durch starke Hemmungen vorgetäuscht werden. Der Geschlechtstrieb ist bereits im Kapitel über die strafrechtliche Behandlung der Sittlichkeitsdelikte besprochen; es kann daher auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden. Die Störungen des Nahrungstriebes sind forensisch ohne größere Bedeutung. Wir finden abnormen Durst bei manchen Erkrankungen der Hypophyse, auch gelegentlich bei Schizophrenen; Freßgier wird zusammen mit Fehlen des Sättigungsgefühls bei vielen Geisteskranken beobachtet, ebenso aber auch Appetitlosigkeit. Schnelle Gewichtszunahmen wie -abnahmen sind daher häufig. Abnorme Freßgier kann einmal zu Eigentumsdelikten führen 3 ); häufiger geschieht das bei dem qualitativ veränderten Nahrungstrieb der Schwangeren, den sogenannten Gelüsten4) (s. S. 339). Als eine Veränderung des Nahrungstriebes kann man auch manche Suchten ansehen. Über sie ist hinsichtlich ihrer rechtlichen Beurteilung im Kapitel über Alkohol- und Suchtdelikte gesprochen. Im übrigen muß auf die Ausführungen im speziellen Teil verwiesen werden (S. 347). Neben dem Nahrungs- und Geschlechtstrieb sind noch einige andere Triebe bzw. Handlungen, die Trieben ähnlich sehen, von einer gewissen forensischen 2

) Die Bezeichnungen sind bei verschiedenen Autoren verschieden; s. z. B. JASPERS, Allgemeine Psychopathologie, S. 265. 3 ) OHM hat mir mitgeteilt, daß in einem seiner Fälle abnorme Freßgier zum Mord geführt habe. 4 ) Freßgier kommt übrigens auch bei geistig gesunden Personen vor, und zwar sowohl bei Fettsüchtigen wie bei mageren Menschen, die schlechte „Futterverwerter" sind.

Störungen des Trieblebens

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Bedeutung: der Trinktrieb (Dipsomanie), der im speziellen Teil (s. S. 341) abgehandelt wird, der Wandertrieb (Poriomanie), der Feuertrieb (Pyromanie) und der Stehltrieb (Kleptomanie). Der Wandertrieb (Poriomanie) findet sich in der Form des inneren Getriebenseins namentlich bei der Epilepsie (s. dort) ; viel häufiger ist das Davonlaufen der jugendlichen Psychopathen, das öfter zu kriminellen Handlungen, namentlich Eigentumsvergehen führt, wenn das Geld ausgeht. Es ist aus der besonderen Situation (Angst vor Strafe od. dgl.) oder aus psychologischen Motiven (Abenteuerlust, Geltungsbedürfnis, Freiheitsdrang) verständlich zu machen. Für die Exkulpierung etwaiger strafbarer Handlungen besteht in solchen Fällen kein Grund. Merkwürdig ist der Wandertrieb bei manchen Landstreichern: sie arbeiten ruhig und fleißig und scheinen sich wohl dabei zu fühlen ; dann packt sie die Unruhe, und eines Tages gehen sie auf und davon ohne Rücksicht auf die Schwierigkeiten, in die sie dadurch geraten. Wenn man ihre Vorstrafenlisten sieht — 30, 40 und mehr Strafen wegen Betteins, Landstreichens, kleiner Diebstähle —, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß bei ihnen ein Mißverhältnis von Trieb und Hemmimg vorliegt. Die größte Rolle im Schrifttum spielen der Feuertrieb6) und der Stehltrieb. Weil man sich in Laienkreisen oft falsche Vorstellungen darüber macht, müssen sie hier kurz abgehandelt werden. Der Begriff des Brandstiftungstriebes stammt schon aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts; O S I A N D E K sprach damals von der „Feuergierde" als von einer Krankheit, H E N K E erfand dazu den Namen Pyromanie ; er erblickte in ihr eine Psychose eigener Art. Durch ein Reskript des preußischen Justizministeriums wurde die Feuergierde gewissermaßen amtlich anerkannt. Schon 1830 bekämpfte jedoch F L E M M I N G die Anschauung, daß der Brandstiftungstrieb eine Krankheit sei ; und nach längerem Hin und Her, bei dem namentlich C A S P E R die Lehre von der Pyromanie als Aberglauben hinstellte, wurde 1851 das erwähnte Reskript wiederaufgehoben. In späterer Zeit hat sich immer mehr die Meinung durchgesetzt, daß es einen solchen isolierten Trieb nicht gibt, es sei denn, daß auch sonst krankhafte Abweichungen psychischer Art vorhanden sind. So hat z. B. der bedeutende Psychiater K R A E P E L I N schon 1886 mit Entschiedenheit die isolierte Stellung eines solchen Triebes abgelehnt, und BIRNBAUM, der sonst geneigt ist, das Pathologische sehr weit zu fassen, bezeichnet ihn als kriminalpsychiatrisches Kunstprodukt. T Ö B B E N hat in seiner 1917 erschienenen Monographie „Beiträge zur Psychologie und Psychopathologie der Brandstifter" betont, daß er von keinem einzigen Falle eines isolierten Brandstiftungstriebes Kenntnis habe ; die Fälle, in denen Freude am Feuer als Motiv festzustellen sei, seien nicht als Pyromanie zu deuten, es handele sich vielmehr 5 ) Neuere Literatur: DB BOOR, Fortschr. 1955, S. 367. Dort die neuere Literatur. Aus dem älteren Schrifttum namentlich TÖBBEN, Beiträge zur Psychologie und Psychopathologie der Brandstifter, Berlin 1917; weiter DZgM 23, 1934; FISCHER, Z.Neur. 144, 1933; SCHMIDT-LAMBERG, A Z P S . 98, 1932; MICHEL, MRrPs. 25, 1934.

300

Allgemeine gerichtliche Psychopathologie

um einen Rückfall in das kindliche Spiel mit dem Feuer, wobei der Alkohol vielfach eine auslösende Rolle spiele. Die Zahl der Brandstiftungen ist recht groß; nach der Bundeskriminalstatistik sind 1953 11831 Fälle gemeldet. Dabei überwiegen die Brandstiftungen aus Eigennutz; SAUER6) konnte dieses Motiv bei 1398 Fällen in 59,3% feststellen. Das geht auch aus dem beträchtlichen Rückgang der Brandstiftungen auf rund ein Drittel des Vorkriegsstandes während der Inflationszeit hervor7). Damals lohnte die Brandstiftung nicht. Ein relativ großer Prozentsatz der Brandstiftungen geht von Kindern aus; so sind 27 % aller überführten vorsätzlichen Brandstifter Kinder unter 14 Jahren 8 ). Feuer zu sehen ist für Kinder ja etwas Besonderes, und es reizt immer wieder, damit zu spielen, irgendwo Feuer zu machen. Einen Anreiz dazu geben u. a. die Osterfeuer und Mitsommerfeuer, wie sie in manchen Gegenden üblich sind. Eine besondere Rolle wurde früher dem Heimweh zugeschrieben9); namentlich junge Dienstmädchen, die auf diese Weise aus einer ihnen unangenehmen Lage herauskommen wollten, spielten in der Literatur eine gewisse Rolle. Unter den veränderten sozialen Verhältnissen scheint dieses Motiv keine nennenswerte Bedeutung mehr zu haben. Unter den Motiven stehen Rache und Haß an erster Stelle. In manchen Fällen sind sexuelle Strebungen verschiedener Art beteiligt. Eine gewisse Zahl von Brandstiftungen bleibt hinsichtlich der Motivierung ungeklärt. Namentlich wenn es sich um Rückfälle handelt, könnte man sich fragen, ob nicht doch ein „Feuertrieb" dahinter steckt. Auch bei anderen schweren Straftaten ist jedoch nicht immer zu klären, was eigentlich als Motiv dafür anzusehen ist. Ich möchte daher in Übereinstimmung mit G R U H L E den Begriif der Pyromanie ablehnen. Die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit richtet sich nach den sonst gebräuchlichen Grundsätzen. Auch der Stehltrieb, die sog. Kleptomanie10), ist zu Beginn des vorigen Jahrhunderts für eine selbständige Geisteskrankheit gehalten worden; als solche hat sie, später freilich in der veränderten Form des „impulsiven Irreseins" bis gegen Ende des -vorigen Jahrhunderts weiter gelebt. Man sah das Krankhafte im Fehlen jeden „vernünftigen Beweggrundes" ( K R A E P E L I N ) und in der Überrumpelung durch die Triebe. Was von Laien als Kleptomanie bezeichnet wird, i>3t, psychologisch gesehen, uneinheitlich; es ist eigentlich ein soziologischer Tatbestand: der Täter, der es nicht nötig hat zu stehlen, entwendet Gegenstände, die für ihn wertlos sind. Die Motive dafür sind jedoch sehr verschieden. Einmal ist es die einfache Freude am Besitz, das 6

) Kriminologie 1950. ) Nach EXNER, S. 65 wurden 1912 0,9 auf 100000 Personen wegen Brandstiftung verurteilt, 1920 und 1923 je 0,3, 1926 1,1; 1932/33 erfolgte ein Anstieg auf 1,4, dann wieder ein Absinken auf 1,0. Die landwirtschaftlichen Brände nahmen vor 1914 bei steigenden Getreideernten ab (EXNER, S. 72). 8 ) HOLLE in „Bekämpfung der Jugendkriminalität", herausgegeben vom Bundeskriminalamt 1955, S. 57. 9 ) JASPERS, Heimweh und Verbrechen. Arch. f. Kriminalanthropologie 85. 10 ) Dazu namentlich G. SCHMIDT, Zb.Neur. 92, 1939, S. 1. 7

Störungen des Trieblebens

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Habenwollen, das auch dem gewöhnlichen Diebstahl zugrunde liegt, und das eine allgemeine menschliche Eigenschaft ist. Von manchen Autoren ( G . H . B E R G M A N N , S C H L E I C H , W A G N E R - J A U R E G G ) wird sie auf die Lust am „Greifen" zurückgeführt. Bei vielen solchen Handlungen spielt weiter die Lust am Abenteuer die Hauptrolle; das Stehlen wird hier zum Sport. Das Kind im Menschen, dem verbotene Früchte besonders gutschmecken, kommt hier zum Vorschein. In anderen Fällen ist der entwendete Gegenstand oder der Stehlakt selbst Sexualziel 11 ); wiederholt sind Fetischisten beschrieben, die schon im Stehlakt sexuelle Spannungsgefühle bekamen, bei denen der Orgasmus aber meist erst kurz nach dem Entwenden ihres Objekts auftrat. Auch masochistische Tendenzen können mitspielen: dabei kann sich beim Augenblick des Stehlens Angst und Grauen zu höchster Wollust steigern. Schließlich gibt es gewisse unbestimmte Drangzustände, deren triebhafte Unruhe durch irgendeine ,,Entladungareaktion", tinter anderem durch Stehlen gelöst wird. Derartige Reaktionen sind jedoch selten. Es ist mit ihnen ähnlich wie mit den Entgleisungen Jugendlicher, für die ein Motiv nicht zu finden ist; solche Entgleisungen sind jedoch nur scheinbar Augenblickshandlungen; dahinter steckt eine Mannigfaltigkeit linterirdischer Motivationen 12 ). Auf die Bedeutung der Generationsphasen des Weibes für solche Delikte werden wir später eingehen (S. 338). Forensisch liegt bei all diesen Handlungen, die wir jetzt als überwiegend nicht triebhaft erkannt haben, kein Grund zu milderer Behandlung vor, wenn das Motiv erkennbar ist und wenn nicht eine besondere Abartigkeit oder gar eine echte Geistesstörung die Ursache ist. Manche Fälle bleiben freilich psychologisch rätselhaft. Hier wird die Beurteilung sich nach dem Grade der Persönlichkeitsfremdheit der Tat zu richten haben. Ganz anders sind gewisse Drangzustände zu beurteilen, die bei Enzephalitikern beobachtet werden; auch bei ihnen kommt es manchmal zu unerwarteten Handlungen (sexuelle und andere Angriffe, Diebstähle), für die dann freilich die Verantwortlichkeit aufgehoben ist. Die zivilrechtliche Bedeutung aller dieser Handlungen ist gering. U

) S. Kapitel B 7.

12

) SPRANGER, 1. E.

F. S P E Z I E L L E GERICHTLICHE PSYCHOPATHOLOGIE 1.

Vorbemerkung

Die folgenden Ausführungen verfolgen einen doppelten Zweck: einmal sollen sie dem Juristen einen Überblick über die Fülle der pathologischen Erscheinungen auf dem Gebiete des Seelenlebens geben. Dieser Überblick kann nur das Wesentliche und auch dieses nur stark verkürzt und vereinfacht vermitteln. Er soll dem Juristen helfen, sich über die psychiatrischen Begriffe zu orientieren, ihm die Möglichkeit verschaffen, sieh schnell etwa über bestimmte Krankheitszustände ein einigermaßen zutreffendes Bild zu machen. Nicht beabsichtigt ist, ihm mit dieser Darstellung wirklich psychiatrische Kenntnisse im vollen Umfange zu vermitteln. Sie zu erwerben, kann nicht Aufgabe des Juristen sein; das ist vielmehr dem ärztlichen Sachverständigen vorbehalten, der sich die nötigen Kenntnisse in eingehendem Studium der Fachliteratur und in langjähriger Übung und Erfahrung erwerben muß. Zum andern soll die Bedeutung der einzelnen Krankheitszustände für rechtliche Fragen kurz erörtert werden. Auch hier soll und kann nichts Erschöpfendes gesagt werden; es kann sich dabei nur um Anhaltspunkte, um Richtlinien handeln, die im Einzelfalle sich als brauchbar erweisen können, aber nicht müssen. Die Anordnung geschieht nach dem vom Deutschen Verein für Psychiatrie im April 1933 festgesetzten Diagnosenschema, aus dem einige Gruppen zusammengefaßt behandelt werden sollen.

2. Angeborene und früh erworbene

Schwachsinnszustände

(Idiotie, Imbezillität, Debilität)1) Die Schwachsinnszustände oder die Gruppe der Oligophrenien, wie K R A E P E L I N sie genannt hat, sind von einem gedachten Durchschnitt abweichende und insofern abnorme Zustände mit Krankheitswert, bei denen die intellekl ) Ausführliche Darstellungen der gesamten Psychiatrie enthalten die gängigen Lehrbücher der Psychiatrie von E U G E N B L E U L E R , 9 . Aufl. bearbeitet von M . B L E U LER, B U M K E , E W A L D , K O L L E ; für das Gebiet des Schwachsinns ist zu verweisen auf STROHMAYER im Handbuch der Psychiatrie von B U M K E , Bd. X, 1928; W E Y G A N D T , Der jugendliche Schwachsinn, Stuttgart 1936, und D U B I T S C H E R , Der Schwachsinn, im Handbuch der Erbkrankheiten von G Ü T T , Leipzig 1937.

Angeborene und früh erworbene Schwachsinnszustände

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tuelle Minderbegabung im Vordergrunde steht. Man unterscheidet der Schwere nach Idiotie, Imbezillität, Debilität, die ohne scharfe Grenzen ineinander übergehen; die letztgenannte Form führt über die Beschränktheit und Dummheit, denen man keinen Krankheitswert zuspricht, zu dem normal intelligenten Durchschnittsmenschen. Ihrer Ursache nach zerfallen die Schwachsinnszustände in zahlreiche Gruppen, von denen ein Teil endogen, d.h. an lagebedingt, ein anderer Teil exogen, d. h. umweltbedingt ist. Unter den Umweltfaktoren, die Schwachsinn verursachen können, sind Infektionskrankheiten wie Enzephalitis, Meningitis, Syphilis, weiter Störungen des Drüsenhaushaltes, Gifte und traumatische Schädigungen namentlich durch den Geburtsakt hervorzuheben. Die anlagebedingten Schwachsinnszustände sind, ähnlich wie die verschiedenen Formen der Psychopathie, nichts anderes als Varianten, Spielarten der menschlichen Persönlichkeit. Trotzdem erkennen wir ihnen, sobald der Schwachsinn einen stärkeren Grad erreicht, Rrankheitswert zu; kein Sachverständiger wird etwa einem Imbezillen schweren Ausmaßes den Schutz des § 51 StGB versagen. Das ist wichtig, weil manche Autoren für die charakterlichen Abweichungen von der Norm, die verschiedenen Formen der Psychopathie, den Krankheitswert prinzipiell ablehnen, weil es sich eben nur um Varianten der menschlichen Persönlichkeit handele. Wir haber diese Frage schon oben (S. 44ff) berührt. Für die forensische Beurteilung spielt die Ätiologie eine durchaus untergeordnete Rolle; viel wichtiger ist das Zustandsbild. Hier ist nun zunächst hervorzuheben, daß der Intelligenzmangel nicht das einzige Symptom zu sein pflegt, das man bei Schwachsinnigen findet, sondern nur eben das Symptom, das am meisten auffällt, das im Vordergrunde steht. Sicher gibt es Schwachsinnige, die charakterlich unauffällig sind; ich denke namentlich an manche Tagelöhnerfamilien auf dem Lande, deren Glieder sich durch regelmäßige und zuverlässige Arbeit und durch anständiges Verhalten bei mangelhafter Intelligenz auszeichnen. Zahlreiche Schwachsinnige weisen jedoch auch charakterliche Abnormitäten auf, wie wir sie bei den Psychopathen wiederfinden werden. Für den praktischen Gebrauch wird zur leichterer! Verständigung die oben genannte Einteilung benutzt. Dabei pflegt man unter Idiotie einen Schwachsinnsgrad zu verstehen, der eine schulische Ausbildung nicht zuläßt, mit einem Intelligenzalter2) bis zu 6 Jahren, als Imbezillität werden Schwachsinnszustände mit einem Intelligenzalter von 6 bis 12 Jahren, als Debilität 2 ) Unter Intelligenzalter (IA) versteht man den Intelligenzgrad, den ein normales Kind in einem bestimmten Lebensalter haben soll; wenn also ein 8jähriges Kind intellektuell nur dasselbe leistet wie ein 6jähriges, so hat es ein Intelligenzalter von 6 Jahren und ist um 2 Jahre zurückgeblieben. Mit Intelligenzquotient (IQ) bezeichnet man das Verhältnis vom IA zum Lebensalter. Intelligenzquotienten unter 1 sprechen für Unterbegabung, IQ über 1 für überdurchschnittliche Begabung. Brauchbar ist der IQ jedoch nur im kindlichen Alter bis höchstens zum 16. Jahre.

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

solche mit einem Intelligenzalter von 12 bis 16 oder 18 Jahren bezeichnet. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß scharfe Grenzen nicht gezogen werden können. Es ist auch keineswegs so, daß etwa Erwachsene mit einem Intelligenzalter von 5 Jahren einfach 5 jährigen Kindern gleichgesetzt werden könnten; sie haben während ihres Lebens Erfahrungen gesammelt, die das 5jährige Kind nicht haben kann. Es sind nicht Kinder, sondern kindliche Erwachsene, mit denen man zu rechnen hat. „Die" Intelligenz setzt sich auch aus verschiedenen Faktoren zusammen, die verschieden entwickelt sein können. So kann es vorkommen, daß bei Normalbegabten oder sogar Hochbegabten einzelne Seiten der Intelligenz mangelhaft entwickelt sind, und andererseits können Schwachsinnige für einzelne Leistungen gut beanlagt sein, z. B. für Musik, für Rechenaufgaben oder Schachspie]. Manche Menschen, die bei theoretischen Aufgaben versagen, besitzen eine gute praktische Intelligenz. Der psychiatrischen Untersuchung erwachsen für die Prüfung der Intelligenz zwei Aufgaben: einmal ist die Leistungsfähigkeit eines Menschen aus seinem Leben abzuleiten. Die Leistungen in der Schule, namentlich aber im Beruf (Art des Berufs, häufiger Stellenwechsel) bilden die wichtigsten Fingerzeige in dieser Beziehung; darüber hinaus aber soll der Psychiater auch selbst prüfen, wie die Leistungsfähigkeit des Untersuchten ist, und zwar geht das Bestreben dahin, das in wenigen Stunden zu tun. Wir verwenden zu diesem Zwecke Aufgaben, die gewisse Anforderungen an die Denkfähigkeit, die Urteils- und Kombinationsfähigkeit usw. stellen, und ziehen aus der Art und Weise, wie der Untersuchte diese Aufgaben löst und wie er sieh bei der Lösung verhält, bestimmte Schlüsse. Ich halte es dabei für unerläßlich, sich nicht mit der schriftlichen Beantwortung von Fragen zu begnügen, sondern in mündlicher Prüfung zu sehen, wie die Antwort zustande kommt, wie der Prüfling auf die Aufgaben reagiert, ot er etwa nach kurzer Überlegung eine klare Antwort gibt oder ob er sofort unklar daherredet und durch vieles Reden sein mangelhaftes Können zu verdecken sucht. Es siad im Laufe der Zeit zahlreiche brauchbare Tests ausgearbeitet worden, die bei ausführlicher Prüfung im Verein mit der praktischen Lebensbewährung ein ausreichendes Urteil über die Intelligenz möglich machen. Erwähnenswert sind besonders die von BOBERTAG für deutsche Verhältnisse bearbeitete Methode von BINET-SIMON, die auf die Feststellung des Intelligenzalters hinzielt, und das sogenannte psychologische Profil von ROSSOLIMO. Am meisten benutzt werden mehr oder weniger brauchbare Fragebogen, bei denen es im wesentlichen auf die Erfahrung des Prüfenden mit eben diesen Fragen ankommt 3 ). Daneben hat sich mir der Aussageversuch nach W. STERN und der Assoziationsversuch als recht brauchbar erwiesen. Immer wieder muß darauf hingewiesen werden, daß mangelhafte 3 ) Recht brauchbar ist die Fragensammlung in KLOOS, Anleitung zur Intelligenzprüfung und ihre Auswertung, Jena 1943. Weiter: Wechsler, D., die Messung der Intelligenz Erwachsener. 3. Aufl. Huber, Bern 1956.

Angeborene und früh erworbene Schwachsinnszustände

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Schulkenntnisse mit normaler Intelligenz und leidliche Schulkenntnisse mit Beschränktheit oder gar leichtem Schwachsinn vereinbar sind. Die Anforderungen, die man auch bei durchschnittlich begabten Volksschülern an die Schulkenntnisse stellen kann, sind denkbar gering. Schon vor 1905 wußten, wie R O D E N W A L D T 4 ) an Rekruten eines preußischen Regiments feststellen konnte, nur etwa 40%, wer Bismarck war, obwohl sie noch alle von ihm gehört hatten. Heute wird man eine zutreffende Antwort auf diese Frage als über dem Durchschnitt liegend bewerten müssen. Nach ihrem Temperament unterscheidet man sehr grob stumpfe, apathische von lebhaften, erregten Formen. Charakterlich können Geltungssucht, Neid, Rachsucht, Haltlosigkeit, Empfindlichkeit, Neigung zum Lügen, Streitsucht und andere Züge in den Vordergrund treten. Sie sind bei Schwachsinnigen um so bedeutungsvoller, als diese den durch solche Eigenschaften gesetzten Strebungen nicht die intellektuellen Hemmungen entgegensetzen können, die dem Normalen zur Verfügung stehen. Strafrechtlich treten die schweren Idiotieformen kaum in Erscheinung. Diese Unglücklichen, die zum Teil nicht einmal das Niveau von intelligenten Tieren erreichen, sind in der Regel in Anstalten untergebracht, in denen sie keine Möglichkeit zu krimineller Betätigung finden. Es ist selbstverständlich, daß sie generell den Schutz des § 51 Abs. 1 StGB genießen. Gelegentlich werden sie von anderen zur Ausführung von Verbrechen, z. B. Brandstiftung benutzt. Während früher der Anstifter in solchen Fällen straffrei ausging, ist er heute durchaus strafbar. Das Gros der schwachsinnigen Täter wird von Imbezillen und Debilen gestellt. Übereinstimmend wird von allen Autoren der hohe Prozentsatz der Schwachsinnigen unter den Kriminellen hervorgehoben 5 ). Unter 262 in den Jahren 1941—1948 von mir begutachteten Kriminellen befanden sich 41 Schwachsinnige, darunter 11 mit stärker hervortretenden psychopathischen Zügen; von diesen habe ich 14 den Schutz des § 51 Abs. 1 StGB bzw. des § 3 JGG zugebilligt, 17 den Absatz 2 des § 51, während ich 20 für strafrechtlich zurechnungsfähig erklärt habe. Unter ihnen befanden sich 14 mit Vermögensdelikten, in der Regel Diebstahl, 10 mit Sittlichkeitsdelikten, 3 Brandstifter, je zweimal handelte es sich um Tötungsdelikte oder Mißhandlung, einmal um Widerstand. Dazu kamen 5 Kriegsverbrechen (Fahnenflucht, unerlaubte Entfernung usw.) und 4 politische Delikte. Das stimmt mit den Erfahrungen der übrigen Autoren ungefähr überein. Im Gutachten wird es darauf ankommen, nicht nur den Grad des Schwachsinns aufzuzeigen, sondern die Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit darzustellen und zu untersuchen, wie gerade die Kombination von ungünstigen Charakterzügen mit Schwachsinn sich praktisch auswirkt. Die Frage nun, bei welchem Schwachsinnsgrad die erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit beginnt, bei welchem sie in Zurechnungsunfähigkeit übergeht, ist 4

) Monatsschr. f. Psychiatrie 17, Erg.Heft 1905.

5

) N ä h e r e A n g a b e n b e i JOH. LANGE i n HOCHE I I I , S . 1 4 5 f .

20 L a n g e l ü d d c k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

eindeutig nicht zu beantworten. Sie hängt auch nicht allein vom Grad der Abnormität, sondern auch von der Art der Tat ab: ein einmaliger Gelegenheitsdiebstahl ist auch hinsichtlich der Zurechnungsfähigkeit anders zu beurteilen als ein vorbereiteter schwerer Diebstahl oder gar eine Serie von Einbruchsdiebstählen. Jener kann in einer dafür günstigen Situation einem plötzlich auftauchenden Wunsche entspringen, dem der Schwachsinnige nicht die nötigen intellektuellen Hemmungen entgegensetzen kann; dieser setzt gewisse Überlegungen voraus. I m allgemeinen handelt es sich bei Schwachsinnigen um relativ primitive Delikte, zu komplizierten Betrügereien sind sie nicht imstande. Eine weitere Frage, zu der wir oft Stellung zu nehmen haben, ist die nach der Verwahrungsbedürftigkeit, wenn die Voraussetzungen des § 51 StGB vorliegen. Zur Beantwortimg dieser Frage wird man die praktische Lebensbewährung heranziehen; man wird also zu untersuchen haben, ob das Gesamtverhalten des Schwachsinnigen bisher so war, daß er in der Freiheit Nützliches geleistet hat, ferner, ob er sich nach Verbüßung einer etwaigen Strafe voraussichtlich wieder in die soziale Gemeinschaft einordnen wird. Diese Fragestellung erweist sich auch in jenen Grenzfällen als brauchbar, in denen man sich über die Zubilligung des § 51 Abs. 2 streiten kann. Bei Verwahrungsbedürftigkeit wird man sich leichter zu seiner Anwendung entschließen, um den Schwachsinnigen nach seiner Strafverbüßung in einer Anstalt unterbringen zu können. Während bei den einfachen Dauerzuständen namentlich der leichteren Schwachsinnsformen eine gewisse Zurückhaltung hinsichtlich der Zuerkennung des § 51 StGB geboten erscheint, kann man großzügiger sein, wenn zum Schwachsinn andere vorübergehende Beeinträchtigungen des Geisteszustandes treten, z. B. Alkoholwirkung, stärkere Affekte, Stimmungsanomalien. Daß schwachsinnige Jugendliche oft nicht die Voraussetzungen des §3 JGG erfüllen, ist nach dem Gesagten selbstverständlich. Gerade bei ihnen wird man die vielfach verlangsamte Charakterreifung zu berücksichtigen haben. Die Delikte der schwachsinnigen Jugendlichen sind in erster Linie Diebstähle, aber auch Sexualdelikte, namentlich Sodomie (Unzucht mit Tieren) und Brandstiftungen. Die Freude am Feuer ist bei Kindern ja weit verbreitet; sie besteht bei vielen Halberwachsenen noch fort. Auch das gesunde Kind pflegt beim Feueranzünden sich wenig Gedanken über die etwaigen Folgen zu machen; schwachsinnige Kinder übersehen die Folgen noch weniger. Ob ,,Strafaussetzung auf Bewährung" angebracht ist, wird abgesehen von den rechtlichen Voraussetzungen von der Gesamtpersönlichkeit abhängen, namentlich von dem bis dahin gezeigten Verhalten, weiterhin von der Art der Tat. Man wird die Beantwortung dieser Frage ganz auf den Einzelfall abstellen müssen.

Psychische Störungen nach Hirnverletzungen

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Geschäftsunfähigkeit wird nur dann anzunehmen sein, wenn der Schwachsinn so erheblich ist, daß allgemein eine „normale Bestimmbarkeit durch vernünftige Erwägungen" nicht mehr gegeben ist, oder wenn eine allgemeine Unfähigkeit vorliegt, die Bedeutung von Willenserklärungen einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Wie bereits oben (S.204) ausgeführt ist, hat sich die Annahme einer partiellen Geschäftsunfähigkeit Schwachsinniger je nach der Schwierigkeit des Geschäfts nicht durchgesetzt. Ebenso ist bereits früher auf die Möglichkeit hingewiesen, Schwachsinnige mit Hilfe des § 138 BGB vor mißbräuchlicher Ausnutzung zu schützen (S. 207). In allen Fällen, in denen irgendwie schwierigere Geschäfte zu tätigen sind, sollte man Schwachsinnigen entweder einen Pfleger oder, wenn es erforderlich erscheint, einen Vormund geben. Daß hier die Notwendigkeit der Entmündigung von dem Umfang und der Art der Angelegenheit abhängt, habe ich schon oben betont. Schwachsinnige können durchaus gute Ehegatten sein. Scheidungen aus § 44 und 45 EG sind deshalb nach meinen Erfahrungen selten. Häufiger sind Aufhebungsklagen nach § 32 EG, wenn der andere Ehegatte vor der Ehe den Schwachsinn des Partners nicht bemerkt hat. Liebe macht blind; man glaubt nicht, wie blind sie macht. Hinzuweisen ist noch auf den Umstand, daß Schwachsinnige leicht der Verführung unterliegen; sie werden gelegentlich zur Ausführung von Verbrechen benutzt, schwachsinnige Frauen werden häufig zum außerehelichen Geschlechtsverkehr mißbraucht. Dann kann im etwaigen Alimentationsverfahren die Frage auftauchen, ob der Schwängerer habe erkennen können und müssen, daß die uneheliche Mutter geistesschwach war. Bei der Beantwortung dieser Frage wird man große Vorsicht walten lassen müssen. Es wird darauf ankommen, wie lange der Schwängerer die Betreffende kennt, und ob die letztere in dem Rufe steht, schwachsinnig zu sein. Geringere Schwachsinnsgrade werden in der Regel nicht als solche gewertet.

3. Psychische Störungen nach

Hirnverletzungen1)

Man unterscheidet „gedeckte" und „offene" oder „penetrierende" Hirnverletzungen. Die erstgenannten kommen hauptsächlich bei Verkehrs- und Betriebsunfällen vor, die zweite Gruppe, die mit Eröffnung der Schädelkapsel einhergeht, umfaßt namentlich die Kriegsverletzungen. Unter den gedeckten Kopfverletzungen unterscheidet man nach alter Gewohnheit die Hirnerschütterung (commotio), die Hirnquetschung (contusion) und die Hirnkompression. Befriedigender ist eine den anatomischen Befunden Ausführliche ältere Darstellungen stammen von B. P F E I F F E R in B U M K E S Handbuch der Psychiatrie Bd. VII, S C H E I D im gleichen Handbuch, Erg.-Bd. I , MARBURG, Handbuch der Neurologie von BUMKE-Foerster. Aus neuerer Zeit sei besonders auf die Sammlung von Vorträgen verwiesen, die REHWALD unter dem Titel „Das Hirntrauma" 1 9 5 6 herausgegeben hat; dort haben sich L E O N H A R D T , L I N D E N B E R G und 20*

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

besser gerecht werdende Einteilung, die von der reinen Hirnerschütterung Blutungen, Erweichungen, Wasseranreicherungen (Ödem) und direkte Verletzung der Hirnsubstanz abzutrennen sucht. Klinisch lassen sich jedoch weder dieKontusion von der Kompression, noch diezuletzt genannten Formen einigermaßen sicher unterscheiden; wir wollen sie deshalb hier der Einfachheit halber unter der Bezeichnung Hirnquetschung der Hirnerschütterung gegenüberstellen. Das Hauptsymptom der Hirnerschütterung, bei der sich ein anatomischer Befund nicht feststellen läßt, ist die Bewußtseinstrübung (Benommenheit) bzw. Bewußtlosigkeit, die in vielen Fällen — nicht in allen — von Erbrechen und Pulsverlangsamung begleitet wird. Das Bewußtsein kehrt nach kürzerer oder längerer Zeit über ein Stadium der Benommenheit wieder zur Norm zurück. Gröbere Störungen irgendwelcher Art bleiben bei der einfachen unkomplizierten Hirnerschütterung nicht zurück. Anfangs etwa bestehende Beschwerden, namentlich Kopfschmerzen und Schwindel, bilden sich allmählich, spätestens nach 2 bis 3 Jahren zurück. Anders bei der Hirnquetschung. Auch diese kann unter dem eben gezeichneten Bilde verlaufen; Blutungen unter die harte Hirnhaut kommen sogar im Anschluß an leichte, ohne Bewußtseinsverlust einhergehende Schädeltraumen vor. Meist ist jedoch von vornherein die Symptomatologie der Hirnquetschung eine viel schwerere. Die Bewußtseinsstörungen halten viel länger an, es lassen sich im Anfang oft irgendwelche neurologische Störungen nachweisen, und auch die Psyche ist oft genug, wenn auch nicht immer, verändert. Das Vorhandensein psychischer Störungen, die über die einfache Bewußtlosigkeit hinausgehen, spricht jedenfalls fast immer für eine Beteiligung des Gehirns. Selten nach schweren Hirnerschütterungen, häufiger nach Hirnquetschungen treten im Stadium des Erwachens aus der Bewußtlosigkeit vorübergehende Psychosen mit verschiedenartiger Symptomatologie auf, die von K A L B E R L A H beschriebenen Kommotionspsychosen: bei deutlichen Auffassungs-, Denk- und Merkstörungen glauben die Kranken in ihrem Beruf tätig zu sein oder haben Sinnestäuschungen. Dabei ist ihre Affektlage manchmal nach der zornmütig-gereizten, manchmal nach der euphorisch-heiteren Seite verändert. Die Gedächtnislücken werden vielfach durch Confabulationen ausgefüllt (KOESAKOWscher Symptomenkomplex). Auch Dämmerzustände sind nach Hirnverletzungen beschrieben, d. h. Zustände veränderten Bewußtseins, in denen die Kranken in der Lage sind trotz falscher oder mangelnder Orientierung über Raum und Zeit verhältnismäßig geordnet zu COSTA über die strafrechtliche Verantwortlichkeit geäußert. Weiter: THELEN, Hirnverletzung und Kriminalität in Z.Neur. 190, S. 221 und namentlich BAY, Die traumatischen Hirnschädigungen, ihre Folgezustände und ihre Begutachtung. Fortschr. 21, 1953, S. 151, eine sehr klare und eingehende Arbeit; BIRKMAYER, Hirnverletzungen, Wien 1951, darin u. a. ein Kapitel über die geistige Leistungsfähigkeit Hirnverletzter mit Methoden ihrer Untersuchung und JOHN, Zur forensischen Psychiatrie „geistig gesunder Hirnbeschädigter", Wien 1950 (für österreichische Verhältnisse).

Psychische Störungen nach Hirnverletzungen

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handeln, so daß sie unter Umständen gar nicht auffällig werden. Nach Ablauf dieser Störungen bleibt eine Gedächtnislücke, die sich nicht selten auch auf Ereignisse vor der Verletzung erstreckt (sog. retrograde Amnesie) 2 ). Die Erscheinungen bei den sog. offenen, meist durch Schuß verursachten Verletzungen sind sehr verschieden. Sie hängen ganz davon ab, welche Teile des Gehirns betroffen sind. Auch hier sind Störungen wie die oben kurz angedeuteten, häufig, d. h. namentlich Bewußtseinsstörungen; Kommotionspsychosen sind ebenso selten wie bei den gedeckten Hirnverletzungen. Dagegen sind häufig sog. Herdsymptome, die, wenn auch meist in geringerem Umfange, auch bei Hirnquetschungen wenigstens anfangs nachweisbar sind. Darunter versteht man Ausfälle, die durch Verletzungen bestimmter Hirnteile zustande kommen, so etwa Lähmungen bei Verletzung der vorderen Zentralwindung, Sensibilitätsstörungen bei Verletzung der hinteren Zentralwindung, Sehstörungen verschiedener Art, wenn der Pol des Hinterhauptlappens betroffen ist, besonders häufig Sprach-, Lese- und Schreibstörungen. Manche dieser Störungen bilden sich von selbst im Laufe einiger Zeit zurück; andere bleiben bestehen; und es gelingt nur sehr mühsam durch langen, dem Einzelfall angepaßten Unterricht, wenigstens eine brauchbare Verständigungsmöglichkeit zu schaffen. Vielfach bleibt eine sog. posttraumatische Hirnleistungsschwäche, wie POPPELREUTEE 3 ) sie zuerst beschrieben hat, zurück; die Auffassimg ist erschwert, die Merkfähigkeit, das Gedächtnis für Zurückliegendes herabgesetzt, die Ermüdbarkeit gesteigert; eine gewisse affektive Abstumpfung und eine Herabsetzung der Willensenergie ergänzen das Bild. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß die psychischen Erscheinungen des traumatischen Hirnschadens sich vorwiegend auf dem Gebiet des Antriebs und der Affektivität äußern, während die intellektuellen Leistungen weniger betroffen sind. In unserem Zusammenhang wichtig sind namentlich die Verletzungen des Stirnhirns. Besonders dann, wenn beide Stirnlappen betroffen sind, kommt es zu eigenartigen und sehr eingreifenden Persönlichkeitsveränderungen. Diese Störungen sind von FEUCHTWANGER 4 ) beschrieben worden: „Was ihnen fehlt, ist einmal die natürliche gefühlsmäßige Stellungnahme zur Außenwelt, die ,Wertung' der auf sie einwirkenden Eindrücke, ein Mangel, der sie gleichgültig und gemütsstumpf, unter Umständen taktlos und läppisch erscheinen läßt. Ferner macht sich bei ihnen ein Verlust der Triebkräfte des Willens geltend. Dieser äußert sich in einer Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit dauernd und intensiv anzuspannen, in Zerstreutheit, Ablenkbarkeit, Ermüdbarkeit, den Kranken fehlt das zielbewußte Streben, die Planmäßigkeit in der Verfolgung von Lebenszielen, die Entschlußfähigkeit, die Ausdauer und die Selbstbeherrschung. Infolge2

) STEIN, Über traumatische Dämmerzustände. Heidelberg 1951. ) Die psychischen Schädigungen durch Kopfschuß im Kriege, 1918. 4 ) Die Funktion des Stirnhirns, Berlin 1923. 3

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

dessen werden sie triebhaft und hemmungslos oder unselbständig und beeinflußbar". K. S C H N E I D E R 6 ) hat drei Typen von Wesensveränderungen herausgehoben: 1. Typ: Euphorisch, redselig, umständlich, aufdringlich, treuherzig; 2. Typ: Apathisch, antriebsarm, stumpf, langsam, schwerfällig; 3. Typ: Reizbar, mürrisch, explosiv, gewalttätig, undiszipliniert. Mischungen sind häufig. S C H E I D fügt einen freilich seltenen 4. Typ an: Umbildung der Persönlichkeit im Sinne der moral insanity.

Auf der Marburger Hirnverletztenabteilung fand BTJSEMANN 6 ) unter rund 650 Hirnverletzten 10 Fälle einer Denkstörung, die er als Dementia puerilis bezeichnet, weil das Denken in der Richtung auf das kindliche Denken reduziert erscheint. Das Bedürfnis nach Eingliederung eines Sach- und Wertverhalts in das Ganze der Erfahrungen und Wertungen ist deutlich herabgesetzt, das Denken und das verantwortliche Handeln leidet unter einem Mangel an Verbindlichkeit. Fehlbehauptungen werden oft konfabulös begründet. Die Gesamthaltung ist spielerisch knabenhaft. Hinsichtlich der verletzten Hirnpartien bestand keine Übereinstimmung; gemeinsam war lange Bewußtlosigkeit nach der Verletzung. Auf dem Boden solcher Veränderungen und der mannigfachen Beschwerden der Hirnverletzten kann es zu psychogenen, depressiven und paranoiden Reaktionen kommen, die leicht einmal dazu führen, daß die als Grundlage bestehende organische Wesensveränderung übersehen wird. Wichtig ist auch die traumatische Epilepsie. CBEDNER 7 ) hat an einem fast 2000 freilich wohl nur die schwereren Fälle umfassenden Material des 1. Weltkrieges ausgerechnet, daß rund die Hälfte (49,5%) der offenen Hirnverletzungen zu epileptischen Anfällen führt. In 20% der Fälle gilt das auch für die übrigen Schädelverletzungen mit nachgewiesener Hirnschädigung. Dabei wurden überwiegend große generalisierte Anfälle beobachtet, seltener jACKSONanfälle, d. h. solche Anfälle, die erkennbar von einem Herd ausgehen, Absenzen, Dämmerzustände und Schwindelerscheinungen. Bei den Hirnverletzten des 2. Weltkrieges ist die traumatische Epilepsie weit seltener (etwa 20%). Die forensische Beurteilung Hirnverletzter erfordert die ganze Kunst des begutachtenden Arztes, der besondere Erfahrungen auf diesem Gebiete haben sollte. Ihre Kriminalität liegt im ganzen etwas höher als bei der übrigen Bevölkerung. Es handelt sich dabei vorwiegend um Körperverletzungen, Sexualdelikte, tätliche Beleidigung, aber auch um Betrug und Diebstahl. Wesentlich sind namentlich die Persönlichkeitsveränderungen, die bei Stirnhirnverletzten am eingreifendsten sind; bei traumatischen Epileptikern sind namentlich Affektverbrechen zu erwarten. Bei der Beurteilung 5

) Nervenarzt 8, 1935, S. 567. ) Ich hatte öfter als Disziplinarvorgesetzter mit diesen Kranken zu tun. ') Z.Neur. 126, 1930, S. 721. s

Psychische Störungen nach Hirnverletzungen

311

kommt es darauf an, die primäre Persönlichkeit unter Berücksichtigung auch der Familie, die HirnVerletzungsfolgen und die jeweilige Situation gegeneinander abzuwägen. Die Zurechnungsfähigkeit wird im allgemeinen zu bejahen sein, wenn es sich nur um neurologische Ausfälle — Lähmungen, Sprach-, Sehstörungen usw. — handelt. Auch eine posttraumatische Hirnleistungsschwäche, bestehend in verminderter Spannkraft, erhöhter Ermüdbarkeit und Verlangsamung bei erhaltener Intelligenz und Bildung hebt die Zurechnungsfähigkeit im allgemeinen nicht auf, kann sie aber, je nach der Art des Delikts einschränken. Wichtig sind namentlich die gesteigerte Reizbarkeit und die eigenartige Hemmungslosigkeit. Ganz besonders die letztere ist Ursache mancher krimineller Handlungen. Während des letzten Krieges hatte ich gerade mit diesen Verletzten gewisse Schwierigkeiten; sie fielen immer wieder auf durch die Unbekümmertheit, mit der sie gegen die militärischen Vorschriften verstießen. Man hatte das Gefühl, daß Ermahnungen an ihnen abprallten, ohne daß böser Wille vorhanden war. Sie versprachen das Beste, um kurz darauf die gleichen Verstöße wie vorher zu begehen. Es war jedes Scham- und Taktgefühl bei ihnen geschwunden. In diesen Fällen wird man Zurechnungsunfähigkeit bejahen müssen, wenn sich herausstellt, daß vor der Verletzung kriminelle oder asoziale Neigungen nicht bestanden. I m ganzen aber darf die Hirnverletzung aber auch nicht überbewertet werden, und die verschiedenen Autoren warnen daher vor übermäßiger Anwendung des § 51 Abs. I 8 ). Die Einsichtsfähigkeit ist fast durchweg erhalten geblieben; gestört ist vielfach die Fähigkeit nach der erhaltenen Einsicht zu handeln. Man wird dafür öfter eine erheblich verminderte Zureehnungsfähigkeit annehmen können. Wichtig ist weiter, daß Himverletzte auf Alkohol leicht mit pathologischen Räuschen reagieren. Dann kommt Exkulpierung nach § 51 in Betracht, zugleich aber taucht die Frage auf, ob eine Verurteilung nach § 330 a StGB möglich ist, d. h. ob der Hirnverletzte sich vorsätzlich oder fahrlässig in einen solchen Rausch versetzt hat. Auch das ist von Fall zu Fall verschieden zu beurteilen. Man wird aber von Hirnverletzten verlangen müssen, daß sie dem Alkohol gegenüber ganz besonders vorsichtig sind. Alkoholtoleranz versuche, die gelegentlich klärend wirken, können in geeigneten Fällen in vorsichtiger Form angestellt werden. Auch die posttraumatische moral insanity führt zur Exkulpierung, vorausgesetzt freilich, daß sie wirklich Folge der Hirnverletzung ist. Ebenso schließen epileptische Ausnahmezustände ohne weiteres die Verantwortlichkeit aus. L I N D E N B E B G hat vorgeschlagen, bei Strafen bis zu 1 Jahr durch Gnadenerweis die Strafe auf Bewährung auszusetzen und zwar unter der Auflage 14tägiger Meldung bei der Polizei, der psychiatrischen Fürsorgestelle oder beim behandelnden Psychiater. Er will auf diese Weise auch den ungünstigen Einfluß der Gefängnishaft vermeiden, und hat auf diese Weise erreicht, 8

) S o LEONHARDT, COSTA U. a. 0 . LINDENBERG h a t b e i 187 F ä l l e n , d i e er b e g u t -

achtet hat, Zurechnungsunfähigkeit nur in 9 Fällen bejaht.

312

Spezielle gerichtliche Psychopathologie

daß alle so behandelten Fälle rückfallfrei blieben. Die Einweisung nach § 42 b StGB kann gleichfalls wohl auf wenige Fälle beschränkt werden, in denen die Rückfallwahrscheinlichkeit besonders groß ist, oder wenn es sich um schwere Delikte handelt. Bei Jugendlichen wirken sich Hirnverletzungen oft noch schwerer aus als bei Erwachsenen. Die geistige und charakterliche Entwicklung kann dadurch erheblich gestört werden. Die Verhältnisse liegen hier ähnlich wie bei der Encephalitis epidemica, die bei Jugendlichen auch schlimmere Auswirkungen hat als bei Erwachsenen. Ob man bei ihnen den § 3 JGG oder den § 51 StGB anwenden kann, hängt von der Lage des einzelnen Falles ab. Gelegentlich ist die Frage zu entscheiden, ob eine Hirnverletzung als schwere Körperverletzung anzusehen sei. Diese Frage ist zu bejahen, wenn Herderscheinungen vorliegen, ebenso aber auch, wenn Persönlichkeitsveränderungen nachweisbar sind. Bei der Wehrmacht wurde jede Hirnverletzung, auch die ohne nachweisbare Folgen als schwere Verletzung gerechnet und führte zur Anerkennung mindestens der Versehrtenstufe I I ; ich halte das nicht für ganz begründet. Es gibt auch eine ganze Reihe Hirnverletzter, denen man überhaupt nichts anmerkt, die ihrem Beruf wie vor der Verletzung nachgehen können. Es kommt dabei m. E. nicht auf den anfänglichen Befund, sondern auf die bleibenden Folgen an; daher sind auch die im akuten Stadium manchmal auftretenden vorübergehenden Geistestörungen nicht als schwere Körperverletzungen aufzufassen. Die Entmündigung Hirnverletzter sollte man nach Möglichkeit zu vermeiden suchen. Sie sind doch überwiegend Opfer des Krieges, empfinden vielleicht schon die Verletzung mit einer gewissen Verbitterung und sehen in der Entmündigung, wenn auch mit Unrecht, eine Entrechtung, unter der sie seelisch leiden. Geschäfts- oder Prozeßunfähigkeit wird nur in ganz seltenen Fällen zu bejahen sein. Schwierige Fragen, insofern sie auch unser Mitgefühl beanspruchen, können sich aus dem Ehegesetz ergeben. Die Ehe mit einem Schwerverletzten dieser Art stellt an die Partnerin große Anforderungen: Geduld, Gleichmut, Liebe, Entsagung und eine Ehegesinnung werden gefordert, die weit über das Gewöhnliche hinausgehen, die man aber vom Durchschnitt kaum erwarten kann. Dabei hatte ich den Eindruck, daß Hirnverletzte dazu neigen, sozial unter ihnen stehende Partner zu wählen. Ob diese die genannten Eigenschaften aufbringen, ist in vielen Fällen mehr als fraglich. Aufhebungsund Scheidungsklagen, die sich auf die §§ 32, 44 und 45 EG stützen, sind daher durchaus möglich. Regeln lassen sich dafür nicht geben. In der Rentenbegutachtung werden Hirnverletzte vielfach falsch eingeschätzt 9 ). Gerade die Leichtverletzten, die keine groben Herdsymptome haben, die daher nach außen nicht als besonders geschädigt auffallen, die 9

) Dazu

LINDENBERG

REHWALD, S. o b e n .

und

POPPELREUTER,

Wiener med. Wschr.

1942, I I ;

weiter

Die psychischen Störungen infolge von Syphilis

313

aber doch mancherlei Beschwerden haben, neigen zu psychogenen Verstärkungen ihrer Klagen. Als Folge davon werden dann manchmal alle Ansprüche abgelehnt, weil die leichten Schwächezustände, die der psychogenen Übersteigerung zugrunde liegen, nicht bemerkt werden. Die Veränderungen nach Stirnhirnverletzungen werden leicht für hysterisch gehalten. Nur genaueste Untersuchung, bei der das psychologische Experiment Gutes leisten kann 10 ), schützt vor solchen Fehlbeurteilungen.

4. Die psychischen

Störungen infolge von

Syphilis

Die wichtigste hierher gehörige Krankheit ist die progressive Paralyse, die von Laien meist fälschlich als Gehirnerweichung bezeichnet wird. Die Ursache dieser Erkrankung ist die Syphilis. Während man früher glaubte, daß es sich um eine Nachkrankheit der Lues ( = Syphilis) handele — man sprach deshalb von „Metalues" —, wissen wir heute, daß es sich um Hirnprozesse handelt, die unmittelbar durch den Erreger der Syphilis, die Spirochaeta pallida, hervorgerufen werden. Die Erkrankung tritt nicht unmittelbar nach der Infektion auf, sondern es vergehen stets einige Jahre, bevor es zur Paralyse kommt. Dieser Zeitraum zwischen Infektion und Ausbruch der Paralyse schwankt zwischen etwa 3 und 45 Jahren; die Mehrzahl der Erkrankungen tritt nach 10 bis 15 Jahren auf. Die Dauer des Intervalls ist in gewisser Weise abhängig davon, in welchem Alter die Infektion erworben wird. Junge Menschen erkranken in der Regel nach einem längeren Intervall als alte. Das häufigste Ausbruchsalter der progressiven Paralyse liegt um das 40. Lebensjahr herum. Männer erkranken sehr viel häufiger als Frauen. Diese früher häufige Krankheit ist infolge der besseren Behandlungsmöglichkeit der frischen Syphilis sehr viel seltener geworden. Dem eigentlichen Ausbruch der Erkrankung können schon jahrelang neurasthenieähnliche Erscheinungen vorausgehen. Krankheitserscheinungen treten dann sowohl auf körperlichem als auch auf psychischem Gebiet auf. Unter den letzteren ist das wichtigste Synptom, das niemals fehlt, die von H O C H E daher als Achsensymptom bezeichnete fortschreitende Verblödung: Wir finden ungenaue Auffassung, allmähliches Nachlassen der Merkfähigkeit, des Gedächtnisses, Mängel der Aufmerksamkeit, Verlangsamung und Erschwerung des Denkens, zunehmende Urteilsschwäche und Kritikunfähigkeit den eigenen Handlungen gegenüber. Neben diesen, vornehmlich auf intellektuellem Gebiete liegenden Mängeln machen sich schon früh gewisse Störungen des Gefühlslebens bemerkbar. Die Kranken werden auffällig durch unerwartete Taktlosigkeiten; so erzählte einer meiner Kranken in Gegenwart seiner Frau und einer anderen Dame ungeniert von sexuellen Erlebnissen, die er mit Eingeborenen auf Madagaskar gehabt hatte. Moralische Hemmungen fallen fort, auftauchende Wünsche auch unsinniger Art werden sofort realisiert. Schließlich ist auch die affektive Ansprechbarkeit 10

) Siehe BIRKMAYER, a. a. O.

314

Spezielle gerichtliche Psychopathologie

verändert: neben zornmütigen Erregungen fällt immer wieder die Leichtigkeit auf, mit der der Affekt zwischen Extremen, zwischen Verzweiflung und Glückseligkeit hin- und herschwanken kann. Ein kleiner Scherz genügt, um den eben noch tief bedrückten weinenden Kranken zum fröhlichen Lachen zu bewegen. Diese Verblödung kann das einzige psychische Symptom der Erkrankung sein; wir sprechen dann von der „einfach dementen" Form der Paralyse. Sie ist die häufigste Erscheinungsform, in der die Paralyse auftritt. Es können jedoch daneben andere psychische Erscheinungen zur Beobachtung kommen; ja, man kann sagen, daß es kaum ein psychopathologisches Symptom gibt, das bei der Paralyse nicht einmal gefunden werden kann. Obwohl diese Symptome oft sehr viel auffälliger sind als die langsam fortschreitende und daher oft erst sehr spät bemerkte Verblödung, handelt es sich für den Krankheitsverlauf doch nur um Neben- oder — nach der HocHEschen Ausdrucksweise — um Randsymptome. Durch sie wird zunächst das Bild der sog. klassischen Paralyse bestimmt, das anscheinend nicht nur absolut, sondern auch im Verhältnis zu den übrigen Formen allmählich seltener geworden ist. Sie ist gekennzeichnet durch Größenideen, die leicht beeinflußbar und steigerungsfähig zu sein pflegen, aber auch durch ihre Maßlosigkeit auffallen. Der Kranke ist dann Kaiser, Gott, verfügt über ungezählte Milliarden, schreibt ohne Bedenken einen Schein aus, durch den er Millionen verschenkt, renommiert mit seinen fabelhaften Körperkräften usw. Bescheidenere Kranke begnügen sich mit geringeren Posten: sie sind General, Direktor der Anstalt, geben Anweisung, den Arzt zu köpfen, alles das in oft strahlender, gehobener Laune. Seltener ist eine depressive Form, bei der die Kranken Wahnideen der Stimmung entsprechenden Inhalts äußern, die wiederum maßlos übertrieben sein können: sie sind dann tot, haben kein Herz, keinen Magen mehr, sind dem Teufel verfallen, die größten Sünder der Welt, haben die schwersten Verbrechen begangen u. dgl. mehr. Selten ist auch die kataton-halluzinatorische Ausprägung der Krankheit; sie scheint in Norddeutschland häufiger zu sein als in Süddeutschland, wir haben sie jedenfalls in Hamburg an einem freilich recht großen Material öfters beobachtet, während sie in München kaum vorkam. Während des ganzen Verlaufs können schlaganfallähnliche Zustände und epileptiforme Anfälle bei allen Formen auftreten. Die dabei entstehenden Halbseitenlähmungen bilden sich in der Regel in wenigen Tagen wieder zurück. Treten solche Anfälle häufiger und neben der Verblödung als einziges Symptom auf, so sprechen wir von Anfallsparalyse. Daneben können andere Symptomenkomplexe auftreten, rein euphorische, „galoppierende", die schnell zum Tode führen, und so weiter. Wenn wir auch aus dem Alter des Patienten und den psychischen Symptomen schon gewisse Anhaltspunkte für die Diagnose gewinnen können, so genügen sie doch nicht, die Diagnose sicherzustellen. Verblödungsprozesse,

Die psychischen Störungen infolge von Syphilis

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wie sie der progressiven Paralyse eigen sind, werden auch bei schwerer Sklerose der Hirngefäße oder bei der PiGKschen Krankheit, die im Schwund eines oder mehrerer Hirnlappen besteht, gefunden. Ausschlaggebend für die Erkennung der progressiven Paralyse ist der körperliche Befund. Fast regelmäßig findet man Pupillenstörungen: die Pupillen sind vielfach verschieden weit (Anisokorie), mehr oder weniger verzogen, und die Reaktion auf Lichteinfall wie auf Nahesehen — in beiden Fällen werden die Pupillen normalerweise enger — ist herabgesetzt oder ganz aufgehoben. Fehlen beide Reaktionen, so sprechen wir von absoluter Pupillenstarre; ist die Lichtreaktion allein aufgehoben, bezeichnen wir das als reflektorische Pupillenstarre. Diese Störungen sind im Beginn der Erkrankung freilich oft nur angedeutet oder fehlen in seltenen Fällen noch ganz. Häufig findet man auch leichte Reflexanomalien, Differenzen, Steigerung oder Fehlen der Sehnenreflexe, letzteres meist bei gleichzeitiger Tabes dorsalis, der sog. Rückenmarkschwindsucht. Wichtig sind die Sprach- und Schreibstörungen. Die Sprache wirkt schon im gewöhnlichen Gespräch oft unscharf artikuliert, verwaschen. Prüft man sie, indem man schwierige Worte nachsprechen läßt, so kommt es zu deutlichem Silbenstolpern und zu Auslassungen oder Verdoppelungen. Dabei macht sich oft ein charakteristisches Beben der Mundmuskulatur bemerkbar, während die Gesichtszüge sonst schlaff wirken (Wetterleuchten). Bei fortgeschrittener Erkrankung wird die Sprache zu einem kaum verständlichen Lallen. Auch die Schrift verändert sich mehr und mehr. Die Schriftzüge verlieren an Sicherheit, werden zitterig, das gesamte Schriftbild wird unsauber, die räumliche Aufteilung wird weniger gut, es kommt zu Auslassungen und Verdoppelungen von Buchstaben, Silben und Worten. Diese Störungen machen im Verein mit den psychischen Veränderungen und den Pupillenstörungen die Diagnose schon sehr wahrscheinlich. Endgültige Sicherheit bringt aber erst der serologische Befund. Im Blut sind die für Syphilis spezifischen Reaktionen (WASSERMANN, MEiNiCKEsche Klärungsreaktion, M Ü L L E B s c h e Ballungsreaktion) fast immer, in der Rückenmarksflüssigkeit immer positiv, in der letzteren schon bei stärkeren Liquorverdünnungen (0,2). Dazu findet man in der Rückenmarksflüssigkeit, dem Liquor cerebrospinalis, eine deutliche, wenn auch mäßige Vermehrung der Zellen; der Globulingehalt ist erhöht, so daß das Verhältnis Globulin/ Albumin, der sog. Eiweißquotient, der normalerweise etwa 0,25 beträgt, auf etwa 1,0 steigt; die Kolloidreaktionen ergeben charakteristische Kurven. Solche Befunde sind nun gelegentlich schon in einem sehr frühen Stadium der Lues zu erheben, ohne daß eine Paralyse vorliegt. Zur Diagnose der progressiven Paralyse ist daher das Zusammentreffen von neurologischen Abweichungen, charakteristischem serologischem Befund und psychischen Störungen erforderlich. Der Verlauf der unbehandelten Paralyse ist gekennzeichnet durch ein allmählich zunehmendes körperliches und geistiges Siechtum, das mit ganz

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

wenigen Ausnahmen, in der Regel nach 2 bis 4 Jahren, mit dem Tode endet. Manche Fälle verlaufen sehr viel schneller, in einigen wenigen kommt es zu längerdauerndem Stillstand des Prozesses mit körperlicher und geistiger Erholung. Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Behandlung der Paralyse praktisch aussichtslos. Es ist das Verdienst W A G N E R - J A U R E G G S , hier Wandel geschaffen zu haben. Anknüpfend an alte Erfahrungen, daß mit Fieber verbundene Erkrankungen den Verlauf der Paralyse günstig beeinflußten, versuchte WAGNER-JAUREGG mit verschiedenen Methoden, Fieber zu erzeugen. Nach Versuchen mit Erysipel, Tuberkulin, abgetöteten Typhusbazillen und chemischen Mitteln impfte er 1917 zuerst einige Kranke mit Malaria. Der Erfolg schien ermutigend. Seit 1919 ist die Malariabehandlung dann in seiner Klinik in Wien, daneben insbesondere in der Hamburger Klinik von W E Y G A N D T und M Ü H L E N S in einer großen Zahl von Fällen durchgeführt und propagiert worden. Andere Methoden mit Rückfallfieber (Münchener Klinik), Rattenbißfieber und Pyrifer (das einen aus Milch gewonnenen Colistamm enthält) wurden durchgeführt. Die Malariabehandlung hat jedoch ihren Vorrang behauptet. Infolge dieser Behandlung, die jetzt zum Allgemeingut geworden ist, sind bei frischen Erkrankungen praktische Heilungen, bei älteren Fällen immerhin lange anhaltende Besserungen zu erzielen 1 ). Neben der Malariabehandlun g hat in den letzten Jahren die Behandlung mit Penicillin sich als zweckmäßig erwiesen, am besten mit Malaria kombiniert. Von der progressiven Paralyse sind abzutrennen die Erkrankungen, die unter der Bezeichnung Lues cerebri zusammengefaßt werden. Bei der Paralyse handelt es sich um einen anatomisch gut gekennzeichneten Prozeß, der zu weitgehendem Untergang der Gehirnzellen und damit zu einer Verschmälerung der Gehirnwindungen hauptsächlich des Stirnhirns, weniger des Scheitel- und Schläfenhirns, am wenigsten der Zentralwindungen und des Hinterhauptlappens führt. Bei der Lues cerebri finden sich Veränderungen an den Blutgefäßen und an den Hirnhäuten; selten sind größere Gummen, d. h. spezifisch syphilitische Neubildungen. Die psychischen und körperlichen Störungen können denen der Paralyse ähnlich sein; in solchen Fällen ist die serologische Untersuchung differential-diagnostisch ausschlaggebend. In der Regel sind die psychischen Erscheinungen sehr viel geringfügiger als bei der Paralyse und ähneln denen bei der Hirnarteriosklerose. Anders zu beurteilen ist die Tabes dorsalis (Rückenmarkschwindsucht); wenn sie nicht mit einer Paralyse vergesellschaftet ist, was gelegentlich vorkommt, fehlen bei ihr psychische Störungen. Forensisch f ü h r t die nachgewiesene unbehandelte progressive Paralyse ausnahmslos zur Anwendung des § 51 Abs. 1 StGB. Die Diagnose macht manchmal freilich gewisse Schwierigkeiten. Ich habe oben bereits darauf hingewiesen, daß sich bei manchen Syphilitikern charakteristische sero') Zwei solche Fälle habe ich auf S. 51 kurz wiedergegeben.

Die psychischen Störungen infolge yon Syphilis

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logische Befunde feststellen lassen, ohne daß neurologische oder psychische Abweichungen vorhanden sind. In solchen Fällen muß man sehr vorsichtig mit der Diagnose einer Paralyse sein2). Schwierig kann es sein, die Frage zu entscheiden, ob die Paralyse zur Zeit der Tat schon bestand. Wir bekommen ja den Täter meist erst längere Zeit nach der Tat zur Untersuchung. Hier kann eine genaue Anamnese und der Vergleich der Schrift aufschlußreich sein. Wenn sich aus der Zeit der Tat Schriftstücke finden, die gegen früher Veränderungen (Zittererscheinungen, Auslassungen, Verdoppelungen usw.) aufweisen, so ist daraus fast mit Sicherheit zu schließen, daß die Paralyse auch schon zu jener Zeit bestand. Die Anamnese hätte die Aufgabe, etwaige Persönlichkeitsveränderungen (Taktlosigkeit, Nachlässigkeiten im Beruf und im Anzug usw.), unter Umständen durch Befragen von Freunden, Mitarbeitern, Verwandten festzustellen. Wichtig ist auch die Art der Tat. Häufig zeigt sie schon auffallende Züge. So entwendete einer meiner Kranken von einem auf dem Bahnsteig stehenden Gepäckwagen einen Koffer vor aller Augen und wurde sofort verhaftet. Diebstähle und Sittlichkeitsverbrechen sind wohl überhaupt die häufigsten Delikte, die bei Paralytikern vorkommen. Wichtig ist auch, ob der Täter bisher unbescholten war. Wenn jemand im Alter von etwa 40 Jahren zum ersten Male kriminell wird, so ist das an sich schon auffallend. Stellt sich dann heraus, daß er Paralytiker ist, daß er aber zur Zeit der Tat noch unauffällig war, so wird man trotzdem Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit äußern müssen. Man wird dabei zu bedenken haben, daß der Fortfall von moralischen Hemmungen manchmal das erste Zeichen der beginnenden Paralyse ist, und daß das Delikt für diese erste Veränderung der äußere Ausdruck ist. Manchem ist übrigens ein solches Delikt recht nützlich geworden, weil es ihn rechtzeitig zum Facharzt führte. Es ist erstaunlich, wie spät oft die geistige Erkrankung als solche von der Umgebung erkannt wird; man scheut sich offenbar, das Kind beim Namen zu nennen, schiebt die Veränderung auf Überarbeitung, besondere Erlebnisse, und versäumt so die beste Zeit für die Behandlung. Leider wird auch von Ärzten die Diagnose oft recht spät gestellt, oder es wird Zeit mit unzulänglichen Behandlungsversuchen vertan. Schwierig ist die strafrechtliche Beurteilung der geheilten oder defektgeheilten Paralytiker. Ich habe diese Frage schon weiter oben (S. 50) behandelt. Hier will ich kurz nur sagen, daß man m. E. von Fall zu Fall entscheiden muß. Alle behandelten Paralytiker für zurechnungsunfähig zu erklären, kann ich mich nicht entschließen. Volle Zurechnungsfähigkeit wird aber wohl nur selten anzunehmen sein3). Die kriminellen Neigungen 2 ) Das ist auch wichtig für die Behandlung. Derartige Kranke sprechen oft auf die spezifische Behandlung gut an. Solange daher keine greifbaren körperlichen oder psychischen Symptome vorliegen, wird die gewöhnliche spezifische Behandlung gelingen. Die Malariabehandlung unterschiedslos bei allen Kranken anzuwenden, die einen womöglich unvollständigen positiven Liquorbefund haben, halte ich für falsch. 3 ) BAUCH (Der Nervenarzt 23, 1952, S. 249) meint, die Entscheidung über die Anwendung des § 51 sei in erster Linie von den körperlichen Symptomen abhängig

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

behandelter Paralytiker sind im übrigen nicht groß. A L E X A N D E R und N Y S S E N 4 ) fanden unter 1 6 4 malariabehandelten Paralytikern nur einen, der kriminell geworden war, J O S S M A N N 5 ) unter 1 6 6 8 behandelten Paralytikern acht. Man wird daher nur ausnahmsweise diese Frage zu entscheiden haben. Bei der Lues cerebri sind die Verhältnisse ähnlich wie bei der Arteriosklerose des Gehirns. Das Vorhandensein, solcher Gefäßveränderungen im Gehirn braucht keineswegs Zurechnungsunfähigkeit zur Folge zu haben; es kommt vielmehr darauf an, ob psychische Veränderungen vorhanden sind, und auf deren Ausmaß. Ein Fall von Unterschlagung bei Paralyse möge hier als Beispiel erwähnt werden. Der Postschaffner W. H., bisher unbestraft, 48 Jahre alt, öffnete mehrere Feldpostsendungen und nahm den Inhalt an sich. Er nahm die Sendungen mit auf den Abort, öffnete sie dort und warf das Packpapier in den Abort oder in einen Mülleimer. Familiengeschichte o. B. Selbst Volksschule, einmal sitzen geblieben. 3 Jahre Malerlehre, dann Gehilfenstellungen, 1925 Meisterprüfung und eigenes Geschäft, das gut ging. Seit 1939 vergeßlich, erzählte Intimitäten aus seiner Ehe. 1940 Geschäft verkauft, weil er nicht mehr damit fertig wurde. Versuchte sich dann als Gefängniswärter; nach 2 Tagen als völlig ungeeignet entlassen: ließ alle Türen offen, gebrauchte einer Hilfsaufseherin gegenüber unflätige Redensarten. Dann zur Post. Dort nicht für voll angesehen. Im April 1941 zu einem Luftschutzkursus nach Seesen geschickt, kam nicht zurück, wurde schließlich in Magdeburg in Schutzhaft genommen und vom Sohne zurückgeholt. Körperlich: Pupillenstörungen, Bewegungen schwerfällig, unsicher, deutliche Sprach- und Schreibstörungen. Serologisch nicht ganz für Paralyse charakteristischer Befund (Eiweißquotient 0,42). Psychisch: mangelhafte Auffassung, deutliche Merkschwäche, war nicht imstande, seine Erlebnisse in Seesen und danach wiederzugeben, deutlich urteilsschwach und stumpf. Diagnose: Trotz etwas atypischen Befundes im Liquor progressive Paralyse. Beurteilung: Zurechnungsunfähig nach § 51, 1 StGB 6 ).

Die Entmündigung hängt vom Umfang der Angelegenheiten ab; wird sie erforderlich, wird man die unbehandelte Paralyse regelmäßig unter den Begriff der Geisteskrankheit im Sinne des § 6 BGB unterordnen müssen, während die defektgeheilte Paralyse wohl auch als Geistesschwäche gelten kann. Ausgesprochene Paralytiker sind geschäftsunfähig. Anders liegen die Dinge bei mit Erfolg behandelten Kranken. Bei ihnen wird man gar nicht so selten Geschäftsunfähigkeit nicht nachweisen können. Verhältnismäßig häufig ist bei Paralyse die Frage nach der geistigen Gemeinschaft (§ 45 EG) zu beantworten, immer wohl erst nach mißglücktem Behandlungsversuch. In der Regel ist die geistige Gemeinschaft dann aufgehoben. Die Kranken stehen ihrer Familie, den Sorgen, die damit verbunden sind, meist verständnislos gegenüber. zu machen; mit MEZGEB (Probleme der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit 1949) und LEFERENZ (Fortschr. 22, 1954, S. 380) bin ich der Ansicht, daß aus dem körperlichen Befund allein nicht auf den psychischen Zustand geschlossen werden kann. 4 ) Journ. de Neurol. 29, 1929; Ref. im Zb.Neurol. 60, 1929, S. 199. 6 ) AZPs. 95, 1931, S. 231. •) Pat. wurde behandelt und erheblich gebessert.

Die epidemische Enzephalitis

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Die sogenannte juvenile Paralyse, die auf dem Boden einer angeborenen Syphilis zwischen etwa dem 15. und dem 20. Lebensjahr sich zu entwickeln pflegt, unterliegt der gleichen strafrechtlichen Beurteilung wie die Erkrankung der Erwachsenen. Der durch Lues bedingte Schwachsinn ist wie die anderen Schwachsinnsformen zu bewerten.

5. Die epidemische

Enzephalitis

Diese Erkrankimg ist wahrscheinlich auch früher schon sporadisch in kleineren Epidemien aufgetreten; so ist es möglich, daß die anfangs der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts unter der Bezeichnung „Nona" in Oberitalien beobachteten Fälle mit der Enzephalitis epidemica identisch sind. Besondere Bedeutung hat die Erkrankung aber erst gewonnen durch die während des ersten Weltkrieges sich anbahnende Epidemie, die in den Jahren nach dem Kriege ihren Höhepunkt erreichte. F. S T E R N schätzt die Zahl der in Deutschland beobachteten Fälle auf 60000, von denen nach seiner Meinung 20000 bis 30000 Kranke in das chronische Stadium des sog. Parkinsonismus gerieten1). Die ersten Beschreibungen stammen in Deutschland von v. ECONOMO, in Frankreich von CRUCHET. Im akuten Stadium, das forensisch keine nennenswerte Bedeutung hat, unterscheidet man drei Hauptformen, die lethargische, die hyperkinetische und die amyostatische Form. Das Hauptsymptom der sog. Enzephalitis lethargica ist die Schlafstörung. Diese kann in einem wochenlang fortgesetzten Schlaf bestehen, aus dem die Kranken aber erweckbar sind, so daß sie Nahrung zu sich nehmen und ihre Bedürfnisse im allgemeinen erledigen können, um dann wieder einzuschlafen. In anderen Fällen kommt es zu lange anhaltender Schlaflosigkeit oder zu einer Schlafverschiebung derart, daß die Kranken tagsüber schlafen oder schläfrig sind, während sie nachts unruhig werden. Das gilt namentlich für Kinder. Die Erkrankving entwickelt sich meist aus uncharakteristischen Erscheinungen heraus, wie sie auch bei anderen Infektionskrankheiten zu finden sind. Sie ist fast stets mit Augenmuskellähmungen verbunden. Die sog. hyperkinetischen Formen sind gekennzeichnet durch verschiedenartige Störungen der Motorik. In manchen Fällen treten unwillkürliche ausfahrende Zuckungen der Glieder, sog. choreiforme Bewegungen auf, in anderen Dreh- oder Wälzbewegungen oder rhythmische Muskelzuckungen in den verschiedensten Gebieten. Manchmal sind damit heftige Schmerzen verbunden. Diese Form kann sich aus der lethargischen heraus entwickeln und umgekehrt. Handbuch der Neurologie von B U M S E und F Ö R S T E R , Bd. XIII (1936), S. 327. Dort findet man die wohl gründlichste Darstellung der Erkrankung mit Ausnahme der psychischen Störungen; diese sind von R U N G E im BuMKEschen Handbuch der Geisteskrankheiten Bd. VII (1928), S. 537 ff. beschrieben. Eine kürzere, das Wesentliche wiedergebende Darstellung findet man im Lehrbuch der Psychiatrie von B L E U L E R (1955).

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

Die dritte, amyostatische Form ist charakterisiert durch eine eigenartige allgemeine Muskelstarre oder durch auffallende Bewegungsarmut, ohne daß etwa Willkürbewegungen unmöglich geworden wären. Die Kranken liegen regungslos im Bett, blicken starr vor sich hin, ihre Stimme ist kraftlos; sie antworten auf Fragen oft erst nach längerer Pause. Das Gesicht wirkt ausdruckslos, maskenartig. Alle Formen können mit psychischen Störungen vergesellschaftet sein: Desorientiertheit, delirartige Bilder, Veränderungen der Affektlage, bei den lethargischen Formen in der Richtung der Gleichgültigkeit, bei den hyperkinetischen Zuständen unlustbetonte, quälende Stimmungslagen. Manchmal werden auch schizophrenieähnliche Bilder beobachtet. Alle diese Störungen können allmählich wieder soweit abklingen, daß es zu praktischen Heilungen kommt. In einer großen Zahl von Fällen jedoch schließt sich ein Zustand an, der als •postenzephalitischer Parkinsonismus bezeichnet zu werden pflegt. Dieser Zustand, der chronisch ist, vielfach die Tendenz zur Verschlimmerung zeigt und auch mit gewissen psychischen Störungen einhergehen kann, ist forensisch viel wichtiger als die akuten Erscheinungen . Er schließt sich meist nicht unmittelbar an das akute Stadium an, sondern wird erst nach einer unter Umständen jahrelang dauernden Periode, in der die Kranken zwar über leichte Beschwerden wie Kopfschmerzen, Leichtermüdbarkeit, leichte Schlafstörungen u. a. klagen, aber doch im ganzen leidlich gesund erscheinen, deutlich sichtbar. Dabei ist die Schwere der akuten Erkrankung für das Auftreten des chronischen Stadiums nicht maßgebend; nicht selten ist sogar die akute Erkrankung so leicht, daß sie später mit Sicherheit sich gar nicht nachweisen läßt, daß die akute Erkrankung für eine starke Erkältung oder für eine Grippe gehalten worden ist. Dieses Stadium beginnt meist mit einer leichten Schwäche in einem Arm oder Bein oder mit leichtem Zittern in einem Gliede. Gleichzeitig bemerkt man eine eigentümlich steife Haltung des Nackens und des Schultergürtels. Dabei kann zwar der Arm willkürlich bewegt werden, doch sind die spontanen Bewegungen eingeschränkt; ein für die Diagnose wichtiges Symptom ist das einseitige Fehlen der Pendelbewegungen eines Armes. Bald wird der Gesichtsausdruck des Kranken merkwürdig starr, die Mimik verliert ihre Beweglichkeit, der Körper wird eigenartig steif etwas nach vornüber gebeugt gehalten, der Gang wird kleinschrittig, schlürfend; der Patient verliert die Fähigkeit, einmal angefangene Bewegungen abzustoppen; die Sprache wird leise, tonlos, modulationsarm, in schweren Fällen ist sie schließlich kaum noch verständlich. Die Zitterbewegungen werden allmählich stärker; freilich können sie auch fehlen. Dazu kommen vegetative Störungen: Übersekretion der Talgdrüsen, so daß das Gesicht auffallend fettglänzend aussieht (Salbengesicht), der Speichelfluß kann sehr verstärkt sein, so daß der Speichel oft reichlich aus dem Munde fließt. In ausgeprägten Fällen, in denen „der ausdruckslos vor sich hinstarrende Kranke mit seinem fettglänzenden, regungslosen, maskenartigen Gesicht, dem halboffenen Mund, aus dem sich in langen

Die epidemische Enzephalitis

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Fäden Speichel reichlich entleert, der vornüber gebeugten, steifen Haltung, der Bewegungsarmut der oberen Extremitäten, dem kleinschrittigen, trippelnden Gang" 2 ) uns entgegentritt, ist die Diagnose mit einem Blick zu stellen; in anderen, wo diese Symptome sich nur andeutungsweise finden, bedarf es genauester Untersuchung. Psychisch wirken diese Kranken gleichfalls verändert: Freilich sind Auffassung, Beobachtungsvermögen, Gedächtnis, Intelligenz meistens intakt oder haben doch keine nennenswerteEinbuße erlitten; doch ist die seelische Regsamkeit stark eingeschränkt; die Kranken verlieren jede Initiative, es fehlt ihnen der Antrieb, ihre innere Anteilnahme, ihre Resonanzfähigkeit hat abgenommen. Seltener finden sich paranoide oder paranoid-halluzinatorische Bilder wie bei der Schizophrenie. Eine andere chronische Form, die namentlich bei Jugendlichen vorkommt, hat äußerlich Ähnlichkeit mit psychopathischen Störungen. Das am meisten in die Augen fallende Symptom ist der lebhafte, ungehemmte Bewegungsdrang, der, da eine interessierte Zuwendung meistens fehlt, ziel- und richtungslos die Kranken zu dem greifen läßt, was ihnen zufällig unter die Hände gerät. Die Kinder sind in fortgesetzter Bewegung, betätigen sich dauernd irgendwie, wechseln aber immer wieder die Art ihrer Betätigung. Die Stimmungslage kann leicht gehoben, heiter, unbekümmert oder auch gleichgültig, mürrisch, verdrossen, reizbar, unverträglich sein. Dabei kann es zu plötzlichen Gewalthandlungen kommen. Manchmal werden jedoch auch Dranghandlungen ohne einen zornmütigen Affekt beobachtet. So sah P E R K I A 3 ) eine Kranke mit derartigen unwiderstehlichen Drangzuständen — impulsive Anfälle nennt er sie — in denen sie ohne jeden äußeren Anlaß andere Menschen (Arzt, Pflegerin, Familienmitglieder, auch geliebte Personen) plötzlich ohrfeigte. Dazu werden die vorher normalen 4 ) Kinder dreist, vorlaut, zudringlich, reagieren nicht auf Ermahnungen oder andere erziehliche Mittel, laufen aus dem Elternhaus, vagabundieren, betteln, stehlen, neigen zu sexuellen Delikten, kurz, sie bieten das Bild unbeeinflußbarer moralischer Verkommenheit. Die Kranken können dabei eine gewisse Einsicht in das Krankhafte ihres Tuns besitzen, das sie selbst als persönlichkeitsfremd empfinden. Die strafrechtliche Bedeutung der epidemischen Enzephalitis in ihrem akuten Stadium ist gering. Dagegen sind die Kranken im chronischen Stadium viel stärker gefährdet. Am häufigsten sind wohl Sexualdelikte, mit denen es der Psychiater zu tun bekommt; ihnen folgen Diebstähle. Seltener sind Gewalttätigkeiten, Sachbeschädigungen, Brandstiftungen und andere Delikte. Neue deutsche Klinik 3, 1929, S. 128. ) Arch. di Antrop. criminal. 61, 1941; Ref. im Zb.Neur. 100, 1941, S. 240. 4 ) Belastung mit nervösen Erscheinungen ist öfters festgestellt; selbst waren die Kinder nur ausnahmsweise schon vor der Erkrankung auffällig. 2

3

) VON ECONOMO,

21 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Veränderungen des Geschlechtslebens sind recht häufig. So fand WISCH 6 ) bei 64 Fällen von Parkinsonismus in 60% der Fälle Störungen der Sexualsphäre und MAZZEI6) sammelte 54 solcher Fälle. WIMMBB 7 ) fand unter 34 enzephalitischen Kriminellen eine erschreckend hohe Zahl von Sexualdelikten. CREUTZ8) hat 1938 über 14 aus § 42b StGB in den rheinischen Anstalten untergebrachte Enzephalitiker berichtet. Davon hatten sich 9 Sexualdelikte zuschulden kommen lassen. Nach RUNGE, der die ältere Literatur darüber verwenden konnte, ist vorzeitiges Auftreten sexueller Regungen, triebhafte Neigung zu sexueller Betätigung, Neigung zu Masturbation häufig; aber auch Perversionen sind nicht selten. Ich selbst sah bei einem psychopathieähnlichen Zustandsbild Sodomie; ein anderer Kranker, dem äußerlich wenig anzumerken war, versuchte in einem plötzlich auftretenden Drangzustande seine um 25 Jahre ältere Schwiegermutter zu notzüchtigen, mit der er anerkannt schlecht stand. Sehr häufig sind auch Diebstähle. WIMMER fand sie unter seinen 3 4 Fällen 17mal, CREUTZ unter 14 Untergebrachten ömal. Aber auch schwere Gewalttaten kommen vor. So hat LANGEN 9 ) über einen Postenzephalitiker berichtet, der die Idee hatte, er könne durch die Tötung eines Menschen bzw. durch die damit verbundene Gemütserschütterung von seiner Krankheit geheilt werden ; er hat schließlich nach längerem Schwanken gelegentlich eines Spazierganges einen Knaben erwürgt. Auch STERTZ10) berichtet über ein Tötungsdelikt, bei dem ein wesensveränderter Enzephalitiker in einem Gemisch von sexueller Erregung, Jähzorn und Wut sein fünfjähriges Pflegekind erwürgte, dann ihm mit dem Küchenmesser die Kehle durchschnitt und ihm weitere tiefe Schnitte beibrachte. Die forensische Beurteilung dieser Fälle ist nicht immer leicht. Die Meinungen gehen auseinander: Während der Jurist VON HENTIG11) Zurechnungsfähigkeit im Sinne des Strafgesetzbuches in der Regel für gegeben ansieht, glaubt REID12), generell Zurechnungsunfähigkeit annehmen zu sollen, da es sich sowohl um Persönlichkeitsfremdheit der Tat wie um fremdartige Persönlichkeiten handele. Ob VON HENTIG heutenoch seinefrüher geäußerte Meinung aufrechterhalten würde, weiß ich nicht. Mir scheint es nötig, von Fall zu Fall die Entscheidung zu treffen. Sicherlich gibt es Postenzephalitiker, die in ihrem Wesen so wenig verändert sind, daß man sie für gewisse Delikte verantwortlich machen muß. Einen solchen Fall von zielbewußten Unterschlagungen hat z. B. MOSER13) beschrieben. Es wird also auch auf die Art 6

) «) ') 8 ) 9 ) 10 ) n ) 12 ) 13 )

Zb.Neur. 90, 1938, S. 75. Zb.Neur. 85, 1937, S. 209. Acta psychiatr. (Kobenh.) 5, 1930, S. 23; Ref. Zb.Neur. 57, 1930, S. 238. AZPs. 111, 1939, S. 150. Zb.Neur. 95, 1925, S. 506. MKrPs. 22, 1931, S. 320. MKrPs. 17, 1926, S. 298. Dtsch. Z. f. Nervenheilk. 124, S. 77. Arch. f. Psychiatrie 91, 1930.

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der Tat ankommen. In allen Zweifelsfällen t u t man gut, zu untersuchen, ob die Tat persönlichkeitsfremd ist, d. h. der Persönlichkeit fremd, wie sie vor der akuten Krankheit bestand. Auch die psychopathieähnlichen Formen sind in dieser Weise zu beurteilen; man kann sie unmöglich wie gewöhnliche Psychopathen behandeln. Es ist doch ein erheblicher Unterschied, ob jemand zeit seines Lebens so war, wie er ist, ob es sich also um angeborene Charaktereigentümlichkeiten handelt, die erziehlichen Einflüssen zugänglich sind, oder ob es sich um etwas aus einer Krankheit Gewordenes handelt, das sich durch Erziehung, auch durch Strafen kaum beeinflussen läßt. Daß dabei auch der Grad des Defektes und die Dauer seines Bestehens berücksichtigt werden muß, ist selbstverständlich. Besonders wichtig sind die Drangzustände, die m. E. regelmäßig zur Exkulpierung führen sollten. Man muß einmal gesehen haben, wie aus einer kaum beweglichen, steifen, hilflos erscheinenden Kranken plötzlich eine wilde aggressive Furie werden kann, um die Wirkung dieser Zustände richtig einschätzen zu können. Dieser von mir vertretenen mittleren Linie der Zuerkennung von Zurechnungsfähigkeit folgt die Mehrzahl der Autoren 14 ). Der § 3 JGG wird nur für die pseudopsychopathischen Zustände der Jugendlichen in Betracht kommen, wenn man es nicht vorzieht, den § 51 StGB anzuwenden. Hier wird kaum einmal bei sonst Normalen die Einsichtsfrage verneint werden können. Häufiger wird man den jugendlichen Delinquenten die Fähigkeit aberkennen müssen, nach der vorhandenen Einsicht zu handeln. Die Geschäftsfähigkeit der Postenzephalitiker ist nur ausnahmsweise aufgehoben, da tiefgehende Demenzzustände doch selten sind. Dennoch kann die Antriebsschwäche und die in manchen Fällen enorme Verlangsamung des Denkens so schwer werden, daß man Geschäftsunfähigkeit annehmen muß. Untersuchungen von F. S T E R N ergaben auch, daß schwer parkinsonistische Enzephalitiker erheblich weniger Verständnis für ihnen vorgelegte geschäftliche Fragen hatten als die juristisch ungebildete Durchschnittsbevölkerung; sie sind außerdem indolent und unterliegen leichter Suggestionen durch Fremde. Die Entmündigung wird gelegentlich aus ähnlichen Gründen in Frage kommen; meist wird die Entmündigung wegen Geistesschwäche genügen; doch sind auch Fälle denkbar, in denen Geisteskrankheit angenommen werden muß. Ehescheidungen nach § 45 EG scheinen sehr selten zu sein. Nach F. S T E R N hat nur S T E R T Z einen solchen Fall mit atypischer Demenz veröffentlicht; in schweren Fällen wäre sie m. E. sowohl nach § 44 wie § 45 EG möglich. Aufhebung der Ehe gemäß § 32 EG wäre vertretbar, wenn sich nach der Eheschließung herausstellt, daß die Krankheit zur Zeit der Eheschließung schon bestanden hat. " ) Siehe F . STERN, 1. c., S. 471. 21»

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6. Psychische Störungen des höheren Lebensalters und andere organische Hirnerkrankungen Die wichtigsten hierher gehörigen Störungen sind die senile Demenz und die Hirnarteriosklerose1). Das biologische Alter des Menschen stimmt mit seinem Lebensalter nicht überein; der eine ist mit 60 Jahren schon „ein alter Mann", der andere ist mit 80 Jahren noch geistig rege und zu großen Leistungen fähig. Schließlich aber ereilt uns alle das Schicksal des Abbaus der geistigen Fähigkeiten, und es kommt nur darauf an, ob wir alt genug werden, u m diesen Abbau zu erleben. Kennzeichnend f ü r das normale Altern ist eine allmähliche Abnahme der Merkfähigkeit, eine gewisse Starrheit des Denkens, Mangel an Wendigkeit und Tatkraft und eine mehr oder weniger starke Herabsetzung der affektiven Ansprechbarkeit. Neue Ereignisse werden schnell vergessen; Greise leben in Erinnerungen, in u m so früheren, je älter sie werden, je deutlicher die Merkschwäche sich ausprägt. Neuen Gedankengängen sind sie nicht mehr zugänglich, sie können aus dem immer enger werdenden eigenen Gedankenkreise nicht heraus, sind aber auch nicht fähig, innerhalb desselben neue Gedanken zu fassen und zu verarbeiten. Sie wollen möglichst in Ruhe gelassen werden, leben ihren mehr oder weniger einfachen Bedürfnissen, werden von schwerwiegenden Ereignissen, wie etwa dem Tod naher Angehöriger, auffallend wenig berührt. Soweit sie geistig noch interessiert sind, wiederholen sie oft das Gesagte, ohne es zu merken. Diese Erscheinungen findet man in schwacher Ausprägung auch bei gesunden Greisen. Eine scharfe Grenze zwischen dem, was man noch als normal, und dem, was man schon als krank bezeichnet, gibt es nicht. Man wird in forensischen Gutachten aus Gründen der Gerechtigkeit den Begriff „krankhafte Störung der Geistestätigkeit" möglichst weit fassen. Es ist nun keineswegs immer ganz einfach, die geistigen Mängel eindeutig nachzuweisen. Manchmal läßt sich z. B. im psychologischen Versuch eine nennenswerte Merkschwäche noch nicht deutlich machen; aber die Angehörigen berichten über die Vergeßlichkeit des Kranken, daß er Namen vergißt, Dinge verlegt und nicht weiß, wohin er sie getan hat, über mangelnde Interessen, über leichte Reizbarkeit u. dgl. Diese Symptome können sich nun zu schweren Defekten entwickeln. In solchen Fällen sind die Kranken zeitlich grob desorientiert, sie wissen weder das D a t u m noch das J a h r (merkwürdigerweise geht das letztere meist zuerst verloren), sie sind sich unklar darüber, ob es Morgen oder Abend ist, ob sie schon gefrühstückt haben, verlangen, wenn sie eben gegessen haben, aufs neue zu essen. Wenn sie von Hause fortgehen, finden sie nicht mehr zurück, vergessen die Straße; verheiratete Frauen auch manchmal ihren durch die Heirat angenommenen 1

) Dazu aus neuerer Zeit namentlich H A L L E R V O B D E N , Das normale und pathologische Altern des Gehirns, Der Nervenarzt 28, 1957, S. 433.

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Namen, während sie ihren Mädchennamen noch behalten haben. Ihr Interesse, ihr ganzes Denken und Handeln dreht sich um die Befriedigung der einfachsten Bedürfnisse: Essen, Trinken, die Pfeife Tabak, die Zeitung, die sie unter Umständen mehrmals lesen, weil sie ihren Inhalt restlos wieder vergessen haben. Bekommen sie nicht was sie wollen, werden sie ärgerlich, zornig, schlagen zu, sehen darin irgendwelche Schikane. Manchmal erkennen sie nahe Angehörige nicht mehr, und es bedarf erheblicher Mühe, ihnen klar zu machen, daß die angeblich fremde Dame die eigene Tochter ist, die zu Besuch gekommen ist. Alles, was nicht in den Umkreis ihrer primitiven Lebensbedürfnisse hineingehört, läßt sie unberührt. Dabei werden sie nicht selten schmutzig, ihr Anzug fleckig, sie essen unappetitlich — kurz, aus früher tatkräftigen, regsamen Menschen werden ruinenhafte Gestalten, die n u r noch dahindämmern, aber kein eigentlich menschliches Leben mehr führen. Der Pflege machen diese Kranken dadurch Schwierigkeiten, daß sie recht störrisch sein können, daß sie tagsüber gern schlafen, aber nachts unruhig werden, verwirrt umher wandern, ihre Sachen zusammenpacken, fortdrängen usw. Nicht selten begleiten Depressionszustände das Leiden, nicht selten treten auch Beeinträchtigungs- und Verfolgungsideen auf, deren Ursache sinnloser Geiz sein kann. Andere, bei denen die Störung der Merk- und Urteilsfähigkeit noch nicht so ausgeprägt ist, systematisieren ihre Verfolgungsideen, suchen sich mit Sicherheitsschlössern und anderen Maßnahmen zu schützen, krakeelen, querulieren, werden auch wohl einmal tätlich. Der Beginn dieser Verblödungsprozesse liegt meist nach Ablauf des 7. Lebensjahrzehnts, manchmal jedoch auch schon früher. I m allgemeinen früher beginnt die arteriosklerotische Demenz. Sklerotische Veränderungen an den Blutgefäßen treten, wie die Erfahrungen des ersten Weltkrieges gezeigt haben, vielfach schon sehr früh auf; nach dem 40. Lebensjahr sind ihre Anfänge in Form von Starre, Wandverdickungen und gelblichen Einlagerungen (Atheromatose) zuerst an den großen Gefäßen fast stets nachweisbar. Später werden auch die mittleren und kleineren Gefäße befallen, zu denen auch die Gehirngefäße gehören. Bei ausgeprägterer Arteriosklerose kommt es zu Ernährungsstörungen des dagegen sehr empfindlichen Gehirngewebes u n d dadurch zu kleineren oder größeren Erweichungsherden oder zu Blutungen. Am Zustandekommen solcher Ernährungsstörungen ist das anatomische Substrat, die Kalkeinlagerungen, nicht allein, vielleicht nicht einmal vorwiegend beteiligt; Funktionsstörungen im Gefäßgebiet spielen dabei eine erhebliche Rolle. Neben mancherlei Beschwerden wie Kopfschmerzen, Kopfdruck, Spannungsgefühl, Schwindel, Ohrensausen, Ohnmächten, mangelhaftem Schlaf, erhöhter Ermüdbarkeit treten auch psychische Symptome auf: die Leistungsfähigkeit läßt nach; was sonst spielend bewältigt wurde, kostet n u n Mühe und Anstrengimg. Die Kranken werden vergeßlich, wichtige Dinge fallen ihnen nicht ein, ihre Stimmung ist niedergeschlagen, hoffnungslos. Dabei werden sie reizbarer, zornmütiger, ärgern sich leichter; zugleich aber

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werden sie rührseliger, und ihr Affekt schlägt leicht von einem Extrem ins andere um; sie werden, wie man das nennt, affektinkontinent. Ein längeres Ausspannen bessert den Zustand, aber doch nur vorübergehend, und allmählich kann es zu schwereren Symptomen, Depressionszuständen mit ängstlicher Färbung, Verarmungs- und Versündigungsideen mit ernsthaften Selbstmordversuchen kommen. Langsam bilden sich Verblödungsprozesse aus, die nicht so gleichmäßig wie bei der senilen Demenz die Gesamtpersönlichkeit ergreifen. Sehr häufig sind kleinere oder größere Schlaganfälle, die ja auch dem Laien gut bekannt sind. Sie führen zu Halbseitenlähmungen und bei Blutungen in die linke Hirnhälfte auch zu Sprachstörungen. Bei kleineren Anfällen dieser Art treten vorübergehende Sprachstörungen, Zwangslachen oder Zwangsweinen und andere Herdsymptome auf. Zu beachten sind namentlich auch Verwirrtheitszustände, die im Anschluß an Schlaganfälle in Erscheinung treten können und manchmal ihr einziges Symptom bilden. Wichtig ist jedoch, daß die Persönlichkeit mit ihren Strebungen noch lange erhalten bleiben kann, daß diese Kranken, obwohl sie schon mehr oder weniger verblödet erscheinen können, an ihren Zielen aus gesunden Zeiten festhalten. Dazu kommt weiter, daß der Gesamtzustand nicht so gleichmäßig ist wie etwa bei der senilen Demenz, daß namentlich kürzere oder längere Aufhellungen des Zustandes vorkommen; man kann daher aus einem bestimmten Zustandsbild nicht ohne weiteres Rückschlüsse ziehen2). Das ist namentlich für die Frage der Testierfähigkeit von Bedeutimg. Hier sei kurz eines Krankheitsbildes gedacht, das wegen des erhöhten Blutdrucks auch jetzt noch vielfach als Arteriosklerose gedeutet wird; ich meine die sogenannte essentielle Hypertonie. Bei den reinen Fällen findet man oft eine recht erhebliche Blutdrucksteigerung, ohne daß anatomisch auch nur die allergeringste Sklerosierung der Gefäße feststellbar ist. Freilich führt der lange bestehende Hochdruck im Laufe der Zeit zur Sklerose namentlich der kleinen Arterien. Die Erkrankung macht ihre Haupterscheinungen im 6. und 7. Lebensjahrzehnt, ist aber oft schon im 3. Jahrzehnt nachweisbar. Neben mancherlei anderen Beschwerden sind Schwindelanfälle, kurzdauernde Bewußtseinstrübungen, epileptiforme Krämpfe und Schlaganfälle wichtig. Die seelischen Störungen, die meist nur kurz dauern, und prognostisch günstig sind, bestehen namentlich in Dämmerzuständen, Erregungszuständen und vorübergehenden tiefen Depressionen. Die übrigen Formen der altersbedingten Störungen der Geistestätigkeit sollen hier nur der Übersicht halber kurz erwähnt werden. Unter Presbyophrenie versteht man nach W E R N I C K E eine Abart der senilen Demenz, die gekennzeichnet ist durch leichtes submanisches Verhalten, große vitale Frische, leidliches Erhaltensein, der geistigen Regsamkeit, der Ordnung des Gedankenganges, der [Gesamtpersönlichkeit bei schwerer Störung der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses, manchmal verbunden mit Konfabula2

) So auch BLEULER, a. a. 0 . S. 199.

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tionen. Anatomisch hatte man demAuftreten sogenannter Drusen (Plaques) im Gehirn besondere Bedeutung beigemessen; es hat sich jedoch gezeigt, daß es scharfe Grenzen gegenüber der gewöhnlichen senilen Demenz nicht gibt3). Auch die ALZHEiMERsche Krankheit läßt sich anatomisch nicht scharf von der senilen Demenz abgrenzen. In der Regel ist aber eine stärkere Atrophie des Gehirns schon in relativ jungen Jahren vorhanden, und man kann auch klinisch gewisse Unterschiede gegenüber der gewöhnlichen Altersverblödung feststellen. Die Krankheit ist häufiger als es nach der darüber vorhandenen Literatur scheinen mag, da sie sicher nicht immer diagnostiziert wird. Anatomisch findet man im Gehirn neben einer ungewöhnlich starken allgemeinen Atrophie starke Drusenbildung und eine Veränderung der Neurofibrillen. Weshalb diese Veränderungen sich manchmal schon im Alter von 30 bis 40 Jahren einstellen, weiß man nicht. Trotz des der senilen Demenz ähnlichen Bildes wird es daher schwer, an einen Zusammenhang mit senilen Rückbildungsvorgängen zu glauben. Nach anfänglichen subjektiven Beschwerden wie Kopfschmerz, Schwindelgefühl, Blutwallungen sind es namentlich Störungen der Merkfähigkeit, des Gedächtnisses und eine Reproduktionsschwäche, die neben Fehlhandlungen auffallen. Später kommt es zu Störungen, die in den Bereich der Aphasie, Apraxie, Agnosie hineingehören. Die Kranken haben Wortfindungsschwierigkeiten, verwechseln Worte, können einfache Handlungen nicht oder nur teilweise ausführen, erkennen Gegenstände nicht. Dabei sind sie räumlich und zeitlich desorientiert, erkennen selbst nahe Angehörige nicht, stehen ihren Defekten anfangs ratlos und ängstlich gegenüber, wahren aber noch relativ lange die äußere Haltung. Mehr oder weniger schnell — die Krankheitsdauer liegt zwischen etwa 4 und 20 Jahren — kommt es dann zu schwersten Verblödungszuständen, in denen die Kranken stumpf umhersitzen oder aber unablässig reiben, wischen, kramen. Sie wiederholen in stereotyper Weise immer die gleichen Worte, die gleichen Handlungen. Einer meiner Kranken schrieb seiner Frau, die er in meinem Auftrag bitten sollte, einmal zu kommen, drei Aktenseiten lang nur den einen, immer wiederholten Satz: „Liebe Frau komm bald." Schließlich kann es auch zu körperlichen Erscheinungen, Reflexstörungen, Muskelspannungen, Kontrakturen kommen. Das Ende ist regelmäßig der Tod, meist durch eine dazu kommende andere Krankheit. Eine Sonderform ist die ebenfalls ziemlich seltene PiOKsche Krankheit, die anatomisch gekennzeichnet ist durch einfachen Schwund der Rinde und der weißen Substanz, der sich auf bestimmte Hirnteile — in der Regel Stirn- oder Schläfenlappen — beschränkt. Je nach dem Sitz der Erkrankung kommt es zu verschiedenen Symptomen. Beim Stirnhirn-Pick treten namentlich der Verlust der Initiative sowie Störungen des intelligenten Verhaltens her3 ) Die Tendenz, eine besonders schwere Form der senilen Demenz als Presbyophrenie zu bezeichnen (O. FISCHER) hat sich nicht durchgesetzt. Praktisch kann man ohne diese Sonderform auskommen.

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vor, während die Auffassung und das Gedächtnis erhalten bleiben. Auch die Schulkenntnisse sind anfangs wenigstens noch gut. Dabei findet man weiter grobe Enthemmungen, die zu kleinen Diebstählen, Takt- und Distanzlosigkeiten führen. Die Patienten werden gleichgültig und nachlässig in der Arbeit, widersprechen zu Hause grob und werden manchmal schamlos. Beim Schläfenlappen-Pick steht die sprachliche Erregung im Vordergrund. Die Kranken antworten auf Fragen mit einem unstillbaren Wortschwall, in dem stehende Redensarten immer wiederkehren. In beiden Fällen ist auch hier das Ende tiefer Blödsinn und der Tod. Die Krankheit befällt vorwiegend das 5. und 6. Lebensjahrzehnt, ist aber auch schon wesentlich früher beobachtet. Schließlich seien hier noch die sog. präsenilen Seelenstörungen erwähnt. Unter Präsenium versteht man die Zeit, die zwischen dem Klimakterium der Frau und dem Beginn seniler Veränderungen liegt. Auch bei Männern spricht man von einem Klimakterium virile, dessen Beginn sich noch ungenauer als bei der Frau feststellen läßt. Es wird vom ersten deutlichen Nachlassen der Leistungen an gerechnet. In dieser Zeit sind Depressionszustände sehr häufig, die oft mit Angst und Erregung einhergehen, hypochondrische Befürchtungen aller Art erkennen lassen und häufig zu sehr ernsten Selbstmordversuchen führen. Wieweit diese Zustände ursächlich mit dem Präsenium zusammenhängen, wieweit sie dem manisch-depressiven Kreis zugehören und nur durch begleitende Arteriosklerose oder durch das beginnende Alter einen organischen Anstrich erhalten, ist im Einzelfall schwer zu sagen. Das gleiche gilt für die sog. Spätkatatonien, die wahrscheinlich zur Gruppe der Schizophrenien gehören. Schließlich entwickeln sich in diesem Alter, oft auf dem Boden schon vorher sichtbarer Veranlagung paranoide Psychosen mit Wahnideen namentlich in der Richtung der Eifersucht. Wir werden derartige Bilder bei der Besprechung der Schizophrenie noch kennenlernen. Von den übrigen organischen Hirnerkrankungen sei zunächst die Chorea Huntington erwähnt. Es handelt sich um ein seltenes dominant vererbliches Leiden mit 50% Erkrankungen in der Deszendenz. Gesundgebliebene haben dagegen nur gesunde Kinder. Die Erkrankung beginnt in der Regel im mittleren Lebensalter, ziemlich selten aber auch schon im 3. Lebensjahrzehnt. Im Vordergrunde stehen zunächst die körperlichen Erscheinungen: unwillkürliche, zuckende, ausfahrende, ziellose Bewegungen der Glieder und der Gesichtsmuskulatur, die von zahlreichen Mitbewegungen begleitet sind; dazu treten Gleichgewichtsstörungen. Psychisch kommt es zu einer langsam fortschreitenden Verblödung, zu Störungen der Merkfähigkeit, des Gedächtnisses, des Denkens, der Urteilsfähigkeit und in schweren Fällen zu einer gemütlichen Abstumpfung mit stark egozentrischer Einstellung. Die Stimmung ist vielfach gedrückt oder mürrisch; auch Wahnideen können auftreten. In den Huntington-Familien finden sich viele abartige Menschen, namentlich aber können die späteren Kranken schon lange vor dem Ausbruch der eigentlichen Krankheit auffällig werden. Sie sind besonders sexuell stark ansprechbar — bemerkenswert ist die große Kinderzahl solcher

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Kranken —, zeigen aber auch sonst besondere Züge in Form von Alkoholmißbrauch, Arbeitsunhist, Leichterregbarkeit. Bei Angehörigen von Huntington-Familien ist es oft schwer festzustellen, ob es sich schon um Kranke handelt oder nur um psychopathieähnliche Vorformen. Ein von mir begutachteter 44 jähriger Mann lebte in schwierigsten Verhältnissen. Seine Frau war gestorben, er wohnte mit 6 Kindern in einer selbsterbauten Bretterhütte, in der 2 Betten vorhanden waren. Ihm wurden unsittliche Handlungen an seiner 15 jährigen Tochter, mit der er zusammenschlief, zur Last gelegt. Er wurde mir als arbeitswillig, aber ungeschickt, leicht aufbrausend, in letzter Zeit als depressiv verstimmt und innerlich erregt geschildert. Er stammte aus einer Huntington-Familie, doch ließ sich während der Beobachtungszeit eine choreatische Unruhe nicht nachweisen. Es fand sich eine leichte Herabsetzung der intellektuellen Funktionen und gedrückte Stimmungslage. Im schriftlichen Gutachten hatte ich mich für verminderte Zurechnungsfähigkeit ausgesprochen. Erst in der Hauptverhandlung waren zum ersten Male deutliche choreatische Zuckungen zu beobachten. Daraufhin habe ich Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des bis dahin unbestraften und charakterlich anständigen Mannes geäußert.

Neben dieser wohleharakterisierten Krankheit gibt es eine Reihe anderer organischer Hirnerkrankungen; wir nennen verschiedene Formen der Enzephalitis, die sich an alle möglichen Infektionen, in der Kriegszeit namentlich an das Fleckfieber, anschließen, ebenso, wenn auch recht selten, nach Pockenimpfung auftreten können. Dazu kommen Gehirnhautentzündungen (Meningitiden) verschiedener Ursachen, die mit Benommenheit, deliranten Störungen und Krämpfen einhergehen können, die multiple Sklerose, die Chorea minor, die Paralysis agitans, Defektzustände mit Athetose und schließlich Hirngeschwülste. Alle diese Erkrankungen können mehr oder weniger starke psychische Veränderungen hervorrufen, die im einzelnen hier nicht besprochen zu werden brauchen, da sie forensisch keine Rolle spielen. Hinzuweisen ist nur auf die freilich ziemlich seltenen Persönlichkeits Veränderungen, die als Folge langdauernden Hungerns in der Kriegsgefangenschaft aufgetreten sind. Man findet bei diesen Menschen eine Antriebsstörung, eine gewisse Nivellierung der Persönlichkeit, manchmal auch depressive Verstimmungen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um fortschreitende Erkrankungen, sondern um Defekte, die einer allmählichen Kompensation zugänglich sind, die aber gelegentlich zu Reaktionen führen, die der früheren Persönlichkeit fremd sind 4 ). In schweren Fällen kann es ebenfalls zu einem atrophischen Prozeß des Gehirns kommen. Die forensische Bedeutung der eigentlichen Alterserkrankungen ist beträchtlich, insofern ein relativ hoher Prozentsatz der kriminellen Alten dem Psychiater zugeführt wird. Ganz überwiegend sind es Sittlichkeitsdelikte, mit denen wir es bei ihnen zu tun haben. Unter 43 Alterskranken, die aus 4

) Aus der Literatur darüber sei verwiesen auf SCHULTE, Hirnorganische Dauerschäden nach schwerer Dystrophie, 1953; GAUGER, Die Dystrophie als psychosomatisches Krankheitsbild, 1952; BRONISCH, Dtsch. med. Wschr. 1953, S. 89; RAUSCHELBACH, Fortsohr. 1954, S. 214. dort weitere Hinweise.

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§ 42 b StGB untergebracht waren, fand CREUTZ5) 41 Sittlichkeitsverbrecher, je einen Brandstifter und Gewaltverbrecher. Im Vordergrund der Alterskrimirialität steht im übrigen die Beleidigung. Dazu kommen Brandstiftung, Hehlerei und Sexualdelikte. EXNEB sieht in der Art dieser Verbrechen das gemeinsame Zeichen der Schwäche 6 ). Bei den senilen Sittlichkeitsverbrechern handelt es sich um exhibistische Akte, häufiger noch um unzüchtige Handlungen an Kindern. Erklärt werden diese Delikte durch die Abnahme der geschlechtlichen Leistungsfähigkeit, nicht selten verbunden mit dem Wiederaufflackern der schon erloschenen Libido. Damit pflegt die Abstumpfung der sittlichen Biegungen und das Nachlassen der Kritikfähigkeit zusammenzutreffen. Beteiligt sind in der Regel nicht die schwer verblödeten, sondern die im Beginn der Erkrankung stehenden Kranken, so daß es nicht immer leicht ist, das Gericht von dem krankhaften Zustand des Delinquenten zu überzeugen. Nicht allen wird man den Schutz des § 51 Abs. 1 zubilligen können; doch scheint mir die große Mehrzahl dieser Greise mindestens erheblich in ihrer Zurechnungsfähigkeit beschränkt und dann meistens auch verwahrungsbedürftig zu sein. Die relativ starke Beteiligung der Alterskranken an den politischen Verbrechen während der Zeit des Nationalsozialismus (5 unter 46 in meinem Material) hängt wohl mit dem Mangel an Vorsicht einerseits, mit der senilen Geschwätzigkeit, dem Starrsinn und der Rechthaberei der Kranken zusammen. Nur in einem der fünf Fälle mußte ich die Zurechnungsfähigkeit bejahen 7 ). Relativ häufig ist bei den Alterskranken die Frage der Geschäftsfähigkeit und der Testierfähigkeit zu prüfen. Ich habe oben schon darauf hingewiesen, daß bei Hirnarteriosklerose vorübergehende Besserungen eintreten können. Ganz allgemein wird man die psychologischen Hintergründe auf ihre Verständlichkeit prüfen müssen. In einem kürzlich erlebten Falle, in dem eine alte alleinstehende Frau ein junges Mädchen scheinbar ohne rechten Grund zur Erbin eingesetzt hatte, stellte es sich heraus, daß sie mit der Familie des Mädchens seit Jahrzehnten befreundet gewesen war. Entmündigungen sind möglich, meist genügt jedoch die Bestellung eines Pflegers; es wird dabei auf den Umfang und die Art der Angelegenheiten ankommen. Ehescheidungen spielen keine Rolle. Die übrigen organischen Hirnerkrankungen unterliegen in foro einer ähnlichen Beurteilung wie die Alterserkrankungen. Im einzelnen wird es auf den Nachweis von seelischen Störungen ankommen. Der Postinspektor Ph. D., 59 Jahre alt, unbestraft, hatte im Laufe eines Jahres rund 1000 Feldpostbriefe unterschlagen und die in ihnen enthaltenen Zigaretten mit AZPs. 111, 1939, S. 150. Dagegen ist die absolute Zahl der im höheren Alter begangenen Sittlichkeitsverbrechen ziemlich klein; der Höhepunkt liegt im 3. und 4. Lebensjahrzehnt. 6 ) Kriminologie, 3. Aufl., S. 157. ') KIHN hat in Jena ähnliche Beobachtungen gemacht. AZPs. 118, 1941, S. 133.

Psychische Störungen bei körperlichen Erkrankungen

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Hilfe seiner Tochter verkauft. Allen Kontrollen hatte er verstanden auszuweichen. Als Motiv gab er in der Hauptverhandlung selbst „Habgier" an. Es bestand eine mäßige Arteriosklerose; gröbere psychische Veränderungen traten erst in der Untersuchungshaft hervor, klangen jedoch später wieder ab; sie waren offenbar situationsbedingt gewesen. Ich habe hier, in Übereinstimmung mit zwei anderen Psychiatern, volle Zurechnungsfähigkeit angenommen. Der 65 Jahre alte Invalide E. M. war mit 57 und 58 Jahren wegen Sittlichkeitsverbrechens bestraft worden. Jetzt hatte er sich erneut unzüchtige Handlungen an zwei kleinen Mädchen im Alter von 4 und 7 Jahren zuschulden kommen lassen. Er war von jeher ein etwas primitiver, zum Trunk geneigter Mensch, der bei der zweiten Strafsache schon auf das Gericht einen stark gealterten Eindruck gemacht hatte und in der Strafhaft als alter Trottel galt. Jetzt fand sich vorzeitig gealtertes Aussehen, seniler Wackeltremor des Kopfes, zitterige Schrift, deutliche Arteriosklerose, entrundete, träge und unausgiebig reagierende Pupillen. Psychisch wirkte er euphorisch, hoffnungsvoll, fröhlich. Die Merkfähigkeit war deutlich gestört, seine Urteilsfähigkeit geschwächt; er zog in krankhaft optimistischer Weise nur das in Betracht, was in seine Wünsche hineinpaßte. Ich habe eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit angenommen, durch die seine Fähigkeit nach der noch vorhandenen Einsicht zu handeln wahrscheinlich aufgehoben war. Anstaltsunterbringung war in diesem Falle m. E. das einzig Richtige.

7. Psychische Störungen bei körperlichen Erkrankungen In diesem Abschnitt sollen die Infektionskrankheiten, die Erkrankungen der inneren Organe und die Allgemeinerkrankungen kurz besprochen werden, soweit eie mit psychischen Störungen einhergehen. Es würde viel zu weit führen und der forensischen Bedeutung dieser Erkrankungen nicht entsprechen, wollten wir sie alle einzeln aufzählen. Dazu kommt, daß die hier vorkommenden Störungen, die wir unter der Bezeichnung „symptomatische Psychosen" zusammenzufassen pflegen, sich ähnelnde psychische Symptome aufweisen, wenn sich diese Symptome auch in ihrer Färbung unterscheiden mögen. Kbaepelin glaubte früher auf Grund experimental-psychologischer Untersuchungen und der verschiedenen Wirkung von Giften (z. B. Alkohol, Kokain, Haschisch, Morphium), daß zu jeder Ursache ganz bestimmte psychische Störungen gehören, daß daher bei genauester Analyse der letzteren aus ihnen Rückschlüsse auf die Ursache möglich sein müßten. Dieser Anschauung schien der Umstand recht zu geben, daß der erfahrene Psychiater imstande ist, auf Grund des psychischen Symptomenbildes etwa die Diagnose einer progressiven Paralyse, eines Alkoholdelirs, einer Schizophrenie zu stellen. Man muß sich indessen darüber klar sein, daß dabei nicht so selten Irrtümer vorkommen, und daß, wo wir richtig diagnostizieren, anderweitige Beobachtungen und Erwägungen bei der Erkenntnis mithelfen. So ist für die Diagnose der progressiven Paralyse vielleicht die Schlaffheit der Gesichtszüge, das leichte Plattern der Mundmuskeln, die durch die Pupillenstarre bedingte eigentümliche Ausdrucksstarre wahrscheinlich das, was uns bei der expansiven Form der Paralyse an diese und nicht an ein manischdepressives Irresein denken läßt. Beim Alkoholdelir ist es das gerötete, gedunsene Gesicht, vielleicht auch noch der Schnapsgeruch, der uns auf die richtige Fährte führt, bei der Schizophrenie das jugendliche Alter, die gebun-

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dene Motorik usw. Es ist das Verdienst von BONHOEFFER 1 ), das Gemeinsame in der psychischen Symptomatik der körperlichen Erkrankungen erkannt und herausgearbeitet zu haben. Er faßte die von ihm gefundenen Symptomgruppen unter der Bezeichnung „exogene, Prädilektionstypen" zusammen und stellte als solche auf: Delirien, epileptiforme Erregungen, Dämmerzustände, Halluzinosen, Amentiabilder, bald mehr halluzinatorischen, bald katatonischen, bald inkohärenten Charakters und als Verlaufsformen die hyperästhetisch-emotionellen Schwächezustände und amnestische Phasen von KoRSAKOWschem G e p r ä g e .

In den über 40 Jahren, die seither verflossen sind, haben sich die von ihm erarbeiteten Erkenntnisse vertieft, aber im Prinzip nicht geändert 2 ). Man rechnet jetzt zu den akuten exogenen Syndromen die Benommenheit, Delirien, amentielle Zustände, Dämmerzustände, und stellt ihnen die postpsychotischen Zustände — hyperästhetisch-emotionelle Schwächezustände und amnestische Bilder — gegenüber. STERTZ hat nun darauf hingewiesen, daß man unter den akuten Symptomen eine weitere Unterscheidung vornehmen kann, und zwar zwischen obligaten oder Grundsymptomen und fakultativen oder akzessorischen Symptomen. Während die obligaten Symptome, zu denen er die Benommenheit und die Delirien rechnet, bei exogenen Schädigungen des Gehirns regelmäßig auftreten, ja nach seiner Meinung bei genügender Stärke der Schädigung vielleicht sogar auftreten müssen, können die übrigen Symptome unter besonderen Bedingungen, die uns nicht näher bekannt sind, in Erscheinung treten, brauchen es aber nicht. Sie kommen auch bei solchen Geisteskrankheiten vor, die wir unter die vornehmlich anlagebedingten rechnen. Aus dem Auftreten von Benommenheit und Delirien kann man also mit großer Sicherheit auf äußere Schädlichkeiten als Ursache schließen. Freilich sind alle diese Zustände bei verschiedenen Menschen keineswegs gleich. Das liegt daran, daß jedes Symptom das Ergebnis verschiedener, aus mannigfachen Wurzeln zusammenströmender Komponenten ist, die pathoplastisch wirken, d. h. die Erscheinungsweise des Symptoms irgendwie bestimmen. Zu diesen pathoplastischen Faktoren gehört in erster Linie die präpsychotische Persönlichkeit mit ihren aus Anlage, Entwicklung und Umwelteinflüssen gewordenen Eigenschaften, andererseits Art und Stärke der einwirkenden Schädigimg. Auch die Widerstandskraft der einzelnen Organismen ist ja verschieden: So reagieren unter anderem Kinder sehr viel leichter mit Delirien oder auch Krämpfen als Erwachsene; und unter den letzteren finden sich robuste, widerstandsfähige Naturen und labile mit starker Reaktionsbereitschaft. 1 ) Über Infektionspsychosen. In ASCHAFFENBURGS Handbuch 1 9 1 2 und Arch. f. Psychiatrie 58. 2 ) Die Problemlage ist von STERTZ 1928 in BTJMKES Handbuch Bd. VII, S . l f f . kurz dargestellt; eingehend hat E W A L D die Klinik der exogenen Reaktionsformen im gleichen Bande, S. 14ff. behandelt.

Psychische Störungen bei körperlichen Erkrankungen

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Die Benommenheit ist eine Bewußtseinstrübung, die verschiedene Stärkegrade annehmen kann. In ihrer leichtesten Form tritt sie als Leichtermüdbarkeit und benommener Kopf auf. In allen stärkeren Graden zeigt sich eine Erschwerung der Auffassung trotz besten Willens, Konzentrationsunfähigkeit, Schwerbesinnlichkeit, Hafttendenz, Merkschwäche. Es besteht die Neigung, traumlos einzuschlafen. Die Kranken hören zwar noch, was man ihnen sagt, begreifen aber nicht recht, verstehen nicht den Sinn des Gesagten : sie perzipieren noch, aber sie apperzipieren nicht mehr. Die etwa auftauchenden Gedanken reißen ab, das Denken wird bruchstückhaft, man hat den Eindruck des Dahindämmerns, und dieses kann in schweren Fällen in einen tiefen Schlafzustand oder in die völlige Bewußtlosigkeit etwa des urämischen oder diabetischen Komas übergehen. Anders das Delir. Hier kommt es nach einem kurzen, oft kaum bemerkten Vorstadium, in dem Unruhegefühl, Überempfindlichkeit gegen Geräusche, Reizbarkeit, Aufgeregtheit mit leichtem Rededrang, Ängstlichkeit und affektive Schwankungen vorherrschen, zu der eigentlich deliranten Phase, in der die Kranken namentlich sehr lebhaften Sinnestäuschungen unterliegen und motorisch unruhig werden. Bei den Sinnestäuschungen handelt es sich meist um phantastische, traumhafte, illusionäre Verkennungen. In Tapetenmuster werden Vorgänge hineingesehen, aus dunklen Ecken kommen Gestalten, ein Handtuch wird für einen erhängten Menschen gehalten u. dgl. Aber auch Halluzinationen optischer wie akustischer Art werden beobachtet. Dabei sind die Kranken zeitlich und örtlich desorientiert, glauben auf einem Schiff, im Flugzeug, im Wirtshaus zu sein, lassen sich zwar für kurze Augenblicke fixieren, geben dann womöglich sachliche Antworten, können sich sogar kritisch zu ihren Erlebnissen einstellen, um sofort wieder den Kontakt zu verlieren, sobald man sie sich selbst überläßt. Dabei besteht eine starke motorische Unruhe. Allmählich steigert sieh die Unruhe, die Kranken werfen sich im Bett hin und her, sind in ständiger Bewegung, reagieren auf Ansprache nicht mehr, reden fortgesetzt unverständlich lallend vor sich hin. Schließlich läßt die Bewegungsunruhe nach, die Kranken schlafen ein und wachen genesen wieder auf oder sie gehen im Koma zugrunde. Vielfach wird ein hyperästhetisch-emotioneller Schwächezustand mit oder ohne vereinzelte Wahnideen als Nachstadium beobachtet. Die Erscheinungen sind gegen Abend und nachts stärker ausgeprägt als in der Frühe; sie dauern in der Regel wenige Tage, höchstens Wochen3). Unter Amentia verstand man früher ein eigenes Krankheitsbild. Wir wissen jetzt, daß amentielle Zustandsbilder Ausdruck zahlreicher Krankheiten sind. Sie sind gekennzeichnet durch einen eigenartigen Zerfall des Denkens, durch Inkohärenz, bei gleichzeitiger Ratlosigkeit. Die Kranken fassen nur bruchstückweise die Vorgänge in der Außenwelt auf, die dann unvereinbar neben traumhaften und wahnhaften Erlebnissen stehen. Daneben sind 3

) Ein Beispiel für den Inhalt eines Delirs findet sich auf S. 344.

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

Sinnestäuschungen und oft lebhafte motorische Unruhe manchmal von katatonem Charakter vorhanden. Das Bewußtsein ist weniger getrübt als im Delir; daher die oft quälende Ratlosigkeit. Die Dauer dieser Zustände beträgt Wochen bis Monate. Am wichtigsten in forensischer Beziehung sind wohl die Dämmerzustände4). In ihnen ist das Bewußtsein verändert, die Wahrnehmungen sind vielfach unklar, durch Affekte verfälscht. Das Denken ist verlangsamt, ähnlich wie bei der Benommenheit. Die Kranken fühlen sich irgendwie bedroht, angegriffen und setzen sich dann gegen den vermeintlichen Gegner zur Wehr. Dabei brauchen sie nicht besonders auffällig zu wirken. Dämmerzustände dauern wenige Stunden bis Tage und enden in der Regel mit Schlaf. Hinterher pflegt Erinnerungslosigkeit zu bestehen. Am seltensten ist die sogenannte Halluzinose, die durch das Auftreten lebhafter Gehörstäuschungen mit Angst und wahnhaften Gedankengängen bei erhaltener Besonnenheit charakterisiert ist. Es kann nicht Aufgabe dieses Buches sein, alle Krankheiten zu besprechen, die mit psychischen Störungen einhergehen können 6 ). In erster Linie werden Störungen der beschriebenen Art bei den Infektionskrankheiten gefunden, auch da mit großen Unterschieden. Am häufigsten sind sie wohl beim Typhus und beim Pieckfieber; aber auch die Gesichtsrose, der Veitstanz (Chorea minor), die Grippe gehen gelegentlich mit psychischen Störungen einher und ebenso andere schwer verlaufende Infektionen. In meiner ersten Assistentenzeit beobachtete ich einen Kranken mit Gesichtsrose, der nachts das verschlossene Fenster öffnete, hinausstieg und sich im Hemd auf den nahen Friedhof begab, wo er gespensterhaft umhergeisterte und die Leute erschreckte, bis der Sohn des in der Nähe wohnenden Pfarrers ihn wieder ins Krankenhaus zurückbrachte.

Wichtig erscheint mir, daß psychische Störungen schon im Beginn, der Erkrankung auftreten können, bevor diese zur vollen Entwicklung gekommen ist. Das ist namentlich beim Typhus der Fall, wo wir von Initialdelirien sprechen. Neuerdings hat das Fleckfieber besonderes Interesse erregt. Dabei sollen, wie mir berichtet ist, wenn auch selten schon im sogenannten Inkubationsstadium, also in der Zeit zwischen Infektion und Ausbruch der eigentlichen Erkrankung, psychische Auffälligkeiten beobachtet sein. Einen eigenen Fall dieser Art halte ich nicht für unbedingt beweiskräftig. Unter den Allgemeinleiden ragen nach meiner Erfahrung der Krebs und die perniziöse Anämie durch die Häufigkeit seelischer Störungen hervor. Beim Krebs kann es sich um Metastasen im Gehirn handeln, in der Regel aber sind es wohl toxische Produkte, die als Ursache dafür in Betracht 4

) Dazu S. 32. ) Bezüglich der Einzelheiten sei auf die Darstellung von E w a l d in Btthkes Handbuch der Geisteskrankheiten Bd. VII und Erg.-Bd. I verwiesen, dazu auch die oben erwähnten Lehrbücher. 6

Psychische Störungen bei körperlichen Erkrankungen

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kommen. Die Psychosen bei perniziöser Anämie haben nicht selten den Charakter endogener Störungen; ich halte es für möglich, daß diese durch die Blutkrankheit ausgelöst werden. Auch hier können psychische Störungen sich bemerkbar machen, bevor Veränderungen im Blutbild nachweisbar sind. Man nimmt an, daß die bei der perniziösen Anämie fast immer vorhandene Blutveränderung, die ziemlich häufige Rückenmarkserkrankung und die Psychose Folge einer bisher noch nicht bekannten Grundkrankheit sind, und daß sie daher unabhängig voneinander auftreten können. Unter den endokrinen und Stoffwechselerkrankungen haben eine gewisse Bedeutung die B A S E D O W S C H Krankheit und der Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit). Die BASEDOWSCÄS Krankheit, deren wichtigste Symptome Kropf, Glotzaugen, Zittern, Pulsbeschleunigung und Erhöhung des Grundumsatzes sind, geht wohl nur selten in schweren Fällen mit exogenen Psychosen einher; sie kann öfters aber auf manisch-depressive Phasen auslösend wirken, und, was forensisch vielleicht am wichtigsten ist, die Kranken — und ebenso die klinisch anders zu beurteilenden konstitutionell Hyperthyreotischen — sind recht stimmungslabil, leicht erregbar und reizbar, so daß es leichter zu Affekthandlungen kommt. Fräulein A. W., 44 Jahre alt, griff in starker Erregung den Ortsbauernführer tätlich an, der eine weitere Abgabe von Kartoffeln von ihr bzw. ihrem Schwager erzwingen wollte. Sie hatte sich schon seit Jahren von dem Ortsbauernführer ungerecht behandelt gefühlt, der nach ihrer Meinung seine Vettern begünstigte, während er ihr nicht genug Dünger zuteilte und sie auch sonst schikanierte. Die Untersuchung ergab: Früher verständiges ruhiges Mädchen. Mit 37 Jahren Schädelunfall mit Verwirrtheitszustand, Fußklonus, Babinski, Bruch am oberen Halswirbel. Seidem ständig aufgeregt, leicht fassungslos, Neigung zu grundlosen Depressionen und Tränenausbrüchen. Körperlich keine neurologischen Abweichungen. Schilddrüse deutlich vergrößert, Puls 120, Grundumsatz erhöht ( + 41%), im Blut starke Vermehrung der großen mononukleären Zellen (13%). Ich habe für die im Affekt begangene Tat die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 bejaht.

Der Diabetes mellitus, auch dem Laien bekannt durch die Zuckerausscheidung im Urin, ist in zweierlei Beziehung bemerkenswert: einmal findet sich Zuckerausscheidimg relativ häufig kombiniert mit endogenen Stimmungsschwankungen — welcher Art der Zusammenhang ist, weiß man noch nicht —, dann aber haben wir durch die Insulinbehandlung die hypoglykämischen Zustände dieser Krankheit kennengelernt, die durch verringerten Blutzuckergehalt gekennzeichnet sind. Diese Zustände, die durch große Insulingaben künstlich hervorgerufen werden können und für die Therapie der Schizophrenie Bedeutung erlangt haben, können auch bei Gesunden unter besonderen Umständen spontan auftreten und dann zu Dämmerzuständen führen. MABX6) hat einen derartigen Fall beschrieben, der hier kurz angeführt sei. 6 ) Der Nervenarzt 6, 1933, S. 193; ein anderer mit LAUBENTHAL gemeinsam veröffentlichter Fall (Nervenarzt 4, 1931, S. 592) mit Brandstiftung im Dämmerzustand

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

31 jähriger Arzt, der den Tag über bis dahin k a u m etwas gegessen hatte, f u h r nachmittags gegen % 5 Uhr zu einer Einladung. Nach 10 Minuten F a h r t packte ihn sein Mitfahrer am Arm und fragte ihn, wo er eigentlich hinfahre. E r schreckte heftig zusammen, brachte den Wagen zum Stehen u n d stellte fest, daß er etwa 5 Minuten lang, f ü r die ihm die Erinnerung fehlte, plan- u n d ziellos in der S t a d t herumgefahren war u n d sich n u n in entgegengesetzter Richtung von seinem eigentlichen Ziel befand. E r war während dieser Zeit durchaus geschickt durch die belebtesten Straßen der S t a d t (Heidelberg ?) gefahren, h a t t e auch die F a h r t mehrmals verlangsamt, war n u r durch seinen etwas stieren Blick aufgefallen. E r bemerkte heftigen Heißhunger, feinschlägiges Zittern der Finger mit grobem Wackeltremor der Arme, Schweißausbruch und stärkste Muskelschwäche. Nachdem er mit Mühe sein Ziel erreicht h a t t e , besserten Tee und reichlich Zucker den Zustand innerhalb weniger Minuten. Klinisch war eine starke Labilität der Blutzuckerkurve nachweisbar. Wäre es während dieses Dämmerzustandes etwa zu einem Autounfall gekommen, so h ä t t e die Zurechnungsfähigkeit verneint werden müssen. Ähnliche Zustände sind nach E i n n a h m e antiallergischer Mittel beobachtet.

Von den Erkrankungen der Körperorgane führt die Lungenentzündung öfters zu Delirien, die wie die Infektionsdelirien verlaufen. Eine gewisse forensische Bedeutimg haben die Herzfehlerpsychosen. Wenn die Herzkraft versagt, wenn es zur Dekompensation, zum Kollaps kommt, treten ängstlich gefärbte deliriöse Störungen nicht so sehr selten auf. Oft sind dann lebhafte Sinnestäuschungen optischer, aber auch akustischer Art vorhanden, manchmal auch Vergiftungsideen mit Nahrungsverweigerung. Die forensische Bedeutimg aller dieser Störungen ist verhältnismäßig gering. Unter den Straffälligen, die ich aus meinem Material übersehe, waren es 3, die in das hier behandelte Kapitel fallen. Bei den Herzfehlerpsychosen, die öfters kurz vor dem Tode auftreten, kann die Frage der Testierfähigkeit einmal akut werden. Zur Trage der Geschäftsfähigkeit hatte ich mich bei einem Fall von perniziöser Anämie zu äußern, der hier kurz erwähnt sei: E. K., geb. 1882, erkrankte im H e r b s t 1931 mit Kribbeln in den F i n g e r n ; er konnte schlecht schreiben, konnte auch das Rasiermesser k a u m halten, während er schwere Gegenstände noch gut tragen konnte. Seit Anfang 1932 fühlte er sich müde, schlief schlechter, verlor den Humor. Vom Nervenarzt wurde er im F e b r u a r 1932 wegen Verdachts auf progressive Paralyse in die Klinik geschickt. Die Untersuchung ergab gelblich blasse Gesichtsfarbe, blasse Schleimhäute, auffallend glatte Zunge. B l u t b e f u n d : Hämoglobin 90%, Rote 2850000, Färbeindex 1,6. Anisozytose, Makrozytose, Hyperchromie. I m weißen Blutbild Übersegmentierung der Leukozyten. Psychisch: Anfangs nicht genau zeitlich u n d örtlich orientiert, äußerte Wahnideen, wollte gegen einen L a n d r a t auf Zahlung von 600 000 Mark klagen, ohne daß er Unterlagen f ü r eine solche Forderung hatte, zeigte deutliche Urteils- u n d Kritikschwäche. Auf der Abteilung unruhig, behauptete, Millionen zu haben. Trotz Besserung des Blutbefundes und Beruhigung, Entwicklung wahnhafter I d e e n : seit J a h r e n werde gegen ihn gearbeitet, er werde durch üble Nachrede zugrunde gerichtet. H a u p t ursache sei die Schwester, hinter der aber andere Personen steckten. Unklares, widerspruchsvolles Denken. Der Zustand schwankte; aber auch in besseren Zeiten ist nicht in gleicher Weise überzeugend; weitere Fälle h a t (Dtsch. med. Wschr. 1944, S. 508).

STTJTTB

beschrieben

Die psychischen Störungen bei den Generationsvorgängen des Weibes

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war K. ganz unberechenbar. Ich habe Geschäftsunfähigkeit bejaht, nachdem die Psychose fast ein Jahr unter Schwankungen bestand und eine Besserung nicht zu erwarten war.

Entmündigung wird selten nötig werden; auch die Anwendung des § 45 EG wird nur ausnahmsweise möglich sein, eher die des § 44 EG.

8. Die psychischen Störungen bei den Generationsvorgängen des Weibes E W A L D schreibt im BüMKEschen Handbuch der Geisteskrankheiten: „Man hat früher einmal geglaubt, den Psychosen, die sich im Verlauf des Generations- und Gestationsgeschäftes des Weibes entwickeln, eine Sonderstellung einräumen zu sollen, da die Umwälzungen im Gesamtorganismus während dieser Perioden einen ätiologischen Zusammenhang recht plausibel erscheinen ließen." Das eingehende Studium der Symptomatologie und des Verlaufs, die Herausstellung der großen Krankheitskreise des manischmelancholischen Irreseins und der Dementia praecox, das tiefe Eindringen in das Wesen der reaktiven, psychogenen Psychosen und die Zusammenfassung aller symptomatischer Psychosen in den exogenen Reaktionsformen hat aber schließlich zu der Erkenntnis geführt, daß hier doch wohl eine Überschätzung des ätiologischen Faktors vorlag, daß man ein propter hoc für das post hoc setzte, und so hat die Betrachtung der Generationspsychosen, wenn auch nicht ausschließlich, so doch weitgehend mehr historisches Interesse 1 ). In der Tat wirken Schwangerschaft und Wochenbett gelegentlich auslösend auf endogene Psychosen und geben ihnen als pathoplastische Faktoren auch wohl ein besonderes Gepräge — die Schizophrenien haben oft katatone Züge und eine relativ gute Prognose, die Melancholien erscheinen ängstlich erregt, die Manien verworren —; eigene für Schwangerschaft und Wochenbett charakteristische Psychosen indessen gibt es nicht. Im Wochenbett treten nur, verursacht durch das Wochenbettfieber exogene Psychosen von vorwiegend amentieller Färbung auf, die praktisch für die Rechtspflege kaum eine Bedeutung haben.

Viel wichtiger sind die seelischen Abartigkeiten, die vor und während der Menstruation, in der Zeit der Schwangerschaft, bei der Geburt und im Klimakterium auftreten. Sie sollen hier etwas genauer behandelt werden, weil von der Verteidigung, m. E. durchaus mit Recht oft auf diese Störungen hingewiesen wird, weil aber auch ihre forensische Bedeutung leicht überschätzt wird. Die Menstruation zunächst ist ein durchaus normaler, biologischer Vorgang, der zur Zeit der Geschlechtsreife beim Weibe einsetzt und in einer bestimmten Periodizität mehrere Jahrzehnte hindurch auftritt. Sie dauert in der Regel einige Tage, verläuft in manchen Fällen ohne alle Beschwerden und nervösen Erscheinungen, führt aber bei vielen insbesondere psychoÄhnlich

BLEULEB, S. 1 4 1 .

22 L a n g e l ü d d e k e , G e r l c h t l l c h e Psychiatrie, 2. Auflage

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

pathischen Frauen zu Mißempfindungen, Kopf- und Rückenschmerzen, auf psychischem Gebiet zu erhöhter Reizbarkeit, zu Gefühls- oder Weinkrisen, zu ängstlichen oder depressiven Verstimmungen2), bei manchen auch zu erhöhter Aktivität 3 ). Vielfach machen sich diese psychischen Erscheinungen schon in den Tagen vor dem Einsetzen der Blutung bemerkbar und klingen mit dem Eintritt der Blutung ab. Manche endogene Psychosen zeigen auch einen der menstruellen Periodizität angepaßten Verlauf. Diese Schwankungen sind, wie Kastrationsergebnisse zeigen, nicht auf Stoffwechselvorgänge (hormonale Ausschüttungen) zu beziehen; sie sind das Ergebnis eines komplizierten Zusammenwirkens verschiedener Faktoren. Dabei ist nicht zu verkennen, daß der Einfluß der Umwelt auf die Bedeutung der Menstruation als Erlebnisfaktor recht erheblich ist: für eine Frau, die sich jedesmal einige Tage ins Bett legen kann, verwöhnt und gepflegt wird, ist die Menstruation ein ganz anderes, viel belangvolleres Erlebnis als für eine Frau, die gezwungen ist, ohne Rücksicht auf ihr Befinden zu arbeiten. Auch die Charakteranlage und die konstitutionelle Eigenart spielen zweifellos eine gewisse Rolle dabei; darauf hat HAUPTMANN ganz besonders hingewiesen. Anscheinend führt nun die menstruelle Übererregbarkeit zu einer gewissen Steigerung der Kriminalität: Körperverletzungen, Widerstandshandlungen, Brandstiftungen und Diebstähle, vor allem Warenhausdiebstähle sind es, die in engeren Zusammenhang gebracht werden. Besonders gefährlich ist die Zeit der Menarche und das Klimakterium, das seine Bezeichnung „die kritischen Jahre"' mit Recht trägt. Wie WEINBERG4) gezeigt hat, ist die relative Straffälligkeit im Vergleich zu der des männlichen Geschlechts in den Pubertätsjahren von 12 bis 18 um 65% größer als in den folgenden Jahren. Besonders auffällig ist der Unterschied bei den Brandstiftungen. In den Jahren 1896 bis 1904 sind in Deutschland 724 Frauen wegen Brandstiftung verurteilt worden; davon waren 422, d. h. weit über die Hälfte im Alter unter 18 Jahren, während unter den 3102 verurteilten Männern nur 932 (30%) unter 18 Jahre alt waren. Aber auch später soll die Menstruation eine das Verbrechen fördernde Wirkung haben. EXNER6) vermutet, daß in diesem Zustande Reize, die sonst unwirksam bleiben, eine schwer widerstehbare Kraft erlangen. Von 56 Frauen, die in Pariser Magazinen Diebstähle verübten, sollen 63% gerade ihre Regel gehabt haben6). Demgegenüber konnte DTTBUISSON 1901 unter 120 von ihm untersuchten Ladendiebinnen nur 15 mal ( = 12%) biologische Phasen wie 2

) Der pathologische Anatom HELLER fand unter 70 Selbstmörderinnen 25 (36%), die sich zur Zeit der Menstruation getötet hatten. 3 ) Nach einer Umfrage, die BRUSH veranstaltet hat (ZB.Neur. 92, 1939, S. 47); ebenso HAUPTMANN, Arch. f. Psychiatrie 71, 1924. 4 ) Juristisch-psychiatrische Grenzfragen VI, 1907, S. 11. 5 ) Kriminologie, S. 144. 6

) LEOBAND DU SATJLLE, z i t . n a c h HOCHE I I I , S . 2 4 9 .

Die psychischen Störungen bei den Generationsvorgängen des Weibes

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Menopause, Menstruation oder Schwangerschaft nachweisen 7 ), und L E P P M A N N , der eine besonders große gerichtliche Erfahrung hatte, erwähnt in einem Vortrag über Diebstähle in großen Kaufhäusern die Menstruation nur in einem Falle, bei dem jedoch auch eine B A S E D O W s c h e Krankheit (vorspringende Augäpfel, Kropf, Gliederzittern) bestand und bei dem L E P P M A N N selbst an „postepileptische" Zustände gedacht hat 8 ). Das sind einander so widersprechende Zahlen, daß man sich fragen muß, wie diese Diskrepanz zu erklären sei. Möglich wäre es, daß L E G E A N D D U S A U L L E eine besondere Auswahl von Ladendiebinnen gehabt h a t ; wahrscheinlicher ist mir eine andere Erklärung: Ladendiebinnen pflegen charakterlich irgendwie auffallende Züge aufzuweisen. Es scheint mir nun sicher, daß das Denken dieser Frauen in verhältnismäßig starkem Grade um die biologischen Vorgänge kreist und daß sie manches auf diese zurückführen, was damit gar nichts zu tun hat. Wenn dann in etwas unvorsichtiger Form danach gefragt wird, so sind sie glücklich, eine ihnen plausible Entschuldigung für ihr Tun gefunden zu haben. Was sonst über die Frage des Zusammenhangs zwischen biologischen Phasen und Diebstahl in der Literatur vorhanden ist, sind Einzelbeobachtungen, die nicht einmal immer sehr beweiskräftig sind, und Eindrücke. Nötig wäre eine kritische und unbefangene Prüfung dieser Frage an einem größeren unausgelesenen Material. Eine Umfrage bei zahlreichen Nervenärzten in Amerika ergab, daß die Periode für den Hang zum Stehlen im allgemeinen bedeutungslos ist, daß sie aber bei „neurotischen" Frauen mitunter den Stehltrieb aktiviert 9 ). Dennoch darf man annehmen, daß in einzelnen Fällen einmal die Menstruation eine gewisse Bedeutung hat, daß Frauen während dieser Zeit nicht die sonstige Widerstandskraft gegenüber Begehrungsvorstellungen aufbringen. Ähnlich liegen die Dinge während der Schwangerschaft. Auch während dieser Zeit, und zwar namentlich zu Beginn der Schwangerschaft besteht neben körperlichen Erscheinungen, von denen das Erbrechen das häufigste ist, öfter eine gewisse Reizbarkeit, Empfindlichkeit, Affektlabilität. In der Regel wird im Laufe der Schwangerschaft die Stimmung ausgeglichener, die Freude über das zu erwartende Kind überwiegt, sobald die Kindesbewegungen fühlbar werden, und lassen andere Bedenken und Sorgen in den Hintergrund treten. Zu Beginn können sich freilich psychogene Depressionen einstellen, wenn das Kind unerwünscht ist, und zwar sowohl bei ehelicher als auch bei außerehelicher Schwängerung. Für kriminelle Handlungen erscheinen wichtig die sogenannten Gelüste, das Verlangen nach besonderer, sonst 7 ) Zit. nach G . SCHMIDT, Der Stehltrieb oder die Kleptomanie, Zb.Neur. 9 2 , 1939, S. 11; nach einem Referat von GATTPP (MKrB 1, S. 267) war in mehreren Fällen ein solcher Einfluß dieser Vorgänge nachweisbar. 8 ) Ärztl. Sachverst. Ztg. 1901, S. 5. L E P P M A N N meint, daß bei den in Betracht kommenden Mädchen und Frauen aus dem besseren Mittelstande die Sittlichkeit doch keine so innerlich gefestigte sei, wie es scheinen möchte. Die heutigen Zustände geben ihm für alle Kreise recht. 9 ) W . C. M I D D L E T O N , Psychol. Clin. 2 2 , 1 9 3 4 ; zit. von SCHMIDT, 1. c., S . 1 1 .

22*

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

nicht bevorzugten Speisen; diese Gelüste sollen sich manchmal auch auf glänzende Gegenstände, namentlich Schmuck erstrecken. Man h a t in früheren Zeiten die Bedeutung dieser Gelüste sehr überschätzt; so wollte H O I T BATTER jede Frau, die unter ihrem Einfluß verbrecherische Handlungen beging, exkulpieren 1 0 ); demgegenüber betonte C A S P E R , die Schwangerschaft dürfe nicht zum Freipaß für Vergehen u n d Verbrechen werden 11 ) u n d F I S C H E R 1 2 ) meint, die Bedeutung der Gelüste sei künstlich aufgebauscht. Hier wie bei den menstruellen Störungen kann nach unserer heutigen Auffassung von einer generellen Exkulpierung nicht die Rede sein. E s m u ß vielmehr jeder Einzelfall nach allen Richtungen hin geprüft werden; u n d nur dann ist die Exkulpierung zu rechtfertigen, wenn zur Zeit der Tat wirklich psychische Störungen in einer Stärke nachgewiesen werden können, durch die die Voraussetzungen des § 51 S t G B erfüllt werden. Ob man jeder Frau, die sich in einer physiologischen Phase befindet, Milderungsgründe zubilligen will, wie S E L L H E I M 1 3 ) möchte, ist eine Frage der Gesetzgebung, nicht des Psychiaters. Zwei einschlägige Beispiele mögen hier ihren Platz finden: Frau N. N., Vater Trinker, mit 41 Jahren an Schlaganfällen gestorben; 2 Schwestern schwer psychopathisch. Selbst gesund, aber während mehrerer Schwangerschaften stark reizbar, aufbrausend, zu heftigsten Affekten geneigt. Am Tage der Tat zu Hause heftige zornige Explosion, fuhr dann in die Stadt, um 2 Gänse zu verkaufen. I n einem Militärkasino, wo ihr der Verkauf nicht gelang, sah sie durch eine offene Tür Weißzeug am Boden liegen. Sie packte ohne irgendwelche Scheu 20 Servietten und 2 Tafeltücher in ihren Korb, ging dann zum Geflügelhändler, verkaufte dort ihre Gänse, packte aber 3 geschlachtete Hühner in ihren Korb. Diese bot sie einem Hotel zum Kauf an, entwendete bei dieser Gelegenheit 22 Kaffeelöffel und nahm schließlich bei einem Kaufmann, wo sie die Hühner gegen Ware tauschte, noch mehrere Kleidungs- und Wäschestücke an sich. Erst in einer Wirtschaft, die sie dann zum Ausruhen aufsuchte, kam ihr der Gedanke, daß sie Unrecht getan habe. Körperlich fand sich außer starken, offenbar psychogenen Schmerzäußerungen bei leisem Druck auf verschiedene Körperstellen nichts Besonderes; psychisch war sie nach jeder Untersuchung sehr angegriffen und brauchte Stunden oder sogar Tage, um sich zu erholen. 14 FISCHER, der diesen Fall berichtet hat ), hat als wahrscheinlich angesehen, daß Willensunfreiheit bei den gesamten Handlungen vorlag. Er begründet das mit der Schwere und der Massenhaftigkeit der Diebstähle innerhalb kurzer Zeit bei der bisher unbescholtenen, aber während der Schwangerschaft psychisch veränderten Frau. E. Th., 33 Jahre alt, unbestraft, erbrach im 7. Schwangerschaftsmonat einen im Luftschutzkeller stehenden Schließkorb und stahl daraus eine große Zahl von Wäschestücken. Aus diesen entfernte sie die Namen und ließ ihren Mädchennamen hineinsticken. Familie angeblich o. B. Selbst: Volksschule, Stellungen als Hausangestellte, Fabrikarbeiterin, Kellnerin in Holland und anderes. Kaum Zeugnisse. Erste Ehe zu ihrem Verschulden geschieden, war von vornherein unglücklich. Zweite Ehe seit 1942, glücklich. Sorgen wegen des Kindes aus erster Ehe, das sämtliche Haare verloren hatte, und Schwangerschaft, die ohne gröbere Störungen verlief. Sie war 10

) ) 12 ) 1S ) 14 ) n

Neues Archiv des Criminalrechts I, 1817, S. 612. Gerichtliche Psychiatrie, 1860. AZPS. 61, 1904, S. 333 MKrPs. 21, 1930, S. 184 Ausführlich in der AZPs. 61, 1904, S. 312.

Die psychischen Störungen durch Alkohol

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„nervös", während der Schwangerschaft verstärkt, neigte aber von jeher zum Lügen, wollte mehr scheinen als sie war, hatte früher schon erzählt, daß sie aus einem Geschäft, in dem sie angestellt war, manches mit nach Hause gebracht habe. Erst nach der Begutachtung wurden als Grund für den Diebstahl Schwangerschaftsgelüste geltend gemacht und Veränderungen behauptet, die bei der ersten gründlichen Untersuchung trotz eingehenden Befragens nicht festzustellen gewesen waren. Ich habe in diesem Falle keinen Grund zur Anwendung des § 51 StGB gesehen.

Über die abnormen Zustände der Gebärenden habe ich schon oben (S. 31) das Nötige gesagt. Hier möge der Hinweis genügen, daß psychische Störungen, und nur solche rechtfertigen die Anwendung des § 51 StGB, offenbar sehr selten sind. Auch das Klimakterium bedarf nur eines kurzen Hinweises. Wir wissen, daß während dieser Zeit, die in der Regel zwischen dem 5. und 6. Lebensjahrzehnt liegt, mancherlei körperliche und psychische Störungen auftreten können: Hitzegefühle, Wallungen nach dem Kopfe, Kopfschmerzen, Herzangst einerseits, erhöhte Ermüdbarkeit, Gedächtnisstörungen, Unruhe, gesteigerte Empfindlichkeit andererseits. Das zeigt sich in der vermehrten Kriminalität und in ihrer besonderen Art: Hausfriedensbruch, Verletzung der Eidespflicht, Beleidigung, Hehlerei, Bedrohung und Kuppelei erreichen hier ihren Höhepunkt 16 ). Hinsichtlich der strafrechtlichen Beurteilung gilt das oben Gesagte. Zivilrechtlich haben diese Zustände kaum praktische Bedeutung; sie können höchstens einmal zu Ehekonflikten führen, wenn etwa während der Menstruation Haßgefühle auftreten od. dgl.

9. Die psychischen

Störungen durch Alkohol

Die kriminogene Wirkung des akuten Alkoholexzesses ist im strafrechtlichen Teil bereits ausführlich behandelt. An dieser Stelle sollen die übrigen Formen und Erscheinungsweisen des Alkoholmißbrauchs 1 ) kurz geschildert und ihre Bedeutung für die Rechtspflege gewürdigt werden. Außer den Rauschzuständen unterscheidet man folgende Formen und Folgen des Alkoholmißbrauchs: a) b) c) d) e) f) g)

die Dipsomanie (Quartalstrinken); den chronischen Alkoholismus; das Delirium tremens; die Alkoholhalluzinose (Alkoholwahnsinn); den Eifersuchtswahn der Trinker; die K 0 R S A K 0 w s c h e Krankheit; andere Folgen: die Alkoholepilepsie und die Polioencephalitis haemorrhagica superior ( W E R N I C K E ) .

a) Die Dipsomanie. Darunter versteht man die periodisch auftretende triebhafte Sucht zum Trinken auf der Grundlage endogener Verstimmungen. Man hat früher angenommen, daß es sich um zur Epilepsie gehörige Stiml6

) Nach E X N E R , Kriminologie, S. 158. ) Ausführliches hierüber mit zahlreichen Beispielen findet man bei DORFER in BTJMKES Handbuch der Psychiatrie, Bd. VII. l

MEGGEN-

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mungssch wankungen handele; auch an die Zugehörigkeit mancher Fälle zum manisch-depressiven Irresein hat man gedacht. Nach meinen eigenen Beobachtungen sind es meist Psychopathen, die betroffen werden. Es sind oft nüchterne, solide Menschen, die von Zeit zu Zeit von einer unbezähmbaren Gier nach Alkohol befallen werden. Dann ist kein Halten mehr. Alle Versuche, sie davon abzuhalten, mißlingen, wenn man sie nicht rechtzeitig internieren kann, was kaum einmal möglich ist. Das Interesse der Kranken — sie sind in diesem Zustande in der Tat krank —• konzentriert sich in der meist einige Tage dauernden Periode nur auf die Beschaffung des Alkohols. Beruf, Familie, Anstand, Pflicht, Ehrgefühl — alles das versinkt vor dem einen Verlangen nach Alkohol. Getrunken wird alles, was gerade greifbar ist, auch der gemeinste Fusel. Vielfach wettern diese Kranken zu Hause ihre Saufperiode ab; andere sitzen in irgendeiner Kneipe, meist für sich. Die Toleranz gegen Alkohol ist anscheinend oft gesteigert. Nach dem Abklingen des Zustandes setzt meist ein seelischer Katzenjammer mit heftigen Selbstvorwürfen ein, es geht eine Zeitlang gut, manchmal ein halbes J a h r und länger, sie versuchen wieder gut zu machen, was sie beruflich versäumt haben, und dann geht es von neuem los; alles innere Widerstreben hilft nicht, sie unterliegen aufs neue. Strafbare Handlungen kommen während dieser Perioden nur selten vor. Im Einzelfall bedarf es genauer Untersuchung, ob es sich wirklich um eine endogene Triebhaftigkeit handelt oder ob es nur äußere Gründe sind, die zum Trinken geführt haben, z. B. Lohnzahlung. Freilich werden manchmal auch äußere Ursachen wie Streit mit der Frau angegeben, die aber in Wirklichkeit schon Folge der Verstimmung sind. In allen wirklich echten Fällen halte ich Zurechnungsunfähigkeit für gegeben. Schwierig ist die Frage der Unterbringung nach § 42b oder 42c StGB. Man wird dafür die Sachlage im einzelnen sehr gründlich zu prüfen haben; wichtig ist m. E. die Möglichkeit, die Widerstandskraft der Kranken zu heben, wenn es gelingt, eine oder gar zwei Perioden im Schutze der Anstalt ohne Alkohol abzuwettern. Auch die Frage der Entmündigung kann nicht generell entschieden werden. Die Voraussetzungen des § 105 Abs. 2 sind als gegeben anzusehen. b) Der chronische Alkoholismus. Wird Alkohol regelmäßig in größeren Mengen genossen, so kommt es allmählich zu seelischen und körperlichen Veränderungen, die man unter der Bezeichnung „chronischer Alkoholismus" zusammenfaßt. Die Mengen, die erforderlich sind, um solche Veränderungen hervorzurufen, schwanken in ziemlich weiten Grenzen, je nach der individuellen Widerstandsfähigkeit. Auf körperlichem Gebiet kommt es zu Schädigungen des Herzmuskels, der Leber und zu Magenkatarrhen; besonders häufig sind entzündliche Erscheinungen an den Nervenstämmen (Neuritiden). Bei der Untersuchung fällt auf: das etwas gedunsene, schlaffe Gesicht, die schmutzig-gelbliche Farbe der Skleren, in der die kleinen Blutgefäße deutlich sichtbar sind, die Triefaugen, ferner Druckempfindlichkeit der großen Nervenstämme, nicht selten durch Neuritiden bedingte Reflex-

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differenzen oder gar Fehlen der Reflexe, Störungen der Pupillenreaktionen bei vielfach entrundeten Pupillen — in manchen seltenen Fällen so ausgeprägt, daß man von einer Pseudotabes alkoholica sprechen kann —, Zittern der belegten Zunge und der Hände. Das letztere ist morgens meistens am stärksten und oft mit Erbrechen verbunden; beides bessert sich auf erneute Alkoholzufuhr. Biertrinker pflegen aufgeschwemmt, Schnapstrinker magerer zu sein. Auch auf psychischem Gebiet sind erhebliche Schäden zu verzeichnen, die nur deswegen nicht so auffällig werden, weil sie sich allmählich entwickeln. Die geistige Leistungsfähigkeit läßt nach, namentlich die Merkfähigkeit leidet, die Vergeßlichkeit nimmt zu. Dazu verengt sich der Interessenkreis, die Äffektivität ändert sich; es kommt zu dem bekannten flachen Trinkerhumor, der vielfach verbunden ist mit einer gewissen Rührseligkeit und Gefühlsduselei. In anderen Fällen ist die Erregbarkeit und Reizbarkeit gesteigert. In schwereren Fällen kommt es über die leichtere Stammtischdemenz zu ausgesprochener Vertrottelung. Die sozialen Auswirkungen sind oft beträchtlich: Arbeitsunlust, Vernachlässigung des Berufs, häufiges Fehlen im Dienst, Gleichgültigkeit gegenüber der Familie, die kein Unterhaltsgeld bekommt, weil alles durch die Kehle geht. Mißhandlungen von Frau und Kindern sind an der Tagesordnung; immer wieder hört man, daß sie vor dem betrunken heimkehrenden Gatten und Vater zu Nachbarn flüchten müssen. Es werden Schulden gemacht, der Hausrat wird versetzt, es kommt schließlich zu kleinen Diebstählen, Zechprellereien, Unterschlagungen, aber auch zu Bettelei und Landstreicherei. Infolge des Verlustes von Takt und Schamgefühl sind auch Sittlichkeitsdelikte nicht so selten, während die Körperverletzung mehr das Delikt des nicht regelmäßig trinkenden Berauschten ist. Im allgemeinen besteht kein Grund für die Annahme von Zurechnungsunfähigkeit, es sei denn, daß ein akuter Rausch vorgelegen hat. Relativ häufig trifft das für die Sittlichkeits- und Rohheitsdelikte der Alkoholiker zu. c) Das Delirium tremens2). Aus dem chronischen Alkoholismus heraus entwickelt sich namentlich bei Schnapstrinkern das Trinkerdelir. Plötzlich oder nach kürzeren oder längeren Vorboten, abendlicher ängstlicher Unruhe, vereinzelten Sinnestäuschungen entsteht es in voller Ausprägung meist nach erheblichen Trinkexzessen, manchmal auch bei plötzlich erzwungener Abstinenz 3 ). Es dauert einige Tage, hat seinen Höhepunkt stets nachts und endet bei günstigem Ausgang mit einem längeren Schlaf. In schwersten Fällen kann es infolge Versagens des Herzens zum Tode führen. Das Delirium tremens besteht in einer starken Unruhe, verbunden mit lebhaften Sinnestäuschungen, illusionären Verkennungen, aber auch echten Halluzina2

) Dazu aus neuer Zeit M E Y E R , SCHMITT und K I E S E R , D. med. Wschr. 1 9 5 5 . ) Das Vorkommen von Abstinenzdelirien wird von den meisten Autoren bestritten; ich habe selbst jedoch das Auftreten solcher Delirien nach 2tägiger Abstinenz in der Klinik beobachtet; ebenso PERNSTICH, Z.Ncur. 192, 1954, S. 527. 3

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tionen meist optischer Art und mit örtlicher und zeitlicher Desorientierung. Dabei besteht meist eine gewisse humorvolle Färbung. Das sehr starke Zittern der Glieder hat dem Delir seinen Namen gegeben. Über die Art der Erlebnisse möge der folgende von mir beobachtete und begutachtete Fall dienen, den Meggendorfer veröffentlicht hat4). K. S., Friseur, 40 Jahre alt, hatte am 28. 3. 1927 abends gegen 8 Uhr in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs eine Kraftdroschke genommen, mit der er ohne festes Ziel in der Richtung auf einen entfernten Stadtteil fuhr mit der Weisung zu halten, wenn er klopfen werde. Als er nach einer Strecke Fahrt aufgefordert wurde zu zahlen, konnte er das nicht, führte wirre Reden und wurde zur Wache gebracht. Dort gab er an, er sei seit 14 Tagen obdachlos; er habe eine Kraftdroschke genommen, um eine Unterkunft zu bekommen. Seine Unterschrift war stark zitterig. In der folgenden Nacht fing er an, in der Arrestzelle zu toben, zog sich nackend aus, versuchte sich die Pulsader zu verletzen, führte irre Reden und wurde daher ins Hafenkrankenhaus gebracht, von wo er mit der Diagnose „Halluzinatorisches Irresein" in die Anstalt Friedrichsberg verlegt wurde. Hier gab er wenige Tage später, nachdem er ausgeschlafen hatte, folgendes an: Er habe Friseur gelernt, aber seit dem Kriege sein Gewerbe nur zeitweise ausgeübt. Er sei nacheinander Postaushelfer, Arbeiter beim Kanalbau und die letzten 3 Jahre Hausdiener in einer Gastwirtschaft gewesen, in der er regelmäßig und erheblich Grog getrunken habe. Vier Wochen vor der Fahrt nach Hamburg habe er sich in Schleswig als Friseur selbständig gemacht, habe während dieser Zeit solide gelebt, habe dann aber die letzten drei Tage ohne richtig zu schlafen, sehr viel getrunken. Weil er sich schämte, wieder nach Hause zu gehen, schlief er in der Nacht vom 24. zum 25. März im Walde, fuhr am 25. 3. mit dem Rade bis vor Rendsburg, am 26. 3. bis Elmshorn, am 27. 3. nach Hamburg. Seit dem 24. 3. habe er nichts mehr gegessen. In der Nacht vom 26. zum 27. 3. fing es mit Sinnestäuschungen an: „Vor Elmshorn kam ich abends zur Zeit der Dämmerung durch einen Fichtenwald. Ich suchte mir eine nette Stelle aus und wollte dort übernachten, . . . da sah ich auf der Straße so eine Art Köpfe und Gesichter, und als ich genauer hinsah, lachten sie, jedoch nicht hörbar. Auch aus den Fichten sahen Gesichter auf mich herab. Ich bemerkte sogar, daß einer eine Brille trug. . . . Ich stand auf und ging auf die Straße. Da hörte ich, daß sie verabredeten, mich einzufangen." Er meint dann, daß das mit Autos geschehen sollte, und zwar mit dem besonders grellen Licht der Scheinwerfer, in dem er Gestalten sah, die die Straße besetzt hielten. „Da lief ich quer durch den Wald, die Meute der Verfolger, die sich mit Vogelrufen und so weiter verständigten, hinter mir her. Ich wurde eingeholt und vollständig umzingelt; es t a t mir aber keiner was." Er sah dann einen Holzhaufen mit einem schneeweißen Bett und mehreren männlichen und weiblichen Gestalten, wurde aufgefordert in ein nahe gelegenes Wasser zu springen, bat aber, lieber erschossen zu werden. „Ich wurde dadurch ängstlich gemacht, daß sich der Boden immer da, wo ich stand, senkte, so daß ich immer wieder meinen Standpunkt änderte." Der eine Mann sagte dann, „er sei Gott und ich ein sündiger Mensch, ich solle die Prüfung bestehen, aber sterben müßte ich doch. Er wollte seine Allmacht durch Himmels- und Geländeverschiebungen beweisen". Gott schuf dann einen Wald, machte aus diesem riesige Wagen, es kamen zahlreiche Tiere, Löwen, Schlangen, Vögel, alle zehnmal so groß wie in Wirklichkeit. Er, S., hörte dann Menschenstimmen, die den Tieren Tierlaute zuriefen, aus dem bläulichen Schimmer der Ferne kam ein riesiger Aal, der mitten durch die Sonne schwamm, usw. Dann kommt eine Zeit, über die S. nichts sagen kann. Er fand sich in Hamburg, anscheinend in der Nähe des Hauptbahnhofs wieder. Er hörte dort eine Stimme, von der er annahm, es sei der liebe Gott. Gott versprach 4

) In Btimkbs Handbuch Bd. VIII, S. 243; ich bringe den Fall hier gekürzt.

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ihm 50000 Mark und eine Frau, die er heiraten sollte. Davon hörte er auf der Straße schon die Leute reden, die ihn plötzlich alle kannten. Einmal kam Gott mit einem Auto an, das vor dem Hause hielt, in dem seine zukünftige F r a u wohnte. Zwei Damen stiegen zu ihm ein. D a n n kamen mehrere Lastautos mit Hochzeitsgeschenken, eins mit Schweinen, eins mit Kolonialwaren, eins mit altem Gerümpel. E r habe dann über die Straße gehen wollen; an der Straßenecke h ä t t e n vier Autos gestanden. Ein Chauffeur k a m ihm entgegen u n d sagte, er solle einsteigen. I m Auto saß Gott in Menschengestalt schon drin. E r stieg dazu. D a n n fuhren sie los, quer durch H a m b u r g . Der „Betreffende" saß neben ihm. Wenn er hinsah, war er nicht da, aber wenn er nicht hinsah, fühlte er ihn neben sich. Gott zeigte ihm H a m b u r g in eigenartiger Beleuchtung, alles mit kleinen bunten Laternen. Die Unterhaltung wurde n u r mittels Gedankensprache geführt. Schließlich wollte der Chauffeur Geld haben. Er, S., habe gesagt, er habe kein Auto genommen, das habe „ j e n e r " g e t a n ; „ j e n e r " sei aber plötzlich verschwunden gewesen; und er sei zur Wache gebracht worden. Auch hier h a t t e er noch lebhafte Sinnestäuschungen, brachte sich auf Befehl Gottes Verletzungen bei, weil er sein Blut f ü r die Christenheit vergießen sollte. I m Hafenkrankenhaus sah er links neben dem Bett eine K u h liegen, zu F ü ß e n einen Wolf, unter dem Fenster einen Haufen Schlangen. „ J e n e r " , der sich jetzt als Teufel entp u p p t e , sagte, er (S.) solle ein K i n d ermorden, das neben ihm im Bette lag. E r habe aber festgestellt, daß das, was der Teufel f ü r ein Kind hielt, nur Falten im Bettzeug waren. Der Teufel n a h m dann zehn Bandwürmer und steckte sie ihm durch die Rippen in den Körper. Darauf habe er den Teufel fortgejagt, habe g u t geschlafen und viel u n d gut zu essen bekommen. — Das Verfahren wurde auf Grund meines Gutachtens eingestellt.

d) Die Alkoholhalluzinose {Alkoholwahnsinn)h) ist sehr viel seltener als das Delir. Es bestehen hier vornehmlich akustische Sinnestäuschungen bei erhaltener Besonnenheit und waknhafter Verarbeitung des Gehörten. Mancherlei Beobachtungen — geringerer Alkoholmißbrauch, häufigeres Vorkommen auch bei Frauen — sprechen dafür, daß eine endogene Bereitschaft von Bedeutung ist; wahrscheinlich gehört ein Teil mindestens der länger dauernden Erkrankungen zur Schizophrenie. e) Der Eifersuchtswdhn der Trinker. Hier muß man unterscheiden zwischen der normal verständlichen Eifersucht der Trinker, die ja selbst durch ihr Verhalten eine Entfremdung der Ehefrau herbeiführen, und wirklichen Wahnideen. Bei diesen mag der Alkoholmißbrauch begünstigend wirken; wenn man aber nicht vorschnell alles dem Alkohol zuschiebt, sondern sich die Persönlichkeit der Wahnkranken vor der eigentlichen Trunksucht ansieht, so kann man fast immer feststellen, daß es sich um von jeher mißtrauische, paranoide Menschen handelt. Bei genauer Untersuchung der Vorgeschichte konnte ich sogar oft genug die Beobachtung machen, daß der Eifersuchtswahn schon vor dem eigentlichen Alkoholmißbrauch bestanden hatte. Sicher scheint es mir jedenfalls zu sein, daß endogene Momente eine wesentliche Rolle dabei spielen. Daß bei diesen Kranken schwere Eifersuchtstaten vorkommen können, bedarf kaum eines besonderen Hinweises; wohl aber muß gesagt werden, daß auch anscheinend harmlose Kranke dieser Art ganz unerwartet höchst gefährlich werden können. 6

) BENEDETTI, Die Alkoholhalluzinose. Thieme 1957.

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f) Die K O R S A K O W sehe Krankheit. Nach langjährigem Alkoholmißbrauch treten neben stärkeren polyneuritischen Erscheinungen erhebliche Störungen der Merkfähigkeit auf mit starker Suggestibilität und der Neigung, die Gedächtnislücken durch Konfabulationen auszufüllen. Die Kranken sind stets stark desorientiert. Solchen Kranken, die schon monatelang sich in einer Anstalt befinden, kann man etwa einreden, man habe am Abend vorher in einer Kneipe mit ihnen gezecht und Brüderschaft getrunken. Die Klinik halten sie für ein Hotel, den Pfleger für einen Kellner, sie bestellen bei ihm zu essen und zu trinken.. Daß sie im Hemd im Bett liegen, daß andere im gleichen Raum ebenfalls im Bett liegen, hindert sie nicht, solche Meinungen zu äußern. Vielfach wirken sie ausgesprochen ratlos. Meist sind es ältere Männer, die von diesen Störungen betroffen werden, die sich bei längerer Abstinenz zum Teil zurückbilden können, aber doch mit großer Regelmäßigkeit Reste hinterlassen. Dabei geht die Initiative verloren, die Kranken leben meist stumpf und gleichgültig dahin. Zechprellereien sind wohl ihre häufigsten Delikte. g) Von den anderen Folgen des Alkoholmißbrauchs sei die Alkoholepilepsie kurz erwähnt. Auch sie setzt längeren schweren Alkoholmißbrauch voraus. Die schweren epileptiformen Krämpfe treten selten auf. Abstinenz kann zur Heilung führen; eine gewisse psychische Abstumpfung wird freilich meist zurückbleiben. Die von W E B N I C K E beschriebene Polioencephalitis haemorrhagica superior schließlich ist eine meist zum Tode führende Erkrankung, die unter dem klinischen Bilde des Delirs, aber mit schwerster Benommenheit verläuft. Anatomisch finden sich Gefäßveränderungen und Neigimg zu Blutungen in der Umgebung der zentralen Hirnhöhlen. Die strafrechtliche Bedeutung dieser Formen ist abgesehen vom chronischen Alkoholismus ziemlich gering. Daß das Delir, die Halluzinose, die KoRSAKOWsche Krankheit Zurechnungsunfähigkeit bedingen, braucht nach dem Gesagten nicht mehr begründet zu werden. Bei Eifersuchtshandlungen läßt sich generell nichts sagen; es wird darauf ankommen, ob eine noch normal verständliche Eifersucht oder wirklich wahnhaftes Denken und Erleben vorliegt. In allen diesen Fällen ist Einweisung aus § 42b zu erwägen; sie wird in der Regel aber kaum möglich sein, da mit einer Wiederholung von Delikten nur ausnahmsweise gerechnet werden kann. Größer ist die zivilrechtliche Bedeutung dieser Formen. Das gilt zunächst für die Frage der Geschäftsunfähigkeit (§§ 104, 2 und 105, 2 BGB). Beim akuten Rausch, der bei Geschäftsabschlüssen mitgespielt haben kann, besteht die Möglichkeit einer Nichtigkeitserklärung des im Rausch geschlossenen Vertrages (§ 105, 2); das gleiche gilt für das Delir. Bei der Korsakowschen Krankheit wird man Geschäftsunfähigkeit gemäß § 104, 2 annehmen können. Dagegen wird es nicht möglich sein, beim chronischen Alkoholiker Geschäftsunfähigkeit auch nur wahrscheinlich zu machen. Bei den übrigen Formen wird es auf die Lage des Einzelfalls ankommen. Das gleiche gilt für

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die Prozeßunfähigkeit; auch sie wird nur in seltenen Fällen angenommen werden können. Die Frage der Entmündigung von Trinkern ist bereits oben ausführlich behandelt worden (S. 84); hier kann ergänzend nur hinzugefügt werden, daß die mehr oder weniger chronischen Formen mit psychotischen oder organischen Symptomen, die Halluzinose, der Eifersuchtswahn, die K O R S A wowsche Psychose, die Alkoholepilepsie, auch wegen Geistesschwäche oder Geisteskrankheit entmündigt werden können, wenn die übrigen Voraussetzungen vorliegen. Die Trunksucht in allen ihren Formen kann auch ein Scheidungsgrund nach § 43 EG werden. Das ist von Fall zu Fall zu prüfen. Auch wenn beharrliche Trunksucht nicht gegeben ist, kann die Gefährdung des Unterhalts der Familie oder rücksichtslose oder rohe Behandlung der Familienangehörigen ein Scheidungsgrund sein. In der Regel wird jedoch ein stetiger Hang zum übermäßigen Genuß geistiger Getränke vorhanden sein müssen, um die Ehescheidung zu rechtfertigen, ohne daß im übrigen schon die Voraussetzungen für die Entmündigung erfüllt zu sein brauchen. Wenn das trunksüchtige Verhalten des Ehegatten den Verlust der allgemeinen Achtung zur Folge hat, so ist auch das schon allein ein Grund, die Ehe zu scheiden. Einen besonderen Grund könnten auch die Beschimpfungen bilden, die in trunkenem Zustande ja häufig vorkommen6). Der § 44 EG kommt für diese Verfehlungen m. E. wohl nur ganz ausnahmsweise zur Geltung; wenn auch der Begriff „geistige Störung" des § 44 fg. nicht dem medizinischen Begriff „Geisteskrankheit" entspricht, wenn unter anderen Abartigkeiten auch schwere Trunksucht unter diesen Begriff fällt7), so wird doch verlangt, daß „die von der Norm abweichende geistige Beschaffenheit des Beklagten derartig ist, daß die Verantwortlichkeit ausgeschlossen ist" 8 ). Das wird man aber von dem chronischen Trinker kaum einmal sagen können. Bei den schweren Formen des Alkoholismus, die mit erheblichen Veränderungen des psychischen Zustandes einhergehen (Halluzinose, Eifersuchtswahn, K O R S A K O W ) , wird die Scheidung nach § 4 5 EG möglich sein. Das werden freilich seltene Ausnahmefälle sein.

10. Vergiftungen und Suchten1) Wenn man versucht, sich über den Begriff „Sucht" klar zu werden, tut man gut, sich zunächst an die Sprache zu wenden. Zahlreiche Worte enthalten den Adnex „sucht", z. B. Ruhmsucht, Geltungssucht, Rachsucht, 6 ) HOFFMANN, S. 201. Dort Hinweise auf Entscheidungen des Reichsgerichts; hinsichtlich der Beschimpfungen S. 195. 7

) HOFFMANN, S . 2 0 4 .

) BGHZ 1, S. 132; nach einem Urteil des OLG Hamburg obliegt dem Beklagten dafür die Beweislast. 1 ) Die Literatur über dieses Gebiet ist recht umfangreich. Über Kokain, Morphin, Heroin ist die ausführliche Darstellung von MEGGENDORFER in B U M K E S Handbuch 8

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Klatschsucht und viele andere. Wir finden in ihnen allen ein mehr oder weniger hemmungsloses Streben nach Befriedigung besonderer Wünsche, nach Erhöhung des Lebensgefühls. Dieses Streben tritt schon bei den harmloseren Suchten gelegentlich deutlich in Erscheinung. Es gibt zweifellos z. B. eine Nikotin- und eine Kaffeesucht; das geht aus den enormen Schwarzhandelspreisen, die dafür in der Kriegs- und Nachkriegszeit gezahlt wurden, und aus dem beschämenden Aufheben der Zigarettenstummel, der sogenannten Kippen, deutlich hervor. Man kann aber den Begriff weiter ausdehnen auf alle Lebensgebiete: das Radio, das Auto, der Sport, ja selbst die Arbeit kann zur Sucht werden. Im vorliegenden Kapitel soll dieses Gebiet aber nicht in dem angedeuteten Umfang abgehandelt werden; wir wollen uns vielmehr beschränken auf die Medikamente und sonstigen Gifte, die dadurch ausgezeichnet sind, daß eine Gewöhnung und eine dadurch bedingte Erhöhung der Dosis eintritt. Die Gewöhnung besteht darin, daß der Organismus bei regelmäßiger Zufuhr eines Giftes die Fähigkeit gewinnt, immer größere Mengen des Giftes anscheinend reaktionslos zu vertragen. Wir haben schon beim Alkohol darauf hingewiesen, daß der im Trinken Geübte mehr verträgt als der Gelegenheitstrinker, freilich mit der Einschränkung, daß die Verträglichkeit bei schwerem langjährigem Mißbrauch wieder abnimmt. Deutlicher als dort ist die Gewöhnung bei den hier zu besprechenden Giften zu erkennen, wo die wirksame Dosis das zehnfache und mehr der Anfangsdosis erreichen kann. Wenn man versucht, sich das Zustandekommen einer Giftsucht zu erklären, darf man sich, wie ich glaube, nicht an die physiologischen Vorgänge allein halten; es ist an der Sucht in sehr starkem Maße auch eine seelische Wurzel beteiligt. Das scheint mir aus der Verwendimg des Adnexes „sucht" schon hervorzugehen. I m Einzelfall ergeben sich folgende Fragen: welcher Art ist die Persönlichkeit des Süchtigen ? Welche sonstigen Umstände haben zur Entstehung der Sucht beigetragen ? Welches Mittel wurde genommen und wie wirkt dieses Mittel ? Zunächst fragen wir nach der Persönlichkeit des Süchtigen. Sicher handelt es sich vielfach um nervöse, hysterische, psychopathische, namentlich willensschwache Menschen, die weich, stimmungslabil, mißlaunig, intolerant den Schwierigkeiten des Lebens gegenüber, dabei oft egoistisch und arrogant sind. Aber auch psychisch völlig intakte Menschen können unter besonderen Umständen irgendeinem Mittel verfallen. Zwischen den selbstsicheren, in sich festen, ausgeglichenen Persönlichkeiten, Bd. VII, 1928 immer noch zu empfehlen. Über die neueren Mittel kommen in Betracht: HESSE, Die Rausch- und Genußgifte, 2. Aufl., Stuttgart 1953; Knud O. MOLLEB, Rauschgifte und Genußmittel, Basel 1951; BONHOFF und LEWEBENZ, Über Weckamine (Pervitin und Benzedrin) 1954; POHLISCH und PANSE, Schlafmittelmißbrauch 1934. Weiter: LINZ, Sammlung von Vergiftungsfällen 14 (statistische Angaben), BUBKHARDT, Das Suchtproblem. Fortschr. 22, 1954, S. 473. Dort weitere L i t e r a t u r a n g a b e n . EHRHABDT i n PONSOLD, 2. A u f l . , S. 2 2 0 . SCHWARZ, P s y c h i a t r i e ,

Neurologie und Med. Psychologie 3, 1951, S. 257; Bundeskriminalamt Wiesbaden, Bekämpfung von Rauschgiftdelikten, 1956.

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bei denen Suchtanfälligkeit praktisch nicht besteht, und den oben gekennzeichneten psychisch Abartigen liegt eine ziemlich große Gruppe solcher Menschen, die den Anforderungen des Lebens gewachsen sind, die etwas geleistet haben und nennenswerte psychopathische Eigenschaften nicht aufweisen. Ihnen gemeinsam ist wohl ein Lustbedürfnis: sie schaffen sich eine seelische Situation, in der alles, was sie belastet, was sie quält, beseitigt erscheint, sie werden für die Dauer der Mittelwirkung gewissermaßen harmonisiert. Was im einzelnen dabei eine Rolle spielt, ist unterschiedlich. I . H . SCHULZ meint, daß in allen Fällen frühkindliche Verwöhnungsschäden vorliegen, Liebesüberschüttungen in den ersten 6 Lebensjahren. Diese Verwöhnung soll später getarnt als Dysphorie des allgemeinen Lebensgefühls, als konstitutionelle Depression, als Selbstwertunsicherheit, Angst und Intoleranz den Härten des Lebens gegenüber in Erscheinung treten. Immer aber sind das Teilursachen von sehr verschiedener Stärke im Einzelfall. Die Gefahr, süchtig zu werden, besteht auch beim nicht psychopathischen Menschen. Als besondere Umstände, die das Entstehen der Sucht begünstigen, werden überwiegend Schmerzen angegeben. Nach einer Zusammenstellung von L I N Z stehen dabei die sogenannten Steinleiden — Gallen- und Nierensteine — an erster Stelle. Der chronische Verlauf dieser Leiden, die Wiederkehr schmerzhafter Koliken, aber auch die leichte Möglichkeit, Schmerzen dieser Art vorzutäuschen, verführen nicht selten zu unkritischer Anwendung regelmäßiger Gaben von Betäubungsmitteln. Weitere größere Gruppen bilden Erkrankungen der Verdauungsorgane und Verletzungen. In rund 1 / 6 der Fälle wurden psychische Ursachen angeschuldigt: Erschöpfung, Überarbeitung, Depressionszustände, Eheschwierigkeiten usw.; Erschöpfung und Überarbeitimg werden namentlich von Ärzten oft angegeben. In den Kriegsjahren gerieten relativ viele Ärzte an Rauschgifte, um den an sie gestellten übermäßigen Anforderungen gerecht werden zu können. Eine wichtige Rolle spielt auch der Beruf. L I N Z fand, daß unter den Berliner Süchtigen Angehörige der Gesundheitsberufe, also Ärzte, Apotheker, Zahn- und Tierärzte, Drogisten, Pflegepersonen, Medizinstudenten und Arztfrauen, 58% der Gesamtzahl der Süchtigen ausmachten. Er hat für Berlin ausgerechnet, daß auf 10 000 der Gesamtbevölkerung 1,41 Süchtige kommen, auf 10 000 frei praktizierende Ärzte dagegen 367. Schließlich ist die Verführung eine, wenn auch nicht erhebliche, so doch beachtenswerte Ursache. Von den Kokainisten wußte man früher, daß sie gern in Gesellschaft schnupften, während man meinte, daß Morphinisten das Alleinsein vorzögen. In neuerer Zeit hat sich jedoch gezeigt, daß auch beim Morphium und anderen Giften eine gewisse Neigung besteht, auch andere an den scheinbaren Wohltaten der Gifte teilhaben zu lassen. Insbesondere findet man oft süchtige Arztehepaare. Abgesehen davon ist aber der erste Anlaß fast durchweg die ärztliche Verschreibung. Daß diese Verschreibungen immer notwendig wären, läßt sich leider nicht sagen. Bei der gegenwärtig bestehenden wirtschaftlichen

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Abhängigkeit der Ärzte von ihren Patienten ist mit einer wesentlichen Besserung dieser Verhältnisse kaum zu rechnen. Im folgenden sollen nur die Suchten besprochen werden, die in Deutschland einige Bedeutung haben oder gehabt haben. a) D a s O p i u m u n d s e i n e A b k ö m m l i n g e Das Opium hat bekanntlich in China, wo das ausländische „Opiumkapital" Gesetze gegen das Gift verhindert hat, in Indien und in Vorderasien weite Verbreitung gefunden. Das dort übliche Rauchen hatte sich nach dem ersten Weltkriege auch in europäischen Häfen, unter anderen in Hamburg stärker bemerkbar gemacht. Praktisch hat es jedoch kaum Bedeutung erlangt, da in Deutschland ihm das wichtigste Opiumalkaloid, das Morphium, vorgezogen wird. Dieses zuerst 1 8 0 6 von S E R T Ü R N E R 2 ) rein dargestellte Mittel hat durch die Möglichkeit, es einzuspritzen, seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts große Bedeutung erlangt: es wirkt als schmerzstillendes und den Darm ruhigstellendes Mittel außerordentlich segensreich, zugleich aber hat es wegen der euphorisierenden Wirkung, durch die es manchen als der größte Genuß erscheint, viel Unheil angerichtet. Es hebt die Stimmung bei gleichzeitiger Herabsetzung der Bewegungsantriebe und beseitigt körperliche und seelische Unlustgefühle aller Art. Keineswegs in allen Fällen ist diese Wirkung von vornherein vorhanden; die erste Spritze erzeugt bei manchen Menschen allerlei unangenehme Sensationen: Durchfall, Erbrechen, aufsteigende Hitze u. a. Andere aber, und diese sind besonders gefährdet, erfahren nur die angenehmen Wirkungen, denen sie dann unter Umständen widerstandslos zum Opfer fallen. Es tritt dann schnelle Gewöhnung an das Mittel ein, die Einzeldosis steigt mehr und mehr an und kann das Vielfache der Maximaldosis3) erreichen. Mengen von 1—3 Gramm am Tage waren früher keine Seltenheit. Jetzt werden infolge der Opiumgesetzgebung solche Mengen kaum einmal erreicht; man sieht daher auch nur ausnahmsweise die ausgemergelten, mit Abszessen übersäten, ruinenhaften Menschen, wie sie MTCGGENDORFER noch abgebildet hat 4 ). Die Folgen des Morphiummißbrauchs bestehen einmal in einer Herabsetzung der körperlichen Funktionen: der Ernährungs- und Kräftezustand läßt nach, Appetitmangel macht sich bemerkbar, die Haut wird schlaff, trocken, die Potenz schwindet, die Menstruation kann sistieren, die Pupillen werden eng. Psychisch bleiben die intellektuellen Funktionen intakt; die Interessen aber engen sich ganz auf die Beschaffung des Giftes ein. Darüber wird der Beruf, die Familie, der Haushalt vernachlässigt. Um Morphium zu erhalten, fangen die Süchtigen an zu lügen, sie stehlen Rezepte und fälschen sie; süchtige Ärzte schreiben für ihre Patienten Morphium auf, verwenden 2

) Nach H E S S E : MEGGENDORFER macht andere Angaben. ) Die Maximaldosis für einen Tag beträgt 0,1 Gramm. 4 ) In BUMKES Handbuch 1. c.

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es aber für sich; bei Kassenpatienten kommt es dadurch zu betrügerischen Handlungen, daß die Kosten zu Unrecht den Kassen auferlegt werden. Jedes Mittel ist diesen Süchtigen recht, wenn es um die Beschaffung des Giftes geht. Diese moralische Depravation beschränkt sich jedoch im wesentlichen eben auf die Beschaffung des Mittels. Setzt man nun das Morphium ab, so treten unangenehme Entziehungserscheinungen auf; diese waren in früheren Zeiten, wo man allmählich entzog, recht erheblich und wurden von den Kranken stark übertrieben, um den entziehenden Arzt zur Gewährung einer Spritze zu zwingen. Seit wir uns daran gewöhnt haben, plötzlich zu entziehen, sind die Entziehungserscheinungen viel geringer geworden, sind aber doch so stark, daß außerhalb einer geschlossenen Abteilung, in der die Entziehung mit aller Konsequenz durchgeführt werden kann, die völlige Befreiung nur selten gelingt. Sie bestehen in Gähnen, Niesen, Husten, Tränen, Frieren, Schwitzen, Durchfällen und einer sehr peinliehen inneren Unruhe. Darüber hinaus gehende Erscheinungen sind seltener. Soweit, was sehr selten ist, deliriöse Erscheinungen auftreten, sind außer dem Morphium meistens Schlafmittel beteiligt. Am schlimmsten ist die Angst vor den Entziehungserscheinungen, die durch übertriebene Schilderungen genährt worden ist. Gerade diese führt oft zu Delikten, wie sie oben genannt sind. Die Prognose der Morphiumsucht richtet sich nach der Persönlichkeit des Kranken. Handelt es sich um einen ausgesprochen Süchtigen, so sind die Aussichten auf eine Dauerheilung schlecht; die meisten verfallen wieder irgendeinem Gift, mit Alkohol fangen sie an, mit Morphium oder einem anderen Rauschgift hören sie auf. Wichtig ist die ordnungsmäßige straffe Durchführung der ersten Kur; je gründlicher diese ist, desto besser sind die Aussichten. Wesentlich günstiger ist der Verlauf bei den von B O N H O E F F E B , zum Unterschiede zu den Süchtigen so genannten Morphiumfcrawfcew, die infolge schmerzhafter Krankheiten sich zwar an das Gift gewöhnt haben, aber nicht eigentlich süchtig sind. Bei der strafrechtlichen Begutachtimg hat man Delikte, die mit der Sucht eng zusammenhängen, von solchen zu unterscheiden, die damit nichts zu tun haben. Bei den letztgenannten Delikten hat etwaiger Mißbrauch von Morphium keine die Zurechnungsfähigkeit nennenswert herabsetzende Wirkung. Wenn also nicht andere Gründe für die Anwendung des § 51 StGB sprechen, sind die entsprechenden Delinquenten als zurechnungsfähig zu bewerten. Handelt es sich um die Beschaffung von Morphium, so würde ich, wenn das Delikt im Morphiumhunger verübt wurde, Zurechnungsunfähigkeit annehmen; das ist freilieh selten, da Morphinisten gut vorzusorgen pflegen. In den übrigen Fällen kann man erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit dann bejahen, wenn die Angst vor der Entziehung mitgespielt hat, oder eine erhebliche moralische Depravation eingetreten ist. Einweisung aus § 42 c oder im Falle des Freispruchs aus §42b StGB ist anzustreben. Möglich ist im Falle der Zurechnungsunfähigkeit Verurteilung gemäß § 330 a StGB, die

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dann auch zur Einweisung aus § 42c StGB berechtigt5). Entmündigung ist nur auf dem Wege über die Geistesschwäche möglich; sie wird leider meistens zu spät kommen6). Geschäftsunfähigkeit wird man kaum einmal bejahen können, da, wie wir schon sagten, die intellektuellen Funktionen durch das Morphium nicht gestört werden, da es auch sonst geschäftliche Tätigkeit nicht hindert. Ehescheidungen sollten nach Möglichkeit erleichtert werden; die Vernachlässigung der beruflichen und der familiären Pflichten wird ausreichende Gründe dafür abgeben, die nach § 43 oder, wenn auch seltener, nach 44 EG beurteilt werden können. Einige Beispiele mögen das Gesagte erläutern: G. K., 29 J a h r e alt, war seit einer Reihe von J a h r e n Morphinist, spritzte vielleicht auch nebenher Kokain. I n einem Krankenhaus, in dem er sich zur Entziehung befand, entwendete er Kleidungsstücke, versetzte sie u n d verkaufte den Pfandschein, um sich Morphium kaufen zu können. Tägliche Dosis etwa 1,0 Gramm. E s handelte sich um einen weichen, empfindsamen, launischen Psychopathen mit offener Lungentuberkulose, der stark abgemagert mit blaßgelber Gesichtsfarbe in unsere Behandlung kam. F ü r sein unter dem Einfluß von Morphiumhunger begangenes Delikt habe ich ihm den Schutz des § 51 S t G B alter Fassung zugebilligt. P a t i e n t erholte sich bei uns vorzüglich, n a h m an Gewicht erheblich zu. Später h a t er sich jedoch das Leben genommen. K . P., 30jähriger K a u f m a n n , bestellte am 17. 12. 1929 in einer Schlächterei Fleischwaren im Werte von fast 30 Mark mit der Angabe, er werde den Betrag am folgenden Tage durch die Bank überweisen; er t a t das jedoch nicht, k a u f t e aber a m 24. 12. f ü r weitere 14 Mark Waren mit der bestimmten Zusicherung, er werde beide Beträge überweisen. Auch das geschah nicht. S t a t t dessen bestellte er am 30. 12. f ü r weitere 50,60 Mark Fleischwaren. Der Bote, der ihm die Ware nur gegen Barzahlung aushändigen sollte, ließ sich von ihm bereden, die Ware ohne Bezahlung dort zu lassen. Ähnliche Delikte h a t t e er eine ganze Reihe begangen. Der Vater des Vaters war Trinker; die E h e der Eltern wurde vor seiner Geburt geschieden. E r selbst kam auf der Oberrealschule nicht mit, besuchte deshalb die Realschule, die er mit der Reife für die dritte Klasse verließ. E r lernte dann K a u f mann, wechselte oft die Stellen; seine Angaben darüber waren vielfach nieht glaubh a f t . E r neigte zu Aufschneidereien, war der Mutter gegenüber grob, wurde in erster E h e schuldig geschieden. Vom Gericht wurde er in einer Alimentensache als haltlos, willensschwach und arbeitsscheu bezeichnet. Längst vor Beginn des Morphiummißbrauchs ist von Unterschlagung, Betrug, Leichtsinn, Verantwortungslosigkeit die Rede. Ich habe ihn für die genannten S t r a f t a t e n f ü r voll verantwortlich erklärt. Bei dem Drogisten P. B. war die Frage zu entscheiden, ob er wegen Geistesschwäche zu entmündigen sei. B., der 1882 geboren war, h a t t e die Bürgerschule besucht, h a t t e dann nach vierjähriger Lehrzeit eine Stelle in Schwerin angenommen. Bis 1905 h a t t e er mehrere Stellen in Schwerin, H a m b u r g und Pinneberg als Verkäufer gehabt. Damals gemachte Schulden wurden zunächst vom Vater gedeckt. 1904 wurde er zum ersten Male wegen Betruges und Diebstahls bestraft. Bis 1920 erhielt er weitere 7 Strafen wegen Betruges, Unterschlagung u n d Diebstahl mit zusammen fast 5 J a h r e n Gefängnis. I n der Zeit von 1905 bis 1924 ließen sich 73 Krankenhaus- u n d Anstaltsaufenthalte feststellen. Bei der 16. Aufnahme ist zum ersten Male Morphinismus als Diagnose vermerkt (1913); doch war er damals nach eigenen Angaben schon seit J a h r e n morphiumsüchtig. E r suchte später meistens das K r a n k e n h a u s mit der 6 ) Näheres S. 80. Nach dem Entwurf von 1958 soll auch die Einweisung exkulpierter Süchtiger möglich werden. 6 ) S. dazu S. 83.

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Begründung auf, er wolle eine Entziehungskur machen. In Wirklichkeit verschaffte er sich auf diese Weise kostenlos Morphium. Er erhielt nämlich — in jener Zeit waren langsame Entziehungskuren noch fast überall üblich — anfangs ausreichend Morphium. Sobald aber die Dosis stärker gesenkt wurde, verlangte er seine Entlassung, um am gleichen oder einem der nächsten Tage ein anderes Krankenhaus aufzusuchen; waren die Hamburger Krankenhäuser erschöpft, so ging er auf Reisen. So war er, um nur eine derartige Episode anzuführen, im Jahre 1913 vom 10. bis 13. 5. im Elisabethkrankenhaus in Berlin, vom 15. bis 17. 5. im Diakonissenhaus Bethanien in Berlin, vom 17. 5. bis 7. 8. in der Anstalt Herzberge, vom 9. 8. bis ? in Güstrow, vom 13. bis 27. 8. in Schwerin, vom 1. bis 11. 9. in Rostock, vom 11. bis 12. 9. in Schwaan, vom 13. bis 19. 9. in Teterow, vom 19. 9. bis 15. 12. in Malchin, vom 18. bis 19. 12. in Boitzenburg in Krankenhausbehandlung; und nun kamen wieder die Hamburger Krankenhäuser an die Reihe. Die Diagnose lautete durchweg „Morphinismus" oder „Asthma und Morphinismus". Über die Jahre 1916/19 ließ sich nichts Sicheres feststellen. Vielfach — ich konnte 29 Fälle nachweisen — war er in verschiedenen Städten noch unterstützt worden; man hatte ihm zum Teil Geld und Morphium gegeben, um ihm die Fahrt nach Jena oder Kiel usw. zu ermöglichen, wohin er angeblich zur Entziehung fahren wollte. Am 20. 12. 1924 kam er auf meine Abteilung nach Hamburg-Friedrichsberg. Wir entzogen ihn abrupt. Körperlich fand sich ein mäßig genährter, gealtert aussehender Mann, dessen Glieder von kleinen Narben übersät waren. Abgesehen von dem weichlichen Gesichtsausdruck und nervösem Zucken der Gesichtsmuskulatur fand sich nichts Besonderes. Psychisch war er orientiert, intellektuell ungestört. Obwohl er angab, bis zu 1,8 Gramm Morphium gespritzt zu haben, konnte er schon am 25. 12. bei der Stationsarbeit mit helfen (die wirkliche Dosis dürfte erheblich niedriger gelegen haben). Er erwies sich als ein haltloser, überaus willensschwacher Psychopath mit Neigung zum Aufschneiden. Mein Gutachten führte aus: Seine Willensschwäche, die durch den Morphiummißbrauch noch gesteigert sei, mache ihn, wie seine Lebensführung beweise, unfähig, seine Angelegenheiten zu besorgen. Er ist wegen Geistesschwäche entmündigt worden. Seit über 30 Jahren hat die pharmazeutische Industrie eine ganze R e i h e anderer Opiumpräparate auf den Markt gebracht. In ihrer Wirkung unterscheiden sie sich mehr dem Grade als der Art nach v o m Morphium. Zu nennen sind: Acedicon, Amnesin, Dicodid, Dilaudid, Digimorval, Eukodal, Eumekon, Genomorphin, Heroin, Holopon, Laudanon, Laudopan, Narkophin, Pantopon, Paramorphan, Pavon, Spasmalgin, Trivalin. Unter ihnen nahm früher das Heroin eine hervorragende Stellung als Suchtmittel ein; es wurde gern intravenös gespritzt. Jetzt ist es praktisch verschwunden; es war in Amerika sehr verbreitet und spielte früher in den Hafenvierteln in Hamburg eine gewisse Rolle. A m meisten wird jetzt das Eukodal benutzt, daneben das Dilaudid und Dicodid. Das Codein und das Dionin, die als Husten-beruhigendes Mittel gern verschrieben werden, haben neben der euphorisierenden aber auch die schmerzstillende Wirkung verloren. b) D a s K o k a i n Das Kokain, der wirksame Bestandteil der Blätter des Kokastrauches, die seit Jahrhunderten von den Eingeborenen Südamerikas gekaut wurden, ist um 1860 von N i e m a n n rein dargestellt worden. U m 1880 kam es nach Europa, wo man es auf Empfehlung von B e n t l e y bei der Entziehung von Morphium verwendete, sehr bald aber sah, daß man den Teufel mit Beelzebub 23 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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ausgetrieben hatte. Wegen seiner anästhesierenden Wirkung fand es Eingang in den Arzneischatz, konnte aber in den meisten Fällen durch das unschädliche Novokain ersetzt werden; es besitzt jetzt nur noch ein kleines Anwendungsgebiet in der Augenheilkunde. Das Kokain wird vorwiegend gespritzt und geschnupft. Während bis zum Ende des ersten Weltkrieges Kokainisten in Deutschland selten waren, stieg ihre Zahl nach dem Kriege erheblich an, namentlich der Schnupfkokainismus nahm stark zu. Unter dem Einfluß der Opiumgesetzgebung war der Verbrauch an Kokain in Deutschland 1937 auf ein Sechstel des Verbrauchs von 1930 zurückgegangen; Kokainsüchtige gehören jetzt zu den Seltenheiten. Wir können uns daher auf kurze Hinweise beschränken 7 ). Wenige Minuten nach dem Genuß des Kokains tritt der ersehnte Rauschzustand mit einem nach außen überströmenden Glücksgefühl, erhöhtem Kraft- und Selbstgefühl ein. Nach etwa einer halben Stunde folgt der Kokainkater mit mancherlei Mißempfindungen. Diese Erscheinungen treten meist erst nach mehrmaligem Kokaingebrauch auf. Bei schweren Räuschen kommt es zu Verwirrtheit, Sinnestäuschungen und wahnhaften Verkennungen der Situation. Nach längerem Mißbrauch können Delirien auftreten, die euphorisch-halluzinatorischen Charakter (vorwiegend kleinste optische Täuschungen) haben können oder mit einem ängstlich paranoiden Syndrom (vorwiegend optisch-akustisch-taktilen Halluzinationen) einhergehen. In schweren Fällen kommt es zum Kokainwahnsinn, zum KoRSAKOW-ähnlichen Bildern und zur Kokaiaparalyse. Irgendwie nennenswerte Entziehungserscheinungen treten nicht auf, so daß von einem Kokainhunger, entsprechend dem Morphiumhunger nicht gesprochen werden kann. Strafrechtlich kann man mit M E G G E N D O R F E R drei Gruppen von Delikten unterscheiden: 1. den unerlaubten Handel mit Kokain; 2. Straftaten, die auf die Beschaffung des Giftes zielen und 3. Delikte, die unter KokainWirkung begangen sind. Zu den letzteren gehören namentlich Gewalttätigkeiten und Sittlichkeitsverbrechen. Der dritten Gruppe ist der Schutz des § 51 StGB zuzubilligen; doch wird man die Frage der actio libera in causa zu erwägen haben, und es wird fast immer die Verurteilung gemäß § 330 a StGB möglich sein. Für die erste Gruppe kommt der § 51 StGB nicht, für die zweite Gruppe nicht ohne weiteres in Betracht; hier wird man die Gesamtpersönlichkeit im Einzelfall zu werten haben. Kokainisten sind ganz überwiegend schwere Psychopathen, meist aus sozial tiefen Schichten (Zuhälter, Dirnen usw.). Wichtig ist in allen Fällen die Unterbringimg in einer entsprechenden Anstalt ; da namentlich Schnupfkokainisten Gesellschaft lieben und andere zum gleichen Mißbrauch verführen, ist rigoroses Durchgreifen geboten. Schwerste Kokainisten können geschäftsunfähig werden. Entmündigung wegen Geistesschwäche ist angebracht. Hinsichtlich der Ehescheidung gilt das für die Morphinisten Gesagte. ') Zur genaueren Orientierung diene J O E L und F R A N K E L , Der Cocainismus, Berlin 1924 und H. W. MAIER, Der Cocainismus, Leipzig 1926.

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H. B., 26 jähriger Apotheker, fiel schon während der Schulzeit durch seine Verlogenheit und seinen Leichtsinn auf. Mit 16 Jahren trat er als Lehrling in die väterliche Apotheke ein, verschwand aber nach einigen Wochen, bis er nach längerer Zeit von der Polizei festgenommen wurde. 1921 war er ein halbes Jahr in einer Apotheke in W., trank dort reichlich, wurde schließlich entlassen. Bei seinem Fortgang fand man 1 bis 2 Gramm Morphium in seiner Tasche. Er beendete dann 1923 seine Lehrzeit unter sehr straffer Führung, besuchte 1923/26 die Universität Göttingen, verlor dort jeden moralischen Halt, raffte sich aber unter dem Einfluß eines Mädchens wieder auf und bestand sein Staatsexamen. In der Folgezeit hatte er zahlreiche Stellungen in verschiedenen Städten; fast überall versagte er gröblich und wurde meist nach wenigen Wochen, oft fristlos entlassen. Sehr bald geriet er an Kokain. In einem Rausch stieg er einmal aus seinem Fenster auf ein Verandadach, redete von Freiheitsberaubung, benahm sich sehr theatralisch, war aber motorisch sicher. Später brach er in eine Apotheke ein, stahl Kokain, beging aber auch ohne Kokain Betrügereien. In der Anstalt Göttingen wurde er für zurechnungsfähig erklärt; später war er in Bethel und in der Anstalt Friedrichsberg (1930). Er war hier, wie auch sonst, hemmungs- und disziplinlos, bar jeden Schamgefühls, roh, unstet, neigte zu Stimmungsschwankungen, erschien amoralisch. Bemerkenswert ist, daß er sich mehrere Male, offenbar im Bausch, große tiefe Schnitte in die Arme und Beine beigebracht hat, die ärztliche Behandlung erforderten. Er wurde auf mein Gutachten hin wegen Geistesschwäche entmündigt.

In neuerer Zeit haben neben den Opiumabkömmlingen als schmerzstillende aber auch suchtbildende Mittel das Dolantin, Polamidon und Cliradon größere Bedeutung erlangt. c) D o l a n t i n , P o l a m i d o n , Cliradon Das Dolantin, das seit Ende der dreißiger Jahre in Gebrauch ist, ist ein vorzügliches schmerzstillendes Mittel. Es galt zunächst als völlig harmlos, ist es aber nicht, sondern gehört zu den suchtbildenden Mitteln. Nach den bisher vorliegenden Erfahrungen wirkt es euphorisierend, man fühlt sich befreit, aufgeräumt, behaglich. Bei größeren Dosen kommt es zu Konzentrationsschwäche, zu ausgesprochener Yerlangsamung des Denkens, in anderen Fällen zu Ideenflucht, Inkohärenz und Verwirrtheitszuständen mit Personenverkennung, deliriösen Störungen und Dämmerzuständen, möglicherweise eine Folge des Atropinanteils am Präparat. Ich habe in den Jahren nach dem Kriege drei Fälle beobachtet, zwei Ärzte und eine Arztfrau. Einer dieser Kranken wirkte bei der Aufnahme stark verlangsamt, so daß zunächst nicht zu entscheiden war, ob es sich nicht um schwere Folgen eines angeblicherlittenen Schädelunfalls handelte. Er verkannte, wie sich nachher herausstellte, seine Sprechstundenhilfe, benötigte für eine intravenöse Injektion eine halbe Stunde, hatte gelegentlich epileptiforme Anfälle. Auch in ethischer Beziehung scheint eine gewisse Depravation einzutreten, das Interesse für die Aufgaben des Lebens, für Beruf und Familie läßt nach. Besondere Entziehungserscheinungen habe ich nicht beobachtet. Alle drei Kranken waren kriminell geworden, alle drei im Bestreben, sich das Mittel zu verschaffen. Die Arztfrau hatte im Laufe von zehn Monaten 625 Rezepte über Dolantin ausgestellt, das sie intravenös zu spritzen pflegte. Ob nach der Entziehung psychische Mängel zurückbleiben, wage ich noch nicht zu entscheiden, da in 23*

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solchen Fällen psychische Auffälligkeiten leicht auf das Gift geschoben werden, die in Wirklichkeit der früheren Persönlichkeit angehören. Noch hesser schmerzbeseitigend als das Dolantin wirkt das Polamidon und ebenso das aus dem Dolantin entwickelte Cliradon. Beide Mittel erzeugen ähnlich wie das Dolantin eine gewisse Euphorie und sind nach meinen Erfahrungen ausgeprägte Suchtmittel, die vom Arzt nur mit aller Vorsicht zu verwenden sind. Die drei hier erwähnten Mittel waren 1955 mit insgesamt rund 35% am Suchtmittelverbrauch beteiligt. Demgegenüber haben Dromoran und Ticarda keine größere Bedeutung gewonnen. Süchtige dieser Gruppe wechseln vielfach das Mittel. Anfangs meinte man, daß nur schon vorher Süchtige auch mit Polamidon usw. süchtig werden könnten. Das hat sich als falsch erwiesen. Die Entziehung von Polamidon und Cliradon macht keine erheblichen Erscheinungen; sie setzen erst nach einigen Tagen ein und dauern länger als etwa beim Morphium, so daß Wohlbefinden erst nach einigen Wochen erreicht wird8). Längerer übermäßiger Gebrauch kann den gesamten körperlichen und psychischen Zustand wesentlich beeinflussen. Unter unseren Patienten befand sich ein Student der Medizin mit seiner Ehefrau, die beide Polamidon in großen Mengen spritzten. Namentlich die Ehefrau kam blaß und abgemagert in eigenartig gleichgültiger Verfassung zu uns und erholte sich in kurzer Zeit so, daß sie kaum wiederzuerkennen war. Eine cliradonsüchtige Arztfrau spritzte im Monat für rund 1000 DM. 1954 kamen die ersten zwei Süchtigen mit Ticarda zur Aufnahme: beide hatten schon vorher andere Mittel genommen. Strafbare Handlungen waren bei Süchtigen dieser Art ziemlich häufig; dabei handelte es sich um Delikte, die denen der Morphinisten glichen; auch die forensische Beurteilung ist ähnlich. d) P h a n o d o r m , O p t a l i d o n Neben diesen schmerzstillenden Mitteln sind als suchtbildend noch zwei weitere Gruppen zu erwähnen: gewisse Schlafmittel einerseits, anregende Mittel andererseits. Unter den Schlafmitteln hat das Phanodorm eine gewisse Bedeutung gewonnen. Strafbare Handlungen kommen freilich kaum einmal dabei vor; doch kann eine etwaige Sucht zivilrechtliche Folgen haben. Phanodorm ist ein Barbitursäurepräparat, als Schlafmittel von vorzüglicher Wirkung. Von manchen Kranken wird es bald nicht nur abends, sondern mehrfach am Tage genommen. Ziel ist dann nicht mehr der Schlaf, sondern der Rausch. Dabei werden die Einzeldosen allmählich immer größer; bis zu 70 Tabletten am Tage hat man beobachtet. Nachdem Rezeptzwang für das Mittel eingeführt ist, werden derartige Übertreibungen kaum noch vorkommen. Bei chronischem Mißbrauch kommt es namentlich auch während der Entziehung, die wegen der Gefahr plötzlichen Versagens des Herzens s ) Doch hat C A B R I E R E aus Ilten über ausgesprochene Abstinenzdelirien berichtet; einer seiner Kranken hatte bis zu 100 Ampullen täglich intravenös gespritzt. D. med. Wschr. 1953, S. 875.

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nicht abrupt erfolgen sollte, zu Delirien und epileptiformen Krämpfen. In einem Falle sah ich ein KoRSAKOW-ähnliehes Bild zurückbleiben. Ein Barbitursäurepräparat ist auch das O p t a l i d o n , ein schmerzstillendes und Beruhigungsmittel, über das in der Literatur bisher kaum berichtet ist. Nach Mitteilungen der Zentrale für Rauschgiftbekämpfimg haben die Prostituierten in Köln, Bochum, Dortmund und Magdeburg das Mittel in größeren Mengen genommen, weil sie danach glänzende Augen bekamen und besonders anziehend wirkten. Ich sah etwa 1941 zwei Ärzte, die es nahmen, der eine in Bier, der andere zusammen mit Morphium und ähnlichen Präparaten. Beide waren kriminell geworden (Vergehen gegen das Opiumgesetz usw.). In beiden Fällen hatte ich den Eindruck einer recht erheblichen moralischen Depravation; beim letzten Fall bestanden auch organische Ausfälle und eine auffallende paranoide Einstellung, die möglicherweise Folge des Optalidonmißbrauchs war. e) D a s P e r v i t i n Da« Pervitin ist demgegenüber ein ausgesprochenes Stimulans. Es war anfangs ohne Rezept käuflich und wurde genommen, um Müdigkeit zu beseitigen. Bei kleinen Dosen verschwinden Müdigkeitserscheinungen, das Schlafbedürfnis fällt fort; zugleich findet eine deutliche Enthemmung statt, die sich in gesteigerter Gesprächigkeit nnd innerer Bewegtheit bis zu leichter Ideenflucht bemerkbar macht. Das Tempo der Auffassung von Gelesenem, des Sprechens und Schreibens ist beschleunigt, die Gefühlsrichtung wird optimistisch, was wieder die Initiative fördert. Das Selbstvertrauen ist erhöht, der Denkverlauf ist jedoch nicht mehr streng logisch, es kommt zu unbegründeter Hypothesenbildung. Bei chronischem Mißbrauch kann es zu Psychosen mit lebhaften Sinnestäuschungen kommen; dabei werden, ähnlich wie bei Kokain, kleinste optische Täuschungen in großer Zahl erlebt. Zugleich ist eine Steigerung des Bewegungsdranges und eine gewisse Unrast zu bemerken. Bisher habe ich zwei derartige Fälle zu begutachten gehabt; beide Male handelte es sich um unbedachte Äußerungen politischer Art. Im ersten Falle handelte es sich um eine 48 Jahre alte Frau, die zur Zeit der inkriminierten Handlung sich in einem leicht manischen Zustande befand, der durch Sekt, Phanodorm und Pervitin verstärkt wurde. Der zweite Fall betraf einen 43 jährigen Arzt, der auch Eukodalmißbrauch getrieben hatte, der bis zu 48 Tabletten Pervitin am Tage genommen haben wollte. Er hatte in jener Zeit das Gefühl, die Haut an den Fingern sei locker und wachse rapide; er habe deshalb nächtelang an seinen Fingern herumgeschnitten und herumgeknibbelt. Auch seine Schwester habe unter Pervitinwirküng sich die Füße blutig geschnitten. In beiden Fällen erfolgte Exkulpierung aus § 51 StGB. Im zweiten Falle war auch die Frage des § 330 a zu prüfen. Das Gericht hat meinem Gutachten entsprechend eine Verurteilung abgelehnt, da zur Zeit der Tat das Mittel in seinen Wirkungen noch zu unbekannt war, als daß Fahrlässigkeit oder Vorsatz angenommen werden konnte. B O N H O F F und L E W E R E N Z haben neuerdings über ernstere Fälle berichtet, darunter auch über einen vom Gericht als Mord angesehenen Fall. Ihrer

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Ansicht, man solle die Vergehen unter PervitinWirkung analog denen unter Alkoholwirkung beurteilen, ist m. E. beizupflichten. Über die zahlenmäßige Entwicklung der Suchten ist schwer ein zuverlässiges Bild zu gewinnen: einmal ist die Dunkelziffer nicht sicher zu schätzen; zum andern hat bei dem Aufkommen neuer Suchtmittel eine schnelle Abwanderung auf sie stattgefunden, solange sie nicht dem Opiumgesetz unterstellt waren. So wird in dem Bericht der Bundesregierung über das Jahr 1953 über die synthetischen Betäubungsmittel folgendes ausgeführt: Setzt man den Verbrauch dieser Mittel im Jahre 1952 mit 100% an, so stieg der Verbrauch im ersten Halbjahr 1953 auf 115% und fiel nach der Unterstellung unter das Opiumgesetz (am 16. 6. 1953) im zweiten Halbjahr auf 54,7%. Nach dem Stande vom 31. 12. 1953 gab es im Bundesgebiet einschließlich West-Berlin 4374 Süchtige. Im Jahre 1953 waren 1362 rauschgiftsüchtige Personen neu gemeldet. Unter den verbrauchten Mitteln stand das Polamidon mit 324 Zugängen an erster Stelle; es folgten Dolantin mit 231, Morphin mit 204, Cliradon mit 131, Eukodal mit 100, Pervitin mit 79 Zugängen. Mit über 20 Zugängen waren weiter beteiligt Dilaudid (73), Dicodid (58), Dromoran (45) und Acedicon (30). Inzwischen haben sich die Zahlen wieder verschoben, das Morphium ist wieder an die erste Stelle getreten. Die Zahl der erfaßten Süchtigen ist 1955 auf 5378 gestiegen. Diese Zahlen sind nicht beunruhigend und Delikte, die unter der Wirkung von Rauschgiften begangen sind, treten gegenüber der sonstigen Kriminalität stark zurück. Dennoch wird es nötig sein, dieses vermeidbare Elend nach Möglichkeit zu bekämpfen; in einigen Ländern des Bundesgebietes geben die erlassenen Freiheitsentziehungsgesetze eine brauchbare Handhabe dazu. f) H a s c h i s c h , M a r i h u a n a Kurz berührt sei schließlich aus den exotischen Rauschgiften Haschisch und das diesem sehr ähnliche Marihuana ( = Maria Johanna) 9 ). Haschisch wird aus dem indischen Hanf gewonnen, Marihuana ist das Harz einer mit diesem fast identischen Urticacee. Es handelt sich um die weibliche Blüte der Pflanze (daher der Mädchenname). In Deutschland spielen diese Rauschgifte zwar so gut wie gar keine Rolle. Dennoch habe ich im Laufe des letzten Jahres zweimal mit einem solchen Falle zu tun gehabt. Beide Male handelte es sich um Gewalttaten. Marihuana wird gegessen, getrunken und geraucht. Es genügen wenige Züge an einer Zigarette, um in den gewünschten Rauschzustand zu kommen. Dieser ist durch illusionäre Verkennungen gekennzeichnet; der Hanf ist kein Neuschöpfer, sondern nur ein Vergrößerer (HABTWICH). Angenehme Ein9 ) Näheres bei R E K O , Magische Gifte, Enke, 3 . Aufl., 1 9 4 9 ; STRINGARIS, Die Haschischsucht, Springer 1 9 3 9 ; D E BOOR, Pharmakopsychologie und Psychopathologie, Springer 1 9 5 6 . Weiter: Robert P. W A L T O N , Marihuana, America's new Drug-problem, 1 9 3 8 ; C. G. GARDIKAS, Haschisch and crime. Zb.Neur. 116, S . 4 1 1 . Knud MOLLER, a. a. O.

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drücke werden verstärkt, unangenehme abgeschwächt. Schwierigkeiten zu überwinden, scheint eine Kleinigkeit, Beschränkungen von Raum und Zeit schwinden. Ein Wort oder eine Gebärde genügt zuweilen, um die Gedanken nacheinander auf eine Menge der verschiedensten Dinge zu richten, und zwar mit einer Raschheit und Klarheit, die wunderbar ist. Dabei hat der Berauschte selbst auch in den wildesten Sinnestäuschungen das Wissen, daß seine Träumereien alle nur Träumereien sind, daß er sich jederzeit von ihnen befreien kann. J e nach dem Bildungsgrade und dem Charakter zeigt sich die Wirkung in Wutanfällen, phantastischen Schwelgereien über Naturwunder oder auch in sexuellen Erregungen. Dem Rausche folgt ein Stadium der Depression und dann Schlaf, aus dem der eine ohne jedes Unbehagen aufwacht, während der andere einen scheußlichen Jammer hat. Bei längerem Mißbrauch treten deutliche psychische Veränderungen auf. Diagnostisch verwertbar ist eine nicht recht verständliche Lachlust und auf körperlichem Gebiet Trockenheit im Halse und Hustenreiz. E i n v o n STBINGABIS s t a m m e n d e r , v o n M0LLER (a. a. O. S. 365) wieder-

gegebener Bericht möge die Art der Täuschungen zeigen: Ein haschischsüchtiger Mann ging ins Kino, um dort im Dunkeln einen angenehmen Rausch zu genießen. Es war ihm unmöglich, dem Film zu folgen, und er schlief fast ein. Plötzlich sah er vor sich eine Kiste, in der er selbst lag, was ihn zugleich verwunderte und erschreckte. Er begann sich zu überlegen, ob er selbst der Tote sei oder derjenige, der im Kino saß. Kiste und Leiche waren von hellgelbem Licht beleuchtet, und die Leiche sah ganz natürlich aus. Er betastete seine Glieder, um sich davon zu überzeugen, daß er lebe. Er gab sich Mühe, dem Film zu folgen, mußte aber wider seinen Willen erneut auf die Kiste sehen. Erst als es im Lokal wieder hell wurde, konnte er sich von diesem Anblick befreien; ruhig wurde er aber erst, als er das Kino verlassen hatte.

Bei den Straftaten, die unter der Wirkung von Haschisch oder Marihuana begangen werden, handelt es sich meist um Gewalttaten, Körperverletzungen, Raubüberfälle, Widerstand, aber auch um sexuelle Delikte und um Diebstahl. Von den in New Orleans begangenen Kapitalverbrechen geschahen 50% unter Marihuanawirkung. Die Meinungen über die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit gehen auseinander. M. E. kann man bei einem Erstdelikt Zurechnungsunfähigkeit für eine nicht verständliche Gewalttat nicht ausschließen. In anderen Fällen wird es nötig sein, die Persönlichkeit stärker zu berücksichtigen. Wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 StGB vorliegen, wird jedoch immer der § 330a StGB anwendbar sein. g) A n d e r e V e r g i f t u n g e n Vergiftungen mit Kohlenoxyd, Quecksilber, Mangan, Benzindämpfen, Blei können zu Entschädigungsansprüchen führen. Die Darstellung dieser Möglichkeiten würde den Rahmen dieses Buches sprengen; ich muß daher darauf verzichten. Bei Bleivergiftungen kann es zu epileptiformen Aus-

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nahmezuständen (Absencen, Schwindel, Dämmerzuständen) kommen. Ich hatte folgenden Fall dieser Art zu begutachten 1 0 ): W. P., 40jähriger Malergeselle, schwer belastet, selbst aber früher gesund. Seit 6 Jahren glücklich verheiratet, 2 gesunde Kinder. Sexuell in der Ehe unauffällig. Seit einigen Jahren Verschlechterung des Ernährungszustandes, gelegentlich kolikartige Schmerzen im Leibe. Zeitweise Schwindel, will sich nachts wiederholt in die Zunge gebissen haben, lief manchmal planlos in der Stadt umher. Dreimal in den letzten Jahren wegen exhibistischer Handlungen bestraft, von denen er angeblich nichts wußte. Nun wurde neuerdings beobachtet, wie er eines Abends auf einem wenig begangenen Wege stand. Er hatte sein Glied in der Hand, rieb daran hin und her und zeigte es vorübergehenden Schulmädchen. Wenn ältere Leute vorbeikamen, schlug er den Mantel übereinander. Eine Frau, die ihn von einem Fenster aus beobachtete, rief ihm zu: „Sie altes Schwein, machen Sie, daß Sie fortkommen!" Da er das nicht beachtete (er war schwerhörig), begoß sie ihn mit Wasser. Er sah sie an, ging dann aber auf die andere Straßenseite, wo er sein Treiben fortsetzte. Ein Polizeibeamter, der ihn festnahm, stellte fest, daß er die Hosen offen hatte, daß er auch die Hand unter dem Mantel in der Gegend des Geschlechtsteils hatte, daß er den letzteren jedoch in der Hose hatte. P. war nüchtern, bestritt alles, gab an, er habe sich wegen Leibschmerzen den Leib gehalten. Die Untersuchung ergab die Zeichen einer Bleivergiftung: Bleisaum und basophile Tüpfelung der roten Blutkörperchen; an der Zunge fand sich eine narbenverdächtige Stelle. P. war ruhig, bescheiden, machte geordnete Angaben, die gut mit denen seiner Frau übereinstimmten. Er schilderte die Schwindelanfälle und Dämmerzustände in glaubwürdiger Weise, so daß ich wegen des eigenartigen Verhaltens bei der Tat mit Wahrscheinlichkeit einen epileptischen Dämmerzustand bei Bleivergiftung annahm und die Voraussetzungen des § 51 StGB alter Fassung bejahte.

11.

Krampfkrankheiten

a) D i e g e n u i n e

Epilepsie

Unter den verschiedenartigen, mit Krämpfen einhergehenden Krankheiten n i m m t die germine Epilepsie oder erbliche Fallsucht eine Sonderstellung ein. Sie war bereits dem Altertum unter d e m N a m e n morbus sacer bekannt. Ihr H a u p t s y m p t o m ist der große KrampfanfaU: Manchmal nach Vorboten auf den verschiedensten Sinnesgebieten (Aura), meist aber ganz unvermittelt stürzen die Kranken wie v o m Blitz getroffen bewußtlos zu Boden. Sie ziehen sich dabei nicht selten ernsthafte Verletzungen zu. Häufig ist dieses Hinfallen v o n einem eigenartig gepreßten Schrei oder Laut, d e m sog. Initialschrei, begleitet. E s tritt dann zunächst eine starke Anspannung der gesamten Muskulatur ein, wobei es meist zu Streckhaltungen k o m m t ; es können aber auch einzelne Glieder langsame steife Beuge- u n d Drehbewegungen ausführen. Dieser sog. tonischen Phase folgt ein klonisches Stadium, das durch kurze, abrupte, heftige Muskelzuckungen v o n primitivem Charakter gekennzeichnet ist. Solche Muskelzuckungen können den R u m p f , die Glieder, die Gesichts-, Kau-, Zungen- und Augenmuskeln befallen. Gerät dabei die Zunge zwischen die Zähne, sind mehr oder weniger tiefe Zungen10

) Zuerst von M E G G E N D O R F E R etwas ausführlicher veröffentlicht in Handbuch Bd. VII, S. 482.

BUMKES

Krampfkrankheiten

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bisse die Folge. Nach einer Gesamtdauer von 1 bis 2 Minuten werden die Zuckungen seltener, mehr schleudernd, und hören dann ganz auf. Während des Krampfes ist die Atmung lange angehalten, die Gesichtsfarbe ist zunächst blaß, wird dann aber blaurot (zyanotisch); mit dem Ende des Anfalls setzt die Atmung vertieft und schnarchend wieder ein, und die Gesichtsfarbe wird wieder normal. Die während des ganzen Krampfzustandes bestehende Bewußtlosigkeit geht in der Regel in einen tiefen Schlaf über, aus dem die Kranken nach einiger Zeit zerschlagen und müde erwachen. Oft aber schiebt sich zwischen Krampfende und Schlaf ein dämmeriger Verwirrtheitszustand mit getrübtem Bewußtsein, starker Inkohärenz des Denkens, Verkennung der Situation, unsicherer, zielloser Motorik ein, der meist nur wenige Minuten, in manchen Fällen aber auch längere Zeit dauert und sich erst allmählich aufhellt. Während des Anfalls geht häufig Urin, selten Kot ab. Die Pupillen sind weit und reaktionslos. Nach dem Anfall lassen sich oft noch abnorme Reflexe (BABINSKIUSW.) nachweisen. Für den Anfall besteht Erinnerungslosigkeit (Amnesie); die Kranken schließen nur aus ihrem Zerschlagensem, daß sie einen Anfall gehabt haben. Manchmal treten die Anfälle in ganzen Serien auf, ohne daß in der Zwischenzeit das Bewußtsein wieder klar wird (sog. status epilepticus); derartige Anfallshäufungen führen manchmal zum Tode. Dem großen Anfall können Stunden oder Tage dauernde Verstimmungen mit gesteigerter Reizbarkeit, Beklemmungsgefühlen, Übelkeit, Schwindel vorausgehen. Die Aura, die nur Sekunden oder wenige Minuten zu dauern braucht, kann sich auf den verschiedensten Gebieten zeigen: der Kranke sieht Funken, Blitze, Farbflecke, Figuren, er sieht die Gegenstände viel größer oder kleiner als sonst, sehr nahe oder weit fort (einer meiner Kranken sah die Sonne in etwa 200 m Entfernung), er hört Brausen, Knallen, Klingen, Läuten, er hat eigenartige Geruchs- oder Geschmacksempfindungen, Schwindelgefühl, aufsteigende Hitze, Herzangst, er macht Kau- oder Schmatzbewegungen, hat Zittern, einzelne Zuckungen usw. 1 ). Nicht immer ist der Anfall voll ausgebildet; er kann sich auf das tonische Stadium und einzelne Zuckungen beschränken, oder es treten, ohne daß es zum Hinfallen kommt, nur Zuckungen in einzelnen Muskelgebieten auf, die, wenn sie sich auf das Gesicht beschränken, wie Grimassen wirken können. Dabei kann das Bewußtsein getrübt oder ganz erloschen sein. Einer meiner Kranken hatte einen Prozeßgegner im Gerichtsgebäude mit einem Stock angegriffen. Er behauptete, er wisse nichts davon, er müsse wohl einen Anfall gehabt haben. In der Hauptverhandlung fragte ich den Geschlagenen nach dem Verhalten des Angeklagten; er berichtete, der Angeklagte hätte vorher Pratzen geschnit1 ) Bei einem meiner Kranken, der an epileptischen Anfällen nach Kohlenoxydvergiftung litt, begannen die Anfälle mit heftigen choreatischen Zuckungen, bei denen er zu fallen drohte; bei seinen Versuchen, sich zu halten, warf er Tisch und Stühle um, so daß er wie ein Hysteriker wirken konnte; auch mich hat er einmal dabei zu Fall gebracht. Es schlössen sich jedoch typische epileptiforme Anfälle an dieses Initialstadium an.

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ten. Ich ließ es ihn vormachen, was dem Zeugen gut gelang, und konnte daraufhin sagen, daß es sich um einen gleichen rudimentären Anfall gehandelt habe, wie ich sie wiederholt beim Angeklagten beobachtet hätte. Exkulpierung war die Folge.

Diese rudimentären Anfälle, die man als petit mal im Gegensatz zu dem vollausgebildeten grand mal bezeichnet, führen hinüber zu den sog. Absencen: Die Kranken halten in ihrer Tätigkeit, im Gespräch unvermittelt für einige Sekunden inne, starren mit verändertem Gesichtsausdruck ins Leere, werden blaß und setzen das Gespräch oder ihre Tätigkeit fort, als ob nichts gewesen wäre. Dabei lassen sie fallen, was sie in der Hand halten, machen auch einige zwecklose Bewegungen, geben einige unartikulierte, lallende Laute von sich. Das Bewußtsein ist während dieser Zeit unterbrochen oder doch tiefgreifend getrübt. Neben diesen für die Diagnose unerläßlichen Symptomen sind forensisch besonders wichtig die abnormen psychischen Erscheinungen: es sind die epileptische Wesensveränderung und Demenz, die Verstimmungen un d die Dämmerzustände. Die Wesensveränderung ist zwar theoretisch von der Demenz zu trennen, in der Praxis läßt sich jedoch die Unterscheidung nicht immer durchführen. Wir können sie daher gemeinsam abhandeln. Schon in den Familien von Epileptikern beobachtet man immer wieder Persönlichkeitstypen von ganz bestimmtem Gepräge: eigenartig schwung- und phantasielose Menschen, die pedantisch genau ihre Pflicht erfüllen und in ihrem kleinen Kreise, man kann sagen, fast hypersozial wirken. Auch die Kranken selbst gehören oft diesem Typ an, dessen Einzelzüge sich im Laufe der Zeit in einer ganz bestimmten Richtung verstärken. Bei einigermaßen ausgeprägter Wesensveränderung sind es schwerfällige, zähflüssige Menschen mit eingeengtem Gesichtskreis, die an einmal gefaßten Gedanken übermäßig haften, nicht davon abzubringen sind, bei denen Auffassung und Denkvorgang verlangsamt ablaufen. Der Epileptiker ist umständlich, weitschweifig, kommt nicht zum Ziel und stellt so an die Geduld des Hörers große Anforderungen. Dabei fehlt ihm der Blick für das Wesentliche; Kleinigkeiten haben für ihn dieselbe Bedeutung wie Wichtiges; ihm fehlt das, was man mit dem Ausdruck „esprit" zu bezeichnen pflegt. Die Stimmung der Epileptiker ist in der Regel leicht euphorisch; er ist mit sich selbst immer zufrieden. Dagegen hat er an anderen viel auszusetzen, bekommt leicht Streit, kann dann unter Umständen zornig und brutal werden. Während er sonst Kleinigkeiten überbewertet, pflegt er seine Anfälle zu bagatellisieren, selbst dann, wenn es sich etwa um Rentenansprüche handelt. Diese Darstellung gibt nur das Wesentliche der epileptischen Persönlichkeit wieder. Andere Züge, wie etwa Bigotterie, die Neigung zu Selbstbeweihräucherung, zu süßlichen Reden usw. sind mehr am Rande zu erwähnen. In schweren Fällen ist auch eine deutliche Abnahme der intellektuellen Funktionen, eine Demenz, nachweisbar. Während es sich hier um einen mehr oder weniger schnell sich verstärkenden Dauerzustand handelt, der in seiner

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Deutlichkeit bis zu einem gewissen Grade von der Zahl der Anfälle abhängt, sind Verstimmungen und Dämmerzustände vorübergehende Zustände. Die Verstimmungen können Stunden bis Wochen dauern und eine recht verschiedene Färbung aufweisen: feierlich ekstatische Gehobenheit, depressive Hemmung, gereizt-explosive Geladenheit. In diesen Zuständen steigern sich die Kranken manchmal wegen irgendeiner Kleinigkeit in maßlose Wut hinein, die durch wahnhafte Vorstellungen noch genährt wird. Es kann dann zu groben Gewalttaten kommen. Aus diesen Stimmungen heraus kommt es vielfach auch zu dranghaftem Fortlaufen (Poriomanie), das sich von dem Fortlaufen der Jugendlichen durch das Fehlen einer verständlichen Motivierung unterscheidet. Solche Zustände bilden auch manchmal den Boden dipsomaner Attacken, die wir bereits im Kapitel über den Alkohol besprochen haben. Epileptiker neigen auch zu pathologischen Rauschzuständen. Die Mehrzahl der Dämmerzustände schließt sich an Anfälle an. Sie können Stunden, Tage und — selten — Wochen dauern. Sie sind meist gekennzeichnet durch traumhafte Benommenheit, mangelhafte oder falsche Orientierung, Verkennung von Personen und Situationen. Bei manchen Kranken treten dazu deliriöse Erscheinungen, oft mit starker Angst oder auch mit ekstatischen Visionen verbunden. So fühlte sich einer meiner Kranken in diesen Zuständen immer als Gott; er wurde eines Tages von einem Auto angefahren, als er es kraft seiner Allgewalt zum Halten bringen wollte. Neben diesen manchmal von schizophrenen Zuständen schwer unterscheidbaren Dämmerzuständen, gibt es, wenn auch selten, besonnene Dämmerzustände, in denen die Kranken äußerlich nicht besonders auffallen, Reisen unternehmen können, in denen sie aber auch unsinnige Geschäfte abschließen und Gewalttaten begehen können. Die genuine Epilepsie hebt sich aus den übrigen Krampfkrankheiten durch ihre Erblichkeit heraus; die Diagnose wird, wenn die Art des Krampf anfalls gesichert ist, was namentlich gegenüber der Hysterie zu geschehen hat, durch den Ausschluß anderer Ursachen gestellt. Darüber hinaus sucht man die Diagnose auch positiv zu sichern. Dazu dient der Körperbau, der bei genuiner Epilepsie überwiegend athletisch oder dysplastisch, selten pyknisch ist, ferner das Lebensalter, in dem die Krankheit beginnt. Anfälle, die vor dem 7. und nach dem 30. Lebensjahr erstmalig auftreten, sind verdächtig auf äußere Ursachen. Wichtig ist natürlich Belastung mit Epilepsie innerhalb der Verwandtschaft, während Schwachsinn nach den Untersuchungen von CONRAD zwar nicht selten in Epileptikerfamilien vorkommt, aber keine ursächliche Bedeutung hat. Schließlich ist der Nachweis des Haftsyndroms ein wichtiger Baustein für die Diagnosenstellung. b) A n d e r e K r a m p f k r a n k h e i t e n Es gibt nun eine ganze Reihe von Schädlichkeiten, die gleichfalls zu Krämpfen führen können. Ich erwähne als Beispiel die Lues, Hirngeschwülste, Enzephalitiden und namentlich Hirnverletzungen. Bei kleinen Kindern

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genügen schon geringere Schädigungen zur Auslösung von Krämpfen. Wir sprechen in allen diesen Fällen gern von symptomatischer Epilepsie. E i ist jedoch keineswegs so, daß zwischen dieser Gruppe und der genuinen Epilepsie eine scharfe Grenze gezogen werden könnte; auch bei ihr spielt die Anlage, mindestens in einer größeren Zahl von Einzelfällen, eine mehr oder weniger bedeutsame Rolle. Wir können die gesamten Krampfkrankheiten, soweit es sich um epileptiforme Krämpfe der oben geschilderten Art handelt, in einer kontinuierlichen Reihe anordnen, an deren einem Ende gar keine Krampfbereitschaft besteht und nur die äußere Ursache für den Anfall verantwortlich ist, während am anderen Ende nur die Anlage den Ausbruch der Krankheit bestimmt. Die extremen Fälle sind dabei die Ausnahmen; in der Mehrzahl der Fälle wirken Anlage und äußere Ursache zusammen, nur daß die eine oder andere überwiegt 2 ). Auch bei der symptomatischen Epilepsie können die oben beschriebenen psychischen Ausnahmezustände auftreten; im allgemeinen pflegen diese Krankheiten nur nicht die bei der genuinen Epilepsie gewöhnliche, fortschreitende Tendenz zu haben; auch ist die Wesensveränderung in der überwiegenden Zahl der Fälle wenig ausgeprägt oder fehlt ganz. Es würde zu weit führen, wollten wir hier alle Möglichkeiten besprechen. Es sei darauf hingewiesen, daß die Anfälle manchmal nicht generalisiert verlaufen, daß sie in einzelnen Fällen in einem bestimmten Gliede anfangen, sich manchmal darauf beschränken oder erst nachträglich allgemein werden (sog. J A C K S O N Anfälle). Manchmal gibt die Röntgenaufnahme nach Füllung der Hirnhöhlen mit Luft wertvolle diagnostische Hinweise. Wichtig ist dafür in neuerer Zeit das Elektenzephalogramm geworden, das ohne erhebliche Inanspruchnahme des Kranken die Bestimmung des kranken oder geschädigten Hirnteils erleichtert. Mit der Epilepsie hat in der Regel nichts zu tun die Pyknolepsie. Bei meist geweckten, lebhaften Kindern, denen man oft eine gewisse nervöse Übererregbarkeit ansieht, kommt es zu Absencen, die 30-, ja 40mal täglich auftreten können, in den Ferien an Zahl meist abnehmen, bei stärkerer Beanspruchung zunehmen. Sie pflegen mit der Pubertät zu schwinden; in manchen Fällen, die später auch mit großen Anfällen einhergehen, handelt es sich um echte Epilepsie. Bei der Narkolepsie, die gleichfalls nur ausnahmsweise mit Epilepsie etwas zu tun hat, treten Schlafanfälle oder „affektiver Tonusverlust" auf: bei allen möglichen Gelegenheiten, in der Schule, beim Essen, mitten im lebhaften Verkehr einer Stadt 3 ) schlafen diese Kranken unentrinnbar ein; in anderen Fällen erschlaffen sie nach Aufregungen bis zum Umsinken. Tetanische und 2 ) Näheres über diese Frage hat LTJXENBTTRGER, gestützt insbesondere auf Arbeiten von CONRAD sehr klar in B U M K E S Handbuch, Erg.-Bd., I . Teil, S . 1 0 1 — 1 1 3 , ausgeführt. 3 ) W. M A I E R hat einen derartigen Fall beschrieben, der von L A N G E in H O C H E I I I , S. 489, zitiert ist.

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spasphophile Anfälle, die gelegentlich mit epileptischen verwechselt werden, haben keine forensische Bedeutung; sie sollen hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Strafrechtlich erfüllt der Dauerzustand der Epilepsie keineswegs immer die Voraussetzungen des § 51 StGB. Auch wenn eine gewisse Wesensveränderung vorhanden ist, haben diese Kranken doch durchaus die Fähigkeit, das Unerlaubte etwa eines Diebstahls einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Nur wenn eine erhebliche Demenz vorhanden ist, wird man sich zur Zuerkennung von Zurechnungsunfähigkeit entschließen. Freilich sind solche Delikte bei Epileptikern wohl nicht gerade sehr häufig. Auch der Krampfanfall, der für die Diagnose von ausschlaggebender Bedeutung ist, ist forensisch ohne größeres Interesse, da die dabei vorhandene totale Bewußtlosigkeit jedes Handeln ausschließt. Weit bedeutsamer sind die epileptischen Verstimmungen und die Dämmerzustände. Sie sind die nicht seltene Ursache von schweren Gewalttaten, von Sittlichkeitsverbrechen, von Brandstiftungen ; Tätlichkeits- und Sittlichkeitsdelikte werden auch von den Kindern Epileptischer häufiger begangen als vom Durchschnitt 4 ). Läßt sich für die Zeit der Tat ein Dämmerzustand nachweisen, so besteht kein Zweifel an der Zurechnungsunfähigkeit. Die Exkulpierung ist in solchen Fällen selbst dann geboten, wenn vorher Absichten geäußert sind, die in der Tat verwirklicht werden, vorausgesetzt natürlich, daß ein Dämmerzustand wirklich vorlag und nicht nur vorgetäuscht wurde. Diese Möglichkeit ist durchaus gegeben, da gewiegte Kriminelle, namentlich wenn sie Anstaltserfahrung haben, mit Dämmerzuständen ganz gut Bescheid wissen und namentlich die Bedeutung der Amnesie kennen. Im ganzen aber ist das Bestreben, geisteskrank zu erscheinen, viel geringer geworden, seitdem die Kriminellen damit rechnen müssen, auf unbestimmte Zeit in einer Anstalt untergebracht zu werden. Sie ziehen die befristete Strafe vor. Wollenberg hat in der zweiten Auflage des HocHEschen Handbuches einen Fall von Moeli wiedergegeben, den auch Joh. Lange anführt und der hier Platz finden möge: „Ein 29 jähriger Epileptiker bezichtigt seine Ehefrau grundlos der Untreue, steckt seine Papiere zu sich und begibt sich zu der getrennt von ihm lebenden Frau, um sie unter der Androhung, Feuer anzulegen, zur Rückkehr zu bewegen. Die Frau weigert sich; er kehrt in die Wohnung zurück, zündet dort (soweit ihm erinnerlich) die Lampe an und liest in einem Buche. Von da an erlischt die Erinnerung. K. wurde bewußtlos auf dem brennenden Boden gefunden. Er hatte dort der früher geäußerten Absicht gemäß Feuer angelegt und ein Abbrennen des Dachstuhls verursacht."

Ein eigener Fall möge hier angeschlossen werden: A. B., 26 jähriger Musiker, war während des ersten Weltkrieges hirnverletzt worden und litt seit mehreren Jahren an Anfällen, die schon in früheren Jahren, auch schon im Krankenhaus beobachtet waren. Drei Jahre vor der Tat war er in einem Ausnahmezustande aus dem Fenster des dritten Stockes gesprungen und hatte sich dabei eine Zerreißung des Mastdarmes zugezogen. Am Nachmittag vor der Tat 4

) Ltjxenburqer, 1. c., S. 111.

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hatte er einem Barbier gesagt, er wolle seine Frau erwürgen. Diese gab nach der Tat an, ihr Mann sei geistig nicht normal; er habe sie öfters mißhandelt, so daß sie auf Scheidung geklagt habe; sie habe die Klage aber wieder zurückgezogen. Bei der Tat, die darin bestand, daß er seine Frau nachts aus dem gleichen Fenster stürzte, aus dem er selbst früher gesprungen war, sei er nicht Herr seiner Sinne gewesen. Sie habe in der fraglichen Nacht zuerst eineinhalb Stunden auf seiner Bettkante gesessen, habe sich dann zu ihm gelegt, sei aber dann auf sein Geheiß in ihr Bett gegangen. Er habe gestöhnt, mit den Zähnen geknirscht, sein Gesicht sei ganz rot gewesen, er habe abwechselnd die Zimmerdecke und sie angestiert. Als sie ihn habe beruhigen wollen, habe er sie zu Boden geworfen, sie gewürgt, so daß sie zum Fenster geflüchtet sei und um Hilfe gerufen habe. Sie habe sich — mit den Beinen nach außen — am Fensterkreuz festgehalten. Da habe er ihr die Hände gelöst, so daß sie hinabgestürzt sei. Er wurde sofort festgenommen, konnte aber nicht vernommen werden, da er wirre Reden führte, betete und die Beamten küssen wollte. Während der Beobachtungszeit wurde einmal nachts ein Anfall notiert; am folgenden Morgen war B. nach längerem Schlaf etwas benommen, zog plötzlich das Hemd aus, lief fluchtartig aus dem Bett, stellte sich in die Tür zum Nebenraum, rieb seinen Körper mit den Händen, reagierte nicht auf Anruf. Als der Pfleger ihn ins Bett zurückbringen wollte, stieß er mit den Füßen nach ihm, klatschte in die Hände, ließ sich aber nach einigen Minuten zurückbringen und schlief dann gleich fest ein. Er gab an, er habe schon am Tage vor der Tat Angstgefühle und Sausen im Kopf gehabt, es sei ihm gewesen, als werde er im Kino photographiert. Er war von einer etwas aufdringlichen Höflichkeit und Freundlichkeit. An die Vorgänge bei der Tat hatte er keine Erinnerung. Er ist exkulpiert worden.

Die epileptischen Verstimmungen sind zweifellos krankhafte Zustände. Ihre forensische Beurteilung hängt jedoch von dem Grad der Verstimmung und von der Art der Tat ab. Handelt es sich um einen Menschen, der auch ohne Verstimmung stiehlt, so wird man ihn nicht wegen eines in einer Verstimmung begangenen Diebstahls für zurechnungsunfähig erklären. Es wird auch in diesen Fällen, wie so oft, auf die Gesamtlage ankommen. Ich neige dazu, in solchen Fällen lieber einmal im Zweifel zu exkulpieren oder wenigstens die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 zu bejahen. Zivilrechtlich spielt die Epilepsie eine recht untergeordnete Rolle. Geschäftsunfähigkeit gemäß § 104, 2 BGB besteht nur ausnahmsweise, nämlich bei schwer wesensveränderten, dementen Kranken; häufiger kommt wohl § 105 Abs. 2 BGB in Betracht. Auch Entmündigung wegen Geistesschwäche ist selten. Unter über 60 Fällen habe ich nur einen deswegen zu begutachten gehabt. Pflegschaft ist häufiger angebracht. Die Ehe kann nach § 32 EG unter Umständen aufgehoben werden; das wird jedoch nur möglich sein, wenn einer der Ehepartner selbst an Epilepsie erkrankt. Über den Erbgang der Epilepsie wissen wir bisher nichts Genaueres. Das Familienbild legt nach LUXEMBURGER die Annahme der Rezessivität nahe; bewiesen ist sie jedoch in keiner Weise. Ist einer der Eltern krank, so kann man bei den Kindern in 5 bis 8 % mit Epilepsie rechnen, für die Enkel sind bisher Zahlen nicht bekannt; ihre Erkrankungswahrscheinlichkeit scheint nicht erheblich über der der Durchschnittsbevölkerung zu liegen, die auf etwa 0,3% anzusetzen ist. Heiratet also jemand das Kind eines genuinen Epileptikers, so wird er das Risiko einer späteren Erkrankung

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des Partners auf sich nehmen müssen. Dieses Risiko ist noch geringer als die oben genannte Erkrankungswahrscheinlichkeit, da die Mehrzahl der Erkrankungen schon im jugendlichen Alter vor der Eheschließung manifest wird. Scheidung ist möglich sowohl nach § 43 wie nach § 44 EG. Scheidung gemäß § 45 EG wird seltener möglich sein, da die Epileptiker meist einen ausgeprägten Familiensinn haben. Sind sie verheiratet, so haben sie meist auch keine geistig anspruchsvollen Ehepartner, so daß die Anforderungen an die geistige Gemeinschaft nicht allzu groß sind. Die Scheidung sollte jedoch nach Möglichkeit erleichtert werden; in der Praxis sind solche Scheidungen sehr selten. Als Zeugen sind Epileptiker nicht sehr brauchbar; wegen ihres Haftens fassen sie nur Teile von Vorgängen auf und übersehen dabei wesentliche Dinge, während sie andere ohne böse Absicht verfälschen.

12. Die Gruppe der Schizophrenien1) Wenn wir von „der" Schizophrenie sprechen, so muß man sich klar darüber sein, daß das aus Gründen sprachlicher Vereinfachung geschieht. Wissenschaftlich gesehen handelt es sich um eine Gruppe von Krankheiten, deren enge Verwandtschaft sich aus ihrer Erblichkeit und ihrem Verlaufe erweist; es ist jedoch möglich, ja nicht unwahrscheinlich, daß sich der weiteren Forschung voneinander gesonderte klinische Krankheitsbilder erschließen werden, die wir mit den jetzigen Methoden noch nicht voneinander trennen können. Die Schizophrenie ist die bei weitem häufigste Geisteskrankheit; man wird, wenn man auch die vielfach nicht erkannten leichten Formen mit einbezieht, rechnen können, daß etwa 0,5 bis 1,0% d e r Bevölkerung erkrankt, soweit sie das Gefährdungsalter erreicht. Schon daraus ergibt sich ihre forensische Bedeutung, die durch die Erfahrung bestätigt wird: unter 450 bis etwa 1945 von mir begutachteten Straffällen, stehen sie mit 54 an zweiter Steile; unter 403 aus § 42b und §42c StGB Untergebrachten, über die CBEUTZ berichtet hat, nehmen sie mit 57 gleichfalls den zweiten Platz ein. Aus diesen Zahlen lassen sich jedoch Schlüsse auf besondere kriminelle Neigungen Schizophrener nicht ziehen; hinsichtlich der Deliktsformen stehen die Vergehen gegen Leib und Leben sowie Brandstiftungen im Vordergrunde. Dabei fallen die Gewalttätigkeiten durch Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit und Unheimlichkeit auf2). Zunächst ist festzustellen, daß es sich bei der Schizophrenie um eine Krankheit oder um eine Gruppe genetisch und verlaufsmäßig verwandter Krankheiten handelt. Das heißt: in das Dasein eines bestimmten Menschen Schizophrenie ist synonym mit dem früher gebräuchlichen Ausdruck „Dementia praecox". 2)

Näheres bei WANNER, Mo.Krim. 87, 1954, S. 1 und BBACK-KLOTZHANDLER,

Mschr. Psychiatr. 128, 1954, S. 129.

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tritt etwas Neues, bisher nicht Vorhandenes. Manche Autoren glauben, daß es zwischen Persönlichkeiten bestimmter Eigenart und Krankheit keine scharfe Grenze gibt; demgegenüber bin ich mit Kurt SCHNEIDER3) der Meinung, daß es hier fließende Grenzen, wie sie etwa beim Schwachsinn oder bei dem noch zu besprechenden manisch-depressiven Irresein existieren, nicht gibt. Dafür spricht unter anderem, daß in nicht geringer Zahl Menschen von der Erkrankung befallen werden, die bis dahin sogenannte schizoide Züge kaum gezeigt haben, bei denen also Gesundheit und Krankheit schroff nebeneinander stehen. Zuzugeben ist freilich, daß es oft schwer ist, den Zeitpunkt des Beginns der Erkrankung festzustellen; diese Feststellung scheitert aber im wesentlichen an der Unmöglichkeit, genaue Angaben über das Leben und das Verhalten des Kranken zu erhalten. Die Forschungen der letzten Jahrzehnte, insbesondere die von R Ü D I N und seinen Schülern, unter denen namentlich LUXENBURGER hervorragt, haben über jeden Zweifel bewiesen, daß die Schizophrenie eine Erbkrankheit ist. Über den speziellen Erbgang wissen wir noch nichts Sicheres. Das liegt daran, daß die schizophrene Psychose nach heutiger Auffassung selbst nichts Primäres ist, daß sie vielmehr Ausdruck einer zugrunde liegenden körperlichen Störung, einer sogenannten Somatose ist, über die wir im einzelnen noch zu wenig wissen. Die Vermutung, daß dem so sei, bestand schon seit langer Zeit; die Forschungen der letzten etwa 30 Jahre, die vornehmlich an die Namen GJESSING, GREVING, J A H N und K. F. SCHEID geknüpft sind, haben dieser Vermutung Wahrscheinlichkeitswert gegeben4). Ehe aber völlige Klärung der zur Zeit noch hypothetischen Zusammenhänge erreicht ist, läßt sich auch eine einigermaßen sichere Aussage über den Erbgang nicht machen. Einstweilen müssen wir uns damit begnügen, daß an beträchtlichem Material, das auf das sorgfältigste bearbeitet ist, gewisse Zahlen herausgefunden sind, die hier wegen ihrer Bedeutung für die Eheaufhebung kurz angeführt seien: Erbgleiche Zwillinge verhalten sich in rund 70% der Fälle der Schizophrenie gegenüber konkordant, das heißt, in 70% der Fälle erkranken beide Zwillinge. Unter den Geschwistern Schizophrener, die von phänotypisch gesunden Eltern abstammen, finden sich etwa 7,5% Schizophrene; ist ein Elternteil schizophren, so erkranken 16,4% der Kinder, sind beide Eltern schizophren, so ist in 63,4% mit schizophrener Erkrankung der Kinder zu rechnen. Diese Zahlen sinken im weiteren Umkreise der Blutsverwandtschaft schnell ab. Ein Schizophrener mit einem gesunden Ehepartner kann mit 3,0% schizophrener Enkel, 1,8% schizophrener Nichten und Neffen rechnen. Zu diesen Zahlen kommt freilich noch eine beträchtliche Zahl schizoider Psychopathen: 32,6% bei den Kindern, 13,8% bei den Enkeln, 5,1% bei den Nichten und Neffen. Der Umstand, daß die Konkordanz bei erbgleichen Zwillingen nur etwa 70% beträgt, und daß bei schizophrener Erkrankung beider Eltern nur 3) 4)

Ebenso LUXEMBURGER in BUMKES Handbuch, Erg.-Bd., I. Teil, S. 74. Die Ansichten über diese Frage gehen freilich noch sehr auseinander.

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63,4% der Rinder schizophren werden, beweist, daß die Anlage zur Krankheit sich nicht regelmäßig durchsetzt, daß sie Manifestationsschwankungen unterliegt, daß fördernde und hemmende Umweltfaktoren für den Ausbruch der Krankheit mitbestimmend sind. Auf sie einzugehen, würde hier zu weit führen 6 ). Verwandtschaftliche Beziehungen der Erkrankungen im schizophrenen Erbkreis legt auch der Verlauf nahe. Es ist das bleibende Verdienst des bedeutenden Psychiaters Emil K r a e p e l i n , in zäher klinischer Arbeit den Verlauf zahlreicher, unter verschiedenen Namen laufenden Krankheitsbilder untersucht und ihre Zusammengehörigkeit erkannt zu haben. Er faßte sie unter der Bezeichnung „Dementia praecox" zusammen, die später auf Vorschlag Eugen B l e u l e r s , der sich gleichfalls große Verdienste auf diesem Gebiete erworben hat, durch die praktischere Bezeichnung „Schizophrenie" ersetzt wurde. Bei allen Unterschieden des Verlaufs im einzelnen ist jedoch überall die gleiche Grundtendenz zu erkennen. Wenn nunmehr die schizophrenen Krankheitsbilder dargestellt werden sollen, so erscheint es mir zum leichteren Verständnis zweckmäßig, wenn zunächst eine Form besprochen wird, bei der der Verlauf im Vordergrunde steht. Wir bezeichnen diese symptomarme Form als Dementia simplex. Ein Beispiel möge sie veranschaulichen. Eines Abends kam in meine Wohnung ein älterer, etwa 55 jähriger Herr mit ausgefransten Hosen, fleckigem Anzug, ungepflegtem, struppigem Vollbart und eckigen, eigentümlich gebundenen Bewegungen, der sich mit modulationsarmer Stimme als Dr. jur. N. vorstellte und den Wunsch äußerte, von Prof. W. und mir ein Gutachten zum Zwecke der Wiederbemündigung zu erhalten. Kurze Zeit danach erhielten wir vom Gericht die Akten mit der gleichen Aufforderung. Die genaue Untersuchung ergab im wesentlichen Folgendes: Dr. N. stammte aus einer wohlhabenden Familie, in der gröbere Auffälligkeiten nicht nachweisbar waren. Er hatte das Gymnasium besucht, hatte rechtzeitig das Abitur gemacht, hatte Jura studiert, das Referendarexamen mit durchaus befriedigendem Erfolge, das Assessorexamen mit einigen Schwierigkeiten, aber rechtzeitig bestanden. Er hatte sich dann als Rechtsanwalt niedergelassen, hatte nach wenigen Jahren diese Tätigkeit jedoch aufgeben müssen, nachdem besondere, uns nicht bekannt gewordene Vorkommnisse die Anwaltkammer zum Einschreiten gezwungen hatte. Er hatte dann von den Zinsen seines Vermögens gelebt, war aber durch mancherlei Extravaganzen aufgefallen, so daß eine Reihe namhafter Ärzte seinetwegen herangezogen wurde. Diese stellten verschiedene Diagnosen wie Schwachsinn, moral insanity, Neurasthenie, Psychopathie und ähnliches. Er hatte sich wieder einige Jahre als kaufmännischer Angestellter betätigt, zunächst mit leidlichem Erfolg, hatte dann aber wieder versagt, hatte auch diesen Beruf wieder aufgeben müssen und hatte nach längerer Pause angefangen, sich als Kontrolleur beim Beladen und Entladen von Schiffen (sog. Tallymann) zu betätigen. Aber bald weigerten sich die Schauerleute, unter ihm zu arbeiten, er mußte auch diese Tätigkeit einstellen und wurde nun in einer Hamburger Großreederei, mit deren Leiter er seit seiner Schulzeit bekannt war, aus karitativen Gründen mit primitiven Abschreibarbeiten beschäftigt. Inzwischen war von Raecke in Kiel die Diagnose Schizophrenie gestellt worden, und er war entmündigt worden. 5

) Näheres darüber bei Ltjxenbtjrger, 1. c., S. 74ff. B l e u l e r (Lehrbuch S. 373) führt etwas andere Zahlen an, die aber nicht wesentlich abweichen. 24 L a u gel ild d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Als er zu uns kam, war er ein verschrobener Mensch, der sich körperlich verwahrlosen ließ und zu merkwürdig bizarrer Lebensführung neigte, affektiv weitgehend verödet. Er bezeichnete seine Handlungsweisen selbst als krankhaft und verkehrt, was ihn aber nicht hinderte, trotzdem verkehrt zu handeln. Sein Lebensinhalt bestand im Querulieren gegen seine alte Mutter, gegen den Vormund, gegen die Entmündigung. Später wurde er schließlich anstaltspflegebedürftig; die Entmündigung wegen Geistesschwäche mußte in eine solche wegen Geisteskrankheit umgewandelt werden.

An diesem Beispie] ist zu erkennen der durchaus normale Anstieg der Lebenskurve (Abitur, Referendarexamen); es folgt eine Zeit, in der der Aufstieg nicht mehr so selbstverständlich verläuft (Assessorexamen, Anwaltstäfcigkeit), wo die Kurve schon umbiegt; dann aber knickt die Lebenslinie vorzeitig nach unten ab; und es erfolgt nun ein etappenweises Abgleiten über sozial immer untergeordnetere berufliche Tätigkeiten bis zum Ende in einer Anstalt. Das Wesentliche daran ist der vorzeitige Knick in der Lebenskurve und das soziale Abgleiten. Der Knick, dem eine Persönlichkeitsveränderung zugrunde liegt, kann theoretisch während des ganzen Lebens einsetzen: praktisch liegt er gehäuft in der Pubertäts- bzw. Nachpubertätszeit, um dann allmählich an Häufigkeit abzunehmen. In mehr als der Hälfte der Fälle liegt er vor dem 25. Lebensjahr. Er kann sich akut bemerkbar machen, er kann sich schleichend entwickeln, so daß man zunächst kaum etwas davon merkt. Auch das Abgleiten verläuft recht verschieden: in schweren Fällen führt es in einem Zuge mehr oder weniger schnell zu der noch zu besprechenden schizophrenen Verblödung; in anderen Fällen kommt es zu vorübergehenden Stillständen; die Erkrankung verläuft dann, wie wir sagen, in Schüben. In manchen Fällen kommt es zu einer dauernden Stabilisierung der Persönlichkeit auf einem tieferen Niveau. Diese Niveausenkung kann so geringfügig sein, daß sie berullich keine Konsequenzen nach sich zieht, daß also der gleiche Beruf weiter ausgeübt werden kann. In schätzungsweise 10 bis 20% der Fälle läßt sich nach Ablauf des akuten Schubs keine Persönlichkeitsveränderung nachweisen. In den Fällen, in denen der Knick so frühzeitig eintritt, daß die Berufsausbildung noch nicht abgeschlossen ist, sagt man vielfach, der Betroffene habe später nicht gehalten, was er in seiner Jugend versprochen habe. Manchmal wird ein „Nervenzusammenbruch" für das Versagen angeschuldigt; manchmal sind es neurasthenische Beschwerden, die sich zeitweise bemerkbar machen; — in Wirklichkeit handelt es sich um freilich schwer zu diagnostizierende schizophrene Schübe. In der großen Mehrzahl der Fälle aber kommt es zu deutlichen Veränderungen der Persönlichkeit, zu einer affektiven Verödung und zu mehr oder weniger starkem Zerfall des Denkens. Manche dieser Kranken sind unter den Landstreichern zu finden; die schweren Fälle aber füllen die Anstalten, deren Krankenbestand zu etwa 40% aus Schizophrenen besteht; und es gehört zu den erschütterndsten Bildern, die ich kenne, wenn man derartige Ruinen in größerer Zahl zusammen sieht. Dieser Verlauf, den ich absichtlich zunächst ohne jedes störende Beiwerk geschildert habe, ist nun in der Regel kompliziert durch eigenartige psychi-

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sehe Störungen der verschiedensten Art. Sie sollen hier nur kurz besprochen werden; um ihrer Vielfalt gerecht zu werden, bedarf es einer umfangreicheren Darstellung 6 ). Zunächst sind Trugwahrnehmungen sehr häufig, am häufigsten akustische, aber auch solche auf dem Gebiete des Geschmacks, des Geruchs, des Gemeingefühls, seltener optische. Unter den akustischen Trugwahrnehmungen stehen voran die sogenannten „Stimmen". Die Kranken hören Worte, Sätze, oft beschimpfenden Inhalts; manchmal sind es Stimmen von Bekannten, manchmal von Fremden, immer aber haben sie Leibhaftigkeitscharakter, und die Kranken sind von ihrer Realität fest überzeugt. Die Stimmen kommen von draußen, aus dem Magen, aus der Wand, aus dem Kopfe selbst; das ändert nichts an ihrem Erlebnischarakter. Manchmal werden den Kranken ihre eigenen Gedanken nachgesprochen (Gedankenecho) oder vorgesprochen (Gedankenlautwerden); nicht selten erscheinen ihnen die Stimmen „gemacht", aufgezwungen, ein typisch schizophrenes Erlebnis. Neben diesen echten Halluzinationen kommen sinnlich besonders lebhafte Vorstellungsinhalte vor, die meist irgendwie im Zusammenhang mit den Gedanken der Kranken stehen (Pseudohalluzinationen). Sehr häufig und eindrucksvoll sind auch die Täuschungen auf dem Gebiete der Gemeingefühle: die Kranken fühlen sich gestochen, gebrannt, abgesägt, aufgebläht; es wird an ihren Geschlechtsteilen herumgemacht, Nacht für Nacht werden sie vergewaltigt, die Speisen gehen direkt vom Mund zum After, das Herz leuchtet auf, der Boden hebt und senkt sich, die Kranken fliegen, fühlen sich federleicht u. dgl. Primitiver und weniger abwechslungsreich sind die Geschmacks- und Geruchstäuschungen; es riecht nach Gas, nach Kohlendunst, die Speisen schmecken eigenartig, Kohl schmeckt wie Honig u. dgl. Auf optischem Gebiete überwiegen Wahrnehmungsanomalien: Gesichter werden verzerrt, zu schmal, zu breit gesehen, die Umgebung scheint Grimassen zu schneiden — aber auch komplexere Täuschungen werden erlebt. So schildert ein Schizophrener 7 ): „Einmal hatte ich einige Tage den Besuch einer hübschen jungen Dame. Dieselbe machte einen gewissen Eindruck auf mich . . . Ein paar Tage später lag ich nachts in meinem Bette . . . da sah ich zu meiner größten Überraschung rechts neben mir den Kopf des betreffenden Mädchens aus dem Bett herausragen, wie wenn es neben mir liegen würde. Es war magisch verklärt, von entzückender Schönheit, ätherisch durchsichtig und in dem fast dunklen Zimmer — auf der Straße brannte in einiger Entfernung eine elektrische Bogenlampe — sanft leuchtend."

Die Kranken sind von diesen Erlebnissen meist stark beeindruckt, namentlich im Beginn der Psychose; später verlieren die Täuschungen an Affektwert, sie werden ruhiger hingenommen. Doch geben sie in manchen 6 ) Grundlegend ist BLEULER, Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien, Leipzig 1911; weiter sei auf die verschiedenen Lehrbücher von M. B L E U L E E , E W A L D

u n d KOLLE v e r w i e s e n . 7

) JASPERS, Allgemeine Psychopathologie 4. Aufl., S. 62.

24»

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Fällen auch in späteren Stadien noch zu lebhaftem Schimpfen Anlaß und sind die Ursachen von Gewalttaten, namentlich wenn die Stimmen irgendwelche Befehle erteilen. Bei längerem Bestehen werden sie fast stets wahnhaft verarbeitet; es wird nach dem Urheber geforscht und den Mitteln, durch die der Kranke sich geplagt fühlt. Die Erklärungen hängen ab von den technischen Kenntnissen des Kranken: von der Hexe und dem Zauberer geht der Weg über Magnetismus und Elektrizität zu Röntgenstrahlen und Radio, zu Gedankenlesen und magischen Einwirkungen, Telepathie u. dgl. Man bezeichnet diese Art von Wahnideen als Erklärungswahn. Diesem sekundären Wahn gegenüber steht ein primäres Wahnerleben, das im Beginn der Erkrankung häufig ist. Aus einer eigenartigen, mit Worten kaum wiederzugebenden gemütlichen Verfassung, der sog. Wahnstimmung heraus, in der das Gefühl des Unheimlichen, des Verändertseins von Persönlichkeit und Umwelt und eine unbestimmte ratlose Ängstlichkeit vorherrschen, kommt es zu wahnhaften Bedeutungs- und Beziehungserlebnissen8). Harmlose Vorgänge haben eine ganz besondere Bedeutung: drei Kohlenstücke, die ein Wagen zufällig vor dem Hause einer Kranken verloren hat, bedeuten, daß ihr Mann um drei Uhr nachts von einer Nebenbuhlerin erwartet wird 9 ). Ein Kranker sieht einen Mann auf der Straße seinen H u t abnehmen; das bedeutet, daß seine Braut einen Unglücksfall erlitten hat. Die Kranken beziehen alles auf sich: was in der Zeitung steht, ist auf sie gemünzt; zwei Männer, die sich auf der Straße unterhalten, machen Bemerkungen über sie; wenn jemand sich räuspert, will er andere auf sie aufmerksam machen usw. Manchmal bleibt es bei der Wahnstimmung, manchmal treten auch Beziehungsideen ohne vorhergehende Wahnstimmung auf, immer aber haben diese Erlebnisse den Charakter absoluter Gewißheit. Häufig sind es kosmische Erlebnisse, wie Weltuntergang und andere religiös gefärbte oder sexuelle Erlebnisse, die in der akuten Phase hervortreten. Dazu kommen Störungen des Denkens, die in ihren ausgeprägten Formen als Zerfahrenheit bezeichnet werden. Beziehungslose Gedanken und Gedankenbruchstücke werden zusammengebracht, manche fortgelassen, so daß die Gedanken von einem zum andern zu springen scheinen. Dabei kann es sein, daß die Kranken sich über alltägliche Vorkommnisse noch leidlich verständlich äußern können, so daß sie nach außen hin bei kürzeren Unterhaltungen nicht besonders aufzufallen brauchen; bei näherer Prüfung findet man Andeutungen dieser Denkstörung in fast allen Fällen. Ein Beispiel nach einer phonographischen Aufnahme von B U M K E möge einen ausgeprägten Fall von schwerem Denkzerfall zeigen10). 8 ) J A S P E R S nennt sie Wahnwahrnehmungen, weil die Bedeutung unmittelbar erlebt wird. 9 ) Aus K L O O S , Grundriß der Psychiatrie und Neurologie, 1 9 4 4 . 10 ) J O H . L A N G E in H O C H E I I I , S. 498; weitere Beispiele auf S. 285.

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„Weshalb hat man Sie hierhergebracht?" „Herr Geheimrat, das liegt an dem Parkettfußboden; wenn man richtig zusieht, da ist da Eensterkitt drin. Das hat die Erkältung mitgebracht, und seit der Zeit, daß ich das Schuhzeug untersuche, kriege ich die Spritze." „Sind Sie denn krank ?" „Ich bin nicht krank; nun, ich glaube auch nicht, daß die anderen krank sind. Es handelt sich bloß um die ganze Umkrempelei von der Anstalt, mit der Porzellanfabrik, die Teller, die schon vor Christi Geburt gebraucht wurden. Damit, daß jeder, der eben in der Welt ist, der soll sich als Ehrenbürger ausweisen, und wenn er das nicht kann, so kippt er mit dem Kopf um."

Vielfach kommt es dabei zu den Erlebnissen des Oedankenentzugs, bei dem aus vermeintlich fremden Einflüssen heraus die Gedanken abreißen, und zu den gemachten Gedanken, wobei die Gedanken als von fremder Gewalt aufgedrängt empfunden werden. Bei derartigen Denkstörungen, die sich bis zum Wortsalat steigern können, nimmt es nicht wunder, daß auch in der Sprache und in der Schrift mancherlei Störungen auftreten: manirierter, geschraubter, wie auf Stelzen gehender Stil, eigenartige Redewendungen, Wortneubildungen, mit denen die Kranken ihre Erlebnisse wiederzugeben versuchen, ganze Geheimsprachen sind die Folge. Dazu sind stereotype Redewendungen häufig, und es kann zum sogenannten Verbigerieren kommen, d. h. zur ständigen Wiederholung einzelner Worte oder Satzbruchstücke. Auch die Schrift kann in Anordnung und in der Form einzelner Buchstaben, in Unterstreichungen und anderen Zeichen Hinweise auf die Erkrankung geben. In der Mehrzahl der Fälle ist jedoch die Schrift nicht besonders auffällig; ja, es können sogar zerfahrene Kranke inhaltlich und formal unauffällige Briefe schreiben. Starken Veränderungen unterliegen auch die Affektivität und das Handeln. Zu Beginn der Erkrankung sind qualitativ neue Gefühle und Stimmungen häufig: Gefühle des Grauens, der Verödung, der Vereinsamung, aber auch Gefühle der Begnadung, ekstatische Glücksgefühle u. dgl. treten auf, die sich mit Worten oft schwer wiedergeben lassen. Im weiteren Verlauf aber kommt es meist zu einer mehr oder weniger starken Verödimg des Gefühlslebens. Die affektiven Beziehungen zur Umwelt lockern sich allmählich, Eltern und nahe Angehörige werden den Kranken gleichgültig, Ereignisse, die sie sonst in Aufregimg versetzt hätten, lassen sie kalt, innerlich imbeteiligt. Dabei kann diese Gleichgültigkeit verschiedene Färbungen annehmen; sie kann einmal als „läppisch-leere, bizarre und heitere Wurstigkeit", ein anderes Mal als hochmütig-blasierte Unberührbarkeit oder als einfache Stumpfheit erscheinen. Kennzeichnender noch ist die Ambivalenz der Gefühlsströmungen : derselbe Arzt, der als Verfolger glühend gehaßt und bedroht wird, wird freundlicher Unterhaltung gewürdigt; die „hochgeborene Fürstin" scheut sich nicht, einfache Hausarbeit zu machen, demselben Menschen kann glühender Haß und glühende Liebe gehören. Diese Veränderungen wirken sich schließlich auch im Handeln aus. Oft zeichnen sich die späteren Schizophrenen schon in ihrer präpsychotischen

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gesunden Zeit dadurch aus, daß sie sich selbst genug sind. Sie leben ein Leben für sich, meiden Verkehr oder suchen ihn wenigstens nicht, verschließen ihre Erlebnisse in sich, haben aber hinter der Fassade der Unberührbarkeit ein reiches Innenleben. Man nennt dieses „Auf-sich-selbstbezogen-sein" Autismus. Dieser Autismus ist nun in krankhaft übertriebener Form ein häufiges Symptom bei Schizophrenen, namentlich bei der sogenannten katatonen Form. Die Kranken sperren sich bewußt von allen äußeren Eindrücken ab, sie kapseln sich ein, legen sich ins Bett, liegen dort fast bewegungslos und scheinen sich um nichts zu kümmern (Stupor), um dann plötzlich und unerwartet aufzustehen, einem anderen Kranken eine Ohrfeige zu geben und sich wieder hinzulegen. Dabei machen sich vielfach kataleptische Erscheinungen bemerkbar: die Kranken halten eine unbequeme Lage, ohne Ermüdungserscheinungen zu zeigen, lange bei, liegen z. B. mit abgehobenem Kopf im Bett. Dem katatonen Stupor gegenüber stehen die katatonen Erregungszustände, die manchmal lebensbedrohliche Heftigkeit annehmen. Auch hier stehen manchmal einander widerstrebende Erscheinungen dicht nebeneinander: derselbe Kranke, der sich gegen alles, was aus ärztlichen Gründen an ihm getan wird, sträubt (Negativismus), führt wiederum alles widerstandslos aus, was ihm aufgetragen wird, selbst wenn es ihm nachteilig ist (Befehlsautomatie). Aber auch die gesamte Motorik erscheint verändert: die natürliche Grazie geht verloren, die Bewegungen werden steif, eckig, abrupt, verlieren ihre Rundung, ihr Rhythmus wird im Sinne des Übertriebenen oder des Nivellierens abgewandelt. Die Sprache wirkt modulationsarm, hart, das Ausdrucksregister eingeschränkt. Die Gesamtmotorik wirkt geziert, verschroben, maniriert; schon die Art, wie diese Kranken einem die Hand geben, berührt oft eigenartig. Das Bewußtsein ist fast immer klar, die Merkfähigkeit und das Gedächtnis bleiben ungestört. Die schizophrene Demenz, die in den verschiedensten Graden und Schattierungen sich entwickelt, wirkt sich in den schlimmsten Fällen in der Abstumpfung oder im Verlust aller gemütlichen Regungen im weitesten Sinne des Wortes aus: völlig gleichgültig gegen alles, was das Leben lebenswert macht, stehen oder sitzen diese Kranken fast regungslos herum, lassen sich in gröbster Weise verwahrlosen. Den Anzug dreckig und fleckig, die Hände tief in den Taschen vergraben, den Tropfen ständig an der Nase, das Wasser aus den Klosettbecken trinkend, womöglich den eigenen Kot essend — „leere Menschenhülsen" hat sie H O C H E einmal treffend genannt. Furchtbar und quälend ist dieser Anblick für die Angehörigen, erschütternd auch für den Arzt diese hoffnungslose Geistesnacht. Die hier geschilderten Krankheitserscheinungen, die nur die wichtigsten in der kaum übersehbaren Fülle darstellen, kommen nun keineswegs alle im Einzelfall zur Beobachtung. Gewisse Grundsymptome fehlen selten; wesentlich sind namentlich die Denkstörung, die mehr oder weniger deut-

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liehe affektive Verödung, die Wesensveränderung. Nach der im übrigen verschiedenartigen Symptomatologie unterscheidet man verschiedene Formen, die anscheinend vom Lebensalter, in dem die Erkrankung ausbricht, abhängen. a) Die Hebephrenie ist die Erkrankung, die in oder bald nach der Pubertät einsetzt. Sie ist durch Denkstörung, Änderung der Affektivität und des Willenlebens gekennzeichnet, wobei eine eigenartig leere, läppisch-heitere Grundstimmung vorherrscht. Sinnestäuschungen und Wahnideen sowie katatone Symptome fehlen meistens. Oft imponiert die Störung zunächst als eine Steigerung der Flcgeljahrc. Manchmal verläuft die Krankheit schleichend (Dementia simplex), oft in Schüben mit immer deutlicher werdender Persönlichkeitsveränderung; die Prognose ist ungünstig. b) Die Katatonie ist die Erkrankung des 3. Lebensjahrzehnts mit den sog. katatonen Symptomen: Stupor, Erregungszuständen, Negativismus usw. Sinnestäuschungen fehlen selten, ebenso Wahnbildungen. Anfänglich treten oft gute Remissionen auf, doch gibt es auch schnell abwärtsführende Formen. c) Die paranoide Form entwickelt sich meist im 4. Lebensjahrzehnt oder später und ist gekennzeichnet vorwiegend durch lebhafte Halluzinationen und Wahnbildung. Die Prognose ist im allgemeinen günstiger als bei den beiden erstgenannten Formen. d) Schließlich sind hierher auch Wahnkrankheiten zu rechnen, die als Paraphrenie bezeichnet zu werden pflegen, Krankheiten, die meist im vorgeschrittenen Alter zum Ausbruch kommen, bei denen die Wahnbildung durchaus schizophrenen Charakter hat, bei denen aber die Persönlichkeitsveränderung nicht oder erst spät zutage tritt, so daß die Kranken außerhalb ihres Wahnes nicht schizophren wirken11). Die Diagnose ist in ausgesprochenen Fällen leicht zu stellen; sie stützt sich auf die psychischen Symptome und die KrankheitsentWicklung, auf das Fehlen von neurologischen Abweichungen und darauf, daß eine eigentliche Ursache nicht nachweisbar ist. Darüber hinaus geben erbliche Belastung und prämorbide Persönlichkeit auch positive Hinweise. Neben völlig normal wirkenden Menschen werden nämlich vielfach solche krank, die durch eine bestimmte Wesensart sich auszeichnen und die wir als schizoid bezeichnen. KRETSCHMEB 1 2 ) hat unter ihnen drei Gruppen hervorgehoben: 1. ungesellige, stille, zurückhaltende, ernsthafte (humorlose), eigenartige Sonderlinge; 2. schüchterne, scheue, feinfühlige, überempfindliche, nervöse, aufgeregte, Naturund Bücherfreunde; 3. lenksame, gutmütige, brave, gleichmütige, stumpfe, dumme. 11) Daneben hat namentlich KLEIST und sein Schüler LEONHARDT noch eine ganze Reihe von Unterformen angenommen, die sich aus den Überschneidungen der oben genannten Formen ergeben. 12 ) Körperbau und Charakter, Berlin 1944.

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Diese Gruppen finden sich in mancherlei Mischungsverhältnissen, in einer Skala vom brutalen, kalten Egoisten bis zum höchst wertvollen, feinsinnigen Künstler und Wissenschaftler. Körperlich sind sie in der Regel, die jedoch manche Ausnahme hat, schlankwüchsig (leptosom oder asthenisch). In nicht ausgesprochenen Fällen kann die Diagnose große Schwierigkeiten bereiten. Es bedarf dann der ganzen Kunst der Anamneseerhebung und der psychiatrischen Untersuchungstechnik, um wenigstens eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose begründen zu können. Wie wir schon oben sagten, ist die forensische Bedeutung der Schizophrenie beträchtlich. Strafrechtlich stehen im Vordergrunde Eigentumsvergehen, Sittlichkeitsdelikte, Gewalttätigkeitsverbrechen und politische Delikte13). Bei den Eigentumsvergehen handelt es sich meist um Gelegenheitsdiebstähle oder kleinere Betrügereien, die von Kranken mit schleichendem Verlauf (Heboid) begangen werden; aber auch ausgesprochen Kranken kommt es auf einen Diebstahl nicht an, wenn die Gelegenheit günstig ist. Umfangreiche Betrügereien sind selten; nach L A N G E sollen vereinzelt Hochstapeleien und Heiratsschwindeleien vorkommen. Häufig sind kleine Delikte der Landstreicher, unter denen sich zahlreiche vertrottelte defekte Schizophrene befinden. W I L M A N N S hat 52 Lebensläufe solcher schizophrener Landstreicher zusammengestellt, die „zum Teil noch in jugendlichem Alter stehend, zusammen nicht weniger als 1836 mal, darunter 181 mal mit Nachhaft bestraft wurden". Dabei hätten nach geltendem Recht die Mehrzahl von ihnen exkulpiert werden müssen. Das Berufsverbrechertum hat keine Beziehungen zur Schizophrenie. Die politischen Vergehen häuften sich während des letzten Krieges; es handelte sich meist um die Verbreitung abstruser religiöser Ideen, z. T. auch um ziemlich zerfahrenes Geschwätz, das zur Anzeige gebracht wurde. Am wichtigsten aber sind die Gewaltverbrechen. Sie sind von 14 S C H I P K O W E N S K Y eingehend behandelt worden ). Außerdem hat W I L M A N N S eine ganze Reihe von Tötungsdelikten, die im Prodromalstadium der Schizophrenie begangen waren, zusammengestellt15). Ich selbst sah folgenden Fall16): M. W., geb. 1907, tötete am 14. 11. 1938 seine 214jährige Tochter Irmgard, die er zärtlich liebte, durch Hammerschläge auf den Kopf. Im Anschluß daran machte er einen ernsthaften Selbstmordversuch. Die Untersuchung hatte folgendes Ergebnis: 13 ) Von 50 eigenen und 57 von CREUTZ angeführten Fällen hatten je 24 sich Eigentumsvergehen oder Gewalttätigkeitsdelikte, je 22 Sittlichkeitsdelikte oder politische Vergehen zuschulden kommen lassen. Die übrigen verteilen sich auf Beleidigung (6), Sachbeschädigung (2), Brandstiftung (2), Kriegsdelikte (3), Verweigerung von Alimentenzahlung (1), unbefugtes Tragen von Orden (1). Von 168 Fällen, die WANNER (a. a. O.) anführt, hatten 38 Gewalttätigkeitsdelikte, 45 Eigentumsdelikte, 19 Sittlichkeitsdelikte begangen. Außerdem hatten 20 Brand gestiftet. 14 ) Schizophrenie und Mord, Berlin 1938. 15 ) Z.Neur. 170, 1940, S. 583. ") AZPs. 115, 1940, 356.

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Der Vater W.s hat anscheinend früher einen schizophrenen Schub durchgemacht; ein Bruder hat sich erschossen, möglicherweise im Beginn einer Schizophrenie. W. selbst besuchte die Bürgerschule in K . mit gutem Erfolg, lernte dann als Elektriker und Klempner, blieb nach beendeter Lehrzeit bis 1933 bei seinem Meister, wechselte dann die Stellung, bestand die Meisterprüfung und kam am 1. 8. 1938 zu einer großen Firma in der Umgebung von Kassel, wo er als Lehrmeister verwendet werden sollte. 1935 heiratete er, aus der glücklichen Ehe stammte die von ihm getötete Tochter. Charakterlich wird er als ehrgeizig und empfindsam geschildert. Seit dem Frühjahr 1938 erschien er verändert; seine Stimmung schwankte stark zwischen trübsinnig und lustig, er machte Auftraggebern Versprechungen, die allen geschäftlichen Gepflogenheiten widersprachen. Deutlichere Erscheinungen traten sehr bald nach dem Wechsel zur neuen Firma hervor. Dort fiel ihm auf, daß man ihn vielleicht „verdummen" wollte: wenn er allein an schriftlichen Arbeiten saß, ging das Telefon fortgesetzt, und es wurde nach diesem und jenem gefragt. Es kam ihm auch unheimlich vor, daß ihn Herr R. so von der Seite ansah. Einmal habe Herr R. den Bauführer mit „Herr Baurat" angeredet. E r schloß daraus, Herr R . nehme an, er, W., habe einen Vogel. Dann hörte er Bemerkungen wie „der will nun den Jungen was lernen, dabei muß er alles nach Büchern machen" oder „der will Meister sein und hat die Hand in der Hosentasche". Es war ihm schließlich, als ob man Katze und Maus mit ihm spiele. Die Leute machten Gesten, die darauf hindeuteten, daß man ihn nicht für ganz normal halte. Er nahm daher an, die Leute wüßten, daß er geisteskrank sei. Als er einmal in einer Apotheke ein Schlafmittel kaufen wollte, hörte er das Fräulein dort sagen: „das ist er"; da glaubte er, er würde beobachtet und verfolgt. Manchmal meinte er auch, ihm würden fremde Gedanken aufgedrängt, er hörte seinen Namen rufen usw. In den Tagen vor der Tat hat er sich nach seinen etwas unklaren Angaben wohl öfter mit Mordgedanken getragen. Ihm war so, als wenn er seine Frau umbringen müßte. E r habe geglaubt, das Kind, er selbst und seine Frau seien nicht richtig. Zwischendurch vergaß er wieder ganz seine Mordgedanken, aber immer wieder tauchten sie auf. E r entschloß sich dann, in ein Krankenhaus zu gehen, und bat seine Frau, einen Koffer zu holen. Das tat sie nicht gleich; dafür brachte das Kind seinen Spielkoffer. Da dachte er; das Kind hält zu dir, die Frau will nichts von dir wissen, du mußt das Kind und dich selbst umbringen. In diesem Augenblick glaubte er eine Stimme zu hören, die ihm sagte, er solle sich etwas antun. Da nahm er das Kind, legte es ins Bett und schlug es mit dem schon vorher bereitgelegten Hammer auf den Kopf. Dann schloß er sich im Klosett ein und durchschnitt sich mit einem Rasiermesser, das er gleichfalls schon vorher eingesteckt hatte, die Pulsadern. Die Motivierung wechselte. Einmal gab er an, er habe geglaubt, er sei geistig nicht mehr auf der Höhe, er habe durch seine Tat verhindern wollen, daß sein Kind auch einmal unter Geisteskrankheit leide; ein anderes Mal meinte er, ihm sei so gewesen, als wenn er es machen müßte, und es wäre ein gutes Werk; dann wieder, seine Mutter habe einmal mit einem Juden poussiert, er und sein Kind hätten daher Judenblut in ihren Adern. Alle diese Angaben machte er in weitschweifiger, oft unklarer und verschwommener Weise; affektiv erschien er unbeteiligt. In seinem Verhalten fiel manchmal eine ganz inadäquate Stimmungslage auf; während er im allgemeinen gedrückt erschien, war er plötzlich vergnügt, sang und lachte. Oft stand er längere Zeit an einer Stelle und blickte zu Boden. Dann wieder stand er längere Zeit auf einem Bein und drehte sich um sich selbst, machte eigentümliche Bewegungen mit dem Kopf und gab merkwürdige Laute von sich. Später wurde die affektive Abstumpfung deutlicher. — Er wurde als zurechnungsunfähig freigesprochen und einer Anstalt überwiesen. Sein Zustand hat sich später so gebessert, daß er wieder entlassen werden konnte.

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

Wenn die Diagnose „Schizophrenie" gestellt ist, so ist m. E. in jedem Falle zu exkulpieren, auch in den sogenannten leichten Fällen 17 ). Dabei kommt es nicht auf die Motivierung an, die an sich verständlich sein kann; es kommt auch nicht auf die Planmäßigkeit an. Wo eine Schizophrenie ist, ist schwere krankhafte Störung der Geistestätigkeit, und wir sind nicht imstande, uns in die seelische Situation des Täters hineinzuversetzen. Wie der oben wiedergegebene Fall zeigt, ist sich der schizophrene Täter selbst über seine Motive nicht im klaren, es mag oft ein Gemengsei von verständlichen und krankhaften Tendenzen das endgültig Bestimmende sein. Wenn aber jemand verurteilt werden soll, so muß ihm seine Zurechnungsfähigkeit bewiesen werden, und das können wir in keinem Falle. Dem Richter aber ist anzuraten, sich bei jedem schweren Verbrechen bei bis dahin unbestraften Menschen, namentlich dann, wenn die Motivierung unklar ist und wechselt, der Hilfe des Psychiaters zu bedienen. Eine Geisteskrankheit von der Art der Schizophrenie zu erkennen, ist nicht selten so schwierig, daß der „gesunde Menschenverstand" dazu nicht ausreicht. Schwierig ist die strafrechtliche Beurteilung remittierter oder defektgeheilter Schizophrener; wir haben darüber das Wichtige schon auf S. 50 gehört, so daß wir hier darauf verweisen können. Zivilrechtlich spielt die Schizophrenie gleichfalls eine bedeutende Rolle. Sowohl die Frage der Geschäftsfähigkeit als auch die der Entmündigung ist öfter zu beantworten. Sichere Schizophrene sind als geschäftsunfähig anzusehen. Ob man bei leichten Fällen immer Geschäftsunfähigkeit annehmen kann, ist keineswegs so sicher wie die Annahme von Zurechnungsunfähigkeit im Sinne des § 5 1 StGB. Hier wird man E. B L E U L E E , K A H N und W A N N E R folgen können und in manchen Fällen müssen, weil im zivilrechtlichen Verfahren die Geschäftsunfähigkeit bewiesen werden muß. Das gleiche gilt auch für Defektgeheilte, wenn der Defekt nicht gar zu groß ist. Hier wird man eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit, wie sie der § 104, 2 BGB verlangt, nicht beweisen oder auch nur wahrscheinlich machen können. Nicht jeder Schizophrene kann entmündigt werden; es kommt dabei ja auch darauf an, ob der Kranke noch imstande ist, seine Angelegenheiten zu besorgen. Besonnene Paranoide oder Paraphrene sind dazu manchmal sehr wohl in der Lage. Ich erinnere mich eines paranoiden Querulanten, der zwar viel prozessierte, aber stets nur geringe Teilbeträge von den ihm angeblich zustehenden Summen einklagte, so daß ihm größere Kosten daraus nicht erwuchsen. Im übrigen ging er seinem Beruf regelmäßig nach, sorgte auch für seine Familie, so daß sich seine Krankheit nur im Prozessieren auswirkte. Ich habe mich damals gegen die Entmündigung ausgesprochen, habe aber vor17 ) Dieser Grundsatz ist nicht überall anerkannt. So sagt WANNER (a. a. O., S. 32), drei Viertel der schizophrenen Täter seien zurechnungsfähig, bei einer kleineren Gruppe sei die Zurechnungsfähigkeit nur als herabgesetzt anzusehen. Dagegen habe ich Bedenken (ebenso LEFERENZ [Fortschr. Neur. 1954, S.378]); lediglich die isolierte Wahnbildung kann anders beurteilt werden.

Der manisch-depressive Formenkreis

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geschlagen, ihn für prozeßunfähig zu erklären. Bei den in Anstalten internierten Kranken kommt man in der Regel mit der Bestellung eines Pflegers aus, die sich auch dann ohne Schwierigkeiten durchsetzen läßt, wenn der Kranke seine Zustimmung verweigert. Da er fast immer geschäftsunfähig ist, bedarf es seiner Zustimmung nicht. Sehr häufig sind auch Begutachtungen in Ehescheidungsprozessen. Das Wesentliche hierüber ist im Kapitel über Geisteskrankheit und Ehe (S. 253) erörtert worden.

13. Der manisch-depressive

Formenkreis

Unter dieser Bezeichnung fassen wir Stimmungsschwankungen zusammen, die vorwiegend erblich bedingt sind, ohne erkennbaren Grund (endogen) entstehen, im allgemeinen in Phasen verlaufen und grundsätzlich heilbar sind. Wenn diese Schwankungen die Stärke von Psychosen erreichen, sprechen wir von „manisch-depressivem Irresein", während die leichteren endogenen Stimmungsschwankungen unter der Bezeichnung „Cyclothymie" zusammengefaßt zu werden pflegen 1 ). Die in diesem Formenkreis gefundenen Abweichungen gehen aus dem Gesunden ohne scharfe Grenzen, also anders als bei der Schizophrenie, zu jenen schweren Psychosen hin, die am anderen Pol der Reihe stehen 2 ). Derartige Psychosen treten innerhalb Deutschlands in verschiedener Häufigkeit auf; die für die Durchschnittsbevölkerung errechnete Häufigkeit von 0,44% wird in Nordwestdeutsehland sicher nicht annähernd erreicht, in manchen Gegenden Süddeutschlands wahrscheinlich übertroffen. Die Krankheit ist in sozial besser gestellten Schichten häufiger, offenbar weil die gesunden Typen dieses Krankheitskreises es durch Tatkraft und Wendigkeit vorwärtsbringen. Über die Ursachen der Krankheit ist bekannt, daß mit Sicherheit die erbliche Anlage die Hauptrolle spielt: Von den Kindern eines Manisch-depressiven erkranken nach den bisherigen Berechnungen 24,1%, von den Geschwistern 12,7%, die Enkel in 3,4%. Zwillingsuntersuchungen haben aber auch hier deutliche Manifestationsschwankungen aufgedeckt 3 ). Man neigt daher in neuerer Zeit auch bei dieser Psychose zu der Annahme einer ihr zugrunde liegenden Somatose. Für eine solche Annahme spricht einmal das häufige Zusammentreffen mit bestimmten körperlichen Anomalien wie Diabetes, Gicht, Fettsucht und Hypertonie, andererseits der Die Namengebung ist nicht ganz einheitlich. K R E T S C H M E R nennt „cyclothym" die gesunden Temperamentsvarianten, die manisch-depressiv werden, wenn sie einmal psychisch erkranken. B L E U L E R bezeichnet diese als „synton"; K . S C H N E I D E R lehnt den Ausdruck „manisch-depressives Irresein" ab und verwendet dafür die Bezeichnung „Cyclothymie". Die Bezeichnung „Irresein" ist unrichtig, weil ein eigentliches Irresein nicht vorliegt; besser wäre es, wenigstens nur von manisch-depressiver Erkrankung zu sprechen. 2 ) K. SCHNEIDER, Die psychopathischen Persönlichkeiten, 3. Aufl., S. 46ff., meint freilich, daß auch hier scharfe Grenzen beständen. 3

) N a c h LUXEMBURGER, 1. c., S. 70.

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Spezielle gerichtliche Psychopathologie

Umstand, daß anscheinend Beziehungen zu den Sexualvorgängen bestehen: Depressionszustände häufen sich im Rückbildungsalter, so daß man früher eine besondere Involutionsmelancholie annahm. Bevor diese Somatose aber nicht näher bekannt ist, wird sich etwas Sicheres über den Erbgang nicht aussagen lassen; was darüber bekannt ist, ist hypothetisch und nur an der Psychose orientiert. Die manisch-depressive Psychose kennt im wesentlichen drei Symptomenbilder: die Depression, die Manie und Mischzustände. Die Depression ist gekennzeichnet durch unbegründete Traurigkeit und Hemmung. In leichteren Fällen handelt es sich nicht eigentlich um eine traurige Verstimmung; es fehlt aber den Kranken die Fähigkeit, sich zu freuen oder zu einer bejahenden Lebenseinstellung. Es scheint ihnen alles schal, freudlos, ihr Gefühl schwingt nicht mit, Angehörige, Beruf, Liebhabereien werden ihnen gleichgültig. In allen schweren Fällen aber herrscht eine deutliche Traurigkeit vor, die vielfach mit einem Angstgefühl verbunden ist, das irgendwie im Körperlichen verwurzelt erscheint. Man sieht den Kranken diese schwere unüberwindlare Traurigkeit am Gesichtsausdruck ohne weiteres an. In schweren Fällen kann sie sich bis zur Verzweiflung steigern. Zugleich besteht eine ausgesprochene Hemmung, und zwar sowohl im Denken wie auf motorischem Gebiet. Die Kranken hegen fast regungslos im Bett, jede Bewegung macht ihnen Mühe; spricht man sie an, erhält man kaum Antwort, obwohl man an den Bewegungen der Lippen sieht, wie der Kranke sich um Antwort bemüht. Auch sein Denken ist gehemmt: er kann dem Gespräch nicht folgen, hat keine eigenen Einfälle, benötigt für einen Brief, den er sonst in einer halben Stunde schrieb, einen ganzen Tag. Dazu sind auch die Antriebe gehemmt; es fehlt den Kranken jeder Schwung. Dieser Zustand führt oft zu wahnhaften Vorstellungen. Die Kranken suchen in ihrem eigenen Erleben nach der Ursache ihrer Verstimmung, machen sich Selbstvorwürfe, die zu schweren Selbstbeschuldigungen führen können, oder sie suchen bei sich irgendeine Krankheit und entwickeln hypochondrische Vorstellungen, die manchmal groteske Formen annehmen (schon tot, ohne Magen und Darm usw.), oder sie machen sich übertriebene Sorgen um ihre Zukunft, um die Lebensmöglichkeiten ihrer Familie und dergleichen. Vorwürfe hört der Melancholische auch aus Äußerungen anderer heraus, die er dann in seinem Sinne umändert und auf sich bezieht. Selten sind echte Halluzinationen. Die Depression zeigt charakteristische Tagesschwankungen; sie ist morgens am tiefsten, gegen Abend sind die Kranken am zugänglichsten und aufgeschlossensten. Körperlich ist bemerkenswert: der schlechte Schlaf, der Mangel an Appetit, die träge Verdauimg und die oft erhebliche Gewichtsabnahme. Freundliche Träume und Gewichtszunahmen sind vielfach die ersten Zeichen der Besserung.

Der manisch-depressive Formenkreis

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Bei der Manie herrschen die umgekehrten Vorzeichen: überströmendes Lebensgefühl, natürliche strahlende Heiterkeit, oft aber auch leicht entzündbare Gereiztheit und Zorn kennzeichnen das Bild. Wegen der erhöhten Selbsteinschätzimg kommt es oft zu Größenideen, zur Uberschätzung der eigenen Fähigkeiten, aber auch der Vermögensverhältnisse und so zu unsinnigem Verwirtschaften von angesammelten Ersparnissen bis zum Ruin gutgehender Geschäfte. Begünstigt werden derartige Vorkommnisse durch die Enthemmung, die auf dem Gebiete des Denkens als Ideenflucht sich bemerkbar macht. Die Kranken halten den Leitgedanken nicht fest, kommen vom Hundertsten ins Tausendste, knüpfen dabei an Äußerlichkeiten, an Wortklänge an, schieben oberflächliche Witze ein, verlieren schließlich ganz den Faden. In leichteren Fällen wirken sie weitschweifig, vermischen Wichtiges mit vielen belanglosen Nebengedanken, müssen immer wieder „zur Sache" ermahnt werden. Auch in ihrer Motorik sind sie übertrieben geschäftig, können nicht stillsitzen, tun immer etwas anderes. Sie sind sofort mit allen bekannt und gut Freund, freilich um sich bei nächster Gelegenheit mit ihnen zu verkrachen. Sie mischen sich in alles ein, reden bei der Visite dazwischen, sind oft ausgesprochen taktlos. In ihrem Zimmer herrscht meist tolle Unordnung. Im allgemeinen sind Manische gutmütig, einfach; doch gibt es unter ihnen unangenehme Querulanten und Besserwisser. Körperlich fühlen sich diese Kranken gesund und leistungsfähig. Leichteste Kranke dieser Art sind es in der Tat: die ihnen zuströmenden Gedanken und die gesteigerte Arbeitslust können sie zu wertvoller Tätigkeit befähigen. In den Mischzuständen vereinigen sich depressive und manische Züge. Besonders häufig sind die erregte Depression (Melancholia agitata), deren Rrankheitsbild außerordentlich schwere Formen annehmen kann, und der manische Stupor, bei dem die Kranken ausgesprochen heiter, aber doch gehemmt, fast bewegungslos im Bett liegen. Diese Zustände sind als Übergänge häufig, kommen aber auch für sich vor. Daneben gibt es atypische manisch-depressive Phasen, die aber hier nicht besonders behandelt werden sollen. Der Verlauf der Krankheit ist außerordentlich wechselnd. Es kann bei einer einmaligen manischen oder depressiven Phase bleiben, sie können sich in größeren, dann meist allmählich kürzer werdenden Abständen wiederholen, es kann zu einem fortgesetzten Wechsel zwischen manischen und depressiven Phasen kommen, es gibt schließlich chronische Manien und lange Jahre anhaltende Depressionszustände. Manche Kranke haben nur manische oder nur depressive Verstimmungen — die letzteren sind überhaupt häufiger — es kann aber auch ein regelloser Wechsel zwischen beiden, untermischt mit leichten hypomanischen und hypodepressiven Zeiten kommen. LANGE4) fand an großem Material 14% chronisch-zirkuläre, 12% einmalige Erkrankungen; die übrigen verliefen in mehreren Phasen, davon 17 % mit 4

) LANGE-BOSTROEM, Lehrbuch der Psychiatrie, 5. Aufl., S. 210.

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mehr als drei Phasen. Die erste Phase liegt meist im 3. bis 5. Lebensjahrzehnt, bei Männern bei unseren Beobachtungen selten vor dem 20. Lebensjahre, bei Frauen, bei denen die Erkrankung überhaupt häufiger ist, öfter. Bei Frauen beginnt ein großer Hundertsatz — in 168 eigenen Fällen sind es 25% — im Alter von 40 bis 50 Jahren, also im Klimakterium. Die Dauer der einzelnen Phasen ist gleichfalls sehr verschieden. Die melancholischen Phasen halten im Durchschnitt länger an als die manischen; sie dauern in der Regel etwa 6 bis 9 Monate. Leichtere Fälle können schneller verlaufen, schwere können sich über Jahre erstrecken. Bei ersten Phasen in jugendlichem Alter ist die Prognose günstig; sie wird bei Wiederholung schlechter, ebenso in höherem Alter, wo die Mischung mit Alterserscheinungen sich ungünstig auswirkt. Die Diagnose ist in ausgeprägten Fällen leicht zu stellen; in leichten Fällen ist die Abgrenzung von psychopathischen Dauerkonstitutionen nicht immer einfach, während die Unterscheidung von reaktiven Depressiven meist unschwer gelingt. In atypischen Fällen kann die Differentialdiagnose gegenüber der Schizophrenie schwer sein. Gestützt wird sie durch den körperlichen Habitus. Wie K R E T S C H M E R festgestellt hat, und diese Feststellung hat allen Nachprüfungen standgehalten, sind vorwiegend sog. Pykniker, d. h. Fettwüchsige mit ganz bestimmten Merkmalen 5 ), Anlageträger. Auch das Temperament der Manisch-Depressiven hat in gesunden Zeiten seine ganz besondere Art. K R E T S C H M E R kennzeichnet sie als gesellig, gutmütig, freundlich, gemütlich, manchmal mehr heiter, humorvoll, lebhaft, hitzig, manchmal sehr still, ruhig, schwernehmend, weich. Im allgemeinen sind es mehr auf das Praktische gerichtete, oft auch künstlerische Naturen. Die forensische Bedeutung des manisch-depressiven Formenkreises ist geringer als die der Schizophrenie. Nach den Feststellungen von S C H W A B 6 ) sind Pykniker unter den frühkriminellen Gewohnheitsverbrechern nur in ganz geringem Umfange vertreten; überhaupt liegt ihre Kriminalität unter der Zahl, die ihrem Vorkommen in der Durchschnittsbevölkerung entspricht. Bei Depression szuständen ist vornehmlich mit erweitertem Selbstmord zu rechnen, bei dem zwar die Angehörigen getötet werden, der depressiv Verstimmte aber aus irgendwelchen Gründen am Leben bleibt. Der Selbstmord ist überhaupt die Gefahr bei diesen Kranken; ihn zu verhindern, gehört mit zu den Hauptaufgaben der Anstaltsbehandlung. Von 92 manisch-depressiven Männern, die von 1904 bis 1913 in der Landesheilanstalt Marburg behandelt und inzwischen gestorben waren, hatten 23 (25%) Selbstmord verübt, von 172 gestorbenen Frauen 18 (10,5%). Ist die Diagnose sicher gestellt, so liegt natürlich Zurechnungsunfähigkeit vor. Im übrigen sind es nur vereinzelte 5

) Zum pyknischen Körperbau gehören große UmfangsentWicklung der Leibeshöhlen mit Neigung zum Fettansatz am Rumpf, besonders zum Fettbauch, bei relativ zierlichen Gliedmaßen. Der Schädel ist lang und nicht hoch, das Gesicht breit (breite Schildform, Fünfeckform). Große spiegelnde Glatzen sind häufig. 6 ) MKrB 32, 1941.

Der manisch-depressive Formenkreis

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Unterlassungsdelikte, die zur Beurteilung kommen; ich sah einmal einen solchen Fall, in dem der schwer gehemmte Kranke es nicht fertig gebracht hatte, eine Steueramnestie auszunutzen. Dagegen ist mit unbegründeten Selbstanschuldigungen zu rechnen. Wenn es sich dabei um ungeheuerliche Verbrechen handelt, so ist es nicht schwer, den krankhaften Ursprung der Selbstanschuldigung plausibel zu machen; manchmal handelt es sich aber um angebliche Delikte, die durchaus im Bereich der Möglichkeit liegen. Dann muß der Tatbestand natürlich zuerst festgestellt werden, bevor zur Frage der Zurechnungsfähigkeit Stellung genommen werden kann. Häufiger sind Delikte von manischen oder hypomanischen Kranken. Hier wird es natürlich darauf ankommen, den Geisteszustand zur Zeit der Tat festzustellen. Unter 18 Fällen dieser Art, die ich zu begutachten hatte, habe ich 6 für strafrechtlich verantwortlich erklärt, 4 für vermindert zurechnungsfähig, 8 für zurechnungsunfähig. Unter den letzteren befanden sich 4 mit politischen Delikten. Im übrigen standen Eigentumsvergehen und Sittlichkeitsdelikte im Vordergründe. Überhaupt scheinen Menschen aus diesem Formenkreis ganz besonders zu betrügerischen Handlungen zu neigen, wozu sie ihre Wendigkeit, ihre schnelle Entschlußkraft, ihre Fähigkeit zu blenden ganz besonders geeignet macht. Unter den hyperthymen Persönlichkeiten dieses Kreises findet man manchmal auch ausgesprochen rechthaberische Querulanten mit stark ausgeprägtem Rechtsgelühl, deren Beurteilung und Behandlung recht schwierig sein kann. Recht bedenklich sind manische und hypomanische Kranke als Zeugen; sie beobachten zwar vieles, neigen aber dazu, das Wahrgenommene umzudeuten und kommen so zu einer oft schiefen, ja manchmal geradezu falschen Beurteilung und Darstellung der Sachlage, die Wahreb und Falsches in unentwirrbarem Duicheinander enthält. Jedenfalls ist auf die Aussage eines solchen Kranken allein eine Verurteilung wohl nur in seltenen Fällen möglich. Die Geschäftsfähigkeit ausgesprochen manischer Kranker ist als aufgehoben anzusehen; auch bei schwer Depressiven würde ich Geschäftsunfähigkeit annehmen. Beidemal kann es schwer sein, im Einzelfall die Grenze zu bestimmen, von der an die Geschäftsunfähigkeit beginnt; über sie kann es naturgemäß zu Meinungsverschiedenheiten kommen. Bei kürzeren Phasen ist auch zu überlegen, ob nicht die Anwendung des § 105, 2 BGB am Platze ist. Die Entmündigun g ist in allen den Fällen anzuraten, in denen häufige Phasen oder chronische Zustände zu beobachten sind. Besonders gefährdet sind Kranke, die zwischen deutlich manischen Phasen gesunde Intervalle haben, in denen sie durchaus tüchtig arbeiten, ihre Geschäfte erledigen, ja, beruflich vorwärts kommen können. Alle diese Errungenschaften werden durch die neue Phase in Frage gestellt, ja meistens untergraben und vernichtet. Um das zu vermeiden, ist die Entmündigung, unter Umständen wegen Geisteskrankheit, zweckmäßig, ja notwendig. Durch sie werden schwierige Prozesse

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mit unsicherem Ausgang vermieden, man kann namentlich den Kranken auch bei den ersten Anzeichen einer neuen Erkrankung sicher unterbringen und so "wenigstens der Familie die nötigen Existenzmittel erhalten. Dem verständlichen Bestreben der Kranken, während der gesunden Zeiten wieder bemündigt zu werden, wird man mit guten Gründen, leider nicht immer mit Erfolg, entgegentreten müssen. Bei vereinzelten Phasen ist Pflegschaft angebracht, wenn irgendwelche Angelegenheiten zu erledigen sind. Im Eherecht wird man einer Aufhebung der Ehe nur zustimmen können, wenn die Erkrankung beim Ehepartner selbst erkennbar wird; in diesem Falle ist die Gefahr für die Nachkommenschaft beträchtlich. Dagegen genügt die Erkrankung eines der Eltern des Ehepartners nicht; nur bei einer Erkrankung beider Eltern oder eines erbgleichen Zwillings wird die Gefahr auch für den Ehepartner so groß, daß die Aufhebung sich rechtfertigen läßt, öfter dürfte die Scheidung aus § 44 EG möglich sein, und zwar auch dann, wenn die Wiederherstellung der geistigen Gesundheit zu erwarten ist. Manisohe Kranke schlagen leicht über die Stränge; ihr Verhalten kann die eheliche Gesinnung des gesunden Ehepartners so beeinträchtigen, daß dem letzteren die Wiederherstellung einer dem Wesen der Ehe entsprechenden Lebensgemeinschaft nicht mehr möglich ist. Scheidung gemäß § 45 EG ist dagegen nur in seltenen chronischen oder schnell rezidivierenden Fällen möglich.

14. Psychopathische

Persönlichkeiten1)

Das Problem der Psychopathen haben wir schon mehrfach berühren müssen (S. 203,216); sie spielen in der forensischen Psychiatrie eine überragende Rolle, weil sie die bei weitem größte Zahl aller Gutachtenfälle ausmachen. Wir stellen hier noch einmal das Wichtigste zusammen. Psychopathen sind abnorme Persönlichkeiten. Abnorme Persönlichkeiten sind nach der Definition von Kurt S C H N E I D E R angeborene „Variationen, Abweichungen von einer uns vorschwebenden, aber nicht näher bestimmbaren Durchschnittsbreite menschlicher Persönlichkeiten". Der Ausdruck „abnorm" hat hier also nicht die Bedeutimg von „krank"; er besagt lediglich, daß jemand in irgendeiner seelischen Beziehung von einem gedachten Durchschnitt abweicht. Er kann dabei durchaus gesund sein, wie etwa ein Schwarzhaariger in einer blonden Bevölkerung von dieser abweicht und insofern zwar abnorm, aber keineswegs deswegen krank ist2). Nicht alle abnormen Persönlichkeiten sind psychopathisch, sondern nur die, „die an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft leidet". Hierzu namentlich K.

SCHNEIDER,

Die psychopathischen Persönlichkeiten,

1934. 2 ) J A S P E R S hat recht, wenn er sagt, daß „abnorm" nie eine tatsächliche Feststellung sei, sondern eine Bewertung von verschiedenen möglichen Gesichtspunkten aus: Arterhaltung, Lebensglück, Leistung usw. (Allgemeine Psychopathologie, 2. Aufl., S. 315).

Psychopathische Persönlichkeiten

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Zu dieser Begriffsbestimmung ist zu bemerken: Unter „Persönlichkeit" verstehen wir hier die Gesamtheit menschlichen Fuhlens und Strebens ohne Berücksichtigung der intellektuellen Funktionen (Auffassungsgabe, Gedächtnisanlagen, besondere Begabungen, Denkfähigkeit); daß das intellektuelle Niveau auch für die Ausbildung der Persönlichkeit in dem hier gemeinten Sinne von Bedeutung ist, braucht dabei nicht besonders betont zu werden. Der Begriff „abnorme Persönlichkeit" kann sehr weit, er kann auch sehr eng gefaßt werden. Bei genauer Untersuchung wird man bei jedem Menschen die eine oder andere Abweichung von einer gedachten Norm feststellen können; man könnte also bei extremer Ausweitung des Begriffs sagen, jeder Mensch sei irgendwie abnorm. Mit anderen Worten: es kommt darauf an, wie weit wir die „Durchschnittsbreite'" der als normal gedachten menschlichen Persönlichkeiten ansetzen wollen. Sobald wir das versuchen, werden wir uns bewußt, daß die Grenze, die wir zwischen normal und abnorm gedanklich ziehen können, in der Wirklichkeit ganz von dem subjektiven Ermessen des Beurteilers abhängt. Sie ist durchaus willkürlich. Auch die Einführung einer wertenden Betrachtimgsweise neben der rein quantitativen, die hier verwendet wird, würde an dieser Willkür wenig oder nichts ändern, da jede Wertung wieder vom Standpunkt des Beurteilers abhängt. Der Revolutionär z . B . gilt dem einen als verehrungswürdige Persönlichkeit, dem anderen als Lump. Ebenso willkürlich ist es, wenn aus der Fülle der abnormen Persönlichkeiten diejenigen herausgesondert werden, die an ihrer Abnormität leiden oder an deren Abnormität die Gesellschaft leidet. S c h n e i d e r h a t diese Auswahl aus praktischen Gründen getroffen: es sind diejenigen abnormen Persönlichkeiten, mit denen der Psychiater berufsmäßig zu tun hat. Dazu kommt ein weiteres Kriterium. Es muß sich um eine angeborene Dauerverfassimg handeln. I n der Mehrzahl der Fälle wird eine abnorme Persönlichkeitsawiagte vorhanden sein; es ist jedoch möglich, und praktisch ist diese Frage nicht zu entscheiden, daß schon vor der Geburt den Organismus irgendeine Schädlichkeit trifft, deren Folge die abnorme Persönlichkeitsgestaltung ist. Daher sprechen wir nicht von ererbtem, sondern von angeborenem Persönlichkeitsgefüge. Auszuschalten sind daher die der Psychopathie ähnlichen Zustände nach Schizophrenie, nach Enzephalitis epidemica, die auch eine andere forensische Beurteilung erfordern. Schließlich ist die Psychopathie eine Dauerverfassung, etwas, was während des Lebens konstant bleibt, wenn man von der natürlichen Entwicklung absieht. Die aus dieser Dauerverfassung entspringenden Reaktionen und krankhaften Entwicklungen werden wir erst im nächsten Kapitel besprechen. Man pflegt nun der leichteren Verständigung halber die Psychopathen in eine Reihe von Typen einzuteilen. Solche Typen lassen sich von verschiedenen Gesichtspunkten aufstellen. So hat G b u h l e eine charakterologische Typenlehre aus gewissen Grundeigenschaften psychopathischer Persönlichkeiten abgeleitet, andere Autoren haben dabei mit verschiedenen Schichten, in 25 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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denen die seelischen Vorgänge ablaufen sollen, gearbeitet. KRETSOHMER und E W A L D haben dynamische Typologien aus den verschiedenen Verarbeitungsweisen von Erlebnissen aufgebaut, und schließlich hat KRETSCHMER seine bekannte Konstitutionstypologie geschaffen. So wertvoll alle diese Versuche sind, am brauchbarsten für unsere Zwecke hat sich die systemlose Typendarstellung K. SCHNEIDERS erwiesen, der wir hier deshalb folgen wollen. SCHNEIDER unterscheidet je nach den am meisten hervortretenden Eigenschaften 10 Gruppen von Psychopathen, die sich natürlich vielfach überschneiden. Es gibt hier keine scharfen Grenzen; das hervorstechende Merkmal ist als Namensträger gewählt. Es kann mit zahlreichen anderen kombiniert sein. SCHNEIDER bezeichnet seine Typen als hyperthymische, depressive, selbstunsichere, fanatische, geltungsbedürftige, stimmungslabile, explosible, gemütlose, willenlose und asthenische Psychopathen. Wir bringen sie hier nur, soweit sie forensische Bedeutung haben. 1. H y p e r t h y m i s c h e P s y c h o p a t h e n . Die ausgeglichenen Hyperthymiker sind „fröhliche, nicht selten gütige, betriebsame, nach außen tätige Menschen von unverwüstlichem, durch keine Erfahrung umstoßbarem Optimismus. Aufs innigste hängt damit zusammen, daß sie der Tiefe und Gründlichkeit meist entbehren, unkritisch, unvorsichtig, selbstsicher, leicht bestimmbar und nicht sehr zuverlässig zu sein pflegen"3). Sie gehören in ihrer reinen Form zumeist dem zyklothymen Formenkreise an; sie sind auch meistens Pykniker. In der gesunden Durchschnittsbreite sind sie von KRETSCHMER als „geschwätzig Heitere" und „tatkräftige Praktiker" geschildert. Als abnorme Varianten hat er insbesondere den „flott hypomanischen Typ" und den „lästigen Krakeeler" beschrieben. Besonders die letzteren sind oft unbequeme Querulanten; sie lassen sich infolge ihres gehobenen Selbstgefühls nichts gefallen, verbeißen sich aber nicht auf eine Sache. Anders wird es, wenn eine schizoide Komponente dazukommt; die Reihe der „Pseudoquerulanten" geht dann in die der echten fanatischen Querulanten über. Manche Hyperthymiker erscheinen auch haltlos, weil sie sich leicht zu mancherlei Tun hinreißen oder beeinflussen lassen; sie neigen zu Geselligkeit und zum Alkohol und kommen deswegen leicht in Konflikte. Auf Grund ihres Temperaments neigen sie auch zum Renommieren und zum Lügen; in der Kombination mit Schwachsinn kann sich ihre Kritiklosigkeit besonders bemerkbar machen. Unter den Hyperthymen befinden sich durchaus wertvolle Persönlichkeiten, aber auch Kriminelle. Beleidigungen, Alkoholdelikte, in der Verbindung mit Neigung zum Aufschneiden und Lügen, Betrügereien und Hochstapelei sind die vorwiegend bei ihnen vorkommenden Delikte. 2. Unter den S e l b s t u n s i c h e r e n sind die sog. Z w a n g s k r a n k e n oder A n a n k a s t e n , wie K. SCHNEIDER sie nennt, forensisch von Bedeutung, nicht weil sie infolge ihrer Zwangsvorstellungen kriminell werden, sondern 3

) SCHNEIDER, 1. c., S. 5 1 .

Psychopathische Persönlichkeiten

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weil unwiderstehlicher Zwang öfters als Entschuldigung angegeben wird. Es handelt sich um Menschen, bei denen gedankliche Bewußtseinsinhalte mit dem Erlebnis des subjektiven Zwanges auftreten und sich nicht verdrängen lassen, obwohl sie in der Ruhe als unsinnig erkannt werden ( S C H N E I D E R ) . Handlungen, die als Folge solcher Gedanken auftreten, heißen Zwangshandlungen, Befürchtungen, die zu Unterlassungen führen, Phobien. Es ist jedoch bis heute kein Fall bekanntgeworden, in dem Zwangsvorstellungen kriminelle Handlungen ausgelöst hätten (BUMSE)4). Man wird daher solchen Behauptungen gegenüber, die namentlich von Sexualverbrechern gern vorgebracht werden, äußerste Skepsis walten lassen müssen. Wir können von einem weiteren Eingehen auf dieses interessante, aber schwierige Gebiet absehen. 3 . Wichtiger sind die fanatischen P s y c h o p a t h e n ( K R A E P E L I N nennt sie Verbohrte). S C H N E I D E R unterscheidet Kampffanatiker, d. h. Menschen, die ihre überwertige Idee aktiv vertreten, von den „matten" Fanatikern, die mit den ersteren „das extrem einseitige Überwerten, das Verfechten und Zurschautragen einer Idee gemeinsam haben, aber dabei doch weniger aktiv sind" und auch seltener Angelegenheiten vertreten, deren Inhalt offensichtlich persönlicher Art ist. Dazu gehören einzelne Sektierer, Volksbeglücker lind Friedensapostel, „Menschen mit nach außen vertretenen überwertigen Ideen oft phantastischer, überspannter, wirklichkeitsfremder Art". Meist sind sie äußerlich schon an ihrer Kleidung, der Haartracht, der salbungsvollen Sprache zu erkennen. Forensisch wichtig ist die Gruppe der Kampffanatiker, Menschen, die in zähem, verbissenem Trotz irgendeine Idee, meist mit offensichtlich persönlichem Inhalt verfolgen. Häufig liegt ihrem Verhalten ein wirkliches ihnen zugefügtes Unrecht zugrunde; es ist der „Konflikt des machtlosen Einzelnen mit der allmächtigen Ordnung der Gesellschaft", der die Entwicklung des Querulanten begünstigt. Es sind sthenische Naturen „mit einer heimlichen Wunde, einem asthenischen Pfahl im Fleisch".

Bei den Kampffanatikem handelt es sich vorwiegend um Männer im gereiften Alter; Frauen sind stärker an den matten Fanatikern als erotisch gebundene Anhängerinnen beteiligt. Dieser Anhang, der in der äußeren Erscheinung dem „Herrn und Meister" zu entsprechen pflegt, ist manchmal recht beträchtlich; so erhielt der von R E I S S beschriebene, freilich überwiegend hyperthyme, stark geltungssüchtige Apostel Louis H Ä U S S E R bei der Reichspräsidentenwahl des Jahres 1925 über 26 000 Stimmen. Beziehungen zu anderen Psychopathentypen sind häufig: durchweg fast findet man ein mehr oder weniger ausgeprägtes Geltungsbedürfnis; Kampf fanatiker sind auch oft explosibel. Differentialdiagnostisch kommen namentlich paranoide, zur Schizophrenie gehörige Psychosen in Betracht, von 4

) Lehrbuch, 4. Aufl., S. 184. Ähnlich K. SCHNEIDER, Joh. LANGE, PILCZ und Die Lehre vom Zwang. Fortschr. Neurol. 17, 1949.

SCHINDLEB; S. DE BOOK, 25*

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denen sie sich durch die erhaltene gemütliche Ansprechbarkeit, oft auch durch die Art der ersten Wahnbildung unterscheiden. Zur Begutachtung kommen diese Typen, namentlich die Kampffanatiker, weil sie durch ihre fortgesetzten Quengeleien lästig werden, so daß Entmündigungsanträge die Folge sind. Strafrechtlich sind es Beleidigungsklagen, gelegentlich auch Gewaltakte, die sie vor Gericht führen. Dazu ist öfter die Frage der partiellen Prozeßunfähigkeit zu beantworten6). 4. G e l t u n g s b e d ü r f t i g e P s y c h o p a t h e n . Das Geltungsbedürfnis ist ein weit verbreiteter Charakterzug. In der Breite der Norm tritt es auf als das Bedürfnis nach Anerkennung des wirklich Geleisteten; abnorm wird es, wenn ein Mißverhältnis zwischen Anspruch und Leistung auftritt. Dann wird die Bedeutung der eigenen Leistung über Gebühr hervorgehoben, die guten Beziehungen zu einflußreichen Leuten betont, die Stellung des Vaters, die Begabung der Kinder wird ins rechte Licht gerückt. Hier ist schon angedeutet vorhanden, was den Grundzug aller Geltungsbedürftigen bildet: vor sich und anderen mehr zu scheinen, als man ist. „An Stelle des ursprünglichen echten Erlebens mit seinem natürlichen Ausdruck tritt ein gemachtes, geschauspielertes, erzwungenes Erleben; aber nicht bewußt .gemacht', sondern mit der Fälligkeit (der eigentlich hysterischen Begabung) ganz im eigenen Theater zu leben, im Augenblick ganz dabei zu sein, daher mit dem Schein des Echten"... „Um sich ihrer Bedeutung gewiß zu sein", müssen sie „immer eine Rolle spielen, sie suchen sich überall interessant zu machen, selbst auf Kosten ihres Rufes und ihrer Ehre; sie sind unglücklich, wenn sie auch nur kurze Zeit unbeachtet, unbeteiligt sind, weil sie sich sofort ihrer Leere bewußt werden"6). Diese Rolle spielen sie nun in verschiedener Weise: durch exzentrisches Wesen, durch selbstgefälliges Aufschneiden, Übertreiben, Prahlen, und namentlich durch pseudologische Erfindungen. Dieser Typ, der auffallenste unter ihnen, verfügt über eine gewisse Einbildungskraft und Aktivität. Während der reine Phantast den Wert der Welt für sich verfälscht, verfälscht der Pseudologist seinen Wert für die Umwelt 7 ). Diese Menschen spielen oft mit unleugbarem Geschick ihre Rollen. So sah L A N G E einen Schlosser, der, nachdem er durch vorgetäuschte, glänzend nachgeahmte epileptische Anfälle sich die nötige Krankenhauserfahrung angeeignet hatte, schließlich als Arzt auftrat, als solcher vertretungsweise ein Krankenhaus leitete, sich dann in einer Mittelstadt niederließ und dort monatelang am Stammtisch mit dem Kreisarzt und den Ärzten einer Heil- und Pflegeanstalt zusammensaß, bis ihn schließlich, nachdem er morphinsüchtig geworden war, sein Schicksal ereilte8). Ich selbst sah während des letzten Krieges zwei angebliche Medizinstudenten in höherem Semester. Der eine hatte in München auf Grund gefälschter Zeugnisse studiert, hatte sogar Kolleggeldbefreiung erhalten, hatte später an einer Frauenklinik famuliert und 5

) Siehe dazu S. 232. Allgemeine Psychopathologie, ' ) K R O N F E L D , zitiert bei S C H N E I D E R , 1. c. 8 ) L A N Q E - B O S T R O E M , Lehrbuch, S. 227. 6

) JASPERS,

2.

Aufl.,

1920, S. 314.

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t r a t auch in dem von mir geleiteten Reservelazarett als Examenskandidat auf, bis er mir in einer gegen ihn gerichteten Disziplinarsache durch seinen eigentümlich verschrobenen Stil und seine nicht ganz einwandfreie Beherrschung der deutschen Grammatik auffiel. E r war schon vorher mit 18 Monaten Gefängnis wegen seiner Schwindeleien bestraft worden. Der zweite, ein Drogist, war ein intelligenter Junge, der an einem anderen Lazarett schon kleine Operationen selbständig ausgeführt hatte und der auch bei uns brauchbare neurologische Befunde lieferte, bis der Verdacht, daß er sich an Bauschgiften vergreife, uns zu einer Nachprüfung veranlaßte. Eine sehr schöne Beobachtung stammt von GÖRING9) : Ein Mann aus krimineller und psychopathischer Familie verstand es ausgezeichnet, Krankheiten zu simulieren; er spielte Graf und Erzherzog, beging besonders Darlehnsschwindeleien, reiste einmal mit seinen Gläubigern nach Wien, wo er ihnen in der H o f b u r g weinend die Zimmer zeigte, in denen er früher angeblich gewohnt hatte. Auch als „päpstlicher Dogmatiker" und als Oberleutnant bei einer Kontrollversammlung t r a t er auf. Schließlich sei ein Fall von BUMKE10) angeführt: Der Herausgeber der ersten deutschen Zeitschrift f ü r Kriminalanthropologie hatte ohne jeden geldlichen Vorteil als ,,Dr. jur. et phil." ein J a h r lang neben den Arbeiten der hervorragendsten Juristen und Kriminalanthropologen gute eigene Kritiken veröffentlicht, bis herauskam, daß er bis dahin nur in seiner Eigenschaft als Strafgefangener mit der Rechtspflege in Berührung gestanden hatte.

Manche Autoren, so ASCHAFFENBUBG, JASPERS, ZIEHEN, meinen, daß diese Menschen selbst ihre Lügen glauben. Nach meinen Erfahrungen dürfte das kaum einmal vorkommen; in manchen Fällen mag es jedoch nahe heranreichen. Der oben erwähnte Patient GÖRINGS sagte: „Wenn ich ein Erzherzog bin, dann bekomme ich schon die Haltung, da mache ich nichts falsch, da wache ich als Erzherzog auf, und gehe ich schlafen, da glaube ich fest, daß ich einer bin."' Ein von mir begutachteter Schwindler kleinen Formats11) meinte: „Wenn ich unter meinem Namen auftrete, bin ich nichts, ein ganz gewöhnlicher Mensch wie andere auch; wenn ich aber Graf bin, dann machen die Leute Bücklinge." Er nahm Verurteilungen in Kauf, blieb aber auch in der Haft „Graf". In der Mehrzahl der Fälle dürfte KRAEPELIN recht haben, wenn er sagt:, ,Die Kranken wissen wohl, daß sie den Boden der Wirklichkeit verlassen, aber aus Lust am Fabulieren spinnen sie ihren Stoff eifrig weiter, ohne sich über ihr Treiben Rechenschaft zu geben." „Es ist", wie SCHNEIDER sagt, „in der Tat wie bei spielenden Kindern — es ist eigentlich sinnlos, hier zu fragen, ob sie ,glauben', daß sie Mutter, Lehrer oder Soldat sind." In vielen Fällen wird nun die Fähigkeit, geschickt zu lügen, zu kriminellen Handlungen ausgenützt: Betrügereien und Schwindeleien von der Zechprellerei über den Heiratsschwindel bis zur Hochstapelei sind die diesen Menschen adäquaten Delikte. Meist handelt es sich um Männer, es sind jedoch auch Frauen beteiligt, die durch falsche Anschuldigungen, namentlich durch phantasievolle Erzählungen von Verführungen und Entführungen gefährlich werden können. Auch Selbstbezichtigungen kommen vor. 9

) Z.Neur. 1, 1910, S. 251. ) Lehrbuch, S. 212. n ) Der auch anderweitig bekanntgewordene „Graf Baranoff". 10

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5. S t i m m u n g s l a b i l e P s y c h o p a t h e n sind Menschen mit einer „periodischen, endogen getragenen Neigung zu gesteigerten und vermehrten depressiven Reaktionen, und zwar von mürrischer und gereizter Art". Während beim Normalen der gleichmäßige Stimmungshintergrund, aus dem heraus alle gemütlichen Regungen entstehen und zu dem sie wieder zurückschwingen, Kennzeichen der gereiften Persönlichkeit ist, unterliegt die Stimmung dieser Psychopathen Veränderungen, die aus ihrem Erleben nicht ableitbar sind. Die Folge davon ist, daß an manchen Tagen minimale Reize eine überstarke Reaktion auslösen können, während an anderen Tagen alles ertragen wird. Auf der Grundlage solcher Stimmungsschwankungen kommt es dann zum Fortlaufen, zu periodischen Trinkexzessen (Dipsomanie), zu sachlich unbegründetem Aufgeben der Stellung, zu unsteter Lebensführung, bei explosiblen Stimmungslabilen zu Affekthandlungen usw. Manche Autoren nehmen Beziehungen zur Epilepsie an und sprechen von epileptoiden Psychopathen. Sicher kann das Fortlaufen und das Periodentrinken Symptom einer Epilepsie sein; in vielen Fällen ist jedoch nichts von Verwandtschaft zu bemerken. Forensisch sind Affekthandlungen, und beim Fortlaufen Gelegenheitsdiebstähle zu erwarten. 6. E x p l o s i b l e P s y c h o p a t h e n . Dieser Typ ist anscheinend in Süddeutschland häufiger als in Nordwestdeutschland. Unter den in der Münchener Klinik beobachteten Psychopathen zählte Kbaepelin ein Drittel Erregbare, wie er sie nennt, unter ihnen mehr Frauen als Männer. Unter den letzteren waren die Hälfte Alkoholiker. In Hamburg schien mir ihr Anteil an den Psychopathen wesentlich geringer zu sein. Bei sonst durchaus verschiedener Charakteranlage werden diese Menschen durch ihre Unfähigkeit, ihre Erregungen zu dämpfen, durch ihre Entladungsbereitschaft nach außen zusammengehalten. Sie brausen schon beim geringsten Anlaß auf, schlagen ohne jede Überlegung zu, werfen Sachen kaputt, machen in ihrer Wut auch Selbstmordversuche. Man bezeichnet die Art ihrer Reaktion als „Kurzschlußhandlung"'. Meistens handelt es sich um jüngere Menschen, die deswegen in Behandlung kommen; dabei spielt der Alkohol, der gerade bei ihnen besonders schädlich ist, eine Rolle. Auch hysterische Krampfanfälle werden nicht selten bei ihnen beobachtet. Beleidigungen, Sachbeschädigung, Widerstand, Körperverletzung sind die für sie typischen Delikte. Besondere Schwierigkeiten hatten diese Menschen bei der Wehrmacht, wo sie sich durch Achtungsverletzung, Gehorsamsverweigerung, tätliche Angriffe gegen Vorgesetzte, namentlich unter Alkoholwirkung, strafbar machten. Sie sind auch in der Ehe schwierig und oft ungeeignet zur Erziehung von Kindern. 7. G e m ü t l o s e P s y c h o p a t h e n . Diese Gruppe ist forensisch besonders wichtig, weil sie die aktiven Gewohnheitsverbrecher enthält. Die gemütliche Ansprechbarkeit der Menschen ist sehr verschieden: es gibt Menschen, die

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außerordentlich leicht ansprechen, die gleich mit jedermann gut Freund sind, sich leicht für alles mögliche begeistern — die Nachhaltigkeit der Begeisterung pflegt dann nicht allzu groß zu sein — ; es gibt andere, die schwerer warm werden, denen die Strohfeuerbegeisterung fremd ist, die aber, wo sie sich packen lassen, dauernde gemütliche Beziehungen aufrechterhalten; anderen fehlt jede Möglichkeit, gemütlich mitzuschwingen; es sind „freudund humorlose, eiskalte Verstandes- und Willensmenschen" ( B U M K E ) , die ihre keineswegs immer egoistischen Ziele rücksichtslos verfolgen und meist auch erreichen; und es gibt schließlich Menschen, denen jedes Gefühl für Gut und Böse, für Ehre und Schande, für Strafe und Belohnung abgeht. Diese beiden Gruppen nennt SCHNEIDER gemütlos. In ihnen sind die Gesellschaftsfeinde K B A E P E L I N S enthalten und das, was man auch als moralischen Schwachsinn, als moral insanity bezeichnet. Es liegt bei ihnen ein ausgesprochener Defekt vor; dabei kann die Intelligenz durchaus normal sein, häufiger liegt jedoch gleichzeitig ein mehr oder weniger deutlicher Schwachsinn vor. Diese seelische Mißbildung pflegt sich schon in verhältnismäßig frühem Alter bemerkbar zu machen: es sind die Kinder, die gern Tiere quälen, die die Schule schwänzen, die keine Freunde haben, weil sie sich in eine Gemeinschaft schlecht oder gar nicht einfügen können, weil sie Geschwister und Kameraden, wo sie können, verspotten und schädigen. Freilich muß man gerade bei der Beurteilung von Kindern vorsichtig sein, da fast alle Kinder aus Unverständnis oder aus Neugier grausam sein können. Sie kennen noch keine altruistischen Gefühle. „Alles das ist Schwindel und Getue", sagte ein junger Mann aus gutem Hause zu B U M K E , „die Leute machen sich nur etwas vor; kein Mensch handelt außer aus Egoismus; auch meine Eltern denken nicht daran, mich liebzuhaben; sie wollen nur damit protzen, wenn aus mir etwas wird". Diese Menschen sind meist schwer erziehbar; vielfach kommen sie in Fürsorgeerziehung, werden früh kriminell und oft rückfällig. Auch Straten machen keinen Eindruck auf sie. Roheitsdelikte, Eigentumsvergehen aller Art, Kapitalverbrechen sind bei ihnen häufig. Ein 16jähriger Junge hatte ein gleichaltriges Mädchen, das sich seinen sexuellen Wünschen widersetzte, erwürgt. E r war hinterher, nachdem er Verdachtsmomente nach Möglichkeit beseitigt hatte, als ob nichts geschehen wäre, ins Kino gegangen. Es bestand zuerst ein wenn auch geringer Verdacht auf eine beginnende Schizophrenie. In der Hauptverhandlung kamen STTJTTE und ich zu der Überzeugung, daß es sich um einen gefühlskalten Psychopathen handle, u. a. deshalb, weil sich auch die Mutter als auffallend gefühlskalt erwies. 8. Forensisch wichtig sind schließlich noch die Willenlosen oder, wie sie vielfach, m. E. nicht ganz zu Recht genannt werden, die Haltlosen. Diese Mensehen sind wie das Rohr im Winde: sie unterliegen jedem Einfluß von

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außen und von innen; sie leisten weder Verführungen durch andere noch ihren eigenen Wünschen Widerstand und sind deshalb in hohem Grade unzuverlässig. In Anstalten sind sie leicht lenkbar, musterhaft, oft gute Arbeiter; doch fehlt es ihnen an Ausdauer. Vor allen Schwierigkeiten versagen sie; schon den Anforderungen des täglichen Lebens sind sie nicht gewachsen. Auch guten Einflüssen sind sie zugänglich, Umweltfaktoren sind für sie von besonderer Wichtigkeit. Doch tritt die Beeinflußbarkeit nach der ungünstigen Seite, ihr ständiges und immer wiederholtes Versagen stärker hervor. Man sieht sie meist in jüngeren Jahren; mit zunehmendem Alter tritt eine Nachreife ein, so daß sie im Alter über etwa 30 Jahre seltener werden. Wenn es gelingt, sie ohne gröbere Entgleisungen bis dahin durchzubringen, hat man öfter gewonnenes Spiel. Man findet diese Typen vielfach mit anderen kombiniert. Willensschwach sind öfters die Hyperthymiker, manchmal auch die Explosiblen, die Stimmungslabilen und insbesondere die pseudologischen Geltungsbedürftigen. Außerordentlich leicht verfallen sie dem Alkohol; werden sie nach längerem Anstaltsaufenthalt entlassen, so enden sie gelegentlich schon in der ersten Kneipe, an der sie vorbeikommen. Auch das Zusammentreffen mit Intelligenzmängeln ist häufig; das erschwert ihr Leben, weil sie die jeweilige Situation nicht richtig beurteilen, und weil ihnen Gegenmotive, die dem Intelligenten zur Verfügung stehen, fehlen. Sie sind im allgemeinen, mindestens in ihrer reinen Form, keine aktiven Verbrecher; doch sind sie oft Mittäter; Diebstähle, Betrügereien, Unterschlagungen sind bei ihnen die häufigsten Delikte. Über die Verantwortlichkeit der Psychopathen sagt Kurt Schneider, da psychopathische Persönlichkeiten keine kranken Menschen, sondern charakterologische Spielarten seien, könne eine Exkulpierung grundsätzlich nicht stattfinden, es sei denn, daß Kombinationen mit höheren Schwachsinnsgraden oder Bewußtseinstrübungen vorlägen. Dieser Standpunkt, dem, soweit ich sehe, alle ernst zu nehmenden Psychiater zustimmen, ist auch der meinige. Die Frage ist nur: kann man den Absatz 2 des § 51 StGB anwenden ? Wilmanns meint, daß nicht verminderte Zurechnungsfähigkeit, sondern volle Zurechnungsfähigkeit bei verminderter Schuld vorliege. Ich habe zu dieser Frage bereits auf S. 44 Stellung genommen und kann daher auf die dortigen Ausführungen verweisen. Als Ergebnis derselben will ich hier nur kurz wiederholen, daß nach meiner Überzeugung manche dieser charakterlichen Abartigkeiten so schwer sind, daß man ihnen Krankheitswerte im Sinne des Gesetzes zuerkennen kann und muß12). Eine andere Frage ist, ob man aus der Zubilligung des § 51 Abs. 2 StGB eine Strafmilderung ableiten soll. Das sollte man bei den Erstverbrechern tun, vorausgesetzt, daß es sich um Delikte handelt, die mit der Möglichkeit einer späteren besseren Führung rechnen lassen. Überall da jedoch, wo mit einer solchen Besserung nicht zu 12

) Die Wehrmacht'kannte eine „seelische Abartigkeit mit Krankheitswert", bei der Wehrdienstunfähigkeit angenommen wurde.

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rechnen ist, namentlich also bei den gemütlosen Gewohnheitsverbrechern, wäre Milde verfehlt; hier muß man die Sicherung der Allgemeinheit in den Vordergrund stellen. Psychopathische Verbrecher, die im gewöhnlichen Strafvollzug gehalten werden können, sind besser in Sicherungsverwahrung unterzubringen als in Heil- und Pflegeanstalten13). Strafaussetzung zur Bewährung (§ 23 StGB) wird in geeigneten Fällen zu empfehlen sein. Anders sind die vielfach aus psychopathischer Grundlage erwachsenden abnormen seelischen Reaktionen zu beurteilen, die im nächsten Kapitel besprochen werden sollen. Eine dem Einzelfall angepaßte Beurteilung verdienen auch die schwachsinnigen Psychopathen, die Affekthandlungen, die sich ins Krankhafte steigern können und zu Bewußtseinsstörungen führen können, die unter Alkoholwirkung begangenen Delikte und schließlich Vergehen, die mit körperlichen Krankheiten erschöpfender Axt in Zusammenhang gebracht werden können. Auch der seelisch Rüstige reagiert unter dem Einfluß solcher Erkrankungen anders; namentlich sind Affekthandlungen in solchen Zuständen häufiger14). Daß Pseudologisten als Zeugen unbrauchbar sind, bedarf keiner näheren Begründung; aber auch andere Typen verfügen oft über nur geringe Selbstkritik, so daß ihre Aussage recht fehlerhaft sein kann. Das muß von Fall zu Fall geprüft werden. Die Geschäftsfähigkeit von Psychopathen ohne gleichzeitigen erheblichen Schwachsinn ist nie aufgehoben; höchstens kommen vorübergehende Störungen im Sinne des § 105, 2 BGB in Betracht. Dagegen ist öfters die Entmündigung geboten. Sie ist nützlich für manche Hyperthymiker, Geltungsbedürftige, Stimmungslabile und namentlich für die Willenlosen (Haltlosen). Bei den letzteren tut man gut, die Entmündigung schon vor dem Erreichen der Altersgrenze durchzuführen; sie wird dann weniger unangenehm empfunden. Für eine etwaige Auflösung der Ehe spielt die Psychopathie sicherlich eine überragende Rolle; doch hat der Psychiater nur ausnahmsweise damit zu tun. Die Aufhebung der Ehe aus § 32 EG scheint mir in manchen Fällen möglich, die Anwendimg des § 44 EG dagegen nur in Verbindung mit Alkohol oder dergleichen. Eine Scheidung gemäß § 45 EG kommt m. E. nicht in Betracht.

15. Abnorme Reaktionen und Entwicklungen Auf der Grundlage psychopathischer Persönlichkeitsstruktureu entstehen manchmal bei besonderen Erlebnissen verständliche, aber in ihrer Qualität, Intensität und Dauer über das Gewöhnliche hinausgehende und daher abnorme Reaktionen, die in seltenen Fällen zu systematischer Wahnbildung führen können. Auch der Gesunde wird durch schmerzliche Erlebnisse in ") Siehe dazu S. 66. ) Ich konnte das an mir selbst nach einer eingreifenden Operation beobachten.

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seiner Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt, auch der in sich geschlossene Mensch wird, wenn er sich irgendwie blamiert hat, ein beschämendes Gefühl haben. Solche Erlebnisse werden nun von psychopathischen Persönlichkeiten in verschiedener Weise verarbeitet. Depressive Psychopathen reagieren auf traurige Erlebnisse mit Verstimmungen, die nach Intensität und Dauer weit über das gewöhnliche Maß hinausgehen; aber auch andere Typen reagieren auf unliebsame Erlebnisse, etwa Enttäuschungen im Beruf, in der Ehe mit Depressionen, die namentlich bei Geltungsbedürftigen mit demonstrativen Zügen gemischt sind. Nicht selten sind dann Selbstmordversuche, die jedoch nicht ernst gemeint sind. Selten kommt es zu kriminellen Handlungen. Ich sah eine Frau, die mit einem ordentlichen aber einfachen Manne verheiratet war, der ihrem Geltungsbedürfnis nicht genügte und der ihre Tätigkeit nicht so anerkannte, wie sie das erwartete und beanspruchte. In einer unecht wirkenden Depression beschloß sie, sich das Leben zu nehmen, kaufte zu diesem Zwecke eine Pistole, die sie, da man ihr zunächst eine Schreckschußpistole gegeben hatte, gegen eine andere umtauschte. Eines Morgens trat sie damit ins Zimmer, in dem ihr Mann Zeitung lesend saß, um sich in seiner Gegenwart zu erschießen. Als sie ihn sah, packte sie jedoch der Zorn, und sie gab aus nächster Nähe einen Schuß auf ihn ab, der auch traf, aber keinen nennenswerten Schaden anrichtete, weil auch diese Pistole kein allzugefährliches Instrument war.

Dieser Fall, der manche theaterhafte Züge aufwies, führt uns zu den hysterischen Reaktionen. Früher sprach man von einer Krankheit „Hysterie". Eine solche in sich abgeschlossene Krankheit gibt es jedoch nicht. Durch psychische Erlebnisse werden Vorgänge mehr oder weniger beeinflußt. Wenn jemand beim Anblick der ersten Operation ohnmächtig wird, so ist das lediglich psychisch bedingt; wir sprechen aber in einem solchen Falle nicht von hysterischer, sondern von psychogener Reaktion. Hysterisch nennen wir es dagegen, wenn jemand, der infolge eines Schreckens zitterte, dieses Zittern fortsetzt, etwa um eine Entschädigung zu erhalten. Bei der hysterischen Bieaktion spielt also eine Tendenz, die Verfolgung eines Zweckes eine Rolle. Um etwas zu erreichen, und sei es auch nur zur Befriedigung seines Geltungsbedürfnisses, macht der Betreffende sich und anderen Theater vor. Am bekanntesten ist der hysterische Anfall. Dieser unterscheidet sich vom epileptischen Anfall in vieler Beziehung: er beginnt nach Gemütserregungen irgendwelcher Art, stets in Gegenwart anderer; der Kranke steigert sich allmählich in ihn hinein, er fällt vorsichtig, ohne sich zu verletzen, zu Boden. Die krampfhaften Bewegungen haben nicht den primitiven Charakter des epileptischen Anfalls; sie bestehen in Umsichschlagen, Strampeln, Sichaufbäumen (arc de cercle), Wälzen usw. Häufig muß der Kranke festgehalten werden. Die Gesichtsfarbe ist gerötet. Das Bewußtsein bleibt erhalten, ist höchstens getrübt. Die Dauer der Anfälle beträgt selten nur wenige Minuten, in der Regel längere Zeit, manchmal Stunden. Die Pupillenreaktion ist erhalten, pathologische Reilexe fehlen. Der Anfall endet wegen Erschöpfung oder mit theatralischem Aufwachen. Hinterher wird er vom Kranken in seiner Bedeutung übertrieben. Während man beim epileptischen Anfall den Ein-

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druck eines unbeeinflußbar ablaufenden Naturereignisses hat, wirkt der hysterische Anfall zweckbedingt, theaterhaft. Außer dem Aufall werden alle möglichen körperlichen Erscheinungen wie Erbrechen, Zittern, Einnässen, Lähmungen u. a. mehr produziert; zu solchen Reaktionen gehören schließlich hysterische Delirien und Dämmerzustände. Diese Zustände geben nur recht selten Anlaß zu psychiatrischer Begutachtung. Früher sah man sie öfters einmal in der Haft auftreten; der Hinweis, daß verminderte Zurechnungsfähigkeit einen Anstaltsaufenthalt von unbestimmter Dauer nach sich ziehen könnte, bringt derartige Erscheinungen fast immer sehr schnell zum Schwinden, da, wie schon gesagt wurde, eine befristete Strafe meist vorgezogen wird. Es gibt jedoch, wenn auch selten, Zustände dieser Art, bei denen wegen stärkster Beteiligung des Affekts das Bewußtsein getrübt sein kann. JACOBI 1 ) hat einen 25 jährigen Mann beschrieben, bei dem im Anschluß an eine spiritistische Sitzung, in der er aufregende Nachrichten erhielt, ein hysterischer Dämmerzustand auftrat. JACOBI lehnte es ab, diesen Zustand als Körperverletzung oder Verfall in Geisteskrankheit zu beurteilen; das Wesentliche für das Zustandekommen des Dämmerzustandes sei die neuropathische Konstitution, die spiritistische Sitzung sei nur als auslösendes Moment zu werten. Forensisch wichtiger sind die paranoischen Reaktionen und Entwicklungen2), weniger wegen ihrer Häufigkeit, die nur gering ist, als wegen des beträchtlichen Aufwandes an Zeit, Geduld und Arbeitskraft, die jeder einzelne Fall erfordert. Es handelt sich um den Querulantenwdhn und den sogenannten sensitiven Beziehungswahn. Wir beginnen mit dem letzteren als mit dem forensisch weniger wichtigen. Es handelt sich dabei um weiche, skrupelhafte, schwerlebige Menschen, die bei einer gewissen Selbstunsicherheit doch wieder einen lebhaften Ehrgeiz und eine hohe Selbsteinschätzung haben, eindrucksfähige Menschen, die ihre Erlebnisse nachhaltig verarbeiten, aber unfähig sind, sie nach außen abzureagieren. Kleine Verfehlungen harmloser Art, namentlich Onanie, die erotischen Wünsche alternder Mädchen, dienstliche Versehen führen zu Selbstvorwürfen. Das Gefühl der beschämenden Insuffizienz läßt sie Vorgänge in der engeren und weiteren Umgebung auf sich beziehen; allmählich entwickelt sich daraus ein systematisierter Wahn, der jedoch vor anderen sorgfältig verborgen wird, bis eines Tages die Affektstauung durchbrochen wird und es zu Handlungen kommt, die den Kranken zum Arzt oder — in seltenen Fällen — vor das Gericht führen. Am bekann] ) DZgM 6,1925, S. 248. Weiter HIRSOHMANN, Neurose und Verbrechen, Lindauer Psychotherapiewoche 1950; MEZQEB, Kriminalbiologische Gegenwartsfragen 1953,

S. 7 1 ; MÜLLEB-SUUB, Z . N e u r . 1 9 4 , 1956, S. 3 6 8 . 2

) Siehe dazu namentlich KOLLE, Die primäre Verrücktheit, Leipzig 1931 und Arch. Psychiatrie 95, 1931. Ferner KBETSCHMEB, Der sensitive Beziehungswahn, 2. Aufl., Berlin 1927; Joh. LANGE, Die Paranoiafrage in ASCHAFFENBURGS Handbuch, 1927.

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testen ist der Fall des Hauptlehrers Wagner geworden, den Gaupp beschrieben hat 3 ). Wagner hatte sich im Alter von 27 Jahren, ohne daß jemand etwas davon ahnte, sodomistisch vergangen. Unter heftigen Gewissensbissen entwickelte sich bei ihm im Anschluß an die Tat ein Beziehungswahn: er glaubte sich beobachtet, verlacht und verhöhnt, lebte in ständiger Angst, verhaftet zu werden. Eine Versetzung brachte kurze Besserung; doch hörten die quälenden Gedanken nicht auf. In einem „grauenvollen Produkt von Selbstverdammnis, Verzweiflung, Haß und Rachsucht", die auf dem Wahn beruhten, daß die Mühlhäuser Bürger in schadenfrohem Spott und Hohn von der Untat nach der neuen Stelle berichtet hätten, entschloß er sich, seine Familie und seine vermeintlichen Feinde zu vernichten. Über 6 Jahre trug er diesen Plan mit sich herum, bis er ihn im Jahre 1913, 12 Jahre nach seiner Verfehlung, ausführte. Er brachte zunächst Frau und Kinder um, fuhr dann nach Mühlhausen, steckte das Dorf an mehreren Stellen in Brand und erschoß von den herauslaufenden Bewohnern 8, während er 12 schwerverletzte. Erst dann gelang es, ihn zu überwältigen. Jetzt erst wurde seine Erkrankung bemerkt, die zur Exkulpierung führte.

Im allgemeinen ist die athenische Komponente bei Sensitivparanoikern weniger ausgeprägt. Sie führt uns hinüber zum Querulantenwahn4), der sich gerade durch sthenische Züge auszeichnet. Die Grenzen dieser Erkrankung gegenüber dem Gesunden sind durchaus fließend. Der Ausdruck „Wahn" ist daher auch nur ausnahmsweise zutreffend. Auch unter gesunden Menschen gibt es rechthaberische und kampflustige Vertreter. In der Tat hat man das Gefühl der Genugtuung und der Steigerung des Selbstgefühls, wenn man irgend etwas gegen Widerstand, namentlich von höheren Instanzen durchgesetzt hat. Manchen macht es auch Spaß, Prozesse zu führen. Bei den Querulanten sind diese Eigenschaften mit anderen gekoppelt: sie sind kampfeslustig, selbstbewußt und aktiv, halsstarrig, fanatisch, unbelehrbar, dialektisch gewandt, aber zugleich verwundbar. „Ein übertriebenes Ehrund Rechtsgefühl gibt ihnen gesetzmäßig das Stichwort zum Kampf" (Bumke). Dieser Kampf kann sich auf verschiedenen Gebieten abspielen: ein im Dienst erlittenes Unrecht, ein abgeschlagenes Rentenbegehren, ein Eingriff der Stadtverwaltung, ein Unterliegen im Rechtsstreit kann ihn heraufbeschwören. In leichteren Fällen werden alle Instanzen durchlaufen, vielleicht kommt von Zeit zu Zeit eine Eingabe, mit deren abschlägiger Bescheidung die Sache für eine Weile erledigt ist. In anderen Fällen aber entwickelt sich rasch die unerschütterliche Überzeugung im Recht zu sein, und aus dem immer vorhandenen Gefühl für das eigene Recht dann auch der Wille, diesem Recht auf jeden Fall zum Siege zu verhelfen. Dieses Ziel wird mit Verbissenheit verfolgt und schließlich zum eigenen Lebensinhalt. Dabei 3 ) Zur Psychologie des Massenmordes, Berlin 1914; ferner Z.Neur. 60, 1920 und 69, 1921, Jahrbücher der Charakterologie 2, 1926, S. 199. 4) Dazu von der Heydt, der von psychiatrischer Sicht über Querulanten berichtet, und Bttblitz, der die juristischen Probleme des Querulantentums behandelt, beide in „Richter und Arzt", herausgegeben von Kleist, Ernst Reinhardt Verlag 1956, S. 124 und 136. Weiter: von deb Heydt, Querulatorische Entwicklungen. Carl Marhold Verlag 1952; Kolle, Arch. f. Psychiatrie 95, 1931.

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kontrastiert das Gefühl für das eigene Recht in merkwürdiger Weise mit völliger Verständnislosigkeit für das Recht anderer. Auch Gesunde sind manchmal mit Entscheidungen der Gerichte nicht einverstanden, sie haben ein gewisses Mißtrauen, ob sie auch wirklich ihr Recht finden werden, sie müssen sich nicht selten mit einem ihnen angetanen Unrecht abfinden. Diese Menschen aber sehen in Urteilen, die ihnen nicht zusagen, sehr bald Methode und Absicht: man will sie schädigen, vernichten, Richter und Anwälte sind bestochen, der eigene Rechtsanwalt versteht nichts, er befolgt nicht die Instruktionen, die man ihm gibt, er ist mit den anderen im Komplott. Ein Wechsel des Anwalts führt auch zu nichts; wenn die Klagen erfolglos bleiben, so weitet sich das Komplott, es werden Angehörige, Zeugen, Gerichte bis zu den höchsten Instanzen einbezogen. Da man sich nicht alles gefallen lassen kann, da es nach Korruption stinkt, muß man mit der Faust auf den Tisch schlagen, den Leuten einmal eindeutig die Wahrheit sagen, ihnen die Maske vom Gesicht reißen; das führt dann zu Beleidigungen, zu Klagen gegen sie, zu Verurteilungen, die nun wieder als schweres Unrecht empfunden werden. Außerhalb dieses Ideenkreises ist das Denken und Urteilen dieser Kranken durchaus sachlich und verständig, so daß sie gesund erscheinen können, soweit es sich eben nicht um ihre Rechtssache handelt. Bei der forensischen Beurteilung hat man zu unterscheiden zwischen solchen Querulanten, bei denen das Querulieren nur Symptom einer Geisteskrankheit ist — Paranoia, Schizophrenie, Zyklothymie, präseniler oder seniler Abbau usw. — und einer anderen Gruppe, bei der eine eigentliche psychische Erkrankung nicht vorliegt, bei der sich das Querulieren lediglich aus Charakter, Erlebnis und Milieu entwickelt; VON D E R H E Y D T spricht bei dieser Gruppe von genuinen Querulanten. Bei der ersten Gruppe ist die zugrunde liegende Krankheit für die Beurteilung maßgebend. Bei der zweiten Gruppe, die hier allein behandelt werden soll, wird es weitgehend auf den Einzelfall ankommen. Man wird die Primärpersönlichkeit, den äußeren Anlaß, das Ausmaß und die Art des Querulierens zu berücksichtigen haben. Handelt es sich um Straftaten, die mit dem Querulieren zusammenhängen, etwa Beleidigung, Verleumdung, falsche Anschuldigung, so wird man in der Mehrzahl der Fälle doch die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit bejahen müssen (woran den Querulanten übrigens sehr gelegen ist); in einer gewissen Anzahl von Fällen wird man die Voraussetzungen des § 51 Abs. 2 bejahen müssen. Man wird in diesen Fällen im allgemeinen die Einsicht in das Unerlaubte etwa einer Beleidigung zugeben; Zweifel ergeben sich bei der weiteren Frage nach der Fähigkeit einsichtsgemäßen Handelns. Hier kann es vorkommen, daß Anreize zur Tat den Querulanten so beherrschen, daß entgegenstehende Hemmungen nicht mehr wirksam werden. In diesen Fällen taucht dann die Frage auf, ob es zweckmäßig ist, die Strafe zu mildern. Auch diese Frage kann nicht generell beantwortet werden; in der Mehrzahl der Fälle wird eine Strafmilderung aber nicht angebracht sein, und der Sachverständige sollte das Gericht in geeigneter Form auch darauf hinweisen.

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Eine nicht zu milde Strafe, die auch nicht ausgesetzt werden sollte, wirkt sich auf das Verhalten des Querulanten oft sehr nützlich aus. Sie schafft Hemmungen gegenüber Anreizen, die sonst zu kriminellen Handlungen führen würden, liegt also auch im wohlverstandenen Interesse des Querulanten. Die Anwendung des § 51 Abs. 1 ist nur in den allerseltensten Fällen berechtigt; dabei dürfen die Voraussetzungen dieses Paragraphen nur für solche Delikte bejaht werden, die Tinmittelbar mit dem Querulieren zusammenhängen. Hier kommt die Annahme einer partiellen Zurechnungsunfähigkeit zu ihrem Recht. Die Frage der Unterbringung gemäß § 42 b StGB ist in einem anderen Zusammenhang bereits besprochen (S. 65); es sei hier nur darauf verwiesen. Die Entmündigung von Querulanten setzt nicht nur eine psychische Abartigkeit voraus, sondern zugleich die Unfähigkeit, die Gesamtheit der eigenen Angelegenheit zu besorgen. Dazu gehören die Vermögensangelegenheiten, die Sorge gegenüber der Familie, der Beruf und die Sorge für die eigene Person. Es kann nun sehr wohl ein Querulant den überwiegenden Teil dieser Aufgaben erfüllen; dann ist es natürlich nicht möglich ihn zu entmündigen. Das ist die Regel, von der es im wesentlichen zwei Ausnahmen gibt: einmal kann, das Querulieren zu einer so hochgradigen Zerrüttung der Vermögensverhältnisse führen, daß auch die Familie Not leidet. In einem solchen Falle würde eine Schutzbedürftigkeit gegeben sein, die m. E. die Entmündigung rechtfertigen würde. Das gleiche gilt, wenn die krankhaften Ideen des Querulanten seine gesamten Lebensverhältnisse so beherrschen, daß seine Stellung im sozialen und öffentlichen Leben maßgebend dadurch bestimmt wird. Auch in diesem Falle fordert der Schutz des Querulanten seine Entmündigung 6 ); das gilt auch dann, wenn die Gefahr besteht, daß er in Konflikte mit der staatlichen Rechtsordnung gerät, durch die er selbst schwer geschädigt werden könnte. Ob man in diesen Fällen eine Geistesschwäche oder eine Geisteskrankheit annehmen soll, hängt von dem Schutzbedürfnis des Querulanten ab. Im allgemeinen wird die Entmündigung nur ausnahmsweise möglich sein, und man wird auch gut tun, mit entsprechenden Anträgen zurückzuhalten, weil ein solches Verfahren erneuten Stoff für die Tätigkeit des Querulanten bietet. Ein Ausweg kann die Anordnung einer Pflegschaft sein. Dagegen wird sich der Querulant sträuben; sie kann aber gegen seinen Willen angeordnet werden, wenn eine Verständigimg mit ihm nicht möglich ist. Das würde der Fall sein, wenn sein Widerspruch gegen die Anordnimg nur Ausfluß krankhafter Vorstellungen ist 6 ). Bei der Frage nach der Geschäftsfähigkeit tritt bei den Querulanten das Problem der partiellen Geschäftsunfähigkeit und damit der partiellen Prozeßunfähigkeit in den Vordergrund. Ich habe bereits oben (S. 232) dieses Problem 5

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) RGZ 170, S. 344; eingehend BUBLITZ, a. a. O., S. 139.

) RGZ 65, S. 200; Reichsjustizamt, Entscheidungssammlung in Angelegenheiten der freien Gerichtsbarkeit 6, S. 27. S. auch Kapitel Pflegschaft.

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kurz angeschnitten und darauf hingewiesen, daß eine auf ein bestimmtes Gebiet beschränkte Geschäftsunfähigkeit von der Rechtsprechung anerkannt ist. Das gilt namentlich auch für Querulanten, und zwar auch dann, wenn sich die Geistesstörung nur auf einen bestimmten von der Querulanz betroffenen Ideenkreis, also etwa auf einen bestimmten Prozeßkomplex beschränkt 7 ). Partielle Geschäfts- und Prozeßunfähigkeit wird man annehmen können, wenn ohne weiteres die völlige Aussichtslosigkeit des Prozessierens erkennbar ist, wenn außerdem durch fortgesetzte Ablehnung von Richtern, imbegründete Strafanzeigen, ständige Wiederholung der gleichen Anträge usw. erkennbar ist, daß von einer vernünftigen Überlegung nicht mehr gesprochen werden kann. Zur Ehescheidung oder -aufhebung führt der Querulantenwahn höchst selten. In der Mehrzahl der Fälle ist der Ehepartner, meistens die Ehefrau, induziert und vom Recht des andern ebenso überzeugt wie dieser selbst. In den wenigen Fällen, in denen es anders ist, in denen die Ehefrau blutenden Herzens und ohne etwas dagegen tun zu können, mit ansehen muß, wie der Kranke sich immer tiefer in seine Ideen verstrickt, kommt es höchstens dann zu einer Scheidungsklage, wenn die Ehefrau (oder der Ehemann) mit in das Wahnsystem einbezogen wird. Daß in solchen Fällen von einer geistigen Gemeinschaft nicht mehr die Rede sein kann, liegt auf der Hand. Ich habe aber bisher einen solchen Fall noch nicht gesehen. ') RG J W 38, S. 1590; RGZ 130, S. 69; OGH BrZ 4, S. 71; ROSENBERG, Lehrbuch

des Zivilprozeßrechtes, 5. Aufl., S. 170 und BUBLITZ, a. a. O., S. 143.

E R K L Ä R U N G YON F A C H A U S D R Ü C K E N Absence Aetiologie Agnosie Albumin Ambivalenz Amentia Amnesie anästhesierend Anamnese Anisokorie Aphasie apperzipieren Apraxie Assoziation Astheniker Athetose Athletiker Atrophie Aura Autismus (autistisch) Babinski basophil Befehlsautomatie Chorea

Vorübergehende Ausschaltung des Bewußtseins Ursachenlehre Störung des Erkennens Eiweißart Nebeneinanderbestehen zweier konträrer Gefühle, z. B. Liebe und H a ß akute Verwirrtheit mit Sinnestäuschungen Erinnerungslosigkeit schmerzlos machend Vorgeschichte ungleiche Weite der Pupillen Störung der Sprache bewußtes, begreifendes Erfassen von Eindrücken Störung der Handlungsfähigkeit Verknüpfung von Vorstellungen usw. schwächlicher Körperbautyp langsame, wurmartige, unwillkürliche Bewegungsart muskelkräftiger Körperbautyp Schwund Vorstadium des epileptischen Anfalls Neigung, sich von der Außenwelt abzuschließen besonderer Fußsohlenreflex heißen Gewebe, die zu basischen Anilinfarbstoffen eine besondere Neigung haben krankhafte, willenlose Fügsamkeit Veitstanz; Ch. minor auf infektiöser Grundlage; Ch. maior oder Huntington auf erblicher Grundlage

choreatische oder choreiforme Bewegungen Commotio (cerebri) Contusio (cerebri)

ruckartige, nicht beherrschte Bewegungen Hirnerschütterung Hirnprellung

Debilität Delir Demenz Depravation

Schwachsinn leichten Grades Bewußtseinsstörung mit illusionären Sinnestäuschungen Verblödung Verschlechterung, Absinken (der Moral)

Erklärung von Fachausdrücken Diabetes mellitus Dipsomanie diskordant Drusen Dysfunktion dysplastisch Dystrophie Eklampsie Elektenzephalographie endogen endokrin Engramm Enzephalitis Enzephalographie epileptoid erethisch Erysipel Euphorie exhibieren exogen Genotypus Gestation Globulin Halluzination Halluzinose Hebephrenie Heboid

401

Zuckerkrankheit periodisch auftretender Trinktrieb nicht übereinstimmende Merkmale (in der Erblichkeitsforschung) kleine klumpige Gebilde im Gehirn bei manchen Alterskrankheiten falsche Funktion Tom gewöhnlichen harmonischen Körperbau abweichend Ernährungsstörung lebensbedrohende Krämpfe in der Schwangerschaft Aufzeichnung der vom Gehirn ausgehenden elektrischen Ströme anlagebedingt mit den sog. innersekretorischen Drüsen zusammenhängend hypothetische Erinnerungsspur im Gehirn Hirnentzündung Luft-E. Röntgenaufnahmen des Gehirns nach vorheriger Luftfüllung der Hirnhöhlen epilepsieähnlich reizbar Rotlauf, Rose, Wundrose usw. subjektives Wohlbefinden Schwerkranker öffentliches Zeigen der Geschlechtsteile umweltbedingt Erbbild, Bezeichnung für die Gesamtheit der in einem Organismus vorhandenen Erbeinheiten Tragezeit, Schwangerschaft Eiweißart Trugwahrnehmung mit Leibhaftigkeitscharakter, aber ohne reale Grundlage psychische Erkrankung mit lebhaften Sinnestäuschungen, aber ohne Bewußtseinstrübung (im Gegensatz zum Delir) Unterform der Schizophrenie mit fortschreitender Verblödung eine der Hebephrenie ähnliche, aber prognostisch günstigere Form der Schizophrenie Überempfindlichkeit

Hyperaes thesie hyperaesthetischemotioneller Schwächezustand durch affektive Überempfindlichkeit bedingter Schwächezustand Hypersekretion vermehrte Absonderung Hyperthymie Zustand von gesteigerter gemütlicher Ansprechbarkeit und Außerungsbereitschaft, Vorform der Manie, besondere Form der Psychopathie bei gesteigerter Schilddrüsenabsonderung hyperthyreotisch 26 L a n g e l t i d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

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Erklärung von Fachausdrücken

Hypertonie hypoglykaemisch

gesteigerter Blutdruck mit unternormalem Blutzuckergehalt

Idiotie Illusion Imbecillität indolent Inkohaerenz Involution

schwerer Schwachsinn aus realen Wahrnehmungen durch Umbildung entstandene Trugwahrnehmung mittelschwerer Schwachsinn gleichgültig unzusammenhängender Gedankenablauf Rückbildung, Rückbildungsalter

Jackson-Anfall

epilepsieähnlicher Anfall mit Beginn in einem Glied

Katalepsie Katatonie (kataton)

Spannungszustand der Muskulatur Unterform der Schizophrenie, gekennzeichnet durch innere Spannungen besonderer Art Stehltrieb Körper, die keine wirkliche Lösung bilden können, namentlich Eiweißkörper schwere Bewußtseinstrübung übereinstimmende Merkmale bei der Zwillingsforschung Symptomenkomplex, bestehend aus schwerer Störung der Merkfähigkeit, Neigung, die Erinnerungslücken durch Confabulationen auszufüllen, und Nervenentzündungen. Ursache meist schwerer Alkoholmißbrauch

Kleptomanie Kolloide Koma konkordant Korsakow-Syndrom

leptosom Liquor cerebrospinalis lobar Lumbalpunktion

schlankwüchsig Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit einen Lappen (des Gehirns) betreffend Punktion des Rückgratkanals zur Gewinnung von Liquor in der Lendengegend

Makropsie

Größersehen von Gegenständen, als es der Wirklichkeit entspricht Psychische Erkrankung mit gesteigerter Lebhaftigkeit des Denkens und Handelns Zeit der ersten Menstruation Hirnhautentzündung Aufhören der Menstruation Ableger einer Geschwulst in anderen Organen (namentlich bei Krebs) Fehlen moralischer Hemmungen fortschreitende Erkrankimg des Rückenmarks, manchmal unter Beteiligung des Gehirns

Manie Menarche Meningitis Menopause Metastase Moral-insanity Multiple Sklerose

Narkolepsie Negativismus

anfallsweise auftretende Schlafzustände sinnloses Widerstreben (häufig bei Schizophrenie)

Erklärung von Faohausdrücken

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Neurofibrillen Noctambulismus

feinste Fäserchen der einzelnen Nervenfaser Nachtwandeln

Oedem Oligophrenie

Wasseranreicherung in der Haut Schwachsinn

Paralyse Paranoia paranoid Paraphrenie

Lähmung Psychische Erkrankung mit systematisierten Wahnideen wahnhaft Krankheit mit wahnhaften Ideen, bei der die sonstige Persönlichkeit relativ gut erhalten ist für die Krankheit ursächlich das Erscheinungsbild der Krankheit formend Haften an Vorstellungen wahrnehmen Erscheinungsbild (im Gegensatz zu Genotypus) wieder zur Norm abklingende Krankheitserscheinungen Entzündung mehrerer Nerven Wandertrieb bevorzugte Typen, die einer Schädigung leichter erliegen vor der Erkrankung (z. B. Verhalten vor d. E.) die dem Ausbruch einer Erkrankung unmittelbar vorhergehende Zeitspanne voraussichtliche Entwicklung scheinbare, nicht wirkliche Verblödung z. B. bei Hysterikern Sinnestäuschungen auf dem Boden von Vorstellungen Psychopathen mit Neigung zu phantastischen Lügereien psychisch bedingt rundlicher Körperbau mit Neigung zu Fettansatz Neigung zu kurzen Bewußsteinsstörungen ohne Krampfanfälle Feuertrieb

pathogenetisch pathoplastisch Perseveration perzipieren Phaenotypus Phase Polyneuritis Poriomanie Praedilektionstypen praemorbid Prodromalstadium Prognose Pseudodemenz Pseudohalluzination Pseudologisten psychogen pyknisch Pyknolepsie Pyromanie Remission retrograde Amnesie llezessivität schizoid Schizophrenie schizothym Schub Sklera Sodomie Somatose Somnambulismus spasmophile Anfälle sthenisch 26*

Besserung Erinnerungsverlust, über das auslösende Ereignis zurückreichend überdeckter Vererbungsmodus im Gegensatz zum dominanten schizophrenieähnlich häufigste Geisteskrankheit gesunde charakterliche Vorform der Schizophrenie zeitlich begrenztes Fortschreiten eines Krankheitsprozesses die Lederhaut (das Weiße) des Auges Unzucht mit Tieren körperliehe Erkrankung (als Grundlage einer Psychose) Schlafwandeln auf bestimmte Gebiete, z. B. Kehlkopf, Lungen usw. beschränkte tonische Krämpfe charakterlich: durchsetzungsfähig

404 Stupor (stuporös) Suboccipitalpunktion Syndrom synton Tabes dorsalis Tetanie tetanische Anfälle Tonus (tonisch) torpide Toxine (toxisch) Trauma traumatisch Uraemie Vegetatives Nervensystem Veitstanz verbigerieren versatil Vigilität Vulnerabilität

Erklärung von Fachausdrücken psychisch bedingtes bewegungsloses Daliegen Punktion des Rückgratkanals unmittelbar unter dem Hinterkopf Symptomgruppe harmonisch, ausgeglichen sog. Rückenmarksschwindsucht auf dem Boden einer Syphilis Erkrankung der Nebenschilddrüse besonders geartete Muskelkrämpfe bei erhaltenem Bewußtsein Spannungszustand der Muskulatur gefühllos-gleichgültig Gifte (giftig) Verletzung durch eine Verletzung (Unfall, Schlag usw.) bedingt Harnvergiftung das dem Willen entzogene Nervensystem, das namentlich die Funktion der Organe (Herz, Magen usw.) reguliert Erkrankung bestimmter Hirnkerne, charakterisiert durch unkoordinierte, ausfahrende Bewegungen (s. Chorea) beständiges sinnloses Wiederholen von Worten oder Sätzen beweglich, wechselnd im Verhalten (der Aufmerksamkeit) Wachsamkeit psychische Verwundbarkeit

SACHVERZEICHNIS Abartige, charakterlich — 6, 43, 45, 186, 384ff. Aberglaube und Wahnidee 288 Ablehnung des Sachverständigen 11 Abnorm 4, 384; — e Reaktionen und Entwicklungen 393 Abnormer Bausch 70 Absence 362 Actio libera in causa beim Rausch 77 Adaequanztheorie 151 Äquivalenztheorie 151 Äther 78 Affekt 25, 292, 294; körperliche Symptome bei — en 26; Erinnerung bei — en 29; Wirkung von — en auf die Wahrnehmung 273; pathologischer — 296 Affekthandlung 26; forensische Beurteilung der - 28, 296 Affektlabilität 294, 390 Affektstauung 296 Affektverzögerung 296 Alkohol, psychische Störungen durch — 341 Alkoholdelikte 67; Art der - 67; Entscheidungen des Reichsgerichts bei — n 73; Häufigkeit der — 67; — und Hirnverletzung 311; strafrechtliche Behandlung der — 67 Alkoholepilepsie 346 Alkoholkriminalität 67 Alkoholmißbrauch 342; Geschäftsunfähigkeit bei - 346 Alkoholhalluzinose 345 Alkoholismus chronicus 342 Alkoholrausch, einfacher — 33, 68; abnormer — 70; pathologischer — 70 Alkoholversuche 74 Allgemeiner Teil eines Strafgesetzbuches 167

Alterskriminalität 90, 330 Alzheimersohe Krankheit 327 Amnesie bei Affekten 29; retrograde — 282, 309 Amentia 333 Anämie, psychische Störungen bei perniciöser — 334 Analogienovelle 16 Anankasten 386 Anfechtung eines Rechtsgeschäfts 196; —sklage Entmündigter 225 Angelegenheiten 212 Angestelltenversicherung 246 Anlage 2; — zu Geisteskrankheiten als persönliche Eigenschaft 258; — und Umweltproblem 132; - t ä t e r 141, 142 Antrag auf Beobachtung 188; — auf Entmündigung 221 Anstifter 16, 175 Arbeitshaus, Unterbringung in einem — 59 Arbeitstherapie 157 Arrest, Jugend - 126, 127, 144 Arteriosklerose des Gehirns 34, 324, 325 Arzneimittelmißbrauch 79 Asoziale in Heil- und Pflegeanstalten 66 Assoziationsgesetze 284; —versuch 284 Asyl, Unterbringung in einem — 59 Auffassung 279 Auferlegung von Pflichten 126 Aufgabe des Sachverständigen 2 Aufhebung der Ehe 256; Frist zur Einleitung der Aufhebungsklage 256; — der Entmündigung 226 Aufklärungspflicht 164 Aufmerksamkeit 279 Aufschub der Maßregeln der Sicherung und Besserung 61 Augenblicke, lichte 199

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Sachverzeichnis

Auskunftspflicht 160 Aussage von Kindern 275; —psychologie 274; —Verweigerung 160, 177 Aussetzung des Entmündigungsverfahrens 224; — der Verhängung der Strafe 127, 128; - der Strafe 113, 125; - der Strafe bei Süchtigen 83; bedingte — der Unterbringung 61 Auswahl des Sachverständigen 178 Badisches Irrenfürsorgegesetz 154 Basedowsche Krankheit 335 Bayrisches Verwahrungsgesetz 166 Bedingte Entlassung 113; —r Strafaufschub 180f Begehrungsvorstellungen 248 Behandlung von Sittlichkeitsverbrechern 101; — Geisteskranker 156 Beischlaferschleichung 86 Belastung, erbliche 3 Benommenheit 333 Beobachtung, kriminalbiologische 129; psychiatrische — 188 Berufsausbildung jugendlicher Strafgefangener 145 Berufsausübung, Verbot der — 60, 85, 174 Berufsgeheimnis 158, 177 Berufsvormund 84 Beschlagnahme von Krankengeschichten 163 Besorgung der Angelegenheiten 211 Besserung, Maßnahmen der Sicherung und - 57 ff. Betrunkene Frauen, sexuelle Delikte an - 149 Bettler 59, 62 Bewahrungsanstalt 170, 172 Beweislast 198,199 Bewußtlose, sexuelle Delikte an — n 147 Bewußtlosigkeit 15, 20, 147, 149, 201; - bei Hirnerschütterung 308 Bewußtsein 20; alternierendes — 33 Bewußtseinsstörung 17, 20; bei Affekten 22; — beim Alkoholrausch 69; — bei Dämmerzuständen 32; — bei Fieberdelirien 31; — bei Gebärenden 31; — bei Hypnose 24; — bei Nachtwandeln

23; — bei Schlafzuständen 22; — bei Übermüdung 22 Beziehungswahn 372 Biologische Voraussetzungen im §51 StGB 17,20 Bleivergiftung 360; Dämmerzustand bei - 360 Blutschande 86 Borstalschule 124 Bürgerliches Recht 194ff. Chorea Huntington 328; — minor 329 Cliradon 79, 353 Commotro cerebri 152, 308 Commotionspsychose 308 Compressio cerebri 307 Confabulationen 280 Contusio cerebri 152, 308 Dämmerzustand 32, 33, 334; — bei Bleivergiftung 360; — bei Epilepsie 363 Dauerarrest 127 Dauer der Unterbringung 59 Dauerhaft 168 Debilität 302 Defekte, geistige - 50, 329 Delikte, sexuelle 85ff.; — an Geisteskranken 146; — an betrunkenen Frauen 148; - an Bewußtlosen 146, 149 Deliktfähigkeit 194, 237; - Jugendlicher 237f.; - bei Kindern 237; - Taubstummer 238; — und Entmündigung 239; — und Rauschzustände 238 Deliranter Rausch 70 Delirium 31, 333; Fieber 31; tremens 343 Dementia simplex 369 Demenz, epileptische 362; schizophrene - 374; senile - 34, 44, 203, 324 Denken, Störungen des — s 283; Denkhemmung 285; ideenflüchtige Denkhemmung 285; inkohaerentes — 285; umständliches — 284; zerfahrenes — 285; Zwangs- 286 Depression 380; Depressionszustände 202 Depressive Wahnideen 380 Diabetes mellitus 335 Dicodid 353

Sachverzeichnis Dipsomanie 299, 341, 390 Dolantin 79; —sucht 355 Dranghandlungen 100, 101, 322 Drangzustände 100, 101, 301, 323 Duldung von Operationen 250 Dummheit 36 Dystrophie 329 Ehe und psychische Störungen 253 ff.; Aufhebung der - 255, 256ff.; Nichtigkeit der - 255; Scheidung der - 262ff. ; Wesen der - 267 Ehefähigkeit 254 Ehegesetze von 1938 und 1946: 194, 253 Ehemündigkeit 256 Eherecht 195 Ehescheidung 262; — ohne Verschulden 264; — bei Hirnverletzten 312; - bei progressiver Paralyse 318 Eheschließung und Geschäftsunfähigkeit 254; — und beschränkte Geschäftsfähigkeit 254 Eheverfehlung, Verantwortlichkeit bei 265 Ehrennotstand 32 Eidesfähigkeit Geisteskranker 32; 184, 233 Eifersuchtswahn 205, 290 — der Trinker 345; Prozeßfähigkeit bei - 232 Einfluß anderer Personen 203 Eigenschaften, persönliche 257 Eingliederung entlassener Strafgefangener 181 Einsichtsfähigkeit 36 Einstellung, vorläufige — des Verfahrens 190 Eklampsie 32 Elektenzephalogramm 153 Endogene Psychosen, Ursache der — 153 Enthaltsamkeitsvereine 82 Entlassung Geisteskranker 157 Entmannung 101; — in anderen Ländern 103; Erfolge der - 106; Folgen der - 106,109; Indikation zur - 105,111; Besozialisierung bei — 107 Entmündigung 209; — wegen Geistesschwäche und Geisteskrankheit 210; — wegen Trunksucht 84, 218; — wegen Verschwendung 217; — und Delikt-

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fähigkeit 239; — und Eheschließung 254; - Alterskranker 330; - Gehirnverletzter 312; — von Psychopathen 216; — bei progressiver Paralyse 318; — von Querulanten 216; — von Schwachsinnigen 307; — von Süchtigen 84, 227; Voraussetzungen der — 211; Wiederaufhebung der — 226 Entmündigungsverfahren 221; Anfechtungsklage 225; Aussetzung des — 224 Entnahme von Blut usw. 189 Entweichungen Geisteskranker 155 Entwicklung, abnorme 393; — der Sexualität 87,135 Entwicklungstäter 141 Enzephalitis epidemica 319; Drangzustände bei - 101, 321, 322; Ehescheidung bei — 323; Formen der — 319f.; Geschäftsfähigkeit bei — 323; strafrechtliche Beurteilung der — 54, 322; Zurechnungsfähigkeit bei — 322f. Enzephalogramm 165 Entziehungsanstalt, Unterbringung in einer 58, 80,173 Epidemische Enzephalitis s. Enzephalitis Epilepsie 32, 202, 360; traumatische — 310, 363; Anfälle bei - 360; Dämmerzustände bei — 363; Demenz bei — 362; Geschäftsunfähigkeit bei — 366; strafrechtliche Bewertung der — 366; Verstimmungen bei — 360; Wesensveränderung bei — 360 Erbliche Belastung 3 Erbrecht 195 Erbvertrag 236 Erfolgshaftung 150, 239 Erfolgsverbrechen 151 Erinnerungslücken 29 Erinnerungsfälschungen 207, 213 Erinnerungslosigkeit bei Affekten 29 Erinnerungsmängel 185 Erpressertum 96 Erwartung, Einfluß der — auf die Wahrnehmung 273 Erziehbarkeit Jugendlicher 129 Erziehungsmaßregeln in Mitteldeutschland 143; — in Westdeutschland 124

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Essentielle Hypertonie 326 Eukodal 78, 353 Exhibitionismus 92 Expansive Ideen 291 Exogene Praedilektionstypen 332 Explosive Psychopathen 390 Fallsucht, erbliche 360 Familie 3 Fanatiker 387 Fetischismus 99 Fieberdelirien 31 Fleckfieber, Enzephalitis nach — 329, 334 Fortlaufen 299; - bei Epilepsie 363 Fortpflanzungstrieb 87, 298 Freiheitsentziehungsgesetz, Hessisches 154 Freizeitarrest 127 Freizeithaft 168 Freßgier 298 Frist der Eheaufhebungsklage 262 Frühkriminalität 116 Gebärende, abnorme Zustände der —n 31, 341 Gebrechlichkeit, Pflegschaft bei - 229 Gebühren, Sachverständigen— 11, 179 Gedächtnis, Störungen des — ses 279 Gedächtnisausfall 281 Gedankenentzug 373 Gedankenlautwerden 371 Gefährdung der öffentlichen Sicherheit 64 Gefährdung Einzelner 65 Gefährdungshaftung 239 Gefühl, Störungen des — s 292 Geheimhaltungspflicht 159, 160 Gehilfe des Arztes 158; — des Täters 16, 175 Gehirnarteriosklerose 324 Gehirnerweichung 313 Gehirnerschütterung 152, 307 Gehirngeschwülste 329 Gehirnhautentzündung 329 Gehirnkontusion 152, 307 Gehirnkrankheiten 34, 324 Gehirnsyphilis 316; strafrechtliche Bewertung der — 318 Gehirnverletung 152, 307; — bei Jugendlichen 312; Dämmerzustände bei —

308; Drangzustände bei — 101; Ehe bei — 312; Entmündigung bei — 312; strafrechtliche Beurteilung der — 50, 55, 310 Gehörstäuschungen 276 Geisteskranke als Angeklagte 188; — als Angeschuldigte 188; — als Anzeiger von Verbrechen 187; — als Verurteilte 191; — als Zeugen 183; Entlassung von —n 157; Entweichung von — n 155; einstweilige Unterbringung von —n 190; sexuelle Delikte an —n 146; Verhandlungsfähigkeit von — n 190 Geisteskrankheit (BGB) 35, 214; (EG) 35, 269; als persönliche Eigenschaft 256ff.; Verfall in Geisteskrankheit 150, 191 Geistesschwäche (BGB) 35, 214; (StGB) 16, 34 Geistestätigkeit, krankhafte Störung der - (§ 51 StGB) 16, 34 Geisteszustand zur Zeit der Tat 19 Geistig Defekte 50 Geistiges Gebrechen 229 Geistige Gemeinschaft 267; Wiederherstellung der - 267 f. Geistige Störung (EG) 35, 253 ff. Geltungssüchtige 388 Gelüste der Schwangeren 298, 339 Gemachte Gedanken 373 Gemeingefährlichkeit 64 Gemeingefühl 293 Gemütlose 390 Generationsvorgänge, Störung der — 337 Genotypus 4, 258 Gerichtliche Psychopathologie, Allgemeine - 272ff.; spezielle 302ff. Geruchstäuschungen 278 Geschäftsfähigkeit 194,195,197 Geschäftsfähigkeit, beschränkte 207; Rechte bei — 209 Geschäftsfähigkeit, partielle 42, 203 Geschäftsunfähigkeit 197; — bei Alterskranken 330; — bei Epilepsie 202; — bei Paranoia 205; — bei progressiver Paralyse 318; — bei Querulanten 205; Entwicklung der Formulierung der — 197; Rechte bei - 208; - und Eidesfähigkeit 231; — und Eheschließung

Sachverzeichnis 254; - und Prozeßfähigkeit 231; Wirkung der - 207 ff. Geschäftsunfähigkeit, partielle 203, 204; — bei Eifersuchtswahn 205; — bei Querulantenwahn 205, 398 Geschlechtstrieb 298; Störungen des — s 87; Entwicklung des - s 90ff. Geschmackstäuschungen 278 Gesellschaftsfeinde 391 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher 13, 47, 58 Gesetz über Eintragung und Tilgung im Strafregister 181 Gesetz über Errichtung von Testamenten und Erbverträgen vom 31. 7. 1938 194 Gesetz zur Änderung und Ergänzung kostenrechtlicher Vorschriften 11 Gewerbe, Verbot der Ausübung eines — s 60

Gewohnheitsverbrecher 13, 47, 66 Gewöhnung an Gifte 348 Gifte 347 Glaubwürdigkeit von Geisteskranken 186, 282; - von Zeugen 185 Grenzzustände 34 Größenideen 287, 291 Gutachten, Anforderung an — 9, 17; — über Kranke an Privatpersonen 9, 162 Gutachter 7 Haftendes Denken 284 Haftung 239 Halluzinationen 276; — des Gehörs 276; — des Gesichts 278; — des Geruchs und Geschmacks 278 Halluzinose 203, 334 Haltlose Psychopathen 391 Handlungen, unerlaubte 194 Handlungsfähigkeit 37, 194 Haschisch 358 Heil- und Pflegeanstalt, Unterbringung in einer — 57 Heimerziehung 144 Heimweh 300 Heranwachsende, strafrechtliche Behandlung der - n 123, 139 Heroin 78, 353 Herzfehlerpsychosen 336

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Hirn s. Gehirn Homosexualität 93 ff. Hunger, Folgen des — s 329 Hyperthyme Psychopathen 386 Hypertonie, essentielle 326 Hypnose, forensische Bedeutung der — 24; Wesen der - 24 Hypnotisierte, sexuelle Angriffe auf — 149 Hypochondrische Ideen 287 Hysterie 394; hysterische Anfälle 394; hysterische Reaktion 394 Ideen, depressive — 289; Größen— 287, 291; hypochondrische - 287, 289; Kleinheits— 287; Versündigungs— 287; überwertige — 286; wahnhafte — 287; Wahn - 286 Ideenflucht 285, 381 Ideenflüchtige Denkhemmung 285 Idiotie 302 Illusionen 276 Illusionäre Verkennungen 274, 275 Imbecillität 302 Imperative Stimmen 277 Infektionskrankheiten 331 Initialdelir 334 Inkohärentes Denken 285 Intelligenzalter 303 Invalidenversicherung 246 Irrenarzt 157; Verantwortlichkeit des — s 154 Irrenfürsorgegesetz, Badisches 154 Irrenpfleger 157; Verantwortlichkeit des —s 154 Irrtum über persönliche Eigenschaften des Ehepartners 256 Isolierung Geisteskranker 156 Jackson — Anfall 310 Jugendarrest 125, 126, 144 Jugendgefängnis 125 Jugendgericht 124; Jugendrichter 124; Jugendschöffen 124; Jugendstaatsanwalt 124 Jugendgerichtshilfe 132 Jugendgerichtsgesetz (JGG) vom 16. 2. 1923 124; vom 23. 5.1952 (Mittel-

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deutschland) 143; vom 4. 8.1953 (Westdeutschland) 126 Jugendliche, Kriminalität der — n 136; strafrechtliche Behandlung der —n 123 Jugendpsychologie 130 Jugendrichter 124 Jugendschöffen 124 Jugendstaatsanwalt 124 Jugendstraf recht 123ff. Jugendwohlfahrtsgesetz 194 Juvenila Paralyse 319 Kausalität 150, 239 Kausalzusammenhang 150, 151, 240 Kinderaussagen 275 Kleinheitsideen 287 Kleptomanie 300 Klimakterium 337, 341; - virile 328 Kohlenoxydvergiftung 154 Kokain 78; —mißbrauch 353; — paralyse 354; —Wahnsinn 354; strafrechtliche Bewertung des — mißbrau chs 354 Koma 32, 333 Konträre Sexualempfindung 93 ff. Körpergefühl, Störungen des — s 278 Körperhöhe Erkrankungen, psychische Störungen bei — 331 Körperverletzung 156 Korsakowsche Krankheit 203, 346 Krampfanfall 360 Krampfkrankheiten 360 Krankengeschichte, Verleihung von —n 160,162 Krankhafte Störung der Geistestätigkeit 16, 34 Krankheitsbegriff, forensischer 34 Krebs, psychische Störungen bei — 334 Kriegsneurotiker 243 Kriminalbiologische Untersuchung 112 ff.;

Ladendiebinnen und Menstruation 338 Landstreicher, Wandertrieb bei —n 299 Lästige Querulanten 65 Lebensgemeinschaft, dem Wesen der Ehe entsprechende 267; Wiederherstellung der - 267 Leibliche Triebe 298 Lesbische Liebe 98 Libido nach Entmannung 109 Lichte Augenblicke 205 Lues cerebri 316; strafrechtliche Bewertung der — 318 Lügen 282; pathologische — 281 Luftenzephalogramm 153,189 Lumbalpunktion 189 Lungenentzündung 336

Makropsie 275 Manie 381 Manisch — depressives Irresein 34, 379; Diagnose 382; Depression bei — 380; Erbprognose bei — 379; Ehescheidung bei — 384; Entmündigung bei — 383; Geschäftsfähigkeit bei — 383; Häufigkeit des — s 379; Selbstmordgefahr bei - 382; Ursache des - s 153, 379; Verantwortlichkeit bei — 383; Verlauf des - s 381 Manischer Stupor 381 Marihuana 358 Maßregeln der Sicherung und Besserung 57, 170,175,176 Masochismus 92 Melancholia agitata 381 Melancholische Ideen 380 Menarche 338 Meningitis 329 Menstruation 135; Kriminalität bei der — 338; psychische Störungen bei der -337 — Jugendlicher 129 Merkfähigkeit, Störungen der — 280 Mikrospie 275 Kriminalität der Alterskranken 329; — Minderjährige, Rechte der —n 195 bei Enzephalitis epid. 321; — Jugendlicher 136; — im Klimakterium 341; Mindestdauer der Strafe 128 — bei progressiver Paralyse 317; — bei Mischzustände, manisch-depressive 381 Mitverschulden 239, 250 Schwachsinn 305 Möglichkeit der erheblich verminderten Kuppelei 86 Zurechnungsfähigkeit 50 Kurzarrest 127

S achVerzeichnis Mondsucht 23 Moralische Depravation bei Suchten 351 Moral insanity 294, 391 Moralischer Schwachsinn 294, 391 Morphinkranke 351 Morphium 78, 350;—hunger 79 Morphiummißbrauch 350; Delikte bei — 351; Entziehungserscheinungen bei — 351; Prognose des — s 351; strafrechtliche Bewertung des — s 351; Symptome bei - 350 Motivation 38; — bei Neurosen 243 Müdigkeit 21 Multiple Sklerose 329 Nachtwandeln 23 Nahrungstrieb 298 Narcolepsie 364 Narkose, Duldung der — 250; sexuelle Delikte an Narkotisierten 149 Neigungstäter 168 Neurose 152,242; Rechtsprechung bei — n 245 Nichtigkeit 196; - der Ehe 255 Nichtigkeitserklärungen 206 Nichtvereidigung von Zeugen 178, 184 Nikotinmißbrauch 227 Noctambulismus 23 Nötigung zur Unzucht 86 Notstand 220 Notzucht 86 öffentliche Sicherheit, Gefährdung der — 65 Ohnmacht 149 Operation, Duldung einer — 256 Opium und seine Abkömmlinge 350 Optalidon 356 Pantopon 78, 353 Paralyse, progressive 34, 313; Behandlung der — 316; Diagnose der — 314; Ehescheidung bei — 318; Entmündigung bei — 318; Geschäftsfähigkeit bei — 318; Formen der — 314; Kriminalität bei — 318; strafrechtliche Bewertung der behandelten Paralytiker 51, 317; Ursache der - 153, 313; Verlauf der - 315

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Paralysis agitans 329 Paranoia, Geschäftsfähigkeit bei — 205 Paranoische Entwicklung 395; — Reaktion 395 Parkinsonismus 320 Partielle Geschäftsfähigkeit 42, 203, 291; - Geschäftsunfähigkeit 42, 204, 291; — Zurechnungsfähigkeit 39, 291; — Zurechnungsunfähigkeit 39 Pathologischer Affekt 296; - Rausch 70, 311; - Rausch und Deliktfähigkeit 238 Perseveration 284 Personenrecht 195 Persönliche Eigenschaft 256 Pervitin 79; - s u c h t 357 Petit mal 362 Pflegerbestellung 193 Pflegschaft 228 Pflichten für Jugendliche 126; — für Süchtige 84; - für Trinker 84 Phänotypus 258 Phanodorm 79; —sucht 356 Phobie 387 Picksche Krankheit 327 Pneumonie 336 Pockenimpfung, psychische Störungen nach - 329 Polamidon 355 Polioenzephalitis haemorrhagica superior 346 Poriomanie 363 Potenz nach Entmannung 109 Präsenile Seelenstörung 328 Presbyophrenie 326 Primitive Völker, Denken der — 283 Prognose bei jugendlichen Verbrechern 129, 137; soziale - 112 Prostitution, männliche 96, 98 Prozeßfähigkeit 231; — bei Eifersuchtswahn 232; — bei Querulanten 232 Prozeßunfähigkeit, beschränkte 232 Pseudologisten 186, 281, 388 Psychogene Störungen 152 Psychologie der Aussage 275; medizinische — 6; normale — 6 Psychologisches Experiment 74 Psychologische Voraussetzungen des § 51 StGB 35

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Psychopathen 203, 384; explosible - 390; fanatische — 387; geltungsbedürftige - 388; gemütlose - 390; haltlose — 391; hyperthymische 386; moralischschwachsinnige — 291; selbstunsichere 386; stimmuiigslabile 390; willenlose — 391; - als Zeugen 393 Psychopathie 6, 35, 384; Eheauflösung bei — 393; Entmündigung bei — 216, 393; Geschäftsfähigkeit bei - 203, 393; strafrechtliche Bewertung der — 43, 45, 392 Psychopathologie 6; allgemeine gerichtliche — 272; spezielle gerichtliche — 302 Psychose 6, 34; Geschäftsunfähigkeit bei - 202; Verlauf der - n 7 Pubertät 135 Punktverfahren für die Prognose 114 Pyknolepsie 364 Pyromanie 299 Querulanten 65, 395; Eheauflösung bei — 399; Entmündigung von - 216, 398; Geschäftsfähigkeit bei - 205, 398; Pflegschaft bei - 230, 398; Prozeßfähigkeit der — 232; strafrechtliche Beurteilung der - 40,397; - wahn 287, 290, 395 Bausch, Alkohol— 68; pathologischer — 70; — dämmerzustand 70 Rauschgiftsucht 78, 347; Delikte bei — 80; Entmündigung wegen — 84; strafrechtliche Behandlung bei — 58, 67, 80, 351, 354, 356, 359; Unterbringung wegen — 58, 80 Reaktionen, abnorme 393 Reaktionsbereitschaft, erhöhte — als Eheaufhebungsgrund 260 Recht, bürgerliches 194; Straf— 13 Rechtsfähigkeit 195 Rechtsgefühl, Entwicklung des —s 135 Rechtsgeschäfte 195,196 Reichsgericht, Rechtsprechung des — s bei Neurosen 247 Reichsjugendgerichtsgesetz von 1943 (RJGG) 125

Reichsversicherungsamt, Rechtsprecnung des — s bei Neurosen 245 Reichsversorgungsgericht, Rechtsprechung des — s bei Neurosen 245 Reichswirtschaftsgericht, Rechtsprechung des — s bei Neurosen 247 Reifegrad 130 Reifungshemmungen 134 Reifejahre 134 Rentenbegutachtung Hirnverletzter 312 Resozialisierung nach Entmannung 107 Retrograde Amnesie 282 Rorschachscher Formdeutversuch 284 Rückenmarkschwindsucht 316 Sachverständige, Aufgabe des — n 20; Bezahlung des — n 11, 179 Sadismus 91 Schadenersatzpflicht 237 Schändung 86 Scheidung der Ehe 262 Schizophrenie 34, 267; Diagnose der — 375; Erblichkeit der — 368; forensische Bedeutung der — 376; Häufigkeit der— 367; strafrechtliche Beurteilung der — 378; strafrechtliche Beurteilung der mit Defekt geheilten Schizophrenen 51, 53; Symptomatologie der — 367 ff.; Ursache der — 153, 368; Verlaufsformen der — 369; zivilrechtliche Beurteilung der - 378 Schlaf, forensische Bedeutung des — s 23 Schlafmittel 356 Schlaftrunkenheit 23 Schlafwandeln 23 Schreckstupor 295 Schulalter 134 Schutzaufsicht 144 Schwachsinn 34, 44, 202, 302; Ehe bei — 307; Entmündigung bei — 307; Geschäftsfähigkeit bei - 204, 307; Kriminalität bei — 305; rechtliche Bewertung des — s 305 Schwangerschaft, Gelüste bei — 298, 339; psychische Störungen während der — 337, 339; — sunterbrechung bei Geisteskranken 166 Schweigepflicht 158

Sachverzeichnis Seelische Triebe 298 Sehen, Störungen des — s 278 Selbstbeschuldigung 283, 289 Selbstentfaltungstrieb 298 Selbsterhaltungstrieb 298 Selbstmord 30, 251; — in Anstalten 157, 289; Selbstmordgefahr 165; - bei Manisch-Depressiven 157 Selbstunsichere 386 Senile Demenz 34, 44, 203, 324 Sensitiver Beziehungswahn 395 Sexualempfindung, konträre 93 Sexualität, Entwicklung der — 87, 135 Sexualtrieb 87 Sexuelle Delikte 85ff.; — an betrunkenen Frauen 148; an Bewußtlosen 147; an Geisteskranken 146; — an Willenlosen 147; — als Zeichen von Gefühlsdefekten 294 Sicherheit, Gefährdung der öffentlichen - 65 Sicherung, Maßregeln der — und Besserung 57 Sicherungsaufsicht 170, 171 Sicherungsverwahrung 59, 113, 170, 171 Siechtum, Verfall in - 150, 152 Sinnestäuschungen 276 ff. Simulation 282 Sitten, Verstoß gegen die guten — 207 Sittlichkeitsprozesse 275 Sittlichkeitsverbrecher, Entmannung von - n 101 Sodomie 98 Somnambulismus 23 Spasmophile Anfälle 365 Spätkatatonie 328 Stereotypes Denken 284 Stimmenhören 276 Stimmung 26, 292; Schwankungen der — 26; Störungen der — 293 Stimmungslabile Psychopathen 390 Störungen der Affekte 292; — des Denkens 283; — des Gedächtnisses 279; — der Gefühle 293; — des Gehörs 276; — des Geruchs 278; — des Geschmacks 278; - der Merkfähigkeit 279; — des Sehens 278; — der Stimmung 293; — derTriebe 297; — desWahrnehmens273

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Störung, krankhafte — der Geistestätigkeit 16, 34 Strafaussetzung zur Bewährung 170; — auf Probe 125; bedingte - 113, 127, 144,180; - bei Süchtigen 83 Strafdauer 127,144; unbestimmte — 127, 144 Strafhaft 168 Strafmakel, Auslöschung des — s 181 Strafmilderung bei § 51 Abs. 2 StGB 48, 49 Strafprozeßordnung, mitteldeutsche 177, — westdeutsche 183 Strafrecht in Mitteldeutschland 174, — in Westdeutschland 13 Strafrechtliche Behandlung Jugendlicher und Heranwachsender in Mitteldeutschland 143; — in Westdeutschland 123 Strafrechtsangleichs Verordnung 16 Strafrechtsergänzungsgesetz (Mitteldeutschland) 181 Strafregister, Tilgung der Strafe im — 181 Strafvollstreckung bei Jugendlichen 128, 145 Strafvollzug 125 Strichjungenwesen 96 Suchten 347; Delikte bei - 351, 354, 356, 359; Unterbringung wegen — 80 Suchtdelikte, strafrechtliche Behandlung der - 58, 67, 351, 354, 356, 359 Süchtige, Entmündigung der — n 84; Unterbringung der — n 58, 80 Symptome 7 Symptomatische Epilepsie 363; — Psychosen 331 Syphilis 313 Tabes dorsalis 316 Tadel, öffentlicher 181 Tat, Bedeutung der - 39 Tätertypen 138 Tatverbrechen 151 Taubstumme 56, Charakterisierung — r 57; Deliktfähigkeit - r 238; Pflegschaft —r 228; Zurechnungsfähigkeit — r 56 Täuschungen, Sinnes— 273 Teilnahme 16, 175 Temporäre Zurechnungsfähigkeit 39

414

Sachverzeichnis

Testament, Errichtung eines — s durch Greise 206 Testierfähigkeit 233; — der Alterskranken 236; - und Entmündigung 234, 236 Tetanische Anfälle 365 Thalliumvergiftung 153 Todesnot 236 Transvestitismus 98 Traumatische Epilepsie 310 Trieb, Feuer - 299; Stehl - 299; Wander 299; Störungen der - e 90ff., 297 Trinker, Eifersuchtswahn der — 345; Entmündigung der — 84, 347; Unterbringung der — 58, 80 Trinkerfürsorge 218 Trinkerheilanstalt, Unterbringung in einer — 58, 80; Voraussetzungen dafür 80 Trinktrieb (Dipsomanie) 299 Trotzreaktionen 134,135 Trugwahrnehmungen 276 Trunksucht 218; — als Ehe Verfehlung 268; Verantwortlichkeit bei — 67 ff. Übermüdung 22 Überwertige Ideen 286 Umwelt 2; Einflüsse der — auf Jugendliche 132 Unerlaubt (Begriff) 35; — e Handlungen 36,130 Unfall 240 Unfallneurose 242 Unfallversicherung 245 Ungesetzlich (Begriff) 36, 130 Unrecht (Begriff) 36, 130 Unterbringung in einem Arbeitshaus 59; — in einem Asyl 59; — in einer Heiloder Pflegeanstalt 57, 58, 63, 188; in einer Trinkerheilanstalt oder Entziehungsanstalt 59, 80; bedingte Aussetzung der — 60, 83; Dauer der — 59 ; Voraussetzungen der — 80 Untersuchung, kriminalbiologische 112; —Jugendlicher 129 Unzucht mit Kindern 86, 90; — mit Tieren 86, 98; - mit Abhängigen 86 Ursachen 6 Vagabunden 62

Verantwortlichkeit der Erziehungspflichtigen 144; — des Irrenarztes 154; — des Irrenpflegers 154; — Jugendlicher 129; - bei Eheverfehlungen 265 Verbot der Ausübung eines Gewerbes 60; — der Berufsausübung 60 Verdrängung 280 Vereidigung 183; — des Sachverständigen 12; - von Zeugen 183 Verfahren, Wiederaufnahme des Entmündigungs—s 226; — des Strafverfahrens 192 Verfall in Geisteskrankheit 150, 190, 269; — in Siechtum 150 Verfälschung der Erinnerung 274, 280; — der Wahrnehmungen 274 Verfolgungsideen 290 Verführung 86 Vergiftungen 34, 347ff., 359 Verhandlungsfähigkeit Geisteskranker 190 Verlauf der Psychosen 7 Verleihung von Krankengeschichten an Behörden usw. 162 Veröffentlichungen 162 Verschulden als Ehescheidungsgrund 263 Verschuldungsprinzip 263 Verstandesreife 184 Verstandesschwäche 184 Verständigung (Pflegschaft) 230 Verstimmung bei Epilepsie 363 Verstoß gegen die guten Sitten 207 Versuch, Strafbarkeit des —s 169 Versündigungsideen 287 Vertrag 196 Verwahrlosungstäter 141 Verwahrungsgesetz, Bayrisches — 166 Verwarnung 126,144 Verweigerung der Aussage 160 Vitalgefühle 293 Vitale Indikation 165 Vitale Triebe 298 Volkscharakter, Einfluß des — s 3 Voraussetzungen, biologische des § 51 StGB 20; psychologische — 35; — des § 6 BGB 211, 214 Vorläufige Einstellung des Verfahrens 190; — Unterbringung Geisteskranker 190; - Vormundschaft 219, 224

Sachverzeichnis Vormund 84, 225; B e r u f s - 84, 226; Recht des — s zur Einweisung geisteskranker Mündel 155 Vormundschaftsbehörde 218 Vormundschaftsgericht 224, 230 Vorstellungen 275 Wachstum 133,134 Wahnhafte Einbildungen 287 Wahnideen 286; Beziehungs- 290; depressive - 289; G r ö ß e n - 287, 291; hypochondrische — 290; melancholische - 289; Verfolgungs— 290 Wahnstimmung 287, 372 Wahrnehmen, Störungen des —s 273 Warenhausdiebinnen und Menstruation 339 Weisungen, Erteilung von — 128, 144, 170 Weitschweifigkeit 285 Wesen der Ehe 261, 267 Wesensveränderung bei Epilepsie 262 Wiederaufhebung der Entmündigung 226, 255 Wiederaufnahme des Verfahrens 192 Wiederherstellung der geistigen Gemeinschaft 269; — der Lebensgemeinschaft 267 Willenlose, sexuelle Delikte an —n 147, 149; - Psychopathen 391 Willenlosigkeit 149 Willensbestimmung, freie 16, 198 Willenserklärung 195

415

Willensunfähigkeit 165 Wochenbett, psychische Störungen im — 337 Wortsalat 286 Zeitsinn 276 Zerfahrenes Denken 285, 372 Zerrüttung der Ehe als Scheidungsgrund 263 Zerrüttungsprinzip 263 Zeuge, Geisteskranke als — n 182; manische Kranke als — n 383; Psychopathen als - n 393 Zeugnisverweigerung 58; — srecht 11 Zuchthausknall 296 Zuchtmittel 126 Zuckerkrankheit, psychische Störungen bei - 335 Zuhälterei 86 Zurechnungsfähigkeit 13; — in Mitteldeutschland 175; — bei Affekten 25; — bei Alkoholräuschen 75; — bei Sittlichkeitsverbrechen 85ff.; Entwicklung des Begriffs der — 14; partielle — 39; verminderte — 42 Zurechnungsunfähigkeit, partielle (temporäre) 39 Zwangsdenken 286 Zwangshandlungen 387 Zwangsjacke 156 Zwangskranke 387 Zweckgedanke 13 Zweifel an der Diagnose 10

VERZEICHNIS DER BESPROCHENEN PARAGRAPHEN Die Seitenzahl der wörtlichen Anführung ist fett gedruckt Westdeutsches Strafgesetzbuch 20 a: 58,62, 66 23: 83, 112, 393 24: 83, 113 24a: 118 25: 113 26: 113 36, Abs. 1: 60 42 a: 58, 63 42b: 47, 57, 58, 63, 65, 66, 81, 83, 87,156, 172, 188, 190, 192, 312, 330, 342, 346, 351, 398 42 c: 58, 63, 81, 82, 83, 87, 173, 342, 351 42d: 59, 62, 174 42e: 59, 62, 112, 114, 219 42 f: 59, 83 42g: 59 42h: 59, 84 42i: 60 421: 60, 84,174 42m: 60 42 n: 60, 62 48: 16 49: 16 50: 16,17 51: 14, 16, 17, 18, 31, 35, 39, 42, 45, 47, 48, 49, 50, 58, 63, 67, 75, 79, 129, 130, 131, 140, 144, 145, 168, 175, 190, 191, 201, 202, 204, 215, 265, 303, 305, 306, 311, 312, 316, 323, 330, 340, 341, 351, 354, 357, 359, 365, 366, 378, 383, 392, 397, 398 52: 14 53: 14 54: 14 55: 56, 57 59: 14, 148

121: 156 173: 85, 86 174: 85, 86, 146 175: 85, 86, 97, 98, 100, 104, 111, 161 175a: 85, 86, 98,111 175b: 85, 86, 98 176: 85, 86, 90,111,149 176 Z. 2: 146, 147 177: 85, 86, 90, 111, 146 178: 85, 90, 111, 147, 150 179: 85, 86 180: 85, 86 181: 85, 86 181a: 85, 86 182: 85, 86 183:85, 87, 92,111 184: 85, 86, 87 184a: 85, 86 184b: 85, 87 185: 86 217: 32 222: 156 223: 111, 150, 153 224: 111, 150, 151 225: 111, 150 226: 111, 151 228: 150 229: 150 230: 156 239: 155 300: 158,159 330a: 76, 77, 78, 81, 219, 311, 352, 354 330b: 84 346: 156 347: 156 361: 59

Verzeichnis der besprochenen Paragraphen Beichsstrafgesetzbuch von 1871 51: 55: 56: 57:

15,197, 201 123 123 123

Gerichtsverfassungsgesetz 152: 189 Strafvollstreckungsordnung 45: 192 ßeichsärzteordnung vom 13. 12. 1935

Westdeutsche Strafprozeßordnung

13: 158

53: 158,161 53 a: 158 60: 184 61: 184 66 c: 183 73: 11, 188 74: 11 75: 11 76: 11 77: 12 79: 12

Bayrisches Verwahrungsgesetz vom 30. 4. 1952

80: 12

80a: 61, 188 81: 131,161,188 81a: 189 82: 12 83: 12 84: 11 85: 12 97: 163 126a: 61,67, 190 154: 97 170: 188 205: 190 246 a: 61 250: 9,120 359: 192 361: 193 363: 192 366: 193 367: 193 371: 193 429 a: 61, 67 455: 179, 191 456: 191 456b: 61, 67, 83 456c: 61 461: 191,192 463a:191 Grundgesetz Art. 104 II: 155

417

6: 166

Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 14: 111 Westdeutsches Jugendgerichtsgesetz vom 4. 8. 1953 1: 126

3: 129, 140, 169, 305, 306, 312, 323 5: 126 7: 126 9: 126 10: 127 13: 127 16: 127 17: 127 18: 127 19: 127 21: 128, 137 27: 127 43: 129, 132 73: 129, 131 105:139,142 106: 139, 140,143 Entwurf des Allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuches von 1958 1: 167 2: 167 20: 169 23: 57, 168, 169 24: 168,169 26, Abs. 3: 169 53: 168 7 3 - 8 4 : 170 85: 170 86: 172 87: 82, 173 88: 173

27 L a n g e l ü d d e k e , Gerichtliche Psychiatrie, 2. Auflage

418

Verzeichnis der besprochenen Paragraphen

89: 171 9 0 : 171 91: 171 96: 171 110: 174 111: 174 Mitteldeutsches Strafgesetzbuch 2 0 a : 175 42b:175 4 2 c : 176 4 2 d : 176 42 e : 175 42f:176 42g:176 4 2 h : 176 4 2 i : 176 421: 176 4 2 n : 176 47:175 4 8 : 175 4 9 : 175 49 a : 17, 175 50: 175 51: 175 58: 5 6 , 1 7 5 131: 177 139: 177 173: 176 175: 177 2 2 6 a : 177 300: 177 330a und b : 176 Mitteldeutsche Strafprozeßordnung 47: 177 52: 178 60: 178 61: 178 62: 178 63: 178 64: 178 65: 178 66: 178 67: 11, 179 151: 179 165: 190 195: 190 236: 190

241: 260: 261: 262: 263: 317: 318: 319: 338: 339: 342: 343: 346: 371:

190 179 179 179 179 179 179 179 179 179 179 179 180,181 179

Mitteldeutsches Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. 12. 1957 1: 181 2 : 181 3 - 6 : 181 7 : 181 1 3 - 1 5 : 177 17: 177 18: 177 2 1 - 2 3 : 177 Anordnung über die Eingliederung entlassener Strafgefangener vom 27.12.1955 (Mitteldeutschland) 1: 181 3 : 181 4 : 181 Gesetz über Eintragung und Tilgung im Strafregister vom 11. 12. 1957 (Mitteldeutschland) 8 : 181 Verordnung zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten vom 11. 12. 1957 (Mitteldeutschland) 23: 176 Mitteldeutsches Jugendgerichtsgesetz 1: 143 2 : 143 3 : 143 4: 144,145 5 : 144 7 : 145

Verzeichnis der besprochenen Paragraphen 8: 145 9: 145 11: 145 18: 145 19: 145 20: 145 23: 145 24: 144 38: 145 41: 145 44: 144 54: 145 55: 145 56: 145 58: 145 Bürgerliches Gesetzbuch 1: 195 2: 195 3: 195 6: 34, 35, 46, 84, 197, 210, 211, 215, 217 218, 220, 226, 227, 270, 318, 323, 330, 347, 378, 383, 393, 398 104: 197,198,199, 200, 201, 202, 203, 204, 228, 229, 232, 235, 237, 323, 330, 336, 346, 354, 366, 378, 383, 393, 398 1051: 207 105 II: 199, 200, 202, 203, 206, 235, 256, 342, 346, 366, 393 106: 195, 207 107: 208 1081: 208 110: 208 111: 208 112: 208, 232 113: 208, 232 114: 207, 232 131, Abs. 1 und 8: 207 138: 207, 307 254: 239, 250 823: 237, 239 824 : 237 825: 237 826: 237 827: 237 828: 237 829: 239 831: 239 27«

832: 239 1333: 259 1626: 195 1631: 225 1676: 209 1793: 225 1882: 195 1901: 225 1906: 224 1910: 228, 230 1915: 229 1918: 229 1919: 229 1920: 229 2064: 234 2078 II: 236 2229: 204, 209, 234, 235 2230: 234, 235 2231: 233 2241a und b : 234 2247: 234 2249: 234 2250: 234 2251: 234 2252: 234 2253 : 209, 235 2274: 237 2275: 237 2334: 234 Zivilprozeßordnung 51: 209 52: 209, 231 53: 232 323: 251 383: 161 455: 233 612: 209, 232 645: 221 646: 221 648: 221 649: 222 653: 222 654: 222, 223 655: 223 656:223 664: 209, 225, 233 668: 225

Verzeichnis der besprochenen Paragraphen

420 671: 675: 679: 680: 681: 687:

225 209, 226 226 221 224 224

Ehegesetz vom 20. 2. 1946 2: 254, 256 3: 209, 254 18: 254, 255 32: 256, 257, 262, 307, 312, 323, 386 384, 393 33: 256 35: 256, 262 42: 263, 264 43: 263, 264, 266, 347, 352, 367 44: 261, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 307, 312, 323, 337, 347, 352, 367, 384, 393 45: 262, 263, 264, 267, 269, 270, 271, 307, 312, 318, 323, 337, 347, 367, 384, 393 46: 263, 264

4 7 : 263, 271 48: 264,271 Ellegesetz vom 6. 7 . 1 9 3 8 22: 254 37: 256, 262 38: 256 40: 262 Gesetz über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen [Test.G.] vom 31. 7 . 1 9 3 8 48: 236 Kriegsbeschädigten-Leistungsgesetz 21. 3. 1947 1: 251 2: 251

vom

Bundesversorgungsgesetz vom 1. 7.1957 1: 251

AUTORENVERZEICHNIS Achilles-Greiff 237 Albrecht 99 Alexander 318 Alzheimer 327 Anton 175 Anz 254 Arendts 240, 244, 245, 246, 248, 251 Aschaffenburg 2, 15, 16, 18, 24, 32, 34, 39, 41, 42, 51, 53, 55, 57, 58, 64, 73, 78, 79, 83, 123, 146, 149, 156, 161, 184, 187, 191, 198, 389 Aschenbrenner 66 Baan 102 Bader 93, 98,132, 137 Baeyer, von 164 Bash 6, 20, 273, 292 Batavia 175 Bay 153, 308 Becker 67,149 Beitzke 269, 271 Benedetti 345 Bentley 353 Bergenroth 270 Bergmann, G. H. 301 B6renger 113 Beringer 42, 46, 47, 191, 205, 221, 258, 265, 267 Berze 39 Billström 24 Binder 67 Birkmayer 308, 313 Birnbaum 45, 72, 299 Bleuler, E. 41, 50, 53, 54, 302, 369, 371, 378 Bleuler, M. 87, 88, 205, 273, 302, 319, 326, 337, 369, 371, 379 Blüher 94 Boening 42

Bonhoeffer 41, 70, 332, 351 Bonhoff (und Lewerenz) 348, 357 de Boor 30, 253, 299, 358, 387 Bostroem 47, 53 Brach-Klotzhändler 367 Braun 47 Brehm 14, 49, 50 Bresler 187 Bronisch 329 Browe 103, 105 Brun 240 Bruns 114 Brush 338 Bublitz 65, 396, 398, 399 Buchenberger 15 Bühler, Ch. 135 Bürger-Prinz 25, 47, 91, 96, 98, 99, 100 Bumke 46, 166, 214, 221, 230, 231, 236, 249, 273, 280, 281, 282, 285, 302, 387, 389, 391, 396 Bundeskriminalamt 348 Bunsmann 106 Burgers 114,115 Burkhardt 348 Busemann 310 Carl 240 • Carrière 356 Casper 299, 340 Cohn 221 Conn 102 Conrad 363, 364 Cosack 201 Costa 308, 311 Cramer 277 Credner 310 Creutz 48, 66, 87, 322, 330, 367, 376 de Crinis 18, 34 Cruchet 319

422

Autorenverzeichnis

Dallinger 76 Dallinger-Lackner 123, 130, 132, 138,139, 140,141 Danckelmann 249 Dansauer und Schellworth 240, 244 Darke 95 Delbrück 23, 281 Demme 153 Destunis 6, 20 Dohna, Graf zu — 35 Donalies 110 Dreher 122, 167, 174 Dubitscher 30, 31, 253, 302 Dubuisson 338 Dukor 48,101 Dünnbier 91 Ebbinghaus 280 Eber 67 Ebermayer 163 Economo, von 319, 321 Ehrhardt 154, 348 Elbel 67, 74 Elo 32 Engels 175 Enneccerus 202 Enneccerus-Nipperdey 214 Erickson 25 Evans 261 Ewald 87, 99,273, 302, 332, 334, 337, 371, 386 Exner 2, 3, 63, 67, 91, 109, 115, 122, 124, 132, 136, 137, 300, 330, 338, 341 Falkmann 207 Feuchtwanger 309 Feuerbach, Anselm von 13, 15 Finger 42 Fischer 299, 327, 340 Fleck 30 Flemming 299 Fraeb 227 Fraenkel (Joël u.) 354 Frank 18 Franzen 92 Freud 1 Frey 116, 119, 120, 132 Friedemann 102

Frommer 109 Fürstner 40 Gardikas 358 Gauger 329 Gaupp 42, 205, 339, 396 Gebauer 203, 205 Geräts 174 Gerecke 116 Giese, H. 85, 99, 109 Gjessing 368 Glueck, Ehepaar 115, 116 Goldbach 164 Göppinger 164, 165, 166 Göring 389 Grassberger 87, 91 Greving 368 Groß 51, 274 Gruchot 248 Gruhle 6, 10, 16, 21, 28, 33, 52, 202, 205, 206, 209, 216, 267, 300 Grünhut 15, 112, 113 Grüter 159 Gudden 23 Gummersbach 32 Gürtner 46 Gütt 302 Gütt, Rüdin-Ruttke 259 Hadamik 21, 25, 28 Hahn 144 Haid 181 Hall 147 Hallermann 135 Hallervorden 324 Hammerschlag 25 Hardwig 85, 86 Hartmann 84, 210, 217 Hartsuiker 101, 106 Hartwich 92, 358 Hauptmann 338 Hegel 13, 15 Heindl 58, 62 Heinitz 49, 167 Heller 338 Hellwig 90 Henke 299 Henning 288

Autorenverzeichnis Hentig, von 90, 191, 322 Hesse 348 Heydt, von der 64, 72, 396, 397 Hirschmann 166, 395 Hitzig 40 Hoche 3, 23, 30, 93, 95, 100,135, 249, 278, 290, 313, 314, 374 Höhn 94 Hoffbauer 340 Hoffmann-Stephan 254, 256, 257, 258, 259, 261, 264, 270, 271, 347 Holle 136, 140, 300 Homburger 42 Höpler 24 Hübener 148,150, 161, 200, 237 Hülle 19, 75 Hürten 66 Ihering 13 Hlohmann-Christ 132,141 Jacobi 395 Jahn 368 Jäger 86, 97 Jagusch 113 Jahrreiss 20 Jarke 15 Jaspers 6, 33, 273, 275, 298, 300, 371, 372, 384, 388, 389 Jensch 95,103, 106, 107,109 Joël (und Fraenkel) 354 John 308 Jo6 51 Jossmann 318 Kahl 42 Kahn 34, 41, 54, 378 Kalberlah 308 Kallmann 95 Kant 1 Kermann 145 Kern 180 Kieser 343 Kihn 51, 330 Kinsey 88 Klages 298 Kleist 23, 44, 374 Klieneberger 44

423

Kling 23 Kloos 153, 286, 304, 372 Klug 240, 244 Knapp 33 Knoll 152, 240, 248, 249 Koch 14 Koch, Rudolf 97 Koch und Höhn 94 Kohlrausch-Lange 130 Kolle 93, 103, 273, 302, 371, 395, 396 Kosmehl 79 Kraepelin, E. 1, 68, 299, 300, 302, 331, 369, 387, 389, 391 Kraepelin-Lange 273 Krafft-Ebing-Hartwich 92 Kranz 23, 46, 123 Kretschmer, E. 5, 20, 43, 205, 273, 279, 292, 374, 379, 382, 386, 395 Kreuser 236 Kronfeld 388 Krüger 181 Kruse 288 Kühler 102, 103 Kuhn 96, 97 Kuschel 180 Lackner 112, 113 Lackner (Daliinger u.) 123, 130, 132, 138, 139,140, 141 Lang 95, 96 Lange, Joh. 25, 45, 79, 103, 109, 305, 364, 365, 372, 376, 387, 395 Lange-Bostroem 88, 90, 273, 287, 381, 388 Lange-Eichbaum 45 Langelüddeke 9, 23, 47, 64, 84, 91, 99, 103, 107, 157, 227, 376 Langen 322 Laubenthal, Marx u. 335 Lautier 42 Leferenz 16,17, 46, 48,114,132,138, 142, 169, 203, 205, 318, 378 Legrand du Saulle 339 Lehmann 295 Leibbrand 226 Leineweber 102 Lekschas 174 Lemke 96,100

424

Autorenverzeichnis

Lenz 123 Leonhardt 307, 311, 374 Leppmann 23, 191, 339 Lewerenz (Bonhoff u.) 348, 357 Liebnitz 259, 260 Liepmann 285 Lindenberg 307, 311, 312 Lindsey (Evans) 261 Linz 348, 349 Lipmann, O. 274 von Liszt 13, 58, 124, 237 Löwe-Rosenberg 184, 188 Lübbers 14 Luxenburger 258, 259, 260, 364, 365, 366, 368, 369, 379 Maier, H. W. 354 Maier, W. 364 Makowsky 66 Mallison 44 Manser 47 Marburg 307 Martineck 240 Marx 335 Marx (u. Laubenthal) 335 Maßfeller 259, 260 Mayer, L. 25 Mayer (Jur.) 35 Mayr, H. 174 Mazzei 322 Meggendorfer 67, 221, 227, 259, 264, 265, 341, 344, 347, 354, 360 Meier-Höver 11 Meinhof 259 Mende 110 Mercier 40 Mergen 119 Meyer 343 Meywerk 103, 106, 107, 109, 115 Mezger 2, 16, 22, 25, 28, 34, 35, 42, 46, 47, 52, 62, 66, 67, 77, 123, 151, 318, 395 Michel 299 Middleton 339 Mikorey 25, 28, 67 Moeli 365 Moller 348, 359 Mohr 47

Moschel 240 Moser 322 Mößner 261 Mugdan (u. Falkmann) 207 Mühlberger 180 Mühlens 316 Müller, B. 35 Müller, W. 144 Müller-Suur 164, 395 Nass 91, 123 Naujoks 166 Neureiter, von 123 Niedenthai 54 Niedermeyer 102 Niemann 353 Nitsehe 258 Nutt 261 Nyssen, Alexander u. 318 Ohm 107, 298 Olden 288 Olshausen 64, 149 Oppenheim 242 Osiander 299 Palandt 205, 218, 222, 261, 264 Panse 244, 348 Parkes 71 Parzinger 124 Pchalek 144 Perkauf (Wörenkamp u.) 92 Pernstich 343 Perria 321 Pervet 164 Peters 126, 130 Pfeiffer, B. 307 Pichler 240 Pick 327 Pietsch 102 Pilcz 387 Pittard 103, 110 Plaut 274 Pohlisch 348 Ponsold 48, 67, 274 Poppelreuter 309, 312 Potrykus 132 Preiser 49

Autoren Verzeichnis Quentin und Sieverts 124 Quensel 240 Quistorp 14 Radbruch 43 Raecke 24 Rahn 159 Ranke 144, 175 Rauch 317 Rauschelbach 329 Redhardt 96 Rehse 144 Rehwald 307, 312 Reichardt 240 Reid 322 Reinhardt 240 Reiß 387 Reko 358 Renneberg 174, 175, 176, 181 Riese 93 Rietzsch 81,102, 173 Rittershaus 35 Rodenberg 106 Rodenwaldt 305 Röhl 225, 231 Rohden, von 123 Rommeney 67, 71, 75, 91 Rosenberg 399 Rosenberg (Löwe) 184, 188 Roesner 92 Roßbach 240 de Rudder 134 Rücker 47 Rüdin 368 Rüdin (Gütt-Ruttke) 259 Rümelin 39 Runge 319, 322 Ruttke (Gütt-Rüdin) 259 Sachs 103 Salinger 51 Sand 103, 104, 106 Sauer 123, 300 Scanzoni, von 254, 256, 260, 261,264, 268, 270 Schaefer, E. 46 Schaefer-Wagner-Schafheutle 34, 38, 47, 64, 81

425

Schafheutie s. Schaefer Scheid 307, 368 Scheiff 67 Schellworth 247 Schellworth (Dansauer u.) 240, 244 Schiedt 115, 122 Schilder 24 Schindler 387 Schipkowensky 376 Schlegel 94 Schleich 301 Schleyer 67, 68, 75 Schmidt, Eberhardt 112, 159, 161, 163, 192 Schmidt, Edgar 174 Schmidt, G. 300, 339 Schmidt-Lamberg 299 Schmitt 343 Schneider, Carl 51 Schneider, Kurt 6, 18, 37, 43, 45, 47, 51, 292, 297, 310, 368, 379, 384, 386, 387, 389, 391, 392 Schneidewin 78 Schöneberg 247 Schönke 36, 48, 64, 65, 77, 81, 93, 110, 146, 149, 159, 161 Schottky 66 Schröder, P. 66, 95 Schuldt 253 Schulte 31, 329 Schultz, I. H. 85, 92, 95, 96, 102 Schultze, E. 35, 46, 83, 152, 195, 197, 201 Schultz-Hencke 89 Schuster, R. 97 Schwaab 115, 122 Schwab 382 Schwarz 79, 248 Schwellnus 55 Schwinge 151 Seelert 244 Seelig 27, 37, 39, 123, 138 Seibert 76 Seiffert 247 Sellheim 340 Sertürner 350 Sieverts 47, 85, 86, 124 Sieverts (Quentin u. —) 124

426

Autorenverzeichnis

Simon 167 Simson 112,113 Skalweit 47 Solano 94 Solbrig 33 Sommer 268 Speer 103 Spranger 92, 93, 98, 132, 135, 301 Stauder 164 Staudinger 195, 196, 200, 202, 206, 210, 211, 216, 218, 219, 222, 225, 229, 230, 237, 239 Stein 309 Steiwallner 103 Stephan (Hoffman - ) 254, 256, 257, 258, 259, 261, 264, 270, 271, 347 Stern, F. 319, 323 Stern, W. 273, 274, 275, 304 Stertz 54, 55, 322, 323, 332 Stier 240, 242 Stock 48 Stockert, von 87, 132, 134 Stratz 133 Sträußler 51 Striehn 103 Stringaris 358, 359 Strohmayer 302 Stürup 103, 106, 107, 172 Stutte 336, 391 Sutermeister 57 Taussig 20, 28 Thelen 308 Thurnwald 283 Többen 35, 74, 77, 84, 299 Tönnis 153 Tramer 132, 133, 135 Trunk 54, 115 Tuczek 40 Tumlirz 132, 134 Undeutsch 28, 87, 186, 274, 275 Verschuer, von 95 Viernstein 90 Villinger 154, 166, 227

Vogt, C. 5 Vogt, O. 5 Volkmar 256, 261, 264, 268 Vorkastner 24, 41,147,149,161,184, 191, 200, 202, 211, 229 Vrij 112 Wagner 23 Wagner-Jauregg 301, 316 Wagner (Schäfer-Schafheutle) s. Schäfer Walton 358 Wanner 367, 376, 378 Weber 294 Wechsler 304 Weiler 44, 45 Weinberg 338 Weisser 159 Weizsäcker, von 240 Wendt 103 Wernicke 326 Westphal 286 Wetzel 39, 41 Weygandt 302, 316 Wiethold 101 Wijffels 103,106 Wilmanns 18, 42, 43, 210, 376 Wimmer 322 Wisch 322 Wißmann 44 Witter 247 Wolf 103 Wolff (Fraeb u.) 227 Wölfle 42, 46 Wollenberg 40, 365 Wörenkamp (Perkauf u.) 92 Wundt, W. 293, 294 Würtenberger 18, 76, 141 Wussow 240, 243, 249 Wyrsch 24 Xingas 103 Zeller 133 Ziehen, Th. 40, 389 Ziehen, V. 164 Zweigert 231

Haltungsstile Lebenslänglicher Kriminologische Untersuchungen im Zuchthaus Von A. O H M Oktav.

160 Seiten.

1959.

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Immer wieder wird die Öffentlichkeit durch Gewaltverbrechen erschreckt. Sie lösen jedes Mal eine beträchtliche Erregung aus, und der Ruf nach Wiedereinführung der Todesstrafe wird laut. Dies Problem „von verzweifelter Schwere" steht alsdann mit seinem ganzen Ernst erneut vor uns. Es verlangt Antwort zunächst von den erwählten Vertretern des Volkes, es nötigt darüber hinaus jeden besinnlichen Menschen zur Stellungnahme. Fast unübersehbar ist die einschlägige Literatur, in der religiös und weltanschaulich fundierte Anschauungen oft hart aufeinanderprallen. Das vorliegende Buch beschreibt auf Grund von Aktenunterlagen und zahlreichen persönlichen Berührungen eine Anzahl von Menschen, die man nach der früheren Gesetzgebung zum Tode verurteilt und hingerichtet hätte. Es wird geschildert, welche Wege diese nunmehr zu lebenslangem Zuchthaus Verurteilten einschlagen, um mit dem Urteil und der Strafe fertig zu werden. Der Verfasser, der in früheren Jahren auch den Verurteilten in der Qual der Hinrichtungsnacht gesehen hat, verzichtet darauf, dem Leser eine fertige Lösung anzubieten. Durch das Studium der einzelnen Menschenbilder und ihre Veränderungen möge dieser sich selber ein Urteil darüber bilden, ob es richtiger gewesen wäre, in jedem Fall durch Vollstreckung des Todesurteils einen unauslöschlichen Schlußpunkt zu setzen. Auf diese Weise kann das Buch, fernab von den viel diskutierten weltanschaulichen Standpunkten, aus der empirischen Beobachtung heraus auch einen Beitrag zu dem Problem der Todesstrafe leisten.

WALTER

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v o r m a l s G. J . Göschen'sche V e r l a g s h a n d l u n g — J . G u t t e n t a g , V e r l a g s b u c h h a n d l u n g — G e o r g Reimer — Karl J . Trübner — Veit & C o m p .

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Arzt und Ethik 2., "verbesserte und, vermehrte Auflage. Oktav.

89 Seiten. 1956.

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„Gerade in der Zeit, wo das wahre Arzttum in der Massenpsychose des Versorgungsstaates immer mehr unterzugehen droht, ist die Lektüre eines so unbedingt ärztlichen Buches nicht nur dem Anfänger, sondern auch dem Erfahrenen dringend zu empfehlen. Gerade der mitten in der Praxis stehende Arzt, der oft genug drauf und dran ist, vor den Widerwärtigkeiten des so allgemeinen Unverständnisses unserer Tage für seine beruflichen und auch die allgemein biologischen Notwendigkeiten zu kapitulieren, findet hier eine tiefe Quelle, an der er neue Kraft für den Widerstand schöpfen kann."

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„Die klaren Formulierungen sind besonders geeignet, dem Abiturienten, der Medizin studieren will, dem Medizinstudenten, aber auch dem jungen Arzt die Grundlagen aufzuzeigen, die das Ansehen des Arztes gefördert haben. . . . Das kleine Buch wird jedem Arzt in einer Mußestunde Freude bereiten, aber auch mancher Laie, der sich mit den Grundlagen ärztlicher Berufsausübung befassen will, wird mit Gewinn in dem Buch lesen."

Die Medizinische

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119 Seiten. 1957.

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Jugend und Arbeit Zur Psychologie und Soziologie des modernen Jugendlichen von Otto Walter Haseloff unter Mitarbeit von E. Jorswieck und H. J. Hoffmann Groß-Oktav. Etwa XII, 280 Seiten mit vielen Tabellen und. Diagrammen. Erscheint im Herbst 1959

Die Einordnung der Jugendlichen in die sozialen und kulturellen Ordnungen der Gegenwartsgesellschaft ist problematisch geworden. Eine entscheidene Rolle spielen hierbei die Anforderungen und Daseinsbedingungen der modernen Arbeitswelt. Das angezeigte Werk gibt eine umfassende Analyse der Erwartungen und Ansprüche von über 15 000 Kindern und Jugendlichen an Arbeit und Beruf. Die Untersuchung zeigt darüber hinaus die zeittypischen und persönlichen Formen der Auseinandersetzung jugendlicher Menschen mit der Arbeitswelt. Die Methoden der empirischen Sozialforschung, die Verfahren der Gruppendynamik, die Testmethoden der klinischen Psychologie sowie die Motivforschung vermitteln ein verläßliches und vieldimensionales Bild des heutigen Jugendlichen. Das Buch wendet sich an die in der Schule, in der Berufsausbildung und in der Jugendarbeit Tätigen. Es gibt wichtige Erkenntnisse auch für Ärzte, Sozialwissenschaftler und Psychologen.

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