Georg Friedrich Haas 3967077519, 9783967077513

Der Komponist Georg Friedrich Haas (*1953) will als ein politischer Mensch verstanden werden. Sein von der Kritik als au

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Georg Friedrich Haas
 3967077519, 9783967077513

Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
George E. Lewis — I Can’t Breathe: Ein virtueller Dialog. George E. Lewis mit Georg Friedrich Haas und Marco Blaauw
Jim Igor Kallenberg — Andeutungen zu Musik, Sexualität und Hautfarbe. Im Gespräch mit Georg Friedrich Haas
Daniel Ender — Das große Ich bin Ich oder Was gehört zu einer Komponistenbiografie? Georg Friedrich Haas: »Leben« … »und« … »Werk«
Barbara Barthelmes — Die Synergetik der Sinne komponieren. Georg Friedrich Haas – zu Wahrnehmung und Wirkung seiner Musik
Thomas Meyer — Mikroschnitte, Makroschütte. Spekulationen zu scharfen, unscharfen und anderen Klängen
Gesine Schröder — Gerüste und Gerippe. Zu Georg Friedrich Haas’ Eigenbearbeitung seiner Kantate the last minutes of inhumanity (2018)
Bernhard Günther — Georg Friedrich Haas als Raumkomponist. Zur musikalischen Gestaltung von Raum, Licht und Dunkelheit in seinen Werken von 1981 bis 2022
Abstracts
Bibliografische Hinweise
Zeittafel
Autorinnen und Autoren
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Ulrich Tadday (Hrsg.)

MUSIK-KONZEPTE

199  I / 2023

Georg Friedrich Haas

Ulrich Tadday (Hrsg.)

MUSIK-KONZEPTE 199 I/2023 Georg Friedrich Haas

MUSIK-KONZEPTE Die Reihe über Komponisten Herausgegeben von Ulrich Tadday Heft 199 Georg Friedrich Haas Herausgegeben von Ulrich Tadday Januar 2023 Wissenschaftlicher Beirat: Ludger Engels (Berlin, Regisseur) Detlev Glanert (Berlin, Komponist) Jörn Peter Hiekel (HfM Dresden/ZHdK Zürich) Laurenz Lütteken (Universität Zürich) Georg Mohr (Universität Bremen) ISSN 0931-3311 ISBN 978-3-96707-751-3

E-ISBN 978-3-96707-752-0

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Der Abdruck der Notenbeispiele bzw. Abbildungen erfolgt mit freundlicher Genehmigung von G. Ricordi & Co. Bühnen- und Musikverlag GmbH, Berlin, und Universal Edition A. G., Wien. Umschlaggestaltung: Victor Gegiu Umschlagabbildung: Ricordi / Harald Hoffmann

Die Hefte 1–122 und die Sonderbände dieses Zeitraums wurden von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn herausgegeben. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen ­ Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in ­ elektronischen Systemen. © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2023 Levelingstraße 6a, 81673 München www.etk-muenchen.de Satz: Olaf Mangold Text & Typo, 70374 Stuttgart Druck und Buchbinder: Laupp & Göbel, Robert-Bosch-Straße 42, 72810 Gomaringen



Inhalt Vorwort5 GEORGE E. LEWIS

I Can’t Breathe: Ein virtueller Dialog George E. Lewis mit Georg Friedrich Haas und Marco Blaauw7 JIM IGOR KALLENBERG

Andeutungen zu Musik, Sexualität und Hautfarbe Im Gespräch mit Georg Friedrich Haas16 DANIEL ENDER

Das große Ich bin Ich oder Was gehört zu einer Komponisten­biografie? Georg Friedrich Haas: »Leben« … »und« … »Werk«25 BARBARA BARTHELMES

Die Synergetik der Sinne komponieren Georg Friedrich Haas – zu Wahrnehmung und Wirkung seiner Musik36 THOMAS MEYER

Mikroschnitte, Makroschütte Spekulationen zu scharfen, unscharfen und anderen Klängen49 GESINE SCHRÖDER

Gerüste und Gerippe Zu Georg Friedrich Haas’ Eigenbearbeitung seiner Kantate the last minutes of inhumanity (2018)65 BERNHARD GÜNTHER

Georg Friedrich Haas als Raumkomponist Zur musikalischen Gestaltung von Raum, Licht und Dunkelheit in seinen Werken von 1981 bis 202277 Abstracts98 Bibliografische Hinweise101 Zeittafel102 Autorinnen und Autoren104



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Vorwort Der Komponist Georg Friedrich Haas (*1953) will als ein politischer Mensch verstanden werden. Seine Kompositionen, von der Kritik als ausdrucksstark und wirkungsmächtig gewürdigt, sind von einem hohen humanistischen Ethos getragen, mit der klassisch-romantischen Tradition verbunden, und zugleich zeugen sie von einer so raffiniert wie fantasiereichen Technik, die sich nicht in Begriffen wie Mikrotonalität erschöpft, sondern die Autoren vor die Frage stellt, wie sich Ausdruck und Konstruktion in der Musik von Haas wechselseitig bedingen und durchdringen. Die Anordnung der Aufsätze erfolgt in der Absicht, das Interesse vom Allgemeinen zum Besonderen zu leiten. Zuerst soll es also um die ideellen und ethisch-moralischen Beweggründe gehen, um gesellschaftspolitische und -kritische Fragen, die den Komponisten Georg Friedrich Haas bewegen. Dass diese grundsätzlichen Fragen keine bloßen Abstrakta rein theoretischer Natur sind, sondern konkret in der kompositorischen Praxis beantwortet werden, wird am aktuellen Beispiel des virtuellen Dialogs »I Can’t Breathe« von George E. Lewis deutlich. Haas’ gesellschaftskritisches Engagement ist aber nicht nur gegen den Rassismus, sondern auch auf die (eigene) Sexualität (Jim Igor Kallenberg) und Biografie (Daniel Ender) gerichtet. Es kann in diesem Band freilich nur exemplarisch vorgestellt werden, um einen Hintergrund zu geben, vor dem Haas’ Denken und Handeln und auch die folgenden Aufsätze zu verstehen sind. Der Frage, wie oder auf welche Art und Weise die musikalischen Mittel, die Haas einsetzt, zur Wirkung kommen, stellen sich im Grunde genommen alle Autoren des Bandes, wobei Barbara Barthelmes die Frage einer grundsätzlichen Beantwortung zuführt, indem sie die unterschiedlichen Teile untersucht, die Haas in Form einer Synergie der Sinne zu einem musikalischen Ganzen werden lässt. Thomas Meyer führt anschließend am Beispiel von »zwei Urtexten mikrotonalen Komponierens«, nämlich von limited approximations und der Oper Bluthaus aus, wie Georg Friedrich Haas Klangfarben auffächert und Zeit-Räume öffnet, um dadurch sowohl den tieferen Sinn des Werks zu entfalten, als auch dem Zuhörer bzw. Zuschauer eine intensive musikalische Erfahrung zu verschaffen. Mit Gesine Schröder kann Haas’ Eigen­bearbeitung der Kantate the last minutes of inhumanity (2018) musikalisch als bewusste Intensivierung dieses Prozesses verstanden werden. Schließlich – last but not least –schlüsselt Bernhard Günther all diejenigen Kompositionen auf, in denen Georg Friedrich Haas Räume – musikalische wie theatralische – für uns in Licht und Dunkelheit erscheinen lässt. Ich danke allen am Band beteiligten Autoren, ganz besonders Frau Dr. Silke Hilger für die allumfassende Förderung der Übersetzung des Textes von Georg E. Lewis.  Ulrich Tadday



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GEORGE E. LEWIS

I Can’t Breathe: Ein virtueller Dialog* George E. Lewis mit Georg Friedrich Haas und Marco Blaauw 2016 hörte ich zum ersten Mal I can’t breathe, Georg Friedrich Haas’ eindringliches Werk für Solotrompete, das von Marco Blaauw beim Huddersfield Contemporary Music Festival aufgeführt wurde. Haas’ Werk, das kurz nach der Gründung der Organisation Black Lives Matter und lange bevor das Konzept von Black Lives Matter international bekannt wurde, geschrieben wurde, wirft eine Reihe wichtiger Fragen zu der Reaktion der internationalen Neue Musik Community auf die zunehmend multikulturellen und multirassischen, d. h. kreolisierten Gesellschaften auf, in denen ihre Aufführungen, kuratorischen Richtungen und kritischen und philosophischen Untersuchungen präsentiert werden. I can’t breathe wurde 2014 als Reaktion auf die Ermordung eines afroamerikanischen Bürgers, Eric Garner, durch die Polizei auf einer Straße in New York City konzipiert und geschrieben. Garners »Verbrechen« war der Verkauf von »Loosies«, einzelnen Zigaretten aus einer Schachtel. Dabei handelte es sich genau genommen um eine Form der Steuerhinterziehung, die jedenfalls laut Gesetz nicht als Kapitalverbrechen gilt. Ein Passant filmte jedoch einen Polizeibeamten, der Garner mit einem illegalen Würgegriff am Körper festhielt. Auf dem Video ist zu hören, wie Garner elfmal die Worte »Ich kann nicht atmen« wiederholt, bevor er ohnmächtig wird und sieben Minuten lang am Boden liegt. Während die Behörden auf einen Krankenwagen warteten, verstarb Garner; bei der Autopsie wurde als Todesursache »Kompression des Halses (Würgegriff), Kompression des Brustkorbs und Bauchlage bei körperlicher Fixierung durch die Polizei« festgestellt. 1 Trotz landesweiter Proteste wurde nie Anklage gegen die beteiligten Beamten erhoben, obwohl einer von ihnen schließlich 2019 entlassen wurde. Es schien klar zu sein, dass Haas’ Stück mit dem Polizeimord an George Floyd im Mai 2020 neue Aktualität erlangte, der vor seinem Tod dringende Bitten, atmen zu dürfen, mit klagenden Anrufen an seine verstorbene Mutter vermengte. Im Zuge der weitaus größeren, weltweiten Proteste gegen *  Ursprünglich veröffentlicht als George E. Lewis, »I Can’t Breathe: A Virtual Dialogue«, in: New

Music Box, 12.11.2020, unter: https://nmbx.newmusicusa.org/i-cant-breathe-a-virtual-dialogue/. Deutsche Übersetzung von Harald Kisiedu. 1  »Compression of neck (choke hold), compression of chest and prone positioning during physical restraint by police.« Jonathan Allen, »New York medical examiner testifies chokehold led to Eric Garner’s death«, in: Reuters, 15.5.2019, unter: https://www.reuters.com/article/us-usa-police-garner/ new-york-medical-examiner-testifies-chokehold-led-to-eric-garners-death-idUSKCN1SL12V [letzter Zugriff: 20.12.2022].



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Floyds Ermordung werden die unterschiedlichsten Personen und Institutionen, auch im Bereich der Neuen Musik, für ihr Handeln in Bezug auf Race zur Rechenschaft gezogen. Die Fragen, die I can’t breathe aufwirft, haben mich schon immer fasziniert, und so habe ich beschlossen, sowohl mit Blaauw als auch mit Haas über das Stück zu sprechen. Die Methode, die ich hier verwende, um unsere jeweiligen Dialoge zu kombinieren, ähnelt dem vorletzten Kapitel meines Buches von 2008, A Power Stronger Than Itself: The AACM and American Experimental Music (University of Chicago Press), in dem ich Zitate aus fast 100 Interviews mit AACM-Mitgliedern auswählte, um einen imaginären Dialog zwischen den Generationen über übergreifende soziale, kulturelle und ästhetische Fragen zu gestalten, mit denen die Organisation und ihre einzelnen Mitglieder im Laufe der Jahrzehnte konfrontiert waren. Ich vermische diesen neuen imaginären Dialog mit der Kritik an wissenschaftlichen Arbeiten über das Werk. Ich beginne mit Haas’ Verständnis der Motivation für das Werk. GFH: Nun, es war eine spontane Aktion. Es passierte, als wir aus dem Fenster unseres Hauses schauten und einige Demonstrationen, Black Lives Matter, unter uns sahen, und ich sagte, OK, wir müssen da runtergehen und uns daran beteiligen. Und plötzlich tauchte diese Anekdote über Chopin auf, als er von der Revolution in Russland hörte und beschloss, statt nach Paris zu gehen, in dieser Revolution zu kämpfen. Aber er entschied sich wieder um und beschloss, nach Paris zu gehen und für diese Idee zu arbeiten. Und es ist klar, dass dies der Revolution in Polen viel mehr geholfen hat, als er es durch seine Teilnahme an der militärischen Aktivität hätte tun können. Genauso habe ich beschlossen, dass es nicht meine Aufgabe ist, auf der Straße zu protestieren. Es ist meine Aufgabe, in der Kunst zu protestieren. Und dies ist vielleicht eines der wenigen Stücke die eine nicht-musikalische Konnotation haben. 2 Zu dieser Zeit war Haas bereits mit einem anderen, viel größeren Auftrag im Verzug, aber wie er sich erinnert: »Weil es so eine spontane Idee war, hatte ich keine Zeit, eine große, riesige interne Diskussion darüber zu führen, was der richtige Weg ist, um dies zu diskutieren. Tu es einfach. Tu es jetzt. Und ich denke, diese Idee ist eine der Möglichkeiten, als Künstler zu arbeiten.« 3 Anlass für den vorliegenden Essay war eine Diskussion, die ich im vergangenen Sommer mit Marco Blaauw über die zahlreichen negativen Reaktionen auf eine Facebook-Ankündigung geführt habe, die seine Neue Musik-Gruppe, das Ensemble Musikfabrik, zu dieser bevorstehenden Veröffentlichung gepostet hatte. Eine Reihe von Kommentaren zu dem Face2  Alle mit GFH gekennzeichneten Zitate sind aus: George E. Lewis, unveröffentlichtes Videokonfe-

renz-Interview mit Georg Friedrich Haas, 14.6.2020. 3  Ebd.



I Can’t Breathe : Ein virtueller Dialog

book-Posting deutete darauf hin, dass weiße Neue-Musik-Leute eigentlich gar nicht über das Thema sprechen sollten. Ein Kommentator meinte, Haas habe sich »die Worte eines sterbenden Schwarzen angeeignet, um zu seinem schmerzstillenden ästhetischen Spielzeug zu werden«. 4 Dass ein so scheinbar nicht auf Konfrontation ausgerichtetes Werk eine so hitzige Debatte auslösen kann, scheint auf den ersten Blick ironisch. Ich lese jedoch eine Reihe dieser Reaktionen als Beispiel für die Wachstumsschmerzen, die das Feld der Neuen Musik durchmacht, da seine Komponisten, Interpreten, Hörer, Kuratoren, Wissenschaftler, Kritiker und Bildungseinrichtungen allmählich erwachen und sich der Notwendigkeit bewusst werden, einen weitaus raffinierteren und pointierteren Diskurs über den Standort des Feldes in einem kreolisierten kreativen Umfeld zu entwickeln. Trotz des schockierenden Themas ist I can’t breathe alles andere als sensa­ tionslüstern. Statt eines Klagelieds liefert Haas eine zurückhaltende Elegie. GFH: Das Stück beginnt wie ein sentimentales zwölftöniges Kaddisch. Was ich technisch mache, ist der Prozess, dass dieses Kaddisch den Raum zum Atmen wegnimmt. Man singt frei und der Raum wird enger und enger. Und was ich technisch gemacht habe, ist, einfach die melodischen Elemente zu transkribieren und in kleinere Intervalle umzuwandeln. Wenn ich sie reduziere, wird die Melodie in Sechzehntelnoten gequetscht. Die Musik ist wirklich sehr schwierig, und Blaauw ist in dieser Aufführung wirklich in der Lage, innerhalb dieser kleinen Intervalle gefühlvoll zu singen. Es gibt ein Cantabile in diesen Sechzehntelnoten. Und ich habe immer noch diese sehr traditionelle Übersetzung einer riesigen Bandbreite von Intervallen, die die Entität der freien Welt beschreiben, und deshalb beginnt es mit den Räumen zwischen den tiefsten Tönen der Trompete und den höchsten, weichen. Marco Blaauws Perspektive auf Haas’ Technik evoziert den Blues: MB: Ein Blues-Spieler färbt die Noten, und um das zu notieren, verwendet Haas das, was er schon immer verwendet hat: mikrotonale Intonationen. Am Anfang ist es so, dass die Melodie immer mehr Farben bekommt, und dann wird es immer strenger, wenn die Melodie vom großen Tonumfang der Trompete bis zum kleinsten Intervall geht, immer wieder unterbrochen von diesen einzelnen Noten, die sehr lange gehalten werden und den Hörer mitreißen. 5 GL: Ich denke, dass das Stück als Ganzes sinnvollerweise als eine Form von Pranayama, dem Studium des Atems, kontextualisiert werden kann: eine Meditation über Atem und Leben. Wir werden aufgefordert, uns in 4  Facebook, https://www.facebook.com/Musikfabrik/ [letzter Zugriff: 10.6.2020]. 5  Alle mit MB gekennzeichneten Zitate sind aus: George E. Lewis, unveröffentlichtes Videokonfe-

renz-Interview mit Marco Blaauw, 14.6.2020.



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den Atem hineinzuversetzen und jede seiner Nuancen zu verfolgen. Das Stück hat eine zeitlose Qualität, obwohl es nur 13 Minuten lang ist. MB: Ich glaube, es ist sehr, sehr meditativ. Und ich glaube, dass das Gehirn auf diese Weise mehr und mehr auf Details achtet, so dass man in der Mitte des Stücks die ganze Mikrotonalität, die kleinsten Schritte, tatsächlich hört. Man kann tatsächlich auf sie hören, weil man während der kurzen Dauer des Stücks in allen diesen kleinen Dingen geschult wurde (singt), diese Blues-Melodie, wie eine Variation über zwei Noten. GL: Ich würde auch sagen, dass I can’t breathe mit seiner Betonung der Darstellung sehr in der amerikanischen Tradition steht, die in Duke Ellingtons Konzept der »tone parallel« zum Ausdruck kommt und die Charles Ives, Louis Moreau Gottschalk und Thomas »Blind Tom« Wiggins einschließt. Die Verwendung des Harmon-Dämpfers ist natürlich mit der afroamerikanischen Tradition verbunden, sehr effektiv durch Miles Davis. Und dann sind da noch diese superhohen »Squeeze«-Töne, eine technische Innovation, die eng mit dem Altissimo-Spezialisten des Ellington Orchesters, dem Trompeter Cat Anderson, verbunden ist. 6 GFH: Und du warst es, der mir sagte, dass dies eine spezifische Technik des Jazz sei, diese sehr hohen Töne. In der Neuen Musik wird das sehr selten verwendet. Für mich ist das eher eine Assoziation an Luigi Nono, für den hohe melodische Gesten ein Symbol der Utopie sind – z. B. der Anfang seines Streichquartetts Fragmente-Stille. GL: In dem Stück geht es um das Sterben im wörtlichen Sinne, und was den konzeptionellen Kontext betrifft, so stellen die gequetschten Noten für mich eine starke Einschränkung des Atems dar, während das Zögern in der Tonerzeugung auf die Zerbrechlichkeit des Lebens verweist, wenn der Atem abgewürgt wird. Der Atem wird rauer und brüchiger, wenn die Lebenskraft erlischt. 7 MB: Die Assoziation mit dem Ersticken kommt auf, wenn es immer weicher und weicher und länger und länger wird und man buchstäblich außer Atem kommt. Aber ich glaube nicht, dass es wirklich so gemeint ist. Und dann fällt das Stück danach auseinander. Es verliert an Struktur, auch durch die Verwendung von immer weicheren Dämpfern. Und dann sind es am Ende nur noch die Stille und die einzelnen Töne, die, wie am Anfang, sehr, sehr lang sind. Meinst du nicht, dass es, wenn man ein Stück hört und jemanden eine sehr lange Phrase spielen sieht, fast so ist, als würde einem der Atem stocken? Ich glaube, bei langen Pausen kann das Gleiche passieren. Ich habe das Gefühl, dass die Leute im Publikum sich manchmal nicht mehr trauen zu atmen. 6  Ebd. 7  Lewis (Anm. 2).



I Can’t Breathe : Ein virtueller Dialog

GL: Es ist, als könne das Publikum nicht atmen. Und du, der Trompeter, rufst durch eine Art Transsubstantiation ein Gefühl der Empathie hervor. 8 In einem Aufsatz aus dem Jahr 2016 verortet der Musikwissenschaftler Max Erwin I can’t breathe als Programmmusik, was nach dem vorangegangenen Gespräch hinreichend deutlich erscheint; in der Tat scheint Haas auf keiner Seite der traditionellen Debatte über programmatische versus absolute Musik in der klassischen Musik einen substanziellen moralischen Imperativ zu finden. Der Autor charakterisiert die Art des Programms jedoch provokativ, »genauer gesagt, als westlichen Kunstmusik-Snuff«. 9 Statt der Aufnahme eines tatsächlichen Mordes durch einen Kriminellen aus makabrem oder lüsternem Interesse kann man Haas’ Entstehungsgeschichte von I can’t breathe jedoch als entschlossene Reaktion eines besorgten Bürgers auf eine (in diesem Fall musikalische) Gräueltat zusammenfassen. Wenn jedoch die Verformung von Race ins Spiel kommt, ist eine Gräueltat nicht mehr nur eine Gräueltat, und Musik wird mehr als nur Musik. Erwin sieht Haas’ Ansatz als Beispiel für »eine durchdringende selbstzufriedene Haltung und eine damit einhergehende Produktionsweise innerhalb des Apparats der Neuen Musik. Unter diesen Vorzeichen schreibt der ›politisch engagierte‹ Komponist ›Protestmusik‹, die das Schicksal dieser oder jener marginalisierten Gruppe beklagt.« 10 So stellt Erwin Haas’ Bemühen um humanistische Werte als bloße politische Pose dar und behauptet, die Aussage in Haas’ Programmheft – »Ich hinterlasse den Tätern keine Noten« – »identifiziert ein Objekt der politischen Kritik – ›die Täter‹ – und entfernt gleichzeitig das Subjekt (Komponist/Kunstwerk/Publikum) vom Objekt der Kritik … Das Objekt der Kritik ist genau das; es bleibt im Grunde dort drüben, sicher entfernt vom Komponisten und vom Publikum, um es zu beobachten und zu beklagen.« 11 Erwins Kritik hätte größere Bedeutung und wäre glaubwürdiger, wenn die Neue Musik als Feld eine kontinuierliche Beschäftigung mit dem Leben der Schwarzen, einschließlich derjenigen ihrer eigenen afrodiasporischen Komponisten und Interpreten, vorweisen könnte. Doch genau auf diese fehlende Auseinandersetzung mit Fragen von Race weist Haas in seiner Programmnotiz hin. Diese Ebene der Auseinandersetzung von »drüben« nach »hier« 8  Lewis (Anm. 5). 9  Max Erwin, »Here Comes Newer Despair: An Aesthetic Primer for the New Conceptualism of

Johannes Kreidler«, in: Tempo 70 (2016) H. 278, S. 10. 10  Ebd., S. 9. 11  Ebd., S. 10.



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zu bringen – zu sich selbst als Komponist, zu seinem Publikum, zu den Interpreten und zu den Historikern, Kritikern und Institutionen der Neuen Musik –, war genau das Ziel des Stücks. In einem einflussreichen Aufsatz wies die Theoretikerin Sylvia Wynter auf die Folgen der routinemäßigen Verwendung des Akronyms N. H. I. (No Humans Involved) durch die Justiz- und Vollzugsinstitutionen von Los Angeles hin, »um jeden Fall zu bezeichnen, bei dem es um eine Verletzung der Rechte junger schwarzer Männer geht, die zur Kategorie der Arbeitslosen in den innerstädtischen Gettos gehören«. 12 »Durch die Einstufung dieser Kategorie als N. H. I. hätten diese Beamten der Polizei von Los Angeles grünes Licht gegeben, mit deren Mitgliedern nach Belieben zu verfahren. Vielleicht erinnern Sie sich auch daran, dass der Polizeichef von Los Angeles, Darryl Gates, im früheren Fall der zahlreichen Todesfälle junger schwarzer Männer, die durch einen bestimmten Würgegriff verursacht wurden, den Polizeibeamte bei der Festnahme junger schwarzer Männer anwandten, diese gerichtlichen Morde mit dem Argument wegdiskutierte, dass schwarze Männer abnormale Luftröhren hätten.« 13 In der Tat ist dieses Bild der Deformation der schwarzen Luftröhre von zentraler Bedeutung für die Ikonografie von I can’t breathe. Der Rest von Wynters »offenem Brief an meine Kollegen« versucht, ihre eigene pointierte Frage zu beantworten: Woher kommt diese Klassifizierung? GL: Sowohl im Titel als auch im Inhalt des Stücks gibt es einen konzeptionellen Aspekt, der sehr wichtig ist. Es ist nicht nur eine Übung. Es soll die Leute zum Nachdenken anregen. Und ich habe Marco gesagt, dass es für diese Art von weißem Publikum für Neue Musik diese Leute zum Nachdenken bringen sollte. GFH: Ich danke Dir. Das ist sehr gut. Und letztlich kann ich das ja auch beweisen. In Interviews werde ich sehr oft darauf angesprochen. Und das gibt uns natürlich die Möglichkeit, darüber zu sprechen, in einem Umfeld, in dem außerdem niemand darüber spricht. Das ist eine Art und Weise, in der meiner Meinung nach politische Musik funktioniert. 14 I can’t breathe bleibt meist in den weicheren und schwieriger zu haltenden Regionen der Trompete und ist zurückhaltend, und das nicht nur aufgrund der Entscheidung des Komponisten. Vielmehr zwingt die Situation den Komponisten zur schriftstellerischen Arbeit. Hier finde ich, dass die Intensität des Stücks sowohl eine Zerbrechlichkeit als auch eine stoische Noblesse 12  Sylvia Wynter, »›No Humans Involved‹: An Open Letter to my Colleagues«, in Forum N. H. I.:

Knowledge for the 21st Century 1 (1994) H. 1, S. 42. 13  Ebd. 14  Lewis (Anm. 2).



I Can’t Breathe : Ein virtueller Dialog

darstellt, wo Eric Garner, George Floyd, Sandra Bland, Rayshard Brooks und tausende andere schwarze Bürger buchstäblich versuchen, ihre Atemreserven in einem Kampf auf Leben und Tod mit Kräften zu nutzen, die, gestützt auf eine Kultur, in der schwarzes Leben und Lebendigkeit keine Rolle spielen, keine nennenswerte Notiz von der Menschlichkeit dieser Leben nehmen und dabei ihre eigene Menschlichkeit negieren. Während Erwin zu dem Schluss kommt, dass »Haas’ Stück selbst von den rudimentärsten Kriterien eines wirksamen politischen Protests mindestens fünf Grad entfernt ist«, 15 scheint politischer Protest in diesem 13-minütigen Klagelied überhaupt kein Thema zu sein – es sei denn, der Protest gegen rassistische Ungerechtigkeit soll nun zu einer rein politischen Angelegenheit werden. Statt einer reduktiven Umleitung menschlicher Werte auf Fragen der politischen Wirksamkeit geht es in I can’t breathe einfach um schwarze Subjektivität und darum, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Dennoch nahm unser virtuelles Gespräch einen unheilvollen Ton an: GL: Das Stück hat kein Happy End; man könnte es immer wieder spielen, und es würde eine sisyphusartige Hölle heraufbeschwören. Das erklärt, was ich für die pessimistische Qualität des Werks halte – im Sinne von Afropessimismus, oder wie man angesichts der Möglichkeit, dass die westliche Gesellschaft sich als dauerhaft unfähig erweisen könnte, ihr Vertieftsein in das Anti-Schwarzsein als zentralem Teil ihrer Identität abzulegen, funktionieren kann. 16 In der Tat könnte es sein, dass zu diesem späten Zeitpunkt ein zurückhaltender, konzeptueller Ansatz nicht mehr ausreicht. Zunächst einmal war Marco Blaauw besorgt über die ethische Dimension dieser Art von Arbeit und dieser Art von Themen, die von weißen Institutionen, Komponisten und Interpreten im weiß-mehrheitlichen Kontext der Neuen Musik präsentiert werden: MB: Glaubst du nicht, dass jemand von der Situation profitiert, wenn ich zu diesem Festival gehe und mein Honorar verlange und dieses Stück spiele? GL: Ich habe das Gefühl, dass, wenn du dieses Stück spielst und andere Leute es auch spielen, diese Themen einem Publikum nahegebracht werden, das nicht oft damit konfrontiert wird oder vielleicht nicht glaubt, dass diese Themen für sein Leben relevant sind, oder das Gefühl hat, dass das, was du spielst, völlig konträr zum reinen musikalischen Ausdruck ist – was machst du mit diesem politischen Zeug? Frederic Rzewski hat das Gleiche durchgemacht, John Coltrane, Bruce Springsteen – 15  Erwin, »Here Comes Newer Despair« (Anm. 9), S. 10. 16  Lewis (Anm. 5).



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jedem, der politische Sachen macht, wird gesagt, er solle einfach die Klappe halten. Aber so wie ich das sehe, bringst du eine wichtige Botschaft an die Öffentlichkeit. Und wenn du es nicht tust, wer wird es dann tun? 17 Sylvia Wynter sah in der Offenlegung der Kategorie N. H. I. eine Chance, »von der aus wir die Rede von einer neuen Grenze des Wissens anführen können, die uns zu einer neuen menschlichen Spezies und einer damit korrelierenden ökosystemischen Ethik führen kann. Ein solcher neuer Horizont, so schlage ich vor, wird auch mit anderen Horizonten konvergieren, die sich auf allen Ebenen des Lernens eröffnen … Nur durch diese Mutation des Wissens werden wir als Spezies in der Lage sein, die vollen Dimensionen unserer menschlichen Autonomie in Bezug auf die systemischen und immer narrativ instituierten Zwecke zu sichern, die uns bisher beherrscht haben – bisher außerhalb unseres bewussten Gewahrseins und unserer einvernehmlichen Intentionalität.« 18 Dieses neue Bewusstsein hat starke Auswirkungen, nicht nur auf das Verständnis von I can’t breathe, sondern auch auf die Zukunft der Neuen Musik selbst. Letztendlich stellt ein kreolisiertes Werk wie I can’t breathe einen Schritt in Richtung einer neuen Identität für Neue Musik dar. Sie versteht sich nicht mehr als globalisierte, paneuropäische Klangdiaspora. Das Ziel einer kreolisierten Neuen Musik ist weniger das Streben nach Vielfalt als vielmehr das Erreichen einer neuen Komplexität, die eine weitaus größere kreative Tiefe verspricht, indem sie ein möglichst breites Spektrum historischer, geografischer, politischer und kultureller Querverbindungen anerkennt. Wie der Philosoph Arnold I. Davidson feststellte, »bedeutet die Vervielfältigung der Perspektiven eine Vervielfältigung der Möglichkeiten«. 19 Wie Georg Friedrich Haas erklärte: »Mit diesem Stück erkläre ich mich mit den Demonstranten solidarisch.« 20 In der Tat verlangt jede Aufführung von I can’t breathe von der zeitgenössischen Musik eine weitere Solidarität: eine Beteuerung, dass schwarzes Leben und schwarze Lebendigkeit wichtig sind, für ihre Geschichte und ihre Zukunft. 

Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Harald Kisiedu

17  Lewis (Anm. 5). 18  Wynter, »›No Humans Involved‹: An Open Letter to my Colleagues« (Anm. 12), S. 70. 19  Arnold I. Davidson, »Free At Last«, Programmnotiz zum Konzert von George Lewis und Geri

Allen, Institute for the Humanities, University of Michigan, 20.10.2011. Zit. in: George E. Lewis, »Listening for Freedom with Arnold Davidson«, in: Critical Inquiry 45 (2019) H. 2, S. 11. 20  Georg Friedrich Haas. »I Give No Sound To The Perpetrators: Ein Kommentar«, unter: https:// www.musikfabrik.eu/en/blog/georg-friedrich-haas-i-give-no-sound-to-the-perpetrators-ein-kom mentar/ [letzter Zugriff: 20.12.2022].



I Can’t Breathe : Ein virtueller Dialog

Abb. 1:  Georg Friedrich Haas, I can’t breathe. © Copyright 2015 Universal Edition A.G., Wien



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Andeutungen zu Musik, Sexualität und Hautfarbe Im Gespräch mit Georg Friedrich Haas Jim Igor Kallenberg (JIK): Sex ist nicht Musik und Musik ist nicht Sex. Musik und Sexualität sind nicht identisch. Sie stehen in einem Verhältnis zueinander. Nach diesem möchte ich Sie fragen. Georg Friedrich Haas (GFH): Warum fragen Sie das gerade mich? Weil ich mich als Angehöriger einer sexuellen Minderheit geoutet habe? Ich habe keine Ahnung, ob und wie meine Sexualität mit meiner Musik zusammenhängt. Ich weiß nur eines: Ich empfinde beim Komponieren eine tiefe spirituelle asexuelle Liebe  – die ich ganz ähnlich empfinde, wenn ich meiner Frau das Gesicht streichle. JIK: Da es oft anlässlich Ihrer Musik und Person vulgär verhandelt wird, wäre es mir ein Anliegen, das Verhältnis von Sexualität und Harmonik produktiv zu besprechen, anstatt polemisch – auch wenn ich niemandem den Spaß verderben möchte. Es gilt für beide Teile: Nicht nur die Sexualität, sondern auch die Harmonik wird oft polemisch und einseitig behandelt, so als ob etwa Mikrotonalität einfach den Tonvorrat um etliche Töne erweitern würde. So ließen sich Tonverhältnisse unendlich unterteilen und wir hätten dadurch unendlichen Fortschritt. Das ist nicht, worum es in der Musik geht. Das oberflächliche Ausschlachten dieser Fragen geht auf Kosten der sachlichen Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Sexus und Musik. Sexualität ist eine treibende Kraft unseres Handelns, Denkens und Lebens und also auch Komponierens. Musik andererseits hat nicht nur einen persönlichen Wert, sondern ein Werk steht zunächst für sich. Die Sexualität und die Musik sind jeweils selbstständige Ausdrücke menschlicher Aktivität und Formen menschlichen Lebens mit ihrer Eigendynamik. Sie artikulieren ihre jeweilige Emanzipation in je eigenen Formen und sind nicht restlos ineinander übersetzbar. Und doch stehen sie in einem Zusammenhang zueinander. Die Fragen, denen wir uns widmen könnten, wären, wie sich die Sexualität des 19.  Jahrhunderts zur heutigen Sexualität bzw. wie sich die Harmonik des 19. Jahrhunderts zur gegenwärtigen Harmonik verhält. Und dann wäre nach dem Zusammenhang bzw. dem Verhältnis beider zueinander zu fragen. GFH: Selbstverständlich steht es Ihnen frei, das Verhältnis zwischen Harmonik und Sexualität produktiv zu verhandeln, wie immer Sie das tun wollen. Da würde ich aber die Frage stellen: Wovon sprechen wir? Von der Sexuali-



Im Gespräch mit Georg Friedrich Haas 

tät an sich – oder von dem Bild, das wir uns von ihr machen? Von der Harmonik an sich (Schwebungen, Verschmelzungen, Reibungen etc.)  – oder von dem Bild, das wir uns von ihr machen (d. h. Notation und verbale Benennung der Harmonien)? JIK: Beides hängt zusammen und betrifft beispielsweise Form, Melodie und Harmonik: Es werden über bestimmte Relationen Spannungen, Höhepunkte, wie Sie sagen: Schwebungen, Verschmelzungen, Reibungen provoziert. Eine andere Harmonik würde sich eine andere Gestaltung geben müssen. Und ebenso würde die Sexualität, die sich in dieser Gestaltung wiederfindet und in ihr wirkt, eine andere Sexualität. Erlauben Sie mir die platte Formulierung: Vielleicht eine Musik, die nicht auf Höhepunkte angewiesen ist  – wobei Sexualität ohne Spannung und mindestens projizierte Höhepunkte dem Begriff der Sexualität möglicherweise überhaupt widerspricht. Doch wie die Überwindung der Tonalität eine Utopie ist, so mag es die der Sexualität sein. GFH: Auf die enge Verbindung zwischen sexuellen und musikalischen Höhepunkten in der Kunstmusik des 19. Jahrhunderts hat Susan McClary bereits vor Jahrzehnten hingewiesen. Ich erinnere mich an einen Vortrag von ihr in Darmstadt, wo sie ausführlich über die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Orgasmus sprach und das in die Musik übertrug. Auch Orchestermusiker wissen das und machen ihre derben Witze darüber (hier kann ich auf das Binnen-i verzichten). Ihre Formulierung Doch wie die Überwindung der Tonalität eine Utopie ist, so mag es die der Sexualität sein weise ich entschieden zurück. Die darin enthaltene Gleichsetzung von Überwindung der Tonalität und Überwindung der Sexualität ist falsch. Sexualität ist ein angeborenes Naturphänomen. Tonalität ist das nicht. Die »Überwindung der Sexualität« ist keine Utopie, sondern eine Unmenschlichkeit. Die Tonalität ist nicht »überwunden«. Sie ist verloren gegangen. Der Verlust der Tonalität ist schmerzhaft. Schönberg konnte noch daran glauben, dass man auf die Tonalität verzichten kann, und alles andere grundsätzlich beibehalten. Aber leider, es ist wirklich schmerzlich: Leider ist dem nicht so. Alles ist verloren: Die Klassifikation von Akkorden, das Verhältnis zwischen Harmonie und Melodie, die metrische Ordnung, die traditionellen Formprinzipien … Dafür ist ein unendlicher Reichtum an neuen Möglichkeiten in Klang und Zeit gewonnen. Fassungslos stehe ich vor diesem Reichtum und weiß, dass mein Leben zu kurz ist, um mich in dieser neuen verwirrenden Schönheit sicher zu orientieren. Meiner Meinung nach gibt es da eine Parallele zur ars nova des 14. Jahrhunderts: Die Musik tastete sich damals in einen neuen Raum vor, der erst später von Ockeghem und Dufay ausgelotet wurde. Mir ist heute nur möglich, erste Schritte in dieser neuen Welt zu gehen. Die nächsten Generationen von Komponist*innen werden weitermachen.



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Was ich als Kompositionsprofessor versuche: zu lehren, in Musik zu denken. Nicht über Musik. JIK: Ich dachte, als Sie Schönberg ansprachen, an die Oktavfrage: Die Identität der Oktave ist der Grundpfeiler der traditionellen Harmonik. Müsste nicht die mikrotonale Herangehensweise auch damit brechen, insofern als die Oktave einen eigenen Valeur hat. GFH: Nicht müsste, sondern muss. Das ist einer der grundsätzlichen Lehrinhalte meiner Vorlesung »music beyond 12 tone system« an der Columbia University in New York. Erlauben Sie mir, einige Beispiele zu bringen: Ein C-Dur-Akkord bleibt auch in der ersten Umkehrung ein C-Dur Akkord, ein wenig anders (Sextakkord), aber im Prinzip dasselbe (Notenbeispiel 1a).



Notenbeispiel 1a

Der Dreiklang d′–a′-vierteltönig erniedrigtes c″ klingt beinahe rein – eine vierteltönige Annäherung an die Obertonreihe (4 : 6 : 7). Setzen wir das d′ eine Oktave höher, wird daraus ein abstrakter Klang aus zwei gleich großen Intervallen (jeweils Ganzton+Viertelton), eine mathematisch genaue Halbierung einer reinen Quarte. Eine klangliche Verwandtschaft zwischen diesen beiden Akkorden ist nicht zu erkennen (Notenbeispiel 1b).



Notenbeispiel 1b

Ein Obertonakkord bis zum 11. Teilton klingt homogen, die allmählich immer kleiner werdenden großen Sekunden verschmelzen in diesem Register. Setzen wir den 11.  Teilton eine Oktave tiefer, hören wir ein unangenehm dichtes Tonbündel zwischen e′ und g′, der ursprünglich beinahe konsonant empfundene Akkord wird sehr schräg (Notenbeispiel 1c).



Notenbeispiel 1c



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Dasselbe Intervall ändert in unterschiedlicher Oktavlage die Bedeutung. Der Unterschied zwischen temperierter kleiner Septime und der Obertonseptime 3 : 7 ist im mittleren Register sehr groß. Zwei Oktaven tiefer ist der Unterschied zwischen diesen beiden Intervallen kaum wahrnehmbar (Notenbeispiel 1d).



Notenbeispiel 1d

In meinem »Office« an der Columbia University stehen drei unterschiedlich gestimmte Pianinos. Dort kann ich diese Beispiele (und noch viel mehr) akustisch vorführen. In der Vergangenheit war die Oktavposition zwar kaum Inhalt der Musiktheorie, aber in den großen Werken ist die Sorgfalt spürbar, mit der diese Positionen gesetzt wurden. In Beethovens Klaviersonaten z. B. sind die Register strukturell. In Mendelssohns Klangkompositionen sind die Oktav­ positionen der Töne (und ihre Instrumentation) musikalisch sinnstiftend. Es gibt ein Fragment eines Hornkonzerts von Wolfgang Amadé Mozart, das von seinem Schüler Franz Xaver Süßmayr vollendet wurde. In Mozarts Instrumentation hat der D-Dur-Akkord die Lage des Obertonakkordes, und in Süßmayrs Instrumentation befinden sich lediglich d, fis und a in verschiedenen Oktavlagen – da wird der Unterschied zwischen einem Meister und einem Nicht-Meister messbar. JIK: Ich würde das als wesentlichen Aspekt der Emanzipation der Dissonanz fassen, insofern es den Vorrang und das Recht des Besonderen gegen das  Allgemeine hat. Die Bindung an und Reduktion des Einzeltones auf die Funktion in der Grundtonart korrespondiert der Reduktion der Partialtriebe als Funktion unter dem Genitalprimat in der Sexualität. Und an dieser Stelle begegnen sich vielleicht sexuelle und tonale Emanzipation, oder zumindest beide in der Musik moderner Gesellschaften als Ausdruck von Freiheit und zugleich als dem Ort, an dem künstlerische Tabus und Sexualtabus analog sind, wo also Sexualität und Musik auf gemeinsame Hindernisse treffen und entsprechend die Emanzipation der Dissonanz und die sexuelle Emanzipation im Verbund agieren, ohne identisch zu sein. GFH: »Emanzipation der Dissonanz« – das ist ein schrecklich eurozentrischer Begriff. Hören Sie sich Gamelanmusik an. Oder Gagaku. Da gibt es keine »Dissonanzen,« die sich »emanzipieren« müssen. Im Gegenteil, die



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Schwebungen (im traditionell europäischen Denken das »Dissonante«) bewirken die Empfindung von Spiritualität. Das ist übrigens auch in europäischer Musik so. Es sind die sogenannten »Dissonanzen«, die uns die intensiven musikalischen Empfindungen vermitteln. In J. S. Bachs Matthäuspassion »… voll Schmerz und voller Hohn!« ist es das dissonante e′ im Tenor, das uns die Schauer über den Rücken jagt (Notenbeispiel 2). Derselbe Akkord findet sich in Schuberts Winterreise: »Fremd bin …«  – im Vorspiel folgt dann eine noch schärfere Dissonanz (Notenbeispiel 3).

Notenbeispiel 2:  J. S. Bach, Matthäuspassion, »… voll Schmerz und voller Hohn!«

Notenbeispiel 3:  Franz Schubert, Winterreise, »Fremd bin ich eingezogen, …«

Sogar mikrotonale »Dissonanzen« existieren in traditioneller europäischer Musik  – sie werden allerdings nicht aufgeschrieben. Mechanische Orgeln können aus physikalischen Gründen nicht rein intonieren  – es gibt keine Menschen, die die zwangsläufig spontan auftretenden Intonationsschwankungen der Pfeifen korrigieren könnten. Der Nachhall des Kirchenraums legt seinen samtenen Mantel darüber, es entstehen wohlige mikrotonale Cluster, die (wie bei Gamelan und Gagaku) Empfindungen von Spiritualität bewirken. Opernsängerinnen und -sänger intonieren oft ein wenig zu hoch, um deutlicher hörbar zu sein – die mikrotonalen Intervalle, die dabei mit dem Orchester entstehen, berühren das Publikum zutiefst. Oder sie verwenden weite Tonhöhenvibrati, die in schöner Regelmäßigkeit mikrotonale Spannungen erzielen. »Emanzipation der Sexualität« – mit der bisexuellen Orgie, die Mozart und da Ponte am Ende des 1. Aktes von Don Giovanni auf die Bühne stellen, kann ich nicht mithalten. Zumal es da noch einen sozialen Unterton gibt (Imbroglio von 3 Tänzen, die unterschiedliche Gesellschaftsschichten repräsentieren), der noch viel radikaler ist als die erotischen Anspielungen. Sexualität auf der Bühne – das ist doch nichts Neues. Das gab es immer. Als die schönste Darstellung von Sexualität in meinen Opern betrachte ich das



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17. Bild meiner Oper Nacht: In drei unterschiedlichen Szenen tritt der alte Hölderlin auf die Bühne. Erst dichtet er (4. Bild). Dann isst und trinkt er lautlos (10. Bild). Zuletzt onaniert er (17. Bild). Da ist nichts Provokatives. Bloß das Dasein, so wie es wirklich war. JIK: Ich sage es nochmal andersherum, wenn ich darf: Wenn eine bestimmte Öffentlichkeit am Ausschlachten Ihrer Sexualität einen Reiz findet, hat es vielleicht auch einen guten Grund. Will sagen, dass diese Intuition teilweise auch auf einer richtigen Spur ist, die man verfolgen kann. Vielleicht geht etwas daran über Gossip hinaus, indem es die Musik selbst betrifft. Und durchaus ließe sich die These formulieren, Ihre Musik funktioniere nicht in der harmonischen Dynamik der Sonatenhauptsatzform, und ebenso nicht wie die Auflösung der Tonalität in der Schönberg-Schule, und sie funktioniert auch nicht wie der Serialismus. Das, was die Utopie einer befreiten Sexualität sein könnte, könnte sich als formdynamische Komponente der Musik selbst artikulieren. Also, wenn man schon darüber redet, dann richtig. GFH: Utopie der Befreiung – ja. Aber nicht nur in der Sexualität. Ich habe mich in einem Leben von vielem befreien müssen. Ich bin in einer Nazi-Familie aufgewachsen. Davon habe ich mich befreit. Ich habe mich vom deutschnational motivierten Protestantismus meines Elternhauses befreit und bin zum Katholizismus konvertiert. Dann habe mich generell vom Christentum befreit. Ich habe mich von der Scham über meine sexuelle Veranlagung befreit. Ich habe mich von dem Zwang befreit, meine Kompositionen durch notationsbedingte Gesetzmäßigkeiten gestalten zu müssen. Eine Zeit lang lebte ich vegan. Ich hatte einen kleinen Garten, umgeben von Wald und Wiesen. Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich 20 Wühlmäuse töten musste, 200 Nacktschnecken und 2.000 Blattläuse – nur um ein paar Puffbohnen zu ernten. Da ist es doch besser, dachte ich mir, ein einziges Schwein zu töten und 20 Menschen werden davon satt. Ich befreite mich dann auch vom Veganismus. JIK: Verzeihen Sie, wenn ich beharre: Es geht mir um die objektive Dimension von Sexualität, inwiefern sie sich also als geistiges und leibliches Sediment menschlicher Aktivität in Musik wiederfindet. Schon Platon glaubt, dass wir ohne den lustvollen, quasi-erotischen Reiz an den Dingen überhaupt keine intellektuelle Beziehung zu irgendetwas eingehen können. Die Musik als Moment in dieser Dynamik zu verstehen, ist durch das Tabu, das sich in Kichern und moralischer Beurteilung von Personen ausdrückt, verstellt. Natürlich ist die Musik auch – nicht nur! – eine der Formen der Kultivierung von Sexualität, in Form von Liebe und Gewalt  – und von vielem anderen: von Dominanz, Ohnmacht, Neugier, Unterwerfung und, eben



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nicht zuletzt, von Freiheit und ebenso von Herrschaft. Das kann sich artikulieren im Material, in der Weise der Behandlung, in Verlaufsformen, formalen Dynamiken der Entfaltung eines Musikwerkes, harmonischen Konstellationen, Spannungen und Strukturen. Ohne, wie gesagt, dass sie darauf reduzierbar wären. GFH: Das haben Sie sehr schön gesagt. Dem brauche ich nichts hinzuzufügen. Ich möchte aber betonen, dass die Auseinandersetzung mit Rassismus für mich zentral ist. Das betrifft mich von zwei Seiten her unmittelbar persönlich: Auf der einen Seite steht meine Frau, die der african diaspora angehört, auf der anderen Seite meine jüngere Tochter, die sich zwischen Europa und Japan befindet. JIK: Ich kann es nur schwer als musikalisches Thema nachvollziehen. GFH: Dann können Sie sich vermutlich die Revolution in Polen von 1830 ebenfalls nur schwer als musikalisches Thema nachvollziehen. Oder Wellingtons Sieg. Oder die Passion Jesu Christi.  – Kennen Sie meine Werke I can’t breathe (2014), Hyena (2016) und Sycorax (2022)? JIK: Nur sehr vermittelt. Die Werke kenne ich. Mir fällt es allerdings schwer, den Unterschied der Hautfarbe dort einzuführen, wo er eigentlich nicht existiert, nämlich in der Welt der Töne. GFH: Für die drei Saiten des eingestrichenen c eines Klaviers spielt es keine Rolle, welche Hautfarbe der Finger hat, der die Taste niederdrückt. Die Hautfarbe spielt aber eine Rolle, ob der Mensch, der diese Taste niederdrücken möchte, Zugang zu diesem Instrument hatte oder nicht. Ob er es erlernen konnte oder nicht. Ob er Zugang zum Konzertpodium bekam oder nicht. Die Hautfarbe entscheidet mit, ob jemand als Komponist*in wahrgenommen wird oder nicht. Vergleichen wir die beiden Komponisten Julius Eastman und Harry Partch, sie haben Gemeinsamkeiten. Nur: Partch wurde von Guggenheim entdeckt und gefördert. Und das war gut so. Aber Julius Eastman wurde nicht entdeckt und nicht gefördert. Wenn ich seine großartige Musik höre, packt mich die Wut: Was hätte dieser geniale Mensch uns allen schenken können, wenn er dieselben Möglichkeiten bekommen hätte wie John Adams oder wie ich – oder zumindest wie Harry Partch! Eastman war American African. Daher wurde er »übersehen«. Dass das Thema »Rassismus« in mein Leben trat, habe ich mir nicht ausgesucht. Ich war in dritter Ehe mit einer Frau aus Japan verheiratet. Und plötzlich war ich mit Alltagsrassismus konfrontiert. Jetzt habe ich das Glück, mit der Liebe meines Lebens zusammen zu sein: Mollena Lee WilliamsHaas. Ihre Vorfahren waren aus Afrika verschleppt worden, jahrhundertelang galten sie vor dem Gesetz nicht als Menschen, sondern als Gegenstände.



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Woher sie kamen, weiß meine Frau nicht. Eine DNA-Analyse wies auf Kenia und Westafrika hin. Ca. 18% ihrer Ahnen waren weiß: Sklavenbesitzer, die ihr Eigentum vergewaltigt hatten. Als sie 5  Jahre alt war, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, was Rassismus bedeutet. Sie hatte mit einem gleichaltrigen Mädchen gespielt, das plötzlich von ihrer Mutter gerufen wurde. Dann lief die Kleine noch einmal zu ihr und sagte traurig: »I must not play with you because you are a nigger.« Wenn sie in der U-Bahn in New York neben einem weißen Mann sitzt, dann wissen die beiden: Seine Urururgroßväter hatten das Recht, ihre Urururgroßväter auszupeitschen und ihre Urururgroßmütter zu vergewaltigen. Ich habe es erlebt, wie meine Frau zitternd vor Angst am Steuer unseres gerade geparkten Autos saß und nicht wagte auszusteigen  – wir waren vom Highway abgefahren, um bei Starbucks einen Kaffee zu trinken, hinter uns ein Polizeiauto. Nein, dieses Mal war es nicht gefährlich, die Cops wollten auch nur Kaffee trinken. Und ich selbst habe als Kind »Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann« gespielt, »zehn kleine Negerlein« gesungen, habe »Negerküsse« genascht und bin in einer Nazifamilie aufgewachsen, die mir die Lüge einzubläuen versuchte, dunkelhäutige Menschen wären »minderwertig«. Das alles klingt mit, wenn ich meine Musik schreibe. Der Schmerz darüber. Aber auch die Gewissheit, dass Heilung möglich ist. JIK: Ich kann mir gut vorstellen, dass bei der Weise, in der ›Rasse‹ dynamisiert wird, Hindernisse dafür aufgebaut werden, dass sich Weiße mit einer schwarzen Hauptrolle identifizieren, dass also der unbewusste Rassismus ein großes Problem in der Kunst ist. Es gibt ja kaum Menschen, die sich bewusst als Rassisten bezeichnen. Aber es gibt auch Leute, um in der Oper zu bleiben beispielsweise Jessye Norman, wo es offenbar möglich war, sich mit ihr zu identifizieren, ohne dass die Hautfarbe eine Rolle spielen würde. GFH: Ja, Leontyne Price und Jessye Norman haben es geschafft, sich in einer Welt durchzusetzen, die nicht für sie gebaut war. Das ist bewundernswert und belegt ihre großartigen künstlerischen Fähigkeiten. Wenn sie auf der Bühne standen, haben sich viele Menschen mit ihnen identifiziert. Wie das Leben für sie im Alltag aussah, ist eine andere Frage. Sie erwähnen den »unbewussten Rassismus«. Ich muss jetzt sehr darauf achten, nicht emotional zu werden – wie gesagt, seit 2005 bin ich in meinem täglichen Leben mit Rassismus konfrontiert. Fast immer ist er angeblich unbewusst. Und er kommt auch von Menschen, denen ich so etwas nie zugetraut hätte. Ich habe gelernt, konsequent zu sein. Als mir jemand, mit dem ich jahrzehntelang zusammengearbeitet hatte, in einem Gespräch erklärte, Menschen unterschiedlicher »Rassen« würden Gerüche ausströmen, die gegenseitig unangenehm wahrgenommen würden, brach ich den Kontakt ab. Sarkastisch erklärte ich ihm, ich könne ihm den Gestank meiner Frau nicht zumuten.



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Nicht nur einmal geschah es, dass wir mit Freunden über Blackfacing diskutieren. Mollena erklärte, dass sie dieses persönlich zutiefst verletze – und die Gesprächspartner zeigten keine Empathie mit ihr, fragten nicht nach, wollten nicht erfahren, worin diese Verletzungen bestanden, sondern sagten ihr lediglich eiskalt ins Gesicht, die »Freiheit der Kunst« sei wichtiger als ihr Schmerz. – Wer das tut, muss damit rechnen, dass ich ihn als Rassisten bezeichne. An dieser Stelle habe ich eine Bitte an alle Menschen, die diesen Text lesen: Fragen Sie nicht »Wer waren denn die Ferkel, die sich so verhalten haben?« Denn es gibt Millionen dieser Ferkel in Mitteleuropa. Fragen Sie sich bitte, ob Sie nicht Spuren dieser Ferkeleien in Ihrem eigenen Denken finden. Denn so – und nur so – verschwindet Rassismus.





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Das große Ich bin Ich oder Was gehört zu einer Komponisten­ biografie? Georg Friedrich Haas: »Leben« … »und« … »Werk« »Die Hinrichtung [Franz] Zahlheims [eine besonders grausame Exekution eines Raubmörders] fand am Vormittag des 10. März 1786 statt. Mozart war in Wien. Ob er der Hinrichtung selbst beigewohnt hat, wissen wir nicht. Sie nahm ihren Ausgang ein paar hundert Meter von seiner Wohnung entfernt. Das Hin- und Her­ gerenne auf den Straßen, das Schreien einer so zahlreichen Volksmenge [rund 30.000 Menschen] konnte er auch in seiner Wohnung hören. Am Nachmittag desselben Tages fand in der Leopoldstadt von Wien jene Freimaurerversammlung statt, die als das ›Krattersche Autodafé‹ berüchtigt wurde. Wie sich Mozart auch immer zu den Ereignissen verhielt, die vor seiner Haustür oder in geistiger Nähe zu ihm stattfanden – er komponierte an diesem Tage zwei Arien [für eine Idomeneo-Aufführung] […]. Sie haben von ihrem Inhalt her nicht die geringste Beziehung zu den aufwühlenden Ereignissen dieses Tages. […] Etwas anderes ist es, ob das c-Moll-Konzert (KV 491), das Mozart in den nächsten 14 Tagen schrieb, einen musikalischen Reflex, vielleicht sogar etwas wie einen Kommentar auf eine in jeder Weise angespannte, betroffen machende Situation darstellte. […] Er reagierte mit seinen Mitteln, musikalischen […], er komponierte ungefälliger, weniger unterhaltsam, gedankenstrenger, aber nicht entrückter von den Zeitverhältnissen, sondern – wie seine Opern zeigen – in immer deutlicherem Bezug zu ihnen, eindeutiger, schonungsloser.« 1 »Wenn ich alleine in einer leeren Straße in New York gehe, fürchte ich mich vor einem kriminellen Akt, dass jemand mich ausraubt oder so etwas. Würde aber meine Frau dort gehen, würde sie sich vor allem vor der Polizei fürchten. Ich wohne in einem wunderschönen Appartement mit einem schönen Ausblick auf den Hudson. An einem Abend sah ich aus dem Fenster, und da waren 200 Polizeiautos mit blinkendem Rotlicht. Eine Großdemonstration von ›Black Lives Matter‹ fand direkt vor unserem Haus statt. Augenblicklich wollte ich hinuntergehen, mitdemonstrieren – aber ich begriff, dass das nicht meine Sprache war, nicht meiner Persönlichkeit entsprach. Zu dieser Zeit arbeitete ich gerade unter starkem Zeitdruck an Morgen und Abend; ich entschied mich, diese Arbeit zur Seite zu legen und I Can’t Breathe zu komponieren.« 2 1  Volkmar Braunbehrens, Mozart in Wien, München 1986, S. 294–296. 2  Jeff Brown, »Georg Friedrich Haas. Das Interview«, in: VAN, 3.2.2016, unter: https://van-magazin.

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Die Beobachtungen und Mutmaßungen, die Volkmar Braunbehrens 1986 in seinem Buch Mozart in Wien zu den Beweggründen für eine konkrete Komposition sowie für eine veränderte Ausrichtung in Mozarts Schaffen insgesamt formulierte, suggerieren bei sorgfältiger, vorsichtiger Abwägung eine konkrete Beziehung biografischer Eindrücke zu musikalischem Ausdruck. – Als Georg Friedrich Haas im Jahr 2016 Auskunft über die Initialzündung zu seinem Stück I can’t breathe (in memoriam Eric Garner) für Trompete solo (2015) gab, nahm er damit eine explizite politische Positionierung vor: 3 Der Komponist versteht sein Werk ausdrücklich als Stellungnahme gegen den US-amerikanischen Alltagsrassismus und als Erinnerung an einen dadurch zu Tode gekommenen Menschen. Beide eingangs wiedergegebenen Textstellen weisen eine Gemeinsamkeit auf – sie behaupten einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Erlebtem und Gestaltetem. Während der rekonstruierende Historiker auf Basis von Indizien eine hypothetische Schlussfolgerung nahelegt, berichtet der Zeitgenosse für und über sich aus erster Hand und liefert im Sprechen über sein Tun eine Quelle zu sich selbst. Beide Texte stellen einen Zusammenhang her zwischen historischen, politischen, sozialen Ereignissen einerseits und einem oder mehreren Musikstücken andererseits – einen Zusammenhang, für den es, selbst wenn er anhand von Daten und Fakten belegbar sein sollte, in musikästhetischen Belangen – jedenfalls bei Instrumentalwerken ohne wortsprachlichen Text 4  – kaum einen eindeutigen Nachweis geben kann, wohl aber Evidenz. Beiden Erzählungen ist auch gemeinsam, dass sie die Bedeutung der (zeit-)historischen Ereignisse im Kontext mit den in zeitlicher Nähe geschriebenen Musikstücken umreißen: Sie werden erzählt, weil sie der Entstehung der jeweiligen Kompositionen vorausgegangen sind und weil damit ein ursächlicher Zusammenhang zwischen biografischem Faktum und musikalischem Text behauptet wird.

I Zwei Bekenntnisse Ein solcher unmittelbarer Zusammenhang mit seinen Werken lässt sich zu jenen beiden Outings, mit denen Georg Friedrich Haas vor wenigen Jahren für einige mediale Aufmerksamkeit erntete, kaum ohne Weiteres herstellen – auch wenn folgender journalistische Text aus der österreichischen Tageszeitung Kurier suggeriert, dass seine Kompositionen außermusikalische 3  Haas’ englischsprachige Work Introduction zu I can’t breathe formuliert einen ähnlichen Kontrast

wie die ersten beiden Sätze des zitierten Interview-Ausschnitts. Weiter heißt es darin: »I declare my solidarity with that protest [Black Lives Matter!] in this work.« Zit. nach: https://www.universaledition. com/georg-friedrich-haas-278/works/i-can-t-breathe-13965 [letzter Zugriff: 15.12.2022]. 4  Mit gutem Grund nennt Braunbehrens Mozarts Opern als Belege für seine These und vermeidet eine abschließende Beantwortung der von ihm selbst aufgeworfenen Frage nach einem möglichen konkreten Kontext des c-Moll-Klavierkonzerts.



Das große Ich bin Ich oder Was gehört zu einer Komponistenbiografie?

Entitäten und Begriffe in etwa so enthalte wie ein kulinarisches Gericht bestimmte Ingredienzien: »Wer glaubt, dass die zeitgenössische Orchestermusik frei von Sex, Fleisch, Politik und Leben ist, kennt Georg Friedrich Haas nicht. Der österreichische Komponist hat jüngst abseits seiner viel gelobten Musik mit zwei Aufsehen erregenden Bekenntnissen auch international Wellen geschlagen. Zuerst hat sich Haas, Träger des Großen Österreichischen Staatspreises, zur Form seiner Sexualität bekannt: Er führt mit seiner Frau, Mollena Williams-Haas, eine sadomasochistische Beziehung, in der er der Dominante ist […]. […] Und jüngst nahm Haas in der Zeit Stellung zur nationalsozialistischen Verblendung, die seine Familie beherrschte – und mit der er gebrochen hat.« 5 Auch wenn die hier referierte Reihenfolge der beiden »Bekenntnisse« insofern das öffentliche Bild angemessen wiedergibt, als eine Information erst dann als öffentlich gelten kann, wenn sie einen gewissen Schwellenwert in ihrer Verbreitung gefunden hat, ist die Chronologie an dieser Stelle etwas zurechtzurücken. Es war der 9. November 2015, als Haas im Rahmen eines Gastvortrags an der Technischen Hochschule in Wien erstmals öffentlich zu seinem familiären Hintergrund sowie zu seinen eigenen ideologischen Überzeugungen in jugendlichem Alter Stellung bezogen hat. Der Komponist wählte diese Institution – die heutige Technische Universität Wien – aus dem Grund, dass sein Großvater in den Jahren des Nationalsozialismus dort als Rektor firmierte. Fast auf den Tag genau 75 Jahre zuvor hatte Fritz Haas dort seine Festrede zum 125-jährigen Jubiläum der Hochschule gehalten. 6 Der Gastvortrag allerdings strahlte – was seine diffizilen Teile betrifft – nicht in eine breitere Wahrnehmung aus. Zwar wurde er zum Gegenstand einer Radiosendung, dort jedoch um die persönlichen Passagen gekürzt. 7 Wenige Monate später nahm Haas ausführlich öffentlich Stellung zu seiner sexuellen Orientierung, zunächst am 6. Februar 2016 im deutschen Online-Magazin VAN 8, dann auch am 24. Februar 2016 in der New York Times 9. Noch zweieinhalb Jahre später war darüber zu lesen: »Kaum ein Text hat in der VANVergangenheit so heftige Reaktionen ausgelöst wie unser Interview mit Georg Friedrich Haas im Februar 2016, in dem der Komponist zum ersten 5  Gert Korentschnig/Georg Leyrer, »›Das war durch das liberale Amerika zugedeckt‹. Der Komponist Georg Friedrich Haas über Amerika, die Auswirkungen auf die österreichische Wahl, Nazis und BDSM«, in: Kurier, 10.11.2016, unter: https://kurier.at/kultur/komponist-georg-friedrich-haas-daswar-durch-das-liberale-amerika-zugedeckt/229.846.251 [letzter Zugriff: 15.12.2022]. 6  Fritz Haas, »Die Festrede«, in: Die Technische Hochschule in Wien zur Feier des 125jährigen Bestandes am 7. November 1940, Wien 1942, S. 5–16. 7  Sandra Häuplik-Meusburger/Verena Holzgethan, »Georg Friedrich Haas. Wie entsteht Neues?«, Podcast »Spaceuriosity«, 26.4.2016, unter: https://cba.fro.at/314335 [letzter Zugriff: 15.12.2022]. 8  Brown, »Georg Friedrich Haas. Das Interview« (Anm. 2). 9  Zachary Woolfe, »A Composer and His Wife: Creativiy Through Kink«, in: The New York Times, 24.2.2016, unter: https://www.nytimes.com/2016/02/24/arts/music/a-composer-and-his-wife-crea tivity-through-kink.html [letzter Zugriff: 15.12.2022].



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Mal öffentlich über seine (lange verleugnete) Sexualität, seine Beziehung zu seiner Frau Mollena, und was beides für sein Komponieren bedeutet, sprach.« 10 Eine äußerst kontroverse Diskussion  – vor allem in deutschen Online-Medien – war die Folge. 11 Zuvor hatten Mollena Williams-Haas and Georg Friederich Haas schon über Soziale Medien Details aus ihrem Intimleben verbreitet, u. a. in einem You-Tube-Video von der »Playground« Conference in Toronto vom 20. November 2015. 12 Die beiden Outings des Komponisten liegen, soviel lässt sich sagen, jedenfalls zeitlich eng nebeneinander.

II Ausschluss des »Nebensächlichen«? Was gehört überhaupt zu einer Komponistenbiografie? Die Frage ist selbstverständlich schlechterdings nicht eindeutig zu beantworten. Die sich historisch wandelnde gängige Praxis kann immerhin anhand einiger Parameter skizziert werden. Wirkmächtig ist zum einen die enge Verbindung musikwissenschaftlicher mit biografischer Forschung seit den Wurzeln des Fachs im 18. Jahrhundert 13, als ebenso nachhaltig wirkmächtig hat sich auch »[d]er zweimalige Ausschluss der Biographie aus dem Zentrum des Fachs – 1885 durch Guido Adler und 1975 durch Carl Dahlhaus« 14  – erwiesen. In der Biografik  – soweit sie für den fachlichen Diskurs überhaupt eine Rolle spielt – zeichnen sich zumindest zwei große Trennlinien ab, indem sie sich zum einen, abgesehen von wenigen Ausnahmen, auf historische Objekte bezieht und lebende Komponistinnen und Komponisten (jedenfalls für biografische Gesamtdarstellungen) kaum in Betracht zieht. Zum anderen gehen über die Angaben der Fakten eines Curriculum Vitae hinausreichende biografische Angaben zumeist auf die zeitgenössischen Komponistinnen und Komponisten selbst zurück. Ohnehin erstrecken sich ihre Selbstkommentare in der Regel zuvörderst auf ästhetische Überlegungen, technische Erläuterungen oder auch Berichte über Momente der Inspiration, enthalten jedoch nur in absoluten Ausnahmefällen Informationen über den persönlichen, privaten Lebensbereich. Und auch diese werden tendenziell dann berichtet, wenn ein Zusammenhang zur künstlerischen Tätigkeit besteht. 15 10  Anna-Lena Wenzel, »The Artist & The Pervert. Ein Dokumentarfilm über die Beziehung von

Georg Friedrich Haas und Mollena Williams-Haas«, in: VAN, 31.10.2018, unter: https://van-magazin. de/mag/artist-pervert/ [letzter Zugriff: 15.12.2022]. 11  Vgl. dazu nur Moritz Eggert, »Offener Brief an Georg Friedrich Haas«, in: BadBlog of Musick, 8.3.2016, unter: https://blogs.nmz.de/badblog/2016/03/08/offener-brief-an-georg-friedrich-haas/ [letzter Zugriff: 15.12.2022]. Ob sich eine detaillierte Aufarbeitung dieser und weiterer Stellungnahmen lohnen würde, möge an dieser Stelle offenbleiben. 12  https://www.youtube.com/watch?v=0Ialsac2dcE [letzter Zugriff: 15.12.2022]. 13  Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln 2014, S. 367 ff. 14  Ebd., S. 9. Vgl. auch ebd. S. 375 ff. und S. 407 ff. 15  Ein Beispiel dafür ist der Bericht über den Autounfall der 15-jährigen Olga Neuwirth, der ihren Plan vereitelte, Jazz-Trompeterin zu werden. Vgl. z. B. Eva Neumayr, Art. »Olga Neuwirth«, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hrsg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003 ff., Stand vom



Das große Ich bin Ich oder Was gehört zu einer Komponistenbiografie?

Bedingt durch den »narrativen Zwang zur Kohärenzbildung« 16, der jeden biografischen Text begleitet, liegt es ohnehin nahe, bei künstlerisch Tätigen Wechselwirkungen zwischen »Leben und Werk« aufzuspüren respektive zu konstruieren. Es gibt einige gute Gründe, genau diese Verbindung zwischen Biografie und künstlerischer Arbeit mit Skepsis zu betrachten. Aus guten Gründen suspekt geworden ist auch die altertümliche, das schöpferische Subjekt in beinahe religiöser Weise überhöhende Haltung, welche grundsätzlich alles für bedeutsam hält, was mit diesem zusammenhängt: Arnold Schönberg konnte noch postulieren, dass »bei einem großen Menschen nichts Nebensache [ist]. […] In diesem Sinne hätte ich sogar [Gustav] Mahler zusehen wollen, wie er eine Krawatte bindet«. 17 So absurd es anmuten würde: Unmöglich wäre es nicht, sogar aus der Art, wie sich jemand den Schlips umlegt, Eigenschaften für den Charakter des Menschen sowie für die Bücher eines Schriftstellers oder die Werke eines Komponisten abzuleiten und das eine mit dem anderen in Beziehung zu setzen. Dabei wäre der Unterschied zur Bildung anderer Analogien nur ein gradueller.

III Das Subjekt als Teil des Werks Es ist mehr als ein halbes Jahrhundert her, dass die Idee einer »primären, festen und grundlegenden Einheit von Autor und Werk« 18 (Michel Fourcault, 1969) nachhaltig infrage gestellt wurde. Schon 1967 hatte Roland Barthes polemisch, aber auch als Diagnose zeitgenössischer Texte den Tod des Autors postuliert, v. a. jedoch die gängigen Verfahren der Literaturkritik gegeißelt, »den Autor (oder seine Hypostasen: die Gesellschaft, die Geschichte, die Psyche, die Freiheit) hinter dem Werk zu entdecken«. 19 Der enorme Einfluss poststrukturalistischen Denkens hat wohl nicht nur zur kritischen Hinterfragung der Instanz des schöpferisch tätigen Individuums in den Geisteswissenschaft geführt, sondern auch zu einer weitgehenden Tabuisierung des Privaten. Allerdings: »Der Autor beherrscht immer noch die literaturgeschichtlichen Handbücher, die Biographien der Schriftsteller, die Zeitschrifteninterviews und sogar das Selbstverständnis der Literaten, die in ihren Tagebüchern 15.5.2018, online verfügbar unter: https://mugi.hfmt-hamburg.de/receive/mugi_person_00000597 [letzter Zugriff: 15.12.2022]. Vgl. etwa auch Karin Hochradl, Olga Neuwirths und Elfriede Jelineks gemeinsames Musiktheaterschaffen. Ästhetik, Libretto, Analyse, Rezeption, Bern u. a. 2010, S. 95. Neuwirths Aufzeichnungen Bählamms Fest. Ein venezianisches Arbeitsjournal 1997–1999, Graz u. a. 2003, enthalten teilweise sehr persönliche Berichte aus ihrem Familienleben. 16  Christian von Zimmermann, Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830–1940), Berlin 2006, S. 12. 17  Arnold Schönberg, »Vortrag über Gustav Mahler«, in: ders., »Stile herrschen, Gedanken siegen«. Ausgewählte Schriften, Mainz 2007, S. 73–98, hier S. 84. 18  Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 2003, S. 234–270, hier S. 237. 19  Roland Barthes, »Der Tod des Autors«, in: Texte zur Theorie der Autorschaft, hrsg. und kommentiert von Fotis Jannidis u. a., Stuttgart 2000, S. 185–197, hier S. 191.



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Person und Werk verschmelzen möchten. Unsere heutige Kultur beschränkt die Literatur tyrannisch auf den Autor, auf seine Person, seine Geschichte, seinen Geschmack, seine Leidenschaften.« 20 Dieses Zitat stammt ebenfalls aus dem Text von Barthes aus dem Jahr 1967, wäre aber auch als Diagnose der aktuellen Situation nicht verfehlt. Denn wenn auch Zweifel an der grundsätzlichen Relevanz der Person des Urhebers im wissenschaftlichen Bereich bestehen geblieben sind und sich erst in den jüngeren Jahren ein erneutes Interesse an Biografie und Biografik entwickelte 21, hat eine Abkehr von der Figur des Autors in der Alltagspraxis ebenso wenig stattgefunden wie in der populärwissenschaftlichen Publizistik. Vielmehr haben diesbezüglich immer parallele Realitäten bestanden. Das Kulturleben funktioniert nach wie vor, ebenso wie das Rechts- und Wirtschaftssystem weitestgehend nach Maßgabe der althergebrachten Kategorien. Ohnehin ist die Forderung nach einer gänzlichen Abschaffung des Subjekts des Autors als theoretische Position zu verstehen gewesen, die sowohl Barthes als auch Foucault später differenzierten. Ging es Ersterem darum, »die großen, idealerweise einheitlichen, abgeschlossenen, widerspruchsfreien Lebenserzählungen durch ein Repertoire von disparaten und punktuellen anekdotenhaften Geschichtsfragmenten [zu] ersetzen« 22, gelangte Zweiterer zur Erkenntnis, »dass sein [sc. des Schriftstellers] Hauptwerk letztlich er selbst ist, wie er seine Bücher schreibt. Und dieses Verhältnis von ihm zu seinen Büchern, von seinem Leben zu seinen Büchern, ist der zentrale Punkt, die Mitte seiner Aktivität und seines Werkes. Das private Leben eines Individuums, seine sexuellen Vorlieben und sein Werk sind untereinander verbunden, nicht weil das Werk das Sexualleben ausdrückt, sondern weil es das Leben ebenso wie auch den Text umfasst. Das Werk ist mehr als das Werk: Das Subjekt, das schreibt, ist Teil des Werkes.« 23

IV Unvereinbare Welten Der Verfasser dieses Beitrags schrieb in einem 2007 erschienenen Text in einer assoziativen, metaphernreichen Einleitung, die sich als der Versuch verstand, eine allgemeine Charakterisierung der Musik von Haas zu leisten: 20  Ebd., S. 186. 21  Vgl. z. B. Michele Calella, Musikalische Autorschaft. Der Komponist zwischen Neuzeit und Mittel-

alter, Kassel 2014; Melanie Unseld/Christian von Zimmermann (Hrsg.), Anekdote  – Biographie  – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den schönen Künsten, Köln u. a. 2013. 22  Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin 2007, S. 20. 23  Michel Foucault, »Archäologie einer Leidenschaft, Gespräch mit C. Ruas«, zit. nach: ders., Schriften in vier Bänden/Dits et Ecrits, Bd. IV: 1980–1988, Frankfurt/M. 2005, S. 734–746, hier S. 744.



Das große Ich bin Ich oder Was gehört zu einer Komponistenbiografie?

»Zwei Gegenpole lassen sich im kompositorischen Schaffen von Georg Friedrich Haas bei aller Vielfältigkeit der konkreten äußeren Gestalt namhaft machen, zwei Gegenpole, die jene Extrempunkte ästhetischer Erfahrung beschreiben, die seine Musik immer wieder aufsucht, die ihre Fluchtpunkte bilden, auf die alles Geschehen zustrebt, sich zuweilen auch in ihnen erschöpft. Da gibt es zum einen dramatische Prozesse, deren Unausweichlichkeit das musikalische Geschehen immer wieder auf sich zurückwirft: Immer wieder setzt die Bewegung an, strebt einem Ziel zu, das doch unerreichbar bleibt, was den Prozess andauernd aufs Neue aufrollt, so dass der Eindruck des Manischen, Obsessiven, ja des Zwanghaften entsteht. Auf der anderen Seite stehen jene Ruhephasen, in denen die Musik ganz bei sich ist, ihre klangliche Dimension entfaltet, harmonisch im eigentlichen Wortsinn den Ausgleich sucht und oft auch gefunden zu haben scheint. Hier ist die Musik im selben Ausmaß bei sich, wie sie im anderen Fall über sich hinausführen möchte, doch nur in Ausweglosigkeit münden kann. Hier verspricht sie Erfüllung, ein Aufgehen im Augenblick, während sie dort die Unmöglichkeit offenbart, an ein Ziel zu gelangen. Auch wenn ein genauerer analytischer Blick offenbart, dass die beiden hier skizzierten extremen Erscheinungsformen strukturell enger miteinander verwandt sind, als es der sinnliche Eindruck nahelegt, auch wenn sie sich auf einen gemeinsamen Fokus hin interpretieren lassen, ist doch ihr Ausdruck fundamental unterschieden. Sie entfalten nichts weniger als den Gegensatz von Zwang und Freiheit, wobei freilich ersterer stets als unentrinnbare Realität, zweitere als ungewisse Möglichkeit erscheint.« 24 Diese Formulierungen mögen dem damals Schreibenden heute selbst etwas blumig erscheinen. Doch lassen sie sich, obwohl sie etliche Jahre vor den Bekenntnissen des Komponisten zu den »dunklen« 25 Aspekten der eigenen Lebensgeschichte entstanden, nach Bekanntwerden biografischer Details in anders gewichteter, womöglich konkreterer Weise lesen. Zu einem ähnlichen Gesamtbild »unvereinbarer Welten« ist übrigens Robert Hasegawa in seiner musiktheoretisch überaus akribischen Analyse zweier Werke gekommen: »Wie in Blumenstück ist Haas’ Gegenüberstellung von reiner Intonation und gleicher Stimmung in in vain nicht nur eine Frage der Stimmung, sondern eine schroffe und ausdrucksstarke Darstellung unvereinbarer Welten.« 26 24  Daniel Ender, »Neue Musik als Tochter der Freiheit? Konzeptuelle und interpretatorische­

Freiräume in der Musik von Georg Friedrich Haas«, in: Österreichische Musikzeitschrift 62 (2007) H. 11–12, S. 38–42, hier S. 38. 25  »Dunkel« ist ein Wort, das Haas selbst für die Charakterisierung seiner Musik verwendet. Vgl. dazu unten S. 33. 26  »As in Blumenstück, Haas’s contrast of just intonation and equal temperament in in vain is not merely a question of tuning, but a stark and expressive representation of incompatible worlds.« Robert Hasegawa, »Clashing Harmonic Systems in Haas’s Blumenstück and in vain«, in: Music Theory Spectrum, Vol. 37, Issue 2, Fall 2015, S. 204–223, hier S. 222.



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V Das Schweigen und der Tabubruch Die öffentlich bekannte Biografie von Haas wurde inzwischen von einer recht dichten Reihe an »disparaten und punktuellen anekdotenhaften Geschichtsfragmenten« (Foucault, vgl. oben) ergänzt, zum einen durch den Dokumentarfilm The Artist & The Pervert (2016) von Beatrice Behn und René Gebhardt 27, zum anderen durch Haas’ Autobiografie Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben 28. »An Selbstverständliches erinnert man sich nicht. Ich weiß nicht mehr, wie es war, auf der Toilette zu sitzen, oder wie ich mir die Zähne geputzt habe. Und ich weiß nicht mehr, wie ich geschlagen wurde. Aber ich habe eine Erinnerung, die einen klaren Hinweis gibt: Selbstverständlich fühlte ich mich schuldig, wenn ich verprügelt wurde. Denn ich war ja ›schlimm‹ gewesen. Hatte etwas Freches gesagt, hatte einen Befehl der Eltern nicht befolgt, hatte beim Spielen irgendetwas getan, das ›ganz, ganz böse‹ war. Also beschloss ich, ›brav‹ zu sein. Ich nahm mir fest vor, den ganzen Tag lang ›brav‹ zu sein. Aber ich schaffte es nicht. Niemals konnte ich einen ganzen Tag lang ›brav‹ sein. Mehr noch: Mir fiel sogar auf, dass ich mehrmals pro Tag ›schlimm‹ war. Im Klartext bedeutet das: Ich wurde als Kleinkind täglich mehrmals von meinen Eltern verprügelt. ›Wer sein Kind liebt, schlägt es.‹ Hunderte Mal hat mir Mutti diesen Satz gesagt.« 29 Georgs Mutter Rolanda Haas hat dieses Ausmaß an häuslicher Gewalt im Dokumentarfilm bestätigt und bagatellisiert 30, aber auch anderweitige Einblicke in ihre Realität gewährt. Über die Geburt ihres ältesten Sohnes hat sie berichtet: »My husband stood in front of me, a bouquet of dark red roses rested on my bosom, and he said: ›You gave birth to a blonde son.‹ You cannot imagine what a miracle that was.« 31 … Auf die Frage, ob sie und ihr Mann Nationalsozialisten waren, antwortete sie: »Not National Socialist. Because that was over. Of course back then we were. But … those were the times. But afterwards we understood it was wrong. They [the Allied forces] dissociated us from all of that. But well, 27  Vgl. dazu z. B. Maria Wiesner, »Sklavin und Herr. Doku ›The Artist & The Pervert‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.4.2020, unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/the-artistthe-pervert-ueber-eine-bdsm-beziehung-16741387.html [letzter Zugriff: 15.12.2022], sowie Wenzel, »The Artist & The Pervert« (Anm. 10). 28  Georg Friedrich Haas, Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben, hrsg. von Daniel­ Ender und Oliver Rathkolb, Köln – Wien 2022. 29  Ebd., S. 175. 30  Dialogue List zu The Artist & The Pervert, Time Code 00:59:01 ff. Herzlichen Dank an René Gebhardt für die Überlassung dieses Dokuments. In den folgenden beiden Zitaten wird die englische Übersetzung des Skripts beibehalten. Im Original werden sie auf Deutsch gesprochen. 31  »Mein Mann stand vor mir, ein Strauß dunkelroter Rosen lag auf meiner Brust, und er sagte: ›Du hast einen blonden Sohn geboren.‹ […] Man kann sich das gar nicht vorstellen: Das war ein Wunder.« Ebd., 00:56:57.



Das große Ich bin Ich oder Was gehört zu einer Komponistenbiografie?

how shall I say … This is a very difficult topic. But at home [Georg] was brought up and taught in this way. I had no idea that he has a black girlfriend. He knew about my racial hatred. You should keep yourself [your race] pure. Purity in the sense of keeping your being … Now I’m getting myself into things I didn’t want to say.« 32 Haas hat über diesen familiären Hintergrund, seine eigene Verstrickung darin und seine Loslösung daraus über Jahrzehnte öffentlich geschwiegen. »Aber in einer anderen Sprache habe ich immer davon geredet: in meiner Musik. Die Dunkelheit, die Trauer, die Verzweiflung, die ich in diese Musik hineinkomponiert habe – sie hat ihre Ursache in der Erinnerung an die Schuld, das Verbrechen, das Grauen, das in meiner Existenz mitschwingt. Wenn am Ende von dark dreams das Fagott mit seiner verzweifelten Solomelodie beginnt, wenn in limited approximations die leeren Quinten in Zwölfteltonschritten verwittern, wenn im in völliger Dunkelheit zu spielenden dritten Streichquartett alle verstummen, bevor sie Gesualdos Musik zitieren, wenn in der Oper Nacht jede Utopie zerbricht und nur mehr die nackte Existenz des einsamen Ichs übrig bleibt – dann habe ich darin auch meine Verzweiflung über die Schatten dieser Erinnerung hineingepackt.« 33 Das Gefühl von Schwindel (»vertigo«) und Ohnmacht, der Eindruck sich endlos in eine Richtung bewegender Klänge bilden häufige Element in Haas’ Musik. Lassen sich daraus Schlüsse ziehen? Zwei Beispiele aus den letzten Jahren mögen das assoziative Feld erweitern: In Das kleine Ich bin Ich für Kammerensemble und Sprechstimme (2016) markiert ein erstmals auftretender Obertonakkord eine dramaturgische Schlüsselstelle, den Moment, wo sich das »bunte Tier« als »Ich« erkennt. Komponieren als Zu-sich-Finden, als Selbstbehauptung? In ungefähr ganz genau für großes Orchester (2022) stemmt sich der gesamte Apparat einem immer stärker werdenden, von außen kommenden Störfaktor (elektronisch eingespielten Sinustönen) entgegen und setzt sich schließlich durch. Auch hier sind metaphorische Analogien denkbar. Konkreter Text lässt sich fraglos in eindeutiger Weise verstehen: »Nacht handelt vom Verlust der Utopie, ist eine Reaktion auf die politische Entwicklung der 90er-Jahre. Aber es gibt einen Subtext, in dem ich mich mit meiner eigenen Geschichte auseinandersetze. Bewusst, indem 32  »Nicht nationalsozialistisch, weil das war vorbei. Wir waren’s, sicher waren wir es damals, aber

das war die Zeit. Dass es falsch war, das wussten wir da ja bald. Wir haben uns davon distanziert, aber dass wir, wie soll ich sagen? Das ist ein sehr schweres Thema. Daheim ist er [Georg] natürlich in dem Sinn erzogen worden. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er eine schwarze Freundin hat. Und er wusste meine Rassenfeindlicheit. Wie soll ich sagen? Man sollte sich rein halten, rein halten heißt sein Wesen, sein … Da komme ich in Sachen hinein, die ich nicht sagen wollte.« Ebd., 00:57:57. 33  Haas, Durch vergiftete Zeiten (Anm. 28), S. 245.



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ich z. B. den Satz ›Es ist aus, Diotima, unsere Leute haben gemordet … auch unsere Brüder sind erschlagen‹ als emotionalen, still trauernden Hohepunkt der Oper gesetzt habe.« 34 Gehört also zu einer Komponistenbiografie das und nur das, was mit seinem Werk in Zusammenhang steht? Lässt sich eine Verbindung von Leben »und« Werk in wie auch immer fragmentarischer und hypothetischer Weise beschreiben? Lässt sich die Kluft zwischen innermusikalischen Strukturen und biografischen Anekdoten überbrücken? Seit seinen beiden »Outings« spricht Georg Friedrich Haas ungewöhnlich offen über normalerweise Privates und ansonsten Verschwiegenes. Ein solcher Tabubruch ist vielleicht einzig-, jedenfalls neuartig. Wie die Forschung künftig mit diesem Wissen umgehen wird, muss heute offenbleiben …

VI Epilog Auszüge aus: »steirischer herbst – oder warum Europas ältestes Festival für neue Kunst ausgerechnet in der Steiermark stattfinden muss.« Rede von Georg Friedrich Haas zum Festakt »50. steirischer herbst«, 14. September 2017 35 »Wenn ich komponiere, stehen die Toten hinter mir und ich fühle, dass sie auch jetzt, wo ich hier spreche, hinter mir stehen: Die jüdische Familie, die versucht hatte, in Wien zu überleben, indem sie tagsüber durch die Straßen zog und nachts irgendwo anläutete und um Übernachtung bettelte. Mein Großvater bat sie in die Küche und rief die Gestapo an. Die Zwangsarbeiter – KZ-Insassen und Kriegsgefangene –, die auf den Baustellen meines Großvaters unter Arbeitsbedingungen schuften mussten, bei denen tödliche Unfälle bewusst einkalkuliert waren. Die Einwohner jenes französischen Dorfes, dessen Namen ich nicht kenne, in das mein Vater eine Fliegerabwehrrakete gejagt hatte. Die Menschen, die mein anderer Großvater laut den Erzählungen, die ich zu hören bekam, denunziert hatte, die dann ermordet wurden. Und die vielen, von denen ich nichts weiß. Denn ich kann mich nicht der Illusion hingeben, dass es neben jenen schrecklichen Untaten meiner Eltern und meiner Großväter, von denen ich durch Zufall oder durch hartnäckiges Nachfragen erfahren habe, keine weiteren schrecklichen Untaten gäbe. Manchmal schreibe ich Trauermusik über die Ermordeten. Manchmal sind sie einfach nur da. Ich fühle mich nicht schuldig. Aber ich fühle Scham und Trauer.

34  Ebd., S. 165. 35  Zit. nach: ebd., S. 252–253, S. 254.



Das große Ich bin Ich oder Was gehört zu einer Komponistenbiografie?

Und besonders schäme ich mich für das, das ich selbst gedacht – und geredet – habe. Als Kind, als Jugendlicher, als junger Student. Ich habe viel zu lange gebraucht, bis ich bereit war, die Wahrheit zu sehen. […] Meine persönliche Entwicklung ist ein Beispiel dafür, was Kunst bewirken kann: Die Auseinandersetzung mit dem Werk von John Cage und das Erfassen seines radikalen Begriffs von Freiheit haben substantiell mitgeholfen, mich aus jener finsteren Welt hinauszuführen, in die ich hineingeboren worden war. Das hat mein Leben in jeder Hinsicht zum Positiven verändert. Ich bin letztlich ein glücklicher Mensch geworden. Und es war viel leichter, als ich ursprünglich gedacht hatte. Ich brauchte nur den schrecklichen Nazisatz, den mich meine Eltern gelehrt haben, ›Unsere Ehre heißt Treue‹, ein wenig umzudrehen in: ›Aber meine Ehre heißt Wahrheit.‹ Die Musik von Cage, von Schubert, von Schönberg, von Cerha, von Ligeti und von Lachenmann half mir dazu. Kunst ist ein Ritual. Ein Ritual des ›An-die-Grenzen-Gehens‹. Wenn wir Künstlerinnen und Künstler die Grenzen des uns Möglichen ausloten, wenn wir die Traditionen immer von Neuem durch Infragestellen neu beleben, wenn wir in bedingungsloser Ausdrucksstärke unsere Existenz in die Waagschale werfen – dann haben wir die Chance – niemals die Gewissheit! –, dass sich die spirituellen Aspekte unseres Schaffens entwickeln können. Diese Spiritualität der Kunst ist  – und war schon immer – rational. Wir denken in Klängen, in Farben, in Formen, in Erzählsträngen. Und wir haben ein Recht darauf, an der Qualität unserer Arbeit gemessen zu werden. An nichts anderem.«



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Die Synergetik der Sinne komponieren Georg Friedrich Haas – zu Wahrnehmung und Wirkung seiner Musik »Nicht nur rascher, auch unmittelbarer und intensiver ist die Einwirkung der Töne. Die anderen Künste überreden, die Musik überfällt uns. Diese ihre eigentümliche Gewalt auf unser Gemüt erfahren wir am stärksten, wenn wir uns in einem Zustand größerer Aufregung oder Herabstimmung befinden.« 1

I Musik als Ausdruck Ergriffenheit und Emphase zeichnen das Reden über die Musik Georg Friedrich Haas’ aus. Selbst die Kritik, die sich beim Hören in Hinblick auf das zu Schreibende dauernd selbst beobachten und ihre Eindrücke objektivieren sollte, scheint von seiner Musik oft in Bann geschlagen. Die Süddeutsche Zeitung schreibt in einer Besprechung der Opernaufführungen Bluthaus und Thomas in München 2022, dass die Musik von Haas »süchtig mache«. Ebenso wie das Publikum frage man sich auch, wie man »über die Haas-freie-Zeit in München kommen« solle 2. In der ZEIT werden Haas’ Werke kurze Zeit nach ihrer Uraufführung zum Meisterwerk erhoben: »Die Uraufführung der limited approximations war nicht nur eine Sensation, sondern eine jener halben Stunden, in denen Musikgeschichte geschrieben wird.« 3 Ebenso emphatisch äußert sich Sir Simon Rattle: »Georg Friedrich Haas’ Komposition in vain ist wirklich ein erstaunliches Meisterwerk.« 4 Er spricht sogar von einem »Kultstück«. Und er frage sich, wie man diese außerordentliche Wirkung beschreiben könne. Anlässlich der Uraufführung von Hyperion (2006) wird in der neuen musikzeitung das Hören dieser Musik als ein »ganzheitliches, fast der Zeit enthobenes Erleben, als ein Bad im Klingen« beschrieben 5. Metaphernreich – »wie schmelzendes Geröll flossen ihre Töne durch die Schichten des Orchesters« und »wie ein brodelnder Meeresspiegel scheint einmal der Klang auf die Hörer zu kippen« – wird die 1  Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Wiesbaden 1980, S. 103 (Nachdruck der 16. Auflage). 2  Reinhard J. Brembeck, »Die Banalität des Horrors«, in: Süddeutsche Zeitung, 24.5.2022. 3  Volker Hagedorn, »Kernschmelze in Zeitlupe«, in: DIE ZEIT, 15.9.2011. 4  Sir Simon Rattle, »Als entdecke man den Ursprung der Musik«, in: UE Musikblätter, Nr. 5 (2013), S. 15. 5  Reinhard Schulz, »Einige notwendigen Anmerkungen zu den Donaueschinger Musiktagen«, in: nmz – neue musikzeitung (2006) 11.



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erlebte Klangwucht in Worte gefasst 6. Werke der bildenden Kunst werden herangezogen, um die Wirkung der Musik auf Ohren und Augen gleichermaßen auszudrücken. So vergleicht Sir Simon Rattle seine Hörerfahrung bei in vain mit dem Eindruck, den eine Installation des dänisch-isländischen Künstlers Ólafur Elíasson auf ihn gemacht hat: »Man betrat einen Raum, der voller Rauch war, und durch den Rauch strahlten gleißende Lichter. Man war vollkommen orientierungslos und ertrank geradezu in Farben. Dieses Stück hat einen ähnlichen Effekt.« 7 Die üblichen Analysen der kompositorischen Setzungen werden offensichtlich der Musik nur bedingt gerecht und treten zurück zugunsten der Schilderung persönlichen Erlebens. Korreliert diese Wahrnehmung der Wirkung mit den Intentionen des Komponisten? Eine solche Entsprechung von Wirkung und Absicht ist keineswegs selbstverständlich. Denn Musik kann auch Wirkungen erzeugen, ohne dass diese vom Komponisten gewollt sind, oder ein Werk kann auf eine ganz andere Wirkung hin ausgerichtet sein, als sie tatsächlich wahrgenommen wird. Haas reflektiert mit großer Skepsis in seinem Text »Emotion und Ausdruck« 8 die Widersprüche, die sich für ihn mit dem Ausdruckstheorem in der Musik verbinden. Da sei zunächst die Diskrepanz zwischen der konstruktiven Arbeit am musikalischen Material und der tatsächlichen Wirkung der Musik, dem Hervorrufen von Emotionen. Die Konstruktionsprinzipien der Musik ließen sich durch Analyse rekonstruieren, nicht aber die davor und dahinter liegenden Entscheidungsprozesse des Komponisten. Des Weiteren lasse sich kaum ein kausaler Zusammenhang zwischen den Elementen der Konstruktion und einer möglichen Wirkung herstellen. Trotz dieser skeptischen Position bewegt Haas die Frage nach der Mitteilbarkeit von Emotionen von Komponist zu Musiker und Hörer, ihn interessiert, was im Ohr und im Gemüt des Interpreten wie des Hörers die Wirkung erzeugt. Nach eigenem, wiederholtem Bekunden ist es »… eine der Chancen von Musik, Emotionen und seelische Zustände von Menschen so zu formulieren, daß sie auch von anderen Menschen als die ihren angenommen werden können«. 9 Beruht die von der Kritik konstatierte Wirkmacht auf bestimmten Eigenschaften, die den Klängen bzw. einer spezifischen Gestaltung der Klänge zugeschrieben werden können? Oder liegt sie in dem Erleben und Wahrnehmen des Hörers, auf die der Komponist keinen Einfluss nehmen kann?

6  Hagedorn, »Kernschmelze in Zeitlupe« (Anm. 3). 7  Rattle, »Als entdecke man den Ursprung der Musik« (Anm. 4), S. 16. 8  Georg Friedrich Haas, »Emotion und Ausdruck (Randbemerkungen mit fremden und eigenen

Beispielen)«, in: Österreichische Musikzeitung 51 (1996) H. 9, S. 626 ff. 9  Georg Friedrich Haas, »These shadows of memory. Über das Finale des ersten Abschnitts meiner Oper Die schöne Wunde«, in: Resonanzen. Vom Erinnern in der Musik, hrsg. von Andreas Dörschel, Wien 2007, S. 203.



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II Aktivierung der Wahrnehmung Licht und Dunkelheit spielen für einige Werke von Georg Friedrich Haas eine wichtige Rolle. Schon in den frühen Musiktheaterstücken wie Adolf Wölfli (1980/81) und Nacht (1995/96 und 1998) lässt Haas die Musiker zeitweise in völliger Dunkelheit spielen und verändert durch den temporären Entzug von Licht die Hörsituation für das Publikum. In der Kammeroper Nacht wird der innere Zusammenhang der 24 »akustischen Bühnenbilder« untereinander durch unterschiedlich farbiges Licht für den Hörer augenscheinlich – Licht übernimmt eine dramaturgische Funktion im Sinne einer Lichtregie. In der Kurzoper Adolf Wölfli implementiert Haas, zusätzlich zu Phasen völliger Dunkelheit, im Schlussteil Lichtblitze zur Steuerung der Rhythmik der Klangwechsel – ein Vorgriff auf den Einsatz des Lichtinstruments in Hyperion 26 Jahre später. In seiner Werkeinführung schreibt der Komponist dazu: »Das Erlöschen des Lichts, die völlige Finsternis, ist nicht nur ein dramaturgisches Element, sie hat auch Auswirkungen auf die musikalische Faktur. Die Abwesenheit von Licht führt zu verhältnismäßig einfachen, statischen, improvisierten musikalischen Gebilden; zuletzt wechseln nur mehr zwei Obertonakkorde (im Abstand einer vierteltönig vergrößerten Sekunde) ab, der Wechsel wird durch Lichtblitze angegeben, auf die völlige Dunkelheit folgt – für den Zuschauer wird dadurch die Bewegung zum Stehbild, visueller und akustischer Eindruck nähern sich gegenseitig an.« 10 Auch in in vain (2000) begleitet der Eintritt in die Dunkelheit und der Wiedereintritt ins Licht einen Wechsel der harmonischen Klangwelten. Bis zur ersten Finsternis ist die Musik im Tonraum der temperierten Stimmung verortet. Wenn das Licht allmählich wieder eingeblendet wird, ist der Tonraum der reinen Stimmung mit den Obertonakkorden erreicht. Nach der zweiten Dunkelheit kehrt das Klanggeschehen zur temperierten Stimmung zurück. Im 3. und im 9. Streichquartett hat die Abwesenheit von Licht eine andere Funktion. Beide Quartette sind überhaupt in völliger Dunkelheit aufzuführen. Wie sehr die Verdunklung bei einer Aufführung des 3. Streichquartetts die Hörsituation verändert, schildert Alex Ross: »When the blackout began, I initially felt a fear such I’ve never experienced in a concert hall: It was beeing sealed in a tomb … Yet the fear subsides when the music begins.« 11 Der Wechsel vom Licht zu Dunkelheit im Konzert entzieht den Hörern eine Wahrnehmungsebene, den Sehsinn, und geht zunächst mit dem momenta10  Georg Friedrich Haas, Adolf Wölfli, Werkeinführung, unter: https://www.universaledition.com/

georg-friedrich-haas-278/werke/adolf-wolfli-1052 [letzter Zugriff: 14.12.2022].

11  »Als das Licht ausging, verspürte ich zunächst eine Angst, wie ich sie noch nie in einem Konzert-

saal erlebt habe: Es war, als wäre man in einer Gruft eingeschlossen … Doch die Angst legt sich, als die Musik begann.« Alex Ross, »Darkness Audible. The spectral sound of Georg Friedrich Haas«, in: The New Yorker, 29.11.2021.



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nen Verlust von Orientierung einher, intensiviert aber gleichzeitig das Richtungshören. Auch wenn die Schallquellen bzw. die Instrumente nicht mehr sichtbar sind, können sie über die für sie typischen Klangcharaktere identifiziert werden. Die Verstärkung des Höreindrucks durch das Synchronisieren mit dem Sehen fällt ebenso aus. Das Geschehen auf der Bühne ist nicht mehr sichtbar und einem Klanggeschehen zuzuordnen, in dem Sinn, dass man eine Geige spielen sieht und auch einen Geigenklang hört. Dieses Ausblenden eines Sinnes wird körperlich erfahren, denn Orientierungslosigkeit versetzt den Körper in Alarmbereitschaft, erhöht die Intensität der Aufmerksamkeit und evoziert möglicherweise eine emotionale Reaktion wie z. B. Angst. Für die Regisseurin Sabrina Hölzer bestehen, in Bezug auf ihre Arbeiten im lichtlosen Raum, die einschneidendsten Erfahrungen im Verlust des Gefühls für die eigene Körpergrenze und in der Intensivierung der Raumerfahrung durch Klang. »In dem Moment, wo das Licht weg ist und noch kein Ton erklingt, bin ich in einem scheinbar unbegrenzten Raum auf mich zurückgeworfen … Wenn dann nach der Stille ein Klang entsteht, nehme ich wieder einen Referenzpunkt war – plötzlich fühle ich wieder eine Distanz … und ich fange an einen Raum zu erahnen.« 12

III Immersive Raumerfahrung In der Dimension des Raumes greifen akustische Klangräume, die der Komponist in Konzertsäle implementiert, die virtuellen Klangräume, die er in seinen Kompositionen erschafft, und der Nachvollzug durch unseren Gehörsinn ineinander. Diese Wahrnehmungssituation wird verstärkt durch das räumliche Dispositiv, durch die Irritation der Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum. In etlichen Werken Haas’ findet sich das Publikum von Musikern umgeben, so z. B. in der schon erwähnten Kammeroper Nacht. Im 3. Streichquartett, das in völliger Dunkelheit zu realisieren ist, sollen die Musiker nicht nur in größtmöglicher räumlicher Entfernung voneinander Platz nehmen, sondern auch um das Publikum herum in den vier Ecken des Aufführungsraumes. Auch im 5. Streichquartett sind die Instrumente räumlich verteilt, die Hörer finden sich im Innern des Klangs von »Oberton­ akkorden, Schwellungen, vibrierenden Nachklängen und virtuosen Läufen wieder« 13. Und auch in Hyperion, dem Konzert für Licht und Orchester (2006), ist das Publikum an allen vier Seiten des Aufführungsraumes von den Instrumentalisten und einer Lichtinstallation umgeben.

12  »Ins akustische Licht. Ein Gespräch mit Sabrina Hölzer«, in: Now I lay me down. Ein Hörerlebnis

im lichtlosen Raum. Programmplakat, hrsg. von den Berliner Festspielen, Dezember 2014.

13  Georg Friedrich Haas, 5. Streichquartett, Werkeinführung, unter: https://www.universaledition.

com/georg-friedrich-haas-278/werke/5-streichquartett-12821 [letzter Zugriff: 14.12.2022].



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Abb. 1:  Georg Friedrich Haas, Hyperion, Donaueschinger Musiktage 2006, © SWR/Clemens Zoch

Die eingangs geschilderten Hörerfahrungen der Kritiker weisen aber über die immersive Erfahrung, von Schall umgeben zu sein, hinaus. Sie geben das Erleben eines Klangraums wider, der sich durch Plastizität, Haptik, Textur und Bewegtheit auszeichnet. Inwieweit dieser Höreindruck eine Entsprechung in der Musik von Georg Friedrich Haas findet, soll im Folgenden beispielhaft aufgeführt werden.

IV Textur – Volumen – Dichte Den Begriff »Textur« definierte László Moholy-Nagy als bildender Künstler als die »organisch entstandene Abschlussfläche jeder Struktur nach Außen« 14. Textur bilde Struktur nach Außen hin ab als eine Art Haut oder Oberfläche. Der Begriff bezeichnet ein Gewebe oder Geflecht, ein Gefügtund Verwobensein, in dem das Materialhafte und Haptische bereits mitschwingt. Ein weiteres Merkmal der Textur ist, dass sie sich erst in ihrer vielfachen Wiederholung zeigt. Texturen werden nicht nur fokussiert auf einen Punkt hin in ihrer Mikrostruktur wahrgenommen, sondern als Ganzes, als Muster mit mehr oder weniger Relief. In der Musik wird der Begriff Textur mit in sich bewegten Klanggebilden in Verbindung gebracht. Er kann sich sowohl auf die Klanggebilde als Ganze wie auch auf ihre Detaileigenschaften beziehen. 15 Eine markante Klangtextur in diesem Sinn charakterisiert beispielsweise den Beginn von in vain (T. 1–20): Signifikant für die Textur als Ganze sind die abwärts laufenden Arpeggien (oder gebrochenen Akkorde) aus perfek14  László Moholy-Nagy, Vom Material zur Architektur, München 1929, S. 33. 15  Der Begriff Textur bzw. Klangtextur stellt einen der fünf Klangtypen dar, wie sie Helmut Lachen-

mann entwickelt hat. Helmut Lachenmann, »Klangtypen der Neuen Musik« (1966/03), in: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, hrsg. von Josef Häusler, Wiesbaden 1996, S. 1–20.



Die Synergetik der Sinne komponieren 

ten und verkleinerten Quinten und die nach und nach hinzukommenden Läufe aus großen und kleinen Sekunden. Diese Klangfiguren sind auf verschiedene Instrumente verteilt und laufen zeitversetzt übereinandergeschichtet ab. Die Farbigkeit dieser Textur mischt sich aus den Klangfarben des Marimbaphons und der Crotales, Klavier und Harfe, Streichern, Holzbläsern, die alle meist in hohen Lagen agieren. Die Dynamik verbleibt dabei konstant im dreifachen Pianissimo. Durch die Addition und Subtraktion von Notenwerten wird in jedem Takt temporär und auf relativ engem Raum Beschleunigung und Verlangsamung komponiert oder Zu- und Abnahme der Dichtegrade. Die Intervallstruktur der Arpeggien wie auch die der Läufe bedingen die Binnenstruktur dieser Textur. Ein weiteres Beispiel für eine Textur stellt Pulsation dar, wie sie im zweiten Abschnitt (ab T. 80) von Natures mortes (2003) vorkommt. Sie setzt mit dem Schlagwerk (Woodblocks und Pauken) ein mit schnellen Sechzehntel-Schlägen im Mezzopiano. Es

Abb. 2a:  Paolo Monti, Fotogramm 1982,

­Original in Farbe, (CC BY-SA 4.0)

Abb. 2b:  Paolo Monti, Fotogramm 1982,

­Original in Farbe, (CC BY-SA 4.0)

Abb. 2c:  Marieke van Roon, Samt mit

Moiré-Effekt, 2014, Original in Farbe, (CC BY-SA 3.0)



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folgen Klavier und Harfe, ebenfalls im Mezzopiano. Sukzessive treten weitere Instrumente hinzu, bis das Pulsieren das ganze Orchester erfasst hat. Im Inneren dieses Klanggebildes sind nicht immer alle Instrumente gleich präsent, sondern spielen in einem Rhythmus von Pause und Pulsation. Dadurch verändert sich die Textur im Innern des Klanggebildes, die Zusammensetzung der Instrumente, also die Klangfarben, und auch die Dichtegrade werden so moduliert. Den Binnengliedern dieser Texturen sind von vornherein Bewegungsmomente eigen: Auf- und Abwärtsbewegung der Arpeggien und Läufe oder das Vorwärtsdrängende der schnellen Sechzehntelfolgen. Auch Klangfiguren wie Glissandi, Triller und Tremolos, die Haas als Bausteine von Texturen in anderen Werken einsetzt, sind durch ihren Bewegungsgehalt bestimmt: durch das Gleiten, die Wellenbewegung und das Vibrieren. Oftmals wird die Bewegung durch den Tonraum nur vorgetäuscht. So spielt Haas zu Beginn von in vain, aber auch bei Natures mortes mit dem Phänomen einer akustischen Täuschung, die den Eindruck einer sich endlos nach unten oder oben bewegenden Tonfolge erweckt. 16 Um das zu erreichen, schichtet Haas mehrere absteigende Linien übereinander, verteilt sie auf verschiedene Instrumente und legt dabei das Gewicht auf das mittlere Register. 17 Auch das Vorwärtstreiben der Sechzehntelfolgen in Natures mortes hat nicht wirklich ein Ziel, sondern breitet sich über den gesamten Tonraum aus, von den Kontrabässen bis zu den Flöten, und versetzt den Gesamtklang in Vibration. Zur Bewegtheit dieser Vibration tritt eine weitere Tiefendimension hinzu; im Fall von Natures mortes sind das auskomponierte Schwebungen, ein Pulsieren, das gleichmäßig horizontal durch alle Stimmen läuft und durch eine Crescendo-Decrescendo-Bewegung erzeugt wird. Folgt man dem Bauhauskünstler Moholy-Nagy, machen die Intervallstrukturen der Arpeggien und Läufe in in vain nicht nur das Relief der Klangoberfläche aus. Sie binden die Texturen an den Tonraum der temperierten Stimmung. Haas benutzt hier Akkordstrukturen, die den nicht-oktavierenden zyklischen Tonräumen Iwan Wyschnegradskys entlehnt sind. Nicht mehr die Oktave ist das Modul für die Ausmessung des Tonraumes, sondern gestauchte (kleine und große Septen) und gedehnte (Nonen) Oktaven, die in Lagen von Quarten, Tritoni und Quinten geteilt werden. Diese sogenannten Wyschnegradsky-Akkorde werden chromatisch und ultrachromatisch angereichert, z. B. durch die hinzukommenden Läufe. Ihrer dissonanten, schwebungsreichen Klanglichkeit stehen in in vain die eher schwebungsarmen Obertonakkorde mit ihren irregulären, aber rein gestimmten Intervallen im weiteren Verlauf der Komposition gegenüber. Haas lässt die eher glatt anmutende Oberfläche der aus 16  »Wahrnehmungstäuschungen und musikalische Effekte«, in: John R.  Pierce, Klang. Musik mit

den Ohren der Physik, Berlin 1999, S. 171 ff.

17  Michal Raymond Massoud, An Analysis of Georg Friedrich Haas’s in vain, Evanston (IL), Decem-

ber 2017,S. 43, unter: https://arch.library.northwestern.edu/concern/generic_works/t435gd02j [letzter Zugriff: 14.12.2022].



Die Synergetik der Sinne komponieren 

den Obertonakkorden aufgebauten Klangblöcke unter unterschiedlicher Beleuchtung oder Tönung erscheinen, je nachdem, ob der Grundton mitklingt, sich nach oben oder unten verschiebt, oder ob aus den Akkorden einzelne Töne herausgefiltert werden.

V Volumen und Dichte / Raum und Zeit Bewegtheit, Gestaltung der Intensität und der Dichtegrade charakterisieren nicht nur die räumlich sich ausdehnenden Profile der Klangtexturen. Sie sind auch die Attribute, über die sich Raum im zeitlichen Verlauf der Musik aufbaut. Die ersten zehn Minuten von limited approximations komponiert Haas als eine Bewegung in den verschiedenen Dimensionen des Satzes: als eine Bewegung auf der Vertikalen, d. h. durch den stufenweisen oder gestaffelten Einsatz einzelner Instrumente und Instrumentengruppen vom tiefsten Register bis zum höchsten und umgekehrt, und als eine Bewegung auf der Horizontalen, der Zeitachse. Auf dieser vollziehen sich in den ersten 150 Takten drei Phasen von Beschleunigung und Verlangsamung bezogen auf das anfangs vorgegebene Tempo Viertel = 60. Die erste Phase startet gleich zu Beginn, die zweite erstreckt sich von T. 85 bis 125 mit zwei Accelerandi und Ritardandi, gefolgt von einer weiteren Beschleunigung und Rückkehr zum ursprünglichen Puls. Beides zusammen – die sukzessive Aufrichtung des Klanges in der Vertikalen und seine Kompression und Dehnung in der Horizontalen – lässt den Gesamtklang in seinem zeitlichen Verlauf anund abschwellen. Zusätzlich werden die einzelnen Stimmen individuell dynamisch gestaltet und mit unterschiedlichen langen Crescendo-Decresendo-Angaben versehen, was zu einer inneren Bewegtheit der einzelnen Klangschichten führt. Hier wird die Komposition von Zeit zu einer Funktion des Raumes. Haas arbeitet mit verschiedenen Zeitschichten. Basis ist meist ein festgelegtes Tempo, eine Art Puls mit festgelegter Fließgeschwindigkeit. Dieser Puls kann innerhalb eines Stückes schwanken, d. h. beschleunigt und verlangsamt werden. Auf ihn bezogen oder in ihm verankert sind die darüber liegenden Schichten und deren Zeitgestalt, die ebenfalls in ihrer Geschwindigkeit variiert werden. In Hyperion verkörpert das dort eingesetzte Lichtinstrument die Timeline, gemessen in Sekunden. Dieser Zeitstrahl wird getaktet, d. h. er erfährt eine stetige Markierung in unterschiedlich langen Abständen, in denen Licht ein- oder aussetzt, bis zu dem Zeitpunkt gegen Ende des Stückes, ab dem völliges Dunkel herrscht und das Schlagzeug die Markierung der Zeit übernimmt. Innerhalb dieser Zeitstrecken oder Zellen, in der Partitur markiert durch alphabetische Studierzeichen, erhalten die Instrumente ihre Einsätze in Relation zu den anderen Instrumenten und Klangereignissen, spielen jedoch mehr oder weniger frei. So entsteht ein elastisches, in sich bewegliches Klanggeschehen. Diese Zeitgestaltung ist vergleichbar mit dem Konzept des »rhythmischen Ultrachromatismus«, wie es Ivan Wyschnegradsky entworfen und ausgearbeitet



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hat 18. Auch Pierre Boulez hat in seinen Überlegungen zur Gestaltung der Zeit in diese Richtung gedacht, wenn er der chronometrischen Zeit (bei ihm »pulsierende« oder »eingekerbte« Zeit) die »amorphe« oder »glatte« Zeit gegenüberstellte. 19 Die hier skizzierten kompositorischen Verfahren erscheinen zugleich als Parameter der Raumwahrnehmung beim Hören: Helligkeit wirkt als Eigenschaft der Vertikalen, da sich hohe und tiefe Lagen als hell und dunkel vorstellen lassen; Rauhigkeit kann als Eigenschaft der Harmonik wahrgenommen werden, die Klängen eine Färbung und Haptik zuschreibt; Textur erscheint als Oberfläche eines Klanggebildes und Dynamik als Mittel, das räumliche Ausdehnung und Plastizität von Klang erfahrbar macht. Diese innermusikalischen Dimensionen – und dies erklärt ihre rezeptionspsychologische Wirksamkeit  – korrespondieren mit dem Vermögen unserer Wahrnehmung zur intermodalen Analogiebildung. Heinz Werner 20, auf den die erste Ausformulierung der intermodalen Qualitäten zurückgeht, definiert die Kategorien Intensität, Helligkeit, Rauhigkeit, Dichte und Volumen als intersensorielle Eigenschaften. Diese ermöglichen, so Werner, die Analogiebildung, da sie sich – als gemeinsames Drittes – sowohl auf einen akustischen Reiz als auch auf einen visuellen Reiz (oder auch haptischen oder olfaktorischen) beziehen lassen. Die verschiedenen Modalitäten der Wahrnehmung werden dabei als ein synergetisches System aufgefasst, in dem die einzelnen Sinne, Hören, Sehen und Fühlen, miteinander kommunizieren und nicht lediglich assoziativ verknüpft sind. Werner, aber auch Helmuth Plessner oder Maurice Merlau-Ponty, betrachteten die Fähigkeit zur Verknüpfung der Sinne als eine Art anthropologische Konstante oder sogenannte Ursynästhesie, die in jedem Menschen angelegt sei. 21 Die intersensoriellen Eigenschaften erlangten in der Wahrnehmungspsychologie im Kontext der Synästhesieforschung zur Beschreibung spezifischer ästhetischer Erfahrungen Bedeutung. Sie sind nicht zu verwechseln mit synästhetischer Wahrnehmung im engeren Sinn, bei dem unwillentlich oder gar zwangsmäßig akustische und optische Sinnesqualitäten miteinander verknüpft werden. Im Gegensatz dazu beruht die Wirkmacht der Haas’schen Komposition nicht auf Synästhesien im engen Sinn, sondern auf der Ge18  In seinem Aufsatz »Die Befreiung des Rhythmus« (Original in Russisch) von 1923 und in den 1950er Jahren in La Loi de la Pansonorité, hrsg. von Franck Jedrzejewski in Zusammenarbeit mit Pascale Criton, Genf 1996. 19  Pierre Boulez, »Musikdenken heute«, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik V, hrsg. von Ernst Thomas, Mainz 1963, S. 76. 20  Heinz Werner, »Intermodale Qualitäten (Synästhesien)«, in: Handbuch der Psychologie I, Allgemeine Psychologie I, Göttingen 1966, S. 284 ff., und Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne, hrsg. von Hans Adler in Verbindung mit Ulrike Zeuch, Würzburg 2002. 21  Heinz Paetzold, »Synästhhesie«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel, Stuttgart – Weimar, 2003, S. 853–858. Vor allem der Musikpsychologe Albert Wellek hat schon sehr früh von Ursynästhesien und Urentsprechungen gesprochen. Siehe dazu: »Das Doppelempfinden in der Geistesgeschichte«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 23 (1929), S. 14–42.



Die Synergetik der Sinne komponieren 

Abb. 3a:  Ólafur Elíasson, Dein blinder Passagier, 2010, Foto aus der Ausstellung »A Real Life«,

Tate Modern London und Guggenheim Museum Bilbao 2019–2020, Original in Farbe, (CCO. 1.0)

Abb. 3b:  Ólafur Elíasson, Foto

aus der Ausstellung »A Real Life«, Tate Modern London und Guggenheim Museum Bilbao 2019–2020, Original in Farbe, (CCO. 1.0)



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staltung des Klangraumes selbst. Die plastisch-räumlichen Qualitäten von Klang sprechen nicht auf direktem Wege Gefühle an, noch stellen sie sie dar. Vielmehr aktivieren sie das Vermögen unserer Wahrnehmung zwischen den einzelnen Sinnesmodalitäten Verbindungen herzustellen, oder anders formuliert: auf einen gehörsmäßigen Eindruck mit bildhaften und räumlichen Vorstellungen zu reagieren. Die Art und Weise, wie Haas den zeitlichen Verlauf in den gezeigten Beispielen gestaltet, verstärkt den Raumeindruck. Von außen betrachtet haben Haas’ Werke eine messbare Dauer, d. h. sie beginnen und enden an einem bestimmten Zeitpunkt. Aus der Innenperspektive der Komposition heraus wird die Dauer in Distanzen, in einzelne Zeitabschnitte geteilt, die zudem noch in sich bewegt erscheinen oder permanent variieren. Der Hörer hat keinen Maßstab zur Hand in Form eines gleichmäßigen Taktmetrums, an dem er sich orientieren kann. Nicht das lineare Fortschreiten der Zeit steht im Vordergrund des Hörens, sondern das Bewegen von einem Klangraum in den nächsten. So entfalten sich Orchesterwerke wie in vain, Hyperion und andere nicht linear. Sie tauchen eher auf, als dass sie dezidiert beginnen, und hören am Ende einfach auf, obgleich sie scheinbar noch weitergehen könnten. In der Zeitspanne dazwischen treten Klangräume unterschiedlichen Ausmaßes und unterschiedlicher Beschaffenheit hervor, die sich zwar von Moment zu Moment verwandeln, aber nicht vorwärts bewegen. In diesem Sinn schreibt Haas: »Ich habe ein großes Problem mit geschlossenen Formen. Ich glaube nicht an die geschlossenen Form. Das klassische Menuett etwa ist einfach ein höfischer Tanz, und dort ist es eben so, daß man zuerst das eine macht und dann das andere. In der Realität spielt sich das nicht so ab. Was in der Realität eine sehr große Rolle spielt, das ist die Wiederkehr des Gleichen unter anderen Umständen.« 22

VI Musik als Stimmung Im Vorangegangenen wurde das Konzept der intersensoriellen Eigenschaften zur Beschreibung bestimmter Wirkungen der Haas’schen Musik herangezogen, Wirkungen, die sich in der bildhaften und metaphernreichen Sprache der Rezeption niederschlugen. Mit dem »komponierten« Lichteinsatz als einer Komponente der Aufführung verunsichert Haas in einigen seiner Werke die Hörer und aktiviert eine besondere Wachheit der Wahrnehmung, an die die intersensoriellen Eigenschaften der Musik auf einer wahrnehmungspsychologischen Ebene gewissermaßen andocken. Immer noch offen jedoch ist die Frage, worauf die Ergriffenheit, die Haas’ Musiken auslösen können, beruhen könnte. 22  Georg Friedrich Haas, Nacht. Werkeinführung, unter: https://www.universaledition.com/georgfriedrich-haas-278/werke/nacht-3818 [letzter Zugriff: 14.12.2022].



Die Synergetik der Sinne komponieren 

Gemeint ist die Überwältigung oder das, was Eduard Hanslick als die eigentümliche Gewalt, als das Überfallartige der Musik beschreibt und das sich einer Begründung und Benennung entzieht. Auch wenn Haas vielfach über die Emotionen und Gefühlslagen spricht, in denen er sich zum Zeitpunkt der Komposition befunden hat bzw. welche ihm Anlass zum Komponieren gaben, »stellt« er dennoch nicht im Sinn der musikhistorisch älteren Ausdruckslehre konkrete Gefühle oder Affekte »dar«. Eher macht er Gefühlszustände oder Stimmungen erfahrbar, erkundet, wie sich Gefühle anfühlen. Er deutet die emotionale Gestimmtheit mitunter in seinen Titeln an, die er allerdings nicht wörtlich verstanden wissen möchte, sondern eher als Hinweise oder Wegweiser. 23 Der Begriff der Stimmung beschreibt nicht nur einen gefühlsmäßigen Aggregatzustand im Unterschied zu den konkreten Emotionen und Affekten. 24 Er ist auch eine Kategorie, die in die ästhetischen und philosophischen Reflexionen Einzug gefunden hat. Dabei waren es v. a. verschiedene Eigenschaften seiner semantischen Struktur, die ihn für die Ästhetik brauchbar erscheinen ließen: Das ist die Bedeutungsdimension des Musikalischen – aus einem musikpraktischen Bereich kommend wird der Begriff Stimmung zur Metapher zur Beschreibung von künstlerischen Prozessen, Stilmerkmalen der Kunst selbst und auch der Rezeption. Auch die Tatsache, dass das deutsche Wort Stimmung (im Unterschied zum englischen mood oder dem französischen atmosphère) sowohl das psychische Innenleben des Individuums bezeichnet als auch die Atmosphären, die uns umgeben, hat seine ästhetischen Deutungen beflügelt. Diese doppelte Bestimmung wurde dahingehend interpretiert, dass das Moment der Mitteilbarkeit schon in dem Phänomen aufgehoben ist. Stimmung ist im Gegensatz zu den Gefühlen nicht intentional, sondern repräsentiert eine Gesamtqualität. Im Rahmen einer Begriffsgeschichte 25 der Stimmung, die im 18. Jahrhundert bei Kant ihren Ausgang nimmt und über dessen Brauchbarkeit zur Beschreibung ästhetischer Erfahrung bis heute diskutiert wird, bewegt sich auch Hermann Schmitz, der eine phänomenologische Beschreibung der Empfindung von Gefühlen vorgelegt hat. Im Rahmen seines Konzepts von Atmosphäre definiert er die Gefühle als Atmosphären oder Stimmungen primär als räumlich. 26 Diese Räumlichkeit der Gefühle müsse man sich als flächenlos vorstellen, d. h. sie entsprechen nicht dem dreidimensionalen Containerraum, in dem wir uns sonst bewegen. Der atmosphärische Gefühlsraum gleiche, so Schmitz, eher der räumlichen Ausdehnung des Schalls. Und wie der Schall auch sei die Wahrneh23  Georg Friedrich Haas im Gespräch mit Karsten Witt über dark dreams, unter: https://www.uni-

versaledition.com/georg-friedrich-haas-278/werke/dark-dreams-14221 [letzter Zugriff: 14.12.2022].

24  Wolfgang Fuhrmann, »Musikalischer Ausdruck als musikalische Subjektivität«, in: Ausdruck in

der Musik. Theorien und Formationen, hrsg. von Jürgen Stolzenberg, München 2021, S. 86.

25  David Wellerby, »Stimmung«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5 (Anm. 21), S. 703–733. 26  Hermann Schmitz, Atmosphären, Freiburg/Br. – München 2014, S. 20 f., und Hermann Schmitz,

Der Leib, der Raum und die Gefühle, Stuttgart 1998, S. 63 ff.



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mung der Gefühle leiblich und betreffe all das, »was (der Mensch) als zu sich selbst gehörig, in der Gegend  – nicht immer in den Grenzen  – … seines Körpers spüren kann, ohne sich der fünf Sinne … und des aus ihren Erfahrungen gewonnenen perzeptiven Körperschemas zu bedienen«. 27 In Analogie zum Schall erfahre man diesen Gefühlsraum durch Bewegung, durch Ausdehnung oder Verengung des Volumens. Das Eintauchen in Atmosphären oder Stimmungen ermöglichen sogenannte Brückenqualitäten, die sowohl gespürt oder gefühlt als auch an Gegenständen (im übertragenen Sinn auch an der Musik) wahrgenommen werden können. Als solche Brückenqualitäten definiert er Bewegungssuggestionen oder synästhetische Charaktere, die er ganz im Sinne Heinz Werners als intermodale Qualitäten auffasst. 28 Genau diese Wahrnehmung des Fühlens als räumlich und bewegt findet in der immersiven und intersensoriell angeregten Raumerfahrung von Haas’ Musik einen Widerhall.

27  Schmitz, Atmosphären (Anm. 26), S. 31 f. 28  Ebd., S. 67





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Mikroschnitte, Makroschütte Spekulationen zu scharfen, unscharfen und anderen Klängen Die Nacht, die uns der Augen Dienst entzieht, macht, dass dem Ohr kein leiser Laut entflieht. Was dem Gesicht an Schärfe wird benommen, muss doppelt dem Gehör zugute kommen. Hermia in Ein Sommernachtstraum 1 Sei nicht in Angst! Die Insel ist voll Laut, voll Tön und süßer Lieder, die ergötzen und niemand Schaden tun. Mir klimpern manchmal viel tausend helle Instrument ums Ohr, und manchmal Stimmen, die mich, wenn ich auch nach langem Schlaf erst eben aufgewacht, zum Schlafen wieder bringen. Dann im Traume war mir, als täten sich die Wolken auf und zeigten Schätze, die auf mich herab sich schütten wollten, dass ich beim Erwachen – aufs neu zu träumen – heulte. Caliban in Der Sturm 2 Die eine Erinnerung: ein scharf gesetzter, dissonant zerreißender Akkord, vertikal durchs ganze Ensemble auf dem Höhepunkt einer Art Liebesszene. Die andere: eine gleitende, abhebende, fliegende Orchestermusik mit einem »Concertino« von sechs Flügeln im Zwölfteltonabstand.

Bluthaus Die Oper Bluthaus 3 erzählt von einer Kleinfamilie, von sexueller Ausbeutung und von Mord, aber aus der Perspektive danach. Das Opfer, Nadja, die von ihrem Vater sexuell ausgebeutete junge Frau (die Mutter brachte ihn und sich deswegen um), kann mit ihrer Vergangenheit nicht abschließen und will deshalb das Elternhaus, in dem alles geschah, verkaufen – mitsamt 1  3. Akt (2. Szene) in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. 2  3. Akt (2. Szene) in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel. 3  Georg Friedrich Haas, Bluthaus, Libretto: Händl Klaus, Uraufführung bei den Schwetzinger Fest-

spielen im Rokokotheater Schwetzingen am 29.4.2011. Aufzeichnung der Schwetzinger Aufführung unter: https://www.youtube.com/watch?v=3cDfgKk-aZ8 [letzter Zugriff: 20.12.2022]. Die revidierte Fassung, aus der auch die hier verwendeten Notenbeispiele stammen, wurde am 21.5.2014 im Theater an der Wien uraufgeführt.

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Mobiliar und Erinnerung. Das gelingt fast. Ein Makler übernimmt den Verkauf, einige begeisterte Käufer wären vorhanden, bis die beiden Nachbarn auftauchen und auf fiese Weise die verheimlichte Tat ans Licht bringen: Es ist ein »Bluthaus«, wie es im Alten Testament heißt! Und Nadja erfährt nun allen Hass der potenziellen Käufer. Am Schluss schließt sie sich allein im Haus ein, hoffnungslos ihrer Geschichte überlassen. 4 Text und Musik sind eng ineinander verzahnt. Das ungewöhnlichste Gestaltungsmittel in dieser Hinsicht ist, den Text nicht als Dialog aus Rede  und Widerrede aufzufassen, sondern ihn zu durchbrechen und auf zwei oder sogar mehrere Personen aufzuteilen. Nadja und der Makler Axel Freund, der ihr beim Verkauf hilft, singen zusammen in einem expressiven Vokalstil voller Glissandi; die übrigen Personen (außer drei Kindern) sprechen, so dass eine hoketusartige Aufteilung und Staffelung der Ausdrucksweisen entsteht. Manchmal bricht Nadja emotional in eine kurze Kantilene aus. Der Klangraum ist, abgesehen von den Glissandi, temperiert chromatisch geprägt. Diese lineare Handlung ist immer wieder mit Flashbacks durchsetzt. In diesen Momenten erscheinen, nur für Nadja hör- und sichtbar, die toten Eltern, bedrängen, verwirren sie und wollen sie von ihrem Plan abbringen. Der Klang der Eltern – Werner und Natascha – ist von Anfang an als Spektralklang präsent. Ist im Dialog von den Eltern bzw. vom Vater die Rede, erscheinen die Spektralklänge wieder, so etwa wenn Nadja gefragt wird, warum sie verkaufe, und sie antwortet, es tue ihr weh, das Haus aufzugeben 5. Später wieder auf die Frage, wer das Haus gebaut habe – der Vater war Architekt 6. Sowie wenn die Zwetschgen, die der Vater so liebte, erwähnt werden. 7 (Notenbeispiel 1) In diesem Zusammenhang tauchen spektrale Klänge auf, von latenter Gewalt, bedrohlich, angeschärft oft: gespenstische Wiedergänger. Das ist psychologisch sehr genau gezeichnet. Nach einer schauerlichen tumultartigen Steigerung (diatonisch untermalt, mikrointervallisch geschärft), in der die Hausbesichtigenden von der Vergangenheit erfahren haben, bleiben Axel Freund und Nadja allein zurück. Sie schlafen miteinander. Auf dem Höhepunkt erscheint der Vater übergroß auf der Bühne, was auf ebenso verführerische wie brutal messerscharfe Weise umgesetzt wird: mit einer herben mikrotonalen Dissonanz um C–Cis. 8 (Notenbeispiel 2) Die Szene steigert sich nochmals. Nadja denkt nun ständig an ihren Vater. Ihre Schreie enden in einem hohen Cluster. 9 (Notenbeispiel 3) 4  Das Ende – die eingeschlossene Frau, der Mann schließt hinter sich von außen ab – erinnert an das

Ende von Béla Bartóks Oper Herzog Blaubarts Burg. 5  T. 236. Bei 19′02 in der Youtube-Aufnahme. 6  T. 348. Bei 24′36. 7  T. 406. Bei 27′59. Ähnliche Stelle bei T. 464 zu den Worten »Hier schliefen die Eltern«. 8  T. 1245. Bei 1 h17′14. 9  T. 1270–1274.



Mikroschnitte, Makroschütte 

Notenbeispiel 1:  Bluthaus, Oper mit einem Text von Händl Klaus (2010–2011, Neufassung 2014),

T. 401–407, S. 56. Published by G. Ricordi & Co. Bühnen- und Musikverlag GmbH, Berlin.



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Notenbeispiel 2: Bluthaus, Oper mit einem Text von Händl Klaus (2010–2011, Neufassung 2014), T. 1244–1249, S. 188. Published by G. Ricordi & Co. Bühnen- und Musikverlag GmbH, Berlin.



Mikroschnitte, Makroschütte 

Notenbeispiel 3: Bluthaus, Oper mit einem Text von Händl Klaus (2010–2011, Neufassung 2014), T. 1270–1274, S. 192. Published by G. Ricordi & Co. Bühnen- und Musikverlag GmbH, Berlin.



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Mit dieser Schärfe arbeitet die Musik auf subtile und effektvolle, ja durchaus plakative Weise. Je nachdem, wie sich die Mikrotonalität spektral einfärbt, sich schärft oder verunschärft, verändert sich die Charakterisierung der Personen. Es sind »Zwischentöne« im doppelten Sinn. Was eben noch eine fast nostalgische Schönheit in sich trug, schneidet sich auf einmal tiefer ins Gehör; die Verführung wird zum Zwang und zur Gewalt, nervenaufreibend, klaustrophobisch. Die Musik versucht dem Leid eine Stimme zu geben.

limited approximations Ein Gegensatz bestimmt auch die kurz zuvor entstandenen limited approximations 10 für sechs Klaviere und Orchester. Die Zwölfteltonstimmung der Klaviere ermögliche es, die Obertonreihe bis zum 12. Teilton »mit einer sehr guten Annäherung« abzubilden. Die Intonation der Flügel sei jederzeit präzise abrufbar, schreibt der Komponist dazu. 11 Hingegen wäre es zu zeitaufwändig, mit dem Orchester »unterschiedliche Obertonakkorde (…) einzustudieren«  – es orientiert sich deshalb dafür an den Klavieren. Die feine Diskrepanz zwischen der äquidistanten zwölfteltönigen Stimmung der Klaviere und den angestrebten Obertonklängen im Orchester macht die »begrenzte Annäherung« des Titels aus. Daraus entstehen v. a. zu Beginn »Prozesse der Unschärfe, der Trübung und der Reibung«. Die ersten Minuten präsentieren sogleich die Energie dieser Verfahrensweise: Ein schwirrendes, schwebendes Klangfeld wird zunächst aufgebaut, das aber durch ein wiederholtes Aufbrausen – ein glissandohaftes Aufsteigen aus der Tiefe in parallelen Läufen auf mehreren Klavieren, eine Riesenäolsharfe (Notenbeispiel 4) – in Bewegung gerät, gleichsam aufschäumt und schließlich in ein mikrorhythmisch pulsierendes Klangfeld übergeht, das sich wiederum wellenweise schärft und wieder trübt. 12 (Notenbeispiel 5) Die Mikrotöne (z. T. Spektralakkorde unterschiedlicher Färbung) sind gehörsmäßig kaum mehr kontrollierbar, sie werden vielmehr als statistische Masse ausgeschüttet. Sie ergießen sich, und sie werden im Lauf des Stücks abheben und geradezu zu fliegen beginnen. Es sind die Konturen eines Vogelschwarms, unscharf umrissen, aus denen aber immer wieder einzelne Schwebungen hervorstechen. Daraus entfaltet sich das Stück, das »keine Geschichte« erzählt, sondern mit kontrastierenden Elementen, »Moment(n) der Verschmelzung und der Reibung« arbeitet. (Notenbeispiel 6) 10  Georg Friedrich Haas, limited approximations. Konzert für sechs Klaviere im Zwölfteltonabstand

und Orchester (2010), Uraufführung am 17.10.2010 mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter Sylvain Cambreling in Donaueschingen. 11  Die Zitate dieses Abschnitts stammen aus dem Einleitungstext des Komponisten im Programmbuch der Donaueschinger Musiktage 2010 (S. 119) bzw. dem Booklet zur CD-Aufnahme bei Neos (11114-17). 12  Die Metaphorik, mit der ich hier die Wirkungen zu umschreiben versuche, schwankt zugestandenermaßen etwas unstet zwischen Wasser- und Luftassoziationen.



Mikroschnitte, Makroschütte 

Notenbeispiel 4:  limited approximations, T. 20–23 (nur Klaviere und Bläser), S. 4.

© Copyright 2010 by Universal Edition A.G., Wien

Notenbeispiel 5:  limited approximations, T. 31–33 (nur Klaviere), S. 7.

© Copyright 2010 by Universal Edition A.G., Wien

In der Partitur ist das genau ausnotiert. Die Frage nach der Notation schließt an eine Diskussion an, die so alt ist wie die Klangflächenkomposition. Ist es notwendig, eine solche Klangfläche gleichsam mit spitzer Feder minutiös in Tonhöhen und Rhythmen auszunotieren, wie es z. B. György Ligeti in Atmosphères tat? Oder reicht es, den Filzstift zu zücken, einen dicken Clusterbalken zu malen und eine Wellenlinie darüber zu ziehen, wie man es Krzysztof Penderecki schon bei den »plakativen« Sonoritäten in



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Notenbeispiel 6:  limited approximations, T. 305–306 (nur Klaviere), S. 55. © Copyright 2010 by Universal Edition A.G., Wien

Anaklasis vorwarf? Der Unterschied zwischen den beiden Notationsweisen führt dazu, dass die zweite sich statisch verhält, während die erste das Potenzial zur Bewegung hat. Das macht – bei aller auskomponierten Statik – auch die Faszination der Atmosphères aus. Bei den limited approximations kommt genau dies ins Spiel. Dabei ist nicht nur die Mikrotonalität, sondern auch die Mikrorhythmik von zentraler Bedeutung.

Interludium: Zwei Urtexte zur Mikrotonalität Die beiden Stücke spiegeln zwei Urtexte mikrotonalen Komponierens wider und enthalten so mögliche Konzeptionen im Umgang damit. »Chopin will die Vierteltöne erlösen, die jetzt nur wie gespenstige Doppelgänger schattenhaft zwischen den unharmonischen Verwechslungen auftauchen«, schrieb Johanna Kinkel 1852 im letzten ihrer Acht Briefe an eine Freundin über Clavier-Unterricht. 13 »Emancipirt die Vierteltöne, so habt ihr eine neue Tonwelt!«, und sie führt weiter aus: »An dieser mysteriösen Pforte scheint Chopin zu rütteln; seine Melodien schleichen widerstrebend durch die halben Töne, als tasteten sie nach feinern, vergeistigtern Nüancen, als die vorhandenen feinen Intentionen bieten.« So gelangen wir

13  Johanna Kinkel, Acht Briefe an eine Freundin über Clavier-Unterricht, 8. Brief, Stuttgart 1852, S. 76–80. Zit. nach der Homepage KölnKlavier: Sammlung historischer Quellentexte, unter: http:// www.koelnklavier.de/quellen/kinkel/brief-08.html [letzter Zugriff: 20.12.2022].



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»um einen Schritt näher den ewigen Naturlauten; denn warum können wir die Aeolsharfe, das Waldesrauschen, die zauberischen Laute des Wassers nicht treu in Töne fassen, nur schwach nachahmen, weil unsere sogenannten ganzen und halben Töne zu plump und lückenhaft ausein­ ander liegen, während die Natur nicht bloß Viertel- und Achteltöne, sondern die unendliche, kaum in Klang-Atome zersetzte Skala besitzt!« Die Pforte, die den Zugang zu einer neuen Klangwelt verschließt, taucht auch bei Ferruccio Busoni auf: »Der Drittelton pocht schon seit einiger Zeit an die Pforte, und wir überhören noch immer seine Meldung.« Und er fährt fort: »Welch schöne Hoffnungen und traumhafte Vorstellungen erwachen für sie! Wer hat nicht schon im Träume ›geschwebt‹? Und fest geglaubt, dass er den Traum erlebt?« Auch Busoni spricht davon, »die Musik ihrem Urwesen zurückzuführen«. 14

»Mikrotonalität« Zwei Eigenschaften mikrotonalen Komponierens umriss der Komponist kürzlich in einem Interview zu seiner neuen Oper Sycorax: »Wenn ich auf dem Klavier ein C und ein Cis spiele, ist das eine Dissonanz. Wenn das Cis einen Viertelton tiefer ist, ist es eine grauenhafte Dissonanz. Wenn ich nun aber das C, das vierteltönige C, das Cis, das achteltönige C, das sechzehnteltönige C und so weiter spiele, dann bekomme ich einen vibrierenden Gesamtklang, der überhaupt nicht dissonant, sondern wunderschön ist. (…) Das ist eine andere Form von Harmonie.« 15 Im Übrigen sagte er dort auch: »Bitte verwenden Sie das Wort Mikrotonalität nicht, es ist irreführend. Erstens ist jede Musik mikrotonal, selbst in einer Wagner-Oper singen die Soprane mikrotonal in der Höhe, denn sonst würde man sie nicht hören. Ich notiere die Musik vielleicht anders, als einige Ausführende es gewohnt sind. Aber für das Publikum ist es das gleiche. Außerdem geht es mir in einer Oper nicht um die Mikrotöne, sondern um die Aussage.« 16

14  Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst, 1907, 2. Aufl. 1916, S. 42 und 45 f. 15  Rebekka Meyer, »Die Sehnsucht nach Heilung. Der Komponist Georg Friedrich Haas im Ge-

spräch über seine Oper Sycorax«, in: Programmheft zur Uraufführung am 17.9.2022 bei den Bühnen Bern. Das Werk ist eine Umdeutung von Shakespeares Der Sturm. In den Chorklängen, weniger im Streichorchester entfaltet sich dort zuweilen jene magisch traumhafte Klanglichkeit, von der Caliban spricht. 16  In ebendiesem Interview. Zu ergänzen wäre, dass natürlich auch die Bässe in der Tiefe mikrotonal singen.



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Es ist eine Meinung, die der Komponist bereits 2001 in einem Gespräch mit dem Autor vertrat. Tatsächlich ist der Begriff unscharf. Selbst das temperierteste System basiert auf einer mikrotonalen (Ver-)Stimmung. Wo aber wäre der Standard, die Normalität? Es gibt ihn nicht. Die unterschiedlichen Stimmungs- und Temperierungsversuche kreisen gleichsam um eine leere Mitte. Was es nicht nötig macht, den äußerst praktikablen Begriff »mikrotonal« gleich über Bord zu werfen. Er bezeichnet dann nicht eine Musik, in der eben irgendwelche Mikrotöne vorkommen, sondern eine, die sie bewusst setzt und damit umgeht. Das gilt ähnlich für das Begriffspaar »spektral/ spektralistisch«.

Mikrorhythmik? Allein durch die Obertöne allerdings käme die Musik nicht zum Fliegen. Die Klangfarben spielen dabei eine erhebende Rolle, v. a. jedoch die rhythmische Ausarbeitung. Problematischer als die »Mikrotonalität« erscheint der parallele Begriff einer Mikrorhythmik, man könnte genauso gut von Mikrometrik oder von einer Mikropulsation sprechen. Jedenfalls ist es die eine Komponente, in der Zeitgliederung die üblicherweise vorherrschende binäre bzw. ternäre Unterteilung der Notenwerte hin zu 11er- oder 13er-Teilungen zu erweitern, und die andere, dabei alle Taktschwerpunkte zu vermeiden. Beides zusammen trägt dazu bei, Rhythmik, Metrum oder Puls aufzulösen. Solche Verflüssigung ist in den zwei besprochenen Werken ein wesentliches Element, auch da im Gegensatz zu einer scharf rhythmisierten Zeitordnung. Was deutlich voneinander abgesetzt wird, sind, um mit Boulez zu sprechen, ein »temps lisse« (glatt) und ein »temps strié« (gestreift, gerastert), also einerseits eine Zeit ohne Pulsschlag und rhythmische Hierarchie und andererseits eine ausgezählte, eben eingeteilte Zeit. Boulez umschreibt den Gegensatz mit einem Epanodos: »Dans le temps lisse, on occupe le temps sans le compter; dans le temps strié, on compte le temps pour l’occuper.« Und er entdeckt darin die grundsätzlichen Gesetzmäßigkeiten der musikalischen Zeit. Interessant daran ist der Ausdruck »occuper« – besetzen, einnehmen. 17 Das Gegensatzpaar »lisse/strié« stammt aus der Biologie und unterscheidet dort eine glatte und eine quergestreifte Muskulatur. Die erste findet sich in inneren Hohlorganen, aber auch in den Blut- und Lymphgefäßen und ist nicht willkürlich kontrollier- und steuerbar; die zweite, bei der man unter dem Mikroskop feine Querstreifen feststellt, betrifft neben der Herzmuskulatur (die keiner willkürlichen Kontrolle unterliegt) v. a. die Skelettmuskulatur, d. h. den steuerbaren Bewegungsapparat. Das bereits böte in unserem Zusammenhang eine interessante Analogie zur Musik: Gibt es

17  Pierre Boulez, Penser la musique aujourd’hui, Paris 1963, S. 93–113.



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willkürliche und unwillkürliche Körperlichkeit der Mikrotonalität bzw. Mikrorhythmik? Das Gegensatzpaar taucht auch bei Gilles Deleuze und Félix Guattari auf: Sie sprechen von einem »espace strié« (metrisch, hierarchisch, extensiv) sowie einem »espace lisse« (intensiv, nicht polarisiert, offen, nicht vermessbar) 18 und denken damit die Boulez’sche Unterscheidung weiter. Letzterer, der »glatte Raum«, wäre demnach ein Raum ohne Tiefenstaffelung, ein Raum des unmittelbaren Kontakts, der es dem Blick erlaubt, das Objekt abzutasten, sich von ihm einnehmen zu lassen und sich darin zu verlieren; ein aformeller Raum ohne Formen und Sujets, aber mit Kräften und Abläufen, ein flüssiger, beweglicher Raum, ohne Anker und Pole … 19 Die Begriffe ließen sich auf eine mikrotonale Musik übertragen mit einem offenen geführten »espace lisse« und einem »temps lisse«, einem Raum- bzw. Zeitverständnis, das zum Gleiten neigt.

Interludium: Zwei Gemälde Das Porträt des Dogen Leonardo Loredan 20 frappiert durch eine ungewöhnliche Schärfe. Wenn man vor dem Gemälde Giovanni Bellinis steht, tritt einem die Person so nah, hautnah entgegen, dass man sich fast vor ihr zu fürchten beginnt. Sie strahlt unbedingte Strenge aus, Präsenz. Von Nahem betrachtet, scheint jede Linie die Konturen zu wetzen. Der Mann soll Unbestechlichkeit ausstrahlen Aber auch das Porträt der Malle Babbe, das Frans Hals 1634 malte 21, war ein wundersamer Schock. Auf Reproduktionen wirken seine Ölgemälde eher genrehaft. Betrachtet man sie in der Realität von Nahem, verwirrt sich der Blick, denn so akkurat gezeichnet, wie es aus Distanz ausschaut, ist es mitnichten. Vielmehr finden sich darauf wie hingeworfene Striche, Gesten, aus der Hand hingeschleudert, ungenau gemalt, unscharf eigentlich, eine verwirrliche Polyphonie gar von Strichen. Tritt man wieder einen Schritt zurück, verbinden sich diese Malgesten zu einem genauen Bild: zu einem Gewand, einer Haube, zu einem Gesicht, das dadurch umso lebendiger wirkt. Die Unschärfe beginnt vital zu vibrieren, weitaus mehr als in den viel minutiöseren »nach der Natur« gemalten Porträts, die die Hals-Schüler mit viel Können folgen ließen. Bei Wolfgang Rihm, mit dem ich darüber diskutierte, stieß ich auf Resonanz. Er verwies auf Rubens, auf Tizian und Tintoretto, überhaupt die venezianische Malschule, die gegenüber der älteren florentinischen das Primat der Malerei gegenüber der Zeichnung betonte. Bei den Venezianern seien 18  Raphaël Bessis, Vocabulaire de Deleuze, unter: http://1libertaire.free.fr/VocabulaireDeleuze02. html [letzter Zugriff: 20.12.2022]. 19  Ebd., genauere Quellenverweise dort. 20  Gemalt um 1501. National Gallery London. 21  Gemäldegalerie Berlin.



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die Umrisse weniger scharf gezeichnet und konturiert. Die Übergänge ließen sich kaum exakt feststellen. Sie vibrieren also gleichsam. »Das ist Malerei!« 22 Rihms Musik ist so auch der Versuch des musikalischen Sfumato, denn er hat den Mut zum Undeutlichen. Tatsächlich entspricht der Rihm’sche Pinselstrich eher dem von Hals, während die Obertonklänge der limited approximations ein geradezu pointillistisches Gewebe schaffen: eine Körnung, die sogleich verschwimmt. Gemeinsam ist beiden, dass man auf Distanz gehen muss, um die Konturen genauer zu erkennen, dass man mit der Entfernung dem Bild/der Musik näher kommt. Es ist ein Spiel mit einer fernen Nähe. 23

Staffelung Bei der Donaueschinger Uraufführung erklangen die limited approximations im Kontext von Ivan Wyschnegradskys Arc-en-ciel für sechs im Zwölfteltonabstand gestimmte Flügel, und sie stachen davon deutlich ab – bei aller Gemeinsamkeit und auch einer Reminiszenz in der Schlusspassage. Vergleichbar ist die Staffelung des Klangraums. Barbara Barthelmes beschreibt es schön in einem Aufsatz zu Wyschnegradskys Arc-en-ciel: »Satztechnisch denkt Wyschnegradsky in Schichten. Da er stets das Ganze, das Klangkontinuum von größtmöglichem Volumen und extremer Dichte vor Augen hat, konkretisiert sich seine Musik in der Addition, Subtraktion, Parallelführung oder Kreuzung unterschiedlich dichter Klangbänder und Klanggestalten. In Arc-en-ciel sind es die unterschiedlichen Überlagerungen der Klangmilieus, die die Form zuwege bringen. Zu Beginn der Komposition werden die unterschiedlichen Kombinationen erprobt, um Viertel- und Sechsteltonmilieus zu erzeugen, unterbrochen durch halbtönige Überleitungen. Etwa in der Mitte des Gesamtverlaufs ist das Ziel, das Zwölfteltonmilieu erreicht, das bis zum Ende des Stücks erhalten bleibt, allerdings immer wieder durchbrochen durch kurze Abschnitte geringerer Dichte.« 24 Das entspricht in vielem den limited approximations, auch wenn die Musik dort völlig anders klingt und die Form sich anders verhält. Es gibt auch da unterschiedliche Milieus, die manchmal gleichzeitig erscheinen, manchmal 22  Thomas Meyer, »Annäherung an eine ferne Nähe. Brahms, Rihm, Frans Hals, die Fülle des Le-

bens und ein Pot-au-feu im Galliker«, in: dissonance 118, Juni 2012, S. 39–42. 23  »Dämmrung senkte sich von oben, / schon ist alle Nähe fern«, heißt es in Goethtes Gedicht, dessen Vertonung Rihm in seine Symphonie »Nähe fern« von 2011/12 integrierte. In deren vier Sätzen reagiert er »nah-fern« auf die vier Brahms-Sinfonien. 24  Barbara Barthelmes, »Komponieren im Raum-Zeit-Kontinuum. Ivan Wyschnegradskys Komposition Arc-en-ciel«, in: Programmbuch der Donaueschinger Musiktage 2010, S. 116, bzw. im Book­ let zur CD-Aufnahme bei Neos (11114-17)



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nebeneinandergesetzt, wobei ein Modulieren dazwischen möglich wird. Die Reibungen und Trübungen, die Unschärfen entsprechen dabei gleichsam den Modulationsräumen.

Weiteres zur Verflüssigung Unterstützt wird die Verflüssigung der Musik in den limited approximations häufig durch das sich überlagernde, versetzte An- und Abschwellen der Dynamik. Es ist ein aus der Minimal Music her bekanntes Verfahren, etwa aus Steve Reichs Music for 18 Musicians (1975). Auch da erzeugt dieser Effekt ein Verflüssigen der Zeit, ein Verwischen. Gleichzeitig und noch stärker drängt sich bei den limited approximations ein sinnlicher Aspekt in den Vordergrund: Dieser wollüstig auf- und abschwellende Klang erinnert in einer Traditionslinie via Wyschnegradsky an Aleksandr Skrjabin. Er tritt auch in Bluthaus auf. Erotik spielt in Leben und Œuvre des Komponisten eine mehr als latente Rolle, bereits in der Oper Die schöne Wunde von 2003 bis hin zu den jüngsten Stücken. Was in der mehrschichtigen und etwas überfrachteten Oper Die schöne Wunde noch ein wenig verstellt wirkte, wirkt in Bluthaus unmittelbar – auf höchst ambivalente Weise. Es kommt, so sagt der Komponist, dieser Reiseführer im Zwergenreich der Zwischentöne, auf die sinnliche Qualität an. Aber diese Sinnlichkeit ist mehrdeutig. Sie greift auf den Körper über, gerade in ihrer »Unschärfe«. Unschärfe bedeutet vielleicht auch eine gewisse Körperlichkeit 25, ja letztlich manchmal sogar Dumpfheit. In der einstimmenden, umschließenden, umfangenden Drone wird der Höreindruck unbestimmt. So muss Jonas im Bauch des Wals gehört haben.

Nostalgien/Konnotationen (Skizzen) Bluthaus und limited approximations sind zwei jener nicht allzu häufigen Glücksfälle, wo eine Kompositionsweise ihr Thema bzw. ein Thema seine Kompositionsweise findet und sie restlos ineinander aufgehen. Dieses Zusammentreffen springt auf den Zuhörer über, so dass er beides – Thema und Technik – unmittelbar »versteht«. Was versteht er? 1.  Wie sich in den Texten von Kinkel und Busoni andeutet und ebenso in der notgedrungen zuweilen inkonsequenten Metaphorik meiner Beschreibungen, trägt die unmittelbare sinnliche Qualität dieser Musik auch diverse Konnotationen mit sich, zuweilen nostalgischer Art. Ähnlich wie wenn man alte Fotos anschaut, auf denen die Menschen verwischt sind. Die Un-

25  Die neuen Konzertsäle heute sind so sehr auf Transparenz, auf ein CD-artiges Klangbild ausge-

richtet, dass die Körperlichkeit zuweilen verloren geht.



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schärfe evoziert eine gewisse Nostalgie, Erinnerung 26 oder zumindest Erinnerungsartigkeit. Ganz anders als das hyperscharf präsente Porträt, das Bellini vom Dogen malte, grausam präzis, so dass man in die Poren eindringen könnte. Nostalgische Unschärfe könnte man das nennen. Man kennt sie von einigen »unscharfen« Bildern Gerhard Richters, die mittlerweile zu beliebten Postkartenmotiven gehören. 27 Sie nimmt die Bedrängnis, macht weich. Manchmal allerdings verschärft sie eine Szene paradoxerweise: etwa jene Unschärfe, mit der in Pasolinis letztem Film Salò o le 120 giornate di Sodoma (1975) die grausamsten Folterungen gezeigt werden. Auch die nostalgische Mikrotonalität muss nicht positiv besetzt sein, wie Bluthaus zeigt. 2.  Es ist auch die Schärfe/Unschärfe einer Dämmerung, die, wie der Improvisator und Klanginstallator Walter Fähndrich einmal schrieb, »die betrachteten Dinge verhüllen will und uns im Unklaren darüber lässt, ob – bei längerem Betrachten – deren Deutlichwerden ein Hingleiten in das Kennenlernen ihrer Strukturen oder ein Abgleiten in die Imagination bedeutet« 28. Dieses Dämmern und Eindunkeln, das Dunkel spielt auch gegen Ende von Bluthaus wie auch in anderen Werken eine Rolle. Bei seinem 3. Streichquartett mit dem Titel In iij. Noct. von 2001 verlangt der Komponist, dass es »in vollkommener Dunkelheit zu spielen« sei. Der Begriff »Nacht«, so schreibt er, »ist für mich nicht mit romantisierenden Vorstellungen verbunden, sondern mit Realitätsverlust und Hoffnungslosigkeit, mit geistiger ›Um-Nachtung‹, mit dem Verlust der Utopien.« Die 1996 uraufgeführte Kammeroper Nacht erzählt von Hölderlin, dessen Hoffnungen zerbrachen und der sich danach ins Verstummen flüchtete. Immer wieder, etwa auch in Bluthaus wieder, geht es in den Stücken um die Kälte der Welt, um die Isolation des Einzelnen und den Wunsch nach Bindung. Spektralklänge können darin auch Wiedergänger oder gespenstische Ungeheuer sein. 3.  Vielleicht verweist die Ambiguität der Verführung auch auf Un- oder Vorbewusstes. Die wiedergängerische Suggestivität, die in Bluthaus, aber auch in den hell klimpernden Instrumenten in limited approximations aufscheint, verweist auf den archetypischen, überzeitlichen Charakter spektraler Klänge. Sie sind, trotz ihres kompositionsgeschichtlich vergleichsweise jungen Alters, archetypisch besetzt. Die Konsequenz ist pikant und nicht für jeden Komponisten gleichermaßen erträglich: Spektralklänge tendieren, 26  Georg Friedrich Haas, »›These shadows of memory‹. Über das Finale des ersten Abschnitts meiner Oper die schöne Wunde«, in: Resonanzen. Vom Erinnern in der Musik, hrsg. Andreas Dorschel, Wien 2007 (= Studien zur Wertungsforschung, Bd.  47), S.  197–204. In diesem Aufsatz spricht der Komponist über die Erinnerung anhand seiner Opern Nacht und v. a. Die schöne Wunde, allerdings auf andere Weise, als sie hier behandelt wird. 27  Ich denke an die Kerzenbilder aus den 1980er Jahren, an Betty von 1988 oder Die Lesende von 1994. Diese Bilder sind ungemein stimmig und einstimmend. 28  Walter Fähndrich, Musik für Räume, unter: http://www.musicforspaces.ch.



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auch wenn sie eine deutliche Handschrift zeigen, zum Dronehaften und damit zum Un- oder Überpersönlichen. Das ist neben der Mikrotonalität und verflüssigten Rhythmik der dritte Aspekt einer Unschärfe. Es führt dazu, dass auch der Schöpfer, der Autor in den Hintergrund gerät. Er ist nicht mehr erkennbar. Im Archetyp des Spektralklangs verbirgt sich etwas Über-/Unpersönliches: Die Frage, ob man, wenn man Schubert hört, Schubert hört oder einfach Musik – im Sinne von Ludwig Wittgensteins Überlegungen: »›Schubert‹ – Es ist, als ob der Name ein Eigenschaftswort wäre. […] Wir wissen sehr wohl, dass der Name ›Schubert‹ zu seinem Träger + zu Schuberts Werken in keiner Beziehung des Passens steht; + doch sind wir unter dem Zwang, uns so auszudrücken.« Und: »Der Name ›Schubert‹, umschwebt von den Geistern seines Gesichts, seiner Werke. – Also doch eine Atmosphäre? – Aber man kann sie sich nicht von ihm abgelöst denken. Der Name S., wenigstens, wenn wir vom Komponisten reden, ist so umgeben. Aber diese Umgebung scheint mit dem Namen selbst, mit diesem Wort verwachsen.« 29 Die Tendenz lässt sich etwa bei Giacinto Scelsi oder Éliane Radigue beobachten, die – auf sehr unterschiedliche Weise – keine Gestalt vorgeben, sondern die musikalische Gestalt zur Ausarbeitung freigeben. Faszinierend paradox daran ist durchaus, dass wir beim Hören die Namen »Scelsi« und »Radigue« weiterhin konnotieren, aber vielmehr auf mythische Weise. Mit dem archetypischen Spektralklang, der Drone, tendiert der Name des Autors zum Verschwinden.

Ein Satyrspielchen Wenn das Berner Klavierduo Susanne Huber und André Thomet das Stück flow and friction zu vier Händen spielt, wünschte man sich, dass auf den­ Rücken ihrer schwarzen Jacken vertikale weiße Linien gemalt wären, die, wenn sich die Körper mit- und gegeneinander an den Tasten entlang bewegen, zu tanzen beginnen. So ließe sich auch die Bewegung der Musik visualisieren, die mal in kleinen, gemessenen Schritten tänzelt, mal sich in weiten Kaskaden ausschüttet. Diese »kleine Studie« für Sechzehnteltonklavier aus dem Jahr 2001 ist etwas vom Sympathischsten aus dem Œuvre des Komponisten und zeigt, dass man auch mikrotonal kurzweilig komponieren kann. Es wird von zwei gegensätzlichen Elementen geprägt, wie der Komponist schreibt: Einerseits aus schwebungsreichen Zweiklängen, die zu melodischen, expressiven Gesten montiert werden, andererseits aus scheinbar unendlich fallenden Obertonakkorden, die »in engen, fast wie ein Glissando

29  Notizen aus den Jahren 1948–50. Zit. nach: Ludwig Wittgensein, Betrachtungen zur Musik, hrsg. von Walter Zimmermann, Berlin 2022, S. 108 f.



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wirkenden Sechszehnteltonschritten parallel verschoben werden«. 30 Beim ersten Element schärft sich das Ohr auf Dissonanzen/Schwebungen im mikro­intervallischen Bereich hin; beim zweiten ertrinkt es gleichsam unter einer Flut von Spektralklängen. (Notenbeispiel 7) Am Ende fränselt die Musik leicht aus: Lustvoll und lustig in einem.

Notenbeispiel 7:  flow and friction, T. 112–117 (Schluss). Universal. Es handelt sich um eine Spielpartitur für das Sechzehnteltonklavier. Die hohe Quart b2 –es3 entspricht also einem Fünfsechzehntelintervall zwischen a1–b1.

30  Aus der Werkeinführung des Komponisten. Homepage der Universal Edition, unter: https://

www.universaledition.com/georg-friedrich-haas-278/werke/flow-and-friction-9165 [letzter Zugriff: 20.12.2022].





GESINE SCHRÖDER

Gerüste und Gerippe Zu Georg Friedrich Haas’ Eigenbearbeitung seiner Kantate the last minutes of inhumanity (2018) Wie bearbeitet Georg Friedrich Haas ein eigenes Werk? Bearbeitet er es anders als ein fremdes? 1 Was sagen die Unterschiede zwischen den Fassungen über Haas’ Denken in Noten und über seine Technik aus? Das sei exemplarisch am Close Reading der Anfangs- und Schlussmaterialien eines Stücks gezeigt. »Die grellsten Erfindungen sind Zitate.« 2 Wie Karl Kraus nach Selbstauskunft bei den letzten Tagen der Menschheit, so schrieb Haas noch die grellsten Erfindungen seiner Charon-Kantate die letzten Minuten der Menschheit (2019) von Vorhandenem ab. Sie ist die Orchestration einer ersten, aus dem Vorjahr stammenden Fassung, und schon diese last minutes of inhumanity bestehen nur aus über Jahre hinweg destilliertem, immer wieder neu bearbeitetem Material. Haas zieht Kraus’ Tage zu Minuten zusammen. Seine Ausführungsanweisung für die Mezzosopranistin ist kein echter Kraus, klingt aber so: »Diese entsetzlichen Texte sind ohne jede emotionale Andeutung des Inhalts zu singen bzw. zu sprechen. Im Gegenteil: quasi beiläufig, freundlich, charmant, in üblicher verlogener Wiener Freundlichkeit und Nettigkeit. Als ob man über belanglose Urlaubserlebnisse plaudern würde.« 3 Emotion anzudeuten ist Sache der Instrumente. Was man von ihnen zu hören bekommt, wird nur in der allerletzten Kantaten-Minute beiläufig, nett, verlogen freundlich und friert dann ein, 4 jetzt im Ton der Stimme, die nicht mehr Wienerisch singt »Ich habe es nicht gewollt.«, des deutschen Kaisers Wort in Gottes Mund. Dazu halten die Instrumente einen »rein intonierte(n)

1  Generell zu Arten und Motivationen von Eigenbearbeitungen vgl. die Beiträge der Abteilung »Definitiv entwicklungsfähig. Das Potenzial der Eigenbearbeitung«, in: RE-SET. Rückgriffe und Fortschreibungen in der Musik seit 1900, hrsg. von Simon Obert und Heidy Zimmermann, Mainz u. a. 2018, S. 75–177. 2  Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, 2 Bde., München 81982, hier Bd. 1, S. 5. 3  Partitur von the last minutes of inhumanity. a utopic Charon-cantata. 2018, Ricordi Berlin 2018, Plattennr. Sy. 4828/01, online zugänglich unter: https://issuu.com/casaricordi/docs/haas_lastminu tesofinhumanity_00_par [letzter Zugriff: 20.12.2022], S. 3, sowie die letzten Minuten der Menschheit. eine Charon-Kantate. Musik mit Ausschnitten aus Karl Kraus’ »die letzten Tage der Menschheit«. Version für Orchester 2019, Ricordi Berlin 2019, Plattennr. Sy. 4984/01, S. 3. Fassung für den Musikverein Graz (Angabe nach Ricordi Berlin). Die Stimmen dieser Fassung sind online zugänglich unter: https:// www.nkoda.com/work/Die-Letzte-Minuten-der-Menschheit?page=3 [letzter Zugriff: 20.12.2022]. 4  Anweisung »freeze«. Partitur 2018, S. 40; Partitur 2019, S. 29.

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Obertonakkord« 5 bis hinauf zum elften Ton, banal-böse aus der Partialtonreihe von C gemacht, so wie sie für Demonstrationszwecke aufgeschrieben wird. Nur ist der fünfte Partialton (e1) ausgespart, die Sängerin kommt für ihr Kaiserzitat mit den Partialtönen 4, 6, 7, 8, 9 und 11 aus, in ihrem singbaren Ambitus der kompletten Reihe, elidiert sind aber die Nummern 5 und 10 für die Naturterzen. Für die Zweitfassung hat Haas den Gesangspart minimal und nur an dieser Stelle geändert. Rhythmisch etwas flexibler, ist der Ton für das Wort »nicht« von zwei kurzen Pausen eingefasst, wo sich im nun viel langsameren Tempo Atem holen lässt. 6 Ohne Pausen verdoppeln die Celli 1–6 den Gesang mit Naturflageoletts auf ihren C-Saiten. Den letzten Ton halten sie nur länger aus und fangen mit dem ersten früher an, so dass die Stimme ganz im Instrumentalklang aufgeht. In der Zweitfassung ist die Szenenanweisung zu sprechen, und wohl mit Rücksicht auf die größere Besetzung läuft das Metrum bis zum Ende durch. Darum ließ sich der Schluss genauer formulieren: Der höchste elfte Partialton dieses »Obertonakkords« hängt in den Celli über. Von der Musik auf Zitate aus dem ersten globalen Krieg, der Grande Guerre, bleibt mit dem eingefrorenen Klang nur ein Gerippe übrig.

I Minimale Differenzen Den kleinen Aufruhr im Adjektiv »utopic« zur neuen Gattungsbezeichnung Charon-Kantate löscht Haas für die Zweitfassung, und aus inhumanity wird wieder Menschheit. In der Schlusspartie der Zweitfassung bauen Bläser die Töne der Partialtonreihe auf, bis Streicher sie im Abbau übernehmen. 7 Das war in der Erstfassung anders konzipiert, denn es gibt dort nur sechs Bläser. So besteht ihr Partialtonklang nur aus den ungeradzahligen Tönen 1, 3, 5, 7, 9, 11, mit nicht durchweg gestaffelten Einsätzen. 8 Die in dieser Fassung auch nur sechs (solistischen) Streicher spielen wie die Bläser auf- und nicht wie später abwärts, sie doppeln den Partialton 1, ansonsten füllen sie die Lücken der Bläserreihe mit den geradzahligen, sämtlich oktavierten Partialtönen 2, 4, 6, 8 und 10. Das macht ihr Einsetzen unauffällig, denn sie sind Differenztöne von dem, was in den Bläsern schon klingt. Kurz bevor sie enden, übernehmen die sechs Streicher dieser Fassung dann zusätzlich die Bläsertöne, teils mit Doppelgriffen und mit instrumentalen Resten, so dass sich beim Farbwechsel kein Neueinsatz bemerken lässt. 9

5  Partitur 2019, S. 29. 6  Ebd., S. 30. 7  Partitur 2019, S. 28 und 29. Ausgelassen ist beim Auf- und Abbau der fünfte Ton e1. Der neunte

kommt beim Aufbau vorm achten Ton, also d2 vor c2. Auch der Abbau in den Streichern ist nicht ganz regelmäßig. 8  Partitur 2018, S. 39. 9  Ebd., S. 40.



Gerüste und Gerippe 

Nach der Erstfassung soll der Konzertsaal ab dem Eintritt des »Obertonakkords« auf C allmählich abgedunkelt werden, bis es kurz vor Schluss des Stücks so dunkel wie möglich ist. 10 In die Zweitfassung hat Haas die Lichtregie nicht mehr einbezogen, stattdessen taucht ein szenisches Element auf: Wenn die Streicher ihre Doppelgriff-Glissandi am Schluss in einer breiten »Palette unterschiedlicher Dauern und Wellen« spielen, führen die je ersten Spieler ihre Streichergruppe an, sie sollen dafür »eventuell aufstehen« und dem Dirigenten »den Rücken zukehren«. Kein »perfektes unisono« soll zu hören sein, sondern »ein elastisches Klanggebilde, vergleichbar einem Vogelschwarm«. 11 Kaum vier Jahre nach seiner Entstehung ist das Stück nicht bloß ein Kommentar zu den Leichenfeldern und den Trümmern, in denen Kakanien vor 100 Jahren lag.

II Fortschreibungen von Fremdmaterial Immer wieder hat Haas komplette Kompositionen, Fragmente oder nur markante Schnipsel aus Werken anderer Komponisten um- und fortgeschrieben, darunter solche von Josquin des Prez 12, Giacinto Scelsi 13, Franz Schubert 14, Felix Mendelssohn Bartholdy 15, Aleksandr Skrjabin 16 und nicht nur einmal von Wolfgang Amadé Mozart 17. Das Fremdmaterial setzt Haas 10  Nur der Dirigent soll für die Musiker sichtbar bleiben. Ebd., S. 38 und 41: »gradually reduce the

light«, »as dark as possible«, »the conductor must still be visible to the performers«. 11  Partitur 2019, S. 27. 12  Haas’ Sextett tria ex uno (2001) beruht auf dem vollständigen Agnus dei II aus Josquins missa l’homme armé super voces musicales. 13  Aus Scelsis »Klangexperimenten von Band« gewann Haas »Klangmaterial«, das er in das Stück Introduktion und Transsonation für 17 Instrumente einfügte. Die Zitate stammen aus dem Untertitel des Stücks. Vgl. auch Ulrich Mosch, »Klangwandlungen. Georg Friedrich Haas’ ›Introduktion und Transsonation‹ (2012)«, in: Scelsi revisited backstage, hrsg. von Björn Gottstein und Michael Kunkel, Büdingen 2020, S. 164–176. 14  Torso für großes Orchester hat Haas »nach der unvollendeten Klaviersonate in C-Dur, D.840 (1825), von Franz Schubert (1999–2000/2001)« geschrieben, wie es im Zusatz zum Titel des Stücks heißt. 15  Das Motto der Ouvertüre zum Sommernachtstraum, die invertierte Kadenz, sowie Schnipsel u. a. aus der Hebriden-Ouvertüre durchziehen Haas’ zu Mendelssohns 200. Geburtstag 2009 geschriebenen Orchester-Traum in des Sommers Nacht. 16  Ebenfalls – laut Untertitel – »nach« einem Stück, hier Skrjabins 9. Klaviersonate, schrieb Haas für großes Orchester 2004 Opus 68. Das Stück wird auf der Website der Universal Edition als Originalkomposition Skrjabins angezeigt, Haas firmiert als »Bearbeiter:in«. Seinen Anteil bezeichnet er als Kommentar, Projektion und Übersetzung. Das Stück sei »ein Kommentar, der die Tonhöhen fast unangetastet lässt und nur ganz wenige Töne hinzufügt«. Er projiziere Skrjabins Musik in seine eigene Klanglichkeit. Was in Skrjabins Klaviermusik »subkutan vorhanden« sei, habe er ins Orchestrale übersetzt. Zitate nach einem Gespräch von Haas mit Martina Seeber, Auszüge auf der Website der UE, unter: https://www.universaledition.com/georg-friedrich-haas-278/werke/opus-68-11423. Bei der Uraufführung von Opus 68 durch das WDR Sinfonieorchester firmierte Haas indes als Komponist. Siehe unter: https://www.wienersymphoniker.at/de/content/opus-68-fuer-grosses-orchesternach-der-9-klaviersonate-von-alexander-skrjabin [letzter Zugriff jeweils: 20.12.2022]. 17  In Tetraedrite für Orchester (UA 2012) steckt ein Zitat aus einem Hornkonzertfragment von Mozart. Vgl. den Auszug aus einem Programmbuchtext von Wiebke Matyschok auf der Website der UE, unter: https://www.universaledition.com/georg-friedrich-haas-278/werke/tetraedrite-13873.



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in manchen Fällen dezidiert von neu Hinzugeschriebenem ab, es bleibt fremd, wird nicht kompositorisch angeeignet, um es zu besitzen. Aus einem fremden Klangentwurf will Haas nur hervorholen, was er in ihm unterschwellig angelegt findet. In anderen Fällen, etwa wenn nur Schnipsel die Vorlage sind, stellt sich die Frage von Eigentum gar nicht. Im Traum in des Sommers Nacht besteht keinen Augenblick Zweifel darüber, was von Mendelssohn stammt, und genauso klar ist, wer hier mit den allgegenwärtigen Mendelssohn-Zitaten umgeht. Es gibt kaum Zweitfassungen bei Haas. 18 Wenn er doch einmal ein eigenes Stück umschreibt, dann, um einen Auftrag zu erfüllen, in diesem Fall einen selbstgegebenen. 19 Änderungen ergeben sich daraus, dass das Stück dem neuen Klangkörper auf den Leib zu schreiben ist. »Noch einmal d’rübergehen, das mach ich nicht«, 20 sagte Haas 2014. Seine Eigenbearbeitungen sind – vielleicht mit Ausnahme der »endgültigen Fassung« von Koma 21 –, nicht als Verbesserungen zu verstehen, sondern als Umarbeitungen für Aufführungsgelegenheiten mit anderen Besetzungen. Über weite Strecken handelt es sich bei der Zweitfassung von Haas’ Charon-Kantate um nicht mehr als eine mit gutem Handwerk ausgeführte Orchestrierung. Das zuerst für ein großes Ensemble von 15 Instrumentalisten geschriebene Stück bleibt in der Orchesterfassung weitgehend unverändert. Für solche Orchestrierungen gibt es in der Geschichte des Orchesterliedes und -gesangs etliche Beispiele, unter Wiener Komponisten etwa die Orchestrationen eigener Klavierlieder durch Mahler, Zemlinsky, Schreker oder Berg. Eine bereits größer besetzte Erstfassung liegt in Schönbergs erster Kammersymphonie vor. Sie

Bereits das Klangmaterial und die Idee von »… e finisci già?« für Orchester (2011/12), einer praktisch über das gesamte Stück anhaltenden Ausbreitung eines Klangs auf D, hatte Haas aus dem Fragment zu Mozarts 1. Hornkonzert KV 412 bezogen, unter: https://www.universaledition.com/georg-fried rich-haas-278/werke/e-finisci-gia-13874 [letzter Zugriff jeweils: 20.12.2022]. Das 2013 entstandene Klaviertrio Tombeau schreibt das Fragment KV 616a fort. Mozart hatte für das Stück die ungewöhnliche Besetzung Glasharmonika, Flöte, Oboe, Bratsche und Cello vorgesehen. Keine Übermalung oder Fortschreibung, aber Glossen sind 7 Klangräume zu den unvollendeten Fragmenten des Requiems (2005), die Haas zwischen Mozarts Sätze einfügt. 18  Das Percussion-Quartett Iguazú superior, antes de descender por la Garganta des Diablo (2018) gibt es in einer Fassung von 2020 »für 1 bis 10 Klangwerke«. Um eine Eigenbearbeitung, die von den Besetzungen her am ehesten mit den Fassungen der CharonKantate vergleichbar ist, handelt es sich bei das kleine ICH BIN ICH. Den Instrumentalpart der Fassung für Kammerensemble und Sprechstimme (2016) arbeitete Haas im Folgejahr für Kammerorchester um (das Klangmaterial ist eng mit dem der Charon-Kantate verwandt, so beginnt es mit demselben sechstönigen Akkord). 19  Haas schreibt mir in einer Mail vom 17.10.2022 dazu: »In Österreich ist das Stück unerwünscht. Wohl, weil es zu unbequem ist. Die Orchesterversion habe ich – ohne Komponistionshonorar – für den Musikverein der Steiermark in Graz gemacht. Denn ich WILL, dass dieses Werk in Graz aufgeführt wird. Wo die Verehrung der ›Helden‹ des 1. Weltkriegs unvermindert anhält. Aufgeführt wurde das Werk aber nicht. Man kann so etwas doch nicht dem Publikum im Stephaniensaal zumuten …«. 20  Christoph Irrgeher, »Interview (mit Georg Friedrich Haas). ›Es gibt kein Zurück‹«, in: Wiener Zeitung online vom 20.11.2014, 17:31 Uhr, S. 3. 21  Die erste Fassung von 2015/16 hat Haas 2018 umfassend revidiert, aus den Sprechpartien wurden hier solche für Gesang.



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verlangt 15 Instrumentalisten – wie Haas’ Charon-Kantate –, 22 und ihre im Zeitabstand von knapp drei Jahrzehnten für großes Orchester umgeschriebene Fassung berücksichtigte die Verhältnisse in amerikanischen Orchestern. Haas’ sehr bald nach der ersten entstandene Zweitfassung wurde vermutlich für Musiker geschrieben, die mit neueren Techniken weniger vertraut waren, so werden etwa die Slaps der ersten Fassung (T. 41–45) den Bläsern der zweiten nicht mehr zugemutet.

III Zubereitung des Textes Kraus hat seinen Fünfakter angefüllt mit Groteske, Klamauk, Lokalkolorit aus östlichen und südlichen Gegenden der Habsburger Monarchie, Reden im Beisl und dem Caféhaus, mit Operettenmelodien, Märschen und anderen Freiluftmusiken. Das meiste verschwand mit dem Einschrumpfen Österreichs aus dem Alltag und ist nicht mehr bekannt. All die Heimatklänge ließ Haas weg. Kraus schätzte, dass die Aufführung der letzten Tage der Menschheit, nachdem die Erde unwirtlich geworden wäre, auf dem Mars (mit seinen längeren Tagen) stattfinden müsste und nach »irdischen Zeitmaß« »etwa zehn Abende umfassen« würde. 23 Für sein Stück vom Ende der Menschheit braucht Haas 100 Jahre später nicht mehr Tage, er extrahierte für die Vertonung aus den zehn Abenden Worte für sieben Minuten Musik, 24 entnommen den letzten Seiten des ersten und des zweiten Bandes der letzten Tage, jeweils den letzten Minuten zweier Abende. Entsprechend ist seine Kantate zweigeteilt; der erste Teil endet mit T. 38, das ist knapp vor dem kürzeren Teil eines Goldenen Schnitts, legt man die Taktmenge zugrunde, die Haas für die erste Fassung auszählt: Bei T.  104 hört dort die Taktzählung auf, es wird dunkel und die Musik gefriert. (In der Zweitfassung hat die Kantate 126 Takte, bei denen T. 106–117 nur pauschal überschlagen sind.) Für die Erstfassung mag der Goldene Schnitt als Konstruktionshilfe beim Erreichen einer guten Proportion eine Rolle gespielt haben. Dass der längere dem kürzeren Teil folgt, ist dramaturgisch anspruchsvoller als umgekehrt, wo der Umschlag krisenfest etwa beim Beginn des letzten Drittels gelegen hätte (wie beim fünfaktigen Drama, bei dem der Schnitt wohl am Ende des 3. Aktes läge, eigentlich Haas’ Textauswahl entsprechend). Haas’ Partitur hat Quellenangaben für den vertonten Text, jedenfalls sind pauschal der Akt und die Szene genannt, aus der die Auszüge stam-

22  Dass es bei Schönberg keine Schlagzeuger, Trompete, Posaune und Harfe gibt, passt zu der Be-

zeichnung »Kammer«. Stattdessen werden 1 Oboe, 1 Englischhorn, 1 kleine und 1  Bassklarinette, 1 Kontrafagott und 1 zweites Horn verlangt. Bei Haas taucht ein zweites Cello auf, so dass ohne Doppelgriffe sechstönige Streicherakkorde möglich sind. 23  Beide Zitate: Kraus, Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 2), Bd. 1, S. 5. 24  Für die Zweitfassung als Dauer angegeben auf der Informationsseite der Musikdatenbank mica – music austria, unter: https://db.musicaustria.at/node/203387 [letzter Zugriff: 20.12.2022].



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men. 25 So wie Kraus’ Marstheaterstück weithin aus Zitaten montiert sein soll, nutzt Haas kaum anderes als musikalische Fertigteile, nur dass sie eher kein Fremdmaterial sind. Der Komponist war kaum älter (oder sich selbst fremd) geworden, als er die Zweitfassung erstellte, für ihn war es darum wirklich eine Eigenbearbeitung. Er expliziert jetzt nur notenreicher, was schon angelegt war. Schreitet man mit Haas von der ersten Fassung zur zweiten vor, so übt man sich in seinen Schritten. Wer die gelernt hat, kann vor die Erste zurückgehen und findet abgerissene Gerüste.

IV Orchestrationsprinzipien für Fertigteile Die Art, wie Pierre Boulez einige seiner notations orchestrierte, 26 ähnelt Haas’ Vorgehen bei der Erstellung einer Zweitfassung nicht in der Freiheit, mit der das Format an den viel größeren Apparat angepasst wurde, aber im Detail, und zwar mit der Bearbeitungstechnik der Wucherung. Die Rücksicht auf den Apparat führt bei Haas über das langsamere Tempo nur zu einer leichten Dehnung der Zeit, aber zu keinem wesentlich anderen Format. 27 Für den über Handwerk hinausgehenden Anteil von Orchestrierung legt die innere Struktur der Materialien, die er orchestriert, konkrete Reduplikationen nahe. Die Fertigteile, mit denen Haas seit mehr als zwei Jahrzehnten komponiert, gehören hauptsächlich in den Bereich von Harmonik. Er nutzt alle Arten von Septakkorden, selten aber in quintdistanten Folgen, es gibt Dreiklangskumulationen, »Obertonakkorde«, tonreichere oder -ärmere undefinierte Mikrotonhaufen und allerlei symmetrische Klänge, zu denen auch Wyschnegradsky-Akkorde gehören können, 28 jene von Haas erdachten und 25  Vermerkt jeweils über der Gesangsstimme in T. 3 beider Fassungen: »3. Akt, 45. Szene«, und in

T. 39: »5. Akt, 55. Szene«. Vgl. Kraus, Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 2), Bd. 1, S. 330 und 333 f., sowie Bd. 2, S. 258–(308). Ohne eigene Quellenangabe gibt es ab T. 87 Textfetzen, die auch oder, wie der letzte Satz, nur im Epilog vorkommen: »Der Horizont ist eine Flammenwand.« (T. 87 f.) oder »Rauchschwaden« (T. 98). Die Textausschnitte verlaufen im ersten Teil (bis T. 38) linear zu Kraus’ Text, im zweiten Teil – grob betrachtet – ebenfalls, sie springen aber immer wieder zurück. Gegen Schluss tauchen häufiger nur Einzelwörter auf, manche wie bei Kraus mehr als einmal wie »Gasmasken« oder »Leichen«. Für den zweiten Teil extrahierte Haas fast nur noch Regieanweisungen. Im Einzelnen stammt der Text hier von S. 258 (ab T. 39), 263 (ab T. 46), 261 (ab T. 52), 264 (ab T. 68), 262 (ab T. 74), 264 (ab T. 81), 265 (T. 85 f.), 258 sowie 273 (T. 87 f.), 259 (T. 89 f.), 261 (T. 91), 263 (T. 93), 264 (T. 94), 265 (T. 95), 264 (T. 96), 263 (T. 97), in den Takten 98–104 (bzw. in der Zweitfassung bis 105) meist taktweise springend: S. 273 sowie 297, 264 u. a., 265, 262, 259, 265 u. a., Schluss wie angegeben S. (308). 26  Zu Zwischenstationen mit kleinem Ensemble vgl. Martin Grabow, Erfindung, Recycling, Neukomposition. Untersuchungen zur inneren Verflochtenheit des Lebenswerks von Pierre Boulez am Beispiel der notations, Hildesheim – Zürich – New York 2016. 27  Fassung 2018: Viertel = 66; Fassung 2019: Viertel = 60. Das Accelerando bis Viertel = 72 beginnt hier zwei Takte früher, die allerletzten Takte sind nur hier wieder langsamer (Viertel = 42). 28  Zu Haas’ Konzept dieses Akkordtyps s. z. B. seine Erläuterungen von Poème auf der Website der UE, unter: https://www.universaledition.com/georg-friedrich-haas-278/werke/poeme-12243 [letzter Zugriff: 20.12.2022]. Zur Herleitung genauer: Robert Hasegawa, »Clashing harmonic systems in Haas’ ›Blumenstück‹ and ›in vain‹«, in: Music theory spectrum 37 (2015) H. 2, S. 204–223.



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aus Erfahrungen mit Weberns Musik herrührenden halbtönigen Zuschnitte eines Tonzirkels aus vierteltönig diminuierten temperierten Quinten. Den formalen Ablauf von Haas’ Stücken prägen Shepard-Skalen, plötzliches Einrasten der Tonhöhen und periodisches Wummern, beispielsweise in der allerletzten Minute der Charon-Kantate die Passage ab T. 85 bis kurz über jenen Punkt hinaus, an dem in der ersten Fassung die Taktzählung eingestellt wird, in der zweiten bis T. 106. Das allmähliche Aufhören des Wummerns ist ausinstrumentiert: Immer weniger Instrumente beteiligen sich an ihm, bis die Posaune übrigbleibt, in der ersten Fassung löst das Horn Offbeat-artig deren Basis zum finalen grausigen C-Spektrum aus, in der zweiten sekundiert ein Trompetenpaar der Posaune und lässt das Spektrum mit seinem siebten und achten Partialton einrasten. Im Gesamtklang soll die Posaune hier »kaum wahrnehmbar« 29 sein, wegen der Differenztöne entsteht trotzdem der Effekt eines aus dem Physikbuch in die Musik übergesprungenen Naturtonklangs. Ansonsten zeigt Haas’ Orchestrierung einfach gutes Handwerk: Mit den vermehrten Bläsern lassen sich Akkorde homogener setzen, indem sie Gruppen des Orchesters zugewiesen werden. Holz und Blech werden getrennt. So wird der Bläserakkord in T. 2 – ein die Streicher verdoppelnder, von oben nach unten eingeführter, sechstöniger und darum achsensymmetrischer Wyschnegradsky-Akkord aus alternierenden Quinten und Tritoni (hier c3 – f 2 – h1– e1– ais – dis)  – in der ersten Fassung von sämtlichen sechs solistischen Bläsern gespielt (Fl., Klar., Fag., Horn, Tromp., Pos.). Bei der stärker besetzten Zweitfassung kann Haas auswählen und gibt den Akkord nur noch jetzt paarig besetzten Holzbläsern, aber ohne das Oboenpaar, denn der Akkord soll im Pianissimo erklingen und leicht verwischt eintreten, ohne spürbaren Impuls. Der nächste Bläserklang, ein mikrotönig gespaltener dunkler Tonfleck (T. 4 f.), war in der ersten Fassung ebenfalls aus Holz und Blech gemischt (Fag., Horn, Pos.), in der zweiten ist er mit einem zweiten Horn statt des Fagotts wiederum noch homogener. Von der Trennung in Holz und Blech gibt es Ausnahmen: Eine Melodie des zweiten Cellos wird in der Zweitfassung ins Fagottpaar gelegt (T. 27–30), eine der wenigen nicht gruppenmäßig orchestrierten Stellen und Vorbereitung jener einzigen Passage, an der Haas für die neue Fassung Streicher- gegen Bläsersatz tauscht (T. 30–33). Hier kolorieren die Bläser nicht nur, was schon im Streichersatz vorhanden ist. Stattdessen verbindet sich der Wechsel zwischen Harmonien mit dem zwischen Streichern und Bläsern, der hauptsächlich technisch motivierte Tausch ermöglicht sogar ein kurzzeitiges Ineinanderragen von Harmonien. Besonders im ersten Teil liegt das Wurzelwerk des musikalischen Geschehens in Streichern, und die Harfe, deren Part in der Zweitfassung fast

29  Partitur 2019, T. 106 bzw. gleich nach Studierbuchstabe A.



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unverändert bleibt, stützt den Gesang und tippt Streichereinsätze an. Ihr Part ist ein für die Sängerin stehengelassenes Gerüst.

V Ausarbeitung von Eigenmaterial Wie durch die Vermehrung der Instrumente ausgelöste Wucherungen in Haas’ Kantate funktionieren, sei an zwei Ausschnitten aus den ersten Takten erläutert. In den ersten Takten wird das Klangmaterial für den ersten Teil des Stücks exponiert, der – laut der von der Mezzosopranistin gesprochenen Regieanweisung  – in einem »Wiener Nachtlokal« spielt: eine Bewegung dreier von Streichern gespielter achsensymmetrischer sechstöniger Akkorde von einer mitteltiefen über eine mittelhohe in eine sehr hohe Lage (Notenbeispiel 1).

Notenbeispiel 1:  Schematische Darstellung

der drei Akkorde am Anfang (T. 1–4)

Im fast unangetastet gebliebenen Streichersatz der Zweitfassung gibt es nur noch eine statt zwei Cellostimmen und statt zwei jetzt drei Geigenstimmen, so dass die beiden mittleren Akkordtöne den Instrumenten anders zugeordnet sind – ein kaum hörbarer Unterschied. Den mittelhohen Wyschnegradsky-Akkord umgeben eng verwandte Klänge, die aus der Stapelung zweier von einer unterschiedlichen Diazeuxis getrennter übermäßiger Dreiklänge gewonnen sind. Sie haben denselben Intervallgehalt wie jene Verbindung zweier Dreiklänge, die als das Unheimliche bezeichnet wurde – eine Hommage an Sigmund Freud. 30 Ich möchte Haas’ Akkord einen Namen geben, dessen Assoziationsfeld passt, und nenne ihn als Hommage an Kraus den 30  Richard Cohn, »Uncanny Resemblances. Tonal Significations in the Freudian Age«, in: Journal of

the American Musicological Society, Bd. 57 (2004), H. 2, S. 285–323. Bindeglied zwischen Haas’ sechstönigem Klang und dem hexatonischen Zyklus der Neo-Riemannian Theory (NRT) ist, dass der Dreiklang ein Grundelement ist, bei Haas aber der mit übermäßiger statt reiner Quinte. Die mittels sparsamer, d. h. halbtöniger Bewegung der Stimmen geschehende Verbindung zweier im hexatonischen Zyklus als ›hexatonic poles‹ einander gegenüberliegender Dreiklänge (z. B. A-Dur und f-Moll) assoziiert Cohn mit Freuds Unheimlichem. Das gleiche Tonmaterial ergibt nach Albert Simons Theorie der Tonfelder ein ›Konstrukt‹ (das zweite Tonfeld). Anders als Simon gewinnt Haas den Tonvorrat nicht durch Addition von Quinten über den Tönen eines übermäßigen Dreiklangs. Sein Tonmaterial wirkt hier auch nicht als Vertikalisierung einer Skala von abwechselnd Halb- und Anderthalbtonschritten. Diese hatte Zsolt Gárdonyi als alternierende Sechsstufigkeit bezeichnet, sie entspricht einem unvollständigen dritten Messiaen’schen Modus (bzw. einem achten, von ihm vergessenen) mit der Intervallfolge 1–3–1–3–1–3 und liegt z. B. jenem immergleichen Akkord von Henri Dutilleux’ Nocturne für Violine und Orchester Sur le même accord (2002) zugrunde.



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›Wiener-Nachtlokal-Klang‹. Er besteht aus den Intervallen 4–4–3–4–4, gezählt in Halbtonschritten, mithin ausschließlich aus Terzen, in der Mitte einer kleinen, umgeben von je zwei großen (A – cis – f – gis – c1– e1). Nach dem intermittierenden Wyschnegradsky-Akkord erscheint er invertiert, aufwärts eingeführt und über Komplementärintervalle gespreizt. Seine Intervallfolge weist mit 8–8–5–8–8 eine Quarte in der Mitte auf, umgeben von je zwei kleinen Sexten (fis4 – b3 – d3 – a2 – cis2 – f 1), also kein Zwölftonkomplement zum ersten. Er bleibt trotz der hohen Lage noch gut spielbar (und auch über das Hören identifizierbar), weil Haas das Komplementärintervall zur kleinen Terz im Zentrum des ersten Klangs gegen ein kleineres austauscht, hier gegen die Quarte. Mit ihr werden die gleichen Tonqualitäten wie mit der großen Sexte erreicht, und das zur Quinte komplementäre neue mittlere Intervall lässt sich, wollte man bei Haas ein synthetisierendes kompositorisches Denken bloßlegen, als Reaktion auf den vorangehenden Wyschnegradsky-Akkord verstehen. Solchem Denken gemäß funktionieren die meisten Bearbeitungsverfahren, derer sich Haas bedient. Vorhandenes wird verbunden, hinzu kommt dann die Vervielfältigung bereits angelegter Intervallkonstellationen. Was harmonisch schon da ist, wird in die größere Besetzung hineinprojiziert (Notenbeispiel 2). In der ersten Fassung setzen im Abstand von Sechzehnteln kleine Wyschnegradsky-Akkorde ein, hier nur viertönig (Quinte  – Tritonus  – Quinte), denn sie sind auf den vier Saiten der Streicher zu arpeggieren, zuletzt in sehr hoher Lage, so dass die Tonhöhen undeutlich werden, zumal im Pizzicato. Der solistische Kontrabass beteiligt sich nicht, da sich diese Akkordsorte auf ihm selbst abwärts transponiert nur mit Lagenwechsel arpeggieren lässt. Die Quadrupelgriffe der übrigen fünf Streicher summieren sich zu einem Gesamtarpeggio. Ein solches Gesamtarpeggio desselben Akkords erscheint einmal mit A, dann mit d und zuletzt nochmals transponiert mit f als tiefstem Ton. Die Töne, auf denen diese kleinen Wyschnegradsky-Akkorde jedes einzelnen Streichinstruments basieren, sind aber die des ›Wiener-Nachtlokal-Klangs‹ vom Anfang des Stücks. Dass er unvollständig bleibt, indem auf dem höchsten Ton des Klangs, dem e1, kein Arpeggio mehr auftaucht, liegt schlicht daran, dass in der ersten Fassung kein weiteres höheres Streichinstrument zur Verfügung steht, und für den größeren Streicherapparat der Orchesterfassung ergänzt Haas daher ein Arpeggio auf dem höchsten Ton des ›Wiener-Nachtlokal-Klangs‹. Auch multipliziert er die Arpeggi, so gibt es für das erste Gesamtarpeggio nicht nur fünf, sondern zwölf Teileinsätze, die nun in kürzerem Zeitabstand und früher eintreten. Das Gesamtarpeggio des ersten ›Wiener-Nachtlokal-Klangs‹ wird jetzt vom zweiten und dieses wieder vom dritten überlagert, es bilden sich Klangwolken. Die Tonqualitäten des mittleren Gesamtarpeggios entsprechen denen des dritten Akkords vom Beginn. Diese Inversion des Ersten hatte mit ihm die Töne eines übermäßigen Dreiklangs gemeinsam: die Tonqualitäten a– cis–f. Beim ersten und dritten Gesamtarpeggio liegen sie unten, beim mitt-



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Notenbeispiel 2:  Fassung 2019. Auszug der Streicherstimmen von T. 5–6, ohne Kontrabässe



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leren oben. Bei zu einer Oktavlage kontrahierter Darstellung des Tonvorrats befände sich der verbleibende übermäßige Dreiklang beim ersten und dritten Gesamtarpeggio mit den Tönen gis–c–e einen Halbton unter dem gemeinsamen Dreiklang (a–cis–f), beim zweiten einen Halbton über ihm (b–d–fis). Haas’ Klangprogressionen sind mechanisch und suggestiv, poppig, möchte man sagen. Für den zweiten Teil des Stücks (ab T.  39) wechselt der Ort. Den gesprochenen Regieanweisungen zufolge sind es Mitrovica, Kragujevac, dann irgendein Schneefeld, ein Schlachtfeld, nicht mehr Wien. Der ›WienerNachtlokal-Klang‹ zieht sich mit seinen netten Terzen aus dem Getöse zurück. Der zweite Teil startet mit langen gettato-Skalen in Streichern, sie sind  oktatonisch, doch soll von nun an »nur wenig Tonhöhe wahrnehmbar« 31 sein. Ein letztes Mal tritt der ›Wiener-Nachtlokal-Klang‹ hervor (T. 47–50), und seine Intervallfolge ist stark vervielfältigt zu 4–4–3–4–4– 3–4–4–3–4–4–3–4–4 (A – cis – f – gis – c1– e1– g1– h1– dis2 – fis2 – ais2 – d3 – f 3 – a3 – cis4), die unteren sechs der 15 Töne gehören zum ersten Klang, die oberen sechs zu seiner Inversion im dritten. Einbezogen sind nun auch die vorher fehlenden Töne g–h–dis, als dreitönige Achse der Reihe. Die Achsensymmetrie diente der Klangerfindung als Gerüst, das in der ersten Fassung stehenbleibt, hörend wahrnehmbar ist jedenfalls die Stapelung. Der zweiten Fassung fügt Haas oben zwei weitere Terzen hinzu, 3-4 (e4 – gis4), und ohne sich an der Inkonsequenz zu stören, lässt er die Terzenreihe einmal mehr von rechts nach links durch die Streichergruppen sprinten (statt 5 + 5 + 5 Tönen pro Gruppe jetzt 5 + 4 + 4 + 4). Anschließend ist das erste Mal eine Obertonreihe pur zu hören (T. 49–50, im Bass bzw. den Bässen 1–4 die Partialtöne 2–16 von D), einfach ein Ton nach dem anderen und im Zeitverlauf so gespielt, wie die Reihe als Graph im Schulbuch aussieht. Dann wuchern solche Reihen, in der Erstfassung von jenen Bläsern gespielt, auf denen sie ohne Lücke und bis zum Fortissimo herauszubringen sind, hier den drei Blechinstrumenten, basierend auf E1, c und A1, mit Rücksicht auf die Mensur jeweils von Partialton 2–16, 7 und 9 ihrer Reihen. 32 Für die Orchesterfassung vervielfältigt Haas die Reihen. Zwar dispensiert er die Trompete, die in der Reihe ohnehin nicht allzu weit hinaufkommt, dafür haben neben der Posaune nun alle vier Hörner zu tun, jedes Instrument mit einer anderen Reihe. Die Stelle wird dissonanter. Statt Reihen, deren Grundtöne wie vorher einen a-Moll-Dreiklang bilden, hört man jetzt halbtönig entfernte Reihen (über Des1, D1, Es1, E1 und F1), sie enden gemeinsam im mikrotönigen Cluster ihrer Partialtöne 15–11 (T.  52). Das Cluster ist als glissandierendes Tremolo in die Streicher projiziert, wo es aus der Erstfassung den alten Duft des terzgesättigten ›Wiener-Nachtlokal31  Partitur 2018, S. 19 (»little perceivable pitch«); Partitur 2019, S. 13. 32  Ein Fehler in der Partialtonreihe des Horns wurde für die Zweitfassung korrigiert: In T. 51 ist der

dritte Ton richtig e (4. Horn), nicht d.



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Klangs‹ vertreibt. Haas stärkt den Effekt immer zu Ungunsten des Gerüsts. Das südlichere Graz wurde mit der für diesen Ort projektierten Uraufführung der Zweitfassung zum Endzeitort. In Graz entstand Johannes Keplers Mysterium Cosmographicum (1594), wo das Dodecaeder der Marsbahn einbeschrieben wird. Kraus’ Marstheaterstück musste sich für Haas in einer Spielzeit von weniger als zwölf letzten Minuten entscheiden.





BERNHARD GÜNTHER

Georg Friedrich Haas als Raumkomponist Zur musikalischen Gestaltung von Raum, Licht und Dunkelheit in seinen Werken von 1981 bis 2022 Der Titel dieses Textes führt auf dünnes Eis. Georg Friedrich Haas hält nichts von Typisierungen und Kategorisierungen. In den ersten Jahrzehnten seiner Arbeit hatte er immer wieder analytische und musikhistorische Texte v. a. über Mikrotonalität veröffentlicht, ungefähr seit dem Jahr 2000 kam er von kompositionstechnischen Hinweisen und Beschreibungen weitgehend ab. 1 Parallel zur Verlagerung seines Schreibens und Sprechens über seine eigene Musik – weg von der Faktur, hin zur Emotionalität und Subjektivität, zum Inhaltlichen und Autobiografischen – meinte er in gelegentlichen Gesprächen 2, das letzte, was er sich wünsche, sei, dass ein Stück als »hervorragendes Beispiel für Mikrotonalität« oder er selbst als »Vertreter« irgendeiner Richtung oder Schule bezeichnet würde. »Was ich bin, weiß ich nicht. Es ist nicht mein Job, mir eine Schublade auszusuchen, in die man mich hineinlegen kann. Aber ich protestiere, wenn man mir ein falsches Etikett aufklebt. Vielleicht bin ich ein Eklektiker. Mein künstlerisches Triebleben würde ich als musikalische Polyamorie beschreiben. Ich schreibe, was ich will. Nicht mehr und nicht weniger.« 3 1  Die letzte wissenschaftliche Publikation, die in der 2022 erschienenen Autobiografie aufgelistet

wird, stammt sogar bereits von 1993: Georg Friedrich Haas, »Die Verwirklichung einer Utopie. Ultrachromatik und nicht-oktavierende Tonräume in Iwan Wyschnegradskys mikrotonalen Kompositionen«, in: Harmonik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Claus Ganter, Wien 1993, S. 87–100 (vgl. Georg Friedrich Haas, Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben, hrsg. von Daniel Ender und Oliver Rathkolb, Köln – Wien 2022, S. 275). Danach schrieb Haas beispielsweise noch den Text »Jenseits der zwölf Halbtöne. Versuch einer Synopse mikrotonaler Kompositionstechniken«, in: Next Generation. Georg Friedrich Haas (Programmheft), Salzburger Festspiele, 1999, S. 17–23. Die in diesem Zusammenhang 1999 erfolgte Uraufführung von … Wer, wenn ich schriee, hörte mich … markiert zugleich die immer stärkere Verlagerung zu Inhaltsästhetik und Ausdruckswillen im Schaffen des Komponisten. 2  Disclaimer: Meine Zusammenarbeit als Autor, Kurator, Veranstalter und Produzent mit Georg Friedrich Haas geht zurück auf die Recherchen für das von mir herausgegebene Lexikon zeitgenössischer Musik aus Österreich (Wien 1997) und umfasst u. a. die Uraufführungen von … Wer, wenn ich schriee, hörte mich … (Salzburger Festspiele 1999), in vain (Wien Modern 2000), … wie stille brannte das Licht für Sopran und Klavier (Philharmonie Luxembourg 2013), der Raumfassung von Zerstäubungsgewächse (ZeitRäume Basel 2015), des 9. Streichquartetts (2016), von Hyena (2016), ceremony (ZeitRäume Basel 2017), ceremony II (Wien Modern 2022) und Iguazú superior für ein bis zehn Schlagzeuge (Wien Modern 2022). 3  Vgl. Georg Friedrich Haas, »Ich bin kein spektraler Komponist«, in: les espaces sonores. Stimmungen – Klanganalysen – spektrale Musiken, hrsg. von Michael Kunkel, Saarbrücken 2016, S. 61 ff. [Dokumentation zum Projekt les espaces sonores. Stimmungen, Klanganalysen, spektrale Musiken an der

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Als ich ihn einige Jahre nach dieser Aussage von 2012 darauf hinwies, auf seiner Website stehe aber doch auch »Georg Friedrich Haas is a composer of spectral music«, meinte er so überrascht wie entschlossen, das gehöre sofort korrigiert. 4 Aber paradoxerweise führt diese ausgeprägte Abneigung des Komponisten Georg Friedrich Haas gegenüber allem Typisierten, Konventionellen und Normativen gleichzeitig mitten ins Thema dieses Texts. Die Sehnsucht danach, von der Tradition vorgegebene Kategorien hinter sich zu lassen, bewegte Haas ungefähr ab dem Alter von 28 Jahren dazu, an selten angefassten Schrauben des Musiklebens zu drehen. Raum- und Lichtnutzung waren und sind im Normalbetrieb der Konzert- und Opernhäuser bis zur Erstarrung konventionalisiert. Der künstlerisch offensive Umgang mit der vermeintlichen Neutralität, Objektivität und Unveränderbarkeit der festgefahrenen Standardsituation musikalischer Aufführungen westlicher Kunstmusik zeigt  – nicht nur bei Haas  – im 20. und 21.  Jahrhundert erkennbare Parallelen zum feministischen Umgang mit patriarchalen Mustern in vielen Gesellschaftsbereichen. Im Bereich der Literatur war es beispielsweise der zur Norm erstarrte Vergleich mit Shakespeare, der bei der Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Emilie Pine zu der Erkenntnis führte, dass »das Verschwinden des Selbst und die objektive Stimme seit Jahrhunderten überschätzt« 5 werden, was ihr beim Schreiben half, zu einer neuen Subjektivität zu finden – »denn mir ist klar geworden, dass man hier nichts bekommt, wenn man es sich nicht holt«. 6 Was bei Peter Ablinger »Composition beyond music« 7 heißt – dass experimentelle kompositorische Gestaltung keineswegs beim Schreiben von Tonhöhen, -dauern und -artikulationen aufhört –, zeigt sich bei Haas im Unterschied zu Ablinger zwar kaum an radikalen Öffnungen hin zur Konzeptkunst, zu Skulptur und Architektur, zu Installationen, zum Schreiben von poetischen Texten, verbalen oder grafischen Partituren. Haas bleibt Hochschule für Musik Basel und am Musikwissenschaftlichen Seminar Basel im Studienjahr 2011/12 sowie zum gleichnamigen Symposium an der Musik-Akademie Basel 7.–9.12.2012]. 4  Die betreffende Website, mutmaßlich eher eine Fanpage als eine offizielle eigene Website, ist inzwischen offline, die ungeliebte Bezeichnung als »Vertreter der Spektralmusik« findet sich aber [Stand 10.12.2022] noch auf 80 Websites, von Wikipedia über das österreichische Musikinformationszentrum mica – music austria bis zur Ernst von Siemens Musikstiftung. https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Friedrich_Haas https://db.musicaustria.at/node/55168 https://www.evs-musikstiftung.ch/de/preise/preise/foerderprojekte/kompositionsauftraege/kompositionsauftrag-georg-friedrich-haas.html-0 5  Anna Katharina Laggner, »Das Verschwinden des Selbst und die objektive Stimme wurden jahrhundertelang überschätzt. Ein Gespräch mit Emilie Pine«, in: Wien Modern 34: Mach doch einfach was du willst. 30.10.–30.11.2021. Festivalkatalog, Bd.  2: Essays, hrsg. von Bernhard Günther und­ Angela Heide, Wien 2021, S. 12. 6  Emilie Pine, Botschaften an mich selbst, München 2021, S. 14. 7  Titel mehrerer Workshops von Peter Ablinger bei der impuls Akademie Graz 2013 und 2015 sowie bei den Darmstädter Ferienkursen 2014, vgl. Peter Ablinger, »Composition beyond music«, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 23, hrsg. von Michael Rebhahn und Thomas Schäfer, Mainz 2016.



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(bislang, Stand 2022) fokussiert auf das auskomponierte Werk für Interpretinnen und Interpreten an Musikinstrumenten. Aber sein grundlegend experimentell forschender, dezidiert anti-konventioneller Zugang führte an vielen Momenten seines Schaffens dazu, dass die Parameter Raum und Licht radikal in die kompositorische Gestaltung einbezogen wurden. Wenn Haas gern auf die Musik von Tristan Murail, Gérard Grisey oder Enno Poppe verweist, um seiner eigenen Einordnung als »spektraler Komponist« zu widersprechen, ließen sich auf einen schnellen Blick sogar noch stärkere Argumente gegen seine Einordnung als »Raumkomponisten« finden: Bei Manos Tsangaris beispielsweise finden sich »Raum« oder »Space« in Titeln oder Untertiteln von 16 Werken, dazu kommen 14 weitere Arbeiten in der Kategorie »Raum«, die auf seiner Website auf einer Ebene mit der Kategorie »Stücke« behandelt wird. 8 Bei Olga Neuwirth kommen zu sieben Werken mit »Raum«, »Space« oder »Surround« im Titel oder Untertitel 16 Arbeiten in der Kategorie »Installations / Exhibitions / Performances« – Theater- und Filmmusik sowie Musiktheater und Oper nicht mitgezählt. 9 Die Werkliste von Rebecca Saunders weist – alle Versionen der im Wesentlichen fünf eindeutig räumlich komponierten Werke bzw. Werkgruppen mitgezählt  – bislang 24 Raumkompositionen aus. 10 Das Werkverzeichnis von Peter Ablinger lässt in einer fein verästelten Struktur Musik für Instrumente, Ensembles und Orchester zwischen »Hinweisstücken«, »Installationen«, »Konzert-Installationen«, »Musik ohne Klänge«, »Talking Performers«, »Permanenten Stücken«, »Durchgangsstücken«, »Freiluftkompositionen«, »Regenstücken«, »Probenstücken«, »Zeitstücken«, »Videostücken« u. v. a. auf den ersten Blick fast zur Randerscheinung werden. 11 Die Besetzungs-, Titelund Untertitelwahl bei Georg Friedrich Haas gibt hingegen wenige offensichtliche Hinweise auf Raumaspekte, zumal einer der zwei diesbezüglich deutlichsten Titel gleich auf eine falsche Fährte führt: Die Sieben Klangräume zu den unvollendeten Fragmenten des Requiems von W. A. Mozart für Chor und Orchester (2005) sind lediglich metaphorisch zu verstehen. Auch die Open Spaces in memory of James Tenney (2007) fanden – im Unterschied zum namensgebenden Werk In a Large, Open Space von James Tenney (1994) 12 – bei der Uraufführung im Warschauer Herbst 2007 weder in einem besonderen Raum noch mit räumlich verteiltem Ensemble noch mit umhergehendem Publikum, sondern klassisch auf der Bühne im Konzertsaal vor sitzendem Publikum statt. Erst bei einer späteren Aufführung kam die räum8  http://www.tsangaris.de [letzter Zugriff: 10.12.2022]. 9  http://www.olganeuwirth.com/works.php [letzter Zugriff: 10.12.2022]. 10  Rebecca Saunders [Work List], Leipzig – London – Glendale: Edition Peters, Mai 2022. 11  https://ablinger.mur.at/werke.html [letzter Zugriff: 10.12.2022]. 12  In a Large, Open Space within which the audience is able to move freely, for any 12 or more sus-

taining instruments (1994) komponierte James Tenney im Zusammenhang mit einem Aufenthalt in der Minoritenkirche Krems: Auf Einladung der Bundesmusikkuratoren Lothar Knessl und Christian Scheib fand dort im März 1995 unter dem Titel tuned ein Workshop mit LaMonte Young, Maryanne Amacher, Georg Friedrich Haas und James Tenney statt.



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liche Verteilung der zwölf Streichinstrumente und zwei Schlagzeuge ins Spiel. Das deutet auf einen pragmatischen Umgang mit Aufführungsbedingungen bei Haas, der den Raum erst allmählich, mit wachsendem Vertrauen in die Kraft der eigenen Utopie, in den Bereich des Gestaltbaren rückte.

I »Die lautlose Gewalt des zeitlich organisierten Raums« – Licht und Dunkelheit Im Bereich von Oper, Musiktheater und Tanzproduktionen ist die Gestaltung von Raum und Licht einerseits nichts grundsätzlich Ungewöhnliches, andererseits erfolgt sie typischerweise im Team. Daher wird dieser Bereich in diesem Text weitgehend ausgeklammert. Es lohnt sich jedoch, mit einem kurzen Blick auf das historisch erste Stück zu beginnen, in dem Haas Anweisungen für Licht und Dunkelheit in die Partitur schrieb – Adolf Wölfli, Kurzoper mit einem Libretto von Georg Friedrich Haas nach Texten von Adolf Wölfli (1981). In einem undatierten Text schreibt Haas über das Frühwerk: »Wichtig war mir, daß die musizierenden Instrumentalisten direkt in das dramatische Geschehen miteinbezogen sein sollten (gewissermaßen als integrierter Bestandteil jener Bühnenmaschinerie, der Wölfli ausgeliefert ist): Einige Partien sollten in völliger Finsternis realisiert werden (diese Stellen sind so komponiert, daß sie leicht auswendig gelernt werden können), im Schlußteil fungieren Lichtblitze (›zerhacktes‹ Licht) als Steuerung der Rhythmik des jeweiligen Klangwechsels. Die aleatorisch komponierte ›Tanzszene‹ ermöglicht, daß die Interpreten sich von den Notenpulten entfernen und wie die Figuren des Spielwerks einer Uhr mit Wölfli ›tanzen‹ können. (…) Eine zentrale Rolle in der Oper spielt das Licht. Zu Beginn (quasi als ›Ouverture‹) werden im Halbdunkel rhythmisch unabhängig die einzelnen Instrumentalgruppen (Streicher, Holzbläser, Klavier) sowie der Sänger (der einen kaum verständlichen Gebetstext vor sich hinmurmelt) vorgestellt: Sobald das Licht sich erhellt und die MusikerInnen deutlich beleuchtet, verstummen sie. (…) Das Erlöschen des Lichts, die völlige Finsternis (auch die Pultbeleuchtung muß erlöschen) ist nicht nur ein dramatisches Element, sie hat auch Auswirkung auf die musikalische Faktur: Die Abwesenheit von Licht führt zu verhältnismäßig einfachen, statischen, improvisierten musikalischen Gebilden; zuletzt wechseln nur mehr zwei Obertonakkorde (im Abstand einer vierteltönig vergrößerten großen Sekunde) ab, der Wechsel wird durch grelle Lichtblitze angegeben, auf die völlige Dunkelheit folgt – für den Zuschauer wird dadurch die Bewegung zum Stehbild, visueller und akustischer Eindruck nähern sich gegenseitig an.« 13 13  Georg Friedrich Haas, »Adolf Wölfli« [Werkeinführung], vgl. unter: https://www.universaledition.com/georg-friedrich-haas-278/werke/adolf-wolfli-1052 [letzter Zugriff: 10.12.2022].



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Adolf Wölfli war Teil der Wölfli Szenen, einer abendfüllenden Sammlung von vier Kurzopern nach Adolf Wölfli von Haas, Gösta Neuwirth, Anton Prestele und Wolfgang Rihm, die 1981 im Rahmen des Festivals steirischer herbst im Schauspielhaus Graz uraufgeführt wurde. »Der Regisseur 14 hat mich angebrüllt, ich sein ein Dilettant. Meine Anweisungen in der Partitur zu Dunkelheit und Lichtblitzen wurden in der Inszenierung nicht umgesetzt. Die Regisseurin Bettina Wackernagel 15 sagte mir viel später in Berlin während meiner Arbeit an in vain [2000], ›das war doch nicht dilettantisch, sondern eine gute Idee‹. Mit dieser Ermutigung habe ich mich getraut, Dunkelheit und Lichtblitze bei in vain zu verwenden. Ohne dieses Gespräch hätte es meine ganzen Stücke mit Licht und Dunkelheit möglicherweise nicht gegeben.« 16 in vain für 24 Instrumente (2000) stellt einen Wendepunkt in Haas’ Schaffen und Rezeption dar. Die These ist nicht allzu spekulativ, dass die überdurchschnittliche Zahl an Aufführungen und der große Erfolg des Ensemblewerks sich nicht zuletzt dem auffälligen Distinktionsmerkmal komponierter Momente völliger Dunkelheit im Konzertsaal verdanken. Mit der Widmung »Meinem verehrten Lehrer Friedrich Cerha in Dankbarkeit« gab Haas dem Stück aber auch eine Art Quellenhinweis mit auf den Weg: Cerhas bekanntestes Orchesterwerk, Spiegel I–VII, existiert in einer (bislang, Stand 2022, nie komplett realisierten) Version als »Bühnenwerk für Bewegungsgruppen, Licht und Objekte« (1960/61). Wie die Spiegel und wie weitere Licht und Raum einbeziehende Werke von Haas wurde auch in vain bei der Uraufführung zunächst ohne die Lichtebene der Partitur realisiert; der zu diesem Anlass im Almanach des Festivals Wien Modern erschienene Text hebt die Lichtgestaltung gleichwohl als zentralen Aspekt der Komposition hervor: »In einer der beiden Fassungen des Stücks wird die Beleuchtung aus der gewohnten Unauffälligkeit hervorgeholt; die Lichtintensität ist in der Partitur vorgeschrieben und reicht von ›konzertmäßiger Podiums- und Pultbeleuchtung‹ bis zu völliger Dunkelheit. Die im Finstern zu spielende Musik bringt dabei nicht nur Publikum und Ensemble in eine ungewohnte Lage, sondern zunächst auch den Komponisten: erstens sollten sich die Stimmen relativ leicht auswendig lernen lassen, zweitens 14  Christian Pöppelreiter, zwölf Jahre älter als Haas, war über Vermittlung des damaligen Agenten

Ioan Holender mit der Regie der Wölfli Szenen betraut worden; 1986 wurde er Gastprofessor an der damaligen Grazer Musikhochschule, 1988–2009 war er ordentlicher Professor. 15  Bettina Wackernagel studierte Musiktheaterregie mit Schwerpunkt zeitgenössische Musik und elektronische Medien. Als Regisseurin verantwortete sie zahlreiche Uraufführungen, u. a. bei den Salzburger Festspielen, der Münchner Biennale und der Ars Electronica in Linz. Seit den 1990er Jahren initiiert sie Festivalformate, die aktuelle Tendenzen elektronischer Musik und Kunst mittels gesellschaftlicher Diskurse beleuchten. 2014 gründete sie das Festival Heroines of Sound, für dessen künstlerische Konzeption sie seitdem verantwortlich ist. (https://www.wolke-verlag.de/musikbuecher/sabine-sanio-bettina-wackernagel-heroines-of-sound-book/ [letzter Zugriff: 12.12.2022]). 16  Georg Friedrich Haas, Gespräch mit dem Autor am 10.12.2022.



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muss alles zu Spielende mit dem Gehör kontrollierbar sein, und drittens ist es vergeblich, von einem unsichtbaren Dirigenten die Erfüllung seiner üblichen Aufgaben zu erwarten. Wenn wenige Minuten nach Beginn von in vain das Licht allmählich verschwindet, kommen die raschen, ineinander verwobenen Abwärtslinien des Anfangs zum Erliegen; es bleiben leise, liegende Töne übrig, die einander in mikrotonalen Schritten jeweils einen Halbton ausweichen. Die Musik – das bleibt auch in der (bei Wien Modern zu hörenden) Fassung ohne Lichtregie hörbar – bewegt sich in Nachtschwärze, orientiert sich von neuem, tastet sich vor.« 17 Mit dem 3. Streichquartett »in iij noct« (2001) vollzog Haas gleich danach den nächsten, deutlicheren Schritt: Das Werk ist vom Anfang bis zum Ende in völliger Dunkelheit zu spielen. Die Aufführung einer Version ohne Licht ist nicht mehr vorgesehen. Mit seiner Aufführungsdauer von rund 50 Minuten verlangt das Werk von den Interpretinnen und Interpreten, vom Veranstaltungsteam und dem Publikum, sich auf die ungewohnte Situation entschieden einzulassen. Der wiederum nächste Schritt, das bei der Abschlussveranstaltung der Donaueschinger Musiktage 2006 uraufgeführte Hyperion, Konzert für Licht und Orchester (2006), kombinierte ein entlang der Wände des Raums sitzendes Orchester, eine an den Wänden verteilte Licht-Raum-Installation und ein Publikum, das sich frei im Raum bewegen durfte (was es ohne besondere akustische Rücksichtnahme tat). Die Lichtkünstlerin rosalie 18 hatte ein über alle vier Wände gezogenes mehrere Meter hohes Lichtband aus Tausenden weißen Plastikeimern gestaltet, die von innen mit farbwechselnden LEDs beleuchtet wurden. Das Timing dieser Lichtebene folgte exakt der Partitur und diente als Zeichengeber für die im Raum verteilten Orchestergruppen. Das Projekt brachte für Haas eine überraschende Erfahrung im Umgang mit Licht und Raum. Haas hörte bei den ersten Proben das Werk zunächst mit Orchester ohne Licht und war dann fasziniert von der umgekehrten Situation in der technischen Generalprobe, bei der die Lichtebene ohne Musik, aber im Timing der Partitur zu erleben war: »Die lautlose Gewalt des zeitlich organisierten Raums – ich muss gestehen, das war sogar noch stär17  Bernhard Günther, »Zu in vain von Georg Friedrich Haas«, in: Wien Modern 2000. Ein Festival mit Musik unserer Zeit, hrsg. von Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer, Saarbrücken 2000, S. 110– 113, vgl. unter: https://www.universaledition.com/georg-friedrich-haas-278/werke/in-vain-7566 [letzter Zugriff: 10.12.2022]. 18  rosalie (Gudrun Müller, 1953–2017) war eine deutsche Lichtkünstlerin, die nach dem Studium in Stuttgart (Germanistik, Kunstgeschichte, Malerei, Grafik, Plastisches Arbeiten, Bühnenbild) ab 1979 als freischaffende Künstlerin experimentelle Raum- und Figurenkonzepte, Gemälde, Skulpturen und Installationen schuf. Daneben war sie Bühnen- und Kostümbildnerin für Oper, Schauspiel, Ballett, experimentelle Musik und Film. Seit 1995 lehrte sie Bühnen- und Kostümbild an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main, 2003 leitete sie eine Meisterklasse für Bühnenbild im Rahmen der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg. 2002–04 war sie Jurymitglied des Bayerischen Theaterpreises, 2002 Gründungsmitglied der Hessischen Theaterakademie Frankfurt/M.



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ker als die Musik. Leider haben nur etwa fünf Personen diese Generalprobe gesehen und innerlich gehört.« 19 Haas schlug spontan vor, in der Nacht nach der Orchesteraufführung die lautlose »Lichtfassung« ohne Orchester mehrfach öffentlich aufzuführen. »Leider kam es nicht dazu. Ich glaube, die Musikgeschichte hätte eine andere Wendung genommen, wenn diese lautlose Musik wahrgenommen worden wäre.« 20 Nocturno für Frauenchor und Akkordeon, diesmal im Unterschied zu Hyperion wieder in völliger Dunkelheit zu spielen (2013), entstand im Auftrag des Theaters Bonn und beschränkte mit seiner Dauer von ca. 10 Minuten den Aufwand des notwendigen Auswendiglernens der Partitur für den Opernchor im Verhältnis zum 3. Streichquartett deutlich. Das Stück bildete die Einleitung zu einem musiktheatralischen Projekt mit den beiden Kantaten Haiku und ATTHIS in der Inszenierung von Florian Lutz. »Hier werden die Zuschauer angehalten, sich Schlafmasken aufzusetzen. Damit ausgestattet, werden sie in den Aufführungsraum geführt, versinken stehend in tiefster Dunkelheit, und wer sich auf diese Situation einlässt, wird mit einem Hörerlebnis von beispielloser Intensität belohnt. Die 15 Minuten vergehen wie im Fluge. Als der erste Orchesterschlag des ersten Haiku-Teils die Dunkelheit beendet und man geblendet in die neonkalte Helligkeit starrt, glaubt man kaum, dass die Zeit schon vorbei ist.« 21 Aufschlussreichen Einblick in Haas’ bewusstes Komponieren für konkrete Interpreten und Interpretinnen geben das 9. Streichquartett und das 10. Streichquartett: Beide entstanden 2016 mehr oder weniger gleichzeitig, beide sind über die gesamte Dauer von jeweils 40–45 Minuten in völliger Dunkelheit auswendig zu spielen. In beiden Werken traut Haas den Interpreten und Interpretinnen nach dem Erlebnis der Aufführung des 3. Streichquartetts durch das JACK Quartet deutlich mehr zu als 15 Jahre zuvor. In beiden Quartetten wird Bezug auf den Atem genommen. Damit enden die Gemeinsamkeiten: Die Partituren beider Quartette sehen extrem unterschiedlich aus. Das Zehnte wirkt mit seinen teilweise sehr dichten Noten und Arpeggi auf den ersten Blick virtuoser. Im Neunten gibt es sehr viele langsame Bewegungen durch den Tonhöhenraum und extrem präzise Anweisungen, was die Teiltöne und die Intonation anbelangt. Das 9. Streichquartett wurde für das JACK Quartet komponiert und setzt auf einen gleichberechtigten Umgang aller vier Instrumente miteinander sowie auf ein blindes Verständnis für mikrotonale Tonhöhen. Das 10. Streichquartett entstand für das Arditti Quartet und nutzt die herausragende Stellung der 19  Georg Friedrich Haas, Gespräch mit dem Autor am 10.12.2022. 20  Georg Friedrich Haas in der Korrespondenz mit dem Autor über diesen Text am 12.12.2022. 21  Detlef Brandenburg, »Durch Dunkelheit zum grellen Alltag. Georg Friedrich Haas, Nocturno«,

in: Die deutsche Bühne, 27.3.2013, vgl. unter: https://www.die-deutsche-buehne.de/kritiken/durchdunkelheit-zum-grellen-alltag/ [letzter Zugriff: 12.12.2022].



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Primgeige und eine ausgeprägte Leidenschaft für virtuose Herausforderungen. Ursprünglich gab es nur einen Auftrag für ein einziges Quartett, bald wurde jedoch klar, dass wenige Tage nach der Wiener Uraufführung durch das JACK Quartet eine weitere Aufführung durch das Arditti Quartet in Huddersfield stattfinden würde. »Mit einem traditionell notierten Quartett hätte das wunderbar funktioniert. Aber es muss im Dunkeln gespielt werden, und beide Ensembles sind dermaßen unterschiedlich in ihrer Persönlichkeitsstruktur, ihrer musikalischen Erfahrung, dass es ›wasting of a gift of God‹ gewesen wäre, Verschwendung einer Gottesgabe, wenn ich den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen beiden Streichquartetten gesucht hätte. Ich musste also zwei Streichquartette schreiben, eines für JACK und eines für Arditti. (…) Mein Management war verzweifelt darüber, dass ich zwei Streichquartette zum Honorar von einem schreibe, aber es gibt immer noch so etwas wie künstlerische Entscheidungen.« 22 Solstices für zehn Instrumente (in völliger Dunkelheit zu spielen) (2018) ist das mit ca. 70 Minuten bislang längste der im Dunklen zu spielenden Werke von Georg Friedrich Haas. Auch dieses nach Sonnenwenden benannte Werk verdankt sich einem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Komponist und Ensemble: Die mit 44 hochkomplexen Seiten auf den ersten Blick unmöglich im Dunkeln zu realisierende Partitur entstand im Auftrag des Riot Ensemble und insbesondere auf Anregung von dessen Dirigenten, Geschäftsführer und Künstlerischem Leiter Aaron Holloway-Nahum (der selbst Komponist ist). Solstices bietet eine Art Spielanweisung für eine dynamische, mit höchster Aufmerksamkeit füreinander agierende Gruppe: Neben mehr oder weniger ausnotierten Passagen werden in der Partitur auch Prozesse beschrieben, die einzelne Musikerinnen und Musiker jederzeit oder innerhalb bestimmter Abschnitte auslösen können. Das Hören eines so langen, subtilen, doch überraschend ereignis- und abwechslungsreichen Werks in völliger Dunkelheit bietet eine frappierende, berührende Erfahrung. Das 11. Streichquartett (2019) setzt eine ungewöhnliche Besetzung (1 Violine, 1 Viola, 2 Violoncelli) sowie Skordaturen ein und gehört mit etwa 25 Minuten zu den kürzeren der in völliger Dunkelheit zu spielenden Werken von Haas. Es endet abrupt mit dem plötzlichen Einschalten des Lichts. Es entstand als Teil der Musiche per Matera und leitet damit über zur Gruppe der ortsspezifischen Werke.

22  Georg Friedrich Haas im Gespräch mit Bernhard Günther, »›Wenn es wichtig ist, muss man da-

rüber reden‹. Über die Sprache der Musik, den Umgang mit dem Rechtspopulismus, seine Kindheit in einer Nazi-Familie und seine neuesten Werke«, in: Wien Modern 29. Die letzten Fragen. 30.10.– 30.11.2016. Festivalkatalog, Bd.  2: Essays, hrsg. von Bernhard Günther und Dennis Gerlach, Wien 2016, S. 78.



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II Ortsspezifische Werke Das erste Werk, das Georg Friedrich Haas eigens für einen spezifischen Ort außerhalb üblicher Konzert- oder Opernhäuser komponierte, war Ritual, Freiluftmusik für zwölf große Trommeln und drei Blaskapellen sowie Kirchenglocken ad libitum (2004). Das gut einstündige Werk wurde im Rahmen des Festivals Klangspuren Schwaz 2005 in Galtür uraufgeführt. Die Gegend kennt Haas aus seiner Kindheit; sein Vater war Abteilungsleiter bei den Vorarlberger Illwerken gewesen, die im Montafon entlang der Silvrettastraße mehrere Speicherwasserkraftwerke zur Elektrizitätsgewinnung betreibt, vom Stausee oberhalb Galtürs bis nach Partenen, wo in den späten 1960er Jahren die Intuition eines Alteingesessenen  – »jätz gommr!«  – die Dorfgemeinschaft gerade noch rechtzeitig vor einer Lawine rettete, welche kurz nach dem Verlassen des Dorfes die Häuser zerstörte. In den Bergen habe Haas gelernt, »die Natur in ihrer Gewalt und in ihrer Schönheit zu fürchten und zu lieben« 23. Ritual erinnerte an die erst fünf Jahre zurückliegende Katastrophe von Galtür vom Februar 1999, die mit 38 Todesopfern eines der größten Lawinenunglücke in der Geschichte Österreichs war. Drei Blaskapellen mit insgesamt 180 Musikerinnen und Musikern, koordiniert von vier Haupt- und 18 Subdirigenten, bewegten sich am Hang des Grießkogel auf einem Areal von rund 400 Metern Durchmesser – in jenem Bereich, in dem 1999 die tödliche Lawine herunterkam. Zu den Blaskapellen kamen 12 große Trommeln, die durch funkgesteuerte Clicktracks zeitlich genau koordiniert wurden. Zu Beginn des Stücks waren diese Trommeln weit entfernt und über eine Strecke von 1.400 Metern verteilt, sodass die objektiv gleichzeitig gespielten Trommelschläge infolge der doch relativ langsamen Schallgeschwindigkeit vom Publikum als immer leiser werdende Repetitionen wahrgenommen wurden. Je näher die Trommeln im Verlauf des Stücks den Blasorchestern und dem Publikum kamen, desto rascher und lauter wirkten die Repetitionen. Zuletzt vereinten sich die Schlaginstrumente vor dem Lawinenhang oberhalb des Alpinariums, das als Bestandteil der 345 Meter langen und 19 Meter hohen neuen Lawinenschutzmauer 2003 eröffnet worden war. Neben der Bewegung im Raum war auch der zeitliche Ablauf des Stücks sehr präzise organisiert: Genau zu jeder Viertelstunde machte die Musik eine kurze Pause, um die Schläge der Kirchenuhr hörbar werden zu lassen. »An diesem Ort kann ›Ritual‹ gar nicht anders gehört werden denn als große Trauermusik. Deswegen belässt es Haas nicht bei einer Naturbeschwörung, deswegen fragt er zugleich nach der Verantwortung des 23  Carsten Fastner, »Mit dem Rücken zur Wand. Die Uraufführung einer Freiluftmusik von Georg Friedrich Haas war ›Ritual‹ und Reflexion zugleich«, in: spuren. Zeitung für ZeitgenossInnen [Festivalmagazin Klangspuren Schwaz], September 2005, S.  3, vgl. unter: https://www.yumpu.com/de/ document/view/5848566/klangspuren-zeitung-sept05-klangspuren-schwaz-tirol [letzter Zugriff: 10.12.2022].



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Raubbau treibenden, Profit maximierenden Menschen für die Naturkatastrophe  – nicht ohne einen entscheidenden Hinweis auf das wahre Verhältnis zwischen Mensch und Natur zu geben: Die geballten sonoren Kräfte dreier Blaskapellen und eines Dutzends Schlagwerker nämlich, sie verpuffen auf dieser Bühne zu vom Winde verwehten Klangschwaden. Gegen den Berg ist selbst mit militär-musikalischer Hilfe kein Ankommen.« 24 2005–13 leitete Haas eine Kompositionsklasse an der Hochschule für Musik in Basel und stand dort in engem Kontakt mit der Schola Cantorum Basiliensis, in deren Umfeld u. a. Stimmungen und Musikinstrumente mit 21–36 Tönen pro Oktave aus der Renaissance erforscht und rekonstruiert wurden. Ab 2011 setzte Haas sich mit dem ursprünglichen Impulsgeber Beat Gysin und mit Marcus Weiss für die Gründung von ZeitRäume Basel – Biennale für neue Musik und Architektur ein. 2012 wurde ich von den dreien ins minimalistische Gründungsteam geholt und entwickelte und leitete daraufhin das 2015 erstmals veranstaltete Festival bis 2021, zuletzt gemeinsam mit Anja Wernicke. Einer meiner ersten Vorschläge im Gespräch mit Haas und Gysin 2012 war die Entwicklung einer ortsspezifischen, begehbaren Konzertinstallation für das Kunstmuseum Basel. Die Sammlung mit Gemälden des 15.–20. Jahrhunderts im Hauptbau aus dem Jahr 1936, von Holbein über Böcklin, Hodler, Cézanne, van Gogh und Picasso bis Gerhard Richter, erwies sich als einer der Lieblingsorte von Georg Friedrich Haas. Aus dieser Ausgangskonstellation entstand für die Eröffnung der zweiten Festivalausgabe im September 2017 die Komposition ceremony, Musik für 36 Instrumente aus sechs Jahrhunderten und vier Gesangsstimmen, eine vierstündige Konzertinstallation 25 im Kunstmuseum Basel (2017). Für die räumlich über das gesamte 1. Stockwerk verteilten und zeitlich über Stoppuhren koordinierten 40 Mitwirkenden komponierte Haas präzise Wechsel zwischen »Tutti«- und »Laboratoriums«-Passagen: Im »Tutti« realisieren alle Instrumente einen Gesamtklang, im »Laboratorium« wird in jedem Raum ein unabhängiger Klang bzw. Prozess realisiert. Zudem stellte die »Mise en espace« des Werks enge Verknüpfungen zwischen Bild und Musik her: Die Hörner der Basel Sinfonietta saßen quasi in den Alpenlandschaften von Ferdinand Hodler. Neben Arnold Böcklins Toteninsel spielte nahezu über die gesamte Dauer hinweg ein Akkordeon in den höchsten Tönen, einen Raum weiter, vor Johann Heinrich Füsslis Romeo an der Bahre Julias, war eine Barockcel24  Ebd. 25  Die relativ etablierte Bezeichnung »Konzertinstallation« ist hinsichtlich des prägenden Format-

charakters – einer die übliche Konzertdauer deutlich überschreitenden Live-Aufführung auf räumlich verteilten Musikinstrumenten, bei der das Publikum Beginn und Ende des Zuhörens ebenso frei wählen kann wie den Weg durch den Raum, das Gehtempo und die Verweildauern an einzelnen Stellen  – möglicherweise etwas klarer als die von Haas in der Werkliste seiner 2022 erschienenen Autobiografie für ceremony, ceremony II und Musiche per Matera gewählte Bezeichnung »instrumentale Klanginstallation« oder der ebenfalls gebräuchliche Begriff »Installationsperformance«. Allerdings steigt mit der Distanz zu traditionellen Settings und Formaten auch die Unklarheit der Begriffe.



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listin positioniert – unausgesprochen hatte Haas hier Musik zu Liebe und Tod komponiert. »Das Kunstmuseum Basel, wo das Stück aufgeführt wird, ist ein ganz wunderbarer Ort. Meiner Meinung nach lassen sich die Bilder in zwei Perioden unterteilen: Die eine reicht vom 16. und 17. Jahrhundert ausgehend in die Vergangenheit, bei der zweiten Periode handelt es sich um das 19. und das frühe 20. Jahrhundert. Ich verbinde diesen ersten Zeitabschnitt mit historischen Musikinstrumenten und das 19. Jahrhundert mit dem traditionellen Symphonieorchester. (…) In den verschiedenen Räumen wird Musik gespielt, die in gedanklichem Zusammenhang steh(t) mit den Bildern, die in diesem Raum ausgestellt sind. (…) Es ist auf keinen Fall so, dass die Bilder direkt zur Musik führen. Ich habe Klangvorstellungen, die mit dem Raum und den Ausdruckskategorien der Bilder zusammenhängen. Diese Verbindung ist jedoch immer sehr abstrakt und nie illustrativ, ausser bei einem Bild: Es gibt ein VanitasBild von Sebastian Stoskopff, auf dem ein Notenblatt mit Mensuralnotation zu sehen ist, welches so detailliert abgemalt wurde, dass es gut lesbar ist. Diese Musik wird dann auch in meinem Werk von zwei Renaissanceflöten gespielt.« 26 »Die ceremony kann man nur im Kunstmuseum Basel machen«, war die klare Aussage des Komponisten; zu eng war die Verbindung der Instrumente, Stimmungen und Harmonien mit den Bildern, um über einen anderen Aufführungsort für diese Komposition nachzudenken. Zudem kamen viele der historischen Instrumente bis hin zu einer Orgel, mehreren Cembali und Harfen aus Basel. Ungefähr ein Jahr später informierte ich Georg Friedrich Haas über das 2020 für Wien Modern geplante Festivalthema Stimmung und lud ihn ein, mir Vorschläge für ein Projekt zu machen. Wenige Minuten später rief er mich zurück mit der überraschenden Ansage: »Wir machen ceremony II im Kunsthistorischen Museum«. Das 1871–91 erbaute Museum in Sichtweite der Hofburg ist um einiges größer, repräsentativer, katholischer, barocker und opulenter als das diskrete, vergleichsweise protestantisch und nüchtern anmutende Kunstmuseum Basel. Die Gemäldegalerie im 1. Stock umfasst die Kunstsammlungen der Habsburger, insbesondere großformatige Ölgemälde des 15.–18.  Jahrhunderts. Die Besetzung des neuen Werks fiel daher deutlich größer aus, wobei die alten Basler Instrumente ebenso Bestandteil des Projekts blieben wie die Dauer von vier auskomponierten Stunden. Eine der wesentlichen Neuerungen gegenüber der Basler ceremony waren drei Konzertflügel im zentralen Kuppelsaal, deren Subpartitur allein 623 Notenseiten auf digitalen Tablets umfasst, in Nähe zu sechs Trompeten im Stiegenhaus. Die enge Bindung zwischen Klang und 26  Georg Friedrich Haas, »ceremony«, in: ZeitRäume Basel. Biennale für neue Musik und Architektur. 16.–24.09.2017 [Festivalkatalog], Basel 2017, S. 66.



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Bild wurde für Wien deutlich gelockert, zumal die Hängung der Bilder aufgrund vieler nicht von einem solchen Projekt aus steuerbaren Faktoren immer wieder wechselt. Auch die Idee der »Tutti«-Passagen wurde für Wien aufgegeben, da Haas bereits im deutlich weniger weitläufigen Basler Museum festgestellt hatte, dass der Gesamtklang an keiner Stelle je komplett hörbar war. Die Stimmen umfassen Stimmtabellen mit unzähligen auf fünf bis acht Nachkommastellen berechneten Tonhöhen; eine Partitur gibt es nicht, die Koordination erfolgt über simultan gestartete Uhren. Aufgrund zweier pandemiebedingter Lockdowns mit Veranstaltungsverbot im November 2020 und November 2021 wurde die Uraufführung von ceremony II, Musik für 75 Instrumente aus sechs Jahrhunderten, einer vierstündigen Konzertinstallation im Kunsthistorischen Museum Wien (2020–22) schließlich im dritten Anlauf im November 2022 zu einem der Höhepunkte der 35. Festivalausgabe von Wien Modern. Matera, eine Jahrtausende alte Stadt in der süditalienischen Region Basilikata mit rund 60.000 Einwohnern, lud Georg Friedrich Haas ein, im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas 2019 eine mehrstündige Stadtmusik zu komponieren. Daraus entstand Musiche per Matera, eine Konzertinstallation für sechs Soloinstrumente, mindestens fünf Schlaginstrumente, drei im Sechsteltonabstand gestimmte Klaviere, Streichorchester mit mittel­ tönig gestimmter Orgel und süditalienischer Blasmusikkapelle sowie dem 11. Streichquartett (2019). Musiche per Matera umfasste sechs Konzerte an sechs musikalischen Stationen im historischen Stadtzentrum und in den Rioni Sassi, den 1993 in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen, in den Tuffstein gehauenen Stadtvierteln am Rand der Schlucht Gravina. Verbunden wurden die Stationen durch Wanderungen durch die stufenreiche Stadt mit einer Blaskapelle, die Marschmusik mit ständig absteigenden Shepard-Skalen spielte. Haas setzte sich mit der Geschichte und Architektur der großenteils in Höhlen angelegten Stadt auseinander und kombinierte laute Passagen auf Straßen und Plätzen mit subtilen Momenten wie dem 11. Streichquartett, das spät in der Nacht in einem der unterirdischen Räume in völliger Dunkelheit uraufgeführt wurde. Als Composer-in-residence des Grafenegg Festivals 2022 realisierte Georg Friedrich Haas knapp zwei Jahrzehnte nach dem Ritual in Galtür im September 2022 im Schlosspark von Grafenegg eine ähnlich groß besetzte Landschaftskomposition: die Parkmusik für Grafenegg für vier 27 Blasmusikkapellen (2022). 160–200 Mitwirkende aus fünf niederösterreichischen Blasmusikkapellen, aufgeteilt auf zehn Stimmgruppen (bzw. elf, da die am häufigsten vorhandenen Klarinetten geteilt wurden), beginnen auf einer Fläche von etwa 500 Metern Durchmesser an weit auseinanderliegenden 27  Komponiert war die Parkmusik für vier Kapellen zu je 40 Personen. Angesichts der laufenden

Coronavirus-Pandemie wurde für den Fall, dass es zu krankheitsbedingten Ausfällen kommen könnte, eine weitere Blaskapelle hinzugezogen.



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Positionen im Park zu spielen. Die Gruppen bewegen sich allmählich in Richtung Wolkenturm, wo sie längere Tuttipassagen spielen, teilweise ebenfalls in Marschbewegungen, um dann wieder auseinanderzugehen  – »in Richtung der Individualisierung jedes Einzelnen und jeder Einzelnen, die dieses Stück dann aufführt«. 28

III Nicht-ortsspezifische Werke mit räumlicher Instrumentation Neben diesen wenigen, aber spektakulären ortsspezifischen Arbeiten sowie den markanten Werken mit Einsatz von Licht bzw. Dunkelheit, in denen die Wahrnehmung des Raums v. a. durch sein optisches Verschwinden beeinflusst und irritierend zu Bewusstsein gebracht wird, hat Georg Friedrich Haas über viele Jahre hinweg bewusst auch in ›normalen‹ Ensemblewerken verschiedenste Raumaspekte kompositorisch genutzt, beginnend bei der Wahl und Positionierung der Instrumente. Das zeigt sich im Kleinstmaßstab bei einer nahezu choreografischen Gestaltung der Bewegungen von acht Händen auf einer einzigen (mikrotonalen) Tastatur in den (bislang, Stand 2022, noch unaufgeführten) Les Espaces für Vierteltonklavier zu acht Händen (2019) oder, etwas größer, im Spiel mit dem Dopplereffekt weit ausschwingender Metallplatten im Schlagzeugpart von AUS.WEG für Flöte, Baritonoboe, Bassklarinette, Schlagzeug, Klavier, Violine, Viola und Violoncello (2009–10). »Seit 15 Jahren habe ich nicht mit vorgegebenen Zeitstrukturen gearbeitet, seit acht Jahren nicht mit Akkordreihen. Dieser ›Rückfall‹ in frühere Kompositionsweisen war eine erst aufregende, dann immer stärker beunruhigende Erfahrung. Gegen Ende des Stückes befreie ich mich von diesen kompositionstechnischen Reminiszenzen. Das Schwingen der aufgehängten Metallinstrumente (Pendellänge: 160 bis 200 cm) ist zeitlich nicht kontrollierbar. Für die Hörerinnen und Hörer ist es wahrscheinlich egal, mit welchen Fragen der Kompositionstechnik ich mich herumschlage. Ich hoffe aber, dass der Akt der Befreiung, den ich beim Schreiben dieser Musik erlebt habe, sich auch Anderen mitteilt.« 29 Am anderen Ende der Besetzungsgrößenskala stehen Raumaspekte der Instrumentenpositionierung in zwei Opern: Nacht, Kammeroper in 24 Bildern, Libretto: G. F. Haas nach Texten von Friedrich Hölderlin (1996), verwendet normal gestimmte und umgestimmte Instrumente.

28  Georg Friedrich Haas im Gespräch mit dem Team von Grafenegg, vgl. unter: https://www.you tube.com/watch?v=G4JjQoyZgdI (bei 2:10, [letzter Zugriff: 10.12.2022]). 29  Georg Friedrich Haas, »AUS-WEG« [Werkeinführung], in: Wittener Tage für neue Kammermusik 2010 [Programmbuch], S.  63, vgl. unter: https://www.universaledition.com/georg-friedrichhaas-278/werke/aus-weg-13626 [letzter Zugriff: 10.12.2022].



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»Der Instrumentenwechsel bei Celli und Kontrabässen wäre ein starker dramatischer Effekt gewesen, der möglicherweise sogar vom Bühnengeschehen abgelenkt hätte. Daher entschied ich mich, diese Instrumente um das Publikum herum aufzustellen, die Spieler*innen wechselten möglich unauffällig den Platz. Diese praktische Notwendigkeit bescherte mir den schönen Effekt, dass die Obertonakkorde und die mikrotonalen Cluster sich dann räumlich entfalten konnten.« 30 Die schöne Wunde, Oper in zwei Abschnitten, Libretto: G. F. Haas nach Texten von Franz Kafka, Edgar Allan Poe, William Shakespeare, Aretino, Rosa Luxemburg und Ovid (2003), beginnt im 1. Akt mit einem links und rechts vom Publikum aufgestellten Orchester. »Die Pendelbewegung von Edgar A. Poe wird räumlich komponiert – die Menschen im Zuschauerraum werden quasi zum Gefangenen, der etwas sich Bewegendes wahrnimmt; erst nur ein wenig, dann immer mehr.« 31 Eine letzte Bemerkung im Zusammenhang mit seinem Opernschaffen sei an dieser Stelle wiedergegeben, weil sie das der Musik von Haas zugrunde liegende Verständnis von Klang im Raum auf den Punkt bringt: »Oper kann etwas, was der Film nicht kann: Klang-Theater. Mit real musizierenden, singenden, sprechenden Menschen. Wir können Menschen im Raum positionieren, die ihr Theater mitten in diesem Klang entstehen lassen. Der Film ist auf ein paar Lautsprecher reduziert. Was in meiner Oper Thomas durch rund 360 umgestimmte Saiten physisch im selben Raum passiert, wie das atmet und lebt – das ist viel mehr als im Kino möglich wäre. Hier spüre ich die Chance für Opern der Gegenwart: Eine szenische Gestaltung, die – wie der Film – das Ziel hat, ein starkes Zusammenwirken von Sprache, Bild und Klang herzustellen. Das aber – im Gegensatz zum Film – von der Musik ausgeht, nicht von der Szene.« 32 Zurück in den Konzertsaal: Das älteste der Ensemblewerke mit starkem räumlichen Potenzial war Zerstäubungsgewächse. Unveränderungen für acht Schlagzeuger und Streichquartett (1989), dem Haas 2015 schließlich für einen von Beat Gysin im Kollektivprojekt Chronos für das Festival ZeitRäume Basel – Biennale für neue Musik und Architektur konzipierten Raum mit Drehbühne eine »Mise en espace« angedeihen ließ. Das Streichquartett saß mit dem Publikum auf der Bühne, die acht Schlagzeugerinnen und Schlagzeuger waren außerhalb davon positioniert, Drehgeschwindigkeit und Drehpausen wurden mitkomponiert. 30  Georg Friedrich Haas, Korrespondenz mit dem Autor am 12.12.2022. 31  Georg Friedrich Haas, Korrespondenz mit dem Autor am 12.12.2022. 32  Georg Friedrich Haas, Gespräch mit dem Autor am 7.4.2022, zit. nach: Bernhard Günther, »Welt-

bezug und Wirksamkeit. Überlegungen zur Musik von Georg Friedrich Haas«, in: JA, MAI. Spielzeit 2021–22 [Festivalprogrammbuch], Staatsoper München 2022, S. 334 f.



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»Ich spürte [1989], dass ich in diesem Stück Neuland betreten hatte – umgangssprachlich ausgedrückt: ›der erste echte Haas‹. (…) Gerne hätte ich die Schlagzeuger um das Publikum herum aufgestellt, mit dem Streichquartett in der Mitte. Aber in der Situation eines traditionellen Konzertsaals war das nicht möglich, ohne lange Umbauzeiten in Kauf zu nehmen. Zudem hätte sich der grosse Abstand der Instrumente als problematisch erwiesen. Beat Gysins drehbare Bühne [im Projekt Chronos 2015 im Volkshaus Basel] ermöglicht es nun, 26 Jahre nach der Uraufführung, diesen Traum zu verwirklichen.« 33 Bei Open Spaces in memory of James Tenney für zwölf Streichinstrumente und zwei Schlagzeuge (2007) dauerte es weniger lang, bis die Version für vierchörige Raumdisposition der Instrumente realisiert wurde: Zwei Monate nach der Warschauer Uraufführung Ende September 2007 mit dem AUKSO Chamber Orchestra fand im Berliner Ballhaus Naunynstraße die Uraufführung der Raumfassung Open Spaces II durch das Ensemble Resonanz statt. Dieses sorgte auch im November 2022 für die räumliche Aufführung des Werks im Wiener Musikvereinsgebäude im Rahmen des Festivals Wien Modern, bei der erstmals das Foyer im Erdgeschoss sowie die ehemalige Kutschendurchfahrt bespielt wurden. In der nicht räumlichen Fassung nutzt Haas nur auf metaphorischer Ebene »Tenneys Technik, innerhalb eines Obertonakkordes frei zu ›wandern‹« 34. In der Raumfassung kann sich das Publikum in der Tat frei bewegen zwischen den sechs in einem Obertonakkord auf dem Kontra-C (der tiefsten Saite des Kontrabasses) gestimmten und den anderen sechs Streichinstrumenten – letztere »bilden in ihrer Stimmung einen ›Schatten‹ dieser Stimmung einen Sechstelton tiefer (…), haben aber die Möglichkeit, (…) einen Einklang mit den anderen Instrumenten zu suchen« 35. Ebenfalls vom Ensemble Resonanz uraufgeführt wurde das produktionstechnisch deutlich aufwendigere Stück Release für Ensemble (2016): Release wurde komponiert für den Kammermusiksaal der Elbphilharmonie Hamburg anlässlich der Eröffnung 2017. Die Aufführung ist allerdings durchaus denkbar in Sälen mit ähnlichen architektonischen Merkmalen, insbesondere der Möglichkeit, Instrumente an unterschiedlichen Stellen des Saals zu bewegen und zu positionieren. 36 »Der Titel Release – ›Befreiung‹ – spielt sicher nicht nur auf das erlösende Gefühl an, das für die ganze Stadt und die internationale Musikwelt von 33  Georg Friedrich Haas, »Zerstäubungsgewächse. Unveränderungen«, in: ZeitRäume Basel – Biennale für neue Musik und Architektur 2015 [Festivalkatalog], S. 51. 34  Georg Friedrich Haas, »Open Spaces. Werkeinführung«, vgl. unter: https://www.universaledition. com/georg-friedrich-haas-278/werke/open-spaces-12865 [letzter Zugriff: 10.12.2022]. 35  Ebd. 36  Daher wird das Werk hier nicht den ortsspezifischen Werken zugeordnet. In der Werkliste in der Autobiografie wurde es vermutlich unabsichtlich weder unter den »sonstigen« (ortsspezifischen) Werken noch unter Werken für Kammerorchester genannt.



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der Eröffnung der Elbphilharmonie ausgeht. Haas beschränkt sich auch nicht auf die ›freigelassenen Klänge‹ allein. Die Widmung an die berühmte amerikanische Sexualtherapeutin Barbara Carrellas verweist auf die befreienden – oder sollte man sagen: entsichernden – Erfahrungen, die Georg Friedrich Haas in den vergangenen Jahren in New York mit seiner neuen Ehefrau Mollena Lee Williams-Haas gemacht hat. In mehreren großen Interviews hat Haas beschrieben, wie die Entdeckung seiner lange unterdrückten Sexualität ihn befreit und auch als Künstler zu neuer Schaffenskraft beflügelt hat. Zugleich blickte er schonungslos auf seine Familienbiografie und sah auch hier seinen eigenen Abgründen ins Gesicht. Dass Haas sich dafür entschieden hat, diese privaten Themen öffentlich zu verhandeln, hat vermutlich unmittelbar mit seinem Ethos als Künstler zu tun: als Mensch, der mit seinem Leben und seinem Schaffen beispielhaft eintritt für die bedrohte Utopie der Freiheit. Die ekstatischen Qualitäten, die von den intensiven Obertonspielen des Komponisten ausgehen, können den Hörer über sich und aus sich herausführen. ›Ins Offene‹, hätte Hölderlin, den Georg Friedrich Haas oft vertonte, vielleicht gesagt. Nur keine Angst vor dieser Schwelle.« 37 Iguazú superior, antes de descender por la Garganta del Diablo existiert in zwei Versionen: für vier Schlagzeuge (2018–19) und für ein bis zehn Schlagzeuge mit variabler Instrumentenwahl (2018–19/20). Je größer die Besetzung, umso spürbarer wird der Raumeffekt: Die Uraufführung der zweiten Fassung mit dem Ensemble Motus Percussion unter Leitung des Widmungsträgers Christoph Sietzen fand im Rahmen von Wien Modern 2022 statt. Die zehn Musikerinnen und Musiker mit ihren raumgreifenden KlangwerkAufbauten (bis hin zu Baumstämmen) bildeten in der Mitte der Säulenhalle des MAK – Museum für Angewandte Kunst einen Kreis von mehreren Metern Durchmesser. Die in Richtung einer räumlichen Installationsperformance gehende Wirkung des beeindruckenden Stücks wird verstärkt durch seine potenziell endlose Dauer, es lässt sich im Loop spielen. Ein Durchlauf dauert ungefähr 50 Minuten, die Uraufführung in der Säulenhalle des MAK im Rahmen des Festivals Wien Modern 2022 dauerte zweieinhalb Stunden. Das vom Fließen des Wassers oberhalb der gigantischen Wasserfälle am brasilianisch-argentinischen Grenzfluss Iguazú superior inspirierte Stück mit seiner Illusion permanenter Beschleunigung versteht Haas als spirituelles Ritual: »Denken Sie beim Spielen daran [an die Spiritualität] und stellen sich vor, Sie rufen Geister: ›Gelobt sei Jesus Christus. In Ewigkeit. Amen.‹« 38 37  Patrick Hahn, »Georg Friedrich Haas: Release« [Programmhefttext], Hamburg: Elbphilhar­

monie, 2017, vgl. https://www.ricordi.com/de-DE/News/2017/01/Haas-Release [letzter Zugriff: 10.12.2022]. 38  Georg Friedrich Haas im Gespräch mit Sophie Elisabeth Kössel im Rahmen der Lehrveranstaltung »Festivalbegleitung Wien modern 2022« (Mag. Dr. Angela Heide), Universität Wien, Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Wintersemester 2022, vgl. unter: https://www.instagram. com/p/Cl7UG5eqcRB/ [letzter Zugriff: 10.12.2022].



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Abb. 1:  Georg Friedrich Haas, Iguazú superior, antes de descender por la Garganta del Diablo für ein bis zehn Schlagzeuge mit variabler Instrumentenwahl (2018–2019/20), Uraufführung am 26.11.2022 im MAK Wien im Rahmen von Wien Modern durch Motus Percussion unter der Leitung von Christoph Sietzen (Foto: Markus Sepperer)

Ein nächstes großes Raumstück, dessen Uraufführung durch das Klangforum Wien nach mehreren pandemiebedingten Verschiebungen für 2023 in Bozen geplant ist (mit Folgeaufführungen bei Wien Modern und den Berliner Festspielen), nennt Haas 11.000 Saiten, Musik für 50 umgestimmte Pianinos und Kammerorchester (2020). 50 Klaviere werden konventionell gleichstufig, aber im Abstand von 2 Cent zueinander gestimmt, wodurch der Tonhöhenabstand vom ersten zum letzten Klavier gerade einmal einen Halbton beträgt. Benachbarte Klaviere liegen quasi noch in der Schwankungsbreite unterschiedlich starker Anschlagstechniken. Je weiter die räumliche Distanz, umso spürbarer auch die Stimmungsdifferenz. Die Klaviere sollen außen an den Wänden des Aufführungsraums stehen, das 24-köpfige Ensemble in der Saalmitte, dazwischen befindet sich das Publikum. Das 2022 bei den Donaueschinger Musiktagen durch das Ensemble Modern uraufgeführte weiter und weiter und weiter für großes Ensemble (2022) beschränkt sich hinsichtlich des Raums auf einen einfachen performativen Effekt: Gegen Ende des Stücks stehen die Musikerinnen und Musiker nacheinander auf und verlassen die Bühne. Aber die präzise Nutzung der Assoziationen einer kleinen räumlichen Intervention zur Fühlbarmachung der Aussage des Stücks zeigt den Raumkomponisten Georg Friedrich Haas ganz in seinem Element. »Vor einigen Jahren schrieb ich meine Memoiren nieder. Erinnerungen an die Kindheit und Jugend  – in einer Familie, die sich selbst als ›anständige Nationalsozialisten, die ihrer Gesinnung immer treu geblieben sind‹ definierte. Ich schrieb über die Gewalt und den Missbrauch, denen



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ich ausgesetzt war. Und ich beschrieb das Netzwerk der Altnazis, das Österreich durchdrang, und von dem ich einen kleinen Teil mit eigenen Augen und Ohren wahrnehmen konnte. Als 17-Jähriger hatte ich Gedichte voller Weltschmerz verfasst. Sie sind verschollen, und ich erinnere mich nur an wenige Zeilen. Eine davon lautete ›weiter und weiter und weiter‹ – und dann sagte ich irgendwie, dass die Qual immer dieselbe bliebe. Meine Memoiren werden demnächst veröffentlicht  – wissenschaftlich aufgearbeitet. Während ich an dem Werk für das Ensemble Modern und Donaueschingen arbeitete, war ich im Austausch mit den Herausgebern. Und meine Vergangenheit wurde mir ständig präsent. (…) A(m) Ende zitiere ich Haydns Abschiedssymphonie. Nicht als alleruntertänigstes Ersuchen an Seine Erlaucht, doch endlich die Gnade der Heimreise zu gewähren, sondern als Statement: Wir haben immer die Möglichkeit, aufzustehen und wegzugehen.« 39

III Nachbemerkung: Steigerung der Kontrolle oder Aufgabe der Kontrolle? Je mehr Parameter in der Partitur fixiert und vorgeschrieben werden, umso mehr übernimmt der Komponist oder die Komponistin die Kontrolle. Mit zunehmender Ausdifferenzierung der Licht- und Raumparameter in der Partitur sinkt die Bereitschaft des Komponisten oder der Komponistin, Licht und Raum in einer Aufführungssituation dem Zufall oder anderen Menschen zu überlassen. Der im Zusammenhang mit Hyperion geprägte Satz »Licht ist ein Musikinstrument« 40 ist auch ein Claim – wie das Licht (oder der Raum) gestaltet wird, ist nicht ohne den Komponisten oder die Komponistin zu entscheiden. Um diesem Zug zur Kontrolle, der für Haas durchaus eine bewusste Rolle spielt, 41 einen komplementären Aspekt gegenüberzustellen, soll abschließend noch ein letztes Zitat des Komponisten zur 39  Georg Friedrich Haas, »weiter und weiter und weiter« [Werkeinführung], in: Donaueschinger

Musiktage. 13.–16.10.2022 [Programmbuch], Donaueschingen 2022, S.  133 f., vgl. unter: https:// www.swr.de/swrclassic/donaueschinger-musiktage/donaueschinger-musiktage-2022-georg-friedrich-haas-weiter-und-weiter-100.html [letzter Zugriff: 10.12.2022]. 40  »Licht ist ein Musikinstrument. Eine Veränderung der Farben verändert die Wahrnehmung der Klänge. Zeitlich strukturiertes Licht wirkt wie ein lautloses Schlagzeug. Seit vielen Jahren (seit meiner Kurzoper Adolf Wölfli aus dem Jahr 1981) versuche ich, für dieses Musikinstrument zu schreiben.« Georg Friedrich Haas, »Hyperion. Werkeinführung«, in: Donaueschinger Musiktage 2006 [Programmbuch], Donaueschingen 2006, S.  94, vgl. unter: https://www.universaledition.com/georgfriedrich-haas-278/werke/hyperion-12730?form=scenic [letzter Zugriff: 12.12.2022]. In der Korrespondenz zur Vorbereitung der »Mise en espace« der Uraufführung von Iguazú superior 2022 ergänzte Haas dieses Zitat zu »Licht ist ein lautloses Schlaginstrument« und schloss eine zeitlich nur lose an der Partitur orientierte Lichtebene so pointiert wie dezidiert aus: »Das Hinzufügen weiterer AccelerandoSchichten durch Licht wäre ungefähr so, als würde man bei der Aufführung einer Bach-Orgelfuge die Kirchentüren öffnen  – und das Thema wäre zusätzlich noch von Autohupen gespielt zu hören.« (Georg Friedrich Haas, 23.8.2022). 41  »Kontrolle ist nur dann gut, wenn sie den Kontrollierten Freude bereitet. Und das Ergebnis eine tiefe Befriedigung verschafft.« (Georg Friedrich Haas im Austausch mit dem Autor über diesen Text, 12.12.2022).



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Sprache kommen, das eine andere Lesart suggeriert: Die kompositorische Integration von Licht und Raum ist für Georg Friedrich Haas Teil eines bewussten Prozesses der Öffnung, Befreiung, Erweiterung und emotionalen sowie spirituellen Aufladung des Spielfeldes. 42 »Es kommt bei Komponisten und Komponistinnen vor, dass sie Dinge tun, bei denen nicht klar ist, warum sie das machen. Als ich in vain schrieb [2000], wo ich zum ersten Mal nach der Oper Adolf Wölfli wieder Dunkelheit eingesetzt habe, hatte ich ein sehr schlechtes Gewissen – in einem Stück, in dem es um Aufklärung geht, Dunkelheit zu verwenden ist scheinbar kontraproduktiv. Ich hatte nur das Gefühl, es muss so sein, deswegen habe ich das getan. Die Begründung hat mir der Journalist Marco Frei in seiner Rezension der Uraufführung der Oper Koma 2016 in der NZZ nachgeliefert – diese Musik kann nicht von ›Befehlsgebern und Befehlsempfängern‹ 43 gespielt werden. Das ist eine Musik, bei der alle, die an der Aufführung mitarbeiten, aufeinander hören müssen und gemeinsam die Verantwortung übernehmen. Es ist wesentlich, dass das Spielen im Dunkeln eine ganz andere Musizierhaltung erfordert als das übliche Zusammenspiel. Nicht nur existiert die Möglichkeit visueller Kontakte nicht mehr, sondern man ist in viel größerem Ausmaß auf den Klang an sich angewiesen und kann nur mit dem Klang kommunizieren. Das heißt ja auch, man kann nur in absoluter Offenheit miteinander kommunizieren. Wenn Musiker nach einer Partitur spielen, haben sie eine Geheimschrift vor sich, in der ihnen eine Botschaft mitgeteilt wird. Wenn man im Dunkeln spielt, gibt es diese Geheimschrift nicht, die Kommunikation ist für alle gleichermaßen nachvollziehbar. Durch grundsätzlich menschliche Dispositionen, Emotionen und sinnliche Wahrnehmung miteinander zu verbinden, kann das Hören im Dunkeln zu einem tiefen Erlebnis werden. Wenn man sich im Dunkeln sicher fühlen darf und die Konnotation mit Bedrohung wegfällt, hat das eine spirituelle Komponente.« 44 42  In seiner Autobiografie schildert Haas die Begegnung mit der Musik von John Cage als einen der drei wesentlichen Faktoren für die Loslösung vom nationalsozialistischen Elternhaus: »Die Begegnung mit der Musik von John Cage hat mich zu mir selbst gebracht. Die künstlerische Kraft seiner Werke und ihre zutiefst humanistische Konzeption hatten mich unmittelbar ergriffen. Mir wurde klar, dass ich mich entscheiden musste: entweder für die ›Gesinnung‹ meiner Eltern – oder für Cages unabdingbare Forderung nach innerer Freiheit. Ich entschied mich für Cage.« Haas, Durch vergiftete Zeiten (Anm. 1), S. 40. Kompositionstechnisch wie -ästhetisch lassen sich kaum offensichtliche Einflüsse von Cage bei Haas ausmachen, im zunehmenden Streben nach Freiheit hingegen schon. 43  »Reine Befehlsgeber und Befehlsempfänger scheitern mit dieser Partitur, weil das notwendige Auswendigspielen in Dunkelheit nicht zuletzt viel gegenseitiges Vertrauen voraussetzt. (…) Mit dem Aufeinander-Achten und -Hören in partnerschaftlichem Sinn, das die Partitur einfordert, stellt Haas überdies kompositorisch eine Mitmenschlichkeit in den Raum, die in der Gesellschaft oft fehlt.« Marco Frei, »So klingt Mitmenschlichkeit in tiefer Finsternis«, Neue Zürcher Zeitung, 31.5.2016, vgl. unter: http://www.nzz.ch/feuilleton/schwetzinger-festspiele-so-klingtmitmenschlichkeit-in-tiefsterfinsternis-ld.85626 [letzter Zugriff: 10.12.2022]. 44  Georg Friedrich Haas im Gespräch mit Bernhard Günther (Anm. 22), S. 77.



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Werkübersicht Werke mit Licht / Dunkelheit Adolf Wölfli, Kurzoper mit einem Libretto von Georg Friedrich Haas nach Texten von Adolf Wölfli (1981) in vain für 24 Instrumente (2000) 3. Streichquartett »in iij noct« (2001) Hyperion. Konzert für Licht und Orchester (2006) Nocturno für Frauenchor und Akkordeon (2013) 9. Streichquartett (2016) 10. Streichquartett (2016) Solstices für zehn Instrumente (2018) 11. Streichquartett (1 Violine, 1 Viola, 2 Violoncelli, in scordatura) (2019) Ortsspezifische Werke Ritual. Freiluftmusik für zwölf große Trommeln und drei Blaskapellen ­ sowie Kirchenglocken ad libitum (2004) ceremony. Musik für 36 Instrumente aus sechs Jahrhunderten und vier ­ Gesangsstimmen. Vierstündige Konzertinstallation 45 im Kunstmuseum Basel (2017) Musiche per Matera. Konzertinstallation für sechs Soloinstrumente, ­ mindestens fünf Schlaginstrumente, drei im Sechsteltonabstand gestimmte Klaviere, Streichorchester mit mitteltönig gestimmter Orgel, süditalienischer Blasmusikkapelle (sowie dem 11. Streichquartett) (2019) ceremony II. Musik für 75 Instrumente aus sechs Jahrhunderten. Vierstündige Konzertinstallation im Kunsthistorischen Museum Wien (2020–22) Parkmusik für Grafenegg für vier Blasmusikkapellen (2022) Nicht-ortsspezifische Werke mit räumlicher Instrumentation Zerstäubungsgewächse. Unveränderungen für acht Schlagzeuger und Streichquartett (1989/2015, Raumfassung)

45  Vgl. Anm. 25.



Georg Friedrich Haas als Raumkomponist 

Nacht. Kammeroper in 24 Bildern, Libretto: G. F. Haas nach Texten von Friedrich Hölderlin (1996) Die schöne Wunde. Oper in zwei Abschnitten, Libretto: G. F. Haas nach Texten von Franz Kafka, Edgar Allan Poe, William Shakespeare, Aretino Rosa Luxemburg und Ovid (2003) Open Spaces II in memory of James Tenney für zwölf Streichinstrumente und zwei Schlagzeuge (2007, Version für vierchörige Raumdisposition der Instrumente) AUS.WEG für Flöte, Baritonoboe, Bassklarinette, Schlagzeug, Klavier, ­ Violine, Viola und Violoncello (2009–10) Release für Ensemble (2016) Iguazú superior, antes de descender por la Garganta del Diablo für vier Schlagzeuge (2018–19) Iguazú superior, antes de descender por la Garganta del Diablo für ein bis zehn Schlagzeuge mit variabler Instrumentenwahl (2018–19/20) Les Espaces für Vierteltonklavier zu 8 Händen (2019) 11.000 Saiten. Musik für 50 umgestimmte Pianinos und Kammerorchester (2020) 46 weiter und weiter und weiter für großes Ensemble (2022)

46  11.000 Saiten hatte Haas in seiner für die Autobiografie 2022 ausgewählten Werkliste im Unter-

schied zu Solowerken, Kammermusik, Kammerorchester, Sinfonieorchester, Vokalwerken sowie Opern und Tanztheater der Kategorie »Sonstiges« zugeordnet. Mit Ausnahme der Verschiebung dieses Werks ist die Kategorie »Sonstiges« bei Haas ansonsten deckungsgleich mit der Kategorie »Ortsspezifische Werke« in diesem Text. 11.000 Saiten wird geplantermaßen 2023 u. a. in Bozen, Wien und Berlin in unterschiedlichen Konzertsälen ur- und erstaufgeführt und ist damit trotz besonderer räumlicher Anforderungen an den Aufführungsort nicht ortsspezifisch.



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Abstracts George E. Lewis: I Can’t Breathe: A Virtual Dialogue. George E. Lewis, with Georg Friedrich Haas and Marco Blaauw I can’t breathe (2014), Georg Friedrich Haas’s work for solo trumpet, was written both as a response to the police murder in New York of an African American citizen, Eric Garner, and more generally as a companion piece to the Black Lives Matter movement. The work took on renewed relevance with the 2020 police killing of George Floyd, which sparked international antiracist protests. A discussion of the work’s conception and reception with the composer and trumpeter Marco Blaauw, who premiered the piece, asserts that the work challenges the field of new music to explore the relation among musical form and expression, race, and social justice.

✳ Jim Igor Kallenberg: Allusions to Music, Sexuality and Skin Color. In Conversation with Georg Friedrich Haas Drawing on the publicly conducted discussion of the sexuality of Georg Friedrich Haas and his views on, involvement in and affectedness by racism, the composer addresses the ways in which constellations of sexuality and skin color are reflected through music in a conversation with musicologist and critic Jim Igor Kallenberg. Sexuality is addressed as a constituent of harmony and critically interrogated regarding the possibility and necessity of emancipation – of both dissonance and sexual emancipation, and beyond both. The question of racism is dealt with on the niveau of the musical facture and the music industry and its psychological dimension.

✳ Daniel Ender: The great I am I or What Belongs to a Composer’s biography? Georg Friedrich Haas: »Life« … »and« … »Work« A few years ago, Georg Friedrich Haas made people sit up and take notice with two non-musical confessions: As a child, he grew up in a National Socialist family and used to believe this ideology himself. Furthermore, he is sexually dominant and realizes his fantasies with his wife Mollena Williams-Haas. The intimate area is the subject of a documentary, the political (but at the same time very personal) part is the subject of Haas’s autobiography. But what does actually belong to the biography of a composer? Didn’t Roland Barthes and Michel Foucault fundamentally change the category of



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the author? Is it conceivable to create analogies to works of art based on fragments of the life story? The article outlines some of these questions without attempting to solve them.

✳ Barbara Barthelmes: Composing the Synergetics of the Senses. Georg Friedrich Haas – on the Perception and Effect of his Music Wherever Georg Friedrich Haas’s music is heard, it provokes intense listening experiences in its listeners. The author answers the question of what this effect might be based on with the thesis that Haas creates a synergy of the senses on various levels: in the performance situation, where the listener’s attention is activated by the use of light and integration of the listener into the sound event; in a specific design of the music, with which Haas addresses the ability of perception to create intermodal analogies; and with sound spaces that mirror the indeterminate spaces of feeling in their movement and formation, as defined by the phenomenologist Hermann Schmitz in the term mood or atmosphere.

✳ Thomas Meyer: Micro Cuts, Macro Shouts. Speculations about Sharp, Unsharp and other Sound In the opera Bluthaus and the orchestral piece limited approximations, there are different uses of microtonal and spectral sounds. They may be described as sharp and unsharp and allow different associations such as pain, memory or flying. Starting from reflections on the sharpness and unsharpness, the text develops some parallels to music theory, art and philosophy and speculates about the possible connotations.

✳ Gesine Schröder: Scaffolding and Skeleton. On Georg Friedrich Haas’s own Arrangement of his Cantata the last minutes of inhumanity (2018) Time and again, Georg Friedrich Haas rewrote complete compositions, fragments or typical sound materials by other composers, including those by Josquin des Prez, Giacinto Scelsi, Franz Schubert, Felix Mendelssohn Bartholdy, Aleksandr Skrjabin and, on several occasions, Wolfgang Amadé Mozart. Haas, however, rarely rewrote, revised or adapted his own pieces. Among the few pieces of which more than one version exists is the cantata the last minutes of inhumanity (2018), of which the second version from the



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following year is »only« an orchestration. Here Haas mechanically multiplies events, a return of his treatment to the extracted foreign material.

✳ Bernhard Günther: Georg Friedrich Haas as a Composer of Space. On the Musical Organization of Space, Light and Darkness in his Works between 1981 and 2022 This text about ›Georg Friedrich Haas as a Composer of Space‹ gives an overview of the musical organization of space, light and darkness in his works between 1981 and 2022. A short introduction mentions Haas’s inclination to defy categorization and puts the use of space, light and darkness in his musical compositions in the context of artistic strategies to overcome the alleged neutrality, objectivity and immutability of standardized settings of Western arts music in the 20th and 21st centuries, citing the frequent use of spatial aspects in the titles and subtitles of works by Manos Tsangaris, Olga Neuwirth, Rebecca Saunders and Peter Ablinger. The first chapter, ›The silent power of temporally organized space‹, discusses all compositions by Haas which use light and/or darkness as part of the performance. The second chapter presents all site-specific works. The third chapter lists all nonsite-specific works with spatial instrumentation. The final chapter compares two potentially opposing implications of defining space, light and darkness as part of the written score – an increase of control by the composer on one hand, an increase of freedom, emotion, spirituality and an expansion of the playing field of contemporary music on the other hand.



Bibliografische Hinweise Daniel Ender: »Eigenzeit der Harmonien – und das Ende der Melodie: ein Einblick in die Kompositionsweise von Georg Friedrich Haas am ­ Beispiel von ›… und …‹ für Kammerensemble und Elektronik (2008/09)«. In: Live Electronics im/in the SWR Experimentalstudio. Hrsg. von Dániel Péter Biró [u. a.]. Hofheim 2019. S. 155–166. Lisa Farthofer: Georg Friedrich Haas: »Im Klang denken«. Diss. Saar­ brücken 2007. Werner Grünzweig: Wie entsteht dabei Musik? Gespräche mit sechs ­ Komponisten und einer Komponistin über ihre Studienzeit. Peter Ablinger, Orm Finnendahl, Georg Friedrich Haas, Hanspeter Kyburz, Bernhard Lang, Isabel Mundry, Enno Poppe. Neumünster 2019. Georg Friedrich Haas: Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben. Hrsg. von Daniel Ender und Oliver Rathkolb. Köln – Wien 2022. Ulrich Mosch: »Klangwandlungen: Georg Friedrich Haas’ ›Introduktion und Transsonation‹ (2012)«. In: Scelsi revisited backstage. Hrsg. von Björn Gottstein. Büdingen 2020. S. 164–176. Gesine Schröder: »Verschwommene Klänge, Sirren, schöne Täuschung. Österreich theoretisieren via Georg Friedrich Haas«. In: Musik & Ästhetik 20 (2016) H. 78. S. 20–31. Gesine Schröder: »Pop Art mit Exitus. Tonalitäten-Gefechte in Georg Friedrich Haas’ ›Anachronism‹«. In: Am Rand derr Tonalität: Brüche – ­ Rekonstruktionen – Nachleben. Hrsg. von Volker Helbing, Ariane Jeßulat und Michael Polth. Würzburg 2020. S. 539–552.



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Zeittafel* 1953

Georg Friedrich Haas wird am 16. August in Graz ­ geboren 1955 Übersiedlung der Familie nach Latschau/Tschagguns (Vor­arlberg) 1963–71 Bundesgymnasium Bludenz, Musikunterricht bei Gerold A ­ rnann 1971 Matura mit Auszeichnung 1972–79 Studien an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz: Komposition (u. a. bei Ivan Eröd und Gösta Neuwirth), Klavier (Doris Wolf) und Musikpädagogik seit 1978 Unterrichtstätigkeit an der Grazer Musikhochschule (zuletzt Kontrapunkt, zeitgenössische Kompositionstechniken, Werkanalyse, Einführung in die mikrotonale Musik) 1979 Förderungspreis für Musik des Bundesministeriums für ­Wissenschaft, Forschung und Kultur 1981–83 postgraduelles Studium bei Friedrich Cerha an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien 1980/88/90 Besuch der Darmstädter Ferienkurse 1991 Teilnahme am »Stage d’Informatique Musicale pour compositeurs« am IRCAM Paris 1992/93 Stipendiat der Salzburger Festspiele 1992 Sandoz Preis 1993 Erste-Bank-Kompositionspreis 1998 Ernst-Krenek-Preis der Stadt Wien für die Kammeroper Nacht 1999 »Next Generation«-Komponist bei den Salzburger Festspielen 1999/2000 Stipendiat des DAAD in Berlin 2000/01 vorübergehende Übersiedlung nach Irland 2001 1. Platz im ROSTRUM (1. Violinkonzert, ein Beitrag des ­Radio Berlin Brandenburg) 2004 Festivalkomponist von »ars musica« in Brüssel *  Quellenangabe: Georg Friedrich Haas, Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben, hrsg.

von Daniel Ender und Oliver Rathkolb, Wien 2022, S. 273–274. Abdruck erfolgt mit Einverständnis des Verlages, des Autors und der Herausgeber.



2004 2004 2005

Zeittafel

Preis der Stadt Wien für Musik Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen Preis der deutschen Schallplattenkritik für die CD-Aufnahme des 1. und 2. Streichquartetts mit dem Kairos Quartett 2005 Verleihung des Andrzej-Dobrowolski-Kompositions­ preises 2004 der Steirischen Landesregierung in Graz 2005–13 Leitung einer Kompositionsklasse an der Hochschule für Musik der Musik-Akademie der Stadt Basel 2005 Schwerpunkt Georg Friedrich Haas bei den Klangspuren Schwaz 2006 Festivalkomponist des Borealis-Festivals in Bergen (Norwegen) 2007 Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises der Republik Österreich 2010 Kompositionspreis des SWR-SO Baden-Baden und Freiburg für limited approximations in Donaueschingen seit März 2011 Mitglied des österreichischen Kunstsenats 2011 Composer-in-residence des Lucerne Festivals 2012 Ernennung zum Mitglied der Akademie der Künste Berlin 2013 Musikpreis Salzburg seit 2013 MacDowell Professor of Music an der Columbia University New York 2015 Ernennung zum Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 2016 Ehrenmitglied des Wiener Konzerthauses 2017 1. Platz in der von der italienischen Musikzeitschrift ­ Classic Voice veröffentlichten Umfrage (»Le musiche piu belle dal 2000 a oggi«) 2018 Dokumentarfilm The Artist & the Pervert von Beatrice Behn und Rene Gebhardt 2021 Hyena (Musikfilm mit Unterstützung des Festivals Time Spans, New York) mit Mollena Williams, Regie: Jack Perez (zahlreiche Auszeichnungen)



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Autorinnen und Autoren Barbara Barthelmes studierte in Würzburg und Berlin Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie und promovierte über »Raum und Klang. Das musikalische und theoretische Schaffen Ivan Wschnegradskys«. Ihre inhaltlichen Interessen – die zeitgenössische Musik, Klangkunst, Musik und Bildende Kunst, Musikästhetik und Musikvermittlung  – hat sie in unterschiedliche Arbeitskontexte eingebracht: als Lehrerin in der Schule, in die universitäre Lehre (UdK Berlin, Universität Bielefeld); in die Projektarbeit, unter anderem im Netzwerk Neue Musik der Kulturstiftung des Bundes; in die Vermittlung als Mithrsg. der Zeitschrift Musica, als Redaktionsbeirätin bei der Zeitschrift positionen und als Musikredakteurin bei den Berliner Festspielen. Daniel Ender, Studium der Musikwissenschaft, Philosophie, Germanistik und Sprachwissenschaft sowie Instrumental-(Gesangs-)pädagogik in Wien, Promotion mit einer Arbeit über Beat Furrer; 2001–2010 Redaktioneller Mitarbeiter, 2011–2012 Chefredakteur, 2013–2014 Hrsg. der Österreichischen Musikzeitschrift; seit 2006 ständiger freier Mitarbeiter der Tageszeitung Der Standard (Wien); seit 2010 Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten, 2013–2015 Senior Scientist an der Universität Klagenfurt; seit 2015 Leiter der Abteilung Wissenschaft/Kommunikation, seit 2018 Generalsekretär der Alban Berg Stiftung (Wien). Jüngste Buchveröffentlichungen: Les métamorphoses du son. La musique de Beat Furrer, traduit par Catherine Fourcassié, Genève 2019 (dt. Fassung: Metamorphosen des Klanges. Studien zum kompositorischen Werk von Beat Furrer, Kassel 2014); Zuhause bei Helene und Alban Berg. Eine Bilddokumentation, Wien 2020; Georg Friedrich Haas, Durch vergiftete Zeiten. Memoiren eines Nazibuben, hrsg. von Daniel Ender und Oliver Rathkolb, Wien 2022. Bernhard Günther ist seit 2016 Künstlerischer Leiter des Festivals Wien Modern. 2012–22 leitete er ebenfalls das 2015 erstmals an die Öffentlichkeit getretene Festival ZeitRäume Basel – Biennale für neue Musik und Architektur, 2004–16 war er als Chefdramaturg der Philharmonie Luxembourg u. a. für das Festival rainy days verantwortlich. Nach unvollendeten Studien an der Musikhochschule Lübeck (Violoncello) und der Universität Wien (Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft, Sprachwissenschaft u. a.) kam er 1994 als Hrsg. des Lexikons zeitgenössischer Musik aus Österreich ans mica  – music information center austria, wo er bis 2004 als Kurator und stellvertretender Geschäftsführer tätig war. Als leidenschaftlicher Besucher und Veranstalter von Konzerten unterschiedlichster Genres und Formate, als Autor, Hrsg., Dramaturg und Kurator für verschiedene Verlage, Medien



Autorinnen und Autoren

und Veranstalter, als Jurymitglied (u. a. Kranichsteiner Musikpreis, Deutscher Musikrat, Impuls neue Musik) sowie als Gelegenheitsmusiker setzt er sich seit über 25 Jahren intensiv mit neuer Musik und ihrem Umfeld auseinander. Bernhard Günther wurde 1970 in Thun/Schweiz geboren, ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Wien. Jim Igor Kallenberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt. Er arbeitet an einer Dissertation zu Richard Wagners Gesamtkunstwerk und der Darmstädter Nachkriegsavantgarde. Zuvor war er künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt ARS:art-research-sound an der Gutenberg-Universität/Hochschule für Musik Mainz. Er arbeitet zudem als Dramaturg, Kritiker und Publizist im Bereich zeitgenössische Musik und Musiktheater. Er war Dramaturg bei Wien Modern und in Produktionen bei den Musiktheatertagen Wien, Transart Bozen, Oper Frankfurt, Heidelberger Frühling, Gessnerallee Zürich, Impuls Festival Graz u. a. Als freier Journalist arbeitete er u. a. für Deutschlandfunk Kultur, hr2-kultur, WDR3 und für verschiedene Organe der zeitgenössischen Musik (nmz, NZfM, MusikTexte u. a.). Seit 2015 arbeitet er in der Konzeption und Redaktion des Wolke Verlags mit. Er ist Mithrsg. von partisan notes und Vorsitzender der Frankfurter Gesellschaft für Neue Musik. George E.  Lewis ist ein amerikanischer Komponist, Musikwissenschaftler, Computer-Installationskünstler, und Posaunist. Er ist Edwin H. Case Professor of American Music an der Columbia University, und Area Chair im Fach Komposition and Fakultät für Historische Musikwissenschaft. Er ist Fellow der American Academy of Arts and Sciences, der American Academy of Arts and Letters, Corresponding Fellow der British Academy, Mitglied der Akademie der Künste Berlin, MacArthur Fellow, Guggenheim Fellow, und Träger des Doris Duke Artist Award. Er ist seit 1971 Mitglied der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) und seine Kompositionen, die bei Edition Peters erschienen sind, wurden von Ensembles auf der ganzen Welt aufgeführt. Er gilt weithin als Pionier der interaktiven Computermusik und entwickelt Programme, die gemeinsam mit menschlichen Musikern improvisieren. Lewis ist der Autor von A Power Stronger Than Itself: The AACM and American Experimental Music (University of Chicago Press 2008) und Mithrsg. des zweibändigen Oxford Handbook of Critical Improvisation Studies (2016). Lewis erhielt die Ehrendoktorwürde der University of Edinburgh, des New College of Florida, der Harvard University, und der University of Pennsylvania u. a. Lewis ist derzeit Künstlerischer Leiter des International Contemporary Ensemble. (https://music. columbia.edu/bios/george-e-lewis).



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Autorinnen und Autoren

Thomas Meyer, Studium der Musikwissenschaft und der Literaturkritik an der Universität Zürich. Freischaffender Musikessayist, lange tätig für den Tages-Anzeiger Zürich und für Schweizer Radio SRF 2 Kultur sowie für diverse Zeitungen, Fachzeitschriften, Rundfunkanstalten und Konzertveranstalter. Vortrags-, Unterrichts- und Forschungstätigkeit, u. a. an Schweizer Musikhochschulen und der Volkshochschule Zürich. Mitglied des Kuratoriums des Musikfestivals Bern. 2016 Atelierstipendium der Stiftung Landis&Gyr in London. Gesine Schröder, geb. 1957, lehrt musiktheoretische Fächer an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig (seit 1992), 2012–22 außerdem an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und 2017–20 als Part-time-Lecturer am Konservatorium Shanghai. Arbeitsgebiete: Kontrapunkt um 1600, Geschichte der Musiktheorie, der musikalischen Interpretation, Orchestration in Theorie und Praxis, Gender-Studien, aktuelle Musik, Artistic Research. Cellistin. Ulrich Tadday, geb. 1963, Studium der Musikpädagogik und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Dortmund und Bochum; Staatsexamina, Promotion und Habilitation; seit 2002 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bremen; seit 2004 Hrsg. der MUSIK-KONZEPTE.

Bisher sind in der Reihe Musik-Konzepte erschienen Claude Debussy (1/2) 2. Aufl., 144 Seiten ISBN 978-3-921402-56-6 Mozart Ist die Zauberflöte ein Machwerk? (3) – vergriffen – Alban Berg Kammermusik I (4) 2. Aufl., 76 Seiten ISBN 978-3-88377-069-7 Richard Wagner Wie antisemitisch darf ein Künstler sein? (5) 3. Aufl., 112 Seiten ISBN 978-3-921402-67-2 Edgard Varèse Rückblick auf die Zukunft (6) 2. Aufl., 130 Seiten ISBN 978-3-88377-150-2 Leoš Janáček (7) 2. Aufl., 156 Seiten ISBN 978-3-86916-387-1 Beethoven Das Problem der Interpretation (8) – vergriffen – Alban Berg Kammermusik II (9) 2. Aufl., 104 Seiten ISBN 978-3-88377-015-4 Giuseppe Verdi (10) 2. Aufl., 127 Seiten ISBN 978-3-88377-661-3 Erik Satie (11) 3. Aufl., 119 Seiten ISBN 978-3-86916-388-8 Franz Liszt (12) 127 Seiten ISBN 978-3-88377-047-5 Jacques Offenbach (13) 115 Seiten ISBN 978-3-88377-048-2 Felix Mendelssohn Bartholdy (14/15) 176 Seiten ISBN 978-3-88377-055-0 Dieter Schnebel (16) 138 Seiten ISBN 978-3-88377-056-7

J. S.  Bach Das spekulative Spätwerk (17/18) 2. Aufl., 132 Seiten ISBN 978-3-88377-057-4

Aleksandr Skrjabin und die Skrjabinisten II (37/38) 182 Seiten ISBN 978-3-88377-171-7

Karlheinz Stockhausen … wie die Zeit verging … (19) 96 Seiten ISBN 978-3-88377-084-0

Ernst Křenek (39/40) 176 Seiten ISBN 978-3-88377-185-4

Luigi Nono (20) 128 Seiten ISBN 978-3-88377-072-7

Joseph Haydn (41) 97 Seiten ISBN 978-3-88377-186-1

Modest Musorgskij Aspekte des Opernwerks (21) 110 Seiten ISBN 978-3-88377-093-2

J. S.  Bach »Goldberg-Variationen« (42) 106 Seiten ISBN 978-3-88377-197-7

Béla Bartók (22) 153 Seiten ISBN 978-3-88377-088-8

Franco Evangelisti (43/44) 173 Seiten ISBN 978-3-88377-212-7

Anton Bruckner (23/24) 163 Seiten ISBN 978-3-88377-100-7

Fryderyk Chopin (45) 108 Seiten ISBN 978-3-88377-198-4

Richard Wagner Parsifal (25) – vergriffen –

Vincenzo Bellini (46) 120 Seiten ISBN 978-3-88377-213-4

Josquin des Prés (26/27) 143 Seiten ISBN 978-3-88377-130-4

Domenico Scarlatti (47) 121 Seiten ISBN 978-3-88377-229-5

Olivier Messiaen (28) – vergriffen –

Morton Feldman (48/49) – vergriffen –

Rudolf Kolisch Zur Theorie der Aufführung (29/30) 130 Seiten ISBN 978-3-88377-133-5

Johann Sebastian Bach Die Passionen (50/51) 139 Seiten ISBN 978-3-88377-238-7

Giacinto Scelsi (31) 2. Aufl., 143 Seiten ISBN 978-3-86916-389-5 Aleksandr Skrjabin und die Skrjabinisten (32/33) 190 Seiten ISBN 978-3-88377-149-6 Igor Strawinsky (34/35) 136 Seiten ISBN 978-3-88377-137-3 Schönbergs Verein für musikalische Privat­aufführungen (36) 118 Seiten ISBN 978-3-88377-170-0

Carl Maria von Weber (52) 85 Seiten ISBN 978-3-88377-240-0 György Ligeti (53) – vergriffen – Iannis Xenakis (54/55) – vergriffen – Ludwig van Beethoven Analecta Varia (56) 112 Seiten ISBN 978-3-88377-268-4 Richard Wagner Tristan und Isolde (57/58) 153 Seiten ISBN 978-3-88377-269-1

Bisher sind in der Reihe Musik-Konzepte erschienen Richard Wagner Zwischen Beethoven und Schönberg (59) 114 Seiten ISBN 978-3-88377-280-6

Autoren-Musik Sprache im Grenzbereich der Künste (81) 114 Seiten ISBN 978-3-88377-448-0

W. A.  Mozart Innovation und Praxis Zum Quintett KV 452 (99) 126 Seiten ISBN 978-3-88377-578-4

Guillaume Dufay (60) 118 Seiten ISBN 978-3-88377-281-3

Jean Barraqué (82) 113 Seiten ISBN 978-3-88377-449-7

Was heißt Fortschritt? (100) 157 Seiten ISBN 978-3-88377-579-1

Helmut Lachenmann (61/62) – vergriffen –

Claudio Monteverdi Vom Madrigal zur Monodie (83/84) 186 Seiten ISBN 978-3-88377-450-3

Kurt Weill Die frühen Jahre 1916–1928 (101/102) 171 Seiten ISBN 978-3-88377-590-6

Erich Itor Kahn (85) 111 Seiten ISBN 978-3-88377-481-7

Hans Rott Der Begründer der neuen Symphonie (103/104) 173 Seiten ISBN 978-3-88377-608-8

Theodor W. Adorno Der Komponist (63/64) 146 Seiten ISBN 978-3-88377-310-0 Aimez-vous Brahms »the progressive«? (65) 85 Seiten ISBN 978-3-88377-311-7 Gottfried Michael Koenig (66) 108 Seiten ISBN 978-3-88377-352-0

Palestrina Zwischen Démontage und Rettung (86) 83 Seiten ISBN 978-3-88377-482-4

Beethoven Formale Strategien der späten Quartette (67/68) 179 Seiten ISBN 978-3-88377-361-2

Johann Sebastian Bach Der Choralsatz als musikalisches Kunstwerk (87) 112 Seiten ISBN 978-3-88377-494-7

Henri Pousseur (69) 97 Seiten ISBN 978-3-88377-376-6

Claudio Monteverdi Um die Geburt der Oper (88) 111 Seiten ISBN 978-3-88377-495-4

Johannes Brahms Die Zweite Symphonie (70) 123 Seiten ISBN 978-3-88377-377-3 Witold Lutosławski (71/72/73) 223 Seiten ISBN 978-3-88377-384-1 Musik und Traum (74) 121 Seiten ISBN 978-3-88377-396-4 Hugo Wolf (75) 139 Seiten ISBN 978-3-88377-411-4 Rudolf Kolisch Tempo und Charakter in Beethovens Musik (76/77) – vergriffen – José Luis de Delás (78) 116 Seiten ISBN 978-3-88377-431-2 Bach gegen seine Interpreten verteidigt (79/80) – vergriffen –

Pierre Boulez (89/90) 170 Seiten ISBN 978-3-88377-506-7 Gustav Mahler Der unbekannte Bekannte (91) 116 Seiten ISBN 978-3-88377-521-0 Alexander Zemlinsky Der König Kandaules (92/93/94) 259 Seiten ISBN 978-3-88377-546-3 Schumann und Eichendorff (95) 89 Seiten ISBN 978-3-88377-522-7

Giovanni Gabrieli Quantus vir (105) 125 Seiten ISBN 978-3-88377-618-7 Gustav Mahler Durchgesetzt? (106) 122 Seiten ISBN 978-3-88377-619-4 Perotinus Magnus (107) 109 Seiten ISBN 978-3-88377-629-3 Hector Berlioz Autopsie des Künstlers (108) 128 Seiten ISBN 978-3-88377-630-9 Isang Yun Die fünf Symphonien (109/110) 174 Seiten ISBN 978-3-88377-644-6 Hans G Helms Musik zwischen Geschäft und Unwahrheit (111) 150 Seiten ISBN 978-3-88377-659-0 Schönberg und der Sprechgesang (112/113) 186 Seiten ISBN 978-3-88377-660-6

Pierre Boulez II (96) 97 Seiten ISBN 978-3-88377-558-6

Franz Schubert Das Zeitmaß in seinem Klavierwerk (114) 140 Seiten ISBN 978-3-88377-673-6

Franz Schubert »Todesmusik« (97/98) 194 Seiten ISBN 978-3-88377-572-2

Max Reger Zum Orgelwerk (115) 82 Seiten ISBN 978-3-88377-700-9

Bisher sind in der Reihe Musik-Konzepte erschienen Gustav Mahler: Lieder (136) 120 Seiten ISBN 978-3-88377-856-3

Luigi Dallapiccola (158) 123 Seiten ISBN 978-3-86916-216-4

Klaus Huber (137/138) 181 Seiten ISBN 978-3-88377-888-4

Edward Elgar (159) 130 Seiten ISBN 978-3-86916-236-2

Aribert Reimann (139) 125 Seiten ISBN 978-3-88377-917-1

Adriana Hölszky (160/161) 188 Seiten ISBN 978-3-86916-237-9

Brian Ferneyhough (140) 110 Seiten ISBN 978-3-88377-918-8

Allan Pettersson (162) 114 Seiten ISBN 978-3-86916-275-1

Frederick Delius (141/142) 207 Seiten ISBN 978-3-88377-952-2

Albéric Magnard (163) 129 Seiten ISBN 978-3-86916-331-4

Galina Ustwolskaja (143) 98 Seiten ISBN 978-3-88377-999-7

Luca Lombardi (164/165) 193 Seiten ISBN 978-3-86916-332-1

Wilhelm Killmayer (144/145) 167 Seiten ISBN 978-3-86916-000-9

Jörg Widmann (166) 99 Seiten ISBN 978-3-86916-355-0

Helmut Lachenmann (146) 124 Seiten ISBN 978-3-86916-016-0

Mark Andre (167) 114 Seiten ISBN 978-3-86916-393-2

Edvard Grieg (127) 147 Seiten ISBN 978-3-88377-783-2

Karl Amadeus Hartmann Simplicius Simplicissimus (147) 138 Seiten ISBN 978-3-86916-055-9

Nicolaus A. Huber (168/169) 187 Seiten ISBN 978-3-86916-394-9

Luciano Berio (128) 116 Seiten ISBN 978-3-88377-784-9

Heinrich Isaac (148/149) 178 Seiten ISBN 978-3-86916-056-6

Richard Strauss Der griechische Germane (129/130) 146 Seiten ISBN 978-3-88377-809-9

Stefan Wolpe I (150) 129 Seiten ISBN 978-3-86916-087-0

Ludwig van Beethoven »Diabelli-Variationen« (171) 113 Seiten ISBN 978-3-86916-488-5

Arthur Sullivan (151) 114 Seiten ISBN 978-3-86916-103-7

Beat Furrer (172/173) 158 Seiten ISBN 978-3-86916-489-2

Stefan Wolpe II (152/153) 194 Seiten ISBN 978-3-86916-104-4

Antonín Dvořák (174) 134 Seiten ISBN 978-3-86916-503-5

Maurice Ravel (154) 129 Seiten ISBN 978-3-86916-156-3

Enno Poppe (175) 141 Seiten ISBN 978-3-86916-561-5

Mathias Spahlinger (155) 142 Seiten ISBN 978-3-86916-174-7

Gérard Grisey (176/177) 162 Seiten ISBN 978-3-86916-562-2

Paul Dukas (156/157) 189 Seiten ISBN 978-3-86916-175-4

Charles Valentin Alkan (178) 135 Seiten ISBN 978-3-86916-600-1

Haydns Streichquartette Eine moderne Gattung (116) 85 Seiten ISBN 978-3-88377-701-6 Arnold Schönbergs »Berliner Schule« (117/118) 178 Seiten ISBN 978-3-88377-715-3 J. S.  Bach Was heißt »Klang=Rede«? (119) 138 Seiten ISBN 978-3-88377-731-3 Bruckners Neunte im Fegefeuer der Rezeption (120/121/122) 245 Seiten ISBN 978-3-88377-738-2 Charles Ives (123) 130 Seiten ISBN 978-3-88377-760-3 Mauricio Kagel (124) 111 Seiten ISBN 978-3-88377-761-0 Der späte Hindemith (125/126) 187 Seiten ISBN 978-3-88377-781-8

Händel unter Deutschen (131) 114 Seiten ISBN 978-3-88377-829-7 Hans Werner Henze Musik und Sprache (132) 128 Seiten ISBN 978-3-88377-830-3 Im weißen Rössl Zwischen Kunst und Kommerz (133/134) 192 Seiten ISBN 978-3-88377-841-9 Arthur Honegger (135) 122 Seiten ISBN 978-3-88377-855-6

Benjamin Britten (170) 143 Seiten ISBN 978-3-86916-422-9

Bisher sind in der Reihe Musik-Konzepte erschienen Heiner Goebbels (179) 108 Seiten ISBN 978-3-86916-649-0 Alvin Lucier (180/181) 202 Seiten ISBN 978-3-86916-650-6

Sonderbände Alban Berg, Wozzeck 306 Seiten ISBN 978-3-88377-214-1 Walter Braunfels 203 Seiten ISBN 978-3-86916-356-7

Musik der DDR? 162 Seiten ISBN 978-3-96707-678-3 Musikphilosophie 213 Seiten ISBN 978-3-88377-889-1

John Cage I 2. Aufl., 162 Seiten ISBN 978-3-88377-296-7

Philosophie des Kontrapunkts 256 Seiten ISBN 978-3-86916-088-7

Klaus Ospald (183) 101 Seiten ISBN 978-3-86916-743-5

John Cage II 2. Aufl., 361 Seiten ISBN 978-3-88377-315-5

Wolfgang Rihm 163 Seiten ISBN 978-3-88377-782-5

Jürg Baur (184/185) 153 Seiten ISBN 978-3-86916-747-3

Darmstadt-Dokumente I 363 Seiten ISBN 978-3-88377-487-9

Arnold Schönberg – vergriffen –

Marco Stroppa (186) 114 Seiten ISBN 978-3-86916-819-7

Hanns Eisler Angewandte Musik 223 Seiten ISBN 978-3-86916-217-1

Rolf Riehm (182) 118 Seiten ISBN 978-3-86916-708-4

Stefan Heucke (187) 98 Seiten ISBN 978-3-86916-829-6 Rebecca Saunders (188/189) 172 Seiten ISBN 978-3-86916-833-3 Giacomo Puccini (190) 93 Seiten ISBN 978-3-86916-874-6 Martin Smolka (191) 127 Seiten ISBN 978-3-96707-385-0 Sándor Veress (192/193) 200 Seiten ISBN 978-3-96707-389-8 Chaya Czernowin (194) 119 Seiten ISBN 978-3-96707-393-5 Wolfgang Jacobi (195) 108 Seiten ISBN 978-3-96707-594-6 Heinz Holliger (196/197) 182 Seiten ISBN 978-3-96707-600-4 Sidney Corbett (198) 118 Seiten ISBN 978-3-96707-674-5 Georg Friedrich Haas (199) 106 Seiten ISBN 978-3-96707-751-3

Geschichte der Musik als Gegenwart. Hans Heinrich Eggebrecht und Mathias Spahlinger im Gespräch 141 Seiten ISBN 978-3-88377-655-2 Klangkunst 199 Seiten ISBN 978-3-88377-953-9 György Kurtág 336 Seiten ISBN 978-3-86916-878-4 Gustav Mahler 362 Seiten ISBN 978-3-88377-241-7

Franz Schubert 305 Seiten ISBN 978-3-88377-019-2 Robert Schumann I 346 Seiten ISBN 978-3-88377-070-3 Robert Schumann II 390 Seiten ISBN 978-3-88377-102-1 Der späte Schumann 223 Seiten ISBN 978-3-88377-842-6 Salvatore Sciarrino 204 Seiten ISBN 978-3-86916-823-4 Telemann und die urbanen Milieus der Aufklärung 233 Seiten ISBN 978-3-86916-601-8

Bohuslav Martinů 160 Seiten ISBN 978-3-86916-017-7

Manos Tsangaris 201 Seiten ISBN 978-3-86916-423-6

Mozart Die Da Ponte-Opern 360 Seiten ISBN 978-3-88377-397-1

Ralph Vaughan Williams 218 Seiten ISBN 978-3-86916-712-1

Isabel Mundry 197 Seiten ISBN 978-3-86916-157-0 Die Musik – eine Kunst des Imaginären? 230 Seiten ISBN 978-3-86916-504-2 Musik der anderen Tradition Mikrotonale Tonwelten 297 Seiten ISBN 978-3-88377-702-3

Anton Webern I 315 Seiten ISBN 978-3-88377-151-9 Anton Webern II 427 Seiten ISBN 978-3-88377-187-8 Hans Zender 168 Seiten ISBN 978-3-86916-276-8 Bernd Alois Zimmermann 183 Seiten ISBN 978-3-88377-808-2

„Die Musik von Georg Friedrich Haas kann süchtig machen“ Reinhard J. Brembeck (Süddeutsche Zeitung)

Georg Friedrich Haas seit 2016 bei Ricordi Berlin

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© Lucerne Festival, Priska Ketterer

Georg Friedrich Haas – limited approximations für 6 Klaviere im Zwölfteltonabstand und Orchester Der Zwölfteltonabstand ist so klein, das er nicht mehr als Intervall gehört wird, sondern als unterschiedliche Schattierung eines einzigen Tones. Die Wirkung eines Clusters aus Zwölfteltönen hängt vom Register ab: In der Höhe scharf, reibend, beißend, in der Tiefe weich, verschmelzend, reich. Selbstverständlich kann man mit Zwölfteltönen rauhe, dissonante Akkorde bilden – viel differenzierter (auch im Schärfegrad) als nur mit den traditionellen 12 Tönen pro Oktave. Aber es ist auch möglich, wesentlich „konsonantere“ Akkorde als im gewohnten 12-tönigen Tonraum zu bilden. – Georg Friedrich Haas