Georg Büchner Jahrbuch: Band 2 1982 9783110242355

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Georg Büchner Jahrbuch: Band 2 1982
 9783110242355

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Georg Büchner Jahrbuch 2/1982 In Verbindung mit der Georg Büchner Gesellschaft und der Forschungsstelle Georg Büchner - Literatur und Geschichte des Vormärz im Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg herausgegeben von Hubert Gersch, Thomas Michael Mayer und Günter Oesterle

Europäische Verlagsanstalt

Georg Büchner Jahrbuch c/o Institut für Neuere deutsche Literatur der Philippe-Universität Marburg Wilhelm-Röpke-Str. 6/A; D-3550 Marburg/Lahn (Tel.: 06421/284541) oder über: Georg Büchner Gesellschaft; Postfach 1530; D-3550 Marburg/Lahn Redaktion dieses Bandes: Thomas Michael Mayer Die Einsendung von Publikationen (Sonderdrucke wenn möglich in 2 Exemplaren) ist freundlich erbeten; von Beiträgen jedoch nur nach vorheriger Absprache und mit üblicher technischer Manuskripteinrichtung sowie mit bibliographischen und Zitat-Auszeichnungen entsprechend dem vorliegenden Band.

CIP-Rurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Georg-Büchner-Jahrbuch / in Verbindung mit d. Georg-Büchner-Ges. u. d. Forschungsstelle Georg Büchner, Literatur u. Geschichte d. Vormärz, im Inst, für Neuere Dt. Literatur d. Philipps-Univ. Marburg hrsg. - Frankfurt am Main : Europäische Verlagsanstalt Erscheint jährl. 2/1982

©1983 by Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung nach Entwürfen von Rambow, Lienemeyer und van de Sand Produktion: Klaus Langhoff, Friedrichsdorf Satz und Druck: F. L.Wagener GmbH & Co KG, Lemgo Bindung: Großbuchbinderei Bernhard Gehring, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrage, der Rundfunksendung sowie der fotomechanischen Wiedergabe, auch einzelner Teile. Nachdruck der Lithographie »Unser Karl« nur mit schriftlicher Erlaubnis von Heinz Fischer. Printed in Germany ISBN 3-434-00523-4

Internationales Georg Büchner Symposium Ergebnisse und Perspektiven der Forschung

Dannstadt 25.-2S. Juni 1981

Referate (Teil I)

Veranstalter: Georg Büchner Gesellschaft Marburg in Verbindung mit der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, dem Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der Technischen Hochschule Darmstadt, dem Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg und der Stadt Darmstadt

Inhalt

Abkürzungen und Siglen

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Vorwort

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Begrüßungen

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Teilnehmerliste

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Einleitungsreferat Reinhold Grimm: Abschluß und Neubeginn. Vorläufiges zur Büchner-Rezeption und zur Büchner-Forschung heute

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Erste Sitzung: Allgemeine Fragen der Forschung Erich Zimmermann: Das Büchner-Archiv der Hessischen Landesund Hochschulbibliothek Darmstadt Dieter Bänsch: Die >Georg Büchner Gesellschaft* / Gegenwärtige Arbeiten und Perspektiven der Georg Büchner-Forschungsstelle Heinz Fischer: Neue archivalische Spuren und Erfahrungen: Alexis Mustons Journal d'etudiant

41 46 51

Zweite Sitzung: Natur-, religions- und geschichtsphilosophische Positionen Wolf gang Proß: Spinoza, Herder, Büchner: Über »Gesetz« und »Erscheinung« 62 Joachim Kahl: »Der Fels des Atheismus«. Epikurs und Georg Büchners Kritik an der Theodizee 99 Otto Donner: Neuere Erkenntnisse zu Georg Büchners Naturauffassung und Naturforschung 126 Dritte Sitzung: Literarhistorische und ästhetische Fragen Henri Poschmann: Probleme einer literarisch-historischen Ortsbestimmung Georg Büchners Silvio Vietta: Sprachkritik bei Büchner Hartmut Rosshoff: >Rörpersprache< bei Büchner Gerhard Schaub: Georg Büchner: Poeta rhetor. Eine Forschungsperspektive Albert Meier: Georg Büchners Ästhetik

135 144 157 170 196

Peter Horn: »Ich meine für menschliche Dinge müsse man auch menschliche Ausdrücke finden«. Die Sprache der Philosophie und die Sprache der Dichtung bei Georg Büchner 209 Vierte Sitzung: Biographische und politische Fragen; Dantons Tod Walter Grab: Der hessische Demokrat Wilhelm Schulz und seine Schriften über Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig Thomas Michael Mayer: »Wegen mir könnt Ihr ganz ruhig sein...« Die Argumentationslist in Georg Büchners Briefen an die Eltern Eckhart G. Franz: Das Fortwirken der Bauernkriegs-Tradition in den revolutionären Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts Volkmar Braunbehrens: »Aber gehn Sie in's Theater, ich rath' es Ihnen!« Zu Dantons Tod Clemens Heselhaus: Dantons Fluchtversuch (Dantons Tod II, 3-5) Walter Hinderer: »Dieses Schwanzstück der Schöpfung«: Büchners Dantons Tod und die Nachtwachen des Bonaventura

227 249 281 286 300 316

Inhalt der Fünften bis Achten Sitzung (Georg Büchner Jahrbuch 3/1983)

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Anschriften der Mitarbeiter

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»Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen«

Abkürzungen und Siglen Benn

= Maurice B. Benn: The Drama of Revolt. A Critical Study of Georg Büchner. - Cambridge [u. a.] 1976 [21979] F = Georg Büchner's Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe. Eingel. u. hrsg. von Karl Emil Franzos. - Frankfurt a. M. 1879 GBI/II = Georg Büchner ML Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1979 [21982] (= Sonderband aus der Reihe text + kritik) GBHI = Georg Büchner . Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. - München 1981 (= Sonderband aus der Reihe text + kritik) GBJb = Georg Büchner Jahrbuch HA = Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. - Hamburg [dann München] 1967ff. [Hamburger bzw. Hanser-Ausgabe] Hinderer = Walter Hinderer: Büchner Kommentar zum dichterischen Werk. München 1977 HL - Gerhard Schaub: Georg Büchner /Friedrich Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Materialien, Kommentar. - München 1976 (= Reihe Hanser Literatur-Kommentare, Bd. 1) Jancke = Gerhard Jancke: Georg Büchner. Genese und Aktualität seines Werkes. Einführung in das Gesamtwerk. - Kronberg/Ts. 1975 [31979] Knapp = Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. Eine kritische Einführung in die Forschung. - Frankfurt a. M. 1975 Martens = Georg Büchner. Hrsg. von Wolf gang Martens. - Darmstadt 1965 [H973] (= Wege der Forschung, Bd. LIII) H. Mayer = Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit. - Frankfurt a. M. 1972 (suhrkamp taschenbuch 58) 7V = Nachgelassene Schriften von Georg Büchner [Hrsg. von Ludwig - Büchner]. - Frankfurt a. M. 1850 Nö = Friedrich Noellner: Actenmäßige Darlegung des wegen Hochverraths eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig [ . . . ] . - Darmstadt 1844 SW = Georg Büchners Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Fritz Bergemann. - Leipzig 1922 Vietor = Karl Vietor: Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft. - Bern 1949 WA = Georg Büchner: Woyzeck. Faksimileausgabe der Handschriften. Bearb. von Gerhard Schmid. - Leipzig [desgl. Wiesbaden] 1981 (= Manu scripta, Bd. 1) WuB = Georg Büchner: Werke und Briefe. Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann. Kommentiert von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm u. Edda Ziegler. - München, Wien [desgl. München: dtv] 1980

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Vorwort

Bis vor etwa fünfzehn Jahren konnte man noch glauben, das Werk Georg Büchners sei gänzlich erforscht, »mit allen Methoden der Literaturwissenschaft« und »bis in die letzten Winkel« erschlossen, ja »durchleuchtet«.1 Solche Selbstgewißheit ist heute geschwunden. Wissenschaftliche Neuansätze haben den Erkenntnishorizont inzwischen beträchtlich erweitert. Der lange vernachlässigten Grundlagenforschung gelangen fallige Korrekturen und literaturgeschichtlich wie hermeneutisch konsequenzenreiche Funde. Die Einsichten der Textkritik und Quellenkunde, die Leistungen der Editorik und Dokumentation, die Klärungen der Biographik und der historischen Forschung haben nicht nur eine bessere Materiallage für SpezialUntersuchungen geschaffen. Die Vielfalt unerwarteter Probleme, neuer Thesen wie zugleich präzisierter Fragestellungen erreichte die kulturelle Öffentlichkeit und hatte Auswirkungen bis in Verlage, Schulen und Theater. Doch ließen die Ergebnisse der neueren Büchner-Forschung auch immer wieder Rückstände, Defizite und Desiderate der philologischen Arbeit selbst deutlich bewußt werden. Das führte zu einer wissenschaftlichen Neubesinnung. Jahrzehntelange vorschnelle Selbstsicherheit, Mängel an Professionalität, unzureichende Kooperation und Kommunikation galt es künftig zu vermeiden. Formen fördernder Zusammenarbeit und produktiver Kritik waren zu finden. Im Mai 1979 wurde die >Georg Büchner Gesellschaft in Marburg gegründet - als eine Initiative zur breitesten Verständigung, zur Forschungsforderung und -Vermittlung. Der rasche Zuwachs an Mitgliedern und das bald erreichte Interesse der Öffentlichkeit ermöglichten die Gründung und Herausgabe des Georg Büchner Jahrbuchs. Sie ermutigten auch dazu, den Plan eines Internationalen Georg Büchner Symposiums zu fassen und zu verfolgen. Dieser erste wissenschaftliche Kongreß zu Georg Büchner wurde so vorbereitet, daß er bis zuletzt offen blieb für Anregungen, Beiträge und Kritik. Die Planung war ein diskursiver Prozeß aller Beteiligten. Erste Einladungen, aktiv am Symposium und seiner Vorbereitung teilzunehmen, wurden im November 1979 verschickt Sie gingen an die damals 110 Mitglieder der >Georg Büchner Gesellschaft und darüberhinaus an rund 70 Germanisten, Historiker und Theaterwissenschaftler, die mit der >Gesellschaft< durch ihre Arbeitsprojekte in Kpntakt standen 1 Germanistik 3 (1962), S. 270; vgl. dazu die Kritik von Werner R. Lehmann: Textkritische Noten. Prolegomena zur Hamburger Büchner-Ausgabe. - Hamburg 1967, S. 5.

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oder in den letzten Jahren mit Publikationen zu Georg Büchner hervorgetreten waren. Alle Einladungen waren verbunden mit der Bitte, weitere potentielle Symposiums-Beiträger vorzuschlagen bzw. anzusprechen. Die Resonanz war beträchtlich. Sukzessive gingen über 40 Referatanmeldungen ein; alle wurden angenommen. Diesem Themen-Angebot gemäß wurden Ablauf und Struktur des Symposiums entwickelt. Mit Rücksicht auf die zahlenmäßige und thematische Fülle der Beiträge und ihre möglichst ergiebige Diskussion wurden schriftlich ausgearbeitete Referate als Diskussionsvorlagen erbeten, die vervielfältigt und allen Teilnehmern zugesandt werden konnten. Der Verlauf des Symposiums wurde nach Gegenstandsbereichen, wie sie sich aus dem Angebot der Beiträge fast von selbst ergaben, gegliedert; und dies nicht in mehrere gleichzeitige Sektionen, sondern bewußt in Halbtages-Sitzungen des Plenums, für die jeweils Diskussionsleiter vorgeschlagen und von allen Teilnehmern bestimmt wurden. Es waren im einzelnen: Hubert Gersch (Münster) für »Allgemeine Fragen der Forschung«, Silvio Vietta (Mannheim) für »Natur-, religions- und geschichtsphilosophische Positionen«, Günter Oesterle (Gießen) für »Literarhistorische und ästhetische Fragen«, Peter Hörn (Kapstadt) für »Biographische und politische Fragen« sowie Forschungen zu Dantons Tod, Wolfgang Promies (Darmstadt) für die Podiumsdiskussion zum Hessischen Landboten, Walter Hinderer (Princeton) für Forschungen zu Lenz, Joachim Bark (Stuttgart) für Forschungen zu Leonce und Lena, HansJoachim Ruckhäberle (Paris) und Thomas Michael Mayer (Marburg) für Forschungen zu Woyzeck, Jost Hermand (Madison) für »Fragen der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte« und Alexander von Bormann (Amsterdam) für die resümierende Abschlußdiskussion. Das Symposium fand vom 25. bis 28. Juni 1981 statt. Nach der Eröffnung in der fürstlichen Orangerie tagte das Plenum im Großen Saal des Justus-Liebig-Hauses der Volkshochschule in Darmstadt Es war ein Forum arbeitsintensiver, wissenschaftlicher Begegnung und Entgegnung; eine interessierte Öffentlichkeit, die durch etwa 120 Zuhörer und etliche Journalisten vertreten war, hatte daran teil. Jeder Referent trug seinen schriftlich vorliegenden Beitrag in thesenhafter Zusammenfassung vor und stellte ihn zur Diskussion. Alle Debatten wurden auf Tonband aufgezeichnet und sind in der Marburger >Forschungsstelle Georg Büchner< archiviert. Ihre zunächst vorgesehene zusammenfassende Veröffentlichung erwies sich ebenso wie die Vorlage eines geschlossenen Tagungsbandes im Rahmen der geplanten Schriftenreihe hauptsächlich aus finanziellen Gründen als nicht möglich. • Der Umfang allein der Referate machte es unumgänglich, ihre Publikation auf zwei Bände des Georg Büchner Jahrbuchs (1982 und 1983) zu verteilen. Die Anordnung entspricht der Abfolge beim Symposium. Die 12

Vorbereitungszeit der Drucklegung und ihrer Finanzierung konnte von den Referenten genützt werden, ihre Beiträge unter Berücksichtigung der Symposiumsdiskussion und -kritik zu überarbeiten. Sechs Forscher, die ihre Teilnahme angemeldet hatten, konnten diese Absicht leider nicht verwirklichen: Horst Denkler (Berlin/West), Werner R. Lehmann (Flensburg), Henri Poschmann (Berlin/DDR), Erwin Theodor Rosenthal (Säo Paulo), Gerhard Schmid (Weimar) und Luciano Zagari (Neapel). Das Referat von Henri Poschmann wurde durch HansJoachim Ruckhäberle verlesen, die neue fFoyzecfc-Ausgabe von Gerhard Schmid2 wurde durch Thomas Michael Mayer vorgestellt. Die Tagung fand ein vielfaltiges Echo in der regionalen wie überregionalen Presse, in Rundfunk und Fernsehen.3 Begleitet wurde das Symposium von einer Ausstellung der >Georg Büchner Gesellschaft zu Leben und Werk des Dichters, einer Ausstellung der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek aus den Beständen ihres >Büchner-Archivs< mit dem Titel »Georg Büchner: Lebensspuren - Wirkungen« und einer öffentlichen Podiumsdiskussion »Der Hessische Landbote kontrovers« im Auditorium Maximum der Technischen Hochschule Darmstadt (26. Juni, 20 Uhr), an der Eckhart G. Franz (Darmstadt), Walter Grab (Tel Aviv), Thomas Michael Mayer (Marburg), Wolfgang Promies (Darmstadt), Hans-Joachim Ruckhäberle (Paris) und Gerhard Schaub (Trier) teilnahmen. Die Stadt Darmstadt, die Technische Hochschule und die Hessische Landes- und Hochschulbibliothek gaben am Abend des 27. Juni einen Empfang im Schloß, die >Büchner Gesellschaft am Abend des 25. Juni eine Einladung in Darmstadt-Eberstadt. Nicht die Rastlosigkeit Widersprüche aufdeckender Kritik, sondern aufmerksame Gegenseitigkeit, kritische Rücksicht und weiterfragendes Bedenken prägte diesen ersten Versuch eines Rundgesprächs der Büchner-Forscher. Daß es gelang, danken wir zunächst allen Beteiligten: den Referenten, Moderatoren und Diskussionsteilnehmern; nicht minder den Institutionen, die das Symposium mitveranstaltet haben: Der Hessischen Landesund Hochschulbibliothek Darmstadt, insbesondere Herrn Bibliotheksdirektor Dr. Yorck Haase und dem Leiter des >Büchner-Archives Herrn Dr. Erich Zimmermann; dem Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der Technischen Hochschule Darmstadt, insbesondere Herrn Prof. Dr. Franz Hebel, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Promies, ferner dem Präsidenten der Technischen Hochschule, Herrn Prof. Dr. Helmut Böhme; dem Insti2 Vgl. oben im Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen unter WA; ausführlichere Rezensionen inzwischen in GB m, S. 281-291, und Monatshefte 74 (1982), S. 360-564. 3 Ein Presse- und Medienspiegel (Marburg [1981]; 50+5 S.) wurde von der »Forschungsstelle Georg Büchner und der >Georg Büchner Gesellschaft an die Referenten des Symposiums versandt

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tut für Neuere deutsche Literatur der Philippe-Universität Marburg, insbesondere Herrn Prof. Dr. Dieter Bänsch und dem Präsidenten der Universität, Herrn Prof. Dr. Walter Kroll; und der Stadt Darmstadt, insbesondere dem Oberbürgermeister Herrn Günther Metzger und seinem verstorbenen Vorgänger, Herrn Heinz Winfried Sabais; dem Schuldezernenten der Stadt, Herrn Stadtrat Peter Benz, Herrn Magistratsrat Günter Stahl, Herrn Kurt Heber und dem Leiter des Presse- und Informationsamts, Herrn Michael Lob, sowie dem städtischen Verkehrsamt. Der Landtagsabgeordneten Frau Ruth Wagner (Wiesbaden) danken wir für ihre Initiative zur Verwirklichung des Symposiums. Für die Beteiligung an der technischen Durchführung danken wir der Volkshochschule Darmstadt, insbesondere der Leiterin Frau Dr. Ingeborg Horn-Staiger, Herrn Bernd Schätzte, Herrn Jochen Bernstein, Herrn Hans Joachim Lange, Herrn Michael Müller und Herrn Mehlhose; der Lehrdruckerei der Technischen Hochschule Darmstadt, Herrn Prof. Dr. Walter Wilkes und Frau Ulrike Nau; in Marburg Frau Beate Lehmann und Herrn Dr. Bernward Thole, der Druckerei Symon und Wagner, Herrn Jürgen Gläsel und Herrn Klaus-Peter Rühl; in Gießen Ingrid Oesterle; in Darmstadt Sylvia Peuckert Für die Mitarbeit bei der Organisation des Symposiums danken wir besonders herzlich: Frau Hilde Schul und Frau Karin Drda (Darmstadt) für ihre Arbeit im Tagungsbüro; Herrn Dr. Reinhard Görisch (Marburg) vor allem für die finanzielle Planung und Abwicklung; Herrn Elmar Mellwig (Marburg) und Herrn Jan-Christoph Hauschild (Düsseldorf) für ihre Arbeiten an Ausstellung und Koordination. Ohne die finanzielle Unterstützung der Stadt Darmstadt, des Hessischen Kultusministeriums und der Staatskanzlei in Wiesbaden wäre das Internationale Georg Büchner Symposium wie die Veröffentlichung seiner Beiträge nicht zustande gekommen. Ihnen sei daher nachdrücklich gedankt. Marburg, im August 1982

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Die Herausgeber

Begrüßungen

Grußadresse des Hessischen Ministerpräsidenten

Wiesbaden, 24. Juni 1981 Leider kann ich Ihnen und den Mitveranstaltern nur brieflich einen guten Verlauf des Büchner-Symposiums wünschen. Insbesondere den ausländischen Gästen wünsche ich einen anregenden und angenehmen Aufenthalt in unserem Hessenland. Unaufschiebbare Verpflichtungen hindern mich daran, persönlich der Eröffnung Ihres Symposiums beizuwohnen. Ich halte die literaturwissenschaftlichen Bemühungen um die wahre historische Gestalt Georg Büchners, eines der bedeutendsten Söhne Hessens, für sehr wichtig. Noch mehr am Herzen liegt mir jedoch zu zeigen, welche Impulse Georg Büchner der liberalen und demokratischen Bewegung in Hessen und Deutschland gegeben hat. Da die Geschichte der Demokratie in unserem Land noch viele blinde Stellen hat, erhoffe ich von Ihrer Tagung zu diesem Aspekt besonders viele Impulse. Mit allen guten Wünschen für eine erfolgreiche Arbeit Ihr Holger Börner

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Peter Benz:

Begrüßung durch die Stadt Darmstadt Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Namen des Magistrats der Stadt Darmstadt begrüße ich Sie sehr herzlich zum ersten Internationalen Georg Büchner Symposium und heiße Sie ebenso herzlich willkommen. Die Stadt Darmstadt fühlt sich durch die Auswahl des Tagungsortes einer so bedeutenden literaturwissenschaftlichen Veranstaltung hochgeehrt und dankt der >Georg Büchner Gesellschaft, Marburg, und ihrem Vorsitzenden, Herrn Dr. Thomas Michael Mayer, dem Initiator dieses Symposiums, sowie der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, dem Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft der Technischen Hochschule Darmstadt und dem Institut für Neuere deutsche Literatur der Philipps-Universität Marburg. Neben dem Büchner-Preis, der jährlich in Darmstadt verliehen wird, setzt diese weitere Büchner-Veranstaltung, die ein Forum der Bestandsaufnahme sein wird und als Quellendokumentation wichtige Forschungsergebnisse zu den poetischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Werken Büchners der Öffentlichkeit zugänglich macht, neue Akzente und macht Darmstadt als Büchner-Stadt weiter bekannt. Einen hohen Stellenwert erhält die Tagung durch Teilnehmer aus aller Welt, die sich mit den Werken Georg Büchners beschäftigen und einen Namen gemacht haben. Ich heiße Sie alle nochmals herzlich willkommen. Ihnen, die Sie, finanzielle Erwägungen außer acht lassend, die Publikationen Georg Büchners durch dieses Symposium einer breiten Öffentlichkeit - die herzlich zur Teilnahme eingeladen ist - bekanntmachen wollen, verdanken wir die Untersuchungen und textkritischen Beleuchtungen bislang zum Teil noch unbekannter Büchner-Aspekte. Daß Leben und Werk des mit Darmstadt eng - jedoch nicht widerspruchsfrei - verbundenen Georg Büchner auch und gerade heute Anlaß geben, sich damit zu beschäftigen, ohne routinierte Langweiligkeit zu verbreiten, ist seiner universalen Figur zu danken. Die Themen, die das Symposium sich vorgenommen hat zu behandeln, belegen dies und versprechen eine Lebendigkeit, die Büchner adäquat ist. So habe ich mit Interesse und nicht nachlassender Spannung vor zwei Jahren den Sonderband über Georg Büchner bei der Edition Text + Kritik, herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold, gelesen. Ich habe großen 16

Gewinn aus dieser Lektüre gezogen, und ich weiß, daß von diesem Band die Initialzündung für das Symposium ausging. Das Motto der Tagung »Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen«, sehe ich in ironischer Brechung zur verbürgten Historic. Heute jedenfalls ist die Stadt Darmstadt bereit, sich Büchner hinzuwenden und auch aktiv beteiligt, Vita und Werk erforschen zu helfen, und ob sich jemand lustig macht, über Büchner und unsere Zeit, das wird auf den Verlauf dieser Tagung ankommen. Ich wünsche einen erfolgreichen, ertragreichen Verlauf und heiße Sie ebenso herzlich wieder willkommen, wenn dieses Symposium eines Tages in Darmstadt seine Fortsetzung finden wird.

Helmut Böhme:

Begrüßung durch die Technische Hochschule Darmstadt Meine Damen und Herren, »Das blaue Äug, sein lockig Haar, Die kühne Stirn mit den Apollo-Bogen, Ein schlanker, großer junger Mann, Geziert mit roter Jakobiner-Mütze, Im Polen-Rock, schritt stolz er durch die Straßen Der Residenz, die Augenweide seiner Freunde!«

Erinnerung verklärt. Diese Momentaufnahme des jüngeren Bruders Wilhelm zeigt uns Georg Büchner in Darmstadt, angetan mit den Insignien der Freiheitsbewegungen seiner Zejt, der Jakobinermütze, dem Polenrock, und sie verschweigt, wie elend diese Residenz ihn behandelt hat, wie »eng und klein« sie ihm erschien, wie viel sie an ihm gutzumachen hatte. Georg Büchner Symposium 1981 in Darmstadt: ich wünsche, es möge ein später Akt der Wiedergutmachung sein, zu dem sich die Technische Hochschule Darmstadt, deren Grüße ich Ihnen überbringen darf, die Stadt Darmstadt, die Landes- und Hochschulbibliothek und die Universität Marburg mit der Georg Büchner Gesellschaft Marburg zusammengefunden haben, um über das schmale (Euvre eines 23jährigen nachzu17

denken, das uns noch immer beunruhigt, mitreißt, herausfordert, Fragen stellt... »... wer mit dieser Feuerseele einmal in Berührung kam, dem schwand sie nicht wieder aus der Erinnerung.« Dieses persönliche Bekenntnis eines Züricher Rollegen gilt auch für sein Werk. Ich meine, Georg Büchner geht gerade unsere Technische Hochschule an, - nicht aus lokalen Gründen, sondern weil in seiner Person die seltene Symbiose von Dichtung und Wissenschaft, von Experiment und Phantasie einen so glücklichen Ausdruck gefunden hat. In jenem Herbst 1836, als in Darmstadt die Höhere Gewerbeschule ihre Tore öffnete, um dem bürgerlichen Stand eine vorerst bescheidene Chance höherer Bildung zu geben, die erst nach vielen Rückschlägen und Krisen in der Weiterentwicklung zur Technischen Hochschule ihre Erfüllung fand, schrieb Georg Büchner an seinen Bruder: »Ich bin ganz vergnügt in mir selbst, ausgenommen, wenn wir Landregen oder Nordwestwind haben, wo ich freilich einer von denjenigen werde, die Abends vor dem Bettgehn, wenn sie den einen Strumpf vom Fuß haben, im Stande sind, sich an ihre Stubenthür zu hängen, weil es ihnen der Mühe zuviel ist, den ändern ebenfalls auszuziehen. [...] Ich habe mich jetzt ganz auf das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt, und werde in Kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenschaft als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft meinen Mitmenschen Vorlesungen über etwas ebenfalls höchst Überflüssiges, nämlich über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza, zu halten. - Dabei bin ich gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier todtschlagen oder verheirathen zu lassen, und bitte den lieben Gott um einen einfaltigen Buchhändler und ein groß Publikum mit so wenig Geschmack, als möglich. Man braucht einmal zu vielerlei Dingen unter der Sonne Muth, sogar, um Privatdocent der Philosophie zu sein.«

Auch wir, auch Sie brauchen diesen Mut. Ich wünsche, daß er Sie in diesen Tagen begleitet. In jenem einen Wintersemester, das Georg Büchner noch vergönnt war und das auch das erste unserer Vorgängerinstitution war, wandte er sich dann doch eher den »Realien« zu und las über die Vergleichende Anatomie der Fische und Amphibien. Seine Vorlesung zeichnete sich vor allem durch den »Praxisbezug« aus, um ein aktuelles Wort zu gebrauchen, durch das eigenhändig erstellte Präparat, das Experiment. Wenn der Tod um nicht schon im Jünglingsalter ereilt hätte, wäre Georg Büchner vielleicht der entscheidende Wegbereiter geworden für die Einordnung der angewandten Naturwissenschaften in gesellschaftliche und philosophische Bezüge, die uns noch heute als Aufgabe gestellt ist. Ich wünsche Ihrem Symposium reichen wissenschaftlichen Ertrag und grüße Sie wie der Gymnasiast Georg Büchner seine Freunde in Darmstadt: »Bori jour, citoyens ...« 18

Teilnehmerliste Matthias Ackermann, Ober-Ramstadt Karin Alles, Marburg/L. Thomas Anz, Frankfurt/M. Gad Arnsberg, Ramat-Gan/Israel Dieter Bänsch, Marburg/L. Dorothea Bänsch, Marburg/L. Joachim Bark, Stuttgart Elisabeth Barthetemy, Marburg/L. Norbert Bartnik, Jugenheim Eddy Bay, Amsterdam Michael Becker, Frankfurt/M. Peter Benz, Darmstadt Irmgard Biebl, Oberursel Ralf Bingel, Münzenberg Helmut Böhme, Darmstadt Alexander v. Bormann, Amsterdam Volkmar Braunbehrens, Berlin/West Armin Burckhardt, Darmstadt Burghard Dedner, Marburg/L. Helmut Deisinger, Schwalbach Margarete Dierks, Darmstadt Bernd-Ulrich Dietz, Gießen Martin Disseltramp, Gießen Otto Donner, Hannover Karin Drda, Ober-Ramstadt Gerhard Dressel, Berlin/West Walter Falk, Marburg/L. Heüiz Fischer, München Eckhart G. Franz, Darmstadt Jürgen W. Fritz, Offenbach Ursula Gaußauge, Darmstadt Hubert Gersch, Münster Reinhard Görisch, Marburg/L. Karl-Heinz Goetze, Nice Karin Götzelmann, Mannheim Walter Grab, Tel Aviv Dirk Grathoff, Gießen Reinhold Grimm, Madison, Wise./ USA Bertram Gritzinger, WettenbergWißmar John D. Guthrie, Leeds/England Yorck Haase, Darmstadt Ralf Haller, Münster Volkmar Hansen, .Neuss Ruth Hauenstein, Frankfurt/M.

Jan-Christoph Hauschild, Neuss Erna Hauß, Worms Helmut Hauß, Worms Claudia Heinemann, Darmstadt Gisela Heinrichs, Rüsselsheim Jost Hermand, Madison, Wisc./USA Clemens Heselhaus, Pohlheim Renate Heß, Darmstadt Walter Hinderer, Princeton/USA Hans Hirschmann, Gießen Ulrich Hofmann, Mainz Peter Hörn, Claremont/Südafrika Hoda Ahmed Issa, Mainz Barbara Jakubek, Marburg/L. Joachim Kahl, Marburg/L. Cl. Kaläsz, Frankfurt/M. Klaus Kanzog, München Heinz Dieter Kittsteiner, Berlin/West Britta Klappich, Büttelborn Charlotte W. Koerner, Loudonville/ USA Anneliese Krauter, Darmstadt Ute Kühn, Darmstadt Hans Joachim Lange, Darmstadt Annerose Lautner, WettenbergWißmar Beate Lehmann, Marburg/L. Hans-Thies Lehmann, Berlin/West Erwin Leibfried, Gießen Jörg Leinweber, Marburg/L. Helmut Lethen, Maarssen/Niederlande Hans Linck, Darmstadt Christian Linder, Köln Thomas Ludwig, Darmstadt Hermann Malzer, Berlin/West Axel Marquardt, Münster Thomas Michael Mayer, Marburg/L. Albert Meier, München Elmar Mellwig, Marburg/L. Ludwig Metzger, Darmstadt Hartmut Müller, Köln Hermann-Josef Müller, Trier Michael Müller, Darmstadt Susanne Müller-Hanpft, Frankf./M. Shinichi Nakazato, München-Solln Johannes Neese, Berlin/West 19

Karl-Heinz Neese, Oldenburg Monika Nickeisen, Oslo Reiner Niehoff, Berlin/West Henrich v. Nussbaum, Frankfurt/M. Günter Oesterle, Gießen Ingrid Oesterle, Gießen Seiji Osawa, Marburg/L. Ulrike Paufler, Dannstadt Sylvia Peuckert, Darmstadt-Eberstadt Riitta Pohjola, Oulu/Finnland Wolfgang Promies, Darmstadt Wolfgang Proß, München Michael Raab, Kleinwallstadt Petra Raymond, Münster Gunter Reiß, Rösrath-Forsbach Klaus-Peter Reiß, Darmstadt Barbara Remmel, Wuppertal Hans Gerd Rotzer, Bensheim Hartmut Rosshoff, Marburg/L. Friedrich Rothe, Berlin/West Hans-Joachim Ruckhäberle, Paris Gerhard Schaub, Trier Hilde Schul, Darmstadt Gabriele Schmidt, Darmstadt Michael Schneider-Carius, Marburg/L. Micheline Schöffler, Darmstadt Reinhard Schönbrunn, Münster

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Bernd Schubert, Marburg/L. Ute v. Schuckmann, Mühltal Genia Schulz, Berlin/West Manfred Schulz, Kiel Ernst-Henning Schwedt, Frankf./M. Anneliese Senger, Hürth-Efferen Jürgen Sieß, Bielefeld Ralph Sina, Münster Reinhard F. Spieß, Münster Marie-Luise Staricfc, Darmstadt Peter G. Steese, Durham/USA Ludwig Stock, Reinheim Jenny Thieberger, Nice Richard Thieberger, Nice Bernward Thole, Marburg/L. Jörg Thunecke, Nottingham Roland Tscherpel, Gießen Silvio Vietta, Wilhelmsfeld Ludwig Völker, Münster Ruth Wagner, Wiesbaden Günter Waldmann, Eningen Margaret Whitaker, Berkhamsted/ England Wolfgang Wittkowski, Loudonville/ USA Martina Zanken, Marburg/L. Marie-Luise Zeuch, Stuttgart Erich Zimmermann, Darmstadt

Einleitungsreferat

Abschluß und Neubeginn Vorläufiges zur Büchner-Rezeption und zur Büchner-Forschung heute Von Reinhold Grimm (Madison/Wisc.)

Solche Werke, wie diejenigen Büchner's, kommen nie zu spät. (Wilhelm Schulz, 1851)

Machen wir uns nichts vor. Volle anderthalb Jahrhunderte trennen, rund gerechnet, die Gründung einer >Georg Büchner Gesellschafts deren erste, vielleicht nicht zufällig internationale Tagung und die Veröffentlichung eines Büchner Jahrbuchs (die unmittelbar bevorsteht) vom Leben, Wirken und Schaffen dessen, dem sie gewidmet sind. Die mit Büchner so oft und nicht immer zu Recht verknüpften Grabbe und Hebbel, auch Eichendorff, E. T. A. Hoffmann oder Jean Paul, ja selbst Görres besitzen in Deutschland, zum Teil seit vielen Jahrzehnten, ihre Gesellschaften und diese wiederum ihre Jahrbücher oder zumindest >BlätterBrecht Society< gibt es ebenfalls schon seit gut zehn Jahren - sie freilich, wie ihr Name verrät, außerhalb Deutschlands, nämlich in den USA. Und vollends eine >Carl-ZuckmayerGesellschaft< entstand sogar noch zu Lebzeiten dieses Büchnerschen Landsmannes, der gleich Bertolt Brecht gezwungen wurde, aus seiner Heimat zu fliehen. Georg Büchner jedoch, der 1815 in Goddelau geborene, hier in Darmstadt aufgewachsene und 1837 im Schweizer Exil gestorbene deutsche Dichter, der schwerlich - obwohl ich solche Urteile nicht liebe - weniger bedeutend ist als die meisten der Genannten und sicher bedeutender als manche: er hat bis 1979, also genau hundert Jahre nach Erscheinen seiner ersten Gesamtausgabe, warten müssen. Das allein, meine ich, sagt bereits etwas über sein Schicksal unter den Deutschen. 21

Oder am Ende bloß unter den Germanisten? Ich möchte nicht aufs neue das leidige Lied der Selbstbezichtigung anstaunen, das in unserem Fach ja üblich ist oder doch eine ganze Weile war; aber zu denjenigen, welche Büchner entdeckten, zählten unsere Vorgänger auf den Lehrstühlen, in den Archiven und Bibliotheken gewiß nicht. Dieses Verdienst dürfen andere, Dichter und Kritiker zumal, für sich in Anspruch nehmen. Auch wenn wir, wie billig, von den einst für Büchner tätigen Freunden und Zeitgenossen wie Wilhelm Schulz (auf den ich zurückkommen werde) oder Karl Gutzkow einmal absehen, so war es eben, wie wir alle wissen, ein Schriftsteller, der heute seinerseits wiederentdeckte Karl Emil Franzos, dem wir jene erste Gesamtausgabe von 1879 verdanken. Bis dann der erste germanistische oder allgemein literarhistorische Beitrag von Gewicht erschien, die einfühlsame Darstellung aus der Feder Paul Landaus1, mußte abermals fast ein Menschenalter vergehen. Längst hatten sich in der Zwischenzeit die jungen Naturalisten, Dichter wie Gerhart Hauptmann und Frank Wedekind, für Werk und Gestalt Büchners begeistert und schöpferische Anstöße von ihnen empfangen, ja waren verehrungsvoll, in liebender Bewunderung, zu Büchners Grab nach Zürich gepilgert; und diese Form der produktiven Rezeption, die im Lauf der Jahre und Jahrzehnte auch Dichtungen an und über Büchner zeitigen sollte, wiederholte sich im Expressionismus und in der Neuen Sachlichkeit und hat sich unbeschadet des durch die Unheilsdaten 1933 und 1945 markierten Bruchs bis in die allerjüngste Gegenwart nicht einfach nur fortgesetzt, sondern mehr und mehr vertieft und ausgebreitet. Wobei sie zudem keineswegs auf den deutschen Sprachraum beschränkt blieb. Im benachbarten Frankreich etwa, das nicht umsonst für Leben und Denken Büchners eine entscheidende Bolle gespielt hat, machte sich ein vergleichbarer Aufnahmevorgang ebenfalls schon erstaunlich früh bemerkbar. Doch solche - allerdings vereinzelten - Reflexe jenseits des Rheins und überhaupt im Ausland sind noch kaum beachtet worden, während Büchners Aneignung durch Schriftsteller oder auch Komponisten deutscher Zunge natürlich bekannt und im wesentlichen erfaßt und aufgearbeitet ist. Gerade in letzter Zeit wurden dazu mehrfach Sammlungen und Untersuchungen veröffentlicht.2 Es dürfte indes trotzdem nicht unangebracht sein, einiges Bekannte ins Gedächtnis zurückzurufen, ehe wir das Fehlende ergänzen. Bezeichnend scheint mir vor allem das Beispiel des expressionistischen Lyrikers Georg Heym, der sich zunächst zwar notierte, daß er Büchner »wenig kenne«, bald jedoch überwältigt in 1 1909; vgl. den teilweisen Neudruck in Martens, S. 16ff. 2 Vgl. insbes. den von Dietmar Goltschnigg herausgegebenen Band Materialien zur Rezeptions· und Wirkungsgeschichte Georg Büchners. - Kronberg 1974. Ferner Goltschniggs Monographie Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Büchners. - Kronberg 1975.

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sein Tagebuch eintrug: »Georg Büchner erhalten und einen neuen Gott [...] auf den Altar gestellt.« Das war immerhin im Januar 1909.3 Drei Jahre danach bezeugte Robert Waiser seine Verbundenheit mit dem Dichter von Dantons Tod und FToyzeck;4 weitere vier Jahre danach, in dem Novellenband Das rasende Leben, ehrte Büchners engster Landsmann unter den Modernen, der Dannstädter Kasimir Edschmid, seinen »sehr großen toten Bruder« und dessen »Andenken«.5 Was im besonderen das Woyzeck-Fragment betrifft, so hatte selbst der so völlig anders als Büchner geartete Rainer Maria Rilke es bereits in einem Brief vom 9. Juli 1915 als »ein Schauspiel ohnegleichen«, »eine ungeheure Sache« gerühmt;6 und ähnlich hingerissen äußerte sich übers Danton-Drama und die »dichterische Vision« darin kein Geringerer (und kritischer Gesinnter) als Robert Musil.7 Ja, sogar Hugo von Hofmannsthal bemühte sich um diese revolutionären Werke, obwohl er doch mit seinem Schaffen die Revolution ausdrücklich zurücknehmen wollte und sein Regisseur Max Reinhardt Jahre später etwa den Bettler aus dem Salzburger Großen Welttheater, den reuigen Aufrührer mit dem Beil, geradezu in einen frommen, legendenhaft bekehrten Danton zu verwandeln suchte .. .8 Andererseits sollte man aber weder darüber noch über der berühmten Zwölftonoper Wozzeck von Alban Berg, durch die der Name des hessischen Dichters erstmals um die Welt ging, vergessen, was sich damals sonst vollzog. Nicht allem das »Stück um Büchner« von Franz Theodor Csokor, mit dem programmatischen, obzwar nicht voll eingelösten Titel Gesellschaß der Menschenrechte, stammt nämlich aus jener Zeit vor 1953, sondern auch der großangelegte Versuch über Büchner von Arnold Zweig.9 Zugegeben, nicht einmal er, Zweigs umfangreicher Essay von 1925, stellt in den Augen einer strengen Zunftgelehrsamkeit, die noch den verdienten Franzos bei aller Anerkennung als »Dilettanten« abstempeln zu müssen glaubt10, einen sogenannten >echten Forschungsbeitrag< dar. Na, wenn schon, möchte man darauf erwidern. Diese Forschung wäre zweifellos besser beraten, nähme sie, statt unentwegt und allzu überzeugt ihr Eigenstes beizusteuern, gelegentlich derlei >Fremdes< zur Kenntnis und sei es auch nur zum Zwecke der Provokation oder, was fruchtbarer wäre, als Korrektiv oder wenigstens Stimulans. Und ganz dasselbe gilt 3 Georg lleym: Dichtungen und Schriften. Hrsg. von Karl Ludwig Schneider. - Darmstadt I960, Bd. III, S. 118 u. 124. 4 Vgl. Robert Waiser: Büchners Flucht - In: Die Schaubühne 8 (1929), S. 174. 5 So im »Vorspruch«. 6 Vgl. Rainer Maria Rilke u. Marie von Thurn und Taxis: Brieftvechsel Besorgt von Ernst Zinn. - Zürich 1951, Bd. I, S. 426f. 7 Vgl. Robert Musil: Prosa, Dramen, späte Briefe. Hrsg. von Adolf Friso. - Hamburg 1957, S. 004. 8 Vgl. hierzu Cynthia Walk: Hojrnannsthals »Großes Welttheaten. Drama und Theater. - Heidelberg 1980, insbes. S. 146 ff. 9 Franz Theodor Csokor: Gesellschaß der Menschenrechte. Stück um Georg Büchner. - Berlin · Wien · Leipzig 1929; Arnold Zweig: Lessing, Kleist, Büchner. Drei l/ersuche. - Berlin 1925. 10 So Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. -Stuttgart 1977, S. 105.

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übrigens in erhöhtem Maße von den neueren und neuesten Texten an und über, mit und sogar - ob vermeintlich oder tatsächlich - gegen Büchner. Das kann hier des näheren nicht erörtert werden, braucht es auch nicht Stichworte genügen. Auf Anhieb ist ja offenkundig, wie vielfältig diese Einsichten und Ausblicke, diese Arten der Huldigung oder Würdigung wie insgesamt der kreativen Nachfolge und Auseinandersetzung und, mit ihrer Hilfe, der kritischen Selbstverständigung mittlerweile, in den Jahren nach 1945, geworden sind. Die Texte, die sich dabei konkret ergeben haben, reichen vom dreizeiligen Epigramm bis zu den Großformen des Dramas, der Novelle, des Romans; vom isolierten Figurenelement oder Motiveinsprengsel bis zum einheitlichen, in sich geschlossenen Werk, das in all seiner Komplexität entfaltet und durchgeführt wird; von Anspielung, Zitat und Variation über ein Neubedenken und Weiterdichten bis hin zu dem, was wir seit Brecht als mehr oder minder radikalen »Gegenentwurf« zu bezeichnen pflegen. Sämtliche Büchnerschen Dichtungen und Schriften - neben Gestalt und Schicksal des Dichters selber, versteht sich - sind in dieser Entwicklung vertreten. 1956: Heiner Müller schreibt sein dem Zyklus Lektionen zugehöriges Gedicht Oder Büchner." 1958: Max Frisch beginnt sein Parabelstück Andorra, das er 1961 abschließt; die Schlüsselfiguren der Barblin und des Soldaten sind unverkennbar denen Maries und des Tambourmajors im Woyzeck nachgebildet. 1964: Peter Weiss beendet, ebenfalls nach längeren Vorarbeiten, sein Stück Marat/Sade, das zwar eher mittelbar, aber nicht minder deutlich aiuDantons Tod zurückgreift. 1965: Hans Magnus Enzensberger gibt den Hessischen Landboten neu heraus und stellt ihn bewußt in den »politischen Kontext« (so sein Nachwort) der inzwischen begonnenen Befreiungskämpfe in der Dritten Welt.12 1966: Kasimir Edschmid, der zeitlebens von seinem Bruder in Apoll Faszinierte, legt seinen historischen Roman Georg Büchner vor; das Werk, Hunderte von Seiten umfassend, erhält den bedeutungsvollen Zusatztitel »Eine deutsche Revolution«. 1972: Büchners Tody das Stück des deutschschreibenden, 1941 geborenen, 1969 wegen schweren Landfriedensbruchs im Zusammenhang mit den Studentenunruhen zu neun Monaten Gefängnis verurteilten Chilenen Gaston Salvatore, der wie Weiss die Intellektuellenproblematik und das Problem des Sexus, wie Enzensberger die Frage der Dritten Welt thematisiert, gelangt zur Uraufführung: und zwar durch das Hessische Staatstheater in Darmstadt. Daß damit die Liste noch beileibe nicht erschöpft ist, muß ich nicht eigens beteuern. Ferner zu nennen wären, wie bekannt, Peter Schneiders 11 Heiner Müller: Geschichten aus der Produktion i: Stücke · Prosa · Gedichte · Protokolle. - Berlin 1974, S. 83. 12 Georg Büchner / Ludwig Weidig: Der Hessische Landbote. Texte, Briefe, Prozeßakten. Kommentiert von Hans Magnüs Enzensberger. - Prankfurt 1965, S. 162.

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Erzählung Lenz und Volker Brauns Unvollendete Geschichte, dazu Brauns Essay Büchners Briefe™; denn - um auch das einmal mit allem Nachdruck auszusprechen - der Prozeß einer solchen produktiven Aneignung findet, anders als der viel weniger ausgewogene wissenschaftliche Fortschritt, ebensosehr in der DDR wie in der BRD statt Den besten Beweis dafür liefert ebenderjenige Text, in dem diese Form der Büchner-Rezeption vorläufig gipfelt: das halb dramatische, halb epische Stück Der Auftrag von Heiner Müller. Sowohl Büchners geschichtlicher Stoff und sein eigenes Tun und Denken als auch, möglicherweise zumindest, die Beiträge Edschmids und Enzensbergers, Weiss' und Salvatores sincl in Müllers Stück von 1979 intentional, im Hegeischen Wortsinn, >aufgehobene Schon der Zusatz, mit dem auch er seinen Titel versehen hat, nämlich »Erinnerung an eine Revolution«, läßt eine derartige Auslegung nicht bloß zu, sondern fordert sie förmlich.14 Freilich lehrt gerade das doppelte Beispiel Müllers, daß der Austausch zwischen Dichtung und Forschung keineswegs nur in einer Richtung verlaufen kann oder sollte. Jenes anfangs genannte Epigramm von 1956, in dem der Verfasser, nach Gedichten zu Brecht und Majakowski, plötzlich sich selber anredet, lautet ja folgendermaßen: »ODER BÜCHNER, der in Zürich starb 100 Jahre vor deiner Geburt Alt 23, aus Mangel an Hoffnung«

Die Müllerschen Verse werden zwar (falls ich ihren Verzicht auf Zeichensetzung am Ende richtig lese) mit Absicht offengehalten; doch wenn irgendwann, so ist es diesmal nicht die Dichtung, die der Forschung, sondern umgekehrt die Wissenschaft, die der dichterischen Intuition auf die Sprünge helfen darf. Denn Büchner starb ganz bestimmt nicht »aus Mangel an Hoffnung«, will sagen resigniert oder gänzlich verzweifelt. >Hier irrt Müllers wie man sich als Philologe, um das verbreitete Schreckbild wieder einmal zu bestätigen, vermutlich auszudrücken hat. Im übrigen entbehrt es nicht der Ironie, daß über Büchner im selben Jahr 1956 ein Professorenroman des DDR-Germanisten Geerdts erschien, der den verheißungsvollen Titel Hoffnung hinterm Horizont trug. Ich erwähne dies lediglich der Kuriosität wegen, da ja bereits die aufmerksame Lektüre der Büchnerschen Werke und Briefe, vollends aber die jüngste biographische Forschung mit ihrer Vielzahl von neuerschlossenen Dokumenten jede summarische Pessimismus-These von vornherein aufs gründlichste widerlegt. Er für sein Teil, schrieb Büchner unzweideutig aus dem Exil, wolle nach wie vor »das Beste hoffen«. Und beschwörend nochmals: »Hoffen wir auf die Zeit!«15 13 Vgl. jetzt GB ffl, S. 5-14, und GBJb 1/1981, S. 11-21. 14 Heiner Müller: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution. - In: Sinn und Form 31 (1979), S. 1244 ff. 15 Vgl. HA II, S. 442 u. 440.

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Ist Müllers erster Text demnach allenfalls eine Marginalie, so sein zweiter, der durch die Karibischen Geschichten von Anna Seghers angeregte von 1979, dafür urn so zentraler. Auch auf ihn wird deshalb noch zurückzukommen sein. Und Müller schlägt mit ihm obendrein, wie sich gleich zeigen wird, die Brücke von der Aufnahme Büchners im deutschen Sprachraum zum entsprechenden Vorgang im französischen. Das ist ein zusätzliches Indiz für den Stellenwert seines Auftrags; denn immerhin hat diese Parallelentwicklung in Frankreich schon in den zwanziger Jahren eingesetzt. Einen absolut schrankenlosen, unbedingten, geradezu schwärmerischen Bewunderer fand Büchner dort allerdings nicht vor Beginn der fünfziger Jahre: nämlich in der Person Arthur Adamovs, des 1970 freiwillig aus dem Leben geschiedenen französischschreibenden Dramatikers russischer Herkunft. Nicht nur sei beispielsweise Woyzeck das erste moderne deutsche Drama und überhaupt »une tres grande piece«, heißt es in Adamovs Aufzeichnungen, sondern Büchner sei schlechterdings (neben, ja noch vor August Strindberg, den der überschwengliche Wahlfranzose ebenfalls rückhaltlos bewunderte) der einzige europäische Dramatiker von Rang, der seit der elisabethanischen Blütezeit um 1600 diesen Namen wirklich verdiene. Oder wie ich es gern zugespitzt sage, um meine amerikanischen Rollegen aus den English Departments zu schockieren: Büchner wäre, hätte er länger gelebt, der neuzeitliche Shakespeare geworden... eine Einsicht, die ja, wie wir inzwischen wissen, schon Wilhelm Schulz vertrat.16 Adamov ist Büchner bis zuletzt treu geblieben, während er sich von Strindberg später ab- und mit derselben Leidenschaft Bertolt Brecht zuwandte. Zu wiederholten Malen berichtet er, er habe Mitte der fünfziger Jahre mit diesem, dem damals bereits vom Tode gezeichneten Begründer des epischen oder Verfremdungstheaters, einen ganzen Nachmittag lang über Büchner gesprochen.17 Daß derlei kein Zufall war, daß vielmehr der Dichter des Baal und des Galilei, der Mutter Courage und der Maßnahme, des Kaukasischen Kreidekreises und der Tage der Commune seinerseits das Erbe des Danton-Dichters aufgenommen und schöpferisch weitergegeben hat, bedarf, denke ich, keiner Erläuterung. Um freilich diese Zusammenhänge in ihrer vollen Bedeutung ermessen zu können, muß man sich vergegenwärtigen, daß Adamov ein glühender Verehrer nicht allein Büchners, sondern zugleich, und zwar von Anfang an, Antonin Artauds war. Es ist auch keineswegs unwahrscheinlich, daß Artaud ihn selber noch auf Büchner hingewiesen hat. Jedenfalls hat in den zwanziger Jahren niemand anders als er, der Bühnenekstatiker und 16 Vgl. hierzu Arthur Adamov: Ici et maintenant. - Paris 1964, S. 217 u. 188; ferner den Teilabdruck von Schulz' großem Rezensionsessay von 1851 bei Walter Grab: Ein Mann, der Marx Ideen gab. Wilhelm Schulz, Weggefährte Georg Büchners, Demokrat der Paulskirche. Eine politische Biographie. -Düsseldorf 1979, S. 151 ff. 17 Vgl. Arthur Adamov: L'Homme et l'Enfant. - Paris 1968, S. 130; dazu ders.: Ici et maintenant, S. 217.

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nachmalige Begründer des Theaters der Grausamkeit, das Phänomen Georg Büchner mit aller nur wünschbaren Verve und Deutlichkeit zu erkennen oder, wenn man lieber will, zu erahnen vermocht. Blickte indes Adamov bewundernd zu Büchner auf, so sah sich Artaud ihm als Ebenbürtiger brüderlich verbunden. Doch ist er darum durchaus nicht bloß en passant in einem seiner Manifeste (noch dazu recht halbherzig, wie manche argwöhnen) für Büchner eingetreten. Seine Behauptung, das YPoyzeck-Fragment erscheine im Programm des Theatre de la cruaute aus purem Widerspruchsgeist, »par esprit de reaction contre nos principes«18, darf uns nicht beirren. Denn in Wirklichkeit war die Entdeckung dieses Stückes für ihn eine wahre »Erleuchtung« (illumination), wie auch die französische Forschung, etwa Alain Virmaux, klipp und klar festgestellt hat.19 In einem Brief an Louis Jouvet erklärte Artaud unmißverständlich, »nichts«, buchstäblich »nichts« aus dem gesamten Vorrat der dramatischen Poesie, ja aus allem vorhandenen Geschriebenen und das wollte für diesen Literaturverächter etwas heißen — verlange dringlicher nach einer Aufführung als gerade Büchners Woyzeck. Sogar dessen Lustspiel Leonce und Lena empfahl er Jouvet!20 Trotzdem, faßt Virmaux zusammen, habe sich Artaud aber mehr noch als von Büchners Schriften von Büchner selbst, dem Menschen, den er in ihnen und durch sie hindurch gespürt habe, angezogen gefühlt. Es bestehe zwischen beiden, nach Wesen und Werk, eine geistige Verwandtschaft von derartiger Intensität, daß diese vollauf hinreichen würde, sie miteinander in Beziehung zu setzen, auch wenn der Franzose seinen deutschen »frere de race« nie für sich entdeckt hätte.21 Ich möchte dem zumindest in der Fragestellung grundsätzlich beipflichten. Schon als solche ist diese Beziehung von außerordentlicher Bedeutung. Oder genauer: dieses Beziehungsgewebe. Es handelt sich ja, weit über Virmaux hinaus, um die Zusammenhänge sowohl zwischen Artaud bzw. Brecht und Büchner als auch zwischen dessen zwei Nachfahren selber. Wenn aber jene, als fast gleichaltrige Zeitgenossen, zu Recht auf Büchner bezogen werden dürfen und wenn es außerdem zutrifft, daß das epische Verfremdungstheater des einen und das ekstatische Theater der Grausamkeit des anderen diejenigen Kräfte sind, welche, vereint und im Widerspruch, das moderne Welttheater während der letzten Jahrzehnte geprägt haben: dann, so meine ich, erhebt sich unabweisbar die gravierende, auch schwerlich bloß theaterhistorisch relevante Frage, ob nicht dieselbe widersprüchliche Einheit bereits in Büchners eigenem Schaffen vorgeprägt oder keimhaft angelegt gewesen sei.22 18 19 20 21 22

Antonin Artaud: (Euvres completes. - Paris 1956 ff., Bd. IV, S. 119. Vgl. Alain Virmaux: Antonin Artaud et le theatre. - Paris 1970, S. 111. Vgl. hierzu Artaud, Bd. III, S. 229 u. 257. Vgl. Virmaux, S. 111. Vgl. hierzu meinen Aufsatz Georg Büchner and the Modern Concept of Revolt. - In: Studi tedeschi XXI/2 (1978 (recte: 1979]), S. 7ff. (deutsche Fassung in GBJb 1/1981, S. 22ff.). 27

Und eine Hypothese dieser Art - die selbstredend im einzelnen nachzuprüfen wäre - scheint mir, so gewagt sie zunächst klingen mag, entschieden sinnvoller zu sein als die abgestandene und dennoch unermüdlich wiederaufgewännte These, wonach schon Büchner, das Theater eines Beckett oder gar lonesco vorwegnehmend, vergebens auf Godot und die kahle Sängerin gewartet habe, sein Werk also eine Präfiguration, er selbst aber ein Prototyp oder wenigstens, zusammen mit Kafka, ein »Chronist des Absurden« sei (wie man doch allen Ernstes verkündet hat).** Nein, zu erwägen, und allerdings sehr ernsthaft, ist etwas ganz anderes. Stücke wie Müllers Auftrag oder Weiss' Marat/Sade, die direkt oder indirekt Büchner fortsetzen, ja ihn >aufzuheben< trachten, enthüllen sich in der Tat als - um den Begriff beizubehalten — >Chronikenaufzuheben< sucht. Es gelingt ihr aber bei Müller und Weiss offenbar insofern, als hier beidemal auf musterhafte, obgleich höchst prekäre und beinahe singuläre Weise die Errungenschaften Brechts, dessen rational-kritisches Theater der Vernunft, und die Errungenschaften Artauds, dessen irrational-mythisches Theater der Körperlichkeit, zu gegenseitiger Steigerung widerspruchsvoll miteinander vereint sind ... Oder wäre das immer noch nicht gewagt genug? Selbst eine letzte, nunmehr fast anstößige Folgerung liegt ja, fürchte ich, auf der Hand. Ich hätte nämlich statt nationalkritisch genausogut >sokratischirrational-mythisch< einfach >dionysisch< sagen können; denn daß hierbei zwangsläufig, als wichtigster Vermittler und zugleich Störenfried zwischen Vormärz und Moderne, auch Friedrich Nietzsche mit seiner Geburt der Tragödie von 1872 in den Blick rückt und damit ein Bereich, der bisher kaum zu Büchner in Beziehung gesetzt wurde, dürfte sich nach alledem wohl ebenfalls nicht länger abweisen lassen. Daß ausgerechnet Nietzsche - wenn er derlei überhaupt kannte oder zur Kenntnis zu nehmen geruhte - sich anscheinend niemals um Büchner gekümmert, sich jedenfalls nirgends, soweit ich weiß, über ihn geäußert hat, braucht darum durchaus kein Einwand zu sein. Die Büchner-Forschung, stets bereit, Ärgernis zu geben wie zu nehmen, hat schon viel verwegenere philosophische Experimente unternommen ... Indes bleibe dahingestellt, zu welchem Ergebnis solche Erwägungen schließlich führen könnten. Als Fragen, wie gesagt, halte ich sie nicht nur für legitim, sondern für schlechthin notwendig. Ja, sie drängen sich einem förmlich auf. Müller zumindest hat sich nicht bloß, wie 25 So Leo Gilson Ribeiro: Cronistas do absurdo. Kafka, Büchner, Brecht. - Rio de Janeiro 1967.

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Weiss, auf Brecht und Artaud, sondern ausdrücklich auch, sogar in einem Atem mit ihnen, auf Nietzsche berufen.24 Neben diesen epochalen Zusammenhängen fallen punktuelle Bezüge, wie sie natürlich überall auftauchen können, nicht mehr ins Gewicht. So ließe sich zum Beispiel, um zur Abwechslung das englischsprachige Schrifttum zu streifen, im einzelnen darlegen, wie der Held in Arthur Roestlers Darkness at Noon, Rubaschow, dem Büchnerschen Danton nicht etwa nur entspricht, sondern bis in dessen Gedanken hinein gleicht.25 Doch auf diesen Text von 1940 einzugehen ist hier sowenig der Ort wie für eine detaillierte Betrachtung der übrigen >unzünftigen< Beiträge innerhalb wie außerhalb der deutschen Literatur. Ich möchte lediglich noch einmal betonen, wie gut wir daran tun würden, sie über der wissenschaftlichen Arbeit nicht aus den Augen zu verlieren. Manche dieser Beiträge mögen zwar nur am Rande von Wichtigkeit sein; dafür treffen andere desto nachhaltiger in den Kern. Als »bemerkenswerte« Zeugnisse aber dürfen sie alle gelten. Die letztere, ebenso allgemeine wie unbestreitbare Formulierung entstammt dem Büchner-Buch von Hans Mayer.26 Sie ist dort auf die vielfach gedruckten, auch gesammelt vorliegenden und von Mayer ganz analog als Teil der Forschung aufgefaßten Reden der Büchner-Preisträger gemünzt. Und ein paar Bemerkungen zu diesem Preis, dieser mit der Stadt, in der wir uns befinden, ja unlösbar verbundenen Institution des deutschen literarischen Lebens scheinen mir, bevor ich mich zum Schluß mit der eigentlichen Forschungssituation auseinandersetze, nicht bloß erlaubt, sondern geboten. Man hat nämlich kürzlich die Verleihung des Büchner-Preises (»des angesehensten deutschen Dichtkunstpreises«, wie man immerhin einräumte) etwas von oben herab als einen »Wiedergutmachungsversuch« bezeichnet, der da alljährlich in Darmstadt inszeniert werde.27 Darauf wäre, da dies offensichtlich nötig ist, nicht ohne Schärfe zu entgegnen, daß es in Deutschland schon allerhand bedeutet, wenn gerade dieser Preis nicht nach Goethe oder Schiller, sondern nach Georg Büchner heißt. Auch darf vielleicht daran erinnert werden, daß selbstverständlich, solange das großherzogliche Haus in Hessen regierte, hier kein allzu lautstarkes Eintreten für den Verschwörer und Aufwiegler möglich 24 Ich darf hierzu, neben dem bereits in Anm. 22 genannten Aufsatz, auf folgende Arbeiten von mir verweisen: Nach dem Naturalismus. Essays zur modernen Dramatik. - Kronberg 1978, S. 185ff.; Dionysus and Socrates: Nietzsche and the Concept of a New Political Theater. - In: Neohelicon VII/1 (1979), S. 147ff.; The Hidden Heritage: Repercussions of Nietzsche in Modern Theater and Its Theory. - In: Nietzsche-Studien 12 (1983), (im Erscheinen). - Zu Heiner Müller vgl. dessen Faksimile einer Notiz in dem von Wolfgang Storch herausgegebenen Band Stücke der Zwanziger Jahre. - Frankfurt 1977, S. 132. 25 Vgl. hierzu Heinz Wetzel: Revolution and the Intellectual: Büchner's Danton andKoestler's Rubashov. - In: Mosaic X/4 (1977), S. 23 ff. 26 Vgl. H. Mayer, S. 492. 27 So Peter von Becker: Die Trauerarbeit im Schönen. »Dantons Tod" - Notizen zu einem neu gelesenen Stück. - In: ders. (Hrsg.): Georg Büchner: Dantons Tod. Die Trauerarbeit im Schönen. Ein Theaterlesebuch. Frankfurt 1980, S. 75ff.; hier S. 76.

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war, der geschrieben hatte, der Fürst sei »der Kopf des Blutigels«, der über das hessische Volk »hinkriecht«28, daß aber ebendieses Volk bereits 1925, kaum daß es mit dem Zusammenbruch der Fürstenherrschaft souverän geworden war und obwohl es damals selber wieder bitterste Not litt, erstmals einen solchen Preis im Namen Büchners stiftete. Und damit war der Verfasser des Hessischen Landboten endgültig »als literarischer Schutzheiliger seines Vaterlandes [...] entdeckt«, wie man das leicht pathetisch, wenn auch nicht unzutreffend formuliert hat.29 Dieser erste Büchner-Preis, ins Leben gerufen auf Initiative von Julius Reiber - Ehre seinem Andenken - und seit 1923 vom Volksstaat Hessen verliehen, war allerdings nicht schon, so wie heute, ein reiner und überregionaler, ja übernationaler deutscher Literaturpreis, sondern er beschränkte sich auf hessische Künstler, wenngleich sämtlicher Sparten. Nach 1945 in seiner alten Form erneuert, und zwar abermals auf Betreiben seines ursprünglichen Initiators, wurde er noch mehrere Jahre so fortgeführt, bis er endlich 1951 auf Grund eines Vertrags zwischen dem Hessischen Kultusminister, dem Magistrat der Stadt Darmstadt und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an diese überging und seither als Preis für alle Dichter und Schriftsteller, die sich der deutschen Sprache bedienen, verliehen wird. Der erste damit Ausgezeichnete war bekanntlich der fünfundsechzigjährige Gottfried Benn. Ich finde, es ziemt sich für eine nach Büchner benannte Gesellschaft auf ihrer ersten Tagung, zumal hierorts und hierzulande, diese dreifache Stiftung eines Büchner-Preises in Hessen dankbar zu rühmen... Nun ist freilich andererseits nicht unbekannt, daß sich im hessischen oder auch Darmstädter Volk - oder doch in gewissen Schichten daraus - Proteste gegen Verleihungen melden können (ich denke an den Fall Günter Grass) und daß selbst die Akademie (ich denke an den Fall Enzensberger) über ihre Preisträger keineswegs immer einig zu sein braucht. Aber solche Meinungsverschiedenheiten sind nicht nur begreiflich, sondern gehören sozusagen zur Sache. Eine Preisentscheidung kann zwar oft mit der Zustimmung vieler, höchst selten hingegen mit dem einhelligen Beifall aller rechnen. Zur diesjährigen Wahl freilich, die auf Martin Waiser fiel, kann man die Akademie wirklich nur beglückwünschen. Sie hätte keinen Würdigeren finden können. Für ihre nächste möchte ich aber trotzdem ganz persönlich einen Vorschlag machen dürfen. Und der lautet unumwunden: Peter Weiss. Auch andere, zugestanden, kämen in Frage. Ich halte dafür, daß endlich der Sozialist Weiss an der Reihe ist: er, der gleich Büchner in die Emigration gehen mußte, gleich Büchner zu 28 Vgl. HA II, S. 44/45. 29 Ernst Johann: Der Georg-Büchner-Preis 1923-1951. - In: Der Georg-Büchner-Preis (1951-1978). Einr.Amstettung des Deutschen Literaturarchivs und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. - Marburg 1978, S. 13ff.; hier S. 17.

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den großen Gestaltern der modernen Revolutionsthematik zählt. Die Vollendung seiner dreibändigen Ästhetik des Widerstands im vergangenen Frühjahr, seines 65. Lebensjahres im kommenden Herbst bietet, falls man wirklich um einen Anlaß verlegen sein sollte, eine mehr als günstige Gelegenheit. Soviel zu dem besagten »Wiedergutmachungsversuch« und zur Büchner-Rezeption insgesamt, von der die Verleihung eines Preises ja nicht zu trennen ist. Was aber die Forschung betrifft, insbesondere in ihrer heutigen Situation, so berührt sie sich wohl nicht zufallig mit beidem. Jedenfalls begann auch sie, nach vereinzelten Vorläufern, in größerem Umfang erst Anfang der zwanziger Jahre und setzte dann nach 1945 neu ein: markiert zum einen, auf ihrer früheren Stufe, durch die Bergemannsche Edition, die auf Jahrzehnte hinaus eine als verläßlich angesehene Textgrundlage lieferte, und zum anderen, auf ihrer späteren Stufe, durch die Monographien von Hans Mayer und Karl Vietor30, die als dermaßen bahnbrechend empfunden wurden, daß einige sie rundweg schon für definitiv erklären wollten. Derlei war zweifellos übereilt; das Zeitgebundene und auf die Dauer Unbefriedigende dieser wie so vieler Bemühungen um Büchner ist inzwischen erwiesen. Was jedoch nicht das geringste am Verdienst und an der historischen Bedeutung solcher Pionierarbeit ändert. Zum Beispiel Mayer hat beileibe nicht bloß, wie er mit koketter Bescheidenheit vorschlägt, »ein bißchen« zur Büchner-Forschung beigetragen. Bereits 1959 vermerkte gerade er, es sei »mit dem Ende des zweiten Weltkrieges auch eine neue Phase der Wirkung Büchners« eingetreten; denn »nun erst« habe »jenes hessische literarische Phänomen als weltliterarisches« die gebührende Anerkennung erlangt, seien Büchner und dessen Werk »in vielfältiger Art« zum Gegenstand der »Anteilnahme in der ganzen Welt geworden« - und zwar keineswegs nur, dürfen wir jetzt ergänzen, einer »künstlerischen« Anteilnahme, sondern eben vor allem auch einer wissenschaftlichen.31 Sprechen wir also ruhig - jeder Blick auf unser Tagungsprogramm bestätigt es - von einer internationalen Büchner-Forschung! Hervorzuheben ist aus ihr, mit zahlreichen Essays und Artikeln und den selbständigen Schriften Richard Thiebergers und Jean Auger-Duvignauds32> nicht zuletzt wieder die Heimat Artauds und Wahlheimat Adamovs, Frankreich. Doch daneben regte sich bald und immer kräftiger auch die angloamerikanische Büchner-Forschung, die zeitweilig sogar die Führung übernahm; des weiteren die italienische Forschung und schließlich die skandinavische. Blieb es in dieser, nämlich in Schweden, bei der isolier30 H. Mayer bzw. Vietor. 31 Vgl. H. Mayer, S. 11, 443 u. 447. 32 Richard Thieberger: Georges Büchner. La Mort de Danton. Publiee avec le texte des sources et des corrections manuscrites de l'auteur. - Paris 1953; Jean Auger-Duvignaud: Georg Büchner dramaturge. - Paris 1954.

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ten und schon deswegen um so nachdrücklicher zu begrüßenden Studie von Bö Ullman53, zu der sich freilich unlängst ein kleiner, aber höchst gehaltvoller Aufsatz aus Dänemark gesellte, so vollzog sich umgekehrt in Italien sowie in den Ländern, die sich als »the English-speaking community« verstehen, eine echte, wesentlich breitere und mit dem Gang der, sagen wir einmal, >einheimischen< Büchner-Forschung durchaus vergleichbare Entwicklung. Jenseits der Alpen blieb es jedenfalls nicht bei der schmächtigen Broschüre von Giorgio Dolfini34; vielmehr widmete die Zeitschrift Studi tedeschi Büchner ein ganzes, in jeder Hinsicht gewichtiges Heft35, und sie ließ bezeichnenderweise außerdem, wie ihre Schwesterzeitschrift Studi germanici, bereitwillig die ausländische Büchner-Forschung zu Wort kommen. Eine ähnliche Urbanität, die mir ein überaus erfreuliches Zeichen scheint, ist neuerdings auch anderswo und bereits bis hinauf nach Skandinavien feststellbar: so hat etwa jener in Dänemark erschienene Aufsatz, den ich erwähnte, keinen dänischen, sondern den deutschen Literarhistoriker Heinrich Anz zum Verfasser.36 Was vollends die anglo-amerikanische Forschung anbelangt und namentlich die ihr soeben attestierte - begrenzte - Führungsrolle, so war damit selbstverständlich das 1976 veröffentlichte Buch des noch vor dessen Erscheinen verstorbenen, in Australien tätig gewesenen Engländers Maurice B. Benn gemeint37: ein Werk, das »in weiten Teilen«, wie die Kritik mit seltener Einmütigkeit erklärt hat, zu einer »wirklichen Revision« bisheriger Anschauungen führen, ja vielleicht dazu bestimmt sein könnte, »die überholten Standardwerke Victors und Hans Mayers« (so Thomas Michael Mayer) mindestens »vorerst« abzulösen, weshalb es, wiederum Mayer zufolge, schnellstens ins Deutsche übersetzt werden sollte.38 Zum Ausgleich fuge ich allerdings sofort hinzu, daß dieselbe angloamerikanische Forschung auch das zweifelhafte Verdienst für sich in Anspruch nehmen darf, eines der fragwürdigsten Erzeugnisse der Büchner-Literatur hervorgebracht zu haben: nämlich die arrogante Schrift von Benns englischem Landsmann Knight.39 Auf alles übrige zwischen diesen Extremen muß und kann ich verzichten; ich möchte lediglich noch den amerikanischen Komparatisten Herbert Lindenberger nennen, der ja nicht bloß 1964 die vor Benn brauchbarste englischsprachige Monographie über den Dichter vorgelegt hat, sondern zusätzlich 1975, nach einem vorbereitenden Essay über Dantons Tod, eine Art gattungspoeti33 Bö Ullman: Die sozialkritische Thematik im Werk Georg Büchners und ihre Entfaltung im »Woyzeck«. Mit einigen Bemerkungen zu der OperAlban Bergs. - Stockholm 1972. 34 Giorgio Dolfini: teatro di Georg Büchner. - Milano 1961. 35 XIX/2 (1976). 36 Heinrich Anz: »Leiden sei all mein Gewinnst.« Zur Aufnahme und Kritik christlicher Leidenstheologie bei Georg Büchner. - In: Text £ Kontext 4/3 (1976), S. 57ff. (überarbeitet auch in: GBJb 1/1981, S. 160ff.). 37 Benn. - Vgl. dazu meine Besprechung in Educational Theatre Journal 29/1 (1977), S. 126f. 38 Vgl. Rnapps u. Thomas Michael Mayers Bemerkungen in GB MI, S. 441 bzw. 338. 39 Arthur H. J. Knight: Georg Büchner. - Oxford 1951.

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scher Untersuchung zum Thema Historical Drama, die Büchner ebenfalls stark berücksichtigt.40 Und wie in der deutschen, so kann man natürlich auch in der außerdeutschen Forschung mitunter selbst Werken, die sich mit ganz anderen Problemen befassen, wertvolle Anregungen zur Beschäftigung mit Büchner entnehmen; ein Beispiel hierfür wäre Benjamin Bennetts kühner, den gesamten Zeitraum von Lessing bis Brecht umspannender Entwurf Modern Drama and German Classicism, der 1979 herauskam.41 Ich breche diese forschungsgeschichtliche Skizze hier ab. Denn es kann wohl schwerlich die Aufgabe einer Eröffnungsrede sein, mit einem figurenreichen Kolossalgemälde aufzuwarten, will sagen in Form eines zünftigen Forschungsberichts sämtliche Leistungen und Fehlleistungen der internationalen Büchner-Forschung umständlich mit Namen, Daten und Fakten zu rekapitulieren oder gar, wie sie es in beiderlei Wortsinn verdienen würden, zu rezensieren. Ohnehin sind wir alle mit ihnen vertraut und haben, jeder auf seine Weise, an ihnen teil. Zu fragen ist daher einzig und allein noch, ob neben solcher Internationalität, solcher ja unleugbaren Ausweitung des Umgangs mit Büchner, die sicherlich endgültig ist, und neben der Gründung dieser unserer Gesellschaft mit ihrem nomen est omen - bei einer Europäischen Verlagsanstalt erscheinenden Jahrbuch: ob, sage ich, neben alledem auch der eigentliche Gang der Büchner-Forschung heute nicht nur einem vorläufigen Abschluß zustrebt, sondern darüber hinaus, wie vorläufig immer, einen Neubeginn erkennen läßt und inwiefern sich dabei, wie bereits angedeutet, Berührungen mit der produktiven, der kreativen Büchner-Rezeption ergeben. An vorläufigen Marksteinen auf dem Wege fehlt es bekanntlich nicht: von Werner R. Lehmanns großgeplanter, wenn auch leider nach ihrem zweiten Band ins Stocken geratener »Historisch-Kritischer Ausgabe mit Kommentar« über diverse Einzeleditionen und ehrgeizige Gesamtdarstellungen einerseits, Einzelfunde und -beitrage sowie Quellenerschließungen andererseits bis hin zu den so monumentalen wie sensationellen 36 Folio-Bänden der Mayerschen Dokumentation und dem auf sie gestützten, fast im Alleingang von Mayer bestrittenen Sonderband der Zeitschrift Text + Kritik42, dessen Besprechung in der Zeit ja darin gipfelte, daß die bisherige Forschung nicht bloß für total »umgekrempelt«, sondern platterdings für obsolet erklärt wurde. »Tausende von Seiten«, hieß es, seien über Nacht »zu Makulatur« geworden .. ,43 In gewissem Sinne hat sich aber ganz und gar nichts geändert, ob40 Herbert Lindenberger: Georg Büchner. - Carbondale 1964; ders.: >Danton's Death< and the Conventions of Historical Drama. - In: Comparative Drama 3 (1969), S. 99ff.; ders.: Historical Drama. The Relation of Literature and Reality. - Chicago and London 1975. 41 Benjamin Bennett: Modern Drama and German Classicism. Renaissance Jrom Lessing to Brecht - Ithaca and London 1979, insbes. S. 156ff. 42 GBW. 43 Rolf Michaelis: Die Wahrheit unter dem Rock. - In: Die Zeit, Nr. 29 (20.7. 1979), S. 16.

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schon in anderem viel. Ich will das zum Abschluß mit wenigen Sätzen zu begründen versuchen. Oder um zum vorigen Bild zurückzukehren: Wenige umrißhafte Striche sind alles, was ich auf meiner Skizze noch anbringen kann. Dabei wird man es mir, hoffe ich, nachsehen, wenn ich nicht nur mit der gebotenen Knappheit, sondern auch mit leichterer Hand verfahre - gleichsam eher als Liebhaber, der ich im Falle Büchners bin und zu bleiben gedenke, denn als enragierter Fachgenosse. Massive Polemik gibt es in der Büchner-Forschung seit eh und je zur Genüge. Freilich, zuweilen erhält man auch freundschaftliche, geradezu liebevolle Mahnungen und Zurechtweisungen. So schrieb mir dieser Tage, und zwar im Hinblick auf meine bewußt als Provokation vorgebrachte Woyzeck-Lesart vom kleinen »Hundele«, das an einem großen »Hund« (statt am unsinnigen »Hut« der Handschrift) »schnüffelt« und »nicht drauf« kann44, ein Kollege aus Weimar bzw. Kanada, er habe die Handschrift daraufhin sorgfaltig überprüft. Und nun wörtlich: »Es war ein Hut, ganz eindeutig. Ein Veterinär-Psychiater sagte mir, Hunde, vor allem kleine, seien oft Filz-Fetischisten.« Das ist sehr hübsch, nicht wahr; und vermutlich hat der gelehrte Veterinär-Psychiater sogar recht. Daß jedoch Büchner die Liebe »in jeglicher Gestalt« - dies ja meine auch von anderen, beispielsweise Thomas Michael Mayer, aufgegriffene These45 wahrgenommen und dargestellt habe: das, finde ich, wird dadurch keineswegs widerlegt, sondern bekräftigt und zudem um eine ebenso interessante wie rare Variante erweitert. Büchner hätte demnach nicht nur, was längst aktenkundig ist, mit seinem Lenz die modernsten Einsichten in das Wesen der Schizophrenie, sondern mit seinem Woyzeck zu allem Überfluß diejenigen der modernsten Tierpsychiatrie in das Wesen kleiner Hunde genial vorweggenommen. Aber ernsthaft! Was in der Büchner-Forschung ist nach wie vor unverändert? Und was, ob bereits erwähnt oder nicht, ist in ihr neu? Dreierlei, scheint mir, grassiert in ihr auch heute noch zu einem beängstigenden Grade, obwohl es zum Teil seit rund einem halben Jahrhundert für sie typisch und wahrhaftig kein Ruhmesblatt ist. Nämlich erstens: der offenbar unausrottbare Hang, lauter »monokausale Begründungsversuche« (wie der sonst so rabiate Dokumenten-Mayer hier mit ungewöhnlicher Milde schreibt)46 zu unternehmen und auf Biegen oder Brechen durchzuführen, ja sich förmlich monoman - und in der Regel entsprechend monoton - auf eine einzige einheitliche Erklärung 44 Vgl. meinen Beitrag Cceur und Carreou. Über die Liebe bei Georg Büchner. - In: GB I/H, S. 299 ff. 45 Ebd., S. 322; dazu Mayer, ebd., S. 11 u. 155. - Wenn daher in einer kürzlich erschienenen Monographie zu Dantons Tod, die sich ausdrücklich bereits auf den Band Georg Büchner / bezieht, behauptet wird, in der Forschung werde »weder bedacht noch überhaupt erwähnt«, daß »Frauen in dem Drama auftreten und welche Bedeutung ihnen zukommt«, so ist das, schlicht gesagt, eine bewußte Unwahrheil und Irreführung des Lesers; vgl. Alfred Behrmann u. Joachim Wohlleben: Büchner: Dantons Tod. Eine Dramenanalyse. - Stuttgart 1980, S. 166 f. u. Anm. 137. 46 GBMl,S. 134.

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oder Begründung zu versteifen. - Zweitens und damit verknüpft: eine anämische, aber nicht minder unstillbare Neigung zum rein Gedanklichen und Weltanschaulichen, sei es existentieller oder auch politischer Art, und mithin ein maßloses Überwiegen des Ideologischen, Philosophischen, Religiösen ... was alles wieder Hans Mayer schon 1959 zu der betrübten Feststellung veranlaßte, die Büchner-Forschung sei »in eminenter Weise zu einem Weltanschauungsproblem geworden« (und das war selbstredend zugleich mit Blick auf die zwei deutschen Staaten und die in ihnen herrschenden Systeme oder gerade modischen Philosopheme gesagt und gilt ebenfalls heute wie damals).47 - Drittens schließlich und aus diesem wie jenem fast zwanghafl erwachsend: das starre Gegenüber jeweils konträrer, sich selbst für unfehlbar haltender und einander gegenseitig mit dem Bannfluch belegender Positionen nebst einseitig-einsinnigen, ja eigensinnigen Deutungsschablonen, deren Besitzer mit ungehemmter, von keinerlei Zweifehl angekränkelter Selbstsicherheit darauf pochen, die »Einheit« und schlechthinnige - so muß man wohl sagen »Identität« des Büchnerschen Lebens und Schaffens nicht bloß erstmals entdeckt, sondern gleich ein für allemal erfaßt, durchschaut und bewältigt zu haben. (Daß die zuletzt von mir zitierten Begriffe sowohl in einer radikal politischen, Büchner zu einem Robespierre redivivus stempelnden als auch in einer radikal unpolitischen, ihn zum frommen Christen verklärenden Deutung begegnen, die beide nicht das geringste miteinander zu tun haben, ist verräterisch genug; es spricht in der Tat Bände.)48 Ich verhehle nicht, daß die Forschung für diese Dinge nicht völlig blind geblieben ist, obzwar sie fast stets nur den Splitter im Auge des Nächsten, fast nie den Balken im eigenen sieht. So warnt sie etwa - ich erlaube mir hier eine kleine Textmontage - höchst lobenswert vor der »reduzierenden Betrachtungsweise«, die ihr drohe, sowie davor, daß Büchner durch sie »auf eine Formel verkürzt« werde; denn wer als Interpret was immer »in einem von ihm selbst bestimmten Sinne und unter allen Umständen buchstäblich >absolut< zu setzen« suche, dem müsse der wahre Sinn, der des Dichters, natürlich »vollkommen« entgehen. Nicht erhellt, sondern »verdunkelt« werde das Werk durch eine solche Prozedur; ja, es werde verzerrt und verfälscht.49 Statt dessen sei »Sinn für die' Komplexität« der Büchnerschen Dichtung zu fordern und zu pflegen - abermals, wie man zugeben wird, eine löbliche Erkenntnis und ein noch löblicherer Vorsatz.50 Die Büchner-Forschung freilich, mit verschwindenden Ausnahmen, beherzigt derlei am allerwenigsten. Nur ein 47 H. Mayer, S. 476. 48 Vgl. Jancke, S. 286, bzw. Erwin Kobel: Georg Büchner. Das dichterische Werk. - Berlin · New York 1974, S. 3 u. 317. 49 Vgl. ebd., S. 2; ferner Wolfgang Wittkowski: Georg Büchner. Persönlichkeit · Weltbild · Werk. - Heidelberg 1978, S. 73, Anm. 3. 50 Robel, S. 2.

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paar Zeilen weiter wird von ihr kurzerhand verfügt: Büchner »muß« (muß!) den »Horizont« für die »Einheit [...] der vielgestaltigen Gegensätze« seines Werkes »durch die Beschäftigung mit der Philosophie gewonnen haben«, wobei es aber drolligerweise gar nicht »so streng« darauf ankomme, ob er »die fraglichen Philosophen wirklich« gelesen habe. Alles hänge vielmehr, wie mit schöner Unbekümmertheit versichert wird, davon ab, »wie man Büchner und seinen Text versteht«.51 Wessen Text? Was den Ausschlag gibt, ist eben gerade nicht das Wort des Dichters, sondern die vorgefaßte Meinung, das Vorverständnis, die von außen herangetragene Vorentscheidung dessen, der da interpretiert. Das leidtragende Opfer aber heißt in all diesen Fällen Georg Büchner. Denn die fatalste Folgerung, die eine solche monokausale Betrachtungsweise ziehen zu dürfen meint, ist ja die, dem Dichter selber die Schuld aufzubürden, wenn er sich nicht gutwillig in ihr ideologisches Prokrustesbett zwängen läßt. Bleibt trotz hartnäckigster Anstrengung, ihn zu reduzieren und alles im Werk, was sich dagegen sträubt, entweder zu ignorieren oder zu eskamotieren, immer noch ein ungelöster Widerspruch, so darf der beileibe nicht an ihrer Methode, sondern muß an der Unzulänglichkeit, den denkerischen Mängeln oder einfach am Scheitern des Dichters liegen. Sogar der verdienstvolle Mayer - ich lasse offen, welcher - klagte, wie zurückhaltend immer, ein Stück wie Dantons Tod sei »von konzeptionellen Brüchen nicht ganz frei«52; und sogar ihm ist denn auch prompt vorgeworfen worden, er wolle »eine Einsinnigkeit in Büchners Schriften« hineinprojizieren, welche, gelinde gesagt, »nicht überzeugt«.53 Aber das sind Lappalien verglichen mit dem, was ansonsten, nämlich seit 1937, üblich ist. Schon Georg Lukäcs fand damals »sehr viel Unklarheit« statt bei sich selber bei Büchner; und von der »mangelnden Einsicht«, die dieser bekunde, reden die Jünger und Geistesverwandten des Ungarn bis heute.54 Die obstinate Fixiertheit aufs bloße und pure Denken, ja die Unterstellung, daß Büchner überhaupt »im Bezug auf das Denken«55 dichte, wie man uns doch tatsachlich glauben machen will, hat indes noch weitere üble Folgen. Zum einen nämlich versperrt dieser Berg von Bedeutung, der sich dabei aufgetürmt hat und der jedesmal höher und höher wächst, den Zugang zur Büchnerschen Dichtung, so daß man am liebsten, Camille Desmoulins abwandelnd, ausrufen möchte: >Sie vergessen den Dichter über seinen Gedanken [wenn es wirklich die seinen sind und 51 Vgl. ebd., S. 3 sowie Wittkowski, S. 8. 52 Es handelt sich (denn zumindest in der Fußnote muß man schließlich Farbe bekennen) um Thomas Michael Mayer; vgl. GB MI, S. 390. 53 So Hans-Thies Lehmann: Dramatische Form und Revolution in Georg Büchners >Dantons Tod< undHeiner Müllers >Der Auftrage-In: Die Trauerarbeit im Schönen (vgl. oben Anm. 27), S. 106 tf.; hier S. 121, Anra. 23. 54 Vgl. Georg Lukäcs: Derfaschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner. - In: Martens, S. 197ff.; hier S. 203. - Ferner Jancke, S. 120. 55 Robel, S. 325.

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nicht nur erschlossene, vermutete, ihm unterschobene]. Von der dichterischen Schöpfung, die sich glühend, brausend und leuchtend vor ihnen entfaltet, nehmen sie kaum mehr etwas wahr.< Oder wie Hans-Thies Lehmann das kürzlich ausdrückte: »Reduziert man Büchners Darstellung auf eine [...] Darlegung seiner >Ansichtenbeflecktdie Fräulein LottchenHammelmausbrief< heimlich grüßen läßt18 Die Cellarius - so sieht sie ein Autor -, früher »Sängerin an einem Theater«, hat ein Kind, das fern von ihr ist, »in einer anderen Stadt«, und einen hochgestellten Gönner, der ihr sehr nahe ist, in Darmstadt. Nur: während >die Cellariuss jenes Autors reife Schöne - Mätresse und Mutter -, den jungen Georg betört und verführt, ist Lottchen C. - nach Erich Zimmermann wohl »Nachbarkind«19 - noch ein sechzehnjähriger Backfisch.20) Nach ein oder zwei Stunden bei Wilhelm wird der Melibocus bestiegen. Rast am Felsenmeer. Der Name kommt Muston pompös vor - er stammt ja aus den Alpen, was sollen die paar mittelgroßen Steine -, aber hier rückt er Büchner sozusagen in eine heimische Kulisse und zeichnet ihn: Seine hohe Stirn (>nicht einmal Goethe hatte eine schönereHammelmausbrief< in: HA II, S. 450. 19 Erich Zimmermann: Grüße an Fräulein Lottchen. - In: Darmstädter Echo, 9. Mai 1981. Für den Hinweis auf diese Publikation danke ich Frau Bibliotheksrätin Christa Wolf, Hessisches Staatsarchiv, Darmstadt. - Freundlicherweise stellte mir T. M. Mayer das Manuskript seines Beitrags »Lottchen Cellarius« (vgl. jetzt GBJb 1/1981, S. 191 ff.) mit Schreiben vom 10. April 1981 zur Verfügung. 20 Frau Christa Wolf hat mir zwei Meldebögen für Charlotte Cellarius im Stadtarchiv Darmstadt aus den Jahren 1822 und 1839 freundlicherweise vorgelegt, denen zufolge Charlotte 1833 16 Jahre alt war, und merkt dazu an: »Charlotte Cellarius (die einzige gemeldete Charlotte Cellarius) steht auf dem Bogen der Mutter. Die Berufsangabe fehlt.« (Schreiben vom 9.4. 1981).

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»Schnappschüsse« mit Büchner zu verbinden sind, möchte ich offen lassen. Aufbruch, weiter: Gespräche über den Saint-Simonismus, über eine Art United Nations of Europe (»etats-unis de PEurope«), über >Ideen-PropagationPauline< bringt. Dumas - der Verfasser des Antony - arbeitet mit Muston zusammen an >Pauline< und verwendet sich dafür bei Felix Harel, dem Direktor des Theaters an der Porte Saint-Martin. Dort sind auch Hugos Lucrece Borgia und Marie Tudor uraufgeführt worden - beide handeln von Tyranninnen (aus dem »Häuflein« der »unersättlichen Presser«), die gerichtet werden und scheitern. 21 22 23 24

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251. Nachweis der Zitate im Zusammenhang der Odenwald-Wanderung: s. DVjs XIJV (1970), S. 578f. 253. 278. S. Alexis Muston: Histoire des Vaudois. - Paris-Strasbourg 1834. S. XVIII.

Die Borgia will sich dafür rächen, daß man ihr die Wahrheit über ihre Grausamkeit ins nackte Gesicht gesagt hat — vor einem jungen Mann, den sie liebt, und der sie, angewidert, ersticht. Die Tudor, die Bloody Mary, scheitert, weil sich das Volk gegen ihre Willkürherrschaft erhebt. Bis Paul Requadt anhand von Aufzeichnungen Mustons neue Perspektiven gezeigt hat, wurde das Verhältnis Büchner - Hugo weitgehend auf das gegründet, was Gutzkow in seinem >Nachruf< aus einem verlorenen Brief Büchners, aus dem Gedächtnis, zitiert.25 Sicher, Gutzkow vermittelte die Borgia- und Jkdor-Übersetzungen, aber es bleibt nicht auszuschließen: auf Büchners Wunsch. Daß Büchner zumindest eine Wahl hatte, welche (s) der Werke Victor Hugos zu übersetzen er bereit wäre, ist nicht nur nicht auszuschließen, sondern als konventionell anzunehmen. Auch T. M. Mayer gibt zu bedenken: »Immerhin dürfte es kaum zufallig gewesen sein, daß gerade Büchner jene Dramen über die obsessiven Leidenschaften zweier Herrscherinnen übersetzt hat«.26 Diese Vermutung wird durch die Muston-Berichte zumindest verstärkt - es waren für Büchner aktuelle Berichte, wohl gerade auch über diese beiden jüngsten Dramen von Victor Hugo, aus erster Hand. (Lucrece Borgia wurde am 2.2. 1853 uraufgeführt, Marie Tudor am 6.11. 1833.27) Tritt im Hinblick auf die Hugo-Übersetzungen Büchners Muston wenigstens teilweise in eine Rolle, die bisher allein Gutzkow zugemessen wurde?28 Muston selber war - als Büchner Anfang Juli 1835 an die Familie schreibt: »Mit meinen Übersetzungen bin ich längst fertig« - schon nicht mehr in Straßburg. Nach seiner Promotion hat er im August 1834 das Elsaß verlassen. Er ist aber nicht aus dem Kreis der Freunde Büchners ausgeschieden, denn gerade was Muston in der Zeit nach seiner Promotion unternommen hat, bzw. was ihm widerfuhr - nämlich ein Schicksal, ähnlich dem Georgs, und beinahe zur gleichen Zeit: drohende Verhaftung und Flucht -, das veranlaßte Ludwig Büchner zu der Fußnote in seiner Ausgabe der Nachgelassenen Schriften von 1850: »Muston, ein französischer Flüchtling, der am Savoyer-Zuge Theil genommen hatte, sich in Darmstadt aufhielt und viel mit dem Briefsteller [Georg Büchner, H. F.] correspondirte.«29 In der Nacht vom 8. zum 9. Januar 1835 wurde Muston in Rodoreti 25 Paul Requadt (s. Anm. 14), S. 106-138. 26 Thomas Michael Mayer: Georg Büchner. Eine kurze Chronik zu Leben und Werk, - In: GBI/II, S. 402. 27 Jean Gaulmier (De Fantine aux Vaudois d'Arras. - In: Bulletin de la Faculte des Lettres de Strasbourg, Janvier 1962, S. 239-248; künftig: Gaulmier) vermutet (S. 244), daß Muston bei der Premiere von Lucrece Borgia >assistiert< habe. Muston ist jedoch erst im Januar 1834 nach Paris gekommen. Auch an der Premiere von Marie Tudor kann er deshalb nicht teilgenommen haben; dieses Drama wurde am 28. Dezember 1833 abgesetzt 28 Die knappe Darlegung erschöpft nicht den Konnex Hugo - Muston. Muston war nicht nur der Nehmende, sondern auch Gebender, insbesondere angesichts des Interesses, das Hugo der Kirche der Waldenser entgegenbrachte. Bereits in Cromwell — erschienen 1827 - berührt Hugo Waldenserfragen (II, 2). 29 N, S. 250.

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(Piemont) gewarnt, daß am Turiner Hof seine Verhaftung beschlossen worden sei, angeblich wegen Verletzung von Zensurgesetzen durch die Veröffentlichung seiner Doktorarbeit.30 Muston trat in der gleichen Nacht eine abenteuerliche Flucht über die Alpen an und konnte sich nach Frankreich retten. Nachricht von der Flucht Mustons war offensichtlich nach Darmstadt gelangt, Büchner dürfte auch nach der Straßburger Zeit noch mit Muston Kontakt gehalten haben. Ob dabei Fragen, die Lucretia Borgia und Maria Tudor betreffen, zur Sprache kamen, bleibt offen. Als erstes schreibt Muston, nachdem er 1834 aus Paris nach Straßburg zurückgekehrt ist: »Une agreable surprise, en rentrant a Strasbourg, fut pour moi d'y trouver Buchner qui etait venu y passer quelques semaines.«31 »Une agreable surprise«, >eine schöne Überraschung< - une desagreable surprise? Jedenfalls schafft Mustons Chronologie Verlegenheit. Irrt Muston in der Zeitangabe? Führt er aus einem Grund, den wir noch nicht kennen, auf Glatteis? Oder muß die Büchner-Forschung ihre Chronologie überdenken? Wann kehrt Muston von seinem Parisaufenthalt im Frühjahr 1834 nach Straßburg zurück? Muston ist zwar kein Datenmuffel, größere Zeiträume sind regelmäßig ausgewiesen, aber er ist auch kaum buchhalterisch disponiert und behandelt Zeitangaben recht pauschal. Ralenderdaten nennt er in der Regel kaum. Für Muston ungewöhnlich ist eher, daß er den Bericht über seinen Aufenthalt in Paris mit Zeitangaben beinahe spickt Eine Datierung steht am Anfang der Reise: »Nous partons par un jour de neige: le 10 ou 12 Janvier 1834.«32 Paris ist ein ständiges Fest. Theater, Konzerte, Salons. Muston wird herumgereicht. Arbeitsgespräche. Dumas pere will ihn, wegen >PaulineBartholmes< vgl. Jacques Matter: La vie et les traveaux de Christian Bartholmess. - Paris 1856. 34 »[Maston] soutint ses theses de theologie, presidees par le doyen Red s l ob: De Vorigine et du nom des Vaudois, these historique, 1er. juillet 1834, De doctrine des Vaudois, lre these de licence de theolegie, 25 juillet 1834, De ^instruction chez les anciens Vaudois, 2e these de theologie, 30 juillet 1834 (dediee >ä Pillustre et rable cathodrale de Strasbourgfür einige Wochen< gekommen sei - ist nichts bekannt. Nun böte sich Büchners Osterbesuch (Ostern fiel 1834 auf den 30./31. März) zur Erklärung an. Aber Mustons Chronologie verweist auf Mai bzw. Juni 1834, er hält fest: »Nous touchions au mois de juin«. Liest man diesen Hinweis so, daß der Monat Juni näherrückte, Muston aber noch im Mai Paris verlassen hat, dann ergibt sich zwanglos folgende Hypothese: Wilhelmine Jaegle, sicher eine junge Dame von einiger Willensstärke, dürfte daraufgedrungen haben -wenn Georg Büchner es nicht von sich aus anbot -, daß Georg sie nach dem >Verlobungsbesuch< Ostern 1834 bei erster guter Gelegenheit wieder besuchte (insbesondere wenn man wie T. M. Mayer [>Büchner-ChronikDie Osterferien beginnen im Frühjahr mit der Karwoche und dauern 4 Wochen, die Herbstferien mit der 2. Frankfurter Meßwoche und dauern 5 Wochen. In der Weihnächte- und Pfingstwoche sind ebenfalls Feriennicht< ein Unmögliches nennen, weil diese Propo28 Es scheint mir notwendig, die scharfe Trennung von Rationalität - Irrationalismus, mit denen die Geistesgeschichte so lange operiert hat (vgl. dazu jüngst Isaiah Berlin: Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte. - Frankfurt/Main 1982; bes. >Die Gegenaufklärungs S. 63-92, und >Die Trennung der Natur- und Geisteswissenschaften«, S. 158-195), aufzuheben. Die »Ausdifferenzierung« der Mechanik zum abgeschlossenen System produzierte, auf kulturelle Bereiche übertragen, einen »Pseudocartesianismus«, der für Voltaire und Condorcet einerseits, für Vico, Rousseau und Herder andererseits die einheitliche Matrix bildete, und aus der jeder der genannten Autoren »Gesetze» abzuleiten glaubte (vgl. hierzu den in Anm. l genannten Aufsatz des Vf. und seine Ausgabe von Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache. - München 1978; sowie Eberhard Reichmann: Die Herrschaß der Zahl. Quantitatives Denken in der deutschen Aufklärung. - Stuttgart 1968). In Wirklichkeit liegt der zentrale Unterschied zwischen den beiden Gruppen der genannten Autoren darin, daß der cartesiseh-mechanistische Rationalismus einer Logik folgte, »die Begründungen nur im Sequenzmodell einer Handlung liefern kann«, während die einem »Irrationalismus« zugerechneten Autoren Ansätze zur Erkenntnis einer »Prozeßanalytik« lieferten, in der von den Organisationsformen der Materie nicht mehr auf ursprüngliche Anlagen in dieser geschlossen werden kann. »Vielmehr kann von ihnen lediglich festgestellt werden, daß sie sich unter gegebenen, unter Umständen ganz singulären Bedingungskonstellationen entwickeln konnten. Sie lassen sich nicht ableiten. Aber sie lassen sich erklären« (Günter Dux: Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte. - Frankfurt/Main 1982, S. 329 [Anm. 5] u. S. 293). Der erkenntnistheoretische Ansatz liegt hierfür exemplarisch bei Spinoza (vgl. Andro Robinet: Le langage a Vage classique. - Paris 1978, S. 140-153), mit gewichtigen Folgen für die gesamte Naturphilosophie der französischen Aufklärung, einem »Neospinozismus« naturwissenschaftlich-materialistischer Prägung; und Herder stößt 1769/70 in einem entscheidenden Moment seiner Entwicklung darauf (vgl. die demnächst abgeschlossene Habil.-Schrift des Vf. über Herders Organismus-Begriff). 29 Erste Hinweise auf diesen Text finden sich in Rudolf Hayms Herder-Biographie (Bd. I. - Berlin 1880, S. 32 u. 44); die Publikation erfolgte 1936 durch Gottfried Martin: Herder als Schüler Kants. Außätze und Kolleghefte aus Herders Studienzeit, - In: Kant-Studien 41 (1936), S. 294-306. Ein Abdruck erfolgt demnächst in Bd. I der von Pierre Ponisson und vom Vf. betreuten Ausgabe von Herders Werken, Bd. I. - München 1983. 30 Textredaktion nach P6nisson/Proß; vgl. Kant-Studien, S. 304.

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sition das Materiale setzt und das Formale verneint.«)31. Dieser Entwurf greift in seiner Problematik den Ausgangspunkt der Philosophie Spinozas auf, den dieser in seiner Abhandlung Über die Verbesserung des Verstandes formuliert hatte. Herder hat diese Passage später in bewußter Rückschau auf die Anfange seiner Entwicklung der Zweitfassung der Spinoza-Gespräche integriert, und im Vorgriff ist darauf zu verweisen, daß diese Passage ebenfalls im Mittelpunkt des Büchnerschen Exzerpts steht: »Zu wissen, daß ich wisse, muß ich nothwendig zuerst wissen; die Weise, wie wir das formelle Wesen empfinden, ist die Gewißheit selbst [...] Hieraus erhellet auch, wie, je mehr der Verstand verstehet, er dadurch zugleich Werkzeuge gewinne, leichter und mehr zu verstehen: denn, (wie aus dem Gesagten klar ist,) vor allem ändern muß in uns eine wahre Idee, als ein angebohrnes Werkzeug exsistiren, durch deren Verständniß zugleich der Unterschied begriffen wird, der sich zwischen einer solchen und jeder ändern Vorstellung findet [...] Je mehrere Dinge er [d. i. der Verstand] kennet, desto besser verstehet er seine eignen Kräfte und der Natur Ordnung; je besser er seine Kräfte versteht, desto leichter kann er sich selbst ordnen und sich Regeln vorschreiben; je besser er die Ordnung der Natur versteht, desto leichter kann er sich vom Unnützen zurückhalten; worinn, wie wir gesagt haben, die ganze Methode bestehet. Daß unser Verstand ein reines Abbild der Natur sei, muß er alle seine Ideen aus Der Idee hervorbringen, die den Ursprung und Urquell32der ganzen Natur darstellt, damit sie auch der Quell aller ändern Ideen werde.«

Der Spinozismus »extra litteram«, den das Fragment Über das Seyn mit seinem Beharren auf einem nicht hinterfragbaren Erkenntnisgrund enthält, wird damit zur Basis der Logik der »genetischen Erkenntnis« der Ordnung des Verstandes und der Ordnung der Natur, die spezifisch antitranszendental verwendet wird. Der Verstand schafft sich »mit seiner angeborenen Kraft Verstandeswerkzeuge, womit er andre Kräfte zu ändern Verstandeswerkzeugen erlangt und aus diesen Werken andre Werkzeuge oder das Vermögen, weiter nachzuforschen; und so schreitet er stufenweise fort, bis er den Gipfel der Weisheit erlangt.«33 Die Logik, die nach Herder auf der Skala der Erkenntnismöglichkeiten vom Einfachsten zum Kompliziertesten fortschreitet - was Schelling als den »Realidealismus« der ursprünglichen Naturphilosophie bezeichnete34 beruht auf einer Inversion der herkömmlichen deduktiven Methode; Spinoza selbst hatte diesen Vorgang unter dem Einfluß Bacons in seiner Kritik der Vorurteile mit in Bewegung gesetzt, indem er dessen Begriff der »einfachen Formen« (formae simplices) als operative Instrumente an den Ursprung der Erkenntnis setzte und auf die Untersuchung der »Sub31 Ebd., S. 300. 32 Herder: Sämmtliche Werke (Ausgabe Suphan), Bd. 16. Gott, Fünftes Gespräch, S. 576/77. Vgl. auch den Originaltext des Tractatus de intellectus emendatione, aus dem Herder hier mit Auslassungen übersetzt: Spinoza: Opera/Werke, Bd. H, hg. von Ronrad Blumenstock. - Darmstadt 1980; vgl. S. 26, 28, 30. 33 Vgl. hierzu Robinet (s. Anm. 28), S. 142-144. - Das Zitat erfolgt nach Blumenstocks zweisprachiger Ausgabe (s. Anm. 32), S. 25. 34 F. W. J. Schelling: Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen. Hg. von Manfred Buhr. - Leipzig 1975, S. 126.

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stanz« - im Sinne Boyles als Korpuskularmasse gedacht - anwandte.35 Die damit gegebene Krise logischer Kausalbeziehungen enthielt zugleich auch deren Fragwürdigkeit in der Physik und - wie die Naturrechtslehre Pufendorfs zeigte36 - auch im ethisch-sozialen Bereich. Das zweite Element der aufgestellten Konjunktur ist Herders Brief an Moses Mendelssohn vor seiner Abreise aus Riga (vom April 1769) zu entnehmen; es handelt sich um eine höfliche, aber nichts destoweniger polemische Reihe von Bemerkungen zu dessen Schrift Phädon, oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767). Es geht Herder um die Stellung des Menschen in der Natur, die er durch Mendelssohns Argumentation, die Unsterblichkeit sei Zweck des menschlichen Lebens, Vergeistigung sei der Lohn tugendhaften Verhaltens, gefährdet sieht, weil eine solche Annahme den Menschen aus dem Naturzusammenhang herauslösen müßte. Die Argumente Mendelssohns ergeben sich aus dem Zitat selbst; bemerkenswert ist bei Herder vor allem die antiteleologische Argumentation, die noch vor der Lektüre des Textes der Ethik selbst im wesentlichen Argumente zitiert, die sich im Anhang zu deren erstem Buch fin-

den: »So weit dünken mich Ihre Beweise sehr vest, als von der Unzerstörbarkeit der menschlichen Seele durch den Tod geredet wird. Nur ein Phönomenon hört alsdann auf u. die denkende Substanz bleibt - bleibt aber wie sie bleibe? Sie nehmen gleich im ersten Gespräche das Postulat an, daß, wenn sie von diesem Körper sich scheide, sie ohne Körper sey. Hängt aber beides so untrennbar zusammen? Ich will nicht bis auf die Denkbarkeit oder Undenkbarkeit einer Seele ohne Körper zurückweichen; allein woher, daß wir von einer ohne Körper bestehenden Menschlichen Seele wißen? Wir kennen keine in solchem Zustande: sie ist uns hier ohne Leib nicht denkbar in ihrer Würksamkeit: kann sie es, wird sie's künftig seyn? [...] Was ist eine von sinnlichen Begriffen befreite Seele? was ist reine geistliche Vollkommenheit in einer menschlichen Seele? ich muß gestehen, ich weiß nicht. Die Begriffe so verfeinert und veredelt als man will: und das Caput mortuum ist immer noch sichtbar: immer noch ein feines sinnliches Vehiculum um alle diese geistige Phantome! ein Mensch! [...] diese Befreyung und Entkörperung kann hier nicht Zweck seyn, da sie nicht Glückseligkeit ist. Es ist eine aufs disproportionirteste ausgebildete Menschliche Natur, es ist seiner Bestimmung nach ein Monstrum. Schon in Ihrem Orackel schien mir die Bestimmung des Menschen in seinem ganzen Umfange etwas zu philosophisch, daß es die Ausbildung von Seelenjähigkeiten wäre. Verfolgen Sie diesen Satz nach seiner Strenge, mit der besten Proportion der Seelenkräfte, aber ausschließungsweise; u. es ist der größeste Unmensch geschaffen, ohne Zweck u. ohne Glückseligkeit. In unserer Natur ist gleichsam mehr specifische Masse von einer Thiernatur als von einem reinen Geist, u. solchergestalt also zu einem vermischten Wesen geschaffen (nicht bloß durch eine willkürliche Association ein solches, wie wir immer annehmen) muß ich mich auch ah eine vermischte Natur denken, oder ich gerathe von beyden auf ein äußerstes. .. .1 35 Vgl. die Darstellung der »einfachen Formen« Bacons durch den Vf. in: Naturgeschichtliches Gesetz und gesellschaftliche Anomie: Georg Büchner, Johann Lucas Schönlein und Auguste Comte. - In: Literatur in der sozialen Bewegung. Außätze und Forschungsberichte zum 19. Jahrhundert, hg. von Alberto Martino. - Tübingen 1977, S. 228-259, hier S. 252/53. 36 Vgl. hierzu nochmals den in Anm. l gen. Aufsatz des Vf., S. 45-47 u. 53-55.

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Nochmals also, daß ich nicht für die Vernichtung unseres Wesens rede: sondern von unserm künftigen Zustande, u. was kan ich allso so ferae von ihm wißen? Daß ich in der Schöpfung bleibe, und - wenn es nicht zu kühn ist zu muthmaßen, wenn meine gegenwärtigen Anlagen mir Data seyn sollen, meine Zukunft zu errathen: so — werde ich wieder so ein vermischtes Wesen als ich bin. Der Keim zur Pflanze trägt Pflanzen und nicht Thiere: alles bleibt in der Natur, was es ist: meine Menschliche Substanz wird wieder ein Menschliches Phänomenon, oder wenn wir platonisch reden wollen, meine Seele bauet sich wieder einen Körper — Ich will mich gerne bescheiden daß ich hievon nichts wißen könne, aber soll ich denn etwas wißen: soll ichs aus meinen gegenwärtigen Anlagen wißen; ach! so muß ich entweder mit der partheilichsten Indulgenz, Fähigkeiten meiner Substanz auslaßen u. anrechnen, die ich will, u. sie auf die sonderbarste Art halbiren, oder es gilt auch hier der Satz: quidquid est, illud est - ich werde, was ich bin\ [...) Wer in der Weit sagt mir, daß es Absichten Gottes sind, bei meinem Tode, der doch in der Natur der Veränderungen nichts ist, eine menschliche Substanz zu zerstören, u. eine reine geistige aus ihr zu schaffen? ihr alle sinnliche Fähigkeiten zu lahmen, u. die Kräffte ihr allein zur weitern Ausbildung zu laßen, dadurch sie Wahrheit, Güte, u. was weiß ich mehr? vollkommen erkenne. Wer in der Welt sagt mir, daß es Absichten Gottes sind, mir das Bewußtseyn meines vorigen Zustandes (ich wollte schreiben, zu laßen, da das aber wirklicher Widerspruch wäre) - mir durch ein Wunder der Erschaffung wieder zu geben? Wer in der Welt zeigt mir die Absicht Gottes darin, daß dies Leben (Menschlich, als vom Phänomenon geredt) zusammenhange? Ihr Beweis von fortgehender Entwiklung- ach! lehren Sie mich, daß er beweise. Wir sind hier, um uns auszubüden, zu entwikeln; allein jede Kraft entwikelt sich' nur bis zu einer Stuffe u. macht einer ändern Plaz. Die Menschliche Seite nimt vVpn der Gegenseite so ab, als sie von der Gegenseite zunimmt: wir haben in unseim gegenwärtigen Daseyn genau die Lebensalter der Bestimmung, die Pflanzen u. Thiere, u. wir als Thiere so evident haben. Diese Ausbildung u. Entwiklung auf dieses Leben, sie ist Zweck; sie ist Bestimmung; aber das ist ein unrechter Gesichtspunkt, zu leben, damit man die Welt vollkommner verlaße, als man sie betrat. Wir betraten sie, um hier vollkomner zu werden, zuzunehmen u. abzunehmen, zu lernen u. anzuwenden, u. immer uns u. die Welt zu genießen: das war Absicht der Natur. Alles wird verrückt, wenn ich mir eine einzige37Vollkommenheit erwerbe, die bloß fürs Verlaßen der Welt Vollkommenheit sei.« Die Absurdität der herkömmlichen Teleologie der übernatürlichen Bestimmung bei Mendelssohn, die Ablehnung aller überirdischen Tröstungen provozieren Herder zum Konzept einer Einordnung des Menschen in eine ganz diesseitige Natur. Denn seine Argumentation, die scheinbar aufs Prinzip des zugrunde gelegten Arguments bei diesem eingeht und sich nur daran stößt, daß der Mensch als »vermischtes« Wesen in ein rein geistiges übergeht, erhält durch die Schlußfolgerungen eine ganz andere Beleuchtung: »vollkommner werden«, »zunehmen und abnehmen«, »immer uns und die Welt genießen« sind Begriffe, die sich, allerdings noch nicht für Mendelssohn, in Spinozas Begriffe der Realitätsdichte, der Komposition und Dekomposition, der Unabhängigkeit von Kausal- und Finalursachen (mit Ausnahme der Erhaltung seines Seins in der Entwicklung seiner Anlagen; dies darf nicht mit Teleologie gleichgesetzt werden)38 übersetzen lassen. Alle Geschöpfe bewegen sich in einem »Kreislauf des Genußes«: 37 J. G. Herder:Briefe (Gesamtausgabe), Bd. I (April 1765-April 1771). -Weimar 1977. Nr. 58, S. 137-143, Zitate S. 138-140. 38 Spinoza: Ethik (vgl. Ang. in Anm. 25), Buch IV, Propoßitionen 20/21, S. 482-485.

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»Alles dauret in demselben Wesen fort: entwikelt sich zu verschiednen Zwecken der Bestimmung, die seine Lebensalter ausmachen: in jedem Zustand ist jedes thätig u. vollkommen: aber vollkommner auf einen künftigen Zustand? [...] nichts in der Welt. Das Thier ist Zweck u. Mittel, aber auf der Waage der Bestimmung nicht einen Gran mehr Mittel als Zweck. So auch der Mensch: alles machet sich vollkommen, alles ist vollkommen - aber vollkommen für jene Welt! u. dazu immer vollkomner für jene Welt? Ich sehe bey keinem Geschöpf und Menschen ein 4i(/steigen, ich sehe 39ein Wechseln, einen Kreislauf, der sich verzehret, der in sich selbst zurückfließt.«

Die Undenkbarkeit eines rein Geistigen, welche die logische Undenkbarkeit des Nichts ergänzt, die Vorstellung von einem Raum voller Korpuskel in zeitweise stabilen Konfigurationen, deren Veränderungen trotzdem keinen Anfang bei Null oder ein Sich-Verlieren im Infiniten zulassen, schafft ein Netz von Naturerscheinungen verschiedener Realitätsdichte (das besagt der Begriff der »Vollkommenheit«); der Mensch, diesem selbst integriert, vollzieht geistig (»non ex analogia mentis, sed ex analogia hominis«) diese Relation der Erscheinungen nach, als reine Sach-, nicht als Kausalitätserklärungen, und ohne moralische Bewertung der Auflösungserscheinungen der Konfigurationen.40 Konsequent bildet sich aus diesem Programm einer Philosophie der Natur und des Menschen der dritte Standpunkt Herders aus, den in dieser Schärfe erstmals das 1777 entstandene, ebenfalls erst nach dem Tod des Verfassers publizierte Fragment Über die dem Menschen angeborene Lüge vertritt.41 Dem schon im Mendelssohn-Brief vertretenen Prinzip der »Immutabilität« scheint alle moralische Auffassung zu widersprechen; der Dualismus von Gut - Böse würde, zumindest im Menschen, zwei konstante Prinzipien voraussetzen, die sich bei ihm in der Ursünde des Stolzes manifestiert hätten und ihn damit von der Natur absondern. Wie Spinoza gegenüber Blyenbergh, entzieht sich Herder dieser Auffassung, indem er, mit den vertrauten Begriffen der Zeit operierend, völlig gegensätzliche Folgerungen daraus herleitet, weil ihnen ein völlig anderer Sinn unterlegt werden kann: »Da ich dies [L e. die Existenz zweier konstanter, aber widersprechender Prinzipien] nun mit der Natur des mächtigsten, besten, gütigsten, voraussehendsten Wesens so wenig, als mit der Thatgeschichte des Menschengeschlechts vereinigen kann, [...] so muß, [...] gerade auch in dieser Divergenz und Kontrarietät zweier Kräfte der Menschheit eben ihr Zweck, ihre jetzige höhere Bestimmung liegen. — Um mich indessen diesem schweren Knoten, dem Mittelpunkt höchster Weisheit und Güte in aller uns bekannten Natur, nur durch Analogie zu nä39 Herder: Briefe, Bd. I (s. Anm. 57), S. 140. 40 Vgl. hierzu nochmals den Briefwechsel mit Blyenbergh (Spinoza, Opp. IV, S. 130/31; dt. bei Bluwstein, S. 111) und das Scholium zu Ethik III, Proposition 2 (s. Anm. 25, S. 260-269). - Zu Herders erstem Briefen Mendelssohn wäre sofort die Analyse des zweiten Briefes vom 1. Dezember 1769 (Briefe, Bd. I, S. 177181) als komplementäre Ergänzung nötig. Sie findet sich demnächst in der (in Anm. 28) angekündigten Habil.-Schrift, Kap. I. 41 Herder: Sämmtlictie Werke (Ausg. Suphan), Bd. 9, S. 536-540. Vgl. zur Textgeschichte den Vorbericht, S. XV-XVH und Bd. II von Hayms Biographie (Berlin 1885), S. 53-56. Auch dieser Text findet sich in der Ausgabe der Werke Herders durch P6nisson/Proß, Bd. II (München 1983).

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hern; dünkt mien's, daß die Schöpfung überhaupt, in allen ihren Stuffen und Arten, eben dieser Kontrarietät unterworfen sei, sofern sie's nehmlich, nach ihren Stuffen und Arten, seyn konnte. Es wird, vielleicht etwas freigebig, vorausgesetzt, daß Alles in der Schöpfung sonst Wahrheit sei, nur der Mensch Lüge; sollte dem also seyn? Wie würde denn Materie, Thier, Zusammenordnung eines eingeschränkten Ganzen möglich? Die Materie ist eine ewige Lüge, d. i. ein Phänomenen von lauter Kräften, geistigen, würksamen Kräften, die in ihrer Existenz bezirkt, gehindert sind, und durch positive Kräfte und Bahnen, deren Ursache ausser ihnen liegen, bestimmt werden. Wer weiß, was die Kraft der Schwere, der Union ist? von welchem Grad geistiger Kraft sie für uns das Phänomen sei? Wir sehen indeß immer, daß sie nach 5io/z, d. i. ewig fortgesetztem Streben und Drükken ihrer Kraft in gerader Linie würke, und daß der Schöpfer ihr nur nach positiven Regeln eines höhern Plans, eines Ganzen, von dem sie nichts weiß, gewisse äussere Mittelpunkte des Anziehens gesetzt habe, die die Kraft ihres Stolzes, jener geradfortlaufenden Bewegung schwächen, und eben damit einen Sonnenplan voll höherer Weisheit und Güte, Körper und Substanzen voll tiefern Lebens und Genusses bilden müssen. Die Kontrarietät des Menschen scheint mir also in den ganzen Weltbau verbreitet. Überall zwo Kräfte, die sich einander entgegengesetzt doch zusammenwürken müssen, und wo nur aus der Kombination und gemäßigten Wirkung beider das höhere Resultat einer weisen Güte, Ordnung, Bildung, Organisation, Leben wird. Alles Leben entspringt auf solche Weise aus Tod, aus dem Tode niedrigerer Leben, alle Organisation aus Zerstörung und Verwandlung geringerer Kräfte, alles Ganze der Ordnung des Plans aus Licht und Schatten, aus divergenten, sich einander entgegengesetzten, Kräften, wo das höhere positive Gesetz, das beide einschränkt und aufhebt, eben allein , Welt, Plan, Ganzes, höheres Wohl, gemeinschaftliche Glückseligkeit beginnet und anstimmt. Mathematik, Physik, Chymie, Physiologie lebender Wesen sind, dünkt mich, hier überall Zeugen.«42

Die von Spinoza ausgebildete Topologie, die in verschiedenen Einzeltexten Herders wiedererkennbar war, findet sich auch in Büchners Werk: auf logischer Ebene in den Passagen der Probevorlesung, die der Abhebung der »philosophischen« gegenüber der »teleologischen« Methode dienen: »Die Natur handelt nicht nach Zwecken [...]; sondern sie ist in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar selbst genug. Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da. Das Gesetz dieses Seins zu suchen, ist das Ziel der [...] Ansicht, die ich die philosophische nennen will. [...] Diese Frage, die uns auf allen Punkten anredet, kann ihre Antwort nur in einem Grundgesetze für die gesammte Organisation finden, und so wird für die philosophische Methode das ganze körperliche Dasein des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung aufgebracht, sondern es wird die Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.«45

Man vergleiche hierzu einen Abschnitt aus der Vorrede zum vierten Buch der Ethik: »[...] wir pflegen alle Individuen der Natur auf eine Gattung zurückzuführen, die man die allgemeinste nennt, nämlich den Begriff des Seienden, der allen Individuen der Natur absolut zukommt Insofern wir daher die Individuen der Natur auf diese Gattung zurückführen und miteinander vergleichen und wahrnehmen, daß die einen mehr Seinsgehalt oder Realität haben als die anderen, insofern sagen wir, daß die einen vollkommener sind als die anderen. Und insofern wir ihnen et42 Herder: Werke (Ausg. Suphan), Bd. 9, S. 536/37. 43 HA 11/292. 73

was beilegen, was eine Verneinung in sich schließt, wie Grenze, Ende, Ohnmacht und dergleichen, insofern nennen wir sie unvollkommen, weil sie unseren Geist nicht ebenso affizieren wie jene, die wir vollkommen nennen, nicht aber darum, weil ihnen etwas fehlt, was zu ihnen gehört oder weil die Natur ein Versehen begangen hätte.«44

Die logische Gleichwertigkeit aller Dinge aufgrund ihrer gemeinsamen Existenzproposition bedingt sofort die naturwissenschaftliche Verarbeitung: liegt auch in den »höchsten und reinsten Formen« das Maximum der »Vollkommenheit« und damit eine gewisse Entelechie der Gattungen begründet, muß der Naturwissenschaftler sich doch zunächst der »einfachsten Risse und Linien« der Zuordnung versichern, indem er eine Theorie vergleichender »Bezüge« (»rapports«) entwirft: »Quel est le rapport des nerfs corobraux avec les nerfs spinaux, les vertebres cräniennes et les renflemens du cerveau? Quels sont ceux d'entre eux qui se trouvent les premiers au bas de Pechelle des animaux vertebras? Quelles sont jes |ojs d'apres lesquelles leur nombre est augmento ou diminuo, leur distribution plus compliquoe ou plus simple? - Questions importantes, qui ne pourront etre resolues que par la methode genetique, c'est-ä-dire par une comparaison scrupuleuse du Systeme nerveux des vertebres en partant des organisations les plus simples et en s'olevant peu ä peu aux plus developpees.«45

Damit schließt die »genetische Methode« an einen wesentlichen Lehrsatz der Ethik (11,38) an: »Das, was allen Dingen gemeinsam ist und was gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist, kann nicht anders begriffen werden als adäquat.«46 Denn die Gesetze der Bezüge verschiedener Teile von Organismen auf verschiedenen Stufen müssen, vollkommener oder unvollkommener, wie diese sind, auch im Menschen repräsentierbar sein. Und schließlich auf ethischem Gebiet (welches auch das moralische einschließt); Dantons Antwort auf Robespierres Frage »Du leugnest die Tugend?« zitiert zu deutlich Spinozas Antwort auf Blyenberghs Fragen, um der Erläuterung zu bedürfen: »Und das Laster. Es giebt nur Epicuräer und zwar grobe und feine, Christus war der feinste; das ist der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen herausbringen kann. Jeder handelt seiner Natur gemäß d. h. er thut, was ihm wohl thut.«47

Aber: der »Fatalismus«-Brief vom März 1834 an die Braut läßt deutlich erkennen, daß der erste Eindruck, den das Studium der Geschichte und der Naturwissenschaften bewirkten, alles andere als beruhigend war. Läßt sich von Spinoza wie Herder sagen, daß ihre Bekenntnisse zu den dargelegten provozierenden Eingeständnissen in der Ausbildung ihrer Philosophie - und dieser Rang sollte, entgegen landläufiger Ansicht, 44 45 46 47 74

Spinoza: Ethik (s. Anm. 25), S. 439/41. HA H/60. Ethik (s. Ang. Anm. 25), S. 199. HA 1/27.

auch Herder zugestanden werden — zur Akkommodation des absurden Gehalts führten, so verläuft der Prozeß bei Büchner ganz anders: die partielle Akkommodation, die dem Verzweiflungsanfall des Briefes und der Spinoza-Verarbeitung in Dantons Tod (vor allem in der Szene im Luxemburg, III/l) folgt, gilt nur für die Beruhigung, die sich im »Schönen« des Lenz artikuliert und die in der Behauptung eines legitimen Platzes des Menschen in der Natur liegt. Die grundlegenden Fragen des Spinozismus, der »duratio« - das Vergehen von etwas, das jetzt da ist - und der »privatio« — der Veränderung des Realitätsgehalts - lassen sich nicht mehr auf die bei Herder mögliche Weise auf den Begriff einer »mathematisch-physisch-metaphysischen« Weltformel bringen, welche den Tod in der Schöpfung durch die Progression des Weltalls auch im Bewußtsein des Individuums kompensiert sieht.48 Im Lenz wird dies ganz deutlich. Das absurde und gefahrliche Bild des Spinozismus, das von den Erstdrucken der Werke des Philosophen an, durch Bayles Dietionaire-Artikel verstärkt, das 18. Jahrhundert beherrscht hatte, tritt wieder hervor; jedoch als Kontrast innerhalb der Systematik selbst. Die »Notwendigkeit« der Weltordnung erscheint wieder als die klirrende Rette, an der das Gesetz die Erscheinungen schleift. Der Widerspruch zwischen den beiden Propositionen der Ethik: »Die Dinge konnten auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden, als sie hervorgebracht worden sind« (1,33) und: »Jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren« (111,6) läßt sich auf keine Weise mehr versöhnen.49 Es zeigt sich zu Büchners Zeit ein nicht aufhebbarer Widerspruch zwischen »Fatalität und Spontaneität, den jeweiligen Quellen von Konstanz und Veränderung«, wie Auguste Comte in seinem Systeme de politique positive formuliert hatte.50 Er hat damit das Verhältnis von Gesetz und Erscheinung in einer Weise benannt, die uns für Büchner treffend erscheinen muß. Die Identität der Fragestellungen in Deutschland und Frankreich dürfte, wie Engels' Entwurf zu einem Vergleich über Comte und Hegel im Entwurf zur Dialektik der Natur indiziert51, außer Zweifel gestanden haben: als Widerspruch einer Idee von der Konstanz der Natur- und Geschichtsbetrachtung zu den Formen der naturwissenschaftlichen Autopsie und zu der Einsicht des Menschen, den ihm methodisch so scheinbar gesicherten Ort in der Geschichte und der Gesellschaft wirklich zu finden. Dieser Widerspruch artikuliert sich vor allem in der ungesicherten Stellung der individuellen Erscheinung, sei es des Menschen in der Geschichte, der der Anarchie der Entwick48 Der Begriff der »mathematisch-physisch-metaphysischen Formel« findet sich zu Beginn des dritten Spinoza-Gesprächs (s. o. Anm. 32), S. 470. 49 Ethik (s. Ang. Anm. 25), S. 81 und 273. 50 Zit. nach Georges Canguilhem: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Außätze, hg. von Wolf Lepenies. - Frankfurt/Main 1979, S. 103. 51 Friedrich Engels: Dialektik der Natur. - Berlin 61971, S. 7.

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lung zum Opfer fallt, sei es der Naturkörper, die nicht werden, was sie der Norm ihrer Anlage nach werden müßten und könnten, sondern sich nur entwickeln, soweit es die steuernden Kräfte der Umwelt zulassen.52

II. Die Akkommodation des Absurden: die Ausbildung der »genetischen Methode« Die Vorreden zum dritten und vierten Buch der Ethik legen zwei wichtige Grundsätze fest: »Es geschieht in der Natur nichts, was ihr als Fehler angerechnet werden könnte. Denn die Natur ist immer dieselbe, und ihre Kraft und ihr Vermögen zu wirken ist überall gleich. D. h., die Gesetze und Regeln der Natur, nach denen alles geschieht und aus einer Form in eine andre verwandelt wird, sind überall und immer die gleichen.« (III, Vorw.) »Der Grund also oder die Ursache, weshalb Gott oder die Natur handelt und weshalb Gott oder die Natur existiert, ist ein und dieselbe. Wie sie also nicht um eines Zweckes willen existiert, so handelt sie auch nicht um eines Zweckes willen; vielmehr: wie es für ihre Existenz keinen Anfangsgrund oder53 Endzweck gibt, so gibt es auch nichts dergleichen für ihr Handeln.« (IV, Vorw.)

Diese Unveränderlichkeit, Anfangs- und Zwecklosigkeit der Natur liefert den Rahmen, zwei der schärfsten Probleme Spinozas zu lösen, von denen bereits die Rede war: dasjenige der »privatio«, d. h. des minderen Realitätsgehaltes von Natur- und moralischen Erscheinungen, in das er Probleme der Moral vor allem umzuformulieren versucht. »Ein Mensch ist schlecht«, diese Aussage hat nach Spinoza denselben Sinn wie der Satz »ein Stein ist blind«.54 Zu überprüfen, ob die Begründung hierfür überzeugend gelungen ist, ist nicht der Ort; Oldenburgs freundliche und Blyenberghs insistente Hinweise auf die Mißverständlichkeit dieser Formulierung haben jedoch in der Rezeption der Lehre Spinozas ihre Berechtigung erwiesen.55 Wichtiger ist hier die Folge für die Logik: die Auflösung des Kausaldenkens im Zusammenhang von Schöpfung - Sündenfall - Strafe, die Spinoza als »Schlußfolgerung aus der Unwissenheit« bezeichnet56; in ihr begründet ist auch die Betrachtung der Instinkte der Lebewesen als »zweckfrei«, die über Reimarus für Herder solche Bedeutung gewinnen sollte.57 Das zweite ist dasjenige der »duratio«, der inde52 Vgl. hierzu die Ausführungen des Vf. in: Die Kategorie der »Natur* im Werk Georg Büchners. - In: Aurora 40 (1980), S. 172-188, bes. 180/81. 53 Ethik (s. Anm. 25), S. 253 und 437. 54 Vgl. hierzu die Zusammenfassung des Begriffes »Negation« bei Deleuze (s. Anm. 17), S. 123-126, bes. 125. 55 Es sind vor allem die Ausführungen im ersten Antwortschreiben Spinozas an Blyenbergh (Opp. IV, S. 89 bis 92; dt Bluwstein, S. 77-79), die dessen heftige Reaktion hervorrufen (Opp. IV, 96-113; dt Bluwstein, S. 81-95), die darin gipfelt, Spinoza mache die Menschen von Gott so abhängig wie die Elemente oder Pflanzen bzw. ihre Handlungen hätten dieselbe Freiheit wie die Bewegungen von Uhren. In der Diskussion zwischen Spinoza und Oldenburg Dez. 1675/Febr. 1676 verdichtet sich die Frage der Notwendigkeit zum Büd vom Menschen, der wie Ton in der Hand des Schöpfers ist (Opp. IV, S. 309-316, 324-330: dt Bluwstein, S. 56-67). 56 Ebd., Opp. IV, S. 313; dt. Bluwstein, S. 59. 57 Entscheidend hierfür ist das Scholium zu Ethik III, Proposition 2 (Ang. s. Anm. 25), S. 260/61 ff.

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finiten Dauer der Naturerscheinungen: »Das Bestreben, wonach jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, schließt keine bestimmte, sondern eine unbestimmte Zeit in sich.«58 Der Bestand des körperlichen Seins einer Naturerscheinung ist vom Fortbestand einer bestimmten Relation von Bewegung und Ruhe seiner Kräfte oder Korpuskularmasse, um in Boyles Termini zu sprechen, abhängig; seine Zerstörung erfolgt durch eine Veränderung dieser Relation (falls sie nicht durch willkürliche äußere Ursachen geschieht).59 Diese Auffassung von der zeitlichen Indefinitheit bzw. Nicht-Notwendigkeit einer Naturerscheinung aus kausalen oder finalen Ursachen soll im Zusammenhang mit dem System der Ethik nicht überprüft werden; denn ein gewisser Widerspruch zur Äußerung gegenüber Oldenburg: »sollte auch nur ein Teilchen der Materie vernichtet werden, so würde das das Ende aller >Ausdehnung< bedeuten«60, scheint gegeben. Jedenfalls ist sie mit der Gottesanschauung Newtons, wie sie das abschließende >Scholium generale< der Mathematischen Prinzipien der Naturphilosophie extrapoliert, vollkommen unvereinbar.61 Wichtig für unser Problem ist, daß sich aus diesem Begriff der Relation von Bewegung und Ruhe zwangsläufig die Frage nach der gesetzmäßigen Bestimmung dieser (mathematisch gedachten) Größe ableitet, die Herder dann im »Prinzip der kleinsten Wirkung« der Physik entdeckte; er führte damit ein eindeutig teleologisches Element in die »genetische Methode« ein, die in ihrem Selbstverständnis von diesem Makel vollkommen frei ist - ich behalte deshalb den Begriff des »Teleonomischen« (neben dem der »Entelechie«) bei, um Verwirrungen zu vermeiden.62 Die hier angerissenen Fragestellungen bei Spinoza sind der notwendige ergänzende Hintergrund zu der beschriebenen Topologie von Problemen, auf deren Basis sich die »genetische Methode« ausbildet - beinahe 100 Jahre nach dem Tod des Philosophen. Der entscheidende Einfluß für Herder geht von einer Spinoza durchaus ähnlichen Persönlichkeit aus, Hermann Samuel Reimarus, in dem sich die Konjunktion einer naturwissenschaftlichen Philosophie mit der Bekämpfung eines mythisch-geoffenbarten Weltbildes und seiner Unterwerfung unter ein »lumen naturale« wiederholt. Im § 107 seiner Vernunftlehre erklärt Reimarus den Unterschied von Wort- und Sacherklärungen, die er »definitiones geneticae« nennt, welche eine »Erklärung der Ursachen oder der Erzeugung

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Ethik (ebd.), Buch III, Prop. 8, S. 274/75. Ethik (ebd.), Buch IV, Prop. 39, S. 522/23 fT. - Vgl. auch Deleuze (Aug. s. Anm. 17), S. 86/87. Vgl. Opp. IV, S. 14; dt. Bluwstein, S. 14. Isaac Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre. Mit Bemerkungen und Erläuterungen hg. von J. Ph. Wolfers. - Darmstadt 1963, S. 507-512. 62 Zum »Prinzip der kleinsten Wirkung« vgl. Shmuel Sambursky (Hg.): Der Weg der Physik. 2500 Jahre physikalischen Denkens. Texte von Anaximander bis Pauli.'- München 1978, S. 31/32, S. 355/56 sowie die abgedruckten Texte von Fermat, S. 328-330 und von Maupertuis, S. 418-420.

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eines Dinges« leisten sollten.65 Aber schon in den Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe (1760) schränkt Reimarus diesen kausalen Aspekt, den seine Definition impliziert hatte, ein: »Allein die Ursache eines Dinges, und die Art seines Entstehens, thut eigentlich nichts zu seinem wesentlichen Begriffe.«64 Es geht Reimarus an dieser Stelle um die Erklärung der Gesetzmäßigkeit der - angeborenen - tierischen Instinkte - ein Thema Spinozas, woran zu erinnern ist65; sie erlauben keine gesetzmäßige »definitio genetica« im Wolffschen Sinn66, sondern ihre Herleitung erfolgt aus der netzförmigen Beziehung der einzelnen Objekte zum gesamten Naturzusammenhang. Sie verweigert sich einer eindeutigen Anwendung der cartesianischen Methodik wie der Teleologie gleichermaßen67, sondern wird zum »evidenten«, unerklärbaren Begriff, der - in der Terminologie Spinozas eine »Vollkommenheit« statuiert und ihre Wirkungsweisen zeigt, innerhalb einer formalen Entelechie. Herder hat den Begriff in dieser Uminterpretation erstmals in seinem Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst (1764) verwendet68; aber erst in den Entwürfen zur Sprachschrift, Plastik und zur Erkenntnis-Abhandlung, die gemeinsam in Frankreich entstanden68*, taucht in diesem Verfahren das bedeutendste Prinzip der physikalischen Theorie auf, das »Prinzip der kleinsten Wirkung«. Fermat hatte es, abgeleitet von dem Satz »Die Natur macht nichts vergebens«, erstmals für die Theorie der Lichtbrechung verwendet69;

63 Hermann Samuel Reimarus: Vernunjtlehre. Bd. 1: Nachdruck der ersten Auflage von 1756. Bd. 2: Nachdruck der dritten Auflage von 1766. - München 1979. Vgl. hierzu § 107 der Erstauflage, Bd. l, S. 142-144 und SS 108/109 und 282 der dritten Auflage, Bd. 2, S. 106-109 und S. 310-312. Zitat aus Bd. l, § 107, S. 143. 64 Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe: Zum Erkenntniß des Zusammenhangs der Welt, des Schöpfers und unser selbst. Zweyte Ausgabe. - Hamburg 1762. Zitat S 56, S. 95. 65 S. o. Anm. 57. - Obwohl Reimarus in seiner Schrift Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in die Reihe der Spinoza-Kritiker tritt (vgl. S 13 der dritten Abhandlung; in der dritten Aufl. T Hamburg 1766, S. 187-191), bereitet sein Beharren darauf, daß das »Lebendige« im Zentrum jeglicher Überlegung der »Weltweisheit« stehen müsse, die Überwindung des cartesianischen Dualismus und die Hinwendung zum Substanzbegriff Spinozas entscheidend vor; vgl. hierzu die SS 4-6 der dritten Abhandlung der genannten Schrift (ebd., S. 140-160). 66 Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere (Ang. s. Anm. 64), §S 56/57, S. 94-97. 67 Der Zweitauflage der Betrachtungen über die Triebe der Thiere ist eine Antwort auf die in den Berliner Literaturbriefen erschienene Kritik beigefügt (mit eigener Paginierung): Anhang von den verschiedenen Determinationen der Naturkräjte und ihren mancherley Stufen, zur Erläuterung des zehenten Capitels (s. o. Anm. 64), Hier schreibt Reimarus gegen die Annahme, daß Seelenkräfte »nicht anders als unbestimmt seyn können«: »Wenn wir die allgemeinen Wahrheiten zu Rathe ziehen: so ist es [...] angezweifelt, daß man nicht allein aus der Kraft auf die Handlung, sondern auch aus der Handlung auf die Kraft sicher schließt, weil beyde in einer unzertrennbaren Verbindung stehen. Es ist ein unleugbarer Grundsatz: Ex vi non impedita statim sequitur actio; aus einer Kraft, (d. i. aus einem Vermögen und Bemühen) das durch nichts gehindert wird, folget alsobald die Handlung: Ex vi per se determinate sequitur statim actio determinate; aus einer an sich bestimmten Kraft folget alsobald eine bestimmte Wirkung. Aber es ist nicht minder umgekehrt wahr: Actio statim sequens supponit vim non impeditam; eine alsobald erfolgende Handlung beweist eine unverhinderte Kraft. Determinate actio statim sequens supponit vim per se determinatam; eine determmirte Wirkung, die alsobald erfolget, beweist eine an sich determinirte Kraft.« (S 17, S. 31/32; vgl. hierzu die SS 16-19, S. 30-38). 68 Herder: Sämmtliche Werke (Ausgabe Suphan), Bd. 32, S. 85-140; vgl. hierzu S. 86/87. 68a Vgl. hierzu vor allem Hans Dietrich Irmscher:/4us Herders Nachlaß. - In: Euphorion 54 (1960), S. 281 bis 294. Irmscher rekonstruiert darin einen der wichtigsten Herder-Texte, der eigene Ansätze mit denen des französischen Neospinozismus verbindet Das Prinzip der »kleinsten Wirkung« artikuliert sich hier in der Konstituierung sinnlicher Erfahrung in den Organen, welche dem »sensorium commune« am nächsten liegen; vgl. hierzu auch die Ausgabe des Vf. von Herders Sprachschrift (Ang. s. o. Anm. 28), S. 159/60. 69 Vgl. Sambursky (s. Anm. 62), S. 31 und 328-330. 78

Leibniz führte es dann als Variante seines Kontinuitätsprinzips theoretisch aus, ohne breite Resonanz70, die es schließlich durch Maupertuis' Cosmologie gewinnen sollte71, allerdings unter den bekannt umstrittenen Vorgängen.72 Dieses Prinzip beruht auf der Voraussetzung, »daß ein physikalisches System sich von einem gegebenen Punkt aus auf ein gegebenes Ziel hin bewegt Das Prinzip besagt, daß unter allen möglichen Wegen, die diese beiden Punkte verbinden, der tatsächlich beschriebene Weg die Eigenschaft hat, die Wirkungen des Systems (d. h. die Summe der Produkte der involvierten Massen, Strecken und Geschwindigkeiten) zu einem Minimum zu machen.«73

Leibniz hatte dieses Prinzip, welches hier in seiner mathematisch-physikalischen Form zitiert wurde, ausgesprochen evolutionär im Hinblick auf die Kontinuität der Naturreiche formuliert, vor allem für den kritischen Fall der »Pflanzentiere« (»Zoophyten«), und damit eine Anregung gegeben, die in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts bei Bonnet, Pallas, Donati und Reimarus - also auf breiter Front der Biologie und Entwicklungslehre - fruchtbar rezipiert werden sollte; bei allen Genannten handelt es sich um wichtigste Gewährsmänner für Herder.74 Obwohl er die methodologische Präferenz der kausal-genetischen Erklärung nie explizit in Zweifel zog, durfte er diese neue Position um so legitimer vertreten, als ihm die Schule Kants 1762/64 das Bewußtsein einer Krise des herkömmlichen Kausaldenkens, wie sie bei Locke, Newton, Malebranche, Leibniz, Maupertuis, Bonnet, Hume, der schottischen und deutschen Philosophie (vor allem Crusius und Mendelssohn) bereits aufgetreten war, eindringlich vermittelt hatte.75 Sowohl die in den Vorlesungen Kants entstandenen Notizen wie das bereits besprochene Fragment Über das Seyn dokumentieren dieses Bewußtsein deutlich.76 Vor allem Kants Aussage von der Einfachheit und Unauflöslichkeit der 70 Vgl. hierzu Leibniz' an Varignon gerichteten Brief über das Kontinuitätsprinzip; in: G. W. Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. von Ernst Cassirer, Bd. II. - Hamburg 51966, S. 74-78 (sowie im frz. Originaltext S. 556-559). 71 Vgl. Sambursky (s. Anm. 62), S. 418-420. 72 Vgl. H. A. Korff: Voltaire im literarischen Deutschland des XVttl. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe. Zweiter Halbband. - Heidelberg 1917, S. 563 ff.; vgl. auch Condorcets Vie de Voltaire, in: (Euvres completes de M. de Voltaire. T. 100. - Paris 1792, S. 77-82. 73 Sambursky (s. Anm. 62), S, 5t. 74 Peter Simon Pallas: Observations sur la formation des montagnes et les changements arrives au globe. — In: Acta Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae, i 771, Pars i.-St. Petersburg 1778, und De zoophytorum intermedia natura, et inventions; Vitaliano Donati: Storia naturale del mare Adriatico. 1745; H. S. Reimarus: Angefangene Betrachtungen über die besonderen Arten der thierischen Kunsttriebe. [Mit Anhang: >Von der Natur der Pflanzenthiereein rückwärtsgekehrter Prophet< und er schrieb den Abfall der Niederlande, den dreyzigjährigen Krieg und die Jungfrau von Orleans und den Teil.«114 Goethes Indifferentismus gegenüber diesem Enthusiasmus führte dabei zu einem großen, vollendeten Künstlertum; aber seine Meisterwerke, so Heine, »zieren unser theueres Vaterland, wie schöne Statuen einen Garten zieren, aber es sind Statuen. Man kann sich darin verlieben, aber sie sind unfruchtbar: die goetheschen Dichtungen bringen nicht die That hervor, wie die Sehillerschen. Die 110 111 112 113 114

Bollacher (Ang. s. Anm. 16), S. 48. Vgl. ebd., S. 9-14. Zitiert nach Bollacher, ebd., S. 10/11. Dieser Aspekt wird von Bollacher weitgehend ausgeklammert. Heine: Die romantische Schule. - In: Heinrich Heine: Histor.-krit. Ausgabe der Werke. Hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 8/1. - Hamburg 1979, S. 121-243, Zitat S. 153/54.

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That ist das Rind des Wortes, und die goetheschen schönen Worte sind kinderlos. Das ist der Fluch alles dessen, was bloß durch die Kunst entstanden ist. Die Statue, die der Pygmalion verfertigt, war ein schönes Weib, sogar der Meister verliebte sich darin, sie wurde lebendig unter seinen Küssen, aber so viel wir wissen, hat sie nie Kinder bekommen.«115 Büchner scheint diese Stelle in Dantons Tod ( /3) zu zitieren: »Camille. [...] Sezt die Leute aus dem Theater auf die Gasse: ach, die erbärmliche Wirklichkeit! Sie vergessen ihren Herrgott über seinen schlechten Copisten. Von der Schöpfung, die glühend, brausend und leuchtend, um und in ihnen, sich jeden Augenblick neu gebiert, hören und sehen sie nichts. Sie gehen in's Theater, lesen Gedichte und Romane, schneiden den Fratzen darin die Gesichter nach und sagen zu Gottes Geschöpfen: wie gewöhnlich! Die Griechen wußten, was sie sagten, wenn sie erzählten Pygmalions Statue sey wohl lebendig geworden, habe aber keine Kinder bekommen. Danton. Und die Künstler gehn mit der Natur um wie David, der im September die Gemordeten, wie sie aus der Force auf die Gasse geworfen wurden, kaltblütig zeichnete und 116 sagte: ich erhasche die letzten Zuckungen des Lebens in dießen Bösewichtern.« Dantons Replik ist Büchners Antwort auf Heines Kontrastierung von Goethe und Schiller; allerdings als Versuch, die gegebenen Alternativen im ästhetischen Bereich aus dem Blickwinkel der prekären Stellung des Menschen in der Natur, zwischen Selbstgenuß und Vernichtung - den ihm unvereinbaren Extremen in Spinozas System - festzulegen. Diese Alternativen sind: Versuch einer Nachschöpfung des Selbstgenusses, den der Mensch erfahrt, wo er seine Stellung in der Natur für gesichert ansieht (also die Position von Goethes poetischem Spinozismus), oder reiner Selbstgenuß des Künstlers, ohne Rücksicht auf den Gegenstand (die Position eines »interesselosen Wohlgefallens«). Daß Camille zu Anfang des Stückes Goethes Umarbeitung von Diderots Versuch über die Malerei zitiert, in Sätzen, die sich gegen die Kunstanschauung Heines wenden, scheint die Entscheidung sofort zu präjudizieren: Büchner: »Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand seyn, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken. Die Gestalt mag nun schön oder häßlich seyn, sie hat einmal das Recht zu seyn wie sie ist [.. .].«117 Diderot/Goethe: »Die Natur macht nichts Inkorrektes. Jede Gestalt, sie mag schön oder häßlich sein, hat ihre Ursache, und unter allen existierenden Wesen ist keins, das nicht wäre, wie es sein soll.< Die Natur macht nichts Inkonsequentes, jede Gestalt, sie sei schön oder häßlich, hat ihre Ursache, von der sie bestimmt wird, und unter allen organischen Naturen, die wir kennen, ist keine, die nicht wäre, was sie sein kann. So müßte man allenfalls den ersten Paragraphen ändern, wenn er etwas heißen sollte.«118 115 116 117 118

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Ebd., S. 155. A4 1/38. «41/11. Goethe: Diderots Versuch über die Malerei - In: J. W. Goethe Sämtliche Werke. Hg. von Ernst Beutler (Artemis-Gedenkausgabe). Abdruck der 2. Aufl. - Zürich 1961-1966. - München 1977, Bd. 13, S. 201-253; Zitat S. 204.

Heine: »Die Idee des Kunstwerks steigt aus dem Gemüthe, und dieses verlangt bey der Phantasie die verwirklichende Hülfe. [...] Töne und Worte, Farben und Formen, das Erscheinende überhaupt, sind jedoch nur Symbole der Idee, Symbole, die in dem Gemüthe des Künstlers aufsteigen, wenn es der heilige Weltgeist bewegt, seme Kunstwerke sind nur Symbole, wodurch er ändern Gemüthern seme eigenen Ideen mittheilt Wer mit den wenigsten und einfachsten Symbolen das Meiste und Bedeutendste ausspricht, der ist der größte Künstler. [...] In der Kunst bin ich Supernaturalist. Ich glaube, daß der Künstler nicht alle seine Typen in der Natur auffinden kann, sondern daß ihm die bedeutendsten Typen, als eingeborene Symbolik eingeborner Ideen, gleichsam in der Seele geoffenbart werden.«119

Die Wahl des Diderot/Goethe-Zitats durch Büchner, das einem in dieser Zeit fast unbekannten Text entnommen ist - nur bei Bouterwek und in einem Artikel für Ersch und Grubers Allgemeine Encyclopädie (1832) finden sich Rezeptionszeugnisse120 -, ist bedeutsam, weil Goethe ständig davor warnt, Natur und Kunst zu verwechseln: »Die Natur organisiert ein lebendiges, gleichgültiges Wesen, der Künstler ein totes, aber bedeutendes, die Natur ein wirkliches, der Künstler ein scheinbares.«121 Die implizit geführte Debatte hat gewissermaßen die Struktur des Rleist'schen Marionetten-Aufsatzes, nur mit negativem Ausgang: die Naivität des Künstlers ist nicht wiederherstellbar, schon gar nicht über den im Sinne Goethes interpretierbaren spinozistischen Enthusiasmus des Künstlers. Von ihm unterscheidet sich grundlegend das Bild, das die Passage vor dem »Kunstgespräch« des Lenz entwirft: »Lenz sagte, daß der Geist des Wassers über ihn [d. h. Oberlin, der von einer Art Trance berichtet hatte, die ihn beim Betrachten eines Bergwassers überkommen hatte] gekommen sey, daß er dann etwas von seinem eigenthümlichen Seyn empfunden hätte. Er fuhr weiter fort: Die einfachste, reinste Natur hinge am nächsten mit der elementarischen zusammen, je feiner der Mensch geistig fühlt und lebt, um so abgestumpfter würde dieser elementarische Sinn; er halte ihn nicht für einen hohen Zustand, er sey nicht selbstständig genug, aber er meine, es müsse ein unendliches Wonnegefühl seyn, so von dem eigenthümlichen Leben jeder Form berührt zu werden; für Gesteine, Metalle, Wasser und Pflanzen eine Seele zu haben; so traumartig jedes Wesen in der Natur in sich aufzunehmen, wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft.«122

Dieser Zustand scheint in der Kunst nicht abbildbar; der merkwürdige Ausdruck vom Medusenhaupt, das nötig wäre, um einen schönen Naturmoment festzuhalten123, ruft Goethes eben zitierte Ansicht vom Kunstprodukt als einem »toten« Objekt ins Gedächtnis. Auch der Schluß der Szene des Kunstgesprächs kommt auf dieses Vorspiel zurück: Lenz weigert sich, in die Gesellschaft zurückzukehren, er erwartet sich Ruhe, Genuß von Augenblicken solch elementaren Lebens.124 119 Heine: Französische Maler. Gemäldeausstellung in Paris 18)1. (Ausgabe s. o. Anm. 114), Bd. 12/1 (Hamburg 1980), S. 9-48, Zitat S. 24/25. Roland Mortier: Diderot in Deutschland 1750-1850. - Stuttgart 1967, S. 285. Goethe: Diderots Versuch über die Malerei (Ang. s. Anm. 118), S. 206. HA 1/85. Ebd., S. 87. Ebd., S. 89. - Zum Gesamtkomplex Büchner-Goethe/Diderot vgJ. Th. M. Mayer (in: GBI/1I, S. 76-86, auch S. 425, Anm. 14); dgl. auch Mayers Textredaktion von Dantons Tod in: Peter von Becker (Hg.): Dantons

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Hans Jürgen Schings hat zu Recht, allerdings ohne einen - leicht zu führenden - Stellennachweis auf das Substrat des Mesmerismus für diese Textstelle Büchners hingewiesen.125 Auch hier wird die Auseinandersetzung mit dem poetischen Spinozismus der Romantik fortgeführt: auf Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie ist nachdrücklich zu verweisen, in dem »Realismus« und »Spinozismus« gleichsam auf eine Ebene gestellt werden.126 Die Voraussetzung für Büchners Zuwendung zur Elementarpoesie liegt in Heines Kritik am Spiritualismus, dessen Idealismus alles Böse in der Materie ansiedelt: »Die Spiritualisten haben uns immer vorgeworfen, daß bey der pantheistischen Ansicht der Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen aufhöre. Das Böse ist aber eines Theils nur ein Wahnbegriff ihrer eignen Weltanschauung, anderen Theils ist es ein reelles Ergebniß ihrer eigenen Welteinrichtung. Nach ihrer Weltanschauung ist die Materie an und für sich böse, was doch wahrlich eine Verläumdung ist, eine entsetzliche Gotteslästerung. Die Materie wird nur alsdann böse, wenn sie heimlich konspiriren muß gegen die Usurpazionen des Geistes, wenn der Geist sie fletrirt hat und sie sich aus Selbstverachtung prostituirt, oder wenn sie gar mit Verzweiflungshaß sich an dem Geiste rächt; und somit wird das Uebel nur ein Resultat der spiritualistischen Welteinrichtung.«127

Die wahre Poesie, deren Kern im spinozistischen Pantheismus angelegt ist, ist Versenkung in die Natur- und Menschheitsgeschichte. Aber während Heine in diese Ausführungen Hegelsches Vokabular und Gedankengut einfließen läßt, ohne den Konflikt zwischen dem künstlichen Archaismus des Dichtertums und seinem bekenntnishaften Supranaturalismus zu reflektieren, geht Büchner dem von Heine beschriebenen Phänomen nach: den »Usurpazionen des Geistes« oder, wie er es nennt, der zerstörenden »zweiten Natur«.128 Für Friedrich Schlegel war Spinoza,

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Tod. Die Trauerarbeit im Schönen. - Frankfurt/Main 1980 (Anm. 2, S. 72 und Anm. 11, S. 74). Ergänzend sei verwiesen auf Maurice B. Benn: Büchner and Heine. - In: Seminar. A Journal of Germanic Studies 3 (1977), S. 215-226, hierzu S. 218f.; und Henri Poschmann: Heine und Büchner. Zwei Strategien revolutionär-demokratischer Literatur um 1835. - In: Heinrich Heine und die Zeitgenossen. Geschichtliche und literarische Bejunde. - Berlin/Weimar 1979, S. 203-228, hierzu S. 214 ff. Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch (Ang. s. o. Anm. 4), S. 70ff. - Eine der zentralen Stellen von Mesmers Lehren gibt Justinus Kerner wieder (Franz Anton Mesmer aus Schwaben. - Frankfurt/ Main 1856): »Zwischen dem Aether und der Elementar-Materie befinden sich viele Fluthreihen, die nach einander immer fluthbarer werden, durch ihre Feinheit alle Zwischenräume durchdringen und anfüllen. Eine Reihe dieser Fluthen hängt sehr wesentlich mit derjenigen zusammen, welche die Nerven des thierischen Körpers belebt, und vermöge der Verbindung mit den verschiedenen durch das All verbreiteten Fluthen, alle Bewegungen derselben begleitet, durchdringt und theilt - - Auf diese Art wird die Möglichkeit begreiflich, wie das ganze Nervensystem in Beziehung auf die Bewegungen, welche Farben, Formen und Gestalten darstellen, Auge, Ohr u.s.w. werden könne, dass keine Bewegung oder Verrückung der Materie in ihren kleinsten Theilen möglich ist, ohne sich auch bis auf einen gewissen Grad durch das ganze Universum auszudehnen, — dass Alles, was existirt, auch gefühlt werden kann, und dass die belebten Körper, die sich mit der ganzen Natur in Berührung befinden, fähig sind, entferntere Wesen und Ereignisse wie sie sich einander folgen, zu empfinden. Hierdurch wird unschwer begreiflich, wie sich der Wille des Menschen dem Willen eines Ändern blos durch den innern Sinn mittheilen, und wie folglich zwischen zwei Willen ein Einverständniss, eine Art Uebereinkunft, bestehen kann. Dieses Einverständniss zweier Willen heisst: in Beziehung (in Rapport) seyn«. (S. 83ff., zit nach: Heinrich Haeser: Lehrbuch der Geschichte der Medicin und der epidemischen Krankheiten. 3. völlig umgearbeitete Aufl., Bd. II, S. 787/88. - Jena 1789). - In diesen Kontext wäre auch der in Anm. 12 zitierte Text Lavaters zu stellen. Friedrich Schlegel: Schriften zur Literatur. Hg. von Wolfdietrich Rasch. - München 1972. Gespräch über die Poesie, S. 279-331, hierzu S. 309. - Vgl. hierzu auch Roger Ayrault: La genese du romantisme aüemand. Vol. IV: 1797-1804 (II). - Paris 1976, S. 301-303. Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (Ausgabe s. o. Anm. 114), S. 9-120. Zitat S. 60. Vgl. hierzu die Ausführungen des Vf. in dem (in Anm. 52) genannten Aufsatz, S. 184 f.

Goethes Vorbild, wegen seiner Objektivität »der allgemeine Grund und Halt für jede individuelle Art von Spinozismus« der Poesie und damit eine Aufforderung zur Mythologie gewesen.129 In der Form einer künstlichen Regression tritt sie an der zitierten Stelle des Lenz auf, um im »Märchen« der Großmutter in den ^Toyzec/c-Fragmenten heftig kontrastiert zu werden, nicht mehr ein Mythologem, sondern dessen absolute Negation.1^ Odo Marquard hat die damit bezeichnete Situation der Kunst, um die es in den angesprochenen Stellen Büchners geht, wesentlich anders gedeutet als Hans-Jürgen Schings; denn so richtig dessen historische Linienführung - zurück zu Rousseau, Goethe, Mercier, Lenz, Jean Paul, gedeutet als Revolte gegen die etablierte Stilhierarchie - sein mag, so problematisch erscheint ihre Fortsetzung mit Schopenhauer (aufgrund der Wittkowskischen Thesen)131 und ihre terminologische Festlegung auf den »Realismus« einer »Poetik des Mitleids«.132 Odo Marquard geht auf Schelling als Ausgangspunkt zurück, auf den Status des Unbewußten, den die »Natur« für das Genie in der Kunst einnimmt, und sieht hierin eine »Abkehr von der Geschichte« und einen »Rekurs auf die vorgeschichtliche und angeblich heilende Macht der Natur«.133 Diese Ausflucht des ästhetischen Denkens führt aber, so Marquard, nicht zu seiner Rettung, sondern zu seiner Aufhebung: »Dieser Rekurs aber ist faktisch eine Regression. Unmittelbare Natur: das ist in der geschichtlichen Welt ein Anachronismus. Sie heilt nicht, sie gefährdet. Anachronistisch ist in der modernen - bewußt und artifiziell gewordenen -Welt auch alles, was jetzt noch als Natur produziert und wie Natur. Folglich ist auch, Genie zu sein und als Genie zu produzieren, ein Akt der Regression. [...] Der romantische Versuch, diese Natur durchs Genie als Retter zu rufen, ist fehlgeschlagen. Was Rettung bringen sollte, bedroht. Schon die Philosophie der späteren Romantik - die des älteren Schelling etwa oder diejenige Schopenhauers - charakterisiert die Natur nicht mehr wie die Philosophie der früheren durch OrganismusAttribute, sondern durch Chaos-Attribute. Die Natur gefährdet und zerstört. So kann diese Natur und das Genie nur noch derjenige wollen, der Zerstörung will: die eigene und ersatzweise die der anderen. Es zieht ihn dann - halb oder ganz zum Tode: zum eigenen und ersatzweise zu dem der anderen. Die zerstörerische Natur wird übermächtig; das künstlerische Genie aber - die höchste Potenz des spielenden Menschen - hat ausgespielt: offenbar wurde es nur deswegen erfunden und gelebt, um die Konfrontation mit der skizzierten Schreckenslage zu verdecken und zu verzögern. Dieser Lage muß also - nach der genieästhetischen Epoche - der Mensch sich stellen. Auf die Dauer kann er sie nicht aushallen. Zumindest braucht er neue Formen der Ausflucht. Weil die bisherigen ästhetischen Lösungen versagen, wird diese Lage zwangsläufig zum außerästhetischen Problem. 129 130 131 132 133

Friedrich Schlegel: Gespräch über tue Poesie (Ang. s. Anm. 126), S. 306f. HA 1/151. Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch (Ang. s. Anm. 4), S. 80ff. Ebd., S. 83. Odo Marquard: Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst - In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen (Poetik und Hermeneutik III, hg. von H. R. Jauß). - München 1968, S. 375-392, Zitat S. 385.

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Dazu gehört dann, daß nicht mehr der naturphilosophische und ästhetische, sondern - so repräsentativ beim späten Schelling - der theologische und - so bei Schopenhauer - der asketisch-quietistische Ausweg dominieren.«134

Zwei Konsequenzen sieht Marquard damit gegeben: den »Weg in die nicht mehr schöne Kunst«, d. h. den Exorzismus des in der Realität zu Befürchtenden in die Sphäre der Kunst135, und den »Weg in die nicht mehr künstlerische Kunst«, für den das Interesse am Medizinischen, das in der Romantik dem am Ästhetischen gleichrangig zur Seite tritt, symptomatisch wird.136 Von der daraus folgenden »prinzipiellen Konvertibilität von Kunst und Nichtkunst«, der »Auswechselbarkeit oder Identität künstlerisch und medizinisch relevanter Phänomene«137 führt für Marquard der Weg direkt zu Freud, zur Moderne der Kunst, aber nicht zur Epoche des Realismus bzw. des »Realidealismus«, wie ihn Georg Jäger und Max Bucher konsequent definiert haben.138 Denn die programmatisch-realistische Theorie ist von Anfang an darauf aus, diese durchaus in der Medizin, Ästhetik und Philosophie sich abzeichnende Problematik zu entschärfen. Die Auseinandersetzung des noch heute von der Realismus-Forschung vernachlässigten Rudolf Hermann Lotze (1817-1881) mit der romantischen Naturphilosophie und der Ästhetik Schellings ist dafür symptomatisch, und seine Interpretation des Schönen als »Furcht« vor allem »Heterokosmischen« bestimmt die von ihm angestrebte Konzeption des »Realismus«-Begriffes, die bereits 1838 mit einer Abhandlung Defuturae biologiae principiis philosophicis einsetzte, gefolgt von einer 1839 erschienenen Abhandlung über Pathologie und zwei in ihrer vollen Bedeutung erst von Georges Canguilhem gewürdigten Artikeln für ein Handwörterbuch der Physiologie über »Leben. Lebenskraft« und »Instinct« (1843 bzw. 1844).139 1845 verkündet seine Abhandlung Über den Begriff der Schönheit programmatisch die Trennung der Erkenntnis des Schönen vom naturwissenschaftlichen Bereich, die Begründung dafür liefert jedoch der Stand der Erkenntnis auf diesem Bereich und nicht die immanent-ästhetische Reflexion; und seine beiden Hauptwerke, die Lotze nunmehr als Professor der Philosophie in Göttingen verfaßt, der Mikrokosmus (1856-1869) und die Geschichte der Ästhetik in Deutschland (1868), dokumentieren dies nachdrücklich.140 134 Ebd., S. 385/86. - Der Schlußteil des Zitats ist der Fußnote 59 auf S. 386 entnommen. 135 Ebd., S. 386. 136 Ebd., S. 387. - Einen ähnlichen Befund weist auch Michel Foucault nach: vgl. Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. - München 1973, S. 184/85 und S. 208 ff. 137 Marquard, ebd. 138 Max Bucher/Werner Hahl/Georg Jäger/Reinhard Wittmann: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848-1880. 2 Bde. - Stuttgart 1975/76. - Vgl. hierzu bes. Georg Jägers Ausführungen über Die Konstruktion des Realidealismus und Max Buchers Ergänzung Der theologisch begründete Realidealismus (beide jeweils in Bd. l, S. 13-21 und S. 38-41). 139 Alle genannten Titel finden sich in: Hermann Lotze: Kleine Schriften. Erster Band, hg. von David Peipers. - Leipzig 1885. - Vgl. auch den in Anm. 50 zitierten Band von Georges Canguilhem. S. 106f. 140 Für die folgenden Ausführungen habe ich mich auf den in Anm. 139 genannten ersten Band der Kleinen Schriften und die Geschichte der Ästhetik in Deutschland (München 1868), Teil I, Kap. 5 (»Die Weltstellung der Schönheit im Idealismus Schellings«, S. 112-150), beschränkt.

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Lotzes Ausführungen entzünden sich an dem für Büchner kritischen Punkt der Naturphilosophie wie der philosophischen Ästhetik, der Entstehung des »schlimmen Endlichen« aus der Idee, in Büchners SpinozaExzerpten als der Kontrast »zwischen dem, was ist in der Endlichkeit, und dem Ewigen, an das wir dasselbe zu knüpfen suchen«, bezeichnet.141 Aber die Lösungen des Problems sind ganz verschieden: während für Lotze die Idee des Mechanismus durch ein Prinzip der Selbstregulation das Mittel ist, die »principlosen Vergleichungen, die ästhetisch phantasirenden und combinirenden Ueberblicke über Gesetze und Erscheinungen des Lebens« zu liquidieren, wobei sich das Bewußtsein des Menschen angesichts des Schicksals des dem Organischen einwohnenden Prinzips der Zerstörung mit dem höchsten Zweck der irdischen Welt, den »Erscheinungen des geistigen Lebens«, beruhigen muß142, ist für Büchner die Homogenität der Welt, die Spinoza, Herder, Kant, Goethe oder Schelling propagiert hatten, durch »Bewußtsein« und »Schmerz« durchbrochen.143 Zwar hält bei ihm noch ein gewisser Animismus die Bereiche von sozio-, naturhistorischer und ästhetischer Erkenntnis zusammen, aber die grundlegende Interpretationsmatrix, das Individuelle nur als Erscheinung des idealen Gesetzmäßigen hervortreten zu lassen, »die Ohnmacht, von einem Principe in Wahrheit auf die einzelne Erscheinung zu kommen«, wie Lotze von der Naturphilosophie Schellings schreibt, ist damit radikal in Frage gestellt.144 Der gemeinsame Ausgangspunkt eines »Realismus« in Ästhetik und Naturwissenschaft für Büchner wie Lotze ist die Aufhebung des Goethe'schen »Individuum est ineffabile«, das seinerseits auf das aristotelische Prinzip zurückgeht, welches »den wissenschaftlichen Diskurs über das Individuum verbot«.145 Die eigentliche Erscheinungsform des Individuellen, aller romantischen Allegorese zum Trotz, bildet jedoch das Pathologische, das Transitorische, das auf dem Weg der Auflösung Befindliche.146 Diese Position be141 Lotze: Geschichte der Ästhetik (ebd.), S. 129; Büchner: Spmozö-Exzerpte, HA 11/268. 142 Die Zitate entstammen Lotzes Rezension von Carl Wilhelm Starks Allgemeiner Pathologie (oder Allgemeiner Naturlehre der Krankheiten) von 1839; vgl. Kleine Schrtften (Ang. s. Anm. 139), S. 26-62, Zitat S. 27, und dem Handbuch-Artikel »Leben. Lebenskraft« von 1843 (ebd.), S. 139-220, Zitat S. 208. - Der Begriff der »Homogenität« wird hier verwendet im Sinn von Gerhard Frey: Gesetz und Entwicklung in der Natur. -Hamburg 1958, S. 167ff. 143 Vgl. Dantons Tod (III/l), HA 1/48; Spinoza-Exzerpte, HA 11/237. 144 Lotze: Rezension von Starks Allgemeiner Pathologie (vgl. Anm. 142), S. 27. - Zur Rolle der Individualisierung des Krankheitsbildes durch Beschreibung vgl. auch Foucault (s. o. Anm. 136), S. 182/83. 145 Am 20. September 1780 schreibt Goethe an Lavater: »Habe ich dir das Wort Individuum est ineffabile woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben?« (Goethe und Lavater: Briefe und Tagebücher. Hg. von Heinrich Funck. - Weimar 1901, S. 138) - Das Zitat zum aristotelischen Verbot der Erforschung des Individuums, das Foucault (s. Anm. 136, dort S. 184) entstammt, müßte durch einen Hinweis auf Platon ergänzt werden, und zwar auf den Dialog Parmenides. Tatsächlich setzt sich Büchner in seinen Exzerpten aus Tennemann zur griechischen Philosophie mit dem Problem nur bei Platon auseinander (vgl. HA II/ 355 ff.), während er bei Aristoteles nur die kompositiv-resolutive Methodik analysiert (HA U/378 ff.). Allerdings bleibt zu klären, wieweit bei der Abhängigkeit von Tennemann Büchners eigene Einstellung zu den Problemen fixiert werden kann. - Der hier fällige Exkurs zu Goethes Symbolbegriff und seinem Zusammenhang zu der im Diderot-Essay vertretenen Runstauffassung muß entfallen; man vgl. jedoch Wilhelm Emrichs immer noch sehr lesensweite Ausführungen in Die Symbolik von Faust U. Sinn und Vorformen. - Frankfurt/Main - Bonn 31964, S. 46-50. 146 Vgl. hierzu Foucault (s. Anm. 136), S. 207f.

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zeichnet nochmals eine Gemeinsamkeit der beiden Autoren. Aber die Ablösung von der Metaphysik* die sich in Büchners Kritik an der definitorischen Prozedur Spinozas kundtut (und nicht nur da)147, der Lotze mit seiner Forderung nach einem total neuen Einsatz der Metaphysik »mit den Grundbestimmungen der Anschaulichkeit« noch zu entsprechen scheint, unterscheidet sich gravierend von den gleichklingenden Bekenntnissen des Realidealismus, von Julian Schmidt bis hin zu Wilhelm Bölsche oder Samuel Lublinski.148 Während Büchner die Einsichten seiner ästhetischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Arbeit in die »einfachen Formen« des Woyzeck umsetzt, verweigert sich der programmatische Realismus in Deutschland dem Pathologischen als Gegenstand der Kunst Aber bei niemand, wie bei Lotze, tritt es so sehr in das Blickfeld der Kunst als ihr möglicher, vielleicht notwendiger Gegenstand - und dies auf der Folie naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Büchners »Realismus« erhält durch die Äußerungen Lotzes über den Begriff der Schönheit ein Profil, das seiner Position die Singularität nicht entzieht, sondern ihr zukunftsweisendes Element um so deutlicher hervortreten läßt, allerdings auch ihre Folgenlosigkeit für das Zeitalter des Realismus begründet. Da heißt es: »Beobachtungen der Natur im Kleinen lassen theils die ahnungsvollen Reize freier Schönheit, theils die in sich beruhigte Vollkommenheit einzelner Gestalten erscheinen; ihre Betrachtung im Grossen führt überall zunächst zu dem Gefühl der Erhabenheit, das sich immer an die Einfachheit der Gesetze und Mittel knüpft, durch welche grosse Missklänge ausgeglichen, oder eine unabsehbare Verwirrung der Mannigfaltigkeit in ihrem scheinbaren Auseinanderweichen dennoch zusammengelenkt wird. So haftet dieses Gefühl schon an dem Anblick des Einförmigen und Grossen, hier fast immer durch die Ahnung begründet, dass eine mannigfaltige Welt ihren Untergang in diese Ruhe gefunden habe; so knüpft es sich noch mehr an die fortschreitende Erkenntniss der Gewalt, mit welcher im Haushalt der Natur die verschiedenartigsten Kämpfe widerstreitender Ereignisse zu einem einfachen und bedeutungsvollen Ergebnisse zusammengezogen werden. Und wo diese Einheit nicht zur Erscheinung wird, begleitet dieselbe Erhabenheit die Voraussetzungen der Wissenschaft, die die unendliche Mannigfaltigkeit überall quellenden Lebens auf einen Grundstoff, ein ursprünglich Seiendes, 147 Vgl. bes. Abschnitt XI der Spinoza-Exzerpte, in denen Büchner vor allem die Frage nach der Legitimität der Definitionen stellt (HA 11/236-240). Vgl. hierzu Mayers Ausführungen in GB ////, S. 347f. - Heranzuziehen sind selbstverständlich die Parodie auf die Kategorienlehre des Idealismus in Leonce und Lena und die »reductio ad absurdum«, die in den »Spinoza-Gesprächen« des dritten Aktes von Dantons Tod einigen Axiomen Spinozas zuteil wird. 148 Lotze: Bemerkungen über den Begriff des Raumes (1841). - In: Kleine Schriften l (Ang. s. Anm. 139), S. 86 bis 108, Zitat S. 105. - Julian Schmidts Kritik an Buchner in den Grenzboten 1851 (abgedruckt in: HansJoachim Ruckhäberle/Helmuth Widhammer: Roman und Romantheorie des deutschen Realismus. Darstellung und Dokumente, - Kronberg 1977, S. 81-88) enthält ebenso die Forderung des Idealisierens wie Wilhelm Bölsches 1887 erschienene Schrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena zu einer realistischen Ästhetik (vgl. hierzu die Neuausgabe von Johannes J. Braakenburg, Tübingen bzw. München 1976; bes. Kap. 5 »Das realistische Ideal«, S. 48 ff., und Kap. 6 »Darwin in der Poesie«, S. 53 ff.). Auch Samuel Lublinskis 1909 erschienene Schrift Der Ausgang der Moderne. Ein Buch der Opposition (Neuausgabe durch Gotthard Wunberg, Tübingen 1976) stellt das Idealisierungsprinzip der formalen Gestaltung als Forderung an die naturwissenschaftlich begründete »moderne« Literatur (vgl. ebd. S. 211-213). Für die Epoche von Realismus, Gründerzeit und Naturalismus, die sich manifest so von aller - vor allem der Hegeischen - Metaphysik abkehrte, bleibt eine metaphysizierende Grundtendenz erhalten. Allerdings ändert sich das Grundparadigma, auf dem die analog Variable zwischen Literatur und Wissenschaft hervortritt; vgl. dazu unten Anm. 156.

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einen einzigen Alles durchströmenden Gedanken zurückführt. Allein gerade diese vollkommene Alles umfassende Erhabenheit hat die gefahrliche Spitze, in ein höchstes Hässliches überzugehen. Eine Zeitlang wohl wird sich mit jedem Fortschritt der Erkenntniss, der scheinbaren Zwiespalt durch ein höheres Gesetz bändigt, ein Gefühl der Befriedigung verbinden; verfolgen wir aber diese Bahn, sehen wir, wie selbst unsere eigenen Schicksale, die Bestrebungen, in denen wir frei zu sein glauben, wie alle Verhältnisse unseres Geschlechts, innerhalb deren für uns einen unerschöpfliches Spiel ahnender Sehnsucht und Wonne aufging, wie Alles dies durch eine verborgene Macht ebenfalls an unabänderliche, gleichgültig waltende Gesetze geknüpft ist, dann beginnt allmählich die Stille der Erhabenheit uns zu still zu werden, und aus den schönen Zügen, die die mit sich einige Natur uns zukehrt, tritt durch einen plötzlichen Wechsel der Beleuchtung das starre Gerippe der Nothwendigkeit hervor, auf das sie sich stützen. Erfahrungen dieser Art hat wohl Jeder gemacht; es bedarf bei dem allen immer einer besonderen Stimmung des Gemüths, um sich auf dem Gipfel der Erhabenheit festzuhalten und nicht in den Abgrund des Grauens zu fallen, der daneben gähnt. Die Naturwissenschaften führen auf jenen, so wie an diesen, und selbst jene Weltansichten, die in der Begeisterung für den unbedingten Urgrund der Welt schwelgen, erscheinen oft plötzlich dem Gemüthe als eine trostlose Oede, in der mit einer unerschöpflichen Triebkraft, wie die wuchernden Gewächse in Sümpfen, oder das wilde Fleisch in Geschwüren sich eine unendliche Mannigfaltigkeit zwar entwickelt, aber in gährender Rastlosigkeit nur von unten getrieben, ohne von aussen und oben durch ein Ziel gehoben und erlöst zu werden, dem diese bange Unruhe zustrebte. Die Gründe so seltsamer Gemüthsbewegungen sind nicht schwer zu finden. Es ist einestheils die Bangigkeit, die das Bewusstsein erzeugt, das Letzte gefunden zu haben, was hinter allen Erscheinungen ruht, und wonach die Sehnsucht lange, ihres eigenen, jetzt ersterbenden Strebens froh, gerungen hat Ist nun das endlich Bekanntgewordne nicht von so hohem Werthe, dass auch ohne die Auf stachelung eines noch unvollendeten Strebens die Seele ihm ewige Theilnahme widmen kann, was bliebe ihr übrig, als mit ihrem Streben auch selbst zu vergehn? Sie fühlt diese Nothwendigkeit ihres eignen Unterganges, wo sie in der Betrachtung der Welt nichts als jene Erhabenheit ewiger und unerschütterlicher Gesetze im Strudel verworrener Erscheinungen findet Sie findet, dass, wo nicht mehr in der Welt wäre, dieser Anblick die Mühe des Suchens täuscht, die einer ganz ändern Befriedigung für tiefere Bedürfnisse nachging. Zu der Welt der Bewegungen und der Ereignisse muss eine Welt der Schmerzen und der Wonne kommen; und nie wird jener Uebergang vom Erhabenen zum Grauenhaften vermieden werden, wo jene einfache Welt des Begriffs und des Daseins als das letzte Wirkliche dasteht, das nicht noch ausser sich selbst ein Ziel hat, dem es mit aller seiner Erhabenheit dienen muss. Denn davor ergreift uns ein gerechtes Grauen, dass irgend ein Seiendes, irgend ein Gesetz, irgend ein kalter Gedanke allein das Letzte und Erste sei, das in aller Welt zu Grunde liegt und sich verwirklicht; viel lieber geben wir dem Dasein, allen letzten Abschluss fürchtend, ein fremdartiges Ziel noch ausser ihm, damit es nach dem Masse seines Strebens, jenem Ziel sich zu nähern, einen Werth erhalte, der in ihm selbst nicht gefunden wird.«149

Lotzes Definition der Aufgabe der Runst, nicht »das Verschiedene auf das Ideal zurück, sondern das Ideal in die Verschiedenheit hineinzuführen«, bedingt ihre Tendenz zum »Charakteristischen«, das an die Stelle des »Idealen« treten muß. Schellings Runstphilosophie, »welche Schönheit da sieht, wo der allgemeine Begriff in das endliche eintritt und in ihm in concrete angeschaut wird«, erfahrt damit dezidierten Widerspruch.150 So nahe Lotze damit an die Position des Büchnerschen Lenz 149 Lotze: Über den Begriff der Schönheit (1845). - In: Kleine Schriften I (s. Anm. 139), S. 291-341; Zitat S. 329 bis 331. 150 Lotze: Geschichte der Ästhetik (s. Anm. 140), S. 143.

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gerät, so läßt doch die Konzeption des »Heiligen« der Kunst, Schillers Idee des zweckfreien Spiels verpflichtet, die sich aufdrängende Konsequenz nicht zu, nämlich »alles Seiende schön [zu] finden [...] und zwar nur sofern es ist, nicht als ob Schönheit thatsächlich und aus einem ändern Grunde über alles Seiende verbreitet wäre.«151 Lotze gelingt zwar auf naturwissenschaftlichem Gebiet die Aufhebung des Widerspruchs zwischen dem Gesetz einer idealen Ordnung und den scheinbar unentwirrbaren Konflikten der Erscheinungen, indem er auf eine Abbildbarkeit der Idee in diesen verzichtet, im Ästhetischen aber führt er diese ebenfalls zugrundegelegte Einsicht nicht konsequent durch: hier verhindert die Idee des »Sittlichen« bzw. »Richtigen« die von Marquard diagnostizierte »Konvertibilität von Kunst und Nichtkunst«.152 Büchners Naturerkenntnis, die terminologisch noch den Anschauungen Okens verpflichtet ist, die Lotze so heftig kritisiert, leistet aber in ihrer Übertragung auf den Bereich der Kunst, was dem wissenschaftlich fortschrittlicheren Zeitgenossen versagt bleibt: die Überwindung des Dualismus von Idee und Erscheinung durch die unbedenkliche Sichtbarmachung des Pathologischen, mit der Büchner im Woyzeck über die im Lenz erreichte Position hinausgeht.155 Dies bedeutet auch die Überwindung der oben dargestellten Alternative zwischen der Position Diderots und Goethes einerseits, die noch von einem normativen Element in der Stellung der Naturgegenstände ausgingen und deshalb der Kunst den Charakter des Medusischen zuschrieben, und dem von Schiller und Heine vertretenen »Supranaturalismus«. Dieser Form von »Realismus« mußte, unter den ausgeführten historischen Umständen, also nach dem Zerbrechen der Herderschen Akkommodation, die Metaphysik Spinozas als »Consequenz einer blasirten im Nichts thronenden Wahrheit, die sich dann beiläufig auch in jedem etwa entstehenden Weltall befolgt fände«154, erscheinen, gegen die die Autonomie der Erscheinungen polemisch zu stellen war. Aber auf dem Gebiet des Ästhetisch-Humanen war für Büchner die Regularität, die Lotze für die naturwissenschaftliche Methodik etablieren konnte, nicht so ohne weiteres herzustellen: in einer Realität, die sich als »vernünftig« (Hegel), »notwendig« (Comte) oder konkretes Abbild einer Idee (Schelling) begriff, war es nötig, den trügerischen Charakter dieses Anspruchs angesichts der absurden Situation des Individuums zu entlarven. Herder hatte bereits in seinen Spinoza-Gesprächen vor den Ungeheuern der Phantasie gewarnt, welche dadurch entstehen, daß Begriffe der 151 Zur Konzeption des »Heiligen« der Kunst vgl. Über den Begriff der Schönheit (s. Anm. 149), S. 304; das Zitat entstammt der Geschichte der Ästhetik, S. 139 152 Vgl. Lotze: Über den Begriff der Schönheit (s. Anm. 149), S. 301-304. 153 Zu Lotzes Kritik an Oken vgl. seine Rezension der Pathologie Starks (s. Anm. 142), S. 55f. und 59f. 154 Lotze: Geschichte der Ästhetik (s. Anm. 140), S. 150.

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Philosophie zur Richtschnur poetischer Bilder gemacht werden. So schreibt er über einen Text Albrecht von Hallers: »Lassen Sie uns [...] von einem philosophischen Dichter lernen, auf metaphysische Phantasmen und leere Anschauungen eines Endlosen Raums, Einer Endlosen Zeit, geschweige auf das untheilbare ewige Daseyn in Bildern Verzicht zu thun. Wer dies nicht thun will, bringt Ungeheuer in die Philosophie, vor denen, wie billig ist, der Erfinder zuerst selbst schaudert.«155

Aber als es die Philosophen nicht mehr schauderte, Vorstellungen zu entwickeln, die, konsequent umgesetzt, unerträglich sein mußten, übernahmen es einige Schriftsteller, die zugehörigen Bilder als abschreckende Therapie zu entwerfen, um die Absurdität philosophischer Machtausübung über die Wirklichkeit zu denunzieren: so Jean Paul und Kleist in ihren Figurationen der Fichteschen Philosophie (im Titan bzw. Amphitryon). Ihnen schließt sich Büchner mit seinen suggestiven Bildern aus der Welt Spinozas an.156 Die hier vorgelegten Ausführungen versuchten, in der Nachzeichnung eines wissenschaflsgeschichtlichen Problems die Gründe für die Aufnahme und Ablehnung der Spinoza-Tradition bei Büchner aufzuzeigen. Die Aporie der Vermittlung zwischen Endlichem und Unendlichem, die Büchner konstatiert und in seinem Werk darzustellen versucht hatte, war vor ihm, wie mir scheint, in dieser Knappheit und Hellsichtigkeit von Hölderlin gesehen worden. In seiner Abhandlung Das Werden im Vergehen heißt es: »Im Zustande zwischen Sein und Nichtsein wird aber überall das Mögliche real, und das Wirkliche ideal, und dies ist in der freien Kunstnachahmung ein furchtbarer, aber göttlicher Traum.«157

Und diese Ahnung des »Furchtbar-Göttlichen«, die beide Dichter verbindet, weil sie bei beiden aus der gemeinsamen Erfahrung eines Zustandes »zwischen Sein und Nichtsein« hervorgeht - es sei nochmals auf die 155 Herder: Spinoza-Gespräche (s. Anm. 32), S. 529. 156 Gerade einige der im dritten Abschnitt angeschlagenen Themen bedürfen der Ergänzung, vornehmlich, wie in Anm. 148 angedeutet, der Wandel des Grundparadigmas, auf dem sich Literatur und Naturwissenschaft begegnen. War es hier bei Büchner und Stifter noch die Relation zwischen »Gesetz« und »Erscheinung« gewesen, ist es eine neue Relation zwischen Individuum, »Gruppe« und »Umwelt«, die die analog Variable zwischen den beiden Bereichen erstellt Erste Ansätze der Entwicklung dieses Themas enthält der in Anm. 6 genannte Aufsatz des Vf.; eine ausführliche Studie unter dem Titel Individuum, Gruppe und Umwelt: zur Beziehung von Literatur und Wissenschaften im Zeitalter des Realidealismus wird 1984 im IASL Bd. 9 vorgelegt werden. - Auf einen interessanten Fall von Spinozarezeptton im Zusammenhang mit naturwissenschaftlichen Problemen ist abschließend zu verweisen: es ist Nietzsches berühmte »Entdeckung« eines »Vorläufers« in Spinoza, die er mit dessen Leugnung der Willensfreiheit, der Zwecke, der sittlichen Weltordnung, des Altruismus und des Bösen begründet Nicht zufällig geht diese Entdeckung mit der Lektüre von Robert Mayers Mechanik der Wärme Hand in Hand (vgl. hierzu Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie. Zweiter Band. - München 1978, S. 73/74 und 78/79). Diese Rezeption vollzieht sich unter den Bedingungen einer veränderten Wissenschaft, an deren Zustandekommen Lotze so sehr beteiligt war; Büchner hat diese Entwicklung der Wissenschaft selbst nicht mehr erlebt, und trotzdem greift seine ästhetische Position in die Zukunft aus: zu Nietzsche, Freud, Kafka, in eine Epoche, in der der naiv-metaphysizierende Realismus von der Erkundung des Pathologischen verdrängt wird. 157 Friedrich Hölderlin: Das Werden im Vergehen. - In: Kleine Stuttgarter Ausgabe, Bd. 4. - Stuttgart 1962, S. 294-299; Zitat S. 295.

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oben interpretierte Lenz-Stelle verwiesen -, führt bei Hölderlin auch zu Konsequenzen hinsichtlich der Stellung des Dichters gegenüber der Realität. In einer Strophe aus dem Komplex Mnemosyne bzw. Apriorität des Individuellen stellt sich Hölderlin dem ursprünglich auf Parmenides zurückgehenden Thema von »Gesetz« und »Erscheinung«, worauf Hans von Steuben jüngst verwiesen hat158, dem Spinoza, ScheUing und Hegel unmittelbare Aktualität verliehen hatten.159 Es sind die drei Schlußverse, in denen Hölderlin der philosophischen Anstrengung des Idealismus eine ästhetische Haltung gegenüberstellt, die das Festhalten an einer unbegründbaren, aber unabdingbaren Realität, mit aller Gefährdung der eigenen fragilen Position, zur Voraussetzung von Dichtung macht Und es scheint nicht bloße Interpretenwillkür zu sein, Büchners ästhetische Position auf dieses poetische Vor-Bild im exemplarischen Wortsinn zu beziehen:

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»Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet Die Frucht und auf der Erde geprüfet und ein Gesez ist Daß alles hineingeht, Schlangen gleich, Prophetisch, träumend auf Den Hügeln des Himmels. Und vieles Wie auf den Schultern eine Last von Scheitern ist Zu behalten. Aber bös sind Die Pfade. Nemlich unrecht, Wie Rosse, gehn die gefangenen Element' und alten Geseze der Erd. Und immer Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht Vieles aber ist Zu behalten. Und Noth die Treue. Vorwärts aber und rükwärts wollen wir Nicht sehn. Uns wiegen lassen, wie Auf schwankem Kahne der See.«160

158 Parmenides: Über das Sein. Griechisch/Deutsch. Mit einem einführenden Essay hg. von Hans von Steuben. - Stuttgart 1981. - Vgl. hierzu Steubens Essay »Wahrheit und Gesetz. Die Offenbarung des Parmenides« (S. 93-207), Anm. 95, S. 203 f. 159 Vgl. ebd. Steubens Hinweise auf die Verbindung Parmenides-Spinoza (S. 112) und die Hegeische Interpretation (S. 111/12, Textabdruck S. 41-44). - - - den - Text - - als - erste Strophe einer dritten Fassung von Mnemosyne: vgl. Hölder160 Friedrich Beisi Beissner druckte lin: Sämtliche Werke. Bd. II/l: Gedichte nach 1800. - Stuttgart 1951, S. 197 (Text); Bd. II/2 (ebd.): S. 821/22 (Lesarten). In Dietrich E. Sattlers Einleitung, dem Eröffnungsband der »Frankfurter Ausgabe< von Hölderlins Sämtlichen Werken (1975), wird diese Strophe als Beginn einer neuen Texteinheit unter dem Titel Apriorität des Individuellen aus dem Mnemosyne-Komp\ex ausgeschieden (vgl. ebd. S. 71-92). Der hier wiedergegebene Text folgt der Handschriftenwiedergabe Sattlers auf S. 73, mit einer Ausnahme: in Z. 15 hat Hölderlin vor »aber« später das Wort »wiegend« (über der Zeile) hinzugesetzt Sattler gibt als Konjektur in seiner Lesefassung (S. 84) dafür »wagend«; seine Begründung erscheint mir für diesen Eingriff nicht stichhaltig genug. Der Zusatz wurde deshalb von mir ausgelassen.

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»Der Fels des Atheismus« Epikurs und Georg Büchners Kritik an der Theodizee Von Joachim Kahl (Marburg)

i. Die Brüder Georg und Ludwig Büchner zwei atheistische Religionskritiker aus der Schule eines medizinisch geprägten Materialismus Der bedeutende Beitrag Georg Büchners zur theoretischen Begründung und künstlerischen Gestaltung materialistischer Religionskritik stand lange Zeit im Schatten des streitbaren Atheismus seines elf Jahre jüngeren Bruders Ludwig Büchner, dessen berühmt-berüchtigtes Buch Kraft und Stoff (1855) über Jahrzehnte hinweg das geistige Leben in Deutschland, ja in Europa beeinflußte.1 Dank dieses publizistischen Erfolges war Ludwig Büchner im 19. Jahrhundert nicht nur das weitaus bekannteste Mitglied seiner Familie, sondern galt auch als ihr eigentlich herausragender Sproß. Diese Fehleinschätzung ist heute allgemein überwunden. Inzwischen ist längst Georg Büchner zu Recht als die große Gestalt der hessischen Arztfamilie erkannt worden. Zu Unrecht freilich ist darüber Ludwig Büchner nahezu völlig der Vergessenheit anheimgefallen, oder er wird ob seiner »Plattheit« gescholten. Gewiß war sein bloß naturwissenschaftlicher Materialismus gegenüber dem dialektischen und historischen Materialismus von Marx und Engels ein kleinbürgerlicher Vulgärmaterialismus.2 Aber im zurückgebliebenen Deutschland unter der Dunstglocke der wiedererstarkten feudalklerikalen Reaktion nach der niedergeschlagenen Revolution von 1848 war selbst diese unzulängliche Form 1 Das Buch Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien in allgemein-verständlicher Darstellung erlebte nach seinem ersten Erscheinen 1855 bis 1904 nicht weniger als 21 große Auflagen (neben mehreren gekürzten) sowie 32 ausländische Auflagen in 17 Übersetzungen. Heute ist das Buch wieder greifbar in der Reihe »Philosophische Studientexte« des Akademie-Verlages der DDR, hg. und eingeleitet von Dieter Wittich: Vogt, Moleschott, Büchner. Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland. Eine Auswahl in zwei Bänden. - Berlin 1971. Über Ludwig Büchner vgl. außer der ausführlichen Einleitung Dieter Wittichs noch: Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte. - Basel/Stuttgart 1963 S. 127ff.; Franz Mehring: Philosophische Aufsätze (Gesammelte Schriften Bd. 13). -Berlin (DDR) 1961, S. 133 ff.; Georg Eckert (Hg.): Friedrich Albert Lange: Über Politik undPhüosophie. Briefe und Leitartikel 1862-1875 (Duisburger Forschungen, 10. Beiheft). - Duisburg 1968, S. 41 ff.; Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1. - Mannheim/Wien/ Zürich 1980, S. 356f.; Karl-Heinz Weger (Hg.): Religionskritik von der Aufklärung bis zur Gegenwart Autorenlexikon von Adorno bis Wittgenstein (Herderbücherei 716). - Freiburg/Br. 1979, S. 50f. 2 Zum präzisen historischen Sinn der Kategorie des Vulgärmaterialismus, die selbst oft als vulgäres Schlagwort mißbraucht wird, vgl. die erwähnte Einleitung Dieter Wittichs, bes. S. LXIVff.

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des Materialismus ein geistiger Fortschritt: »Unter den Blinden ist der Einäugige König, und in den fünfziger Jahren war Büchners >Kraft und Stoff< immerhin eine erfrischende Erscheinung.«3 Vor allem aber dürfen nicht die bleibenden Verdienste übersehen werden, die sich Ludwig Büchner um die Erschließung und Wahrung des Erbes seines Bruders Georg erworben hat. Während sich alle übrigen Familienangehörigen gegenüber dem Lebenswerk des frühverstorbenen Dichters und politischen Revolutionärs eher reserviert verhielten, hat sich Ludwig Büchner zeitlebens dem Vermächtnis seines Bruders Georg verpflichtet gewußt. Im Gegensatz beispielsweise zum Literaturwissenschaftler Alexander Büchner, der noch im Jahre 1900 »unseres ältesten Bruders Demagogentum«4 beklagte und allein schon mit dieser Ausdrucksweise die Position von Georg Büchners Todfeinden übernahm, schloß Ludwig Büchner seinen 1896 veröffentlichten Aufsatz Georg Büchner, der Sozialist mit den Worten: »Ob dieser Dichter den Namen eines Pioniers oder vielleicht nur den eines >Vorläufers< des Sozialismus verdient, mag zweifelhaft sein. Jedenfalls gärten in der Seele des genialen Jünglings bereits die Reime oder Ansätze zu einer geistigen Bewegung, die erst die Gegenwart zu größerer Reife gebracht hat, ohne daß man auch nur ahnen kann, was aus ihr schließlich erwachsen wird.«5 Zwar blieb Ludwig Büchner die künstlerische Genialität des Dichters - die literarische Eigentümlichkeit seiner realistischen Ästhetik, die seiner Sicht von unten entstammte - weitgehend verschlossen. Aber gleichwohl begriff er den hohen Rang der naturwissenschaftlich-philosophischen Arbeiten. Von Ludwig Büchner stammt die bis heute einzige Übersetzung des Schlußteils der französisch abgefaßten Dissertation Georg Büchners Memoire sur le Systeme nerveux du barbeau. Ludwig Büchner kommentierte, die Arbeit seines Bruders enthalte »eine sehr deutliche Vorahnung der heutzutage herrschend gewordenen und die ganze organische Welt in einen großen Gedanken zusammenfassenden Entwicklungs-Theorie«. Dieser treffenden Charakterisierung des wissenschaftsgeschichtlichen Standortes Georg Büchners fügte Ludwig Büchner noch die Vermutung hinzu: »B. würde vielleicht, wenn er am Leben geblieben wäre und seine wissenschaftliche Laufbahn weiter verfolgt hätte, derselbe große Reformator der organischen Naturwissenschaften geworden sein, welchen wir jetzt in Darwin verehren.«6 Läßt sich eine höhere Wertschätzung des Naturforschers Georg Büchner denken? 3 Franz Mehring: Philosophische Aufsätze, S. 141. 4 Alexander) Büchner: Biographisches Vorwort zu Ludwig Büchner: Im Dienste der Wahrheit. Ausgewählte Aifaätze aus Natur und Wissenschaft. - Gießen 1900, S. XIII. 5 Zitiert nach Dietmar Goltschnigg (Hg.): Materialien zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Büchners. - Kronberg 1974, S. 141. 6 Zitiert nach F, S. 299 (Hervorhebungen im Original).

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Seinen wichtigsten Beitrag zur Wahrung und Verbreitung des Erbes seines Bruders hat Ludwig Büchner mit der (zunächst) anonymen Herausgabe far Nachgelassenen Schriften Georg Büchners 1850 geleistet. Es war dies die erste Zusammenstellung von Schriften und Briefen Georg Büchners überhaupt, freilich noch ohne Woyzeck, aber mit wesentlichen Auszügen aus dem Hessischen Landboten, der damit erstmals der literarischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Angesichts der heute weitverbreiteten Überbetonung der unleugbaren Mängel dieser Textedition muß darauf verwiesen werden, daß von einem 25jährigen Arzt billigerweise nicht erwartet werden darf, was erst nach jahrzehntelanger historisch-philologischer Kleinarbeit professioneller und professoraler Germanisten geleistet werden konnte. Das große Verdienst der Herausgabe der Nachgelassenen Schriften Georg Büchners durch Ludwig Büchner im Jahre 1850 bestand darin, daß damit der politisch radikalste Schriftsteller des Vormärz in der dumpfen Atmosphäre des Nachmärz erneut und umfassender als je zuvor zur Kenntnis gebracht wurde, und zwar mit einem Vorwort versehen, das unzweideutig Partei ergriff: »Büchner würde niemals, hätte er das Jahr 1848 erlebt, auf der Seite derjenigen gestanden haben, die durch lächerlichen Eigendünkel und kindische Furcht die Freiheit verraten haben, die man in ihren Händen für gesichert hielt.«7 Mit sicherem Blick für die politisch-weltanschauliche Kernaussage Georg Büchners zitiert Ludwig Büchner in dem Vorwort den »dritten Bürger« aus Dantons Tod, den er - richtig interpretierend - als »Proletarier« vorstellt: »Unser Leben ist der Mord durch Arbeit; wir hängen sechzig Jahre lang am Strick und zappeln; aber wir werden uns losschneiden!«8 Insgesamt würdigt Ludwig Büchner seinen Bruder als einen Autor, »der die Prinzipien der Revolution und der Freigeisterei so offen und mit so seltenem Talent entwickelt hatte«, daß es »natürlich von reaktionärpietistischer Seite nicht an der Bekämpfung« habe fehlen können, und zwar vor allem auch deshalb, weil er sich gerade an »derjenigen Periode der französischen Umwälzung« orientiert habe, »welche man bisher nur verstohlen und alsdann nicht ohne die lebhaftesten Äußerungen eines frommen Abscheus zu nennen gewohnt war.«9 Es dauerte nicht lange, bis auch Ludwig Büchner die Folgen einer »Bekämpfung von reaktionär-pietistischer Seite« zu spüren bekam. Kaum war sein Buch Kraß und Stoff 1855 erschienen, als ihm auch schon die württembergische Regierung die Lehrbefugnis als Privatdozent an der Universität Tübingen entzog, wo er sich gerade ein Jahr zuvor für das 7 Vorwort, N, S. 48. 8 Ebd., S. 48. 9 Ebd.,S.26f.

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Fach Medizin habilitiert hatte. Sein kämpferisches Engagement für die massenwirksame Verbreitung des atheistischen Materialismus mußte Ludwig Büchner mit dem Verzicht auf eine sichere akademische Laufbahn bezahlen. Reine andere deutsche Regierung hat ihm danach ein Universitätsamt übertragen. Er lebte fortan als praktischer Arzt in seinem Geburtsort Darmstadt, wo er allerlei bösartigen Verleumdungen ausgesetzt war, von denen die Bezeichnung als »deutscher Kraftstoffel« gewiß noch die harmloseste war. Wie das Berufsverbot für Ludwig Büchner zeigt, versuchten die spätfeudalistischen Regimes, die in Deutschland dank des Sieges der Konterrevolution 1849 ihre Macht noch einmal hatten festigen können, jeden Angriff auf die Religion zu unterdrücken. Denn ein Angriff auf die Religion war ein Angriff auf die ideologische Hauptstütze der Fürstenherrschaft: der Heiligenschein ihres Gottesgnadentums wurde heruntergerissen. Der praktisch-politische Kampf zur Überwindung des Feudalabsolutismus war zugleich notwendig ein geistiger Kampf gegen die Religion als ideologisches Herrschaftsinstrument, gegen die Religion als Mittel der Volksverdummung. In der Periode des Vormärz bildeten daher religionskritische Problemstellungen wichtige Kristallisationskerne zur theoretischen Selbstverständigung der oppositionellen Kräfte. Ludwig Feuerbach, der mit seinen nur scheinbar unpolitischen Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) die radikale Polemik eröffnete, Bruno und Edgar Bauer, David Friedrich Strauß: sie und andere rüttelten mit ihrer Bibel- und Mythenkritik an ideologischen Stützpfeilern der Feudalherrschaft und wurden für ihre Unbotmäßigkeit mit Berufsverboten und anderen Repressionen bestraft. Georg Büchner - nach dem treffenden Urteil Franz Mehrings »so klar in politischen Dingen wie keiner sonst von allen, die im damaligen Deutschland politisch hervorgetreten sind«10 - durchschaute den Funktionsmechanismus der Ehe von Thron und Altar, von Polizei und Pfarrei, illusionslos. »Es ist der gewöhnlichste Kunstgriff, den großen Haufen auf seine Seite zu bekommen, wenn man mit recht vollen Backen: unmoralisch !< schreit.« So kommentierte Büchner in einem Brief an die Familie (1.1. 1836) das Verbot der Deutschen Revue und die Verhaftung Karl Gutzkows. »Der Großherzog von Baden, erster Ritter vom doppelten Mopsorden, macht sich zum Ritter vom heiligen Geist und läßt Gutzkow arretieren, und der liebe deutsche Michel glaubt, es geschähe Alles aus Religion und Christentum und klatscht in die Hände.«11 10 Franz Mehring: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Erster Teil (Gesammelte Schriften, Bd. 1). Berlin (DDR)21976, S. 78. 11 HA II, S. 451. Hier und bei allen anderen Zitaten wird die Orthographie Büchners behutsam der heutigen angeglichen.

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Diese religiöse Manipulation des Volkes aufzudecken und aufzuheben, begriff Georg Büchner als eine politische Schlüsselaufgabe. Im Hessischen Landboten, der die Bauern und Handwerker zum Kampf gegen das korrupte Regime des Darmstädter Großherzogs aufstacheln sollte, findet sich daher - im unmittelbaren Anschluß an die deutliche Schilderung der Ausbeutung und Unterdrückung des Volkes - der entscheidende Satz: »Das alles duldet ihr, weil euch Schurken sagen: >diese Regierung sei von Gott.Philosophengespräch< enthaltene Kritik am Gottesbegriff und Gottesbeweis Benedict Spinozas sowie der derbe Spott über die - freilich vulgarisierte52 - pantheistische Modalitätentheorie, wonach »der liebe Herrgott in jedem von uns Zahnweh kriegen« oder »Tripper haben« könne, hat manchen Interpreten zu dem voreiligen und falschen Schluß verleitet, Büchner sei ein »Gegner«53 Spinozas. Büchner war ein Kritiker 50 HA I, S. 148. 51 HA I, S. 99. 52 Gemäß der pantheistischen Modalitätentheorie Spinozas ist jeder Mensch, jedes Einzelwesen überhaupt, ein Modus, eine Erscheinungsform der ewigen Gottheit Um freilich das naheliegende vulgäre Mißverständnis zu vermeiden, das Payne in der Philosophen-Diskussion ausdrückt, hat Spinoza genau zwischen »schaffender Natur« (natura naturans) und »geschaffener Natur« (natura naturata) unterschieden. Die ewige Gottheit ist nur identisch mit der »schaffenden Natur«, der Schöpferkraft der Natur in allen Einzelwesen, aber nicht mit diesen selbst Wie der Entwurf zur .Spinoza-Vorlesung ausweist, war Büchner ein zu guter Spinoza-Renner, als daß ihm dieses anthropomorphistische Mißverständnis, das er Payne in den Mund legt, selbst anzulasten wäre. 53 Die Herausgeber und Kommentatoren der Taschenbuchausgabe WuBt Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler, schreiben, Spinoza sei für Büchner »ein wirklicher Gegner« (S. 479). Auch H. Mayer, S. 359, spricht vorschnell von einem »Gegensatz« zwischen beiden Denkern, der nicht größer gedacht werden könne. Irrig behauptet Mayer, Spinozas geometrische Methode habe Büchners »Protest« hervorgerufen.

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Spinozas. Er kritisierte Spinozas materialistischen Pantheismus von der Position eines materialistischen Atheismus aus. In entscheidenden theoretischen Ansätzen stimmte Büchner mit Spinoza überein, ja hatte er von ihm gelernt. Namentlich teilte er die Teleologie-Rritik Spinozas, die er noch radikalisierte und gegen die philosophische Gotteslehre selbst stellte. Die produktive Aneignung und kritische Weiterbildung der Philosophie Spinozas durch Georg Büchner bildet zusammen mit der SpinozaAnalyse Ludwig Feuerbachs den materialistischen Höhepunkt und Abschluß der »Spinoza-Debatte«, an der sich im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert die besten Vertreter der deutschen Intelligenz beteiligt hatten. Ein knapper Überblick über diesen hochbedeutsamen theoriegeschichtlichen Diskussionszusammenhang innerhalb der europäischen Aufklärung wird das philosophische Profil Georg Büchners schärfer hervortreten lassen. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war es für Intellektuelle kompromittierend und existentiell riskant, sich offen als Anhänger der Philosophie des Spinoza zu erkennen zu geben. Als Spinozist verdächtigt zu werden, war damals genauso anrüchig und gefährlich wie im frühen 19. Jahrhundert der Vorwurf, ein Jakobiner zu sein, oder heutzutage und hierzulande als ein Radikaler oder gar als Kommunist zu gelten. Weshalb? Worin bestand die ungeheure Provokation, die mit dem Namen Spinozas verbunden war? Spinoza erschütterte sein Zeitalter einmal durch die große innere Freiheit seiner philosophischen Existenz, die er dadurch bewies, daß er sich - nach seiner Exkommunikation aus der Amsterdamer Synagogengemeinde - zeitlebens keiner anderen Religionsgemeinschaft mehr anschloß. Er war der erste prominente Konfessionslose der neueren Geschichte, von Juden und Christen beargwöhnt und angefeindet, der praktisch vorlebte, daß eine menschenwürdige Existenz auch außerhalb von Kirche und Synagoge möglich ist. Er verfiel nicht der Trunkenheit und der Hurerei, wie es dem jahrtausendealten religiösen Vorurteil zufolge hätte geschehen müssen, und lieferte damit den anschaulichen Beleg für die Möglichkeit einer rein weltlichen Ethik. Damit durchbrach Spinoza die Grundprinzipien der feudalklerikalen Lebens- und Denkweise. Ihre theoretische Begründung fand diese Pioniertat in seiner Philosophie eines materialistischen Pantheismus mit dem Losungswort: »Gott oder auch Natur oder auch Substanz« (deus sive natura sive substantia). Die Natur oder auch Substanz wurde hierdurch zwar vergöttlicht, aber zugleich wurde Gott konsequent verweltlicht. Als außerweltlicher Himmelsmonarch wurde er entthront. Die uralte Gottesprojektion wurde zurückgenommen. Gott war nicht länger der transzendente Schöpfer, Richter und Erlöser der Welt, zu dem man beten 115

konnte, sondern nur noch die »immanente Ursache« (causa immanens) der Welt, wie es Spinoza formulierte, der der Welt selbst innenwohnende Weltengrund. Die idealistische Spaltung von Natur und Geist, von Sein und Denken, von Körper und Seele, die Spinozas Lehrer Rene Descartes noch einmal philosophisch bekräftigt hatte, war damit überwunden. Gott selbst hatte das Attribut körperlicher Ausdehnung erhalten, der Geist war als Attribut der Substanz seiner früheren Eigenständigkeit beraubt worden. Die atheistischen Konsequenzen dieser Philosophie, die Spinoza ausdrücklich noch nicht zog, wurden von den jüdischen und christlichen Denkern deutlich gespürt und bewußt herausgearbeitet. Spinoza wurde von der feudalklerikalen Reaktion als abscheuerregender »Atheistenfürst« (princeps atheorum) verteufelt, dessen Schriften »Ausgeburten der Hölle« seien. Gleichwohl wuchs sein weltanschaulicher Einfluß unaufhaltsam, wie die große Zahl von Gegenschriften bezeugt. Spinozas Philosophie war im geistigen Emanzipationskampf des aufsteigenden Bürgertums eine unschätzbare Hilfe. In Deutschland freilich, das infolge der verheerenden Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges und der feudalen Zersplitterung weit zurückgeblieben war, gelang der Durchbruch zu einer offenen und öffentlichen Anerkennung Spinozas als einer positiven Bezugsgröße erst spät.54 Es war Gotthold Ephraim Lessing, der - ein Jahr vor seinem Tode - diesen Umschwung einleitete. Sein zunächst vertrauliches Bekenntnis »Es gibt keine andere Philosophie als die Philosophie des Spinoza«, von Friedrich Heinrich Jacobi 1785 in der Schrift Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn veröffentlicht, war der Auftakt zur deutschen Spinoza-Debatte, die - über Jahrzehnte hinweg - leidenschaftlich und mit weitgesteckter Thematik geführt wurde. Herder, Goethe, Forster, Lichtenberg, Schleiermacher, Schelling, Hegel, Hölderlin, Friedrich Schlegel, Novalis, Heine: sie alle beteiligten sich an der Diskussion und eigneten sich spinozistische Theorie-Elemente in diesem oder jenem Sinn, in größerem oder kleinerem Umfang - an. Als ein Beispiel für eine besonders hohe Wertschätzung Spinozas sei hier der Mathematiker und Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742 bis 1799) aus dem südhessischen Dorf Oberramstadt zitiert: »Wenn die Welt noch eine unzählbare Zahl von Jahren steht, so wird die Universalreligion geläuterter Spinozismus sein. Sich selbst überlassene Vernunft führt auf nichts anderes hinaus, und es ist unmöglich, daß sie auf etwas andres hinausführe«.55 54 Von der ganz frühen Spinoza-Rezeption in Deutschland, die vor allem mit dem Namen Ehrenfried von Tschirnhaus (1651-1708) verbunden ist, wird hier abgesehen, weil sie zu ihrer Zeit weitgehend isoliert blieb. 55 Lichtenbergs Werke in einem Band (Bibliothek deutscher Klassiker). - Berlin (DDR)/Weimar M978,

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Als Georg Büchner sich mit Spinoza beschäftigte, war dieser längst kein »toter Hund«56 mehr wie noch zu Lessings Zeiten, sondern zu einem lebendigen Springquell weltanschaulicher Orientierung in Deutschland geworden. Es spricht für Büchners geistigen Spürsinn, daß er, der über keinerlei profunde philosophiehistorische Ausbildung verfügte, zielbewußt auf Spinoza zurückgriff, den Denker, den Hegel als »Hauptpunkt der modernen Philosophie« bezeichnete: »Wenn man anfängt zu philosophieren, so muß man zuerst Spinozist sein«.57 Büchners Beitrag zum Verständnis Spinozas besteht zunächst darin, daß er historisch getreu das mathematische Wesen seiner Philosophie herausarbeitete: »Der Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik.«58 Damit korrigierte er das Spinoza-Bild der idealistischen Philosophen von Lessing bis Hegel, aber auch Goethes, die Spinozas Liebe zur Geometrie kaum beachtet hatten, sein Denken dynamistisch-prozeßhaft uminterpretiert und so dem Renaissance-Pantheismus Giordano Brunos angeglichen hatten. Selbst Heinrich Heine, der voller Bewunderung von Spinoza sprach und seinen geistigen Siegeszug feierte, mißdeutete Spinozas »geometrische Methode« als bloße Äußerlichkeit, als von Descartes »abgeborgte Beweisführung«, die mit dem Wesen der Philosophie Spinozas nichts zu tun habe, ja dieser nur schädlich sei.59 Büchner dagegen begriff, daß die Begeisterung für die Gesetzmäßigkeiten der Mathematik zum inneren Charakter der Philosophie Spinozas gehörte. Büchner selbst war von dieser Begeisterung erfaßt: als exakter Naturwissenschaftler konnte er ohne sie nicht arbeiten. Ausführlich zitiert60 er die entscheidende Passage aus Spinozas Hauptwerk, der Ethik, in der begründet wird, weshalb die Philosophie die »Wahrheitsnorm« (veritatis norma), den Wahrheitsbegriff der Mathematik, benötige: Die Mathematik frage nicht nach dem »Zweck« einer Sache, sondern befasse sich nur mit dem »Wesen und den Eigenschaften der Körper«. Das soll heißen: Genausowenig wie man fragen kann, wozu die Winkelsumme im Dreieck gleich zwei Rechten ist, genausowenig kann man nach dem Wozu der Welt als Ganzer, ihrem Sinn und Zweck, fragen. Wie aus der Natur des Dreiecks von Ewigkeit her folgt und in alle Ewigkeit folgen wird, daß seine drei Winkel zwei Rechten gleich sind, so geschieht alles in der Natur mit eherner Notwendigkeit ohne Sinn und 56 Lessing sagte in dem bereits erwähnten Gespräch mit F. H. Jacobi: »Reden die Leute doch immer von Spinoza wie von einem toten Hunde ...«; zitiert nach Richard Daunicht (Hg.): Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. - München 1971, S. 505 (Orthographie modernisiert). 57 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, zitiert nach: Hegel: Werke in zwanzig Bänden (Suhrkamp Theorie Werkausgabe). - Frankfurt/M. 1971, Bd. 20, S. 163, 165. 58 Spinoza, HA II, S. 270 (Hervorhebung im Original; vgl. S. 276). 59 Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. - In: Heines Werke (s. Anm. 31), Bd. 5, S. 64; vgl. S. 126. l HAI i II, S. 263. Ich ziehe zum Vergleich eine heutige Ausgabe der Ethik heran: Benedictus de Spinoza: Die Ethik, lateinisch und deutsch, revidierte Übersetzung von Jakob Stern (Reclam Universal-Bibliothek 851). - Stuttgart 1977.

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ohne Zweck. Diese Schlüsselrolle der »geometrischen Ordnung«61 (ordo geometricus) der Welt für die Teleologie-Kritik Spinozas hat Büchner klar begriffen. In der Teleologie-Kritik besteht denn auch die grundlegende Übereinstimmung zwischen Büchner und Spinoza. Die von Büchner in ihrer ganzen Länge zitierte62 Argumentation Spinozas lautet, kurz zusammengefaßt, folgendermaßen. Es gibt ein Hauptvorurteil, von dem alle übrigen Vorurteile abhängen: die Annahme einer allgemeinen Zweckhaftigkeit in der Natur, vor allem die Annahme, Gott habe idles um des Menschen willen geschaffen, der Mensch sei also Hauptzweck der Natur. Damit aber werde die Natur auf den Kopf gestellt, die in Wahrheit kausale Verknüpfung aller Dinge bleibe unbegriffen. Als unvermeidbare Folge dieser teleologischen Betrachtungsweise ergebe sich, daß Gott und die Natur als »wahnwitzig« erscheinen müßten: »Unter so vielen Vorteilen, welche die Natur gewährt, mußten sich auch nicht wenige Nachteile finden, wie Stürme, Erdbeben, Krankheiten e.c.t. und so schließen sie [die Menschen] nun, es rühre daher, daß die Götter wegen Beleidigungen oder wegen Nachlässigkeit in ihrer Verehrung erzürnt seien; und obgleich die Erfahrung täglich nachwies, daß Vorteil und Nachteil den Guten und Bösen auf gleiche Weise zu Teil wurde, so ließen sie doch deswegen das alte Vorurteil nicht fahren [.. .]«63. Dieses alte Vorurteil endgültig zu überwinden und an die Stelle des anthropomorphistischen Gedankengebäudes ein philosophisches System zu setzen, das sich am mathematischen Erkenntnisideal orientiert, ist ein Hauptziel Spinozas. Bis dahin stimmt auch Georg Büchner mit ihm prinzipiell überein. Seine Kritik beginnt dort, wo Spinoza - im Widerspruch zu seiner eigenen antiteleologischen Argumentation - daran festhält, die Welt müsse als »vollkommen« bezeichnet werden. Büchner teilt zwar mit Spinoza die allgemein materialistische Auffassung, daß die Welt als Ganzes (die Substanz in Spinozas Terminologie) ewig und unendlich ist. Aber er kritisiert, daß Spinoza »das Unendliche und das Vollkommene in einer Bedeutung nimmt«64. Diese falsche Identifikation des Ewigen und Unendlichen mit dem Vollkommenen führt Büchner richtig auf Spinozas pantheistisches Festhalten am Gottesbegriff zurück: die Verweltlichung Gottes bedeutet notwendig die Vergöttlichung der Welt. Das göttliche Prädikat der Vollkommenheit wird unvermeidlich auf die Welt als Ganzes übertragen. Daß die Welt ewig und unendlich ist, sagt Büchner, ist das, »was jeder Atheist selbst, wenn er einigermaßen konsequent verfahren will, anerkennen muß. Erst in dem 61 Der vollständige Titel der Ethik lautet: »Ethik, in ihrer geometrischen Ordnung dargestellt« (Ethica ordint geometrico demonstrate), 62 HAU, S. 261 ff. 63 Ebd., S. 263. 64 HA II, S. 239.

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Scholium zum dritten Beweis weist auch Spinoza auf Gott hin. Hier hört der Philosoph auf und er vergöttert willkürlich das, was in sich und worin Alles ist«65 Mit dieser Kritik an Spinoza, die nicht hinter ihn zurückfallt, sondern durch seine Schule hindurchgegangen ist, hat Büchner - in noch suchenden, tastenden Formulierungen - inhaltlich die ausgereifte Spinoza-Kritik Ludwig Feuerbachs vorweggenommen, die dieser in den vierziger Jahren veröffentlichte. In den Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie (1842) hieß es über Spinoza: »Der Pantheismus ist die Negation der Theologie auf dem Standpunkte der Theologie.«™ Die Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843) präzisierten (§ 15): »Der Pantheismus ist der theologische Atheismus, der theologische Materialismus, die Negation der Theologie, aber selbst auf dem Standpunkte der Theologie; denn er macht die Materie, die Negation Gottes zu einem Prädikat oder Attribut des göttlichen Wesens. Wer aber die Materie zu einem Attribut Gottes macht, der erklärt die Materie für ein göttliches Wesen.«*1 In den Kritischen Schlußbemerkungen von 1847 schließlich, die er seiner Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza** anfügte, schrieb Feuerbach: »Nicht >Deus sive NaturaAut Deus aut Natura< ist die Parole der Wahrheit Wo Gott mit der Natur oder umgekehrt die Natur mit Gott identifiziert oder konfundiert wird, da ist weder Gott noch Natur, sondern ein mystisches, amphibolisches Zwitterding. Das ist der Grundmangel Spinozas.«69 Diese Janusköpfigkeit Spinozas hat im Ansatz bereits Büchner gesehen und daraus seine Schlüsse gezogen. Er entmythologisierte die göttliche Substanz zum Fels des Atheismus. Aus der verstandesmäßigen Gottesliebe (amor dei intellectualis) bei Spinoza, die die gesetzmäßig geordnete Welt im Glänze der Vollkommenheit und im Lichte der Ewigkeit (sub specie aeternitatis) betrachtete, wurde bei Büchner eine historischsozialkritische Erkenntnis, die den »Riß in der Schöpfung von oben bis unten« nicht metaphysisch verdeckte: »Der Gedanke, daß für die meisten Menschen auch die armseligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbarkeiten sind, machte mich sehr bitter.«70 Und doch hat sich auch Georg Büchner nicht völlig vom Zauber des Spinozismus emanzipieren können. Paradoxerweise enthält gerade sei65 HA II, S. 240. 66 Zitiert nach: Alfred Schmidt (Hg.): Ludwig Feuerbach: Anthropologischer Materialismus. Ausgewählte Schriften. - Frankfurt/M. u. Wien 1967, S. 83 (Hervorhebung im Original). 67 Ebd., S. 115 (Hervorhebungen im Original). 68 Diese Schrift Feuerbachs war erstmals 1833 erschienen. Ihr fehlte damals noch diese kritische Durchdringung des »Grundmangels Spinozas«. 69 Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedict Spinoza (Röderberg Taschenbuch 46). - Frankfurt/M. 1976, S. 370 (Hervorhebung im Original). 70 Brief an die Familie (1.1. 1836), in: HA II, S. 452.

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ne naturwissenschaftliche Probevorlesung Über Schädelnerven einige pantheisierende Restbestände, die freilich weitgehend ins Ästhetische transponiert worden sind. So spricht Büchner von der »Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.« Der Widerspruch dieses Glaubens an eine »Harmonie«71 in der Natur zu seiner sonstigen Weltanschauung blieb Büchner verborgen.

4. Epikur und Georg Büchner - Anfangs- und Schlußpunkt in der Herausbildung einer religionskritischen Argumentationsfigur Mit der These Thomas Paynes im >PhilosophengesprächPietro Aretino< einer kraftstrotzenden und sinnestrunkenen Persönlichkeit der italienischen Renaissance zugewandt. War doch die Renaissance insgesamt diejenige Epoche, in der - im Rahmen frühbürgerlicher AntikeRezeption - das christliche Askese-Ideal zurückgedrängt und die heitere Philosophie Epikurs sowie die Dichtkunst des Lukrez und Horaz wiederentdeckt, ja rehabilitiert wurden.83 Wie souverän Büchner vorgegangen sein muß, läßt sich aus einer Bemerkung erahnen, die in einem Brief Gutzkows vom 10. Juni 1836 enthalten ist. Gutzkow schreibt: »Von Ihren >Ferkeldramen< erwarte ich mehr als Ferkelhaftes.«84 Die Anführungszeichen lassen erkennen, daß Büchner selbst diesen Begriff gewählt und damit eine Souveränität an den Tag gelegt hat, wie sie sonst nur von dem römischen Dichter Horaz bekannt ist, der ihm seit der Schulzeit vertraut war.85 Horaz hat sich nicht geniert, sich selbst - ironisch-schalkhaft - als »Schwein aus der Herde Epikurs« (Epicuri de grege porcus)86 zu bewitzeln, womit er die muckerhafte Polemik gegen den Epikureismus auffing und das herabsetzend Gemeinte positiv umwertete.87 Die großen Gemeinsamkeiten zwischen Büchner und Epikur dürfen jedoch nicht die historische und ideologische Differenz zwischen beiden 81 Dantons Tod, in: HA I, S. 11. 82 Im Venushymnus des Lukrez kommt diese friedensstiftende Rolle der Göttin deutlich zum Ausdruck: »denn du allein vermagst die Menschen mit ruhigem Frieden zu erfreuen«, redet er die »Mutter der Römer« an. Lukrez: De rerum natura. Welt aus Atomen, lateinisch und deutsch (Reclam Universal-Bibliothek 4257-59/59a-e). - Stuttgart 1973, S. 11. 83 Reinhold Grimm hat in seinem großen Aufsatz Coeur und Carreau. Über die Liebe bei Georg Büchner die lange von der Forschung verdrängten - erotisch-sexuellen Motive bei Büchner ausführlich nachgezeichnet und in ihrer konstitutiven Bedeutung hervorgehoben: »Büchner war Erotiker und Revolutionär, war erotischer Revolutionär, revolutionärer Erotiker.« (GB ////, S. 299-326; Zitat. S. 318). 84 HA II, S. 491. 85 Vgl. dazu: T. M. Mayer: Büchner-Chronik, S. 411 f. 86 Epistulae l, 4, 16; zitiert nach Horaz: Carmina / Gedichte (dtv zweisprachig 9133). - München 1977, S. 134. 87 Ein ähnlicher Vorgang ist heute die Selbstbezeichnung männlicher Homosexueller als »Schwule«. Aus dieser terminologischen Umprägung spricht das wachsende Selbstbewußtsein einer lange diskriminierten gesellschaftlichen Minderheit.

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übersehen lassen. Büchner war kein Epikureer. Weder bejahte er die authentische Philosophie des historischen Epikur noch war er gar ein Anhänger des verflachten Salonepikureismus der römischen Kaiserzeit. Am allerwenigsten ist er mit jenem Vulgärepikureismus in Zusammenhang zu bringen, der sich im England des 17. Jahrhunderts als aristokratische Reaktion auf den Puritanismus der Cromwell-Ära herausbildete.88 Die Frivolitäten, die Büchner seinem Danton in den Mund legt - »Es gibt nur Epikureer und zwar grobe und feine, Christus war der feinste [.. .]«89 - sind der Lebensphilosophie »dieser nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse«90 entsprungen, die der Dichter schon im Hessischen Landboten leidenschaftlich bekämpfte. Büchner griff punktuell auf Epikur zurück und fügte einige seiner Überlegungen in seine eigene Weltanschauung ein: die Weltanschauung eines frühkommunistischen Revolutionärs im spätfeudalen Deutschland. Die spezifische Differenz zwischen Büchner und Epikur wird nicht zuletzt in der Verwendung der religionskritischen Argumentationsfigur zur Widerlegung der Theodizee deutlich. Die Theodizee war ein religionsphilosophisches Kernproblem der europäischen Aufklärung. Pierre Bayle hatte 1697 die Diskussion eröffnet, als er in seinem berühmten Historischen und kritischen Wörterbuch unter dem Stichwort »Epikur« dessen Argumentation vorgetragen und daraus die Unvereinbarkeit von Wissen und Glauben gefolgert hatte. Auf Bayle antwortete Leibniz, der in diesem Diskussionszusammenhang den Begriff »Theodizee« überhaupt erst prägte und darunter die Rechtfertigung oder Verteidigung Gottes angesichts des Übels in der Welt verstand. In seinen Aufsätzen zur Theodizee über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (1710) versuchte er darzulegen, daß im Universum insgesamt eine »prästabilierte Harmonie« bestehe, in die sich auch die Übel als geringfügige Störungen einfügten. Auch die Vernunft könne nicht ernsthaft die Weisheit und Güte des Schöpfers bestreiten. Da erschütterte das Erdbeben von Lissabon (1755) den metaphysischoptimistischen Glauben an eine zweckhaft eingerichtete Welt. Voltaire gab in seinem Roman Candide oder der Optimismus Leibniz' These, dies sei die beste aller möglichen Welten, dem Spott preis. David Hume stellte in seinen Dialogen über natürliche Religion nüchtern fest: »Epikurs alte Fragen sind noch unbeantwortet.«91 Immanuel Kant schließlich zog 1791 das Fazit in einem kleinen Aufsatz mit dem programmatischen Titel: 88 Zum Salon- und VuJgärepikureismus in den verschiedenen Epochen vgl. Horst Steckel: Epikuros. - In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, Supplementband XI. - Stuttgart 1968, S. 579-652, bes. 645 f., 650. 89 HA I, S. 27. 90 Robespierre in den Mund gelegt, ebd., S. 26. 91 David Hume: Dialoge über natürliche Religion (Philosophische Bibliothek, Bd. 36). - Hamburg 51980, S. 86.

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Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee. Darin heißt es: »Der Ausgang dieses Rechtshandels vor dem Gerichtshofe der Philosophie ist nun: daß alle bisherige Theodizee das nicht leiste was sie verspricht, nämlich die moralische Weisheit in der Weltregierung gegen die Zweifel, die dagegen aus dem, was die Erfahrung an dieser Welt zu erkennen gibt, gemacht werden, zu rechtfertigen.«92 Mit Kants Aufsatz ist in der Tat die philosophische Diskussion um die Theodizee zu einem negativen Abschluß gebracht worden. Von dem darin erreichten Reflexionsstand aus, der insgeheim von der Argumentation Epikurs lebt, gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: entweder den irrationalen Sprung in den Glauben oder die vernunftgemäße Schlußfolgerung des Atheismus. Kant selbst hat noch für den Sprung in den Glauben plädiert, Büchner hat bereits die Konsequenz des Atheismus gezogen. Epikur und Georg Büchner - Anfang und Schlußpunkt in der Herausbildung einer religionskritischen Argumentationsfigur. Epikur hat zwar die klassische Analyse des Theodizee-Problems geliefert, aber er selbst war - paradox genug - kein Atheist, sondern Polytheist. Er verehrte die Götter in einer angstfreien, philosophisch durchdrungenen Frömmigkeit, die Jahrhunderte später in Spinozas »geistiger Gottesliebe« (amor dei intellectualis) ihre monotheistische Entsprechung fand. Die epikureischen Götter, deren menschenähnliche Leiber aus allerfeinsten Atomen bestehen, leben als selige Wesen, in sogenannten Zwischenwelten (lateinisch: Intermundien, griechisch: Metakosmien), gleichsam in kosmischen Nischen, unberührt und unbehelligt von Wohl und Wehe um sie herum. Sie haben die Welt nicht geschaffen, sie greifen in den Weltlauf nicht ein. Weder helfen sie noch drohen sie den Menschen. Dieser Verzicht auf jeglichen Vorsehungs- und Jenseitsglauben trug Epikur bereits in der vorchristlichen Antike den - durchaus verständlichen Vorwurf ein, er lasse die Götter nur in Worten bestehen, hebe sie aber der Substanz nach auf.93 Jedenfalls führte Epikurs Kampf gegen die Deisidämonie, die Angst vor Göttern, Geistern und Dämonen (sowie die daraus abgeleitete Todesfurcht) dahin, daß er zwar nicht die Existenz von Göttern überhaupt leugnete, wohl aber deren Anteilnahme am irdischen Geschehen bestritt. Ausgeburten einer sadomasochistischen Phantasie, wie sie Büchner den Dantonisten angesichts ihrer bevorstehenden Hinrichtung in den Mund legt - daß sich die Götter »ewig am Farbenspiel des Todeskampfes« von Mensch und Tier ergötzten94 - sind ausgesprochen antiepikureisch. 92 Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee. - In: Immanuel el Kant: Werke in zehn Bänden (hg. v. Wilhelm Weischedel). - Wiesbaden 21968, Bd. 9. S. 114. 93 Vgl. hierzu: Wolfgang Schmid: Epikur. - In: Realenzyklopädießir Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. - Stuttgart 1962, Bd. 5, S. 681-819, bes. 764 f. 94 HA I, S. 72. 124

Die müßigen Götter (dei otiosi) Epikurs waren -wie schon oft bemerkt - nichts anderes als mythologische Verkörperungen seines eigenen Lebensideales. In den Stürmen einer politisch unruhigen Zeit, der Epoche des Hellenismus, in der die Polis mit ihrer stabilen Ordnung längst untergegangen war, empfahl Epikur den Rückzug aus der Politik und die Hinwendung zum individuellen Lebensgenuß im kleinen Kreis gleichgesinnter Freunde. »Lebe im Verborgenen« war sein Wahlspruch. Epikur bemühte sich, mit Hilfe der Atomistik Demokrits, »das Prinzip des isolierten Individuums als das Weltprinzip nachzuweisen«95. In diesem individualistisch-kontemplativen Ansatz gründet seine entscheidende weltanschauliche und politische Differenz zu Büchner. Büchner hatte die weltverändernde Kraft kämpfender Volksmassen in den verschiedenen französischen Revolutionen erfahren. Er schloß daraus, »daß nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Torenwerk ist.«96 Diesem revolutionären Standpunkt in der praktischen Politik entspricht - auf der philosophischen Ebene - die Radikalisierung der Theodizee-Kritik zu einem Argument für den Atheismus.

95 Franz Mehring: Philosophische Aufsätze (Gesammelte Schriften, Bd. 13). - Berlin (DDR) 1961, S. 8. 96 Brief an die Familie (Juni 1833), HA II, S. 418 (Hervorhebung im Original).

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Neuere Erkenntnisse zu Georg Büchners Naturauffassung und Naturforschung Von Otto Döhner (Hannover)

Der Versuch, Georg Büchners Stellung innerhalb der Naturforschung und Naturphilosophie seiner Zeit zu bestimmen, stößt aus mehreren Gründen auf Schwierigkeiten.1 Einmal ist die Textbasis, auf die sich eine solche Analyse stützen muß, schmal: die Abhandlung Memoire sur le Systeme nerveux du barbeau, entstanden 1856 in Straßburg, mit der Büchner die Doktorwürde der Zürcher Philosophischen Fakultät erlangte, und die ebenfalls 1836 entstandene Probevorlesung Über Schädelnerven, mit der er sich in Zürich einführte und auf Grund deren er zum Privatdozenten für Naturgeschichte an der Philosophischen Fakultät ernannt wurde. Andererseits enthalten auch die dichterischen Werke und die Briefe wichtige Hinweise auf Büchners naturwissenschaftliche Interessen und auf seine naturphilosophischen Anschauungen, die aber widersprüchliche Interpretationen und Wissenschafts- und philosophiehistorische Zuordnungen ermöglicht haben. Insbesondere der Begriff der »Natur« selbst erscheint bei Büchner so vieldeutig, schillernd und widersprüchlich, daß offensichtlich sehr unterschiedliche und sich gegenseitig ausschließende Deutungen möglich sind. Liegt diese Unsicherheit nun an den Interpreten, ist diese Vieldeutigkeit schon bei Büchner angelegt, oder spiegelt sie einen zeittypischen Umbruch in den philosophischen und weltanschaulichen Grundlagen der Wissenschaften, insbesondere der beschreibenden Wissenschaften vom Leben, einen Umbruch, der sich notwendig in Büchners Anschauungen wiederfinden muß? Mir scheint vor allem das letztere der Fall zu sein. Das heißt: in Büchners Naturauffassung und Naturforschung, aber auch in seinen Bezugnahmen auf die »Natur« des Menschen in den dichterischen Werken wird der Wandel des Naturverständnisses in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkennbar, der in Büchners Schriften sich nur als Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit manifestieren kann. Der Versuchung, offensichtliche und nicht vermittelbare Widersprüche in Büchners Schriften zu vereinheitlichen, sind Büchner-Forscher l Der Aufsatz knüpft an die germanistische Dissertation des Autors an: Georg Büchners Naturaitffassung. Phil. Diss. Marburg/Lahn 1967.

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immer wieder erlegen: Hans Mayer erhob die Forderung, die »innere Einheit im Leben und Werk Georg Büchners«2 müsse erschlossen werden. L. Völker3 hat diese Forderung zurückgewiesen, weil sie »von außen« an die Dichtungen herangetragen werde. Friedrich Gaede4 hat den »archimedischen Punkt« im »type primitif« der Naturphilosophie Büchners zu erkennen geglaubt. Völker hat demgegenüber die Vielfalt der Natur-Begriffe Büchners aufgezeigt. Und die Untersuchung der Naturauffassung in den wissenschaftlichen Schriften verstärkt weiter den Eindruck der Mehrdeutigkeit Büchners Ausführungen gewähren Einblick in die Ursachen und Bedingungen des Wandels naturphilosophischer (und weltanschaulicher) Paradigmata. Büchners Naturauffassung spiegelt also die Krise des naturwissenschaftlichen Denkens seiner Zeit. Es erscheint deshalb wenig sinnvoll, Büchner sozusagen vorzuwerfen, er verkenne die Anschauungen von Cuvier und Johannes Müller, wie dies Proß5 tut, oder er zeige eine »Unkenntnis des philosophischen Idealismus«, wie Gaede6 feststellt Die Frage sollte nicht lauten: Hat Büchner seine philosophischen und naturwissenschaftlichen Vorläufer und Zeitgenossen »richtig« verstanden? Sondern vielmehr: Aufweiche Autoren bezieht sich Büchner (z. T. ohne sie namentlich zu nennen), und wie hat er sich deren Anschauungen angeeignet, um sein eigenes Konzept auszubilden? Im folgenden soll versucht werden zu zeigen, daß Büchners Rezeption der zeitgenössischen Naturphilosophie und Naturforschung durchaus auf der Höhe der Zeit war und sich in seinen Anschauungen und Stellungnahmen von 1856 beispielhaft die einschlägigen Konzepte und Streitpunkte bündeln, auch und gerade da, wo er in einer gewissen polemischen Zuspitzung in der Probevorlesung selbst Stellung bezieht und seine eigene Position explizit zu erkennen gibt In der Probevorlesung versucht Büchner, die naturphilosophischen Schulen seiner Zeit »zwei sich gegenüberstehenden Grundansichten« zuzuordnen, denen eine eigentümliche nationale Verteilung zukomme. Die erste Ansicht, die er die »teleologische« nennt, sieht er vor allem in England und Frankreich vertreten; die zweite, die »philosophische« Anschauung, überwiege in Deutschland. Büchner läßt seine grundsätzliche Hinneigung zur zweiten Auffassung zwar von vornherein durchblicken, übernimmt und verteidigt aber keineswegs diesen Standpunkt kritiklos, 2 Hans Mayer, S. 338. Auch Müller-Seidel postuliert »die Einheit von Naturwissenschaft und Politik«. Walter Müller-Seidel: Natur und Naturwissenschaft im Werk Georg Büchners. - In: Festschrift für Klaus Ziegler. Herausgegeben von Eckehard Catholy und Winfried Hellmann. - Tübingen 1968, S. 205-252. 3 L. Völker: Woyzeck und die »Natur«. - In: Revue des Langues vivantes 32 (1966), p. 611-632 (Anm. 1). 4 Friedrich Gaede: Büchners Widerspruch - Zur Funktion des »type primitif«. - In: Jahrbuch Jür Internationale Germanistik 11 (1979), H. 2, S. 42-52 (S. 45). 5 Wolfgang Proß: Naturgeschichüiches Gesetz und gesellschaftliche Anomie: Georg Büchner, Johann Lucas Schönlein und Auguste Comte. - In: Literatur in der sozialen Bewegung. Aufsätze und Forschungsberichte zum 19. Jahrhundert Hrsg. von Alberto Martine. - Tübingen: Niemeyer 1977, S. 228-259 (S. 236f.). 6 Gaede, a.a.O., S. 50.

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sondern differenziert innerhalb der »philosophischen« Schule weiter. Sein Ziel ist es, überflüssigen oder gar schädlichen weltanschaulichen Ballast aus der Naturphilosophie auszuscheiden, um so größere Klarheit über die wahren philosophischen Grundpositionen der biologischen Wissenschaften zu gewinnen. Die Hauptschwierigkeit des Verständnisses von Büchners Kritik liegt nun darin, daß die Philosophen und Naturforscher, auf die diese Schulen und Richtungen zurückgehen bzw. von denen sie vertreten werden, nicht namentlich genannt sind. Auch darf Büchners philosophische Terminologie nicht naiv als mit dem heutigen Sprachgebrauch übereinstimmend angesehen werden. Dies zeigt sich schon darin, daß die Bezeichnungen »philosophisch« und »Ideologisch« zunächst überhaupt kein sinnvolles Paar von gegensätzlichen Begriffen zu sein scheinen. Es gilt also, anhand einer wissenschaftsgeschichtlichen Analyse des Kontextes das von Büchner wirklich Gemeinte und Unterschiedene von dem Schleier aus konzilianten Formulierungen, höflichen Rücksichtnahmen und veraltetem philosophischen Sprachgebrauch zu befreien, um das, was Büchners einschlägig vorgebildete Zuhörer, vor allem Lorenz Oken, gewiß ohne weitere Erklärung verstanden und mit bestimmten Namen zu verbinden wußten, dem heutigen Verständnis wieder zugänglich zu machen. Es läßt sich nämlich wahrscheinlich machen7, daß Büchner mit der »teleologischen« Richtung in Fankreich einerseits die Biologen Lamarck und Geoffroy Saint-Hilaire, andererseits Cuvier meinte. Das Problem der Zweckmäßigkeit und Angepaßtheit der Organismen in Beziehung zu ihrer Umwelt konnte nämlich vor Darwins Selektionslehre im Grunde nur mit teleologischen Hypothesen gelöst werden, auch wenn die genannten Biologen selbst einen anderen Erklärungsanspruch erhoben. Der »philosophische Standpunkt«, den Büchner als für Deutschland kennzeichnend ansieht, wird von ihm ebenfalls differenziert beurteilt, wenn er sich auch mit Vorbehalten deutlich zu ihm bekennt. Die Zweckmäßigkeit der Organismen wird von ihm ganz unter dem Aspekt der Harmonie in der Natur gesehen und damit der ästhetischen Sphäre zugewiesen. Denn wenn Büchner sagt: »Alles was für jene Zweck ist, wird für diese Wirkung«, so ist damit das Problem der Zweckmäßigkeit in der Natur nicht etwa gelöst oder als Scheinproblem entlarvt. Denn »Zweck« und »Wirkung« sind keineswegs, wie Büchners Worte suggerieren, ein Paar gegensätzlicher Begriffe. Die »Wirkung«, das heißt die organische Natur, wie sie sich unseren Sinnen und der Erfahrung darbietet, wird nun nicht mehr unter dem Gesichtspunkt des ihr zugrundeliegenden Mechanismus (Kant: »Erzeugungsprinzip«) gesehen, denn auf dieser Ebene war 7 Döhner, a.a.O., S. 103-118. 128

die Naturforschung auf das Problem der Zweckmäßigkeit gestoßen. Durch die Frage nach der »Wirkung« wird nun die Zweckmäßigkeit auf die transzendente Ebene des absolut Schönen und harmonisch Geordneten (Kant: »Beurteilungsprinzip«) gehoben. Entsprechend muß die konkrete Fragestellung und Verfahrensweise der Naturforschung selber eine andere werden. Schönheit, Harmonie und Ordnung oder, dynamisch ausgedrückt, Vervollkommnung und Aufstieg sind nicht kausalanalytisch zu untersuchen, sondern im Reich transzendenter Ideen und Werte ist ihr sinnvoller Zusammenhang aufzuzeigen. Die Naturteleologie wird auf die ästhetische Ebene transzendiert. In der Metaphysik des deutschen Idealismus, der diese philosophische Ausgangsposition Büchners entspricht, war deshalb die Teleologie immanent, als Ausdruck einer sinn- und wertgebenden Formkraft (»Entelechie«), oder sie war transzendent, wenn eine einzige und oberste außerweltliche Zweckursache allen Geschehens vorausgesetzt wurde (Gott, das Absolute, der objektive Geist). Es geht also, wie Büchner sagt, um die Auffindung des »Grundgesetzes für die gesamte Organisation«: »... so wird für die philosophische Methode das ganze körperliche Dasein des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung aufgebracht, sondern es wird die Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt Alles, Form und Stoff, ist für sie an dies Gesetz gebunden. Alle Funktionen sind Wirkungen desselben; sie werden durch keine äußeren Zwecke bestimmt, und ihr sogenanntes zweckmäßiges Aufeinander- und Zusammenwirken ist nichts weiter als die nothwendige Harmonie in den Aeußerungen eines und desselben Gesetzes, dessen Wirkungen sich natürlich nicht gegenseitig zerstören.«

Büchner knüpft hier an die idealistische Morphologie an, die Goethe begründet hatte. Seine Nachfolger waren die von Büchner zitierten Oken, Carus und der frühe Johannes Müller. Auch Karl Ernst von Baer, einer der bedeutendsten Vertreter der frühen vergleichenden Entwicklungsgeschichte, muß hier erwähnt werden. Er stellte sich vor, daß »die Palme derjenige Glückliche erringen wird, dem es vorbehalten ist, die bildenden Kräfte des thierischen Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder Lebensrichtungen des Weltganzen zurückzuführen«.8 Auch zu allgemeinen Methodenfragen hat sich von Baer geäußert: »Zwei Wege sind es, auf denen die Naturwissenschaft gefordert werden kann, Beobachtung und Reflexion. Die Forscher ergreifen meistens für den einen von beyden Parthei. Einige verlangen nach Thatsachen, andere nach Resultaten und allgemeinen Gesetzen, jene nach Kenntnis, diese nach Erkenntnis, jene möchten für besonnen, diese für tiefblickend gelten [.. .]«.9 8 Karl Ernst von Baer: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion. 1828/1837. Zitiert nach: Hans Querner: Die Methodenfrage in der Biologie des 19. Jahrhunderts. - In: Nachrichtenblatt der Deutschen Gesellschaß für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik e, V. 30 (1980), S. 111-126(8. 120). 9 C. v. Baer: Zwei Worte über den jetzigen Zustand der Naturgeschichte. Vortrage [...].- Königsberg 1821, S. 31.

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Büchner verschärft 15 Jahre später diese Polarisierung, wenn er sagt: »Die Frage nach einem solchen Gesetze führte von selbst zu den Quellen der Erkenntniß, aus denen der Enthusiasmus des absoluten Wissens sich von je berauscht hat, der Anschauung des Mystikers und dem Dogmatismus der Vernunftphilosophen.«

Die »Anschauung des Mystikers« ist auf Schellings Identitätsphilosophie und auf die romantische Naturphilosophie in seiner Nachfolge zu beziehen.10 Auch mit dem »Dogmatismus der Vernunftphilosophen« und der »Philosophie a priori«, die »noch in einer trostlosen Wüste« sitze, meint Büchner Schellings und vor allem Hegels Naturphilosophie. Büchners in der Probevorlesung konziliant formulierte Skepsis gegenüber den deutschen naturphilosophischen Traditionen, denen auch Oken, der unter den Zuhörern saß, verpflichtet war, schloß nicht aus, daß er sich in konkreten vergleichend-anatomischen Fragestellungen zur Tradition der idealistischen Morphologie bekannte. Auch die Tatsache, daß er im französischen Straßburg bei Duvernoy, einem Schüler Cuviers, studiert und entscheidende Anregungen empfangen hatte, ermöglichte es ihm, die verschiedenen nationalen Schulen distanziert zu sehen und einen eigenen, zurückhaltend artikulierten Standpunkt zu gewinnen, der wohl den Anschauungen Johannes Müllers am nächsten stand und eine Weiterentwicklung der naturphilosophischen Traditionen ankündigte. Die Linie des französischen Aufklärungsmaterialismus und die deutsche idealistische Morphologie und Physiologie konvergieren beispielhaft in der Naturauffassung Georg Büchners, ohne daß ihr Spannungsverhältnis etwa schon gelöst wäre. Der Auffassung von Proß, Büchner unterscheide »unangenehm kategorisch« zwischen den nationalen Schulen und gebe »damit einen Vorgeschmack des wissenschaftlichen Chauvinismus«11 des späteren 19. Jahrhunderts, kann ich mich deshalb nicht anschließen. Die wissenschaftshistorische Analyse der programmatischen Äußerungen Büchners am Anfang der Probevorlesung, die sich freilich nicht einfach erschließen, zeigt, daß er die konkurrierenden naturphilosophischen Schulen und Traditionen durchaus kannte und kritisch abwog. Proß' Hinweis auf die Dissertation Johann Lucas Schönleins Von der Gehirnmetamorphose aus dem Jahre 1816, von deren Inhalt er nichts mitteilt, und auf dessen Allgemeine und specielle Pathologie und Therapie12 scheint eher die Frucht eines Zufallsfundes zu sein. Selbstverständlich stehen auch Schönleins Arbeiten in den erwähnten Traditionen, zumal er in frühen Jahren unter dem Einfluß der romantischen Naturforschung stand. Berühmt geworden ist er jedoch später als 10 Döhner, a.a.O., S. 152f. 11 Proß: Naturgeschichtliches Gesetz ..., a.a.O., S. 236. 12 Die 3. Auflage von 1837 kann Büchner nicht mehr gekannt haben. 2. Auflage: Würzburg 1832.

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klinischer Lehrer, der zudem sehr wenige eigene Publikationen hinterließ. Büchner jedoch war, wiederholten gegenteiligen Behauptungen13 zum Trotz, nicht »Mediziner« oder gar »Arzt«; er war im Gegenteil an Pathologie und Therapie, also an den eigentlichen medizinischen Fächern, nachweislich nicht interessiert.14 Die Grundlage von Büchners vergleichend anatomischen Forschungen war die sog. Wirbeltheorie des Schädels in ihrer Konzeption durch Lorenz Oken 1807 und ihrer späteren Ausarbeitung durch Oken, Carus, Bojanus u. a.15 Diese Theorie entsprach so sehr dem morphologischen Denken der Zeit, hatte wohl auch Vorläufer, daß sie sich schnell durchsetzte. Goethe hatte diese Auffassung schon 1790 gewonnen, aber erst 1823 publiziert und 1824 den Anspruch auf Priorität öffentlich angemeldet.16 Gerade 1836 war der Streit öffentlich neu angefacht worden. Am 3. April dieses Jahres hatte ein Ungenannter in der Augsburger Allgemeinen Zeitung Goethes Darstellung von 1824 referiert, sich aber eindeutig von dem Plagiats-Vorwurf gegen Oken distanziert Daraufhin replizierte Oken (überflüssigerweise) in außerordentlich scharfer Form in der Ausgabe vom 20. Juni. Im selben Jahr ließ Oken D. G. Rieser auf der Versammlung der Naturforscher und Ärzte in Jena am 23. September für seine eigene Priorität öffentlich eintreten. Büchners Probevorlesung war am 5. November 1836. Büchner stellt sich in diesem akademischen Bitual demonstrativ und nicht ohne Emphase ganz in die Tradition der Naturforschung des anwesenden Oken. Er will zur Klärung eines Problems beitragen, das Oken formuliert hatte: »Wenn Oken gesagt hatte: der Schädel ist eine Wirbelsäule, so mußte man auch sagen das Hirn ist ein metamorphosirtes Rückenmark und die Hirnnerven sind Spinalnerven. Wie aber dieß im Einzelnen nachzuweisen sey, bleibt bis jezt ein schweres Räthsel. Wie können die Massen des Gehirns auf die einfache Form des Rückenmarks zurückgeführt werden? Wie kann man die in ihrem Ursprung und Verlauf so verwickelten Nerven des Gehirns mit den so gleichmäßig mit ihrer doppelten Wurzelreihe längs des Rückenmarks entspringenden und im Ganzen so einfach und regelmäßig verlaufenden Spinalnerven vergleichen, und wie endlich ihr Verhältniß zu den Schädelwirbeln darthun? Mancherlei Antworten wurden auf (ließe Fragen versucht.«

Proß zeigt in einer Arbeit, die der Analyse des Natur-Begriffs bei Büchner gewidmet ist17, daß zwischen der gesellschaftlichen und kreatürlichen »Natur des Menschen«, wie sie in den Dichtungen Büchners erkennbar wird, und der »Natur« der wissenschaftlichen Schriften ein 13 Z. B. Walter Jens: Poesie und Medizin. Gedenkrede für Georg Büchner. - In: Neue Rundschau 75 (1964), S. 266-277. 14 Rüdiger Porep: War der Dichter Georg Büchner »Arzt«? - In: Medizinische Monatsschrift 23 (1969), S. 72-76. 15 Donner, a.a.O., S. 199. 16 Vgl. dazu und zum Folgenden: Hermann Bräuning-Oktavio: Goethes naturwissenschaftliche Schriften und die Freiheit von Forschung und Lehre. - In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1982, S. 110-215, hier S. 147-168. 17 Wolfgang Proß: Die Kategorie der »Natur« im Werk Georg Büchners. - In: Aurora 40 (1980), S. 172-188.

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Bruch besteht. In den Dichtungen manifestiere sich »die Anschauung vom Detemunismus des Naturablaufs, die den Menschen zum bewußten, aber fatalistisch zusehenden Zeugen dieses Ablaufs macht«. Hier scheint Büchner unter anderem unter dem Einfluß des französischen Aufklärungsmaterialismus zu stehen, der sich in den Lehren der »Ideologues« Condillac, Cabanis, Destutt de Tracy und Magendie, dessen unmittelbarer Einfluß bei Büchner nachweisbar ist18, fortsetzte. In seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten ging Büchner hingegen von der Naturauffassung der idealistischen Morphologie aus. Man muß also von unvereinbaren »Natur«-Begri£fen in Büchners dichterischen und naturwissenschaftlichen Schriften ausgehen und sollte weder versuchen, den einen Begriff gegen den anderen auszuspielen19, noch beide zwangsweise zu harmonisieren. Hans Mayers Feststellung, das »Weltbild« des Naturwissenschaftlers sei aus den gleichen Elementen aufgebaut wie dasjenige des Künstlers, des Politikers, des Gesellschaftsforschers und des Philosophen, trifft also nicht zu.20

18 Walter L. von Brunn: Georg Büchtier. - In: Deutsche medizinische Wochenschrift 89 (1964), S. 1356-1560. 19 Dies scheint die Intention von Proß zu sein: Die Kategorie ..., a.a.O., S. 182. 20 Hans Mayer, S. 367. Mayer widerspricht sich selbst S. 379.

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Literarhistorische und ästhetische Fragen Probleme einer literarisch-historischen Ortsbestimmung Georg Büchners Von Henri Poschmann (Berlin/DDR)

In der Mehrzahl der Literaturgeschichten und speziellen Periodendarstellungen pflegt Büchner auffällig aus dem Rahmen der Systematik und der Zeit zu fallen. Sein, wie es scheint, ganz unvermitteltes Auftreten in der Literatur, und nicht nur in der deutschen, die Einzigartigkeit seines Erscheinungstyps auch im Kontext der zeitgenössischen europäischen Literaturen, die ungewöhnliche Zeitverschiebung seiner Wirkungsgeschichte, ihr überraschender, eindrucksvoller Beginn, haben den Vergleich mit dem Erscheinen eines Kometen Mode werden lassen. Assoziationen, die sich daran knüpften, waren: Ausnahmephänomen, Einsamkeit, Unerklärlichkeit. »Die Ratlosigkeit«, meinte 1959 Günter Eich, »beginnt schon bei seinem unbezweifelbaren Geburtsjahr, bei der Frage, ob er in seiner Zeit nicht fehl am Platze sei.«1 Exiliert, wie es aussieht, nicht nur aus seinem Heimatland, sondern auch aus dem Raum seiner Zeit, die keinen Platz für ihn hatte, überrascht er gerade als notorisch »Unzeitgemäßer« immer wieder die Lebenden anderer Zeiten durch seine vielberufene und beargwöhnte, erstaunlich regenerative »Gegenwärtigkeit«. Über seine Verwandtschaft mit Späteren, literarische Beziehungen, die ihn mit Schriftstellern der Gegenwart verbinden, wird ungewöhnlich viel beobachtet und nachgedacht Für die Erforschung seiner wirklichen historischen Konstellation sind das Vorzeichen, die Erschwernisse signalisieren. Als Autor von zweifelhafter Zeitgenossenschaft wissen wir ihn, abgesehen von Einzelbezügen, allenfalls unsicher im Umkreis der Jungdeutschen und gattungsspezifisch etwas genauer nahe Grabbe einzuordnen. Selbst das Verhält1 Büchner-Preis-Reden 1951-1971. - Stuttgart 1972, S. 76.

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nis zu Heine, Büchners wichtigster literarischer Bezugsperson, ist ungeklärt und rückt erst in letzter Zeit ins Blickfeld.2 Zahlreiche Beobachtungen und Hypothesen zu bestimmten personellen Bezügen liegen vor. Verhältnismäßig viel empirisches Material über seine Beziehungen zur Romantik ist beigebracht worden, ohne daß diese schon grundsätzlich geklärt wären; noch weniger seine objektive Stellung im umfassenden Zusammenhang der literarischen Strömungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts; und noch am wenigsten sein Verhältnis zur ausländischen, insbesondere zur französischen zeitgenössischen Literatur. Den Versuchungen, auf isolierte punktuelle und kurzschlüssige Zuordnungen zu verfallen und bestechende, aber wenig gesicherte Verbindungslinien zu ziehen, ist in seinem Falle scheinbar besonders schwer zu widerstehen. Was fehlt, sind verläßliche komplexe Untersuchungen auf der Basis der inhaltlich-formalen Gesamtaussage des Werks und der auch ihrerseits genauer historisch einzuordnenden biographischen Zeugnisse. Es liegt auf der Hand, daß eine fundierte literarische Einordnung Büchners nicht denkbar ist, ohne die Klärung seiner Stellung in der Praxis der revolutionären Bewegungen nach 1830, im philosophischen und naturwissenschaftlichen Denken. Darin kommt nicht nur ein personelles, sondern auch ein periodenspezifisches Charakteristikum zum Ausdruck. Literatur und Politik, Dichtung und Publizistik, ästhetische, sozial- und ideologiegeschichtliche Bewegungen der Zeit bedingen und durchdringen einander im Vormärz auf eine qualitativ neue Weise, die ein Begleitumstand der politischen Revolutionen 1830/1848 und der von Westeuropa her vordringenden industriellen Revolution ist. Die Aufgabenstellung, deren Problematik hier nur von einigen Erfahrungen her beleuchtet, keinesfalls umfassend dargestellt werden kann, liegt demzufolge auf einem Arbeitsfeld, das sich durch besondere Komplexität auszeichnet und das daher wohl nur in interdisziplinärer Kooperation, jedenfalls nicht im germanistischen Schmalspurgang erschlossen werden kann. Die Schwierigkeiten, auf die der Versuch einer stichhaltigen Fixierung der Stellung Büchners in der Literaturgeschichte stößt, sind ganz ohne Zweifel nicht gering. Sie werden aber, so weit man sie sich überhaupt bewußt macht, in der Praxis durchaus gering geschätzt. Wie wäre sonst die (neben einem mitunter beachtlichen philologischen oder auch spekulativen Aufwand) zu beobachtende Unbekümmertheit denkbar, mit 2 Heinz Fischer: Heinrich Heine und Georg Büchner. Zu Bächners Heine-Rezeption. - In: H. F.: Georg Büchner. Untersuchungen und Marginalien. - Bonn 1972, S. 9-17. - Maurice B. Ben n: Büchner and Heine. - In: Seminar 13 (1977), S. 215-226. - Thomas Michael Mayer, in: GB I/II, S. 126f., 130ff., 219ff., 390ff. u. ö. Henri Poachmaim: Heine undBüchner. Zwei Strategien revolutionär-demokratischer Literatur um 18)5. In: Heinrich Heine und die Zeitgenossen. Geschichtliche und literarische Bejunde. - Berlin/Weimar 1979, S. 203-228.

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der ein überreiches und nicht selten bizarres Angebot von Platzzuweisungen für den Dichter noch und noch überboten wird? Nach langer Verdrängung ist Büchner als vermeintlicher Spätling der Romantik, als vorzeitiger Herold des Naturalismus und als Schwurzeuge der nachfolgenden >Ismen< ins literarische Bewußtsein des 20. Jahrhunderts aufgenommen worden. Angehörige der Expressionismusgeneration beschworen ihn, wie man weiß, geradezu als Bruder und Mitlebenden ihrer Tage.3 Nicht viel anders die folgende Generation mit Brecht und Anna Seghers, die »eine Art Vorspiel der modernen Literatur« in ihm sahen und »keinen großen Unterschied zwischen Büchners >Lenz< und dem >Schloß< von Kafka« empfanden.4 Vom Agitator der gestrandeten revolutionären Volksbewegung nach der Juli-Revolution, danach ausgemachtem frühen Verkünder des Nihilismus im 19. Jahrhundert, sodann des späteren Existenzialismus, sah man ihn, durch Schopenhauer hindurchgegangen, auf dem Weg konservativer Umkehr als Leidensapostel dann vollends der Zeitlichkeit entrückt, gar überwechseln in die Nachfolge Christi. So wenigstens möchten uns die Zeichen bedeuten, die nach Wiese und Martens Krause und andere in jüngster Zeit in zunehmender Dichte setzten. Am prononciertesten wohl Wittkowski, der den schuldüberhäuften »religiöse [n] Revolutionär«5 auf »die dialektisch-spannungsvollste ethisch-religiöse Konsequenz der Revolutions- und Restaurations-Epoche« festzulegen sucht6 »Epoche« darf man dabei allerdings nicht als einen Begriff verstehen, den man nach einem realgeschichtlichen Inhalt befragen könnte. Die Festlegung, die Wittkowski trifft, verrät schon im überanstrengten syntaktischen Zugriff ihre Gewaltsamkeit: »Büchner vereint die altpietistische Nachfolge Christi in Leid und Mitleid mit der neupietistischen Idee göttlicher Strafe zur Erweckung der Gewissen und im Geiste Pascals und Fichtes mit der Idee, der Auserwählte überwinde die Adamsnatur, um sich anzunähern an Moses, den Volkserlöser, und an Christus, den Welterlöser durch Ärgernis, Gericht, Verblenden.«7 Ich zitiere diesen Unsatz hier als symptomatisches Beispiel für die Art der Raum-Zeit-Beziehungen, in die eine sich moraltheologisch versuchende geistesgeschichtliche Deutung ihren Gegenstand verweist. Muß man nicht fragen, inwieweit da überhaupt ein bestimmter Schriftsteller einer bestimmten Zeit ins Bild kommt und inwieweit vielmehr das Schema der Deutung selbst? Nicht weniger metaphysisch frei und dennoch anders geht es auch, wie Kobel beweist, der Büchner ganz und gar als 3 4 5 6 7

Dietmar Goltschnigg: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Georg Büchners. - Kronberg/Ts. 1975. Anna Seghers: Über Kunst und Wirklichkeit. Hrsg. von Siegrid Bock, Bd. 1. - Berlin 1970, S. 149. Wolfgang Wittkowski: Georg Büchner. Persönlichkeit. Weltbüd. Werk. - Heidelberg 1978, S. 370. Ebd., S. 368. Ebd., S. 369.

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Jünger Pascals und Widerleger des philosophischen Materialismus reklamiert. Auf der anderen Seite ist, um nur die Bandbreite der derzeitigen Ortsbestimmungen zu markieren, durch Jancke einflußreich vertreten, das Bild des politischen Schriftstellers auf dem Boden des vormärzlich erneuerten Jakobinismus von 1793 präsent, und dazu wiederum in Opposition, durch T. M. Mayer umfassend belegt und noch im Aufbau, das Bild des Sozialrevolutionärs in der frühen kommunistischen Strömung, die aus den Kämpfen der französischen Arbeiterbewegung 1831-34 hervorging. Hier zeichnet sich, umfassender fundiert, auch durch die Umfelduntersuchungen von Ruckhäberle, das Terrain ab, das in etwa schon bei Hans Mayer und vom Material her auch bei Victor in Sicht gekommen, damals aber von den ahistorischen Richtungen der bürgerlichen Forschung aus den Augen verloren worden war - im Gegensatz zur marxistischen, die gerade im Falle Büchners den allerwenigsten Grund hatte, ihre sozialhistorische Grundorientierung aufzugeben. Der Streit um Büchner zwischen den gegensätzlichen ideologischen Standpunkten, der heute in einem nie zuvor erreichten Ausmaß im Gange ist und der über das Bild des Dichters und die Wirkungsrichtung seines Werkes entscheiden soll, ist notwendigerweise zugleich ein Streit um die Klärung seiner Stellung in der Geschichte. Auch speziell auf literarische Formaspekte gerichtete Fragestellungen - die etwa darauf hinauslaufen, Büchner stiltypologisch der alten, im 19. Jahrhundert abbrechenden Rhetoriktradition zuzuordnen (Schaub) oder, anders gerichtet, dem absurden Theater (Emrich u. a.) - sind davon nicht ausgenommen. Die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Werkinterpretation und historischer Ortsbestimmung ist leicht einsehbar. Sie bildet in dem Vermittiungszusammenhang, der hierbei objektiv wirksam ist, zwangsläufig eine Schaltstelle der Rezeptionssteuerung - ob das dem jeweiligen Interpreten bzw. Literarhistoriker bewußt ist oder nicht. Ob es ihm gefällt oder nicht, wird er zum Beteiligten des Streits, in den der Fall Büchner sogar die Editionsphilologie, ihrem Ruf als objektiver Wissenschaft zuwider, verwickelt hat. Kann dieser Streit einer verbindlichen wissenschaftlichen Klärung der historischen Fragestellung und des davon abhängigen aktuell wirksamen Büchnerbilds dienlich sein? Die Aufforderung, ihn beizulegen, die jetzt Friedrich Sengle an die Adressen des christlich zugerüsteten extrem konservativen und des marxistischen Lagers der Büchner-Forschung richtete8, sieht über die unumgängliche Voraussetzung hinweg, 8 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 18i5-i848. Bd. III: Die Dichter. - Stuttgart 1980, S. 269.

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daß jeder, der sich einem historischen Gegenstand stellt, dies nur von dem Platz aus tun kann, den er selbst in einem bestimmten historischen Raum einnimmt, und daß dieser seinerseits in einer freilich vielfach (objektiv durch den epochenübergreifenden Geschichtsprozeß und subjektiv über das Bewußtsein des Rezipienten) vermittelten Verbindung zu dem erfragten und zu bestimmenden Ort des Gegenstands (Dichters/ Werks) steht. Wenn Sengle dagegen meint, nur für zeitgeschichtliche Themen zugestehen zu können, daß man »die Parteilichkeit nicht ganz vermeiden kann«9, betont er damit um so mehr, daß er Vergangenheit als etwas von der Gegenwart und den in ihr aufeinandertreffenden realen Interessen kategorisch Abgetrenntes auffaßt. Dem widerspricht seltsamerweise seine Auffassung Büchners als Typ des Studentenrevolutionärs, in dem man eher das Trauma sehr gegenwartsnaher Erfahrungen erraten kann. Auch Sengle kann sich dem Zwang zeitbezogener Auseinandersetzung nicht entziehen. Das zeigt gerade seine Behandlung Büchners im dritten Band seiner eindrucksvollen Epochendarstellung, die im übrigen auch als großes Ganzes nichts von ihrer Bedeutung einbüßt durch die Tatsache, daß sie mitnichten das Produkt zweckfreier nicht parteilicher Wissenschaft ist, als das sie sich präsentiert. (Ich setze hier in Klammern hinzu: Sengles mehrfache Hinweise auf die »Herausforderung« durch die Germanistik, speziell die Vormärzforschung der DDR, vor deren »sich verstärkende [r] Ausstrahlung [...] im deutschen Sprachraum« er warnt10, können doch wohl gerechterweise nur die Frage auslösen: wer fordert wen heraus?) Heißt das, daß Verständigung über die ideologischen Trennlinien hinweg nicht möglich ist? Immerhin kann einer aus den Erfolgen und Mißerfolgen des anderen lernen. Der Streit muß nicht fruchtlos sein, wenn man bereit ist, objektive Kriterien gelten zu lassen. Solche aber liegen in der Geschichtlichkeit des Gegenstands, an der jedes heutige Bild von ihm sich messen lassen muß. Es war nicht zuletzt die langgewohnte, oft gedanken- und oft bedenkenlose Herauslösung Büchners aus seinem historischen Zusammenhang, die eine unkontrollierte, mitunter exzeßhafte Willkürlichkeit von Deutungen zuließ, seine als Zeitlosigkeit aufgefaßte »Überzeitlichkeit«, aus der eine ihm gern zugeschriebene falsche, weil unhistorisch verstandene »Modernität«, d. h. beliebig beanspruchbare Aktualität, abgeleitet wurde. Noch effektiver wird ein vorgesetzter aktueller Zweck erreicht, wenn man, statt sie völlig zu ignorieren, bestimmte zusammenhängende Fak9 Ebd., S. 1024. 10 Ebd., S. 269,1024 u. a. - Ebenso Friedrich Sengle: Literaturgeschichtsschreibung ohne Schulungsaujtrag. Werkstattbericht:Methodenlehre. Kritik. -Tübingen 1980, S. 103-117, bes. S. 115.

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ten der Biographie und der Zeit isoliert und als Belegstücke in ein neu erfundenes, nur noch dem Gebrauchszweck verpflichtetes Ganzes einfügt So entstand das krude antikommunistische Porträt, das Werner R. Lehmann im Nachwort der auflagenstarken einhändigen Hanser-Ausgabe (München 1980) gezeichnet hat Büchner erscheint darin als eine im Grunde schizophrene, unfaßbare Gestidt, die für den Verfasser eine doppelte Funktion zu erfüllen hat Einerseits stellt dieser ihn in einer Reihe »krimineller Utopisten«11 mit St Just und nicht namentlich genannten Zeitgenossen von heute unter Anklage. Andererseits zitiert er ihn als Zeugen derselben Anklage gegen die »Unvernunft dieser terroristischen Vernunft«12, der in seinem Drama St Just »als einen Fanatiker und Schurken voller Mordgier, einfallsreich im Erfinden brutaler Rechtsbrüche«13 gegeißelt habe. Handfeste Tatsachen, die der Zweckkonstruktion Lehmanns widersprechen, werden nicht etwa verschwiegen, sondern als psychologische Unerklärlichkeiten verbucht und erscheinen per Saldo als Minus an Glaubwürdigkeit des beschriebenen Charakters. Sie beweisen, allein der Wirkungsabsicht entsprechend, alles oder gar nichts. Das Muster dafür ist: »Ein Widerspruch mehr in diesem zerrissenen und flackernden Persönlichkeitsbild; [...] Die Tatsache, daß Georg Büchner biographisch noch immer in politische Aktionen verwickelt ist, deren Problematik ihm schon deutlich gewesen war, ehe er sie begann, beweist wenig für das Werk, seine Poetik, seine Ästhetik.«14 Büchners bekanntes sozialrevolutionäres Konzept der Selbstbefreiung des Volkes im Hessischen Landboten verwandelt sich unter Lehmanns Händen zu »einer geschichtsphilosophischen Utopie, der er abzugewinnen sucht, was er im Anschluß an Voltaire, Diderot und Fichte religiösen Fanatismus< nennt«15 Wie das funktioniert, ist leicht erklärt: »Das dem Duodezfürsten agitatorisch entwundene Gottesgnadentum wird republikanisiert und der auserwählten Klasse als Erbschaft vermacht«16 Philologische Gewissenhaftigkeit und besseres historisches Wissen hindern den Herausgeber der historisch-kritischen Büchner-Ausgabe nicht, Büchners Revolutionsauffassung mit »eschatologischer Revolutionstheologie« zu verwechseln und zu behaupten: »Büchner bemüht im Hessischen Landboten< >die Männer durch welche der Herr< - gemeint ist Gott - >den Völkern seine Zeichen gibtunmoralisch!< schreit« (II, 451). Auch Dichtung und Philosophie entgehen nicht der Büchnerschen Sprachkritik. Man kennt seine ironischen Äußerungen zum »affectirten Pathos« der »sogenannten Idealdichter« (II, 444) und zur »abscheulich[en]« »Kunstsprache« der Philosophie (II, 421). Offensichtlich bezieht sich die Büchnersche Sprachkritik auf die verschiedensten Gebiete: Politik, Religion, Moral, Philosophie, Dichtung. Nicht allerdings auf die Naturwissenschaften, obwohl Büchner über seine Dissertation - eine »eckelhafte Geschichte« (II, 454) - auch nicht anders als im Tone eines ironisch gebrochenen Degoüt spricht. Man kann daraufhinweisen, daß schon die Rezension von 1831 auf eine Studie zum Thema Selbstmord deren »klare, schöne und kräftige Sprache« rühmt und deren »reine, glühende Begeisterung für das Edle und Große« kontrastiert mit den »abgedroschnen Redensarten von Bruderliebe u. dgl. m.« (II, 23). Vermutlich hätte Büchner schon zwei, drei Jahre später auch jene »Begeisterung« in seine Sprachkritik einbezogen. Wahrscheinlich hat auch jene sprachkritische Attitüde zu dem Eindruck der Hochnäsigkeit und Arroganz beigetragen, den einige Freunde 1 Georg Büchner: Werke und Briefe. Hg. v. F. Bergemann. - München: dtv «1969, S. 304. 2 Im folgenden werden Band- und Seitenzahl der HA einfach durch römische bzw. arabische Ziffern in Klammern kenntlich gemacht.

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und Bekannte mit der Persönlichkeit Büchners verbanden. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß Gutzkow in seinem Nachruf in einer Art Positionsverkehrung und möglicherweise als Antwort auf Büchners Jungdeutschenkritik bei Anlaß von Dantons Tod bemerkt: »Der Ausdruck ist ihm wichtiger als die Sache. Die revolutionäre Phraseologie reißt ihn hin, dafür nach idealen Unterlagen zu suchen.«3 Zumindest verstellt diese Darstellung die zentrale Motivik des Dramas, die Mercier in die Worte faßt: »Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden.« (I, 52)

Wie gestaltet Büchner Sprachkritik literarisch, was sind die epochengeschichtlichen Voraussetzungen dieser literarischen Sprachkritik? II.

Die prägnantesten, daher anschaulichsten Beispiele für Sprachkritik im Werk Büchners sind die Ankleideszene des Königs Peter in Leonce und Lena und die Reden des Doctors im Woyzeck. Zu Leonce und Lena I, 2: Büchner synthetisiert hier in einer Gestalt (König Peter) zwei divergente Sprach- und Handlungsformen: (1) kleinabsolutistische Politik (2) Aufklärungsphilosophie. Der szenische Rahmen - das Ankleidezeremoniell - entwirft eine dritte, von (1) und (2) divergierende Sprach- und Handlungsebene, die der Szene ihren Komödiencharakter gibt. Ganz offensichtlich als phrasenhaft entlarvt wird in dieser Szene das Begriffsmaterial der Sprachebene (2). Kriterium der Kritik ist nicht nur die amorphe Chaotik, mit der hier Spinozistische Terminologie (Substanz, Attribute, Modifikationen, Affectionen, Accidenzien), Kants »freier Wille«, Fichtes Identitätsformel aus der Wissenschaßslehre: »Ich bin ich« zusammengeworfen werden, sondern und vor allem der Widerspruch zwischen den aufklärerischen Postulaten und einer politischen Praxis, die just diesem aufklärerischen Anspruch den Boden entzogen hat. Es ist der Widerspruch zwischen dem Denk- und Identitätsanspruch - »Der Mensch muß denken.« und »Ich bin ich.« - und der real vorgeführten Konfusion (»Mein ganzes System ist ruinirt [...]. Die Menschen machen mich confus«) und Gedankenlosigkeit (»Ich wollte mich an mein Volk erinnern!«). Komisch wird die Szene durch die Identifikation philosophischer Hochwertwörter mit der Nichtigkeit der Figur dieses Königs Peter, 3 Georg Büchner: Werke und Briefe. Hg. v. F. Bergemann, S. 331.

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sowie durch die durchgeführte Analogie zwischen Begriff und Kleidungsstück. Man kann, das wäre der Analogie zu entnehmen, die philosophischen Formeln so an- und ablegen wie Accessoires. Bemerkenswert an dieser Szene wie für die literarische Sprachkritik Büchners insgesamt repräsentativ ist ihre innere Dialektik: Die Formeln der Aufklärung werden zu Phrasen dort, wo die politische Praxis die in ihnen geforderte Freiheit, Identität, Selbstbestimmung negiert. In der Negation ihres Anspruchs zur Phrase aber wirkt ihr utopisches Potential als Kritik solcher politischen Praxis nach. Mit anderen Worten: auch noch als Phrase bleibt der Satz: »Der Mensch muß denken« kritischer Maßstab für jene Form der Gedankenlosigkeit, die in den komisch-kleinabsolutistischen Verhältnissen eines König Peter vom Reiche Popo sich darstellt. Die Aufklärung bleibt - das wäre der politisch satirischen Sprachkritik in Leonce und Lena zu entnehmen - auch in ihrer Negation kritischer Maßstab für die nachaufklärerische, kleinabsolutistische Politik in Deutschland.4 Für die Darstellung dieser Dialektik wesentlich ist die Kategorie des Widerspruchs. Büchner gestaltet den Widerspruch von (1) und (2), indem er ihn in einer Figur synthetisiert. Die Synthese bleibt eine des Widerspruchs. Der Gegensatz wird nicht mehr, wie es die Programme des deutschen Idealismus, der Schillerschen Ästhetik, der frühromantischen Poetik forderten, versöhnt. Eine Synthesis nicht der Harmonie, sondern des unversöhnlichen Gegensatzes. In diesem Falle: von Aufklärung und restaurativer, kleinabsolutistischer Politik; ein Befund, der leicht durch den Hessischen Landboten, der übrigens auch sprachkritische Passagen aufweist (die »eigene Sprache« der Vornehmen; II, 54), zu komplettieren wäre. Zur Gestalt des Doctors im Woyzeck: Woyzeck ist das Objekt der naturwissenschaftlichen Experimente des Doctors. Er bringt ihn auf Formeln: »Harnstoff 0,10, salzsaures Ammonium, Hyperoxydul« (I, 174). Offensichtlich eine damals neue Wissenschaftssprache: »Es giebt eine Revolution in der Wissenschaft, ich sprenge sie in die Luft.« (I, 174). Diese neue, reüi materialistische Medizin degradiert das »Subject« Woyzeck zum Experimentalobjekt, zum »interessanten casus« (1,175) und zu dessen Symptomen. Daß solche Wissenschaftssprache und Wissenschaftspraxis ein System der Entfremdung darstellt und auch an der realen Verelendung Woyzecks Schuld trägt, macht Büchner deutiich genug. 4 Bereits an dieser Stelle wird deutlich, daß Büchners Sprachkritik in einem Langzeitzusammenhang zu sehen ist: der Wirkungsgeschichte der Aufklärung in Deutschland. Dieser Befund wird bestätigt durch die eingehenden Studien Büchners zur Philosophie der Frühaufklärung, Descartes und Spinoza insbesondere. Ich habe diese Zusammenhänge eingehend untersucht in dem Buch: Neuzeitliche Rationalitat und moderne literarische Sprachkritik. Descartes. Georg Büchner. Arno Holz. Karl Kraus. - München 1981. Siehe dort insbes. Kap. IV., S. 73 ff.

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Derselbe Doctor nun führt auch ein ganz anderes Vokabular im Munde. Da ist die Rede von Freiheit - »Der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit« (I, 174) -, von der Welt der Dinge als »organischer Selbstaffirmation des Göttlichen« (I, 166), von Subjektivität - »Subject Woyzeck« (1,475). Rein Zweifel, daß hier eine strukturell ähnliche Phrasenkritik vorliegt wie in Leonce und Lena. Aber es sind andere Bezugssysteme, die hier aufeinanderprallen: (1) das Sprach- und Handlungssystem der neuen materialistischen Medizin, wie sie vor allem in Frankreich, durch den radikal antimetaphysischen Materialismus vorbereitet, in der Schule der Pariser Physiologen repräsentiert war und (2) die spezifisch deutsche Tradition romantischer Naturphilosophie und des idealistischen Freiheits- und Subjektbegriffs. Um 1830 vollzieht sich in Deutschland der wissenschaftsgeschichtliche Umbruch vom Typus (2) zu (l).5 Büchner macht den Gegensatz der Schulen gerade dadurch deutlich, daß er sie in einer Figur synthetisiert Durch diese Synthese wird der Sprachgestus (2) zur Phrase. Phrasenhaft nämlich wird die Rede von Freiheit, Subjektivität, göttlicher Selbstaffirmation nur dort, wo ein Denk- und Handlungstypus zur Herrschaft gekommen ist, welcher der Geltung solcher Begriffe systematisch den Boden entzieht Der Satz »Der Mensch ist frei« ist nicht per se phrasenhaft. Aber er wird es dort, wo eine neue materialistische Wissenschaftssprache und Experimentalpraxis die Entfaltung von Freiheit und Subjektivität per definitionem et actionem unmöglich macht. In der Forschung ist zuweilen auf die Inkonsistenz in den Reden des Doctors hingewiesen worden. Auf seine Worte sei »kein Verlaß«6. Diese Interpretation ist zu harmlos. Büchners Sprachkritik greift merklich tiefer. Wenn Büchner in der einen Gestalt des Doctors zwei konträre Sprach- und Handlungstypen synthetisiert, so treibt er durch solche Synthesis systematisch den Gegensatz zwischen den Schulen heraus. Dabei richtet sich die Sprachkritik vor allem auf den Typus (2). Er wird zur Phrase, wo real Typus (1) herrscht. Ähnlich wie in Leonce und Lena entwickelt aber auch hier die zur Phrase degradierte Formel ein kritisches Potential gegenüber dem Typus (1). Es ist nämlich der wie immer phrasenhaft entstellte Freiheits- und Subjektivitätsanspruch, der die verdinglichende Denkweise der rein materialistischen Medizin als solche kennt5 Es ist bekannt, daß Büchner in Straßburg im Anatomen Louis Duvernoy einem Vertreter der französischen Schule Cuviers und im Physiologen Lauth einem Vertreter der stärker naturphilosophisch orientierten Schule begegnete. Er konnte an diesen Wissenschaftlern den Konflikt der Schulen an einer Universität studieren. Darüber hinaus zeigt seine Dissertation den genauen Kenntnisstand seiner Naturforschungen an, und seine Probevorlesung über Schädelnerven belegt, welch klares Bewußtsein Büchner in bezug auf die Konfliktsituation in den physiologischen und anatomischen Wissenschaften seiner Zeit hat Dazu Vietta, a.a.O., S. 94 ff., sowie die Marburger Dissertation von Otto Döhner: Georg Büchners Naturauffassung. — Marburg 1967. 6 So Erwin Kobel: Georg Büchner. Das dichterische Werk. - Berlin/New York 1974, S. 293. Auch Kobels Charakterisierung des Doktors als »Scharlatan« wird der an ihm dargestellten Wissenschaftsproblematik nicht gerecht

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lieh macht. Die Degradierung des »Subjects Woyzeck« zum »interessanten casus« kann ja kritisch nur wahrgenommen werden, wenn dieser Subjektanspruch noch mitgehört wird. Das Inhumane einer rein materialistischen Medizin ist aus diesem Denksystem selbst immanent nicht zu ersehen. Und auch hier, in der Gestalt des Doctors, bleibt der Widerspruch unversöhnt. Die Synthesis der divergenten Normen in der Einheit der Figur macht diese zum wandelnden Widerspruch. Dabei kommen auch psychologische Mechanismen ins Spiel: die idealistischen Hochwertbegriffe können dem, der sie gebraucht, zur eitlen Selbstbespiegelung und Selbstaffirmation dienen. Das läßt sich auch an der Gestalt des Hauptmanns und seinem Bramarbasieren über »Moral« studieren, sowie an der Verwendung des Tugendbegriffs durch Robespierre im Danton. Zur Phrase aber wird solcher Begriffsgebrauch eben dort, wo die reale Praxis der Figuren die Bedeutung des Begriffs unterminiert, ein Widerspruch, der von den Figuren selbst nicht mehr explizit reflektiert wird und somit Appell an die Erkenntiiisarbeit des Lesers/Zuschauers ist.7

III. Damit sind die wichtigsten Strukturmerkmale der Büchnerschen Sprachkritik, die im wesentlichen Phrasenkritik ist, aufgewiesen. Für die Kategorie der Phrase im Werk Büchners kennzeichnend sind folgende Charakteristika: 1. Figural: Büchner gestaltet den Widerspruch zwischen zwei Sprachund Handlungssystemen in einer Figur derart, daß das real herrschende Sprach- und Handlungssystem dieser Figur (1) einem von ihm proklamierten Sprach- und Handlungssystem (2) systematisch die Geltungsmöglichkeit entzieht. Dadurch wird (2) auf der Basis von (1) zur Phrase. 2. Psychologisch wirkt die Phrase affirmativ. Sie dient der Selbstbespiegelung des Sprechers und schirmt ihn so gegen Realitätserfahrung ab: die reale Verelendung Woyzecks, bzw. des Volkes unter kleinabsolutistischen Verhältnissen. 3. Von der logischen Struktur her hat die Phrase auch dort, wo sie als Kurzformel auftritt (»Subject Woyzeck«), Satzcharakter. (Die Formel wäre in verschiedene, in ihr freilich nur implizierte Oberflächenstrukturen von Sätzen transformierbar.) Auch die Kategorie des Widerspruchs, auf die wir bei der Analyse der Sprachkritik stießen, ist ja eine logische Kategorie. Allerdings geht es bei 7 Robespierre immerhin scheint ein Bewußtsein der in ihm sich darstellenden Widersprüche zu haben. Er fragt sich selbst: »Ich weiß nicht, was in mir das Andere belügt.« (I, 28).

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Büchner nicht um formallogische Widersprüche, auch wenn ein tautologischer Satz wie »Moral das ist wenn man moralisch ist« (I, 172) schon durch seine Form die innere Sinnlosigkeit anzeigt Die analysierten Widersprüche aber führen über die reine Formallogik hinaus auf eine geschichtsphilosophische Ebene. 4. Die Phrasenkritik Büchners hat geschichtsphilosophischen Charakter. Sie ist weder rein dramenimmanent, noch rein psychologisch, noch rein logisch zu begreifen. Der in der Phrase gestaltete Widerspruch ist ja in Wahrheit die Darstellung der Konfrontation zweier historischer Sprach- und Handlungstypen. Der Widerspruch zwischen Aufklärungsphilosophie und ihrem subjektphilosophischen Anspruch einerseits und der restaurativen, kleinabsolutistischen Politik, sowie der mechanistisch-materialistischen Wissenschaftspraxis andererseits. (Zur Metapher für die Politik im Absolutismus kann die materialistische Automatenmetapher dadurch werden, daß in ihr wie in jener Subjektivität und Freiheit negiert sind.) An dieser Stelle muß die Kategorie des Widerspruchs selbst historisch, d. h. epochengeschichtlich gedacht werden. Büchner führt nicht einfach nur einen logischen Gegensatz vor. Vielmehr steckt in den Widersprüchen, die er sprachkritisch exponiert, ein Geschichtsprozeß: das Nachwirken aufklärerischen Ideengutes und die Vereitelung ihrer Realisierung durch die herrschende Politik seit den Karlsbader Beschlüssen, der Umbruch von Idealismus und romantischer Naturphilosophie zur materialistisch-mechanistischen Denkpraxis des 19. Jahrhunderts. Dabei zeigt der Autor, daß die idealistischen Normansprüche zu Phrasen verkommen sind; aber als Phrasen haben sie immer noch kritische Funktion gegenüber der herrschenden Politik und aufkommenden Wissenschaftspraxis. In Wahrheit offenbart sich hier im Werk Büchners - und dies in dieser zugespitzten Form erstmalig in der deutschen Literatur - der zentrale Grundkonflikt der Aufklärung selbst: Auf der einen Seite begründet Aufklärung seit Descartes' Setzung der res cogitans als fundamentum inconcussum der neuen Wissenschaftspraxis einen subjektphilosophischen Anspruch, der sich allererst im deutschen Idealismus begrifflich voll entfaltet, aber auch schon zuvor auf die Politik in Form eines politischen Freiheits- und Selbstbestimmungsanspruchs einwirkt. Auf der anderen Seite - und dies ebenfalls seit Descartes und Galilei ^- deutet sich neuzeitliche Vernunft im Sinne eines mechanistisch-mathematischen Regelschemas, das spätestens seit dem französischen Materialismus eines La Mettrie eben auch jene Reservate der Vernunft kassiert, die der Frührationalismus ausgespart hatte. Der Universalitätsanspruch mechanistischen Denkens hebt den Cartesianischen Dualismus auf und unterwirft auch das Subjekt materialistisch-mechanistischen Bestimmungen. Erst 149

jetzt wird die Automatenmetapher, bei Descartes noch ein Beschreibungsinstrument nur fur die res extensa, zur Universalmetapher. Alles, was ist, ist Maschine.8 Im Werk Büchners - und hier zumal im Medium der Sprachkritik prallen die zwei Stränge neuzeitlicher Aufklärung unversöhnlich aufeinander. Die Unversöhnlichkeit des Widerspruchs wird deutlich gerade durch ihre figurale Synthese. Im Werk Büchners gestaltet sich so die grundlegende Antinomie der Neuzeit9 IV.

Wenn man Büchners private Äußerungen zu Philosophie, Naturwissenschaft, Politik liest, kommt man nicht umhin, gewisse Widersprüche zu vermerken. Büchner findet die Kunstsprache der Philosophie »abscheulich« (II, 421), meint, man müsse »für menschliche Dinge [...] auch menschliche Ausdrücke finden« (dies schon in einem Brief an A. Stöber vom 9. Dezember 1853). An Gutzkow schreibt Büchner 1835 aus Straßburg: »Ich werde ganz dumm in dem Studium der Philosophie; ich lerne die Armseligkeit des menschlichen Geistes wieder von einer neuen Seite kennen. Meinetwegen!« (II, 450) Man könnte annehmen, einer, der sich so abschätzig über Philosophie äußert, kann mit ihr nicht viel· im Sinn haben. Das Gegenteil ist der Fall. Büchners umfangreiche Descartes- und Spinozastuaien zeigen, mit welcher Genauigkeit und Akribie er dieses Studium, das ja nur die Voraussetzungen zu einer geplanten Vorlesung »über die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza« (II, 460) erbringen sollte, betrieben hat. Und so ist denn auch Büchners Kritik innerhalb dieser Studien, die nur an wenigen Stellen explizit sprachkritischen Charakter hat, alles andere als pauschal und äußerlich. Vielmehr bemüht sich Büchner, in den Gedankengang des jeweils referierten Philosophen hineinzukommen und dabei nicht nur die Logik dieser frührationalen Den8 In diesem Sinne ist die Fnihaufklärung auch beschreibbar als progressive Expansion der Maschinenmetapher: von Descartes' Naturphilosophie, Hobbes' Staatsphilosophie, Leibniz' Logik bis hin zu La Mettries L'homme machine. Jean Pauls Schrift Der Maschinen-Mann nebst seinen Eigenschaften sieht geradezu den Geist des 18. Jahrhunderts in dieser allegorischen Gestalt verkörpert Mit der Durchsetzung organologischer Denkformen - in Deutschland vor allem seit 1770 - verliert die mechanistische Metaphorik an Bedeutung. In der Literatur der Romantik, so in Tiecks William LoveU, Brentanos Ponce de Leon, Hoffmanns Die Automate und Der Sandmann, ist die Automatenmetapher negativ konnotiert Valeries Automatenverkleidung in Leonce und Lena knüpft an diese Tradition an und benutzt, wie vor Jahren schon Armin Renkers Dissertation Georg Büchner und das Lustspiel der Romantik. Eine Studie über »Leonce und Lena« (Berlin 1924) nachgewiesen hat, Brentanos Stück als Steinbruch für seine Komödie. Dabei gibt Büchner über die Romantik hinaus der Metapher einen neuen politischen Sinn. 9 Diese Antinomie wird in einer neuen Arbeit zur Aufklärung thematisiert, die mir bei Abfassung dieses Vertrages noch nicht vorlag: Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. - Stuttgart 1981. Kondylis erwähnt nicht Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung (Amsterdam 1947), obwohl diese ihrerseits auf Lukäcs und Max Weber fußende kritische Sicht der Aufklärung Kondylis' These, daß der aufklärerische Fortschrittsoptimismus auf Grund seiner weltanschaulichen Voraussetzungen von Anfang an eine Sinnkrise mitimplizierte, direkt gestützt hätte.

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ker nachzuvollziehen, sondern immanente Widersprüche ihrer Systeme im Sinne der radikalisierten Logik des philosophischen Gedankens auch gegen seinen Autor zu verfechten.10 Ein Beispiel, zugleich eines für Sprachkritik in diesen philosophischen Studien, ist Büchners Bemerkung, daß Spinozas Substanzbegriff, da die Substanz für den Verstand ja nur in Form von attributiven Bestimmungen zugänglich sei und diese durch sich selbst begriffen würden, in Wahrheit zur Leerformel degeneriere. »Da jedes Attribut durch sich selbst begriffen wird, was bleibt noch der Substanz übrig? ist sie nicht da ein leeres Wort?« (II, 236) Die hier nur vorsichtig als Frage geäußerte Vermutung wird am Ende der Spinozasiuaien noch einmal apodiktisch formuliert: »Also sind die Begriffe von Substanz und Attribut identisch, eins von beyden ist ein leeres, inhaltloses Wort.« (II, 285) Wohlgemerkt: nur »eins von beyden«, und dies eben im Sinne des Systems selbst, nicht als eine von außen kommende Pauschalkritik an der philosophischen Terminologie schlechthin. Von Leonce und Lena I, 2 und den zitierten Briefäußerungen her wäre ja auch eine Form der Totalkritik denkbar, die solch philosophische Begrifflichkeit in toto für absurd hält. Büchner geht aber offensichtlich mit der Philosophie viel differenzierter um, sein Verhältnis zu ihr ist ambivalenter, als die brieflichen Äußerungen und auch die literarische Sprachkritik auf den ersten Blick vermuten ließen. Genauer besehen entwickelt Büchner sogar in der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition eine eigene Logizität, die der des rationalistischen Denkens kompatibel ist. Wie anders könnte er Payne in Dantons Tod just mit jenem Scharfsinn des Verstandes, der die rationalistischen Gottesbeweise auszeichnet, das klare Gegenteil, die Nichtexistenz Gottes, beweisen lassen; was freilich letzten Endes nichts über Existenz oder Nichtexistenz Gottes aussagt, wohl aber ad oculos demonstriert, daß dieses Problem gar nicht durch den rational schlußfolgernden Verstand gelöst werden kann. Diesen Schluß zieht ja dann auch Payne selbst, wenn er Verstandesbeweis mit Gefühlswissen konfrontiert: »nur der Verstand kann Gott beweisen« - und eben auch das Gegenteil -, »das Gefühl empört sich dagegen.« (I, 48)

10 Dieser hochgradig professionelle Charakter der Beschäftigung mit der Philosophie zeichnet Büchners Studien aus. So unterscheidet sich auch Büchners Spinozarezeption qualitativ von der gesamten deutschen Spinozarezeption Ende des 18. Jahrhunderts. Während Lessing, Jacobi, Herder, Goethe, SchelJing die typisch frührationalistische, logisch deduktive Methode der Spinozistischen Ethik als eine quantito negligeable behandeln und nur eine vage pantheistische Naturphilosophie aus Spinoza herauslesen, nimmt Büchner gerade die mathematische Methode Spinozas ernst: »Der Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathematik* (II, 270). Büchner erkennt, daß die frührationalistische Identitätslehre, d. h. die Ableitung der materialen Wahrheit aus den logischen Denkbestimmungen »more geometrico« »zur Höhe des Spinozismus« führt 01, 273). Ich werde diese Büchner'sche Spinozarezeption in einem gesonderten Beitrag für das Georg Büchner Jahrbuch darstellen. Zur Descartesrezeption Buchners siehe: Silvio Vietta: Selbsterfahrung bei Büchner und Descartes. - In: DVjs 53 (1979), S. 417-428.

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Über solche philosophische Denkschulung hinaus aber entnimmt Büchner der Philosophie noch sehr viel mehr: er entnimmt ihr das Wissen um die geschichtsphilosophische Situation seiner eigenen Gegenwart, das Wissen um die Langzeitdimension, in der die ideologischen Konflikte dieser Gegenwart zu begreifen sind. Ein Beispiel ist der für die ganze Aufklärungsgeschichte seit Descartes, Hobbes, über La Mettrie, Holbach, Helvetius zentrale und durch die Entwicklung der Naturwissenschaften neu akzentuierte Gegensatz zwischen Materialismus und Spiritualismus. Dieser Gegensatz ist in Descartes' systematischer Trennung der zwei Substanzen in nuce angelegt. Hier aber ist nun interessant zu beobachten, in welchem Maße Büchner bei der Rezeption der Philosophie Descartes' in seinen Urteilen schwankt. Einerseits sieht Büchner in Descartes' Setzung der res cogitans als primum principium wahrer und d. h. gewisser Erkenntnis »Eine gute Widerlegung des Materialismus« (II, 142). Eben weil hier das Denken als das dem Denken einzig gewisse und daher logisch >frühere< gesetzt wird. Andererseits aber interpretiert Büchner gerade den Grundcharakter dieser ersten Wahrheit im Cartesianischen System denkbar uncartesianisch, wenn er schreibt: »Der Grundcharakter aller unmittelbaren Wahrheit ist das Poniren, das Affirmiren schlechthin, durch das secundäre Geschäft des Denkens gar nicht vermittelt, wesentlich nicht einmal berührt. Die Existenz seiner und der Dinge außer uns wird auf rein positive, unmittelbare, von der Function des Denkens unabhängige Weise erkannt.« (II, 140; Hervorhebung von mir, S. V.)11. Eine gute Widerlegung des Innatismus, Apriorismus und Spiritualismus, möchte man sinngemäß ergänzen. Wie allerdings das Denken seine eigene Existenz auf eine »von der Function des Denkens unabhängige Weise« erkennen soll, bleibt ein Rätsel. Mir scheint, Büchner spielt hier Denkpositionen gegeneinander aus, und daher entsteht der Widerspruch, der in diesem Falle nicht, wie in der literarischen Sprachkritik, vom Autor bewußt konstruiert ist. Gerade dies aber zeigt ein Schwanken in der Position des Autors an. Der sich hier auf wenigen Seiten darstellende Widerspruch durchzieht ja die ganze Biographie Büchners, jedenfalls von dem Zeitpunkt an, da er sich auf das Studium der Philosophie und der Naturwissenschaften verlegte. Es ist im weiteren der Widerspruch zwischen dem »philosophischen« Standpunkt, den er, aller Kritik an der Philosophie zum Trotz, in der Probevorlesung Ueber Schädelnerven gegen die rein mechanistisch-naturwissenschaftliche Methode ins Feld führt, ein Ansatz, in dem nicht zuletzt auch Spinozistisches Gedankengut aufgehoben ist - siehe z. B. die Pole11 Thomas Michael Mayer danke ich für den Hinweis, daß Büchner hier wörtlich J[onannes] Kühn zitiert (Jacobi und die Philosophie seinerzeit. Ein Versuch, das wissenschaftliche Fundament der Philosophie historisch zu, erörtern, - Mainz: Kupferberg 1834, S. 72 f.).

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mik gegen den Zweckbegriff II, 261 und II, 292 - und jener von allen Geistbegriffen losgesagten mechanistisch-naturwissenschaftUchen Denkform, die der Naturwissenschaftler Büchner ja doch über weite Strecken in seiner eigenen Dissertation praktiziert, die er freilich auch eine »eckelhafle Geschichte« nennt Entweder oder - sollte man denken, aber das wäre eben verkürzt gedacht. Denn die Kehrseite dieser Mehrperspektivität des Philosophen und Naturwissenschaftlers Büchner und, damit verbunden, der Ambivalenzhaltung sowohl gegenüber der Philosophie als auch gegenüber den Naturwissenschaften ist ja doch die Fähigkeit des Literaten Büchner, die Komplexität und innere Gegenläufigkeit seiner eigenen Epoche - und dies in Form des bewußt gestalteten Widerspruchs - darzustellen. Weil Büchner an verschiedenen Sprach- und Handlungssystemen partizipiert, die er z. T. gegeneinander ausspielt, kann er die innere Gebrochenheit, bzw. prozessuale Übergänglichkeit seiner eigenen Zeit darstellen und dies u. a. - nicht als einzigem Mittel! - im Medium der literarischen Sprachkritik. Hier zeigen sich die inneren Widersprüche zwischen materialistischem und idealistischem Denkanspruch, zwischen Leitbegriffen der subjektphilosophischen Tradition und naturwissenschaftlicher Praxis, zwischen politischer Wirklichkeit und emanzipatorischem Ideengut der Aufklärung. So weit hier prätendierte Werte als Phrasen entlarvt werden, ist Büchners Werk ideologiekritisch, ein Dokument der Sinnkrise der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer nachklassischen, nachromantischen, nachidealistischen Epoche. V.

Eine Frage, die sich nun allerdings stellt: wie kann/soll der Literaturwissenschaftler mit einem solchen Befund umgehen? Zweifellos dominieren in der Forschung jene Ansätze, die sich bemühen, Büchner identifikatorisch auf eine Position festzulegen: Büchner, der Materialist, oder Büchner, der Idealist. Büchner, der Atheist und Nihilist, oder (neueren Datums in vermehrter Zahl) Büchner, der Christ. Und natürlich: der politisch revolutionäre oder der resignative Büchner. Und haben nicht auch in bezug auf letztere Alternative beide Seiten gute Argumente ins Feld zu führen: auf der einen Seite die offensichtliche Sympathie, mit der Büchner die politische Passivität Dantons schildert und die durchaus der durchgehenden, universalen Todesmetaphorik des Stücks entspricht: »Da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeitere, organisirtere Fäulniß [...]« (I, 61); der tiefe Ausdruck von Melancholie und Depression auch in einer ganzen Reihe von Briefen zumal aus der Zeit Frühjahr 1854. Auf der anderen Seite die für Büchner 153

selbst lebensgefährlichen politischen Aktionen, sein Anteil am Hessischen Landboten — um nur die wichtigsten Argumentationssäulen beider Seiten zu nennen. Sind nicht auch hier Widersprüche im Spiel, die nicht einfach auf die vorgeblich >progressiven< oder >reaktionären< Vorurteile der jeweiligen Wissenschaftsrichtung zurückzuführen sind? Wie ist es denn zu deuten, daß Büchner einerseits schreibt: »Unsere Zeit ist rein materiell« (II, 455), andererseits aber just diese materialistische Perspektive zur ironischen Darstellung revolutionärer Umtriebe benutzt »Die Leute gehen ins Feuer, wenn's von einer brennenden Punschbowle kommt!« (II, 420), bzw. zur Auflösung der Grundlage einer wahrhaft revolutionären Praxis selbst: »Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.« (II, 441) Freilich bekämpft Büchner die »Affenkomödie« der feudalen und auch liberalen Politik. Aber die Jubelfeier zu Ehren des polnischen Freiheitshelden Ramorino mitsamt ihren politischen Parolen »Vive la liberte! vive Ramorino! ä bas les ministres! ä bas le juste milieu!« (II, 415) erschien ihm eben auch als eine Art »Comödie«. Für den unbefangenen Leser, der heute in den Buchladen geht, wird es zum Zufall der Sortiments- und Lagerpolitik von Handel und Verlagen, welchen Büchner er nach Hause trägt. Dabei wird er kaum das Geld und die Zeit aufwenden, die Perspektiven A, B, C, D ... der Büchnerforschung wechselseitig sich relativieren zu lassen. Wir haben heute eine Situation in der Büchner-Forschung wie vor Jahren in der Kafka-Forschung. Eine Vielzahl gegenläufiger, z. T. sich ausschließender Deutungen vom Typus »Phomme et Poeuvre« liegen vor. Wer oder was entscheidet jetzt über den Wahrheitswert all dieser Deutungen? Ich möchte an dieser Stelle zwei Vorschläge für die kommende Büchner-Forschung machen: Erstens sollte man Fragen, die im Text als offene Fragen formuliert sind, auch als solche respektieren. Wenn Büchner beinahe wörtlich identisch in einem Brief und in Dantons Tod in Anlehnung an das bekannte Bibelwort fragt: »Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?« (I, 41 und II, 426) und auf diese Frage gerade keine Antwort gibt, wenn er vielmehr Danton explizit sagen läßt: »Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden, es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür [...]« (I, 52), dann kann es nicht Aufgabe der Germanistik sein, den brodelnden Topf offener Fragen mit ihren Antworten abzudecken. Das, was hier als offene Frage exponiert wird, kann so wenig auf den Begriff gebracht werden wie Kafkas Schloß. Im Grunde hat Büchner hier vorweg schon eine Sprachkritik an allen identifikatorischen Formeln, auch der Germanistik, formuliert, die dort eindeutige Antworten suggerieren, wo diese vom Autor aus guten Gründen ausgespart werden, eben weil sie so einfach nicht mehr zu haben sind. Der vordogmatische Lukäcs hat dies als ein Formproblem des modernen 154

Romans erkannt: »die formgeforderte Immanenz des Sinnes entsteht gerade aus dem rücksichtslosen Zu-Ende-Gehen im Aufdecken ihrer Abwesenheit.«12 Aufgabe der Germanistik wäre es, solche Entzugsformen zu beschreiben, nicht diese durch eigene Antworten zuzudecken. Zweitens: Man wird — bei aller hermeneutischen Einsicht in die Voraussetzungshafligkeit literaturwissenschaftlichen Interpretierens nicht umhin können, die vielfaltige Widersprüchlichkeit in der BüchnerForschung auch mit dem Werk dieses Autors selbst in Zusammenhang zu bringen. Könnte es sein, daß sich in der Widersprüchlichkeit der Forschung, und von ihr selbst nicht bewußt reflektiert, Widersprüche im Werk Büchners selbst spiegeln? Ich bin der Meinung, daß es so ist. Das heißt aber für die Forschung, daß zunächst einmal der Anspruch auf absolute Gültigkeit jeweils eines Deutungsansatzes aufzugeben wäre, daß vielmehr die Ergebnisse vorsichtiger als Oeutangsperspektiven anzubieten wären.13 Das soll mitnichten auf einen schwammigen Relativismus, der alles und jedes gelten läßt, hinauslaufen. Das sachhaltige Kriterium für die Tragfähigkeit jeglicher Textinterpretation ist nach gut hermeneutischer Einsicht der Text selbst, und an diesem muß jene sich bewähren. Es gibt Deutungen, die man eindeutig vom Text her als falsch bewerten kann. Dennoch: die Texte selbst scheinen einen Spielraum divergenter Deutungsmöglichkeiten zu eröffnen, weil sie Ambivalenzen, Widersprüche aufweisen. Diese Situation wäre bewußt anzunehmen, und diese Widersprüche im Werk Büchners wären allererst einmal zu entfalten, statt sie wegzubügeln. Vermutlich würde sich dabei zeigen, daß Büchners >Position< eben nicht so eindeutig ist, wie die jeweiligen Forschungsrichtungen glauben machen, daß hier jene bruchlose Einheit der Subjektivität, die wir gerne klassisch für ein Charakteristikum der Dichterpersönlichkeit halten, gar nicht gegeben war. Auch solche Dissoziation der Persönlichkeit hat, als ein Signum der Moderne, Lukäcs erkannt. Ein Abbau an Absolutheitsanspruch also, die Exposition des eigenen Forschungsansatzes als Perspektive und vielleicht auch als Forschungsstrategie ein bewußtes Aufsuchen eben solcher Textpassagen, die zur eigenen Deutung eher quer liegen. Dann hat auch der oben zitierte »unbefangene Leser« eine Chance, eine Deutung als das zu lesen, was sie ist, Deutung. Zum Abschluß noch ein Wort zu jenen Sprachformen im Werk Büch12 Georg Lukäcs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. - Neuwied 1963 l» 1920], S. 70. 13 Auf dem Büchner-Symposium in Darmstadt 1981 wurde diese Forderung unabhängig von diesem Vortrag von Reinhold Grimm und anderen erhoben. Allerdings wurden auf diesem Kongreß immer wieder auch Anstrengungen unternommen, die divergierenden Ansätze zu »synthetisieren«. Dabei ist aber Vorsicht geboten. Die Synthese ist zumindest in ihrer klassischen Form eine idealistische Denkfigur, die der nachidealistischen, spezifisch modernen Widersprüchlichkeit des Werkes Büchners sehr oft nicht gerecht wird. Als Forschungsstrategie scheint es mir daher für die nähere Zukunft erst einmal wichtig, solche Widersprüche im Werk - als Widerspiegelung der zeitgeschichtlichen Spannungen und Widersprüche - herauszuarbeiten und so allererst freizulegen.

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ners, die im Begriff »Sprachkritik« gerade nicht aufgehen: der Ausdruck des Leidens, der Angst, der inneren Zerrissenheit, wie er uns im Lenz und im Woyzeck begegnet. Gerade weil das Suchen dieser Figuren nach übergreifenden Sinn-Normen unbeantwortet bleibt, sind sie ihren Ängsten ungefiltert ausgesetzt. Angsterfahrungen nehmen hier so bedrohlichen Charakter an, weil sie durch keine vorgebliche Sinnsetzung weginterpretiert werden können. Büchner zeigt dies ganz ohne kritische oder gar ironische Distanz. Man- findet die Erfahrungsgrundlage für solche Darstellung von Einsamkeit, Sinnverlust, Angst und Verzweiflung in den Briefen dieses Autors selbst. Und was für die Figuren Büchners gilt, gilt auch für den Autor selbst: diese existentiellen Erfahrungen werden so bedrohlich dort, wo sie nicht mehr in Sinnsysteme integrierbar sind. Der sprachliche Ausdruck dieser Erfahrungen mag - so im Woyzeck - ungelenk, ja hilflos sein, aber solche Gebrochenheit des Ausdrucks ist der neuen — schmerzlichen — Erfahrung von Wirklichkeit näher als die Phrasen von Moral, Freiheit und das System der wissenschaftlichen Formeln.

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>Körpersprache< bei Büchner Von Hartmut Rosshoff (Düsseldorf)

Das unmittelbar Berührende oder Betroffenmachende besteht vorerst und noch immer in der mimetischen Kraft von Büchners Texten selbst. Indem die Aktualität Georg Büchners auf der fortwirkenden Faszination sowohl von Leben und Denkweise des Autors wie seiner Werke beruht, soll die Argumentation hier vom Dramenfragment Woyzeck und Erzählfragment Lenz her einsetzen. Diese besitzen, als gestaltete Kunstwerke, so historisch sie auch sind, für den späteren Leser zunächst ja sinnlich präsenten Charakter. Worin die Faszination oder Erschütterung gründet, was die Mischung aus lesender Wahrnehmung, Sensation und Erkenntnis beinhaltet, worm die Katharsis (jenes Vergnügen aus Furcht und Mitleid, die hier besser Betroffenheit und Mitgefühl heißen sollen) besteht, die uns befähigt, uns in die literarischen Gestalten und Situationen hineinzudenken, können wir erst bestimmen, wenn wir die Eigentümlichkeit der Leistung des uns lesend fesselnden Textes beschrieben haben. Worin besteht jenes Mimetische1 bei Büchner, worin tritt es in Erscheinung, worin wird es anschaulich, wie, und was in ihm evident? Wodurch werden wir zugleich auf uns selbst und jenes andere, bisher so nicht Gewußte, gestoßen, in Furcht und Mitleid - worin besteht beides bei Büchner? Ihrer lebendigen Gegenwärtigkeit stehen das 145jährige Alter der Texte (setzt man 1856 an) und die schon an ihnen geleistete Editionsund Interpretationsarbeit gegenüber. Entsprechend muß die Intention des Autors Büchner, aus der heraus die Texte entstanden, von seinen mehr oder weniger dramatischen Bildern und ihrer poetischen Realisation unterschieden werden. Das bedeutet nicht, daß der Autor keinen Begriff von dem hatte, was er zur Sprache brachte. Aber er hielt im Bilde seiner dramatischen Szenen und Figuren - und auch das Erzählfragment Lenz hat in seiner prosaischen Kurzform und ereignishaften handlungsdominierten Berichterstattung etwas Novellistisch-Dramatisches möglicherweise Momente fest, für die zum Teil erst das 20. Jahrhundert l Aristoteles' Mimesis-Begriff eignet sich schon deswegen zum Verständnis Büchners, weil dieser seine poetischen Texte nach Fakten-Quellen entwirft. Daß in der objektiven Geschichtsschreibung mimetischer Nachvollzug schon in der Antike nötig wird, um einer allzu pauschalen und damit unmenschlichen Geschichtsschreibung zu entkommen, für die der Orkan der Vernichtung obenan in der Skala des Berichtenswerten steht, das Besondere und Einzelne des gelebten Alltags aber nicht, konstatiert Hermann Strasburger: Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung. -Wiesbaden 1966, S. 79 ff.

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gesteigerte politische Wahrnehmung, Analyse und theoretischen Ausdruck fand. Büchner war als Zeitgenosse des 19. Jahrhunderts mit den besten Voraussetzungen des 18. Jahrhunderts ausgestattet. Er war Materialist2, Naturwissenschaftler, Mediziner. Auch seine bildungsbürgerliche und südwestdeutsche Herkunft, die Tatsache, daß er zudem in der Vormärz-Zeit lebte, muß hier in Rechnung gestellt werden, wenn er, nach theoretischer Begründung suchend, politische und ideologische Emanzipation zugleich auf verschiedenen Ebenen betrieb und als zusammengehörig begriff. Seine Aktivitäten und Verbindungen über die Abfassung bzw. Mitabfassung des Landboten hinaus - Büchner als Vormärz-Deutscher mit politischem Interesse an der französischen Revolution, einschließlich der von T. M. Mayer aufgestellten Behauptung, daß Büchner ein Frühkommunist gewesen sei - belegen hinlänglich, daß Büchner ein historisches Bewußtsein im Sinne des 19. Jahrhunderts besaß. Er begriff seine Zeit als Übergangszeit, als ein Werden. Allgemein gesprochen kann sich seine Zeitauffassung und auch sein Geschichtsbewußtsein höchstens inhaltlich, betreffs expliziter Geschichtsphilosophie, nicht aber als überhaupt historisches von demjenigen z. B. Hegels, Heines oder Marx' unterschieden haben, die allesamt vom Gedanken notwendigen, unaufhaltsamen Fortschritts durchdrungen waren - von dem freilich alle Vorgenannten verschiedene von Angst und Hoffnung besetzte Erwartungen hatten. Auch bei Büchner nimmt die Kritik an Zeit und Gesellschaft ihre Energie aus diesem Bewußtsein, die Rede im Fatalismusbrief vom »gräßlichen Fatalismus der Geschichte«, von der »unabwendbare [n] Gewalt [...] in den menschlichen Verhältnissen« und dem »eherne [n] Gesetz«, das »zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich« sei, beweist nicht als einzige Stelle dieses Zeitgefühl. Es wird beherrscht von Dialektik. Büchner hätte für deren Begriffsinhalt mit dem BegriffFata/wmus in seinem Wort vom »gräßlichen Fatalismus der Geschichte« eine kaum treffendere Übersetzung finden können - jenes unbändige Unberechenbare des geschichtlichen Fortschritts, das eben nicht (letztendlich auch nicht durch eine materialistisch-dialektische Methode) »beherrscht«, sondern nur »erkannt« werden kann, d. h. in Rechnung gestellt werden muß.5 Wenn der Inhalt jenes historischen Denkens im 19. Jahrhundert auch bei Büchner die Empfindung vom Sog der Zeit zur Sprache bringt, dann enthält sie jene Entschlagung von jeglicher Naivität des Zukunftsvertrauens, welche das 19. Jahrhundert von der Aufklärung, die dennoch 2 GBVll, S. 69 ff. 3 Vgl. HA II, S. 425 f.

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Voraussetzung für dasselbe war, unterscheidet. Deshalb beeindrucken den jungen Büchner die großen historischen oder zeitgenössischen Gestalten nicht, es »fallt [ihm] nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte [sich] zu bücken«. Büchner beugt sich über anderes, über Nervengeflechte beim neurophysiologischen Studium, über den Bericht des Pfarrers Oberlin mit der Beschreibung von Symptomen einer hochgradigen Psychose, über das medizinisch-psychiatrische Gutachten eines Leipziger Medizinalrats zu einem Mörder namens Woyzeck. Von der Intention bzw. Motivation des Autors her, so wie die Forschung ihn jüngst dargestellt hat, können Gesamtsinn, Bedeutung und Aussage des Dramas Woyzeck und des Erzählfragments Lenz dennoch nicht einfach bestimmt werden. Zusammengefaßt enthalten diese Literaturstücke - mit diesem politisch-gesellschaftskritischen Blick erstmalig in der deutschen Literatur - die Darstellung des Leidens von Individuen der niederen Gesellschaftsklassen des 3. bzw. 4. Standes aus der Sicht der Betroffenen. (Dies bezieht sich auch auf Lenz, wie noch zu zeigen ist.) Als äußere Ursache der Leiden beider Figuren erscheinen beide Male die gesellschaftlichen Zustände, die sie zunehmend und immer auswegloser in ihr Elend hineingeraten lassen. Im Woyzeck-Orama prangert Büchner ein Verbrechen an, das gesellschaftlicher Fortschritt (möglicherweise bürgerliches Interesse) an einer proletarischen Existenz verübt. Im Lenz-Fragment wird individuelle Autonomie, z. B. als bürgerliche Existenz, in ihrer brüchigen Unmöglichkeit, d. h. als individuelle historische Seinsmöglichkeit in ihrer möglichen Abgründigkeit präsentiert Im Woyzeck wird die Hauptfigur, und nicht nur sie, durch die sich formierende bürgerliche Gesellschaft physisch und psychisch zugrundegerichtet, kriminalisiert, zerstört. Woyzecks Perspektive, die im Drama nicht mehr ausgeführt werden mußte, bleibt die Hinrichtung. Im Lenz wird tendenzielle Selbstzerstörung von außen und innen ins Bild gerückt. Beide Male erscheint jenseits der Autonomie des selbstbewußt-entscheidungsfrei handlungsfähigen Individuums (dem Ideal- und Durchschnittstypus des selbstverantwortlichen Staatsbürgers im Sinne des BGB, als dessen Vertreter Doctor und Hauptmann bzw. Oberlin gelten könnten) ein anderer Typus von Individuum. In jedem Fall entlarvt sich zunächst der Idealtypus vom staatsbürgerlich funktionierenden Individuum als Ideologie, insofern er aufgrund partieller Repression von Individuen und parallel dazu von Teilen der Gesellschaft gar nicht erreicht werden kann. Gegen Woyzeck richtet sich die Gesellschaft in dem Augenblick zerstörerisch, wo seine falschen Entscheidungen ihn nicht einmal mehr rettend aus der Bahn auf ein Nebengleis von Leben werfen. Eher trifft Woyzeck zu wenig falsche Entscheidungen. Er läuft nicht einmal weg. Für Lenz bleibt Bürgerlichkeit unerreichbares Ideal von Erfolg und Harmonie. 159

Bemerkenswert ist, daß der Autor den Ablauf der Ereignisse jeweils symptomatisch für sich selbst sprechen läßt, als Syndrom von Symptomen. Beide Beispiele werden zum Teil als grelle Sensationen präsentiert. Aber die eigentümliche Trauer, die über diesen literarischen Beispielen liegt, und die Traurigkeit, Angst oder (umgekehrt) sarkastische Absurdität, welche viele Figuren erfüllt - im Woyzeck eher Andres und die Großmutter mit ihrem Märchen, auch den Hauptmann, im Lenz die Hauptfigur, dann mit ihrem Verständnis, ihrer Geduld und ihrer Sorge, d. h. ihrem Mitleiden (»Oberlin empfand unendliches Mitleid, die Familie lag auf den Rnieen und betete für den Unglücklichen«, S. 13l)4 die Bewohner von Pfarrhaus, Dorf und Umgegend -, lassen sowohl im Woyzeck wie im Lenz das dramatische Pathos, im Gegensatz zu einigen Passagen in Dantons Tod, durch die Perspektive von Büchners Blick zurücktreten. Dies ist Büchners spezifische Mimesis.5 Statt dessen rücken die Pathemata, »Leiden«, die »Schmerzen« sind, ins Bild, stumme Pathologie selbst dort, wo die Figuren reden, denn ihre Reden sind Symptome, der Grund ihrer Krankheit wird in den Dialogen zugleich erahnt und verdeckt. Das vorgeführte Leiden erscheint somit ein halb stummes, es scheint etwas vom Passiven des Übersichergehenlassens zu besitzen. Jedenfalls handelt es sich um ein konkretes, kreatürliches Leiden, kein metaphysisches. Auch deswegen der gleichsam leise Stil, nicht nur weil die Figuren den unteren Gesellschaftsklassen angehören und nicht wie Danton vom Gipfel der Gesellschaftspyramide herabstürzen. Gerade die Nebenfiguren und Umstände erzeugen somit einen Teil jener mimetischen Eigentümlichkeit dieser Literaturstücke. Hierzu würde auch die »Langeweile« zählen, von der weiter unten noch zu reden ist, der allerdings eine mehrfache Funktion zukommt. Es ist ein geradezu anthropologischer Blick6, der auf die Figuren fallt: sie sind, wenn schon nicht Fauna - dagegen spricht die evozierte Perspektive von ihnen selbst her, das verstehende Mitgefühl, welches sich auch von den Nebenfiguren aus auf den Leser überträgt -, so doch pathologische Figuren. Ja, sogar z. T. im wörtlichen Sinne, Patienten. Wenn Büchners Blick auf seine Gestalten Woyzeck und Lenz nicht zuletzt der des Arztes ist, dann zielen beide Fragmente auf die Erfassung der Gesamtsituation, gleichsam des Gesamtbilds der Krankheit, hinter dem die Klagen der Figuren über ihre Leiden zurückbleiben, so eindringlich sie auch vorgetragen werden. Und wenn Büchners literarische 4 Die hier und im folgenden angeführten Seitenangaben in Textklammern beziehen sich auf die Ausgabe von Büchners Lenz-Fragment in der von Joachim Hörn, Johann Jokl, Albert Meier u. Sibylle von Steinsdorff hrsg. und kommentierten Sammlung Deutsche Erzählungen des 19. Jahrhunderts. Von Kleist bis Hauptmann (München: dtv 1982). Dieser Abdruck folgt - in behutsam modernisierter Orthographie dem von Hubert Gersch zu diesem Symposium als Manuskript vorgelegten kritischen Text (vgl. hierzu GBJb 3/1983). - Die Seitenangaben nach Woyzeck-Zitaten beziehen sich auf die >Hamburger AusgabecorpusSchriften aus der Gymnasialzeit< wie auch im Hinblick auf die Beeinflussung und Prägung Büchners durch die Bildungsmacht Rhetorik zahlreiche neue Ergebnisse erbracht hat. Niedergelegt sind diese Forschungsergebnisse in meiner 1975 erschienenen kleinen Vorstudie über Georg Büchner und die Schulrhetorik15 sowie in meiner 1980 vorgelegten Trierer Habilitationsschrift Die schriftstellerischen Anfange Georg Büchners unter dem Einfluß der Schulrhetorik. Beim zweiten, >Schulrhetorik und Schulberedsamkeit< überschriebenen Kapitel (S. 21-253) der zuletzt genannten Abhandlung handelt es sich um eine zum größten Teil neuformulierte, um weit mehr als das Doppelte erweiterte, vielfach verbesserte und ergänzte Neufassung meiner Voruntersuchung aus dem Jahr 1975. Gegenüber den früheren Vorstudien, die von Anfang an lediglich als Prolegomena gedacht waren, weist die Neubearbeitung nicht nur einige neue Abschnitte auf, sondern auch viele neue Erkenntnisse, Ergebnisse und Thesen, so daß erst mit der im zweiten Kapitel meiner Habilitationsschrift vorgelegten Neufassung der Themenkomplex >Büchner und die Schulrhetorikparadigmatischer< Thesen und Theorien grundsätzlich ausschlössen: Thomas Michael Mayer hat kürzlich gezeigt, daß sich beides sehr wohl vereinbaren läßt; vgl. Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 5). 14 Zu solchen Ansätzen rechne ich: Ruckhäberle (s. Anm. ); Schaub 1975; HL (s. Anm. 6); Heinrich Anz: »Leiden sei all mein Gewinnst*. Zur Aufnahme und Kritik christlicher Leidenstheologie bei Georg Büchner. - In: Text & Kontext 4 (1976), Heft 3, S. 57-72 (vgl. jetzt auch GBJb 1/1981, S. 160-168); Hartmut Dedert, Hubert Gersch, Stephan Oswald und Reinhard F. Spieß: J.-F. Oberlin: Herr L... %dition des bisher unveröffentlichten Manuskripts. Ein Beitrag zur Lenz- und Büchner-Forschung. - In: Revue des langues vivantes XLII (1976), S. 357-385; Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 5); Thomas Michael Mayer: Georg Büchner. Eine kurze Chronik zu Leben und Werk. - In: OB / , S. 357-425; zitiert als: Mayer: Chronik. - Zu einer ähnlichen Einschätzung vgl. Mayer: Tendenzen, S. 327, 353. 15 Vgl. Schaub 1975 (s. Anm. 6).

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Weidigs), wie sie sich in der Flugschrift Der Hessische Landbote niedergeschlagen hat, gewidmet ist. Abgesehen von Überlegungen und Bemerkungen zur besonderen Angemessenheit der rhetorischen Analysemethode, zum Distributionsapparat, der den Verfassern der Flugschrift zur Verfügung stand, zur Adressatengruppe, zum Zweck und Ziel sowie zur beabsichtigten und tatsächlichen Wirkung des Hessischen Landboten, besteht das dritte Kapitel im wesentlichen aus detaillierten rhetorischen Analysen des Flugschrifttextes in den Bereichen der Invention, Disposition, Elokution sowie der Aktion und Pronuntiation. Im Verlauf der einzelnen, sich am rhetorischen Textherstellungsmodell orientierenden Analyseschritte zeigt sich immer wieder, daß es, wenn man die »formalen Wirkursachen von Textappellen«16 aufspüren .will, keine geeignetere und aufschlußreichere Analysemethode als die rhetorische gibt. Durch die Analysen wird weiterhin erstmals der Nachweis erbracht, daß der Hessische Landbote eine eminent rhetorische Struktur aufweist, d. h. daß er ein durch und durch rhetorisierter, persuasiver, eine Vielzahl und Vielfalt von rhetorischen Wirkmitteln einsetzender Text ist, der sich in allen Bereichen der Sprach-, Stil- und Textgestaltung durch ein hohes Maß an Wirkungs-, Situations- und Adressatenbezogenheit auszeichnet. Die nachweislich insgesamt positive Wirkung des Hessischen Landboten auf sein Erstpublikum, die mit der von seinen Verfassern intendierten Wirkung weitgehend übereinstimmt, ist Indiz genug dafür, daß Büchner und Weidig im Hinblick auf die angesprochenen Adressaten und den angestrebten Zweck die geeigneten und angemessenen rhetorischen Mittel angewendet haben. Vor der Folie von Büchners Schulberedsamkeit, wie sie sich in den Gymnasialschriften manifestiert, ist die im Hessischen Landboten praktizierte politische Beredsamkeit folgendermaßen zu charakterisieren und qualifizieren: Wenn auch der politische Agitator und rhetorische Flugschriftsteller Büchner ohne den Rhetorikschüler, der über mehrere Jahre eine intensive rhetorische Schulausbildung genossen hat, kaum zu denken ist, so ist doch im Hessischen Landboten wenig von jenem »eiteln Wortprunk« zu spüren, den der Jungdeutsche Theodor Mundt an der »patriotischen Prosa« der Redner des Hambacher Festes kritisierte und der nach seiner Meinung »bei vielen jugendlichen Rednern« der Hambacher Massenversammlung »noch stark nach der vielleicht kürzlich erst verlassenen Schulstube roch«17. Bei seinem ersten und einzigen Versuch in politischer Beredsamkeit und Publizistik verrät Büchner, der sich in der Flugschrift über manche schulrhetorische Regel aus übergeordnete Heinrich F. Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse. 2., durchgesehene Aufl. - Hamburg 1973, S. 6; zitiert als: Plett. 17 Theodor Mundt: Die Einheit Deutschlands in politischer und ideeller Entwickelung. - Leipzig 1832, S. 17 (Faksimiledruck: Frankfurt a. M. 1973).

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ten rhetorischen Erwägungen hinwegsetzt, eine erstaunliche Selbständigkeit, Souveränität und Meisterschaft. Es ist Büchner (und Weidig) gelungen, die in der Schule gelernte und praktizierte Rhetorik nicht etwa zu vergessen, sondern für eine politische Flugschrift nutzbar zu machen, Schulberedsamkeit in politische Beredsamkeit zu transformieren. Allerdings ist dabei nicht zu übersehen, daß er bereits in der Schule mancherlei nützliche Vorübungen für die später praktizierte politische und poetische Beredsamkeit treiben konnte.18 Der Hessische Landbote weist jene Art von Beredsamkeit auf, um die sich viele für das >einfache Volk< schreibende Zeitgenossen Büchners vergebens bemüht haben: einen im guten, nicht herablassenden Sinne >populären< Ton19 oder anders ausgedrückt: >Volksberedsamkeitdemagogischer< Beredsamkeit wenn überhaupt, so lediglich in der Schulzeit22 ein wenig geübten - Studenten Büchner und Mitverfasser des Hessischen Landboten schwerlich gezollt werden. Durch die von mir vorgelegten rhetorischen Analysen der Schulberedsamkeit und der politischen Beredsamkeit Büchners ist jetzt in der Büchner-Forschung ein Fundament geschaffen, auf dem solide weiterbauen kann, wer sich mit einer weiteren wichtigen Erscheinungsform der Büchnersehen Beredsamkeit auseinandersetzen will: mit seiner - im en18 Vgl. hierzu den gegenüber der Vorstudie von 1975 neu hinzugekommenen Abschnitt 7 des II. Kapitels (»Rhetorische Vorübungen«) meiner Habilitationsschrift (S. 61-91). 19 Welche Flugschriften der Vormärzzeit außer dem Hessischen Landboten von den Untersuchungsbehörden als in »populärem« Ton abgefaßt betrachtet wurden, hat Ruckhäberle (s. Anm. 6), S. 144, zusammengestellt. 20 Den Terminus >Volksberedsamkeit< hat wohl zum ersten Mal Anna Siemsen: Literarische Streijzüge durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft. - Frankfurt a. M./Bielefeld/Mainz 1948 (1. Ausgabe 1924), S. 169, in bezug auf Büchner verwendet, dessen Hessischen Landboten sie als »Muster wahrhafter Volksberedsamkeit« bezeichnet. Der Begriff >Volksberedsamkeit< taucht nach dem DWb (12. Bd., II. Abt., Sp. 474) bereits Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts auf: in Karl Friedrich Beckers Weltgeschichte Jür Kinder und Kinderlehrer. - Berlin 1801/05. In Heinrich Hoffmanns satirischem, unter dem Pseudonym Peter Struwwel veröffentlichtem Handbiichleinßir Wühler oder kurzgefaßte Anleitung in wenigen Tagen ein Volksmann zu werden (Leipzig 1848, S. 18; Reprint: Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1972) wird der Begriff bereits mit großer Selbstverständlichkeit benutzt, so daß man annehmen kann, daß er schon in der Büchner-Zeit recht geläufig war. 21 Schreiben der Bundes-Zentralbehörde in Frankfurt an das Landgericht Marburg; zitiert nach: Hermann Bräuning-Oktavio: Georg Büchner. Gedanken über Leben, Werk und Tod. - Bonn 1976 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 207), S. 25. 22 Vgl. hierzu den Abschnitt 11. D. des II. Kapitels (Büchners nicht erhaltene »Redeyes Menenius Agrippa an das römische Volk auf dem heiligen Berge«) meiner Habilitationsschrift (S. 173-182, bes. S. 175ff.).

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geren Sinne - literarischen bzw. poetischen Beredsamkeit, wie sie sich in seinen Theaterstücken und in seiner Erzählung zeigt. Erst die jetzt geleistete Grundlagenarbeit hinsichtlich der starken Beeinflussung Büchners durch die Rhetoriktradition und der intensiven Rhetorisierung seines nicht-fiktionalen >Frühwerks< ermöglicht es, nunmehr das Gesamtwerk des Autors auf rhetorisch-stilistische Kontinuitäten hin zu befragen wie auch die weitere Entwicklung, Modifikation und Transformation der Büchnerschen Rhetorik von gesichertem Terrain aus zu untersuchen. Der Unterteilung des schriftstellerischen Werks von Büchner in Schulberedsamkeit, politische und poetische Beredsamkeit - als weitere >gattungsfatalistischenecole fataliste< abhängigen Geschichtsauffassung zusammenzuhängen, wie er sie im viel und kontrovers diskutierten Fatalismus-Brief26, der nach Lehmanns Datierung »nach dem 10. März 1834« geschrieben worden ist, erstmals explizit for23 Fritz Heyn: Die Sprache Georg Büchners. - Marburg, Phil. Diss. 1955 (Masch.), S. 7, zitiert als: Heyn. 24 Die >idealtypische< Unterscheidung in »poetische« und »rhetorische Dichter« hat Adam Müller in seinen Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland vom Frühjahr 1812 vorgenommen (vgl. die 5. Rede: »Vom guten Geschmack«). 25 Friedrich Sengle: Zum Problem der Heinewertung. Ein Vortrag. - In: Geist und Zeichen. Festschrijtßir Arthur Henkel zu seinem sechzigsten Geburtstag dargebracht von Freunden und Schulern und hrsg. von Herbert Anton u.a. - Heidelberg 1977, S. 380, Anm. 3. 26 Vgl. HA II, S. 425 f. - Zu diesem wohl meist zitierten Brief in der Büchner-Forschung sowie zur Abhängigkeit der in ihm vertretenen Geschichtsauffassung von der französischen »ocole fatalister vgl. Jancke, S. 125-135; Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 5), S. 86-97; Mayer: Chronik (s. Anm. 14), S. 372, 374.

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muliert hat. Wenn Büchner in diesem Brief vom »gräßlichen Fatalismus der Geschichte« spricht, wenn darin für ihn der »Einzelne nur Schaum auf der Welle« ist und wenn es ihm nun »nicht mehr« - wie dies früher offenbar der Fall war - in den Sinn kommt, sich »vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte [...] zu bücken«27, kurz: wenn er nicht mehr, wie einst als Schüler und wohl noch zu Beginn der Studentenzeit, an die geschichtsbestimmende, weltverändernde Rolle großer »Männer«28 glaubt, wenn er nicht mehr an die Veränderbarkeit der politischen und sozialen Verhältnisse durch den »Einzelnen«, nicht mehr an die Einwirkungsmöglichkeiten angeblich großer Geschichtsheroen auf den Gang der Geschichte, sondern an den »Fatalismus«, die Notwendigkeit, die necessite der Geschichte, an »ein ehernes Gesetz«29 glaubt, dann dürfte er spätestens mit der Preisgabe früherer geschichtsphilosophischer Positionen und der Aufgabe seines idealistischen Freiheitspathos zugleich auch den Glauben an die weltbewegende Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes verloren oder doch stark in Zweifel gezogen haben, einen Glauben, von dem alle Rhetorik als Bedingung ihrer Möglichkeit lebt und von dem Büchner sicher nicht nur als Schüler, sondern auch noch als Student eine Zeitlang durchdrungen gewesen ist. Wie lange sich der Student den Glauben an die Macht des Wortes bewahrte, läßt sich nicht genau eruieren. Wahrscheinlich jedoch nicht einmal bis zu seinem desillusionierenden Studium der Geschichte der Französischen Revolution Anfang 1834, d. h. bis etwa zur Abfassung des Fatalismus-Briefes, heißt es doch schon im Straßburger Brief an die Familie vom Juni 1833: »Ich werde zwar immer meinen Grundsätzen gemäß handeln, habe aber in neuerer Zeit gelernt, daß nur das nothwendige Bedürfniß der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Thorenwerk ist. Sie schreiben, man liest sie nicht; sie schreien, man hört sie nicht; sie handeln, man hilft ihnen nicht.«30

Im Hinblick auf den politischen Publizisten und Agitator bleibt also festzuhalten: Büchner hatte den Glauben an die Veränderbarkeit der Verhältnisse durch Wort oder Schrift »der Einzelnen« bereits aufgegeben, bevor er den Hessischen Landboten schrieb. Der Hessische Landbote also doch - mit Lehmann zu reden - auch unter rhetorischem Aspekt betrachtet: »nichts weiter als eine heroisch-glaubenslose Anstrengung, der Versuch einer kritischen Selbstverleugnung«, »bereits geschrieben mit einem gebrochenen Bewußtsein«?31 Wohl kaum. Denn Büchner wußte 27 28 29 30 31

HA II, S. 425 f. Vgl. HA II, S. 7f., 25 f. HA , S. 425/37. HA II, S. 418/24-29. Werner R. Lehmann: Prolegomena zu einer historisch-kritischen Büchner-Ausgabe. - In: Gratulatio. Festschrift Jür Christian Wegner zum 70. Geburtstag am 9. September 1963. - Hamburg 1963, S. 210. - Das Lehmann-Zitat weist einleitend eine nicht zu unterschlagende Einschränkung auf: »Von der geistigen

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genau, daß man mit einer Flugschrift nicht die Verhältnisse, sondern allenfalls das Bewußtsein der für eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse zu gewinnenden Flugschriftempfanger ändern kann. Es ist demnach kein Widerspruch darin zu sehen, daß Büchner eine Flugschrift verfaßte, also mit Worten zu wirken versuchte, ohne von der unmittelbaren Wirksamkeit seiner Worte auf die Wirklichkeit überzeugt zu sein. Büchner hat im Hessischen Landboten alles getan, um mit rhetorischen Mitteln, d. h. mit dem Einsatz all seiner Beredsamkeit, im Sinne seiner Sozialrevolutionären Vorstellungen auf das Bewußtsein der angesprochenen Adressaten einzuwirken, auf eine Bewußtseinsänderung bei den Rezipienten hinzuwirken, aber er gab sich nicht der Illusion hin, daß man mit Beredsamkeit und noch so revolutionärer Rhetorik unmittelbar verändernd in die Wirklichkeit eingreifen könne. Büchner also - dies das auf eine vereinfachende Formel gebrachte, sowohl für den Agitator wie für den Dichter geltende Fazit - ein Rhetor ohne den Glauben des >Vollblutredners< an die weltbewegende, wirklichkeitsverändernde Macht und Kraft des Wortes, ein Rhetor jedoch mit dem Glauben an die gemüterregende, affektbewegende, bewußtseinbeeinflussende Macht der dem Menschen gegebenen Beredsamkeit. Was nun Büchners poetische Beredsamkeit, seine dichterische Eloquenz angeht, so gibt es zu diesem Themenbereich bisher noch keine einschlägigen Untersuchungen in Form einer Monographie.32 Wenn auch meine bisherigen Studien zur schulischen und politischen Beredsamkeit Büchners diesem Mangel nicht abhelfen können, so stellen sie doch nicht nur aus chronologischen Gründen die Basis für künftige Analysen des dichterischen Werks von Büchner sub specie rhetoricae dar. In Anbetracht dieser Forschungssituation scheint es mir geboten, aus meiner Perspektive als Ausblick auf Forschungsdesiderate und -defizite zu Büchner als poeta rhetor einen offenen, d. h. vorläufigen, kritik- und Entwicklung Büchners her gesehen, ist >Der Hessische LandboteRhetorik< oder >rhetorisch< im Titel, weder Monographien noch Aufsätze. Die einzige Büchner-Monographie, die ein >Rhetorik< überschriebenes Kapitel aufweist, ist Helmut Krapps Buch: Der Dialog bei Georg Büchner.München 1958 (= Literatur als Kunst), S. 29-44. Krapp unterscheidet und untersucht in diesem Kapitel ausschließlich anhand des Dramas Dantons Torf- drei Formen des rhetorischen Dialogs: den »programmatischen« und den »polemischen Dialog« sowie die »logische Deduktion«. Ansonsten finden sich in Büchner-Monographien zumeist nur beiläufige und punktuelle Bemerkungen und Beobachtungen zu rhetorischen Phänomenen in den poetischen Texten Büchners; vgl. etwa Wittkowski (s. Anm. 5), S. 163 ff.; Gerhart Baumann: Georg Bächner. Die dramatische Ausdrucks welt. -Göttingen 1961, S. 12,16 f., 54f., 80ff.; Heyn (s. Anm. 23), S. 7-9 und öfter (die leider ungedruckt gebliebene Dissertation von Heyn ist eine noch immer lesenswerte Untersuchung zur Sprache Büchners mit zahlreichen Hinweisen zur rhetorischen Sprach- und Stilgestaltung). - Einschlägig hinsichtlich der poetischen Beredsamkeit Büchners in Aufsatzform ist lediglich der für die Belange des Deutschunterrichts gedachte Aufsatz über den stilus demagogicus von Reinhard Röche (in: Wirkendes Wort\4 [1964], S. 244-254), fax »Beobachtungen« nur »an Robespierres Rede im Jakobinerklub« (so der Untertitel des Aufsatzes) macht, Beobachtungen, die nicht sehr ergiebig, sondern in mehrfacher Hinsicht problematisch und korrekturbedürftig sind (leichtfertige Identifizierung Büchners mit Danton; durchgängige, undifferenzierte Paralleüsierung de$ politischen Sprachstils Robespierres und der Sprache des Dritten Reichs; problematisches Rhetorikverständnis Roches, der Robespierres Rhetorik vorwirft, rhetorisch, d. h. persuasiv, manipulativ, demagogisch zu sein).

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ergänzungsbedürftigen Katalog von Frage-, Themen- und Problemstellungen vorzulegen, die mir im Hinblick auf die rhetorische Analyse der fiktionalen Werke Büchners, auf sein Verhältnis zur und seine Auseinandersetzung mit der Rhetorik sowie auf die Entwicklung und Transformation seiner Beredsamkeit von Belang erscheinen. Mit dem Plädoyer für eine Betrachtung des Büchnerschen Werkes unter rhetorischem Aspekt soll und kann freilich nicht der Anspruch erhoben werden, daß dieser Aspekt etwa der dem poetischen (Euvre allein oder am meisten angemessene sei, wenn ich auch der Auffassung bin, daß für das nicht-fiktionale >Frühwerk< einschließlich des Hessischen Landboten die rhetorische Analysemethode die geeignetste und adäquateste, jedenfalls die aufschlußreichsten Einblicke in die Struktur der Texte ermöglichende Untersuchungsmethode ist. Daß man dagegen die dichterischen Texte Büchners nicht so einseitig und ausschließlich wie die nicht-dichterischen unter rhetorischen Aspekten analysieren darf, liegt darin begründet, daß in poetischen Gebilden anders als in expositorischen Texten in der Regel ein hohes Maß an Mehrschichtigkeit, Mehrdeutigkeit, >VerschiedenverstehbarkeitPolyfunktionalitätRhetorik des DramasRhetorik des Dramas< liefern, wären in Dantons Tod vordringlich zu beschreiben und zu analysieren: Rhetorische Persuasions-Strategien und Argumentations-Strukturen, z. B. die auf den Redegegenstand bezogene43 Logos-, die sprecherbezogene Ethos- und die hörerbezogene Pathos-Strategie (die Logos-Strategie dominiert im Dialog zwischen Herault und Camille in der Szene 1,1 sowie in Paynes Atheismus->Beweis< in der Szene 111,1; die Ethos-Strategie setzt Danton in seiner ersten Rede vor dem Revolutionstribunal in der Szene 111,4 ein, in der freilich auch Elemente der PathosStrategie vorkommen, die in Dantons zweiter Rede vor dem Revolutionstribunal in der Szene 111,9 vorherrscht; St. Just macht in seiner Rede im Nationalkonvent [11,7] abwechselnd Gebrauch von der Logos-, Ethos- und Pathos-Strategie). - Die 44 im dramatischen Dialog beliebte Insinuationstechnik , die man gut an der Szene 45 111,10 exemplifizieren könnte. - Die Dialogführung , die man deshalb als rhetorisch charakterisieren kann, weil »zwischen dem rhetorischen Sprechen und der klassischen Form des dialogischen Sprechens im Drama [...] eine Affinität der Intention« besteht: »beide wollen >das situationsverändernde Einwirken durch Worte«*46; das Verhältnis von Replik und Vorrede der Dialogpartner (in Dantons Tod wie auch in Leonce und Lena erfolgt die Dialoganknüpfung häufig durch die rhetorischen Figuren der reflexio und distinctio); argumentative, >dialogische< Monologe47 (die Monologe48 Robespierres und Dantons in den Szenen 1,6 und 11,4), >monologische< Dialoge (vor allem Szene IV,5); in einem Kapitel über die >Rhetorik des Dialogs< wäre die Frage zu erörtern, ob es sich bei Dantons Tod nicht eher um eine Dialogisierung als um eine Dramatisierung eines historischen Stoffes handelt, von dem schon Gutzkow bemerkte, er sei »undramatisch«, wie ja überhaupt »in Büchners Drama mehr Leben als Handlung« herrsche, ja Büchner gebe »statt eines Dramas, statt einer Handlung, die sich entwickelt, die anschwillt und fallt, das letzte Zucken und Röcheln, welches dem Tode vorausgeht.«49 Zur Stützung einer solchen These wäre darauf hinzuweisen, daß sich Büchner als Rhetorikschüler häufig im Dialogisieren und Monologisieren493, nicht aber im Dramatisieren üben konnte. -

42 Eine eingehende Behandlung des Verhältnisses von Tragödie und Rhetorik hat vorgelegt: Charles Osborne McDonald: The Rhetoric of Tragedy. Form in Stuart Drama. - Amherst: The University of Massachusetts Press 1966. 43 Zur Unterscheidung dieser drei am rhetorischen Modell gewonnenen »Grundstrategien«, die »auch zur Analyse dramatischer Dialogrede verwendet werden können«, vgl. Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. - München 1977 (= UTB 580), S. 213-215; zitiert als: Pfister. 44 Zu dieser Technik vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 2., durch einen Nachtrag vermehrte Aufl. - München 1973, S. 160f., § 281; zitiert als: Lausberg. 45 Zur Analyse der Dialogführung unter rhetorischem Aspekt vgl. Pfister (s. Anm. 43), S. 212 ff.; Walter H. Sokel: Dialogführung und Dialog im expressionistischen Drama. - In: Aspekte des Expressionismus. Hrsg. von Wolfgang Paulsen. - Heidelberg 1968 (= Poesie und Wissenschaft VIII), S. 59-84; K. L. Berghahn: Formen der Dialogführung in Schillers klassischen Dramen. Ein Beitrag zur Poetik des Dramas. - München 1970; Franz Günter Sieveke: Die Dialogführung im >Acolastus< des Gnaphaeus. - In: Acta Conventus NeoLatini Lovaniensis. Ed. by J. Ijsewijn and E. Keßler. - München 1973, S. 595-601. 46 Pfister (s. Anm. 43), S. 212. Pfister zitiert hier R. L. Berghahn (s. Anm. 45), S. 56. 47 Zur »Dialogisierung des Monologs« vgl. Pfister (s. Anm. 43), S. 184f. Zum »monologischen Scheingespräch« bzw. zum »dialogischen Monolog« in Büchners Leonce und Lena vgl. Jürgen Schröder: Georg Büchners >Leonce und LenaRhetorik-Kritik< zu erfassen ist Die Forcierung des Pathos der Französischen Revolution bzw. der französischen Revolutionäre; die Differenzen zwischen den öffentlichen und privaten Reden61 (letztere sind durch weitgehenden Verzicht auf revolutionäres Pathos gekennzeichnet; wenn sich Robespierre in seinem ersten Monolog an das »Argumentenarsenal der Revolutionsrhetorik« klammert, so sucht er vergebens »Halt bei einer Art Über-Ich«, so ist dies lediglich ein untauglicher Versuch, »die gestörte Identität durch ein Objektives zu stabilisieren«62); Julies Kritik an der »Todesrhetorik«, an der Eloquenz des Lebensekels; Simons Persiflage der Phraseologie des klassischen Republikanismus; Dantons Einsicht, den Geschichtsablauf nicht beeinflussen, sondern nur palavernd kommentieren zu können, seine Einsicht in die Vergeblichkeit allen Bemühens um verbale Weltbewältigung: all diese Momente einer Relativierung, Kritik, Negierung und Parodie rhetorischen Sprechens lassen sich als Ausdruck einer das ganze Drama durchziehenden Rhetorik-Kritik verstehen, einer möglicherweise binnenrhetorischen Kritik an einer verbrauchten, leerlaufenden, ihre sprachlichen Machtmittel überschätzenden Beredsamkeit Rhetorik-Kritik und schwelgende, exzessive Beredsamkeit scheinen in Dantons Tod zwei Seiten einer Medaille zu sein. Gerade aufgrund der Wortmächtigkeit und Wortseligkeit seiner männlichen Akteure ließe sich das Drama auch als rhetorikkritisches Sprach-Stück lesen, das dem Zweifel an der Rhetorik seiner Gestalten, d. h. der Sprachkritik immer wieder vor allem durch die weiblichen Dramenfiguren Ausdruck gibt Es scheint, als habe Büchner durch die Frauenfiguren (Lucile, Julie, Marion) der hohlen, unmenschlichen und letztlich ohnmächtigen öffentlichen Beredsamkeit der französischen Revolutionäre, von denen freilich einige (Danton, Mercier, Herault) die Phrasenhaftigkeit dieser Rhetorik durchschauen, bewußt eine neue, auf den privaten Bereich beschränkte, schlichte Beredsamkeit des Herzens und des Gefühls entgegengesetzt, eine Beredsamkeit, die auch 60 Zu den von der Forschung zu Unrecht vernachlässigten Hugo-Übersetzungen Büchners vgl. N. A. Furness: Georg Büchner's Translations of Victor Hugo. - In: The Modern Language Review 51 (1956), S. 4954; Gerda E. Bell: Traduttore-traditore? Some Remarks on Georg Büchner's Victor Hugo Translations. In: Monatshefte 63 (1971), S. 19-27 sowie die anläßlich der Aufführung der Hugo-Stücke in Büchners Übersetzung verfaßten Zeitungsartikel von Georg Hensel, in: Darmstädter Echo, 9. November 1974, S. 29; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Februar 1977; Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 42,19. Februar 1977 (Beilage). 61 Zum »Konflikt zwischen öffentlicher und privater Rede in Büchners Dramen« vgl. Ueding (s. Anm. 50), S. 57-59. 62 Eibl (s. Anm. 40), S. 417. 182

spätere literarische Gestellten Büchners (Lena, Lenz und Woyzeck) auszeichnet. Die Entwicklung der literarischen Rhetorik Büchners von Dantons Tod bis zum Woyzeck ließe sich, ausgehend von seiner sozialpolitisch und sozialethisch begründeten Kritik an der Sprache und Beredsamkeit der Intellektuellen und »Vornehmen«, als Suche nach einer neuen, unpathetischen, >ethischenBiedermeierzeit< - und dies gilt auf besondere Weise für Büchner - der Theaterdichter »so gut wie der Publizist zunächst als Zeitschriftsteller und nur ausnahmsweise als potentieller Klassiker« fühlt. »Er produziert nicht Dramen, sondern Theaterstücke.«64 Büchner, der »nur dann zur Feder« griff, »wenn es ihm aus nicht spezifisch literarischen Gründen lebenswichtig«65 wurde, wollte gerade auch als >Stückeschreiber< wirken, er wollte aufgeführt werden, und er ist auch nicht »aus Mangel an Fluchtgeld Dramatiker geworden.«66 Büchner wurde Dramatiker, weil es vom Agitator und rhetorischen Schriftsteller zum dramatischen Dichter kein weiter Weg ist, weil der poeta rhetor in ihm im Stückeschreiben die besten literarischen Wirkungsmöglichkeiten sah: »Mein Danton ist vorläufig ein seidenes Schnürchen und meine Muse ein verkleideter Samson.«67

Lenz Ausgehend von der These, daß Büchner auch als Erzähler vor allem »rhetorischer Dichter« ist, wäre die Erzählung Lenz (1835/36) unter den rhetorischen Aspekten der Wirkung, der Beeinflussung, der Affekterregung zu untersuchen. Dabei wäre zu diskutieren, ob der Lenz im Zusammenhang mit der folgenden programmatischen Aufforderung Gutzkows an Büchner zu interpretieren ist: »Treiben Sie wie ich den Schmuggelhandel der Freiheit: Wein verhüllt in Novellenstroh, nichts in seinem natürlichen Gewände«68. Wie es bei den Dramen um die Erarbeitung von 63 Brief Büchners an August Stöber vom 9. Dezember 1833 (HA II, S. 421/36f.). 64 Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. II. - Stuttgart 1972, S. 61, Anm. 65 Luciano Zagari: Georg Büchners Theater zwischen Tradition und Antitradition, - In: Tradition und Ursprünglichkeit. Akten des III. Internationalen Germanistenkongresses 1965 in Amsterdam. Hrsg. von Werner Kohlschmidt und Herman Meyer. - Bern und München 1966, S. 184. 66 Mayer: Chronik (s. Anm. 14), S. 394. - Mayer hat nachgewiesen, daß Büchner das Geld für seine Flucht (»Zwanzig Gulden«) von dem Butzbacher Weidig-Schüler Carl Braubach erhalten hat. 67 Brief Büchners an Karl Gutzkow vom März 1835 (HA II, S. 437/1 f.). 68 Brief Gutzkows an Büchner vom 17. März 1835 (HA II, S. 476/35-37).

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Ansätzen zu einer >Rhetorik des Dramas< gehen müßte, so bei der Analyse des Lenz um die Bereitstellung von Bausteinen zu einer >Rhetorik der Erzählung< bzw. des Erzählens69. Die rhetorische Analyse der Le/zz-Erzählung könnte unter der Leitfrage stehen, ob Büchners einziger narrativer Text als ein frühes Beispiel für die raffinierte, subtile Rhetorik der modernen Erzählkunst anzusehen ist. Unter Einbeziehung von Theoremen der Rezeptionsästhetik müßte dabei die Erzählkunst des Lenz vor allem unter dem rhetorischen Aspekt der Leserlenkung, d. h. als Kunst der persuasiven Kommunikation mit dem Leser betrachtet werden. In einer Untersuchung der Rhetorik der Erzählung Lenz wären daher vornehmlich die rhetorischen und erzählerischen Mittel zu analysieren, mit deren Hilfe der Erzähler bzw. die Erzählfigur im Lenz den Leser zu lenken und zu beeinflussen versucht. Konkreter formuliert: Es wären vor allem die >erzählrhetorischen< Mittel und Techniken zu untersuchen, die eingesetzt werden, um die Anteilnahme des Lesers am Erzählten zu wecken, um insbesondere Sympathien für die Titel-Gestalt der Erzählung zu erregen, für deren historisches Vorbild Büchner offenbar eine gewisse Affinität empfand. Näher analysiert werden müßten in diesem Zusammenhang vor allen Dingen: der Übergang von der auktorialen zur personalen Erzählsituation70, die im Lenz trotz des auktorialen Erzählers dominiert; das Phänomen der >erlebten RedeRhetorik der Erzählkunst< ist das Standardwerk von Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. - Chicago 1961; Übersetzung ins Deutsche: Wayne C. Booth: Die Rhetorik der Erzählkunst i und 2. Übersetzt von Alexander Polzin. - Heidelberg 1974 (= UTB 384 u. 385). - Zur >Rhetorik der Erzählungs zur >Erzählstrategie< sowie zur rhetorischen Analyse von Erzählwerken vgl. weiterhin: Klaus Kanzog: Erzählstrategie. Eine Entführung in die Normeinübung des Erzählens. - Heidelberg 1976 (= UTB 495), bes. S. 104 ff., zitiert als: Kanzog; M.-J. Lefebre: Rhetorique du recit. - In: Poetics 2 (1971), S. 119-134; Hubert Fritz: Die Erzählweise in den Romanen Charles Sealsfields undJeremias Gotthetfs, Zur Rhetoriktradition im Biedermeier. - Bern/Frankfurt a. M. 1976 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I, Bd. 151); Ramon Saldivar: Reading and Rhetoric. Studies in the Interpretation of Modern Narrative. Phil. Diss. Yale University 1976. 70 Vgl. hierzu Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. - Göttingen 1979 (= UTB 904), S. 254-256; zitiert als: Stanzel. 71 Zur erlebten Rede »als Übergang von auktorialer zu personaler Erzählsituation« vgl. Stanzel (s. Anm. 70), S. 246ff. 72 Vgl. Stanzel (s. Anm. 70), S. 168-188. 73 Zu diesen beiden »Grundformen« des Erzählens vgl. Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans. — Göttingen 1964 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 187), S. 11-17. 74 Zum Kontrastprinzip, d. h. zur »oppositiven Anordnung der Figuren«, vgl. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans vonBunyan bis Beckett. - München 1972 (= UTB 163), S. 82 ff.; Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. - München 1976 (= UTB 636), S. 127f. 75 Kanzog (s. Anm. 69), S. 191. Zu Büchners Lenz vgl. Kanzog, S. 181-193.

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hältnis des Autors zum Erzählgegenstand ausdrücken können, so bieten diese Darstellungsformen andererseits auch die Möglichkeit, den intendierten Lesertypus der Erzählung Lenz zu erfassen: »durch indirekte Erschließung des einer bestimmten Darbietungsform komplementären Lesertypus aus eben dieser Darbietungsform«76. Als intendierter Lesertypus des Lenz käme ein an der >Nachtseite< der menschlichen Natur interessierter, medizinisch und sozialpsychologisch aufgeschlossener Leser in Frage, der nach der im Lenz vertretenen Runstanschauung bei aller Distanziertheit der Betrachtungsweise der menschlichen Anteilnahme fähig sein, der die »Gefühlsader«77 in sich schlagen spüren muß. Mit Begriffen der Rhetorik ausgedrückt, ließe sich die von Lenz formulierte und von dessen Autor weitgehend geteilte78 Ästhetik79 als deutliche Hinwendung zum >Ethosethischen< Darstellungsweise und Stilhaltung, welche die eigentlich >pathetische< Schmerz- und Leiddarstellung miteinzuschließen scheint. In diesem Zusammenhang wäre zu prüfen, ob der Leiddarstellung80 wie überhaupt der Darstellung menschlicher Extremsituationen im Lenz eine neue, unterkühlte, unpathetische Stühaltung korrespondiert, ob Büchner bereits jenes von der modernen Literatur des 20. Jahrhunderts her bekannte »Gesetz vom antithetischen Verhältnis zwischen Sujet und Diktion«81 befolgt. Angesichts der in der Forschung konstatierten stilistischen Inkommensurabilität des Lenz dürfte der Nachweis, daß die Erzählung durch verschiedene Stillagen gekennzeichnet, daß sie dem in der >Biedermeierzeit< gültigen rhetorischen Ideal der >VieltönigkeitAußenseiterSchilderung< nicht: Charakter>BeschreibungSchilderung< ein (durch subjektive Beteiligung des Autors) belebterer >modus< der >descriptioSchilderungSchilderung< gemein hat.

Leonce und Lena Aus Anlaß eines Preisausschreibens der Cotta'schen Buchhandlung »für das beste ein- oder zweiaktige Lustspiel in Prosa oder Versen«88 entstanden, scheint die Komödie Leonce und Lena (1836) auf den ersten Blick 83 Vgl. hierzu meine Habilitationsschrift, Kapitel II.7 (>Rhetorische Vorübungen«), bes. S. 67-69. 84 Vgl. Lausberg (s. Anm. 44), S. 554, S l112. - Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. 4. Aufl. - Stuttgart 1970, S. 39, unterscheidet als extreme Formen der Erzählung die »Episodenerzählung« und die »mehrgleisige Erzählung«. Auch der von Lämmert (S. 42) benutzte Begriff »Krisengeschichte« ist auf den Lenz anwendbar. 85 Vgl. Lausberg (s. Anm. 44), S. 171-174, § 300-307. 86 Vgl. Lausberg (s. Anm. 44), S. 167, § 292. 87 Lausberg (s. Anm. 44), S. 974, § 1318 (Zu Seite 544). - Zur »Distribution von gegenstandsgetreuer Beschreibung und eher subjektiver Schilderung« vgl. Bernhard Asmuth: Die Entwicklung des deutschen Schulaußatzes aus der Rhetorik. - In: Heinrich F. Plett (Hrsg.): Rhetorik. Kritische Positionen zum Stand der Forschung. - München 1977 (= Kritische Information 50), S. 287-289 sowie Bernhard Asmuth: Schilderung. Zur literarischen und schulischen Geschichte eines malerisch-qffektiven Textbegriffs. - In: Erzählforschung 3. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik. Hrsg. von Wolf gang Haubrichs. - Göttingen 1978 (= Zeitschrift Jür Literaturwissenschaft und Linguistik, Beiheft 8), S. 310ff., 317ff., 324f. 88 Abdruck der »Preisaufgabe« im »Intelligenz-Blatt Nr. 3< (vom 3. Februar 1836) zum Morgenblatt für gebil-

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die Ausnahme von der Regel zu sein, daß Büchner nur dann schrieb, wenn er sich aus nicht spezifisch literarischen Beweggründen dazu veranlaßt sah.89 Doch der Anlaß ist eines, ein anderes ist das Resultat. Jedenfalls hat Jürgen Schröder überzeugend nachgewiesen, daß das Lustspiel, dessen Einordnung in das Gesamtwerk der Forschung noch immer Kopfzerbrechen bereitet90, »als ungeschmälerte dichterische Aussage«, als »eine unverkennbare Schöpfung Büchners«91 anzusehen ist. Ein noch größeres Hindernis für eine angemessene Beurteilung der Komödie als ihr Anlaß war und ist die Vielzahl ihrer literarischen Quellen. Hat man die >Abhängigkeit< Büchners von einer Vielzahl von Vorlagen zumeist moniert, so dreht Schröder den Spieß der Kritik herum, indem er konstatiert: »Gerade die Vielzahl seiner uterarischen Quellen ist das Hauptmerkmal der Eigenständigkeit des Lustspiels«92. Zu einem ähnlichen Ergebnis kann man auf einem ganz anderen als dem von Schröder eingeschlagenen Weg kommen, dann nämlich, wenn man von der rhetorischen Fragestellung ausgeht, ob Leonce und Lena nicht - im Hinblick auf sein »potenziertes Zitatverfahren«93 - als ein >Kabinettstück< in der - Originalität keineswegs aus-, sondern im Gegenteil einschließenden - Kunst der rhetorisch-literarischen imitatio, d. h. in der Kunst der Nachahmung und Überbietung94 literarischer Muster aufzufassen und zu deuten ist. Diese Kunst wurde noch in der Schule und Schulzeit Büchners gelehrt; in ihr hat sich Büchner bei der Abfassung seiner Rede auf den Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer geübt95; sie reicht vom interpretari über das imitari bis zum aemulari, dem Wetteifern mit literarischen Vorbildern und dem Überbieten von literarischen Mustern. Besonders die letzten beiden Stufen der rhetorischen imitatio geben dem Interpreten Kriterien an die Hand, mit denen er die literarische Leistung eines ebenso traditionsbewußten und quellenabhängigen96 wie traditionstranszendierenden Autors wie Büchner besser

89 90 01 92 93 94

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dete Stände. Der Preis betrug »Dreihundert Gulden R. W.«. - Zu dieser >Preisaufgabe< vgl. jetzt: Thomas Michael Mayer: Zu August Lewaids >Lustspiel~Preisaufgabe< und zu Datierung und »Vorrede* von Leonce und Lena. - In: GBJb 1/1981, S. 201-210. Vgl. Zagari (s. Anm. 65), S. 184. Vgl. Gerhard P. Knapp: Georg Büchner. - Stuttgart 1977 (= Sammlung Metzler 159), S. 82 f.; zitiert als: Knapp 1977. Schröder (s. Anm. 47), S. 11, 196. Schröder, S. 196. Schröder, S. 178. Ohne die rhetorischen Begriffe der imitatio (mimesis) und aemulatio zu verwenden, ist in der BüchnerForschung bisher lediglich Herbert Anton: Die »mimische Manier* in Büchners »Leonce und Lena*. - In: Das deutsche Lustspiel Erster Teil. Hrsg. von Hans Steifen. - Göttingen 1968, S. 225-242, unter Zuhilfenahme des von Ernst Robert Curtius sogenannten Topos der Überbietung auf das literarisch-rhetorische Phänomen des überbietenden >Nachahmens< in Büchners Komödie eingegangen, wobei er sich des Begriffs der »mimischen Manier« aus Friedrich Schlegels Prosaischen Jugendschriften (hrsg. von J. Minor. Bd. II. - Wien 1882, S. 189) bedient Vgl. Kapitel II.ll.B.b. (»Die Rede als rhetorische Imitationsübung«) meiner Habilitationsschrift (S. 124-

96 Zu Büchners Verhältnis zu und seinem Umgang mit dokumentarischen Vorlagen und literarischen Quellen vgl. u. a. Schröder (s. Anm. 47), S. 11 f.; Knapp 1977, S. 82f.; Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 5), S. 68. - Eine systematische Untersuchung der Art und Weise, wie Büchner von den Schülerarbeiten bis zum Woyzeck seine Quellen und Vorlagen zitiert, integriert, kontextuell adaptiert und modifiziert, ist ein dringendes Erfordernis der Büchner-Forschung.

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würdigen kann. Um den Grad der Abweichung von den Vorlagen und Mustern und das Ausmaß ihrer Überbietung zu erfassen, müßte das Verhältnis zwischen Büchner und seinen wichtigsten literarischen Vorbildern (vor allem Shakespeare, Tieck, Brentano, E. T. A. Hoffmann, Jean Paul, Musset97) mit Hilfe der genannten rhetorischen Imitationskategorien genauer als bisher untersucht werden. Hierbei wäre -überdies zu klären, ob und inwieweit in Büchners Lustspiel selbst die Kritik, die Ironisierung und die Parodie literarischer Muster dem rhetorischen Verfahren der imitatio und aemulatio zu subsumieren sind. Da auch die Rhetoriktradition und bestimmte Formen der Beredsamkeit als literarische Muster im weiteren Sinne anzusehen sind, erscheint es angebracht, auch die in Leonce und Lena sich artikulierende Kritik und »Parodie der Rhetoriktradition«98 sowie etwa der Hofberedsamkeit99 (vgl. besonders die Szenen 1,2 und 111,3) in diese Überlegungen miteinzubeziehen. Der alte, auch durch Jürgen Schröder noch nicht endgültig entschiedene Streit der Leonce und Lena-Forschung, ob es sich bei dem Lustspiel um einen »Rückfall in die bloße Literaturkomödie der Romantik«100 oder um eine eigenständige literarische Leistung Büchners handelt, ließe sich mit Hilfe dieses neuen rhetorischen Deutungsansatzes sub specie imitationis als Scheinalternative, als inadäquate Fragestellung entlarven, da Büchners Lustspiel wohl eher als ein raffiniertes Wechselspiel von Abhängigkeit und Eigenständigkeit, von Adaption und Innovation zu begreifen und zu erklären ist. Daß Büchner mit der Praktizierung des imitatio-aemulatio-Verfahrens in seiner Zeit keineswegs allein steht, belegt eine Beobachtung Oskar Walzels: »Wie stark das angehende 19. Jahrhundert das Bedürfnis emp97 Zu Büchners literarischen Quellen für Leonce und Lena vgl. vor allem: Armin Renker: Georg Büchner und das Lustspiel der Romantik. Eine Studie über Leonce und Lena. - Berlin 1924 (= Germanische Studien, Heft 34), bes. S. 80-115 (Auflistung von Vergleichsstellen zu Leonce und Lena); Henri Plard: A propos de Leonce und Lena. Musset et Büchner. - In: Etudes Germaniques 9 (1954), S. 26-36, dass. in deutscher Übersetzung in: Martens, S. 289-304; J. W. Smeed: Jean Paul und Georg Büchner. - In: Hesperus. Blatter der Jean Paul-Gesellschaft 3 (1961), S. 29-37; Bernhard Böschenstein: Umrisse zu drei Kapiteln einer Wirkungsgeschichte Jean Pauls: Büchner-George-Celan. - In: B. B.: Leuchttürme. Von Hölderlin zu Celan. Wirkung und Vergleich. Studien. - Frankfurt a. M. 1977, S. 147-159. Schröder (s. Anm. 47), S. 195 f., Anm. 17: Parallelstellen aus dem Erzählwerk E.T.A. Hoffmanns; Jürgen Sieß: Zitat und Kontext bei Georg Büchner, Eine Studie zu den Dramen »Dantons Tod« und »Leonce und Lena«. - Göppingen 1975 (- Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 147), bes. S. 65-87; zu Zitaten, Moüven und Entlehnungen aus Shakespeares Werken vgl. Heinrich Vogeley: Georg Büchner und Shakespeare. - Marburg 1934, S. 52f., 44ff„ 48f„ 50f. 98 Sengle I (s. Anm. 53), S. 563: »In Büchners Lustspiel gibt es eine Menge längerer Sätze. Doch dienen sie fast immer der Parodie der Rhetoriktradition«. 99 Zur Hofberedsamkeit, zum »Hofstyl«, zu »Hof- und Staatsreden« in Rhetoriken und Stilistiken des 18. und 19. Jahrhunderts vgl. etwa: Johann Christoph Gottsched\ Ausführliche Redekunst. Nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer; Geistlichen und weltlichen Rednern zu gut, in zween Theilen verfasset und mit Exempeln erläutert. - Leipzig 1736 (Reprint: Hildesheim/New York 1973), S. 582-598 (recte: S. 682-698); Johann Christoph Adelung: Ueber den Deutschen Styl Theil II. - Berlin 1785 (Reprint: Hildesheim/New York 1974), S. 67-88; Theodor Heinsius: Teut oder theoretisch-praktisches Lehrbuch dergesammten Deutschen Sprachwissenschaft. Dritter Theil: Der Redner und Dichter oder Anleitung zur Rede- und Dichtkunst. 2. verbesserte Ausgabe. - Berlin 1817, S. 114; Christoph Kuffner: Theorie der Beredsamkeit für alle Formen prosaischer Darsteüung. Erster Theil. - Wien 1825, S. 304f.; Karl Heinrich Ludwig Pöiitz: Lehrbuch der teutschen prosaischen und rednerischen Schreibart für höhere Bildungsanstalten und häuslichen Unterricht. - Halle 1827, S. 229 f. 100 Friedrich Gundolf: Georg Büchner. - In: Martens, S. 93.

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fand, durch kühne oder — wie Goethe sagte - forcierte Leistung den künstlerischen Vorgänger auf gleichem Stoffgebiet zu überholen, bewies Grabbe, als er Don Juan und Faust zusammen in einer Tragödie auf die Bühne stellte. Goethe und Mozart wollte er überbieten.«101 Büchners Überbietungsvorhaben richtet sich jedoch nicht nur auf ein bestimmtes literarisch vorgeprägtes Stoffgebiet (hier käme als Vorlage wohl am ehesten Brentanos Ponce de Leon in Betracht), sondern vielmehr auf eine Literaturgattung in einer bestimmten literarischen Epoche: die romantische Komödie. Daß das Resultat der Überbietung freilich nicht nur Potenzierung, sondern vor allem Ironisierung, ad-absurdum-Führung, Überwindung der romantischen Komödie, ja, mehr noch: Entlarvung des »Weltgetriebes als Komödie«102 ist, müßte bei der Analyse des Büchnerschen Aemulationsverfahrens unbedingt berücksichtigt werden.

Woyzeck Der Woyzeck (1836/37) ist das erste deutsche Drama, dessen >Held< aus dem niedersten Volk stammt und dessen Personal damit am radikalsten gegen die alte Standesklausel der rhetorisch orientierten Poetik verstößt. Daraus ergibt sich eine rhetorisch und poetologisch gleichermaßen schwierige wie interessante Problemstellung: die Frage nach der Angemessenheit der im Hinblick auf das >niedrige< Personal und die >hohe< Gattung der Tragödie geeigneten und poetisch überzeugenden Sprachund Stilgebung des Dramas. Einer Anregung nachgehend, die Paul Requadt103 gegeben, selbst aber nicht weiter verfolgt hat, wäre hier die Leitfrage zu diskutieren, inwiefern und inwieweit der Woyzeck als ein dramatisches Beispiel für die Verwirklichung und Adaption des zuerst von Erich Auerbach analysierten sermo humilis104 zu interpretieren ist und ob sich darüber hinaus dem Autor von seinen ideologischen und ästhetischen Positionen wie auch von den poetologischen Implikationen seiner Tragödie her bei der Konzeption und Abfassung des Woyzeck nicht mit einer gewissen Notwendigkeit das Gestaltungsprinzip des ser101 Oskar Walzel: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters. 2. unveränderte Aufl. - Darmstadt 1957, S. 170. 102 Schröder (s. Anm. 47), S. 189. 103 Vgl. Paul Requadt: Zu Büchners Kunstanschauung: das »Niederländische* und aas Groteske, Jean Paul und Victor Hugo. - In: P. R.: Bildlichkeit der Dichtung. Aufsätze zur deutschen Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert. - München 1974, S. 106-158; zum sermo humilis vgl. bes. S. 124 ff. 104 Zum sermo humilis vgl. Erich Auerbach: Sermo humilis. - In: E. A.: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. - Bern 1958, S. 25-55; Hans SedlmaynXrs humüis. - In: Hefte des Kunsthistorischen Seminars der Universität München. - München 1962, S. 7ff,;Raphaela Gasser: Propter lamentabilem vocem hominis. Zur Theorie der Volkssprache in althochdeutscher Zeit. - In: Freiburger Zeitschrift, Jür Philosophie und Theologie Bd. 17 = Jahrbuchßir Philosophie und spekulative Theologie 84 (1970), S. 3-83 (S. 27-41: »Sermo humilis«); Norbert Brox: Der einfache Glaube und die Theologie. Zur altkirchlichen Geschichte eines Dauerproblems. - In: Kairos 14 (1972), S. 161-187; Hans-Henrik Krummacher: Der junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern. München 1976 (S. 593-434: »Sermo humilis«).

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mo humilis, das schon im Hessischen Landboten und im Lenz wirksam zu sein scheint, als adäquates Stilprinzip für seine Intentionen anbieten, ja aufdrängen mußte: dies zunächst einmal ganz abgesehen davon, ob es Büchner bewußt oder unbewußt war, daß er hier - historisch gesehen in einer christlichen Stil- und Denktradition steht.105 Aufschlußreich dürfte die Interpretation des Woyzeck mit Hufe der stilistischen und menschlichen Haltung des sermo humilis vor allem deshalb sein, weil dieses Stilphänomen nach Auerbach »das Ethische, das Soziale, das Geistige und das Ästhetisch-Stilistische zugleich umfaßt«106, alles Aspekte des literarischen Werks und zumal des Woyzeck, die für das Verständnis der Büchnerschen Welt-, Lebens- und Kunstanschauung von großer Bedeutung sind. Im Zusammenhang mit dem sermo humilis wäre weiterhin zu untersuchen, ob es sinnvoll und erhellend ist, in bezug auf den Woyzeck, dessen Titelheld nur über einen >restringierten< sprachlichen Code verfügt, von einer »Beredsamkeit am Rande des Schweigens«107, von einer Rhetorik des Gestisch-Demonstrativen, des Mimisch-Körperlichen zu sprechen, von einer unberedt-beredten, zum guten Teil außersprachlichen >Rhetorikrestringiertenalten< Eloquenz der männlichen Helden aus Dantons Tod und Leonce und Lena durchschlägt, beweist die Szene 19 aus der frühen Szenengruppe l, in der Louis alias Woyzeck auf der Suche nach dem Mordmesser in einem Selbstgespräch seine getötete Geliebte (Magreth alias Marie) wie folgt anredet: »(Was bist du so bleich, Magreth? Was hast du eine rothe Schnur um den Hals? Bey wem hast du das Halsband verdient, mit deinen Sünden? Du warst schwarz davon, schwarz! Hab ich dich jezt gebleicht. Was hänge die schwarze Haar, so wild? Hast du die Zöpfe heut nicht geflochten?)«no

Die spärlich dialektalen Einschläge (»Was hänge die schwarze Haar, so wild?«) können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Büchner seinen >Helden< hier ausgeprägt rhetorisch sprechen läßt: der Gebrauch von rhetorischen Figuren wie Anapher, Wiederholung und Antithese verdeutlicht dies hinreichend. Man könnte als Erklärung für diese überraschende Eloquenz anführen, der Schmerz über den Verlust der Geliebten habe Woyzeck plötzlich beredt gemacht Aber eine solch psychologisierende Interpretation paßt schlecht zu Woyzecks sonstigen Reaktionen, Verhaltens- und Ausdrucksweisen. Gerade auch im Schmerz wäre bei Woyzeck Stummheit und Sprachlosigkeit beredter und überzeugender als alles rhetorische Sprechen. Davon scheint auch Büchner bei oder nach der Niederschrift dieser Szene überzeugt gewesen zu sein. Denn: Warum sonst hätte er die zitierte Textstelle in Klammern gesetzt? Jedenfalls war sich Büchner, als er die fragliche Szene niederschrieb, »über die Aufnahme dieser Rhetorik noch nicht schlüssig«111. Nicht nur von der Reduzierung rhetorischen Sprechens in den Dramen Büchners, auch von der >Stimmigkeit< der Woyzeck-Gestalt her gesehen, spricht viel für die Vermutung, daß Büchner die eingeklammerten Sätze der Szene 19 aus der ersten Szenengruppe nicht in die endgültige Fassung seines Woyzeck übernommen hätte.112

Beredsamkeit in den Briefen Außer den Werkgruppen der Schülerarbeiten, der politischen Publizistik und der Dichtungen ist besonders auch Büchners Brief werk ein geeignetes Betätigungsfeld für die rhetorische Analysemethode. Bedenkt man, daß der Brief seit alters her als sermo absentis ad absentem115 definiert 110 HA I, S. 154/22-27. 111 Georg Büchner: Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Hrsg. von Fritz Bergemann. 11., berichtigte Aufl. Frankfurt a. M. 1968, S. 495 (Anm. Bergemanns); zitiert als: Bergemann. 112 Lehmann hat die hier besprochene Szene samt der von Büchner eingeklammerten Sätze in seine »Leseund Bühnenfassung« aufgenommen (vgl. HA I, S. 450/3-13). Ich bezweifle, daß diese editorische Entscheidung Büchners präsumtiven Intentionen entspricht 113 Zu dieser Definition vgl. etwa Plett (s. Anm. 16), S. 17 sowie Diethelm Brüggemann: VomHerzen direkt in die Feder. Die Deutschen in ihren Briefstellern. - München 1968 (= dtv 503), S. 15.

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wird und daß die Epistolographie aus der Rhetorik hervorgegangen und unauflösbar mit ihr verflochten ist (die Bneftheorie ist als rhetorisches Subsystem zu betrachten), berücksichtigt man weiterhin das lebens- und unterrichtsgeschichtliche Faktum, daß die Theorie und Praxis des Briefschreibens ein wichtiger Bestandteil des Rhetorikunterrichts am Darmstädter Gymnasium gewesen ist (die Schulrhetoriken der Büchner-Zeit enthalten detaillierte Anweisungen zum Verfassen von Briefen114), so muß es wundernehmen, daß die Briefe Büchners, über deren große Bedeutung man sich seit Gutzkow115 und Franzos116 bis hin zu Lehmann117 und Volker Braun118 einhellig im klaren ist, bisher noch nicht unter rhetorischen Aspekten untersucht worden sind.119 Abgesehen von ihrer Relevanz für die Entwicklung der Autorpersönlichkeit, zeigt sich die Bedeutung der Büchnerschen Briefe nicht zuletzt darin, daß sie mit seinen poetischen Werken »durch ein Netz von Parallelstellen«120 verbunden sind, so daß man die Briefe unter anderem auch als rhetorisch-stilistische Vor- und Fingerübungen im Hinblick auf die Dichtungen interpretieren kann. So tritt etwa das »dramatische Grundelement« bereits bei der brieflichen »Schilderung von Personen und Begebenheiten zutage«121, und Landschaflsschilderungen etwa der Vogesen122 - schulrhetorisch gesprochen: eine exercitatio im Bereich der descriptio loci - sind als Vorübungen im Hinblick auf die Erzählung Lenz zu analysieren. Im Zentrum der Briefanalysen müßte jedoch die durchgängige Adressaten-, Wirkungs-, Situations- und Persuasions-Bezogenheit der Büchin Zum »Briefstyl« in Rhetoriken aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vgl. u. a. Heinsius (s. Anm. 99), S. 117-121; Kuffner (s. Anm. 99), S. 309-322; Joseph Hillebrand: Lehrbuch der Literar-Aesthetik, oder Theorie und Geschichte der schönen Literatur, mit besonderer Berücksichtigung der deutschen zum Selbststudium und Gebrauche bei Vortragen. Zweiter Band: Enthält die Rhetorik und Geschichte der deutschen Nationalliteratur. - Mainz 1827, S. 345-354; Pölitz (s. Anm. 99), S. 182-225; Ch. F. Falkmann: Hütfsbuch der deutschen Stylübungen Jür die Schüler der mittlern und höhern Klassen bei dem öffentlichen und beim Privat-Unterrichte. - Hannover 1822 (Übungsaufgaben, »nebst ausführlichen Anweisungen zu denselben«, Nr. 2, 6, 10, 21, 29, 92, 93, 94, 140-142, 174-176, 184, 186, 195-197, 207, 208, 237-239, 260, 287). 115 Im Nachruf auf Büchner spricht Gutzkow von einem »Heft von Briefen, die ohne Absicht geschrieben und doch voll künstlerischen und poetischen Werthes sind.« Zitiert nach: Goltschnigg (s. Anm. 49), S. 74. In einem Brief an Minna Jaegle vom 14. September 1837 schreibt Gutzkow: »Die Briefe [Büchners] sind mir vor allem wichtig. Sie sind so zart, so tief!« (Briefe Gutzkows an Georg Büchner und dessen Braut. Mitgeteilt von Charles Andler. - In: Euphorion, 3. Ergänzungsheft 1897, S. 192). 116 Karl Emil Franzos spricht in einem Aufsatz aus dem Jahre 1901 von Büchners »herrlichen Briefen«; Büchner sei »ein Briefschreiber« gewesen, »wie wir auch unter den deutschen Dichtern nicht viele kennen«; zitiert nach: Goltschnigg (s. Anm. 49), S. 96. 117 Vgl. Lehmann im Nachwort zur Ausgabe: WuB, S. 560: »Büchner als Briefschreiber: ein ungemein interessantes und vermutlich nicht ausschöpfbares Thema.« 118 Vgl. Volker Braun: Büchners Briefe. - In: GBJb 1/1981, S. 11-21. 119 Überhaupt ist ja, abgesehen von den Hugo-Übersetzungen, das Briefwerk die von der Forschung am stärksten vernachlässigte Werkgruppe. Interessante Anmerkungen zu Georg Büchners Briefen finden sich bei Heinz Fischer: Georg Büchner. Untersuchungen und Marginalien. - Bonn 1972 (= Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik, Bd. 14), S. 89-102. Aufschlußreiche Hinweise zu Büchner als Briefschreiber jetzt vor allem auch bei Mayer: Büchner und Weidig (s. Anm. 5), S. 75,92ff., 95ff.; Mayer: Chronik (s. Anm. 14), S. 398,420 u. ö. Vgl. weiterhin die Dissertation von Elisabeth Ziegler Trump: 77»« Elitist Revolutionary: Georg Büchner in his Letters. - Phil. Diss. Columbia University 1979. 120 Hans Peter Herrmann: »Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg«. Zur Textgestalt von Georg Büchners nachgelassener Erzählung. - In: ZfdPh 85 (1966), S. 254. - Vgl. auch Heyn (s. Anm. 23), S. 34: »In den Briefen finden sich nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Entsprechungen zum Werk.« 121 Vogeley (s. Anm. 97), S. 9. - Vgl. auch Schröder (s. Anm. 47), S. 179ff., der den ersten erhaltenen BüchnerBrief (vgl. HA II, S. 413) im Hinblick auf »Büchner als Lustspieldichter« interpretiert. 122 Vgl. Büchners Brief an die Familie vom 8. Juli 1833 (HA II, S. 418f.).

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nerschen Briefe stehen. Dabei wäre eine neue Einteilung, eine neue Typologie des Briefwerks herauszuarbeiten, die nicht - wie bisher zumeist — chronologisch und topographisch nach den vier bzw. fünf aufeinanderfolgenden Aufenthaltsorten Büchners erfolgen dürfte, sondern adressatenbezogen nach den verschiedenen Briefempfängern bzw. Empfangergruppen vorgenommen werden müßte: Briefe an die Familie, die Braut, die Straßburger Freunde August und Adolph123 Stoeber und Eugen Boeckel, an Karl Gutzkow sowie an den Verleger Sauerländer, den Zürcher Bürgermeister Hess und an das Präsidium des Erziehungsrats von Zürich124. In Übereinstimmung mit den von den zeitgenössischen Schulrhetoriken aufgestellten bzw. tradierten Einteilungsprinzipien des Briefstils nach den jeweiligen Adressaten und Rommunikationssituationen wären dabei »vertrauliche Briefe«125 an gute Bekannte, Verwandte und Freunde sowie förmliche »Geschäftsbriefe«126 an unbekannte Personen und Körperschaften des öffentlichen Lebens (Sauerländer, Hess, Präsidium des Zürcher Erziehungsrats) zu unterscheiden. Besonders in den »Geschäftsbriefen« Büchners läßt sich bis in die Details hinein das rhetorische Briefschema wiedererkennen: im Bittschreiben an Bürgermeister Hess, das jetzt in seinem vollständigen Wortlaut vorliegt127, kann man mühelos die jahrhundertealten rhetorischen Briefkonstituentien der salutatio, captatio benevolentiae, narratio, petitio und peroratio128 identifizieren. Bei den vertraulichen Briefen Büchners wäre zu eruieren, ob sich aufgrund des unterschiedlichen Grads der Vertrautheit und Bekanntheit zwischen Absender und Empfänger verschiedene briefliche Stilregister und >Töne< nachweisen lassen. Eine Analyse der Briefe unter dem Aspekt der Adressatenbezogenheit könnte viele der Rollen und >Töne< begreifbar machen, die der rhetorisch versierte Briefschreiber Büchner durch Vergegenwärtigung seines jeweiligen Briefpartners als Gegenüber zu übernehmen und anzuschlagen versteht. So könnte eine eingehende rhetorische Untersuchung der Briefe Büchners wichtige Aufschlüsse nicht nur über die Relativität des Gesagten, sondern auch über das zwischen den Zeilen eigentlich Gemeinte geben. Darüber hinaus kann die Analyse des Briefwerks zeigen, in welchem Maße der scheinbar 123 Einen unbekannten Büchner-Brief an Adolph Stoeber vom 3. November 1832 haben veröffentlicht: Werner R. Lehmann und Thomas Michael Mayer: Ein unbekannter Brief Georg Büchners. Mit biographischen Miszellen aus dem Nachlaß der Gebruder Stoeber. - In: Euphorion 70 (1976), S. 180. Jetzt wieder abgedruckt in: WuB, S. 247 (Brief Nr. 4a). 124 Das Schreiben an das Präsidium des Zürcher Erziehungsrats liegt im Druck jetzt vor in: WuB, S. 288 (Brief Nr. 60a). 125 Zu »vertraulichen Briefen« vgl. etwa Pölitz (s. Anm. 99), S. 186,188-194 sowie Ch. F. Falkmann: Stylistik oder: vollständiges Lehrbuch der deutschen Abfassungskunst Jür die obern Classen der Schulen und zum Selbstunterrichte. 3. verb, und venn. Aufl. - Hannover 1835 (= Practische Rhetorik oder: vollständiges Lehrbuch der deutschen Redekunst Jür die obern Classen der Schulen und zum Selbstunterrichte, i. Abtheilung), S. 356-369 (»Freundschaftliche Briefe«). 126 Zu »Geschäftsbriefen« vgl. Pölitz (s. Anm. 99), S. 195, 231; Falkmann (s. Anm. 125), S. 380-391. 127 Vgl. WuB, S. 287f. - In der historisch-kritischen Ausgabe von Lehmann (vgl. HA , S. 460 f.) fehlen die salutatio, captatio benevolentiae, die zweite petitio sowie die peroratio. 128 Zum rhetorischen Briefschema vgl. Plett (s. Anm. 16), S. 17 sowie Brüggemann (s. Anm. 113), S. 12.

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so individuelle Personalstil eines Autors des 19. Jahrhunderts noch durch und durch rhetorisiert, d. h. durch die Erfordernisse praktischer, auf Überredung und Wirkung, auf Beschwichtigung der Eltern oder auf Beeindruckung eines Schriftstellerkollegen (Gutzkow) bedachter Beredsamkeit bestimmt ist, wie stark nicht nur aus den förmlichen Bittschriften, sondern auch aus den ganz persönlichen und privaten Schreiben Büchners der gelernte und begabte Rhetor spricht. Dr. August Lüning, Emigrant, Medizinstudent und späterer Kantonalstabsarzt in Zürich, schreibt in seinen Erinnerungen über den frischgebackenen Dozenten Büchner und über dessen im Wintersemester 18367 57 an der Universität Zürich gehaltenes, von Lüning besuchtes Roileg über Vergleichende Anatomie der Fische und Amphibien: »Der Vortrag Büchners war nicht geradezu glänzend, aber fließend, klar und bündig, rhetorischen 129 Schmuck schien er fast ängstlich, als nicht zur Sache gehörig, zu vermeiden [.. .].«

Nicht daß Lüning oder Büchner die Vorlesung für eine nichtrhetorische Textform gehalten und daher »rhetorischen Schmuck« als unpassend angesehen hätten, geht aus diesem Zitat hervor. Als gelernter Bhetor wußte Büchner, daß alles Sprechen vor einem Publikum mit der Absicht, es zu belehren, zu unterhalten, zu überzeugen, zu überreden oder zu bewegen, rhetorisch ist. Wenn aus Lünings Charakteristik der akademischen Vortragsart Büchners etwas hervorgeht, so dies, daß sich Büchner offenbar Gedanken über den angemessenen Vortragsstil einer Vorlesung gemacht hat Bei diesen Vorüberlegungen ist Büchner wohl zu der rhetorisch begründeten und begründbaren Auffassung gekommen, daß in Anbetracht der Wirkungsabsicht des Belehrens, der Sachbezogenheit seiner Ausführungen und der Beschaffenheit des zu behandelnden Vorlesungsgegenstandes (Fische und Amphibien) die niedrige Stilart, d. h. der einfache, sachliche, schmucklose, >klare und bündige< Vortragsstil die für seine Zwecke adäquate Stil- und Darstellungsform ist. Verzicht auf >nicht zur Sache gehörige< Schmuck- und Figurenrhetorik bedeutet also keineswegs Verzicht auf vordringlich der Belehrung dienende Kathederberedsamkeit. Am 15. Februar 1837, vier Tage vor Büchners Tod, notiert Caroline Schulz in ihr im Sterbehaus des Dichters geführtes Tagebuch: »Er [Büchner] erzählte mir eine lange zusammenhängende Geschichte: wie man ihn gestern schon vor 130 die Stadt gebracht habe, wie er zuvor eine Rede auf dem Markte gehalten usw.«

129 Bergemann (s. Anm. 111), S. 572. 130 Bergemann (s. Anm. 111), S. 579.

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Wie immer man diese im Delirium geäußerte Auslieferungs- und Hinrichtungs-Phantasie131, der ähnliche vorangingen und folgten, beurteilen mag: es ist immer noch Büchner, der da spricht und sich ausspricht und sich dabei in der Gestalt des Redners auf dem Marktplatz sieht. Bis in seine letzten Lebenstage also hat sich Büchner mit der Gestalt des Rhetors und Agitators identifiziert, mit einer Gestalt, durch die sein gesamtes schriftstellerisches Werk geprägt ist.

151 In dieser Fieberphantasie liegt wahrscheinlich eine unbewußte Identifizierung Büchners mit der fiktiven Figur des Flamin aus Jean Pauls Roman Hesperus vor, der sich zum Tode verurteilen lassen und vor der Hinrichtung »auf dem Richtplatz« eine Valediktionsrede halten will, um das Volk zur Rebellion zu bewegen. Aus der imaginierten, »sprühenden Rede« Flamins zitiert Büchner (oder Weidig?) an mehreren Stellen des Hessischen Landboten (vgl. HL, S. 76, 80, 89).

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Georg Büchners Ästhetik

Von Albert Meier (München)

Die Forschung hat Büchners Ästhetik bisher immer nur als Randproblem behandelt, das sich neben der Analyse der poetischen Texte, der politischen Haltung und Aktivitäten sowie der naturwissenschaftlich-philosophischen Arbeiten Büchners zu mehr oder weniger ausführlichen Nebenbemerkungen eignet. Die Beschäftigung mit Büchners »Ästhetik« (bzw. seiner »Kunstauffassung«, seinen »ästhetischen Anschauungen« etc.) fand deshalb immer nur im Rahmen von Aufsätzen oder im Umkreis des Lenz-Kapitels von größeren, umfassenderen Büchner-Büchern statt. Dabei haben sich in der Nachfolge Hans Mayers2 alle Autoren (als wichtigste wären zu nennen: A. Dymschitz, H. Fellmann, E. Robel, P. Requadt, R. Hauser, M. B. Benn) im großen und ganzen dasselbe Ziel gesetzt: die bewußte Kunsttheorie Büchners zu ermitteln, also das, was Büchner bei, neben oder vor seiner künstlerischen Praxis tatsächlich gedacht hat. Was Büchner, vielleicht nur seines frühen Todes halber, versäumt hat, wollte die Forschung nachholen und Büchners kunsttheoretische Überzeugungen in geschlossener Form darstellen. Dabei sahen sich alle oben aufgeführten Autoren gezwungen, einheitlich zwei Voraussetzungen zu machen, auch wenn sie diese unterschiedlich begründen oder gar nicht eingestehen: Büchner habe erstens seine persönliche Auffassung von Kunst in den Kunstgesprächen von Dantons Tod und Lenz und in einem Brief an die Eltern (Straßburg, 28. Juli 1835) dargelegt, und Zweitens seien diese verstreuten Äußerungen als Fragmente einer an sich durchaus systematischen Kunstauffassung zu verstehen. Aus der ersten Prämisse ginge hervor, daß es zur Untersuchung von Büchners Kunsttheorie ausreichte, die einschlägigen Textpassagen (eben Kunstgespräche und Briefe) heranzuziehen und zu analysieren, d. h. das schlüssige Kombinieren der an sich unzusammenhängenden Textpassagen und deren Kommentierung (z. B. zu Genese und innerer Konsistenz) müßten dann zu Büchners Ästhetik führen; die zweite Prä-

1 Das vorliegende Referat ist eine Zusammenfassung meiner noch unveröffentlichten Bremer Dissertation von 1980, in der die Kritik der bisherigen Forschung ausführlich vorgenommen wird. 2 Vgl. H. Mayers Aufsätze »Kunst und Natur« sowie »Georg Büchners ästhetische Anschauungen« - beide in: H. M.: Georg Büchner und seine Zeit. - Frankurt/M. 1972 (= st 58).

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misse ist dagegen mehr logischer Art und legitimiert zum einen dieses Vorgehen, so wie sie zum ändern die Methodik determiniert: Büchner habe, so wird vorausgesetzt, eine bewußte und mehr oder weniger systematisch konzipierte Kunsttheorie zur Verfügung gehabt, deren Systemcharakter in den der Untersuchung zugrundegelegten Textpassagen aber zerstört sei und deshalb vom Interpreten rekonstruiert werden müsse — es käme also darauf an, in den Bruchstücken deren fundamentale Einheit aufzuzeigen und ihnen den Zusammenhang zu geben, der nur der äußeren Form nach fehlt, der aber in Büchners Bewußtsein vorhanden gewesen sei. Gerade die erste Prämisse provoziert aber schnell sachliche Probleme: zunächst bleibt die Identifizierung der Kunstgespräche und des Briefes mit Büchners tatsächlichen Anschauungen fragwürdig, da die Kunstgespräche als integrale Bestandteile poetischer Texte und nicht als persönliche theoretische Abhandlungen vorliegen, während sich der Brief an die Eltern aufgrund seiner evidenten Verteidigungsabsicht nicht ohne weiteres für bare Münze nehmen läßt. Zudem führen die Verwendung von scheinbar rein theoretischen Texten und die (wenigstens ihrer Intention nach) theorieimmanente Analyse dazu, Büchners ästhetische Theorie und Praxis als getrennte Bereiche aufzufassen, sie nicht in ihrer gegenseitigen Vermitteltheit zu sehen. Bestenfalls wird dann im Anschluß an die Untersuchung der Theorie mit unterschiedlichem Erfolg versucht, die getrennt bearbeiteten Bereiche wenigstens in ihren Ergebnissen zu harmonisieren.3 Auffälligerweise weichen aber die Ergebnisse der Interpreten inhaltlich sehr weit voneinander ab, obwohl immer mit der gleichen Methode gearbeitet wurde. So behaupten zwar alle Autoren übereinstimmend den engen Wirklichkeitsbezug von Büchners Kunst, aber sie verstehen darunter keineswegs dasselbe. Besonders deutlich werden die Differenzen dort, wo es um die Stellungnahme zum politisch-sozialen Gehalt von Büchners »Realismus« geht: die Skala reicht hier von der Kennzeichnung Büchners als Marx-Vorläufer (H. Mayer/Dymschitz) bis zum völligen Verschweigen dieser Frage (Kobel). Daß diese Differenzen kaum rein zufällig sind, dafür spricht, daß sie in den politisch-weltanschaulichen Haltungen der jeweiligen Autoren ihre genaue Parallele haben. So finden die marxistisch orientierten H. Mayer und A. Dymschitz auch in den ästhetischen Thesen Büchners einen marxistischen Gehalt, während diejenigen Autoren, die eher einer christlichen (Requadt), existen3 Die Crux dieser Hypostasierung zeigt sich besonders kraß bei H. Mayer, der beim abschließenden Vergleich der von ihm postulierten Kunstauffassung Büchners mit dessen künstlerischer Praxis in Leonce und Lena einen glatten Widerspruch feststellen mußte (vgl. H. Mayer, S. 308f.).

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tialistischen (Hauser) oder anderweitig konservativen Weltanschauung zuneigen, in Büchners Kunstbegriff keine politische Komponente (bestenfalls im Wandel vom politischen Revolutionär zum ästhetisch revolutionären Dichter) sehen mögen oder für Büchners Dichtung eine konkrete politische Absicht ganz ausschließen. Diese auffallende Kongruenz zwischen den subjektiven politischen Voraussetzungen der untersuchenden Autoren und ihren Resultaten trotz der analogen Vorgehensweise belegt aber nicht nur, daß noch kein wissenschaftlicher Begriff von Büchners Kunstauffassung gefunden worden ist, sondern daß auch die angewandte Methode nicht geeignet war, die notwendige Objektivität der Ergebnisse zu gewährleisten: Die Kunstgespräche und der Brief an die Eltern als alleiniges Untersuchungsmaterial und die Exegese dieser Textfragmente als Methode haben nicht verhindern können, daß die Subjektivität der Autoren auf ihre Arbeiten sich auswirkte - die bisherige Beschäftigung hat demzufolge weniger zu Büchners Kunstauffassung als zu Projektionen der Interpreten geführt, die das als Büchners Ästhetik darstellen, was ihnen selbst am nächsten steht. Daß diese Projektionen mit so unterschiedlichen Inhalten dennoch gleichermaßen mühelos und sicherlich ohne Fälschungsabsicht möglich waren, liegt in der Unzulänglichkeit des verwendeten Materials begründet: Wollte man auch die Authentizität von Kunstgesprächen und Brief vorweg bejahen, so handelt es sich bei diesen Textpassagen doch immer noch um theoretisch mangelhaftes Material. Sie sind schon quantitativ unzureichend, da sie jeweils nur Einzelaspekte darstellen, und lassen somit keine Ableitung einer umfassenden und kohärenten Theorie zu; über diese Lückenhaftigkeit hinaus weisen sie logische Mängel auf (unscharfe Definitionen, Widersprüche), die es ebenfalls verbieten, eine schlüssige Theorie darauf zu stützen. Indem aber diese mangelnde innere Konsistenz des zugrundegelegten Materials die inhaltliche Auffüllung durch den Interpreten verlangt, bietet sie diesem die Gelegenheit, es für spezifische Auslegungsinteressen zu vereinnahmen: Aufgrund der inneren Brüchigkeit vermögen Kunstgespräche und Briefe dem interessierten Zugriff nur wenig Widerstand entgegenzusetzen. Der Verführung, synthetische Begriffe mit weltanschaulichen Implikationen unvermittelt und unhistorisch auf Büchner anzuwenden, konnte deshalb zu leicht nachgegeben werden. Nachdem aber die bisherige Absicht der Literaturwissenschaft, Büchners bewußte Kunsttheorie zu ermitteln, nicht eingelöst werden konnte, liegt es nahe, den Untersuchungsgegenstand und damit das zugrundezulegende Material anders zu fassen, um sich eine sicherere Basis zu verschaffen. Der Hinweis auf die zweckmäßige Neuorientierung findet sich bei Kobel, der auf Büchners »dichterisches Werk« verweist, das besser 198

als die »verstreuten Äußerungen des Dichters Aufschluß über Büchners Kunstverständnis und über das Wesen seiner Kunst«4 geben könne. Das Scheitern der bisherigen Versuche, Büchners bewußte Kunsttheorie zu ermitteln, legt also nahe, sich zuallererst mit seiner künstlerischen Praxis auseinanderzusetzen, d.h. als Untersuchungsmaterial müssen die vier poetischen Texte zugrundegelegt werden, um von deren Analyse ausgehend Büchners Kunstauffassung zu ermitteln. Mit dem andersgearteten Material verändert sich aber notwendig auch der Gegenstand des Erkenntnisinteresses: Geht man von den objektiv vorliegenden poetischen Texten aus, so kann es sich nicht mehr um Büchners persönliche, real als Überzeugung oder Absicht existierende Kunsttheorie handeln, sondern vorrangig um die objektive, d. h. implizite Ästhetik, wie sie sich in den Werken realisiert hat. Der Schluß auf Büchners tatsächliche Ideen ließe sich dann bestenfalls in einem weiteren Schritt tun: im Vergleich der impliziten Ästhetik Büchners mit seinen sonstigen und feststellbaren Prinzipien und Ideen in Politik, Philosophie und Naturwissenschaft. Es muß also darum gehen, in einer Interpretation der vier poetischen Texte deren ästhetische Beschaffenheit herauszuarbeiten, um diese in ihrer inneren Logik, in ihrem zweckmäßigen Zusammenhang begreifen zu können. Da aber die vier Texte Büchners keineswegs homogen sind, jedoch in einer Entwicklungsreihe stehen, muß das Resultat in einer notwendigen Verallgemeinerung bestehen: Der reale Prozeß \ouDantons Tod zu Woyzeck wird in der begrifflichen Darstellung zwar aufgehoben, hat aber deren Inhalte zu bestimmen. Aufgrund des Charakters einer BegriffsKonstruktion (anstelle der bisherigen Re-Konstruktionen) muß der Formulierung von Büchners Ästhetik im oben beschriebenen Sinn ein systematischer Rahmen vorgesetzt werden, der die Erfassung des komplexen Gegenstandes gewährleisten soll, ohne schon auf die Ergebnisse vorzugreifen. Die folgende, verkürzte Darstellung wird sich deshalb in drei Hauptteile gliedern, die in sehr allgemeiner Weise den drei zentralen Aspekten von Kunsttheorie entsprechen: I.Verhältnis zwischen soziohistorischer Realität und Artefakt; 2. innere Beschaffenheit der Texte, d. h. die logischen Ebenen der Vermittlung von Inhalt und Form; 5. die adäquate Rezeption - das Modell der von der Textstruktur verlangten und möglichen Rückwirkung auf die soziohistorische Realität.

4 Vgl. Erwin Robel: Georg Büchner. Das dichterische Werk. - Berlin/New York 1974, S. 179.

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1. Verhältnis zwischen soziohistoiischer Realität und Artefakt Besonders auffälliges Merkmal von Büchners literarischer Technik ist die intensive Verwendung von Zitaten: allen voran die im weitesten Sinn literarischen Zitate aus Geschichtswerken, Gerichtsakten und Oberlins Bericht - dazu kommen Anspielungen auf philosophische Theorien, aber auch Material, das direkt der soziohistorischen Realität entnommen ist (persönliche Erfahrungen Büchners und darüber hinaus soziologische Fakten). Alle diese verschiedenartigen Materialien werden dann in den literarischen Werken so behandelt, als ob sie denselben Realitätscharakter hätten. Büchner entnimmt seine Stoffe also hauptsächlich nicht aus der unmittelbaren Realität, sondern arbeitet überwiegend mit theoretischen, geistig umgeformten Stoffen. Die materielle Basis für Büchners poetische Texte bilden somit subjektiv bedingte Interpretationen der Wirklichkeit, nicht diese als solche.5 Eine Vorauswahl des Materials im Sinne der klassizistischen Ästhetik (z. B. unter dem Diktat der Ständeklausel) findet dabei nicht statt. Als Stoff sind die der Realität bzw. deren literarisch-theoretischen Verarbeitungen entnommenen Materialien an sich gleichberechtigt - eine Parteinahme wirkt sich bestenfalls (und auch dann nur implizit bzw. struktural) im Resultat aus: Wie Lenz im Kunstgespräch differenziert Büchner nicht nach »hoch« oder »niedrig«, »schön« oder »häßlich«. Das in sich diffuse, d. h. uneinheitliche Material wird dann jeweils um eine oder wenige zentrale Figuren herum angeordnet (besonders deutlich in Lenz und Woyzeck, weniger konzentriert in Leonce und Lena und vor allem in Dantons Tod). Diese sind, mit Ausnahme von Leonce (dessen Gestalt auf der Basis romantizistischer Topoi entworfen ist), immer historische Personen, bei deren Ausformung Büchner aber jedesmal weit über das dokumentarisch abgesicherte Material hinausgeht. So beruhen z. B. Dantons Träume, Lenz' Naturerlebnisse und Woyzecks Verhältnis zu Hauptmann und Doctor aufweitgehend freien Extrapolationen aus den benützten Quellen, psychologischen Kenntnissen und soziologischen Analysen. Büchner arbeitet also nicht nach einem tendenziell »photographischen« Abbildungsprinzip - er gibt keine Wirklichkeit aus erster, sondern aus zweiter Hand (was nicht pejorativ gemeint ist). Aufgrund der Beschaffenheit des verwendeten Materials und dessen Verarbeitung in der Personenzentrierung wird die subjektive Einstellung einzelner zu 5 Die Problematik dieses Vorgehens zeigt sich z. B. in Dantons Tod, wo Büchner, wie Jürgen Sieß und Thomas Michael Mayer nachgewiesen haben, durch seine Zitate aus Geschichtswerken über die Französische Revolution wider Willen auch subjektive bzw. ideologisch bedingte Bewertungen der Historiker in das Drama übernommen hat, was eine von mehreren Ursachen für die positive Darstellung Dantons ausmachen dürfte.

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ihrer Situation wichtiger als das, was faktisch ist. Weil aber in jedem Text Büchners mehrere subjektive Perspektiven einander gegenüberstehen, ohne daß vom Autor eine eindeutige Wertung vorgenommen würde, kommt es letztlich bei der Frage nach dem Realitätsgehalt weniger auf die isolierten stofflichen Elemente und deren individuelle Korrespondenz zur soziohistorischen Wirklichkeit an als auf strukturelle Bezüge6 - nicht in der dokumentarischen Richtigkeit des Materials liegt die Wirklichkeitsnähe, sondern in der Analogie zwischen dem literarischen Werk als ganzem und der Realität. Dabei reduziert Büchner in hohem Maß die historische und geographische Gebundenheit seiner Materialien: diese werden aus ihrem realen Zusammenhang herausgelöst und unterliegen dabei einer Abstrahierung, erhalten dafür aber eine allgemeinere Bedeutung - so macht Büchners Bearbeitung des Oberlin-Berichts aus dem individuellen Problem Lenz' ein soziales, das auch nicht auf die Schwierigkeiten eines Dichters, den Zeitraum um 1778 und das Steintal beschränkt ist, sondern paradigmatische Funktion hat und somit auch unter veränderten Umständen seine Relevanz behalten kann. Büchner reproduziert weniger die Einzelphänomene als die dominierenden Strukturgegebenheiten der gesellschaftlichen Wirklichkeit in seiner Zeit In seinen Texten lassen sich deshalb grundsätzlich zwei Ebenen feststellen: die eine der inhaltlichen Elemente, die die stoffliche Oberfläche bilden und nur partiell mit der dokumentarisch belegbaren bzw. belegten Realität übereinstimmen, und die der Tiefenstruktur, auf der die Inhalte angeordnet sind. Mit anderen Worten: Isoliert bedeuten die einzelnen inhaltlichen Bestandteile noch nicht viel - sinnvoll werden sie erst in ihrem Zusammenhang, in ihrer gegenseitigen Bedingtheit und der darauf aufbauenden Korrespondenz zur soziohistorischen Realität. Anders als vor allem im Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835 formuliert, strebt Büchner in seiner poetischen Praxis in letzter Instanz keine Identität zwischen Wirklichkeit und Kunst an. Ganz im Gegenteil hierzu betont er den kategorialen Unterschied, indem er gerade durch seine Zitiertechnik den Reflexionscharakter der Kunst im Vergleich zum scheinbaren Ansich der natürlichen Wirklichkeit herausstellt. Daraus resultiert eine die Realität analysierende Abbildung, die an Stelle der partikularen Identität eine umfassende Adäquanz herstellen will.

Unter 2 wird darauf ausfuhrlicher eingegangen.

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2. Die logischen Vermittlungsebenen von Inhalt und Form Bei Büchners Methode, Inhalt und Form miteinander zu vermitteln, lassen sich drei Ebenen unterscheiden: a) die äußerliche Adäquanz von Inhalt und Form; b) die innere Ordnung der inhaltlichen Elemente; c) die' Vermittlung zwischen Text und Rezipient. a) Büchner unterwirft die stofflichen Elemente einer Bearbeitung, die die unmittelbare Beschaffenheit der Teile im wesentlichen bewahrt, d. h. es herrscht nirgends ein übergreifendes, an jeder Stelle gleichermaßen gültiges Formgesetz, wie es die klassizistische Dramaturgie z. B. aufweist Dennoch werden im Rahmen der Gesamtorganisation quantitative Veränderungen vorgenommen, weil Büchner die individuelle Beschaffenheit der einzelnen Elemente durch Verschärfung ihrer wesentlichen Momente deutlicher herausarbeitet Diese Bearbeitung richtet sich aber jeweils nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Materials und geschieht punktuell. So verändert Büchner z. B. die historisch überlieferte Konstellation zwischen J. Ch. Woyzeck und der Witwe Woost: diese wird verjüngt und ihre (für den Handlungsverlauf wichtige) erotische Attraktivität gesteigert, während sich Büchners Woyzeck anders als sein Vorbild für seine Familie buchstäblich aufarbeitet. Die punktuelle Ausformung kann über solche mehr oder weniger quantitative Verschiebung noch hinausgehen, z. B. wenn der Doctor in H 3,2 Woyzeck zum Wackeln mit den Ohren zwingt: Diese Beobachtung Büchners bei Vorlesungen des Gießener Professors Wilbrand bekommt im Stück eine über die private Versponnenheit des verkommenen Wissenschaftlers hinausgehende Bedeutung, weil sie hier zur Charakterisierung des Doctors als unmenschlichem Experimentator beiträgt. In die gleiche Richtung geht die Gestaltung des Hauptmanns oder des Tambour-Majors, die Büchner weniger als Individuen denn als Sozialcharaktere zeichnet. Bei der Bearbeitung auch des dokumentarisch überlieferten Materials geht es Büchner also nicht primär um die Wahrung der Faktentreue, sondern um die optimale Entwicklung der individuellen Möglichkeiten des jeweiligen Materials. Der authentische Charakter eines Realitätszitats wird so, trotz aller inhaltlichen Modifikationen, nicht zugunsten eines übergeordneten Formprinzips verfälscht - die einzelnen Teile sind deshalb bei Büchner nicht Mittel zum Zweck eines höheren Ganzen.7 Die partikularen stofflichen Elemente behalten auf dieser Vermittlungsstufe ihre Autonomie gegenüber der literarischen Form: Jedes Einzelmoment zeigt sich nachdrücklich vor, so daß der Gesamtkomplex des In7 Büchner vermeidet z. B. eine einheitliche Sprache seiner Figuren: Jede seiner Personen spricht die ihr jeweils angemessene Sprache. Mittels dieser Differenziertheit wird die Sprache zum Bedeutungsträger nicht aufgrund des Inhalts, sondern der Form.

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halts in einen optimal aufbereiteten Zustand übergeführt wird, der die Möglichkeit zur weiteren, dann integralen Durchbildung bietet. b) Der sinnvolle Zusammenhang kann nicht durch eine direkte Verknüpfung der stofflichen Elemente hergestellt werden, da diese gerade als widersprüchliche angelegt sind. Auf der inhaltlichen Ebene muß die Disparatheit daher unversöhnt bleiben. Büchner löst dieses Problem, indem er zwischen seinen poetischen Werken und der soziohistorischen Realität eine Strukturanalogie anstrebt, die in den der Wirklichkeit entnommenen Materialien bereits angelegt ist. Das vielfaltige Material wird jeweils um eine oder wenige Hauptfiguren herum angeordnet, wobei differenzierte Sozialbeziehungen entstehen. Diese entsprechen in ihren wesentlichen Momenten den in der Realität feststellbaren Verhältnissen. Was Büchner in seiner Realität feststellen konnte (sei es durch direkte Beobachtung oder durch theoretische Vermittlung), reproduziert er in seinen Texten: Die problematische Bedürfnisbefriedigung (nicht nur der materiellen, sondern auch der seelischen und geistigen Bedürfnisse) führt zu einem universalen Gewaltzustand, dessen konkrete Ausformung jeweils vom sozialen Standort der Figuren abhängig ist, der aber dennoch alle trifft.8 Die grundlegende Problematik aller literarischen Werke Büchners besteht in einer aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang resultierenden »Entfremdung«9 aufgrund von Rollenzwängen: bei politischen Revolutionären (Dantons Tod), beim in die vermeintlich ursprüngliche Natur flüchtenden Lenz, dem sich langweilenden Kronprinzen (Leonce und Lena) und bei den Paupern (VToyzecK). Übereinstimmendes Merkmal ist die fehlende subjektive Autonomie: Niemand ist seines eigenen Schicksals mächtig, niemand kann es nach seinen Bedürfnissen, Absichten und Einsichten selbst bestimmen - jede Aktion ist primär Re-Aktion, d. h. Handeln in einem Zwangszusammenhang. Diese Mimesis von Sozialstrukturen geschieht durch die Kombination der aufbereiteten Realitätsfragmente zu einer Art Mosaik. Büchner verzichtet dabei auf eine genaue kausale Verbindung: Die stofflichen Elemente werden meist ohne Angabe des logischen Zusammenhangs nebeneinandergestellt Dabei fehlen vor allem auch (mit geringfügigen Ausnahmen besonders in Lenz) Kommentare zur Handlung, die die Bewertung des Dargestellten präjudizieren würden. Hauptmerkmal von Büchners literarischer Technik ist daher die Ellipse. Büchner zeigt Ausf Hauptmann und Doctor unterscheiden sich in der spezifischen Form der Ausbeutung Woyzecks - die Gewalt gegen diesen fällt aber auf sie zurück, denn der Hauptmann muß der Moral wegen seine erotischen Bedürfnisse unterdrücken und der Doctor hat sich in einem Konkurrenzkampf zu behaupten. »Entfremdung« ist hier weder im hegelschen noch im marxschen Sinn gemeint, sondern bezeichnet in allgemeiner Weise das sozial bedingte Auseinanderfallen von individuellen Bedurfnissen und ihren Befriedigungsmöglichkeiten.

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schnitte aus der soziohistorischen Wirklichkeit, die durch ihre planvolle Akzentuierung und Organisation ein theoretisch vermitteltes Abbild vermitteln. Dabei weisen die einzelnen Elemente aufgrund der durchsichtigen technischen Struktur über sich hinaus: Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie sich als Realisationen eines strukturalen Sachverhalts zu erkennen geben. Die zweite Vermittlungsstufe, die das disparate Material zu einer in sich stringenten Totalität organisiert, weist hinter die Oberfläche zurück - nicht das Material ist das Entscheidende, sondern primär der strukturale Bezug des geformten Inhalts zur Realität In der Gestaltung ist eine Analyse der Realität realisiert. c) Büchners Art der Vermittlung von Inhalt und Form, die die realen Widersprüche aufbewahrt und absichtlich inhaltliche Lücken setzt, öffnet die Texte der Realität, d. h. schließt sie nicht zu einer in sich gesicherten, sinnfälligen Individualität ab. Im Gegensatz zum klassisch schönen Kunstwerk kommt zwar das »Wesen« des Darzustellenden auch bei Büchner zum Audruck, doch geschieht das hier aufgrund der fehlenden inneren Versöhntheit (die das klassische »Ideal« ausmacht) nicht vorwiegend sinnlich (in der Erscheinung realisiert), sondern muß in der Reflexion erschlossen werden. Damit reproduziert sich in der Rezeption von Büchners literarischen Arbeiten symmetrisch der Faktor, der schon die Produktion bestimmt hat: die subjektive Vermitteltheit Sie ist gleichermaßen konstitutiv für Produktion wie Rezeption, da beide bei Büchner in einem realen Subjekt-Objekt-Verhältnis bestehen und deshalb auf der Seite des Subjekts immer einen aktiven Prozeß der Auseinandersetzung mit dem Material verlangen. Der objektive Charakter der Texte als Reflexionsprodukte verlangt seine Realisierung im bewußten Verstehen durch die Rezipienten - der Gehalt erschließt sich erst der selbständigen, subjektiven Reflexion. Der Zuschauer oder Leser, der sich mit den Lükken und den strukturalen Sachverhalten in den Texten auseinandersetzen muß, wird, indem er die in den Texten nur virtuell angelegten Realitätsbezüge in seiner Wirklichkeit aktualisiert, für die Texte konstitutiv - dergestalt ist bei Büchner der reale Leser impliziert Die Beschäftigung mit den poetischen Werken Büchners bedeutet somit gerade nicht Kontemplation. Das Begreifen der Texte führt zu keinem kulinarischen Genuß, da die ästhetische Reflexion nicht im Werk ihren Abschluß findet, sondern sich von diesem auf die außerästhetische Realität zurückverwiesen sieht, in der die in den Werken Büchners behandelten Widersprüche erst recht nicht versöhnt sind. Bei Büchner erschöpft sich die Auseinandersetzung mit Literatur deshalb nicht im Bereich der Kunst: Das ästhetische Medium transzendiert sich selbst. Dabei stellt sich die Frage nach der »Schönheit« von Büchners Kunst solange 204

nicht, als man Schönheit als primär sinnliche Qualität auffaßt - in einem vermitteiteren Sinn ist der ästhetische Reiz jedoch keineswegs ausgeschlossen.

3. Modell der adäquaten Rezeption Dem parataktischen Prinzip gemäß dominiert bei Büchner nicht die Handlung. Das Zuschauerinteresse kann sich deshalb auch nicht via Spannung auf die Auflösung der immanenten Problematik richten: Wichtiger als die Inhalte ist für die Rezipienten die Vermitteltheit von Inhalt und Form (also die strukturalen Beziehungen in den Texten). Zwar haben bei Büchner bereits die Textinhalte materialbedingt eine sozialkritische Tendenz (das hungernde Volk in Dantons Tod / der unterdrückte Woyzeck), doch der Gehalt der Texte erschöpft sich hierin noch nicht. Der vor allem strukturale Realitätsbezug muß von den Rezipienten vollständig ermittelt werden - zweierlei Aktivitäten sind dabei vom Zuschauer bzw. Leser verlangt, damit er die inhaltlichen Vermittlungsebenen vervollständigen und aktualisieren kann: Einerseits muß er die materiellen Lücken der Texte materiell ergänzen (durch logisches Intrapolieren und durch Auffüllen mit Material aus der eigenen Wirklichkeit) und andererseits, über diese stoffliche Komplettierung hinaus, die inneren Strukturzusammenhänge erfassen, also den immanenten Textintentionen auf die Spur kommen.10 Die innere Abstraktheit von Büchners Texten in historischer und geographischer Hinsicht provoziert die Rezipienten zur Konkretisierung dieser Unscharfen in ihrer realen Sphäre - sie müssen ihre eigenen Erfahrungen und Kenntnisse mit einbringen. Büchner zeigt somit auch in den Rezeptionsbedingungen das Ansichsein von Objektivität als Schein, der der tatsächlichen Vermitteltheit von gegenständlichem Sein und dessen subjektiver Apperzeption nicht entspricht. Hat aber die Realität in ihrer bestimmten Beschaffenheit kein Ansich, so kann auch kein Urteil über sie an sich und absolut wahr sein. Die Auseinandersetzung der Rezipienten mit den Texten bleibt somit immer subjektiv (d. h. historisch, sozial, individuell etc.) bedingt - ohne dabei aber notwendig sinnlos zu sein. Weil sich Büchners Texte dem unvermittelten Blick so darstellen, als wären sie Abbildungen einer an sich seienden Realität, so kann sich der Rezipient im ersten Verständnisschritt dem Werk gegenüber so verhalten, wie er sich in seiner Realität verhält: seine persönliche, subjektiv be10 Für das Verständnis von Leonce und Lena z. B. ist es unerläßlich, nicht nur die vielen Zitate zu erkennen, sondern sie auch in ihrer strategischen Funktion zu begreifen.

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dingte Haltung hineinprojizieren, um sie vom Text bestätigt zu sehen. Dieser eindimensionale Bezug (ohne Berücksichtigung der Objektivität des Textes) führt zu unvermittelten und nicht problematisierten Stellungnahmen, z. B. zu Sympathie oder Antipathie für einzelne Figuren. Versucht der Rezipient darüber hinaus aber, diese persönliche Sicht am Text zu verifizieren, so muß er sich mit der Totalität des Inhalts auseinandersetzen und stößt spätestens hier auf Schwierigkeiten. Aufgrund der integralen Verarbeitung, die unter den einzelnen Elementen eine kritische Interdependenz herstellt, bleiben bei einer unmittelbar subjektiven Bewertung immer Unstimmigkeiten übrig11 - an dieser Stelle stößt das eindimensionale Textverständnis auf die Tiefenstruktur unterhalb der stofflichen Oberfläche, und die scheinbar selbständigen Textelemente erweisen sich als struktural vermittelt Will der Rezipient redlich bleiben, so sieht er sich hier gehalten, der Textlogik, auf die er aufmerksam geworden ist, zu folgen. Der Leser oder Zuschauer nimmt hier den ästhetischen Charakter der Texte wahr. Die weitere Reflexion auf den inneren Organisationszusammenhang führt letztlich zum Erkennen der Korrespondenz von Text und soziohistorischer Welt. Ähnlich aber, wie Büchners Zitatmethode subjektiv bedingte Stellungnahmen zur Realität problematisiert12, so wird im Fortgang des Rezeptionsprozesses auch die subjektive Perspektive des Rezipienten in ihre Schranken gewiesen: Am konkreten Gegenstand erweisen sich die subjektiven Voraussetzungen als Beschränkungen, die den Zugang zum Objekt zwar nicht versperren, ihn aber behindern können. In der Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Gegenstand kann sich der Rezipient dessen bewußt werden, d. h. er wird dafür sensibilisiert - tendenziell verliert die subjektive Bedingtheit dadurch ihren Zwangscharakter. Gelingt es dem Rezipienten, den einen Gegenstand nach dessen inneren Bedingungen zu erfassen, so bedeutet das für ihn, wenigstens im beschränkten Bereich der ästhetischen Reflexion seiner selbst Herr geworden zu sein, sich im Einzelfall die Freiheit zum Objekt erworben zu haben. Die Subjektivität wird dabei aber nicht zerstört: Sie betätigt sich als Motor und Medium der Reflexion, streift aber ihre ursprünglichen Beschränkungen ab und wird somit nicht weniger, sondern mehr. Aufgrund der sozialkritischen Inhalte von Büchners literarischen Werken braucht dies aber kein rein abstrakter, logischer Vorgang zu bleiben: Büchner macht bewußt, daß es keine isolierten Individuen gibt, daß das Handeln und Denken der einzelnen immer im Rahmen 11 Um das an einem Beispiel zu skizzieren: Gleichgültig, ob man in der unmittelbaren Reaktion für Danton oder für Robespierre Partei ergreifen möchte - beide Positionen erweisen sich als beschränkt, weil weder Danton noch Robespierre in der Lage sind, das zentrale Problem (die Not des Volks) zu lösen. 12 Deutlich ist das an Büchners Bearbeitung des Oberlin-Berichts zu sehen: Die Montage von Zitaten und erfundenem Material, die zu den zwei gegensätzlichen Erzählperspektiven führt (aus der Distanz / mit Lenz' Augen), diskutiert implizit die Haltung Oberlins, d. h. zeigt die Beschränktheit seines Blicks.

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eines gesellschaftlichen Zusammenhanges steht und davon beeinflußt, wenn auch nicht unbedingt determiniert wird. Daß u. a. Danton, Lenz, Leonce und Lena sowie vor allem Woyzeck scheitern bzw. zugrunde gehen, wird als fait social gezeigt - der Rezipient kann dies auf sich selbst beziehen und sein Denken und Handeln als gesellschaftlich bedingt, eben nicht-autonom, verstehen. Diese Befreiung des reflektierenden Subjekts bleibt jedoch in zweifacher Hinsicht beschränkt: Zum einen findet sie nur an einem einzelnen Gegenstand statt, zum ändern verbleibt sie wenigstens vorläufig im Bereich der Theorie. Für die Praxis als realer Mensch bleibt diese ästhetische Erfahrung zunächst folgenlos. Die Rückwirkung auf die Realität kann erst in einem weiteren Vermittlungsschritt geschehen: wenn der Rezipient die in der ästhetischen Reflexion gewonnenen Erfahrungen auf sein Verhalten in der äußeren Wirklichkeit überträgt und sie dort praktisch anwendet. Die Tendenz dieser neuen Stellungnahme zur Wirklichkeit wird selbstverständlich von den jeweiligen Textinhalten beeinflußt, die zwar keine expliziten Urteile über Realität im allgemeinen oder besonderen transportieren, aber durch die Darstellung von Gewalt und Leiden als den Folgen einer widersprüchlichen, naturwüchsigen Gesellschaftsordnung die Reflexion in eine kritische Richtung bringen. Daß Büchner in seinen literarischen Werken historisch, sozial oder geographisch exakt fixierte Darstellungen ebenso vermeidet wie explizite Wertaussagen, findet hierin seine Rechtfertigung: Zum einen sichert er seinen Texten dadurch ein Fortleben, weil die inhaltliche Offenheit (die vom jeweiligen Rezipienten konkretisiert werden kann) eine Relevanz der in den Texten gestalteten Probleme auch unter veränderten politischen, sozialen und geographischen Umständen erlaubt - zum anderen wahrt Büchner dabei, indem er sich allgemeingültig gebende Kommentare vermeidet, die individuelle Integrität der Rezipienten, denen nichts auf gezwängt wird. Die Fähigkeit zu freierer Betrachtung der Wirklichkeit, die in der Beschäftigung mit Büchners Werken erworben werden kann, wird nicht vorweg wieder durch Handlungsanweisungen zerstört. Zusammenfassung: Büchners literarische Werke lassen sich nicht in die von den Kunstgesprächen in Dantons Tod und Lenz vorgegebenen Kategorien: realistisch vs. idealistisch einordnen - auch nicht in den Dualismus von autonomer und operativer Kunst. Der hohe Abstraktionsgrad der Texte widerspricht dem grob verstandenen Realismus, so wie der dennoch sehr enge Realitätsbezug den banal verstandenen Idealismus ausschließt. Damit hält sich Büchner von den ganz allgemein gesagt »konservativen« Autoren der Goethe-Nachfolge bzw. der Spätromantik ebenso fern wie vom Jun207

gen Deutschland, aber es gelingt ihm, die Vorteile beider Extreme zu vereinen. Die relativ autonome Gestaltung, die die Herkunft aus der soziohistorischen Gegenwart zwar nicht verleugnet, sie aber in der immanenten Organisation zurücknimmt, sichert über mehrere Vermittlungsstufen hinweg die Relevanz der Texte auch außerhalb ihrer Ursprungsbedingungen, während die Mimesis historischer Strukturen zusammen mit der Einbeziehung realer Menschen die politische Wirksamkeit ermöglicht. Dies geschieht freilich nicht durch die Vermittlung irgendwie gearteter »Lehren« oder »Botschaften« (trotz mancher Affinitäten zum epischen bzw. gestischen Theater unterscheidet das Büchner besonders von Brechts Lehrstücken), sondern ex negativo: Büchner stellt das Falsche dar - die Konsequenz daraus muß der Rezipient ziehen. Der hohe Anspruch an die Reflexionsfähigkeit (und -bereitschaft) der Rezipienten reduziert allerdings den Kreis des in Frage kommenden Publikums im wesentlichen auf das zu Büchners Zeit gewiß literarisch versierte kritische »Bildungsbürgertum« (das die Zitate hätte erkennen können), dessen Selbstverständnis durch Büchners poetische Texte hätte angegriffen werden können. Der Verzicht auf Utopien, auf Handlungsanweisungen, auf das Namhaftmachen von an der sozialen Misere Schuldigen läßt Büchners literarische Werke jedenfalls als ungeeignet für die direkte sozialkritische Agitation erscheinen. An keiner Stelle werden gültige Lösungsvorschläge gemacht: Die in den Texten dargestellten Probleme bleiben hier ebenso ungelöst wie sie das in der außerästhetischen Realität sind. Vergleicht man nun Büchners antiklassizistisches, aber auch antijungdeutsches Gestaltungsprinzip, das keine verdinglichten Formgesetze kennt (mit einem Wort: seine »offene« Form), mit der Entfremdungskritik, die seiner politischen Theorie und Praxis zugrundeliegt, und mit seiner antiteleologischen Haltung auf naturwissenschaftlich-philosophischem Gebiet, so läßt sich eine grundsätzliche Übereinstimmung feststellen - überall herrscht dieselbe Grundposition, d. h. Sozialkritik, Teleologiekritik und offene Form bilden eine Trias. Was aber die Dichtungen Büchners mehr noch als die naturwissenschaftlichen und philosophischen Arbeiten von den politischen Aktivitäten unterscheidet, ist, daß es ästhetisch möglich war, das positiv zu realisieren, was auf politischem Gebiet nur negativ, in der Form der Anklage durchführbar war: die Überwindung von Entfremdung. In der nichtaristotelischen Form ließ sich die Wahrung der individuellen Integrität, die Freiheit der Individuen, verwirklichen — bezeichnenderweise aber nur in der Form, nicht aber in den Inhalten, die gerade die Unfreiheit darstellen müssen. 208

»Ich meine für menschliche Dinge müsse man auch menschliche Ausdrücke finden« Die Sprache der Philosophie und die Sprache der Dichtung bei Georg Büchner Von Peter Hörn (Kapstadt)

Im Dezember 1853 wirft sich Büchner »mit aller Gewalt in die Philosophie«, eine Tätigkeit, die er zwischen Ende 1835 und Oktober 1836 intensiver fortsetzen wird, mit dem Plan, Vorlesungen über die Geschichte der deutschen Philosophie seit Descartes und Spinoza zu geben. Bereits bei dieser Gelegenheit beschwert er sich in einem Brief vom 9. Dezember 1833 an August Stöber über die »abscheuliche Kunstsprache« der Philosophen (HA II, 421). Dieser Widerwille gegen die fachspezifische Terminologie der Philosophie könnte zunächst nicht mehr als die keineswegs ungewöhnliche studentische Abneigung gegen eine schwerverständliche Fachsprache sein, stünde nicht jener Satz, man müßte doch für menschliche Dinge auch menschliche Ausdrücke finden können, im Zusammenhang mit einer Aussage, die in der Form eines persönlichen Bekenntnisses auf Büchners beginnendes politisches Engagement deutet: »Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu d[en] Laternen.« (I, 422).

Ließe man es bei diesem Widerwillen bewenden, so wäre nicht ganz verständlich, warum Büchner bei anhaltender Abneigung gegen die Philosophie1 gerade dieses Thema für seine geplainte erste Vorlesung in Zürich auswählt und über einen Zeitraum von vier Jahren immer wieder auf das Studium der Philosophie zurückkommt, wobei eine frühere philosophische Lektüre während der Schulzeit und der ersten Universitätsjahre (Fichte und möglicherweise Hegel)2 noch gar nicht mit eingerech1 An Gutzkow 1855: »Ich werde ganz dumm in dem Studium der Philosophie; ich lerne die Armseligkeil des menschlichen Geistes wieder von einer neuen Seite kennen.« (HA II, 450). Alle Büchner-Zitate nach dieser Ausgabe. 2 Die Fichtelektüre kann aus zum Teil wörtlichen, zum Teil sinngemäß aus Fichtes Reden an die deutsche Nation Zitiertem in Büchners Rede Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer erschlossen werden. Wilhelm Luck erwähnt in seinen Mitteilungen an Franzos,(11.9.1878) Büchners »vernichtenden, manchmal übermütigen Hohn über Taschenspielerkünste Hegelscher Dialektik und Begriffsformulationen, z. B.: >Alles, was wirklich, ist auch vernünftig, und was vernünftig, auch wirklich.« Hinweise auf Hegel in den Vorlesungsnotizen gehen wahrscheinlich nicht auf eine Primärlektüre zurück.

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net ist. Einerseits muß Büchner sich aus dem Studium der Philosophie etwas Wichtiges erwartet haben, andererseits diese Erwartung aber immer wieder enttäuscht gesehen haben. Wahrscheinlich geht es Büchner beim Studium der Philosophie nicht wie Heine darum, dem Volk die »verschlossenen Kornkammern« der Philosophie, »wozu es keine Schlüssel hat«, zu eröffnen (Heine 3, 514)3; im Gegensatz zum »Jungen Deutschland, der literarischen Partei Gutzkows und Heines«, glaubt er nämlich nicht, »daß durch die Tagesliteratur eine völlige Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen Ideen möglich sei« (II, 451 f.), also wohl auch nicht an ein Unternehmen von der Art der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, die zwischen dem 1. März und dem 15. Dezember 1834 als Vorabdruck in der Revue des deux mondes erscheint (die deutsche Fassung erscheint Mitte Januar 1835 bei Hoffmann und Campe in Hamburg).4 Andererseits dürfte auch Büchner beim Studium der Philosophie (obwohl seine Exzerpte und Notizen das noch nicht andeuten) sich ähnlich wie Heine eher für Fragen von »sozialer Wichtigkeit« als für theologische und metaphysische Haarspalterei interessiert haben; und mit Heine verband ihn wohl ebenso die Abneigung gegen Werke, die »zwar sehr gründlich, unermeßlich gründlich, sehr tiefsinnig, aber ebenso unverständlich sind« (Heine 3, 514). Büchners Interesse an der Philosophie, das auch seine immer erneute Enttäuschung über die »Kunstsprache«, und die von ihr implizierte Ferne von allen unmittelbaren menschlichen Fragen, überwand, entsprang wohl aus den drei zentralen Interessengebieten seines kurzen Lebens: 1. seine Auseinandersetzung mit der idealistischen Naturphilosophie zu untermauern und die Argumente eventueller Gegner seiner anti-teleologischen Naturauffassung in seinen medizinisch-naturwissenschaftlichen Schriften vorwegzunehmen und zu widerlegen. Solche Auseinandersetzungen zeichnen sich klar in seinem Memoire sur le Systeme nerveux du barbeau und seiner Probevorlesung Ueber Schädelnerven ab5; 2. eine Grundlage für seine radikal-realistische und vehement anti-idealistische Kunstauffassung zu finden. Eine Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie war unumgänglich, wollte er seine klar ausgesprochene Vorliebe für die holländische (realistische) Kunst und seine 3 Zitiert nach Heinrich Heine: Sämtliche Schriften, herausgegeben von Klaus Briegleb. - München 1968 bis 1976. 4 Thomas Michael Mayer nimmt an, daß Büchner Heines Schrift »wahrscheinlich« bekannt war; Belege dafür gibt es keine; gewisse Parallelen lassen es aber vermuten. Vgl. Th. M. Mayer: Büchner und Weidig Frühkornmunismus und revolutionäre Demokratie. - In: GB / , S. 219-222. 5 Z. B. das Insistieren auf der empirischen Methode, die die Tatsachen nicht verzerrt (II, 122), die Ablehnung der teleologischen Philosophie (II, 291 f.), Aussagen wie: Die Natur ist sich »in allen ihren Äußerungen [...] unmittelbar selbst genug. Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da.« (II, 292). Zum Zusammenhang zwischen Büchners naturwissenschaftlicher Methode und seinem sonstigen Denken vgl. Wolfgang Proß: Die Kategorie der>Natur< im Werk Georg Büchners.-In: Aurora 40 (1980), S. 172-188, und Otto Dühnrr: Georg Büchners Naturauffassung. - Phil. Diss. Marburg 1967.

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Abneigung gegen klassizistische Idealisierung auf eine verläßlichere theoretische Grundlage stellen, als es seine zerstreut ausgesprochenen Thesen zur Kunst bereits tun6; 5. seine aus der unmittelbaren revolutionären Praxis gewonnenen politischen Erfahrungen zu ergänzen durch Überlegungen über die »Realität« des Menschen in der Natur und Gesellschaft. Obwohl seine philosophischen Studien nie über die Vorstudien zu Descartes und Spinoza und ausführliche Notizen aus Tennemanns Geschichte der Philosophie zur griechischen Philosophie hinausgelangten, das eigentliche Thema seiner Vorlesungen also gar nicht behandelt wurde (nämlich »die philosophischen Systeme der Deutschen seit Cartesius und Spinoza« [II, 460]), so ist doch nicht zu übersehen, daß er hier die Grundlagen zu einer Auseinandersetzung mit der deutschen Philosophie zwischen Leibniz und Hegel legt. Schon in den Vorstudien nämlich zeichnet sich, wenn auch zunächst nur undeutlich, die Richtung ab, die Büchners Darstellung nehmen würde. Ein roter Faden jedenfalls, der sich durch die Exzerpte und Notizen verfolgen läßt, ist Büchners Mißtrauen gegen das, was er Dogmatismus nennt: »Was im Begriff einer Sache liegt, ist wahr«; Büchner verwendet hier einen Kant nahestehenden Dogmatismusbegriff, der alle diejenigen Philosophien bezeichnet, die ohne Bezug auf Erfahrung und Beobachtung positive metaphysische Behauptungen aufstellen.7 »Dogmatisch« wird ihm die Philosophie dort, wo sie behauptet, Denken und Sein seien ein und dasselbe, wie Büchner das zum Beispiel von Spinozas Identitätslehre behauptet. Im Gegensatz zu Johannes Kühn8, der Spinoza durch einen Trick zum intuitiven Denker machen möchte9, wendet Büchner scharf ein: »Alles, Wissenschaftslehre und Metaphysik, hängt an dem einen Satz: wir können uns das vollkommne Wesen nicht anders als seyend denken, es existirt also nothwendigerweise. Die Wissenschaftslehre, denn aus ihr giebt sich die Identität des Denkens und Seyns; die Metaphysik, denn es ist die einzige Möglichkeit die Realität eines Objects zu beweisen« (II, 276).

Büchner besteht also vehement darauf, daß Spinozas System in sich völlig geschlossen und durchgehend argumentativ sei, daß Spinoza sich 6 Vgl. Beim, S. 75-102. Beim zitiert Camilles Rede über das Theater (I, 37) und das Kunstgespräch zwischen Lenz und Kaufmann und verschiedene Büchnerbriefe. Er versucht, mit weit mehr Recht als andere solche Versuche, den Zusammenhang der Büchnerschen Persönlichkeit aus der »Autopsie«, der scharfen empirischen Beobachtungsgabe zu konstruieren, wie sie auch Gutzkow in seinem Brief vom 10. 6. 36 (II, 490f.) als Büchners eigentümlichste Kraft aufgefallen war. Auch Proß gewinnt neue Aufschlüsse über Büchner aus seiner Stellung in der Wissenschaftsgeschichte (vgl. Anm. 5). 7 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. - Frankfurt am Main 1974: »Ich teile alle apodiktische Sätze (sie mögen nun erweislich oder auch unmittelbar gewiß sein) in Dogmata und Mathemata ein. Ein direktsynthetischer Satz aus Begriffen ist ein Dogma« (S. 764). Die kantische Definition des Dogmatismus könnte Büchner aus seiner Quelle, W. G. Tennemann: Geschichte der Philosophie, Bd. 10. - Leipzig 1817, übernommen haben. 8 Johannes Kühn: Jacobi und die Philosophie seiner Zeit, Ein Versuch, das wissenschaftliche Fundament der Philosophie historisch zu erörtern.- Mainz: Kupferberg 1834. 9 Büchner zitiert aus Kühn: »die absolute Erkenntnißart des Spinoza [scheint mir] in der intuitiven Erkenntniß des absoluten Seyns, außer welchem kein anderes Seyn ist, zu liegen« (II, 276).

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keineswegs auf reine Anschauung oder Intuition als Quelle der letzten Geheimnisse der Philosophie zurückgezogen habe; aber ebenso insistiert er darauf, daß Spinoza in seinem »Enthusiasmus der Mathematik« (II, 276), d. h. in seinem Versuch, Wahrheit rein a priori, allein mit den Mitteln der logisch-(geometrischen) Deduktion zu begründen, zu der Schlußfolgerung gezwungen war, daß das, was wir klar und deutlich erkennen (so schon Descartes), auch existieren müsse. Nicht nur, weil er selbst (allerdings, wie Schulz sagt, ein völlig undogmatischer) Atheist ist10, sondern auch, weil der Spinozasche Gottesbeweis die Grundlage dieses rationalistischen Denkens ist, geht Büchner konsequent immer wieder gegen Spinozas Proposition V. an: »Es kann nicht mehrere Substanzen von gleicher Natur oder gleichen Attributen geben« (II, 230): »Da überhaupt über das Wesen der Substanz nichts weiter gesagt ist, als daß eine Substanz durch sich selbst begriffen werde, so sehe ich nicht ein, warum der Umstand, daß zwei Substanzen von gleicher Natur nicht unterschieden werden können, zu dem Schlüsse berechtigt daß überhaupt das Daseyn desselben unmöglich sey. Spinoza verwechselt das unterscheiden und das sich denken können* (11,231).

Büchner baut auf diesem Argument in der Auseinandersetzung mit der X. Proposition auf (»Jedes Attribut einer Substanz muß durch sich selbst begriffen werden«), wo er einmal nachweist, daß damit die Begriffe Substanz und Attribut zu leeren Begriffen werden, andererseits ein Ding nicht mehrere Attribute haben könne. Büchners Argumentation kulminiert in der Widerlegung des Spinozaschen Gottesbeweises: »Gott oder die aus unendlichen Attributen, deren jedes eine ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt, bestehende Substanz, existirt nothwendigerweise.« Wenn man Gott denke, so gibt Büchner zu, dann könne man ihn nicht anders als seiend denken: »Was zwingt uns aber ein Wesen zu denken, was nicht anders als seyend gedacht werden kann [...]?« (II, 236). Es geht hier nicht darum, erneut Stellung zu nehmen zu Büchners Atheismus11, es geht darum, daß in der »Kunstsprache der Philosophie« in inhaltsleeren Worten (Substanz, Attribute)12 eine Erkenntnis a priori vorgetäuscht wird, die letztlich nur über den Umweg der empirischen Erfahrung zu haben ist. Das wird besonders deutlich in der Auseinan10 Zu erneuten Versuchen, Büchner auch noch »dogmatisch« für das Dasein Gottes eintreten zu lassen, vgl. Erwin Kobel: Georg Büchner. Das dichterische Werk. - Berlin, New York: de Gruyter 1974, und Thomas Michael Mayers kritische Besprechung in GB I/H, S. 347-349. Benn wägt die Argumente sorgfaltig ab und kommt zu dem Schluß, Büchner sei sicherlich ein Atheist gewesen. Vgl. Wilhelm Schulz (1851): »Jede Zeile seiner Schriften gibt davon ZeugniO, daß er in seinen religiösen Ansichten und in denen über Religion freier war, als irgend Einer. Aber seine durch und durch skeptische Natur ließ ihn auch seinen Zweifel bezweifeln und bewahrte ihn vor jenem Hochmuthe, der sich mit dem Dünkel der Untrüglichkeit als Dogmatiker der Verneinung dem der Bejahung entgegenstellt.« Zitiert nach Thomas Michael Mayer: Büchner-Chronik. - In: GB I/II, S. 405. 11 Vgl. Vietor (1949) und Donald Brinkmann: Büchner als Philosoph. - Zürich 1958, die wie auch Kobel (Anm. 10) versuchen, Büchners Kritik an Spinozas Gottesbeweis nur als wissenschaftliche Kritik an einer unzureichenden Beweisführung abzutun. 12 Vgl. die Karikatur der Spinozistischen Terminologie in Leonce und Lena.

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dersetzung um die Begriffe »formale« und »materiale« Wahrheit, welche letztere bei Spinoza eben dann doch wieder nur formal »material« ist; denn Spinoza nimmt an, »daß der wahre Gedanke sich von dem falschen, nicht nur durch ein äußeres, sondern zumeist durch ein inneres Verhältniß unterscheide [...], daß es in den Ideen selbst etwas Reales giebt, wodurch die wahren sich von den falschen unterscheiden [...]. Es muß daher die Form des wahren Gedankens in dem Gedanken selbst ohne alle Beziehung auf andere liegen, nicht das Object zur Ursache haben, sondern allein von dem Vermögen und Wesen des Verstandes abhängen.« (II, 272) Dieses Umherirren im Zirkel der autonomen Vernunft ist die »trostlose Wüste«, in der die Philosophie a priori sich nach Büchner befindet (II, 293). Was Büchner sich in den Exzerpten aus Tennemann über die griechische Philosophie angemerkt hat, daß Plato »das Denken mit dem Erkennen verwechselt« (II, 357) und daß für Plato »die Wahrheit nichts anders [ist], als die bloße Denkbarkeit, die Uebereinstimmung mit Begriffen nach den Gesetzen des Denkens« (II, 359), trifft auf jede Form der rationalistischen Philosophie zu. Symptom dieser in sich selbst kreisenden Rationalität ist die von Büchner bemerkte Unklarheit Platos in seiner Erklärung des Worts als Zeichen: »Giebt man zu, daß das Wort als Zeichen von dem Bezeichneten unterschieden sey, so muß man auch einräumen, daß es nicht Eins, sondern zwei Reale giebt. Oder ist das Zeichen mit dem Bezeichneten identisch, so folgt, daß entweder das Wort sich auf kein Object, als Bezeichnetes bezieht, oder daß dieß Bezeichnete wieder nichts ist, als ein Wort.« (II, 350).

In dem Versuch, die auch von ihm gesehene Arbitrarität des Zeichens (als auch der philosophischen Begriffe) mit den nicht arbiträren ewigen Gesetzen des Denkens in Einklang zu bringen, unterscheidet Plato den »logos« (das Formale am Wort, den Begriff) vom bloßen Zeichen (dem Materialen, dem Klang, Schriftbild etc.). Nur der Begriff ist ihm von der Natur des Gegenstandes bestimmt, das Zeichen dagegen ist zumindest teilweise willkürlich gesetzt (vgl. II, 360). Die Differenz zwischen dem Wort als begrifflicher Konstruktion der Wirklichkeit und dieser selbst bleibt für Büchner immer betont bestehen; dort wo das Wort und die Begrifflichkeit sich dogmatisch (also durch rein gedankliche Konstruktion) der Wirklichkeit versichert zu haben glauben, setzt seine Skepsis ein und konfrontiert das System der in sich selbst kreisenden Sprache mit dem empirisch überprüfbaren Tatbestand. Indem er zum Beispiel so die opinio communis, den sogenannten gesunden Menschenverstand, den empirisch erlittenen und erlebten Realitäten gegenüberstellt, die als solche von allen grundsätzlich nachvollziehbar und einsehbar die wirklichen »menschlichen Dinge« darstellen, entlarvt er das, was »man« so sagt, als ein System unmenschlicher 213

Ausdrücke, das zum Beispiel den »ewigen Gewaltzustand« des absolutistischen Staates den »gesetzlichen Zustand« nennt (II, 416). Auch die Ideologie des Bürgertums (z. B. die seiner Eltern) erweist sich als eine solche in sich kreisende Konstruktion aus Begriffen: die institutionalisierte Gewalt des Staates erscheint als Gesetz und Ordnung, genau wie in Spinozas Philosophie die unzulängliche und unvollkommene Ordnung des Daseins als unendliche und in jeder Hinsicht perfekte Substanz beschrieben wird. Ebenso wie Büchner der gedanklichen Konstruktion des absolut vollkommenen Wesens das vom Verstand begriffene Unvollkommene und den vom Gefühl erfahrenen Schmerz entgegenhält, konfrontiert er die Vorstellung des Rechtsstaates mit der tatsächlichen Erfahrung, daß dieser Rechtsstaat »die große Masse der Staatsbürger zum frohnenden Vieh macht«, daß er sich nur durch »rohe Militärgewalt« erhalten kann und nur die Interessen einer »unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl« (II, 416) befriedigt. Die ideologiekritische Anlage des Hessischen Landboten z. B. geht davon aus, daß das System all dessen, was »man« sagt, in anderer Weise als die rohe Gewalt, aber durchaus im Verein mit ihr, zu den Herrschaftsmitteln gehört. Indem nun Büchner der ohne Widerspruch in sich kreisenden, rein gedanklichen Konstruktion der gesellschaftlichen Struktur in der Ideologie immer wieder das entgegenstellt, was diese Worte und Begriffe entgegen der landläufigen Meinung im Leben der unterdrückten Massen tatsächlich bedeuten, greift er die Rechtfertigung von »Gesetz und Ordnung« in der Weise an, daß die Unterdrückten sich von der auch sie beherrschenden Ideologie freimachen können, ihr bewußt die Zustimmung verweigern können, und somit, aus den geistigen Ketten befreit, ihre reale Befreiung in Angriff nehmen können. Daher denn auch die ständige Gegenüberstellung des Begriffs mit dem, was dieser Begriff in der Erfahrung der Unterdrückten wirklich bedeutet: z. B. »In Ordnung leben heißt hungern und geschunden werden« (II, 36); »sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d. h. sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen- und Bürgerrechte zu rauben« (II, 38); »Diese Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in Ordnung zu halten, damit man euch bequemer schinde« (II, 38); diese »Willkür« heißt »Gesetz«. Um diese Diskrepanz zwischen der verbalen, ideologischen Konstruktion des Willkürstaates als Rechtsstaat und der täglichen Erfahrung der Massen auch sprachlich zu pointieren, greift Büchner immer wieder zum Mittel der Katachrese und des Oxymorons, in dem die einander widersprechenden Anschauungsweisen unvermittelt aufeinanderprallen. So sind die Soldaten »gesetzliche Mörder« und die Reichen »gesetzliche Räuber« (II, 40). Ohne an dieser Stelle noch einmal auf die Frage nach der Verteilung der Verfasserschaft des Hessischen Landboten einzugehen (Thomas Mi214

chael Mayer hat dies in einem erschöpfenden Artikel in Text und Kritik ja unlängst getan)13, möchte ich doch den Gegensatz zwischen dieser Art der Argumentation und der biblisch-prophetischen im Hessischen Landboten kurz herausarbeiten. Auch die biblisch-prophetische Argumentationsweise konstatiert den Gegensatz zwischen dem Anschein und der (unmoralischen) Realität. Aber durch ihre metaphorische Ausdrucksweise konfrontiert sie den Anspruch des Systems nicht mit einer erfahrbaren Realität, sondern mit der Empörung über die dann doch nicht näher greifbare Unmoral des Hofes: im Gegensatz zu einer naiven Auffassung macht die Metapher die Realität nämlich keineswegs anschaulich, sie lädt sie nur mit einer diffusen Emotion auf. So ist der Fürstenmantel »der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Hofe in ihrer Geilheit übereinander wälzen - mit Orden und Bändern decken sie ihre Geschwüre und mit kostbaren Gewändern bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber.« (II, 44). Die Widersprüchlichkeit der uns vorliegenden Fassung des Hessischen Landboten, von der man zunächst nicht beweisen kann, ob sie ein Widerspruch bereits in Büchners Manuskript war14, ist der Widerspruch zwischen einer Anleitung zum selbstdenkenden Zerstören der ideologischen Verbrämung eines Unrechtsstaates einerseits, und dem Versuch, das Volk zu »gerechter moralischer Empörung« zu bringen, andererseits. Während die erste Form der Agitation das Volk als Subjekt völlig ernst nimmt, tendiert die zweite dahin, es als Objekt zu manipulieren. Diese Sprachkritik, die an der Herrschaft in den Köpfen der Beherrschten rüttelt, setzt sich konsequent in allen Werken Büchners durch. So entlarvt er zum Beispiel die immer wiederkehrende Rede vom Terror der Massen in Dantons Tod als Schutzbehauptung derer, die einen lebenslangen Terror über die Massen ausüben. Im Vergleich zu dem »Mord durch Arbeit« ist die Hinrichtung der Reichen »nur ein Spielen mit einer Hanflocke um den Hals«; denn diese Hinrichtung dauert nur einen Augenblick lang, die Arbeiter dagegen »hängen sechzig Jahre lang am Strick und zapp[el]n« (I, 15). Besonders scharf wird Büchner dort, wo der philosophische Idealismus, z. B. in seiner Lehre von der menschlichen Willensfreiheit, sich als Werkzeug des unmenschlichen Aristokratismus erweist und den Opfern der Gesellschaft die von der Gesellschaft geschaffene Unfreiheit als eigenes Versagen vorwirft; wenn also z. B. der Doktor ausgerechnet dem von der.Gesellschaft unterdrückten Woyzeck vorhält, der Mensch sei frei, in ihm »verklärt sich die Indivi13 Vgl. Anm. 4. 14 Daß Büchner den religiösen Fanatismus als einen Hebel zur Revolution als Möglichkeit erwägt, ist bekannt; daß er sich bewußt, auch schon vor Weidigs Bearbeitung, in einer dem Volke bekannten Sprache, .der Sprache der Bibel, auszudrücken versuchte, ist daher nicht auszuschließen. Dennoch halte ich Mayers Argument (GB l/U, S. 217) für überzeugend: »Büchner beurteilte jedenfalls die Überzeugungskraft auch politischer Moralpredigten vergleichsweise geringer als das >Zeigen< und >Vorrechnenhilflose< Denken (damit meine ich ein Denken, das vom herrschenden Diskurs keine Denkhilfe erwarten kann) immer wieder ins Irrationale durchbricht, sich auch in seinen eigenen Denkanstrengungen verheddert, so ist es doch ein Versuch, für »die menschlichen Dinge« auch »menschliche Ausdrücke« zu finden. Die Gefahr eines solchen vom bestehenden Diskurs im Stich gelassenen Denkens ist natürlich, daß es oft hilflos um sich schlägt, und dabei auch mit falschen Kategorien unschuldige Opfer schlägt: »Die Freimaurer!« und die »Juden«; daß es auch in paranoischer Manie Spuk, Prophetie und Vision zu Endzeit- und Katastrophenbildern steigert Dieser Paranoia schwankt die Erde unter den Füßen, klingt alles hohl unter der Erde, und sie sieht: »Ein Feuer fahrt um den Himmel und ein Getös herunter wie Posaunen.« (1,168)16 Aber eben dieses hilflose Denken kommt doch auch darauf, daß die Tugend eine Funktion des Reichtums ist (zumindest der Schein der Tugend), daß der Arme in dieser und wohl auch in einer jenseitigen Welt das Arbeitstier sein muß, und es hält dem moralisierenden Christentum abwehrend dessen eigene Maximen entgegen: »Lasset die Kindlein zu mir kommen« (1,172). Wo es in trunkener Anarchie die Hemmungen verliert, die es auf das »vernünftige Denken« (d. h. das Denken in den Bahnen der herrschenden Ideologie) festnagelt, kommt es in bewußter Verkehrung des Sinns auf den Unsinn der gegebenen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die den Menschen nicht als Selbstzweck begreifen kann, sondern ihn als Mittel zum Zweck des Geldverdienens mißbraucht: »Aber wahrlich ich sage euch, von was hätte der Landmann, der Weißbinder, der Schuster, der Arzt leben sollen, wenn Gott den Menschen nicht geschaffen hätte? Von was hätte der Schneider leben sollen, wenn er dem Menschen nicht die Empfindung der Schaam eingepflanzt, von was der Soldat, wenn Er ihn nicht mit dem Bedürfniß sich todtzuschlagen ausgerüstet hätte?« (II, 178).

Klarer kann man den Widersinn des teleologischen Denkens kaum ausdrücken. Nicht, daß den Armen immer und überall die Sprache so zur Verfügung stünde. Wo sie das Verdikt angenommen haben, daß sie »abscheulich dumm« sind, dort schweigen sie oder kommen über unverständliche Ansätze nicht hinaus; sie sind nicht die Sprachbeherrscher. In dem Versuch, sich gegen den Doktor zu wehren, verfallt Woyzeck ins Stottern: »sehn Sie mit der Natur er kracht mit den Fingern das ist so was, wie soll ich doch sagen, zum Beispiel ...« Der Redegewandte fallt ihm sofort in die Rede, erlaubt ihm nicht, seine Gedanken zu formulieren, S. 24). Die Fabel, daß der Hessische Landbote bei den Bauern keinerlei Wirkung hatte, hat Mayer wohl ebenfalls zu Grabe getragen (vgl. GBI/ , S. 385). Zu Büchners Kontakten zu Mitgliedern der subbürgerlichen Schichten vgl. ebd. 16 Wolfgang Proß verweist auf den Sachverhalt der Spiegelillusion einer »doppelten Natur«, »welche die Verzerrung und gesellschaftliche Deformierung ihrer Natur als Projektion sichtbar macht und sie gleichzeitig als Selbstaggression zurückwirft« (Anm. 5, S. 182). 217

reißt mit der ihm eigenen Arroganz die Rede an sich und erklärt den Sprecher zum psychiatrischen Fall: »Er hat eine aberratio« (II, 175). Die zum Spalierstehen befohlenen Bauern in Leonce und Lena kommen überhaupt nicht zu Wort, sie dürfen nur das einstudierte »Vivat« brüllen. Die Sprachbeherrscher selbst allerdings handeln keineswegs nach so klaren, jederzeit kommunizierbaren Maximen, wie sie sie an der Oberfläche ihres Denkens und Sprechens anstreben. Der spinozistische »Enthusiasmus der Mathematik«, der Versuch, ein allseitig geschlossenes logisches System aufzubauen, das jeden Widerspruch von vorneherein als »aberratio« abweisen kann, trägt seinen Widerspruch als einen unbewußten in sich. Wenn St. Just daher die Schreckensherrschaft der Jakobiner durch die Analogie zu den unabänderlichen Gesetzen der Natur zu begründen versucht und fragt: »soll die moralische Natur in ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen, als die physische? Soll eine Idee nicht eben so gut wie ein Gesetz der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersezt?« (1,45), dann verdeckt er durch diesen Vergleich, daß die Natur zweckfrei, der historisch handelnde Mensch aber durchaus im Hinblick auf von ihm selbst formulierte Zwecke hin tätig wird. Der Widerspruch zwischen dem blinden Fatalismus, der sich selbst ebenso als Werkzeug des »Weltgeistes« versteht wie die »physischen Vulkane oder Wasserfluthen«, der aber andererseits sein Tun mit dem Hinweis auf die Umgestaltung der moralischen Natur des Menschen verteidigt - der kausale Determinismus brauchte sich weder zu verteidigen noch zu überreden, denn was nach den Gesetzen der Natur geschieht, geschieht auch ohne diese Anstrengung - dieser Widerspruch zwischen Fatalismus und »moralischer« Rechtfertigung, die eben doch einen freien Willen voraussetzt, konfrontiert die Herrschenden schließlich mit dem, was auch sie beherrscht, was sie aber als das »Irrationale« aus dem rationalen Diskurs ausgeschlossen haben: ihrem Unbewußten. Am deutlichsten wohl in Robespierres Monolog, in dem er sich Rechenschaft zu geben versucht über die Motive des Handelns und sich schließlich zu der Aussage durchringt: »Ich weiß nicht, was in mir das Andere belügt.« Der Determinismus St. Justs ist ebenso ein geschlossenes System, eine dogmatische Gedankenkonstruktion wie Robespierres puritanische Ethik! Beide weigern sich, die »aberratio« zuzulassen, die doch als Unbewußtes die eigentliche Motivation des Systems ist. Insofern hat Dantons Einwand gegen Robespierre seine (wenn auch relative) Berechtigung: »Das Gewissen ist ein Spiegel vor dem ein Affe sich quält; jeder puzt sich wie er kann, und geht auf seine eigne Art auf seinen Spaß dabey aus.« (I, 27) Danton verteidigt hier gegenüber denjenigen, die ihre Systeme zur Rechtfertigung ihrer blutigen Taten benutzen, das Recht alles Lebens, Selbstzweck zu sein. Diejenigen, die sieh anmaßen, »der Polizeysoldat des Himmels« zu sein, um jede »aberratio«, alles, was in ihre eigene Ge218

dankenkonstruktion nicht hineinpaßt, einfach auszulöschen, begehen die Sünden des »Aristocratismus« - sie geben vor, besser zu wissen, was der Menschheit guttue, als alle anderen. Die »Kunstsprache«, nicht nur der Philosophie, sondern vor allem deren Übernahme zur Rationalisierung von Handlung mit »idealistischen« Motiven, ist also nicht nur deshalb »abscheulich«, weil sie schwer verständlich ist und damit die Diskussion »menschlicher Dinge« der großen Masse unzugänglich macht, sondern weil sie den Zugang zu den wirklichen Motiven menschlicher Handlungen unmöglich macht Die »aberratio« ist für den Dogmatiker nicht das, was ist, sondern das, was nicht sein soll. Was aber a priori nicht sein soll, was also nicht im Begriff der Sache liegt, das muß unwahr sein. Nichtsdestoweniger zeigt sich das, was dem rationalistischen Gesetz nach nicht wahr sein soll, dennoch als Erscheinung, und weigert sich auch dann zu verschwinden, wenn es aus dem rationalen Diskurs ausgetrieben wurde. Da es aber aus dem rationalen Diskurs ausgeschlossen ist, empfindet es sich selbst immer wieder als das Nichts, als jenes Andere, das dem offiziell zum Sein erklärten sprachlos und hilflos entgegensteht. Da nach Spinoza Dasein zum Wesen der Substanz gehört, da, wie Büchner bemerkt, innerhalb der Logik des Systems aus etwas unmöglich nichts werden kann, und umgekehrt das Nichts nicht Ursache eines Seienden sein kann, bezeichnet das Nichts als absoluter Gegensatz alles das, was aus dem System des rationalen Diskurses herausfallt: zum Beispiel der Tod, zum Beispiel körperliche und geistige Krankheit und Verbrechen. Danton, als »Atheist« einerseits dem System des Rationalismus verbunden, philosophiert im Augenblick, da er aus diesem System hinausgedrängt wird, aus der Erfahrung des vom System Verworfenen heraus, über dieses »Nichts«, ohne sich noch voll von dem System lösen zu können. Noch kommt er nicht los, von dem »verfluchte [n] Satz«, daß »etwas nicht zu nichts werden« kann (1,61); aber gleichzeitig wagt er schon den ersten Schritt über das System hinaus: »Das Nichts hat sich ermordet, die Schöpfung ist seine Wunde, wir sind seine Blutstropfen, die Welt ist das Grab worin es fault.« (I, 61) Bevor er hingerichtet wird, spricht er aus, was innerhalb des Systems unaussprechlich ist: das Sein, die Substanz, »die Welt ist das Chaos«, also gerade eben nicht die vollkommene Ordnung, die das idealistische System postuliert; daher ist »das Nichts [...] der zu gebärende Weltgott« (I, 72). Der Wortschatz ist noch metaphysisch, dem Diskurs der dogmatischen Philosophie verhaftet; der in diesem Vokabular zum Ausdruck strebende Gedanke aber sprengt das System.17 17 Vgl. gegen meine Interpretation die ähnliche, aber tendenziell anders gerichtete von Proß (Anm. 5, S. 184).

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Meist ist das »Nichts« aber nicht mehr als ein Ausdruck des AußerhalbSeins: der aus der Gemeinschaft der Kommunikation Ausgeschlossene erfahrt diese Situation, wie Lenz, als eine »namenlose Angst in diesem Nichts« (I, 80); er erfahrt sich selber als von einem Wahn befallen: »es war ihm wie ein Schatten, ein Traum, und es wurde ihm leer [...], das Licht war erloschen, die Finsterniß verschlang Alles« (I, 81). Extremster Ausdruck solches Verlassenseins ist das Märchen der Großmutter im Woyzeck; nicht nur die menschliche Welt hat das Kind verloren, auch das scheinbar Unzerstörbare, Sonne, Mond, Sterne und Erde sind »verfault«, »verreckt« und »umgestürzt«. Da wo die herrschende Sprache »Nichts« sieht, da sieht auch die Sprache der Unterdrückten nichts mehr. Das Leiden allein ist noch kein guter Lehrmeister. Es macht das Volk noch nicht zum Subjekt seines Handelns. Zwar ist »das Verhältniß zwischen Armen und Reichen das einzige revolutionäre Element in der Welt«, zwar ist »der Hunger allein [...] die Freiheitsgöttin« (II, 441), aber das Elend des Volkes ist nur der »Hebel«, mit dessen Hilfe das Volk aus der ihm auferlegten Dumpfheit herausgerissen werden kann. Deswegen erhofft sich Büchner (in einer überspitzten Formulierung an Gutzkow) »ein Mißjahr [...], worin nur der Hanf geräth« (I, 436) und behauptet: »Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.« (II, 441) Ohne Zweifel ist ihm, »daß nur das nothwendige Bedürfniß der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der Einzelnen vergebliches Thorenwerk ist.« (II, 418) Das bedeutet natürlich nicht, daß die Einzelnen, also auch Büchner selber, sich in ihre Privatsphäre zurückziehen und darauf warten sollen, bis das Bedürfnis die großen Massen zur Revolution treibt. Wenn Büchner schreibt: »Sie schreiben, man liest sie nicht; sie schreien, man hört sie nicht« (II, 418), dann trifft das bestimmt nicht seinen eigenen Agitationsversuch ein Jahr später, den Hessischen Landboten, der sich direkt an die Massen wandte, der direkt an die Massen verteilt und auch von ihnen gelesen wurde.18 Obwohl Büchner selbst zuzeiten so spricht, als wolle er die Masse des Volkes als Werkzeug für die Revolution benutzen, so überwiegt doch deutlich die Auffassung, daß das Volk Subjekt der Revolution sein muß. Dann aber wird die Sprachfahigkeit des Volkes für ihn zu einem zentralen Kriterium: Subjekt ist, wer spricht, wer seine Handlungsabsichten so formulieren kann, daß kooperatives Handeln möglich wird. Das begreift er als Funktion seiner Agitation, die den Bauern das sprachliche und begriffliche Werkzeug in die Hand gibt, zu denken, zu sprechen und zu handeln. Noch für den im Exil lebenden Büchner, der von

18 Vgl. Thomas Michael Mayer, in: GB MI, S. 385.

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der direkten Agitation abgeschnitten ist, werden dieselben Grundsätze als Leitbilder für seine Kunst gelten. Wer wie Büchner glaubt, man müsse »in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen« (II, 455), der stellt sich allerdings in einen Widerspruch zu sich selbst, wenn er in demselben Brief behauptet, für die große Klasse selbst gäbe es nur zwei »Hebel«: »materielles Elend und religiöser Fanatismus. Jede Parthei, welche diese Hebel anzusetzen versteht, wird siegen.« (II, 455) Dieser Widerspruch beruht auf einem anderen Widerspruch, den Büchner in seinen Werken und Schriften nie voll ausgetragen hat, dessen dialektische Auflösung erst Marx gelingt: dem Widerspruch zwischen dem Fatalismus der kausalen Determination und der in diese Determination einbezogenen, sie aber gleichzeitig durchbrechenden Selbsttätigkeit des Menschen. So sehr Büchner nämlich sonst fähig ist, das a-priori-Denken der Systemphilosophen idealistischer und materialistischer Färbung vom Standpunkt der das System durchkreuzenden »aberratio« aus, also vom Standpunkt des »Selbstzwecks« jedes Individuums aus, zu durchbrechen und gegen die im System entwickelte Gesetzmäßigkeit die in diese Gesetzmäßigkeit nicht passende empirische Einzelerscheinung geltend zu machen, so wenig kann er sich als Naturwissenschaftler von der Allgemeingültigkeit der Kausalität trennen. Der (nach Büchners eigener kantischer Definition) dogmatisch zu nennende Glaube an die Kausalität ist der letzte Ausläufer eines Glaubens an ein allumfassendes Gesetz, »dessen Wirkungen sich natürlich nicht gegenseitig zerstören« (II, 292) und daher eine »nothwendige Harmonie« der Natur garantieren. Eben dieses selbe Gesetz aber, das Büchner in seiner Probevorlesung als ein »Gesetz der Schönheit, das nach einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt« (II, 292), anspricht, ist der »gräßliche Fatalismus der Geschichte« (II, 425), dem der einzelne scheinbar hilflos gegenübersteht und dessen »unabwendbare Gewalt« eben den Selbstzweck des Individuums bedroht.19 Gerade in dem berühmten Fatalismusbrief findet sich aber auch der Ansatz zur Überwindung dieser alles erdrückenden Fatalität: die Gewalt der Geschichte nämlich ist »Allen und Keinem verliehen«. Kein »Einzelner« zwar kann den Verlauf der Geschichte ändern, kein Einzelner kann durch seine Handlung Ursache für eine Wirkung werden, die den Lauf der Geschichte für alle verändert; der große Einzelne, der sich das einbildet, sei es als Staatsmann, sei es als Philosoph oder Schriftsteller, ist 19 Fatalismus bedeutet im Umfeld der damaligen philosophischen Diskussion das, was wir heute als Determinismus bezeichnen würden, also keineswegs eine Art göttlicher Prädestination. Sehr aufschlußreich in diesem Kontext ist Mayers Abhandlung, GB l/U, S, 86-103.

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nur »Schaum auf der Welle [...], die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel«. Aber eben dieses Gesetz zu erkennen, ist das Höchste; auch wenn die Erkenntnis des Gesetzes es dem Einzelnen nicht erlaubt, es zu beherrschen. Obwohl Büchner nun nicht selbst ausdrücklich die Konsequenz aus diesen Prämissen zieht, so sind sie doch deutlich: wenn die Gewalt der Geschichte »Allen« verliehen ist, dann müssen eben »Alle« Geschichte machen, und zwar nicht mehr unbewußt, gewissermaßen hinter ihrem eigenen Rücken, ohne daß sie wüßten, was sie da tun; sondern bewußt und mit voller Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten. Das aber erfordert nicht nur die Einsicht in eben jene Gesetzmäßigkeiten der Geschichte, sondern deren Vermittlung an das Subjekt der Geschichte, »Alle«. Der Grund der Widersprüchlichkeit nicht nur zwischen Büchners philosophisch-wissenschaftlicher Position und seiner praktischen politischen Aktivität, sondern auch innerhalb seiner politischen Aktivität zwischen der Auffassung vom Volk als Werkzeug und der Auffassung vom Volk als Subjekt, liegt augenscheinlich darin, daß er diesen Gedanken nicht weiterdenken konnte. Sein allzu früher Tod hat dem Versuch, die in seiner widerspruchsvollen Praxis angelegte Konzeption in der Theorie einzuholen, ein Ende gesetzt. Daß sich seine künstlerische Praxis aber, so widersprüchlich sie selbst scheinen mag, als Versuch versteht, einerseits die Bewegung dieses Subjekts der Geschichte darzustellen, andererseits das Recht des Individuums gegenüber den es bedrohenen Gewalten der Geschichte herauszuarbeiten, kann hier zumindest kurz angedeutet werden. Aus demselben Grunde, aus dem Büchner es ablehnt, in der Philosophie ein Unvollkommenes durch axiomatische Taschenspielerkunststücke zum Absoluten erklären zu lassen, dem dann auf Grund der Definition zirkulär auch noch seine Existenz zugesprochen werden muß; aus demselben Grunde, aus dem er es ablehnt, daß eine unzulängliche gesellschaftliche Ordnung sich selber als gesetzliche Ordnung zu begreifen versucht, weil sie die Gewalt hat, diese Ordnung durchzusetzen; aus demselben Grunde, aus dem er es ablehnt, die Harmonie der Natur physiko-theologisch aus der Zweckmäßigkeit ihrer Teile zu verstehen; aus demselben Grunde lehnt er es auch ab, daß die Kunst sich nach der Gedankenkonstruktion idealistischer Philosophie zu richten habe, fordert er für sich die Freiheit, »Alles, was existirt, bei seinem Namen zu nennen« (II, 422). Die Idealisierung, wie Büchner sie vor allem an Schiller angreift, verlangt vom Dichter ja gerade, das »Gemeine« und das »Heterogene«, also das, was in das vorgegebene System und seine Begriffe (»wahr« und »schön«) nicht hineinpaßt, ebenso zu »eliminieren«, wie eben die Justiz praktisch das »Gemeine« und »Heterogene« aus der Gesellschaft eliminierte. Und wenn jenes ästhetisch und ethisch Perfekte sich nun einmal nicht in der Realität finden lasse, müsse man es entweder aus verstreuten Teilen zu222

sammensuchen (so wie Danton nach Lacroix' Diktum es tut: »Er sucht eben die mediceische Venus stückweise bey allen Grisetten des palais royal zusammen«; 1,20f.), oder aber das Allgemeine, Universelle und Gesetzmäßige als Destillation aus dem Besonderen konstruieren, wobei man in beiden Fällen das nicht Passende einfach unterschlägt.20 Wolfgang Proß hat darauf hingewiesen, daß der fragmentarische Stil des Woyzeck eben auch die Absicht beinhaltet, den historischen Bericht des Clarus-Gutachtens seiner Stringenz zu berauben.21 Während Clarus versucht hatte, Woyzecks Tat als »logische Folge« eines »unstäten, wüsten, gedankenlosen und unthätigen Lebens« (1,488) darzustellen und moralisierend dessen Absinken »von einer Stufe der moralischen Verwilderung zur ändern« als Ursache seines Mordes zu begreifen, löst Büchner bewußt die Quasi-Rausalität eines in sich abgeschlossenen pseudowissenschaftlichen Moralisierens auf. Das gesellschaftlich nicht Angepaßte, das von der Gesellschaft entweder als Fall für das Kriminalgericht oder als Fall für den Psychiater betrachtet wird, erscheint Büchner als menschliches Leben mit einem Anspruch auf Leben. Statt der »unverletzlichen Heiligkeit des Gesetzes«, auf das sich Clarus in seinem Gutachten beruft, gilt für Büchner die »unverletzliche Heiligkeit des Menschen«. Man wird Büchner z. B. trotz seiner berechtigten Kritik an Robespierre und den Jakobinern und trotz seiner weitgehenden Sympathie mit Danton und Camille kaum unterstellen wollen, daß er die Politik der Dantonisten unterstützte. Man wird ihm auch nicht unterstellen können, daß er politische Gegengewalt gegen die Gewalt des Staates grundsätzlich verurteilte. In seiner Darstellung der Hinrichtung der Dantonisten ist aber unzweifelhaft eben jenes tragische Mitleiden beim Zuschauer angesprochen, das zwar in keiner Weise das politische Fehlverhalten Dantons entschuldigt, sich aber dagegen wehrt, daß man das Leben eines Menschen im Verlaufe eines politischen Schachzugs für entbehrlich hält.22 Luciles Worte: »Es darf ja Alles leben, Alles, die kleine Mücke da, der Vogel. Warum denn er nicht?« (I, 74) weisen entschieden auf das Recht auf Leben hin, gegen jede Art von dogmatischer Politik, die das ins eigene System nicht Passende einfach auslöscht. Das Kunstgespräch zwischen Lenz und Kaufmann, das wohl zu recht als eines der wenigen expliziten Zeugnisse zu Büchners Ästhetik gezählt werden kann, parallelisiert die Verachtung des Individuums und seines 20 Vgl. dazu Benn, S. 81 ff. 21 Vgl. Proß (Anm. 5, S. 185). 22 Daß damit Büchner nicht die »Grausamkeit« des französischen Terrors angreifen will, um die schönen geordneten deutschen Zustände zu loben, dürfte deutlich sein; immerhin sprach er noch auf dem Sterbebett von der Grausamkeit der deutschen Justiz, und der vergleichsweisen Milde des französischen Terrors. (Vgl. Walter Grab: Ein Mann, der Marx Ideen gab. Wilhelm Schulz, Weggefahrte Georg Büchners, Demokrat der Paulskirche. - Düsseldorf 1979, S. 155.)

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Lebens als Selbstzweck in der Politik mit einer ähnlichen Verachtung der menschlichen Natur durch den Idealismus, und postuliert als Grundlage für jede echte Kunst den Grundsatz: »Man muß die Menschheit lieben, um in das eigenthümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich seyn, erst dann kann man sie verstehen« (I, 87).

Das einzige Kriterium in der Kunst, das Lenz zuläßt, ist, ob das, was ein Künstler geschaffen habe, Leben habe: »Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel« (I, 87).

Die Hinwendung zum Geringsten, demjenigen, den jede klassische Kunst als häßlich, verkümmert und unzureichend aus dem Kanon des Darstellbaren ausschließen muß, ist ein Versuch auch auf dem Gebiet der Kunst, die Unterdrückten und ihre Unterdrückung, aber auch ihre wesentliche Menschlichkeit und Lebendigkeit sichtbar zu machen. Ebenso wie der Feudalismus dem Nicht-Adeligen höchstens komische Rollen überließ, den Bürgerlichen und der Masse des Volkes also die Fähigkeit edler, tragischer Motive absprach, so hatte das bürgerliche Trauerspiel zwar den Kreis der tragischen Helden erweitert, die große Masse des Volkes aber immer noch aus diesem Kreis des echten Gefühls ausgeschlossen. Büchner entdeckt, vor allem im Woyzeck, z. T. aber auch in Dantons Tod und im Lenz die substantielle Lebendigkeit und Menschlichkeit der Armen. Die Abwendung vom klassischen System ist auch hier wieder Voraussetzung dafür, daß eben dieses Menschliche, das dem »dogmatischen« Schönheitsbegriff der Klassik als das Häßliche verfiel, in seinem Eigenwert sichtbar werden kann. Von daher auch die pointierte Hinwendung Lenzens zu den holländischen Malern, die einer klassischen Ästhetik gegenüber der Raffaelschule als zweitrangig gelten: sie eben sind die einzig faßlichen. Statt der »bloße [n] Empfindung des Schönen« (I, 87) ohne Leben, statt des ApoD von Belvedere oder der Raphaelschen Madonna, bei deren Anblick sich Lenz »sehr todt« (I, 88) fühlt, lobt er einfache, klare Darstellungen, die das Leben des Volkes unmittelbar widerspiegeln und die daher dem Volke auch unmittelbar verständlich wären. Ähnlich hat Büchner nach dem Zeugnis von Wilhelm Schulz nur das als Poesie anerkannt, was »entweder dem Volke unmittelbar entsprungen war« oder »durch seinen Mund lebendig fortgepflanzt wurde«23; das in den untersten Schichten lebendig gesungene Lied hat er ja auch immer wieder an bedeutenden Stellen in

23 Vgl. Grab, a.a.O., S. 154.

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seinen Dramen und im Lenz eingefügt; denn neben der Bibel war es wohl das einzige unter dem Volke weithin verbreitete poetische Sprechen. Das Volkslied spricht unmittelbar das aus, was das Volk bewegt: »Was doch ist, was doch ist Aller Männer Freud und Lust? [...] Unter Kummer, unter Sorgen Sich bemühn vom frühen Morgen Bis der Tag vorüber ist.« (I, 34)

singt der Bettler in Dantons Tod, und der Barbier in der ersten Fassung des Woyzeck spricht die Kümmerlichkeit seines Lebens in dem Refrain aus: »Branntewei das ist mein Leben, Branntwei giebt Courage.« (I, 148)

Und Woyzeck selbst faßt die Summe seines Lebens in dem von Büchner veränderten Kirchenlied zusammen: »Leiden sey all mein Gewinnst, Leiden sey mein Gottesdienst.« (I, 181)

Und dann ist da natürlich die Bibel selbst, wie der Agitator Büchner wohl wußte, das Arsenal populärer Beredsamkeit und die Formulierungshilfe in Situationen, denen das alltägliche Wort nicht gewachsen ist; am eindringlichsten wohl in der Szene, in der Marie ihre eigene Situation im Spiegel der ehebrüchigen Frau des Neuen Testaments zu begreifen versucht: »Aber die Pharisäer brachten ein Weib zu ihm, im Ehebruch begriffen und stelleten sie in's Mittel dar. - Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht. Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.« (1,180) Für einen Augenblick erscheint in der ausweglosen Situation der Marie und des Woyzeck die Utopie einer menschlicheren Verhaltensweise, die sich aber in dieser Gesellschaft, obwohl sie sich christlich nennt, nicht durchführen läßt. Es ist dieses in der Sprache des Volkes schon vorhandene utopische Element der Bibel, das Büchner und Weidig z. B. im Hessischen Landboten ansprechen; denn hier entzündet sich die Kritik des Volkes leicht an der Diskrepanz zwischen der im Neuen Testament formulierten Ethik der Nächstenliebe und dem in der wirklichen Gesellschaft vorhandenen pharisäischen Christentum, das Unterdrückung, Gewalt, Not und Elend nicht nur duldet, sondern als Grundlage des eigenen Wohllebens und der eigenen Macht benötigt. Dies ist »menschliche« Sprache, wenn auch noch unzulängliche; Sprache, die die Not und die Hoffnung ausspricht, ohne die Not wirklich analysieren und die Hoffnung wirklich begründen zu können. Aufgabe der Intellektuellen, die sich im Besitz einer besseren Lösung glauben, kann nur sein, diese Lösung in einer solchen Sprache abzufassen, daß sie der 225

Beurteilung durch das Volk zugänglich wird, nicht in einer abscheulichen Kunstsprache über die Köpfe des Volkes hinweg seine revolutionäre Rolle zu diskutieren, das Volk nur als Schachfigur in ihre revolutionären Planspiele einzubeziehen. Büchner, dem das Volk souverän war, schrieb »ihm auch das Recht zu, nicht zu revolutionieren«24, und er wußte, daß es nicht für die Zwecke derer aufstehen würde, die in sicherem Abstand vom Volk dieses als revolutionäres Subjekt beschrieben, es aber als Objekt ihrer Politik behandelten.

24 Grab, a.a.O.

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Biographische u. politische Fragen; Dantons Tod

Der hessische Demokrat Wilhelm Schulz und seine Schriften über Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig Von Walter Grab (Tel-Aviv)

Der politische Publizist und Sozialtheoretiker Wilhelm Schulz, der über vierzig Jahre lang, vom Sturz Napoleons bis zum Aufkommen einer eigenständigen Arbeiterbewegung, für soziale Gerechtigkeit, parlamentarische Demokratie und nationale Einheit Deutschlands kämpfte, war einer der bedeutendsten Repräsentanten des progressiven Bürgertums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.1 Am 13. März 1797 als Sproß einer Darmstädter Beamtenfamilie geboren, in der trotz gläubigem Luthertum weder Quietismus noch Untertanengeist herrschte, gehörte Schulz einer Generation an, die ihre Kindheitseindrücke während der napoleonischen Herrschaft erfuhr. Bei den meisten literarisch und politisch hervortretenden Zeitgenossen von Schulz drückte sich der neue nationale Glaube, der an die Stelle der alten religiösen Bindungen trat, in überhöhtem Stolz auf das eigene Volkstum, in Deutschtümelei aus. Schulz gehörte zu den wenigen, die sich das antiaufklärerische und antifranzösische Ideengut der politischen Romantik niemals zu eigen machten. Obwohl er die Bedeutung der deutschen nationalen Frage immer betonte und ihre Lösung zu befördern suchte, erblickte er sie stets unter dem Primat des sozialen Problems, der Beziehungen zwischen Arm und Reich. l Der vorliegende Beitrag stützt sich großenteils auf mein Buch Ein Mann der Marx Ideen gab. Wilhelm Schulz, Weggefährte Georg Büchners, Demokrat der Paulskirche. Eine politische Biographie. - Düsseldorf: Droste 1979.

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Er wollte die Militärlaufbahn einschlagen und trat als Vierzehnjähriger in das Leibgarderegiment des Großherzogs von Hessen-Darmstadt ein, dessen Truppen dem Rheinbund eingegliedert waren. 1813 zum Leutnant ernannt, nahm er an der Leipziger Völkerschlacht teil, die ihm im Rückblick als »der Tag, an dem die Freiheit geschlachtet wurde« erschien.2 Nach dem Frühjahrsfeldzug in Frankreich 1814 bezog er die Landesuniversität Hessen-Darmstadts, Gießen, um die für seine Offiziersausbildung nötigen mathematischen und kriegswissenschaftlichen Studien zu betreiben. An der Gießener Universität sammelten sich nach dem Sieg über das napoleonische Frankreich zahlreiche radikalgesinnte Burschenschaftler, die die auf dem Wiener Kongreß erfolgte weitgehende Restaurierung der vorrevolutionären Zustände ablehnten und die nationale Einigung Deutschlands mit Gewalt herbeizwingen wollten. Sie waren von christgermanischem, deutschtümelndem und antisemitischem Ideengut durchdrungen und kleideten sich in dunkle altdeutsche Tracht, um den unerschütterlichen Ernst ihrer Gesinnung kundzutun. Haupt dieser >Gießener Schwarzen< war der Jurastudent Karl Folien, dessen politisches Gedankengebäude auf zwei einander widersprechenden Fundamenten ruhte. Einerseits predigte er den Sturz der »Zwingherrn und ihrer Knechte« durch Individualterror, wobei die Studentenverschwörer die Befreiungsaktion übernehmen müßten; andererseits sollte das unterdrückte Volk mit dem spontanen Massenkampf beginnen. Schulz, der sich mit Folien anfreundete, machte sich weder dessen Glauben an die Überwertigkeit und höhere Sittlichkeit des Deutschtums noch die Verschwörertheorie des individuellen Terrorismus zu eigen; er begriff, daß zum Erfolg der oppositionellen Bewegung die wirksame Unterstützung durch die in Unwissenheit gehaltene plebejische Bevölkerungsmehrheit unerläßlich war. Die intellektuellen Revolutionäre mußten daher mit breitangelegter Volksaufklärung beginnen und sich bei der Ausarbeitung ihres Programms auf die materiellen Bedürfnisse und wirtschaftlichen Interessen der ländlichen und städtischen Unterschichten orientieren, um in gemeinsamem Vorgehen die bürokratische Bevormundung abzuschütteln und die ersehnte gesellschaftliche Gleichheit und nationale Einheit herbeizuführen. Diese Überzeugung drängte den jungen Offizier zu selbständiger politischer Aktion. Im Frühjahr 1819 verfaßte er eine anonyme Flugschrift, das Frag- und Antwortbüchlein über Allerlei, was im deutschen Vaterlande besonders Not tut. Dieser an »den deutschen Bürgers- und Bauersmann« gerichtete Appell, von dem Schulz auf eigene Kosten 3500 Exemplare 2 Wilhelm Schulz: Briefivechsel eines Staatsgefangenen mit seiner Befreierin, 2 Bde. - Mannheim 1846, Bd. l, S. 97. 228

drucken und den er von seinen Freunden verteilen ließ, war in betont einfacher Sprache gehalten, damit er »auch dem Niedrigsten im Volke verständlich« sein sollte. Chronologisch und inhaltlich stand die Flugschrift in der Mitte zwischen den Agitationsbroschüren der Mainzer Jakobiner von 1792/93 und Georg Büchners revolutionärem Hessischen Landboten von 1834. Schulz rief zur Schaffung einer Repräsentatiwerfassung, zur Presse- und Redefreiheit, zur Abschaffung der teueren und unnützen stehenden Heere und zur Errichtung einer aus allen waffenfähigen Männern bestehenden Milizarmee, zur Ermäßigimg der Steuern und zu öffentlicher Rechnungslegung der Behörden auf; er trat für die Belebung des Handels durch Aufhebung der Binnenzölle ein und verlangte die Unabhängigkeit der Rechtsprechung und Einführung der allgemeinen und gleichen Schulpflicht. Die Broschüre war in der (dem einfachen Volk wohlvertrauten) katechetischen Dialogform abgefaßt und wies mehrere Bibelzitate auf, die die Argumentation durch die allgemein anerkannte Autorität des Evangeliums stärken sollten. Er verurteilte die klaffenden Klassengegensätze zwischen dem Elend der Vielen und dem Luxus der Wenigen, rief aber zu keinen Gewaltmaßnahmen auf, sondern begnügte sich mit dem Appell an die Vernunft. Seine Flugschrift gipfelte in der Forderung einer deutschen Einheitsrepublik: »Das ganze deutsche Volk müßte seine echten, frei erwählten Volksvertreter haben; die Volksvertreter bestimmten dann eine höchste Obrigkeit für das ganze deutsche Reich, der sowohl Könige und Fürsten wie Bürger und Bauern Untertan wären«. Die Broschüre hatte bei den »Odenwälder Unruhen« des Krisenjahres 1819 nicht unbeträchtliche Wirkung und wurde in weiten Gebieten West- und Mitteldeutschlands vertrieben. Monatelang konnten die Behörden dem anonymen Verfasser nicht auf die Spur kommen. Inzwischen machte der Studentenverschwörer Karl Ludwig Sand, einer der ergebensten Jünger Karl Follens, mit dessen Appell zum IndMdualterror Ernst und erdolchte den Schriftsteller und zaristischen Agenten August von Kotzebue, den er für einen der gefahrlichsten Feinde des deutschen Volks hielt. Die Karlsbader Beschlüsse, die die Zensurbestimmungen erheblich verschärften, die Überwachung von Schulen und Universitäten anordneten, die Burschenschaften auflösten und eine Epoche grausamer Hetze gegen alle liberalen und demokratischen Strömungen einleiteten, waren die Antwort der Regierungen der deutschen Teilstaaten auf Kotzebues Ermordung. Auch Schulz geriet in das Netz der Demagogenjäger; er wurde im Oktober 1819 verhaftet und verbrachte ein Jahr wegen des Frag- und Antwortbüchleins, dessen Autorschaft er zugab, in Untersuchungshaft. Wegen Hochverrat, Aufreizung zum Aufruhr und Beleidigung der Behörden vor ein Kriegsgericht gestellt, wurde er beim Prozeß freigesprochen, weil sein Anwalt nachwies, daß er nirgends zu 229

blutiger Umwälzung aufgerufen und nur zur Aufklärung und Bildung des niederen Volkes beigetragen habe. Schulz wurde aus dem Militär entlassen und mit einer kleinen Pension in den Ruhestand versetzt. Sein Versuch, nunmehr die juristische Laufbahn einzuschlagen, scheiterte, weil die Behörden den verdächtigen Volksaufwiegler nicht im Staatsdienst beschäftigen wollten und ihn nach dem Jurastudium nicht zum vorgeschriebenen Gerichtsjahr zuließen. Er wurde daher an einigen Journalen Stuttgarts und Darmstadts freier Mitarbeiter. 1828 heiratete er Caroline Sartorius, die Schwester eines Burschenschaftlers aus Follens Zirkel. Die kinderlose Ehe mit der sehr intelligenten und kongenialen Frau verlief überaus glücklich. Die Julirevolution in Paris machte der politischen Friedhofsstille Deutschlands ein Ende. Schulz hoffte, daß der politische Umschwung jenseits des Rheins auch Metternichs verkrustetes System hinwegfegen würde. Er nahm an den Vaterlands- und Pressevereinen, die zu Beginn der dreißiger Jahre das öffentliche Leben Südwestdeutschlands bestimmten, Anteil, hielt bei zahlreichen Volksfesten, die von den Liberalen und Demokraten organisiert wurden, Reden und arbeitete bei Johann Georg Wirths Deutscher Tribüne und Carl von Rottecks Politischen Annalen mit. Im Juni 1852 veröffentlichte er eine imposante Arbeit, die mehr als 20 Bogen (320 Seiten) umfaßte und daher nicht der Vorzensur unterlag: Deutschlands Einheit durch Nationalrepräsentation. Dort verkündete er seine Idee, wie »ohne irgendeinen revolutionären Sprung ein deutscher Volksstaat und eine deutsche Gesamtmacht sich entwickeln« könne, damit endlich »die Selbstherrschaft der Völker an die Stelle der Selbstherrschaft der Fürsten« trete.3 Er drohte den Machthabern, daß sich die Nation ihre unverjährbaren Souveränitätsrechte falls nötig auch mit Gewalt zurückholen werde, und propagierte die Steuerverweigerung als Mittel zur Erzwingung des Volkswillens. Vorläufig sollte ein zentrales Parlament aus den landständischen Vertretungen der konstitutionellen Staaten des Deutschen Bundes errichtet werden, um die gesamtstaatlichen Belange wahrzunehmen; als Endziel sah er eine föderative und demokratische Einheitsrepublik an. Überaus starkes soziales Engagement unterschied Schulz von den meisten anderen bürgerlichen Kulturkritikern seiner Epoche. Er erkannte mit Besorgnis, daß »der immer greller hervortretende Zwiespalt zwischen Reichen und Armen«4 den industriekapitalistischen Fortschritt gefährdete, und wollte die Arbeiter und Bauern ökonomisch motivieren, um ihre Lage zu verbessern und gleichzeitig die feudalen Überreste zu beseitigen. Er rief zur Errichtung landwirtschaftlicher Produktionsge3 Wilhelm Schulz: Deutschlands Einheit durch Nationalrepräsentation. - Stuttgart 1832, S. 317. 4 Ebd., S. 63.

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nossenschaflen auf, die ihre Erzeugnisse selbst verarbeiten und vermarkten sollten, und schlug den gesetzlichen Abschluß von »SocietätsVerträgen« vor, »wonach auch der Arbeiter seinen verhältnismäßigen Anteil an dem aus dem ganzen Unternehmen entspringenden Gewinn zu beziehen hätte.«5 Mit diesen originellen und zukunftsträchtigen Ideen eröffnete der Prophet des modernen bürgerlichen Wohlfahrtsstaats die Perspektive auf eine Gesellschaftsordnung, in der das Privateigentum unangetastet, aber sozial gebunden, und der Wirtschaftsbereich im Interesse der Allgemeinheit gelenkt, reguliert und überwacht sein sollte. Um seine Postulate zu realisieren, forderte der soziale Demokrat, der die Gesetze des Marktes und der Moral miteinander verknüpfen und gesellschaftliche Chancengleichheit ermöglichen wollte, Intensivierung der staatlichen Aktivität in allen öffentlichen Bereichen. Er sprach dem Staat die Pflicht zu, den Anspruch aller seiner Bewohner auf materielle und geistige Güter zu gewährleisten, das Recht des einzelnen auf Arbeit zu garantieren, die Unterstützung der Bedürftigen zu übernehmen und die kulturellen Einrichtungen zu fordern. Während der Niederschrift seines Buchs hatte er Zeit für den Abschluß seiner Studien gefunden und im November 1831 an der Universität Erlangen mit einer Arbeit Über das zeitgemäße Verhältnis der Statistik zur Politik promoviert. Er war überzeugt, mittels der statistischen Methode der Nationalökonomie die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze entdecken zu können. Wegen seines mit politischem Sprengstoff geladenen Buchs Deutschlands Einheit durch Nationalrepräsentation und einiger zur Volksbewaffnung und Abschüttelung feudalständischer Fesseln aufrufenden Broschüren wurde er im September 1853 wiederum verhaftet. Obwohl längst Zivilist, stellte man ihn, da er noch immer seine Offizierspension bezog, vor ein Kriegsgericht und verurteilte ihn wegen »Beteiligung am Hochverrat und wegen des fortgesetzten Versuchs des Verbrechens einer gewaltsamen Veränderung der Staatsverfassung« zu fünfjährigem strengen Festungsarrest. Am 19. August 1834 wurde er auf die unweit Darmstadts gelegene Festung Babenhausen gebracht. Seine Frau schmuggelte ihm in den nächsten Wochen Ausbruchswerkzeuge in den Kerker. In einen Koffer mit doppeltem Boden schob sie eine halbmeterlange Handsäge; auch die dicken Buchdeckel des zwölfbändigen Corpus Juris Civilis, das man dem juristisch versierten Gefangenen zu lesen gestattete, enthielten Sägeblätter und dünne Feilen; in den hohlen Fuß einer Stehlampe, den man abschrauben konnte, legte sie eine kräftige Feile, und auf der Unterseite eines Sofas, das man

5 Ebd., S. 60.

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in den Kerker brachte, damit sich der Häftling darauf hequem ausruhen könne, waren lange unzerreißbare Gurte befestigt In der kalten Winternacht vom 30. zum 31. Dezember glückte ihm eine abenteuerliche Flucht Er zwängte sich zwischen die durchsägten Fenstergitter, ließ sich mittels des Seils in den vereisten Wallgraben hinab, verbarg sich in der Nacht bei einem Bauern, den seine Frau ins Vertrauen gezogen hatte, und floh am nächsten Tag nach Straßburg, wo kurz darauf auch Caroline eintraf. In der elsässischen Hauptstadt, die schon in der Epoche der französischen Revolution ein Rettungshafen geflohener deutscher Demokraten war, langte am 9. März 1835 ein anderer hessischer Flüchtling an, Georg Büchner. Die beiden Verfolgten lernten sich nun persönlich kennen und schlössen Freundschaft. Die Verhaftung und der Prozeß von Schulz hatten schon in Gießen Büchners Aufmerksamkeit erregt - in seinem Brief vom 2. Juli 1834 erkundigte er sich bei seiner Familie, was man »zu der Verurteilung von Schulz« sage und fügte hinzu, das Urteil wundere ihn nicht - »es riecht nach Kommisbrot«6 - von einem Kriegsgericht sei also nichts anderes zu erwarten gewesen. Büchner, der vom Herbst 1831 bis zum Sommer 1833 an der Straßburger Universität Medizin studiert hatte, stand mit der >Societe des Droits de PHomme und du Citoyen< Straßburgs in Verbindung, wo man neobabouvistische und blanquistische Doktrinen und Denkmodelie debattierte. Diese Theorien, die über die bürgerlichen Eigentumsbegriffe hinausstießen und die Gütergemeinschaft als Heilmittel der sozialen Krankheit empfahlen, dienten dem jungen Feuergeist als politisch-ideologisches Kampfinstrument, als er im Frühjahr 1834 in Darmstadt und Gießen Sektionen der konspirativen Gesellschaft der Menschenrechte< gründete.7 Bei diesem Versuch der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft wurde Büchner mit dem radikalen bürgerlichen Demokraten Friedrich Ludwig Weidig bekannt, der nicht nur ein Gesinnungsfreund von Schulz, sondern auch mit ihm verschwägert war: Eine Schwester von Weidigs Vater hatte einen Bruder des Vaters von Schulz geheiratet Büchner hatte die Erkenntnis gewonnen, daß »nur das notwendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der einzelnen vergebliches Torenwerk ist«.8 Sein Hessischer Landbote, der sich auf die Dorf- und Stadtarmut orientierte, war der fortgeschrittenste Versuch der republikanischen und frühkom6 Georg Büchner: Werke und Briefe, hrsg. von Fritz Bergemann. - München 1965, Brief an die Eltern vom 2. Juli 1834, S. 169. 7 Ich verdanke Thomas Michael Mayer, Marburg, zahlreiche wichtige Hinweise und Anregungen in bezug auf Büchners politische Auffassungen und Tätigkeit. Vgl. Th. M. Mayer: Büchner und Weidig - Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen Landboten«. - In: GB 7/77, S. 16-298. 8 Brief Büchners an seine Eltern, Juni 1833, bei Bergemann (oben, Anm. 6), S. 169.

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munistischen Linken im vormärzlichen Deutschland, die entscheidende Klassenfrage revolutionär zu beantworten, mit der die Oppositionsbewegung gegen die Adelsherrschaft und den bürokratischen Staatsapparat konfrontiert war. Büchner schärfte seinen Mitkämpfern ausdrücklich ein, daß nur bei einem revolutionären Massenkampf unter autonomer Beteiligung des ganzen Volks Aussichten auf eine erfolgreiche Umwälzung bestanden. Er sagte seinem Freund August Becker: »Soll jemals die Revolution auf eine durchgreifende Art ausgeführt werden, so kann und darf das bloß durch die große Masse des Volkes geschehen, durch9 deren Überzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam erdrückt werden müssen.«

Dieses Volk mußte natürlich bewaffnet sein, um kämpfen und siegen zu können; und gerade diese Losung, nämlich Volksbewaffnung zur Erringung und Wahrung der natürlichen und staatsbürgerlichen Rechte, propagierte Wilhelm Schulz in allen seinen Publikationen. Hier lag also die feste Basis der Freundschaft zwischen Büchner und Schulz. Kurz nach Büchners Flucht gelang es den hessischen Behörden, die revolutionäre Geheimbewegung zu zerschlagen; Weidig wurde Ende April 1835 in Untersuchungshaft genommen, die er nicht mehr lebend verlassen sollte. Büchner schloß sich in Straßburg eng an das Ehepaar Schulz an. In seinem Brief vom 5. Mai an die Eltern hieß es: »Schulz namentlich ist nichts weniger als die unruhige Ranzleibürste, die ich mir unter ihm vorstellte; er ist ein ziemlich ruhiger und anspruchsloser Mann. Er beabsichtigt, in aller Nähe mit seiner Frau nach Nancy und in Zeit von einem Jahr ungefähr nach Zürich zu gehen, um dort zu dozieren«.10

Die Zürcher Universität, die erst zwei Jahre zuvor gegründet worden war, bildete damals eine wissenschaftliche Zufluchtsstätte vertriebener deutscher Demokraten; Rektor war der Zoologe, Naturphilosoph und Arzt Lorenz Oken, der bereits zu Beginn der Demagogenhetze 1819 seines Lehrstuhls in Jena enthoben worden war. Oken, Büchners Doktorvater, berief eine Reihe politischer Emigranten nach Zürich, die sich als Widerstandskämpfer gegen die Despotie der Duodezfürsten einen Namen gemacht hatten. Im Herbst 1856 wurden sowohl Büchner als Privatdozent für Medizin als auch Schulz als Privatdozent für Statistik und Allgemeine Verfassungskunde nach Zürich berufen. Sie bezogen im Haus Spiegelgasse 12 Quartier, das dem Medizinprofessor Ulrich Zehnder gehörte, und wurden Wohnungsnachbarn; das Zimmer Büchners stieß an die Schlafstube des Ehepaars Schulz. Nur rund drei Monate lagen zwischen der Ankunft Georg Büchners in Zürich und dem Beginn seiner tödlichen Krankheit In dieser Zeit verbrachte er seine freien Stunden vorwiegend in Gesellschaft von Caroline 9 Aussage August Beckers vom 1. September 1837, Nö, S. 421. 10 Brief Büchners an seine Eltern, 5. Mai 1835, bei Bergemann (oben, Anm. 6), S. 177.

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und Wilhelm Schulz. Eine bisher von der Forschung übersehene Quelle ermöglicht den Einblick in die Gespräche zwischen den beiden steckbrieflich gesuchten Freiheitskämpfern, dem Verfasser des Frag- und Antwortbüchleins und dem Verfasser des Hessischen Landboten, über die Beziehungen zwischen intellektueller Avantgarde und Volksbewegung, über die Ursachen sozialer Gegensätze und die Aussichten ihrer Überwindung, über die Perspektiven einer deutschen Revolution und über andere bedeutsame Probleme. Als dreizehn Jahre nach Büchners Tod sein Bruder Ludwig die Nachgelassenen Schriften herausgab, entfesselte dieser schmale Band, der viele Texte verstümmelt und unvollständig wiedergab, bei Schulz einen Strom von Erinnerungen und Assoziationen. In der vom österreichischen Demokraten Adolph Rolatschek herausgegebenen Zeitschrift Deutsche Monatsschrift fltr Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben publizierte Schulz 1851 eine Rezension von Büchners Nachgelassenen Schriften.11 Dieses Essay enthält Reflexionen über Büchners Ansichten in bezug auf Literatur, Ästhetik, Religion, Philosophie, Politik und beansprucht auch heute brennende Aktualität. Unter allen Freunden Büchners war Schulz trotz aller weltanschaulichen Differenzen der Berufenste, um Urteile abzugeben. »Was beim ersten Blicke in Büchners Schriften auffallt«, schrieb Schulz, »ist der Reichtum seiner frischweg, meist scharf und kurz ausgesprochenen Gedanken, seine rücksichtslos kühne Wahrheitstreue, die jeden Mund und jedes Ding in seiner Sprache sprechen läßt, unbekümmert darum, ob diese hart oder minder hart in verwöhnte Ohren klinge. Überall die volle Wirklichkeit der Geschichte und Natur, bei dem geringsten Aufwande von Worten; nirgends die Spur von etwas Gemachtem und künstlich Herausgeputztem; nirgends auch nur ein einziges der gerade umlaufenden Mode- und Schlagworte, jener dürren Feigenblätter, womit andere Poeten schlecht genug ihre Blößen verbergen. Und doch mußte man ihn persönlich kennen, um eine Vorstellung dieses reichen Geistes zu haben. Wie er schrieb, sprach er auch. Durch und durch ein Dichter, hat er in seinem Leben nur wenige oder gar keine Verse gemacht. Er schüttelte die goldenen Früchte nur hin; sie auch noch in silbernen Schalen aufzufangen, dünkte ihm überflüssige Arbeit und Zeitverderb. Von jenen geistig Armen und Haushälterischen, die ihre guten Einfalle hellerweise in der Sparbüchse sammeln, um sich dann für einen Gulden Autorenruhm auf einmal zu kaufen, sagte er, sie kämen ihm vor wie Leute, die ihre ausgekämmten Haare sorgfältig aufbewahrten, um sich daraus eine Perücke machen zu lassen«.12

Schulz erkannte den Hessischen Landboten neidlos als »Meisterstück« an und nannte ihn »das Bedeutendste, was seit den sogenannten Befreiungskriegen die revolutionäre und populäre Presse Deutschlands aufzu11 Der Aufsatz von Schulz findet sich in: Adolph Kolatschek (Hrsg.): Deutsche Monatsschrift flur Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben, 2. Jg., 2. Heft - Bremen 1851, S. 210-233 (künftig DMP). Ich werde diesen von mir aufgefundenen und der Büchner-Forschung bisher unbekannten Aufsatz gemeinsam mit Thomas Michael Mayer in absehbarer Zeit in einer kommentierten Textausgabe unter dem Titel Georg Büchner und die Revolution von 1848 edieren. 12 DMP, S. 216 (alle Zitate hier und im folgenden in modernisierter Schreibweise).

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weisen hat«. Er stellte ihn also weit über seinen eigenen politischen Katechismus von 1819. Büchner habe sich im Gebiet der Wissenschaft ebenso leicht zurechtgefunden wie im Gebiet des Volkslebens; er sei »Gelehrter mit den Gelehrten«, »Bauer mit den Bauern« gewesen. »Und obgleich die einen wie die anderen nur ein Stück von ihm kennen lernten, hatten doch die Herren Mitglieder der naturwissenschaftlichen Fakultät zu Zürich ebenso gut Ursache wie die armen Bauern des Vogelsbergs, des Hinterlandes und des Odenwalds, diesen Büchner für einen ganzen Kerl zu halten.«13

Schulz war davon überzeugt, daß die deutschen politischen und sozialen Zustände den frühen Tod des Dichters verschuldet hatten und nicht der Zufall der Typhus-Ansteckung. Denn er habe im Kampf gegen die Oligarchie der Geburt und des Besitzes seine schwächliche Gesundheit untergraben: »In ihm hätte Deutschland seinen Shakespeare bekommen, wie es 1848 beinahe seine Freiheit und seine Einheit bekommen hätte. Aber es hat so wenig diese verdient als jenen. Das vormärzliche Deutschland - das nachmärzliche hätte es noch schlimmer gemacht - hat seinen Dichter nicht bloß nicht erkannt; dieses Deutschland - oder nenne man es lieber die unselige Verdrehtheit und Zerrissenheit der sozialen Zustände - hat ihn auch ums Leben gebracht Vor allem erkannte und fühlte er aufs Schmerzlichste jene Kluft, welche die Menschen, mögen sie immerhin derselben Nation angehören, in allen Gebieten unserer sogenannten Zivilisation in zwei Volker spaltet, von denen keines das andere versteht: in Reiche und Arme, in Gebildete und Ungebildete. [...] Er wußte es, daß wir uns die glatte, gestriegelte Haut an der harten Rinde des Volkslebens eher abschinden, als aus dieser Haut herausspringen und mit dem Volke Volk sein können. Er wußte es auch, wie schwer es dem Volke wird, hinter der eingebeizten Kultur hindurch die wenigen Herzen zu erkennen, die noch warm für seine Leiden schlagen. Er fühlte es, daß wir ganz verschiedene Sprachen reden; daß unsere geträumte propagandistische Wirksamkeit auf die Massen meist blutwenig zu bedeuten hat; daß ein alles Auslands barer deutscher Bauer, dem etwa bei dem Namen seines allergnädigsten Landesherrn ein unartikulierter Ton entwischt, damit beim Volke immer noch eine wirksamere Propaganda macht als ein deutscher Professor, der eine glänzende Rede gegen die Tyrannen hält Das ist jene Kluft, die sich selbst der kecke Humor unsers Dichters nicht zu verstecken vermochte; in die schon mancher Curtius stürzte, ohne sie schließen zu können. Sie hat auch Büchner verschlungen. [...] Je mehr ihm alles fehlte zu einem Wühlhuber gemeinen Schlags, um so mehr war er Demokrat in jedem Pulsschlag seines Herzens, in jedem Gedanken seines Hirns. Ein unabhängiger Geist in der höchsten Potenz, der sich von allen, auch von allen demokratisch gefärbten Vorurteilen losgerissen hatte, wollte er zugleich seine äußere Selbständigkeit und Unabhängigkeit nur sich selbst und seiner eigenen Kraft verdanken. Man muß staunen, mit welchem Ernste und Eifer er alles arbeitete und schuf, während er äußerlich mit den höchsten Aufgaben des Menschengeistes nur zu spielen schien und keinen in die stille Werkstätte seines rastlosen Geistes blicken ließ, damit ihn keiner auffordern möge, dem in allen Nerven aufgeregten ermattenden Körper einige Ruhe zu gönnen. [...] Diese Tätigkeit seines übermächtigen Geistes mußte endlich diesen Körper aufreiben. Mit einer flüchtigen Bemerkung auf seinem Todesbette: >Hätte ich in der Unabhängigkeit leben können, die der Reichtum gibt, so konnte etwas Rechtes aus mir werden< - wies er selbst auf den tieferen, auf den sozialen Grund seines frühzeiti13 DMP, S. 217.

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gen Todes. Aber selbst seine nächste Umgebung konnte sein baldiges Ende nicht ahnen; denn Büchner, der Proletarier der geistigen Arbeit und das Opfer derselben, hatte sich lächelnd zu Tode gearbeitet*14

Der Kern von Büchners Gesinnung war, wie Schulz betonte, »die aufrichtigste, die echt demokratische, man kann sagen die religiöse Achtung vor dem Volke«. Da er nicht nur im politischen, sondern auch im künstlerischen Bereich das Volk als souverän anerkannte, so galt ihm nur das als Poesie, was »entweder dem Volke unmittelbar entsprungen war« oder »durch seinen Mund lebendig fortgepflanzt wurde«15. Dies habe er sowohl in seinen eigenen Werken als auch in seinen Urteilen über Dichter und ihre Schöpfungen, vor allem in seinen sozialpolitischen Auffassungen ausgedrückt Um zu erfahren, »ob etwa der Geist der Revolution schon im Volke eingekehrt sei«, verfaßte der Dichter den Hessischen Landboten und »ließ ihn den Bauern in Fenster und Türen hineinwerfen«. Freilich sei eine Flugschrift »ein sehr trügliches Mittel«, um die gewünschte Kenntnis der Revolutionsbereitschaft zu erlangen; aber »es stand ihm kein Besseres zu Gebot«. Es habe sich herausgestellt, daß die Bauern die meisten Exemplare bei der Polizei ablieferten. »Viele derselben hatten gewiß den >Landboten< mit Lust, vielleicht sogar mit einigem Nutzen gelesen, und wollten nun der Polizei die gleiche Freude gönnen; andere meinten wohl in ihrem gerechten Mißtrauen gegen alle Staatsbeamten, daß ihnen die Polizei selbst eine Falle gestellt habe, und wollten kluge Leute sein«.16 Büchner war aber durch den Mißerfolg nicht entmutigt. Manch anderer hätte vor Enttäuschung dem Volk den Rücken gekehrt; nicht so der revolutionäre Dichter. Er habe begriffen, »daß die jungen Bauernbursche[n] lieber zu ihren Schätzen gingen als politische Flugschriften lasen«, und daraus den Schluß gezogen, »daß die Not noch nicht groß genug sei«, denn wie er dem Volk das Recht der Revolution zuschrieb, so »schrieb er ihm auch das Recht zu, nicht zu revolutionieren«. Wichtige Fingerzeige gab Schulz über das Verhältnis zwischen Büchner und Weidig. »Beide waren in wichtigen Dingen sehr abweichender Ansicht und Richtung«, schrieb er in seinem Essay. »Aber im Weinberge der Demokratie braucht es mancherlei Arbeiter [...]. Weidig und Büchner suchten nicht einer den ändern beiseite zu schieben. Ob sie gleich in manchen Punkten sich abstießen, arbeiteten sie doch Hand in Hand; und trotz der Kontraste zwischen beiden, oder gerade deswegen, wurde die Tätigkeit des einen durch die des anderen ergänzt. [...] Weidig [...] hatte jene echt demokratische eiserne Ausdauer, die auch im engeren Kreise unablässig fortarbeitet, selbst wenn sie auf den Lohn großer und überraschend eintretender Erfolge verzichten zu müssen glaubt.«17

14 15 16 17

DMP, DMP, DMP, DMP,

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S. 222 f. S. 224. S. 232 f. S. 227.

Schulz nahm Weidig entschieden gegen die Behauptungen in Schutz, er sei ein zensitärer Bourgeois gewesen, der dem besitzlosen Volk keine Teilnahme am politischen Entscheidungsprozeß zugestanden habe. Das Gegenteil sei der Fall: »Weidigs ganzes Leben war ein ununterbrochenes Opfer der reinsten Hingebung an die Sache des Volks«. Die Mehrzahl der Schüler Weidigs gehörte »zu den bestgestählten Demokraten im Hessenlande«.18 Büchner erkannte das Recht der Revolution als »Notwehr gegen innere und äußere Feinde« an. Noch in seinen »Fieberphantasien auf dem Todesbette« sprach er »mit tiefster sittlicher Entrüstung von [...] der ihre politischen Schlachtopfer langsam und methodisch abwürgenden deutschen Justiz«, während die französische Revolution »selbst in den blutigsten Tagen der Schreckenszeit« Milde habe walten lassen. Büchner sei es nicht in den Sinn gekommen, »die Revolution [...] nach dem Taufscheine über ihre legitime Geburt zu fragen«; sie sei gerecht, weil sie den Interessen der Massen entspreche, und daher müsse es die entscheidende »Aufgabe der revolutionären Politik und Taktik« sein, »die eigensten und persönlichen Interessen aller einzelnen Kämpfer fitr die Revolution mit den Interessen der Revolution aufs innigste zu verschmelzen«.19 Büchner sei zwar niemals Doktrinär gewesen, der an einer »Springstange« gehofft habe, »aus der schlechtesten in die beste Welt hinüberzuspringen«20; er habe jedoch betont, daß »die mit Bewußtsein ihre Sache erfassenden Demokraten« die Revolution sowohl sorgfältig vorbereiten als auch für ihre »glückliche Durchführung« sorgen müßten. »Bei allem Gewicht, das Büchner [...] auf die oft ungeahnt hervorbrechenden Kräfte« der Massen legte, wußte er, daß sich die von einer gemeinsamen Idee beflügelten Massen nicht »in Bewegung setzen ohne eine vorderste Reihe, welche nur teils führt, teils geschoben wird, in der Regel freilich mehr dieses als jenes. So werden allerdings von einzelnen keine Revolutionen gemacht. Aber die Menschen machen auch keine Blitze; und doch sind 21es Menschen, sogar einzelne, die mitunter die Blitze auf bestimmte Wege weisen.*

Diese tiefsinnigen Bemerkungen über das dialektische Verhältnis zwischen revolutionären Führern und Geführten, Schiebenden und Geschobenen, Vorhut und Massenbewegung, über die Rolle der Einzelpersönlichkeit in historischen Entscheidungssituationen bildeten, wie aus dem Essay zu erkennen ist, den Mittelpunkt der Erörterungen zwischen Schulz und Büchner. Der wichtigste ideologische Unterschied der beiden Demokraten bestand darin, daß Schulz die soziale Frage auf dem Boden der privatwirtschaftlichen Ordnung lösen zu können hoffte, nämlich durch eine reformistische Demokratie, die mittels Gesetzgebung das Pri18 Ebd. 19 DMP, S. 230-232. 20 DMP, S. 228. 21 DMP, S. 231. 237

vateigentum nivellieren und sozial binden sollte, während Büchner sich neobabouvistische und frühkommunistische Ideen des Gemeineigentums und der Gütergemeinschaft zu eigen gemacht hatte. Schulz unternahm aber in seinem Essay keinen Versuch, Büchners revolutionären Ansatz zu verschleiern, sondern zitierte ausdrücklich einen Satz, den der Dichter in einem Brief an Gutzkow geschrieben hatte: »Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt«22; er betonte auch, daß Büchner nur zwei Hebel als adäquat ansah, um die bestehende Ordnung aus den Angeln zu heben: »materielles Elend und religiöse [n] Fanatismus«.23 Diesen Gedanken, den der Dichter 1836 in einem anderen Schreiben an Gutzkow aussprach, muß er auch in den Gesprächen mit Schulz geäußert haben, denn dieser nannte, bevor ihm aus den Nachgelassenen Schriften Büchners Brief an Gutzkow bekannt war, in seinem 1843 erschienenen Werk Die Bewegung der Produktion den religiösen Fanatismus und den Hunger als die »urkräftigen Beweger und Erneuerer der Weltgeschichte«.24 Mitte Januar 1837 erkrankte Büchner an einem Erkältungsfieber, das seine ohnehin geringen Körperkräfte schwächte. Im Erschöpfungszustand zog er sich Typhus zu. Sein Krankenlager blieb in seiner Wohnung, die im selben Flur lag wie die des Ehepaars Schulz. Caroline, die ihn pflegte, notierte in ihrem privaten Tagebuch den Krankheitsverlauf. Als die Ärzte ihn verloren gaben, benachrichtigte sie seine Braut, die zwei Tage vor seinem Tod aus Straßburg eintraf. Beim Ableben Büchners am 19. Februar waren nur seine engsteh Freunde Caroline und Wilhelm Schulz und seine Verlobte Minna Jaegle zugegen. Neun Tage nach Büchners Tod veröffentlichte Wilhelm Schulz im Schweizerischen Republikaner einen Nachruf. Er hob hervor, daß innerhalb einer einzigen Woche zwei Streiter »im heiligen Kampfe für Licht und Recht« ihren Landsleuten entrissen wurden: Ludwig Borne in Paris und Georg Büchner in Zürich - beide im Exil. Alle, die Büchner kannten, begrüßten »die frische Jugendkraft, der eine weite Bahn des Ruhms und der Ehre offen lag«. Schulz ging auch auf die politischen Auffassungen Büchners ein, allerdings ohne den Hessischen Landboten zu erwähnen: »Der so reich begabte junge Mann war mit zu viel Tatkraft ausgestattet, als daß er bei der jüngsten Bewegung im Völkerleben, die eine bessere Zukunft zu verheißen schien, in selbstsüchtiger Ruhe hätte verharren sollen. Durch seinen frühe gereiften Geist auf eine heitere Höhe gestellt, blieb er indessen in seinen politischen Ansichten von manchen Täuschungen frei, welchen sich die Jugend willig hinzugeben pflegt. Ein Feind jeder töricht unbesonnenen Handlung, die zu keinem günstigen Erfolge führen konnte, haßte er doch jenen tatenlosen Liberalis-

22 Brief Georg Büchners an Karl Gutzkow, Straßburg 1835 (?), bei Bergemann (oben, Anm. 6), S. 179. 23 Brief Georg Büchners an Karl Gutzkow, Straßburg (1836), bei Bergemann, S. 191. 24 Wilhelm Schulz: Die Bewegung der Produktion. - Zürich und Winterthur 1843, S. 178.

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mus, der sich mit seinem Gewissen und seinem Volke durch leere Phrasen abzufinden sucht, und war zu jedem Schritte bereit, den ihm die Rücksicht auf das Wohl seines Volkes zu gebieten schien.«25

Schulz führte nicht näher aus, was diese Andeutung von »jedem Schritte« bedeutete; es schien ihm nicht opportun, die Verschwörertätigkeit Büchners zu erwähnen. Aber er führte einen kräftigen Seitenhieb gegen die geheime Inquisitionsjustiz der hessischen Behörden, die er am eigenen Leib erfahren hatte und der alle Gesinnungsfreunde Büchners, deren man habhaft werden konnte, unterworfen waren: »Wie vor seiner Krankheit, so sprach er auch jetzt in bitteren, aber wahren Worten, die im Munde eines Sterbenden ein doppeltes Gewicht haben, über jene Schmach unserer Tage sich aus, über die verwerfliche Behandlung der politischen Schlachtopfer, die nach gesetzlichen Formen und mit dem Anschein der Milde in jahrelanger Untersuchungshaft gehalten werden, bis ihr Geist zum Wahnsinne getrieben und ihr Körper zu Tode gequält ist >In jener Französischen Revolutions so rief er aus, >die wegen ihrer Grausamkeit so verrufen ist, war man milder als jetzt Man schlug seinen Gegnern die Köpfe ab. Gut! Aber man ließ sie nicht jahrelang hinschmachten und hinsterben.««26

In den gleichen Tagen, als Schulz diesen Nachruf auf Büchner schrieb, erlangten seine zornigen Worte über »die verwerfliche Behandlung der politischen Schlachtopfer« in Hessen grauenvolle Aktualität Denn vier Tage nach Büchners Tod, am 23. Fehruar 1837, starb dessen Mitstreiter Friedrich Ludwig Weidig nach fast zweijähriger Untersuchungshaft im Darmstädter Kerker. Die hessischen Behörden behaupteten, der in strenger Isolationshaft gehaltene Demokrat habe sich mit Scherben einer zerbrochenen Flasche die Halsschlagader durchschnitten und so Selbstmord begangen. Schulz, der Weidig seit den Tagen der >Gießener Schwarzen< kannte, war überzeugt, daß diese Behauptungen erlogen waren und hegte den Verdacht, der Gefangene sei umgebracht worden. In den nächsten Jahren machte er es sich zur Aufgabe, die wirklichen Umstände von Weidigs Ende zu rekonstruieren, die Widersprüche in den offiziellen Darstellungen aufzudecken und die Verantwortlichen am Tode des Freiheitskämpfers zur Verantwortung zu ziehen. Obwohl er mit anderen Arbeiten überhäuft war, sammelte er sechs Jahre lang Erlebnisberichte politischer Gefangener, Aktenprotokolle, Zeitungsberichte, Gutachten, Gerichtsurteile und andere Materialien und publizierte 1843 in Zürich sein anonymes Buch Der Tod des Pfarrers Dr. Friedrich Ludwig Weidig. Ein aktenmäßiger und urkundlich belegter Beitrag zur Beurteilung des geheimen Strafprozesses und der politischen Zustände Deutschlands. Seiner minuziösen Darstellung, mit der er »für die ewig 25 Der Nachruf Schulz' auf Büchner von 1837 ist bei Bergemann (Anm. 6), S. 323-327 abgedruckt. Vgl. die Bemerkungen über Büchners Tod und seine letzten Worte bei Wilhelm Schulz: Der Tod des Pfarrers Dr. Friedrich Ludwig Weidig. - Zürich und Winterthur 1843 (künftig TW), S. 43. 26 Ebd., Nachruf, bei Bergemann, S. 326f.

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heilige Sache der Menschlichkeit und Gerechtigkeit in die Schranken« trat, fügte er ein Gutachten der Zürcher medizinischen Fakultät bei, um seinen Verdacht des Mordes an Weidig zu erhärten. Er forderte gänzliche Abschaffung der inquisitorischen Geheimjustiz, Einführung der Öffentlichkeit bei Prozessen über politische Delikte, Schwurgerichte und Beseitigung der unmenschlichen und grausamen Disziplinarstrafen, die der Untersuchungsrichter willkürlich über den Häftling verhängen konnte. Er erklärte ausführlich die Skala der Strafen, die sich vom mehrtägigen Entzug warmer Rost über Dunkelhilft, Anlegen von Retten bis zur körperlichen Züchtigung erstreckten. Weidigs Untersuchungsrichter, Ronrad Georgi, war ein stadtbekannter Alkoholiker, der dem Häftling gegenüber Rachegefühle hegte, denn Weidig war schon nach dem Frankfurter Wachensturm vom April 1833 in eine von Georgi geleitete Untersuchung verwickelt worden; da ihm damals nichts nachzuweisen war, mußte man ihn auf freien Fuß setzen. Weidig nannte nach seiner Freilassung das Vorgehen des Untersuchungsrichters »gesetzwidrig und verbrecherisch«, und Georgi beglich bei Weidigs zweiter Verhaftung die alte Rechnung mit brutalsten Mitteln. Er ließ dem Gefangenen Retten anlegen, prügelte ihn und erlaubte ihm nicht, wenigstens durchs Fenster seine Frau sehen zu dürfen, als sie ins Gefängnis zu Besuch kam. Schulz' Darstellung ließ es wahrscheinlich erscheinen, daß Weidig ermordet worden war. Georgi hatte, wie zwei Ärzte bezeugten, drei Wochen vor Weidigs Ende einen schweren Anfall von Säuferwahnsinn. Als der Gefängniswärter den Häftling am 23. Februar mit einer klaffenden Halswunde, blutüberströmt und ohnmächtig fand, ließ man ihm auf Anweisung Georgis zwei Stunden lang keine ärztliche Hilfe zukommen. Zwei Tage nach Weidigs Tod wandte sich sein Schwager, der Darmstädter Advokat Theodor Reh, mit einem Gesuch an das Justizministerium, um Aufklärung über den mysteriösen Tod des Gefangenen zu gewinnen. Reh war der erste, der aus intimer Renntnis des Falls und der Folterqualen, die Weidig durch Georgi zugefügt wurden, vermutete, der Häftling sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen. In seinem Buch über Weidigs Tod untermauerte Schulz den Mordverdacht mit einigen Indizien und lud die hessischen Behörden vor die Schranken des Zürcher öffentlichen Gerichts, um sich wegen »culposer Tötung« zu verantworten. Die Rampfschrift wollte nicht nur den Märtyrer Weidig als Volkshelden darstellen, die Schandtaten des Trunkenboldes Georgi anprangern und die Greuel der hessischen Geheimjustiz aufdecken, sondern setzte sich darüber hinaus zum Ziel, in allen Staaten des Deutschen Bundes die Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu erzwingen. Mit der Forderung, die Überreste der feudalen Privilegienordnung Im Bereich des Rechts zu beseitigen, erfüllte Schulz eine Aufgabe, die im Interesse aller nichtari-

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stokratischen Schichten lag. Er beschuldigte die hessischen Behörden, »ganze richterliche Kollegien durch die Entfernung der Männer unabhängigen Charakters in gefugige Werkzeuge des Servilismus zu verwandeln« und schloß seine Anklageschrift mit dem pathetischen Appell: »Gerechtigkeit! ohne ferneren Rückhalt, ohne weitere Bemäntelung - oder der Fluch jedes ehrlichen Mannes über die Lüge eurer geheimen Justiz!«27 Die authentischen Aktenbelege, die Schulz seinem Buch beifügte und die er höchstwahrscheinlich von seinem Freund, dem Darmstädter Hofgerichtsadvokaten Karl Buchner erhalten hatte, sowie das Gutachten der medizinischen Fakultät der Zürcher Universität verliehen der Kampfschrift einen brisanten Charakter, weil die Beweise für Schulz' Behauptungen von jedem Leser überprüft werden konnten. Die Broschüre wurde in ganz Deutschland verbreitet, obwohl sie vom Frankfurter Bundestag verboten war, und erregte gewaltiges Aufsehen. Die Kritischen Jahrbücher ßtr Deutsche Rechtswissenschaft schrieben: »Es ist wohl selten eine so furchtbare Anklage gegen einen Untersuchungsrichter erhoben worden wie diejenige, welche gegen den Hofgerichtsrat Georgi zu Gießen als Inquirenten in der Untersuchung gegen den Pfarrer Dr. Weidig vorgebracht worden ist. Die Beschuldigung, daß Georgi selbst Hand an Weidig gelegt und demselben die Todeswunde beigefügt habe, ist so entsetzlich, daß wohl alle, zu denen die Nachricht von dieser Anklage drang, von Grauen ergriffen werden.«28 Der führende badische Liberale Carl Theodor Welcker nahm die Ergebnisse der Schulzschen Arbeit zum Anlaß, um die deutschen Regierungen zur Einführung öffentlicher Prozeßverfahren und Schwurgerichte aufzufordern. Der des Mordes verdächtigte Untersuchungsrichter Georgi, der wegen seiner Tätigkeit im Fall Weidig von der großherzoglich-hessischen Regierung mit dem Ritterkreuz erster Klasse des Ludwigsordens dekoriert worden war, versuchte sich vergeblich vom Vorwurf reinzuwaschen, er leide an Säuferwahnsinn. Ebenso mißlang die Rechtfertigung der hessischen Behörden durch den Hofgerichtsrat Friedrich Noellner, der Mitte 1844 eine 700 Seiten lange Aktenmäßige Darlegung des wegen Hochverrats eingeleiteten Verfahrens gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig vorlegte. Da Noellner prinzipiell vom Grundsatz ausging, das Eintreten für demokratische Volksrechte komme bereits Hochverrat, Aufruhr und Majestätsverbrechen gleich, erblickte er in Weidig einen Staatsverbrecher, dessen politische Ansichten und Methoden verwerflich waren. Gespickt mit Zitaten aus griechischen, lateinischen, englischen und französischen Autoritäten, die man anerkennen 27 TW, S. 36 und 132. 28 Kritische Jahrbücher fiir Deutsche Rechtswissenschaft, 9. Jg., Bd. 17, Heft 3. - Leipzig 1845, S. 260.

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müsse, betonte Noellner, daß die monarchische Staatsform die einzig legitime sei und daß den Untertanen keine Kritik, geschweige denn Widerstand gegen die Obrigkeit zustünde. Als Antwort an Noellner veröffentlichten Schulz und Welcker 1845 gemeinsam ein Buch Geheime Inquisition, Zensur und Kabinettsjustiz im verderblichen Bunde, dem sie zahlreiche bis dahin unveröffentlichte Aktenstücke beifügten. Während Welcker das Vorwort beisteuerte, stammte die Darstellung aus der Feder von Schulz, der sich auch als Verfasser der anonymen Schrift über Weidigs Tod zu erkennen gab. Entrüstet wies er Noellners Vorwurf zurück, er habe bei seiner Darstellung über Weidigs Ende Aktenstücke aus dem Zusammenhang gerissen. Noellner, der den Justizmörder Georgi vergeblich zu verteidigen versuche, bedürfe nach dem Sprichwort »Gleiche Brüder, gleiche Rappen« selbst einer Tarnkappe, um begangenes Unrecht unsichtbar zu machen. »Die ständige Richterbehörde bedarf des Mantels der Heimlichkeit, um ihre Fehler und Sünden zu verbergen«, schrieb Schulz. »In den jetzigen Prozessen sind die Richter entweder am Gängelband der Regierung, oder sie sind als Notabilitäten der Gesellschaft an der Erhaltung der staatlichen Zustände beteiligt«.29 Schulz berührte auch prinzipielle Fragen der politischen Philosophie, die Allgemeingültigkeit beanspruchten. Er rechtfertigte den Widerstand gegen die despotische Obrigkeit, die durch Preßzwang und Geheimjustiz die Bürger demütige, und bezichtigte die Herrschenden, die das Gewaltmonopol für sich in Anspruch nahmen, des Hochverrats an den Interessen der Gesamtheit Die Unterdrücker der Meinungsfreiheit, die »die vergifteten Pfeile ihrer Lügen« auf ihre politischen Gegner abschössen, hätten Recht in Unrecht verwandelt, jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeit verwirkt und sich selbst durch ihre Handlungen außerhalb jeder Moralität gestellt. Die wahren Hüter der Sittlichkeit seien die Unterdrückten, die Geistesfreiheit, Öffentlichkeit des Rechts und der Rechtspflege auf ihr Banner schrieben. Schulz forderte die Kronenträger auf, endlich den feudalen Ballast im Bereich der Rechtspflege abzuwerfen und die Knebelung der Presse aufzuheben, und warnte sie, daß »nur diejenigen Throne bestehen« würden, die »sich nicht durch Verblendung und selbstsüchtige Heuchler länger abhalten ließen«, einen »wahren und würdigen, allen Bürgern heiligen deutschen Rechtszustand« zu gründen.30 Mit seinen beiden Büchern über Weidigs Tod und über die geheime Kabinettsjustiz stand Schulz in vorderster Front im Kampf um Menschenwürde, Humanität und Fortschritt. Vergebens suchte Hofgerichtsrat Noellner in einer zweiten Abhandlung Die Kritik des gerichtlichen 29 Wilhelm Schulz: Geheime Inquisition, Zensur und Kabinettsjustiz im verderblichen Bunde. - Karlsruhe 1845, S. 45. 30 Ebd., S. 78.

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Verfahrens gegen Pfarrer Weidig die Argumente von Schulz zu entkräften; mehrere Demokraten in verschiedenen Teilstaaten Deutschlands berichteten von weiteren Opfern des geheimen Gerichtsverfahrens. Der Leipziger Demokrat Robert Blum veröffentlichte in den Sächsischen Vaterlandsblättern und im Volkstaschenbuch Vorwärts Berichte über Weidigs erschütterndes Ende, und der bereits erwähnte Freund von Schulz, Karl Buchner aus Darmstadt, schilderte in dem von Hermann Püttmann herausgegebenen Bürgerbuch für 1845 die Leiden der Opfer des geheimen Gerichts.31 Sogar jenseits des Atlantischen Ozeans wurde ein Stück des erbitterten Federkampfs gegen die alten Gewalten ausgetragen: Der emigrierte hessische Demokrat Heinrich Rödter, der in Ohio eine Deutsche Gesellschaft gegründet hatte und Redakteur des deutschsprachigen Cincinnati Volksblatts war, veröffentlichte im Jahre 1846 einen etwas verkürzten Nachdruck des anonymen Buchs von Schulz unter dem Titel Leben, Charakter und Tod des deutschen Patrioten Dr. Friedrich Ludwig Weidig.^ Der Ertrag aus dem Verkauf dieses Nachdrucks war für die beiden Kinder Weidigs bestimmt, die nach dem Tod ihrer Eltern mittellos zurückgeblieben waren. Rödter, der in Cincinnati auch einen Deutschen Patriotischen Verein gegründet hatte, ließ die »Aktenmäßigen Belege und Beilagen« des Buchs von Schulz fort und ersetzte sie durch eine von ihm selbst verfaßte zehnseitige »Vergleichende Schlußbemerkung über den deutschen und amerikanischen Strafprozeß«. Dort rief der emigrierte Patriot voller Empörung aus: »Weidig ist gemordet! - Die Welt weiß, daß er gemordet ist, im Kerker der großherzoglich hessischen Regierung! - Die Welt weiß aber nicht, daß Weidig irgendein Verbrechen begangen hat, welches ein so schreckliches Los verdient [...] Hier sehen wir im gräßlichen Lichte, wie weit die Verfolgung und Mißhandlung der besten und tüchtigsten Männer von den sogenannten konstitutionellen Regierungen Deutschlands auf bloßen Verdacht hin und zur Erpressung der Selbstbeschuldigung getrieben werden kann.«35

Rödter betonte, daß auch in den anderen deutschen Teilstaaten »nichts als gräßliche Willkürherrschaft« existiere. 31'•Der Aufsatz Blums über Weidigs Tod, der im Volkstaschenbuch Vorwärts! auf das Jahr 1844 erschien, findet sich in Robert Blum: Politische Schriften, hrsg. von Sander L. Oilman. - [Reprint] Nendeln 1979, Bd. 5, S. 205-253; und Blums (textgleicher) Aufsatz aus den Sächsischen Vaterlandsblättern ebd., Bd. 6, S. 41-61. Karl Buchners Aufsatz Kickschau auf die Opfer des geheimen Gerichts in Deutschland ist im Nachdruck des Deutschen Bürgerbuchs für 1845, neu hrsg. von Rolf Schloesser, eingel. von Hans Feiger. Köln 1975, S. 100-140 (über Weidigs Tod S. 122-153) zugänglich. 32 Ich verdanke Prof. Robert E. Cazden, College of Library Science, Univ. of Kentucky, Lexington, USA, die Mitteilungen über Heinrich Rödter und seinen Nachdruck von Schulz' Buch über Weidig. Prof. Cazden stellte mir auch freundlicherweise mehrere Manuskriptseiten seines im Entstehen begriffenen Buchs »A history of the German book trade in America up to the Civil War« zur Verfügung. - Rödters Tätigkeit wird erwähnt bei Gustav Körner: Das deutsche Element in den Vereinigten Staaten von Nordamerika 18151848. - Cincinnati 1880. 33 Heinrich Rödter: Schlußbemerkung des patriotischen Vereins von Cincinnati, Ohio. - In: Leben, Charakter und Tod des deutschen Patrioten Dr. Friedrich Ludwig Weidig. Ein aktenmäßiger und auf gerichtliche Urkunden gestützter Beitrag zur Beurteilung des geheimen Strafprozesses und der politischen Zustände Deutschlands. Nach der Schweizer-Ausgabe bearbeitet und mit einer vergleichenden Schlußbemerkung über den deutschen und amerikanischen Strafprozeß, zum Besten von Weidigs Waisen herausgegeben vom patriotischen Verein in Cincinnati, Ohio. - Cincinnati: Gedruckt in der Druckerei des Volksblattes 1846, S. 150.

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»Leben und Freiheit der Staate-Mitglieder sind unter keiner Regierung Deutschlands besser gesichert als unter jener, die Weidigs Ermordung vor dem Richterstuhle der Menschheit zu verantworten hat. Unter all jenen Regierungen werden die Mörder und Straßenräuber im Untersuchungs-Arreste milder und menschlicher behandelt als diejenigen, welche im Verdachte der Vaterlandsliebe und des Freisinnes als politische Verbrecher verfolgt werden.«34

Noch ärger sei es um die Bürgerfreiheit in Preußen und Österreich bestellt, denn deren Selbstherrscher hätten keine Konstitution erlassen und würden nicht einmal »eine papierene Beschränkung ihrer Willkürherrschaft« dulden. Im Gegensatz zu der Justiztyrannei der deutschen Teilstaaten sei die Rechtsprechung in Amerika völlig unabhängig. Hierin liege die Bürgschaft gegen ungerechte Verfolgung und Mißhandlung der amerikanischen Bürger. Die Teilung und Gleichstellung der Gewalten ermögliche es sogar den Gerichten der Einzelstaaten und dem Obersten Gerichtshof, Verfügungen der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt für verfassungswidrig zu erklären. Niemand werde zur Selbstbeschuldigung gezwungen; jeder Angeklagte, auch der Mittellose, habe das Recht auf einen sachkundigen Verteidiger. Das Fundament der amerikanischen Bürgerrechte sei die Freiheit der Presse, Rede und Schrift. »Wir kennen keine andere Majestät als die Majestät des Volkes!« - rief Rödter aus. »Möge bald die Stunde der Erlösung schlagen für das geliebte Land unserer Geburt!« -35 Mit größter Wahrscheinlichkeit wußte Schulz, daß Rödter sein Buch über Weidigs Tod nachgedruckt hatte. Es ist nachweisbar, daß er mit hessischen Demokraten in Verbindung stand, die nach Cincinnati ausgewandert waren. Der Butzbacher Arbeiter Karl Zeuner, der dem Kreis um Weidig angehört und den Hessischen Landboten verteilt hatte, wurde nach seiner Verhaftung im Frühjahr 1835 zu einer zehnjährigen Kerkerstrafe verurteilt. Nach fünf JciHren Isolationshaft, in der er mit keinem Menschen ein Wort wechselte, ließ man ihn unter der Bedingung frei, nach Amerika auszuwandern. Er erhielt von Freunden, die dem Darmstädter »Zelt« des >Bundes der Geächtetem angehörten, zwanzig Gulden für die.Überfahrt36 und ließ sich in Cincinnati nieder. Dort verfaßte er einen Bericht über seinen Prozeß, in dem er die gegen ihn erhobenen Anklagen zurückwies. Dieses Manuskript übergab er im Herbst 1844 einem Bekannten aus Deutschland, der ihn besuchte und der es nach seiner Rückkehr Wilhelm Schulz zur Publikation zukommen ließ. Schulz veröffentlichte die Schrift unter dem Titel Ein wichtiges Zeugnis von Karl Zeuner in Nordamerika über die Nichtswürdigkeit des heimlichen deut34 Ebd., S. 152. 35 Ebd., S. 158-160. 36 L(eopold) Friedrich] Ilse: Geschichte der politischen Untersuchungen, welche durch die neben der Bundesversammlung errichteten Kommissionen, der Zentral-Untersuchungs-Kommission zu Mainz und der Bun· des-Zentral-Behörde zu Franltfurt in den Jahren 1819 bis 1827 und 1833 bis 1842 geführt sind. - Frankfurt 1860, S. 469.

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sehen Gerichts im Jahre 1846. - Die Abschaffung der Geheimjustiz und die Einführung von Schwurgerichten, die zu den wenigen Errungenschaften der Revolution von 1848 gehörten, waren zu keinem geringen Teil dem Kampf von Wilhelm Schulz und seinen Gefährten zu verdanken. In diesem Sinn war Weidigs Märtyrertod nicht vergeblich. Ich möchte meinen Vortrag nicht beenden, ohne auf die bedeutendste wissenschaftliche Leistung des militanten Demokraten einzugehen und seine Wirksamkeit in der Revolution von 1848 kurz zu streifen. Im Jahre 1843 publizierte Schulz seine Abhandlung Die Bewegung der Produktion, die die Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaftsordnung kritisch analysierte, wichtige Erkenntnisse des historischen Materialismus vorwegnahm und zu einer Inspirationsquelle von Karl Marx wurde.37 Schulz stellte fest, daß sich die Dialektik zwischen Mensch und Natur nicht wie bei Hegel im Bereich des Denkens vollziehe, sondern in der Arbeit, der Bewegung der materiellen und der darauf fußenden geistigen Produktion. »Die Menschen werden, was sie ruft«38, - diese Grundidee materialistischer Geschichtsauffassung verkündete Schulz schon 1840, drei Jahre vor Erscheinen seines nationalökonomischen Hauptwerks, in dem er konstatierte, daß die gesetzmäßige Entwicklung der gesellschaftlichen Güterproduktion Grundlage und Voraussetzung der politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse ist. Er zeigte, daß alle geistigen Lebensprozesse und sozialen Institutionen wie Staat, Politik, Verwaltung, Rechtspflege, Schulwesen durch die Produktionsweise des materiellen Lebens, durch die sich ständig wandelnde Wirtschaftsstruktur der Gesellschaft bedingt sind. Indem der Mensch die Natur verändert und durch die von ihm verursachte Bewegung der Produktion in seine Dienste stellt, schafft er zwischenmenschliche Beziehungen und Einrichtungen, die aufgrund der verschiedenen Interessen der Gesellschaftsklassen nicht harmonische, sondern widersprüchliche Tendenzen aufweisen. Die Triebfedern der politischen Kämpfe sind also in den widerstreitenden wirtschaftlichen und sozialen Machtinteressen zu suchen. Die ungezügelte Wettbewerbsordnung tendiere dahin, immer größere Kapitalien in den Händen einer immer kleineren Minderheit anzuhäufen, während am anderen Ende der sozialen Leiter ein immer größeres Heer ausgebeuteter Proletarier entstehe. Schulz entwickelte also die Lehren der damals fortgeschrittensten englischen ökonomischen Theorie weiter. Seine Ergebnisse waren ifür 57 Wilhelm Schulz: Die Bewegung der Produktion. Eine geschichtlich-statistische Abhandlung zur Grundlegung einer neuen Wissenschaß des Staats und der Gesellschaft. - Zürich und Winterthur 1845, Neudruck mit einer Einleitung von Gerhard Kade: Wilhelm Schulz und die Herausbildung der politischen Ökonomie bei Marx (Glashütten im Taunus 1974). Eine Analyse dieses Hauptwerks von Schulz findet sich in meinem Buch Ein Mann der Marx Ideen gab (oben, Anm. 1), S. 211-241. 58 [W. Schulz]: Die Veränderungen im Organismus der Arbeit und ihrEinßußaufdie sozialen Zustände. - In: Deutsche Werteljahrsschrifl, Heft 2, 1840, S. 20.

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Karl Marx von höchstem Interesse, als dieser 1844 in seinen Pariser Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten die materialistischen Auffassungen im historischen und wirtschaftlichen Bereich erstmals zu formulieren begann. Er exzerpierte seitenlang die Abhandlung von Schulz39 und benutzte sie noch zwanzig Jahre später, als er das Kapital schrieb; dort bezeichnete er Die Bewegung der Produktion als »eine in mancher Hinsicht lobenswerte Schrift«.40 Schulz erfuhr niemals, welche Erkenntnisse er Marx vermittelt hatte; er blieb zeitlebens überzeugter Anhänger der privatwirtschaftlichmarktorientierten Ordnung und hielt eine Harmonisierung der Interessen von Kapital und Arbeit durch breitangelegte staatliche Sozialgesetzgebung, Volksaufklärung, Mitbestimmung und Gewinnbeteiligung der Arbeiter und Demokratisierung in allen Lebensbereichen für möglich und notwendig. Den Rommunismus hingegen bekämpfte er als eine Lehre, die es »auf allgemeine und bleibende, darum auf zwingende Gütergemeinschaft, wenigstens für die unbeweglichen Güter abgesehen« habe; die von Kommunisten geforderte Aufhebung des Privateigentums stehe »im grellen Widerspruch mit der in ihrer Totalität erkannten menschlichen Natur und mit der schon beschrittenen höheren Stufe des Völkerlebens«; sie sei abzulehnen, weil sie sowohl dem anthropologischen Wesen als auch der geistig-politischen Bestimmung des Menschen widerspreche. Dieses Urteil fällte Schulz in einem ausführlichen Essay über CommunismuSy den er in der Enzyklopädie der Staatswissenschaßen, dem berühmten Lexikon Rottecks und Welckers, 1846 publizierte.41 Schulz war einer der eifrigsten Mitarbeiter dieses Nachschlagewerks, in dem die politischen und wirtschaftlichen Auffassungen des deutschen liberalen und demokratischen Bürgertums des Vormärz Niederschlag fanden. Über sechzig Artikel, die meisten zwanzig bis dreißig Seiten lang, in den drei Auflagen des Staatslexikons stammen aus Schulz' Feder. Diese Mitarbeit bildete in den Jahren des Zürcher Exils seine Haupteinnahmequelle; den Unterricht an der Universität hatte er schon nach fünf Semestern aufgegeben. In der intellektuellen Flüchtlingskolonie deutscher Demokraten, die in den vierziger Jahren im öffentlichen Leben Zürichs aktiv war, spielte Schulz eine wichtige Rolle. Er freundete sich eng mit den emigrierten Dichtern Georg Herwegh und Ferdinand Freiligrath an und war auch mit dem Staatstheoretiker und Verleger Julius Fröbel und mit dem ro39 Die Exzerpte, die Marx anfertigte, finden sich in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Ergänzungsband 1. Teil: Ökonomisch-phüosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. - Berlin/DDR 1977, S. 477ff. 40 Karl Marx/Friedricn Engels: Werke. - Berlin/DDR 1968, Bd. 23, S. 392, Anm. 88. 41 Wilhelm Schulz: Communismus. - In: Staatslexikon, Supplement zur 1. Aufl., Bd. 2 (1846), S. 23-942. Aufl., Bd. 3. - Altona 1846, S. 290-339.

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mantischen »Burschenkaiser« Adolf August Folien (Karl Pollens Bruder), der reich geheiratet hatte und ein großes Haus führte, gut bekannt. Als Caroline Anfang 1847 nach kurzer Krankheit starb, übersiedelte der junge Dichter Gottfried Keller, der sich den deutschen Demokraten politisch verbunden fühlte, ins Haus seines väterlichen Freundes Schulz, um ihn im Kummer nicht allein zu lassen. Im September 1847 ging Schulz eine zweite Ehe ein. Seine Frau Kitty, die der alten Zürcher Patrizierfamüie Bodmer entstammte, gründete eine private Mädchenschule, an der sie Englisch unterrichtete. Bei Ausbruch der Revolution im März 1848 erhielt Schulz die Einladung zur Teilnahme am Frankfurter Vorparlament. Nach mehr als dreizehnjährigem Exil konnte er nunmehr Heimatboden betreten, ohne Verhaftung befürchten zu müssen. Er brannte darauf, endlich aktiven Anteil an der Demokratisierung und politischen Neugestaltung Deutschlands zu nehmen, eilte nach Darmstadt und gehörte dort zu den Mitbegründern des Vaterländischen Vereinst Als Kandidat zur Frankfurter Nationalversammlung aufgestellt, legte er vor den Wahlmännern in Darmstadt ein Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie und zur Volkssouveränität ab. Er wurde gewählt und genoß den berauschenden, niemals erträumten Triumph, als Vertreter des deutschen Volks am 18. Mai 1848 in die Paulskirche einzuziehen. Bald sollten Katzenjammer und Ernüchterung folgen. Zehn Tage nach dem Zusammentreten des Parlaments legte er eine Reihe von gedruckten Anträgen »zur Abwehr der unserem Vaterlande drohenden Gefahren« vor. Er proponierte die Errichtung eines Volksheers von einer halben Million Mann zur Verteidigung der Nationalversammlung und der »Unverletzlichkeit des deutschen Gesamtgebiets gegen jeden äußeren Feind«; die Schaffung eines von den Einzelregierungen unabhängigen Verwaltungsapparats; und die Besteuerung des höheren Einkommens zur Finanzierung der Heeres- und Staatsausgaben. Die Verwirklichung dieser Anträge hätte die Paulskirche mit einer Macht ausgestattet, vor der die Eigenbröteleien der traditionellen Machtträger hätten zuschanden werden müssen. Die Mehrheit der Versammlung, die mit den Fürsten zu einer »Vereinbarung« gelangen wollte und der an keiner sozialen Vertiefung der Revolution gelegen war, lehnte Schulz' Anträge ab. Ohne die Schaffung einer eigenen Finanz- und Heeresmacht mußten aber alle Beschlüsse und Gesetze der Paulskirche auf dem Papier bleiben. Die Anträge von Schulz beweisen, daß es in dem später so geschmähten und belächelten »Professorenparlament« keineswegs an Männern fehlte, die geeignete Maßnahmen vorschlugen, um - wie der »Trompeter der Revolution« Freüigrath in einem berühmten Gedicht forderte - »die halbe Revolution zur ganzen zu machen«. 247

Schulz schloß sich der Fraktion der gemäßigten Linken - der >Westendhall· - an, die mit Robert Blums >Deutschem Hof< eng kooperierte und vergebens um die Suprematie der Paulskirche kämpfte. Er lehnte im März 1849 die Wahl des Preußenkönigs zum deutschen Kaiser ab, weil er dem verhaßten preußischen Militärstaat nicht die Wege ebnen wollte, und begab sich zu Beginn der »Reichsverfassungskampagne« mit dem Rumpfparlament nach Stuttgart. Nach Sprengung der Volksvertretung kehrte er tief enttäuscht nach Zürich zurück. Eine Zeitlang hoffte er ebenso wie viele andere Revolutionäre - auf das Wideraufflammen der Volkserhebung und verfaßte im Herbst 1849 eine Flugschrift Deutschlands gegenwärtige politische Lage und die nächste Aufgabe der demokratischen Partei. Dort forderte er wiederum die Abschaffung der stehenden Heere und ihre Ersetzung durch Volksmilizen nach Schweizer Muster, um den Wohlstand der unteren Klassen durch Wegfall des Militärhaushalts zu heben; politisch trat er für eine föderative deutsche Republik unter Einschluß Deutschösterreichs ein. Auch dieser Aufruf zu einer demokratischen Lösung der deutschen Frage verhallte ungehört. In seinem letzten Lebensjahrzehnt hielt er enge Freundschaft mit Gottfried Keller und dem in London lebenden Ferdinand Freiligrath. Während des Krimkriegs publizierte er 1855 ein Buch Militärpolitik, in dem er darlegte, daß die steigenden Rüstungsausgaben zum Ruin der Staatsfinanzen und zur Verelendung des arbeitenden Volks führen müßten. Er entwickelte sich zu einem entschiedenen Gegner der »diktatorischen Säbelherrschaft« Napoleons III. und suchte in seinem antibonapartistischen Werk Die Rettung der Gesellschaft aus den Gefahren der Militärherrschaft (1859) seine militärischen, sozialen und wirtschaftlichen Lösungsvorschläge miteinander zu verbinden und zu beweisen, daß allgemeine Abrüstung, Milizsystem und Freihandel Garanten der Völkerfreiheit seien. Kurz vor Ausbruch des Kriegs zwischen Österreich und Piemont-Sardinien rief Schulz in seiner letzten Broschüre Entwaffnung oder Krieg aus: »Keinen Krieg! Die vernichtende Strafe der öffentlichen Meinung über den Friedensbrecher! Die Völker wollen den Frieden, sie wollen die den Frieden verbürgende Entwaffnung!«42

Dieser pazifistische Aufruf, der Allgemeingültigkeit beanspruchte und von bürgerlichen Demokraten künftiger Generationen wiederholt wurde, war sein politisches Testament. Am 9. Januar 1860 starb Wilhelm Schulz in Zürich — »einer der wenigen Grauköpfe von Anno Toback, die weder Schufte noch Toren geworden sind«, wie sein Freund Gottfried Keller sagte.43 42 Wilhelm Schulz-ßodmer: Entwaffnung oder Krieg? - Leipzig 1859, S. 27. 43 Brief Gottfried Kellers an Ferdinand Freiligrath, 4. AprU 1850, in: Gottfried Keller: Gesammelte Briefe in vier Bänden, hrsg. von Carl Helbling. - Bern 1950-1954, Bd. l, S. 244. 248

»Wegen mir könnt Ihr ganz ruhig sein.. .«* Die Argumentationslist in Georg Büchners Briefen an die Eltern Von Thomas Michael Mayer (Marburg/Lahn) »Ich meine immer das wäre vor Euch Dichter eine Kleinigkeit alle, auch die schlechtesten Orte zu Idealisiren, könnt ihr aus nichts etwas machen, so müßt es doch mit dem sey hey uns zugehen, wenn aus Gießen nicht eine Feen Stadt zu machen wäre. Darinen habe ich zum wenigsten eine große Stärcke, Jammer Schade! daß ich keine Dramata schreibe, da sollte die Welt ihren blauen Wunder sehn, aber hi Prosa müßte es seyn, von Versen bin ich keine Liebhaberin, das hat freylich seine Ursachen ...« (Catharina Elisabetha Goethe an Klinger, Ende Mai 1776)

Im Juni 1833, kurz vor seiner Rückkehr nach Hause, schreibt Georg Büchner aus StraJßburg an seine Eltern in Darmstadt: »Ihr könnt voraussehen, daß ich mich in die Gießener Winkelpolitik und revolutionären Kinderstreiche nicht einlassen werde.«1 Anlaß und Zusammenhang dieser Versicherung (oder genau genommen dieses Anheimstellens einer Voraussicht) sind klar und seit langem bekannt Am Abend des 3. April 1833 hatten ein paar Dutzend Studenten und Handwerker kurzzeitig die Frankfurter Haupt- und Konstablerwache sowie die Zollstätte bei Preun* (Straßburg, Frühjahr 1833 [?J), HA 11/417, 12. »Ihr könnt über die Sache ganz unbesorgt sein.« (Gießen, 5. August 1834), 431, 10. »Ihr könnt, was meine persönliche Sicherheit anlangt, völlig ruhig sein.« (Weißenburg, 9. März 1835), 435, 29 f. »Vor Allem muß ich Euch sagen, daß man mir [...] eine Sicherheitskarte versprochen hat« (Straßburg, Anfang August 1835), 445, 11 f. »Ihr müßt Euch durch die verschiedenen Gerüchte nicht irre machen lassen« (Straßburg, 17. August 1835), 447, 7f. »wir [Flüchtlinge] haben keine weiteren Schwierigkeiten zu besorgen.« (Straßburg, Mai 1936), 456, 5 f. »man sagte mir, daß ich namentlich ganz ruhig sein könne.« (Straßburg, Juni 1836), 459, 35. »Was das politische Treiben anlangt, so könnt Ihr ganz ruhig sein.« (Zürich, 20. November 1836), 462,6 f. »auch läßt Dich die Mutter warnen, nicht allein zu weit von Strasburg fortzugehen, weil sie Angst hat, es möchte Dir ein Unglück mit einem Wolfe zu stoßen.« (Wilhelm an Georg Büchner, Darmstadt, 13. November 1831), HA. 11/468, 20 ff. .»Dein Vater ist so aufgeregt so wie auch Deine Mutter« (Onkel Reuß an Georg, Darmstadt, 24. März 1834), 473, 25f. »Deine Mutter läßt Dir sagen Du sollst nicht oft Nachts arbeiten« (Eugen Boeckel an Büchner, 16. Januar 1836), 485, 7. »obgleich wir uns gegenseitig nichts sagten; so hatten wir alle große Angst, und wir glaubten kaum daß Du glücklich über die Gränze kommen würdest Die Sache hat mir vielen heimlichen Kummer gemacht«. »[...] hoffe ich, daß ich Dich nicht mehr zu ermähnen brauche, Dich von allem politischen Treiben entfernt zu halten [...], es wird mir doch manchmal himmel Angst. —« (Die Mutter an Georg, Darmstadt, 30. Oktober 1836), 497, 29ff.; 499, 8f. l HA 11/418.

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gesheim gestürmt, um das Signal für eine revolutionäre Erhebung praktisch »alle [r] Klassen« zunächst in Südwestdeutschland zu geben, wie es der an den Planungen leitend beteiligte Butzbacher Rektor Friedrich Ludwig Weidig sich wünschte2; tatsächlich aber blieb es »eine vergebliche Unternehmung«, ein »Irrthum« auf Grund der »Verblendung« von Leuten, »welche in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites Volk s [a] hen«. So beurteilte es Büchner — ebenfalls in einem Brief an die Eltern unmittelbar nach dem Eintreffen entsprechend besorgter Nachrichten.3 Wie er desgleichen richtig vermutete, waren mehrere seiner früheren Darmstädter Schulkameraden (und späteren Mitsektionäre der Gesellschaft der Menschenrechtevon links< her »die Verurteilung des als >Gießener Winkelpolitik< bezeichneten politischen Liberalismus« implizierte.5 Ja, Büchner hatte diesem Liberalismus sogar in ein und derselben Formulierung auch noch den Radikalismus der »revolutionären Kinderstreiche«6 als die andere Seite der gleichen wertlosen Medaille beigeordnet. Doch 1977 stellte sich Walter Hinderer das Problem, wie es »im einzelnen dazu [kam], daß der Student [...], der eben noch seiner Familie versprochen, sich nicht >in die Gießener Winkelpolitik und revolutionäre [n] Kinderstreiche< einzulassen [...], plötzlich die Flucht nach vorne antrat und zur politischen Aktion schritt?«7 Diese eher beiläufige Frage wurde nun sofort aufgegriffen (Büchner »läßt sich gegen seinen erklärten Willen in die revolutionären Umtriebe in Hessen ein«8) und scheinbar systematisch erwogen. So von Gerhard P. Knapp, der schon 1977 gemeint hatte:

2 Vgl. jetzt ausführlich: Reinhard Görisch und Thomas Michael Mayer (Hrsg.): Untersuchungsberichte zur republikanischen Bewegung in Hessen 1831-1834. - Frankfurt a. M. 1982 (= Die Hessen-Bibliothek im Insel Verlag), hier bes. S. 23 f. 3 HA 11/416. Der Brief- oder jedenfalls dieser von Ludwig Büchner mitgeteilte Abschnitt möglicherweise eines Etappenbriefes - kann, den Weg der Nachricht von Frankfurt nach Darmstadt und die Poststrecke des Alarmbriefs der Eltern miteingerechnet, unmöglich (es sei denn irrig) vom 5. April datiert sein (N, S. 240; HA H/416), sondern frühestens vom 6. (vgl. GB l/H, S. 368); dies gilt selbst für den ganz unwahrscheinlichen Fall, daß die Eltern am späten Abend des 3. April, einem Mittwoch, zufällig in Frankfurt und dort auf der Straße gewesen wären (»Erzählungen«, HA U/417, 7). Ludwig Büchners Datierungen sind auch in mehreren anderen Fällen als fehlerhaft nachgewiesen (Briefe Nr. l, 3; N, S. 237f., HA II/413f.) oder noch zu bezweifeln; vgl. u. Anm. 199. 4 HA H/417; vgl. GB MI, S. 368. 5 Gerhard Schaub, in: HL, S. 123. Mit »Winkelpolitik« dürfte jenes liberale Treiben gemeint sein, das in Büchners Elternbriefen vom 19. (oder 12.?) November 1833 (»Punschbowle«) und 25. Mai 1834 ^possierlicher Liberalismus«) ähnlich charakterisiert ist Vgl. jetzt auch Elisabeth Ziegler Trump: The Elitist Revolutionary: Georg Büchner in his Letters. - Phil. Diss. Columbia Univ. (New York] 1979, S. 51. 6 Mit den »revolutionären Kinderstreichehi]« ist eindeutig der Wachensturm und die für ihn stehende politische Konzeption gemeint: vgl. die Rede von den »jungen Leuten« im Aprilbrief (HA H/416,22) und »ein paar Kinder[n]« am 19. März 1834 (HA H/426, 34). 7 Hinderer, S. 18. 8 W. R, Lehmann: Nachwort, in: WuB, S. 557.

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»Ob man hierin [in der Versicherung zu >Winkelpolitik< und >Kinderstreichennothwendige Bedürfniß der großen Masse< sich noch nicht entwickelt hatte, oder nur ein Lippenbekenntnis an den Vater, oder eine Mischung aus beidem, wird sich kaum retrospektiv entscheiden lassen.« Und 1978, leicht variiert: »Ob dies nur ein Lippenbekenntnis - mit besonderer Hinwendung [!] an den Vater - darstellt oder eine augenblickliche Überzeugung, die Büchner angesichts [!] seiner Rückkehr in das Großherzogtum radikal revidieren wird, weiß man nicht.«9

Auch Edda Ziegler sinnierte schon 1979: »Ob dieser Versicherung die B[üchner]s revolutionärer Theorie entsprechende Einsicht zugrunde liegt, daß die deutschen Verhältnisse noch nicht revolutionsreif seien, oder eine Distanzierung von den Gießener Liberalen, oder ob sie ein Lippenbekenntnis 10zur Beruhigung des Vaters ist, kann retrospektiv nicht entschieden werden.«

Auch prospektiv nicht, ist man versucht hinzuzufügen, denn daß (die ganze Abschreiberei nicht gerechnet) moderne Literaturkommentare so ahnungs-, hilf- und fühllos ausgeklügelt, und dazu noch so holzstelzen dröge formuliert, mit Büchners Texten umspringen würden, dies wahrhaftig war nicht vorhersehbar. Dabei ist die Lösung der erst ein-, dann zwei- und endlich dreifach gestaffelten Frage ganz leicht Die zitierte Briefstelle meint - wie fast immer bei Büchner - eben das, was sie ganz ausdrücklich sagt: Er werde sich nicht in die »Gießener Winkelpolitik und revolutionären Kinderstreiche« einlassen. Tut er dann auch nicht, sondern schreibt und verbreitet den Hessischen Landboten, der die Landarmut an »ihrer materiellen Noth« zu interessieren sucht und aus ihrer »Gleichgültigkeit«, »aus ihrer Erniedrigung hervorziehen will«, um »die Revolution auf eine durchgreifende Art auszuführen]«, was »bloß durch die große Masse des Volkes geschehen« könne (und dürfe), »durch deren Ueberzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam erdrückt werden« müßten.11 Dies war alles andere als »Winkelpolitik« oder »Kinderstreiche«; niemand - außer möglicherweise irgendein Zyniker wie Treitschke - hat es jedenfalls als solche bezeichnet. Und Büchner hatte seinen Eltern auch noch kurz zuvor, eben im April 1853, ausdrücklich erklärt: »wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt«-, denn das »Gesetz* des status quo sei nichts anderes als »eine ewige, rohe Gewalt, angethan dem Recht und der gesunden Vernunft«, und er, Büchner, »werde mit Mund und Hand dagegen kämpfen«, wo er könne.12 Unter anderem solche Klartextsätze sind es natürlich, die Volker Braun zu Recht als »noch immer« (oder wieder?)

9 G. P. Knapp: Georg Büchner. - Stuttgart 1977, S. 19; ders.: Nachwort, in: Georg Büchner: Gesammelte Werke. - München 1978 (Goldmann Klassiker 7510), S. 298. 10 WuB, S. 491 (in der Vorauflage von 1979 [vgl. GB , S. 297f.J, S. 716). 11 Aussage August Beckers, Nö, S. 421. 12 HA /416.

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»kaum zitierbar« bezeichnet13 Aber darf man sie deshalb für die Interpretation des kein Vierteljahr später geschriebenen Briefes zum selben Thema gleich ganz vergessen? Nichts von >Gegen-den-erklärten-Willen< also; nichts von schon oder noch resignierter »Einsicht«; freilich »Distanzierung« gegenüber »Liberalen« (das verstand sich von selbst, aber diese hatten mit den vor allem gemeinten, nämlich >putschistischen< »Kinderstreichen« auch nicht das mindeste zu tun); und schon gar nichts von »Lippenbekenntnis«. Oder nicht doch wenigstens Spuren von dergleichen? Die weniger pfiffig ausgedachte14 als implizite >ListGesinnungopportunistisch< zu überleben - sich anzupassen. Der politische Emigrant Büchner und sein Werk dementieren das so kategorisch wie nur wünschbar. Auch die Briefe an seine Eltern? Ich meine, ja. Nehmen wir die vier, fünf Briefe noch einmal vor, deren »List« und »doppelter Boden«, Witz und »Virtuosität«17 bereits dahingehend bezeichnet wurden, daß in ihnen »ohne jeden Opportunismus« ein Teil- oder 13 Volker Braun: Büchners Briefe. - In: GBJb 1/1981, S. 11. 14 Gerade »psychologisch kalkuliert« (Werner R. Lehmann: Textkritische Noten. Prolegomena zur Hamburger Büchner-Ausgabe. - Hamburg 1967, S. 18) scheinen mir Büchners Briefe in den wenigsten Fällen zu sein. 15 Nachwort, in: WuB, S. 559. 16 Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 5 (1978). 17 GB ////, S. 398.

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eher noch ein scheinbares Einverständnis evoziert ist, das auf völlig entgegengesetzten Forverständnissen beruht.18 Büchner beschreibt Ende Mai 1833 »die Carricatur« eines saint-simonistischen Predigers und fahrt, direkt an die Eltern gerichtet, fort: »Ihr denkt nun, ich hätte mit einem Narren gesprochen, und Ihr irrt.« Büchner erklärt dann den Eltern, die (das läßt der Brief erschließen19) im allgemeinen über den Saint-Simonismus unterrichtet sind, die neuesten Spielarten der zur Sekte heruntergekommenen >Schuleelternpädagogisch< aufklärenden Gedankengang mit der Andeutung des Hauptgrundes, warum er selbst kein Saint-Simonist ist: »Er [A. Ren6 Rousseau, der saint-simonistische Prediger, T. M. M.] steckt die Hände in die Taschen und predigt dem Volke die Arbeit«. Noch heute läßt sich die Widersprüchlichkeit des saint-simonistischen Frühsozialismus und insbesondere seiner um Enfantin geschälten Spätvariante kaum treffender benennen. Büchner gibt zugleich den Standort seiner Kritik (>von untenPalatia< richtete26, aber die älteren Zusammenhänge natürlich miteinbezog. In jedem Fall hat die scheinbar leichthin eingeflochtene Eidesbekräftigung einen realen Hintergrund, und ihr Inhalt, »die Unschädlichkeit der Verschwörer«, läßt möglicherweise die Richtung jener »Sophismen über den falschen Eid« erkennen, die Büchner »in Bereitschaft hatte« und die er nach August Beckers etwas anders als Clemms Aussage gefärbtem Bericht »oft auch zum Scherz aufstellte und die falsche Eidestheorie nannte«27. Denn was der Brief die »Unschädlichkeit dieser Verschwörer« nennt, ist durch den insgesamt exkulpierenden Duktus des Satzes, der ein Entlastungszeugnis im juristischen Sinne suggeriert, für das Verständnis »ad libitum«28 verpackt. Büchner, der zur selben Zeit bereits den Hessischen Landboten schreibt, meint indes eindeutig >unschädlich< im Sinne von politisch hilflos, harmlos für die »Regierung«; sogar die Wachenstürmer waren im Aprilbrief von 1833 als die »jungen Leute« apostrophiert, und ihr Plan war als »tolle Meinung« verworfen. Hier heißen die jetzt von Relegation bedrohten Burschen- und Landsmannschafter ausdrücklich 23 Aussage Clemms vom 4. Mai 1835, vgl. GB / , S. 253 u. Anm. 543. 24 Vgl. Untersuchungsberichte (s. o. Anm. 2), S. 320, Anm. 25 Vgl. Lleopold] Frfiedrich] Ilse: Geschichte der politischen Untersuchungen [...]. - Frankfurt a. M. 1860, S. 430f. u. 364. 26 Vgl. Untersuchungsberichte (s. o. Anm. 2), S. 373, nach Akten des Gießener Universitätsarchivs. Zur personellen Verflechtung zwischen Burschenschaft, >Palatia< und Gesellschaft der Menschenrechte< vgl. die Falttafel nach S. 378 in meinem Arbeitsbericht Georg Büchner und »Der Hessische Landbote«. Volksbewegung und revolutionärer Demokratismus in Hessen 1830-1835. - In: Otto Busch und Walter Grab (Hrsg.): Die demokratische Bewegung in Mitteleuropa im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Ein Tagungsbericht - Berlin 1980. 27 Nö, S. 331 f. 28 GB Wl S. 398.

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»ein paar Kinder«. Unzweifelhafter kann man das (beide Briefe im Kontext gelesen) kaum sagen. Aber was hätte es für einen Sinn gehabt, da es die Eltern ja in tatsächlich zugespitzter Lage zu beruhigen galt, doch noch deutlicher zu werden, etwa zu wiederholen, daß >nur Gewalt hilftUnschuldigkeit< vermittelt, so lassen sich auch Zeugenaussagen noch unterhalb der Schwelle expliziter Fälschung drehen und färben bis hin sogar zur persönlichen Verstellung, wie sie etwa Wilhelm Büchner im Februar 1835 an den Tag legte, als er sich anstelle Georgs in das Arresthaus führen ließ, weil der Polizeioffiziant den »jungen Büchner« verlangt hatte.29 Erst beim regulären Protokoll mußte er, um »nicht als absichtlicher Lügner da [zu] stehen«, seinen richtigen Namen angeben30 - Familientalent in jedem Fall, ob von Georg inspiriert oder auch nur von Wilhelm und/oder Alexander Büchner später so erfunden und ausgeschmückt; charakteristisch auch, so will mir scheinen, in der Vermeidung der ausdrücklichen »Lüge«. In die Kategorie der vordergründig erwartungskonformen Äußerungen mit verstecktem Untertext gehört wenigstens noch der Brief vom 25. Mai 1854, der Büchner anscheinend aufseilen der friedlichen »Philister«, tatsächlich aber der »Schuster- und Schneiderbuben« gegen das >possierliche< Treiben der >liberalen Buben< zeigt.31 Desgleichen natürlich jene Teile des Briefs vom 1. Januar 1856, in denen Büchner sich von den jungdeutschen Ansichten »über die Ehe und das Christenthum« absetzt (und zwar in eine weniger >sündige< Richtung) und das Feld seiner dramatischen Arbeiten »all diesen Streitfragen« zu entrücken sucht32, während der Brief gleichwohl als ganzer erkennen läßt, daß Büchner - so das Urteil Friedrich Sengles - der »ideologischen Trance« Gutzkows und seiner Partei einfach auch »etwas mehr direkte Erfahrung auf dem Gebiet der revolutionären Praxis« entgegenzusetzen hatte.33 Am aufschlußreichsten für die gesteigerte Form der hier in Frage stehenden »Argumentationslist« Büchners ist sein Brief vom 28. Juli 1855 mit der ästhetisch-grundsätzlichen Rechtfertigung des Dramas über 29 So nach späten Aufzeichnungen Alexander Büchners über seinen Bruder Wilhelm, zit bei Anton Büchner: Die Familie Büchner. Georg Büchners Vorfahren, Eltern und Geschwister. - Darmstadt 1963, S. 28 f. 50 Brief Wilhelm Büchners an K. E. Franzos, 25. Dezember 1878, in: Georg Büchner: Werke und Briefe. Hrsg. von Fritz Bergemann. - München: dtv 1965, S. 515. 31 HA 11/429; vgl. GB Ml, S. 579, und GBJb 1/1981, S. 199f. 32 HA 11/452, Iff. 33 Biedermeierzeit Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815—1848. Bd. 1. - Stuttgart 1971, S. 160.

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Dantons Tod und die Französische Revolution. Er beginnt - im überlieferten Teil - ebenfalls elternberuhigend; sogar entschuldigend, was die Autornennung34 betrifft, die für die Familie kompromittierend war. Und dann enthält dieser Brief tatsächlich den »Grenzfall« einer intendierten »Totalumdrehung« der Tatsachen35; doch selbst hier geschieht das nicht durch plumpe Irreführung. Büchner schreibt - wieder präventiv36 - u. a.: man habe bei der Redaktion seines Dramas »die Erlaubniß, einige Aenderungen machen zu dürfen, allzusehr benutzt«, und so sei »[m]anchmal [...] der Sinn ganz entstellt oder ganz und gar weg. [...] Der Titel ist abgeschmackt [...]. Außerdem37 hat mir der Corrector einige Gemeinheiten in den Mund gelegt, die ich in meinem Leben nicht gesagt haben würde.«38 Das ist toll: Es stimmt, daß nach Gutzkows bzw. auch Dullers Redaktionen »der Sinn« oft »ganz entstellt« und statt dessen »fast platter Unsinn« gedruckt war. Aber natürlich ist klar, daß gerade jene »Gemeinheiten«, auf die Büchner besonders schonend vorbereiten wollte, d. h. die »Veneria«39, gemildert und nicht durch den »Corrector« erst »in den Mund gelegt« waren, wie die Eltern wieder >ad libitum< verstehen sollten und verstehen mußten. Wir haben hier einen der Glücksfalle vorliegen, der uns die Entstehung dieses Witzes bis an seinen assoziativen Kern verfolgen läßt. Etwa zur selben Zeit, da Büchner diesen Brief an die Eltern schreibt, korrigiert er wenigstens zwei Widmungsexemplare des Danton für seine Freunde Stoeber und Baum (weitere Exemplare, etwa für die Eltern und Minna, sind nicht erhalten; sie hätten, falls es sie überhaupt gab40, vermutlich auch eine >adressatenbezogene< Differenz erkennen lassen). In den beiden überlieferten Bänden finden sich nun mehrmals gerade beim Ausfall von »Veneria« Randbemerkungen sachlicher Art wie »defect!«, sarkastischer Art wie »anständig!« oder »ei! eü«, aber auch verärgerte wie »einfaltig!« oder eben: »gemein!« (letzteres dreimal).41 Mit »gemein« unter drei Ausrufzeichen wird z. B. quittiert, daß der Druck an Stelle von 34 HA H/445, 16 f. 35 Vgl. GB / , S. 398 36 Vgl. oben Text u. Anm. 22. Auch auf die später wirklich in der erwarteten Weise ausfallende Kritik geht der Brief schon prophylaktisch ein (HA 11/444, 29ff.). 37 Das Wort ist in wenigen Zeilen vorher schon zweimal benutzt, so spontan ist das ganze herausgesprudelt. 38 HA 11/443. 39 HA 11/475, 23. 40 Selbst bei den Eltern ist dies immerhin möglich, denn die frühere Formulierung »Im Fall es euch zu Gesicht kommt« (HA 11/438, 30) bezieht sich auf einen Zeitpunkt, bevor Büchner selbst Exemplare des Buchdrucks vorlagen, und vor allem auf ein unvorbereitetes Ansichtigwerden. Es läßt sich also nicht ausschließen, daß der nicht durch die Post (vgl. unten Anm. 118), sondern offenbar durch einen Boten überbrachte Brief vom 28. Juli 1835 zum Geburtstag des Vaters am 3. August einem Exemplar des Danton beilag. Ein gewichtiges Gegenargument liefert die Textkritik: TV lag offenbar kein von Büchner korrigiertes Exemplar der Buchausgabe von 1835 zugrunde, was hier jedoch einstweilen nicht näher erörtert werden kann. 41 Vgl. jetzt (nach Thieberger, 1953) die übersichtliche Zusammenstellung aller Korrekturen und Marginalien beider Widmungsexemplare im vollständigen Nachdruck desjenigen für Stoeber: Georg Büchner: Dantons Tod. Faksimile der Erstausgabe von iS35 mit Büchners Korrekturen (Darmstädter Exemplar). Mit einem Nachwort hrsg. von Erich Zimmermann. - Darmstadt 1981 (= Hessische Beiträge zur deutschen Literatur), hier bes. S. 14, 22, 39, 41, 44, 48, 85, 124, 143, 146. 256

»[...] wenn die jungen Herren die Hosen nicht bey ihr hinunterließen«42

als purgierte Fassung »[...] nicht gegen sie — artig wären«43

bietet (genau so halb als Ausdruck von Gutzkows eigener Verlegenheit, halb die Zensur andeutend!44). Der Impetus für den Ausdruck »gemein«, den Büchner hier durchaus eher in seiner modernen Bedeutung denn im älteren Sinn von >gewöhnlich< gebraucht45, war also aus der genau entgegengesetzten Richtung bezogen, mit der er über die Wortassoziation und jetzt mehr in der älteren Bedeutung als »Gemeinheiten« im Brief an die Eltern wiederverwendet wird (oder zeitlich und assoziativ umgekehrt). Wieder so gefragt: Wem oder was hätte es genützt, wenn Büchner den Eltern >ehrlich< erklärt hätte, sein Drama, das zumindest die entscheidende Kritik — wie er voraussah46 - auch in der >gereinigten< Druckfassung als nicht nur »unsittlich«47, sondern wirklich polizeiwidrig »schmuzig«, >anstößig< und >entartet< identifiziert hatte48, sei eigentlich in dieser Hinsicht noch viel krasser gedacht gewesen? Es wäre unsinnig gewesen, und die >Irreführung< ist sowohl virtuos gekonnt als auch situationsgerecht. Daß sie freilich als so eulenspiegelhaft zu verstehen sei, wie Werner R. Lehmann die Stelle liest, scheint mir ausgeschlossen: Man dürfe Büchner »aufs Wort glauben, was er den Eltern schreibt: >Außerdem hat mir der Korrektor einige Gemeinheiten in den Mund gelegt, die ich in meinem Leben nicht gesagt haben würde.Zweideutigkeiten« beanstandend signalisieren wollen, »die die Direktheiten und Derbheiten seines ursprünglichen Textes nur verfälschen«, ebd.) verkennen gerade die entscheidende Finte des Briefes. Das unterstellte Verständnis hatte Büchner zwar sicher selbst; die Eltern, denen die Vergleichsmöglichkeit mit dem Manuskript glücklicherweise nicht gegeben war, sollten und konnten nur verstehen, was dastand: »Gemeinheiten« (i. e. >gewöhnlichederbeverwerfliche< Ausdrücke bzw. Formulierungen) »in den Mund gelegt«. Vgl. Anm. 36. HA 11/443, 22; 444, 32. Vgl. GB / , S. 127, 403 f. Nachwort, in: WuB, S. 538; gegenüber der Nachwortfassung von 1979 ergänzt Ebd. - Gerade über die Schwierigkeiten, die bei »Zoten« dem Verfasser des Woyzeck die Feder spreizten, wollte Gerhard Schmid auf diesem Symposium einige Argumente vortragen. Vgl. GB m, S. 303 ff. - Ein dort (S. 305 f.) unterlaufener Irrtum soll bei dieser ersten Gelegenheit umgehend berichtigt werden: Die Parallele zwischen dem Autor des Hessischen Landboten und dem »Tiradenton« von Nazi-Demagogen geht nicht auf W. R. Lehmann zurück, sondern sie war über den (WuB, S. 567) ohne näheren Hinweis zitierten Autor Joachim C. Fest erschlossen. Fest hat in seinem Aufsatz Gedanke und Tat Über eine Metapher von Heinrich Heine (zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.11.1978, und in: Deutsche Akademie Jür Sprache undDichtung. Jahrbuch 1978, II. Lieferung), der mir

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ten Briefes jedenfalls ergäbe eine solche Deutung gar keinen Sinn - auch nicht, weil schon gegenüber dem Bild selbst inkonsistent52, den einer »kaltblütige [n] Lüge«53. Hauptsächlich zwei Gründe sind es, die diese >Irreführungen< weder bloß albern noch chamäleonartig >aaressatenangepaßt< erscheinen lassen. Einmal die Tatsache, daß Büchner seinen Eltern bekanntlich auch Klartextbriefe oder Klartextbriefpassagen geschrieben hat, die zum politisch wie ästhetisch bewußtesten und deutlichsten gehören, was deutsche Schriftsteller der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts überhaupt formuliert haben. (Der Brief vom 28. Juli 1835 zählt hierzu.) Auf welche Ebene sich diese Passagen ihrerseits wiederum häufig und gezielt beschränken, wird noch zu erläutern sein. Der zweite Grund betrifft nicht nur die Elternkorrespondenz, sondern modifiziert auch die meisten anderen Briefgruppen. Er ist mit >ad libitum< bereits annähernd gekennzeichnet und wirkt in den Briefen an die Eltern in seiner schwächsten, in einer eher liebevollen Form. Die >Irreführungen< lassen einfach eine Klartextlücke, in der die Eltern auf der Basis speziell ihres eigenen Weltverständnisses dadurch Beruhigung finden, daß sie sich die harmlosere Lesung heraussuchen können. So werden sie gewissermaßen nur durch die Struktur ihrer eigenen Wünsche und Vorurteile getäuscht. Dies ist, auch wenn es die Form des >Mit den eigenen WaffenHamburger Ausgabe< konjiziert hier wohl doch allzu gütig zu »vergesse«60). Dieser beschränkte Causeur also schreibt von Wien auf Reisen, das Wandern sei seine Lust; »ganz zufrieden u. glücklich« dem »Augenblick« hingegeben und kein »Glück in einer verborgenen Zukunft« suchend, genießt er »die glücklichste Zeit [s] eines Lebens«.61 Büchner antwortet ihm: »Du hast frohe Tage auf Deiner Reise, wie es scheint. Ich freue mich darüber. Das Leben hat überhaupt etwas recht Schönes und 62 jedenfalls ist es nicht so langweilig, als wenn es noch einmal so langweilig wäre.«

Das ist - Büchner schreibt eben in dieser Zeit an der Komödie - im Geist Valerios63 gesagt und übersteigt, wie Boeckels nächster Gegenbrief be55 Vgl. Carl Vogt: Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke. - Stuttgart 1896, S. 121. Dass. in: Büchner (wie Anm. 30), S. 305. 56 Vgl. HA 11/431 f.; GBJb 1/1981, S. 200. 57 HA /447,33 f.; vgl. GBI/ , S. 352,400,418, und bes. Hermann Bräuning-Oktavio: Georg Büchner. Gedanken über Leben, Werk und Tod. - Bonn 1976, S. 30ff. Beim zweiten der in Gutzkows Brief vom 28. August 1835 erwähnten »Freunde«, die »anonyme Zusendungen gemacht« hatten (HA 11/481,6f.), dürfte es sich um das ehemalige Mitglied der Darmstädter »Gesellschaft der Menschenrechtevon gutem ToneWarnungen< vor den »medizinische [n] Gegenständen« auf die Probe stellt (»Sie werden thun, was Ihnen beliebt«73), verbittet sich Büchner wenigstens die Behelligung seiner Braut mit diesem skatophilen Thema. Er deckt dabei auch die Inkonsequenz der Boeckelschen Notabenes und Postscripta auf: 64 18. Juni 1836, HA 11/493. 65 I.Juni 1836,HA 11/458. 66 Vgl. HA 11/494, 36f. u. 502, 4 ff. auch die späteren Briefe Minna Jaeglos und Wilhelm Baums an Boeckel (Büchner, hg. Bergemann [s. Anm. 30], S. 327f., 333 f.) können nicht als eindeutiger Gegenbeweis gelten. 67 Eine entsprechend negativ gefärbte Ausnahme ist der Brief vom 3. November 1832 an Adolph Stöber (»Leichendunst« und »Schädelstätte«, WuB, S. 247). 68 Vgl. schon Boeckels Briefe vom 7. Sept 1832 (HA H/469 f.) und besonders 16. Januar 1836 (ebd., S. 483 ff.) 69 Siehe HA 11/488, l f. u. 13 f. 70 HA 11/488, 28-489, 6. 71 Vgl. HA 11/457 f. 72 Ebd., S. 492, 5f. 73 Ebd., S. 487, 36f.; vgl. 483, 14.

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Wilhelmine »hat mir Deine beyden Briefe, unerbrochen gegeben [d. h; sie hat auch Boeckels Vorsprüche gar nicht zur Kenntnis genommen, T. M. M.], dennoch hätte ich es passender gefunden Du hättest schicklichkeitshalber eine Couverte um deinen Brief gemacht; konnte ein Frauenzimmer ihn 74 nicht lesen, so war es unpassend ihn auch an ein Frauenzimmer zu adressiren«.

Dies mißt die nur scheinbar »äußerst korrekt und artig«75 ausgedachten, in Wahrheit aufdringlichen Rautelen Boeckels an ihrer eigenen Begründung. (Was aber die Abwehr der gynäkologisch gefärbten Leichengier des studienreisenden Medizinerfreundes mit der >Säuerlichkeit< gerade erotischer Prüderie76 zu tun hätte, ist nicht erfindlich.) Boeckel begreift zumindest diese »Zurechtweisung«, plaudert indes weiter über die »süperben promenaden«, die ebenso »süperben« anatomischen Präparate, die »progresse« (!) der Cholera und die Segnungen des österreichischen Regiments.77 Und als er erst ein halbes Jahr später, Ende Dezember 1856, Büchners Zürcher Adresse eruiert und nicht wieder verlegt, geht es ungehemmt weiter mit »Syphilis, Auscultation u. Chirurgie«.78 Weitere Antworten Büchners sind wie gesagt nicht überliefert, und schon seine Anhänglichkeit bis dato läßt erahnen, wie rar in Straßburg die (deutschen) Köpfe gesät sein mußten. Auch der ganz anders gewichtete Briefwechsel mit Karl Gutzkow (Büchner schreibt anscheinend stets: »Guzkow«79, sein Vater einmal: »Gutzow«80!) zeigt, zumal gegen Ende und wenn man sich jeweils Brief und Gegenbrief vor Augen hält, eine Auffassungsschere, die relativ rasch zum >Stockenschülerisierendem< Ton ins »Gemüth« der Mutter167 zu schreiben versucht; und das nicht nur offenbar in Erinnerung an Teil, sondern indem die Idylle des *gesunde[n], kräftige[n] Volk[s]«, das in »freundliche[n] Dörferfn] mit schönen Häusern« wohnt und sich »um wenig Geld eine einfache, gute, rein republikanische Regierung« hält168, an jene frühbürgerlichen Zustände erinnert, die Schiller in der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande als eine wehrhafte Prosperität beschrieben hat: »ein gutartiges gesittetes Handelsvolk, schwelgend von den üppigen Früchten eines gesegneten Fleißes, wachsam auf Gesetze, die seine Wohlthäter waren. In der glücklichen Muße des Wohlstands verläßt es der Bedürfnisse ängstlichen Kreis, und lernt nach höherer Befriedigung dürsten. [...] Ein wohlhabendes üppiges Volk liebt den Frieden, aber es wird kriegerisch, wenn es arm wird.«169

Es soll nicht behauptet werden, daß die Rückdatierung des Volksbildes und der Republik in Büchners Brief gegenüber erreichten Erkenntnissen zum unüberwindlichen »Riß« zwischen der Geldaristokratie und den Arbeitenden, »zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft«170 nur taktisch >kalkuliert< war; sie erscheint eher als unwillkürlich in Vergegenwärtigung eines möglichen Gesprächs in der Darmstädter Grafenstraße. Und auch der Bezug zur späteren kryptischen Bemerkung: »Ich komme dem Volk und dem Mittelalter immer näher«171 bliebe zu untersuchen. Unabweisbar aber scheint mir, daß noch in dieser Form republikanischer Propaganda ad usum matris, die mit dem Hinweis aufs Risiko, in deutschen Residenzen »von einer adligen Rutsche überfahren zu werden«, fast jakobinischen Zuschnitts ist, die Standards zeitgenössischer 163 Das »tolle« Jahr. Vor, während und nach. Von einem der nicht mehr toll ist. Erinnerungen von Alex Büchner. - Gießen 1900, S. 35. 164 HA 11/469, 11 ff.: »Die Schweiz würde f...] sich von den liberalen Staaten, zu denen sie ihrer Perfassung nach natürlich gehört, lossagen ....« (Hervorhebung von mir, T, M. M.). 165 Vgl. schon Nö, S. 426. 166 Trump, a.a.O., S. 143: »there is something too uncritical and ecstatic about Buchner's description to make it entirely believable.« 167 »[S]ie sog durch ihr weiches, schwärmerisches, für und durch das Schöne leicht entflammte Gemüth aus den patriotischen Dichtern, namentlich aus Schiller und Körner, eine wahrhaft grenzenlose Begeisterung für ihr Volksthum..[.. .J hauptsächlich deshalb liebte sie auch die Freiheit« (F, S. VII, XV). Franzos' biographische Einleitung, der dieses Zitat entstammt, bleibt trotz vieler offenkundiger Fehler und einer »überaus lebhaften Phantasie« (WuB, S. 549), die sich gerade im Komplementärbild der Eltern an denen Goethes orientierte (so zutreffend Anton Büchner, s. o. Anm. 29, S. 22), als Quelle beachtenswert, zumal im kritischen Vergleich mit dem oft übereinstimmenden Porträt der Doktorin Brandeis in Luise Büchners Schlüsselerzählung Ein Dichter (s. u. Anm. 182). 168 HA 11/462,19,13 u. 20. 169 Schüler: Nationalausgabe, Bd. 17, 1970, S. 12. 170 HA 11/455. 171 Ebd., S. 464, 2.

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>Orginalbriefe< zwischen Söhnen und Müttern bei weitem übersehritten sind. Auch Wilhelm Schulz' Zitat und Kommentar dieser Passage bestätigen das.172 Eine letzte Beobachtung noch, die ein künftiger Kommentar mit systematischen Verweisungen zum übrigen Briefwechsel von 1855/36 darzulegen hätte: Büchner, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit und - was auch im brieffreudigen Biedermeier bei solchen Korrespondenzen kein Geringes wäre - mit einer etwa vierzehntägigen Frequenz nach Darmstadt zu schreiben scheint173, teilt den Eltern erstaunlich viel von seinen Arbeiten, Plänen und vor allem im weitesten Sinn politischen Beurteilungen mit Was Arbeiten und Pläne betrifft, so ist der Zweck eines ständigen >Leistungsnachweises< noch am leichtesten zu erkennen. Aber auch dieser bezieht sich nicht ausschließlich auf den Schreiber selbst und diesen nur als Privatperson, sondern rehabilitiert ihn zusammen mit anderen »Flüchtigen und Verhafteten«.174 Die allgemeine Höhe des Briefwechsels mit den Eltern und besonders der Mutter wird indes erst sichtbar, wenn man eine Summe der berührten Fragen zieht und ihre (trotz aller Finten zur Praxis des Schreibers) außerordentlich offene und eingehende theoretische Behandlung an der Korrespondenz mit Gutzkow mißt, auf die sich die Briefe nach Hause sogar häufig beziehen. Zur Rolle der »politischen Inquisition« in Deutschland175 und gerade zu Gutzkows Gefahrdung176 sind beiden Adressaten ähnliche Merksätze gesagt; zur Taktik der Regierungen diesseits und jenseits des Rheins177 steht erheblich mehr in den Briefen nach Darmstadt, auch wenn Gutzkow hier Teile der an ihn gerichteten Texte unterschlagen hätte. Literaturästhetische Abhandlungen gehen, aus rechtfertigendem Anlaß, anscheinend ausgearbeiteter nach Darmstadt als nach Frankfurt178. Andererseits greift Büchner Gutzkows Andeutungen zur Vorwand-Rolle von »Religion« und 172 Rezension der Nachgelassenen Schriften von G. Büchner. - In: Deutsche Monatsschrytßir Politik, Wissenschaft, Kunst und lieben 2 (1851), H. 2, S. 211 f. 175 Die Frequenz läßt sich weniger aus der absoluten Zahl der nachweislich lückenhaft überlieferten Brieffragmente, d. h. etwa den 20 Stücken in 21 Monaten von März 1855 bis November 1856, erschließen als vielmehr aus den kleinsten häufiger belegten Folgen (so vor allem Briemummern 1/2, 9/10/11,12/13, 51/55, 54/55,40/41/42/45/44 [allerdings mit zwei Geburtstagsbriefenl der »Hamburger Ausgabe«). - Bei der Gelegenheit: Auffällig ist der wöchentliche Freitag-Brief an die Braut zwischen dem 15. Januar und 5. Februar 1837, der in der Tat »regelmäßig und ordentlich [...] wie eine Schwarzwälder Uhr« erscheint (HA 11/465, 27 f.) - auch wenn das möglicherweise mit dem Posttag zusammenhängt Noch der zu Tod Erkrankte denkt am Freitag, dem 10. Februar, an dieses Schreiben nach Straßburg, kann aber eigenhändig nur noch einen Gruß von »fünf Wortejn]« unter dem von Caroline Schulz aufgesetzen Brief anfügen: »Adieu mein Rind (Dein Georg?]« (vgl. Büchner, hg. Bergemann [s. o. Anm. 50], S. 519 u. 527; fehlt ohne Begründung in HA II). 174 HA 11/454, 5ff., vgl. 459, 21 ff., 455, 5ff. 175 Ebd., S. 455, 54. 176 Ebd., S. 442, 17; vgl. 452, 54ff. 177 Vgl. ebd., S.442, Iff.; 446, 15ff.; 447, 5ff. u. ö. 178 An Gutzkow gerichtet waren freilich u. a. noch die Bemerkungen zu Hugo und Musset (Nachruf, s. o. Anm. 85, S. 545, d. h. vmtl. jene »Äußerungen über neuere Lit«, zu deren Aufnahme Gutzkow die »Muße« fehlte, HA H/478, 5f.), die »Kritiken über neueste franz. Literatur« (HA 11/478,29; 457, 55ff.; 458f.) und eine besonders äYgerliche Verschweigung - die Ermutigung zur geplanten Deutschen Revue: Büchners »Motive zu dem Glauben an einen guten Fortgang sind aber zu persönlich, als daß ich sie wiedergeben könnte« (Nachruf, a.a.O., S. 546).

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»Moral« in Menzels Kampagne179 auf und verteidigt den Inhaftierten sofort an diesem neuralgischen Punkt: »der liebe deutsche Michel glaubt, es geschähe Alles aus Religion und Christenthum und klatscht in die Hände. [...] Es ist der gewöhnlichste Kunstgriff, den großen Haufen auf seine Seite zu bekommen, wenn man mit recht vollen Backen: >unmoralisch!< schreit. Uebrigens gehört sehr viel Muth dazu, einen Schriftsteller anzugreifen, der von einem deutschen Gefängniß aus antworten soll. [...] Es kommt mir vor, als stritte man sehr um das Reich von dieser Welt, während man sich stellt, als müsse man der heiligen Dreifaltigkeit das Leben retten.«180

Dies wie bekannt nicht ohne triftige Einwände gegen die Illusionen der »literarischen« Oppositionspartei. Das Niveau der Briefe an die Eltern, das in der Zeit kaum Parallelen hat181, läßt Rückschlüsse auf jene besonderen Beziehungen182 zu, die ihrerseits für den Briefautor und Dichter Büchner konstitutiv gewesen sein müssen. Ein Versuch, Eigenarten von Büchners Briefstil zu fassen, läuft-wenn er nicht selbst umfassend historisch-komparatistisch angelegt ist -, beim rudimentären Stand der Forschung zur Geschichte des privaten oder »Originalbriefs« in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts183 zwangsläufig Gefahr, entweder aus der besser bekannten epistolographischen Theorie1*4 womöglich übereilte Schlüsse zu ziehen oder aber als >Büch179 HA 11/482, 13f. u. 51. 180 Ebd., S. 451, 16ff. 181 Vergleichbar wären Heines berühmter Brief vom 4. März 1834 an seine Mutter (im Salon »sehr ekelhafte Druckfehler drin. Viel Zoten. Dieses war politische Absicht [...]«, Säkularausgabe, Bd. 21, 1970, S. 80) oder Marx' Briefe nach Trier in den Jahren nach 1837, also ohnehin die geistigen Höhenlagen der Zeit; im übrigen zeigten in diesem Punkt liberaler Adel und kultiviertes Großbürgertum (Heinrich von Gagern etwa) natürlich generell die gepflegteren Flaggen. 182 Vgl. neben F, S. Vllf., XIHff., besonders Luise Büchners Porträt der Mutter: »Dadurch, daß sie auf ihre Kinder einging, sie als urteilsfähige Menschen betrachtete und mit ihnen diskutierte, nicht disputierte, erwarb sie sich deren unbedingtes Vertrauen, und ließen sie sich der Mutter gegenüber vollständig gehen« (L. B.: Ein Dichter. Novellen-Fragment, f . . J Hrsg. von Anton Büchner. - Darmstadt 1965 [= Darmstädter Schriften XVII], S. 71). 183 Vgl. Sengle (wie Anm. 33), Bd. 2 (1972), S. 204f. Ebd., S. 197-214, ein grundlegender Abriß zur Geschichte und Theorie des Briefes besonders um 1830/40, den die Einzelforschung auch inzwischen noch nicht annähernd hat füllen können. - Rainer Brockmeyer (Gesch. d. dt. Brieß von Gottsched bis zum Sturm und Drang. - Diss. Münster 1959 [o. 0.1961]) und Georg Steinhausen (Gesch. d. dt. Briefes. Zur Kulturgesch, d. dt. Volkes. 2 Bde. - Bin 1889) reichen nicht oder nur noch marginal in unsere Zeit, Reinhard Grenzmanns Brief-Artikel im Reallexikon (Bd 2,21958, S. 186-195) ist ebenso wie derjenige von Paul Raabe (im Fischer Lexikon Literatur , 1965, S. 100-112) mehr als knapp, und die verschiedenen Monographien über den Brief und das Briefschreiben von W. Büngel (1958) über H. H. Ohms (1948), Albrecht Goes (1952) bis zu den Beiträgen von Gustav Hillard und Georg Jappe im Merkur 23 (1969) sowie von Golo Mann, Gustav Ren6 Hocke, Luise Rinser, Bernhard Zeller, Friedrich Pfäfflin u. a. im Jahrbuch i 975 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sind zum größeren Teil phänomenologisch bis besinnlich. - Wichtig sind neuerdings vor allem der Protokollbaod Probleme der Brief-Edition. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft f . . . ] 19 75. Referate und Diskussionsbeiträge hrsg. von Wolfgang Frühwald, Hans-Joachim Mahl und Walter Müller-Seidel. - Boppard 1977, und einige dort gen. Untersuchungen zu einzelnen Autoren, wobei die hinderlichsten Lücken wohl für Heine und Borne bestehen. Der jüngst vorgelegte Bericht von Peter Hasubek und Marianne Kreutzer Zur Edition der Briefe Immermanns (in: Heine-Jahrbuch 21,1982, S. 145-185) macht besonders deutlich, wie überfällig ein entsprechend fundierter Kommentar zu Büchners Briefen ist. 184 Reinhard M. G. Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit e. Bibliogr. z. Briefschreiblehre (1474-1800). - Göttingen 1969 (= Palaestra, Bd. 254); Diethelm Brüggemann: Vom Herzen direkt in die Feder. Die Deutschen in ihren BrießteUern. -München 1968 («dtv 503); ders.: Geliert, der gute Geschmack und die üblen Briefsteller. Zur Geschichte der Rhetorik in der Moderne. In: DVjs 45 (1971), S. 117-149. - Neuere Brieftheorie bei Albert Wellek: Zur Phänomenologie des Briefs. In: Die Sammlung 15 (1960), S. 339-355, und Peter Bürgel: Der Privatbrief. Entwurf eines heuristischen Modells. - In: DVjs 50 (1976), S. 281-297.

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ner-Ton< und spezifisches talent epistolaire zu deuten, was mehr oder weniger jeden gelungenen »Öriginalbrief von großer Unmittelbarkeit«1!85 von Goethe über Rlopstock, Lenz, Schubart186, die Romantiker, Mörike, Heine, Keller bis Fontäne usf. auszeichnet. Dennoch mag es erlaubt sein, dem Modell einer rhetorischen Analyse nach dem Chrie der seit Geliert »natürlich« moderierten Briefsteller*81, einer Analyse, die sich zweifelsfrei auf trotz Karl Phüipp Moritz' früher Kritik188 überindividuell noch mächtige Usancen - und bei Büchner sogar auf eine nachgewiesene schulische Unterweisung seit der Tertia189 - stützen kann, lediglich einen Eindruck entgegenstellen und an einem Beispiel zu erläutern. Ich halte dafür, daß gerade »aus den ganz persönlichen und privaten Schreiben Büchners« weniger »der gelernte und versierte Rhetor spricht«190 und daß auch die oft bemerkten Parallelen zum Werk weniger auf >Vorübungen< in den »kleine [n] Kunstwerken« der Briefe191 zurückgehen als vielmehr umgekehrt das seinerzeit gewissermaßen >unliterarischesermo absentis ad absentem< unter dem Stichwort »Vergegeiiwärtigung« bereits benannt hat193, teilt Büchner eher mit den bekannten Frauen der Briefgeschichte - von denen schon Geliert bemerkte, daß sie »oft natürlichere Briefe schreiben, als die Mannspersonen«194 -, mit Liselotte von der Pfalz, der Gottschedin, Meta Moller/Klopstock, der Karschin, der Frau Rat Goethe und Rahel - oder mit den Musikern, deren Briefe ebenfalls nach nicht185 Sengle, a.a.O., Bd. 2, S. 200. 186 Vgl. oben Anm. 120 sowie z. B. die Anthologie Briefe deutscher Klassiker. Mit der ganzen Ungeduld des Herzens. Hrsg. von Kurt Fassmann. - Herrsching 1981, S. 102, 276 u. ö. 187 Gellerts »Natürlichkeit« war die »einer stilisierten urbanen Umgangssprache humanistisch-literarisch Gebildeter« und wollte »wohl gelernt und geübt sein« (Nickisch, a.a.O. [s. Anm. 184], S. 176). Vgl. auch Chr. F. Geliert: Die epistolographischen Schriften. Nachwort von Reinhard Nickisch. - Stuttgart 1971. 188 Nickisch, a.a.O., S. 195 ff., u. ders.: Karl Philipp Moritz als Stiltheoretiker. - In: GEM 19 (1969), S. 262-269. - Im Biedermeier erfolgreicher als die Anleitung von 1783 war denn auch der unter Moritz' Namen zuletzt von Theodor Heinsius bearbeitete Allgemeine deutsche Briefsteller (Berlin: Maurer 91826, 101832). 189 Gerhard Schaub: Georg Büchner und die Schulrhetorik. Untersuchungen und Quellen zu seinen Schülerarbeiten. - Bern, Frankfurt/M. 1975, S. 57. 190 Vgl. oben den Beitrag von Gerhard Schaub, S. 194. 191 So Adam KuckhofT im Nachwort der von ihm hrsg. Büchner-Ausgabe (Werke. - Berlin 1927, S. 223), seit Heinz Fischers Anmerkungen zu Georg Büchners Briefen. - In: ders.: Georg Büchner. Untersuchungen und Marginalien. - Bonn 1972, hier S. 101, häufiger zitiert. Der Gedanke ist zuerst in Gutzkows BüchnerNachruf (s. o. Anm. 83, S. 547) formuliert: »Beweisen nicht schon diese [. . .] Brieffragmente, um welch einen reichen Geist mit ihm unsre Nation gekommen ist? Alles, was er berührte, wußte er in eine bedeutsame Form zu gießen. Er hatte die Rede und den Gedanken stets in gleicher Gewalt und wußte mit einer an jungen Gelehrten so seltenen Besonnenheit, seine Ideen abzurunden und zu krystallisiren.« Die weiteste und jedenfalls zu bedenkende Ausformung, nach der »die sogenannten Gefühlsergüsse schon in den Briefen [an Minna Jaegte, T. M. M.] literarisch-rhetorisch gefaßt waren - und [. . .] Büchner, jedenfalls in den Briefen an die Braut, sich selbst diesbezüglich im Verdacht hatte«, jetzt bei Volker Bohn, 192 Auf die dementsprechende oder besser: dies ermöglichende biographische Konsequenz Büchners, seine Entscheidung gegen das Berufsschriftstellertum, hat Henri Poschmann nachdrücklich im historischen Zusammenhang aufmerksam gemacht:, Heine und Büchner. Zwei Strategien revolutionär-demokratischer Literatur um 1 835. -In: Heinrich Heine und die Zeitgenossen. Geschichtliche und literarische Befunde. [Hrsg. von der] Akademie der Wissenschaften der DDR [und dem] Centre National 4de la Recherche scientifique. - Berlin u. Weimar 1979, bes. S. 207, 212 f., 217ff., 225 ff. 193 Vgl. oben S. 193. 194 Zit nach A. Schöne: Soziale Kontrolle ... (s. o. Anm. 120), S. 228.

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literarischen Gesetzen entstanden: Mozart195, Beethoven, Schubert, um nur die bestdokumentierten196 zu nennen. Der um den Jahreswechsel 1835/36 geschriebene Brief an den noch nicht 12jährigen Bruder Ludwig197 läßt vielleicht am besten die Mühelosigkeit erkennen, mit der Büchner sich in andere Vorstellungswelten und Bedürfnisse versetzte198, ohne hier auf äußerlich kindertümelnde Muster zu verfallen. Verfaßt ist er vermutlich als Einlage zu einem oder mehreren Nachweihnachtsbriefen an die Familie199 unter der besonderen, >honorigen< Adresse »Herrn / Louis Büchner Obertertianer / auf der 2.n Ordnung / zu / Darmstadt«. Das Schriftbild ist klar lesbar, wesentlich lockerer als das des etwas späteren Briefs an Gutzkow200, aber doch nicht besonders auf Kinderhand und für Kinderaugen zurückgestuft. »Prost Neujahr Hammelmaus/201 Ich höre, daß Du ein braver Junge bist, die Eltern haben ihre Freude an Dir, Mache, d[a]ß es immer so s[e]y. Es ist mir ein schönes Weihnachtgeschenk, dieß von Dir zu hören. Du zeichnest 202 nett, fahre so fort, Louis Jaeglo hatte große Freude daran und am Büchsenlecker und da läßt er Dir durch mich ein Buch mit Zeichnungen schicken. Da hast Du etwas um Dich zu üben. - Ist Lottchen Cellarius mit dir zufrieden und ist es mit dem Stück am Weihnachtabend gut gegangen? Wenn Du in die Clavirstunde gehst, so sage der Fräulein Lottchen einen schönen Gruß von mir, aber sage um des Himmelswillen Niemand ein Wort davon. Nächstes Frühjahr gehe ich in die Schweiz. Wenn du brav bist und etwas größer, als jezt, so mußt Du Stock und Ranzen nehmen und mich besuchen. Erst gehst du auf das Straßburger Münster und dann gehn wir an den Rheinfall203 nach 204 Schaff hausen und an de [n] Vierwaldstätter-See nach der Tellenplatte und der Tellskapelle. Adieu Mäuschen205, ich denke Du bist jezt eine Maus und wenn du 206 so fort machst, kannst du es noch weit bringen; ich hoffe, daß du für den grauen Bieberrock jezt zu groß bist. Lebwohl207 Dein Bruder Georg.« 195 Briefe u. Aufzeichnungen, hg. W. A. Bauer u. E. O. Deutsch. - Kassel, Basel u. a. 1962ff.; vgl. zu einem der >Bäsleeinfühltan ... nach< scheint sich vielmehr erst auf Grund des in der Vorstellung sukzessiv erweiterten Reiseplans ergeben zu haben.) 213 Vgl. hierzu neben den Briefen der Frau Rat an Fritz von Stein, August Goethe und Louise Schlosser vor allem Goethes Reisebriefe an den 12/13jährigen Fritz von Stein und deren narrative Gliederung: »Nun muß ich dir allerlei Geschichten erzählen. Neulich sind wir [...]. Nun zu einer anderen Szene. Neulich sahen wir [...]. Dann war ich auch [...]. Ferner muß ich dir erzählen [...]« (4. Januar 1787 aus Rom; Goethes Briefe [Hamburger Ausgabe], Bd. 2, S. 37ff.) - Aus Rom auch entsprechende Briefe Herders an seine 5-14jährigen Kinder 1788 (Briefe, Bd. 6, S. 64,160). - Einer der schönsten späteren Briefe ist derje-

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gen kennt, selbst in dieser Weise Revue passieren läßt. So entsteht eher eine gemeinsame Reise in wirklicher Übereinstimmung der Phantasie als ein speziell ausgedachtes Rinderprogramm.214 Mitfühlend im einfachen Sinn endet der Brief, wenn er Ludwig das Herauswachsen aus dem »grauen Bieberrock« wünscht — womöglich einer seit dem Ältesten aufzutragenden, unverwüstlich-veralteten Kluft, unter der schon der zweite Bruder zu leiden hatte. —Wie sensibel Büchner Ängste und Verletzungen von Rindern registrierte, zeigt die geradezu obsessive Präsenz dieses Themas im gesamten Werk: Schreiende Rinder, ein durch Schauergeschichten verstörtes Rind im Da/ 215, das kranke, ängstliche, verlassene Rind im Leraz216, das Bild des friedlich schlafenden Kindes in der Romödie217, dagegen der Schweiß im Schlaf von Woyzecks »Bub«; »Die Erde hat sich ängstlich zusammengeschmiegt, wie ein Rind und über ihre Wiege schreiten die Gespenster« (Leonce und Lena, 11,2); das Rind »drängt sich« an Marie, aber wendet sich von Woyzeck »w[e]g u. schreit«218; - im >Märchen< der Großmutter und mit dem zitierten Brief über die »zerlumpte [n], frierende [n] Kinder [...] mit aufgerissenen Augen und traurigen Gesichtern« auf dem Christkindeismarkt gipfelt diese in ihrer Bedeutung noch kaum erkannte Motivkette, die in der steten Briefanrede an die Braut (»Lieb Kind«, »mein Kind«, »Mein lieb Kind«)219 trotz aller Konventionalität eine erotische Komponente enthält, im übrigen selbst darin auch kindliche Aggressivität und Mutwillen keineswegs übersieht.220 Mein eher improvisiertes Darmstädter Referat beabsichtigte an dieser Stelle, aus den beschriebenen Sachverhalten Folgerungen in zweierlei Hinsicht zu ziehen: Schlüsse auf das Verhältnis zwischen dem Dichter, zumal Dramatiker, und dem Briefautor Büchner; und Schlüsse zu der in der älteren Forschung besonders umstrittenen Frage von Brüchen oder Rontinuität in Büchners Biographie und biographischen Äußerungen.

nige Flauberts vom 24. April 1856 an seine 10jährige Nichte Caroline Hamard (Briefe, hg. u. übers, v. H. Scheffel, 1977, S. 337f.). - Lewis Carrolls Alice ist 10- oder 12jährig (1865). 214 Daß es ein solches Programm zeitgenössisch tatsächlich auf frappierend parallele Weise gab, belegt die folgende Publikation: Wilh. Aug. Klütz: Anschauungen aus der Schweiz mit einem Anhange über das Straßburger Münster. Der Jugend Pommern 's. - Cöslin: Hendeß 1832,158 S., worin die Route vom Rheinfall bei Laufen über Zürich und den Zürcher See, Rigi, Vierwaldstätter See, Gotthardt-Straße, GrimselHöhe, Meiringen und Bern in das Grindelwalder und Lauterbrunner Tal verläuft. 215 HA l/ 40, 24 u. 35; 66, 18. 216 Ebd., S. 89, 21; 82, 32; 93, 21. 217 Ebd., S. 124, 21 ff. 218 WA, 45, 12; 22, 16. 219 HA 11/425,23; »Adieu mein Rind« (s. o. Anm. 173); HA H/463,7; 464,10; (dies nebst 424, l u. 11: »liebe Seele«, 424,3: »armes Herz«, 424, 33: »meine Liebe«, 427,28: »Lieb Herz« und 464, 31 f.: »piccola mia« an die immerhin drei Jahre Ältere!). Camilles »lieb Kind« zu Lucile (HA 1/38,22) bestätigt den intimen Bezug des Autors zu beiden Figuren. 220 »das Volk ist wie ein Kind, es muß Alles zerbrechen, um zu sehen was darin steckt« (HA 1/25); »das Kind wehrt sich« (WA 22, 18); zu Minna: »ich muß mich [...) stärken [an] Deinem lieben Leichtsinn und all Deinen bösen Eigenschaften, böses Mädchen« (HA 11/464, 27ff.).

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Platz- und Paritätsgründe gebieten, dies hier nicht mehr zu tun. Diejenigen Schlüsse, die sich auf den Dramatiker beziehen und die a) aus der annähernd schon umrissenen Familienkonstellation, b) aus einer literarischen Traditionslinie von Shakespeare über Diderot, Goethe bis Seume und Jean Paul, c) aus einer ästhetischen Traditionslinie von Mercier wieder über Diderot bis Jean Paul und Victor Hugo, und d) aus Besonderheiten des naturwissenschaftlichen Blicks (»Autopsie«221)

zu entwickeln wären, dürften ohnehin zu nahe liegen, um sie noch mit größerem Gewinn in Thesenform zusammenzufassen - zumindest was den Komplex jener Sympatheia betrifft, die sich bei Büchner deutlich als soziales Mit- und literarisches Einfühlungsvermögen äußert. Und die Frage >Brüche oder Kontinuität stand auf unserer Tagung so wenig zur Debatte, daß sie einstweilen nicht mehr aufgerührt werden soll. Es scheint, als habe wenigstens diese Frage sich gewissermaßen am >Fels des Positivismus< schon so gut wie entschieden.222

221 HA /490, 36. 222 Für viele Hinweise und aufschlußreiche Gespräche danke ich herzlich Jan-Christoph Hauschild, Ingrid Oesterle, Alfons Glück, Hubert Gersch, Hans Wißkirchen, Beate Lehmann, Bernd Schubert, Wolfgang Proß und Elmar Mellwig.

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Das Fortwirken der Bauernkriegs-Tradition in den revolutionären Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts Von Eckhart G. Franz (Darmstadt)

Der Eröffnungsvortrag des Büchner-Symposiums skizzierte eine dramatische Revolutions-Tradition von Goethes Egmont über Büchners Danton zu Marat/Sade und Heiner Müllers Auftrag. In der publizistischen Tradition revolutionärer Bewegungen ist der »Große Deutsche Bauernkrieg« von 1525 in geradezu verblüffender Weise zum immer wieder neu belebten Bezugspunkt geworden, traumatisches Schreckbild für die konservativ-absolutistischen Gegner jeder Volksbewegung, Ansporn für die Verfechter revolutionärer Veränderung, für die nationale Einheitsbewegung, für die demokratisch-freiheitlichen wie für die Sozialrevolutionären Kräfte. In Büchners Landboten wird der Bauernkrieg selbst nicht erwähnt; doch schon die Tatsache, daß er seine revolutionäre Flugschrift an den bäuerlichen Landmann richtete, daß er den Ansatz zum Umsturz bei den Bauern suchte, nicht in der Stadt wie die Revolutionen im benachbarten Frankreich, stellt ihn in diese Tradition, deren hier nur skizzenhafte Behandlung im Rahmen des Symposiums eine Art ScharnierFunktion zwischen der Danton-Sitzung und der Landboten-Diskassion übernehmen sollte. Die immer erneute Verknüpfung der Bauernkriegs-Erinnerung mit den periodisch wiederaufflackernden ländlichen Unruhen der Folgejahrhunderte dokumentiert sich zunächst in der Historiographie des Bauernkrieges, die sich bis in die Gegenwart hinein nur schwer aus der daraus resultierenden Politisierung lösen konnte. Schon 1707 bezog sich die Gießener Bauernkriegs-Dissertation des Advokaten-Sohns Georg Melchior Hofmann aus Speyer über den Rusticus seditiosus auf sonst wenig bekannte zeitgenössische Unruhen, einen bayerischen Aufstand vom Jahre 1705 und zwei »tumultus« im unmittelbaren hessischen Umland, die Zerstörung von Zollstöcken im Busecker Tal und die bewaffnete Empörung der Hungener Gerichtsbauern gegen die Grafen von Sohns, beides Fälle, mit denen der Vater des Doktoranden als Reichskammergerichtsprokurator juristisch befaßt war. Neue Belebung erfuhr das Thema Bauernkrieg dann unter dem Eindruck der Französischen Revolution von 1789 und der mittelbar daran anknüpfenden sächsischen Bauernunruhen des Folgejahres. Pfarrer 281

Georg Theodor Strobel, der 1795 über Thomas Müntzer als »Urheber des Bauernaufruhrs in Thüringen« schrieb, verwies im Vorwort auf »die gegenwärtigen, bedenklichen und unruhvollen Zeiten, die jeden ganz natürlich an das traurige Jahr 1525 erinnern«; ebenso sah auch der Göttinger Bibliothekar Sartorius »in den Begebenheiten unserer Tage eine Art Aufforderung«, seinen im gleichen Jahr publizierten Versuch einer Geschichte des Deutschen Bauernkriegs »gerade jetzt« zu »wagen«, habe doch, so meinte er, »das 16. Jahrhundert in Hinsicht auf die Ursachen, welche die politischen und religiösen Gärungen veranlaßten, [...] in mancher Hinsicht eine auffallende Ähnlichkeit mit denen welche heutzutage ausgebrochen sind«. Es ist ganz sicher nicht zufallig, wenn eine nächste Welle der Bauernkriegs-Literatur in die Unruhe-Jahre des Vormärz fiel, die sachlich harmlose Neuausgabe der Peter Karelischen Bauernfcriegschronik durch den Speyerer Lehrer Michael König 1830, im Jahr der Juli-Revolution, oder die gewichtigeren Bauernkriegs-Darstellungen des schwäbischen Pfarrers Wilhelm Zimmermann und des Pariser Literaten Alexander Weill in den 1840er Jahren, geradezu Pflichtlektüre der Revolutionäre von 1848. Konkreter als in der anfangs eher distanzierten Geschichtsschreibung wird der Traditionsbezug in der eigentlichen Revolutionspropaganda. Auf der »Gegenseite« hatte der Kölner Kurfürst Maximilian Franz schon im Sommer 1790 vor dem Rückfall in die Bauernkriegszeiten gewarnt: »nous retomberons dans l'anarchie et verrons revenir les temps du Faustrecht et Bauernkrieg«. Tatsächlich erinnerte dann auch der fränkische Jakobiner Johann Andreas Rebmann in einem Nachruf auf seinen schwäbischen Freund Wekherlin im Neuen Grauen Ungeheuer von 1795 an den in Vergessenheit geratenen »Karstenhans« des Bauernkrieges, »der die Kühnheit hatte, im Angesicht des Todes und der Schandbühne politische Reformen zu predigen«. Der Würzburger Medizinstudent Johann Popp schickte seinen Wetzlarer Jakobinerfreunden im gleichen Frühjahr Stoffstücke aus einer auf der Veste Marienberg verwahrten Bauernkriegsfahne, die sie »geraubt« hatten, »Taffetstreifen von einer Bürgerfahne, die für Freiheit und Menschenrechte getragen, aber leider von den Despoten erobert wurde«. Die Wetzlarer schnitten das »an uns geschickte Läppchen in 10 Teile«, so daß jeder »einen kleinen Partikel davon« bei sich tragen konnte, eine zweifellos bemerkenswerte Form revolutionären Reliquienkults. Als sich die von der Juli-Hevolution ausgelösten Unruhen auch hierzulande zum revolutionären Knoten zu schürzen schienen, auf dem Hambacher »Nationalfest der Deutschen« im Mai 1852, sprach der miteinladende Journalist Johann Jakob Siebenpfeiffer in seiner programmatischen Rede von der »Bergruine, an deren starren Felswänden so mancher Schädel verzweifelnder Bauern sich verblutete, von diesem bischöf282

lich-adligen Raubnest, an welchem deutsche Volkskraft sich übte, die heiße Rache durch Zerstörung kühlend«. Das ist nicht allzuweit weg vom Ton des Landboten. Wilhelm Schulz, der auch in Hambach dabei war, hat dann im Februar 1853 in der 16. Nummer seines kurzlebigen Deutschen Volksboten, der bei Preller in Offenbach, dem Leske-Schwiegersohn und nachmaligen Drucker der ersten Landboten-Auflage, erschien, Einiges vom Deutschen Bauernkriege 1525 geschrieben. Der Leitartikel führte zum alsbaldigen Verbot der Zeitung, obwohl der an sich historisch-sachliche Bericht mit der Darstellung der Memminger 12 Artikel auf jede ausgesprochene Parallele verzichtete. Anstoß erregten dabei sogar weniger die Schulz'schen Texte als ein Auszug aus der ersten Bauernkriegs-Schrift Martin Luthers, der später gern übersehenen antifürstlichen Broschüre Ermahnung zum Frieden, den der Offenbacher Landrat zum Teil bereits in der Vorzensur streichen ließ: »Erstlich mögen wir Niemand auf Erden danken solches Unraths und Aufruhrs denn euch Fürsten und Herren [...] die ihr [...] in eurem weltlichen Regiment nicht mehr tut, denn daß ihr schindet und schätzt, euren Pracht und Hochmuth zu führen, bis der arme gemeine Mann nicht länger kann, noch länger mag ertragen«, heißt es in dem gestrichenen Luther-Zitat, Sätze, die so auch im Landboten stehen könnten. Wilhelm Schulz hat seinen Bauernkriegsbericht, den Büchner mit Sicherheit kannte, in seinem unzensiert als Flugschrift publizierten Testament des deutschen Volksboten zu Ende geführt. Die bereits erwähnten historischen Darstellungen der 1840er Jahre, die Bauernkriegsbücher von Zimmermann und von Weill, letzteres in Erstfassung in der Pariser Zeitschrift Democratic pacifique publiziert, aber auch das Bauernkriegs-Rapitel in der Illustrierten Weltgeschichte des Marx-Freundes Otto von Corvin, die 1847 bei Leske in Darmstadt erschien, waren zweifellos mehr als aktualitätsbezogene Geschichtsbücher. Hier ging es wie in der akademisch verbrämten Vereinsarbeit jener Jahre um politische Propaganda im kaschierten Gewand der Historic. Alexander Weill sprach vom Weiterwirken der »sozialen Ideen Münzers«, aber auch von der verpflichtenden »Idee der moralischen und politischen Einheit Deutschlands«, die nur revolutionär errungen werden könnte. Wesentlich härter war die Tonart des Flugblatts Gruß zum neuen Jahr. An unsere Brüder, die deutsche Proletarier, das zu Beginn des Jahres 1848 aufgrund einer strategisch geplanten Aktion, die an die von Thomas Michael Mayer rekonstruierte Landboten-Verteüung erinnert, schlagartig in zahlreichen Städten des Rhein-Main-Raumes auftauchte. »Im Jahre 1525«, so heißt es gleich im zweiten Satz, »wo das arme Volk der Bauern gegen die Aristokraten auf den Schlössern und in den Städten aufstand, da hat einer der Tirannen, deren heillose Brut noch jetzt von unserem 285

Marke lebt, unter vielen ändern Opfern einen jungen Bauer hinrichten lassen. Der hat laut geschrieen, daß sich die Steine von Würzburg hätten erbarmen mögen: >Ich soll schon sterben, und hab mich noch nicht ein einzigmal an Brod satt gegessenacÄen-Autor verändert Die literarischen Verfahrensweisen und die zentralen Fragestellungen von Bonaventura und Büchner zeigen aber andererseits dergestalt auffallende Ähnlichkeiten, daß man sie allen bestehenden Schwierigkeiten zutrotz notieren sollte. Nicht nur werden von beiden Dichtern mosaikartig Realitätsausschnitte verknüpft und die Widersprüche der Wirklichkeit direkt ausgestellt, sondern auch die Hauptthemen in aufeinander bezogenen Metaphern-Reihen entfaltet und differenziert; ihre Darstellungsweise ist außerdem primär gestisch und mimisch.5 Damit soll freilich keineswegs verschwiegen werden, was sich eigentlich von selbst versteht: daß sich bei allen verwandten Tendenzen im Hinblick auf den literarischen Herstellungsprozeß und die Thematik auch deutliche Unterschiede bei den beiden Autoren greifen lassen. Die folgende Parallelisierung der Nachtwachen mit dem Werk Büchners möchte nicht pedantisch Texte miteinander verrechnen oder gegeneinander ausspielen, sondern durch das Analogieverfahren das Verständnisraster für bestimmte Aspekte vor allem von Dantons Tod verfeinern. I

Wenn die Nachtwachen mit der grotesken »Vergangenheitsaufhellung« der vorgeschobenen Hauptfigur »eine Parodie des frühromantischen Romans« darstellen und mit der listigen arabeskenhaften Struktur die »romantische Romanform«6 ad absurdum führen, so destruiert Büchner in Dantons Tod die Struktur des idealistischen historischen Dramas. Das Pathos der »Paradegäule und Ecksteher der Geschichte« (2,426), die ein-

5 Schillemeit (Arnn. 3), S. 105ff. 6 Vgl. Peter Küpper: Unfromme Vigttien. Bonaventuras »Nachtwachen*. - In: Festschrift für RichardAlewyn. Hrsg. v. H. Singer ü. B. v. Wiese. - Köln - Graz 1967, S. 325 f.

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ander noch kontrapunktisch gegenübergestellt sind wie in der geschlossenen Form des klassisch-klassizistischen Dramas, wird auf mindestens zwei Ebenen parodiert7: einmal aus der Perspektive des Volks durch den Souffleur Simon, der den hohen Stil des Theaters imitiert, einmal durch die internen Parodien innerhalb der Dantonisten und die externen, die Teile der Strategie in der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern Dantons und denen Robespierres sind. Sowohl die Nachtwachen von Bonaventura als auch Dantons Tod zielen primär auf »Demaskierung, Entlarvung, Aufdeckung«8 - und zwar von Ich, Welt, Leben und Geschichte. In beiden Werken wird der Hauptwert der Aufklärungs- und idealistischen Humanitäts-ideologie, nämlich das Vergnügen in sich selbst und die Ich-Erweiterung9, was zum Ziel so verschiedener Werke wie Wielands Die Geschichte Agathons, Schülers ästhetischer Schriften, Goethes Faust und Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wüz in Auenthal gehört, auf provokative Weise inirage gestellt und verkehrt. Man könnte die perversio, die Verkehrung und Vertauschbarkeit von Wertvorstellungen und Empfindungsweisen in beiden Werken als ein Strukturelement nachweisen.10 Wie sehr dieses Verkehrungsprinzip zur Erlebnisweise des Nachtwächters gehört, mag diese Stelle belegen: »Eins ist nur möglich; entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich« (NW, 57). Von Lenz heißt es, daß er sich »amüsirte«, »die Häuser auf die Dächer zu stellen« (1,98), und Leonce spricht von dem Ideal, »sich einmal auf den Kopf sehen« zu können (1,105). Georg Büchner selbst schreibt in einem Brief an seine Braut (März 1854): »Will ich etwas Ernstes thun, so komme ich mir vor, wie Larifari in der Komödie; will er das Schwerdt ziehen: so ist's ein Hasenschwanz« (2,427). Diese Verkehrungen sogenannter >normaler< Empfindungs-, Vorstellungs- und Verhaltensweisen sind Korrelate eines radikalen Widerspruchs sowohl, was das Weltbild, als auch, was den Charakter betrifft. Der vorgeschobene Erzähler Kreuzgang11 versteht sich deshalb als ein Vexiergemälde aus »drei verschiedenen Standpunkten [...], Grazie, [...] Meerkatze und en face den Teufel« (NW, 56f.), als eine Kreuzung zwischen Teufel und einer »kanonisierten Heiligen«, und führt seine verkehrten Empfindungsweisen auf diese lex cruciata zurück. »Dieser verdammte Widerspruch in mir geht so weit«, so notiert der Betroffene in der 7. Nachtwache, »daß z. B. der Papst selbst beim Beten nicht andächtiger sein kann, als ich beim Blasphemieren«, ja man jagte 7 Siehe Helmut Krapp: Der Dialog bei Georg Büchner. - München 1958, S. 15 ff. 8 So Dorothee Sölle-Nipperdey: Untersuchungen zur Struktur der Nachtwachen von Bonaventura. - Göttingen 1959, S. 14. 9 Für den Zusammenhang siehe Heinz Otto Burger: »Dasein heißt eine Rolle spielen«. Studien zur deutschen Literaturgeschichte. - München 1963, S. 121-145. 10 Sölle-Nipperdey (Anm. 8), S. 65f.; vgl. auch Richard Brinkmann: Nachtwachen von Bonaventura. Kehrseite der Frühromantik? - In: Die deutsche Romantik. - Göttingen 1967, S. 145. 11 Zu den verschiedenen Bedeutungen des Namens vgl. Küpper (Anm. 6), S. 523 ff.

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ihm; »ein paar Male [...] aus Kirchen weil [er] dort lachte, und ebensooft aus Freudenhäusern, weil [er] drin beten wollte« (NW, 57). Mit dem ihm eigenen pathetischen Vokabular hält Danton gegen Camilles Lektüre, die Nachtgedanken von Young, die Pucelle Voltaires, beides übrigens Autoren, die auch dem Verfasser for Nachtwachen geläufig waren, und erklärt programmatisch: »Ich will mich aus dem Leben nicht wie aus dem Betstuhl, sondern wie aus dem Bett einer barmherzigen Schwester wegschleichen. Es ist eine Hure, es treibt mit der ganzen Welt Unzucht« (1,67). Auf der anderen Seite will er in der Tat, wie ihm Robespierre keineswegs zu Unrecht vorwirft, »die Rosse der Revolution am Bordel halten machen« (1,28), seine »Huren« gegen die »GuiUotinenbetschwestern« (1,32) ins Feld schicken, Robespierre seine Dirnen und Couthon seine »Waden« hinterlassen (1,69), um die »schreckliche Verwirrung«, die nach ihm komme, erträglicher zu gestalten. Die interessanteste der Grisetten, Marion, variiert die perversio herkömmlicher Wertvorstellungen mit dem Hinweis auf die allen Handlungen zugrunde liegende eudämonistische Grundmotivation: »Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsacllen, es ist das nemliche Gefühl, wer am Meisten genießt, betet am Meisteil« (1,22). Die in den Nachtwachen skizzierte Verkehrung und Verwirrung der Empfindungsweisen und Wertvorstellungen, die auf deren Destruktion ausgerichtet sind, beziehen sich in Dantons Tod einerseits auf die einan4er antithetisch gegenübergestellten Ideologien der Dantonisten und der Anhänger Robespierres, auf die Vertreter des Sensualismus und Eudämonismus und die Apostel der Tugend und des Stoizismus, die sinnenfi*0&en Hellenen und die asketischen, menschenfeindlichen Nazarener12, andererseits auf die provozierende Substituierung der herkömmlichen gierte durch die Verkündigung einer totalen Freiheit im Genuß, welche die »Emanzipation des Fleisches«, die etwa der Jungdeutsche Gutzkow iEa Anschluß an Friedrich Schlegels Lucinde nicht weniger glücklos in s|Äem Roman Wally, die Zweiflerin propagierte, weit hinter sich läßt. 1MB aber diese Substitution nur als Surrogat zu nehmen ist, belegt Dantöite Frage an Marion, warum er denn nicht fähig sei, ihre »Schönheit gptz in [sich zu] fassen« (1,22), und noch mehr deren lakofaische Ant^rt: »deine Lippen haben Augen«, das heißt: sein Sensualismus ist durch zu viel Bewußtsein gestört. Danton ist nicht gerade »hirnwüthig« (1,173) wie Woyzeck und wühlt sich auch nicht »in das All hinein« (1,79) vvie Lenz, aber er ist nichtsdestoweniger angekränkelt von des Gedankens Blässe. Er kann weder das Bewußtsein noch das Unterbewußtsein, 12 Um hier Heines Begriffe zu verwenden; vgl. dazu meinen Aufsatz: Nazarener oder Hellene: Die politischästhetische Fehde zwischen Borne und Heine. - In: W. H.: Über deutsche Literatur und Rede. - München 1981, S. 154-167.

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das Schuldgefühl gegenüber den Septembermorden (11,5) ausschalten, und er sehnt sich - wie der ruhelose Lenz nach der Ruhe Oberlins— nach einem Asyl (11,4), nach Seelenfrieden und Vergessen. Seine Frau und das Grab werden ihm deshalb zu Namen eines Begriffes, ähnlich wie für Leonce die durch Zufall gefundene Lena. Mit anderen Worten: Der Sinn der Liebe und des Daseins liegt im Tod. Selbst der menschenfeindliche Nachtwächter, der von der Ferne an den Typ des Misanthropen erinnert, den die Aufklärung mit ihrer Glückseligkeitsideologie ständig als gesellschaftsunfahig denunziert, glaubt aus seinem ironischen Abstand heraus Liebe als einen Zustand zu empfinden, in dem er »weniger denkft] als nichts* (NW, 114). Trotzdem wird in den Nachtwachen nicht wie in Dantons Tod (oder Lenz, Leonce und Lena und WoyzecK) mit dem Thema Liebe ein Prinzip Hoffnung berührt, das der radikalen Verzweiflung am Leben (Danton) oder dessen totaler Unterdrückung im Namen einer Idee (Robespierre, St. Just) gegenübergestellt wird. Obwohl Danton mit seinen Fragen ganz ähnlich wie der Nachtwächter immer wieder auf sich selbst zurückgewiesen wird13, auf den »Widerhall [der] eigenen Rede« (NW, 107), und mit diesem die ständige Konfrontation mit dem Nichts teilt, endet das Revolutionsstück nicht in derselben Ausweglosigkeit Hier wird wohl ebenso radikal destrtiiert, was die alte und neue Gesellschaft an wohlfeilen Normen und Weltanschauungslügen anbietet, und provokativ durch Verkehrung und Parodie die Scheinhafligkeit14 solcher Werte entlarvt. Doch neben resignativen Kommentaren (»Ich mag nicht weiter. Ich mag in dießer Stille mit dem Geplauder meiner Tritte und dem Keuchen meines Athems nicht Lärmen machen.« 11,4), Angstträumen (11,5), Bekenntnissen zum Atheismus und zum Nichts (111,7), steht der Opfertod von Julie und Lucile, wobei der ver-rückte Sinn von Lucile und die bewegende Darstellung ihres Leidens um Camille menschliche Grundqualitäten signalisiert, welche Robespierres Guillotinenromantik, der in der Rede St. Justs vorgetragenen Ideologie des Mords, der grölenden Gleichgültigkeit der Henker (IV,9) und auch den wie auch immer manchmal nihilistischen, manchmal sexuellen Kraftsprüchen der Dantonisten einen anderen, positiven Aspekt gegenüberstellen. Nichtsdestoweniger handelt Dantons Tod primär vom Sterben, worauf auch im Grunde der Inhalt der Nachtwachen hinausläuft, in denen der Gesprächspartner ohnedies bemerkt: »Über die Kunst zu leben ist mehr als zuviel geschrieben, doch suche ich noch immer einen Traktat, über die Kunst zu sterben, vergeblich« (NW, 31). 13 Jörg Schönert: Fragen ohne Antwort. Zur Krise der literarischen Aufklärung im Roman des späten i S. Jahrhunderts: JVezels »Belphegor«, Klingers »Faust" und die »Nachtwachen des Bonaventura«. - In: Jahrbuch der Deutschen Scfiülergesellschaß XIV (1970), S. 107. 14 Vgl. ebd., S. 222.

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So wenig sich solche Äußerungen immer ernst nehmen lassen, da sie der Autor oft ironisch bricht, schlägt in den Nachtwachen wie in Dantons Tod der ätzende Witz immer auch wieder in tödlichen Ernst um, das Lachen in das Weinen15, die Komödie in die Tragödie. Von beiden Autoren wird das Erhabene als ästhetische Kategorie durch das Komische zersetzt16 und die idealistische Rhetorik der Kunstperiode durch Kombination mit der anderen Stilart und Vorstellungsweise der Kritik ausgesetzt Diese moderne »melange du sublime et du grotesque«, wie Victor Hugo dann programmatisch formulierte, hat aber bereits Vorläufer im Sturm und Drang, an den sowohl der Autor far Nachtwachen als auch Büchner anknüpft. Auch hier wird bereits der hypertrophierte idealistische »Durst nach Vergöttlichung« als Selbsttäuschung entlarvt und der »allerschärfsten Beize der Laune« ausgesetzt, wie das Lenz einmal in einer 1777 entstandenen Beobachtung genannt hat Bei ihm finden sich auch schon in Hülle und Fülle (wie auch bei anderen Repräsentanten des Sturm und Drang) die Metaphern vom säkularisierten Welttheater, das heißt dem barocken theatro mundi ohne Gott In dem Fragment Über Götz von Berlichingen etwa fragt er suggestiv: »und was bleibt nun der Mensch noch anders als eine vorzüglich-künstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen besser oder schlimmer hineinpaßt« und kommt zu dem Schluß: »Wir sind alle, meine Herren! in gewissem Verstand noch stumme Personen auf dem großen Theater der Welt, bis es den Direkteurs gefallen wird uns eine Rolle zu geben«.17 Hier ist nicht mehr von dem sicheren Bewußtsein des Selbst die Rede, das bleibt, wenn auch das Schicksal die Schalen wie »Macht, Stärke, Leben« abschält, wie Leisewitz im Julius von Tarent feststellt, oder von der Oberzeugung, daß »Außendinge [...] nur der Anstrich des Mannes« sind, sein Ich dagegen sein »Himmel« und seine »Hölle«, wie es ganz idealistisch schon in Schillers Räubern heißt, sondern primär von der persona, cler Rolle, der Maske. In den Nachtwachen und in Dantons Tod wird dem diauben an die Wunderkraft des menschlichen Ichs ebenso abgeschworfen wie der Vorstellung von der Göttlichkeit des Menschen oder der Menschlichkeit der Götter. Im »Prolog des Hanswurstes zu der Tragödie: der Mensch« wird wie später im Woyzeck ä la Darwin »der Mensch als Mensch« aus einer Affenart entwickelt, die sich dank ihres Daumenmuskels »ein verfeinertes Gefühl verschaffte, von diesem in den folgenden Generationen zu Begriffen überging und sich zuletzt zu verständigen Menschen einkleidete, wie 15 Siehe dazu auch Walter Höllerer: Zwischen Klassik und Moderne. Lachen und Weinen in der Dichtung einer Übergangszeit. - Stuttgart 1958, S. 100-142. 16 Vgl. dazu Hinderer, S. 44ff. 17 Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Schriften. Hrsg. v. B. Titel u. H., Haug. - Stuttgart 1966, Bd. l, S. 378, 381.

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wir sie jetzt noch täglich in Hof- und anderen Uniformen einherschreiten sehen« (NW, 73). In Hl, Szene 2 des Woyzeck bemerkt der Marktschreier zu diesem Sachverhalt, der hier an einem dressierten Pferd demonstriert wird: »Ei Mensch, ei thierisch Mensch und doch ei Vieh, ei bete«, und in H2, Szene 3 der Ausrufer: »Alles schreitet fort, ein Pferd, ein Äff, ein Canaillevogel! Der Äff ist schon ein Soldat, s'ist noch nit viel, unterst Stuf von menschliche Geschlecht!« Im Grunde ist es nur die Drapierung, das Kostüm, das die Menschen vom Tier unterscheidet, und der Hanswurst der Nachtwachen nimmt den tragischen Aspekt zurück und spottet: »der Mensch ist eine spaßhafte Bestie von Haus aus und er agiert bloß auf einer größern Bühne als die Akteure der kleinern in diese große wie in Hamlet eingeschachtelten; mag er*s noch so wichtig nehmen wollen, hinter den Kulissen muß er doch Krone, Zepter und Theaterdolch ablegen, und als abgetretener Komödiant in sein dunkles Kämmerchen schleichen, bis es dem Direktor gefallt eine neue Komödie anzusagen.« (NW, 74)

Das korrespondiert mit der Feststellung Dantons: »Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht, wie im Mährchen.« (1,4l)18 Im komischen Märchen von Leonce und Lena führt Büchner dann die Marionettenhaftigkeit des Rollenverhaltens vor, bis hin zu der Möglichkeit, daß morgen der »Spaß« oder die »Komödie« (wie in dem oben mitgeteilten Zitat aus den Nachtwachen) »noch einmal von vorn« (1,133) anfangt, womit der ewige Kreislauf, die ständige Wiederholung, das Gleichmaß des Lebens angedeutet wird, worauf sowohl in Dantons Tod als auch in Lenz und Leonce und Lena die negativen psychischen Korrelate wie Langeweile, Gefühl der Leere, allgemeine Lustlosigkeit antworten. Selbst vom »Mechanismus«, der »Scala« und den Masken der Liebe wird in Leonce und Lena ganz ähnlich gesprochen (1,112,131) wie in den Nachtwachen, wo sich das Ich jederzeit »mit bunten Theaterlappen« behängt und »die Masken der Freude und Liebe vor das Gesicht« nimmt, »um interessant zu scheinen, und durch das innen angebrachte Sprachrohr die Stimme zu erhöhen« (NW, 75). In Wirklichkeit findet hier statt, was Camille in Dantons Tod dem idealistischen Theater anlastet: »Nimmt Einer ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff und zieht ihm Rock und Hosen an [...], färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich drei Acte hindurch herumquälen, bis es sich zuletzt verheirathet oder sich todtschießt - ein Ideal!« (11,3) Es sei nebenbei bemerkt, daß diese kurze Persiflage des klassizistischen Dramas ein ausführliches Pendant in der vierten und fünften 18 Vgl. dazu auch die bei Sammons (Anm. 3, S. 113f.) zitierten Stellen aus Tiecks William Lovell

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Nachtwache hat; es handelt sich hier unreine Geschichte, die einmal als Marionettenspiel in fünf Akten im Stil und mit dem Personal der Cornmedia delParte19 (man vermutete hier eine Parodie von Schillers Braut von Messina20), einmal in »klarer langweiliger Prosa« erzählt wird. Das Bezeichnende freilich ist hier wie übrigens auch in Dantons Tod und in Leonce und Lena, daß die parodistischen Elemente nicht nur der Entlarvung des idealistischen Programms dienen, sondern auch von der satirisch-komischen Perspektive umschalten auf eine ernsthaft-tragische, unter der plötzlich der Abgrund der menschlichen Existenz sichtbar wird. Der Protagonist des Marionettenspiels und der Erzählung berichtet selbst von dieser Erfahrung: »dann schaue ich aber plötzlich tief in mich selbst hinein, wie in einen unermeßlichen Abgrund, in dem die Zeit, wie ein unterirdischer nie versiegender Strom dumpf dahinrauscht [...]« (NW, 40). In Hl, Szene 8 von Woyzeck hat diese Erfahrung wohl andere Gründe, aber den gleichen Inhalt: »Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht« (1,165). Dieser konstatierte Abgrund, die Entdeckung nicht aufzulösender Widersprüche zwischen Ich und Welt, Sein und Schein, Selbst und Rolle veranlassen ebenso Büchner wie Bonaventura zur pausenlosen Befragung der menschlichen Existenz21, deren Sinn eigentlich nur im Sterben zu liegen scheint In der 16. Nachtwache reflektiert Kreuzgang in barocker Tradition ä la Hamlet dergestalt über die Vergänglichkeit des Menschen: »Was ist nun dieser Palast, der eine ganze Welt und einen Himmel in sich schließt; dieses Feenschloß, in dem der Liebe Wunder bezaubernd gaukeln; dieser Mikrokosmos, in dem alles was groß und herrlich, und alles Schreckliche und Furchtbare im Reime nebeneinander liegt, der Tempel gebar und Götter, Inquisitionen und Teufel; dieses Schwanzstück der Schöpfung - das Menschenhaupt! — die Behausung eines Wurmes. -« (NW, 140)

Über dieses »Schwanzstück der Schöpfung« stellen auch bei Büchner die Dantonisten ihre Betrachtungen an, wobei Danton ähnlich wie der Protagonist in der 4. Nachtwache (NW, 89) fürchtet, »in dem verhaßten Drama« zu einer unsterblichen Rolle verbannt zu sein, also nicht sterben zu können, während Camille das bevorstehende Ende so beschreibt: »Da liegen allein, kalt, steif in dem feuchten Dunst der Fäulniß; vielleicht, daß einem der Tod das Leben langsam aus den Fibern martert, mit Bewußtseyn vielleicht sich wegzufaulen!« (111,7) Der angebliche Nihilist und Atheist Danton stößt sich an dem Satz »etwas kann nicht zu nichts werden« und merkt an: »und ich bin etwas, das ist der Jammer«. Trotz 19 Vgl. dazu Gerald Gillespie: Kreuzgang in the Role of Crispin. Commedia delVarte Transformations in >Die Nachtwachen*. - In: Herkommen und Erneuerung. Essay ßtr Oskar Seidlin. - Tübingen 1976, S. 187, Anm. 4. 20 Wie schon Michel (Anm. 3); ausführlicher dazu Schillemeit im Kontext der Verfasserfrage (Anm. 3), S. 29 ff. 21 Vgl. Arendt (Anm. 2), S. 508ff.

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aller Todeswünsche ist ein »Gefühl des Bleibens« (11,4) in ihm, ein Bewußtsein seines Selbst; ihm fehlt allerdings jene idealistische Überzeugung, welche die dramatis personae bei Leisewitz und Schiller auszeichnet, und er empfindet im Gegenteil dieses Bewußtsein als Belastung. »Wir kratzen fünfzig Jahre lang am Sargdeckel«, verkündet Danton nicht ohne Pathos und bedauert: »Ja wer an Vernichtung glauben könnte! dem wäre geholfen« (111,7). Für ihn gibt es nicht einmal »Hoffnung im Tod«, denn dieser ist »nur eine einfachere, das Leben eine verwickeitere, organisirtere Fäulniß« (111,7). Er fürchtet wie auch einst Kreuzgang (14. Nachtwache) »den Tod der Unsterblichkeit halber - und beim Himmel mit Recht, wenn hinter dieser langweiligen comedie larmoyante noch eine zweite folgen sollte« (NW, 120). Das Motiv des ewigen Juden, das sowohl in Dantons Tod (1,61), in Lenz (1,94) als auch in den Nachtwachen (NW, 32) an bezeichnender Stelle auftaucht, veranschaulicht diesen Zusammenhang: Danton, Camille und auch Lenz halten sich für den »ewigen Juden, der, weil er das Unsterbliche lästerte, zur Strafe schon hier unten unsterblich geworden ist« (NW, 32). Dieses Zitat, das sich geradezu wie ein Kommentar zu diesem Sachverhalt bei Büchner liest, stammt wiederum aus den Nachtwachen von Bonaventura. Danton geht nach einer Replik Camilles auf die Parallelen von Tod und Leben ein, ja der Tod wird als Teil des Lebens erklärt: »Wir sind Alle lebendig begraben und wie Könige in drei- und vierfachen Särgen beygesezt, unter dem Himmel, in unsern Häusern, in unsern Röcken und Hemden« (1,61). In der 8. Nachtwache, im »Prolog des Hanswurstes zu der Tragödie: der Mensch« kann man lesen: »Der Totenkopf fehlt nie hinter der liebäugelnden Larve, und das Leben ist nur das Schellenkleid das das Nichts umgehängt hat, um damit zu klingeln und es zuletzt grimmig zu zerreißen und von sich zu schleudern« (NW, 75). Spätestens bei diesem Vergleich fallt auf, daß Danton, Camille und Kreuzgang in den Nachtwachen den Begriff »Nichts« in verschiedener Bedeutung verwenden: als Kontrastbildung zu Etwas, als Negation von Sein, als »absoluter Tod« (NW, 75), als metaphysische Endstufe (NW, 143) oder Alternative zu Gott (NW, 71), als alleiniger Partner des einsamen Ich (NW, 122). Camille setzt das Nichts mit dem Tod gleich, um diese Setzung dann gleich zu korrigieren (1,61); Horault bestimmt es ironisch als eine Art Gottesbegriff, in der jede Position ihr Gegenteil mit einschließt und dadurch sich annulliert (1,49); Danton verwendet einmal den Begriff im Sinne von Tod (»Meine Wohnung ist bald im Nichts«, 1,52; »das Nichts wird bald mein Asyl seyn«. 1,53), einmal als Gegenbegriff zu Gott (1,61,9), einmal auch als Möglichkeit des »absoluten Tods«, die aber ebenfalls wie bei Camille als Vermutung gekennzeichnet wird (1,61,34ff.). Die Verbindung von Nichts und einsamem Ich, das Erlebnis des Nichts als Leere findet sich bei Lenz (1,80; 94; 98). Die zum Teü dek324

kungsgleichen Varianten in den Nachtwachen und im Werk Büchners machen bereits deutlich, wie kurz hier das oberflächlich kategorisierende Stichwort Nihilismus greift, um den Bedeutungsumkreis des Abstraktums »Nichts« adäquat zu bestimmen. Interessant in diesem Zusammenhang scheint mir außerdem eine Äußerung Dantons zu sein, die er wohl selbst »verrückt« nennt, ihr aber doch »was Wahres« zuspricht. Es handelt sich um folgende beiden Abschnitte: »Die Schöpfung hat sich so breit gemacht, da ist nichts leer, Alles voll Gewimmels. Das Nichts hat sich ermordet, die Schöpfung ist seine Wunde, wir sind seine Blutstropfen, die Welt ist das Grab worin es fault« (1,61).

Die Schöpfung wird im Nachsatz als die Wunde des Nichts interpretiert, das sich selbst ermordet hat: die Menschen sind die Blutstropfen und die Welt das Grab. Die biblischen Anklänge (an den Opfertod des Messias) sind vielleicht weniger deutlich als in der textualen Äquivalenz einer Replik Robespierres (l,30f.) oder Lenas (»Ist es denn wahr, die Welt sei ein gekreuzigter Heiland, die Sonne seine Dornenkrone und die Sterne die Nägel und Speere in seinen Füßen und Lenden?« 1,118), aber doch nicht zu überhören. Büchner verlegt hier die Leidensgeschichte ohne christliche Erlösungsmythologie direkt in die Schöpfung, in den Menschen, in die Welt, ja selbst ins Nichts, wobei freilich nicht übersehen werden soll, daß gerade in Dantons Tod von den Dantonisten eine Vielfalt von Interpretationen »dieses Schwanzstücks der Schöpfung« kommentarlos und oft unwidersprochen im Diskurs nebeneinander gestellt wird. In dem schon häufiger herangezogenen »Prolog des Hanswurstes« aus den Nachtwachen wird dem Nichts ein ähnlicher Vorgang zugeschrieben wie in der Replik Dantons, allerdings ohne biblische Konnotation. Es heißt dort mit Bezugnahme auf das Motiv vom ewigen Juden: »Es ist alles Nichts und würgt sich selbst auf und schlingt sich gierig hinunter, und eben dieses Selbstverschlingen ist die tückische Spiegelfechterei als gäbe es Etwas, da doch wenn das Würgen einmal innehalten wollte eben das Nichts recht Deutlich zur Erscheinung käme, daß sie davor erschrecken müßten; Toren verstehen unter diesem Innehalten die Ewigkeit, es ist aber das eigentliche Nichts und der absolute Tod, da das Leben im Gegenteile nur durch ein fortlaufendes Sterben entsteht.« (NW, 75)

Danton scheint dieser »tückischen Spiegelfechterei« noch in 111,7 aufzuliegen, allerdings korrigiert er dann später Camilles und seine eigenen Ansichten in iy,5. mit den bekannten Worten: »Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott« (1,72). Die Welt ist nicht mehr das Grab des Nichts oder der »ewige Jude« (1,61,19), sondern ein Chaos, und das Nichts nicht mehr ein Selbstmord/Opfertod-Signal, sondern umgekehrt: ein Stück Zukunft, das vielleicht wieder das Chaotische und Zerstückelte zu einer neuen Einheit zusammenfügt. Selbstverschlingen und Selbstgebären des Nichts hat allerdings in 325

Dantons Tod noch eine scheinbare Variante in der Ideologie des St. Just, dessen Rede in dieser Zusammenfassung gipfelt: »Die Revolution ist wie die Töchter des Pelias; sie zerstückt die Menschheit um sie zu verjüngen. Die Menschheit wird aus dem Blutkessel wie die Erde aus den Wellen der Sündfluth mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum Erstenmale geschaffen« (1,46). Doch gerade diese fortgesetzte Zerstükkelung, der mechanisierte und formalisierte Mord, ist der Aiptraum, der auf Danton lastet; deswegen will er »lieber guillotinirt werden, als guillotiniren lassen« (1,32) und erklärt er sich als handlungsunwillig. Die öffentlichen Hinrichtungen, die Robespierre und St Just als notwendige Mittel für die Durchsetzung der Tugendherrschaft interpretieren, lehnen die Dantonisten als unmenschlich ab. »Man arbeitet heut zu Tag Alles in Menschenfleisch«, lautet Dantons bitterer Kommentar (III, 3; 1,52); trotzdem weiß er sich mitschuldig an dem »langsamen Morden mit seinen Formalitäten«. Robespierre und seine Anhänger erscheinen in der Tat, ohne daß ihre Kritik an den Dantonisten nicht ebenfalls begründet wäre, in einer ähnlichen Perspektive wie der unmenschliche Richter in den Nachtwachen, über den Kreuzgang folgendermaßen urteilt: »aber der kalte Gerechte kam mir vor wie die mechanische Todesmaschine, die willenlos niederfallt [...]. Beim Himmel, hätte ich die Wahl zwischen beiden, lieber wäre ich der lebende Sünder, als dieser tote Gerechte« (NW, 19). Während Robespierre und seine Anhänger alles für ihre ideologischen Ziele einsetzen, plädieren die Dantonisten für die Durchsetzung der menschlichen Natur, für Recht statt Pflicht, Wohlbefinden statt Tugend. Wenn Herault schon am Anfang von Dantons Tod erklärt: »Wir Alle sind Narren es hat Keiner das Recht einem Ändern seine eigenthümliche Narrheit aufzudringen. Jeder muß in seiner Art genießen können« (1,11)» so wird dieses Thema in entsprechenden Repliken von Marion (1,22), Danton (»Jeder handelt seiner Natur gemäß [...]«. 1,27) und Canaille (1,71) variiert. Doch dieser historisch bezeugte Epikureismus wird im Drama ständig durch gegenteilige Erfahrungen unterlaufen. Neben der wachsenden Lebensgefahr stehen Ängste, Träume, bohrende letzte Fragen, metaphysische und ideologische Zweifel und negative Empfindungen, welche die sensualistische Lebensauffassung bedrohen. Die Welt entpuppt sich als eine Fehlkonstruktion ohne tieferen Sinn, als Chaos, als Narren- oder Affentheater. Im Hinblick auf dieses zentrale Thema bieten sich so viele Parallelen zwischen dem Werk Büchners und den Nachtwachen an, daß ich in diesem Zusammenhang nur ein paar wesentliche Punkte andeuten kann. Vornehmlich drei wichtige Texteinlagen in den Nachtwachen, der »Prolog des Hanswurstes zu der Tragödie: der Mensch« (8. Nachtwache), der »Monolog des wahnsinnigen Weltschöpfers« (9. Nachtwache) und der 326

Briefwechsel zwischen Ophelia und Hamlet (14. Nachtwache) entlarven die idealistische Autonomie des Ichs als gefahrliche Illusion22: der Weltschöpfer leidet an »fixen Ideen« wie seine Geschöpfe, die Welt erscheint als ein Tollhaus und der Narr als der einzige Weise. Die Menschen gehen wie Nachtwandler durch die Welt, es sind Puppen25, von unbekannten Händen manipuliert, Rollengeschöpfe ohne Wesen. »Ja, wer entscheidet es zuletzt«, merkt Kreuzgang an, »ob wir Narren hier in dem Irrhause meisterhafter irren, oder die Fakultisten in den Hörsälen? Ob vielleicht nicht gar Irrtum Wahrheit, Narrheit Weisheit, Tod Leben ist« (NW, 86). Es ist dies einerseits »die absichtlich-verkehrte Stellung, in die der witzige Kopf die Gegenstände setzt«, wie Kant einmal die Intention des »Launichten Talents«24 beschreibt, damit sie der Rezipient sich wieder zurecht rücke, das Prinzip der Satire als »Probierstein« (NW, 60), aber andererseits nicht selten der Ausdruck der Verzweiflung über die Welt, wie sie ist, einer ebenso emotionalen wie intellektuellen Irritation. »Ja es kommt mir zuzeiten in überspannten Augenblicken wohl gar vor«, meint Kreuzgang mit der scharfen »Beize der Laune«25 (Lenz), »als ob das Menschengeschlecht das Chaos selbst verpfuscht habe, und mit dem Ordnen zu voreilig gewesen sei, weshalb denn auch nichts an seinen gehörigen Platz zu stehen kommen könne, und der Schöpfer baldmöglichst dazu tun müsse die Welt, wie ein verunglücktes System auszustreichen und zu vernichten.« (NW, 48)

Wie die Dantonisten das Ordnungssystem Robespierres kritisieren (z. B. 1,11; 26; 52; 65,14f.), so setzt sich auch Kreuzgang immer wieder mit den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen seiner Zeit auseinander, mit dem Adel, einer »Menge Justiz - und andere Wölfe« (NW, 49), so »öianchen Blutsaugern und Vampyren« (NW, 49, 51), den Staatsmännern, »Fürsten und Herrschern, die mit Menschen statt mit Münzen bezahlen, und mit dem Tode den schändlichen Sklavenhandel treiben« (NW, 52 f.), mit dem »Staat, der lieber gute brauchbare Maschinen, als kifhne Geister unter seinen Bürgern duldet« (NW, 111). Es ließen sich Dieser Sozialkritik leicht entsprechende Stellen aus dem Hessischen Landboten, Leonce und Lena (111,2) und Woyzeck gegenüberstellen, aber mir scheint die interessantere Parallele darin zu liegen, daß auch Danton angesichts dieser »verpfuschten« Ordnung (Lenz spricht von einer »verhunzten« Welt) das Chaos resümieren möchte. Camille gar spricht einmal von einer »Schöpfung, die glühend, brausend und leuchtend, um und [in den Menschen], sich jeden Augenblick neu gebiert« (11,5). Für die Fehlentwicklung der Revolution, das Terrorsystem, macht Mercier die 22 Zur Destruktion des Individuums und der Person in den Nachtwachen vgl. Schönen (Anm. 13), S. 213. 23 Siehe dazu auch Tieck: »Das Leben von uns allen ist am Ende nur ein albernes Puppenspiel«. Zit. bei Michel (Anm. 3), S. XXX. 24 Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. W. Weischedel. - Darmstadt 1968, Bd. 10, S. 558. 25 Lenz (Anm. 17), S. 464 f.

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»Reden« und »Gedanken« (in denen für Robespierre die Sünde steckt; 1,29) verantwortlich und wirft auch Danton vor: »Ihr bautet eure Systeme, wie Bajazet seine Pyramiden, aus Menschenköpfen« (1,52). Danton stimmt dieser Bestandsaufnahme nicht nur zu, sondern er fühlt sich durch das Bewußtsein seiner Schuld auch zu der grundsätzlichen Frage getrieben, was es eigentlich ist, »was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?« (11,5). Bei öffentlichen Auftritten spielt er zwar noch die Rolle26 der »gewaltigen Natur« (1,53,31), das »Genie der Freiheit«, den »Jupiter« (1,56), aber im privaten Kreis der Freunde und vor Julie macht er keinen Hehl aus einer grundsätzlichen Irritation, was den Menschen, seine Handlungen, Motivationen, seinen Zweck und seine geistige Beschaffenheit betrifft. »Der Mensch taugt nichts, darum streiche ich ihn aus«, beschließt der Verfasser des Trauerspiels »Der Mensch« in den Nachtwachen, und Büchners Danton verkündet: »Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden, es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür, wir werden es einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen?« (1,32) Um richtig zu erkennen, »müßten [wir] uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren« (1,9), behauptete Danton bereits in 1,1 gegenüber Julie. Er nennt sich und seine Freunde »elende Alchymisten«27, Camille bezeichnet sie in einer echoartigen Variation als »Algebraisten«, die »im Fleisch [...] nach dem unbekannten, ewig verweigerten X« suchen (1,32). Statt der angeblichen Gottähnlichkeit des Menschen, wie sie noch Lenz und Schiller optimistisch propagierten28, ist das »Schwanzstück der Schöpfung« zu einem seelenlosen Automaten, einer Puppe, einer Marionette geworden. Der Weltschöpfer kommentiert in den Nachtwachen diesen Sachverhalt dergestalt: »Ich hätte es gleich einsehen sollen, daß so wenig Gottheit nur zum Bösen führen müsse, denn die arme Kreatur weiß nicht mehr, wohin sie sich wenden soll, und die Ahnung von Gott, die sie in sich herumträgt, macht daß sie sich immer tiefer verwirret, ohne jemals damit aufs reine zu kommen. [...] Zuletzt [...] dünkte sich das Stäubchen selbst Gott und bauete Systeme auf, worin es sich bewunderte. Beim Teufel! Ich hätte die Puppe ungeschnitzt lassen sollen! -Was soll ich nur mit ihr anfangen? - Hier oben sie in der Ewigkeit mit ihren Possen herumhüpfen lassen?* (NW, 81)

Auch Büchner destruiert passim die idealistische Erhöhung der menschlichen Person, ob es sich um Kunst (Dantons Tod, 11,3; Lenz, 26 Vgl. dazu auch das Kapitel »Danton und Robespierre als Konfiguration« bei Erwin Kobel: Georg Büchner. - Berlin - New York 1974, S. 19-44; ebenso die Beobachtung bei Wolfgang Wittkowski: Georg Büchner. - Heidelberg 1978, S. 168 ff. 27 Vgl. NW, 135 f. (Kreuzgangs Vater ist ein »Alchimist«, der den Teufel beschwört; aber er ist ebenso ein Symbol für den Tod). 28 Obwohl es vor allem bei Lenz auch deutliche Anzeichen der Abstoßung des idealistischen Humanitätsideals gibt, gehört eine Replik wie die Talbots in Schülers Jungfrau von Orleans ( ,6,3246-5256) zu den Ausnahmen.

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1,86 f.) oder Wirklichkeit (Woyzeck, H4, Szene 5) handelt.29 Der »Idealismus« wird bei ihm als die »schmählichste Verachtung der menschlichen Natur«, als »Aristocratismus« (2,423) gebrandmarkt, als Täuschung und bewußte Lüge. Im »Prolog zu der Tragödie: Der Mensch« bemerkt der Hanswurst von dem abgelehnten Stück: »Ich hoffe indes das alte Schicksal, unter dem bei den Griechen selbst die Götter standen, darin abzugeben, und die handelnden Personen recht toll ineinander zu verwirren, daß sie gar nicht klug aus sich werden, und der Mensch sich zuletzt für Gott selbst halten, oder zum mindesten wie die Idealisten und die Weltgeschichte, an einer solchen Maske formen soll.« (NW, 76)

In der Kunst bringen es die »sogenannten Idealdichter«, wie Büchner in dem bekannten Brief an die Familie (28. Juli 1835) auseinandersetzt, ohnedies nur zu »Marionetten mit himmelblauen Nasen und affectirtem Pathos«, aber auch in der »Geschichte der Revolution«, in der »Weltgeschichte«, macht er die schon zitierte »zernichtende Erfahrung«, daß der »Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz« (2,425) ist. Der Marionettenhaftigkeit in der idealistischen Darstellung, den »hölzernen Kopien«, entspricht auf überraschende Weise die »verwirrte«, »verhunzte« (Lenz) und »verpfuschte« (NW) Wirklichkeit. Der Mensch, so heißt es in den Nachtwachen, ist ein »Gedankenstrich« (NW, 107), was übrigens auch Jean Paul von sich behauptete30, ein unausgeführter Charakter im Buche der Schöpfung. Sinngemäß bezeichnet Valerio den einem Ideal nachsinnenden, müßigen und sich langweilenden Prinzen Leonce als »ein Buch ohne Buchstaben, mit nichts als Gedankenstrichen« (1,115) und kommentiert vor allein Woyzeck in H2, Szene 7 philosophisch: »Sehn Sie so ein schön, festen groben Himmel, man könnte Lust bekomm, ein Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hänge, nur wege des Gedankenstricheis zwischen Ja, und wieder ja - und nein, [...] ja und nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein Schuld?« Die Fehlerhaftigkeit des Menschen wirkt zurück auf die Schöpfung. Nicht von ungefähr bemerkt Danton resigniert, daß »das Leben [...] nicht die Arbeit werth« sei, »die man sich macht, es zu erhalten« (1,35), was ihn jedoch nicht davon abhält, vorher die Existenzlüge des »Unbestechlichen« zu entlarven und ihm entgegenzuhalten: »Das Gewissen ist ein Spiegel vor dem ein Affe sich quält; jeder puzt sich wie er kann, und geht auf seine eigne Art auf seinen Spaß dabey aus« (1,6). Jeder macht sich eine »fixe Idee«, eine Wahnvorstellung zurecht, um die Existenzlükke, dfcn Gedankenstrich zu verdecken, und Camille meint, indem er 29 Für die Nachtwachen vgJ. Schönen (Anm. 13), S. 213ff. 30 Siehe dazu Bernhard Böschenstein: Leuchttürme. - Frankfurt a. M. 1977, S. 156f.

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Lucile »eine behagliche fixe Idee« wünscht: »Der glücklichste Mensch war der, welcher sich einbilden konnte, daß er Gott Vater, Sohn und heiliger Geist sey« (1,70). Das Tollhaus, in dem Kreuzgang seinen »Wonnemonat« erlebt, ist voller Narren mit den verschiedensten »angenehmen« fixen Ideen und beherbergt unter anderem auch den »wahnsinnigen Weltschöpfer« (NW, 80ff.). Der vorgeschobene Erzähler Kreuzgang erklärt dem Irrenarzt Oehlmann oder Olearius, daß »wir alle mehr oder minder an fixen Ideen [...] [laborieren]; nicht nur einzelne Individuen, sondern trnnze Gemeinheiten und Fakultäten« (NW, 78). Ein solches Narrenhaus deutet auch Valerio mit ein paar Strichen an, nachdem ihm Leonce in einem Anflug von Selbstironie bescheinigt hat: »Unglücklicher, Sie scheinen auch an Idealen zu laboriren« (1,107). Der Prinz greift hier ein Thema auf, das er kurz zuvor folgendermaßen analysiert hatte: »Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinirte Müßiggänger« (1,106). Im Hinblick auf sein eigenes Narrenkämmerchen lädt Kreuzgang in der 9. Nachtwache den Leser ein, sich umzuschauen, und belehrt ihn: »sind wir doch vor Gott alle gleich und laborieren bloß an verschiedenen fixen Ideen, wo nicht an einem totalen Wahnsinn, bloß mit kleinen Nuancen« (NW, 84). Findet Kreuzgang »alles Vernünftige abgeschmackt« (NW, 84), so erklärt Camille in Dantons Tod (1,70) die sogenannte »gesunde Vernunft« als »unerträglich langweilig« und meint er ganz allgemein über die Gleichheit der menschlichen Natur: »Die Unterschiede sind so groß nicht, wir Alle sind Schurken und Engel, Dummköpfe und Genies und zwar das Alles in Einem« (1,71). Er geißelt das ganze menschliche Rollenspiel (1,70) und fordert auf: »wir sollten einmal die Masken abnehmen, wir sähen dann wie in einem Zimmer mit Spiegeln überall nur den einen uralten, zahllosen, unverwüstlichen Schaafskopf, nichts mehr, nichts weniger«. Mit Bezug auf das Stück »Der Mensch« bemerkt der Hanswurst, daß er sich nicht gegen »Maskeneinführung« gesperrt habe; »denn je mehr Masken übereinander, um desto mehr Spaß, sie eine nach der ändern abzuziehen bis zur vorletzten satirischen, der hippokratischen und der letzten verfestigten, die nicht mehr lacht und weint - dem Schädel ohne Schöpf und Zopf, mit dem der Tragikomiker am Ende abläuft« (NW, 76). Als Valerio gegen Schluß von Leonce und Lena (111,3) »langsam hintereinander mehrere Masken« abnimmt, wie die Regieanweisung lautet, fragt und gesteht er: »Bin ich das? oder das? oder das? Wahrhaftig ich bekomme Angst, ich könnte mich so ganz auseinanderschälen und -blättern.« Auch in Dantons Tod ist allenthalben vom Maskenspiel31 die Rede. Die 3l Zum Thema romantisches Maskenspiel vgl. Arendt (Anm. 2), S. 105-129.

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Aufforderung von Collot d'Herbois: »Es ist Zeit die Masken abzureißen« (1,17; 1,24) kommentiert Danton sarkastisch: »Da werden die Gesichter mitgehen«. Mit anderen Worten: es gibt nur Masken, aber keine Gesichter. »Es ist nicht so übel seine Toga zu drapieren und sich umzusehen ob man einen langen Schatten wirft«, kritisiert er in einer anderen Replik (1,71) das »behagliche Selbstgefühl« von Hellenen, Epikuräern auf der einen und Römern, Stoikern auf der anderen Seite. Vom »hippocratischen Gesicht« (1,30) spricht Camille in einem Pamphlet, von »so tugendhaften und so witzigen und so heroischen und so genialen Grimassen« (1,71) gegenüber seinen Freunden. Aber es kann keine Frage sein, daß es sich bei dem »Schädel ohne Schöpf und Zopf« (NW), dem »uralten, zahllosen, unverwüstlichen Schaafskopf« (Dantons Tod), um die verfestigte Maske handelt, die sich nicht mehr abziehen läßt Es ist der »ernste steinerne Kopf des Alchimisten« (NW, 155-143), der Totenschädel. Ophelia, die nicht zwischen Wahrheit und Spiel unterscheiden kann (NW, 118) und vergeblich versucht, ihre Rolle bis zu sich selbst zurückzulesen, erkennt kurz vor ihrem Tod: »Die Rolle geht zu Ende, aber das Ich bleibt, und sie begraben die Rolle. Gottlob daß ich aus dem Stücke herauskomme und meinen angenommenen Namen ablegen kann; hinter dem Stükke geht das Ich an« (NW, 123). Noch den Tod durch die GuiUlotine sieht Danton als Rollendrama, in dem die Akteure oder besser: Opfer »mit gelenken Gliedern hinter die Coulissen« treten »und [...] im Abgehen noch hübsch gesticuliren und die Zuschauer klatschen hören« (1,33). Nichtsdestoweniger klagen gerade die Dantonisten (im Gegensatz zu den Zuschauern: 1,75) darüber, daß der Tod öffentlich wird, das Sterben mechanisiert ist, keine Würde mehr hat (1,60), während »die Gallerien« klatschen »und die Römer [...] sich die Hände« reiben, wie Mercier nicht ohne bitteren Spott die republikanisierende Funktion der Guillotine besehreibt (1,52). II

In den mehr oder weniger metaphernreichen, barocken Reden drückt sich in Dantons Tod deutlicher und deutlicher das Todesbewußtsein und die Todesangst der ehemaligen Revolutionäre aus. Selbst Danton, der zuweilen etwas großsprecherisch vom Nichts und dem Überdruß am Leben redet, gesteht in IV,3: »Ja wohl, s' ist so elend sterben müssen. Der Tod äfft die Geburt, beym Sterben sind wir so hülflos und nackt, wie neugeborne Kinder. Freilich, wir bekommen das Leichentuch zur Windel. Was wird es helfen? Wir können im Grab so gut wimmern, wie in der Wiege« (1,66). Der etwas kryptische Hymnus Dantons auf Julie zu Anfang von 1,1 (den Leonce in 11,4 übrigens variiert), wo er sie als »süßes 331

Grab«, ihre »Lippen« als »Todtenglocken«, ihre Stimme als sein »Grabgeläute«, ihre Brust als seinen »Grabhügel« und ihr Herz als seinen Sarg offenbar keineswegs in ironischer Absicht preist, erhält von daher seinen Stellenwert. Danton dankt Julie auch später in einer Art innerem Monolog, daß sie ihn »nicht allein gehn«, sterben läßt. Zweifelsohne wäre er jedoch gern anders gestorben, »so ganz mühelos, so wie ein Stern fallt, wie ein Ton sich selbst aushaucht, sich mit den eignen Lippen todtküßt, wie ein Lichtstrahl in klaren Fluthen sich begräbt. -« (1,67) Dantons Tod kreist thematisch um den Tod Dantons, Camilies, der anderen Freunde und der Frauen. Die von den »Paradegäulen« der Revolution ausführlich angewandte Strategie der Parodie, der Satire, Ironie, Wortspiele, kurzum: die Elemente der Komödie schlagen hier in bitteren Ernst, in tragischen Stil um, aber es ist zuweilen auch ebenso das Umgekehrte der Fall. Nach den Bekenntnissen der Todesangst (111,7; FV,3) kehren beispielsweise Danton und Camille bald wieder (FV,5) zur satirischkomischen Phraseologie zurück, obwohl anschließend immerhin noch die speziellen Wirkungen des Todeskampfes diskutiert oder besser: auf verschiedene Stimmen verteilt, monologisiert werden. Ausgerechnet Camille, der für eine Beendigung des Maskenspiels plädierte, spielt am Ende »klassisches Gastmahl«, entrichtet seinem Fuhrmann, als wäre dieser Charon, den Obolos und serviert sich als erster der Todesmaschine. Herault dagegen bringt keinen »Spaß mehr heraus«, während Lacroix ein älteres Wortspiel wiederholt und Danton noch eine wirkungsvolle Schlußmetapher gegen den Henker schickt, der »grausam« die Freunde trennen will. Hängt der Umschlag vom Tragischen ins Romische, vom Ernst ins Spiel und umgekehrt mit Dantons Erkenntnis zusammen: »wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zulezt im Ernst erstochen werden« (1,35), so gilt das weder von Julie noch von Lucile. »Leise«, ohne verbalen Aufwand, tritt Julie ab; sie nimmt Gift, um Danton nachzusterben, ohne einen Moment des Zögerns: »Es ist so hübsch Abschied zu nehmen, ich habe die Thüre nur noch hinter mir zuzuziehen« (IV,6). Bei Lucile dagegen verkehrt sich die Grenzerfahrung vom Tod des Geliebten zunächst in die gegenteilige, verkehrte Emotion: Camille macht sie lachen »mit dem langen Steinrock und der eisernen Maske«, beides Metaphern für das Gefängnis, aber auch für den Tod (vgl. NW, 16,44,76, 123), und sie äußert im Selbstgespräch: »die Leute sagen du müßtest sterben, und machen dazu so ernsthafte Gesichter. Sterben! ich muß lachen über die Gesichter« (IV,4). In der vorletzten Szene (IV,8) begreift sie dann, daß in dem Sterben »doch was wie Ernst darin« ist. Die Vertauschung der Empfindungsqualitäten hat bei Lucile zwei Ursachen: einmal das Ausmaß des Schmerzes über Camilles bevorstehenden Tod, der ihre Sinne ver-rückt, einmal das klagende Unverständnis darüber, daß 332

es gerade ihr Camille sein muß, wo doch »Alles leben« darf. Am Schluß steht dann die Einsicht: »Wir müssen's wohl leiden.« Während Büchner auf gedrängtem Raum verschiedene Empfindungsund Reaktionsweisen gegenüber dem Phänomen Tod vorführt, die Todeserfahrung also keineswegs auf den Protagonisten Danton allein konzentriert ist, wodurch eine Vielfalt der Perspektiven entsteht, ist in den Nachtwachen der Tod mehr oder weniger das, was nach dem Abziehen der Masken übrig bleibt: die »eiserne« oder »weiße Maske« (NW, 123), ein Aspekt, den Büchner teilt, aber sowohl individuell als existentiell ausdifferenziert. Nichtsdestoweniger thematisieren beide Autoren die Vermischung von Lachen und Weinen32 als Resultate einer neuen Welterfahrung. Leben wie Weltgeschichte werden als »Tragikomödie« (NW, 29 f., 52) bestimmt, wo »neben dem echten Ernst nur tragischer Spaß« (NW, 29) herrscht, als »Possenspiel« (NW, 82), als »Tummelplatz von Narren und Masken« (NW, 105), als »langweilige com^die larmoyante«, »Fastnachtsspiel« (NW, 93), kurzum: als »Theater« (NW, 119). Schon der Anfang von Dantons Tod signalisiert mit der Spieltisch-Szene diese Perspektive, die Revolution entpuppt sich als Theater, auf dem die Personen, bzw. die Vorbilder, die sie nachspielen (1,10; 19; 56; 59; 70), »das erhabne Drama der Revolution« parodieren, wie Büchners Robespierre (1,18) quellengetreu kolportiert.33 Nicht von ungefähr liest sich manche Stelle in dem Essay Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von Karl Marx wie ein später Kommentar zu Büchners Dantons Tod; denn auch hier wird dargestellt, wie die Revolutionäre im Bann der Tradition stehen und »ängstlich die Geister der Vergangenheit« heraufbeschwören, ihnen »Namen, Schlachtparole, Kostüm« entlehnen, »um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache (He neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.«34 In Dantons Tod spielen Danton, Robespierre, Camille, St. Just und die anderen »Paradegäule« ebenfalls im »römischen Kostüm und mit römischen Phrasen«, wobei Etesmoulins' auch historisch bezeugte Vorliebe fürs Griechische nicht vergessen sein soll, ihren Part. Wie sehr den Figuren das bewußt ist, be] weisen ihre zahlreichen Hinweise auf die geborgten Phrasen und Muster, die sie nachreden und imitieren.35 Ihr Selbstverständnis vom Zwangscharakter des Rollenspiels unterscheidet sich in nichts von dem Bekenntnis Hamlets in den Nachtwachen: 32 Im Hinblick auf Büchner vgl. Höllerer (Anm. 15). 33 Vgl. dazu meinen Essay: »Wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden*: Die Komödie der Revolution in Bächners >Dantons Todvoie physiologique< in Georg Büchners Woyzeck Heinz Dieter Kittsteiner und Helmut Lethen: Ich-Losigkeit, Gewissen und Zeiterfahrung. Über die Gleichgültigkeit zur »Geschichte« in Büchners Woyzeck 343

Achte Sitzung: Fragen der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Friedrich Rothe: Georg Büchners »Spätrezeption«. Hauptmann, Wedekind und das Drama der Jahrhundertwende Burghard Dedner: Büchner-Bilder im Jahrzehnt zwischen WagnerGedenkjahr und Inflation Jörg Thunecke: Die Rezeption Georg Büchners in Paul Celans MeridianRede Hans-Thies Lehmann: Georg Büchner, Heiner Müller, Georges Bataille Revolution und Masochismus

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Prof. Dr. Dieter Bänsch, Feldbergstr. 47, 5550 Marburg/Lahn 7 Dr. Volkmar Braunbehrens, Fritz Geiger Str. 3, 7800 Freiburg i. Br. Prof. Dr. Dr. Otto Döhner, Kantstr. 4, 3000 Hannover 61 Prof. Dr. Heinz Fischer, Marschnerstr. 87, 8000 München 60 Prof. Dr. Eckhart G. Franz, Ostpreußenstr. 47, 6100 Darmstadt-Eberstadt Dr. Hubert Gersch, Hochstr. 18, 4400 Münster Prof. Dr. Walter Grab, Gordon Street 15, Tel Aviv/Israel Prof. Dr. Reinhold Grimm, 3893 Plymouth Circle, Madison, Wise., 53705 USA Prof. Dr. Clemens Heselhaus, Schiffenbergerstr. 78, 6301 Pohlheim 2 Prof. Dr. Walter Hinderer, 17 Bayberry Rd., Princeton, N. J., 08544 USA Prof. Dr. Peter Horn, 51 Cleveland Rd., Claremont/Republik Südafrika Dr. Dr. Joachim Kahl, Roter Graben 6, 3550 Marburg/Lahn Dr. Thomas Michael Mayer, Renthof 15, 3550 Marburg/Lahn Dr. Albert Meier, Rablstr. 46, 8000 München 80 Prof. Dr. Günter Oesterle, Nahrungsberg 49, 6300 Gießen Dr. Henri Poschmann, c/o Akademie der Wissenschaften der DDR / Zentralinstitut für Literaturgeschichte, DDR-108 Berlin, Otto-Nuschke-Str. 22/23 Dr. Wolfgang Proß, Franziskanerstr. 3, 8000 München 80 Dr. Hartmut Rosshoff, Abteihofstr. 27, 4000 Düsseldorf Priv.Doz. Dr. Gerhard Schaub, Reichenspergerstr. 47, 5500 Trier Prof. Dr. Silvio Vietta, Erlbrunnenweg 8, 6901 Wilhelmsfeld Dr. Erich Zimmermann, Karl-Marx-Str. 4, 6100 Darmstadt-Eberstadt

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