Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze: Ein Stadtviertel zwischen Protest und neoliberaler Verwertungslogik 9783839461402

Die Hamburger Sternschanze gilt als Szeneviertel mit alternativem Lifestyle und hoher gastronomischer Dichte - sie steht

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Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze: Ein Stadtviertel zwischen Protest und neoliberaler Verwertungslogik
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Table of contents :
Inhalt
Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze
Streifzüge durch die Sternschanze
Touristifizierung von Räumen
Die Sternschanze – ein gentrifiziertes Stadtviertel?
Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutz vs. touristische Aufwertung
Touristifizierung des Schanzenviertels als stadtpolitisches Problem
Die Sternschanze – Perspektive eines Anwohners und Mitglieds des Stadtteilbeirats
Rote Flora: Autonomer Lifestyle als touristischer Standortfaktor
Die Rote Flora als Touristifizierungstreiberin?
Diese Wand bleibt bunt
Touristifizierung durch soziale Medien?
›Cornern‹ als urbane Praxis
Autorinnen und Autoren

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Ursula Kirschner, Anja Saretzki (Hg.) Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze

Urban Studies

Ursula Kirschner (Prof. Dr.-Ing.) ist Professorin für Architektur und digitale Kultur am Institut für Stadt- und Kulturraumforschung der Leuphana Universität Lüneburg. Sie schloss ihr Studium der Architektur an der Universität der Künste Berlin mit dem Diplom ab. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Baukultur in den Bereichen nachhaltige Siedlungsstrukturen (international), Partizipation in Stadtplanungsprozessen und digitale Medien im urbanen Raum. Anja Saretzki (Dipl.-Kffr., M.A.) ist Lehrbeauftragte am Institut für Stadt- und Kulturraumforschung der Leuphana Universität Lüneburg. Sie forscht zu den Themen touristische Raumproduktion, Kulturerbetourismus, Städtetourismus und Destination Governance.

Ursula Kirschner, Anja Saretzki (Hg.)

Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze Ein Stadtviertel zwischen Protest und neoliberaler Verwertungslogik

Veröffentlicht mit Unterstützung des Instituts für Stadt- und Kulturraumforschung der Leuphana Universität Lüneburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Anja Saretzki, Lüneburg Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839461402 Print-ISBN: 978-3-8376-6140-8 PDF-ISBN: 978-3-8394-6140-2 Buchreihen-ISSN: 2747-3619 Buchreihen-eISSN: 2747-3635 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze Zur Einleitung Ursula Kirschner und Anja Saretzki ...................................................7 Streifzüge durch die Sternschanze Ein baukulturelles Narrativ eines besonderen Flairs Ursula Kirschner und Cornelia Stolze ................................................ 21 Touristifizierung von Räumen Karlheinz Wöhler ................................................................... 53 Die Sternschanze – ein gentrifiziertes Stadtviertel? Martin Pries ........................................................................ 97 Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutz vs. touristische Aufwertung Widersprüchliche Quartiersentwicklung im Hamburger Schanzenviertel Anne Vogelpohl..................................................................... 117 Touristifizierung des Schanzenviertels als stadtpolitisches Problem Gespräch mit dem ehemaligen Stadtteilbeauftragten Heinz Evers Ursula Kirschner und Anja Saretzki ................................................ 139 Die Sternschanze – Perspektive eines Anwohners und Mitglieds des Stadtteilbeirats Henning Brauer ....................................................................159 Rote Flora: Autonomer Lifestyle als touristischer Standortfaktor Andreas Blechschmidt.............................................................. 181

Die Rote Flora als Touristifizierungstreiberin? Maria Franziska Stöppler ........................................................... 191 Diese Wand bleibt bunt Lokale Identifikation über Street-Art Anna Möllgaard ................................................................... 225 Touristifizierung durch soziale Medien? Eine Image-Gegenüberstellung von sozialen Medien und Anwohnerschaft Jasmin Annuß, Daria Klaassen und Miriam Riesch .................................. 245 ›Cornern‹ als urbane Praxis Ursula Kirschner und Anja Saretzki .................................................271 Autorinnen und Autoren ......................................................... 325

Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze Zur Einleitung Ursula Kirschner und Anja Saretzki

Die Sternschanze, oftmals auch als Schanzenviertel oder kurz als Schanze bezeichnet, ist Hamburgs jüngster und kleinster Stadtteil. Er liegt im zentralen Teil der Stadt und grenzt an St. Pauli, das bekannte Vergnügungsviertel. Die Sternschanze ist geprägt von Bauten aus der Gründerzeit: Industriebacksteinarchitekturen, Kultur- und Wohnungsbauten mit aufwendigen Putzfassaden und kleinteiligen Wohnhöfen. Nachkriegsbauten sowie moderne zeitgenössische Architekturen sind in die historische Stadtstruktur behutsam eingefügt, sodass sich ein kleinteiliges, aber auch vielfältiges Stadtensemble entwickelt hat (vgl. Siebecke 2012; Vogelpohl 2010). Nicht nur baukulturell ist der Begriff ›Vielfalt‹ ein Synonym für den Stadtteil. Die Aufgeschlossenheit der Bewohnerinnen1 , das kulturelle Angebot und die aufblühende Kreativwirtschaft bespielen zusammen das Narrativ eines »emotionalen und begehrten Zentr[ums] der Stadt« (Overmeyer 2010: 53). Heute wird die Sternschanze als »eines der kulturell bewegtesten Szeneviertel der Hansestadt«2 und als »Hamburgs zweiter Kiez«3 beworben. Gleich-

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Im Gutachten zur Sozialen Erhaltungsverordnung für das Gebiet Sternschanze wird die Bewohnerinnenschaft als »bunt, locker, tolerant, kontaktfreudig, kinderfreundlich« beschrieben (ARGE Kirchhoff Jacobs 2011: 4). https://www.hamburg-tourism.de/sehen-erleben/rundfahrten-fuehrungen/stadtfue hrungen/sternschanze-kulinarisch-die-food-tour/ (Zugriff 26.01.2023). https://www.hamburg-tourism.de/das-ist-hamburg/nachhaltigkeit-erleben/nachhal tige-highlights/sternschanze-karoviertel/ (Zugriff 26.01.2023).

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zeitig charakterisiert man den Stadtteil als »kunterbuntes Viertel mit eigensinnigen Bewohnern«4 und als Gegenpol zu St. Pauli und seiner Reeperbahn: »Die Straßen Schulterblatt, Schanzenstraße, Susannenstraße und Bartelsstraße bilden das Zentrum des popkulturellen Stadtteils, deren szenige Plattenläden und Boutiquen zum Stöbern, Kneipen und gemütliche Cafés zum Verweilen einladen. Viele einheimische Partygänger schätzen die besondere Atmosphäre der Schanze, wie sie im Volksmund auch bekannt ist, abseits der stark touristisch genutzten Reeperbahn.«5 Diese Charakterisierung zeigt bereits, dass die Sternschanze zu jenen Teilen Hamburgs zählt, in denen sich sozialräumliche Veränderungen, die aus dem Zusammenspiel von Touristifizierung und Gentrifizierung resultieren (sog. Tourism Gentrification; vgl. Cocola-Gant 2018; Gotham 2005, 2018), gut beobachten lassen. Das ehemals gemischte Wohn- und Gewerbegebiet hat sich seit den 1980er Jahren mit der seit 1989 dauerbesetzten Roten Flora zum Zentrum der alternativen Szene Hamburgs entwickelt. Die politische Ausrichtung ist eindeutig links zu verorten: Seit vielen Jahren wählen die Bewohnerinnen der Sternschanze überwiegend links (Grüne, Die Linke, SPD).6 Die Rote Flora gilt als Symbol linksradikalen Widerstands in einer Hochburg des Kapitalismus, der wiederum auch diese Szene touristisch als »selbsternanntes autonomes Kulturzentrum« in einem »Gebäude mit besonderer Geschichte«7 vermarktet. Proteste gegen Gentrifizierung und neoliberale Verwertungslogik werden in Zeiten des sog. New Urban Tourism (vgl. Maitland/Newman 2004; Novy 2010; Saretzki 2019) als Treiber der touristischen Aufwertungsspirale instrumentalisiert. Auch im Schanzenviertel bewirkt die Verwischung der Grenzen zwischen permanenten und temporären Nutzerinnen und ihren touristischen Aktivitäten eine Mutation zu einem primären Ausgeh- bzw. Freizeitquartier mit erhöhtem Nutzungsdruck, der das ›normale‹ Leben zu verdrängen scheint. Im

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https://www.hamburg.de/sehenswertes-sternschanze/2091158/sternschanze-sehens wertes/ (Zugriff 26.01.2023). https://www.hamburg.de/schanzenviertel/# (Zugriff 26.01.2023). Vgl. bspw. die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl auf https://www.bundesta gswahl-hh.de/ergebnisse_der_bundestagswahl_2021_stadtteil_192002.html (Zugriff 12.02.2023). https://www.hamburg-tourism.de/sehen-erleben/sehenswuerdigkeiten/rote-flora/ (Zugriff 26.01.2023).

Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze

Kampf gegen gewerbliche Verwertungsinteressen koaliert aktuell die linke Bewohnerinnenschaft mit der ›Obrigkeit‹, sogar mit Ordnungshütern. Vielleicht solidarisieren sich demnächst Gastronominnen und Kioskbesitzerinnen, trotz ihrer immanenten Gegnerschaft gegen mögliche nächtliche Lärmschutzauflagen. Es bleibt spannend zu sehen, wie es weitergeht in diesem Fusionsreaktor. In der Sternschanze lassen sich auf kleinem Raum Prozesse beobachten, die exemplarisch für die Veränderungen und Probleme der heutigen Stadt stehen. Zentral für touristische Gentrifizierungsprozesse ist die Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Bereichen der Stadtpolitik (vgl. Cocola-Gant 2018: 287–289): Die touristische Vermarktung der Stadt zieht nicht nur kaufkräftige Nachfragerinnen in die Stadt und trägt über vielfältige Wertschöpfungsketten zum wirtschaftlichen Wachstum der Stadt bei. Sie verursacht auch Verdrängungsprozesse wie z.B. die Verdrängung von Geschäften und Infrastrukturen für den alltäglichen Bedarf durch Gastronomiebetriebe und andere Einrichtungen und Produktanbieter für den touristischen Bedarf (sog. commercial displacement), die Verknappung bzw. Verteuerung von verfügbarem Wohnraum (sog. residential displacement) sowie das Sinken der lokalen Lebensqualität durch wahrgenommene Fremdbestimmung und durch die Zunahme von insbesondere nächtlichem Lärm und Verschmutzung (sog. place-based displacement; vgl. ebd.). Vermarktet werden im Zuge des New Urban Tourism nicht nur das klassische Sightseeing, sondern auch ein alternativer Lifestyle samt den dazugehörigen Angeboten im Konsum-, Freizeit- und Kulturbereich, wie es sich in der Beschreibung der Sehenswürdigkeit der Sternschanze wiederfinden lässt: »Es ist ein Quartier zum Durchschlendern, sich treiben lassen, bummeln, entdecken und Menschen beobachten.«8 Politisch umstrittene Gegenkulturen wie die Rote Flora werden zum Standortfaktor, ebenso wie sich Street Art und Graffitikultur von bekämpften Zeichen urbaner Rebellion zu nachgefragten stadtkulturellen Ausdrucksformen gewandelt haben und positiv zum Stadtteilimage beitragen. Diese Prozesse verbreiten sich nicht länger über klassische Tourismuswerbung, sondern sind vor allem in die Nutzungskultur sozialer Medien eingebunden. Sie betreffen nicht nur ortsfremde Touristen, sondern beeinflussen auch temporäre innerstädtische FreizeitMigrationsprozesse (den sog. städtischen Binnentourismus). Die genannten Komponenten, die zur Offenheit und Attraktivität einer Stadt beitragen und für Touristinnen vielfach ausschlaggebend für eine De8

https://www.hamburg.de/sehenswertes-sternschanze/2091158/sternschanze-sehens wertes/ (Zugriff 26.01.2023).

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stinationswahl sind, werden vorrangig von der sog. Creative Class (vgl. Florida 2002) produziert und/oder begünstigt. Über die kreative Klasse schreibt Richard Florida in seiner polarisierenden Publikation The Rise of the Creative Class (2002), in welcher er die Theorie und das Konzept der kreativen Klasse und ihre Verbindung mit der urbanen Gesellschaft hervorhebt. »Technology and the music scene go together because together they reflect a place that is open to new ideas, new people and creativity. And it is for this reason that frequently I like to tell city leaders that finding ways to help support a local music scene can be just as important as investing in high-tech business and far more effective than building a downtown mall.« (Florida 2002: 229) Florida bedient sich verschiedenster Ansätze aus Soziologie und Ökonomie und schafft so einen Rahmen seiner städtischen Wachstumstheorie, die auf der Annahme beruht, dass Kreativität zur entscheidenden Kraft und Ressource für Wettbewerbsvorteile von Städten geworden ist (ebd.). Der Wirtschaftswissenschaftler sieht eine Korrelation zwischen wirtschaftlicher Stärke einer Stadt mit der Präsenz von Kreativen und den von ihnen ausgehenden Innovationen. So soll Kreativität einerseits das Beschäftigungs- und Wirtschaftswachstum anregen und andererseits mit einem attraktiven Mix aus Sub- und Hochkultur für mehr Lebensqualität in Städten sorgen. Folglich sind es nicht unternehmensfreundliche Subventions- und Steuerpolitiken, sondern es ist die Bereitstellung von sich an den Konsum- und Freizeitpraktiken der kreativen Klasse orientierenden Rahmenbedingungen, die für Städte zukunftsweisend ist (Ronneberger 2011: 41). Die gängige Kernthese, dass Menschen den Arbeitsplätzen folgen, wird von Florida umgedreht. Danach folgen Arbeitsplätze den kreativen Arbeiterinnen, wodurch sich ökonomisches Wachstum in den Städten entwickelt: Die kreative Klasse zeichnet sich gegenüber dem Rest der Bevölkerung durch einen gewissen Lebensstil mit spezifischen Werteinstellungen, Arbeitsweisen und Konsummustern aus, was an eine enge Bindung zu urbanen Quartiersstrukturen gekoppelt ist. Folglich stellen Kreative hohe Ansprüche an die Stadt als Lebensraum, da sie ein kreatives Ökosystem benötigen, welches ihre Kreativität fördert: »The creative ecosystem can include arts and culture, nightlife, the music scene, restaurants, artists and designers, innovators, entrepreneurs, affordable spaces, lively neighborhoods, spirituality, education, density, public spaces, and third places.« (Florida 2002: 381)

Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze

Damit meint Florida authentische, vielfältige Orte mit (sub-)kultureller Diversität, die vor allem durch eine lebendige und interaktive urbane Szene deutlich wird und die Straße zum Ort der Begegnung, des Austausches und der kulturellen Teilhabe werden lässt (vgl. Florida 2002: 182–187). »Florida entwirft das Bild einer Yuppi-freundlichen Stadt, die ein dichtes Netz von Fahrradwegen und fußläufig erschließbaren Mischquartieren aufweist, wo Galerien, Cafés, Bars und Musikclubs für eine quirlige urbane Atmosphäre sorgen«, so beschreibt Ronneberger (2011: 42, Herv. i.O.) das von Florida gezeichnete Bild einer Creative City. Viele von Floridas Thesen werden mittlerweile kritisch gesehen (vgl. z.B. Glaeser 2005), aber aufgrund dieser Kritik auch weiterentwickelt. Overmeyer erweitert den Begriff der kreativen Klasse und spricht in seiner von der Hamburger Senatsverwaltung in Auftrag gegebenen Studie (2010) von kreativen Milieus, um »sich der neuen Heterogenität von Alltagsmustern, professionellen Kontexten und lebenspraktischen Handlungsorientierungen anzunähern.« (Ebd.: 25) Da sich die kreative Klasse vorzugsweise in gründerzeitlichen Vierteln mit ihrer kleinteiligen Struktur, den geheimnisvollen Hinterhöfen und vielfältigen Nutzungen ansiedelt (vgl. ebd.: 53), sind diese Milieus dort zu finden. Er bezeichnet die Stadtteile Ottensen, Sternschanze und St. Pauli deshalb als »kreative Stammzellen Hamburgs« (ebd.: 116). Mithilfe von Expertinneninterviews wird in der Studie untersucht, inwieweit neben wirtschaftlichen Aspekten der Kultur- und Kreativwirtschaft auch eine stadträumliche Dimension relevant ist. Das betrifft die unterschiedlichen Raumansprüche der Kreativen, die Flexibilisierung von Wohnen und Arbeiten, den Umgang mit Aufwertungsprozessen als auch die Bedeutung neuer Akteurskonstellationen (vgl. ebd.: 6). Overmeyer resümiert: »Die Bindungen dieser Gruppen an die [oben genannten] Stammzellen […] sind – auch im Vergleich mit anderen Städten – überaus stark.« (Ebd.: 134) Ebenso wie Florida versteht auch der marxistische Philosoph Henri Lefebvre die Stadt als Ort der Begegnung. Er geht aber noch einen Schritt weiter, wenn er sie als »Ort der Begierde, permanentes Ungleichgewicht, Sitz der Auflösung von Normalitäten und Beschränkungen, Augenblick des Spielerischen und Unvorhersehbaren« (Lefebvre 2016: 122) charakterisiert. Daraus ergibt sich Zentralität als besondere Qualität des Urbanen: Als Ort »des Zusammenlaufens von Kommunikationen und Informationen« (ebd.) und deren Vermittlung steht die Stadt für die Konvergenz unterschiedlicher gesellschaftlicher Elemente. Die Stadt akkumuliert und konzentriert, sie bedeutet dabei Komplexität und Verwirrung, Virtualität und Unvorhersehbarkeit (vgl. Lefeb-

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vre 2014: 46f.). »Das Städtische definiert sich als der Ort, wo die Menschen sich gegenseitig auf die Füße treten« (ebd.: 46). Öffentliche Räume sind dafür exemplarisch. Begegnung, Gleichzeitigkeit und Differenz markieren folglich für Lefebvre die städtische Form. Damit birgt sie ein hohes Konfliktpotenzial, stellt aber gleichzeitig eine Quelle von Kreativität und Innovation dar (vgl. ebd.: 127). Diese Widersprüchlichkeit der Stadt macht sie einerseits zu einem staatlichen und ökonomischen Entscheidungs- und Machtzentrum. Andererseits bleibt sie aber ein potenziell revolutionärer Ort, »ein Herd der Agitation« (Lefebvre 2016: 120), dem für Lefebvre die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Veränderung innewohnt. Zum einen fördert die neokapitalistische Kommodifizierung und Einhegung der Stadt den urbanen Widerstand heraus, doch die hegemoniale politische und ökonomische Klasse hat kein Interesse daran, diesen urbanen Widerstand gänzlich einzuhegen, da sich dahinter eine ›Kühnheit‹, ein ›Willen zur Erforschung des Möglichen und des Unmöglichen‹ und eine ›kulturelle Entwicklung‹ verbirgt, wie Lefebvre es nennt (vgl. Lefebvre 1991: 386), die sich in kreativen Aktionen ausdrückt und entscheidend zur städtischen Reputation beiträgt. Aus der Sicht von Entscheidungsträgern vergrößert die Stadt durch die »Kommerzialisierung des Widerständigen« (Naegler 2013, S. 198) ihr Vermarktungspotenzial, was neue Widerstände hervorruft.9

Zum Aufbau des Bandes Dieser Kreislauf zwischen Protest und Verwertung gehört auch zur speziellen DNA der Sternschanze und spiegelt sich in der Gliederung dieses Sammelbandes wider. Der Band vereint theoretische Überlegungen zur Touristifizierung und Gentrifizierung mit empirischen Studien zu speziellen Formen touristischer Nutzung, den damit einhergehenden Konflikten und Problemen und den unterschiedlichen Akteurinnen dieser Prozesse. Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Disziplinen ebenso wie lokale Akteurinnen liefern Beiträge zu den aktuellen Herausforderungen städtischer und touristischer Entwicklung, wie wir sie in der Sternschanze wiederfinden.

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Die Hamburger Kampagne »Not in Our Name« ist ein Beispiel für diesen Prozess (vgl. http://wiki.rechtaufstadt.net/index.php/Manifest_Not_In_Our_Name,_Mar ke_Hamburg!; Zugriff 09.01.2023).

Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze

Schauen wir uns den Stadtteil hinsichtlich der gebauten Umwelt und der gelebten Baukultur an, so wird offenkundig, dass stellvertretend für die Tendenz größerer Städte insbesondere die jüngere Bevölkerung in die gemischt genutzten Innenstädte bzw. innenstadtnahen Quartiere zieht. Die Mischung von Baustruktur und sozialem Gefüge bildet den Keim innovativer Veränderung, und es lässt sich beobachten, dass auch junge Familien wieder in die Innenstädte ziehen und eben diese Räume aufgrund der gestiegenen Nachfrage eine Aufwertung und Werterhöhung erfahren. Den Stadtteil einzuteilen in Vorder- und Hinterbühne nach der Theorie von Erwin Goffman vermittelt ein Stadtbild, welches Verständnis für die verschiedenen stadtpolitischen Positionen vermittelt. Das Besondere der Sternschanze, so resümieren die Autorinnen Ursula Kirschner (Architektin) und Cornelia Stolze (Landschaftsplanerin), ist das stete Bemühen der Bewohnerinnen für die lebendige Baukultur und die homogene politische Ausrichtung der Stadtgesellschaft mit einem hohen Potenzial zur Nachbarschaftsbildung. Der Tourismuswissenschaftler Karlheinz Wöhler konstatiert in seinem Beitrag, der Tourismus gehöre zum Wirtschaftssystem, ist aber strukturell an die Politik gekoppelt. Dies wird am Beispiel der Kulturtourismusstrategie für Hamburg dargelegt. Die Sternschanze wird dort als ein Destinationsraum angesehen, in dem Touristinnen Kultur erleben können. Wie erlebt wird und was sich dabei in Eindrücken und Empfindungen niederschlägt, wird ebenso dargelegt wie die Konstituierung einer Destination. Der lokalen Kultur wird dabei eine touristische Eignung zugeschrieben (= Touristibilität). Demnach gibt es zwei Sternschanzen: jene im Kontext der Bewohnerinnen/ Hamburgerinnen und jene im Kontext des Tourismus. Die Schanze wurde demnach touristifiziert. Zu fragen ist nun, ob diese Touristifizierung einen Anreiz z.B. für Investoren darstellt, sich in dieser Tourismusschanze und anderen Tourismusräumen zu engagieren. Für Wöhler stellt sich die Frage, ob man gar von einer Pantouristifizierung ausgehen muss, wenn fast jeden Tag etwas in Räumen als tourismusgeeignet angesehen und behandelt wird. Die daran anschließende Fragestellung lautet, ob es hier einen Zusammenhang zwischen Gentrifizierung und Touristifizierung gibt. Der Stadtgeograf Martin Pries argumentiert, dass vieles dafürspricht, dass Gentrifizierung kein eigenständiger Prozess ist, sondern einen Wandel der Gesellschaft und dadurch ausgelöste urbane Restrukturierungsprozesse in innerstädtischen Quartieren wachsender Metropolen beschreibt. Erklären lassen sich die Veränderungen mit der langen Dauer des Prozesses (in Hamburg ca. 35 Jahre), mit dem demografischen Wandel, der Kulturalisierung mit veränderten Le-

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bensstilen, der Deindustrialisierung mit der Tertiärisierung und veränderten Arbeitsplätzen. Diese Veränderungen sind in vielen Varianten denkbar und müssen vor dem kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergrund der untersuchten Stadt gesehen werden. Pries resümiert, dass man nach ca. 30 Jahren Stadtteilsanierung eher nicht von einer Gentrifizierung der Sternschanze sprechen kann. Für die Anwohnerinnen ist bezahlbarer Wohnraum neben der Lage innerhalb der Stadt und der Eigenart des Stadtviertels wichtiges Kriterium für die Standortwahl zum Wohnen. Das Milieu in einem so begehrten Viertel zu bewahren, wird in zahlreichen deutschen Großstädten heute mit Sozialen Erhaltungssatzungen sowie mit Zweckentfremdungsverboten angestrebt. Der Kontext, in dem diese Instrumente Anwendung finden, ist jedoch widersprüchlich: Es wird nicht nur die Bezahlbarkeit von Wohnraum angestrebt, auch die Attraktivität des Wohnungsmarktes für Neubau und urbane Qualitäten für den Tourismus sollen gewährleistet sein. Die Geografin Anne Vogelpohl stellt die beiden genannten Instrumente in ihrem Beitrag vor und veranschaulicht ihren Nutzen am Beispiel des Schanzenviertels. Sie sind neben einem starken Mietrecht, dem sozialen Wohnungsbau und weitergehender Sozialpolitik ein Baustein im Kampf gegen Mietpreissteigerungen und Verdrängung, reichen alleine aber nicht aus, um Wohnprobleme effektiv einzudämmen. Mit diesen Instrumenten wird allerdings anerkannt, dass soziale Verhältnisse wesentlich davon abhängen, wer Wohnungen besitzt, dass eine soziale Wohnungspolitik sich weder auf Mietrecht noch auf die Steuerung globalisierter Kapitalströme beschränken kann und dass viele kleinteilige Regulationen nötig sind, um die Stadt- und Wohnungspolitik sozialer zu gestalten. Den Stadtteil mit Heinz Evers, dem ehemaligen Sanierungs- und Stadtteilbeauftragten der Sternschanze, zu erkunden, heißt, viele Facetten der Stadtteilentwicklung aus der Historie bis in die Gegenwart, aber auch verschiedene Perspektiven auf diese Entwicklung kennenzulernen. Bei einem Stadtteilspaziergang konnten wir ihn interviewen und mit ihm die spezifischen Problemlagen und Entwicklungen des Stadtteils rekapitulieren. Evers berichtet, dass sich im Zuge einer behutsamen Stadterneuerung aus einem sanierungsbedürftigen Viertel ein attraktives Wohn- und Freizeitquartier entwickelte. Trotz einer fortgeschrittenen Touristifizierung zeichnet das Schanzenviertel sich nach wie vor durch ein lebendiges Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten aus, und die ehemals typische Mischnutzung von Gewerbe, Wohnen und Nahversorgung ist an vielen Ecken noch erhalten. Für Heinz Evers gründet die erfolgreiche Umsetzung der Entwicklungsziele

Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze

in der kooperativen und engagierten Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteurinnen. Dennoch sieht er den steigenden Gentrifizierungs- und Touristifizierungsdruck und die damit einhergehende Inbesitznahme des öffentlichen Raumes – besonders auf der nächtlichen Piazza – kritisch und geht davon aus, dass dieser Druck in der Zukunft eher noch steigen könnte. Heinz Evers und Henning Brauer sind jahrelange Weggefährten. Beide haben sich als Mitglieder mit unterschiedlichen Funktionen anfangs im Sanierungsbeirat und später im Stadtteilbeirat um die Entwicklung eines lebenswerten Stadtteils bemüht. Brauer schreibt aus der Perspektive eines Anwohners, wie sich das Stadtviertel in den letzten 20 Jahren entwickelt hat. Dabei wird der tolerante und gemeinschaftliche Charakter betont, der die Sternschanze zu einem besonderen Viertel macht. Thematisiert werden auch die Konflikte im Viertel, die sich einerseits durch Veranstaltungen wie die Schanzenfeste und den als traumatisierend empfundenen G20-Gipfel ergeben haben, aber ebenso die Probleme rund um die zunehmende Belastung durch die Gastronomisierung und Touristifizierung des Viertels, die mit Lärm und Verschmutzung einhergehen und das Wohnen in der Sternschanze eigentlich unmöglich machen. Eine Innenperspektive aus dem autonomen Zentrum Rote Flora erhalten wir von Andreas Blechschmidt, dem langjährigen Aktivisten und Sprecher der Roten Flora. Er beschreibt den rasanten Veränderungsprozess, den die Sternschanze in den letzten 30 Jahren erlebt hat und der für viele alteingesessene Bewohnerinnen des Stadtteils, aber auch für zahlreiche Gewerbetreibende eine Verdrängung bedeutete. Die Rote Flora war mit ihrer subkulturellen Strahlkraft ein unfreiwilliger Motor dieses Prozesses. Blechschmidt untersucht in seinem Beitrag, inwieweit das besetzte und selbstverwaltete Projekt nun auch im seit einigen Jahren wirksamen Touristifizierungsprozess des Quartiers wider Willen zu einem Standortfaktor geworden ist. Die Frage, ob die Rote Flora als Tourismusmotor betrachtet werden kann, diese Frage wird auch in der Medienanalyse von Maria Franziska Stöppler, einer Studentin der Stadt- und Kulturraumforschung, untersucht. Trotz der Auseinandersetzungen und Konflikte, die mit der Roten Flora in Verbindung gebracht werden, und dem Kampf gegen Kommerzialisierung und Verdrängung, hat sich die Sternschanze zu einem angesagten Stadtviertel entwickelt. Interessanterweise hat das durch mediales Framing konstruierte Narrativ des widerständigen Raumes um die Rote Flora laut Stöppler sogar noch weitere Auswirkungen gehabt: Durch die Kommodifizierung der Devianz zu Zeiten

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von Individualisierung und Konsumentinnenkultur ist ein weicher Standortfaktor entstanden, der als kulturelles Kapital vermarktet wird. Neben der Roten Flora verleihen Graffiti der Sternschanze den unverkennbaren subkulturellen Charakter. Die Ausführungen der Kulturwissenschaftlerin Anna Möllgaard in diesem Band beginnen mit dem Street-Art-Spruch »Diese Wand bleibt bunt« aus den 2000er Jahren, welcher als Synonym für das ›bunte‹ Viertel steht. Möllgaard geht der Fragestellung nach, inwiefern über Street-Art im Schanzenviertel lokale Identifikation vermittelt werden kann und inwiefern durch das Anschauen und Erleben, das Ausüben oder die Nutzbarmachung von Street-Art ein Gefühl der Zugehörigkeit erzeugt wird, das im Spannungsfeld zwischen touristischer Destination und Lebensraum eine Wiederannäherung an die eigene Umgebung ermöglicht. Anhand der in der Street-Art-Szene durchgeführten Interviews kristallisiert sich heraus, dass die lokale Street-Art sowohl auf kultureller als auch auf sozialer und ökonomischer Ebene in die Zusammenhänge des Stadtteils eingebunden ist und hier in vielerlei Hinsicht Identifikationsprozesse prägt. Im Beitrag der angehenden Kulturwissenschaftlerin Daria Klaassen und der Betriebswirtinnen Jasmin Annuß und Miriam Riesch werden die Fremdsowie die Eigenzuschreibungen der Sternschanze als Wohnort, als touristisches Ausflugsziel und als Corner-Treffpunkt betrachtet. Die Studie beinhaltet eine Online-Befragung von Anwohnerinnen sowie eine Auswertung der sozialen Medien Instagram, Tripadvisor und Reiseblogs. Dies ermöglicht die Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Stadtteilimages. Dabei konnte in den sozialen Medien ein sehr positives, den Tourismus begünstigendes Image der Sternschanze festgestellt werden. Das Anwohnerinnen-Image zeigt andere Schwerpunkte. So wurde der Stadtteil von vielen Anwohnerinnen als zu touristisch wahrgenommen und dadurch in vielen Punkten negativer bewertet, als es sich in den sozialen Medien darstellte. Neben der ausufernden Außengastronomie ist vor allem die urbane Praxis des Cornerns, des gemeinschaftlichen Aufhaltens im öffentlichen Raum in Verbindung mit der Versorgung mit (alkoholischen) Getränken durch Kioske, verantwortlich für die nächtlichen Lärmbelästigungen und die Vermüllung in der Sternschanze. Diese Praxis ist vor allem bei jungen Menschen im Trend, für die der öffentliche Raum der erste Raum außerhalb der Familien ist, in dem sie sich ausprobieren und ihre Identität finden und entwickeln können. In unserem Beitrag beleuchten wir die Grundlagen dieser urbanen Raumaneignung ebenso wie die für Anwohnerinnen belastenden Nebeneffekte, auch im Kontext der gastronomischen Entwicklung der Sternschanze. Dabei werten wir

Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze

u.a. empirische Daten aus, die im Rahmen von Lehrforschungsprojekten in den Jahren 2018 bis 2021 erhoben wurden, und reflektieren unterschiedliche Lösungsansätze innerhalb Europas, um Ideen für Lösungsansätze zu formulieren. Alle Datensätze und geführten Interviews, die den Studien dieses Bandes zugrunde liegen, liegen uns als Transkript oder als Audiodatei vor. Der Zeitraum dieser Studien variiert; in summa werden hier Daten aus der Zeit von 2016 bis 2022 verwendet. Und noch ein Wort zum Genderdiskurs und der regen Debatte hinsichtlich einer geschlechtergerechten Sprache: Verschiedene Schreibweisen sind im Gebrauch, und auch im wissenschaftlichen Kontext hat sich noch keine endgültige Norm etabliert. Wir haben uns deshalb dafür entschieden, keine Norm vorzugeben. Die jeweils gewählte Variante wird dann in den einzelnen Beiträgen durchgängig angewandt. Grundsätzlich gilt: Mit Nennung der weiblichen oder der männlichen Bezeichnung sind in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch alle geschlechtlichen Formen mitgemeint.

Danksagung Dieser Veröffentlichung sind seit 2016 diverse gemeinsame Lehrforschungsseminare im Bachelor- und Master-Studium an der Leuphana Universität Lüneburg vorausgegangen. Themen der Seminare waren »Räume zur urbanen Kultur«, »Urbanität und Identität«, »Öffentliche Räume«, »Touristifizierung« und »Cornern als urbane Praxis«. Eingebunden waren Mitarbeiterinnen des Bezirksamtes Altona aus dem Fachamt Stadt- und Landschaftsgestaltung. Auch Anwohnerinnen und Gewerbetreibende des Viertels sowie ein Mitarbeiter des örtlichen Polizeikommissariats (PK16) haben uns mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen unterstützt. An dieser Stelle sei allen gedankt, die zum Gelingen dieser Seminarreihe sowie des vorliegenden Bandes beigetragen haben. Dem Institut für Stadt- und Kulturraumforschung der Leuphana Universität Lüneburg und insbesondere den Herren apl. Prof. Dr. Peter Pez und apl. Prof. Dr. Martin Pries gebührt besonderen Dank hinsichtlich der fachlichen Mitwirkung durch Gespräche, aber auch für die großzügige finanzielle Förderung zur Herausgabe dieses Bandes. Für das Gelingen und das uns entgegengebrachte Vertrauen möchten wir dem transcript Verlag danken und an dieser Stelle besonders die immer freundliche, schnelle und sachkundige Betreuung durch Frau Dümpelmann hervorheben.

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Ursula Kirschner und Anja Saretzki

In diesem Band wurden zahlreiche Fotos eingebunden, von denen einige dankenswerterweise von Nauka Kirschner aus dem Büro doppelpunkt (Berlin) überarbeitet wurden.

Literatur ARGE Kirchhoff Jacobs (2011): Soziale Erhaltungsverordnung für das Gebiet Sternschanze. Gutachten zur Überprüfung der Anwendungsgrundlagen einer Sozialen Erhaltungsverordnung gemäß BauGB § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2. https://www.hamburg.de/contentblob/3949056/1eec5b0946e44f593543 aa965eedf024/data/erhaltungsverordnung-repraesentativerhebung.pdf (Zugriff 12.02.2023). Cocola-Gant, Agustín (2018): »Tourism Gentrification«, in: Loretta Lees/Martin Phillips (Hg.), Handbook of Gentrification Studies, Cheltenham: Edward Elgar, S. 281–293. Florida, Richard (2002): The Rise of the Creative Class: And How It’s Transforming Work, Leisure, Community, and Everyday Life, New York: Basic Books. Glaeser, Edward L. (2005): »Review of Richard Florida’s The Rise of the Creative Class«, in: Regional Science and Urban Economics 35, S. 593–596. Gotham, Kevin Fox (2005): »Tourism Gentrification: The Case of New Orleans’ Vieux Carre (French Quarter)«, in: Urban Studies 42, S. 1099–1121. Gotham, Kevin Fox (2018): »Assessing and Advancing Research on Tourism Gentrification«, in: Via@Tourism Review 13. https://journals.openedition. org/viatourism/2169 (Zugriff 25.03.2020). Lefebvre, Henri (1991): The Production of Space, Oxford/Malden, Mass.: Blackwell. Lefebvre, Henri (2014): Die Revolution der Städte, Hamburg: Edition Nautilus (Original 1968). Lefebvre, Henri (2016): Das Recht auf Stadt, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt (Original 1970). Maitland, Robert/Newman, Peter (2004): »Developing Metropolitan Tourism on the Fringe of Central London«, in: International Journal of Tourism Research 6, S. 339–348. Naegler, Laura (2013): »Vom widerständigen Raum zum kommerzialisierten Raum. Gentrifizierungswiderstand im Hamburger Schanzenviertel«, in: Kriminologisches Journal 45, S. 196–210.

Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze

Novy, Johannes (2010): »What’s New About New Urban Tourism? And What Do Recent Changes in Travel Imply for the ›Tourist City‹ Berlin?«, in: Jana Richter (Hg.), The Tourist City Berlin. Tourism and Architecture, Salenstein: Braun Publishing, S. 191–199. Overmeyer, Klaus (2010): Kreative Milieus und offene Räume in Hamburg. Studie im Auftrag der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg: Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt. Ronneberger, Klaus (2011): »Die kreative Stadt«, in: derivé. Zeitschrift für Stadtforschung 44, S. 37–45. Saretzki, Anja (2019): »Ist der New Urban Tourist ein Choraster?«, in: Tim Freytag/Andreas Kagermeier (Hg.), Touristifizierung urbaner Räume, Mannheim: MetaGIS-Systems, S. 33–48. Siebecke, Gerd (2012): Die Schanze: Galão-Strich oder Widerstandskiez? Streifzug durch ein klammheimliches Klavierviertel, 2., akt. Aufl., Hamburg: VSA-Verlag. Vogelpohl, Anne (2010): »Die Reproduktion urbaner Vielfalt: Ansätze im Hamburger Schanzenviertel«, in: Dieter Läpple/Ulrich Mückenberger/Jürgen Oßenbrügge (Hg.), Zeiten und Räume der Stadt: Theorie und Praxis, Opladen/Farmington Hills, MI: Verlag Barbara Budrich, S. 91–108.

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Streifzüge durch die Sternschanze Ein baukulturelles Narrativ eines besonderen Flairs Ursula Kirschner und Cornelia Stolze

Dieser Beitrag versucht, das besondere Flair der Sternschanze und das touristische Interesse an dem Stadtteil zu ergründen. Ausgangspunkt ist die Baukultur, die damit verknüpften Interaktionen und der stete Kampf der Bewohnerinnen um den Erhalt derselben. Dabei betrachten wir den Raum nicht aus der Perspektive des absolutistischen Denkmodells, das den Raum als statische Größe darstellt, in dem soziale Prozesse stattfinden und es eine klare Trennung von Raum und Körpern/Objekten gibt, die sich in ihm befinden. Hingegen erforschen wir den Stadtteil als relationalen Raum, der sich im ständigen Wandel befindet und niemals statisch ist. Martina Löw schreibt dazu: »Während im absolutistischen Denken Räume in unbewegte und für alle gleichermaßen existente (deshalb homogene) Grundlage des Handelns sind, geht im relativistischen Denken die Aktivität des Handelns unmittelbar mit der Produktion von Räumen einher.« (2001: 18) Raum wird demnach im Handeln der Akteurinnen produziert und wurde lange nicht explizit als Faktor und/oder Resultat von sozialem Handeln wahrgenommen und erforscht. Die Sozialforschung wurde getrennt von der Raumforschung betrieben. In vier Kapiteln nähern wir uns dem relationalen Raum der Sternschanze und fokussieren auf die Themen Stadtteilgrenzen, Vergnügungsviertel, öffentlicher Raum und Wohnungsbau und unternehmen exemplarisch Streifzüge, welche in einem historischen Kontext diskutiert und als kollektives Erinnerungskulturgut in die Analyse des Stadtteils als Szenestadtteil einbezogen werden.

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Ursula Kirschner und Cornelia Stolze

Stadtteilgrenzen – Grenzzonen Der Stadtteil Sternschanze ist mit aktuell knapp 8.000 Einwohnern, einer Fläche von 0,6 km2 und einer hohen Wohndichte von ca. 14.500 EW./km1 der kleinste und zusammen mit der HafenCity einer der jüngsten, da er im Zuge der Bezirksverwaltungsreform im Jahr 2008 neu aus Teilen Altonas, Eimsbüttels und St. Paulis (letzteres zum Bezirk Hamburg Mitte gehörig), die sich die Verwaltung seinerzeit jeweils teilten, neu designed wurde und seither dem Bezirk Altona zugeordnet ist. Als Viertel war die Sternschanze schon seitdem 19. Jahrhundert bekannt. Zusammen mit dem in direkter Nachbarschaft befindlichen Karolinenviertel ist sie ein begehrtes Szeneviertel Hamburgs und nach St. Pauli, »so etwas wie Hamburgs zweiter Kiez«. Mit diesen Worten werden beide auf der Hamburger Tourismuswebseite beworben.2 Im Zuge der Verwaltungsreform wurde jedoch das Karolinenviertel dem Bezirk Mitte und die Sternschanze dem Bezirk Altona zugeordnet. Hier wurde getrennt, was gefühlsmäßig zusammengehört. Der Verlauf der Stadtteilgrenzen (siehe Abbildung 1) ist den meisten Hamburgerinnen und auch ›Schanzianerinnen‹ heute noch unbekannt, und so wundert es kaum, dass auch Google Maps diese falsch darstellt. Das Thema Grenze ist dem Stadtteil in vielerlei Hinsicht inhärent. Die Historie zeigt, dass die Sternschanze im Jahr 1682 als sternenförmige Befestigung außerhalb der Stadtumwallung Hamburgs, aber auf Hamburger Territorium im Bereich der heutigen Schanzenstraße, Sternschanze, Schröderstiftstraße und dem Kleinen Schäferkamp angelegt wurde und bis 1804 hielt. Ihre Bewährungsprobe bestand sie 1686, als der dänische König Christian V. sie vergebens abbrennen ließ (vgl. Hanke 1997: 254). An die 1.200 Dänen, die bei diesem Angriff ums Leben kamen, erinnert der benachbarte Dänenweg, heute nordwestlich des Fußballplatzes des SV Sternschanze. Bereits 1640, als der letzte Schauenburger Landesherr starb, nutzte der dänische König Christian IV. die Gunst der Stunde und besetzte die Grafschaft Pinneberg und damit auch Altona. Bis

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Sternschanze 14.523 EW pro km², in Gesamt-Altona 3.538 EW pro km² und in Hamburg 2.522 EW pro km². Nach den Stadtteilen Hoheluft-West und Ost weist die Sternschanze die drittstärkste Verdichtung der Einwohnerinnenzahl pro km² auf (vgl. https://www.statistik-nord.de/fileadmin/Dokumente/NORD.regional/StadtteilProfile_HH-BJ-2020.pdf; Zugriff 19.09.2022). https://www.hamburg-tourism.de/das-ist-hamburg/stadtteile/sternschanze-karovie rtel/ (Zugriff 19.09.2022).

Streifzüge durch die Sternschanze

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zur Niederlage des deutsch-dänischen Krieges von 1866 stand Altona mehr als 200 Jahre unter dänischer Herrschaft. Jedoch blieben diese Gebiete wirtschaftlich und kulturell weitgehend autark; so wurde beispielsweise in Altona nie Dänisch gesprochen. Später wurde Altona eine preußische Provinzstadt, und im Jahr 1937 endet die Selbstständigkeit Altonas. Aus der preußischen Elbmetropole wurde durch das Groß-Hamburg-Gesetz der Hamburger Bezirk Altona.3

Abbildung 1: Stadtteilgrenze Sternschanze

Quelle: Stadtteilkarte Sternschanze (eigene Überarbeitung), abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Freien und Hansestadt Hamburg, Landesbetrieb Geoinformation und Vermessung Datenlizenz Deutschland – Namensnennung – Version 2.0; https://www.govdata.de/dl-de/by-2-0

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Vgl. https://www.ndr.de/geschichte/Die-Geschichte-Altonas,altona350.html#:~:text =Altona%20wird%20d%C3%A4nisch,dem%20d%C3%A4nischen%20K%C3%B6nig %20ebenfalls%20untersteht (Zugriff 10.11.2022).

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Ursula Kirschner und Cornelia Stolze

Die alte Grenze zwischen Hamburg und Altona ist heute anhand von Grenzsteinen nachvollziehbar. Sie verlief direkt auf der Straße Schulterblatt, knickte dann durch eine Hofeinfahrt in das Blockinnere schräg über den Hamburger Hof (Schulterblatt 24 a-h) und verlief weiter an der Schanzenstraße 7 bis hin zum Pferdemarkt. Im Blockinnern gab es entlang einer Palisade einen Kontrollgang, der teilweise heute noch sichtbar ist (vgl. Hipp 1996: 252) (siehe Abbildung 2 und vgl. Karte Abbildung 10).

Abbildung 2: Kontrollgang entlang der Palisade

Quelle: Eigene Aufnahme, 2022

Am Eckgebäude Schanzenstraße/Neuer Pferdemarkt befinden sich im 2. Obergeschoss das Hamburgische sowie das Altonaer Wappen. Sie sind ähnlich gestaltet, nur das Tor auf der Altonaer Seite ist geöffnet, während das Hamburgische Tor geschlossen ist (siehe Abbildung 3). Deutet dies noch heute auf eine unterschiedliche Willkommenskultur hin? Immerhin schützte Altona sich nie durch eine Einfriedung oder mit einer Wehranlage im Gegensatz zu Hamburg.

Streifzüge durch die Sternschanze

Henning Brauer aus dem aktuellen Stadtteilbeirat sagt, die Schanze hat einen »Dorfcharakter«, es gibt »gute Nachbarschaften«, »das Lebensgefühl [ist] ein anderes, alles sehr offen, die Menschen willkommen heißend, egal wie sie aussehen, wo sie herkommen.«4

Abbildung 3: Die Wappen: links Altona am Schulterblatt (Tor offen), in der Mitte Gebäude Schulterblatt/Ecke Schanzenstraße, rechts Hamburger Wappen an der Schanzenstraße (Tor geschlossen)

Quelle: Eigene Aufnahmen, 2022

Während der Cholera im Jahr 1892 wurde in diesem Grenzgebiet anhand der Wasserversorgung festgestellt, dass auf dem Altonaer Stadtgebiet, das nahe an das Hamburger heranreichte nur sehr wenige Cholerafälle registriert wurden. In der Grenzstraße ›Am Schulterblatt‹ wurden nur die Häuser der Hamburger Seite befallen, während die auf der Altonaer Seite verschont blieben (vgl. Winkle 1983/1984).5 Dies lag unter anderem an der guten Wasserqualität Altonas durch eigene Brunnen. Das Grenzgebiet aus jener Zeit hat sich soziologisch zu einer Grenzzone verwandelt. Saskia Sassen, Soziologin, definiert eine Grenzzone als einen Ort, an dem sich Akteurinnen aus verschiedenen Welten treffen. Sie bezeichnet diese als frontier zones: »The large complex city, especially if global, is a new

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Die Schanze: Szeneviertel und Widerstandskiez. Die NDR-Nordstory vom 30. Juni 2017; Filmsequenz 1:07-1:33. https://www.youtube.com/watch?v=RsDN4FIYPRw (Zugriff 05.12.2022). »Dieses auffallende Vorkommnis konnte unter Berufung auf Pettenkofer nicht durch die Verschiedenheit des Bodens, der Luft oder der Grundwasserverhältnisse erklärt

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frontier zone. Actors from different worlds meet there, but there are no clear rules of engagement.« (Sassen 2014: 3) Sassen betont, dass Städte ihren Bewohnerinnen oftmals bestimmte Verhaltensmuster, Richtlinien und Regeln auferlegen, welche im Gegenzug jedoch auch durch individuelles wie kollektives Handeln umgangen oder gar konterkariert werden können. Eine Stadt besitze immer in ihr eingebettete ›Codes‹, Verhaltensanweisungen und Richtlinien. Diese stehen jedoch in Wechselwirkung zu ihren Bewohnerinnen, sodass ein ständiges Aushandeln dieser Codes im Raum der Stadt stattfindet. Sie beschreibt es als Dualitätsprinzip: »The fact that powerlessness can become complex in the city is, in itself, a transversal type of hacking.« (Sassen 2017: 3) Die Aneignung des städtischen Raumes durch den Menschen ist ein zentraler Faktor der sogenannten frontier zones. Diese können sich bemerkbar machen sowohl durch Interventionen in Form von Hausbesetzungen als auch mittels Graffiti als Aktivität, im Rahmen derer sich die Stadtbewohnerinnen ihre städtische Umgebung aneignen. In diesem Kontext sind die Stadtteilbewohnerinnen diejenigen, die die Stadt ›hacken‹ und sich den von der Stadt auferlegten Regeln widersetzen. Andersherum sind möglicherweise heute die Gastronomiegäste und die ›Cornernden‹, die als Binnentouristinnen in erster Linie aus anderen Hamburger Stadtteilen in die Sternschanze kommen, diejenigen, die den Stadtteil durch nächtliche Ruhestörungen und Verschmutzungen ›hacken‹ (vgl. dazu den Beitrag von Kirschner/Saretzki in diesem Band). Die Sternschanze ist als Ort etwas ›Besonderes‹, so schließt Heinz Evers, der ehemalige Stadtteilbeauftragte der Sternschanze, sein Interview (vgl. dazu das Interview mit Heinz Evers in diesem Band). Ist dieses Besondere darin begründet, dass der Stadtteil in der Geschichte immer mit einer Grenzsituation konfrontiert war und es deshalb stets viele Aushandlungsprozesse gab und gibt? Die Sternschanze trägt gewissermaßen ein Janusgesicht in sich, blickt in verschiedene Richtungen und gibt sich nie mit dem Alltäglichen zufrieden. werden, sondern einzig und allein dadurch, dass Altona eine gesonderte Wasserversorgung besaß. Während Hamburg Trinkwasser noch unfiltriertes Elbwasser bezog, besaß Altona bereits seit 1859 ein brauchbares Filterwasserwerk, das vor allem deshalb errichtet worden war, weil das Hamburger Stammsiel mit allen Abwässern und Fäkalien oberhalb von Altona in die Elbe mündete. Auch wenn die Schöpfstelle der Hamburg Wasserleitung weit stromaufwärts lag, musste infolge der Flutbewegung (besonders bei günstigem Wind) mit einem Rückstau des verunreinigten Hafenwassers bis zu jener [sic!] Stelle gerechnet werden. Das war ein unheimlicher Kreislauf, an den in Hamburg bisher nur wenige gedacht hatten.« (Winkle 1983/1984)

Streifzüge durch die Sternschanze

Ein glücklicher Zufall in der Baugeschichte der Stadt Hamburg war die Freundschaft des Hamburger Oberbaudirektors Fritz Schumacher (von 1923–1933) und des Altonaer Bausenators und späteren Stadtbaurats Gustav Oelsner (von 1924–1933). Beide teilten ein gemeinsames Verständnis von Stadt und Ästhetik sowie eine Leidenschaft für Backstein. Obwohl in Altona nur der ›minderwertige‹ gelb-rote Ziegel im Unterschied zum dunkelroten Klinker in Hamburg verfügbar war, hat die Backsteinarchitektur dieser Zeit ein einheitliches Stadtbild geprägt.

Das Vergnügungsviertel Sternschanze gestern und heute Mit der ersten Bebauung entstanden am Schulterblatt eine Vielzahl an Vergnügungsstätten. Bereits im 19. Jahrhundert eröffneten zahlreiche Wirtshäuser, so das ›Bierhaus Schulterblatt‹ am Anfang der Straße Schulterblatt6 , die ›Kaisersäle‹ an der Ecke der heutigen Max-Brauer-Allee und die ›Wartburg‹ an der Ecke zur heutigen Nagels Allee. Einige Bekanntheit hatten auch die Lokale ›Zauberflöte‹ an der Ecke Juliusstraße und die ›Skatdiele‹ an der Ecke Rosenstraße.7 Darüber hinaus befand sich von 1874 bis 1907 der Tierpark von Carl Hagenbeck zwischen Ludwigstrasse bis zum Neuen Pferdemarkt. Bekannt wurde dieser Park neben dem Tierhandel auch durch sogenannte ›Völkerschauen‹.8 1835 öffnete auf dem Grundstück der heutigen ›Roten Flora‹ ein Tivoli mit Ausflugsgarten. Ab 1859 wurde es um einen Fachwerkrundbau als Schmidts Tivoli ergänzt und ab 1889 durch einen weitläufigen Gebäudekomplex, das ›Concerthaus Flora‹ mit mehreren Sälen, einem Vergnügungspark, einem

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Schulterblatt (1718); das Schulterblatt eines Wals, welches das Schild eines Wirtshauses zierte, gab der pulsierenden Hauptstraße des Schanzenviertels vermutlich ihren Namen. Zum Schulterblatt gehörten ursprünglich auch der Neue Pferdemarkt und der Neue Kamp (vgl. Hanke 1997). Vgl. https://www.wikiwand.com/de/Schulterblatt_(Stra%C3%9Fe) (Zugriff 05.12. 2022). Aufgrund des stagnierenden Tierhandels wurden 30 Rentiere in Begleitung einer Familie aus Lappland importiert. Es folgten weitere ›Völkerschauen‹. Die Stadt Hamburg kaufte 1903 den Großteil des Geländes und errichtete in den folgenden Jahren in der Ludwigsstraße 7 eine Volksschule, heute Ganztagsschule Sternschanze. Der Tierpark zog 1907 nach Hamburg-Stellingen, wo ihm eine größere Fläche zur Verfügung stand (vgl. https://www.spiegel.de/geschichte/zoo-spektakel-im-kaiserreich-a-948152.html; Zugriff 05.12.2022). Dieses Wissen ist heute im Stadtteil nicht mehr präsent.

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großen Wintergarten – dem sogenannten Crystallpalast – und dem dreistöckigen Kopfaufbau, der das heutige Flora-Gebäude darstellt, ersetzt.9 Dieses wurde nach den Plänen des Architekten Johannes Liedtke (1845–1895) als zweigeschossiges Gebäude am Schulterblatt im Neorenaissancestil mit Eckrisaliten und einem mit Ziergiebeln und Balustraden bekrönten Satteldach gebaut. Der symmetrisch in die Fassade von zwei Säulen eingefasste Eingang ist im Verhältnis zu beiden Seiteneingängen eher bescheiden. So wundert es nicht, dass dieser auch nach kurzer Zeit vergrößert und einladender gestaltet wurde. Direkte Zugänge zum Konzertgarten gab es vom Schulterblatt und von der gegenüberliegenden Lippmanstraße (vgl. Decker/Schilling 2015: 6–11). »Vorbild für den Hamburger Crystallpalast könnte der gleichnamige Palast im Londoner Hyde Park (1851) oder der Crystal Palace zur New Yorker Weltausstellung von 1853 gewesen sein.« (Busch 2017). Das Flora-Theater galt lange als eines der renommiertesten Varietés Deutschlands, verlor jedoch in Kriegs- und Nachkriegszeiten deutlich an Glanz. Im Jahr 1953 wandelte der damalige Besitzer das Flora-Theater in ein Lichtspielhaus um, doch schon in den 1960er Jahren musste das Kino wieder schließen. Bis 1987 wurde das marode werdende Gebäude als Haushaltwarenmarkt (›1000 Töpfe‹) genutzt, ging jedoch bereits 1974 in den Besitz der Stadt über, die nach einem neuen Investor suchte. Dieser fand sich 1987 mit dem Musical-Produzenten Friedrich Kurz und der Stella-Theater-ProduktionsGmbH, die das alte Gebäude zum Großteil abreißen und ein neues Musical-Theater mit über 2.000 Sitzplätzen bauen wollten. Dabei sollten rund 15 Millionen DM investiert und 160 dauerhafte neue Arbeitsplätze geschaffen werden (vgl. Hoffmann 2011: 80f.). Das Vorhaben stieß im Stadtteil auf wenig Zustimmung. Es organisierten sich die linke Szene zusammen mit Ladenbesitzerinnen und Stadtteilinitiativen gegen die Pläne. Zahlreiche Bewohnerinnen des Viertels waren besorgt über die Entwicklung ihres Quartiers und standen daher einer solch umfangreichen Investition äußerst skeptisch gegenüber. Die Anwohnerinnen fürchteten eine Verdrängung durch Aufwertung des Viertels und den damit einhergehenden Mietsteigerungen, weiter hatten sie Angst vor Tourismus und den daraus resultierenden Verkehrs- und Parkplatzproblemen (vgl. Blechschmidt 1998).

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Vgl. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Schulterblatt_(Stra%C3%9Fe) (Zugriff 05.12. 2022).

Streifzüge durch die Sternschanze

Abbildung 4: Fassade Schulterblatt Rote Flora

Quelle: Eigene Aufnahme, 2022

Die Fragen nach Denkmalschutz und der Verdrängung der Bevölkerung wurden öffentlichkeits-wirksam, sodass sich schließlich beim Abriss im April 1988 hunderte Gegnerinnen zu Protestaktionen an der Baustelle einfanden. Die Baumaßnahmen wurden nach dem Abriss des Crystallpalasts vorerst gestoppt; in den folgenden Wochen initiierte die Flora-Gruppe diverse Formen des Widerstands und besetzte das Haus. Von 1995 bis 2008 waren weite Teile des Schulterblatts inklusive Schulterblatt 71 und 73 (Flora und Haus 73, beide 1888 errichtet) Sanierungsgebiet. Eine Aufwertung und eine Touristifizierung hat die Sternschanze trotzdem erlebt und das Musical-Theater wurde später als ›Neue Flora‹ ca. 500m entfernt gebaut. Beide Häuser stehen heute inmitten eines ›Vergnügungsboulevards‹, den insbesondere Touristinnen und Musicalbesucherinnen gerne vor und nach den Vorstellungen aufsuchen (vgl. Decker/ Schilling 2015: 4f.). Am 1. November 2014 übergab der Hamburger Senat, nach Ankauf von einem insolventen Privateigentümer, das Gebäude an die städtische Lawaetz Stiftung. Im Sommer 2015 wurde die Fassade der ›Roten Flora‹ ohne staatliche Finanzierung, aber mithilfe von 50 Wandergesellinnen in Anlehnung an den historischen Flora-Bau neugestaltet. In der Dokumentation ›Nordstory‹ über

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die Schanze wird die Flora als ›Tempel‹10 bezeichnet, vergleichbar einer Dorfkirche, die den baulichen, aber auch gesellschaftlichen Mittelpunkt darstellt und damit auch dem Ort ein atmosphärisches und identitätsstiftendes Image verleiht. Decker und Schilling unterstreichen, dass ein Denkmalwert aus architekturhistorischer Sicht nicht gegeben ist, dennoch hat das Gebäude einen atmosphärischen Wert für die Bewohnerinnen und den Stadtteil (vgl. Decker/Schilling 2015: 6). Bei der Betrachtung der heutigen heruntergekommenen Neorenaissance Flora-Fassade fallen die eindrucksvollen bunten Graffitis und die verschiedenen politischen Banner auf (siehe Abbildung 4). Gleichzeitig wird dieses Bild mit dem Wissen wahrgenommen, dass es einen harten Kampf um das Bestehen dieses Gebäudes und eine Besetzung durch ein autonomes Kollektiv gegeben hat. Dieses kollektive Wissen, materialisiert in dem Gebäude, scheint dem Stadtteil als kulturelles Erbe innezuwohnen und möglicherweise zu einen. Aleida Assmann spricht von Gebäuden als Speicher von Erinnerungen, und dass diese keine Handlungen ausführen, sie jedoch Handlungen verkörpern können (vgl. Assmann 1999: 158). Der Philosoph Gernot Böhme bezeichnet die Atmosphäre einer Stadt als die »subjektive Erfahrung der Stadtwirklichkeit, die die Menschen in der Stadt miteinander teilen. Sie erfahren sie als etwas Objektives, als eine Qualität der Stadt.« (Böhme 2006: 139) Die Atmosphäre bezieht sich darauf, wie sich etwas unmittelbar spürbar und situativ immer wieder neu konstituiert und sinnlich-affektiv ausdrückt, wie z.B. die aktuelle Situation des historischen, heute verschlossenen Haupteingangs, welcher das Zuhause einiger wohnungsloser Menschen ist. Demgegenüber stellt das Image, hier die Fassade, ein bewusst nach außen gekehrtes, repräsentatives und ideologisch konstruiertes Bild dar, welches die gesellschaftliche Realität mythisch und suggestiv durch Semiotisierungen überschreibt (vgl. Böhme 1998: 55). Vor dem kollektiven Erfahrungshintergrund einer Kultur können diese Strategien der Verführung und Ästhetisierung planvoll und kommunikativ eingesetzt werden, um soziale Atmosphären bewusst zu erzeugen und damit auch politische Zielsetzungen umzusetzen. Das Gebäude hat in Deutschland, vergleichbar mit der Hafenstraßenbebauung, sehr viel mediale öffentliche Aufmerksamkeit erlangt und für politische Diskussionen in der Gesellschaft gesorgt. Viele Hamburgerinnen erin10

Vgl. Die Schanze: Szeneviertel und Widerstandskiez. Die NDR-Nordstory vom 30. Juni 2017; Filmsequenz 1:39. https://www.youtube.com/watch?v=RsDN4FIYPRw (Zugriff 05.12.2022).

Streifzüge durch die Sternschanze

nern sich an die fünfzehn Jahre dauernden, politischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Hafenstraßenbesetzung der 1980er Jahre, zu denen auf der Hamburg.de Seite zu lesen ist, dass zu der Zeit »bürgerkriegsähnliche Zustände«11 herrschten. Seither versuchen Politikerinnen eher deeskalierend zu agieren. Die Flora ist neben vielen anderen Initiativen im Stadtteil auch ein Anlaufpunkt mit sozialen Einrichtungen; so finden dort zum Teil regelmäßige Veranstaltungen statt: die Fahrradselbsthilfe, die Volxküche (Flora VOKÜ), der Antifa-Tresen, der Punktresen, unterschiedliche Diskussionsgruppen, Themencafés, Lesungen, Konzerte, Partys und vieles mehr.12 Auch das Archiv der sozialen Bewegung wird dort geführt. Der Grundgedanke bei der Besetzung des ehemaligen Theaters war, es als Kulturzentrum und identitätsstiftenden Treffpunkt für den ganzen Stadtteil zu nutzen und gleichzeitig ein Symbol gegen die Gentrifizierung zu setzen. Ob die Flora nach dem Rückkauf durch die stadteigene Lawaetz-Stiftung in der heutigen Situation noch als besetzt gilt, ist schwer zu beantworten. Im Pressearchiv der Stadt Hamburg (datiert vom 31.10.2014) ist zu lesen: »Die Johann Daniel Lawaetz-Stiftung hat das Grundstück und die Immobilie der sogenannten Roten Flora als Treuhänderin der Stadt für einen Kaufpreis von 820.000 Euro erworben. Nach einem entsprechenden Beschluss der Gläubigerversammlung im Insolvenzverfahren gegen den früheren Eigentümer Klaus-Martin Kretschmer wurden heute der Treuhandvertrag der Stadt mit der Lawaetz-Stiftung und der Kaufvertrag mit dem Insolvenzverwalter notariell beurkundet. Übergabetag ist der 1. November 2014. ›Der vom Senat Anfang des Jahres angekündigte Rückerwerb der Roten Flora ist damit umgesetzt‹, sagte Finanzsenator Peter Tschentscher […]. Der Senat habe […] entschieden, die städtische Lawaetz-Stiftung treuhänderisch mit dem Kauf und der künftigen Verwaltung der Immobilie zu beauftragen. ›Die jetzige Lösung verhindert‹, so Tschentscher, ›dass die Immobilie von privaten Eigentümern für renditeorientierte, immobilienwirtschaftliche Interessen genutzt wird.‹

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Vgl. https://www.hamburg.de/hafenstrasse/ (Zugriff 28.10.2022). Zu finden sind die Termine beispielsweise auf der Homepage https://rote-flora.de/pr ogramm/ (Zugriff 05.12.2022).

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Die Stiftung stellt eine weiterhin nicht-kommerzielle Nutzung sicher und ist in der Lage, eine friedliche Entwicklung im Sinne der Stadtteilkultur zu begleiten. Die Verträge stehen unter dem Vorbehalt einer endgültigen Entscheidung des Landgerichts Hamburg, falls einzelne Gläubiger Rechtsmittel gegen den Beschluss der Gläubigerversammlung einlegen.« (Senatskanzlei Hamburg 2014) Weiter ist auf der Internetseite der Lawaetz Stiftung zum Miteinander zu lesen: »Eine Nutzung ohne jeden Vertrag ist allerdings die unkonventionellste Konstellation, mit der die Stiftung es bisher zu tun hatte. […] Die Stiftung kann gut damit leben, wenn die ›Floristen‹ ohne Gespräche den Betrieb eigenverantwortlich weiter selbst gestalten, ist aber auch für Gespräche mit den ›Floristen‹ offen, wenn es andere Nutzungsideen gibt.«13 Diese Mitteilung vom Vorstand ist ebenfalls datiert vom 31.10.2014. Dies sind die Rahmenbedingungen, unter denen die Flora existiert, und sie scheinen wie eingefroren zu sein. Mitte 2001 wurden die ersten Ideen für die heutige Piazza14 , direkt vis-àvis der ›Roten Flora‹ und dem Haus 73 zwischen Susannenstraße und Rosenhofstraße entwickelt und ein Jahr später fertiggestellt. Hier wurde eine parallel zum Schulterblatt extern erschlossene Parkplatzfläche mit dem Bürgersteig als Platz zusammengelegt. Die Piazza mit zahlreichen Gaststätten und Straßencafés sorgt für Nutzungskonflikte zwischen Hausbewohnerinnen, Gastronominnen und Gästen, da diese Lärm-, Geruchsbelästigungen und Schmutz verursachen sowie die Bürgersteige durch herausgestellte Tische und Stühle eingeengt werden (vgl. Evers 2008: 10). Das Ambiente zwischen alternativ schick und linksautonomer Protestarchitektur spricht Menschen unterschiedlicher politischer und kultureller Herkunft an, hiervon profitiert die Gastronomie in hohem Maße (vgl. dazu auch den Beitrag von Blechschmidt in diesem Band).

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Vgl. https://www.lawaetz.de/meldung/ankauf-der-roten-flora-durch-die-lawaetz-sti ftung/ (Zugriff 29.10.2022). Inoffiziell wird diese auch als Achidi-John-Platz nach einem im Dezember 2001 durch einen erzwungenen Brechmitteleinsatz gestorbenen, mutmaßlichen Dealer genannt. Ein Banner an der Fassade macht darauf aufmerksam (vgl. https://www.rote-flora.de/ geschichte/; Zugriff 21.10.2022).

Streifzüge durch die Sternschanze

Frieda Runge beschreibt in ihren Erinnerungen an die Kindheit von 1925 bis 1933 das Schulterblatt und die Eimsbütteler Chaussee mit den zahlreichen Läden, Kaufhäuser, Kinos und Vergnügungsstätten als Nerv des geschäftigen Lebens außerhalb der Altonaer und Hamburger Innenstadtbereiche. Hier konnte man flanieren, sich vergnügen und man lebte wie in einer Kleinstadt (vgl. Runge 1994: 118–127). Heute flanieren die Partygäste mit verschiedenen Stopps zum Cornern vom Schulterblatt über den Grünen Jäger und durch die Wohlwillstraße in Richtung Reeperbahn-Kiez.

Der öffentliche Raum – zwischen ankommen, sich verabreden und erholen Von 1863 bis 1865 entstand auf der abgetragenen Schanze der 12ha große Sternschanzenpark (vgl. Hanke 1997: 254). Dieser war in seiner Zeit wohl der einzige Park in der Stadt, der nicht den Anspruch erhob, ein Kunstwerk zu sein. Er kann wegen seiner schlichten, pragmatischen Gestaltung auch heute noch von einer breiten Bevölkerung genutzt werden. Ähnliche Grünanlagen entstanden zu der Zeit in englischen Vorstadt- und Arbeiterquartieren. Von 1907 bis 1910 wurde anstelle der Schanze ein monumentaler Wasserturm im Park gebaut, der bis 1961 als solcher genutzt wurde und heute ein Hotel beherbergt. Für den Wasserturm und drei weitere Wassertürme in der Stadt Hamburg wurde im Oktober 1906 ein reichsweiter Architekturwettbewerb ausgeschrieben, wobei besonders das Projekt der Sternschanze auf große Resonanz stieß. Von 135 Einsendungen wurde der Entwurf des Drittplatzierten von Willhelm Schwarz realisiert. Lange beschreibt in seinem Architekturführer das Bauwerk als behäbig und empfindet es mit der umlaufenden Galerie und der geschweiften Dachhaube wie einen überdimensional wirkenden Wachtturm (vgl. Lange 1995: 116). Vielleicht ist dies noch eine Reminiszenz an die Funktion der ehemaligen Sternschanze. Auf dem Weg zur Revitalisierung des Wasserturms durch die heutige Hotelkette Mövenpick hat es viele sehr unterschiedliche Protestbewegungen gegen die Privatisierung und aus Angst davor gegeben, der Park könne infolge der Umnutzung seine öffentliche Zugänglichkeit verlieren. Bemerkenswert ist hier eine gewonnene Klage gegen das Verwaltungsgericht und jene zwischen dem Bezirksamt und der Patrizia AG (Mövenpick) im Jahr 1995 getroffene Vereinbarung über eine Ausgleichszahlung in Höhe von 1 Million Euro für Stadt-

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teilprojekte (vgl. Briegleb 2007: 119).15 Gerd Siebecke (2012: 13) spricht von einer »Wasserturm-Schweigemillion«. Der Schanzenpark ist heute nach wie vor die wichtigste und größte Grünfläche im Stadtteil. Grundsätzlich ist das verdichtete Viertel mit nutzbarem Grün stark unterversorgt.16 Ein weiteres Beispiel für eine erfolgreiche Intervention der Bewohnerinnen gegen die städtische Planung auf dem Floragelände, welche eine flächendeckende Bebauung mit 114 Sozialwohnungen vorsah, war 1990 das Flora-Park-Projekt. Eine Gruppe von Aktivistinnen hat ohne Fördergelder eine Planung eines Parks entwickelt. Als Kompromiss entstand eine Randbebauung für 41 Wohnungen und ein begrünter Spielplatz.17 Auch der BaSchu, ein im Hinterhof entstandener Spielplatz mit pädagogischer Betreuung zwischen Bartelsstraße und Schulterblatt, wurde im Jahr 1997 in Kooperation mit der steg18 und engagierten Eltern und interessierten Anwohnerinnen entwickelt (vgl. Kayser 2009: 6). In unmittelbarer Nähe zum Schanzenpark befindet sich der Bahnhof Sternschanze, der heute als U- und S-Bahnhof fungiert. Der ehemalige Fernbahnhof wurde im Rahmen der Neuordnung der Hamburger Bahnanlagen im

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Begünstigte waren: SC Sternschanze e.V. – Neubau Kleinspielfeld und Vereinshaus (350.000 €); Kunststücke e.V. – Umbau des Rundbunkers in eine Stadtteil-Galerie (350.000 €); Bunte Kuh e.V. – Baukunstaktionen mit Lehm, Wasser, Feuer (70.000 €); Bajazzo e.V. – Hamburger Zeltfestival 2005–2008 (68.000 €); Veranstalterkreis Schanzenspiele 2005–2008 (20.000 €); NaSchEi-Agentur – Sendereihe über Historie und Situation von Wasserturm und Park (19.000 €); Multikulturelle Bühne e.V. – Herbst-Theater-Spiele (17.600 €); BaSchu e.V. – Erweiterung des Spielplatzes (6.600 €); Mädchenoase Dolle Deerns e.V.– Mädchen im Schanzenpark (5.400 €); Kai Teschner – Akrobatikund Theaterprojekt (3.400 €) (vgl. Petersen 2005: 3). Lt. Richtwert Landschaftsprogramm, Erläuterungsbericht 1997 gelten folgende Werte: Wohnungsnahe Parkanlagen im Radius von bis zu 500 m = 6 qm/EW., Mindestgröße 1 ha. In dem Programm sind auch weitere Parkanlagen in größerer Entfernung sowie Spielplätze geregelt. Der Schanzenpark gilt als siedlungsnah, bis zu 1.000 m Entfernung, ein wohnungsnaher (öffentlicher) Park existiert nicht. Der Florapark ist als Spielplatz ausgewiesen (vgl. Hamburger Stadtentwicklungsbehörde 1997: 187). Zahlen entnommen aus: Geschichte der Roten Flora; der https://www.rote-flora.de/g eschichte/ (Zugriff 28.10.2022). Die steg ist die Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft Hamburg mbH. Die Hauptgeschäftsstelle ist in der Sternschanze am Schulterblatt.

Streifzüge durch die Sternschanze

Jahr 1903 eröffnet.19 Eine gewölbte Stahlträgerhalle mit Glaseinsätzen ähnlich dem Bahnhof Hamburg-Dammtor überspannte die Gleise (siehe Abbildung 5).

Abbildung 5: Bahnhof Sternschanze – Abriss 1970er Jahre (Postkarte 1905)

Quelle: https://www.skyscrapercity.com/threads/das-alte-hamburg-fotos-postkarten-hi storische-geb%C3%A4ude-bildvergleiche-album.852736/page-2 (Zugriff 28.10.2022)

Bis in die 1970er Jahre war die »Zugangs- und Bahnsteigsituation unverändert, zuletzt machte der Bahnhof einen recht finsteren Eindruck«, so ist im Web-Archiv zu lesen.20 Im Februar/März 1975 wurde die mit dem Bahnhof Dammtor vergleichbare prächtige Bahnsteighalle abgerissen, trotz erheblicher Gegenmeinungen, vor allem aus Kreisen der Denkmalschützenden. Als Begründung seitens der Deutschen Bahn hieß es damals, dass der laufende Unterhalt eines einfachen Bahnsteigdachs wesentlich billiger sei, als der Unterhalt der Stahl/Glashalle von 1903. Außerdem, so argumentierte die Bundesbahn, sei der Erhalt eines ›Jugendstilbahnhofs‹ in Hamburg, gemeint

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Vgl. https://web.archive.org/web/20170609023305/http://hamburger-untergrundbah n.de/met-hh-sz.htm (Zugriff 28.10.2022). Ebd.

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war Dammtor-Bahnhof, völlig ausreichend.21 Dass solche Begründungen aus heutiger Sicht unhaltbar sind und für Unmut bei der Bevölkerung gesorgt haben, ist nachvollziehbar. In den letzten Jahren versuchte die Deutsche Bahn mit Graffiti und StreetArt von WON ABC sowie mit einem mit Pop-Art verziertem Fenster im Eingangsbereich von Kitzig Interior Design aus dem Jahr 2018 dem ›MultiKulti-Charakter des Stadtteils‹ aufzugreifen, um damit identitätsstiftend zu agieren, jedoch konnten diese Bemühungen nicht den Stellenwert eines Jugendstilbahnhofs erzielen. Die Fenstergestaltung rief beim Vorbeigehen ein leichtes Lächeln hervor, ein Herz und eine junge Frau mit rotem Bubikopf und Herzchenbrille in der Mittelachse des Fensterbildes überzeugten nicht. Farbbeutelabdrucke (siehe Abbildung 6 links) und im Oktober 2022 dann der Austausch der bunten Gläser durch Klarglasscheiben, sprechen für sich. Touristinnen hingegen mögen diese Bilder zum Feiern eingeladen haben.22 (Vgl. dazu den Beitrag von Möllgaard in diesem Band)

Abbildung 6: Links Fensterdekor, das eine Adaption an Jugendstilornamente sein sollte; rechts neues Verwaltungsgebäude der Deutschen Bahn

Quelle: Eigene Aufnahmen, 2022

An der Stelle des alten Bahnhofs steht heute das futuristisch anmutende Verwaltungsgebäude der Deutschen Bahn (siehe Abbildung 6 rechts). Die Gruppe MDK aus Köln realisierte von 2001 bis 2004 ein ca. 250 m langes parallel 21 22

Ebd. Vgl. https://s-bahn.hamburg/magazin/s-bahn/stationsgeschichten/bunte-verschoen erungen-stationen-werden-modernisiert.html (Zugriff 05.12.2022).

Streifzüge durch die Sternschanze

zu den Gleisen auf Stelzen gestelltes und mit Aluminium verkleidetes Gebäude. Ähnlich einem ICE verkörpert es Geschwindigkeit und Modernität jedoch nicht die angestrebte Leichtigkeit und Transparenz. Dies auch wohl deshalb nicht, weil das gesamte Gelände hermetisch eingezäunt ist. Das Thema Bahnhofsneubau ist auch derzeit ein aktuelles Thema in der Sternschanze, gemeint ist die Verlegung des Bahnhof Altona nach Diebsteich in den Stadtteil Altona Nord mit dem Ziel, dort einen Durchgangsbahnhof zu schaffen. Diese Verlegung führt zu einer Abwertung des heutigen Sackbahnhofes Altona an zentraler Stelle, an der auch verschiedene S-Bahntrassen verlaufen. Im Zuge dieser Baumaßnahme soll unter anderem die Sternbrücke, ein Kulturdenkmal aus dem Jahr 1893, am Kreuzungspunkt der Stadtteile Altona Nord, Altona Altstadt und Sternschanze und angrenzende Häuser abgerissen werden. Auch mehrere legendäre Sternbrückenclubs und der Central Park werden dann wegen der neuen Baulichkeiten Geschichte sein. In der Fachzeitschrift Bauwelt ist unter dem Titel »Mit dem Brecheisen durch Hamburg« von Claas Gefroi etwas melancholisch zu lesen: »Dies ist ein Ort wie kein Zweiter. Allein die »Astra Stube23 «, in einem der Brückenwiderlager direkt an der Kreuzung gelegen, bietet ein unvergleichliches, verdichtetes Metropolenerlebnis, eine Symphonie der Großstadt: Vor dem großen Schaufenster flanieren Nachtschwärmer, Fahrzeuge rauschen in nur wenigen Metern Abstand vorbei und alle paar Minuten donnern Fernzüge und S-Bahnen über Bands und Gäste hinweg.« (Gefroi 2020: 13) Der Entwurf ist umstritten. Die Bewohnerinnen müssen sich auf langjährige Störungen im Bahnbetrieb und auf Lärmbelästigungen während der Bauphase einstellen. Eine Initiative für einen stadtteilfreundlicheren Brückenentwurf unter Beteiligung der Anwohnerinnen versucht gegen die aktuelle Strategie der Bahn AG vorzugehen.24

Wohnen und Arbeiten – ein Blick in die Seitenstraßen Die Bebauung am Schulterblatt, der ›Hauptflaniermeile der Sternschanze‹, war bis Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen. Die letzte

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Die Astrastube liegt im Stadtteil Sternschanze. Vgl. hierzu die Sternbrückenini; https://initiativesternbruecke.org/ (Zugriff 19.12.22).

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große Lücke wurde 1930 mit der Fertigstellung des Boardinghouse des Westens am Schulterblatt 24–36 geschlossen. Die Architekten Klophaus, Schoch, zu Putlitz haben es 1928 als Bürohaus geplant, jedoch 1930/31 als komfortables Wohnheim mit hotelartigem Service für Künstlerinnen und Artistinnen fertiggestellt. 1933 erfolgte die Umwandlung in ein normales Mietshaus. Das ungewöhnliche Motiv des turmartigen Erkers ergab sich aus der spitzwinkligen Form des Grundstücks, das der Grenze zwischen Hamburg und Altona folgte. Die für ein Wohnhaus untypische Architektur ist das Ergebnis mehrerer Umplanungen infolge der Weltwirtschaftskrise (vgl. Lange 2008: 79f.). Mit dem Ausbau wandelte sich das Schulterblatt auch zur Geschäftsstraße, die Erdgeschosse waren weitgehend Läden vorbehalten, die darüber liegenden Etagen zumeist mit großbürgerlichen Wohnungen belegt. In den Hinterhöfen siedelte sich Gewerbe an, vielfach waren sie mit Arbeiterquartieren, Wohnhöfen und so genannten Terrassen (hinter einem Vorderhaus quer zur Straßenachse verlaufende, zweiseitige Häuserriegel) bebaut. Diese brachten zwar durch separate Küchen, Etagentoiletten und belichtete Treppenhäuser einen gewissen Fortschritt in der Hygiene mit sich, standen dennoch durch die Enge und Dichte der Anlagen in der Tradition der Gängeviertel25 (siehe Abbildung 7). Ab Aufhebung der Torsperre 1860/6126 und Einführung der Gewerbefreiheit (1884) entstanden aufgrund der Wohnungsnot die in Hamburg so bezeichneten Terrassen und Passagen in der lokaltypischen Tradition der vorindustriellen Wohnhöfe und Wohngänge Hamburgs (vgl. Haspel 1987: 10, 47). Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden so verdichtete Hinterhauskomplexe erstellt. Passagen stellen häufig Verbindungswege zwischen zwei Straßen dar, während Terrassen oft über einen Torweg erschlossen wurden und als Wohn-

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Als Gängeviertel wurden in Hamburg mehrere besonders eng bebaute Wohnquartiere bezeichnet. Die Bezeichnung als ›Gängeviertel‹ beruhte darauf, dass die Wohnungen oft nur durch schmale Gassen, zum Teil verwinkelte oder labyrinthartige Hinterhöfe, Torwege und die namensgebenden Gänge zwischen den Häusern zu erreichen waren. In den Vierteln wohnten meist mittlere und ärmere Bevölkerungsschichten, zudem war oft kleinteiliges Gewerbe hier ansässig (vgl. Wikipedia ›Gängeviertel‹). »Mit Torsperre wurde in Hamburg die abendliche und nächtliche Öffnung der Stadttore gegen Zahlung einer Gebühr bezeichnet. Sie löste ab 1798 schrittweise den Torschluss ab, das vollständige Schließen der Tore bei Sonnenuntergang. Ende 1860 wurde die Torsperre aufgehoben.« Damit der war der Zugang z.B. der Altonaer Stadtbevölkerung zum Hamburger Stadtgebiet limitiert (vgl. https://dewiki.de/Lexikon/Torsperre_ (Hamburg); Zugriff 05.12.2022).

Streifzüge durch die Sternschanze

und Sackgassen enden. Teilweise gibt es kleine Vorgärten, Kräuter- und Gemüsegärten. Die Gebäude haben in der Regel maximal drei Stockwerke und sind nicht unterkellert. Dort finden sich bis zu 50 qm große, familiengerechte, abgeschlossene Kleinwohnungen, aber auch Gewerbe. Diese Hinterhäuser unterlagen insbesondere bzgl. der Wohnungsgröße ab 1882 den Regeln des Baupolizeigesetzes. Bei den Vorderhäusern wurde lediglich die Gebäudehöhe, jedoch nicht die Wohnungsgröße geregelt (vgl. ebd.: 113). Während diese größeren und komfortableren Etagenhäuser an der Straße gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits über Bäder verfügten, hatten die Hinterhäuser ab 1871/75 mit dem Anschluss an das sogenannte, durch Lindley entworfene Sielnetz (Kanalisation) immerhin Schüttsteine und Wasserklosetts, welche oft nur über die Küche erreichbar waren (vgl. ebd.: 96–100). Die Stadtbautheoretikerinnen kritisierten zunehmend die enge und schlecht beleuchtete Hinterhofbebauung, zum einen wegen wohnungshygienischer Bedenken (z.B. ›Schlafgänger‹), zum andern aber auch aus kommunikationstheoretischen Erwägungen (vgl. ebd.: 153), die Bevölkerung der Kleinwohnungen war sozialräumlich gut vernetzt (vgl. ebd.: 132f.).

Abbildung 7: Beengte Hofsituation zwischen Schulterblatt und Schanzenstraße

Quelle: Eigene Aufnahmen, 2022

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Die Terrassen und Wohnhöfe an der Sternstraße 7–29, wohl alle zwischen 1865 und 67 entstanden, sind wichtige Dokumente der Erschließung St. Paulis nach Aufhebung der Torsperre. Dabei ist besonders die Zollischeck-Terrasse hervorzuheben (benannt nach ihrem Erbauer), die trotz des eingebüßten Vorderhauses mit nach außen aufschlagenden Fenstern, ehemaligen Gaslaternen und den in Dreiergruppen angeordneten Eingangstüren noch weitgehend den Zustand der Erbauungszeit erkennen lässt (siehe Abbildung 8), so wie sie ursprünglich für die Sahlhäuser der ›Gängeviertel‹ typisch waren (vgl. Lange 1995: 93f.). D.h. auch hier verfügen die beiden Erdgeschosswohnungen über einen eigenen Eingang, während die mittlere Tür in die Obergeschosse führt. Dieses Motiv wurde von dem Architekturbüro Markovic, Ronai, Lütjen, Vos 1989 für eine Neubebauung in einem entkernten Hof im Sanierungsgebiet Schulterblatt aufgegriffen. Dort wurden gestaffelte Reihenhäuser, die jeweils zweigeschossig und separat erschlossen wurden, realisiert. Auch hier verfügt jede Erdgeschosswohnung über einen eigenen Eingang und die mittlere Tür erschließt das Obergeschoß. An dieser Stelle wurde sozialer Wohnungsbau realisiert. Die komplexe Ausgangssituation bestand aus zwei vorhandenen Gewerbebauten – einer aus den 1880er Jahren, einer mit der Waschbetonoptik der 1970er – und drei gründerzeitlichen Geschosswohnungsbauten, die ein amorphes und ungeordnetes Ensemble bildeten; der Hof wurde zudem von einem Autohändler als Abstellplatz genutzt (vgl. ebd. 1995: 94f.).

Abbildung 8: 3-Türen Hauserschließung: Zollischeck-Terrasse 1860er Baujahre – Hofbebauung Lippmanstraße 1970er Baujahre

Quelle: Eigene Aufnahmen, 2022

Streifzüge durch die Sternschanze

Die Zollischeck-Terrasse wird von Besucherinnen oft aufgesucht, da die begrünte Terrasse besonders ansprechend und wohnlich wirkt. Der kollektiv gestaltete Außenraum bzw. Erschließungsweg suggeriert eine harmonische Wohngemeinschaft. Hinweisschilder betonen, dass ein Besichtigen unerwünscht und der Zutritt zur Terrasse verboten ist (siehe Abbildung 9). Ähnliche Hinweise ›Wir sind kein Zoo‹, ›Accept your neighbor‹, ›Move your ass and feel the beat‹ finden sich in den Wohnblöcken Schulterblatt Schanzenstraße, durch die sich die Palisade zieht. Blicke in die Seitenstraßen, den Wohnstraßen, und in die vielen Hinterhöfe, zeigen die Attraktivität des Wohnstandortes Sternschanze. Für Touristinnen gibt es viel Überraschendes neben der Flaniermeile Schulterblatt zu entdecken, doch die dort lebende Bevölkerung fühlt sich unter dem Andrang beeinträchtigt und fordert Respekt gegenüber der privaten Wohnsituation.

Abbildung 9: Zollischeck-Terrasse – Eintritt verboten!

Quelle: Eigene Aufnahme, 2022

Parallel zur Zollischeck-Terrasse verläuft die Beckpassage aus dem Baujahr 1898/99 (Architekt unbekannt). Diese dreigeschossigen Gebäude mit geringem Abstand zur gegenüberliegenden Straßenseite zeigen eine, durch Backstein-

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zierde in der Fassade betonte Geschossgliederung. Am Anfang der Passage gibt es zwei Etagenwohnhäuser mit neobarockem Stuck. Lange schreibt: »Die Beckstraße [wurde] 1869 von der Sternstraße aus als privater Stichweg in das Blockinnere angelegt und 1898 zum Neuen Pferdemarkt verlängert, weist zwar den typischen Querschnitt einer Terrasse auf, die Einmündungen durften aufgrund des Bebauungsplangesetzes von 1892 jedoch nicht mehr überbaut werden […]. Bemerkenswert ist die repräsentative Architektur der Bauten, an denen sich das dialektische Verhältnis von Vorder- und Rückseite ablesen lässt: Zeigen die Etagenwohnungen am Neuen Pferdemarkt ›herrschaftlichen‹ Stuckdekor in opulenter wilhelminischer Neorenaissance, so bescheidet sich die rückwärtige Bebauung an der Beckstraße mit Backsteingliederungen« (Lange 1995: 94). Die Häuser Beckstraße 2 und 4 sowie 7 bis 21 sind in der Hamburger Denkmalliste als Kulturdenkmäler eingetragen.27 Parallel dazu verläuft die Augustenpassage, die um 1870 von Unbekannt geplant wurde, im Jahr 1988 umgebaut und 1991–93 von den Architektinnen Meyer + Fleckenstein modernisiert wurde. Die heutige Augustenpassage hat auf der südlichen Seite einen durchgehenden, einheitlichen, vier- bis fünfstöckigen Wohngebäudeblock mit neun Einzel-Wohnungsaufgängen. Jeder Abschnitt besitzt jeweils einen Treppenaufgang und beiderseits davon einen Treppen-Niedergang zu jeweils einer Souterrain-Wohnung. Der ganze Gebäudekomplex steht unter Denkmalschutz.28 Diese drei sehr unterschiedlich gestalteten Terrassen/Passagen-Häuser in unmittelbarer räumlicher Nähe (siehe Abbildung 10) bilden durch ihre Fassadengestaltungen, Erschließungen und Außenraumbegrünung ein einzigartiges baukulturelles Ensemble. Die kleinen Wohnungen, die enge Nachbarschaft, erfordern von den Bewohnerinnen ein tolerantes Miteinander, da keine räumliche und akustische Abgrenzung möglich ist. Insgesamt wurden in dem im Stadtteil Sternschanze liegenden Teil des Sanierungsgebietes insgesamt 185 neue Sozialwohnungen erstellt sowie 294 Wohnungen öffentlich gefördert, instandgesetzt und modernisiert. Die Sternstraße wurde in verschiedenen Bauabschnitten zwischen 1998 und 2006 umge-

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Vgl. Denkmalliste Hamburg Altona, S. 107f. https://www.hamburg.de/contentblob/39 47926/ae0f91fc4859892c45a67c41e27c9afb/data/denkmalliste-altona.pdf (Zugriff 29. 10.2022). Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Augustenpassage (Zugriff 10.10.2022).

Streifzüge durch die Sternschanze

baut und verkehrsberuhigt. Der Spielplatz an der Beckstraße wurde als letztes Projekt in 2012 mit Städtebaumitteln erneuert. Und auch freifinanziert wurden Wohnungen instandgesetzt und modernisiert sowie neue Gewerberäume geschaffen (vgl. Kayser 2012: 12).

Abbildung 10: Zollischeck-Terrasse, Beckstraße und Augustenpassage mit Hagenbecks Tierpark (um 1900; eigene Ergänzungen)29

Quelle: Von C. Adler. https://www.christian-terstegge.de/hamburg/karten_hamburg/file s/1900_hamburg_altona_wandsbek_umgebung_300dpi.jpeg, Gemeinfrei, https://comm ons.wikimedia.org/w/index.php?curid=67124629 (Zugriff 10.10.2022)

Der Schanzenhof, besser als Montblanc-Haus bekannt, ursprünglich von Claus Meyer im Jahr 1907 als Fabrik für Armaturen und sanitäre Einrichtungen gebaut, wechselte erst später an den renommierten Hersteller von Schreibgeräten. Beherrschendes Motiv sind die Skelettfassaden der straßenseitigen Trakte, die die beiden Innenhöfe mit dem Ursprungsbau von 1897 abschirmen. Nicht nur der Verwaltungsbau an der Schanzenstraße ordnet sich seiner kraftvollen Pfeilerstruktur dem Kontorhausschema unter, auch das Produktionsgebäude an der Bartelsstraße zeigt ein gleichmäßiges Raster aus Stützen 29

Die schwarz gestrichelte Linie in der Mitte der Karte zeigt den Grenzverlauf zwischen Hamburg und Altona.

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und Brüstungen. Weder historisierende Reminiszenzen noch gefällige Gliederungsmotive verwischen hier die kompromisslose ›Gerippearchitektur‹ (vgl. Lange 2008: 79). 1989 bis 1992 wurde der Komplex zu einem Zentrum für Stadtteilinitiativen mit Kino, Hotel und Gastronomiebetrieb umgebaut (Architekten Planerkollektiv). Auch der renommierte Pianohersteller Steinway & Sons gründete 1880 seine erste Fabrik in der Schanzenstraße, dieses Gebäude wurde im Krieg zerstört. 1923 und 1928 errichtete das Unternehmen eine neue, größere Fabrik in Hamburg-Bahrenfeld (vgl. Siebecke 2012: 33f.). Der bemerkenswerte Gewerbekomplex der ehemaligen Piano-MechanikenFabrik Isermann aus dem Jahr 1873/74 am Schulterblatt 58 steht heute unter Denkmalschutz. Der Architekt war C.E. Herrmann, aufgestockt wurde diese um 1909 von Richard Jacobssen und im Jahr 1994–98 wurde sie umgebaut und saniert von Kay Clasen und Martina Coldewey (vgl. Lange 2008: 80). Das seit ca. 150 Jahren existierende Pianohaus Trübger, welches heute in vierter Generation von Yvonne Trübger in der Schanzenstraße 117 geführt wird, befindet sich noch an altem Standort. Anfang 2006 wurde das Pianohaus modernisiert und um einige hundert Quadratmeter Ausstellungsfläche erweitert.30 Dieses ist eines von mehreren, alteingesessenen Gewerbe, die dem Stadtteil ein stückweit alltägliche Lebenskultur verleihen. Neu hat sich im Viertel die Kreativwirtschaft etabliert. Die steg hat diesen Trend aufgegriffen und mit der Neugründung des betahauses in der Eifflerstraße im Jahr 2014 als Coworking Space für ca. 450 Coworkerinnen viele Start-ups angelockt. Zwei Masterstudierende der Leuphana Universität, Anna Fahr und Patricia da Costa, besuchten im Jahr 2018 das betahaus und führten mit der Geschäftsführerin Julia Oertel ein Interview im Rahmen einer Forschungsarbeit zum Kreativstandort Sternschanze. Sie beschreiben die Räumlichkeiten im betahaus wie folgt: »Hohe Decken, heller Sichtbeton, dazwischen Vintage-Sessel aus den 50er Jahren, bunte Stapelstühle, Sitzecken und lange Tischreihen. Eine weitläufige Fensterfront wirft viel Licht auf die zahlreichen Arbeitsplätze, nur wenige davon sind noch frei. Konzentriert brüten Menschen unterschiedlichen Alters über ihren Laptops, einige unterhalten sich angeregt. Untermalt wird die Geräuschkulisse des Cafébetriebs durch leise elektronische Klänge. […]

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Vgl. https://www.pianohaus-truebger.de/das-pianohaus/historie/?lang=de (Zugriff 5.12. 2022).

Streifzüge durch die Sternschanze

Das Café im Erdgeschoss dient zugleich als Empfangsbereich für Coworker und Geschäftspartner.« (Da Costa/Fahr 2018: 4) Das betahaus legt laut Oertel großen Wert darauf, Möglichkeiten zu schaffen, damit die im Haus arbeitenden Menschen sich begegnen und austauschen können. Im Rahmen des Community-Managements finden wöchentliche Networking-Events, wie das betabreakfast oder der betalunch statt. Diese bieten den Coworkerinnen die Chance, ungezwungen ins Gespräch zu kommen und Netzwerke zu vertiefen. Dementsprechend sei es dem betahaus sehr wichtig, dass die Nutzerinnen bereit sind, sich einzubringen und ihr spezifisches Wissen weiterzugeben. Zur Finanzierung führt sie aus, dass die günstigen Mieten für die Coworkerinnen nur durch Events quer zu finanzieren sind. Große Unternehmen organisieren hier z.B. ihre Strategieworkshops, um sich von dieser »Begeisterung, diesem Geist und diesem Feenstaub« (Da Costa/Fahr 2018: 2), den man immer in dieser Start-up-Szene vermutet, inspirieren zu lassen. Dem Soziologen Pierre Bourdieu (1992) folgend hängt die Position einer Person im sozialen Raum davon ab, über wie viel und welche Art Kapital sie verfügt. Dabei unterscheidet Bourdieu soziales Kapital (Netzwerke im Sinne sozialer Beziehungen, Mitgliedschaften, Zugehörigkeit zu einer angesehenen Familie oder Bildungsinstitution), kulturelles Kapital (kulturelles Wissen und Fähigkeiten, schulisch und familiär weitergegebene Bildung), ökonomisches Kapital (Geld und materieller Besitz) und symbolisches Kapital (Ansehen, Prestige) (vgl. Lange/Wellmann 2009: 148). Die Verdichtung von sozialem und kulturellem Kapital an einem Ort wie dem betahaus schafft für die Akteurinnen somit einen strategischen Mehrwert und erhöht das sog. symbolische Kapital. Der Soziologe Jens Dangschat beschreibt das Schanzenviertel der 1980er Jahre als vernachlässigt (1989: 76–83). Durch die Aufhebung der Stellplatzanlage für die Erweiterung der Außengastronomie (Piazza), die Schließung des Schlachthofs und die Verlagerung der Folgebetriebe wie z.B. Fa. Laue sowie den Wegzug der Firma Montblanc erhielt das Viertel ein neues Image. Dieses trug zur Umwandlung des Stadtteils bei, indem sich neue innenstadtnahe Nutzungsmöglichkeiten boten. Die ›Kneipenszene‹ dehnte sich aus und Modegeschäfte folgten. Aufgrund der steigenden Preise zogen weniger finanzkräftige Bevölkerungsschichten weg. In die ehemaligen freigewordenen Gewerbeeinheiten konnten die sogenannten ›Pioniere‹ die Nischen besetzen. »Eine Individualisierung bedeutet auch einen Anspruch darauf, das jeweilige soziale Umfeld nach aktueller Befindlichkeit wechseln zu können. Soziale

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Nähe, aber auch Anonymität ist in heterogenen innenstadtnahen Vierteln am ehesten gegeben.« (ebd. 1989: 79). Diese verstärkte Nachfrage auch nach innenstadtnahem Wohnraum hält bis heute an (vgl. dazu den Beitrag von Pries in diesem Band).

Fazit Das besondere Flair der Sternschanze setzt sich aus vielen historischen und auch gewärtigen Geschichten zusammen. Genaues Hinsehen und Hinterfragen wirft viele Fragen auf und weckt Interesse, sich mit dem Stadtteil im Detail zu beschäftigen, der sich steten Veränderungen gegenübersteht. Noch immer gibt es Nachverdichtungspotenzial durch Abriss zweigeschossiger Häuser, z.B. in der Schanzenstrasse, in der Juliusstraße 25 oder von Gebäudekomplexen in der Ludwigstraße/Ecke Sternstraße, trotz der bereits hohen Dichte. Verschiedene Fragmente wie beispielsweise Grenzsteine im Pflaster, Altonaer und Hamburger Wappen im Stadtraum oder auch der Kontrollgang in der Palisade erinnern an die historische Grenze zwischen Altona und Hamburg. Dieser Stadtteil wird als Grenzzone wahrgenommen, wo Menschen einander begegnen und die Möglichkeit erhalten, an politischen Auseinandersetzungen teilzuhaben. Weiter mystifiziert die Rote Flora den Stadtteil. Viele kennen von ihr nur die Fassade; jedoch ist auf assoziativer und kognitiver Ebene das Gebäude Symbol für Protestbewegungen linksautonomer Gruppierungen. Entfernen wir uns vom Schulterblatt, glauben wir, das ›echte Gesicht‹ der Sternschanze zu erblicken. Hier wird gewohnt und gearbeitet und wir erhalten einen Einblick in das Alltagsleben der Schanzianerinnen. In gewisser Weise wird ein Blick in die von Erving Goffman beschriebene Hinterbühne ermöglicht. Die Dichotomie von Vorder- und Hinterbühne ist nach Goffman eine sozialgesellschaftliche Theorie, laut der der heutige Mensch über eine Vielzahl unterschiedlicher Rollen in verschiedenen sozialen Interaktionen und Situationen verfügt. Die Selbstdarstellung vollziehe sich auf unterschiedlichen Bühnen mit bestimmten Regeln, oftmals in einem geschlossenen Ensemble von Darstellerinnen, vor einem Publikum. Dabei fände grob gesagt eine Trennung statt in eine Vorderbühne, auf der die Aufführung stattfindet, und eine Hinterbühne, in der der Darsteller ›die Maske fallen lassen kann‹ (vgl. Goffman 2011: 23–30). Dean MacCannell wendet diese Dichotomie auf den Tourismus an, indem er die viel diskutierte These aufstellt, Touristinnen würden immer versuchen

Streifzüge durch die Sternschanze

»life as it is really lived« (MacCannell 1973: 592) zu erleben. Für viele bedeute dies, einen Blick auf die Hinterbühne zu erhalten und so das vermeintlich Echte, Unverstellte zu sehen. Dieses Angebot werde im Tourismus mittlerweile von vielen Organisationen angeboten, indem sie beispielsweise mit der Entdeckung abgelegener, unerwarteter und unkonventioneller Orte werben würden (vgl. ebd.: 594). Dabei würden scheinbare Hinterbühnen zur bewussten Manipulation genutzt, indem ein vermeintlicher Blick hinter die Kulissen ermöglicht werde. Dass es sich hier um organisiertes und keinesfalls wirklich ›reales Leben‹ handele, werde von vielen Touristinnen allerdings kaum hinterfragt. MacCannell führt für die Beschreibung dieses Phänomens den Begriff der staged authenticity ein, um damit die Struktur sozialer Settings zu bezeichnen (vgl. ebd.: 595f.). Eine interessante Erklärung für die Sehnsucht der Menschen nach Authentizität in der Freizeit bzw. im Urlaub liefert Larsen in seinem Beitrag »Ordinary tourism and extraordinary everyday life. Rethinking tourism and cities«, in dem er der Moderne vorwirft, etwas zerstört zu haben, weshalb die Menschen ihre Heimat verlassen, um nostalgische Orte wie z.B. in Deutschland Rothenburg auf der Tauber aufzusuchen, die als lebende Museen eine vermeintlich ›heile‹ Welt simulieren. Er verweist allerdings auch auf die Theorie des New Urban Tourism, in der hervorgehoben wird, dass aktuell das Authentische auch im gegenwärtigen Alltagsleben und in der Begegnung mit Bewohnerinnen explizit gesucht wird (vgl. Larsen 2019: 29). Genau dieser Trend ist in der Schanze schon seit Jahren zu beobachten und trifft, wie erwähnt, bei Bewohnerinnen auf Abneigung. Das Verhalten der Besucherinnen wird als übergriffig empfunden und befördert Abwehrverhalten. Offen ist, ob sich eine Reaktion der Diskretion im touristischen Verhalten einstellt. Fraglich ist auch, ob es die zeitgenössische Architektur vom funktionalen Architekturstil mit seinen Errungenschaften in der Hygiene und im Komfort hin zur Realisierung von lebenswerten Quartieren schafft. Die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung in Planungsprozessen wird als ein Weg in die Planung von identitätsstiftenden Quartieren gesehen. Im Unterschied zu einer touristischen Destination wie Venedig treffen Touristinnen in diesem Stadtteil auf Schanzianerinnen und zwar auf der Vorderbühne dem Schulterblatt als auch in den angrenzenden Wohnvierteln, den Hinterbühnen. Das Bemühen der Bewohnerinnen, diese Hinterbühne als Intimsphäre zu schützen, scheitert, trotz Schilder und Beschimpfungen. Betrachten wir den Raum als relationalen Raum im Sinne von Martina Löw, so ist die Schanze ein von den Bewohnerinnen produzierter Raum. Insbeson-

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dere nehmen die Bewohnerinnen permanent eine Kontrollfunktion gegenüber Investorinnen und der Behörde ein und schlussendlich auch gegenüber Besucherinnen. Die Überschrift in der Mopo im Oktober 22 zur Schließung der alteingesessenen, betreibergeführten Bar Saal II am Schulterblatt »Überlebenskampf im Ausgehviertel: Verliert die Schanze ihre Identität?« wirft diverse Fragen auf.31 Derzeit ist das Ausgehviertel nicht in einem monetären Überlebenskampf, im Gegenteil befördern explodierende Preise eine permanente Zu- und Abwanderung. Aber wie genau sieht die Identität aus? Wird Identität als permanenter Prozess definiert, dann sind Schließungen und Öffnungen normal. Auch hat der Stadtteil ein bemerkenswertes Wanderungsvolumen. Bereits in 2014 betraf dies 2.660 Menschen. Der Anteil an der Bevölkerung betrug 34 % und ist damit ungefähr doppelt so hoch wie das Wanderungsvolumen im Bezirk Altona (16,6 %; vgl. Fachamt Sozialraummanagement 2015/2017: 18). Mit 10 Jahren Wohndauer (Anteil 37 %) wurde bereits von »Stamm-Bewohnerschaft« gesprochen (ebd.: 44). Das heißt die Bewohnerschaft befindet sich im steten Wandel und so gesehen wundert es kaum, dass sich auch der Raum dynamisch verändert. Urbanität und Identität haben gemein, dass sie keine statischen Konstrukte sind. Die neue Kreativgesellschaft, wie sie beispielsweise im betahaus zu finden ist, identifiziert sich zwar mit der lokalen Bevölkerung, so Julia Oertel (vgl. Da Costa/Fahr 2018: 5), aber sie wird wahrscheinlich die Kontrollfunktion aufgrund des fehlenden historischen Bewusstseins nicht übernehmen und das Engagement nicht aufbringen (können).

Literatur Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: C.H.Beck. Blechschmidt, Andreas (1998): »Vom Gleichgewicht des Schreckens – Autonomer Kampf gegen Umstrukturierung«, in: StadtRat (Hg.), Umkämpfte Räume, Hamburg: Verlag Libertäre Assoziation, S. 83–101. Böhme, Gernot (1998): Anmutungen: über das Atmosphärische, Ostfildern vor Stuttgart: Ed. Tertium. Böhme, Gernot (2006): Architektur und Atmosphäre, München: Fink. Bourdieu, Pierre (1992): Rede und Antwort, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 31

Vgl. https://www.mopo.de/hamburg/verliert-die-schanze-ihre-identitaet/?reduced=t rue (Zugriff 27.10.2022).

Streifzüge durch die Sternschanze

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Touristifizierung von Räumen Karlheinz Wöhler

Einleitung Touristifizierung hat einen schlechten Ruf: Raumveränderungen, die durch touristische Raumnutzungen hervorgerufen werden, verdrängen Einheimische und mindern deren Lebensqualität, schädigen die Natur und verunmöglichen in Hotspots positive Reiseerlebnisse. Zu all dem gibt es Belege, die in der Regel im Kapital bzw. dem Neoliberalismus, in der Profitgier von Finanzinvestoren und in unachtsamen Reisenden die Verursacher dieser Touristifizierungsübel entdecken. Für viele ist damit alles über eine Touristifizierung gesagt. Gibt es denn in solch einer falschen Tourismuswelt kein richtiges Urlauben? Können wir der Macht des Reisens nicht widerstehen? Wohl kaum, höchstens vorübergehend. Wenn dem so ist, dann ist Touristifizierung, ein systemimmanenter Vorgang, der Freude, Wohlbefinden und Zufriedenheit, aber auch Ärgernisse und negative Effekte hervorruft. Nutznießer einer Inanspruchnahme von Räumen sind nicht nur Reisende, sondern auch eine Vielzahl von Unternehmen und die Politik. Beide verfestigen eine Touristifizierung und erweitern insofern die Zone der Touristifizierung, als sie z.B. die Sternschanze für tourismusgeeignet halten. Den Touristen wird die Sternschanze nicht zum Kauf angeboten. Sie können und wollen sie nur erleben. Bei ihrem Erleben sollen sie allerdings Geld ausgeben. Darüber freuen sich die hanseatische Politik und die Wirtschaft; genauer: dies ist ihr Touristifizierungsansinnen. Der Tourismus ist eben ein Geschäft.

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Karlheinz Wöhler

Tourismus als Wirtschaft Der Koalitionsvertrag der drei Ampelparteien vergisst unter der Rubrik Wirtschaft nicht den Tourismus. Im ersten Satz wird ihm dies zugeschrieben: »Der inländische Tourismus ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor mit großem Zukunftspotenzial, besonders im ländlichen Raum.« (SPD/Bündnis 90-Die Grünen/FDP 2021: 29) Diese beiden Metaphern –Tourismus als Wirtschaftsfaktor und Tourismus als großes Zukunftspotenzial – sind nicht dahingesagt. Sie offenbaren vielmehr ein dem Dispositiv ähnelndes Muster des Denkens, Wahrnehmens, Erkennens, Wissens, Orientierens und Handelns (vgl. Lakoff/ Johnson 1998: 11). Was den Tourismus ausmacht, was er bedeutet und was man über ihn erfahren kann bzw. welches Wissen man über ihn gewinnen kann (= Zielbereich), wird durch eine Übertragung auf die Sachverhalte ›wichtiger Wirtschaftsfaktor‹ und ›Zukunftspotenzial‹ (= Quellbereich) erschlossen (vgl. ebd.: 13). Die Korrelation dieser beiden Bereiche kennzeichnet ein metaphorisches Konzept. Im Folgenden werden vielfach metaphorische Konzepte verwendet, ohne sie jedoch fortlaufend zu markieren. Vom Tourismus als wichtigem Wirtschaftsfaktor im Kontext seines mithin enormen Beitrags für das Wohlergehen von Menschen, Unternehmen, Orten, Regionen und Ländern zu sprechen und ihn deshalb zu hegen und zu pflegen, hat eine Gewöhnung an die Wirtschaftsmetapher zur Folge: Die eigentliche Bedeutung des Tourismus wird in der Wirtschaft erkannt, zumal dies durch konkrete Erfahrungsbereiche des Tourismus als Arbeitsplatzbeschaffer und Steuern-/Abgabenlieferant – also durch kohärente untergeordnete Metaphern in einem Metaphernnetz (vgl. Drewer 2003) – verifiziert wird. Der Tourismus gilt als Inbegriff der Wirtschaft: Tourismus ist Wirtschaft; so wird er begriffen, dies ist seine Identität: Wirtschaft und nicht Politik, Recht oder gar Wissenschaft. Folgerichtig ist er im Wirtschaftsministerium des politischen Systems – als Tourismuspolitik – angesiedelt. Dieses stellt im Gegenzug für die Wertschöpfung des Tourismus z.B. Fördermittel, Zuschüsse und Infrastrukturen bereit. Das Politiksystem und das Wirtschaftssystem sind also strukturell gekoppelt (vgl. Luhmann 2000: 382–392.): Sie sind wechselseitig aufeinander angewiesen, ohne sich jedoch gegenseitig bestimmen zu können. Ein System ist dem anderen System Umwelt, die auf das jeweils andere nur durch Irritationen (Störungen) einwirken kann. Störungen wie etwa geringere Steuern/Abgaben seitens der Tourismuswirtschaft und Förderbeschränkungen durch die Politik irritieren. Irritationen (vgl. Luhmann 1997: 118) werden intern mit eigenen Möglichkeiten bzw. Elementen verarbeitet (= Autopoiesis;

Touristifizierung von Räumen

vgl. Luhmann 2015: 48–71), also als Selbstirritationen anlässlich von Umwelteinwirkungen. All dies impliziert, dass sich soziale Organisationen der beiden sozialen Systeme gegenseitig beobachten – soziale Organisationen wie z.B. die kommunale Finanzverwaltung (= Organisation des Politiksystems) oder die heimischen Gastronomieunternehmen (= Organisationen des Wirtschaftssystems). Da das Politik- und das Wirtschaftssystem wie auch andere soziale Systeme, z.B. die Wissenschaft oder das Recht, keine Adresse haben, bekommen sie mit sozialen Organisationen (Universitäten oder Gerichte) eine Anschrift. Durch Beobachtungen wird die Unterscheidung zwischen Selbstreferenz (Selbstbezug: Was tue ich, was kann ich mit meinen Mitteln/ Elementen tun, fragt z.B. ein Gastronom) und Fremdreferenz (Fremdbezug: Was erwartet etwa das Gewerbeamt; generell: Umwelt) aktualisiert. Tourismus als Wirtschaft steht jedoch bei aller kritisierenden Fremdreferenz nicht in Frage; er gilt als Wohlstandsgarant. Nicht zuletzt deshalb soll er laut Ampelkoalitionsvertrag nicht abgeschafft werden, aber er soll anders werden: nachhaltig, klimafreundlich, sozial gerecht und innovativ. Wieder neue Tourismusmetaphern. Ricoeur (1986: 262–272) sieht in einer begrifflichen Bedeutungskonstituierung, durch die eine Metapher vor lauter Gewöhnung – wie hier Tourismus als Wirtschaft – nicht mehr als Metapher erkannt wird, ein Verblassen der Metapher. Er spricht gar von einer »toten Metapher« (ebd.: 267). Sie kann jedoch nicht tot sein, wenn man sich an sie gewöhnt hat. Sie lebt – ganz nichtmetaphorisch – lexikalisiert als Tourismuswirtschaft, Tourismusindustrie, Reiseindustrie oder, wie im Ampel-Koalitionsvertrag verwendet, als Branche der Wirtschaft weiter. Die Ampelkoalitionäre hielten es für angebracht, »[n]ationale Naturlandschaften, UNESCO-Welterbestätten und UNESCO Global Geoparks [als] wichtige Bestandteile des deutschen Tourismus« hervorzuheben (SPD/Bündnis 90-Die Grünen/FDP 2021: 29). Es überrascht nicht, dass diese ›Bestandteile‹ längst mit dem Suffix ›Tourismus‹ versehen auf dem Markt sind und dort mit ihren Angeboten auf Resonanz hoffen. Dem Metaphernnetz wird eine weitere Metapher hinzugefügt: Tourismus als Markt, der über Preise und Zahlungen den Wirtschaftskreislauf konstituiert (vgl. Luhmann 2015: 17–22).

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Auf den Spuren der Touristifizierung Ein Reiseziel entsteht Indem nationalen Naturlandschaften, Welterbestätten, aber auch Städten oder Stadtteilen die Eigenschaft eines touristischen Produkts zugeschrieben wird und sie von den organisationalen Anbietern als touristische Attraktionen hervorgehoben werden, bleibt eine Marketingisation nicht aus. Am Tourismusmarkt treffen sie nicht nur auf potenzielle Nachfrage, sondern auch auf Konkurrenten; sie sind die interne Umwelt von Wirtschaftsorganisationen (vgl. Luhmann 2015: 31). Ihre fortwährende Aufgabe besteht darin – so die gängige Managementlehre – zumindest auf der Höhe der Konkurrenz zu sein. Noch besser sei es, sich mit einer Unterscheidung am Markt zu positionieren (vgl. statt vieler Backhaus/Schneider 2020: 54–79). Die Ressourcen für solch eine Selbständerung werden in der Umwelt nicht passgenau feilgeboten. Selbständerung fußt vielmehr auf Möglichkeiten eigener Ressourcen, die gegeben sind und/oder hervorgebracht werden. Mit ihnen will man am Markt punkten. Um sich am Tourismusmarkt positionieren zu können, treffen z.B. im Städtetourismus unterschiedliche Akteure diese ressourcenbildenden und Investitionskosten verursachenden Entscheidungen. Kommunale Tourismusorganisationen stehen dann u.a. vor der Aufgabe, Zielgruppen zu eruieren, Websites und Broschüren zu erstellen, eine Tourist-Info einzurichten, Mitarbeiter einzustellen sowie Kooperationen mit Gastronomie- und Unterkunftsbetrieben zu knüpfen, d.h. man setzt auf Synergieeffekte. Diese Beiträge zum Thema Städtetourismus sind fortan seine interdependenten, sprich wechselseitig abhängigen, gekoppelten Eigenelemente. Diese Eigenelemente sind nicht in einem Ruck etabliert worden, sondern sukzessive je nach Nachfrage etc. Damit stellt die Stadt ihre komplexe Leistungsbereitschaft her, um am Tourismusmarkt zu reüssieren. Auf sie – nur auf diese Eigenelemente – greift sie zurück, wenn sich die Umwelt wandelt bzw. wenn sie irritiert. Bei jedweder Tourismusart bildet sich solch ein mehr oder weniger umfassendes infrastrukturelles, interdependentes Leistungsbereitstellungsarsenal heraus und konfiguriert dabei einen relationalen Raum (vgl. Löw 2001: 158–161). Nach Laak (2018: 29) strukturieren Infrastrukturen das Verhalten und formen das Erleben und sind zudem »materielle Niederschläge sozialer und politischer Aushandlungen«.

Touristifizierung von Räumen

Das Vorfeld der Entscheidungen ist von Ideen, Erfahrungen, Bedeutungszuweisungen, behördlichen Auflagen, Zugeständnissen etc. geprägt. Letztendlich kommt man überein, was vom Stadtraum den Touristen präsentiert werden soll. So entsteht ein »gedoppeltes Objektverhältnis« (Luhmann 1997: 238) bzw. eine Realitätsverdopplung eines Raumes: Urbanität im Stadtraum und Urbanität im präsentierten Tourismusraum. Diese Verdopplung ist die Logik jedweder Touristifizierung. Der performativ-praktische Vollzug der Entscheidungen setzt eine Touristifizierung in Gang. Dieses Vollbringen zielt darauf ab, Räume in den Zustand ›Diese-Leistungsbereitstellungen-sindfür–Reisende-angebracht‹ zu bringen. Dies besagt, Räumen eine Struktur aufzuerlegen, sie für Touristen zu fertigen, sie zu touristifizieren (-fizieren kommt vom lat. facere: machen, anfertigen). Es entstehen Fabrikate, Touristifikate für den Markt. Sie stellen nicht nur eine wiederholte Nutzung sicher, sondern lenken das Handeln der Touristen in bestimmte Bahnen. Das Ergebnis einer Touristifizierung ist demnach eine Touristifikation, die nicht nur das Handeln steuert, sondern es zugleich ermöglicht (vgl. Giddens 1997: 78), wodurch aber auch eine Reflexion möglich wird: Der Stadtraum wird als super oder als langweilig empfunden. Durch die Inanspruchnahme des touristisch fabrizierten Stadtraumes reproduzieren Reisende die Touristifizierung. Indem sie sich in materielle (etwa Routen) und immaterielle (z.B. Erläuterungen der Guides) Elemente der Leistungsbereitstellung (beide sind interne Produktionsfaktoren) integrieren, sie quasi konsumieren, produzieren sie das am Tourismusmarkt kommunizierte Produkt ›Urbanität erleben‹. Besucher sind dessen externe Produktionsfaktoren; sie sind also Ko-Produzenten. Dieser Prozess der Einheit von Produzieren und Konsumieren wird ProSuming genannt (vgl. Häußermann/Siebel 1995: 141). Indem Touristen bereitgestellte Leistungen in Anspruch nehmen – sie also nicht kaufen! –, produzieren sie in diesem interaktiven Akt uno actu das, weswegen sie verreisen: Um etwa einen Sonnenuntergang oder einen Kiez als Teil der Urbanität zu erleben. Erleben umfasst zwar immer auch ein Kennenlernen (Kognition), doch der touristische Blick wird seitens der Tourismuswirtschaft durchweg so gestaltet, dass das adressierte Reiseziel als Raumerlebnis erscheint: ›Im Schanzenkiez erleben Sie eine Kreativszene‹ lautet dann z.B. ein Versprechen. Unabhängig davon durch welche analogen oder digitalen Informationen sowie deren Selektion sich Handlungsentwürfe (Erwartungen) vor der Abreise herausgebildet haben: An zeitweiligen Aufenthaltsorten konstituieren sich die Moments of Truth. In momentanen Zuständen zeigt sich, wie versprochene Erlebnisse ausgefallen sind und ob sich Erwartungen

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bestätigen. Dies ist die zweite Phase der Customer Journey (vgl. Lemon/Verhoef 2016: 74f.), die zwischen den Phasen vor und nach der Reise liegt. Wenngleich während der gesamten Customer Journey Erlebnisse gemacht werden, so sind doch jene am Aufenthaltsort prägend.

Reisende erhalten nur Erlebnisse Kracauer (1992: 121) konstatiert, dass sich »die Reise zum puren Raumerlebnis […] reduziert«. Diese entscheidende Funktion erfüllt sie »als räumliche Veränderung, als vorübergehende Vertauschung der Aufenthalte« (ebd.). Kehren Reisende von ihrem zeitweiligen Ausflug zurück, dann haben sie eine Tour – eine kreisförmige Bewegung, eine Rundreise – vollbracht. Die eine Tour vollbringenden Reisenden werden infolgedessen seit Anfang des 19. Jahrhunderts vermehrt als Touristen bezeichnet (vgl. Pfeifer 1997: 1442; im Folgendem werden Reisende und Erholungsurlauber mit Touristen gleichgesetzt). Während des vorübergehenden Aufenthalts befinden sie sich weder zu Hause noch in einem vertrauten Umfeld. Sie sind Grenzgänger in einem Dazwischen (vgl. Turner 2000: 95). In ihm sind sie fremd; sie müssen sich in ihm positionieren und dabei erleben sie postwendend das Fremde in unterschiedlichen Modalitäten: als begeisternd, schrecklich, erholsam, ungemütlich etc. Ihre Erlebnisse haben demnach eine Gestalt bzw. Form erhalten. Wen und welchen Dingen sie dort auch immer begegnen, es sind Möglichkeiten, die erst durch die Wirksamkeit dieser Form wirklich werden. Diese ›exzentrische Positionierung‹ zeichnet das Wesen des Menschseins aus, egal wo sich der Mensch als was gerade befindet (vgl. Plessner 1975: 288–293). Nach Dürckheim (2005) konstituieren sich Erlebnisse in der aktuellen Handlung selbst. Dabei werden »augenblicksbestimme Raumqualitäten und räumliche Bedeutsamkeiten« (ebd.: 90) und infolgedessen »aktuelle Raumbildungen« (ebd.: 90f.) erzeugt. Handeln im Dazwischen ist demzufolge ein pures Raumzeiterleben. Im Gegensatz zu Sachgütern wie z.B. einer Mütze, deren Qualitäten ohne einen Ortswechsel am Point of Sale oder Zuhause durch eine Amazon-Lieferung getestet, ausprobiert und angefasst werden können, ist die Reise ein intangibles, immaterielles und nicht lager- und transportierbares Erfahrungsgut. Dessen Qualitäten können erst an momentanen Points of Consumption in alltagsabgewandten Räumen erlebt werden, also dort in zeitweiligen materiellen und sozialen sowie nicht-menschlichen Bezügen. Zu Hause angekommen hat man – abgesehen von analogen und digitalen Erinnerungshilfen – lediglich erinnerte Erfahrungen/Erlebnisse im Kopf gelagert,

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sprich: im Bewusstsein, und dies besagt, dass reale Erfahrungen/Erlebnisse und Ereignisse im Bewusstsein eine innere Dauer erlangt haben (vgl. Nassehi 2008: 69). So und nicht umgekehrt. Das unmittelbare Erleben von Ereignissen hinterlässt Eindrücke, die als etwas Empfundenes im Bewusstsein aufgehoben werden. Beim Reisen sieht man sich dem Wetter, Menschen, nichtmenschlichen Lebewesen, Artefakten, Infrastrukturen und Ereignissen ausgesetzt; man hat Erfahrungen mit diesen Umwelten gemacht, man ist erfahren. Da man auf Umwelten – also Externes, das uns nicht selbst zugehörig ist – keinen Zugriff hat, bleibt das Eigenerlebnis, das uns darüber informiert, wie wir sie erfahren haben (vgl. de Sousa 2009: 131) – als erfreulich oder enttäuschend. Von diesem Umweltbezug gehen also Wirkungen aus; man wird emotional berührt, es werden Gefühle geweckt, man sieht sich in eine bestimmte Stimmung versetzt, es stellt sich ein affektives (gefühlsbetontes) Erleben ein. Die Umwelt ist demnach immer an Gefühlen mittätig und mitgegenwärtig; sie ist der Referent. Gefühle bekommen somit eine Adresse; sie werden lokalisiert und materialisiert. Das intangible Reiseerlebnis wird dadurch tangibilisiert, greifbar gemacht. Wenn man nicht von Menschen als unbeschriebenen Blättern ausgehen will, dann muss man auch bei Reisenden davon ausgehen, dass ihren Erlebnissen ein Wollen und Vorstellungen (Kognition) vorgängig sind. Man will die wie auch immer kommunizierten Sehenswürdigkeiten kennenlernen und erkunden, von denen man sich vorab ein bestimmtes Bild gemacht und sich darüber Wissen erworben hat. Der Tourist Gaze (vgl. Urry 2002) hat sie konditioniert: die Reise wird zum Nachvollzug des bereits Vorgestellten; sie reproduziert vorgängige Touristifizierungen. Wenn Reisende daraufhin Must-Sees aufsuchen, dann können sie sich dem Erleben nicht entziehen. Dort geschieht etwas mit ihnen: Sie freuen sich und sind überrascht wie interessant z.B. die Hamburger Sternschanze ist. In Anlehnung an Dürckheim (2005: 45f.) könnte man dies so ausdrücken: Ein augenblickbestimmtes Befinden (= Gefühle, leibliche Befindlichkeiten) lenkt gleichzeitig auf ein Sich-Befinden in einem Raum, in dem sich dieser leibliche Eindruck entfaltet und erlebt wird. Diese Hinterlassenschaft bewirkt, dass Orten bestimmte Befindlichkeiten als Eigenheit bzw. Seiendes, als Sachverhalt, zugeschrieben werden. Diese ontologische Form erzeugt Aufmerksamkeit, stiftet Orientierung und determiniert das Verhalten. Danach gilt das Placemaking (vgl. schon klassisch Tuan 1977; siehe auch Urry 2007): Ort = Raum + affektive Erlebnisse, und dies besagt, dass ein Ort einen Raum voraussetzt, in dem Erfahrungen und damit Erlebnisse gemacht werden können. Eine Stadt etwa

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ist demzufolge »als ein im Erleben sich konstituierender Raum zu begreifen« (Hasse 1999: 80, Herv. i.O.) – eine Konstituierung durch augenblickliche Aneignungen der Stadt, die die Stadt in unterschiedliche affektbesetzte Orte auffächern (vgl. Low 2017: 153–155). Für Stadtreisende sind dies Moments of Truth: Sie sind mit ihrem Körper im Hier und Jetzt und gleichzeitig z.B. so euphorisiert, dass sie ein Selfie auf die digitale Reise schicken und andere mit ihrem Gefühl anstecken und dabei als unentgeltliche Influencer agieren. Dadurch kann der Grundstein für einen Instagram-Hotspot und eine Touristifizierung gelegt werden. Andere Urlaubsreisende mögen Wandern. Dieses Bewegen ist ein körperlich-leibliches Empfinden. Es ist Schritt für Schritt angenehm und macht Spaß. Schon allein beim Wort Gehen, so Balzac (2022: 24f.), kommt ihm der Gedanke einer ›Leidenschaft‹, also einer Empfindsamkeit. Neben diesen kinästhetischen Wahrnehmungen konstituieren und kontextualisieren auch sinnliche Empfindungen Räume (vgl. Waldenfels 2000: 99–107). So berichten Urlauber z.B. dies: (1) »Beim Stadtbummel verlockte uns ein Kneipengeruch so sehr, dass wir eingekehrt sind und dort gegessen haben.« Oder: (2) »Nie mehr an einem rappelvoller Strand urlauben. An unserem Liegeplatz und beim Schwimmen fühlte man sich eingeengt. Und dann noch dieser Lärm; kein bisschen Ruhe.« So die beiden Narrative. Sie unterstreichen, dass Gefühle/Empfindungen Medien sind, in denen eine »Welt als solche auftritt« (ebd.: 249). Die hier zum Ausdruck kommenden Befindlichkeiten und Stimmungen konstituieren Wirklichkeiten: Wie sie für die Urlauber real da sind, wie sie sich ihnen darstellen und schließlich wie soziale und materielle Umwelten an ihren affektiven Erlebnissen derart mitwirken, dass sie zum Handeln auffordern. Das Thomas-Theorem bewahrheitet sich: »Wenn Menschen eine Situation als real definieren, dann ist sie real in ihren Konsequenzen« (Thomas/Thomas 1970: 572): Nie wieder am rappelvollen Strand urlauben oder immer wieder in der Kneipenmeile essen gehen. Gefühle übernehmen demnach eine Immunfunktion (vgl. Luhmann 1985: 371), da angesichts der emotionalen Erfahrungen bestimmte Räume eliminiert werden. Gefühle selektieren und fordern zum Handeln auf (vgl. Waldenfels 2000: 372–378.); sie motivieren zum Abwenden und Zuwenden. Urlauben entpuppt sich als »affektuelles Handeln« (Weber 1964: 18). Erlebte Gefühle erweisen sich daher als Voraussetzung (1) von Handlungsfähigkeit (vgl. de Sousa 2009: 121–126), (2) für die Fortsetzbarkeit und Wiederholbarkeit von Handeln (vgl. Luhmann 1985: 372) sowie (3) von Aufmerksamkeit (vgl. Waldenfels 2000: 63–67). Dass immer wieder die Kneipenmeile zum Essen aufgesucht wird,

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mag auch an der dortigen Atmosphäre gelegen haben. Merklich widerfuhr den Touristen etwas, »ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben« (Schmitz 2014: 30). Es sind »leiblich ergreifende Mächte« am Werk: Befindlichkeiten/Gefühle, die »räumliche ergossene Atmosphären« erzeugen (ebd.: 30; Herv. i.O.). So versprühen Ressortanlagen angenehme und vergnügliche Stimmungen und vermitteln überdies Geselligkeit (vgl. Hirschle/Kleiner 2016: 47). Atmosphären können also auch hergestellt werden (vgl. Böhme 1995: 34–39). Außerdem können sich etwa Strandhotels mit ihrem atmosphärischen Umfeld brüsten: »Jeden Tag und vor allem abends die langsam untergehende Sonne im Meer beobachten – diese Atmosphäre vergessen Sie nie«. Solche lokalisierten Atmosphären stiften einen Zusatznutzen (Added Value, vgl. Wöhler 2010a: 32–36), der in einen Tauschwert überführt wird: Die »einmalige Lage« dient als Begründung für höhere Preis gegenüber der Konkurrenz mit einer nicht derart exponierten Lage. Dieses Nutzbarmachen ist eine Form der ökonomischen Verfügbarmachung eines Raumes und Prototyp jeglicher Touristifizierungen (zur Nutzbarmachung vgl. Rosa 2021: 21f.). Befindlichkeiten, Gefühle bzw. Stimmungen »wie es einem ist« (Heidegger 2006: 134) haben immer »ein Worüber, einen Anlass in der Welt oder im Anderen« (Waldenfels 2000: 285). Eine Familie freut sich, gemeinsam mit ihren Kindern am Strand zu spielen. Sie definiert ihre Situation anders als das Urlauberpaar, das sich eingeengt fühlt. Bei einem abendlichen Strandspaziergang findet das Paar eine erheblich verringerte Belegungsdichte und eine andere Atmosphäre vor. »So stellen wir uns einen erholsamen Strandurlaub vor. Ab sofort gehen wir nur noch gegen Abend an den Strand, darauf freuen wir uns«, ist ihr überschwänglicher Kommentar. Durch eine Zeitverschiebung ihres Strandaufenthalts erleben sie den Strand als etwas ganz anderes. Der Strand (= Raum) wurde neu bestimmt, umgewandelt, transformiert: moduliert (vgl. Goffman 1980: 55f.) und danach gerahmt. Diese einladende Atmosphäre wurde durch bierverliebte, laut singende, mithin grölende ›Ballermänner‹ zerstört. Bis weit in den Abend hinein waren sie in einen offensichtlich glückseligen Zustand. Je nach Ereignissen, d.h. die sich durch Handlungen zeitigenden Befindlichkeiten, fällt eine individuelle sowie kollektive Rahmung eines Raumes aus. Goffman (ebd.: 374) belegt beispielhaft, wie eine »Rahmung von Ereignissen zu Mehrdeutigkeit, Irrtum und Rahmenstreitigkeiten führen kann.« Bekanntlich entfachen ›Ballermänner‹ Rahmenstreitigkeiten: Hat denn das Urlauberpaar kein Recht auf einen erholsamen Badestrandurlaub?

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Ganz ruhig (soweit dies geht): You are never walk alone, wherever you are: Behörden/Ämter können Vorschriften erlassen und eine Minderung der Erholung ist gerichtlich einklagbar. Diese Organisationen des Rechts- und Politiksystem verbleiben solange im Hintergrund bzw. in Latenz (vgl. Luhmann 1985: 463–470), bis sie angefordert oder von der Umwelt so sehr irritiert werden, dass sie aktiv werden und dabei an der Rahmung, dem Framing, des Strandes mitunter so mitwirken, dass ein anders konfigurierter Strand entsteht. Dass Erholung einklagbar ist, dies haben wir dem unermüdlichen Drängen der Gewerkschaften seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zu verdanken: Industriearbeit mache krank, gefährde die Gesundheit und deshalb müsse der Arbeiterklasse Erholung von der Arbeit gewährt werden. Sie hatten Erfolg. Seit geraumer Zeit existiert ein Bundesgesetz auf bezahlten Urlaub zur Erholung für alle Arbeitenden und Auszubildenden. Derzeit sind es zwischen 5–6 Wochen; Schüler und Studierende haben unterrichtsfreie Zeiten. Die Wertvorstellung bzw. Leitidee Erholung in der Form des Urlaubs wurde demokratisiert. Urlauben ist ein Grundrecht, es ist nicht begründungspflichtig. Nicht kodifiziert wird die Art und Weise der Verwirklichung dieser Leitidee Erholungsurlaub. Es bleibt demnach Erholungsurlaubern vorbehalten, wie sie diese Leitidee realisieren. Zeit zum Verreisen ist also vorhanden. Auch Geld, da während der gesetzlich festgelegten Urlaubszeit der Lohn fortbezahlt wird. Doch, ist man für eine Urlaubsreise zahlungsbereit? Man benötigt ja für vieles Geld. Wie eine Befragung der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren ergab (das sind 70,6 Millionen; vgl. FUR 2021: 3), unterliegt die Zahlungsbereitschaft einer Präferenzordnung. Urlaubsreisen stehen dabei mit 60 % an zweiter Position (nach Lebensmitteln mit 70 %), Freizeit mit 54 % an vierter Stelle sowie Kurz- und Wochenendreisen von 2 bis 4 Tagen mit 41 % an siebter Stelle (vgl. ebd.: 28). Diese Rangordnung spiegelt die Bedeutsamkeit von Handlungsinteressen und Wertsphären wider. Der herausgehobene Relevanzbereich Urlaubsreise überrascht angesichts der Vorgeschichte des Urlaubs als Erholungszeit nicht (zu Relevanzbereichen vgl. Schütz/Luckmann 2017: 252–257). Was bewegt (motiviert) die Befragten, eine geldverschlingende Urlaubsreise zu unternehmen? Deswegen würden sie in 2021 verreisen (siehe FUR 2021: 29): Abstand vom Alltag gewinnen rangiert mit 69 % an erster Stelle. Es folgen Sonne/Wärme/schönes Wetter haben, Entspannung/keinen Stress haben, Spaß/Freude/Vergnügen haben und Frische Kraft sammeln/Auftanken. Weg vom Alltag zu sein, eröffnet unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten, über die sie selbst entscheiden.

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Während die Hierarchie der Relevanzbereiche von der »biographisch bedingten Planhierarchie der Lebensführung bestimmt ist« (Schütz/Luckmann 2017: 297), handelt es sich bei diesen Motiven um »typische Erwartungen hinsichtlich hypothetischer Ereignisse, die mehr oder minder ›lebenswichtig‹ erscheinen« (ebd.). Da die befragten Reisenden urlaubserfahren sind (2019: 78 %; 2020: pandemiebedingt 63 %; vgl. FUR 2021: 8f.), ist davon ausgehen, dass ihre Erwartungen auf Erfahrungen beruhen und mit Gefühlszuständen verbunden sind, wodurch sie eine Einstellung gegenüber dem Urlaub entwickelt haben. Im Reiseziel unterliegt ihre Einstellung einem permanenten LackmusTest: Gefühlszustände müssten zeitresistent sei. Doch wer weiß schon, was morgen passiert? Was sich ereignet, verschwindet sofort, wird zur Vergangenheit. Bleibend sind dagegen Orte, an denen sich Erfreuliches oder Unerfreuliches ereignet hat. So konnten Yan und Halpenny (2022) in einer Metaanalyse nachweisen, dass Touristen ihre positiven Emotionen mit bestimmten Orten verbinden. In einer anderen Studie haben Chen et al. (2021) herausgefunden, dass Touch Points – Kontakt-/Berührungspunkte mit Orten – mit positiven Erlebnissen verknüpft sind: Wohlbefinden, Freude und Vergnügen. Und Atsiz und Akova (2021) fanden in ihrer Untersuchung heraus, dass kulturelle Attraktionen bei Stadtreisenden positive Emotionen auslösen und sie deshalb ihren Aufenthalt als so sehr zufriedenstellend empfanden, dass sie dorthin erneut reisen wollen und anderen dieses Reiseziel empfehlen. Damit Urlauber über allerschönste Ortserlebnisse und vermiedene Ärgernisse wie etwa rappelvolle Hotspots und Parkplätze sowie fragwürdige Unterbringungs- und Gastrobetriebe berichten können, sieht sich das Tourismusmarketing nur zum Wohle der Gäste in der Pflicht, sie zu Orten des Wohlbefindens zu leiten. Für dieses Ansinnen sind digitale Daten, die Urlauber im Internet hinterlassen, äußerst hilfreich; ein Tracking ist angesagt (vgl. Bosio et al. 2021; Shoval/Ahas 2018). Eine Geo-Targeting-App zeigt nicht nur den Standort eines Urlaubers an, sondern sie verweist auch auf Optionen anzupeilender Orte. Was einen Urlauber vor Ort wie bewegt, kann man in sozialen Medien mitteilen. Werden dort Selfies platziert, dann kann aus diesen Daten ein Place Attachment abgeleitet werden, das Freude und Vergnügen anzeigt (vgl. Trinanda et al. 2022). Mittels des Social Media Targetings können aus den dort (in soziale Medien) hinterlassenen Daten Nutzerprofile erstellt werden, die in der Google-Suchleiste oder in Websites landen. Grundlage für das Targeting sind auf Websites platzierte Cookies, die das Surfverhalten und Suchaktivitäten der Nutzer festhalten und diese zu relevanten Zielgruppen verdichten. Virtual Reality Headsets und Wi-Fi-Tracker oder Augmented Realities können Urlauber eben-

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falls zu Orten führen, in denen sich – wie oben dargelegt – unweigerlich Befindlichkeiten einstellen. Immer häufiger neigen Destination-ManagementOrganisationen (DMOs) dazu, mit digitalen Gästecards Nutzerdaten zu generieren und mit einer zusätzlichen App Urlauber zu Touch Points zu lenken (vgl. Horster 2022: 601f.). Seit langem werden auch QR-Codes zur Standortbestimmung eingesetzt. Die Digitalisierung der Reise hat ihren Preis. Touristen befinden sich in einem ›digitalen Gefängnis‹, das dem Gefängnis à la Foucault (1994: 295–329) gleichkommt. Das derart digital gewonnene Wissen über das Verhalten und Begehren der Reisenden ist von einer Macht der politökonomischen Interessen durchdrungen. Anhand der anfallenden digitalen Daten können Reisende überwacht, kontrolliert, korrigiert und gelenkt werden. Immer mehr verwandeln sich Destinationen in smarte Destinationen, in denen alles an digitale Produktionsapparate gebunden ist und dadurch einen destinationalen Raum konfiguriert. Von selbstbestimmten Subjekten kann keine Rede mehr sein (vgl. Nassehi 2019: 293–302). Promotoren der digitalen Besucherlenkung argumentieren indes, dass durch eine digitale Lenkung Gäste individuell angesprochen und ihre Erlebnisse verbessert werden (vgl. Wagner/Schobert/ Steckenbauer 2019). Gäste sind danach digitale Gewinner; gelenkt werden sie allerdings an »die attraktivsten Reiseerlebnisse in der Destination« (ebd.: 17). Für Reisende tritt damit eine »Neuheit in Erscheinung« (Tarde 2017: 214). Werden sie dorthin gelenkt, dann sind sie jedoch keine Explorer, die sich off the beaten track bewegen (vgl. Cohen 1972: 169). Sie verweilen vielmehr in angebotsangereicherten Destinationen. Touristen sind nicht dort, wo Menschen urlauben, sondern Menschen urlauben dort, wo Tourismusangebote sind. Indem sie in Anspruch genommen werden, wird eine Touristifizierung reproduziert. So auch in Städten wie Hamburg.

Hamburg will eine Kulturtourismusdestination werden – die Sternschanze gehört dazu Hamburg möchte ein begehrtes Reiseziel für Kulturtouristen sein. Die Hamburg Tourismus GmbH (HHT) konstatierte, dass Theater, Museen und Musicals sowie die Hafenwelt mit dem Weltkulturerbe und neuerdings mit der Elbphilharmonie zwar touristische Highlights sind, doch Hamburgs Kultur in Gänze soll von Touristen entdeckt und erlebt werden (HHT 2022: 7; ein Anliegen, das seit 1871 immer wieder auf der Tagesordnung steht, vgl. Amenda 2020). Dies impliziert, dass die HHT der heimischen Kultur den Status einer

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Touristibilität zuweist: Sie eignet sich für den Tourismus (= sie ist touristabel), sie besitzt ein touristisches Potenzial, lässt sich in Wert setzen und wird demzufolge zur lokalen Wertschöpfung beitragen. Wird die Touristibilität der Kultur kollektiv anerkannt und akzeptiert, dann schlägt sie in eine institutionelle Tatsache um: Kultur gilt als ein Tourismusprodukt; in dieser Wirklichkeit soll sie gelten. Sie wird vergegenständlicht (vgl. Berger/Luckmann 1980: 64f.) und ist verwendbar (vgl. Searle 2011: 29–33). Der angenommenen touristischen Geltung der Kultur folgt eine performative Geltungssetzung durch Etablierung von an Touristen adressierten Kulturangeboten, die wiederholbar präsent sind. Was zunächst für möglich, ökonomisch als rational und daher als sinnvoll angesehen wurde, findet also in konkludenten Handlungen seinen Niederschlag. Dass dies eintritt, darüber ist man sich in der HHT, die als DMMO (Destination-Marketing-Management-Organisation) firmiert, einig. Sie konnte sich auf ein Erleuchtungserlebnis berufen – durch die Elbphilharmonie! Welche verborgene Kraft und Potenz hat es offenbart? Sie besitzt, so die HHT eine »nationale und internationale Strahlkraft« und birgt »das Potenzial […], die Hansestadt als Kulturstadt und -destination bekannter zu machen. Der Erfolg der Elbphilharmonie hat das Bewusstsein für Hamburgs kulturtouristische Potenziale geschärft und den Willen geformt, touristische Synergieeffekte auf den Weg zu bringen.« (HHT 2022: 15) Mit einer Kulturtourismusstrategie will die HHT Antworten auf diese ›Kernfragen‹ liefern: »Wie kann [ein] Gast dazu bewogen werden, kulturelle Angebote in Hamburg zu nutzen? Und wie lässt sich ein positives Reiseerlebnis erzeugen?« (ebd.: 8). Hamburgs Kultur touristisch zu nutzen, besagt, sie zu touristifizieren; sie dem touristischen Konsum preiszugeben. Wie oben erwähnt, sind die ›Elphi‹, Theater, Musicals und andere bereits touristifiziert. Jetzt geht es der HHT darum, noch weitere kulturelle Potenziale für die Weiterentwicklung des Tourismus zu erschließen. Wer die HHT/DMMO ist, zeigt ihre Gesellschafterstruktur (siehe Abbildung 1). Der Tourismusverband ist eine Interessengemeinschaft der Unternehmen und Institutionen, die in der Stadt direkt oder indirekt für den Tourismus tätig sind. Mitglieder sind u.a. Hotel-, Gastro-, Barkassen- und Standrundfahrtbetriebe, Hamburg Airport, Theater, Museen, Hagenbecks Tierpark, Stadtführer und Festivalveranstalter. Er ist die Fortsetzung des 1899 gegründeten ›Vereins zur Förderung des Fremdenverkehrs in Hamburg‹ (vgl. Amenda 2020: 39). Die Hamburg-Marketing-Gruppe ist eine Holding, bei der die HMG als unternehmenszielsetzende Muttergesellschaft agiert, während den Töchtern HIW und

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HHT das operative Geschäft obliegt. Sie sind gehalten bzw. gar verpflichtet, Wege aufzuzeigen, wie der nationale und internationale Bekanntheitsgrad gesteigert, die Wirtschaftskraft gestärkt und die Kooperation mit Partnern etabliert werden kann (vgl. HHT 2022: 17). Die personenidentische Besetzung der Geschäftsführung von Muttergesellschaft HMG und der Tochtergesellschaft HHT sorgte dafür, dass diese Zielsetzungen auch bei der Erstellung der »Kulturtourismusstrategie für Hamburg« (HHT 2022) im Auge behalten werden. Nach der Auftragserteilung ging man an die Arbeit – Analyse des Marktes, Selektion von Handlungsfeldern und danach erste Umsetzungen von Maßnahmen. Darüber wird die Öffentlichkeit 2022 informiert.

Abbildung 1: Gesellschafterstruktur im Hamburg-Marketing

Quelle: Eigene Abbildung in Anlehnung an HMG (2019: 10)

Hält man sich die obige Marketing-Gruppe vor Augen, dann fällt die Dominanz der HMG mit ihren mehrheitlichen Geschäftsanteilen an HHT und HIW auf. Über die HMG, an der er mit 75 % beteiligt ist, sitzt der hanseatische Stadtstaat bei HIW und HHT mit am Tisch, sprich: er ist an all den obigen Prozessen beteiligt. Konkret waren und sind es weiterhin die Behörden Wirtschaft & Innovation und Kultur & Medien. Die drei GmbHs sind dem-

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nach politökonomische Organisationen, Ausgliederungen aus dem Politsystem. Seit Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts ist dies schrittweise erfolgt (vgl. Rinn 2016). Es sind Privat Public Partnerships, die Hamburg als eine unternehmerische Stadt konturieren: Ihre Position am Markt (Nachfrager und Konkurrenten) bestimmt ihre Wettbewerbsfähigkeit und damit auch ihr Wirtschaftswachstum (vgl. Schipper 2018). Hamburg ist zugleich eine postpolitische Stadt, da ihr Regieren auf einer Corporate Governance beruht: Politik und Wirtschaft müssen übereinstimmen, also Konsense produzieren (vgl. Koch/Beveridge 2018). Politik und Wirtschaft treffen sich mit ihren sozialen Organisationen in diesen GmbHs. Sie sind soziale Intersysteme, in denen die strukturelle Kopplung Politik/Wirtschaft mit dem Ziel eines Konsenses ausgehandelt wird (vgl. Lieckweg 2001). Politische und ökonomische Interessen sind unter einen Hut zu bringen. Dies hat bei der Entwicklung der Kulturtourismusstrategie geklappt, »weil wir Hamburg sind« und »nur gemeinsam und als WIR Herausforderungen meistern können.« (Vorwort des HHT-Geschäftsführers; HHT 2022: 4). Bedenkt man die Verschmelzungen in der HamburgMarketing-Gruppe, dann kann konstatiert werden: Mehr wirtschaftliche Repräsentanz geht nicht. Das ›WIR‹ ist riesengroß und höchst divers. Wer fehlt? Die Einheimischen. Sie rücken in die Nähe einer Quantité négligeable: Dass sich 90 % der befragten Hanseaten nicht vom Tourismus gestört fühlen und der Anteil in den touristisch stärker beanspruchten inneren Stadtteilen immer noch bei 80 % liegt, wird als Lizenz zur Weiterentwicklung des Tourismus in Richtung Kultur verstanden (vgl. HMG 2019: 17f.). Zudem wird antizipiert, dass ein Kulturtourismus zur Erhöhung der lokalen Wertschöpfung und zur Bereicherung der »hohe[n] Lebensqualität unserer Stadt« beiträgt (HHT 2022: 5). Schließlich »trägt der Tourismus jährlich 4,4 Mrd. Euro zur Bruttowertschöpfung bei. Mit knapp 89.000 Beschäftigten arbeitet etwa jeder 14. Erwerbstätige direkt oder indirekt im Tourismus.« (HMG 2019: 16) Wenngleich sich diese Daten auf 2019 beziehen und sich der Tourismus von der Pandemie erholt, aber noch nicht den Stand von 2019 erreicht hat, so werden diese beiden Effekte beträchtlich sein. Wie man sieht, sind bei der hanseatischen DMMO (wie bei allen DMOs) nicht Individuen, sondern Organisationen Mitglieder. Solche Organisationen mit Organisationen als Mitgliedern sind Metaorganisationen. Nach Ahrne und Brunsson (2008) zeichnen solche Organisationen sich dadurch aus: freiwillige Mitgliedschaft, gemeinsames Anliegen, Befassung kollektiver Probleme, konsensuelle Entscheidungen, keine Einmischung in innere Angelegenheiten der Mitglieder und damit keine Kontrolle, keine Produkterzeugung, aber Erbrin-

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gung von Dienstleistungen wie Vertrieb und Werbung sowie insbesondere die Versorgung mit Informationen über die Umwelt, die für alle Mitglieder von Belang sind und somit ein kollektives Handeln provozieren (vgl. ebd. 2008: 56). Es sind »Positionsgewinne in Umweltbeziehungen, die zur Ausbildung von Einrichtungen kollektiven Handelns führen« (Luhmann 1985: 271). Die bleibende Herausforderung einer Metaorganisation ist es daher, permanent die Umwelt nach relevanten Kriterien zu beobachten und daraus Elemente zu selektieren und sie dann als relevante Umwelt zur kollektiven Geltung zu bringen (vgl. Weick 1995: 32–39). Es wird also den Mitgliedsorganisationen angeraten, sich entsprechend der selektierten Umweltsetzung zu ihrem Eigennutz zu positionieren, d.h., mit ihren eigenen Mitteln (= Selbstproduktion) eine Beziehung zur derart bestimmten Umwelt herzustellen. Wird dies von ihnen vollzogen, dann wird die als relevant erachtete Umwelt zur Geltung gebracht und somit als verbindliche Umwelt etabliert und institutionalisiert (vgl. ebd.: 34). Diese auf Informationen basierende Gestaltung der Umwelt – »aber nie [die] Umgestaltung der äußeren Umwelt« (Luhmann 1997: 95) – sollte auf einer kollektiven Übereinkunft beruhen. Nach Ahrne und Brunsson (2008) tragen in Metaorganisationen bestimmte Akteure kraft ihrer Ressourcen erheblich zur Konsensbildung bei. Mit ihrer Marktforschungsabteilung besitzt die HHT solch eine Ressource. Sie beobachtet die Umwelt – den Markt: Reisende und Konkurrenten. Anhand dieser Beobachtungen wird geprüft, ob und wie sie in die Destination integriert und materialisiert werden können. Die Selektionskriterien für Beobachtungen gibt die verwendete SWOT-Analyse vor (vgl. Becker 2019: 99–107; Homburg 2020: 536f.). Stärken (Strength) und Schwächen (Weakness) beziehen sich auf die Spezifika, die eigenen Mittel des Unternehmens Destination. Die DMMO versteht die Destination Hamburg als Unternehmen, das sie führt und lenkt. Diese rechtlich festgelegte Selbstbeschreibung ist keine hanseatische Besonderheit, sondern jegliche DMOs sind dergestalt kodifiziert. Chancen (Opportunities) und Risiken (Threats) betreffen touristisch relevante Umweltgegebenheiten. Die DMMO-Marktforschung setzt für die Umweltbeobachtung diese Instrumente ein: Monitoring, Trend- und Marktbeobachtung (Ist Kultur ein nachgefragtes Thema?), Benchmarking, Best Practices, Gästebefragungen (Welche bisherigen Kulturangebote nutzen Gäste? Welche Erwartungen hegen sie?) und Befragung der Kulturträger (Sind unter ihren Besuchern Touristen?), Hinzuziehung einer Expertise (Agentur Kulturgold, die kulturtouristische Erfahrungen besitzt und eine Erweiterung der Kulturangebote empfiehlt), Publikationen/Studien über den Kulturtou-

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rismus, Beherbergungs- und Gastgewerbestatistiken. Unter dem Strich kam in Hamburg heraus: Kultur hat eine rosige Marktchance, die man unbedingt wahrnehmen sollte, zumal eine Zielgruppe gegeben ist. Zugleich offenbarten sich auch Risiken wie insbesondere die Konkurrenz der destinationalen Kulturanbieter und der Zeitmangel der Besucher (siehe zu all dem HHT 2022, Kapitel 5.3 und 5.4). Die Quintessenz dieser Wissensanhäufung war: Grünes Licht für eine Etablierung von 13 ›Kulturthemen‹ in der Destination; sie stellen Hamburgs kulturelle Stärken dar (ebd.: 108). Kernthemen sind: Elbphilharmonie, Maritime Kultur u. UNESCO-Welterbe, Musicals, Erlebniswelten, Livemusik, Darstellende Künste, Kunst und Ausstellungen sowie Kultur- und Kreativquartiere. Dazu die Trendthemen Architektur, Design, Film- und Drehorte sowie Kultur digital. Ergänzungsthemen sind Gastronomie und Shopping in Kultureinrichtungen. Vermerkt wurde, dass mehrere Themen »kaum bis gar nicht erschlossen [sind]. Mittel- bis langfristig bieten sie jedoch das Potenzial, neue kulturtouristische Angebote zu entwickeln und das kulturtouristische Profil zu schärfen – eine zentrale Voraussetzung, um wettbewerbsfähig zu bleiben.« (Ebd.) Präsentiert wurden demnach Fabrikate für die Zukunft, die sofort Gegenwart wird. Fortwährend muss daher das Intendierte in der Gegenwart überprüft werden. Man hofft, dass sich eine wettbewerbsfähige Profilierung herstellen lässt. Der Affekt Hoffnung (= Gefühl) ist eben Treiber ökonomischen Handelns; es ist stets zukunftsbezogen wie z.B. die Kulturtourismusstrategie (vgl. zur Hoffnung Stäheli 2014). Und man weiß, dass Umsetzungsmaßnahmen ein Eigenleben haben. Die Hoffnung basiert hier auf dem angeeigneten Wissen der HHT-Marktforschung. Der Realitätsbezug, von dem aus in die Zukunft gestaltet werden soll, beruht auf Beobachtungen zweiter Ordnung: Beobachtet wurden Beobachter, die andere beobachten: Kulturträger ihre Besucher, wie sich Konkurrenten positionieren (Benchmarking, Best Practices), was Experten und Studien herausgefunden haben und Besucher, die befragt wurden, was sie in Hamburg unternommen haben (= Selbstbeobachtung). Diese Beobachtungen zweiter Ordnung dienen der ›Realitätsvergewisserung‹ (vgl. Luhmann 1997: 768). Das Wissen, das die HHT/DMMO über ihre Marktforschung vorträgt, ist valide. Mit diesem Wissen besitzt sie eine autoritative Ressource (vgl. Giddens 1997: 86f., 315–320). Indem die HHT kraft ihres Wissens und ihrer Erkenntnisse z.B. Musicals oder der Sternschanze den Status ›Sind für den Kulturtourismus geeignet‹ zuschreibt, wird ihr – nach Searle (2011:113121) – Macht übertragen.

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Ihre Macht kann sie auf viele Organisationen ausüben. Sie werden angehalten, selbstverantwortlich sicherzustellen, dass sich dieser Status in ihren Handlungen niederschlägt. Selbstbestimmt sollen sie sich führen lassen (vgl. Saretzki 2013: 174, 177). Über ihre Mitgliedschaft z.B. in der DEHOGA und im Tourismusverband werden u.a. ins Boot geholt: Museen, Staatsoper, Gastronomie, Eventveranstalter, Clubs, Galerien, Souvenirshops, allseits bekannte Sehenswürdigkeiten und viele mehr. Gemäß der SWOT-Analyse repräsentieren sie eigene Mittel bzw. Beiträge, die für die jeweiligen Themen einzubringen sind. Sie verkörpern demnach allokative Ressourcen (vgl. Giddens 1997: 315–320). Sie sind unentbehrlich, da doch Kultur an irgend etwas Realem erlebbar sein muss. Dies geschah ganz pragmatisch: Museen, Clubs etc. wurden als Kultur signifiziert und dadurch zu einer neuen funktionalen Tatsache erhoben (vgl. zu dieser Wirklichkeitskonstruktion Searle 2011: 52–62). Gegen diese Bedeutungsübertragung gab es seitens der involvierten Organisationen, also auch von den staatlichen Behörden (vertreten in der HMG) keinerlei Einwände. Warum auch, können sie doch ihre Selbstproduktionen weiterlaufen lassen und mit einem Positionsgewinn rechnen: Umsatzzuwächse der wirtschaftlich ausgerichteten Organisationen und steigende Einnahmen (Steuer/Abgaben) beim hanseatischen Senat. Da die in einem Thema vereinten Akteure Kooperationen (Netzwerke) eingehen und dabei Synergieeffekte auslösen, sparen sie Marketingkosten. Marketingkosten sparen sie ohnehin ein, da laut Handelsregistereintrag Werbung und Vertrieb des Reiseziels zum Aufgabenbereich der HHT (DMMO) gehören. Zusammengefasst: Die Kulturtourismusstrategie stellt sich als eine Einrichtung kollektiven Handelns heraus. An ihrer Erstellung und der noch andauernden Schärfung sowie Prüfung der Themen hatten und werden weiterhin organisationale Akteure aus Eigeninteresse teilnehmen: des Positionsgewinns wegen, aber ohne ihre Pfade zu verlassen. Dadurch stellt sich die für die »Strategiefähigkeit erforderliche innere Geschlossenheit« (Czada 1994: 53) ein, die »einheitliche Aktionen« (Luhmann 1985: 272) ermöglicht. Sie zielen auf eine Zonenerweiterung der Touristifizierung ab. Zur Sternschanze. Im Evoked Set der ›gewöhnlichen‹ Hamburg-Besucher (= Hamburg? Da ist doch dieses und jenes!; vgl. Homburg 2020: 112–114) befinden sich vorwiegend Must-Sees, aber kaum die Sternschanze. Strategisch sollen diese Must-Sees genutzt werden, »um auf weniger bekannte [Angebote wie z.B. die Sternschanze] aufmerksam zu machen (Leverage-Effekt), für die der Gast aber durchaus Interessen hegt.« (vgl. HHT 2022: 45)

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Ein solcher Leverage-Effekt soll nicht nur das Interesse der Gäste in Schwung bringen, sondern auch ökonomische Interessen befriedigen. Im Einklang mit der konsensual erarbeiteten Kulturtourismusstrategie wird die Sternschanze auf der Hamburg Tourismus-Website dem touristischen Kernthema ›Kultur- und Kreativquartiere‹ zugeordnet. Dies besagt, dass der Sternschanze der Status eines Kultur- und Kreativquartiers zugeschrieben wurde und als solche institutionelle Tatsache vermarktet wird. Auf der Website wird die Sternschanze so vorgestellt:1 Sie ist »so etwas wie Hamburgs zweiter Kiez mit Cafés, Bars, Kneipenkultur und schicken Boutiquen.« Sie ist »immer in Bewegung.« Und: »Es ist bunt, es wabert [= ist unruhig, Kh.W.] und ist in den letzten Jahren schicker geworden […] Und doch hat sich der Stadtteil […] viel von seiner rauen, links-alternativen Unangepasstheit bewahrt.« Eine HHT-unabhängige Erlebnisführung von viakultura wirbt unter der Überschrift »Abseits der Touristenpfade«.2 Sie will »Wissenswertes zu historischen Industriegebäuden, zu Hamburgs berühmtester Rebellenhochburg und über die sukzessive Verdrängung der Alteingesessenen« vermitteln (ebd.). Wo bleiben hier die sich in der Sternschanze niedergelassenen Kreativen? Nach weit verbreiteter Meinung ist die Schanzenatmosphäre für sie inspirierend; permanent seien diese Freigeister Tag und Nacht auf der Suche nach Ideen für ihre Schöpfungen (in der Schanze sind sie mit den Bereichen PR, Werbung, Design, Foto- und Videographie, Musik, Street Art vertreten). Ortsfremde können sie in der ›bunten‹ Schanze jedoch nicht unterscheiden. Die an Häusern angebrachten Firmenschilder belegen ihre Existenz; dass sie hier arbeiten und mithin wohnen. Angesichts der Miet- und Immobilienpreise müssen sie schon viel verdienen. Einwohner erkennen aber Touristen, wenn sie mit ihren Rollerkoffern Ferienwohnungen oder eines der sechs Hotels in der Sternschanze ansteuern. Welche Informationen über die Schanze entnehmen sie aus den Lokationsbeschreibungen der Hotels? Bis auf ein Hotel, das sich lediglich als Ausgangspunkt zu den herkömmlichen Sehenswürdigkeiten Hamburgs bezeichnet, werden Cafés, Restaurants, Bars, Geschäfte und die Gastronomie genannt. Ein Hotel sieht sich gar von einem »patchworkartige[n] Angebot an Gastronomie« umgeben und verweist darauf, dass das Schanzenviertel »zu

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https://www.hamburg-tourism.de/das-ist-hamburg/stadtteile/sternschanze-karovie rtel/ (Zugriff 28.01.2023). https://www.hamburg.de/stadtteilfuehrungen/4414672/stadtteilfuehrungen/ (Zugriff 28.01.2023).

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jeder Tages- Nachtzeit Künstler, Galeristen und andere Kreative« anlockt.3 Ein anderes Hotel sieht sich in ein Szeneviertel mit Boutiquen, Restaurants, Bars und Nachtschwärmern eingebettet. Alle Hotels zeichnen sich durch eine hohe Konnektivität aus: Sie sehen sich mit Restaurants, Geschäften etc. verbunden. Mit einem leidlichen Einkehrschwung mögen Nachtschwärmer in einem der »11 schönen Cafés […] in der Sternschanze« frühstücken.4 Das Mit VergnügenPortal lobt mit diesen Cafés den Magnet Sternschanze aus: »Nirgendwo kommen Touris und Einheimische so viel zusammen wie hier. Man kann es aber auch niemandem verübeln. Wir lieben unsere Schanze, denn hier haben wir alles, was wir brauchen: Kioske mit kühlen Getränken, Bars und Restaurants mit guten Drinks und Essen sowie stylische Shoppingmöglichkeiten.« (Ebd.) Laut solcher Websites kommt in der Sternschanze nahezu die ganze Welt auf den Tisch – ein ›patchworkartiges Angebot‹ eben, das zusammen mit den Shoppingmöglichkeiten sowohl von Schanzenbewohnern als auch von Auswärtigen in Anspruch genommen wird. Diese Porträtierungen der Sternschanze gleichen einem Schlaraffenland – mit einem Haken: Ohne Geld bzw. Zahlungsfähigkeit ist man nur Zuschauer. Dass sich fortwährend viele, gar sehr viele Zahlungswillige in der Schanze blicken lassen, dies eint die ökonomischen Schanzenakteure und lässt ein Wir-Gefühl aufkommen. Störungen wie etwa die Erweckung des Rote Flora-Rebellenhaften anlässlich des G20Treffens in Hamburg verderben nur zeitweilig das Geschäft (vgl. Saretzki/Wöhler 2022: 137). Ist dieser bisweilen nicht friedliche Kampf gegen den globalen Kapitalismus – so die Parolen – vorüber, dann kann die viakulturaStadtführung den Schauplatz des Rebellischen als touristische Attraktion auffrischen und dabei den Schauplatz des Cornerns hinzufügen. Die DNA des Tourismus ist so aufgebaut, dass sie alles vereinnahmt, sprich touristifiziert, was Aufmerksamkeit erweckt bzw. auf das die Aufmerksamkeit gelenkt wird (= Must-Sees). Die Anwesenheit eines Kultur- und Kreativquartiers – also der neugeschaffenen institutionellen Tatsache durch die Kulturtourismusstrategie – wird durch Clubs, Gastronomie, Boutiquen, Designer und andere Kreative,

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https://www.augustboardinghouse.de/ (Zugriff 31.01.2023). https://hamburg.mitvergnuegen.com/2020/cafes-fruehstuecken-sternschanze-scha nze/ (Zugriff 31.01.2023).

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eine bewahrte raue, links-alternative Unangepasstheit repräsentiert. Deren Mitteilbarkeit ist zwar durch Clubs etc. gegeben, doch sie tragen das Konstitutive der Sternschanze nicht erkennbar mit sich herum: Kultur oder Kreativität. Die Zuschreibung dieser Qualitäten vollzieht sich durch Sprache: »Der Schritt von X zu Y ist ein sprachlicher Schritt« (Searle 2011: 71). Das besagt hier: Die Sternschanze (X) als Kultur- und Kreativquartier (Y) ist ein sprachlicher Ausdruck, dem vorsprachliche Überzeugungen des HHT (Markt-/Wettbewerbsfähigkeit) zugrunde liegen. »Sprache ist epistemisch unentbehrlich« (ebd.: 86) meint, dass das Sprechen von Sternschanzen-Erlebnissen auf Fakten beruhen muss – Gastronomiebetriebe, Clubs etc. sind Fakten. Bilden diese in Anspruch genommenen touristischen Angebote das Alltagsleben der Einheimischen ab? Wohl kaum. Ob Hotelurlauber nachtschwärmen oder wegen des nächtlichen Cornerns die Schanze ansteuern, ist nicht bekannt. Es sind eher Tagesgäste aus anderen Bezirken Hamburgs, der Metropolregion und angrenzenden Regionen, die die Sternschanze erstmals oder wiederholt als Ausgangsviertel besuchen. Mit Hilfe des zuvor benannten Leverage-Effekts soll es gelingen, die Sternschanze im Evoked Set der in Hamburg übernachtenden nationalen und internationalen Freizeitgästen (meistens Kurzurlauber) und Geschäftsreisenden bleibend zu platzieren, wie es mit St. Pauli seit eh und je der Fall ist (diese Tagesund Übernachtungsgäste wurden als Zielgruppen ausgemacht; vgl. HHT 2022: 29). Würden Übernachtungsgäste an einer Schanzenführung per Pedes teilnehmen und nicht lediglich von einem Stadtrundfahrtbus aus die Sternschanze ins Visier nehmen, dann könnte die Sternschanze den Inkubator Kulturtourismusstrategie verlassen und am Tourismusmarkt einen bleibenden Platz einnehmen. Dies ist die Intention der Kulturtourismusstrategie: Die Sternschanze als Kulturangebot zu vermarkten. Die Strategieentwickler der HHT rücken damit in den Club der Raumproduzenten (vgl. Lefebvre 1991: 38). Sie entdeckten im Sternschanzenraum – wie in allen anderen Räumen der Kulturthementräger auch – ein touristisches Potenzial, das sie in dieser Zweitverwendung dem touristischen Konsum überantworten. Eben dies ist die Logik jeder Touristifizierung: Dem von Einheimischen gelebten Raum wird ein von Reisenden zu erlebender Raum übergestülpt, dem in diesem Fall das Signum ›Das ist die gelebte Sternschanze‹ verliehen wird. Es existieren also zwei Sternschanzen. Es liegt eine Realitätsverdoppelung, ein gedoppeltes Objektverhältnis vor. Touristifizierung ist dann gänzlich segensreich, sprich: ökonomisch wertschöpfend, wenn etwa bei einer Going-local-Stadtführung nach der Be-

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trachtung der Roten Flora ein Café und später eine Kneipe aufgesucht sowie in einem ›In-Shop‹ ein schickes T-Shirt gekauft wird. Urlaubserlebnisse sollen eben zum Geldausgeben motivieren. Mit der Hamburg Card, die z.B. Gastronomie- oder Museumspreise rabattiert, geht dies umso eher. Was ein Positionsgewinn ist, verdeutlicht dieses Beispiel. Ohne Veränderung der Selbstproduktion profitieren diese Betriebe von der touristischen Inwertsetzung der Sternschanze. Der Hansestaat freut sich auch, siehe Steuern und Abgaben.

Produktion der Touristibilität und Pantouristifizierung Die Tourismuswirtschaft ist mit ihren sozialen Organisationen wie etwa DMOs, Reiseveranstalter, Paketer (sie bündeln Leistungen und verkaufen sie dann z.B. an Reisebusveranstalter), Unterkunftsbetrieben und Guides invasiv. Sie sind wahre Deisten: Gott hat die Welt erschaffen und überlässt es uns Menschen, sie zu gestalten, ohne dass er eingreift. Macht euch die Erde untertan, ist danach die Devise. Gilgamesch hat sie sich zu eigen gemacht und trat Reisen an; nicht zuletzt um Herrschaft über Räume zu erlangen und Ruhm zu ernten (vgl. Leed 1993: 41–45). Ohne die Erfindung von Techniken und/oder Veränderungen technischer Mittel wäre eine Beherrschung räumlicher Realitäten nicht möglich (vgl. Galor 2022: 69–73, 82–88). Was einst eine fremde und unverfügbare Wirklichkeit war, wird durch Technik verfügbar gemacht und somit als Instrument ihrer Beherrschung eingesetzt (vgl. Blumenberg 2009: 34). Techniken – also Artefakte, von Menschen geschaffene Werkzeuge, Geräte, Apparate: also technische Mittel für Tätigkeiten – werden im Einklang mit dem Menschen zum Zweck ihrer Handlungsfähigkeit verwendet. Techniken sind demzufolge interaktiv (Wechselwirkung Mensch/Körper und Techniken). Das Erreichen eines Reiseziels ist zwar zu Fuß möglich, doch hergerichtete Wege für Kutschen sind dem vorzuziehen. Eisenbahn, Auto und Flugzeug toppen eine Kutsche, wenngleich sie etwa beim Erkunden und Erleben von Usedom weiterlebt. Rammert (2007: 21f.) geht von »soziotechnischen Konstellationen« aus, die sich aus der Kopplung von »Aktivitäten von Menschen, Maschinen und Programmen« ergeben. Das Programm ist beispielsweise Kennenlernen der Lüneburger Heide oder der Mecklenburgischen Seenplatte. Manche Urlauber haben ihr Reiseziel mit einem Wohnmobil und andere mit einem Multivan erreicht. Die Seenplatte wird von einem Kanu aus erforscht und Caravan-Fans

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entdecken mit E-Bikes die Seenplatte. Gemein ist beiden, dass sie ihre Bewegungshilfen selbst mitbringen. Diese Beispiele verdeutlichen die gekoppelte touristische Dreifaltigkeit, bei der Gefühle nicht ausbleiben. Sie sind Garanten gegen »unvorhersehbare Störungen« seitens der Umwelt (vgl. Luhmann 1985: 372). Die Umwelt – Seenplatte, Lüneburger Heide, Sternschanze etc. – versprüht Reize, dort zeitweilig zu sein und Handlungsentwürfen nachzukommen. Welche technischen Mittel werden feilgeboten, um sie zu realisieren? Nur ein paar Beispiele: Neben Seilbahnen, Surfbrettern, Strandkörben, Zelten sind es z.B. auch Apps, die die Wetterlage vorhersagen sowie die Planbarkeit von Routen ermöglichen. Technische Mittel verschaffen Entlastung, Vereinfachung, Verbesserung, Sicherheit, Wohlbefinden und Spaß. Ob technische Mittel das einlösen, was sie versprechen, kann vorab mittels Anfragen auf sozialen Medien und Plattformen eruiert werden. Und wenn unterwegs etwas Unvorhersehbares passiert, dann helfen digitale Ortungen, um Helfern den Standort mitzuteilen. Ein Self-Tracking als Optimierungsprojekt (vgl. Duttweiler et al. 2016) kann dem vorbeugen. Dass diese Technisierung des Reisens den Bereich der Reiseziele ausweitet und die Wiederholbarkeit des Reisens zu jeglichen Räumen und Zeiten sicherstellt, liegt auf der Hand. Mit Verkehrsmitteln werden Reiseziele erreicht, an denen z.B. mit E-Bikes, Kletter-Equipments und Wanderausrüstungen der Erfahrungsradius vergrößert wird. Die Zonen der Touristifizierung breiten sich geradezu invasiv aus: Kein Raum kann sich sicher sein, nicht von einer touristischen Nutzung per technischen Mitteln und in der Folge von einer ökonomischen Inwertsetzung erfasst zu werden. Kein Raum ist gegenüber dem Tourismus immun; es ist von einer Pantouristifizierung bzw. von einer weitausgreifenden Touristifizierung auszugehen. So weigert sich z.B. das Dorf Siurana in der spanischen Provinz Tarragona, in die Liste der hübschesten Dörfer Spanien aufgenommen zu werden, da es einen Overtourism befürchtet.5 Ob diese Abwehr gerade die touristische Aufmerksamkeit weckt? Die bei der Kulturtourismusstrategie Hamburgs verwendete SWOTAnalyse ist ebenfalls ein Werkzeug, eine Technik des strategischen Marketingmanagements, die Wirklichkeitsbilder erzeugt. Sie ist das arbiträre Instrumentarium für die Transformation Hamburgs in eine Kulturdestination; sie ist gestaltungsgebend. Indem Unternehmensziele vorgegeben werden, werden sie durch die SWOT-Analyse erzeugt (vgl. zu dieser Performativität 5

Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/spanien-siurana-tourismus-1.5682977 (Zugriff 20.12.2022).

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Sparsam 2019: 9–17). Bei der SWOT-Analyse werden Relationen zwischen Ursachen (Ressourcen/Fähigkeiten) und Wirkungen (Chancen/Risiken) »in der Form des Kausalgesetzes zur Notwendigkeit hochstilisiert« (Luhmann 2017: 608). »Notwendiges [wird] durch kombinatorische Techniken aus Kontingentem [= könnte auch anders sein, Kh.W.] gleichsam herausdestilliert« (ebd: 609; siehe auch HHT 2022: 103). Durch die Verwendung des Selektionskriteriums Kulturgeeignet werden Kombinationen reduziert und dabei bilden sich Relevanzen heraus: Die Sternschanze oder Musicals etwa gelten als touristische Kulturangebote. Sie werden zur touristischen und damit ökonomischen Nutznießung bereitgestellt. Wer ist bei diesen Ausdifferenzierungen vertreten? Wirtschaftliche, politische und kulturelle Organisationen, Tabellen, Schaubilder, Veröffentlichungen, Informationen, Trends, Statistiken, Expertisen und theoretische Überzeugungen. Diesem Netz von Aktanten wird eine Handlungsfähigkeit (Agency) übertragen (vgl. Latour 2007): Nicht wir empfehlen Maßnahmen, sondern die unparteiliche, unvoreingenommene und rationale SWOT-Analyse verlangt es; wir können doch keine Tatsachen negieren – so der Impetus der DMMO. Aufgrund dieser Netzkonstellation wird für die SWOT-Analyse Rationalität reklamiert. Die SWOT-Technik schaltet demnach Kontingenz aus und idealisiert zweierlei: Im Wettbewerb zumindest mitzuhalten und Werte (= Unternehmensziele) zu realisieren. Es gibt wohl keine DMO, die nicht die SWOT-Technik verwendet und auf diese Weise eine verdoppelte Wirklichkeit erzeugt: Ein Raum, wie er ist, und ein anderer Raum, wie er entsprechend der SWOT-Technik erscheint: als Raum im Tourismus (vgl. etwa für Freiburg Wöhler 2019: 116–124 und für Schleswig-Holstein Wöhler 2010b: 174–181). Diese touristifizierende Wirklichkeitsverdoppelung bewirkt auch die Digitaltechnik, die Prospekte und Reisebücher bei der Selektion von Reisezielen ersetzt. Entscheidungen über Entscheidungsprämissen wie Preis, Lage der Unterkunft, Freizeitangebote und Sehenswürdigkeiten werden neben der Nutzung von Websites zudem mittels hinterlegter Informationen (Daten) Anderer auf Plattformen getroffen. Dass Apps Touristen auf Besucherandrang und überfüllte Parkplätze hinweisen, ist für diese verständlicherweise erfreulich. Doch hierbei und auf Plattformen werden Daten hinterlassen, die von der Wirtschaft zu Verhaltensmustern und Zielgruppen komprimiert und dann in dieser Form als Reiseziel in Erscheinung gebracht werden: Genau so soll es sein, dort urlaube ich. Zu guter Letzt ermöglichen bestimmte digitale Technologien, dass ohne Ortsangabe, aber mit Angaben über Wünsche und Erwartungen ein Traumziel präsentiert wird, an das man von sich aus gar nicht gedacht hätte (vgl. Nas-

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sehi 2019). Dies läuft auf einen Tourismus ohne Raum hinaus. Beim Zugriff auf diese Technologien in der Phase vor der Reise erscheinen zwar virtuelle Tourismuswirklichkeiten, die jedoch nicht den Mond als mögliches Reiseziel ausweisen. Sie beinhalten vielmehr bereits touristisch besetzte Räume, die nun durch die Digitalisierung eine Stabilisierung des Touristifizierten erfahren. Um herauszufinden, wo man was im Urlaub erleben kann, reicht ein Blick in Reisekataloge oder ins Internet: Weintourismus verbunden mit einem kulinarischen Tourismus anstatt eines Gesundheitstourismus sind Optionen. Oder doch Kulturtourismus, der viele Touristifikate in sich vereinigt. Wie vielgestaltet der Tourismus ist, d.h., durch welche unterschiedlichen Erscheinungsformen er sich im Medium von Räumen ausbreitet, lässt sich an den unerschöpflichen Determinativkomposita ablesen: Das Substantiv Tourismus ist das Grundwort, das eine Grundbedeutung anzeigt. Die ihm vorangestellten Substantive, Verben (z.B. wandern) und Adjektive (etwa nachhaltig, slow) bestimmen die Bedeutung des Grundwortes näher; sie sind Bestimmungswörter. Die Grundbedeutung des Tourismus ist Wirtschaft. Die Tourismuswirtschaft ist indifferent: Egal welche Bestimmung auch ein Tourismus erhält, gegen Zahlung und damit für Umsätze bieten ihre Organisationen alles an (vgl. Wöhler 2020). Die Wirtschaft hat die Politik ebenso auf ihrer Seite (siehe strukturelle Kopplung Wirtschaft/Politik) wie Urlaubsreisende, die partout auf ihrem Grundrecht Erholung bestehen. Einige finden, sei es aus Neugier oder Zufall (Serendipität), bisher tourismusfreie Räume: Abseits der Skipisten, fernab der Bergwanderwege und weit draußen von Stränden erleben sie mit ihren All Mountain-Skiern, Mountainbikes und Surfbrettern (technischen Mittel) Atemberaubendes. Nach dem Enzensberger-Theorem geschieht dann dies: Indem Touristen etwas finden, wird es zerstört (Enzensberger 1987). Mit ›Zerstören‹ meinte er, dass das Gefundene serialisiert, industrialisiert und der kapitalistischen Verwertung und somit der Nachahmung (Verbreitung) zugeführt wird. Für Tarde (2017: 93) wäre das Finden von Neuem ein weiterer Beleg dafür, dass das »Heterogene […] im Herzen der Dinge [ist] und nicht das Homogene.« »Das soziale wie das lebendige Ding möchte sich hauptsächlich ausbreiten, nicht organisieren. Die Organisation ist nur ein Mittel, dessen Ziel die Ausbreitung und die Wiederholung durch Fortpflanzung oder Nachahmung darstellt.« (Ebd.: 95, Herv. i.O.) Unter welchem »Joch« das Gegenwärtige auch stehen mag, so kann »die tiefe, angeborene Vielfältigkeit, die sprudelnd und verändert an der herrlichen Oberfläche der Dinge […] wiedererscheint«, nicht gebändigt werden (ebd.: 93f.). Das soziale und lebendige Ding wäre demnach

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der Tourismus, dem ein ›üppiger Variantenreichtum‹ oder Modulationen eigen ist. Die nicht enden wollenden Determinativkomposita bzw. Tourismusarten belegen diesen üppigen Variantenreichtum. Er macht, digital unterstützt, den Tourismus ubiquitär. Dies besagt, dass Natur, Kultur, Artefakte, Lebensgewohnheiten sowie Ereignisse in irgendwelchen Räumen des Globus als tourismusgeeignet entdeckt werden. Die Touristifizierung kennt keinen Halt. Das Tor zur Welt ist eine Urlaubsreise. Nur ›Schocks‹ wie etwa Kriege und Katastrophen halten von einer Reise ab – vorübergehend. Sind sie beendet, dann vermitteln Reiseveranstalter z.B. eine Reise nach Tschernobyl, zu Kriegsschauplätzen und Ruinen (vgl. Reichel 2014). Doch nicht nur ferne Welten, sondern auch heimische Städte bieten Lifeseeing-Erlebnisse. Das Going Local der sog. New Urban Tourists (vgl. Sommer et al. 2019) ist höchst touristiös: Der Tourismus wird auf bislang tourismusfreie Räume übertragen. Die dann einsetzende Touristifizierung verfestigt sich in dem Moment, wenn das Going Local auf DMO-Websites und in Going LocalApps wie z.B. »Spotted by Locals«6 platziert wird. Diese räumliche Extension des Tourismus ist zugleich mit einer Extraktion verbunden: Wohin auch immer Going Local-Gäste, hingeführt werden, etwas ist aus dem Raum herausgeholt worden, das als local, als Eigenheit ausgegeben wird. Den Nachweis für wirklich Echtes und Authentisches annoncieren Locals, die gegen Entgelt Touristen an ihrem Alltagsleben teilhaben lassen. Zusammen mit privaten Ferienwohnungsanbietern kann man diese privaten Going Local-Anbieter auf digitale Vermittlungsplattformen erreichen (vgl. Thiele/Dembowski 2019: 91). Ferienwohnungen als Teil der Sharing Economy sind vielen Städten ein Dorn im Auge und rufen einen regulierenden Staat auf den Plan. Der Berliner Senat will den touristischen Fremdenverkehr nicht gänzlich der unsichtbaren Hand des Marktes überlassen, sondern ihn ein Stück weit einhegen. Einvernehmlich mit der Berliner DMO übernahm er den Vorschlag des von Beratern erstellten Tourismuskonzepts: 12mal Berlin erleben und nicht nur die bisherigen touristisch frequentierten Bezirke (vgl. Grube 2019: 63; Berlin hat 12 Verwaltungsbezirke). Derzeit setzt man die Konzeption um. Dies besagt, dass aus bisher tourismusunbelasteten Bezirken Tourismusgeeignetes extrahiert und somit Berlin vollends touristifiziert wird. Für die hanseatische DMMO bedeutet dies: Aufpassen! Die Berliner Konkurrenz könnte Marktanteile abjagen. Sollte man Berlin mit Billstedt, Ham6

Vgl. https://www.spottedbylocals.com/ (Zugriff 12.01.2023).

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merbrook, Hohenfelde etc. Paroli bieten? Solch eine raumgreifende Marketingstrategie fußt auf einem Me-too: auf nachgeahmten oder marktähnlichen Angeboten (vgl. Becker 2019: 156–159; Homburg 2020: Kap. 11). Wenn sich eine DMO bei der Strategieentwicklung (wie in Hamburg) an Best Practices orientiert – sie demonstrieren, dass eine intendierte Zukunft anderswo schon Gegenwart ist –, dann folgt eine Nachahmung auf dem Fuße. Jetzt muss nur noch das Problem des Place-Brandings gelöst werden. Trotz bzw. gerade wegen der Ähnlichkeit will man sich wenigstens mit einer imagefördernden Marke von der Konkurrenz unterscheiden (vgl. Saretzki 2022: 33–42). Angebotskopierend wirken solche Angebote, die an bestehenden Angeboten anknüpfen. Nur im markierten Skigebiet mit einem Lift hoch und dann runter, mag mit der Zeit langweilig sein. Skigebiete mit anderen Skigebieten durch Skilifte/Seilbahnen zu verbinden (etwa Ski amadé/Österreich), bietet Skiläufern mehr Abwechslung. Dadurch expandiert ihr Aktions- und Erlebnisraum. Diese raumausdehnende Touristifizierung schlägt sich in Angeboten (= Touristifikate) nieder. Werden sie anderswo kopiert, dann zeitigt sich auch dort diese touristische Raumausdehnung. Heute ist all dies normal, ein erreichter Tourismuszustand, ein touristischer Standard. Er verspricht Markt- und Wettbewerbsfähigkeit. Daher wird er kopiert und diffundiert in alle Himmelsrichtungen (zu dieser Imitation bzw. zum mimetic isomorphism vgl. DiMaggio/Powell 1983: 151f.). Ohne den Segen der Behörden (= Politadministrationen) ist die damit verbundene räumliche Ausweitung des Tourismus nicht möglich. Sie entscheiden über die Art und Weise der Nutzung von Arealen. Das Intersystem DMO (Kopplung Politik/Wirtschaft) sorgt für die Legitimierung neuartiger touristischer Nutzungen. Den Schneeausfall z.B. durch künstlichen Schnee (Technik!) zu kompensieren, benötigt eine amtliche Erlaubnis. Bei anderen Trends, z.B. bei sich anbahnenden Entwicklungen wie etwa der Kulinarik und Spiritualität, ist die Erteilung einer behördlichen Weihe unnötig. Für Touristen konzipierte kulinarische Touren verheißen eine Bereicherung der Genusserlebnisse (vgl. Olbrich 2021). Mittlerweile gehört es zum Marketingarsenal, Tourismusangebote zu emotionalisieren und Erlebnisse zu inszenieren. Spirituelle Erlebnisse materialisieren sich mitunter als ein Reset von einstigen religiösen Wegen, auf denen Wanderer versuchen, zu sich selbst zu finden und dabei im wahrsten Sinne des Wortes, eine Touristifizierung in Bewegung setzen (vgl. Sammet/ Karstein 2021). Das gilt auch für das nachhaltige Reisen: Das forum anders reisen (2022) bietet Tipps für nachhaltiges Reisen an. So gut gemeint solche Reisen auch sind, es werden gelebte Räumen in Anspruch genommen und damit tou-

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ristifiziert. Die Zonen der touristischen Konsumption und Kolonialisierung von Räumen erweitern sich ungebremst – auch dann, wenn ein großer Teil der Wertschöpfung in der Region bleibt, Einheimische beschäftigt und regionale Produkte genutzt werden. Mit einer solchen Selbstbeschreibung wirbt das forum anders reisen (2022: 69). Zusammengefasst: Tourismusräume sind gestaltete Räume. Sie wurden und werden in bestimmte Formen gebracht, touristifiziert. Nach Ricoeur handelt es sich um eine ›echte‹, ›lebendige‹ Metapher, da sie »gleichzeitig ›Ereignis‹ und ›Bedeutung‹« ist (Ricoeur 1983: 362, Herv. i.O.). Zudem zeichnet sie sich durch eine ›Realitätsreferenz‹ (Sachbezogenheit) und ›Selbstreferenz‹ (Selbstbezogenheit) aus (ebd.). Räume enthalten Möglichkeitsüberschüsse. Sie werden verarbeitet, indem sie selektiv genutzt werden – beispielsweise als Skioder Wandergebiet, Kletterparadies etc. Dabei wird eine Möglichkeit aktualisiert, die andere ausschließt oder zumindest beschränkt (vgl. Luhmann 2015: 191). Tourismusräume sind demnach nicht präskriptiv gegeben, sondern sie werden je spezifisch geformt und dadurch auf Dauer gestellt, d.h. strukturell verfestigt (vgl. Makropoulos 2008: 117f.). Strukturelle Verfestigung besagt jedoch nicht Erstarrung. Das Skigebietsunternehmen verbindet sein Revier mit anderen Gebieten und die HHT verbindet sich mit Kulturthemen. Beide antworten demnach auf ein ›Die-Zeiten-ändern-sich‹ und steigern gar ihre Optionen dadurch, dass sie für systemkonforme Anschlüsse sorgen (vgl. Nassehi 2008: 288–290). Prominent vertreten sind diese ›Erhaltungsanstrengungen‹ bei der Integration von Trends wie z.B. der Kultur. Die Touristifizierung wird beständig am Laufen gehalten.

Polykontexturalität und Touristificatial Fix Mit manchen, vornehmlich jungen Stadttouristen bzw. Gästen ist es so eine Sache. Mit am Kiosk besorgten Bierflaschen, einem schwerlich dechiffrierbaren Lärm und schmutzigen Hinterlassenschaften sind sie sichtlich wohlgelaunt und genießen die Geselligkeit mit ihresgleichen beim Cornern. Dies ist eine seit langem bekannte Situationsbeschreibung von Partymeilen in Kreuzberg genauso wie in der Sternschanze. Wer möchte in ihrer Nähe wohnen und leben? Kaum jemand. Einheimische, aber auch Wissenschaftler (sicherlich verreisen auch beide) machten und machen die Ursache aus: die Touristifizierung! Ihr wird der Kampf angesagt. Wer sind die Gegner, die Adressaten? Pars pro toto sind unterschiedliche Modi temporärer Raumaneignung und -inbe-

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sitznahme durch Touristen identifiziert worden. Reiseveranstalter und DMOs beobachten diese Prozesse bzw. Entwicklungen und stellen sie durch Angebote auf Dauer (Manifestation). Damit werden die Aktivitäten der Touristen wiederholbar. Der touristische Aufenthalt ist also verfertigt, fertig vorbereitet; er ist ein Touristifikat: Anbieter gehen davon aus, dass Touristen beispielsweise eine Skiarena oder eine Partymeile mit vielfältigen Aktivitätsmöglichkeiten erwarten. Diese Erwartungserwartungen schlagen sich in Strukturen nieder (vgl. Luhmann 1985: 362–367). Strukturen sind prinzipiell anschlussfähig: Zuvor gab es keine Verbindungen zu anderen Skigebieten oder es gab nur einzelne Restaurants in einer Straße, nun sind sie mit weiteren Handlungsmöglichkeiten upgedatet worden. Was ist, kann also auch anders sein (= Kontingenz). Wie man sieht, handelt es sich bei einer Touristifizierung um eine Kaskade. Dem ersten Schritt folgen weitere; weitere Akteure werden in den Tourismusstrudel hineingezogen. Der jeweilige Akteurszustand ist ein Derivat, eine Ableitung aus Vorangegangenem. Wer macht den ersten Schritt, wer löst diese Kaskade aus? Ohne in eine phänomenologische und sozialgeschichtliche Reisegenese zu verfallen, soll es damit belassen werden: Die wie auch immer zustande gekommene Erfahrung einer kontingenten Welt, wonach das, was ist, nicht notwendigerweise so sein muss, sondern auch anders sein kann (vgl. Makropoulos 2008: 32–39), animierte, das anders Mögliche fernab der Heimat zu suchen. Heute bzw. seit langem erwartet man, es fernab des durchstrukturierten und -getakteten Alltags zu finden. In ihm muss man sich fügen. Im alltagsabgewandten Raum kann man dagegen über die sich auftuenden Möglichkeiten verfügen; technische Mittel eröffnen zudem weitere Optionen. Die Urlaubsreise konstituiert ein neues und bleibendes Weltverhältnis. Danach wird ein Anspruch abgeleitet, das Sein selbstbestimmt und selbstwirksam zu gestalten. Welche Seinsmöglichkeiten Touristen auszuschöpfen gedenken, dies offenbaren sie mit ihren Urlaubsmotiven. Zu jedem Motiv gibt es nahezu unzählige äquivalente Angebote, die prädikativ auf Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten verweisen. Das Motiv bzw. die Erwartung ›Spaß, Freude und Vergnügen‹ zu haben, adressiert eine Seinsmöglichkeit. Offensichtlich trifft dies für die erwähnten jungen Stadttouristen zu. Selbstbestimmt okkupieren sie spektakulär einen Raum und ernten mit dieser Touristifizierung Kritik. Mit einem Go home signalisieren Einheimische und Nachbarn von touristischen Ferienwohnungsmietern, dass die Gäste unerwünscht sind, da sie die lokale Lebensqualität drastisch vermindern. Einige Kritiker sehen dieses Übel auch im Junggesellenabschiedstourismus, der von Eventagenturen pauschal

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(Flug/Bus, Getränke, Unterkunft, Ticket für eine Karaokebar, Präservative u.a.) organisiert wird. Zudem werden andere der Beihilfe für dieses Übel, aber auch als Treiber der Touristifizierung generell, bezichtigt: preiswerte Transportunternehmen (Easy Jet u.ä., Flixbus) und Unterkünfte (Hostels, Bed and Breakfast u.ä.) sowie schon klassisch Airbnb und zu guter Letzt Reiseveranstalter. Sie alle, also auch die Nachfrager, stehen unter einem Ökonomisierungsdruck (vgl. Schimank/Volkmann 2017: 61–75). Anbieter wollen und müssen im Wettbewerb bestehen und eruieren, mit welchen Produkten und Preisen sie welche Nachfrager gewinnen können, um eine Rendite, zumindest aber keinen Verlust einzufahren. Und Nachfrager schauen auf ihren Geldbeutel. Sie sind homines oeconomici: Sie achten darauf, dass ihre Präferenzen mit dem besten Kosten-Nutzen-Verhältnis erfüllt werden. Die dafür notwendigen Marktinformationen holen sie sich zusehends aus dem Internet. Das neoliberale Gedankengut ist demzufolge tief verankert; der Neoliberalismus als gesellschaftliche Leitidee legitimiert sich durch politökonomisches und soziales Handeln (vgl. ebd.: 73–75). Er lässt allerdings eine Offenheit für unterschiedliche Lebensentwürfe zu (vgl. Nassehi 2021: 246–252) und operativ – nicht normativ oder moralisch – betrachtet, kennt er keine Stoppregeln und wartet auf der organisationalen Sachebene beispielsweise mit reichlichen Urlaubsgestaltungsmöglichkeiten (den bereits beschriebenen Tourismusarten) auf. Während die Leitidee des ökonomischen Wirtschaftens einen eigenständigen Geltungskontext ausgebildet, Wirtschaftlichkeit an der Relation von Kosten und Erträgen (= Rationalitätskriterium, Gewinn) festgemacht und damit eine Verhaltensstruktur begründet hat (vgl. Lepsius 1997: 58f.), entscheiden Erholungsurlauber autonom, wo und nach welchem Rationalitätskriterium (Motive) sie die gesellschaftlich anerkannte und kodifizierte Leitidee Erholungsurlaub verwirklichen. Sie entscheiden sich individuell. Der Geltungsraum für eine Motivumsetzung ist nicht fix gegeben, sondern er bildet sich trotz analoger und digitaler Hinlenkung ad hoc aus, d.h., wenn beispielsweise eine Handlungssituation das intendierte fröhliche Vergnügen hervorruft. Dieses positive Erlebnis kann zur Wiederholung im nächsten Jahr führen und weiterempfohlen werden. Nicht bei uns, melden sich dann vielleicht die Einwohner Kreuzbergs oder der Sternschanze unmissverständlich zu Wort. Die hässliche Seite der Touristifizierung mit ihren negativen externen Effekten kommt hier zum Ausdruck. Es bei Moralisierung zu belassen, wäre jedoch unterdeterminiert. Im gleichen Handlungskontext beanspruchen unterschiedliche Leitideen – Erlebnisqualität der Touristen/Lebensqualität der Einheimischen – einen Geltungsanspruch. Sicherlich stellen beide Seiten

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die Sinnförmigkeit des Urlaubens als Erholung nicht in Frage, wohl aber eine beobachtungsunabhängige Welt: »Alles wird kontextualisiert, das heißt, wie die Dinge sich darstellen, hängt davon ab, von wo aus wir sie betrachten« (Nassehi 2017: 180f.): Die Jugendlichen unter der Perspektive eines spaßigen Vergnügens und Einheimische unter dem Blickwinkel des Verlusts ihrer Lebensqualität. Dieselbe Situation wird also unterschiedlich gerahmt; Rahmenkonflikte bleiben daher nicht aus (vgl. Goffman 1980). In Berlin hat man dies grundsätzlich erkannt: Die DMO will die Erlebnisqualität der Touristen mit der Lebensqualität der Einheimischen in Einklang bringen. Mit einem ›stadtverträglichen‹ Tourismus soll dies bewerkstelligt werden (vgl. Grube 2019: 64). Damit ist jedoch nicht aufgehoben, dass man von einer polykontexturalen Gesellschaft ausgehen muss. Die Welt fungiert »unter komplexen Verhältnissen nicht mehr als substantielle Welt für alle […], sondern [sie löst] sich in eine polykontexturale Welt« auf (Nassehi 2008: 222, Herv. i.O.). Das Tourismusgeschehen ist nach all den vorherigen Darlegungen wahrlich komplex. Polykontexturalität heißt nach Luhmann (2018: 666), »daß die Gesellschaft zahlreiche binäre Codes und von ihnen abhängige Programme bildet und überdies Kontextbildungen mit sehr verschiedenen Unterscheidungen […] anfängt.« Ganz im Sinne einer solchen Polykontexturalität handelte auch die hanseatischen DMMO: Man wollte und will die ganze Kultur und nicht nur Teile von ihr vermarkten (Kontextbildung mit einer Unterscheidung anfangen), um im Wettbewerb mitzuhalten (wettbewerbsfähig/-eingeschränkt, binärer Code) und man legte sich mit der Tourismusstrategie ein Programm zu, wodurch verschiedene Kontexte (Themenangebote) entstanden. Durch die von allen DMMO-Mitgliedern geteilte Wirklichkeitsdeutung (kollektives Wissen über den jetzigen und künftigen Zustand) macht ein kollektives Handeln seitens der Politik und Wirtschaft, die das Intersystem DMMO konstituieren, möglich. Die strukturelle Kopplung ihrer Organisationen stellt eine Handlungsfähigkeit her (vgl. Wöhler 2013: 125–132): Die Wirtschaft erwartet eine Gewinnsteigerung (Leitwert), und die Politik rechnet mit wachsenden Einnahmen aus dem Tourismus und dadurch sichert sie sich ihre Wiederwahl (Leitidee) insofern, als sie mit den touristischen Einnahmen (Steuern/ Abgaben) z.B. Schulen, Krankenhäuser, Universitäten etc. finanzieren kann. Sie beobachtet die hanseatische Wirtschaftspolitik danach: Was erbringt sie u.a. für Erziehung, Medizin und Wissenschaft. Dies sind komplexe, perspektivreiche Verhältnisse. Sie kommen auf den Tisch, wenn die DMMO davon spricht, dass die Kulturtourismusstrategie allen zugutekommt, auch der

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einheimischen Bevölkerung und dem Umweltschutz, da die Wege zu den Kulturangeboten zu Fuß, mit dem ÖPNV oder Fahrrad zu erreichen sind (vgl. HHT 2022: 63). Die hier vorgestellte polykontexturale Tourismuswelt demonstriert, dass sie durch unterschiedliche Geltungsansprüche mit je eigenen Perspektiven bzw. Beobachtungen und Bewertungen geprägt ist – jene der Touristen, Einheimischen, Wirtschaftsunternehmen, Politik, Umweltschützer, Wissenschaft etc. Es handelt sich um »ein komplexes System, in dem alle Operationen mit naheliegenden anderen vernetzt und durch sie konditioniert sind, ohne dass irgendwo, sei es an der Spitze, sei es in der Mitte, […] die Einheit des Systems zu beobachten wäre.« (Luhmann 2015: 126f.) Am venezianischen Overtourism lässt sich zeigen, dass es bei einer Polykontexturalität – davon ist in der modernen Welt per se auszugehen (!) – keine Hierarchie, sondern eine Heterarchie gibt (vgl. ebd.; zum Bsp. Venedig vgl. Nolan/ Séraphin 2019): Die noch verbliebenen Einheimischen fühlen sich ob der Überfüllung entfremdet und sind kaum noch zahlungsfähig für Wohnungsmieten. Kreuzfahrtschiffe loben sich mit dem attraktiven Landausflug Venedig aus, Touristen sind begeistert, Einzelhandel, Gastronomie und Beherbergungsbetriebe verdienen prächtig, die von ihnen herrührenden Steuern und Abgaben machen die Stadtverwaltung glücklich und Umweltschützer beklagen die Zerstörung der Lagune. Im Verein mit Einheimischen fordern sie die Stadtpolitik auf, der zerstörerischen Entwicklung Einhalt zu gebieten. Ganz nach dem Hin-und-her-Schwanken à la »I can’t live with or without you« (U 2) entschloss sich die Politadministration, die Anzahl der anlegenden Kreuzfahrtschiffe pro Tag zu reduzieren und von deren Gästen ein ›Eintrittsgeld‹ zu verlangen. Damit ist Venedig vollends zu einem Freizeitpark wie in Rust mutiert: Alles ist durchökonomisiert, für zahlungsbereite Touristen angefertigt und auf sie ausgerichtet. Man muss nicht mit dem Finger auf Venedig zeigen: Auf Sylt oder in den Seebädern an Ost- und Nordsee ist es ebenso. All dies ist angesichts des Tourismus als Wirtschaft nicht verwunderlich. Am Tourismus wollen viele mitverdienen. In ihn einzusteigen, ist ein profitables Investment. Voraussetzung dafür ist, dass sich in Räumen eine Touristifizierung wiederholt und sich eine Touristifikation einstellt. Dies beinhaltet, (1) dass sich immer mehr Reisende vorübergehend in einem Raum niederlassen, um beispielsweise Sonne, Strand und Sand zu genießen, sich beim Skilaufen und Fahrradfahren zu erfreuen oder das Kiezleben zu erleben u.a.m. sowie (2)

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dass DMOs, Reiseveranstalter und Paketer solche Handlungsmöglichkeiten in ihren Programmen haben. Touristifikation schafft damit einen Anker für das flottierende Kapital. Harvey (2001) spricht bei einer derartigen räumlich-institutionellen Verankerung des Kapitals von einem Spatial Fix. Touristificatial Fix meint dies auf den Tourismus bezogen. Ein Beispiel (vgl. Hasse 1988): Das Nordseebad Dangast befindet sich im Zustand der Touristifikation. Dort hatte in den 1980er Jahren eine kleine Gruppe von Immobilienhändlern, Bauunternehmern und Projektbetreibern einen erfolgreichen Bauantrag für 281 Wohneinheiten in Hotels, Pensionen, Appartements etc. gestellt. Die Einnahmen aus diesen Investments kommen also nur wenigen zugute. Offensichtlich verfügen die Bauantragenden über überschüssiges Geldkapital, das in diese Profit versprechenden Anlagen investiert wird. Tourismus geht immer, Menschen wollen verreisen, an den Strand allemal. Sicherlich denken so auch die Vermieter von 209 Ferienwohnungen/Appartements; 106 stammen aus Dangast, nur 46 % sind in einer Hand. Was Gotham (2005) als Tourism Gentrification bezeichnet, bleibt nicht aus. Die Erkenntnisse über Gentrifizierung erschießen sich also vom Tourismus und von dessen Entwicklung. Die Orientierung an den Bedürfnissen der Bevölkerung und deren Geltungsansprüchen fallen bei einer Gentrifizierung zusehends durch das Sieb der Kommunalpolitik, die sich den Interessen der Wirtschaft (Rendite) nicht widerwillig beugt. In Anbetracht des boomenden Tourismus in Gothams (2005) Beispiel des French Quarters in New Orleans stiegen global agierende Investmentunternehmen in die Aufwertung der Immobilien mit dem Ziel ein, Gewinne (Profit) beim Verkauf und bei der Vermietung der Ferienwohnungen zu erzielen. Die Investoren oder Immobilienentwickler hatten den richtigen Zeitpunkt gewählt: Das French Quarter ist von vielen zahlungskräftigen Touristen erobert worden; mit sicherem Return on Investment für die Investoren war zu rechnen. Dieser Raum wurde zur Ware; er dient der Akkumulation des Kapitals (vgl. dazu Harvey 1991: 155). Dass in Dangast von den 106 Ferienwohnungs- und Appartementvermietern 46 in einer Wohnanlage loziert sind, zeugt von einem Engagement eines Immobilienentwicklers, der von einer robusten touristischen Nachfrage überzeugt ist. Mit seinem Kapital beeinflusst der Investor nicht nur die Produktion eines Raumes, sondern er konstituiert ihn (vgl. Harvey 1990: 233). Das Skigebiet von Andermatt wurde von einem Investor samt Inhalt gekauft, sodass nun alles in seiner Macht ist: Beherbergung, Gastronomie, Lifte, Läden, Skischule u.a.m.: Raumkapitalisierung total, wie in amerikanischen Skigebieten. Das global

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zirkulierende Kapital sucht sich attraktive Tourismusräume wie Skigebiete; Strände und Städte. Zusammengefasst: Das Kapital muss produktiv arbeiten. Für Hotelketten sowie bonitätsstarke Investoren suchen Immobiliengesellschaften Hotels zum Kauf oder zur Pacht und andere sind auf der Suche nach Arealen, auf denen Hotels gebaut werden dürfen. Oder sie erwerben Häuser, reißen sie ab und bieten diese entstandene Leere für die Errichtung von Hotels oder Wohnanlagen an. Leeres, nur von der Natur bewohntes Gelände lief und läuft nach wie vor Gefahr, von ›Immobilienhaien‹ aufgefressen zu werden. Schließlich und endlich erwerben Privatpersonen Eigentumswohnungen und bieten sie als Ferienwohnungen an. All dies vollzieht sich nicht im gesetzfreien Raum; die Behörden (Politik) müssen ihren Segen geben. Selten zeigt ihr Daumen nach unten; was nicht leichtfällt, da sie ihre Zusagen an Auflagen knüpfen. Wie bereits erwähnt: Strukturbildend ist das Kapital zur rechten Zeit – hier, wenn eine Touristifikation gegeben ist, ein Raum wiederholt von Reisenden aufgesucht wird und vor allem diese Spuren hinterlassen haben: Sie haben Geld für Essen, Wohnen, Besichtigungen, Aktivitäten, Führungen, Souvenire, Bekleidung, Ausleihe für technische Geräte (etwa Mietwagen, Skier und Kanus) und mitunter Geschenke (Mitbringsel) ausgeben. Diese Ausrichtung an Touristen hat zur Folge, dass sich die Gastronomie, Lebensmittelläden u.a. auf Touristen einstellen und dabei die an einheimischen Bedürfnissen ausgerichtete Wirtschaft verdrängen. Die Umwidmung von Wohnungen zu Ferienwohnungen verringert Vermietungsangebote (nebenbei steigen die Mieten) und schließlich werden öffentliche Plätze von Touristen vereinnahmt (vgl. zu diesen Verdrängungsprozessen Cocola-Gant 2018). Das Recht der Einheimischen, an Ort und Stelle zu bleiben (vgl. Saretzki 2020), wird dadurch wenn nicht verunmöglicht, so doch stark bedroht und verteuert, was letztlich auch wieder Touristen trifft (dies meint ja Gotham mit Gentrifizierung). Wie z.B. in Sevilla, wo Touristen auf ›LifestyleMigranten‹ treffen, die bereits ein Viertel gentrifiziert und folglich den sozialen und materiellen Charakter verändert haben (vgl. Jover/Díaz-Parra 2020). Zeitweilig dort zu sein, ist für Touristen höchstattraktiv. Das haben sie nun davon, wenn sie Räume in Anspruch nehmen, sprich, sie für ihre Interessen, Bedürfnisse und Erwartungen (siehe Reisemotive) nutzen und dabei touristifizieren. Jetzt müssen sie zur Strafe der Gastronomie, den Lebensmittel- und Souvenirläden, Skigebietsbetreiber, Guides, Reiseveranstaltern u.a. viele Euros hinblättern. Diese sozialen Organisationen des Wirtschaftssystems haben mit ihren Programmen Marktchancen wahrgenommen; diese beeinflussen ihre Liquidität und Kreditwürdigkeit

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(vgl. Luhmann 2015: 250f.). Am Beispiel der Schanzen-Gastronomie zeigt sich, dass mit dem Anwachsen der Partygäste und Tagestouristen immer mehr Gastronomiekonzessionen vergeben wurden. Um sie zu bekommen, müssen die Betreiber u.a. eine Unbedenklichkeit nachweisen: keine Gesetzeskonflikte und Steuerschulden. Viele mussten – sieht man von Franchisebetrieben ab – allerdings für den Geschäftseinstieg Schulden machen: Für Investitionen in den Umbau, Küchenausrüstung, Beschaffung von Produktionsfaktoren (Lebensmittel, Getränke, Bestuhlung, Werbung etc.). Kurzum, Zahlungsfähigkeit ist gefragt. Ist sie für diese Investitionen nicht in vollem Umfang gegeben, dann ist der Gang zur Geschäftsbank unvermeidlich; ein Kredit muss aufgenommen werden. Die Bank ist durch Kredittilgungen samt Zinsen, Kundenguthaben und Anlagen in einem hauseigenen Immobilienfonds zahlungsfähig. Tilgen die Gastronomiebetreiber ihre Kreditlast, dann wird die Bank zusehends zahlungsfähiger für andere Geschäfte (zu diesem Kreislauf siehe ebd.: 144–150). Für die Gastronomiebetreiber bleiben die fixen Mietkosten; die variablen Kosten für Zutaten der Speisenherrichtung, Getränke, Personal, Energie, Versicherungen etc. sind auch nicht gering. Überziehungskredite bleiben daher nicht aus. In Anbetracht der boomenden Sternschanze werden sie von der Bank gewährt. Beide Seiten – Gastronomie und Bank – sind zur rechten Zeit am richtigen Ort; der Rückfluss des beiderseitig investierten Geldes ist sichergestellt. Genau dies ist der Kern des Touristificatial Fix (vgl. Belina 2011, der dies für den Spatial Fix herausarbeitet). Die Gastronomieanbieter streben (nach Steuern, Zinsen und Abgaben) eine Gewinnerzielung und Überschüsse für den eigenen Lebensunterhalt an. Die Bank verdient an den Krediten. Vielleicht legt der eine oder andere Gastronom einen Teil seines Gewinns im offenen Immobilienfonds der Bank an. Dieser Fonds investiert in Hotels und Ferienanlagen, jedoch insbesondere dort, wo der Tourismus verlässlich brummt, wie z.B. an Stränden der Ost- und Nordsee; also dorthin, wo Reiseveranstalter ihre Gäste in Hotels oder Ferienwohnlagen unterbringen. Die oben skizierten Verdrängungen haben einen kapitalistischen bzw. ökonomischen Unterbau: Wo Touristen sind, lassen sich Geld verdienen und Gewinne (Profite) erzielen. Unternehmen, die sich dort niederlassen, benötigen eine amtliche Erlaubnis. Sie wird erteilt. Die Politik rückt mit der Wirtschaft zusammen (siehe HHT/DMMO). Sie erhält Geld von ihr und wird dadurch zahlungsfähig für ihre Leistungen und verhindert damit, dass dem wie auch immer geformten Tourismus die Luft ausgeht. Dass der Tourismus eine Verletzbarkeit bei Einheimischen und Konflikte hervorruft, ist systemimmanent. Ihre Geltungsansprüche können nur vor Ort ver-

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handelt werden, aber nicht vom Tourismussystem bzw. der Tourismuswirtschaft, die keine Stoppregeln kennt. Sie kann sich nur häuten. Etwa zu einem nachhaltigen Tourismus, der dann das wie auch immer identifizierte Nachhaltige als tourismusgeeignet erklärt und es damit touristifiziert. Ihn in einer polykontexturalen Welt als nachhaltige Einheit zu etablieren, mag für viele überaus notwendig sein, doch für andere möglich, wenn ihre Geltungsansprüche berücksichtigt werden. Die gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen sind dafür ein Beleg.

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Die Sternschanze – ein gentrifiziertes Stadtviertel? Martin Pries »Gentrifi … was? Das Dingsbums geht nicht leicht über die Lippen« (Twickel 2010: 5)

Einleitung In der Presse ist es ruhig geworden um das Thema Gentrifizierung. Noch vor wenigen Jahren als Kampfbegriff gegen soziale Veränderungen in Stadtvierteln benutzt, bestimmt inzwischen die Frage nach bezahlbarem Wohnraum den öffentlichen Diskurs. In vielen Metropolen ist das ›Wo‹ durch das ›Ob überhaupt‹ abgelöst worden. Wer in der einschlägigen Forschungsliteratur nach dem Begriff Gentrifizierung sucht, erhält unterschiedliche Definitionen und Antworten; Gentrifizierung scheint ein »chaotic concept« (Beauregard 1986) zu sein. Die in jüngster Zeit vorgenommene Differenzierung nach Regionen macht die Sache nicht übersichtlicher. Bei der Fülle an Einzelbeispielen (vgl. Krase/DeSena 2020a, b) stellt sich die Frage, ob überhaupt noch von der einen Theorie gesprochen werden kann, oder es sich nur um eine Facette des Phänomens Reurbanisierung handelt. Das Präfix Re bedeutet nicht nur den bloßen Umzug von der Vorstadt in die Kernstadt, sondern ist mit einer Restrukturierung und Neukonstituierung von Wirtschaft und Gesellschaft verbunden. Das könnte Veränderungen in städtischen Quartieren erklären, die als Gentrifizierung identifiziert werden. Damit stellt sich die Frage, ob es ein eigenständiges Phänomen Gentrifizierung gibt oder nur ein Wandel der Gesellschaft und urbane Restruktu-

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rierungsprozesse in innerstädtischen Quartieren wachsender Metropolen beschrieben wird.

Gentrifizierung Der Begriff Gentrifizierung wurde erstmals 1964 im englischsprachigen Raum geprägt. Die britische Soziologin Ruth Glass bezeichnete den Wandel von Arbeitervierteln in London zu Vierteln des Mittelstandes als Gentrification (vgl. Glass 1964: xviii). Sie beobachtete, dass in verfallende Altbauten der Arbeiter statushöhere Bewohner zogen, die die Immobilien aufwerteten und sich dadurch die gesamte Sozialstruktur veränderte. »One by one, many of the working class quarters of London have been invaded by the middle classes – upper and lower. Shabby modest mews and cottages […] have been taken over when their leases expired, and have become elegant, expensive residences. […] Once this process of ›gentrification‹ starts in a district it goes on rapidly until all or most of the original working class occupiers are displaced and the whole social character of the district is changed« (ebd.: xvii-xix). Sie bezeichnete die neue soziale Gruppe als gentry, nach dem niederen (Land-)Adel in England, und den Prozess, dass besser Verdienende die alteingesessene Bevölkerung aus innenstadtnahen Wohnquartieren verdrängt, als Gentrifizierung. Dabei handelte es sich um Quartiere, die in der Industrialisierung entstanden sind, vergleichbar mit den gründerzeitlichen Vierteln in deutschen Städten. In den 1980er Jahren begann man diesen Prozess auch in deutschen Städten zu untersuchen und zu diskutieren (vgl. dazu z.B. Blechschmidt 2009; Blasius/Dangschat 1990; Friedrichs 1988; Friedrichs/Kecskes 1996; Helbrecht 1996; Holm 2008). Da sich der Begriff Gentrification schwer ins Deutsche übersetzen lässt, wurden andere diskutiert, aber letztendlich verworfen. Stattdessen hat sich die – mittlerweile auch in den Duden aufgenommene – eingedeutschte Version Gentrifizierung durchgesetzt.

Die Sternschanze – ein gentrifiziertes Stadtviertel?

Der Verlauf Schon 1979 hatte Clay ein Verlaufsmodell vorgeschlagen, mit dem die Aufwertung eines Stadtviertels beschrieben werden kann. Zunächst sind innenstadtnahe Quartiere von der Entwicklung betroffen, die vor 1910 errichtet wurden und in denen sich die Gebäude in einem schlechten Zustand befinden, was niedrige Immobilienpreise und Mieten zur Folge hat. Er unterscheidet dabei zwischen der Sanierung durch private oder öffentliche Hand (incumbent upgrading; vgl. Clay 1979: 6f.) und der Gentrifizierung, bei der externes Kapital die Aufwertung steuert. Im Verlauf beider Prozesse wird die ansässige Bevölkerung ausgetauscht.

Abbildung 1: Idealverlauf der Gentrifizierung

Quelle: Dangschat (1988: 281)

Friedrichs (1998: 57) sieht, mit einem Rückgriff auf die Chicagoer Schule der Sozialökologie, den Wandel der Bewohner in einem Quartier als einen Invasions-Sukzessions-Prozess. Basierend auf dem Erklärungsmodell für die Transformation der ethnischen Zusammensetzung in nordamerikanischen Städten, überträgt er das Modell ganz allgemein auf einen nachbarschaftlichen Wandlungsprozess. Über einen längeren Zeitraum wird durch die normale Fluktuation in einem Quartier die Bevölkerung ausgetauscht, die Alteingesessenen werden durch Pioniere ersetzt. Ab einem gewissen Punkt fühlen sich die alten Bewohner durch die neuen gestört und verlassen freiwil-

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lig das Quartier. Es gibt keine aktive Verdrängung, sondern die Entscheidung wird mit dem Umzugswagen getroffen. Der doppelte Invasions-Sukzessions-Zyklus, wie ihn beispielsweise Dangschat (1988) in die Diskussion eingeführt hat, beschreibt den Prozess idealtypisch in vier Phasen (vgl. Abbildung 1).

Phase 1 In einem innenstadtnahen Quartier mit einer funktionalen Mischung aus Wohnen, Industrie, Gewerbe in den Hinterhöfen und Versorgungseinrichtungen ist der Zustand der Bausubstanz allgemein schlecht. Die Wohnungen sind wie im ausgehenden 19. Jahrhundert ausgestattet, oft nur mit Kohleheizung und Toilettenanlagen im Treppenhaus. Aufgrund der schlechten Ausstattung der Wohnungen sind die Mieten und Immobilienpreise niedrig. Wer es sich leisten kann, hat das Viertel verlassen und die fünf A’s sind geblieben: die Alten, die Ausländer, die Arbeitslosen, die Alteingesessenen, die Armen. In dieser Phase ziehen Pioniere aufgrund der normalen Fluktuation als neue Bevölkerungsgruppe in das Viertel: Auszubildende, Ausländer, Studierende, Kunstschaffende und Kreative. Sie haben wenig Geld, können aber StartUp-Unternehmen in den Industrieruinen gründen oder finden günstige Geschäftsräume. Sie bringen eine hohe Toleranz mit, empfinden Fabrikruinen als inspirierend und herausfordernd, den hohen Ausländeranteil als bereichernd und finden Möglichkeiten, ihren Lebensstil zu verwirklichen. Die neuen Bewohner beginnen in Eigenleistung die Wohnungen zu renovieren. Weil noch nicht die Immobilienbesitzer selbst in den Bestand investieren, bleiben die Mieten niedrig. Das Image des Quartiers ist weiterhin schlecht.

Phase 2 Es ziehen weitere Pioniere in das Viertel und durch ihre Konsumgewohnheiten beginnen sich auch die Versorgungseinrichtungen auf die veränderte Nachfrage einzustellen. Neue Restaurants, Cafés, Kultureinrichtungen oder alternative Läden siedeln sich an. Im Schanzenviertel waren es oft Ausländer, die neue Lokale eröffneten, und es gehörte zum Lebensstil, ›zum Türken‹, ›zum Portugiesen‹ oder ›zum Spanier‹ zu gehen. Parallel zur einsetzenden physischen Aufwertung des Viertels vollzieht sich auch eine symbolische. Kulturelle Ereignisse werden positiv kommuniziert und schließlich auch in der Presse darüber berichtet. Erste Spekulanten

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und Investoren werden aufmerksam, und es kommt zu ersten Mietsteigerungen. Das anfänglich negative Image des Viertels beginnt sich zu wandeln; es entwickelt sich zu einem Geheimtipp.

Phase 3 In der Phase drei beginnen sich die Gentrifizierer für das Viertel zu interessieren, da sie eben jene Elemente vorfinden, die auch zu ihrem Lebensstil passen. Sie kennen das Viertel bereits als Geheimtipp und haben die alternativen Kulturveranstaltungen besucht und schätzen gelernt. Ihr Einkommen ermöglicht es ihnen jedoch, eine Wohnung zu kaufen. Diese Gruppe der YUPPIES (Young Urban Professionals), DINKS (Double Income no Kids), LoHaS (Lifestyle of Health and Sustainability) oder Silversurfer (aktive Rentner) ist sehr heterogen, aber sie finden offensichtlich den Raum zur Verwirklichung ihrer Konzepte vom Leben und Arbeiten. Sie können hohe Preise bezahlen, sodass die Nachfrage nach Wohnraum anzieht und die Mieten- und Immobilienpreise steigen. Der zweite Sukzessionszyklus beginnt mit dem Auszug der Pioniere. Spekulanten nutzen die Chance, Miet- in Eigentumswohnungen umzuwandeln und mit hohen Profiten zu verkaufen. Auf den Flächen der ehemaligen Fabriken setzt eine rege Neubautätigkeit ein, weitere Altbauten werden saniert und leere Grundstücke mit Neubauten belegt. An dieser Entwicklung sind auch Pioniere maßgeblich beteiligt. Beispielsweise Studierende haben ihr Studium beendet und als berufstätige Akademiker ein höheres Einkommen. Sie bleiben im Quartier, aber können sich jetzt Eigentum leisten. Auch die ›noch‹ Studierenden fördern indirekt die Mietsteigerungen, weil sie eine relativ kurze Verweildauer in ihren Wohnungen haben. Finden sie vor Ort keine Arbeitsstelle, verlassen sie die Stadt nach vier bis fünf Jahren, und die Wohnung kann zu einem höheren Preis neu vermietet werden.

Phase 4 Die letzte Phase der Gentrifizierung ist erreicht, wenn die neue Bevölkerungsgruppe die Mehrheit stellt und das Viertel insgesamt strukturell aufgewertet ist. Die Gegend hat inzwischen ein sehr gutes Image und gilt als sichere Kapitalanlage. Da vorhandene Umweltbelastungen weitgehend beseitigt wurden, ist der Standort auch für Familien mit Kindern geeignet. »Großstädte gegen

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den Trend« titelte der Spiegel 20061 und das Hamburger Abendblatt stellte im selben Jahr für Hamburg fest: »Im Stadtkern steigt Zahl der Haushalte mit Kindern«2 . Es gibt differenzierte Dienstleistungen und ein breites kulturelles Angebot. Aufgrund der gestiegenen Immobilienpreise verlassen die Pioniere, Alte, Arme, Auszubildende und Ausländer das Viertel. Sie werden ersetzt durch die neuen A’s: Akademiker, Ärzte, Anwälte und Architekten. Auch Start-Up-Unternehmen müssen ihre Ladenlokale aufgeben, oder sie haben es geschafft, mit ihren Ideen so hohe Einkünfte zu erzielen, dass sie die Mietsteigerungen bezahlen können. Die bunte Vielfalt geht allmählich verloren und Einzelhändler werden durch Filialisten ersetzt.

Phase 5 Bisher wenig untersucht ist die Touristifizierung (vgl. Dirksmeier/Helbrecht 2015; Füller/Michel 2014 sowie Wöhler in diesem Band) sowie die Rolle des internationalen Kapitals, sodass die Erweiterung um eine neue Phase fünf gerechtfertigt erscheint. Das breite und bunte Angebot lockt nicht mehr nur Einheimische, sondern vermehrt auch Touristen an. Ein gutes Beispiel dafür ist das sogenannte Portugiesenviertel am Hamburger Hafen. Zunächst war das Viertel geprägt durch Seeleute, die in den Seemannsheimen auf ihre nächste Heuer warteten. Der Autor kennt noch aus eigener Anschauung die Geschäfte, die dominiert waren durch Elektronikdiscounter. Vor Glasnost reisten Menschen aus den Ostblockstaaten in Bussen an, um billige Elektro- und Elektronikprodukte zu kaufen. Die Gastronomie war geprägt durch günstige ›Portugiesen‹ und ›Spanier‹; Cafés suchte man vergebens. Erst nach 1989 wandelte sich das Viertel. Seemannsheime wurden geschlossen, weil sie durch Strukturveränderungen in der Seefahrt überflüssig wurden, und die Geschäfte wandelten sich zu Restaurants und Cafés. Mit dem Labeling Portugiesenviertel verwandelte sich das Quartier in eine touristische Destination, die von Touristen heute ebenso selbstverständlich wie die St. Pauli Landungsbrücken besucht wird. Durch diese Entwicklung erhalten Viertel, die die Touristifizierung durchlaufen, einen weiteren Entwicklungsschub und internationales Kapital be-

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Vgl. https://www.spiegel.de/politik/grossstaedte-gegen-den-trend-a-e913725a-00020001-0000-000046332236?context=issue (Zugriff 20.01.2023). Vgl. https://www.abendblatt.de/hamburg/article107095081/Im-Stadtkern-steigt-Zah l-der-Haushalte-mit-Kindern.html (Zugriff 20.01.2023).

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ginnt sich für die Immobilien zu interessieren. In der letzten Phase kommt es zu einem International Buyout. Die Stadtteile werden als gute Geldanlage erkannt und international vermarktet. Als Folge leeren sich die Quartiere, weil die Immobilienbesitzer ihre Wohnungen nicht ganzjährig nutzen oder touristisch vermarkten.

Abbildung 2: Fünf Phasen der Gentrifizierung

Quelle: eigene Darstellung

Wo findet Gentrifizierung statt? Nach dem bisherigen Diskussionsstand sind von der Entwicklung nur Stadtteile betroffen, in denen vielfältige Nutzungen städtebaulich möglich und die Trennung städtischer Funktionen zumindest teilweise nicht existiert. Hinzu kommt ein historisches Ambiente, das nach dem derzeitigen Geschmack ästhetisch reizvoll ist. In Deutschland sind es die gründerzeitlichen Viertel, die ohne Bauleitplanung von Investoren entwickelt und Geschossbauten in unterschiedlicher Qualität, Gewerbe, Industrie, aber auch Schulen und kirchliche Einrichtungen in unmittelbarer Nachbarschaft gebaut wurden.

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Nach dem Ersten Weltkrieg machte der eklatante Wohnungsmangel und die mangelnde Hygiene in den Quartieren ein Umdenken notwendig. In Hamburg steht Fritz Schumacher als Oberbaudirektor für diese Entwicklung. Ihm gelang es, geltende B-Pläne für die in Hamburg charakteristischen Schlitzbauten im Stile des 19. Jahrhunderts zu revidieren (vgl. Schumacher 1935: 379). Auf den Flächen wie beispielsweise Dulsberg, der Jarrestadt, Barmbek Nord oder auf der Veddel entstanden neue Kleinwohnungen im Stile der neuen Sachlichkeit, in vielen Planungselementen eine Vorwegnahme der Charta von Athen. Schumacher selbst hat sich nie als Stadtplaner oder Architekt der neuen Sachlichkeit gesehen (vgl. ebd.: 384). Andernorts setzte sich die Vision der funktionalen Stadt durch und verbreitete sich durch die regelmäßigen Treffen internationaler Architekten auf den Congrès Internationaux d’Architecture Moderne. Programmatisch wurden die Ergebnisse der Kongresse von Le Corbusier in der Charta von Athen 1933 festgehalten. Die städtischen Funktionen Wohnen, Freizeit, Arbeit und Verkehr wurden sorgsam getrennt, um Konflikte zu vermeiden. Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte man sich in Deutschland zunächst auf den Wiederaufbau zerstörter Städte. In dieser Phase des Städtebaus wird die Funktionstrennung das herrschende Paradigma des Städtebaus, das beispielsweise von den einflussreichen Architekten Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Ludwig Hilberseimer und anderen vertreten wurde. Michel Houellebecq (2012) lässt den Vater des Künstlers Jed Martin in seinem Roman Karte und Gebiet bezüglich städtebaulicher Wettbewerbe die treffenden Worte sagen: »Die Funktionalisten hatten in allen Jurys eine dominierende Position. […] Ich bin gegen eine Wand gerannt, wir alle sind gegen eine Wand gerannt.« (Ebd.: 221) Le Corbusier hatte mit seinem Plan für den Totalabriss der Pariser Innenstadt und dem Neubau der Ville Radieuse dafür den gedanklichen Weg geebnet. In Deutschland wurde der Funktionalismus in der Baugesetzgebung quasi festgeschrieben, was für andere europäische Länder nicht gilt. Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, dass der Idee der funktionalen Stadt ganze Quartiere und auch Innenstädte weichen mussten. Beispielsweise sollte die unzerstörte Fachwerkstadt Hameln komplett abgerissen werden, wie auch der Hamburger Stadtteil St. Georg, um sie funktional für den modernen Menschen wieder aufzubauen. Für die unzerstörten Stadtquartiere hatte es zur Folge, dass Städteplaner für die gründerzeitliche Bausubstanz keine Zukunft sahen, in die Erhaltung nicht investiert wurde, sie zunehmend verfiel und zum Teil aktiv abgerissen wurde, um für monofunktionale Wohngebiete Platz zu schaffen. Bestehende Industrie- und Gewerbebetriebe wurden in

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Gewerbegebiete umgesiedelt oder geschlossen. Dadurch ging auch die Nähe zwischen Wohnung und Arbeitsplatz verloren. Vielleicht war es der Blick in die USA, der deutsche Politiker und Städteplaner zum Umdenken brachte. Die Stadt- und Architekturkritikerin Jane Jacobs (1993) hatte 1961 ihr Buch The Death and Life of Great American Cities publiziert und große Wirkung damit erzielt. Die Suburbanisierung in den USA hatte dazu geführt, dass nach der Wohnfunktion auch der Einzelhandel und die Arbeitsplätze folgten, sodass in den Innenstädten die fünf A’s verblieben: Alte, Arme, Alteingesessene, Ausländer und Arbeitslose. Die Folge war, dass Städte ihre öffentlichen Aufgaben nicht mehr bezahlen, geschweige denn in die Sanierung von Stadtvierteln investieren konnten. Die Abwanderung der Mittelschicht und der traditionellen Industrien führte beispielsweise in New York City zu so massiven Verlusten der Steuereinnahmen, dass die Stadt 1975 ihren Bankrott nach § 9 des US Bankruptcy Code erklären musste. Holzner (1996) sprach bereits vom ›Stadtland USA‹, in Anlehnung an die Broadacre City des Architekten Frank Lloyd Wright, in dem sich die traditionelle Stadt vollständig aufgelöst hat. Mit dem wirtschaftlichen Gesundungsprozess in den 1960er Jahren setzte auch in Deutschland eine Phase der Suburbanisierung ein. Häußermann und Siebel (1987: 11) sprachen bereits von einer »Erosion der Innenstädte«. Es bahnte sich an, dass europäische Städte eine ähnliche Entwicklung wie amerikanische nehmen würden. Auch in Hamburg war in den 1980er Jahren nicht klar, wie sich die Stadt weiter entwickeln würde. 1964 wohnten noch 1,857 Mio. Menschen in der Stadt; 1986 nur noch 1,571 (vgl. Menzl 2012: 306). Seitdem steigt die Bevölkerungszahl wieder und hat 2021 1.852 Mio. Einwohner erreicht.3 Mit dem langsamen Wachstum kann es zu Veränderungen in den Quartieren und einem sich verschärfenden Konkurrenzkampf um Wohnungen kommen. Dafür formulierte die Bürgerschaft 2002 das Leitbild Wachsende Stadt, das von dem Leitbild Wachstum mit Weitsicht 2010 abgelöst wurde. Es gelang, den negativen Trend umzudrehen und seit den 1990er Jahren wächst Hamburg kontinuierlich. Das Bevölkerungswachstum führt zwangsläufig dazu, dass eine Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt entsteht. In den besonders nachgefragten Quartieren kann sich die Bevölkerungsschicht durchsetzen, die über ausreichende monetäre Ressourcen verfügt. Damit begann der innerstädtische Veränderungsprozess, den Glass als Gentrifizierung 3

Vgl. https://www.statistik-nord.de/fileadmin/Dokumente/Statistische_Berichte/bevo elkerung/A_I_1_j_H/A_I_1_j21_HH.pdf (Zugriff 21.01.2023).

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bezeichnet. Allerdings scheint die Entwicklung keine Einbahnstraße zu sein. Die Corona-Pandemie und die Verlagerung der Arbeit ins Homeoffice scheint beispielsweise in den USA eine neue Suburbanisierungswelle ausgelöst zu haben, die mit dem Begriff Zoom City gefasst wird. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.

Gentrifizierung oder ›nur‹ gesellschaftliche Entwicklung? Holm konstatiert, dass es trotz der Fülle deutscher und internationaler Forschungen keine allgemein geteilte Definition für Gentrifizierung gibt (vgl. Holm 2012: 661). Ein Kernproblem liegt darin, die theoretischen Ansätze empirisch zu belegen. Beispielsweise werden in den USA alle zehn Jahre präzise Zensusdaten erhoben, was den Nachweis von Bevölkerungsveränderungen relativ einfach macht. In Deutschland liegen diese Daten nicht vor. Vielleicht deshalb ist die deutsche Gentrifizierungsforschung dominiert von Einzelfalldarstellungen (vgl. Üblacker 2018: 176). Im Schanzenviertel kommt hinzu, dass das Quartier ursprünglich zu den Bezirken Altona, Eimsbüttel und Hamburg Mitte gehörte und erst durch die Gebietsreform 2008 ein eigener Zählbezirk wurde. Statistische Nachweise von Veränderungen sind dadurch unmöglich, weil die Daten für ganz Altona, Eimsbüttel oder Hamburg Mitte erhoben wurden und nicht nur für das Schanzenviertel. Ein weiterer, wenig diskutierter Faktor ist die Zeit. Nimmt man den massiven Widerstand 1987 gegen die Planung eines Musicaltheaters in dem 1888 errichteten Konzerthaus und Theater Flora und die folgende Besetzung durch Pioniere im Viertel als Beleg einer einsetzenden Gentrifizierung, ergibt sich ein Zeitraum von mindestens 35 Jahren, in dem der Austausch oder die Verdrängung der Bevölkerung nachzuweisen wäre. Aufgrund der fehlenden Daten bliebt es Spekulation und Austausch oder Verdrängung könnten auch auf die gesellschaftliche Entwicklung oder den demographischen Wandel zurückzuführen sein. Auch im internationalen Kontext sind vorhandene Statistiken kaum vergleichbar, lückenhaft und der Prozess kann oft nur aus baulichen Veränderungen rückgeschlossen werden. Ein weiteres methodisches Problem ist die profane Frage, wo die Grenzen eines Gentrifizierungsgebietes liegen. Der Zuzug in reine Wohngebiete, die in der Nachbarschaft von ›bunten Stadtvierteln‹ liegen, müsste auch dazuzählen.

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Hier stellt sich wiederum die Frage, wie hoch die Reichweite der Veränderung ist. Auch in der Chronologie des Prozesses und den beteiligten Akteuren stellen sich Fragen. Eine genaue Zuordnung und Abgrenzung, wer Pioniere oder wer Gentrifizierer sind, fehlt. Beispielsweise lassen sich mit Wohngemeinschaften von Studierenden, die eigentlich zu den Pionieren gehören, höhere Mieten als mit einer durchschnittlichen Familie erzielen. Man könnte sie also bereits zu den Gentrifizierern der Phase drei zählen. Sie sind es auch, die einen kulturellen Wandel in dem Quartier herbeiführen. Das wiederum evoziert die Frage, ob es zur Gentrifizierung kommen kann, wenn eine Stadt kein Universitätsstandort ist. Eine Diagnose ist, dass die Veränderung der Nachfrage nach Wohnungen primär von einer gut verdienenden Mittelschicht getragen wird. Abgesehen von der unklaren Definition ›Mittelschicht‹ muss im internationalen Kontext die Frage beantwortet werden, ob Gentrifizierung möglich ist, wenn in einer Gesellschaft diese Schicht weitgehend fehlt. Glatter und Mießner (2022) identifizieren fünf theoretische Diskurse zur Gentrifizierung, die alle auch ohne das Labeling erklärbar sind: Der Austausch/die Verdrängung der Bevölkerung, die bauliche, gewerbliche, soziale und symbolische Aufwertung (vgl. ebd.: 13). Ein Diskussionsstrang betrifft die Verdrängung einer statusniedrigen Bevölkerung (vgl. ebd.: 16), einem oft beschriebenen Kernproblem der Gentrifizierung. Hier stellt sich die Frage, ob es sich statt um Verdrängung lediglich um einen demographischen Prozess handelt. Dazu ein Beispiel aus Hamburg. Die Stadtteile Ottensen und Wilhelmsburg wurden mit ihrer alten, billigen Wohnsubstanz, Industriebetrieben, Gewerbehinterhöfen, kleinteiligen Läden und einem hohen Anteil ausländischer Mitbürger von Pionieren entdeckt. Als kulturell sichtbare Anfänge der Gentrifizierung können die Eröffnung der Kultur- und Stadtteilzentren Fabrik (1971) in Altona, Motte (1976) in Ottensen oder Honigfabrik (1979) in Wilhelmsburg identifiziert werden. In den alten Fabrikgebäuden sollten neue kulturelle und gesellschaftliche Modelle des Zusammenlebens entwickelt werden, die sich explizit von den als bürgerlich bezeichneten absetzen wollten. In der Retrospektive ist im weiteren historischen Verlauf in Ottensen die ›statusniedere Bevölkerungsgruppe‹ schlicht verstorben und über den demografischen Wandel ersetzt worden. In Wilhelmsburg dagegen ist es zu keinem vergleichbaren Prozess gekommen. Den demografischen Wandel hat es zweifelsohne auch in Wilhelmsburg gegeben, den Zuzug einer solventen Mittelschicht hingegen nicht.

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Der geschilderte Prozess erklärt noch nicht vollständig die Geschwindigkeit der Veränderung. Hierfür scheint die hohe Mobilität der Pioniere mitverantwortlich zu sein. Nach dem deutschen Mietrecht ist es schwerer, Mietsteigerungen bei bestehenden Verträgen durchzusetzen als bei Neuvermietung. Der vergleichsweise häufige Wohnungswechsel der Pioniere ermöglicht es den Immobilienbesitzern in Hamburg, die Mieten bei der Neuvermietung an der oberen Grenze des Mietenspiegels anzusetzen. Je häufiger es Wohnungswechsel im Quartier gibt, desto schneller können die Mieten steigen. Insofern ist die hohe Mobilität der Pioniere mitverantwortlich für die schnell steigenden Mieten, was von der gleichen Gruppe kritisiert wird. Grundlage der Rent-Gap-Theorie von Smith (1979) ist die Annahme, dass durch die Suburbanisierung innenstadtnahe Flächen und Gebäude unterbewertet sind und sich höhere Renditen erzielen ließen (vgl. Glatter/Mießner 2022: 14f.). Diese Theorie ist insofern widersprüchlich, als dass der erzielte Preis für eine Immobilie die Nachfrage im Markt widerspiegelt. Auch die Theorie des Value-Gap von Hamnett und Randolph (1986) ist widersprüchlich. Sie geht davon aus, dass in Erwartung hoher Mieten oder Verkaufserlöse durch die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentum hohe Profite erzielt werden können. Die Titulierung großer Investoren als ›Miethaie‹ und die Forderung, Unternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin zu enteignen, weist in diese Richtung. Fakt ist aber, dass erst eine erhöhte Nachfrage zu steigenden Preisen führt. Daher können Profite nur in wachsenden Städten erzielt werden, in denen es eine Konkurrenz um Wohnungen oder Gewerbeflächen gibt und die Bevölkerung über ein ausreichendes Einkommen verfügt. In Städten mit einer schrumpfenden Bevölkerung ist das Gegenteil der Fall. Oswalt und Rieniets (2006) stellen fest, dass es zwischen 1950 und 2000 mehr als 350 Großstädte weltweit gab, die zeitweilig merklich Einwohner verloren haben. Die Schrumpfungsprozesse in Detroit sind so dramatisch, dass Überlegungen angestellt werden, innerstädtische Flächen wieder in Ackerland umzuwandeln (vgl. Haimann 2010). In der nachfolgenden Tabelle 1 finden sich nur wenige Beispiele von Städten, in denen weder die Rent-Gap- noch die ValueGap-Theorie anwendbar und Gentrifizierung nicht zu verzeichnen ist. Ausnahmen sind Berlin und Leipzig. In beiden Städten konnte die Bevölkerungsabnahme gestoppt und ins Gegenteil verkehrt werden.

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Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung (Einwohner in Tausend) Stadt

1950

1980

2000

2020

Berlin

3459

3230

3382

3769

Duisburg

448

524

515

457

Essen

650

655

595

582

Görlitz

100

81

61

56

Leipzig

621

566

493

597

Detroit

1850

1203

951

639

Quelle: Oswalt/Rieniets 2006: 152ff. (Ergänzt)

Auch die klassischen Industriearbeitsplätze sind in dieser Phase durch Schließung der Betriebe verschwunden, beispielsweise in der 1899 erbauten Fabrik (ehemals Fa. Hespe & Lembach, Holverarbeitungsmaschinen) Ende der 1960er Jahre, der Motte (ehemals Fa. Münstern, Zuckerfabrikation, anschließend diverse Nutzungen) im gleichen Zeitraum und der 1906 erbaute Honigfabrik (zunächst Fa. Mohr als Margarinefabrik, nach dem 2. Weltkrieg Honigfabrik) 1977. In der gesamten Bundesrepublik, aber auch auf internationaler Ebene, sind die Arbeitsplätze im sekundären Sektor (Industrie) weitgehend durch den tertiären Sektor (Dienstleistung) ersetzt worden. Die neuen Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor erfordern eine höhere Bildung und sind besser bezahlt. Statt als eine ›Verdrängung‹ der Einwohner lässt sich der Prozess als gesellschaftliche Entwicklung zu neuen Haushaltsformen, neuen Arbeitsverhältnissen und Lebensstilen verstehen. Eine Frage, die bisher kaum diskutiert worden ist, stellt sich nach dem Einfluss gesetzlicher Regelungen auf dem Wohnungsmarkt. Das Mietrecht beispielsweise unterscheidet sich in den USA und Deutschland gravierend. Veränderungen, die in Städten der USA mitunter wenige Jahren dauern, ziehen sich in Deutschland über Jahrzehnte. In den USA greift der Staat traditionell nicht in den privaten Immobilienmarkt ein, ganz anders in Deutschland. Am 1. August 1971 trat in Deutschland das Gesetz über die städtebaulichen Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen in den Gemeinden in Kraft. Zunächst als städtebaulicher Denkmalschutz gedacht, war das Ziel der Erhalt der historischen Innenstädte. Das Programm wurde auf Stadtviertel ausgeweitet, und nach 50 Jahren sind ca. 19,3 Mrd. € von der öffentlichen Hand investiert

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worden, was geschätzt das Siebenfache an privaten Investitionen auslöste. Ziel der in vielen Städten eingeleiteten Sanierungsmaßnahmen und städtebaulichen Aufwertung war es, den Suburbanisierungsprozess zu stoppen und Mittelschicht und Familien in der Stadt zu halten. Statt monofunktionaler Wohnviertel sollten urbane Quartiere mit breitem Raum für individuelle Lebensentwürfe, neue Formen des beruflichen und sozialen Zusammenlebens in dem behutsam sanierten Altbaubestand entstehen. Ähnliche wirkungsvolle Gesetzgebungen gibt es in anderen Ländern nicht. Ein weiterer Diskussionsstrang betrifft die symbolische Ebene (vgl. Glatter/Mießner 2022: 14). Reckwitz bemerkt dazu: »Die Gentrifizierungsdiagnose ist zweifellos in vielen empirischen Fällen triftig, aber sie setzt den kulturellen Antriebsmotor des Gentrifizierungsprozesses stillschweigend voraus: Diese ist von Anfang an in der ästhetischsemiotischen Kulturalisierung der Stadtviertel durch ihre neuen Bewohner zu suchen, die anschließend durch die mediale Wahrnehmung, durch ökonomische Instanzen wie die Immobilienbranche und den lokalen Einzelhandel, schließlich durch die Stadtpolitik zusätzlich gefördert wird.« (Reckwitz 2012: 289f., Herv. i.O.) Allerdings ist völlig offen, wann die Kulturalisierung und ein Imagewandel gelingen können und wann nicht, ob es ein kontinuierlicher Prozess ist oder auch ein Rückfall eintreten kann. Das Image von Ottensen, früher bekannt als Mottenburg aufgrund der häufig auftretenden Tuberkulose, hat sich zweifelsfrei gewandelt. Das scheint Wilhelmsburg oder dem Phoenix-Viertel in Harburg trotz ähnlicher Bausubstanz und durchgeführten Sanierungsmaßnahmen nicht zu gelingen. Hier stellt sich die Frage, welche Faktoren entscheidend sind, städtische Räume für eine veränderte Gesellschaft und neue Lebensstile nutzbar zu machen.

Gentrifizierung im Schanzenviertel? Mit dem Beschluss, das Schanzenviertel zum Sanierungsgebiet zu erklären, begann der durch die öffentliche Hand gesteuerte Aufwertungsprozess, der nach Clay (1979) keine Gentrifizierung ist. Im Februar 1982 beschloss der Senat der Hansestadt Hamburg die Einleitung einer vorbereitenden Untersuchung nach dem Städtebauförderungsgesetz für das Schanzenviertel. Im März 1983

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begann die Untersuchung, und im April 1984 wurde der erste Zwischenbericht vorgelegt. Darin heißt es: »Der Schlachthof, der sich wie ein Keil zwischen Sternschanzen-Bahnhof und Heiligengeistfeld in das Karolinenviertel schiebt, und der Neue Pferdemarkt, der als Viehhandels- und Verkehrsplatz auf eine lange Tradition zurückblickt, haben in zahlreichen Hinterhöfen und Blockinnenflächen branchen- und standorttypische Handels- und Gewerbeniederlassungen von der Gewürzfabrik über die Wurstmacherei zur Karosseriewerkstelle nach sich gezogen.« (Baubehörde Hamburg 1985: 19) Nach einer Befragung der Bewohner bezeichneten 39 % den baulichen Zustand der Wohnungen als mittelmäßig, 24 % als schlecht. Im Wohnumfeld wurde kritisiert, dass ein Wochenmarkt, Grün- und Freiflächen, Sportanlagen, Begegnungsstätten für Menschen, Begegnungsstätten für Ausländer, Altenwohnungen und kulturelle Angebote fehlten (vgl. ebd.: 4). Über 1.600 türkische Staatsbürger hatten hier billige Wohnungen gefunden (vgl. Baubehörde Hamburg 1984: 1). Ausdrücklich wird erwähnt, dass die »ausländischen Volksgruppen und mit ihnen typische Lebensmittelläden und Gaststätten mehr Farbe in den Stadtteil gebracht haben« (ebd.: 1). Konsequent wurde über die bevorstehenden Sanierungsmaßnahmen in deutscher und türkischer Sprache informiert. Insgesamt gesehen waren im Schanzenviertel gute Voraussetzungen für eine Gentrifizierung gegeben: alte, billige Wohnsubstanz, Gewerbehinterhöfe, kleinteilige Läden, ein hoher Anteil ausländischer Mitbürger. Das Ergebnis der Sanierungsmaßnahmen waren aufgewertete Wohnungen, die trotz anfänglicher Mietpreisbindung mittelfristig nur von Besserverdienenden bezahlt werden können. Als die Rote Flora besetzt wurde, war der staatlich eingeleitete Aufwertungsprozess bereits in Gang gesetzt. Ziel der Sanierungsmaßnahmen war auch, störendes Gewerbe aus den Hinterhöfen zu verlagern. Der Schlachthof ist längst verschwunden und mit ihm die Zuliefererfirmen. Ursache hierfür ist aber kein Verdrängungsprozess, sondern die Konzentration der Schlachthöfe an wenigen Standorten der Bundesrepublik. Auch das Schreibwarenunternehmen Montblanc ist Geschichte im Quartier. Die Firma zog 1908 in das Triton-Haus und kaufte es 1940. Bis 1989 war das Gebäudeensemble Verwaltungs- und Produktionsstandort des Unternehmens. 1990 wurde das Gebäude verkauft und zunächst von typischen Pionierunternehmen genutzt: Musiker, Dokumentarfilmer, Boxschule, Programmkino, Drogenberatungsstelle, Volkshochschule oder das Alternativ-Hotel Schanzenstern mit Biorestaurant.

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26 Jahre später begann die Entmietung der fünf Gebäude (vgl. Schrep 2016: 56f.) und die Gebäude wechselten zwei Mal den Besitzer, zuletzt 2020. Die Geschäfte an der Straße Schulterblatt mit Weekday (eine Tochterfirma von H&M), Vodafon und Granit (eine Interior-Kette) zählen zur Phase 4 und 5. Mit dem Plan, in dem Gebäude ein Designhotel einzurichten, ist das Schanzenviertel endgültig in Phase 5 angekommen. In der Retrospektive stellen die Besetzer der Roten Flora selbstkritisch fest, dass ihre Aktionen dem Schanzenviertel internationale Aufmerksamkeit verschafft und damit unbeabsichtigt einen Beitrag zur Touristifizierung geleistet haben (vgl. Kohn 2018 sowie Blechschmidt in diesem Band).

Zusammenfassung Vieles spricht dafür, dass Gentrifizierung kein eigenständiger Prozess ist, sondern einen Wandel der Gesellschaft und dadurch ausgelöste urbane Restrukturierungsprozesse in innerstädtischen Quartieren wachsender Metropolen beschreibt. Die Veränderungen in der Bevölkerung lassen sich mit der langen Dauer des Prozesses (in Hamburg ca. 35 Jahre), mit dem demografischen Wandel, der Kulturalisierung mit veränderten Lebensstilen, der Deindustrialisierung mit der Tertiärisierung und veränderten Arbeitsplätzen erklären. Die Veränderungen sind in vielen Varianten denkbar und verlaufen nicht zwangsläufig und müssen vor dem kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergrund der untersuchten Stadt gesehen werden. Brake und Herfert (2012: 412) zeigen auf, dass viele Prozesse parallel verlaufen, und was für die eine Stadt gilt, ist für die andere nicht zutreffend. Das erklärt, warum viele Forschungsfragen unbeantwortet bleiben müssen und der Beweis, dass der Prozess Gentrifizierung international vergleichbar abläuft, nicht erbracht werden kann. Und die Zukunft ist offen. Es bleibt abzuwarten, ob die durch die CoronaPandemie ausgelöste Homeoffice-Offensive von Dauer sein wird. Offen bleibt auch die Frage, wie sich der Wohnungsmarkt durch die Verpflichtung zur Klimaneutralität verändern wird.

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Literatur Baubehörde Hamburg, Amt für Stadterneuerung (Hg.) (1984): Stadterneuerung in Hamburg: St. Pauli-Nord, Karolinenviertel. Vorbereitende Untersuchung nach § 4 Städtebauförderungsgesetz, Hamburg: Baubehörde der Freien und Hansestadt Hamburg. Baubehörde Hamburg, Amt für Stadterneuerung (Hg.) (1985): Stadterneuerung in Hamburg: St. Pauli-Nord, Karolinenviertel. Erneuerungskonzept, Hamburg: Baubehörde der Freien und Hansestadt Hamburg. Beauregard, Robert A. (1986): »The Chaos and Complexity of Gentrification«, in: Smith/Williams, Gentrification of the City, S. 35–55. Blasius, Jörg/Dangschat, Jürgen (1990): Gentrification – Die Aufwertung innenstadtnaher Wohnviertel, Frankfurt a.M.: Campus. Blechschmidt, Andreas (2009): »Stichwort Gentrifizierung«, in: Irene Bude/ Ute Determann/Steffen Jörg/Olaf Sobczak (Redaktion), Begleitbroschüre mit Hintergrundtexten zum Film »Empire St. Pauli – von Perlenketten und Platzverweisen«, Hamburg: GWA St. Pauli, S. 4f. Brake, Klaus/Herfert, Günter (2012): »Reurbanisierung – Diskurs, Materialität und offene Fragen«, in: Brake/Herfert, Reurbanisierung, S. 408–419. Brake, Klaus/Herfert, Günter (Hg.) (2012): Reurbanisierung. Materialität und Diskurs in Deutschland, Wiesbaden: Springer VS. Clay, Phillip L. (1979): Neighborhood Renewal. Middle-Class Resettlement and Incumbent Upgrading in American Neighborhoods, Lexington, Massachusetts: Lexington Books, D.C. Heath. Dangschat, Jens S. (1988): »Gentrification: Der Wandel innenstadtnaher Wohnviertel«, in: Friedrichs, Soziologische Stadtforschung, S. 272–292. Dirksmeier, Peter/Helbrecht, Ilse (2015): »Resident Perceptions of New Urban Tourism: A Neglected Geography of Prejudice«, in: Geography Compass 9, S. 276–285. Friedrichs, Jürgen (Hg.) (1988): Soziologische Stadtforschung, Opladen: Westdeutscher Verlag (= Sonderheft 29/1988 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie). Friedrichs, Jürgen (1996): »Gentrification. Forschungsstand und methodologische Probleme«, in: Friedrichs/Kecskes, Gentrification, S. 13–40. Friedrichs, Jürgen (1998): »Gentrification«, in: Hartmut Häußermann (Hg.), Großstadt: Soziologische Stichworte. Opladen: Leske + Budrich, S. 57–66. Friedrichs, Jürgen/Kecskes, Robert (Hg.) (1996): Gentrification – Theorie und Forschungsergebnisse, Opladen: Leske + Budrich.

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Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutz vs. touristische Aufwertung Widersprüchliche Quartiersentwicklung im Hamburger Schanzenviertel Anne Vogelpohl

Einleitung Das Schanzenviertel ist so widersprüchlich wie ein urbaner Stadtteil nur sein kann: Es ist zugleich ein beliebter Wohnort, mit der Roten Flora und dem Centro Sociale ein Zentrum linksalternativer politischer Bewegungen, ein Ziel globaler Finanzströme in den Wohnraum, ein Shoppingzentrum, ein Ausgehviertel mit vielen Restaurants und Bars oder mit der Zentrale der Hamburger Volkshochschule auch ein Ort der Bildung; immer weniger, aber noch ist das Viertel auch ein Ort produzierenden Gewerbes in kleinen Hinterhofhandwerksunternehmen. Diese Vielfalt hat Geschichte – nicht zuletzt heißt die zentrale Straße durch das Schanzenviertel ›Schulterblatt‹, angeblich benannt nach einem Schulterblatt eines Wales, das vor einer Kneipe hing. Schon im Jahr 2001 lautete eine Charakterisierung des Schanzenviertels und des angrenzenden Karolinenviertels »lebendig und problematisch« (Skrentny 2001). Ähnliches könnte bereits über die 1920er Jahre berichtet werden (zur Geschichte vgl. Decker/Schilling 2015; Siebecke 2011). Dass diese Vielfältigkeit tatsächlich höchst konfliktiv ist, zeigt der Widerspruch zwischen dem Trend, das Schanzenviertel als Wohnort attraktiv zu machen, und es zugleich als Ausgeh- und Shoppingviertel zu stärken. Denn letztere Entwicklung steht der Attraktivität des Wohnens entgegen. Zum einen treibt das positive Image die Mietpreise – allein deswegen sollte das Viertel Anfang der 2010er Jahre im Mietenspiegel als ›gute Wohnlage‹ klassifiziert und aufgewertet werden, womit höhere Mietpreise durchsetzbar gewesen wären; zum anderen schränkt der Lärm die Wohnqualität ein. Dafür steht insbeson-

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dere das ›Cornern‹ (das »Trinken auf Straßen und Plätzen«; Boeing 2022: 10). Die belebten Straßen erzeugen rund um die Uhr und an fast jedem Wochentag so viel Lärm, dass Anwohner:innen erfolgreich die Neuklassifizierung als gute Wohnlage abwehren konnten (vgl. o.V. 2013). Mittelfristig zeigt sich, dass konfliktive Widersprüche dieser Art auch zu einer abnehmenden Vielfalt im Quartier führen können (vgl. Vogelpohl 2012). Zwei rechtliche Instrumente sollen dieser Problematik auf dem Feld der Wohnpreise und Wohnqualität nun seit einiger Zeit beikommen. Sie stehen im Fokus dieses Beitrages: erstens die Soziale Erhaltungsverordnung1 (auch ›Milieuschutz‹ genannt); mit ihr ist in gentrifizierungsbedrohten Quartieren das Ziel verbunden, preistreibende Modernisierungen und die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen zu verhindern. Zweitens das Wohnraumschutzgesetz (auch ›Zweckentfremdungsverbot‹ genannt); dieses Gesetz zielt in beliebten Quartieren auf die Reduktion von ferienwohnungsähnlichen Kurzzeitmieten, für die Airbnb als Paradebeispiel steht (vgl. Smigiel 2020). Beide Instrumente werden im Folgenden mit Bezug auf die zugrundeliegende Problematik im Hamburger Schanzenviertel vorgestellt und bewertet. Es zeigt sich, dass sie neben starkem Mietrecht, sozialem Wohnungsbau und weitergehender Sozialpolitik ein Baustein im Kampf gegen enorme Mietpreissteigerungen und Verdrängung sind, allein aber nicht ausreichen, um die Probleme effektiv einzudämmen.

Ein Wohnviertel gegen touristische Aufwertung schützen? Rekonstruktion der Problematik Beide rechtlichen Instrumente, deren sozialräumliche Bedeutung in diesem Beitrag diskutiert wird, sind mit dem Wort ›Schutz‹ verbunden: Milieuschutz und Wohnraumschutz. Das ist insofern interessant, als dass in der Stadtforschung gegenwärtig häufig vielmehr von urbanen Transformationen die Rede ist, die gestaltet werden müssten, z.B. aufgrund von Klimawandel, Digitalisierung oder demografischem Wandel (vgl. z.B. Bauriedl/Strüver 2018; Höhne/Michel 2021; SynVer*Z 2021). Zugleich wird ›das Städtische‹ oft gerade da-

1

Als kommunales Recht wird in Gemeinden eines Flächenbundeslandes von der Erhaltungssatzung gesprochen. Da Hamburg als Einheitsgemeinde auch ein Bundesland ist, ist die korrekte Bezeichnung hier (wie in Berlin und Bremen) Erhaltungsverordnung. Milieuschutz ist die umgangssprachliche Bezeichnung und synonym zu verstehen.

Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutz vs. touristische Aufwertung

durch charakterisiert, dass es sich ständig wandeln kann; die Wandelbarkeit von Städten wird sogar gezielt für politisch-ökonomische Ziele genutzt (vgl. Jessop 2006). ›Schutz‹ zielt demgegenüber jedoch eher auf einen Erhalt von bestehenden Strukturen, die offenbar von den Transformationsprozessen bedroht sind. Bevor ich im nächsten Abschnitt die Instrumente genauer vorstelle, stellt sich also zunächst die Frage: Wovor soll überhaupt was geschützt werden? Während sich für das Schanzenviertel eine Vielzahl von Problemen diskutieren ließe (u.a. von Fragen der Postmigrationsgesellschaft über lokale Sicherheitspolitiken bis zu Bildungsungleichheiten; vgl. Bezirksamt Altona 2017), fokussieren Milieuschutz und Wohnraumschutz die Ungleichheit am Wohnungsmarkt. Dabei steht im Zentrum, wer genau in den Wohnungen wohnt und wie die Zusammensetzung der Bewohner:innenschaft sich verändert. Zwei Veränderungen sind in den letzten Jahrzehnten so stark geworden, dass sie aufgehalten werden sollen: Erstens ist das Schanzenviertel aufgrund von Wohnungssanierungen ab den 1980er Jahren attraktiv auch für die Mittelschicht geworden (vgl. ebd.). Gekoppelt an verstärkte Finanzinvestitionen in den Wohnraum mit entsprechenden Renditeerwartungen hat dies zu steigenden Mietpreisen geführt, die sich die Mittelschicht allerdings (noch) leisten kann. Bedroht sind daher vor allem Haushalte, für die die steigenden Mietpreise zunehmend weniger bezahlbar sind. Dies ist ein typischer Gentrifizierungsprozess. Zweitens ist Tourismus ein immer wichtigerer, auch staatlich geförderter Wirtschaftszweig geworden. Tourismus ist also stadtpolitisches Ziel und Problem zugleich. Dieser Widerspruch spiegelt sich in einer aktuellen Forderung des Hamburger Tourismusverbandes an die Politik wider: »Tourismus braucht Wertschätzung und Akzeptanz, daher braucht es eine Konzeption einer Akzeptanzkampagne für Hamburger:innen zur Stärkung der Bedeutung des Tourismus in der Stadt.« (Tourismusverband Hamburg 2022) Für die Einwohner:innen stellt Tourismus offenbar im Alltag ein vielfältiges Problem dar. Dazu gehört, dass eine immer höhere Zahl an Tourist:innen unmittelbar mit stetig steigenden Übernachtungszahlen einhergeht. 2019, im Jahr vor der Pandemie, wurden 15,5 Millionen Übernachtungen in Hamburg registriert (vgl. Statistikamt Nord 2020). Und diese Übernachtungen finden nicht nur in Hotels statt, sondern auch in Wohnungen, die als Ferienwohnungen immer wieder kurzzeitig vermietet werden. Eben diese Entwicklung ist für das Schanzenviertel bedeutsam, da gerade hier das stattfindet, was als ›Partytourismus‹ bezeichnet wird: nicht nur mehr Besucher:innen, sondern auch eine erhöhte

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Nachfrage nach anderen Übernachtungsformen, insbesondere nach Kurzzeitübernachtungen in Wohnungen, wie sie über die Plattform Airbnb vermittelt werden (vgl. Saretzki/Wöhler 2021). Dadurch wird Wohnraum knapper und teurer (vgl. Smigiel 2020). Diese Art der Kurzzeitvermietung wird als Zweckentfremdung begriffen, da der eigentliche Zweck der dauerhaften Wohnraumversorgung in diesen Wohnungen nicht mehr oder nur eingeschränkt erfüllt wird. Um diese Entwicklung einzudämmen, nehmen Kommunen zunehmend Kontrollen und Zweckentfremdungsverbote vor (vgl. Krajewski 2021; Smigiel 2020). Die dauerhaft ansässige, über unterdurchschnittliches Einkommen verfügende Bevölkerung soll also vor den Effekten von Finanzialisierung und Touristifizierung geschützt werden. Dies ist nicht unumstritten. Da das Schanzenviertel schon seit jeher auch Ausgehviertel ist, stellt sich gerade für die Profiteur:innen im Viertel die Frage, warum es vor Tourismus geschützt werden sollte. Und auch steht die Frage im Raum, ob das Viertel und seine Bevölkerungszusammensetzung sich nicht in den letzten Jahrzehnten immer wieder so geändert haben, dass zu unklar ist, welches Milieu daher erhaltenswürdig sein könnte. Diese Fragen sind von hoher Relevanz. Denn wenn rechtliche Schutzinstrumente eingeführt werden, müssen diese auch rechtlich genau begründet werden. Sind die Voraussetzungen nicht eindeutig gegeben, dann kann der Erlass der Sozialen Erhaltungssatzung und des Wohnraumschutzgesetzes gerichtlich wieder gekippt werden. Immobilienbesitzer:innen haben in der Vergangenheit immer mal wieder sogenannte ›Normenkontrollklagen‹ angestrengt,2 um Soziale Erhaltungsverordnungen zu verhindern. Kernbegründung ist bei einer solchen Klage, dass die notwendigen Voraussetzungen für ein rechtliches Instrument nicht gegeben seien. Zum Beispiel könnte das als schützenswert angesehene Milieu bereits verdrängt sein. In Hamburg werden die notwendigen Voraussetzungen daher für jedes Gebiet, für das die Erhaltungsverordnung diskutiert wird, in einer umfangreichen Voruntersuchung erörtert. Inzwischen gibt es zwar auch ein städtebauliches Monitoring, das die Bevölkerungsentwicklung nach unten stehenden Kriterien generell registriert; eine gebietsspezifische Untersuchung wird damit beschleunigt, bleibt aber dennoch nötig (vgl. BSW 2019).

2

Vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 09.07.2014 – 2 E 3/13.N oder OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.07.2020 – OVG 2 A 6.18.

Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutz vs. touristische Aufwertung

Drei Aspekte stehen bei der Analyse, ob sich ein Gebiet für das Instrument eignet, im Vordergrund (vgl. beispielhaft ARGE Kirchhoff Jacobs 2011): 1) das Aufwertungspotenzial (also die Frage, ob die Gebäudesubstanz in einem Zustand ist, der zukünftig teure Modernisierungen wahrscheinlich macht); 2) der Verdrängungsdruck (also die Nachfrage einer zahlungskräftigen Bevölkerung nach Wohnraum in dem spezifischen Gebiet); und 3) das Verdrängungspotenzial (also die Zusammensetzung der bestehenden Bevölkerung und die Wahrscheinlichkeit, dass diese aufgrund ihrer finanziellen Situation dem Verdrängungsdruck nachgeben muss).

Das vorbereitende Gutachten zum Schanzenviertel aus dem Jahr 2011 charakterisiert das Viertel ganz wesentlich als Durchgangsgebiet, in dem die »›klassische Durchgangsbevölkerung‹ mit moderatem Einkommen« typisch ist, wenn auch die durchschnittlichen Einkommen der Schanzenviertelbewohner:innen etwas über dem Hamburger Durchschnitt liegen (ARGE Kirchhoff Jacobs 2011: 3). Diese Aussagen wurden in einer aktuelleren Sozialraumbeschreibung weitestgehend bestätigt (vgl. Bezirksamt Altona 2017). Bemerkenswert ist auch die Erkenntnis gewesen, dass zwischen 2001 und 2011 16 Prozent des nicht gebundenen Wohnraums von Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt wurde und die Hälfte der Eigentumswohnungen als Kapitalanlage für die Eigentümer:innen dienen (vgl. ARGE Kirchhoff Jacobs 2011: 5). Dies verweist auf eine hohe Nachfrage nach Wohnraum von zahlungskräftigen Haushalten. In Bezug auf die drei zentralen Aspekte zur Bewertung möglicher Verdrängung kommt das Gutachten zu folgenden Schlüssen (vgl. ebd.: 7–9): 1) Es bestehe ein hohes Aufwertungspotenzial, da nur sehr wenige Wohnungen bislang besondere Ausstattungsmerkmale und einige sogar keine zeitgemäße Basisausstattung aufweisen; 2) ein hoher Verdrängungsdruck sei für Mieter:innen mit geringen Einkommen, aber auch für andere gegeben, denen das Viertel aufgrund von Gastronomie und Tourismus zu voll und zu laut ist; und auch wird 3) ein Verdrängungspotenzial konstatiert, das sich in bereits steigenden Mieten sowie in der Nachfrage nach Wohneigentum von privaten, aber auch professionellen Kapitalanleger:innen zeige.

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Diese Bewertung hat dazu geführt, dass seit 2013 die Soziale Erhaltungsverordnung inklusive einer Umwandlungsverordnung im Schanzenviertel in Kraft ist. Und mit Blick auf Kurzzeitvermietungen wurde für ganz Hamburg 2013 das Wohnraumschutzgesetz um eine Erlaubnis von solchen Vermietungen zwar erst grundsätzlich ergänzt. Im Jahr 2018 wurde diese Möglichkeit dann in einer Gesetzesänderung konkretisiert und dabei vor allem in der Dauer eingeschränkt (vgl. § 9 Absatz 2 Satz 5 HmbWoSchG).

Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutzgesetz: Was bezwecken diese Instrumente in Szenequartieren? Die Soziale Erhaltungsverordnung Die Soziale Erhaltungsverordnung wird heute oftmals als ›Anti-Gentrifizierungsinstrument”3 wahrgenommen. Das ist sie allerdings nicht, zumindest nicht originär (vgl. Schmidt 2021; Vogelpohl 2017). Im Wortlaut geht es um die »Erhaltung baulicher Anlagen und der Eigenart von Gebieten (Erhaltungssatzung) […] zur Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung aus besonderen städtebaulichen Gründen« (§ 172 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB). Als eine im Baugesetzbuch verankerte Maßnahme verkoppelt sie also soziale und bauliche Strukturen: Ziehen beispielsweise Familien aus einem Quartier weg, sind in einem Stadtgebiet zu viele Spielplätze oder Kitas, im anderen zu wenig. Da dies teure Infrastrukturmaßnahmen nach sich ziehen würde, ist das Ziel der Erhaltungssatzung, ein bestimmtes Milieu in einem bestimmten Gebiet zu erhalten – um nicht den Städtebau zu überfordern. Im Unterschied zum Mietrecht kann sich daher kein Individuum oder eine Gruppe auf das Gesetz berufen, um im Einzelfall geschützt zu werden. Am Beispiel Familien würde es also darum gehen können, familientaugliche Wohnungen zu erhalten und zum Beispiel teure Modernisierungen oder Raumzusammenlegungen zu verhindern. Insofern zielt die Erhaltungssatzung tatsächlich indirekt auf die Verhinderung von Verdrängung; und da Gentrifizierung ja im Kern die Verdrängung von armen oder einkommensschwachen Haushalten ist (vgl. Slater 2006), 3

Explizite (nicht nur ironisch, sondern recht ernst gemeinte) Anti-Gentrifizierungstipps liefert das ›Abwertungskit‹ (vgl. https://www.esregnetkaviar.de/relaunch/abwertungs kit.html; Zugriff 27.04.2022).

Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutz vs. touristische Aufwertung

ist die Wahrnehmung als ›Anti-Gentrifizierungsinstrument‹ nicht völlig falsch. Im Moment wird die Satzung bzw. Verordnung in angespannten Wohnungsmärkten vor allem genutzt, um preistreibende Modernisierungen zu verhindern, während die Möglichkeit bzw. Pflicht zur Instandhaltung von Wohnraum selbstverständlich erhalten bleibt. Instandhaltungskosten können nicht auf die Miete umgelegt werden – im Gegensatz zu Modernisierungskosten zum Beispiel für den Einbau eines Fahrstuhls, den Anbau eines Balkons oder eine hochwertige Badmodernisierung. Allerdings ist Gentrifizierung ein vielschichtiger Prozess auf Basis von Eigentums-, Spekulations-, Einkommens-, Geschlechter- oder Mietrechtsverhältnissen. Der § 172 des Baugesetzbuches kann davon nur einzelne Aspekte berühren (siehe auch Schmidt 2021). Der Einsatz der Sozialen Erhaltungsverordnung hat in den letzten zehn Jahren eine rasante Entwicklung durchgemacht (vgl. Vogelpohl 2017): Bis ca. 2009 gab es in Hamburg kaum Überlegungen, das Instrument systematisch zur Steuerung einer sozialer Stadtentwicklung einzusetzen, obwohl in den 1990er Jahren bereits vor dem Hintergrund erwarteten Städtewachstums und der Renaissance innenstädtischen Wohnens vor einer »soziale[n] Katastrophe der 90er Jahre« (Dohrendorf 1991: 5) gewarnt wurde – und im Gegenzug die Soziale Erhaltungsverordnung vorgeschlagen wurde. Auch konkrete Stadtteile, in denen heute gegen Gentrifizierung gekämpft wird, wurden damals schon in den Fokus gerückt. So wurde u.a. für Hamburg St. Pauli die Verordnung dringend empfohlen, um Spekulationen und außergewöhnlich schnell steigende Mieten einzudämmen (vgl. Dangschat 1991). Seit 2012 jedoch werden immer mehr Stadtgebiete in Hamburg unter den Schutz der Sozialen Erhaltungsverordnung gestellt. Diese Entwicklung ist auch in anderen deutschen Großstädten beobachtbar.4 Der Kern der Verordnung ist, dass alle Modernisierungsmaßnahmen genehmigungspflichtig werden und in der Regel dann unterbunden werden, wenn mit ihnen eine Mietsteigerung begründet werden könnte. Das Schanzenviertel war 2013 das

4

In München wird das Instrument bereits seit Ende der 1980er Jahre intensiv und aktuell in 37 Gebieten genutzt (vgl. https://stadt.muenchen.de/infos/erhaltungssa tzung-muenchen; Zugriff 27.04.2022). In Berlin gibt es derzeit sogar 72 Gebiete (vgl. https://www.stadtentwicklung.berlin.de/staedtebau/foerderprogramme/stadte rneuerung/soziale_erhaltungsgebiete/index.shtml; Zugriff 27.04.2022).

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vierte von insgesamt heute 16 Gebieten in Hamburg.5 Die folgende Karte macht deutlich, dass die Gebiete einen erweiterten Innenstadtring bilden, in dem offenbar aufgrund der Sozial- und Baustruktur Verdrängungen erwartbar sind:

Abbildung 1: Gebiete mit Sozialer Erhaltungsverordnung in Hamburg

Quelle: Karte zum Verfahrensstand6 , eigene Ergänzung (abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Freien und Hansestadt Hamburg, Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen, WSB 2/Integrierte Stadtteilentwicklung. Verfügbar unter https://www.hamburg.de/soziale-erhaltungsverordnungen/dow nloads/. Kartengrundlage: Landesbetrieb Geoinformation und Vermessung)

5 6

Vgl. https://www.hamburg.de/soziale-erhaltungsverordnungen/downloads/ (Zugriff 27.04.2022). Vgl. https://www.hamburg.de/contentblob/4546958/d6867e67c7cd6154d942af6ec208 2391/data/d-karte-sozerhvo.pdf (Zugriff 27.04.2022).

Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutz vs. touristische Aufwertung

Die Umwandlungsverordnung – im Huckepack der Sozialen Erhaltungsverordnung wird die Eigentumsfrage gestellt Mit der Erhaltungsverordnung wird in der Regel zugleich eine Umwandlungsverordnung erlassen (UmwandVO). Damit soll die Umwandlung einer Mietsin eine Eigentumswohnung verhindert werden, indem Verkäufe ebenfalls genehmigungspflichtig werden. Der Hintergrund ist die Annahme, dass Eigentumswohnungen gerade nicht von Haushalten mit geringem Einkommen erworben werden können. Zudem soll möglicher Spekulation entgegengetreten werden, indem eben nicht an Eigentümer:innen verkauft werden soll, die eine oder mehrere Wohnungen nur erwerben, um diese in Zukunft mit (hohem) Gewinn wieder veräußern zu können. Kann bei einer Verkaufsabsicht jedoch dargelegt werden, dass sich an den bestehenden Mietverhältnissen mindestens sieben Jahre nichts ändern wird, kann der Verkauf genehmigt werden. Die Umwandlungsverordnung gilt als die stärkste Komponente in der Verhinderung von Vertreibung, da Eigentumsgründungen im Prinzip vollständig unterbunden werden können (vgl. Hollander 2011). Zusammen mit der Sozialen Erhaltungsverordnung wird so reguliert, wer Wohnungen besitzen kann. Denn mit der Erhaltungsverordnung behält sich die Kommune ein Vorkaufrecht vor, welches einer der größten Streitpunkte zwischen Stadtpolitik und Wohnungswirtschaft ist. Zwar wird das Vorkaufsrecht einer Kommune gelegentlich ›abgewendet‹: Dann wird mit den zukünftigen Besitzer:innen eine Abwendungsvereinbarung getroffen, in der Regeln für die Wohnverhältnisse im Sinne der Sozialen Erhaltungsverordnung vereinbart werden. Dazu gehören zum Beispiel die Verpflichtung, kein Eigentum zu begründen, keine Modernisierungen über den zeitgemäßen Standard hinaus vorzunehmen, Wohnraum nicht in Gewerbe umzuwandeln oder (teilweise) zurückzubauen (genauer siehe BSW 2019). Umstritten ist das Vorkaufsrecht weiterhin auch nicht nur, weil eine Kommune letztlich auch bereit sein muss, das Vorkaufsrecht auszuüben und den entsprechenden Marktpreis der Immobilie zu zahlen (vgl. Schmidt 2021). Das kommunale Vorkaufsrecht ist jüngst vom Bundesverwaltungsgericht sogar vollständig gekippt worden. Wohl aufgrund der starken Wirkung ist das Vorkaufsrecht ein Dorn im Auge von Investor:innen. Diese haben erfolgreich gegen die mit der Verordnung verbundene Rechtsprechung geklagt. Im Urteil heißt es: Das Vorkaufsrecht für Grundstücke »darf von der Gemeinde nicht auf der Grundlage der Annahme ausgeübt werden, dass der Käufer in Zukunft erhaltungswidrige Nutzungsabsichten verfolgen werde« (BVerwG

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4 C 1.20 – Urteil vom 09. November 2021). Im Klartext bedeutet dies, dass zu unklar ist, was Eigentümer:innen in Zukunft tatsächlich tun werden, um ihnen einen Kauf zu verwehren, und das Baugesetzbuch sich nur auf den gegeben Ist-Zustand beziehen kann. Eine Spekulations- oder Gewinnabsicht kann nur unterstellt, aber nicht belegt werden. In Reaktion auf das Urteil haben sich die Bürgermeister:innen der drei größten Städte Deutschlands Franziska Giffey (Berlin), Dieter Reiter (München) und Peter Tschentscher (Hamburg) dafür eingesetzt, durch eine neue gesetzliche Regelung wieder eine Rechtssicherheit für das Vorkaufsrecht zu schaffen und somit zu reaktivieren.7 Möglich bleibt zwar weiterhin die Praxis einer freihändigen Einigung, nach der eine Kommune ohne Rechtsverfahren ein Grundstück kauft. Diese Möglichkeit wird auch als erfolgsversprechend dargestellt. Z.B. betont der Hamburger Finanzsenator Andreas Dressel in einem Interview: Denn »[m]anchmal reichte es schon aus, das ›scharfe Schwert‹ [Vorkaufsrecht] bloß zu zeigen, sagte Dressel. In [vielen] Fällen habe die Stadt eine ›freihändige Einigung‹ erzielt – also die Grundstücke gekauft, ohne formal das Vorkaufsrecht zu nutzen.« (o.V. 2021) Dass freihändige Einigungen tatsächlich häufiger vorkommen als das ausgeübte Vorkaufsrecht, bestätigt eine Kleine Anfrage: Während letzteres im Jahr 2020 nur 21-mal ausgeübt wurde, gab es 54 freihändige Einigungen. Wo aber die Umwandlungsverordnung Grund war für das Vorkaufsrecht (und nicht zum Beispiel Hochwasserschutz oder verkehrliche Belange), gab es keine Einigungen, sondern nur acht Fälle einer bestandskräftigen Ausübung des Vorkaufsrechts (vgl. Bürgerschaft der FHH 2021). Sowohl die Klagen gegen die Sozialen Erhaltungsverordnungen selbst als auch die gegen damit verbundene Vorkaufsrechte zeigen das weiterhin bestehende hohe Aufwertungspotenzial der Gebiete an. Wäre nicht weiterhin eine rent-gap (vgl. Smith 2019), also eine Lücke zwischen den gegenwärtigen und erwartbaren Mieten zu schließen, wären Immobilienbesitzer:innen und ihre beauftragten Kanzleien nicht so engagiert im Kampf gegen Regulationen. Aufgrund der Umstrittenheit einzelner Instrumente, wird das Bemühen für bezahlbares Wohnen im Wohnungsbestand8 jedoch auf mehrere Säulen

7 8

Vgl. https://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/15823086/2022-01-26-sk-vorkaufsrec hte-taerken/ (Zugriff 29.04.2022). Prioritärer Weg zu bezahlbarem Wohnen ist in Hamburg allerdings Neubau (vgl. Haferburg et al. i.E.).

Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutz vs. touristische Aufwertung

gefußt – dazu gehört im Schanzenviertel wesentlich auch der Schutz vor Zweckentfremdung, der im nächsten Abschnitt vorgestellt wird.

Das Wohnraumschutzgesetz »Urlaub machen, wo andere wohnen« (Füllner 2021) – so bringt ein Redakteur des Hamburger Straßenmagazins Hinz und Kunzt das Problem auf den Punkt, dass beliebt geworden ist, den Stadturlaub nicht im Hotel, sondern ›authentischer‹ in einer Ferienwohnung zu verbringen. Gerade in zentralen Stadtteilen wie dem Schanzenviertel ist dies ein Problem. Dagegen wird versucht, mit dem Instrument des Wohnraumschutzgesetzes Wohnraum als solchen zu erhalten sowie die Wohnraum-Zweckentfremdung zu vermeiden bzw. zu beseitigen (HmbWoSchG). Eingeführt im Jahr 1982, ist das Gesetz zu 2013 und 2019 mit Blick auf eine immer stärkere Ferienwohnnutzung von Wohnraum grundlegend novelliert worden. Ein Zweckentfremdungsverbot gilt zwar ununterbrochen seit 1971.9 Während zum Beispiel Arztpraxen oder Kitas in Wohnraum akzeptiert werden, ist eine Ferienwohnung heute nur unter der Voraussetzung legal, dass sie 1) registriert ist, 2) maximal acht Wochen im Kalenderjahr komplett als Ferienwohnung überlassen wird oder 3) weniger als 50 Prozent der Wohnfläche kurzzeitig vermietet wird. Diese als Verschärfung zu bewertende Konkretisierung des Gesetzes im Jahr 2019 wurde mit zusätzlichem Personal in den Bezirken untermauert.10 Zum Wohnraumschutz gehört auch die Vermeidung von Leerstand. Auch wenn in Hamburg die Leerstandsquote mit 0,5 Prozent sehr niedrig ist (vgl. statista 2022), gibt es immer wieder auch Fälle von Leerstand, bei dem Spekulation befürchtet wird. 2019 standen im Schanzenviertel zehn Wohnungen leer (vgl. Bürgerschaft der FHH 2019: 3). Ein bekanntes Beispiel ist ein Gebäude im Schanzenviertel, zentral gelegen neben der Roten Fora an der Ecke Juliusstr./ Schulterblatt. Zwischen 2006 und 2018 stand es leer, wurde dann vermutlich eben wegen des Wohnraumschutzgesetzes und dafür verstärkt eingestelltem Personal der Wohnnutzung wieder zugeführt (vgl. Wunder 2018).

9 10

Vgl. https://www.hamburg.de/wohnraumschutz/4455094/hmbwoschg/ (Zugriff 20. 04.2022). Vgl. https://www.hamburg.de/harburg/wohnraumschutz/ (Zugriff 20.04.2022).

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Abbildung 2: Ehemals langjährig leerstehendes Wohngebäude im Schanzenviertel

Foto: Eigene Aufnahme

Die Soziale Erhaltungsverordnung und Wohnraumschutz im Schanzenviertel: Was nützen sie? Die Frage ist nun: Können die vorgestellten Instrumente nun Verdrängungen und Mietsteigerungen verhindern oder zumindest ausbremsen? Um Antworten zu finden, lassen sich einerseits die Wohnraumschutzberichte (vgl. FHH 2018, 2020, 2021) und andererseits die regelmäßigen Sozialstrukturberichte zu den Hamburger Stadtteilen11 auswerten. Der Teil der Sternschanze, der 2008 administrativ zu einem Stadtteil deklariert wurde, liegt im Bezirk Altona. Die Entwicklungen in diesem Bezirk haben ganz besonders eine Verschärfung des Wohnraumschutzgesetzes nötig gemacht. So wird für die Jahre 2016 und 2017 festgestellt: »Im Schanzenviertel und in Ottensen und – etwas abgestuft – in Altona-Altstadt wird eine Vielzahl von Ferienwohnungen angeboten. […] Vor 11

Vgl. https://www.statistik-nord.de/zahlen-fakten/regionalstatistik-datenbanken-un d-karten/hamburger-stadtteil-profile-staedtestatistik-fuer-hamburg (Zugriff 03.05. 2022).

Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutz vs. touristische Aufwertung

diesem Hintergrund hat das Bezirksamt seinen Fokus im Rahmen der Wohnraumschutztätigkeit auf die Verhinderung der rechtswidrigen Zweckentfremdung von Wohnraum als Ferienwohnung gelegt« (FHH 2018: 8). Das folgende Diagramm zeigt die Entwicklung der Anzahl der Wohneinheiten an, die in der gesamten Stadt vor Zweckentfremdung geschützt wurden:

Abbildung 3: Vermeidung bzw. Beseitigung von Wohnraumzweckentfremdung in Hamburg

Quelle: Eigene Darstellung (basierend auf FHH 2020: Anhang 1)

Während aus diesen Zahlen noch nicht ersichtlich ist, ob der Wohnraum gegen Leerstand, mangelhaften Zustand oder Zweckentfremdung geschützt wurde, betont der Senat, dass die Verschärfung der Untervermietungsregelungen »nachweislich zu einer verbesserten Durchsetzung des Rechts bei der Vermietung von Wohnraum an Feriengäste geführt« (FHH 2021: 2) haben. Tatsächlich ist die Zahl der Kurzzeitvermietungen für touristische Zwecke 2020 stark zurückgegangen; dieser Effekt ist allerdings auch auf die Pandemie und damit verbundene Reiseeinschränkungen zurückzuführen. Wie in Abbildung 4 sichtbar wird, ging im Bezirk Altona die Zahl der Wohnungen, in denen nur einzelne Zimmer für Übernachtungen genutzt werden,

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um 20 Prozent zurück und die Zahl der Wohnungen, die vollständig, aber weniger als acht Wochen im Kalenderjahr überlassen werden, um 43 Prozent. Insgesamt wurden im Jahr 2019 12,1 Prozent und im Jahr 2020 9 Prozent der Wohnungen im Bezirk ganz oder teilweise als Ferienwohnungen12 genutzt (eigene Berechnung in Abgleich mit Statistikamt Nord 2021).

Abbildung 4: Kurzzeitvermietungen im Bezirk Altona

Quelle: Eigene Darstellung (basierend auf FHH 2020: 6)

Auch wenn die Daten aufgrund der Pandemie verzerrt sind, lassen sie sich als kleiner Erfolg gegen eine übermäßige Nutzung von Wohnungen als Ferienwohnungen deuten. Aber lässt sich weiterhin das »aus städtebaulicher Sicht intakte[.] Milieu« (ARGE Kirchhoff Jacobs 2011: 6) feststellen, das den Erlass der Sozialen Erhaltungsverordnung im Schanzenviertel begründete? Befürchtet wurde vor allem der Zuzug einkommensstarker Haushalte und die Verdrängung von jenen Gruppen, die das lokale soziale Netz tragen. Das folgende Diagramm zeichnet die aktuelle Entwicklung ausgewählter Sozialstrukturdaten nach. Es zeigt sich, dass alle Zahlen leicht bis mäßig rückläufig sind,

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Nicht alle davon werden für touristische Zwecke genutzt, sondern teilweise z.B. auch für Monteur:innen (vgl. FHH 2021: 6).

Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutz vs. touristische Aufwertung

was tendenziell auf eine erste Verdrängung dieser Gruppen aus dem Quartier hinweisen könnte. Gleichzeitig liegen diese Zahlen aber weiter im oder über dem Hamburger Durchschnitt, was wiederum bedeutet, dass das Schanzenviertel noch ein Wohnort für z.B. Alleinerziehende oder Leistungsbezieher:innen nach SGB II ist:

Abbildung 5: Entwicklung ausgewählter Sozialstrukturen im Hamburger Schanzenviertel

Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten des Statistikamts Nord13

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Im Jahr 2020 lag im Schanzenviertel der Anteil an Alleinerziehenden 27 % und der Anteil an Leistungsbezieher:innen nach SGB II 11 % über dem Hamburger Durchschnitt; bei Kindern in Mindestsicherung ist der Wert etwa im Hamburger Mittel. Daten abzurufen unter https://region.statistik-nord.de/main/2/0/ (Zugriff 20.04.2022).

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Direkt lässt sich diese Entwicklung nicht auf die Soziale Erhaltungsverordnung zurückführen. Nur eine vertiefte triangulative Analyse könnte Aufschluss darüber geben, ob nach wie vor der Anteil von zum Beispiel Alleinerziehenden im Schanzenviertel vergleichsweise hoch ist, weil ihre Miete nicht wegen Modernisierungen gestiegen ist, oder vielmehr weil die Zentralität kurze Wege im Alltag erleichtert oder das Familienbild im Viertel nicht so starr ist (vgl. intersektionale Perspektiven auf Wohnen in Bauhardt 2010; Curran 2017; Vogelpohl 2022). Dennoch sind indirekt Schlussfolgerungen möglich. Der Rückgang des Anteils benachteiligter Bevölkerungsgruppen setzt sich auch nach Erlass der Sozialen Erhaltungsverordnung fort, aber in anderem Tempo. Dazu hat wahrscheinlich beigetragen, dass im Schanzenviertel keine Wohnungen mehr in Eigentumswohnungen umgewandelt worden sind (vgl. Bürgerschaft der FHH 2020: Anlage). Städte setzen prinzipiell stark auf die Einigung mit den Eigentümer:innen; der Vollzug des Vorkaufsrechts soll weitestgehend vermieden werden. Ausgeübt wurde es 2020 in ganz Hamburg nur in acht Fällen aufgrund der Umwandlungsverordnung (vgl. Bürgerschaft der FHH 2021). In diesen Fällen jedoch konnten konkret mehrere Häuser im Schanzenviertel international agierenden, stark renditeorientierten Immobilienunternehmen entzogen werden. Dazu gehört der Kauf von drei Grundstücken mit den zugehörigen Immobilien, wodurch Mieter:innen von 20 Wohnungen und mehrere Gewerbeeinheiten vor Verdrängung geschützt wurden.14 Obwohl die Erhaltungsverordnung nicht auf die lokale Ökonomie und die Zusammensetzung der Gewerbestruktur bezogen ist, zeigt das (inzwischen ja vom Bundesverwaltungsgericht ausgesetzte) Instrument des Vorkaufsrechts also auch hier Bezüge auf. Denn die Vertreibung von spezifischen Bevölkerungssegmenten aus dem Schanzenviertel wird selbst in dem Gutachten zur Sozialstruktur im Schanzenviertel nicht nur auf Mieten, sondern auch auf die intensivierte touristische Nutzung zurückgeführt: »Ein zentraler Faktor für die künftige Entwicklung ist die ›Gastronomisierung‹: Sie ›vertreibt‹ einen Teil der stabilen Bewohner und begrenzt die Nachfrage auf solche Gruppen, die mit dem Trubel leben können (wollen)« (ARGE Kirchhoff Jacobs 2011: 6). Weniger renditeorientierte Eigentümer:innen erlauben letztlich auch eine diversere lokale Ökonomie.

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Vgl. https://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/12225438/2019-02-25-bsw-schutz-vor -verdraengung/ (Zugriff 04.05.2022).

Soziale Erhaltungsverordnungen und Wohnraumschutz vs. touristische Aufwertung

Fazit Es ist bereits mehrfach analysiert worden, dass die Instrumente der Sozialen Erhaltungsverordnung und des Wohnraumschutzes im Kampf gegen enorme Mietpreissteigerungen und Verdrängung sinnvoll sind, aber nicht ausreichen, um die Probleme effektiv einzudämmen (vgl. Hollander 2011; Schmidt 2021; Smigiel 2020; Vogelpohl 2017). Vielmehr stellen sie einen Baustein im Zusammenspiel mit starkem Mietrecht, sozialem Wohnungsbau, weitergehender Sozialpolitik etc. dar. Da diese vorhandene, aber begrenzte Wirkung offenbar ist, möchte ich das Fazit auf drei grundsätzliche Thesen zuspitzen: 1) Eigentum: Mit der Umwandlungsverordnung wird anerkannt, dass soziale Verhältnisse wesentlich davon abhängen, wer Wohnungen besitzt. Mit dem Vorkaufsrecht wird daher gezielt gesteuert, solche Immobilienkonzerne und Eigentümer:innen vom Wohnungsmarkt zu drängen, die Wohnraum vor allem als Finanzanlage nutzen. Dass gegen diese Praxis geklagt wurde, bezeugt nur, dass das finanzielle Verwertungsinteresse einiger Immobilienunternehmen hoch ist und durch regulierte Mietverhältnisse erfolgreich gestört wird. 2) Sozialer Zusammenhalt: Mit der Sozialen Erhaltungsverordnung wird anerkannt, dass eine soziale Wohnungspolitik sich nicht auf das Mietrecht, aber auch nicht grundsätzlich auf die Steuerung globalisierter Kapitalströme beschränken kann. Mit dem Blick auf Quartiere wird die Bedeutung sozialer Netzwerke und sozialen Zusammenhalts für gesellschaftliche Teilhabe hervorgehoben – jenseits der konkreten Wohnsituation innerhalb der Wohnung. Wie Schmidt (2021: 288) ebenfalls betont, gibt die Diskussion um Milieuschutz einen »Motivationsschub […], den Erhalt von gewachsenen Nachbarschaften einzufordern«. 3) Stadt- und Wohnungspolitik: Mit der Verschärfung des Wohnraumschutzes wird anerkannt, dass viele, kleinteiligere Regulationen nötig sind, um im Gesamtbild eine sozialere Stadt- und Wohnungspolitik auf den Weg zu bringen. Da Eigentümer:innen nicht vorgeschrieben werden kann, wer in ihren Gebäuden wohnen oder arbeiten soll, ist eine Kombination mehrerer Instrumente angebracht, um die Sozialstruktur eines Gebietes zu steuern. Nach und nach werden bestehende Regulationsmöglichkeiten aufgegriffen, verschärft oder ergänzt, sodass eine grundlegend soziale Stadt- und Wohnungspolitik möglich scheint.

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Touristifizierung des Schanzenviertels als stadtpolitisches Problem Gespräch mit dem ehemaligen Stadtteilbeauftragten Heinz Evers Ursula Kirschner und Anja Saretzki

Der Stadtteilbeauftragte Heinz Evers war von 2006 bis 2015 mit den Aufgaben des Sanierungsbeauftragten in der Sternschanze vertraut, danach war er bis 2018 als Stadtteilbeauftragter tätig. Mit der Schaffung dieses Postens reagierte das Bezirksamt Altona auf die spezifische Problemlage des neuen Stadtteils. Um mehr über die Entwicklung der Sternschanze aus der Perspektive des Stadtteilbeauftragten zu erfahren, haben wir uns am 29. September 2021 mit Heinz Evers zu einem mehrstündigen Stadtteilspaziergang in der Sternschanze getroffen. Ausgangspunkt war der S-Bahn-Vorplatz Sternschanze unmittelbar vor dem Vereinsgebäude des SC Sternschanze. Von dort aus ging es zuerst durch den östlichen Teil des Viertels. Ein Wolkenbruch beendete den Rundgang leider vorzeitig, sodass der zweite Teil des Gesprächs in einem Café in der Schanzenstraße geführt wurde. Die von Herrn Evers geäußerten Informationen und die persönlichen Meinungen sind aus dem Stegreif heraus erfolgt. Für die Richtigkeit in allen Details wird keine Garantie gegeben. Die Interviewerinnen haben punktuell recherchiert und in den Fußnoten Äußerungen ergänzt und kommentiert, ebenfalls wurden in den Fußnoten Begriffe erläutert und Ereignisse kontextualisiert. Herr Evers bemühte sich, die Komplexität des Sternschanzenviertels und seiner Strukturen sowie die Ambivalenz einer Steuerung der Entwicklung darzustellen.

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A.S.: Seit wann gibt es den Stadtteilbeauftragten der Schanze? H.E.: Da muss man etwas ausholen. Wir haben einen Paradigmenwechsel in der Stadterneuerung gehabt. Ursprünglich gab es die Idee von der Flächensanierung1 und später entstand der Gedanke der behutsamen Erneuerung2 . Um in diese Richtung aktiv zu werden, wurden Voruntersuchungen für innenstadtnahe Altbauquartiere gemacht, wie für die Schanze, für St. Georg, für die Neustadt, für das Karolinenviertel usw. Es wurden Mängel in der baulichen Ausgestaltung und in der Erfüllungsfunktion der Aufgaben für die Bewohner festgestellt. Danach wurden auf Grundlage des Städtebauförderungsgesetzes3 vorbereitende Untersuchungen veranlasst, und wenn hier die Mängel aus den Voruntersuchungen bestätigt wurden, wurden Sanierungsgebiete festgelegt. Daraufhin richteten die Bezirke einen Sanierungsbeauftragten ein, der dann die Vermittlung zwischen Verwaltung, Politik und Gesellschaft zu übernehmen hatte. Diese Aufgabe habe ich von 2006–2013/14 in der Schanze übernommen. Danach liefen die Sanierungsgebiete aus. Die Sternschanze ist als Stadtteil4 erst nach der Gebietsreform 1

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Flächensanierung, auch als Kahlschlagsanierung bekannt, bedeutete großflächigen Abriss, um anschließend neu zu bauen. Es ist ein historisches stadtplanerisches Konzept, welches nach dem 2. Weltkrieg besonders in den 1960er/1970er Jahren in unterschiedlichen Maßstäben von einer bestimmten Interpretation der Charta von Athen den großflächigen Abriss von Altbausubstanz und anschließende Neubebauung nach dem Leitbild der autogerechten Stadt zum Gegenstand hatte (vgl. https://dewiki.de/Le xikon/Fl%C3%A4chensanierung; Zugriff 22.02.2002). »Die behutsame Stadterneuerung geht Ende der 1960er Jahre auf die Initiative des Architekten Hardt-Waltherr Hämer zurück. […] Während […] [die Flächensanierung] faktisch an der Wende der 1970er in die 1980er Jahre auch durch die Hausbesetzungen gestoppt wurde, war die behutsame Stadterneuerung in den Planungen und Aktivitäten zur Internationalen Bauausstellung 1984/87 (IBA) als rechtsfähiges Stadtsanierungskonzept ausgearbeitet worden. Damit war der Weg zur großflächigen Sanierung der Altstadtviertel geebnet und auch besetzte Häuser konnten legalisiert werden.« (https ://dewiki.de/Lexikon/Behutsame_Stadterneuerung; Zugriff 22.02.2002). Das Städtebauförderungsgesetz wurde 1971 im Bundesgesetzblatt Nr. 72 veröffentlicht. Dort heißt es im §3 Abs. 1: »Die Gemeinde kann ein Gebiet, das städtebauliche Mißstände aufweist, deren Behebung durch Sanierungsmaßnahmen erforderlich ist, durch Beschluß förmlich als Sanierungsgebiet festlegen (förmlich festgelegtes Sanierungsgebiet). Das Sanierungsgebiet ist so zu begrenzen, daß sich die Sanierung zweckmäßig durchführen läßt.« »Auch die Sternschanze gilt bei den Hamburgern als eigenständiger Teil der Stadt. Die Grenzen des Viertels waren bisher nicht genau definiert – es lag irgendwo zwischen

Touristifizierung des Schanzenviertels als stadtpolitisches Problem

im Jahr 2008 entstanden und setzt sich zusammen aus Teilen Altonas, Eimsbüttels und Mitte. Das Bezirksamt hat nach der Gebietsreform die bereits laufenden Sanierungsverfahren – soweit räumlich zuständig – mit erweiterten Aufgaben im operativen Bereich fortgeführt. Nach Abschluss der Sanierungsmaßnahmen ist meine Arbeit übergegangen in die Funktion eines Stadtteilbeauftragten. Nach meiner Pensionierung im Jahr 2015 war ich drei Jahre lang freiberuflich in Teilzeit für das Bezirksamt tätig, um auch meine Nachfolgerin in die Arbeit einzuführen. Die Sanierungsverfahren wirkten wie eine Käseglocke, die für eine gewisse Zeit übergestülpt wurde. Das war zu jener Zeit, als der Stadtteil große Mängel aufwies. Die Wohnungen waren stark sanierungsbedürftig und mit Kohleheizungen, Einscheibenverglasung, WC auf Zwischenetage ausgestattet. Die Verkehrsund Emissionsbelastung vom Schlachthof war hoch, es gab einen Mangel an vernünftigen Grünanlagen etc. Es sind nicht alle, aber viele Mängel behoben worden. Wohnungsbauförderung5 gab es in damals üppigem Maße, später war dies aufgrund der niedrigen Zinsen nicht mehr so interessant, und man hoffte, ohne die Bindung auf dem freien Mark mehr Geld zu verdienen. Mir war für die Übergangszeit wichtig, dass der Beirat beibehalten wurde. Der Sanierungsbeirat firmierte dann um zum Stadtteilbeirat. Um diesen und

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Altonaer Straße, ehemaligem Schlachthof, Sternschanzenpark und Stresemannstraße. Das Schanzenviertel setzte sich bislang aus Teilen von St. Pauli, Eimsbüttel, Altona und Rotherbaum zusammen, die Verwaltung teilten sich die Bezirke Eimsbüttel, Altona und Hamburg-Mitte. Jetzt gehört der 0,5 Quadratkilometer große Stadtteil Sternschanze zum Bezirk Altona – das soll eine einheitliche Entwicklung des Bereiches ermöglichen. Der Bürgerschaftsabgeordnete Andy Grote (SPD) äußerte Kritik: ›Bei der Festlegung der Sternschanzen-Grenzen hätte man sich an städtebaulichen Gegebenheiten wie Hauptverkehrsstraßen orientieren müssen‹, sagt er. ›Nun gehört der Schanzenturm, der auf dem Wappen Eimsbüttels zu sehen ist, zu Altona.‹ Sowieso sei kaum einer im Vorfeld einverstanden mit dieser Neuerung gewesen – er könne sich vorstellen, dass eine Abschaffung des Stadtteils Sternschanze Thema der nächsten Bürgerschaftssitzung sei.« (Ulrich 2008). An eine Abschaffung des Stadtteils denkt heute wohl niemand mehr. Der größte Teil von staatlich geförderten Wohnungen wurde bis Anfang der 1970er Jahre errichtet. In den 1980er Jahren ging die Förderung von Wohnraum erheblich zurück, bis zu Beginn der 1990er Jahre erneut ein Aufwärtstrend zu verzeichnen war. Dieser war jedoch wesentlich schwächer als zu Zeiten der 1960er Jahre (vgl. Häußermann/ Siebel 1993). Heute sind die Wohnungsbauförderungsrichtlinien eher an der energetischen Sanierung orientiert.

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auch den Verein Standpunkt.Schanze6 als Träger des Beirats und als ständige Institutionen zu etablieren, erhielten sie praktische und finanzielle Unterstützung der Stadt, und man räumte ihnen eine Zugangsmöglichkeit zur Bezirkspolitik ein. Hier kollidierte es manchmal, da sich die Mitglieder des Stadtteilbeirats als ausgewiesene Stadtteilexperten nicht an die hoheits-politischen Regeln der repräsentativen Demokratie hielten. Weiter wurde ein Verfügungsfond eingerichtet. Bis zum Jahr 2006 wurden viele Sanierungsaufgaben von Fachbehörden wahrgenommen, das waren beispielweise Finanzierungsaufgaben für Wohnungsneubau und für Gewerbeförderung, Ordnungsmaßnahmen, Kauf von Grundstücken, Abriss von Bauwerken, Ausführung von Infrastrukturmaßnahmen, welche dann weitgehend auf die Bezirksbehörden übertragen wurden. Da ich vorher in der Finanzbehörde für Liegenschaften tätig war, konnte ich dann in das Bezirksamt wechseln. U.K.: Was waren die Highlights? H.E.: Die Weiterführung der institutionalisierten Bürgerbeteiligung vor Ort, die Sensibilisierung der Politik, ein besonderer Stolz ist der Bebauungsplan Sternschanze 67 mit dem zugehörigen Gastro-Textplan. Ich glaube es ist einmalig in ganz Hamburg, dass ein Bebauungsplan als Textplan geschaffen wurde, der besagt, dass die Zulässigkeit von Gastronomiebetrieben je nach Quartierscharakter nur noch in besonderen Ausnahmen zulässig ist. Wir hatten damals 70 oder 80 Gastronomiebetriebe,8 d.h. auf ca. 100 Einwohner kam eine Gastronomie. In der Praxis gibt es heute manchmal Ausnahmegenehmigungen und zwar, wenn nachgewiesen werden kann,

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Der Standpunkt.Schanze e.V. ist ein Anwohnerverein mit Beteiligung von Anwohnern, Vertretern von Einrichtungen (Vereine, Initiativen), ehrenamtlich tätigen Personen, Gewerbetreibenden und Grundeigentümern. »Anlass der Planung war die Entwicklung einer ausufernden Gastronomie im Schanzenviertel, die zu erheblichen Konflikten mit der ausgewiesenen Wohnnutzung geführt hat. Aus diesem Grunde ist das übergeordnete Planziel der Schutz und Erhalt der Wohnnutzung und die Regulierung der Schank- und Speisewirtschaft durch eine Beschränkung auf einen Ausnahmetatbestand.« (Bezirksamt Altona 2012: 3). Lt. Anlage 3 der Begründung zum Bebauungsplan Sternschanze 6 gab es zu dem Zeitpunkt 88 Schank- und Speisewirtschaften im Stadtteil. Dort lebten zu der Zeit 4898 Menschen und es gab rechnerisch eine Gastronomie auf 55 Menschen. Das Areal der Roten Flora samt Flora-Park (Bebauungsplan Sternschanze 7) und das Schanzengebiet südlich der Augustenstraße sind nicht enthalten.

Touristifizierung des Schanzenviertels als stadtpolitisches Problem

dass irgendwann in der Immobilie in der Vergangenheit ein Gastronomiebetrieb zugelassen war. Dann besteht quasi ein Bestandsschutz. Derartige Tricksereien haben in Altona viel Verwaltungsarbeitszeit zu Lasten von Baugenehmigungsverfahren okkupiert. Auch der Bebauungsplan Sternschanze 79 , die planungsrechtliche Aussage rundum die Rote Flora und Florapark, war gelungen. In dem Plan wurde festgeschrieben, dass die Rote Flora als ein Stadtteil-Kulturzentrum zu sichern ist. Seinerzeit hat Herr Kretschmer10 , Investor und Kulturmanager, die Rote Flora zu einem günstigen Preis erworben und später nach jahrelangen sehr kontroversen Verhandlungen diese an die Stadt zurückveräußert. Grundlage dafür war dieser Bebauungsplan aus dem Bezirksamt. Die Angelegenheit Rote Flora lag jedoch stets in der Zuständigkeit des 1. Bürgermeisters und der Senatskanzlei. Zugang zur Roten Flora konnte sich nur manchmal jemand vom Bezirksamt bei einer sogenannten Brandverhütungsschau verschaffen. Kretschmer selbst hatte Hausverbot. Mit dem Rückkauf wurde ein jahrelanger Streit erst einmal beigelegt. Ein Highlight war auch das sieben Jahre lange Ringen mit der Stadtreinigung um zwei öffentliche High-Tech-Toiletten, von denen eine gendergerechte auf der Piazza steht. Für die Schaffung von Gewerbeflächen wurde von der Finanzbehörde in Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt eine Ausschreibung für das betahaus durchgeführt, welche die steg11 gewonnen hat. Das betahaus12 wurde mit

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Der Bebauungsplan Sternschanzen 7 wurde am 13. Januar 2014 (HmbGVBl. S. 22) verabschiedet. Im Jahr 2001 hatte der Hamburger Investor Klausmartin Kretschmer das Flora-Areal für umgerechnet 190.000 Euro von der Stadt gekauft (vgl. Twickel/Braden/Jäschke 2014). Außerdem hatte Kretschmer die Kasematten unter dem Schauermannspark, einer öffentlichen Grünanlage, erworben. Der Schauermannspark ist Teil des Planungsgebiets von Park Fiction, des öffentlichen Planungsprozesses und Kunstprojekts für den von Anwohnern realisierten Antoni-Park (vgl. https://park-fiction.net/thats-gentrification /; Zugriff 16.02. 2022). Auch dieser Ort in St. Pauli in der Nähe zur Hafenstraße war jahrelang von der autonomen Szene sehr umkämpft. Die steg wurde 1989 als Stadterneuerungs- und Stadtentwicklungsgesellschaft Hamburg von der Stadt gegründet, ist seit 2003 aber eine private GmbH. Das Leistungsspektrum umfasst Stadtplanung und Stadtentwicklung, Architektur, Immobilienverwaltung und Projektentwicklung wie die Revitalisierung von problematischen Wohnund Gewerbeimmobilien (vgl. https://www.steg-hamburg.de/; Zugriff 16.02.2022). Das betahaus Schanze ist ein Coworking Space.

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EFRE-Mitteln13 gefördert, die allerdings nur in einem sehr aufwendigen Verfahren eingeworben werden konnten. Es konnte schließlich mit Unterstützung der Stadt realisiert werden, um damit das Gewerbepotenzial der Schanze auch am Ort zu binden. Gleiches konnte für die Brammerfläche14 nicht gelingen. Hier sollte ein Angebot von billigen Räumen an die neue Kreativ- und Start-up-Szene und ebenso an soziale Einrichtungen, ein wichtiger Bestandteil der Schanze, gemacht werden. Es gab auch immer wieder Frustmomente, wenn man z.B. mit ›Taschen voller Geld‹, d.h. mit günstigen Förderangeboten für stadtteilbezogene Projekte, und mit neuen Projektideen in den Beirat kam und oft auf Widerstand und großes Misstrauen stieß. Erst langsam konnte ein sachliches, vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut werden, auch wenn es nach wie vor erhebliche Kritik am Verwaltungs- bzw. Politikhandeln gibt. Insgesamt lässt sich aber sagen, dass das Management des Stadtteils und die weitgehend erfolgreiche Umsetzung der Entwicklungsziele ohne die kooperative Zusammenarbeit und die kompetente und engagierte Umsetzung von vielen Teilaufgaben (Bebauungsplanverfahren, Bauprojekte im öffentlichen Raum usw.) mit bzw. durch die jeweils zuständigen Fachdienststellen des Bezirksamtes Altona und anderen Behörden, z.B. Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt, der Finanzbehörde, Immobilienmanagement sowie den Sanierungsträger steg nicht möglich gewesen wäre. Ich bin all diesen Kolleginnen und Kollegen ehrlich dankbar, sonst wäre diese Aufgabe nicht zu erfüllen gewesen.

Der Stadtteilspaziergang U.K.: Was können Sie uns zu diesem Ort, wo wir uns gerade befinden, zum S- und U-Bahn-Vorplatz Sternschanze, zum Schanzenpark und zum Fußballplatz des SC Sternschanze sagen? H.E.: Die Gestaltung dieses Raumes geschah noch im Rahmen des Sanierungsverfahrens Eimsbüttel II. Dazu gehörte der Neubau des Vereinshauses, als dieser Teil noch zu Eimsbüttel gehörte; die Renovierung des

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Europäischer Fond für regionale Entwicklung (EFRE). Die sog. Brammerfläche ist eine Brache Ecke Schulterblatt/Max-Brauer-Allee und gehört offiziell nicht mehr zum Stadtteil Sternschanze.

Touristifizierung des Schanzenviertels als stadtpolitisches Problem

Schanzenparks und die Straßensanierung Sternschanze erfolgte dann nach der Bezirksreform 2008. Dieses wurde mit 1,5 Mio. Euro aus der RISEFörderung15 finanziert, ebenso wie der Kunstrasenplatz des sogenannten Polizeisportplatzes mit 0,5 Mio. Euro. Der S-Bahn-Vorplatz ist noch nicht perfekt, er ist immer noch angstbesetzt. Eine Bebauung entlang des Bahndamms sollte hier eine weitere Aufwertung schaffen und preisgünstige Gewerbeflächen (8 Euro/qm) für kreative Start-ups und soziale Einrichtungen – vorrangig aus dem Quartier – anbieten. Da für diese Bebauung etliche Bäume hätten gefällt werden müssen und die Anwohner keine weitere Belastung durch möglicherweise Lärm akzeptieren wollten, wurde diese Idee – bislang – wieder verworfen. Der Platz vor dem Vereinshaus sollte ein Quartiersplatz werden mit Schachspielfeld, Sitzstufen und Hocker. Es wurde allerdings eher der Treffpunkt für die Partygänger, die mit der S-Bahn ankamen. Wir haben dann vergeblich versucht, den Kiosk zu beleben, welcher ursprünglich als ›Fenster nach außen‹ für den Verein gedacht war. Zwischenzeitlich gibt es hier wieder eine Ansammlung von Menschen die – ich sage mal – zu einem kritischen sozialen Milieu gehören. Insofern hat die Platzgestaltung hier nicht den erwarteten Erfolg erzielt.16 Zwischen 2010 und 2013 war dieser Ort auch Drogenumschlagplatz, damals Cannabis, was bis zu einem gewissen Punkt vom Stadtteil toleriert, jedoch durch zunehmende Gewalt stärker abgelehnt wurde. Der Florapark gehörte ebenfalls dazu. Hier wurde in Zusammenarbeit mit der Polizei in Form von Razzien und Programmangeboten im öffentlichen Raum mit dem Ziel, soziale Kontrolle auszuüben und einem Deal mit Dealern hinsichtlich dessen, was im Stadtteil toleriert wird, Abhilfe geschaffen. Trotz breiter Öffentlichkeitsbeteiligung ist die Verbesserung öffentlicher Räume, wie Plätze, Grünanlagen u.ä. immer auch ambivalent, weil sie nicht nur das ›akzeptable‹ Nutzungsspektrum erweitert, sondern oft auch unerwünschte Nutzungen und Störungen nach sich ziehen kann. Das Problem scheint sich etwas reduziert zu haben, heute sind vorrangig das Mietenproblem und die Übertouristifizierung der Schanze problematisch.

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Rahmenprogramm Integrierte Stadtteilentwicklung (RISE). Anmerk.: Der Platz hat keinen Namen, was zur Orientierungslosigkeit des Orts beiträgt.

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Wir befinden uns nun in der Sternstraße in Richtung Lagerstraße. H.E.: Dieses Gebiet stand ursprünglich für Schlachthof und Schachthof bezogene Tätigkeiten zur Verfügung. Mit dem Schließen des Schlachthofs schlossen ebenfalls Zuliefererbetriebe wie die Darmwäscherei, die Gewürzmühle etc. Dieses Gelände wurde sodann über einen städtebaulichen Vertrag Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre neu konzipiert. Damit hat man versucht, die für die Schanze typische Mischnutzung (Wohnen und Gewerbe), jedoch eine für Bewohner zuträgliche, zu erhalten. Der Bebauungsplan wurde von der reinen Gewerbeflächennutzung überführt in Wohn- und Gewerbebauflächen mit der Auflage, auch sozialen Wohnungsbau zu realisieren. Ich glaube, es gibt derzeit noch ca. 1.400 Wohneinheiten in der Schanze, und davon sind zwischen 400 und 450 Sozialbauwohnungen, bis 2024 werden allerdings die Bindungen von ca. 70–80 Wohnungen auslaufen.17 Auch in der Schanze nimmt der Bestand an Sozialbauwohnungen rapide ab.18 Die Stadt hatte hier die Steuerungsfunktion inne, und insgesamt ist die Entwicklung für dieses Areal als positiv zu bewerten, da hier ein lebendiges MK19 entstanden ist. Dieses Areal ist ein Beispiel dafür, dass die Schanze über die Partynutzung hinaus sehr viel mehr zu bieten hat und ein Stück urbane Stadt ist. Wir sind an der Sternstraße/Ecke Kampstraße angekommen. H.E.: Hier sieht man eine sehr diverse Architektur und angenehme Mischung aus Gewerbe, Wohnen und Nahversorgung. In den Hinterhöfen entdeckt man immer wieder Einrichtungen, die man kaum erwartet – weil man sie für weg-gentrifiziert hält, so z.B. gibt es in der Susannenstraße noch die Tischler- und Zimmererkooperative. Es gibt hier in gewisser Weise noch alles, allerdings kann ich die Bewohner verstehen, dass sie die schnelle Veränderung beunruhigt. 17

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Aus den Stadtteil-Profilen (Berichtsjahr 2020) des Statistischen Amtes für Hamburg und Schleswig-Holstein konnten folgende Daten entnommen werden: Es gibt 385 Sozialwohnungen in der Sternschanze (Vergleich zu 2019: 462 Wohnungen), in % der Wohnungen insgesamt 8,9 %, darunter keine weiteren Wohnungen mit Bindungsauslauf bis 2026. »Fast 12.000 Haushalte haben im vergangenen Jahr in Hamburg einen Wohnberechtigungsschein bekommen. Nur etwas mehr als 3.000 Haushalte haben dann aber auch eine der günstigen Wohnungen erhalten.« (Stand 23.11.2021; vgl. https://www.ndr.de /nachrichten/hamburg/Sozialwohnungen-sind-in-Hamburg-Mangelware,sozialwoh nungen136.html; Zugriff 15.02.2022). Mischnutzung im Kerngebiet (MK).

Touristifizierung des Schanzenviertels als stadtpolitisches Problem

Es geht vorbei an der Beckstraße, der Augustenpassage hin zur Verlängerung der Schlachthofpassage. H.E.: Diese Terrassenhäuser20 zeigen die Verdichtung und die schlechten Belichtungs- und Beleuchtungsverhältnisse zu jener Zeit. Der Sanierungsauftrag sah auch vor, hier bessere Wohnverhältnisse durch Entkernung zu schaffen. Diese Terrassenhäuser sind im Privatbesitz und wurden auch als private Bauvorhaben gebaut.

Abbildung 1 und 2: Unterschiedliche Innenhöfe des Viertels

Quelle: Eigene Aufnahmen

Wir gehen von der Sternstraße in den Hof schräg gegenüber der Schlachthofpassage. H.E.: Hier sind im Zuge des städtebaulichen Vertrags ruhige, aber sehr stadtnahe Sozialneubauwohnungen entstanden. Damals wurden alle städtischen Wohnungen zwecks Instandsetzung und Modernisierung vorübergehend in das Treuhandvermögen des Sanierungsträgers, der steg,

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»Als Terrasse, Terrassenhaus oder Wohnterrasse wird in Hamburg die innere Bebauung eines städtischen Häuserblocks genannt. Es handelt sich dabei in der Regel um zeilenförmig angeordnete, mehrgeschossige Mietshäuser, die hinter einem Vorderhaus quer zur Straßenachse stehen und über einen Durchgang und meist nicht befahrbaren Wohnweg erschlossen werden.« (https://dewiki.de/Lexikon/Wohnterrasse; Zugriff 16.02.2022).

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überführt. Die Wohnbauten wurden sodann mit öffentlichen Mitteln instandgesetzt und die Belegung und Mietenentwicklung konnte von der Stadt kontrolliert werden. Die Wohnungen sind alle mit großen Anstrengungen mit Sozialplan, Mieterbeihilfen, Renovierungshilfen etc. sehr gut saniert worden. Die alten Mieter konnten später ohne Wohnberechtigungsschein in modernisierte Wohnungen ziehen, letztendlich nur deshalb, weil sie mal hier gewohnt haben. Heute verwaltet die steg die Wohnungen; allerdings sind sie in das Eigentum der SAGA21 übergegangen.

Die Entwicklung des Viertels A.S.: Als wir im Hof mit den Sozialbauwohnungen in der Sternstraße standen, habe ich mich gefragt, wie hoch ist der Anteil von Airbnb-Wohnungen in dieser Gegend? Ich habe recherchiert, dass hier Airbnb-Wohnungen ausgeschrieben sind. H.E: Hierzu habe ich leider keine Fakten zur Verfügung. Ich wollte aber in dem Zusammenhang auf etwas anderes hinweisen. Wir haben in der Schanze eine extrem hohe Bevölkerungsdichte, es ist einer der am dichtesten besiedelten Stadtteile Hamburgs, die Bevölkerungsstatistik weist eher noch einen Zuwachs auf. Soviel ich mich erinnere, hatten wir in den letzten Jahren meiner Tätigkeit beim Bezirksamt ca. 7.800 Einwohner22 . Daraus kann ich eine Verdrängung durch Airbnb nicht ableiten. Es sind Verwaltungseinheiten eingerichtet worden, die unzulässige Nutzungen für touristische Zwecke sehr engagiert verfolgen. Es gibt natürlich versteckte Strategien, die seitens der Behörden nicht recherchierbar sind. Seitdem es das Wohnraumschutzgesetz gibt, welches 2018 novelliert wurde, ist es genehmigungspflichtig, wenn man über acht Wochen im Jahr hinaus die Wohnung zweckentfremdet vermietet. Auch der Sanierungsbeirat beobachtet aus meiner Erfahrung sehr aufmerksam missbräuchliche Praktiken. U.K.: Warum ist die Schanze ein so beliebtes Ausgehviertel?

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Staatliche gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft in Hamburg (SAGA). 2020 zählte der Stadtteil 7.965 Einwohner (Stadtteil-Profile Berichtsjahr 2020 des Statistischen Amts für Hamburg und Schleswig-Holstein).

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H.E.: Die Schanze oder sagen wir mal das Schulterblatt waren historisch bereits Ausgeh- und Einkaufsmeile zu den Zeiten, als Postkutschen von hier aus nach Kiel oder Lübeck abfuhren. Der Glaspalast – das ehemalige FloraTheater – gehörten dazu. Die innerstädtischen Altbauquartiere zwischen St. Pauli, Universität, Innenstadt und Elbe sind besonders gefragt, da sie besonders durch ihre Baukultur, ihre Nutzungsstruktur, durch ihr Angebot an kulturellen Einrichtungen attraktiv für junge Menschen sind. Hier kommt noch der kriminelle Thrill wegen der Drogen und der politische Thrill wegen der Roten Flora hinzu. Auf der Piazza sitzt man der Roten Flora direkt gegenüber und erlebt gewissermaßen aus der ersten Reihe, was dort passiert. Das gastronomische und kulturelle Angebot ist sehr breit gefächert und das Haus 7323 wurde von der Stadt mit dem Ziel, neben der Flora ein alternatives Kulturangebot zu etablieren, gefördert. Auch wegen der sehr guten Erreichbarkeit mit ÖVPN nutzen viele das Viertel zum Vorglühen, um später dann auf den Kiez (Reeperbahn) zu gehen. Hier kommt so viel zusammen, dass die Schanze prädestiniert ist für eine solche Entwicklung. Der Stadtteil toleriert vieles, doch gewisse Exzesse, die mit Verschmutzung, Lärm und Aggressivität einhergehen, führen auf längere Sicht dazu, auch den Letzten zu zermürben. Der Katalog an Möglichkeiten der öffentlichen Hand, hier Abhilfe zu schaffen, ist begrenzt. Der Bebauungsplan Sternschanze 6 kam möglicherweise zu spät, da zu dem Zeitpunkt bereits sehr viele gastronomische Betriebe existierten. Jedoch wäre die rechtliche Grundlage bei einer geringen Gastro-Dichte nicht gegeben gewesen. Das neue Ladenschlussgesetz in Hamburg aus dem Jahr 2006 ermöglicht allen Einzelhandelsgeschäften 24/6 geöffnet zu haben. Damit sind den Kiosken viele Möglichkeiten gegeben, die sogar auch zusätzlich sonntags öffnen können, wenn sie z.B. Brötchen oder Blumen mitanbieten. Da man grundsätzlich längere Gastronomie-Außenzeiten ermöglichen wollte, hat man auch für die Piazza damals diese Zeit um eine Stunde verlängert mit der Bitte, dass die Gastronomen dann eigenverantwortlich dafür Sorge tragen sollten, dass nach 23 Uhr Ruhe einkehrt. Die Regelungen für die Außengastronomie änderten sich generell, und damit waren Öffnungszeiten bis 23 Uhr erlaubt. Nun fühlten die Gastronomen sich nicht mehr daran gebunden, diesen Deal zu respektieren. Auch hat sich grundsätzlich das Party- und Freizeitverhalten der Deutschen, vielleicht auch beflügelt durch die Fußball-WM 2006, geändert.

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Das Haus 73 ist ein Kulturzentrum mit Kino und Gastronomie.

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Das Cornern wurde populär und vermittelt ein emotionales Freiheitsgefühl. Man ist nicht drinnen, nicht draußen, es ist günstiger, ständig wechselnde Gesprächspartner und niemand wird ausgeschlossen. Man fühlt sich vielleicht auch ein wenig abweichend vom rein bürgerlichen Freizeitverhalten (Restaurant oder Kneipe). Das einzuschränken ist politisch nicht einfach. Auf der einen Seite besteht Verständnis für die Anwohner und auf der anderen Seite auch für die Cornernden, die sich die Preise in der Innengastronomie nicht leisten können. Allerdings kann ich den letzten Beschwerdebrief aus dem Jahr 2020 an die hohe Politik, dass hier niemand hergezogen sei angesichts dieser Verhältnisse, die hier herrschen, nicht nachvollziehen. In den Beiratssitzungen beginnen viele ihre Rede mit den Worten »Ich wohne schon seit 30 Jahren hier«; damit grenzt man sich von den neu Hinzugezogenen ab, welche sehenden Auges hierhergezogen sind. Es gibt noch viele Alteingesessene, aber auch viele, die ganz bewusst hierhergezogen sind, die diesen Thrill, dieses Besondere des Stadtteils genießen. Ich erinnere, dass ein Morgenpost-Redakteur versuchsweise in die Schanze gezogen ist, um herauszufinden, was das Besondere ist. Drei oder fünf Monate hat er den Lifestyle genossen, danach wurde ihm auch vieles zur Belastung und er hat das Weite gesucht. Es gibt kleine Maßnahmen, die die Belastung der Bewohner eindämmen sollen, wie die öffentlichen WCs auf der Piazza und am Bahnhofsvorplatz, die Schallschutzschirme in der Susannenstraße und das Verwenden textilummantelter Ketten für das nächtliche Anbinden der Stühle. Warum sich die Probleme in der Schanze nicht wie z.B. am Großneumarkt oder auf St. Georg auf ein erträgliches Maß einpendeln, weiß ich wirklich nicht. Weiter gibt es noch ein Vollzugsdefizit, d.h. die Verwaltung kann nicht ständig unterwegs sein, um alles zu kontrollieren. Die Einsatzkräfte, die BÜNABs (bürgernaher Beamter) werden immer wieder gerufen wegen ruhestörendem Lärm, aber dann heißt es: »Selbstverständlich kommen wir, wenn die Einsatzlage es zulässt.« Aber die Einsatzlage lässt das Erscheinen oft nicht zeitnah zu. Wenn sie dann eine Stunde später kommen, hat sich die Situation meist schon erledigt. Wahrscheinlich benötigt es einen bunten Blumenstrauß an Maßnahmen. Der Einsatz von Mediatoren bzw. Flüsterern im Stadtteil, die auf Fehlverhalten aufmerksam machen, wie ihn meine Nachfolgerin vorschlägt, könnte auch eine wirksame Maßnahme sein. Die Vermarktung der Schanze als hippen Stadtteil nutzt die Stadt Hamburg gerne, um ihr Image als attraktive Stadt für junge Menschen aufzuwerten. Die touristischen Institutionen der Stadt Hamburg sind glücklich, dass

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sie so ein lebendiges und abenteuerliches Quartier wie die Schanze haben. In allen touristischen Schriften wird die Schanze erwähnt. Das weckt auch Interesse bei Menschen, unterschiedlicher Herkunft und Altersgruppe, sodass auch Ausflugsbusse der Kreuzfahrtschiffe regelmäßig durchs Schulterblatt fahren. Die Schanze ist ein dickes Marketingprojekt, das bis zum Letzten von allen Akteuren ausgekostet wird. Als ich 2006 hier anfing, sagte mir der Kollege aus Eimsbüttel: »Mach dir keine Sorgen, irgendwann zieht die Karawane weiter.« Heute haben wir 2021, und die Karawane ist noch nicht weitergezogen. Die Kioske wurden anfangs als Nahversorgung begrüßt, heute versorgen sie in erster Linie die Partygäste. Die Kioske unterliegen den Regeln des Einzelhandels und stehen in Konkurrenz zur Gastronomie und müssen weder WCs noch Service vorhalten. Hier könnte man sich vorstellen, dass eine politische Initiative den Status von Kiosken zukünftig ändern könnte. Es gab immer wieder die Diskussion, Ausweichquartiere zu schaffen. Jedoch künstlich ein solches Ambiente zu erzeugen, das wird nicht funktionieren. Derzeit sind die Bewohner mit den Corona-Eindämmungsmaßnahmen24 glücklich und genießen die angenehme Wohnsituation. U.K.: Ist Graffiti ein Tourismustreiber? H.E.: Es gibt immer wieder Führungen, die hier die Straßengalerie vorführen. Diese finden tagsüber statt und sind eher kontrolliert und behutsam und haben nichts mit dem entfesselten Partytourismus in der Nacht zu tun. Natürlich erweitert es noch das Image der Schanze als kulturellen Hotspot der Subkultur; das Alltagsleben wird dadurch aber nicht beeinträchtigt oder belästigt. Graffiti ist für die Schanze künstlerischer Ausdruck der politischen Haltung und trägt zur positiven Identifikation mit dem Stadtteil 24

Im Rahmen von Allgemeinverfügungen als Corona-Eindämmungsmaßnahmen gab es sehr unterschiedliche Regeln, z.B. das Verbot von Alkoholkonsum im öffentlichen Raum, Sperrstunden von Gastronomiebetrieben. Die Sternschanze galt zeitweise als Hotspot. »Es gelten Sonderregelungen für gastronomische Angebote in sogenannten Hotspots, also in Straßen und auf Plätzen in den Stadtteilen Schanzenviertel und St. Pauli. Es gibt ein tägliches Alkoholausschankverbot von 23 bis 6 Uhr. Zusätzlich gilt ein Verbot des Abverkaufs nach außen (Kioske, Supermärkte, gastronomische Betriebe etc.) und des Mitführens (Bürgerinnen und Bürger) von Alkohol von 20 bis 6 Uhr an den Wochenenden von Freitag bis Sonntag. (Stand: 17. Juni 2021 10:00 Uhr)« (vgl. http s://www.hamburg.de/faq-corona-freizeit/; Zugriff 16.02.2022).

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bei. Dies gilt allerdings nicht für alle Arten von Graffiti; manches wird von den Bewohnern auch als üble Schmiererei empfunden. A.S.: Sind eher der klassische Städtetourismus oder der binnenstädtische Feiertourismus das Problem in der Schanze? H.E.: Tja, ich glaube eher das Umfeld. Ich habe das Gefühl, dass viele aus sogenannten bürgerlichen Stadtteilen der Hansestadt kommen, um sich hier in der Schanze auszutoben und um die andere Seite ihrer Persönlichkeit zu zeigen. Nur leider wird ignoriert, dass Menschen hier wohnen. Sie sehen den Stadtteil als rechtsfreien Raum. Wir haben mal versucht, mit Flyern darauf aufmerksam zu machen. Der Flyer hatte den Titel »Schanze finde ich toll, da kann ich Party machen« und dann folgten in verschiedenen Sprachen einige Verhaltensregeln. Das hat – ich denke mal – null Effekt gehabt. Eine ähnliche Intention verfolgt derzeit das Respektplakat25 . Mein Appell ist immer, alles in eine konzertierte Aktion einzubinden und gemeinsam mit Politikern, Verwaltung und Öffentlichkeit aktiv zu werden und dann hoffen, dass dieses Wirkung zeigt. Einzelmaßnahmen werden schwierig sein. Wir hatten mal die Idee, der Schanze ein neues Image zu geben und dieses zu fördern – weg von dem Partyviertel, hin zu einem innovativen, kreativen Quartier mit mehr Nachhaltigkeit. Seitens der Protagonisten war dies ein sehr ernstes Anliegen, hier ein qualitatives Gegenangebot zu schaffen. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass dies mittel- und langfristig ein wirksamer und nachhaltiger Weg wäre, aber bislang hat diese Vision wenig Resonanz gefunden. Ein wichtiger Ansatz in der Schanze sind Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger, dabei entsteht leider immer der Konflikt, wir sollen mitwirken, haben aber keine Entscheidungsgewalt. Dies ist auch ein verfassungsrechtliches Dilemma. Es hat sich im Jahr 2021 eine neue Gruppierung Füreinander Schanze26 neben dem Stadtteilbeirat gebildet, und in früheren Zeiten gab es Die grüne Flora, die sich um den öffentlichen Raum kümmern sollte, und die Initiative Standpunkt Schanze,27 die sich um die Gewerbetreibenden kümmerte. Diese Ansätze hat es schon gegeben; wenn allerdings die Protagonisten weggehen oder sterben, schläft dieses Engagement ein. Wir 25 26 27

Das Plakat ist auf dem Titelbild dieses Sammelbands rechts zu sehen. Vgl. https://fuereinanderschanze.de/ (Zugriff 14.02.2022). Standpunkt Schanze war ein Vorläufer des heutigen Vereins Standpunkt.Schanze.

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haben mal eine Broschüre herausgegeben zu allen kulturellen, sportiven, kirchlichen und sozialen Einrichtungen in der und um die Schanze herum. Wie die Geschichte zeigt, zieht die Karawane nicht so schnell weiter, deshalb lohnt es sich allemal, hier aktiv zu werden. U.K.: Gibt es noch weitere Problemfelder neben der Gentrifizierung und der Touristifizierung in der Schanze? H.E: Das, was die Schanze auszeichnet, ist das Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten. Daraus ergeben sich in Folge weitere Konflikte, produziert durch störendes und auch emittierendes Gewerbe. Dieses Nebeneinander zu ermöglichen, ist eine Herausforderung, aber wichtig für das Selbstverständnis der Schanze. Das war auch der Gedanke bei der Konzeption der Piazza, hier sollte dem kreativen Milieu die Möglichkeit eingeräumt werden, sich in den Pausen mit einem Latte Macchiato zu treffen, um Synergien miteinander auszuloten und/oder weitere Kooperationen zu diskutieren. Das ist durch die Übernutzung der Partygäste schwierig geworden. Ob man noch andere Räume zur gegenseitigen Inspiration und zum Netzwerken im öffentlichen Raum schaffen kann, das zu recherchieren, wäre noch mal ein Versuch wert. Wir haben auch ansatzweise mal gedacht, ob dieser Platz vor dem S-Bahnhof Sternschanze diese Funktion übernehmen könnte. Indoor-Orte, die vielleicht diese Funktion in Ansätzen übernehmen, sind das betahaus, die Sprungschanze28 , ein Gründerhaus in der nahe gelegenen Bernstorffstraße, und das portugiesische Lokal direkt am Bahndamm. Dort geht man hin, wenn man politisch korrekt stadtteilaffin ist. Leider ist es beim Portugiesen aufgrund des täglichen Verkehrs von ca. 1.200 Zügen sehr laut. Neue Angebote könnten hier Impulse geben. Das Ladenlokal gegenüber vom Portugiesen mit dem Angebot, lokalen Künstlern/Kunsthandwerkern hier die Möglichkeit zu bieten, ihre Kunst zu vermarkten, ist für den Stadtteil wertvoll. Auch der Schutz von Freiraumflächen ist eine wichtige Aufgabe. Z.B. in der Eifflerstraße zwischen Lippmannstraße und Stresemannstraße, gibt es Bahndammbegleitflächen, die von der DB beansprucht werden. Dieses sind Flächen, die von der Kita gegenüber und von der MädchenOase29 genutzt wer28 29

Vgl. www.gewerberaum-hamburg.de/gruenderzentren/sprungschanze-gruenderhau s-st-pauli.html (Zugriff 26.09.2022). Vgl. https://maedchenoase.org/ (Zugriff 23.02.2022).

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den und heute stark gefährdet sind. Hier wird es wichtig werden, Alternativen zu finden. Es gab immer die Frage, warum muss ausgerechnet die Schanze eine Sonderbetreuung durch eine Stadtteilkoordination haben, und andere Stadtteile, die ebenfalls soziale und Verkehrsprobleme haben und infrastrukturelle Defizite aufweisen, nicht in diesem Maße die Betreuung durch Politik und Verwaltung erfahren, wie hier die Schanze. Jedoch ist die Schanze von der Struktur und dem gesamten sozialen Geflecht ein Sonderfall, und letzten Endes spielt sie auch eine Sonderrolle im gesamtstädtischen Gefüge Hamburgs und bringt ein Sonderopfer – möchte ich mal so sagen. Sie ist ein touristisches Highlight, und Bewohner erleiden dafür Belastungen und dann ist es auch richtig und notwendig, denen quasi eine Art Sondervergütung zuzugestehen, in dem Sinne, dass man eine Koordinationsstelle beibehält und Mittel für den Beirat und den Verfügungsfond bereitstellt. A.S.: Welche Rolle spielt die Rote Flora in dem gesamten Prozess? H.E.: Historisch hat die Flora ein großes Ansehen, weil sie das VarietéTheater, Neue Flora, verhindert hat, durch die Besetzung und die politischen Auseinandersetzungen, die hier stattgefunden haben. Und die Floristen sind ein Stück Schanzen-Identität, rebellisch, aufmüpfig, nicht angepasst und frei und kreativ usw. Insofern glaube ich, dass sie hier vor Ort zumindest mental gut verankert sind. Die Stadt war auch klug genug, dies nicht infrage zu stellen. Von der Opposition [CDU] wurden politische Vorwürfe nach mangelndem Rechtsbewusstsein und politischen Fehlern erhoben. Schlussendlich hat die Stadt die Immobile für ca. 800.000 Euro von Herrn Kretschmer zurückgekauft. Die Summe ist deutlich höher als der ursprünglich von ihm bezahlte Betrag. Die anfängliche Forderung von Herrn Kretschmer belief sich auf 4. Millionen Euro. Dieser kluge, pragmatische Akt der Politik, die Immobilie zurückzukaufen, um sie planungsrechtlich abzusichern, hat die Stadtteilatmosphäre stark beruhigt. Wenn hier privatisiert worden wäre, und Investoren möglicherweise die Flora abgerissen und durch z.B. Gewerbe, Hotel, aber auch Wohnungsneubau ersetzt hätten, wäre eine Menge Unruhe entstanden. Ich bin mir sicher, dass dies zu einer Solidarisierung weiter Teile der Bewohner gegen eine Privatisierung geführt hätte. Bei den G20 Krawallen war es etwas anders, wobei ich glaube, dass dieser Protest nicht im Gebäude der Roten Flora organisiert und koordiniert

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wurde, denn es gibt kaum ein Gebäude in der Stadt, welches so gut durch den Verfassungsschutz und die Polizei kontrolliert wird wie dieses. Die Rote Flora macht gute soziale Angebote, so z.B. hat sie es zugelassen, dass auf ihrem Grundstück eine Skaterbahn gebaut wird, und sie macht interessante Kultur- und Nutzungsangebote. Und sie haben in Selbstbau das Gebäude weitgehend verkehrssicher gemacht. Die friedliche Koexistenz zwischen der Flora und dem Stadtteil hat sich weiterentwickelt, auch wenn nicht mehr der politische Thrill von der Flora ausgeht, wie vor einiger Zeit. Im Moment stellt die Existenz nicht einmal mehr die Opposition infrage. A.S.: Würden Sie die Rote Flora als Tourismustreiber ansehen? H.E.: Ein Stückweit schon, sicherlich nicht bewusst. Und es ist aus der Sicht der Rotfloristen auch befremdlich. Dass sie ein Tourismustreiber ist, dokumentiert sich durch die Ausflugsbusse mit den Kreuzfahrttouristen, die direkt vor der Flora stets Halt machen. Es sind viele Bausteine, die den Esprit der Schanze produzieren. U.K.: Wurde das Fortgehen des Galeristen Alex Heimkind30 in der Schanze bedauert oder diskutiert? H.E.: Ich habe nichts davon mitbekommen. Er war immer ein wenig am Rande, deshalb haben es möglicherweise nicht so viele mitgekriegt, ausgenommen das Sprayer-Milieu, die Urban-Art- und Street-Art-Community. Im Stadtteil habe ich nicht gespürt, dass die Bewohner beklagten, dass mit dem Fortgehen die Schanze ein Stück Identität verloren hat. Das Projekt der Container-Galerie auf der ehemaligen Baustellenfläche am Dänenweg fand z.T. große Zustimmung, aber vor Ort und auch von fachlicher Seite deutlich Kritik. Bewohner aus dem Quartier merkten an, dass die Schanze kein weiteres touristisches Highlight benötige, dass das Volumen, sprich fünf mal sechs Container an der markanten Stelle zu groß sei, die besondere Gestaltung missfalle und die Grünfläche erhalten werden soll. Dabei

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Alex Heimkind hat die OZM Galerie in der Sternschanze ins Leben gerufen und dort zehn Jahre (bis 2018) Graffiti- und Street-Art-Kunst gezeigt. Das Gebäude mit samt der Kunstwerke wurde abgerissen. Er hat die Graffitiszene in der Sternschanze stark geprägt. Heute hat er eine Galerie und Ateliers im Stadtteil Hammerbrook.

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übersehen die Kritiker oft, dass die Containergalerie auch mit ihrer sozialen und städtebaulichen Ausrichtung erst eine Inwertsetzung dieser von Verwahrlosung bedrohten Fläche bedeuten würde. Zu einem offiziellen (Bau-)Antrag ist es trotz fortgeschrittener Planung und Organisation nicht gekommen, weil Alex Heimkind mit der – vorübergehenden – Überlassung eines Altbaus zwischen Spalding- und Nordkanalstraße derzeit glücklich und ausgelastet ist. A.S.: Ist die Schanze heute noch für Sie ein Wohlfühlort? H.E.: Ich finde ja. Mit der Einschränkung des Nachtlebens auf der Piazza. A.S.: Würden Sie den Stadtteil als durchtouristifiziert bezeichnen? H.E.: Es gibt noch Potenziale im Stadtteil. Die Hotspots Bahnhofsvorplatz, Susannenstraße und Schulterblatt sind schwer belastet. Theoretisch gibt es noch Möglichkeiten. Ich persönlich halte mich lieber in den Nebenstraßen auf, weil ich finde, dass es dort das originellere, authentischere Angebot gibt. Aber das funktioniert auch nur solange, bis es dann in dem Mainstream mit drinsteckt. A.S.: Was würden Sie spontan sagen, ist der touristischste Ort in der Schanze? H.E.: Die Piazza. A.S.: Können Sie Orte oder Tendenzen benennen, die sich unterschwellig zu zukünftigen Tourismustreibern entwickeln könnten? H.E.: In der Sternstraße, Ecke Ludwigstraße, entwickelt sich langsam etwas, und zwar von der Seite Schlachthof her. Dort gibt es schon ein paar schicke Cafés, noch bescheiden mit ein paar klapprigen Stühlen draußen. Aber ich denke, da ist noch Potenzial. Das heißt natürlich nicht, dass ich dafür Werbung machen will, sondern eher zukünftige Problembereiche aufzeige. Auch in der Lippmannstraße, dort wo es eine Verbreiterung Richtung Eifflerstraße gibt, böte sich etwas an. Es gehört immer ein bisschen öffentlicher Freiraum – wie Straßenraum oder Vorgärten – dazu. An den

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beiden Orten wäre dies gegeben. Im Moment gibt es ja noch den Central Park auf der Brammerfläche; dort gibt es auch Chancen, das sich etwas entwickelt. Die Lage eignet sich auf jeden Fall, da auf der einen Seite der Bahndamm ist und auf der anderen die große Straße. Natürlich gibt es dort auch Wohnungsbau, aber wir haben hier fünf Jahre Zeit,31 um eine politische Diskussion in Gang zu setzten und ein für Anwohner erträgliches und gewinnbringendes Konzept zu entwickeln. Es ist allerdings fraglich, ob das durchsetzbar ist angesichts der immer noch starken Forderung nach mehr Wohnraum, was auch verständlich ist. Es könnte eine Alternative oder auch Ausgleich zum Schulterblatt entstehen. Rund um den U-Bahn-Tunnel an der Lagerstraße kann sich natürlich auch noch einiges entwickeln, allerdings liegt dies schon verwaltungstechnisch im Bezirksamt Mitte. Aber ich glaube, irgendwann ist das Potenzial an Nachfrage auch ausgeschöpft. A.S.: Gibt es einen Zeitpunkt, für den Sie sagen würden: Da ist die Schanze gekippt? H.E.: Historisch ist die Schanze seit fast 200 Jahren ein Freizeitquartier. Mit Sicherheit hat die Sanierung von Beginn der 1970er, 1980er Jahren dazu beitragen, aus einem Schmuddelquartier ein ansehnliches Quartier zu machen. Weiter kamen neue kulturelle Angebote hinzu, die den Stadtteil attraktiver gemacht haben, sodass Neugierde bei vielen Menschen geweckt wurde, und dann war die Schanze immer im Gespräch und in den Medien wegen der Roten Flora. Auch die Fußball-WM 2006 hat noch mal einen deutlichen Schub gebracht hat, weil damit deutlich gemacht wurde, dass Deutsche auch feiern und sich extrovertierter geben können, als das bislang der Fall war. UK: Vielen Dank für die vielen Informationen, jetzt kennen wir die Schanze – nein, ich korrigiere mich, jetzt kennen wir sie besser. H.E.: Das geht auch mir so, dass ich immer wieder etwas Neues entdecke. Die Schanze ist etwas Besonderes.

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Das Gelände wird während des Neubaus der Sternbrücke fünf Jahre lang als Montageplatz der neuen Brücke benötigt.

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Literatur Bezirksamt Altona (2012): Begründung zum Bebauungsplan Sternschanze 6, Hamburg: Bezirksamt Hamburg-Altona. Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter (1993): »Das Ende des goldenen Zeitalters im Sozialen Wohnungsbau«, in: Jürgen Bärsch/Joachim Brech (Hg.), Das Ende der Normalität im Wohnungs- und Städtebau? Thematische Begegnungen mit Klaus Novy; Darmstadt: VWP, S. 9–31. Twickel, Christoph/Braden, Benjamin/Jäschke, Martin (2014): »Besetzte Rote Flora«, in: Spiegel Online vom 28.08.2014. https://www.spiegel.de/geschi chte/rote-flora-25-jahre-besetztes-kulturzentrum-in-hamburg-a-988541 .html (Zugriff 22.02.2002). Ulrich, Friederike (2008): »Sternschanze, HafenCity – Hamburgs neue Stadtteile«, in: Hamburger Abendblatt Online vom 01.03.2008. https://www.ab endblatt.de/hamburg/article107379921/Sternschanze-HafenCity-Hambur gs-neue-Stadtteile.html (Zugriff 22.02.2002).

Die Sternschanze – Perspektive eines Anwohners und Mitglieds des Stadtteilbeirats Henning Brauer

Fast genau 20 Jahre ist es nun her, dass ich in die Sternschanze gezogen bin. Wir haben uns damals fast jedes Wochenende mit Freunden in einem der schon damals recht zahlreichen Cafés zum Frühstück getroffen, und das überall zu spürende Unangepasste, der so entspannte, unkomplizierte Umgang der Menschen miteinander hatte es mir doch ziemlich angetan; was für ein angenehmer Kontrast zu dem ›Nebeneinanderherleben‹ in vielen anderen Wohnvierteln. Gefunden habe ich ein Dorf mitten in der Stadt. Die Nachbarn redeten miteinander, über mehr als nur das Wetter. Die meisten Einkäufe konnte man im Viertel tätigen, in kleinen, häufig inhabergeführten Läden, wo man auch schnell ›jeden‹ kannte. Es gab einige Cafés, in denen man bei gutem Wetter auch gut draußen sitzen konnte, in denen man fast immer Nachbarn getroffen hat, und einige nette Bars und Restaurants, auch die häufig von Nachbarn besucht. Dazwischen viele kleine Läden mit eigentlich allem, was man im Alltag so braucht. Gut, ein paar zu viele Boutiquen vielleicht, die durchaus Läden für den täglichen Bedarf verdrängt haben, aber zumindest nicht groß störten. Es war immer deutlich spürbar, wie dieses Viertel jeden willkommen hieß – vollkommen egal woher, welche Hautfarbe, welcher Dialekt, welche Kleidungswahl. Als vor einigen Jahren ein alter Mann, Typ Kapitän mit weißem Rauschebart, auftauchte, der gerne Kleider trug – es hat niemanden gekümmert, er wurde genauso behandelt wie jeder andere auch. Ein gewisses Einfordern von rücksichtsvollem Verhalten war eigentlich immer da, und das war gut so. Nur für Rassismus und ähnliche widerwärtige Anwandlungen war nie Platz; in dem Punkt war und ist das Viertel wunderbar intolerant. Die Menschen hier haben sich immer irgendwie mehr umeinander gekümmert, als ich das bis dahin kannte. Wenn irgendjemand offensichtlich Hilfe brauchte, waren umgehend eher zu viele als zu wenige helfende Hände

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da – egal für wen, fast egal für was. Ob es der Kinderwagen an der U-BahnStation, in der es bis heute keinen Fahrstuhl gibt, war oder jemand gestolpert, gestürzt war, sich verlaufen hatte oder auch jemand regungslos an der Bushaltestelle lag – immer kümmerte sich jemand, nie liefen die Leute einfach vorbei, auch nicht an Wohnungslosen. Meine hochbetagte Nachbarin Anneliese hatte arge Probleme mit dem Laufen und vor allem mit den Treppen bis in den dritten Stock. Den täglichen Einkauf hat sie sich trotzdem nie nehmen lassen. Die alte Dame, die sich langsam über die Piazza bewegte und mehrere der Bänke zum Pausieren brauchte, kannte hier jeder zumindest vom Sehen. Und wenn sie wiederkam, musste sie nie lange warten, wer auch immer im Haus gerade kam oder ging, half ihr mit den Einkaufstaschen in den dritten Stock. Einmal im Jahr traf sie sich zur Weihnachtsfeier mit den ehemaligen Kollegen. Sie hatte fast ihr ganzes Arbeitsleben bei Montblanc verbracht. In der ehemaligen Fabrik, mitten im Schanzenviertel zwischen Schulterblatt und Bartelsstraße, waren da schon lange Werbeagenturen u.ä. eingezogen. Häufig traf ich sie, wenn sie von dieser Feier heimkam, leicht beschwipst und mit leuchtenden Augen erzählend, wie schön es war. Einmal sprach sie davon, dass sie ja eigentlich in ein Seniorenheim umziehen müsste, weil ihr so viele Alltagsdinge doch zunehmend schwerfielen. »Aber da hab’ ich niemanden, und hier hab’ ich Euch!«, sagte sie – und blieb. Zu dem Dorfcharakter der Sternschanze tragen die vielen kleinen Läden bei. Ein ganz besonderer ist Bruno’s Käseladen – der vor allem den Nachteil hatte, dass »Mal eben schnell ’nen leckeren Käse kaufen« gerne mal länger dauerte, weil halt gerade nicht viel los war und man auf einer Bank vorm Laden so wunderbar sitzen und mit Bruno, dem etwas kauzigen, immer lustigen Mann mit dem riesigen Herzen, schnacken konnte. Mein Arbeitsweg ist nicht sonderlich lang, egal ob mit Bus, Bahn, Fahrrad oder zu Fuß – eine halbe Stunde reicht immer, locker. Und trotzdem brauchte ich häufig zwei Stunden für den Heimweg – davon den allergrößten Teil für die letzten Meter. Werner und Klaus hatten ihre Trödelläden gleich nebenan. Werner, der kleine, alte Mann mit Zylinder, hatte es eher mit Büchern; Klaus – groß, stark, in seinen 30ern, als wir uns kennenlernten, – handelte vornehmlich mit Möbeln. Und war so hilfsbereit, dass es manchmal fast in Richtung ›Hilfe aufdrängen‹ ging. Wenn ich nach Hause kam und das Wetter einigermaßen mitspielte, standen Stühle auf dem Fußweg und ich blieb oft für Stunden hängen. Nicht nur ich, so einige aus der Nachbarschaft taten das, vor allem Klaus’ Laden war auch irgendwie ein Treffpunkt. Anneliese, Bruno, Wer-

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ner, Klaus – sie alle leben nicht mehr. Mit diesen tollen Menschen hat die Sternschanze mehr als diese etwas eigenwilligen, herzensguten Menschen verloren. Ein bisschen Originalität ist weg, und auch sonst hat sich unglaublich viel verändert. Leider im Wesentlichen nicht zum positiven, auch wenn es da ein paar rühmliche Ausnahmen gibt.

Das Schanzenfest und die Straßenkämpfe Bis vor einigen Jahren gab es einmal im Jahr das große Schanzenfest. Einen Samstag im Herbst auf dem Schulterblatt und den umliegenden Straßen; unangemeldet, weil das halt immer so war und schon aus Prinzip so blieb – warum sollten wir von irgendjemandem eine Genehmigung brauchen, um auf den Straßen unseres Dorfes zu feiern? Das Schanzenfest war bunt, laut, gewollt unorganisiert und damit liebenswert chaotisch. Ein riesiger Flohmarkt, dazwischen Familien aus aller Herren Länder, die im ›Mama kocht‹-Stil Köstlichkeiten aus ihren Herkunftsregionen anboten. Jeder war willkommen, Anzugträger genauso wie Punks. In der Spitze hatte das Schanzenfest über den Tag verteilt mehr als 10.000 Besucher. Zu den unschönen Begleiterscheinungen gehörte die abendliche Straßenschlacht mit der Polizei. Ursprünglich entstanden aus einem lächerlichen Disput über ein Lagerfeuer – aus den vom Tage übrig gebliebenen Pappkartons u.ä. – entwickelte das ein unschönes Eigenleben. Gab es vor allem zu den unseligen Schill-Zeiten1 überhaupt nicht nachvollziehbare abendliche Einmärsche der Polizei, nach denen man einige Jahre lang seine Uhr hätte stellen können, waren es später dann Kleingrüppchen, die die Auseinandersetzung suchten und auch mal die Tür der Haspa-Filiale an der Ecke so lange malträtierten, bis die Polizei endlich ihre Wasserwerfer vorführen konnte. Dass es immer die Haspa und nicht die viel symbolträchtigere Deutsche Bank schräg gegenüber traf, war wohl auch ein Zeichen dafür, dass diese Kleingrüppchen eher nicht politisch motiviert waren, sondern schlicht die Wasserspiele suchten. Selbst diese unsinnigen Straßenschlachten hatten eine völlig andere Qualität als später; sie schienen ungeschriebenen Regeln zu folgen. Wer auf dem

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Der ehemalige Richter Ronald Schill wurde wegen seiner besonders harten Urteile als »Richter Gnadenlos« bekannt. Er war von 2001 bis 2003 Zweiter Bürgermeister und Innensenator in Hamburg, wurde aber nach einem politischen Skandal im August 2003 entlassen und zog sich kurze Zeit später aus der Politik zurück.

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Fußweg stand, spielte nicht mit und wurde von den Vermummten mit und ohne Dienstabzeichen in Ruhe gelassen. Zwar gab es immer einige durch Flaschen, Pfefferspray u.ä. Verletzte, sowohl auf Seiten der sich im ›revolutionären‹ Straßenkampf Wähnenden als auch bei der Polizei – doch im Vergleich zu dem, was wir später erleben mussten, war das fast beschaulich. Diese Straßenschlachten hielten nie lange an, die Polizei sperrte das Schulterblatt für zwei bis drei Stunden, rundherum wurde einfach weiter gefeiert. Auch zum 1. Mai und gelegentlich zu Demonstrationen gab es diese Straßenschlachten, im Wesentlichen beschränkt auf die, die diese wollten, und die Polizei, und das Leben ging danach einfach weiter, das war halt ein paar Mal im Jahr so. Sicher waren viele hier genervt, aber es war wenigstens auch immer schnell vorbei und es blieb – zumindest für uns – eigentlich nie wirklich etwas nach. Doch diese Situation entwickelte ein Eigenleben. Die Aussicht auf die fast schon rituelle Straßenschlacht nach dem Schanzenfest lockte genau die an, die eben diese Straßenschlacht wollten, um der Straßenschlacht willen. Es wurde jedes Jahr ein bisschen schlimmer, die ungeschriebenen Regeln waren immer weniger präsent, und als irgendwann jemand mit einem Messer verletzt wurde – die Gerüchteküche spricht von Rechtsextremen, die unauffällig gekleidet das ›linke‹ Schanzenfest aufmischen wollten – war es vorbei. Das ›neue‹ Schanzenfest, nach mehrjähriger Pause an einem anderen Wochentag in anderen Straßen – ist wieder viel, viel kleiner, nachbarschaftlicher und kommt weitgehend ohne Polizei aus. Und das bleibt hoffentlich auch so. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Schanzenfeste, wie wir sie kannten, ein Ende fanden, waren die ›anderen‹ Straßenschlachten schon verschwunden. Was das anging, schien das Viertel endlich zur Ruhe zu kommen.

Der Sanierungsbeirat – wie der Lärmbelästigung beikommen? Schon in den 1990er Jahren traten einige Probleme dieses sehr dicht besiedelten Stadtteils, der zunehmend zum Ziel von Touristen und Feierwütigen wurde, zu Tage. Es war mir irgendwann zu wenig, nur mit den Nachbarn auf der Straße darüber zu sprechen bzw. ›zu meckern‹. Die Sternschanze war damals ›Sanierungsgebiet‹, und damit einher gab es einen ›Sanierungsbeirat‹, organisiert von der steg, die wiederum von der Stadt damit beauftragt und dafür bezahlt wurde. Ich ging einfach mal hin und traf viele engagierte Nachbarn,

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die im besten ›Machen, nicht nur reden‹-Stil ihr Dorf selbst mitgestalten wollten. Das ›Sanierungsgebiet‹ musste aus formaljuristischen Gründen ein Ende finden (vgl. dazu das Interview mit Heinz Evers in diesem Band). Neben einigen anderen Konsequenzen hätte das auch das Ende des Sanierungsbeirats bedeutet – wo es doch so offensichtlich war, wie wichtig dieses Gremium war, das den hier lebenden oder anderwärtig aktiven Menschen eine Stimme und ein Forum gab. Plötzlich war ich mit einigen anderen dabei, ein Nachfolgegremium zu schmieden – was unglaublich kompliziert war, da es bundesweit nichts Vergleichbares gab, niemand wusste, wie man sowas aufsetzt. In über einjähriger Kleinarbeit mit Verwaltung, Politik und Nachbarschaft haben wir einen Weg gefunden. Der Stadtteilbeirat, wie wir das Baby jetzt nennen, floriert bis heute. Schon bei meinem ersten Besuch beim damaligen Sanierungsbeirat – das muss über 15 Jahre her sein – war die Belastung durch die zunehmende Außengastronomie ein zentrales Thema. Das hat sich bis heute nicht geändert, es hat zudem vollkommen andere Dimensionen erreicht. Damals waren es ein paar Cafés, Bars und Restaurants, deren Außenflächen zu viel Lärm generierten, um in den darüberliegenden Wohnungen zu normalen Zeiten in Ruhe Schlaf zu finden. Schon damals gab es das immer wieder erneuerte Versprechen von Politik und Verwaltung, dass es auf der Sternschanze keine weiteren gastronomischen Betriebe geben solle, da die Belastungen mitten im Wohnviertel schon zu hoch seien.2 Genützt hat es nicht viel: Was einst ein kleines Café mit ein paar Tischen vor der Tür war, ist heute – insbesondere auf der Piazza am Schulterblatt gegenüber der Roten Flora – Ballermann-Gastronomie, in der der Alkohol in Strömen fließt und noch der letzte Quadratmillimeter etwas jenseits der Außengastrofläche mit Bierzeltgarnituren vollgequetscht wird. Der Lärmpegel ist mit den Gästen von heute unglaublich hoch, und die Zeiten, zu denen die Außengastronomie schließen müsste, werden aus Ignoranz oder Dreistigkeit selten bis nie eingehalten. Mit dem Argument, Platz auf den Gehwegen zu schaffen, wurden vor vielen Jahren in der Susannenstraße zahlreiche Parktaschen aufgepflastert – für die Außengastronomie, die damit einen massiven Zugewinn an Fläche feiern

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An dieser Stelle sei an den Textplan zum Bebauungsplan Sternschanze 6 erinnert, der mit dem Ziel der Einschränkung von Neuzulassungen von Gastronomiebetrieben verabschiedet wurde, auch wenn er – möglicherweise durch seine zu späte Verabschiedung – nicht den gewünschten Erfolg erzielte. (Anm. der Hg.)

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durfte. Den Lärm sollten spezielle, einheitlich einfarbige Schallschutzschirme auf ein akzeptables Maß bringen. Von einheitlich und einfarbig ist nichts übriggeblieben, einige Wirte haben sogar mit angehängten Seitenflächen Zelte daraus gebaut. Ansonsten schützen die ›Schallschutzschirme‹ vor Regen und Sonne, was der zugehörigen Gastronomie zugutekommt. Der Schallschutz erwies sich eher als etwas zwischen frommem Wunsch und PR-Stunt. Heute ist die Piazza nahezu durchgehend Ballermann-Gastronomie, die Susannenstraße teilweise. Das ›Keine neue Gastronomie‹-Versprechen ist an der Stelle strenggenommen gehalten – doch das Ziel, die Belastung der Anwohner nicht weiter wachsen zu lassen, ist vollkommen verfehlt, wenn aus vier Tischen eines Cafés gequetschte 12–16 Bierzeltgarnituren geworden sind, die mit Gästen bis zum letzten Millimeter Sitzbank bestückt werden und den auf einen freien Platz Wartenden schon mal Drinks auf dem, was eigentlich Fußweg sein soll, serviert werden. Dazu kommen zahlreiche neuen gastronomischen Betriebe: Mal hat ein Mitarbeiter in der Verwaltung etwas fälschlicherweise genehmigt und das lässt sich nicht mehr rückgängig machen, mal hatte ein Geschäft in irgendeiner Ecke Tee oder etwas ähnliches serviert und genießt nun ›Bestandsschutz‹, was de facto zu neuer Gastronomie wird, und zum Teil gab es nicht mal im Ansatz nachvollziehbare, aber trotzdem erfolgreiche Klagen. Die Außengastroflächen sind heute erheblich größer als damals – das mögen keine weiteren gastronomischen Betriebe sein, aber es ist trotzdem mehr Gastronomie, mehr Menschen und mehr von den negativen Begleiterscheinungen. Am Ende landet fast jeder Quadratmeter Fußwegfläche, den wir irgendwo gewinnen, bei der Gastronomie. Immer wieder ohne, dass es in irgendeiner Weise nachvollziehbar wäre, zunehmend aber nach erfolgreichen Klagen. Wieso irgendjemand ein Recht auf exklusive Sondernutzung von öffentlicher Fläche einklagen kann, ist und bleibt mir ein Rätsel. Dazu kommt das, was heute als ›Cornern‹ bezeichnet wird: Kioske als Quellen des Alkohols, irgendetwas zum Sitzen oder ansonsten einfach stehend. Kioske müssen zudem keine Toiletten vorhalten und es gibt keine Beschränkung der Öffnungszeiten. Es gab hier zeitweise 4.000 Menschen auf ein paar hundert Metern Straßenlänge und ein erheblicher Lärmpegel bis in die Morgenstunden, sodass für viele Anwohner an Schlaf überhaupt nicht zu denken war. Im Park hinter der Roten Flora, umringt von Wohnbebauung, sieht es ähnlich aus.

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Touristenströme Als ob das Viertel mit den vielen Besuchern der Cafés tagsüber und der gröhl-, kotz- und pinkelwütigen Abendschicht nicht schon überfüllt wäre und genug auszuhalten hätte, kamen und kommen auch immer mehr und mehr Touristen. Es gibt geführte Touren im Halbstundentakt, Sightseeing-Busse durch das Schulterblatt und ungebetene Besucher selbst in eindeutig nicht-öffentlichen Hinterhöfen. Frühmorgens, bevor der Großteil der Gastronomie öffnet, wirkt das Viertel immer sehr ruhig und friedlich auf mich – doch das hält nicht lange an. Beim Frühstück im Lieblingscafé ums Eck, einem der wenigen, das sich als Nachbarschaftstreff erhalten hat, möchten wir uns oft genug ›Bitte nicht füttern‹-Schilder umhängen. Man kommt sich hier doch häufig vor wie im Zoo, angestarrt von den viel zu vielen Besuchern, jenseits der eigenen Wohnungstür ein Leben auf dem Präsentierteller. Dass gerade die geführten Gruppen mehrheitlich vollkommen rücksichtslos quer über die Fußwege stehen, macht es wahrlich nicht besser. Und spätestens an den Wochenendabenden werden die Straßen von Männern genutzt, die ihre Blech gewordenen Potenzkomplexe vorführen glauben zu müssen, gerne inklusive infernalischem Lärm aus dem offenbar kaputten Auspuff. Diese Überfüllung hat viele, viele negative Folgen. Was früher allgegenwärtig war – Nachbarn, die ein paar Stühle rausstellten und auf den Bürgersteigen zusammensaßen – gibt es quasi nicht mehr. In eine der netten Bars in der Nähe gehen und Nachbarn treffen – die netten Bars sind fast alle der Massenabfüllung gewichen, und überall ist es viel zu voll. Nachbarn trifft man dort nicht. Die Masse an Besuchern hinterlässt einen Haufen Dreck. Die Gastronomen fühlen sich dafür nicht verantwortlich, also kommt die Stadtreinigung – in einigen Straßen jeden Tag. Bezahlen tun wir das, die Anwohner, und nicht etwa die Gastronomien und Kioske, deren Geschäft den Dreck verursacht. Wenn ich morgens aus der Tür trete, muss ich sehr genau schauen, ob die Pfütze auf dem kleinen Plateau vor der Tür Regen oder Urin ist. Der Fußweg ist oft mit Glasscherben übersät, gerne garniert mit ehemaligem Mageninhalt. Ein paar leere, noch heile Flaschen sind auch meistens dabei und gerne Gläser aus der umliegenden Gastronomie. Die Glasscherben sind nicht zuletzt für die Fahrradfahrer sehr, sehr nervig. Das Viertel, das jeden mit offenen Armen empfängt, ist im Grundsatz schon noch da, wird aber von den nervenden Massen fast vollständig überlagert.

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Die Gehwege sind für uns allzu oft nicht nutzbar. Ein Kinderwagen, ein Koffer o.ä. am Tisch am Rande der Außengastrofläche und die – unzulässigen – Schilder (›Kundenstopper‹) lassen die so strapazierte ›Restgehwegbreite‹ zu blankem Hohn werden. Es heißt entweder, sich auf den Gehwegen irgendwie zwischen all den Hindernissen und den Menschenmassen hindurchzuquetschen oder auf der Straße zu gehen, den Autos gefährlich nahe. Den Einkauf plant man hier am besten auch nach Wetter und Wochentag/Uhrzeit, ansonsten kann der Rückweg mit vollen Einkaufstaschen verdammt unangenehm werden. Da die Kioske den cornernden Massen keine Toilette bereitstellen müssen, behelfen diese sich mit allen möglichen Ecken im Viertel. Bevor nach dem viele Jahre dauernden Ringen endlich eine öffentliche Toilette auf der Piazza installiert wurde, gab es kein Wochenendmorgen ohne Urinlache im Hauseingang, keine Ecke, die nicht als Klo missbraucht wurde, sogar inklusive stinkenden Kothaufen. Das besserte sich mit der öffentlichen Toilette schlagartig – es bleibt der bittere Nachgeschmack, dass die schnöde Existenz der Toilette das Cornern auch noch befördert, und inzwischen sind schon wieder so viel mehr Besucher im Viertel, dass die Hauseingänge als Behelfsklos ein unappetitliches Revival erleben. Als Gast oder Besucher sollte man eigentlich ein anderes Verhalten an den Tag legen. Und der Lärm, immer wieder der Lärm. Viele Besucher des Schanzenviertels scheinen sich in einer Art Disneyland zu wähnen, in dem irgendwer nach dem letzten Besucher das Tor absperrt. Tatsächlich ist es aber auch ein Wohngebiet; hier leben 8.000 Menschen, vom Kleinkind bis zu hochbetagten Senioren. Die eigenen Schlafzeiten nach dem Lärmpegel der Gastronomie und Corner-Szene auszurichten, ist für die meisten in Anbetracht von Schul- und Arbeitszeiten schlicht nicht möglich. Wo es möglich ist, haben Nachbarn ihre Schlafzimmer von der Vorder- auf die Rückseite des jeweiligen Hauses verlagert – allzu oft mit im Wortsinn bösem Erwachen, da spätestens seit Corona die rückwärtigen Fenster einiger Gastronomien dauergeöffnet sind. Mitte 2019 wurde eine weitere Büchse geöffnet und sorgt seitdem für sehr großen Ärger: E-Scooter zum Ausleihen. Die Anbieter dürfen unverständlicherweise die Bürgersteige missbrauchen, um ihr Geschäft zu betreiben. Seitdem fliegen die Scooter permanent kreuz und quer über die Fußwege und machen an vielen Stellen die Passage für Rollstuhlfahrer unmöglich, für Kinderwagenschieber und Menschen, die nicht mehr ganz so gut zu Fuß sind, zumindest sehr, sehr beschwerlich. Und auch für alle anderen ist es nicht eben angenehm, ständig über die Scooter klettern zu müssen.

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Die Sternschanze ist eigentlich ein Sperrgebiet für E-Scooter, sie können innerhalb des Kerngebiets der Sternschanze nicht zurückgegeben werden, sondern müssen außerhalb/am Rande des Viertels geparkt werden, um die Miete beenden zu können. Diese Regelung funktioniert nicht einmal halbwegs zuverlässig; auf den Fußwegen stapelten sich die Scooter trotzdem, und werden auch über Tage und Wochen nicht wieder entfernt. Regelmäßig waren Mitarbeiter oder Subunternehmer der Verleiher zu beobachten, wie sie die Scooter direkt aus ihren Transportern auf die Fußwege im Sperrgebiet entluden. Das hat sich mittlerweile gebessert, ist aber alles andere als gelöst. Und wo nun keine E-Scooter mehr die Fußwege blockieren, tun es jetzt elektrische Roller im Vespa-Format. Die dürften zwar gar nicht auf Fußwegen stehen, tun es aber permanent und in großer Zahl trotzdem und nehmen noch mehr knappe Fläche weg. Die Stadt tut leider nichts dagegen. Die Frequenz, in der besonders auf der Piazza Umzüge zu beobachten sind, lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass es in diesen Wohnungen kaum jemand lange aushält. Und doch trügt der Schein: Rund 80 Prozent der hier lebenden Menschen tun das seit mehr als zehn Jahren, viele sehr viel länger.3 Das immer wieder gehörte »Warum bist Du denn dann dahingezogen« zieht einfach nicht – es ist gar nicht einmal so lange her, da war dieses Dorf noch viel mehr Dorf als heute, quirlig, aber nicht überfüllt, kein Partyviertel. Hier leben Menschen zum Teil seit 40, 50 oder noch mehr Jahren – mit allen Freunden und Bezugspunkten genau hier. Und all den Strapazen durch die Menschenmassen zum Trotz ist dieses Viertel eben doch noch ein ganz besonderes, mit Menschen, die nicht einfach anonym nebeneinanderher leben, die gestalten und sich einmischen wollen, die, so rauh sie teilweise scheinen, riesengroße Herzen haben.

Der Stadtteilbeirat und die Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt Den Stadtteil Sternschanze gibt es erst seit 2008. Vorher gehörte ein Teil zu St. Pauli (Bezirk Mitte), ein Teil zum Bezirk Eimsbüttel und ein weiterer Teil zum Bezirk Altona. Das hat natürlich vieles unglaublich kompliziert gemacht, und so wurde der neue Stadtteil Sternschanze mit ca. 8.000 Einwohnern ge-

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Lt. Sozialraumbeschreibung von 2015 ist die Fluktuation tatsächlich viel höher (vgl. dazu den Beitrag von Kirschner und Stolze in diesem Band; Anm. der Hg.).

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schaffen und dem Bezirk Altona zugeschlagen, was sich heute als goldrichtige Entscheidung erweist. Der Stadtteilbeirat arbeitet mit dem Bezirksamt Altona zusammen. Erst war es Heinz Evers, der sein Herz für die Sternschanze entdeckte und zu fast jeder Beiratssitzung geradelt kam. Inzwischen ist Heinz im verdienten Ruhestand, kommt aber immer noch regelmäßig ins Viertel, und ab und an passt alles für einen Kaffee zusammen. Im Bezirksamt gibt es inzwischen sogar eine Stadtteilkoordinatorin für die Sternschanze, Jenny Löwenstein, die ebenfalls an den Sitzungen des Stadtteilbeirats teilnimmt, sodass der Informationsfluss – in beide Richtungen – sehr gut funktioniert. Mindestens einmal im Jahr, meist öfter, trifft sich der Vorstand des Standpunkt.Schanze e.V., der der Träger des Stadtteilbeirats ist, auch mit der Leitung des Bezirksamts, was oftmals zu pragmatischen Problemlösungen geführt hat. Der Stadtteilbeirat und der Vorstand des Standpunkt.Schanze sind natürlich nicht immer einer Meinung mit dem Bezirksamt, aber wir haben zu einer sehr guten, vertrauensvollen Art der Zusammenarbeit gefunden. Viele von den einzeln betrachtet eher kleinen Dingen, die aber eben in der Summe doch ganz konkret das Leben der Menschen hier verbessern, werden ganz pragmatisch und ohne große Umstände im Dialog gelöst – von Fahrradständern über öffentliche Mülleimer zu Umbauten im öffentlichen Raum. Auch größere Bretter bohren wir gemeinsam erfolgreich, die öffentliche Toilette am Schulterblatt ist ein gutes Beispiel. Wir haben jahrelang gebohrt, dann gemeinsam – als Test deklariert – erstmal Dixie-Klos aufgestellt, und als damit auch dem letzten offensichtlich wurde, dass diese öffentliche Toilette dringend nötig war, wurde sie endlich gebaut. Der hohe persönliche Einsatz von Jenny Löwenstein hat großen Anteil daran. Für die Genehmigungen der Außengastronomie und deren Kontrolle sind Bezirkspolitik und -verwaltung verantwortlich, natürlich innerhalb des Rahmens, den Bundes- und Landesrecht vorgeben. Da wird uns seit mindestens eineinhalb Jahrzehnten versprochen, dass die Sternschanze ein Wohnviertel bleibt und die Belastungen durch die Gastronomie nicht ›noch‹ mehr werden sollen. Allen Versprechen zum Trotz ist die Außengastronomie aber in der gesamten Zeit sehr deutlich ausgeweitet worden, auch flächenmäßig, noch mehr aber durch viel, viel mehr Besucher, die viel mehr Lärm machen; die Belastungen sind sehr stark gestiegen, die Versprechen – die zumindest zum Teil ernst gemeint waren – waren am Ende leer. Zumindest einen kleinen Lichtblick gibt es aber: Die Kontrollen funktionieren heute besser, und die Wirte der notorisch rücksichtslosen Läden sind nicht mehr ganz so dreist, was zeitliche und

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räumliche Überschreitungen ihrer Außengastronomie angeht. Leider wird das durch die konsequente Überfüllung und die Cornernden überkompensiert.

Gibt es Problemlösungsansätze? An vielen Stellen sind die Probleme des Stadtteils nicht auf Bezirksebene oder darunter zu lösen. Um dem Phänomen des Massencornerns mitten im Wohngebiet Herr zu werden, bräuchte es wohl eine Möglichkeit, gebiets- und zeitbeschränkte Alkoholverbote auszusprechen – das kann der Bezirk nicht. Die andere Option, das Problem über eine Beschränkung der Kioskschwemme anzugehen, liegt ebenfalls nicht in den Händen des Bezirks. Überhaupt, Alkoholverbot und Kioske, zwei sehr zweischneidige Themen. Die Kioske sind natürlich auch für uns Anwohner sehr praktisch. Die Menschen, die die Kioske betreiben, sind mehrheitlich sehr sympathisch und niemand will ihnen Böses. Aber ein Geschäftsmodell, das auf einem Terrorisieren der Nachbarschaft fußt, darf einfach nicht funktionieren. Die Kioskschwemme, die wir heute in und um die Sternschanze haben, hat mit Nahversorgung überhaupt nichts mehr zu tun – die Kioske leben fast ausschließlich davon, der lärmenden Partymeute den Alkoholnachschub zu sichern. Wir hatten während Corona zeitweise ein Alkoholverbot, und zwar sogar ein recht scharfes, denn es inkludierte ein Alkoholmitführverbot. Wirklich toll findet das niemand, trifft es doch gerade auch uns. Es herrscht allerdings die Meinung vor, dass das ein notwendiges Übel war und noch wäre – funktioniert hat es. Die Sternschanze war seit vielen, sehr vielen Jahren nicht so ruhig wie während des Alkoholverbots, nicht zuletzt, weil in dieser Phase auch die gastronomischen Betriebe nicht so überfüllt waren, wie das ansonsten der Fall ist. Für viele war es ein Segen, endlich mal wieder normal schlafen zu können, sich nicht fortwährend durch Menschenmassen drängen zu müssen, deren Hinterlassenschaften auszuweichen, nicht permanent wie Zootiere angestarrt zu werden. Es hielt nicht lange an. Maßnahmen gegen die Kioskschwemme, ein Alkoholverbot – das kann nur der Senat. Die Zustände in der Sternschanze sind lange bekannt. Spätestens seit unserem offenen Brief4 im Juni 2020 kann niemand mehr behaupten, nicht zu wissen, was uns hier fast täglich zugemutet wird. Auf den offenen Brief haben wir keine Antwort bekommen. Es gab, wie so oft, allenthalben – bis 4

Der offene Brief findet sich am Ende des Beitrags.

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zur zweiten Bürgermeisterin – Mitleidsbekundungen, Anteilnahme, warme Worte und Versprechen, sich des Problems anzunehmen. Passiert ist so gut wie nichts. Zwar tauscht sich der Vorstand des Standpunkt.Schanze seitdem etwa einmal im Jahr mit dem Staatsrat für Bezirke aus, doch greifbare Verbesserungen hat es bis heute nicht gegeben. Die Anwohner der Rosenhofstraße, eine kleine Nebenstraße mitten im Schanzenviertel mit je einem Ende zur Susannenstraße und zum Schulterblatt, haben letztes Jahr eine größere Plakat- und Flyer-Aktion gemacht, genervt von vollgepinkelten und zugekoteten Hauseingängen und Vorgärten und permanentem Lärm. Eingefordert wurde vor allem Respekt. Das fand ein breites Echo in der Presse und – wieder – viele warme Worte aus der Politik, aber mehr auch nicht.

Abbildung 1: Respekt-Flyer

Foto: Anja Saretzki

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Das Stadtteiltrauma ›G20‹ G20. Das Wort reicht in der Sternschanze bis heute für traumatische Reaktionen. Desaster mit Ansage. Wir hatten ziemlich genau vorhergesagt, was passieren würde – gegenüber den Behörden, der Presse, selbst filmisch vom NDR festgehalten, die Doku lief unmittelbar vor G20. Wir sollten leider recht behalten. Natürlich nicht, weil wir so unglaublich schlau sind, sondern weil es schlicht für jeden offensichtlich war, dessen Sinne nicht von Geltungssucht getrübt waren. Was für eine schlechte Idee so ein Gipfel in einer Großstadt ist, war (fast) allen spätestens seit Genua klar. Und dann ausgerechnet in Hamburg, ausgerechnet in Steinwurfweite vor der Roten Flora mit ihrem Symbolwert und ihrer Anziehungskraft für Militante. Ich kam am Mittwochabend von einer Geschäftsreise wieder. Auf dem Weg von der U-Bahn kam ich mitten in die ›Lieber tanz ich als G20‹-Demo. Die war bunt, fröhlich und friedlich – ich saß noch stundenlang mit Klaus vor dem Haus, zum Quatschen und um dem Treiben beizuwohnen. Am Donnerstag war es ungewöhnlich ruhig, die Straßen fast menschenleer. Die Polizei kam ins Büro und bat uns dringlich, nicht auf die Dachterrassenflächen zu gehen; Trump würde gleich vorbeifahren und man sei um seine Sicherheitskräfte und um unsere Sicherheit besorgt. Und dann der Freitag. Erst wieder alles ruhig, leere Straßen. Später am Nachmittag waren plötzlich alle Polizisten, die bis dahin regelmäßig zu sehen waren, verschwunden. Das Viertel füllte sich mit Demonstrierenden. Inklusive vermummter Kleingrüppchen, die dann irgendwann zu zündeln anfingen. Ohne Rücksicht auf Verluste, egal was brennt: Mülltonnen, Abfall, die Fahrräder der Anwohner, einfach alles Greifbare. Das Feuer auf der Kreuzung Susannenstraße/Schulterblatt war zeitweise so hoch wie die angrenzenden fünfbis sechs-stöckigen Häuser. In einem der Häuser waren Menschen untergebracht, die vor Kriegen in ihren Heimatländern geflüchtet waren – und mussten nun in Eigenregie ohne Polizeischutz evakuiert werden. Die Polizei war zu dem Zeitpunkt schon wieder mit vielen Einsatzkräften in der Schanze – oder eben auch nicht, denn ins Viertel reingegangen sind sie nicht. Das hatten wir so nicht vorhergesagt, und es ist bis heute unglaublich und nicht nachvollziehbar. Alleine unter der Eisenbahnbrücke am Schulterblatt waren drei oder vier Wasserwerfer und reichlich Hundertschaften. Nichts hielt sie davon ab vorzurücken, absolut nichts. Stattdessen standen sie einfach unter der Brücke und haben zugeschaut, während Klaus, einige weitere Nachbarn und meine Wenigkeit diverse kleinere Feuer löschten. Sie haben auch noch zugeschaut, als

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eines der vermummten Kleingrüppchen bemerkte, dass wir es waren, die ihre Feuer wieder löschten und mit erhobenen Fäusten brüllend auf uns zurannten. Keine Reaktion der Polizei. Zum Glück standen schlagartig sehr, sehr viele Nachbarn bei uns und die Schwarzvermummten zogen sich ob der zahlenmäßigen Dominanz schnell zurück. Es ist schwer zu beschreiben, was in einem vorgeht, wenn so ein Mob auf einen zurennt und einem klar wird, dass niemand helfen wird und hunderte, wenn nicht tausende von Polizisten einfach nur zuschauen. An allen Tagen war immer wieder massives Fehlverhalten einiger Polizisten zu beobachten. Die meisten machen ihren Job, und sie machen ihn mit viel Engagement und Verantwortungsbewusstsein. Leider nicht alle – immer wieder aus dem Nichts Pfefferspray auf offensichtlich vollkommen Unbeteiligte, immer wieder überbordende Gewaltanwendung. So konnte ich einen Bundespolizisten beobachten, der in voller Vermummung aus einem Polizeitransporter sprang, auf einen bis dahin nicht auffällig gewordenen Radfahrer am Straßenrand zuging und nach kurzem gegenseitigem Anbrüllen diesem aus dem Nichts mit der Faust mitten ins Gesicht schlug. Danach stieg er einfach wieder in das Polizeifahrzeug und sie fuhren weg. Belangt werden konnte er nicht, dank der Anonymität mangels Kennzeichnung. Auch dank der Kollegen, die im fatalen Korpsgeist Straftäter in den eigenen Reihen decken. Nur ein einziger Polizist ist für unangemessene Gewaltanwendung belangt worden – und der hatte einen Kollegen verletzt. Uns hingegen hat der damalige Erste Bürgermeister Olaf Scholz skrupellos ins Gesicht gelogen, »Polizeigewalt hat es nie gegeben«5 – klar. »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.« Klar. Eine Nachbarin berichtete, dass sie bei der Polizei anrief, als die Vermummten ihr Unwesen im Treppenhaus trieben. Sie wurde gefragt, ob die Vermummten bei ihr in der Wohnung seien. Nein, waren sie nicht. Daraufhin wurde ihr gesagt, sie solle wieder anrufen, wenn sie in ihrer Wohnung seien und man hat aufgelegt. An allen Tagen von morgens früh bis spät in der Nacht: Hubschrauberknattern, immer und überall. Das gesamte Viertel hat bis heute ein Hubschraubertrauma. Ich hatte Tränengas im Schlafzimmer; dass die Polizei in Hamburg kein Tränengas benutzen darf, tja, das Memo ist offensichtlich nicht bei allen Einheiten angekommen. Nach übereinstimmenden Beobachtungen von uns allen war die Zahl der Randalierenden hier ziemlich klein, wenn ich »Nicht 5

Vgl. hierzu auch https://www.zeit.de/gesellschaft/2017-07/olaf-scholz-g20-demonstr anten-polizei-verfahren-hamburg; Zugriff 06.01.2023.

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mal 100« sage, kommt garantiert »Viel weniger« aus vielen Ecken. Und viele tausend Schaulustige. Die Hamburger Polizei, unterstützt von so ziemlich jedem verfügbaren Polizisten im ganzen Land und darüber hinaus, war damit überfordert. Am Sonntagmorgen – es schien alles unwirklich. War es denn wirklich vorbei? Konnte das sein? Um 10 Uhr klingelte mein Telefon. Es meldete sich die damalige Leiterin des Bezirksamts Altona. Wir haben uns eine Stunde später getroffen; sie war sichtlich angefasst. Sie fragte sofort, was sie noch heute, am Sonntag, reparieren lassen soll und was sie sonst tun könne. Als ich am Montag zur Arbeit ging, waren die Straßenbautrupps schon fleißig bei der Arbeit. Die physischen Spuren dieses G20 waren schnell beseitigt, die psychischen werden Jahrzehnte nachwirken. Und das war’s. Die Geschichte, die die vier Herren Scholz, Grote, Meyer und Dudde erzählten und erzählen, lässt sich mit dem, was wir erlebt und gesehen haben, nicht in Einklang bringen. Verantwortung übernommen hat niemand. Warme Worte der Anteilnahme und Versprechen von hochrangigen Politikern gab es sehr, sehr reichlich. Die Versprechen waren allesamt leer.

Die zukünftige bauliche Veränderung des Straßenraums Auch große Bauvorhaben stehen uns ins Haus. Über die letzten Jahre wurde ein großes Abwasserrohr unter der Schanzenstraße gelegt, verbunden mit jahrelangen Einschränkungen. Gerade fängt der Stromnetzbetreiber an, das Schulterblatt aufzugraben, um eine 100kV-Leitung neu zu legen, Dauer ungefähr ein Jahr. Die Baustelle Schulterblatt 39 müsste inzwischen locker 10-jähriges Jubiläum haben, inklusive einer langen Blockade des Fußweges und dauerhafter Verschwenkung des Straßenverkehrs. Die Sternbrücke soll durch einen monströsen Neubau ersetzt werden. Die Bahnbrücke über die Schanzenstraße wird ebenfalls neugebaut. Immerhin hat die Brücke über das Schulterblatt das schon hinter sich. Bei vielen Bauvorhaben kommen die Bauträger vorher in den Stadtteilbeirat, stellen ihre Pläne vor und holen sich Feedback ab – was oft dazu führt, dass die Belastungen für die Anwohner reduziert werden können, meistens ohne Nachteile für alle Beteiligten. Dass Versorgungsleitungen alle paar Jahrzehnte mal erneuert werden müssen, versteht jeder, es wird über das ›Wie‹ gesprochen. In der Regel sehr konstruktiv und oft genug mit wertvollen Hinweisen für die Bauträger.

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Abbildung 2: Die Sternbrücke (Blick von der Oelkersallee)

Foto: Stephan Pflug, Initiative Sternbrücke

Abbildung 3: Protestplakate gegen den Neubauentwurf der Sternbrücke, 2022)

Foto: Stephan Pflug, Initiative Sternbrücke

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Alles anders aber bei der Deutschen Bahn. Zwar kamen auch Vertreter der Bahn zur Vorstellung der Bauvorhaben zu uns in den Beirat – um zu demonstrieren, dass die Pläne an einem fernen Schreibtisch ohne jegliche Ortskenntnis gemacht wurden. Und mit der Deutschen Bahn ist alles eine Einbahnstraße – ›Bürgerbeteiligung‹ ist für die DB eine Einbahnstraße, sie informiert nur, was sie vorhat. Irgendetwas ändern – Fehlanzeige, offensichtlich aus Prinzip, die Bürger stören nur. Doch genau diese Bürger sind die Experten für die Gegebenheiten vor Ort. Der Bezirk hat das verstanden und bezieht uns frühzeitig mit ein, was zu besseren Ergebnissen führt und oft genug viele unnütze Ausgaben spart. Für die Bahn ist alles von außen ganz offensichtlich nur störend. Die Sternbrücke ist über 100 Jahre alt. Die darüber führenden Bahngleise gehören zu den meist befahrenen in Deutschland. Niemand hier diskutiert die Notwendigkeit dieser Bahnstrecke, niemand diskutiert die Notwendigkeit von Instandhaltung und ggf. Neubau von Brücken u.ä. Die Sternbrücke führt schräg über die Stresemannstraße, eine vierspurige Hauptverkehrsstraße mit dichter Wohnbebauung auf beiden Seiten, die absurderweise auch noch die Ausweichroute für Gefahrguttransporte ist, die nicht durch den Elbtunnel fahren dürfen. Transporte, die zu gefährlich für den Elbtunnel sind, durch dichte Wohnbebauung zu schicken, das erschließt sich mir nicht. Die Brücke hat einen mittleren Stützpfeiler, um den die Fahrspuren der Straße herumgeführt werden und zwischen den absurd schmalen Fußwegen ist nur Platz für drei Fahrspuren. Und was den Autoverkehr in Deutschland behindert, muss natürlich eliminiert werden. In den Kasematten der Brücke befinden sich mit AstraStube, Fundbureau und Waagenbau drei für die Hamburger Szene bedeutende Musikklubs – die Gebäude, und damit die Clubs, müssen wie weitere, zum Teil über 100 Jahre alte, unwiederbringliche Bauten abgerissen werden. Stattdessen soll ein Brückenungetüm mit über 100m Spannweite gebaut werden, auf das nichts mehr dem heiligen Auto im Wege stehe. Von Verkehrswende ist da nichts zu bemerken. Möglichkeiten für eine schlankere, sich harmonischer ins Stadtbild einfügende Brücke wurden nie ernsthaft in Betracht gezogen, noch nicht einmal durchgerechnete und quasi fertige Entwürfe von fachkundigen Architekten. Und auch sonst: Die Bahn teilt mit, was, wann und wie sie zu bauen gedenkt und basta. Neben sieben Häusern, die abgerissen werden müssen, wird die Brammer-Fläche an der Ecke Schulterblatt/Max-Brauer-Allee, die heute einen kleinen Parkplatz mit Sharing-Fahrzeugen u.ä., einen Beachclub und den Bauwagenplatz Zomia beherbergt, auf Jahre für den Zusammenbau der Brücke belegt. Immerhin, Zomia will man nun doch noch erhalten. Fast alle Bäume an der Max-Brauer-Allee zwischen Schulterblatt und Stresemann-

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straße müssen gefällt werden, um die Brücke an ihren Einbauort zu bringen. Die ›Bürgerbeteiligung‹ der Bahn bestand aus einigen Online-Formaten, Teilnehmerzahl nach Abzug von Bahn- und Behördenmitarbeitern niedrig einstellig. Wir sollen tatsächlich mitentscheiden dürfen, ob die Brücke nun Kieseloder Mausgrau gestrichen wird. Bei der Schanzenstraßenbrücke sieht es ähnlich aus. Der Plan ist ganz offensichtlich darauf optimiert, der Deutschen Bahn den Bau so billig und so wenig invasiv wie möglich zu machen – und sonst nichts. So wird die neue Brücke weniger Spannweite als die alte haben, neue Widerlager vor die alten zu montieren, ist eben billiger, als diese erst abzutragen. Der Verlust an Platz unter der Brücke – tja, das ist halt so. Die Flächen zur Montage dieser Brücke sind offensichtlich in vollkommener Ortsunkenntnis gewählt worden, ein Teil soll über der Schanzenstraße montiert werden, mehrere Jahre lang und genau vor den Fenstern der Anwohner. Andere Flächen, die sich mit Ortskenntnis geradezu aufdrängen, werden mit absurden Begründungen als untauglich abgetan, es werden sogar nicht existente Geländeniveauunterschiede angeführt – alles in allem ein überklares »Wir bauen das so, wie wir wollen, Ruhe jetzt«.

Ein Fazit Das Schanzenviertel hat so viel, was es einmalig macht, eine besondere Dorfgemeinschaft – die von den rücksichtslosen Massen und einer Handvoll skrupelloser Profitgeier zerstört wird. Mit einigem könnte man leben – große, lange Baumaßnahmen sind eine starke Belastung, aber auch unausweichlich. Das WIE ist allerdings nochmal eine ganz andere Frage – und dem Gebaren einiger weniger Gastronomen, die ein ganzes Viertel terrorisieren, wird halt einfach zugeschaut. Die Verwaltung ist machtlos, der Bezirk ist fast machtlos und nutzt noch nicht einmal das bisschen, was im Bezirk ginge, sondern schlägt uns nochmals mit der Faust ins Gesicht, indem gegen unsere ausdrückliche Empfehlung den Gastronomen noch für ein weiteres Jahr eine massive Ausweitung der Außengastroflächen und damit noch mehr Lärm in den Parktaschen genehmigt wird. Die armen Ballermann-Gastronomen hätten ja sooooo unter Corona gelitten. Diejenigen, die wirklich etwas an den Zuständen ändern könnten, sitzen im Senat und sind voller warmer Worte der Anteilnahme und leerer Versprechen, während der Terror vor unseren Haustüren einfach weitergeht. Wer würde denn auch so verrückt sein und im Wohngebiet wohnen wollen? Menschen, die seit Jahrzehnten hier leben, alle ihre Sozialkontakte

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hier haben, können ja umziehen – was in Anbetracht des Hamburger Wohnungsmarktes schon für sich genommen an Absurdität und Dreistigkeit nicht zu überbieten ist. Die Option, Gastronomie mitten in einem Wohnviertel so zu gestalten, dass das Wohngebiet noch zum Wohnen taugt, inklusive Schlaf in der Nacht und ohne stinkende, ekelhafte Magen-, Darm- und Blaseninhalte in den Hauseingängen und so ziemlich jeder anderen Ecke des Viertels, ohne Hindernislauf durch auf den Gehwegen gestapeltem Elektroschrott und Massen von Glasscherben, ist offensichtlich keine Option. Vielleicht wird das alles dadurch kompensiert, dass uns die Touristengruppen ein paar Bananen zuwerfen. In einigen Jahren ist die Sternschanze dann wohl wirklich so etwas wie ein Disneyland, das einfach nach dem letzten ›Besucher‹ abgeschlossen wird. Wohnen ist hier kaum noch möglich, und die Hamburger Politik ignoriert das gekonnt – seit mehr als einem Jahrzehnt.

Offener Brief vom 24. Juni 2020 an Bürgermeister, Senat und Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg6 Sehr geehrter Herr Bürgermeister Tschentscher, sehr geehrte Frau Zweite Bürgermeisterin Fegebank, sehr geehrter Herr Innensenator Grote, sehr geehrte Damen und Herren, sicher haben Sie der Presseberichterstattung der letzten Tage und Wochen entnommen, welche Zustände fast allabendlich in unserem Stadtteil herrschen. Riesige Gruppen Menschen beim ›Cornern‹ und in weiten Teilen der Außengastronomie auf der ›Piazza‹ und in den umliegenden Straßen, ohne Abstand und ohne Maske, als ob es keine CoronaPandemie gäbe. Diese Menschenmassen nehmen keinerlei Rücksicht auf die Anwohner, sie produzieren ganz erheblich Lärm, die cornernden Massen entleeren ihre Blasen und teilweise Mägen immer wieder in unsere Hauseingänge. Eine Nutzung der Gehwege zum eigentlichen Zweck, der Fortbewegung zu Fuß, ist häufig schon tagsüber bei einigermaßen gutem Wetter unmöglich, wir müssen teilweise mit unseren Einkäufen auf der Straße gehen. Die Unmengen an Müll, die diese Klientel hinterlässt, werden spätestens abseits der

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Vgl. https://www.standpunktschanze.de/offener-brief-des-stadtteilbeirates-sternsch anze/#comment-399; Zugriff 06.01.2023.

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öffentlichen Flächen zum konkreten Problem der Anwohner, die oft scherbenübersäten Wege führen zu Verletzungen und vielen kaputten Reifen. Für viele Anwohner ist es nicht einmal mehr möglich, den eigenen Hauseingang zu erreichen, ohne sich durch dicht gedrängte Menschenmassen und viel zu viele viel zu eng gestellte Tische der Außengastronomie zu schieben. An die Einhaltung des Mindestabstandes von 1,50m ist nicht einmal im Ansatz zu denken. Der Großteil der Bewohner unseres Stadtteils lebt schon sehr lange hier. So gut wie niemand ist bewusst und willentlich in ein ›Party-Viertel‹ gezogen. Auch hier leben von Familien mit schulpflichtigen Kindern bis zu Schichtarbeitern sehr viele Menschen, die ihren Schlafrhythmus nicht dem Partybetrieb anpassen können und wollen. Auch Bewohner des Stadtteils Sternschanze haben ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, was durch betrunkene und teils aggressive Menschenmassen, die Nichteinhaltung der Corona-Auflagen, Lärm und Dreck nicht gegeben ist. Die Gastronomen, die nicht ausschließlich an den eigenen Profit denken, sondern Rücksicht auf die Nachbarschaft nehmen und sich an die Auflagen der Corona-Verordnung halten, gibt es. Doch sie kommen sich zu Recht ziemlich veralbert vor, wenn keinen Meter vor ihren Läden Menschentrauben eng gedrängt Alkoholika aus den umliegenden Kiosken, Imbissen und Einzelhandelsgeschäften konsumieren und zum Teil noch die Toiletten des gastronomischen Betriebes benutzen wollen. Jetzt, zu Corona-Zeiten, hat die Polizei immerhin Handlungsmöglichkeiten, um einzugreifen. Zu normalen Zeiten sind die Zustände nicht anders, doch dann werden wir schlicht und ergreifend komplett alleine gelassen. Als ob die überbordende Nutzung öffentlichen Raumes durch Außengastronomie und ›Cornern‹ noch nicht genug wäre, wird jetzt auch noch in erheblichem Maße der letzte Raum auf den Bürgersteigen durch E-Scooter und ähnliche Kleinfahrzeuge kommerzieller Anbieter belegt. Die zur Einführung versprochenen Sperrzonen bestehen höchstens auf dem Papier, die Fahrzeuge werden in großen Mengen direkt aus den Transportern der Anbieter auf unsere Gehwege entladen. Und neuerdings stehen auch noch die nochmals erheblich raumgreifenderen E-Roller des Anbieters Emmy überall im Stadtteil rechtswidrig auf den Gehwegen. Wir fordern Sie auf, diesen Zuständen umgehend ein Ende zu bereiten! Ganz akut wegen der Gefahren während der Corona-Pandemie, aber vor allem auch dauerhaft. Wir sind kein Vergnügungspark, der nach dem letzten Besucher abgeschlossen wird! Die Sternschanze ist ein Wohnviertel, in dem echte Menschen fast jeden Tag unter den von Ihnen geduldeten und teilweise beförderten Zuständen erheblich zu leiden haben!

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Wir fordern ganz konkret: Sorgen Sie endlich wirksam dafür, dass die Außengastronomie nur noch innerhalb der zeitlichen und räumlichen Vorgaben betrieben wird. Diese sind mühsam gefundene Kompromisse, die aus Sicht der Anwohner schon viel zu sehr zugunsten der Gastronomie ausfallen. Auch hier sind erneut diejenigen Gastronomen, die sich an die Vorgaben und Auflagen halten und ihre Betriebe nachbarschaftskompatibel führen, am Ende die Dummen – direkt daneben werden mit Rücksichtslosigkeit und Regelverstößen große Umsätze gemacht, Sanktionen gibt es kaum. Es wird uns seit mindestens einem Jahrzehnt versprochen, dass es nicht noch immer mehr Gastronomie mit den damit einhergehenden Belastungen im Viertel geben soll, davon zu merken ist nicht viel. Bei zahlreichen Neueröffnungen der letzten Jahre fanden sich dann doch immer irgendwelche Ausnahmen oder ein ›Bestandsschutz‹ für Läden, die jahrzehntelang nicht gastronomisch genutzt wurden. Jeder Quadratmeter Bürgersteig, der irgendwo gewonnen wird, wird postwendend der Außengastronomie zugeschlagen, die Mindestgehwegbreite würde ja eingehalten – selbst das ist in der Praxis Makulatur, die Versprechen wirken wie blanker Zynismus. Sorgen Sie umgehend für ein dauerhaftes Außer-Haus-Alkoholverkaufsverbot, mindestens von Donnerstag bis Sonntag ab jeweils 20.00 Uhr. Dies muss sowohl Gastronomie als auch Einzelhandel umfassen. Wir sind nicht glücklich damit, dass dieses notwendig ist – ein Sixpack oder eine Flasche Wein vom nahgelegenen Kiosk, wenn spontan Besuch vorbeikommt, ist dann auch für uns nicht mehr möglich. Wir sehen allerdings keine andere Möglichkeit, das Massen-Cornern mitten im Wohngebiet in erträgliche Bahnen zu lenken. Insbesondere während der Corona-Pandemie müssen Massenansammlungen umgehend aufgelöst werden, nicht erst wie in den vergangenen Tagen und Wochen gegen Mitternacht, wenn überhaupt. Sorgen Sie endlich dafür, dass die knappen Gehwegflächen nicht auch noch von kommerziellen Anbietern für ihre Zwecke missbraucht werden, seien es E-Scooter, E-Roller oder Fahrräder zum Verleih, die unsere Fahrradbügel belegen. Finden Sie Lösungen! Dafür sind Sie zuständig, nicht wir! Mit freundlichen Grüßen der Stadtteilbeirat Sternschanze sowie der Vorstand des Standpunkt.Schanze e.V.

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Rote Flora: Autonomer Lifestyle als touristischer Standortfaktor Andreas Blechschmidt Im Jahre 2019 haben 7,6 Millionen Tourist*innen Hamburg besucht.1 Wer dabei auch immer einen Reiseführer oder Touristikguide zur Planung des Aufenthalts in der Stadt in den Händen hielt, wird dort den Vorschlag erhalten haben, den Besuch des alternativen und kreativen Schanzenviertels nicht zu verpassen. Und mit ziemlicher Sicherheit wird der Verweis auf die besetzte Rote Flora am Schulterblatt als dem Symbol der widerständigen Geschichte des Quartiers nicht gefehlt haben. Ohne Zweifel: Allerspätestens seit den aus dem Ruder gelaufenen Protesten gegen den G20-Gipfel im Juli 2017 in Hamburg dürfte die Rote Flora eine touristische Sehenswürdigkeit mit hohem Wiedererkennungswert weit über die Stadt hinaus sein. Ironischerweise beginnt die Geschichte der Roten Flora 30 Jahre zuvor mit dem Kampf gegen ein kommerzielles Projekt, dessen Zweck die nachhaltige Förderung der Attraktivität des Standorts Hamburg für Tourist*innen war.2 Die Rote Flora befindet sich im Restgebäude des historischen Floratheaters im Hamburger Schanzenviertel. Der Kulturinvestor Friedrich Kurz plante dort die Premiere des Musicals »Das Phantom der Oper« für den Sommer 1989. Dafür wurde im April 1988 der Großteil des historischen Gebäudes abgerissen und sollte durch einen Neubau ersetzt werden; lediglich der (bis heute) erhaltene Kopfbau als Eingangsbereich sollte als architektonisches Zitat auf die Tradition der Spielstätte verweisen. Massive Proteste von Anwohner*innen und der autonomen Szene brachten jedoch im Sommer 1988 das Projekt zu Fall, nachdem die Baustelle zuletzt unter Polizeibewachung gestellt werden musste. Im September 1989 überließ der zuständige Bezirk den ehemaligen 1 2

Mitteilung des Statistischen Amts für Hamburg und Schleswig-Holstein vom 20.02. 2020. Zur Geschichte der Roten Flora vgl. Blechschmidt (1998, 2007, 2013, 2017).

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Protestgruppen mit einem befristeten Nutzungsvertrag das erhaltene Restgebäude auf Probe; daraus entstand die bis heute andauernde Besetzung der Roten Flora. Das gescheiterte Musicalprojekt war der Auftakt einer städtebaulichen Entwicklung im Hamburger Schanzenviertel, die in den letzten 30 Jahre prototypisch dem Prozess der Gentrifizierung eines urbanen innenstadtnahen Altbauquartiers folgte. Städtische Räume sind seit der in den 1970er Jahren initiierten Transformation des Fordismus hin zum neoliberalen Regime zu einem Schauplatz eines rasanten ökonomisch-sozialen Wandels geworden. Diesen Wandel fasst der Humangeograf und Sozialtheoretiker David Harvey so zusammen: »Die traditionelle Stadt ist von der zügellosen kapitalistischen Entwicklung zerstört worden, sie ist dem endlosen Bedürfnis, überakkumuliertes Kapital zu investieren, zum Opfer gefallen, so dass wir uns auf ein endlos wucherndes urbanes Wachstum zubewegen, das keine Rücksicht auf die sozialen, ökologischen oder politischen Konsequenzen nimmt.« (Harvey 2013: 19f.) Alle Senate in Hamburg haben diese Logik staatlich verwalteter neoliberaler Deregulation als Folge eines Konzeptes des europaweiten Wettbewerbs unternehmerischer Stadtpolitiken in den letzten drei Dekaden zuverlässig verinnerlicht. Gesteuert wurde dieser Verwertungsprozess durch die politischen Verantwortlichen in den Hamburger Planungsbehörden u.a. mit dem Instrument der ›behutsamen Stadterneuerung‹. Im Standortwettbewerb der Metropolen gehörten die citynahen Altbauquartiere wie das Schanzen- und Karolinenviertel zum Standortkapital der unternehmerischen Stadtpolitik. Die von den Städten umworbenen steuerpflichtigen Besserverdienenden bevorzugen heutzutage ein urbanes, kreatives und zugleich interessantes Wohn- und Arbeitsumfeld. Die sanierungsbedürftigen und ehemals unattraktiven Altbauquartiere sind zum umkämpften Stadtraum geworden und mittlerweile sowohl renditeträchtiges Investitionskapital wie auch begehrter Wohn- und Gewerberaum von Besserverdienenden.

Rote Flora: Autonomer Lifestyle als touristischer Standortfaktor

Gentrifizierung als Voraussetzung der Touristifizierung Zur Steuerung dieser Entwicklung wurde 1989 in Hamburg als ein privatwirtschaftliches Unternehmen mit einer Mehrheitsbeteiligung der Stadt die Stadterneuerungsgesellschaft (steg) gegründet. Im Hamburger Schanzen- und Karolinenviertel trat die steg mit ihrem Glaubenssatz an, dass Akzeptanz und Konsens der Beteiligten Grundvoraussetzung für die künftige Stadterneuerungspolitik seien. Der Haken war dabei, dass bei der ›behutsamen‹ Herstellung von Akzeptanz nicht das, worüber Konsens hergestellt werden sollte, in Frage gestellt werden konnte. Nicht die Inhalte der Stadterneuerungspolitik sollten diskutiert werden können, sondern nur die Umsetzung durfte erörtert werden. Der Rückblick auf diese ›historischen‹ Prozesse der Jahre 1991/92 ist deswegen wichtig, weil hier in einer ersten Phase die Transformation eines bestehenden Quartiers mit vergleichsweise günstigem, weil sanierungsbedürftigem Wohnraum hin zu einem Wohn- und Erlebnisraum für die Kreativwirtschaft und IT-Unternehmen verschleiert wurde als ›behutsame Stadterneuerung‹ für die im Quartier ansässig lebenden Menschen. Diese Täuschung wurde 10 Jahre später wiederholt, als in einer zweiten Phase die Voraussetzungen für eine Touristifizierung des Schanzenviertels mit der Schaffung der ›Piazza‹ im Herzen des Quartiers hergestellt wurden. Diese Form Stadtentwicklungspolitik versteht sich nicht als Instrument, vorrangig die sozialen und ökonomischen Lebensbedingungen des lokalen Milieus zu fördern. Die Tätigkeit der steg zeigte dies deutlich. Die Sanierung und damit Aufwertung der Wohnsubstanz war weniger für die Menschen gedacht, die in den Stadtteilen lebten, sondern denjenigen zugedacht, die in Zukunft kommen und dort leben sollten. Im Ergebnis führten diese stadtentwicklungspolitischen Programme zu einer mittelfristigen Verdrängung vieler der ›alteingesessenen‹ Bewohner*innen. So hatte sich die steg allen Forderungen nach langfristigen sozialen Mietpreisbindungen verwehrt. Sie hatte als Puffer zu städtischen Instanzen die Funktion, politische Konflikte zu verwässern. Die Sanierungs- und Modernisierungsvorhaben des Wohnungsbestandes standen immer unter der Logik der Finanzierbarkeit mit wenigen Belastungen der kommunalen Kassen und der langfristigen Renditeerzielung. Kritik dagegen begegnete die steg mit Argumenten des bedauerlichen Sachzwangs: Sie habe nun mal keine zusätzlichen Mittel, man könne dies und jenes nicht finanzieren – dass dahinter politische Entscheidungen von Senat und Bezirk standen, hatte die steg zumeist erfolgreich verschleiern können.

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Die Rote Flora stand seit November 1989 als besetztes Projekt am Schulterblatt im Zentrum dieser stadtentwicklungspolitischen Entwicklungen. Bereits 1990 hatten die Aktivist*innen in Flugblättern, Erklärungen und Veranstaltungen nahezu 100 %ig jene Entwicklung im Hamburger Schanzenviertel vorausgesagt, die seit einigen Jahren mittlerweile selbst von bürgerlichen Medien als Ausverkauf eines Schanzenviertels beklagt wird. Zugleich hat die Flora spätestens Ende der 90er Jahre seine eigene zwiespältige Funktion als klassischer Pionier im Aufwertungsprozess selbstkritisch erfasst und damit die sich abzeichnenden Probleme des Gentrifizierungsprozesses zu einem Zeitpunkt thematisiert, als dieser Prozess zumindest in der Stadt Hamburg noch ausschließlich in Fachzirkeln debattiert wurde. Einen Ausweg aus dieser Doppelrolle hat indes die Rote Flora nicht finden können. Das Dilemma, dass sie als Teil einer linken Szene mit einer großen subkulturellen Strahlkraft selbst unfreiwillige Akteurin in dem Gentrifizierungsprozess war, den sie aus richtigen Gründen politisch bekämpfte, ließ sich nie auflösen. Es blieb bei dem Versuch, eine linke politische Gegenstrategie zu verfolgen, die zumindest auf einem öffentlichen Raum für alle beharrt und den dagegen gerichteten Kontroll- und Ausschlusspraxen etwas entgegenzusetzen versuchte. Die Planungen zur Schaffung der ›Piazza‹ direkt an der Roten Flora 2001/ 2002 können in der Rückschau als faktischer Umschlagmoment des Gentrifizierungsprozesses zu einem Touristifizierungsprozess gedeutet werden. Bis dahin war die zentrale zweispurige Straße ›Schulterblatt‹ des Schanzenviertels gegenüber der Roten Flora durch eine Nebenfahrbahn mit Parkplätzen erweitert. Durch das Verschwinden der Nebenfahrbahn wurde der dort ansässigen Gastronomie die Bewirtung von Außenflächen ermöglicht. Davon war allerdings in dem öffentlichen Planungsverfahren keine Rede: Die steg hat das Projekt der ›Piazza‹ vor allem mit dem Label der ›anwohnerfreundlichen Verkehrsberuhigung‹ etikettiert. Während der Anhörungen und Planungen im Rahmen der Anwohner*innen-Beteiligung bzw. von ›Runden Tischen‹ wurde kein Wort darüber verloren, dass von vorneherein eine Verpachtung an die Gastronomie und damit einhergehend eine Teilprivatisierung Bestandteil der ›Piazza‹-Planungen war. Stattdessen durften die unmittelbaren Anwohner*innen über die Auswahl der Beleuchtung mitbestimmen. Und selbst wenn man den damals verantwortlichen Planungsinstanzen wohlwollend unterstellte, dass die ›Piazza‹ auch zu einer anwohner*innenbezogenen Wohnumfeldverbesserung führen sollte, war die objektive Folge die Aufwertung eines zentralen Ortes der Schanze zu einem Erlebnis- und Eventort mit überregionaler Strahlkraft. Die Aktivist*innen der Roten Flora hatten sich in Verkennung der Tragweite dieser

Rote Flora: Autonomer Lifestyle als touristischer Standortfaktor

städtebaulichen Maßnahme an den öffentlichen Diskussionen um die Schaffung der ›Piazza‹ nicht beteiligt. Auch wenn das Schanzenviertel schon immer eine Ausgehmeile war, hat jedoch die ›Piazza‹ als Kristallisationspunkt die Veränderung des Quartiers mit einer ›Ballermannisierung‹ des öffentlichen Raumes befördert. Hinzu kam eine Veränderung der Gewerbestruktur: Langansässig ›anwohner*innengeführte‹ Läden und Kneipen verloren aufgrund steigender Mietpreise ihre Verträge an neue Besitzer*innen, die ihre Konzepte auf das neue (über-)regionale Ausgehpublikum ausrichteten. Gerade diese Veränderung des Gewerbes und Gastronomie bildeten die Grundlage einer Neuausrichtung auf die Zielgruppe der touristischen Besucher*innen, für die der Besuch der Schanze Teil eines Urlaubs- bzw. Wochenendtrips ist. Neben den Restaurants, Kneipen und Bars sind viele Geschäfte des täglichen Bedarfs im Schanzenviertel verschwunden und ersetzt worden durch eine Reihe von Modegeschäften, Boutiquen und weiteren trendigen Start-ups, die nun zur Shoppingtour einladen.

Rote Flora: Vom Stör- zum Standortfaktor Bilanzierend lässt sich feststellen, dass im Hamburger Schanzenviertel der Gentrifizierungs- und Touristifizierungsprozess ineinandergegriffen haben. Die Ironie der Stadtentwicklungsgeschichte besteht nun aber darin, dass das besetzte und sich als widerständig begreifende Projekt Rote Flora in beiden Prozessen eine (unfreiwillig) wichtige Funktion erfüllt hat. So nahm schon im Mai 2000 ausgerechnet die Handelskammer Hamburg das besetzte autonome Projekt als wichtigen Standortfaktor im Schanzenviertel vor massiven politischen Angriffen der Springerpresse in Schutz. Was war geschehen? Ein in seinen Ausmaßen überraschender 1. Mai-Riot war Anlass für eine groß angelegte Pressekampagne, in der vom damaligen sozialdemokratischen Senat die Räumung der ›Terrorzentrale‹ gefordert wurde. Doch der Sprecher der Hamburger Handelskammer erteilte der erstaunten Öffentlichkeit daraufhin eine Nachhilfestunde in Sachen Gentrifizierung. Die Rote Flora habe eine wichtige subkulturelle Strahlkraft und würde genau das alternativ-unkonventionelle Flair schaffen, das für die umworbenen Fachkräfte im IT-Bereich einen Stadtteil wie die Schanze als Ort von Wohnen und kreativer Erwerbsarbeit interessant mache. Die politischen Positionen und praktischen Interventionen der Flora wurden einfach als zu vernachlässigende und inkaufzunehmende politische Folklore ausgeblendet.

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In der Frage der Rolle der Roten Flora in der touristischen Verwertung des Schanzenviertels stellt das Projekt im Widerspruch zum Selbstbild wie schon bei der Gentrifizierung einen womöglich ebenso wichtigen und aus der Perspektive des städtischen Tourismusmanagements stabilisierenden Faktor dar. Diese ungewollte Rolle hat etwas damit zu tun, dass das touristische Reisen sich verändert, indem es sich in den letzten Jahrzehnten zu einem ortlosen Reisen entwickelt hat. Das Reisen dient nicht mehr dem Aufsuchen ›fremder‹ Orte als Gegenerfahrung zum eigenen alltäglichen Leben. Stattdessen wird das touristische Reisen zu einer organisierten ›Zeitnutzung‹, die durch Erlebniswelten, Events, Themenparks und auf die Bedürfnisse nach Selbsterfahrung konzipierte künstliche atopische Reiseangebote realisiert wird. Die boomende Kreuzfahrtindustrie dürfte hierbei das am höchsten entwickelte Konzept einer solchen ortsungebundenen Inszenierung eines fast schon virtuellen Urlaubserlebnisses darstellen: Mit tausenden Menschen für ein oder zwei Wochen in einem auf die Maße eines modernen Kreuzfahrtschiffes beschränkten künstlichen Erlebnisraumes mit Themenrestaurants, Sport- und Freizeitangeboten gegen Bezahlungen einen Urlaub zu begehen. Wenn es überhaupt eine Begegnung mit etwas ›Anderem‹ gibt, sind das die organisierten Landausflüge, die aber in der Regel auch nur an auf die ankommenden Tourist*innen zugeschnittene künstliche Erlebnisorte führen.3 Aber auch für das Reisen an einen Ort wie Hamburg gilt das Konzept der faktisch ortlosen Inszenierung, die nur wenig mit der Alltagswelt der in Hamburg lebenden Menschen zu hat. Der Besuch von Musicals, die ebenso auch in Bochum, Hannover oder Kopenhagen gespielt werden können, überregionale Events wie der Hafengeburtstag, die Harley-Days, der Schlagermove, die Barkassenfahrt als Erlebniserfahrung auf dem Wasser, wie sie in fast jeder ›Stadt am Wasser‹ inszeniert werden kann, oder Besuche in der austauschbaren Systemgastronomie sind Konsumangebote, bei denen der topografische Ort Hamburg lediglich die Kulisse eines städtischen Tourismusmarketings bildet, das emotional besetzte Ereignisse kreiert. Selbst vermeintlich authentische Führungen durch das ›Rotlichtmilieu von St. Pauli‹ sind verkitschte Inszenierung, die wenig mit jener kriminellen Drogen- und Menschenhandelsszene zu tun hat, mit der sich historisch die polizeilichen Spezialeinheiten zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität auseinandergesetzt haben. Im Bezug auf das touristische Erleben braucht aber jede Reise ihren Authentizitätsbeweis, als Foto, bebildertes Posting in den sozialen Netzwerken 3

Die Darstellung stützt sich auf Wöhler (2011).

Rote Flora: Autonomer Lifestyle als touristischer Standortfaktor

oder zumindest im mündlichen Erlebnisbericht. Die besetzte Rote Flora wird nun ausgerechnet als ›ortsgebundenes‹ mittlerweile bundesweites Symbol Teil dieser Authentizitätsbeweise des atopischen touristischen Erlebnisses eines Besuchs in Hamburg.4 Die symbolische Aufgeladenheit ergibt sich zum einen aus dem Besetztstatus des Gebäudes und den damit verbundenen Assoziationen von militanter Verteidigungsbereitschaft, einem manifesten Feindbild der Polizei gegenüber, verbunden mit dem imaginierten Bild eines hinter dem Projekt stehenden und jederzeit mobilisierbaren autonomen Schwarzen Blocks. Insbesondere durch die überzogene Berichterstattung während und nach dem G20-Gipfel 2017 wurden diese teilweisen Mythen aufgefrischt bzw. überhaupt erst kreiert. Zum anderen sorgt auch der laufende regelmäßige selbstorganisierte Veranstaltungsbetrieb mit u.a. Kneipenabenden, Konzerten, Partys, Ausstellungen oder Lesungen, der sich in der Preisgestaltung, Stimmung und Atmosphäre von den kommerziellen Clubs und Kneipen St. Paulis bewusst absetzt, für die Außenwirkung eines ›anderen‹ Orts, der sich in der medialen Darstellung der Roten Flora durchaus niederschlägt.

Linke Subkultur als unfreiwilliger Motor touristischen Stadtmarketings Die Relevanz der Roten Flora für das städtische Tourismusmarketing bestätigte 2017 der damalige Sprecher von Hamburg Tourismus, Sascha Albertsen, in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt, als er feststellte: »Natürlich hat das Gebäude eine besondere Symbolkraft für das Viertel, ganz unabhängig von unserer Vermarktung. Es hebt sich schon in seiner ganzen Erscheinung und Größe automatisch noch einmal vom Rest des Viertels ab. Und es ist bei aller Veränderung in dem Stadtteil ein Fixpunkt.« (Heinemann 2017: 14) Wenn touristische Inszenierungen Erlebniswelten schaffen möchten, in denen sich Tourist*innen selbsterfahren, liefert die Rote Flora strukturalistisch gesprochen als der Signifikant einen Bedeutungsraum, der unterschiedlich gefüllt werden kann, unabhängig davon aber identitätsstiftend wirkt und den Erlebnisraum ›Hamburgbesuch‹ ergänzt. Dabei wird das Signifikat selbst von 4

Weitere vergleichbare Orte sind die ehemals besetzten Hafenstraßen-Häuser und das 2009 besetzte und mittlerweile legalisierte Gängeviertel-Projekt.

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Aktivist*innen und Besucher*innen der Roten Flora schon unterschiedlich benannt: Für die einen ist es die politisch-widerständige Haltung und der gesellschaftliche Gegenort autonomer Politik, für andere ist es der experimentellsubkulturelle und unkommerzielle Veranstaltungsort, den es zu verteidigen gilt, und manche sehen beides. In der Wahrnehmung des Signikanten Rote Flora und der Ausdeutung des Signifikats im touristischen Blick jedoch wird die ›Rote Flora‹ ein Resonanzraum des Außeralltäglichen, dessen Bedeutung aber erst recht arbiträr bleibt. Allein das äußere Erscheinungsbild der mit zahllosen Graffitis, Tags und Stenzels übersäten Fassade bzw. die Transparente und Plakatwände mit politischen Botschaften markiert einen ›anderen Ort‹, der aber zugleich auch mit einem Wiedererkennen aus der Medienberichterstattung verbunden sein kann. Mit dem möglichen Wissen um die G20-Proteste oder anderer militanter Auseinandersetzung im Schanzenviertel mit der Polizei in der Vergangenheit ist es die Nonkonformität und das Sperrige des besetzten Projekts, das zur Währung eines touristischen Erlebens wird. Dabei ist es fast gleichgültig, ob diese Zuschreibungen von einer zumindest Sympathie oder aber gar Ablehnung getragen sind. Das in beiden Fällen bestehende Spannungsverhältnis der Deutung der Roten Flora als ›anders‹ zu dem eigenen Alltag schafft einen Moment, in dem die Tourist*innen – in Anlehnung an Karlheinz Wöhler formuliert – den Raum stilisieren und ihn bedeutungsvoll machen, ohne dass diese Zuschreibung irgendetwas mit dem Realort ›Rote Flora‹ zu tun haben muss.5 Paradoxerweise bleibt diese topografisch gebundene Aneignung der Sehenswürdigkeit Rote Flora als Teil einer touristischen Erlebniswelt insofern dann aber doch atopisch, weil nahezu keine Touristin bzw. kein Tourist die Rote Flora betritt. Damit bleiben die vielfältigen Nutzungen mit u.a. einer Fahrrad- und Motorradselbsthilfe, einer Siebdruckwerkstatt, Bandübungsräumen, einem Sportraum, einem Café mit regelmäßigen Essensangeboten für wenig Geld, der Betrieb eines Bewegungsarchivs neben den vielfältigen Veranstaltungsangeboten hinter der Fassade unsichtbar. Die ikonografisch sichtbare Andersartigkeit des Erscheinungsbildes des Gebäudes wird zu einer ›Vorderbühne‹, während der Projektalltag der Rote Flora als ›Hinterbühne‹ unsichtbar bleibt.

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Karlheinz Wöhler schreibt wörtlich: »Der Mensch empfängt nicht vom Raum bzw. von Raumgegenständen ›Kultur‹, sondern er ist es selbst, der den Raum stilisiert und ihn bedeutungsvoll macht.« (Wöhler 2011: 139)

Rote Flora: Autonomer Lifestyle als touristischer Standortfaktor

Aus Sicht des Hamburger Stadtmarketings ist die Rote Flora eigentlich ein Glücksfall. Offiziell als ›linksextremer Treff‹ nicht vermarktbar, verleiht gerade dieses dröhnende Schweigen im Stadtmarketing dem Ort den Ruch der subkulturellen Authentizität, der ein zusätzliches Motiv für einen Besuch in ›der Schanze‹ darstellen kann. Zudem ist Nonkonformität ein zeitloses Kapital, das sich, egal mit welchen neuen Imagekampagnen die Tourist*innen künftig nach Hamburg gelockt werden sollen, immer auszahlt. Und gerade weil das Schanzenviertel in der Kombination aus Gentrifizierungsund Touristifizierungsprozess immer gesichtsloser und konformer geworden ist, bleibt eine besetzte Rote Flora möglicherweise auch für die weitere Zukunft wichtiges immaterielles städtisches Kapital für die Präsentation des touristisch erschlossenen alternativen Schanzenviertels. Für die Aktivist*innen und Nutzer*innen der Roten Flora bleibt der Prozess der Touristifizierung allerdings weitestgehend folgenlos. Das äußere Erscheinungsbild und das Image der Roten Flora sorgen nach wie vor zuverlässig dafür, dass die Tourist*innen sich zwar vor dem Gebäude scharren, aber fast nie einen Fuß in das Gebäude setzen. Darin manifestiert sich einerseits die Gewissheit, es weder im Hinblick auf die Gentrifizierung noch auf die Touristifizierung geschafft zu haben, die allumfassende Logik kapitalistischer Verwertung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit gebrochen zu haben. Andererseits bleibt die besetzte Rote Flora im Herzen der Schanze das steinerne Symbol, dass Subkultur nicht nur eine Flucht aus der Gesellschaft darstellt, sondern auch immer noch die Hoffnung einer emanzipatorischen Veränderung der gegenwärtigen Gesellschaft verkörpert. Und diese Botschaft reist mit jedem Foto von und jedem touristischen Selfie vor der Roten Flora in die Welt hinaus.

Literatur Blechschmidt, Andreas (1998): »Vom Gleichgewicht des Schreckens – Autonomer Kampf gegen Umstrukturierung«, in: StadtRat (Hg.), Umkämpfte Räume, Hamburg: Verlag Libertäre Assoziation, S. 83–101. Blechschmidt, Andreas (2007): »Die Rote Flora im Hamburger Alltag: Störoder Standortfaktor?«, in: Peter Birke/Chris Holmsted Larsen (Hg.), Besetze Deine Stadt. Häuserkämpfe und Stadtentwicklung in Kopenhagen, Berlin: Assoziation A, S. 190–198. Blechschmidt, Andreas (2013): »Die Rote Flora – über Richtiges und Falsches«, in: Karl-Heinz Dellwo/Willi Baer (Hg.), Häuserkampf II: Wir wol-

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len alles – Die Hausbesetzungen in Hamburg, Hamburg: Laika Verlag, S. 243–253. Blechschmidt, Andreas (2017): »Flora für alle, sonst gibt’s Krawalle«, in: Barbara Sichtermann/Kai Sichtermann (Hg.), Das ist unser Haus. Eine Geschichte der Hausbesetzung, Berlin: Aufbauverlag, S. 153–168. Harvey, David (2013): Rebellische Städte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Heinemann, Christoph (2017): »›Wir machen mit der Roten Flora keine Werbung‹. Interview mit Sascha Albertsen von Hamburg Tourismus«, in: Hamburger Abendblatt vom 16.09.2017, S. 14. Wöhler, Karlheinz (2011): Touristifizierung von Räumen. Kulturwissenschaftliche und soziologische Studien zur Konstruktion von Räumen, Wiesbaden: VS Verlag.

Die Rote Flora als Touristifizierungstreiberin? Maria Franziska Stöppler

Einleitung Am 1. November 1989 wird ein Teil des ehemaligen Flora-Varieté-Theaters im Schulterblatt 71, Hamburg-Sternschanze, von Anwohnerinnen und Aktivistinnen besetzt, nachdem sich Widerstand gegen Pläne über die Errichtung eines Musicaltheaters im Stadtteil geregt hatte. Bereits zu diesem Zeitpunkt besteht Sorge vor Aufwertung und steigenden Mieten durch eine im Viertel angesiedelte Erlebnisökonomie. Aus Teilen des leerstehenden Gebäudes wird durch Besetzung die ›Rote Flora‹, ein sich als antikapitalistisch und autonom definierendes Kulturzentrum mit Verbindungen zur internationalen linksautonomen Szene, welches trotz immer wieder aufgekommener Eigentumskonflikte bis ins Jahr 2022 im besetzten Zustand verblieben ist (vgl. Birke 2014; Decker/Schilling 2015; NDR 2019).1 Hat sich die Rote Flora in den letzten dreißig Jahren auf den ersten Blick wenig verändert, so kann dies vom umliegenden Stadtteil Sternschanze nicht behauptet werden. Das einstige Arbeiterinnenquartier mit unsaniertem Altbaubestand in Innenstadtnähe hat sich in eines der beliebtesten Wohn- und Ausgehviertel Hamburgs verwandelt und ist nach durchdringender Gentrifizierung nicht von der folgenden Touristifizierung verschont geblieben. Mittendrin das autonome Kulturzentrum, welches selbst zum Teil der Wahrzeichenarchitektur wettbewerbsorientierter Städte geworden ist und kaum noch im Widerspruch zum umgebenden Konsumkapitalismus steht. Obwohl die antikapitalistische Haltung der Rotfloristinnen und die politischen Proteste explizit versucht haben, eine Aufwertung zu verhindern, so ist doch das Gegenteil eingetreten. Gleichzeitig wird über die Rote Flora und die mit ihr verbundenen Ereignisse, wie politische Protestaktionen zum 1. Mai, die Ausschreitungen zum 1

Vgl. auch https://www.rote-flora.de/ (Zugriff 13.01.2023).

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G20-Gipfel, das stadtteileigene unkommerziellen Schanzenfest sowie Zusammenstöße mit der Polizei bei Demonstrationen, in regionalen und nationalen Nachrichtenmedien berichtet. Aber auch die Thematisierung der Flora in Reiseführern und in der Tourismuswerbung trägt dazu bei, um das besetzte Gebäude herum eine Atmosphäre des widerständigen Raumes zu konstituieren. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem medial erzeugten Bild der Roten Flora und geht der Frage nach, ob die widerständige Praxis der Flora in die neoliberale Inwertsetzungslogik integriert wird, obwohl das eigentliche Ziel der Aktivistinnen in der Verhinderung kapitalistischer Verwertbarkeit bestand, oder ob es sich dabei um einen Prozess handelt, der komplett unabhängig von dem Kulturzentrum zu betrachten ist. Dazu werden in einem ersten Schritt die zeitgenössische Konsumkultur und Erlebnisökonomie ebenso wie die Kriminalisierung von Widerstand und Devianz und deren mediale Inszenierung theoretisch analysiert. Diese Erkenntnisse werden anschließend auf die Situation der Roten Flora übertragen. Auf dieser Basis erfolgen eine qualitative Auswertung der Berichterstattung über die Rote Flora in Printreiseführern und den Stadt- und Tourismusportalen der Stadt Hamburg sowie eine quantitative Analyse der entsprechenden Berichterstattung in vier ausgewählten Zeitungen.

Konsumkultur und Erlebnisökonomie Galt die Hauptfunktion von Freizeit ursprünglich der Regeneration der Arbeitsfähigkeit, so hat sich im Postfordismus nicht nur die Stadtplanung, sondern auch die Nutzung der verfügbaren Zeit gewandelt. Die Flexibilisierung der Arbeitswelt und der neu entstandene Fokus auf individuelle Freizeit haben im Spätkapitalismus neue Kriterien für ein erstrebenswertes Leben geschaffen und die Formen des Konsums verändert. Mit voranschreitender Globalisierung und Digitalisierung der Welt ist der moderne Kapitalismus ein wichtiger Bestandteil der Identitätsfindung geworden (vgl. Ferrell/Hayward/Young 2015; Hall/Winlow/Ancrum 2013; Hayward 2004; Winlow/Hall, 2006, 2013). Mit dem Aufbruch klassischer Lebensmodelle sowie einer immer stärker angestrebten Individualisierung wird Konsum ein zentrales Merkmal für die Selbstdefinition, während der Kapitalismus diverse Wege gefunden hat, Alltägliches in Ware zu transformieren, durch deren Erwerb wir unser Selbst definieren (vgl. Ferrell 2007: 92).

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Gleichzeitig entwickeln sich Städte zur primären Siedlungsform der Menschheit, sind dabei jedoch durch Wachstum und Verdichtung schon lange keine historischen Gefüge mehr, mit denen eine kollektive Identifikation einhergehen kann – ›Kulturelle Eigenständigkeit‹ wird ersetzt durch Anonymität in der Masse und in gesichtslosen Neubauvierteln. Steigende Kommodifizierung und Privatisierung von Raum führen zudem zu Verdrängungsund Exklusionsmechanismen sowie zum Schwinden nicht-kommerzieller Freiräume für Begegnung, Austausch und Selbsterfüllung. Bedingt durch neoliberale Deregulierung und Dezentralisierung muss sich das Konstrukt ›Stadt‹ plötzlich wettbewerbsorientiert inszenieren und bedarf einer eigenen Imagepolitik: Im Zwang transnationaler Standortkonkurrenz versuchen Städte eine ›Einzigartigkeit‹ zu konstruieren, um für Investorinnen, Fachkräfte und wohlhabendes Publikum (sprich: Finanz- und Humankapital) an Attraktivität zu gewinnen. Das Potenzial der Kulturalisierung des Städtischen (vgl. Florida 2002; Kirchberg 2010; Reckwitz 2012) wird essenzieller Teil der Stadtpolitik und daraus resultierender Stadtplanung: Kulturelles Kapital der creative cities (vgl. Landry 2000) und der creative class (vgl. Florida 2002) sind unabdingbar für die Verwertungslogik der unternehmerischen Stadt. Reckwitz (2012: 279f.) schreibt den ›Kulturalisierungsstrategien‹ drei grundlegende Elemente zu: • •



Semiotisierung, also eine intensivierte urbane Symbolproduktion und Recodierung, reflexive Historisierung als Reinszenierung von historischer Substanz durch die fluide Kombination dieser mit Gegenwärtigem und anschließender Inkorporation in das Narrativ der Imagepolitik und Ästhetisierung als Erzeugung von ›sinnlich-affektiv‹ konsumierbaren Atmosphären.

Mittel für die Schaffung einer distinkten Stadtkultur sind unter anderem ›urbane Symbole‹ sowie ›besondere Orte‹, welche sich nicht aus der historisch gewachsenen Umwelt ergeben, sondern bewusst konstruiert werden (vgl. Holm 2010a: 67; Vogelpohl 2012; Zukin 1995, 2010). Somit bekommt Authentizität als Element der urbanen Atmosphäre sowohl beim Konstruieren des Stadtbilds als auch beim Konsumieren eine besondere Bedeutung: Als kulturelles Konstrukt ist Authentizität eng mit modernem Individualismus verknüpft und bezieht sich mittlerweile mehr auf Erleben, Stil und Erscheinung, also Inszenierung, als auf wirkliche Originalität im historischen Sinne (Handler 1986:

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2–4). Aus der Sicht von Zukin (2010: 3) hat sich die Bedeutung von ›authentisch‹ dabei von einer Eigenschaft von Menschen hin zum Attribut von Dingen und schlussendlich zur Qualität von Erfahrungen entwickelt. Sie argumentiert weiter: »Reinventing authenticity begins with creating an image to connect an aesthetic view of origins and a social view of new beginnings« (ebd.: 234). »They equate authentic with being real, as in a place that has real buildings, real people, real history«, so beschreibt Florida (2002: 294) dieses Phänomen. Hierbei werden explizit Subkulturen für die Inszenierung von Authentizität vereinnahmt und sogar die Kommodifizierung von Widerstand und Devianz wird zum Schaffen von ›Eigenheit‹ genutzt. Was erst widersprüchlich klingt, ist jedoch ein Phänomen, welches international in Gentrifizierungsprozessen zu finden ist (vgl. Ferrell/Hayward/Young 2015; Pruijt 2004; Zukin 2010).

Kommerzialisierung der Kulturen des Widerstands Kulturelles Kapital wird durch kapitalistische Verwertungsstrategien zum Standortfaktor und so Teil städtischer Entwicklung. Das Erzeugen unverwechselbarer kultureller Identitäten sowie das Branding von Quartieren (vgl. Zukin 2010: 3) sind elementare Bestandteile von Gentrifizierung, durch die weniger attraktive und wirtschaftlich schwächere Stadtteile Aufwertung erfahren. Die folgende Ansiedlung von ökonomischem Kapital durch Investorinnen, Geschäften und kulturellen Angeboten sowie einkommensstärkeren Anwohnerinnen ist Teil der Transformation, welche Mieten steigen lässt, ursprüngliche Bewohnerinnen zum Wegzug zwingt und soziale Netzwerke genauso zerstört wie kleine Geschäfte (beides ursprünglich als Teil der Authentizität des Ortes vermarktet; vgl. Holm 2010a; Zukin 2010). Widerstand gegen solche Prozesse der Aufwertung und Verdrängung sowie Kommerzialisierung von kulturellen Identitäten und Inhalten ist vielfältig, fällt aber oft in die Illegalität und wird mit Subkulturen assoziiert. Hierbei handelt es sich nicht zwingend um Gewalttaten oder körperliche Auseinandersetzungen im Kampf gegen kapitalistische Raumnahme, sondern um subversive Formen kulturellen Widerstands wie Graffiti (das wohl bekannteste Beispiel), Deattraktivierung, Besetzungen, künstlerische Interventionen oder Protestaktionen (vgl. Holm 2010b; Ferrell 2004, 2007; Ferrell/Hayward/Young 2015). Zwar soll eine Abwertung der Umgebung und eine Verunsicherung der ›Eindringlinge‹ im Raum erzielt werden, welche deren Vertreibung zur Folge hat, jedoch tritt mitunter das Gegenteil des gewünschten Effekts ein, da auch

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dieser Widerstand von der Kommodifizierung durch den Kulturkapitalismus nicht verschont bleibt: »Hall and Winlow contend that cultural criminology’s fascination with ›cultural micro-resistance‹ is especially dangerous due to cultural criminologists’ ignorance of a central irony: the potential of capitalism to co-opt such resistance into the very system it is meant to oppose, and so to transform experiential opposition into commodified acquiescence.« (Ferrell 2007: 95) Die Instrumentalisierung des Widerstands und seine Umwandelung in verwertbares kulturelles und symbolisches Kapital führen so den eigentlichen Protest ad absurdum. Nicht nur Street-Art – ursprünglich ein Versuch von Deattraktivierung und ein Medium für Gesellschaftskritik – ist ein häufig genanntes Beispiel für Widerstand, der materiell angeeignet und beim Erzeugen eines Quartiersimages vermarktet werden kann, auch die konsumierbare Spannung und die Faszination des Devianten im widerständigen Raum lässt sich im Hinblick auf das individuelle Erleben und die Suche nach Authentizität im Marketing nutzen (vgl. Holm 2010b; Presdee 2000). Für das Erleben gibt es zwei Möglichkeiten: das Aufsuchen des widerständigen, kriminalisierten oder devianten Raums oder der mediale Konsum.

Ortsgebundener Konsum von kriminalisiertem Widerstand, Kriminalität und Devianz Gegenwärtige Strömungen der Cultural Criminology gehen davon aus, dass Kriminalität und Konsum als essenzielle Elemente zeitgenössischer Individualisierung nicht mehr gentrennt voneinander betrachtet werden können. Der von Hayward und Kindynis geprägte Begriff des Crime-Consumerism Nexus verweist auf diese Beziehungen, »that exist within consumer driven capitalist societies between the values and emotions associated with consumerism on the one hand, and various forms of expressive and acquisitive criminality on the other.« (Hayward/Kindynis 2013: 123). Neben der durch den Konsumkapitalismus erzeugten Kombination aus unstillbarem Verlangen und konstanter Unzufriedenheit durch die Unmöglichkeit, diese zu erfüllen, stellt eine erhöhte Risikobereitschaft ein essenzielles Element des Crime-Consumerism Nexus dar. Die ständige Suche nach konsumierbarer Spannung – kontrastiert durch einen immer weiter standarisierten und kontrollierten Alltag – führt zu einer erhöhten Bereitschaft, diesem durch den Bruch von Regeln und Gesetzen zu ent-

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fliehen oder einen ›kontrollierten Kontrollverlust‹ herbeizuführen (vgl. ebd.: 125). Hierbei führt die Erwartung von sofortiger Bedürfnisbefriedigung dazu, dass Handlungskonsequenzen weniger reflektiert werden und normative Kontrollen durch soziale Konventionen weniger Beachtung finden (vgl. ebd.). Presdee (2000) bezeichnet die Kommodifizierung von Gewalt und Verbrechen als ›Karnivalisierung‹ und hebt dadurch den medial und wirtschaftlich inszenierten Unterhaltungscharakter von Devianz in moderner Freizeitgestaltung und Selbstinszenierung hervor (vgl. ebd.: 32f., 59–65), worauf aufbauend in den folgenden Jahren das Phänomen der deviant leisure etabliert wird (vgl. Hayward/Smith 2017: 320; Raymen/Smith 2019b: 18). Zudem untersucht man den Zusammenhang von Devianz und deren mediale Inszenierung als Teil der deviant leisure (vgl. Ferrell/Hayward/Young 2015; Hayward/Presdee 2010). Die direkteste Form des Konsums ist das Aufsuchen des kriminalisierten, widerständigen oder devianten Raums auf der Suche nach Authentizität und sinnlich-affektiv erlebbarer Spannung. Dazu gehören transgressive Aktivitäten wie Urban Exploration (das Betreten, Erforschen und Dokumentieren nicht öffentlich zugänglicher Orte wie Ruinen oder verlassene Infrastruktursysteme; vgl. Kindynis 2017, 2019) oder Dark Tourism (das Besuchen von Orten, die mit Gewalt, Leid oder Unglück in Verbindung gebracht werden; vgl. Iliev 2021). Sie erhalten in der heutigen Freizeitgestaltung einen neuen Stellenwert, und die damit verbundenen Symbole und Narrative werden von Mainstreamkonzernen wie selbstverständlich kommodifiziert (vgl. Hayward/Smith 2017: 321f.; Kindynis 2019: 389–391). So wurden ursprünglich als deviant geframte Freizeitbeschäftigungen wie Skateboarding, Parkour oder Graffiti schnell von der kapitalistischen Verwertungslogik ins Produktmarketing aufgenommen, genauso wie widerständige Praxis ein reproduziertes und somit konformiertes Narrativ der Kulturindustrie wurde (vgl. ebd.). »›Alternative‹ and ›independent‹ don’t designate something outside mainstream culture; rather, they are styles, in fact the dominant styles, within the mainstream«, postuliert Fisher (2009: 9, Herv. i.O.) mit Bezug auf die Verwertung subkultureller Identitäten. Die im Kriminalitäts-Konsumismus-Nexus ausgeführten Motivationen legen nahe, dass Orte der Transgression – ob real deviant, antizipiert oder stigmatisiert – modernen Eskapismus bieten, in dem multidimensionales Erfahren von Emotionen und abweichendem Verhalten außerhalb normativer Kontrolle eine gewünschte Ablenkung von der Standardisierung des Alltags bringt (vgl. Hayward/Kindynis 2013: 124f.; Presdee 2000: 62). Gleichzeitig benötigt es keine Partizipation in transgressiven Tätigkeiten, sondern eine reine Anwesenheit im kriminalisierten, widerständigen oder devianten Raum bietet bereits

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durch den Konsum der Spannung die Grundlage einer Distinktion der eigenen Individualität (vgl. Presdee 2000: 62, 65). Das anschließende Teilen des Erlebten auf sozialen Medien durch die Prosumentinnen führt zu weiterer Symbolproduktion und Verstetigung der erzeugten Semiotisierung, was der Vermarktung von Transgression im Raum weiter zugutekommt und zum Nachahmen einlädt.

Medialer Konsum von kriminalisiertem Widerstand, Kriminalität und Devianz Während Kriminalität und Gewalt schon lange Teil menschlicher Unterhaltungsmedien sind und als Fiktion oder Teil ›wahrer Begebenheiten‹ vermarktet werden, wird deren Verfügbarkeit durch die neuen Massenmedien auf zwei Weisen gesteigert: Die Produktion von Inhalten ist durch die Omnipräsenz von Videoüberwachung und Smartphones stark vereinfacht, während der Konsum durch soziale Medien, Streaming-Plattformen und Internetseiten minimale Zugangsbeschränkungen hat und losgelöst von Zeit und Ort abrufbar ist. Das Genre True Crime erfreut sich wachsender Beliebtheit, wenn reale Kriminalfälle in Form von Film, Serien, Literatur oder Podcasts rekonstruiert werden oder sogar Live-Streams in Echtzeit an Geschehnissen teilhaben lassen. Hierbei geht die Faszination für Konsumentinnen davon aus, dass es sich um reale Ereignisse handelt. Die extremen Emotionen im Zusammenhang mit Kriminalität können durch das Verwandeln in mediale Ware niedrigschwellig, risikofrei und aus sicherem Abstand konsumiert werden (vgl. Ferrell/Hayward/ Young 2015: 151; Presdee 2000: 58). Auch hier ist der Konsum von gefühlter Originalität von Relevanz: Es geht nicht um die sachliche Berichterstattung über informative Zusammenhänge, sondern um eine möglichst spektakuläre Reproduktion von Kriminalität, welche als unterhaltsamer Eskapismus neu verpackt wird (vgl. Ferrell/Hayward/Young 2015: 151), anstatt sie als sozio-politisches Thema einzuordnen (vgl. Ferrell 1999: 407). Diesen Unterhaltungscharakter übernehmen auch ›seriöse‹ Nachrichtenmedien in ihre Berichterstattungen und beeinflussen, wie auch andere Massenmedien, durch Framing auf drei Ebenen die Wahrnehmung von Devianz und Kriminalität: Übertreibung/ Verzerrung, Prognostizierung und Symbolisierung (vgl. Cohen 1972: 25). So wird durch übersteigerte Darstellungen (Schwere der Ereignisse, Anzahl Teilnehmender etc.), Färbung und Dramatisierung durch sensationsheischendes Vokabular, bewusste Überspitzung, regelmäßige Verwendung von eindeutig

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konnotierten Begriffen, generische Mehrzahl und over-reporting ein besonders emotional aufgeladenes Klima erzeugt (vgl. ebd.: 26). Durch Prognostizierung, also die implizite Annahme, dass Ereignisse so wieder auftreten werden, wird ebenfalls eine Atmosphäre der Spannung erzeugt, egal, ob tatsächlich damit zu rechnen ist oder nicht (vgl. ebd.: 35). Die dritte Ebene stellt Symbolisierung dar, das Verwenden von Stereotypen und die bewusste Wahl von Bild und Vokabular mit symbolischer Bedeutung, um auch ohne explizite Nennung letzterer eine Assoziation bei den Rezipientinnen herzustellen und Inhalte mit nicht realem Bedeutungsgehalt anzureichern (vgl. ebd.: 36). Im nächsten Schritt folgt durch mediales Framing von Devianz und Widerstand, dass deren Produktion und Konsum nicht nur zur Einflussnahme auf diese selbst führt, sondern auch auf ihre Bekämpfung (vgl. Ferrell/Hayward/ Young 2015: 154–164). So können die Rollen der Medien und der Polizeiarbeit nicht mehr losgelöst voneinander betrachtet werden: Reaktion auf Berichterstattung zur Beruhigung der Bürgerinnen rechtfertigt eine Verstärkung von polizeilichen Gegenmaßnahmen und Strategien, welche nicht mehr an reale, sondern an empfundene Bedrohung angepasst sind und so zu einer Eskalation führen können (vgl. Ferrell 1999: 411f.). Folglich werden Konsumentinnen zum essenziellen Teil des Medien-Kriminalitäts-Nexus: »If we don’t watch there is no consumption and the process of production, distribution and consumption is incomplete. So, when we do watch, we consume and become willing partners in the creation of crime itself and willing consumers of the excitement it produces.« (Presdee 2000: 65)

Kommodifizierung der Roten Flora und des widerständigen Raums Die ungewollte Vermarktung und Transformation in verwertbares kulturelles Kapital ist ein Problem, welches bei einer Vielzahl alternativer Projekte auf der Welt zu beobachten ist. Alternative Kulturzentren und besetzte Häuser wandeln sich durch subversive Inkorporation – sei es durch Anerkennung der Projekte, öffentliche Förderungen oder nur durch die mediale Darstellung – schleichend von Gegenpolen des Kapitalismus in eigene Standortfaktoren (vgl. Fraeser 2018; Pruijt 2004; Uitermark 2004). Dieser Problematik sehen sich auch die Aktivistinnen um die Rote Flora ausgesetzt: Die symbolische Aufwertungslogik kann nicht nur auf die Historizität der Roten Flora und deren kontrastierendes Erscheinungsbild zurückgreifen, sondern auch auf

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die Atmosphären, die durch das autonome Kulturzentrum und umliegende Ereignisse erzeugt werden (vgl. Holm 2010b; Jones 2018; Naegler 2013). Hierfür spielt einerseits das kulturelle und politische Angebot in und um die Rote Flora eine Rolle, andererseits die Kriminalisierung und das mediale Framing der in der urbanen Umgebung existierenden Devianz sowie die politischen Proteste und Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt. Während das Gebäude eher Kulisse für mediale Selbstinszenierung und Steigerung der gefühlten Authentizität bei Konsumentinnen der umliegenden Angebote ist und das kulturpolitische Angebot noch überwiegend von alternativem, linkspolitischem Publikum genutzt wird, spielt für diesen Beitrag die Kriminalisierung der Roten Flora und die Konstruktion der unmittelbaren Umgebung als widerständigem Raum die bedeutendere Rolle. Hierbei stellen das Schanzenfest, die Proteste zum 1. Mai und weitere politische Demonstrationen und Aktionen in der Gegend um die Rote Flora, die mit den Ausschreitungen zum G20-Gipfel 2017 ihren Höhepunkt fanden, den Kern der Ereignisse in den Berichterstattungen. Besagte sinnlich-affektiv konsumierbare Atmosphären um die Rote Flora ergeben sich aus zwei Elementen. Einerseits fasziniert die Devianz selbst, also subkulturelle Raumnutzung und ›Deattraktivierung‹ (Skatepark, StreetArt), der umliegende Drogenhandel und die Menschen ohne Obdach (beides von Seiten der Floristinnen geduldet), vielseitig gestaltete friedliche Demonstrationen, militante Proteste, aber auch kreative Veranstaltungen wie das Schanzenfest, bei welchen oft nicht deutlich erkennbar ist, wann es zu Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht oder Vandalismus kommen kann. Andererseits beeindrucken die teils dramatischen präventiven Kontrollmaßnahmen und die Inszenierung von Staatsgewalt: So erzeugen die Wasserwerfer und Räumfahrzeuge, die stehenden Hundertschaften in Schutzmontur, mit Helmen, Schildern und Schlagstöcken ausgestattet, nur auf einen Einsatzbefehl wartend, ein für viele Zivilistinnen apokalyptisches oder kriegsähnliches Bild – wann gibt es in Hamburg sonst so etwas zu sehen? Mit dem Einrichten eines Gefahrengebiets fanden präventive räumliche Kontrollmaßnahmen ihren zwischenzeitlichen Höhepunkt (vgl. Birke 2014: 96). Das Zusammenspiel von Widerstand und Devianz mit präventiver staatlicher Kontrolle führt hierbei durchaus zu einer Eskalationsspirale, die mehr aus einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu resultieren scheint, als sie auf konkreten Anlässen beruht (vgl. della Porta/Reiter 2006: 183; Moran/Waddington 2016: 22; Noakes/Klocke/Gillham 2005: 251).

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Die Festivalisierung der Sternschanze zum Schanzenfest und den Protesten zum 1. Mai geht jedoch nicht nur so weit, dass Konsumentinnen der Atmosphäre wegen anreisen, sondern darüber hinaus selbst Produzentinnen werden, indem sie Ausschreitungen als Mitmachangebot wahrnehmen: Das Untermischen von Außenstehenden, die das Durcheinander zum Anlass nehmen, ohne politische Motivation gegen Staatsmacht und Privateigentum zu randalieren, ist ein Begleitphänomen der Eskalationsspirale. Die Bilder von Plündernden bei den G20-Protesten gingen durch die internationale Presse (vgl. o.V. 2017; Fox/Masters 2017; Oltermann 2017). Jones fasst das in der Schanze zum Zeitpunkt des G20-Gipfels gebotene Bild folgendermaßen zusammen: »Overall, it was a chaotic environment where children, the elderly, and peaceful protestors mixed freely with curious onlookers, anarchists lighting fires, and masked militants throwing stones, all surrounded by thousands of onlookers holding cameras. Many so-called rioters were simply ordinary Hamburg citizens who came to watch the spectacle or eat street food in the festive atmosphere.« (Jones 2018: 544) Auch wenn die zu beobachtenden Ausschreitungen und Zusammenstöße Resultat verschiedener Faktoren sind und nicht direkt mit dem Kulturzentrum in Verbindung stehen, so ändert dies nichts an der Tatsache, dass die symbolische Verortung der Ereignisse – auch durch Berichterstattungen in den Medien – auf die Rote Flora projiziert wird und Besucherinnen der Sternschanze auch in Abwesenheit solcher Ausnahmesituationen die Atmosphäre des Widerständigen und der Devianz erleben können. Jones (vgl. ebd.: 545) nennt in diesem Zusammenhang unter den Gruppen bei den 2017er G20-Protesten in der Sternschanze Festivalbesucherinnen (»Festival-Goers«) und Krawall-Kids (»Riotkids«), deren Anwesenheit keine politische Motivation hatte wie die von organisierten Aktivistinnen. »Als konsumierbare und reiseführerkompatible Attraktionen werden die Rote Flora und selbst die alljährlichen Krawalle nach dem Schanzenfest in das Gesamtbild eines romantisch wilden Stadtteils integriert«, beschreibt Holm (2010b: 38) die Situation, lange bevor im Dezember 2013 und Juli 2017 die zwei Phasen mit der bislang größten medialen Aufmerksamkeit eintraten.2

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Ermittelt über die Anzahl von veröffentlichen Artikeln mit ›Rote Flora‹ in den Zeitungsarchiven nach Monaten im Untersuchungszeitraum sowie die Verteilung der Suchanfragen zu ›Rote Flora‹ aus Deutschland seit 2004, pro Monat, auf Google, ausgewertet über Google Trends.

Die Rote Flora als Touristifizierungstreiberin?

Die Umwandlung dieser Stimmungen in ortsgebundenes kulturelles Kapital ist in Fachkreisen hinlänglich bekannt, ebenso dass die Medien dabei eine essenzielle Rolle spielen (vgl. Birke 2014: 98f.). Im Folgenden soll überprüft werden, in welchem Zusammenhang unterschiedliche Medien mit der Kommodifizierung der Roten Flora als weichem Standortfaktor in Verbindung zu bringen sind.

Die Rote Flora in den Medien Einleitung und Vorgehen Um einen Einblick in die Rolle der Flora als touristische Attraktion zu bekommen, wurden traditionelle Printreiseführer (Stand Juli 2020) und die von Unternehmen der Stadt Hamburg betriebenen Onlineportale auf Nennungen, Wortwahl und visuelle Darstellungen untersucht.3 Hier erfolgte ein Vergleich der Internetpräsenzen Stand Juli 2020 und Juli 2022. Weiterhin wurden für die Berichterstattung in Publikumsmedien die drei auflagenstärksten Tageszeitungen Hamburgs, das Hamburger Abendblatt (kurz Abendblatt), die Bild-Zeitung (kurz Bild) und die Hamburger Morgenpost (kurz Mopo) sowie der deutschlandweit auflagenstärksten Wochenzeitung Die Zeit im Zeitraum von Archivbeginn (je nach Zeitung 1988, 2007, 2008, 1995) bis Mai 2022 nach Stichworten durchsucht, um Nennungen der Roten Flora im Zusammenhang mit Attribuierung, Ereignissen und Konnotationen zu überprüfen. Bei der Analyse von onlinebasierten Reiseportalen wurde deutlich, dass die Adressierung an ein internationales Publikum vernachlässigbar ist und auch

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Eine Übersicht über die untersuchten Quellen findet sich im Anhang in den Tabellen 1 und 2.

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internationale Suchanfragen vergleichsweise vereinzelt vorkommen.4,5,6 Von einer qualitativen Auswertung dieser Quellen wurde deshalb abgesehen. Obwohl die sozialen Medien in gegenwärtiger Kommunikation, Alltagsgestaltung und Identitätserzeugung eine ausschlaggebende Rolle spielen, werden sie in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt, da ihre strukturelle Partikularität hier ungeeignet erscheint und sie auch in der Voruntersuchung keine nennenswerte Relevanz bei der Nutzung relevanter Stichworte aufwiesen.

Gedruckte Reiseführer Die Erwähnung der Sternschanze und der Roten Flora wurde in 27 Reiseführern untersucht, davon 23 gedruckten Versionen, welche in einem Zeitraum von 2018 bis 2020 publiziert wurden, und drei digitale Versionen von 2010 (das englischsprachige Pendant war jedoch 2017 noch identischen Inhalts), 2015 und 2016, also vor dem G20-Gipfel veröffentlicht. Von den 23 aktuellen PrintReiseführern erwähnen sieben die Rote Flora explizit, die Sternschanze als

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Aufkommen der Suchanfragen nach ›Rote Flora‹ international auf Google, ermittelt über Google Trends. Untersucht wurden die zwei meist genutzten Vergleichsportale für Destinationen. Auf Tripadvisor hat die Flora keine eigene Unterseite, wird aber auf der Unterseite der Sternschanze auf 18 von 129 hochgeladenen Fotos gezeigt. Von den 361 Kommentaren sind 236 deutschsprachig, von den 61 englischen Kommentaren sind weitere 16 von Menschen, die angeben in Deutschland zu wohnen. Die Rote Flora wird in den Kommentaren 14-mal genannt, davon nur zweimal von Menschen, die angeben, nicht in Deutschland wohnhaft zu sein, dafür 6-mal von Menschen, die behaupten in Hamburg zu wohnen. Auf Yelp hat die Flora eine eigene Unterseite, jedoch nur mit 33 Bewertungen, von denen 29 auf den deutschsprachigen Raum entfallen, und 12 Kommentaren, von denen 9 von in Deutschland wohnhaften Personen geschrieben wurden. Google Trends differenziert zwischen ›Rote Flora (Theatergebäude in Hamburg)‹ und ›rote flora‹. Bei beiden Suchbegriffen stellt Deutschland ab Aufzeichnungsbeginn 2004 mit 100 als maximal anfragendes Land den Vergleichswert. Bei dem eindeutig als Ort definierten Suchbegriff gibt es Anfragen aus 37 Ländern, Österreich folgt Deutschland auf Platz 2 mit 14 (von 100), die Schweiz mit 9, Dänemark mit 6 und Luxemburg mit 4, die Niederlande, Schweden, Griechenland und Irland erhalten einen Wert von 2, die Plätze 10–25 einen Wert von 1 und die Plätze 26 bis 37 einen Wert kleiner als 1. Der offene Suchbegriff ›rote flora‹ wurde aus 28 Regionen gesucht; Österreich hier mit 16 auf Platz 2, Luxemburg mit 10, die Schweiz mit 9, Dänemark mit 5, die Niederlande, Griechenland, Irland, Schweden und Tschechien folgen mit je 2, Plätze 11 bis 20 haben 1 von 100 Referenzpunkten, 21 bis 28 liegen unter dem Wert 1.

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Stadtteil nennen alle, teilweise jedoch gemeinsam mit dem Karolinenviertel; alle drei digitalen Versionen erwähnen die Rote Flora. Das Narrativ über die Sternschanze als ›hippes‹, bunt durchmischtes Szeneviertel ist bei allen Reiseführern ähnlich, die Darstellung der Roten Flora variiert jedoch erheblich. Benutzen einige Autorinnen bewusst das Spiel mit der Kriminalisierung für humoristische Elemente (»Wenn neben Ihnen plötzlich 29 Vermummte vorbeirennen sollten und die Polizei hinterher, treten Sie einen Schritt beiseite und laufen Sie NICHT mit. Schon sind Sie raus aus dem Schneider.«; Kobiella 2020: 123), setzen andere Reiseführer einen deutlich negativen Kontext. Die Ausschreitungen während des G20-Gipfels werden in fünf Veröffentlichungen erwähnt, dreimal direkt in Zusammenhang mit der Roten Flora. Hiervon ist ein Beitrag neutral und einer negativ (»wütete hier ein entfesselter Mob und entfachte die schlimmste Straßenschlacht, die Hamburg je gesehen hat«; Heintze/Riege-Schmickler 2019: 54), während ein Autor humorvoll anmerkt: »Wenn nicht gerade der 1. Mai ist oder ein G20Gipfel in Hamburg stattfindet, werden Sie in beiden Stadtviertelchen [Schanze und Karolinenviertel, Anmerkung M.F.S.] höchstwahrscheinlich eine sehr angenehme Zeit verbringen.« (Kröner 2020: 176). Ebenfalls variieren die Bezeichnungen der Roten Flora stark: von »Kulturinitiative des Stadtteils« (Höhne/Missler 2016: 283), »kollektiv betriebenes Kulturzentrum« und »Ort für nichtkommerzielle Kulturarbeit« (Dohnke 2019: 24) und »alternatives Kulturzentrum« (Iwanowski 2016: 17), über »selbstverwaltete[s] Kulturzentrum« (Kröner 2019: 178) und »selbstverwaltete[s] und linksautonome[s] Zentrum« (Kröner 2020: 178) zu »versteht sich als unkommerzielles und unabhängiges Stadtteilzentrum« (Bohlmann-Modersohn 2020: 134) und »irgendwie immer noch funktionierendes Stadtteilzentrum« und »Ruine« (Heintze/Riege-Schmickler 2019: 54). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sechs Reiseführer positiv bis eher positiv gehalten sind (davon die drei digitalen vor 2017), drei sowohl positive als auch negative konnotierte Attribute wählen, während nur einer negativ über die Rote Flora berichtet. Drei der zehn Reiseführer verwenden eine Abbildung der Roten Flora, vier nennen Zusammenstöße mit der Polizei oder Ausschreitungen, der Begriff ›linksextrem‹ wird nirgends verwendet. In der Einbettung in das Schanzenviertel gibt es keinen Verweis darauf, dass die Rote Flora einen Grund darstelle, dort nicht hinzugehen. Eher scheint gerade wegen ihrer Anwesenheit ein Besuch lohnend, da sie zum Kontrastreichtum und alternativen Flairs des Viertels beiträgt, was in allen Reiseführern erwähnt wird.

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Städtische Darstellungen: Offizielle Internetseiten der Stadt Hamburg und ihrer Tochterunternehmen Für die mediale Aufbereitung der Roten Flora von städtischen Unternehmen wurden die Portale hamburg.de, hamburg.com und hamburg-tourism.de untersucht. Das ›offizielle Stadtportal‹ hamburg.de sowie die englischsprachige Seite hamburg.com werden von der hamburg.de GmbH & Co. KG als Public Private Partnership zwischen der Freien und Hansestadt Hamburg und zwei Sparkassen betrieben.7 Hamburg Tourism ist an die Hamburg Tourismus GmbH ausgegliedert, welche wiederum zu 51 Prozent von der Hamburg Marketing GmbH gehalten wird (weitere 29 Prozent vom Tourismusverband Hamburg e.V. und je 10 Prozent von der DEHOGA Hamburg e.V. sowie der Handelskammer Hamburg), dessen Aufsichtsratsvorsitzender vom Senator der Behörde für Wirtschaft und Innovation gestellt wird.8 Von Seiten des Hamburg Tourismus wird zur Zeit der ersten Untersuchung (Juni 2020) offiziell von dem Versuch abgesehen, die Rote Flora als Imageerzeugerin heranzuziehen (vgl. Heinemann 2017).

hamburg.de Auf hamburg.de finden sich relevante Nennungen der Rote Flora in vier Kategorien: Innenbehörde, Baudenkmal, Jobs & Wohnen und Hotel & Tourismus. Weitere Nennungen finden sich in den Pressemitteilungen und im Archiv der Innenbehörde, beide Bereiche wurden jedoch auf Grund des intendierten Zielpublikums nicht ausgewertet. Zudem ist die Rote Flora auf hamburg.de als Veranstaltungsort markiert, für den es die Möglichkeit gibt, nach dort stattfindenden Terminen und Ticketoptionen zu suchen (vgl. hamburg.de 2022a, 2022b). Innenbehörde Die erste Nennung unter Verwendung der seiteneigenen Suchoption findet sich über die Innenbehörde unter der Kategorie Linksextremismus, welche jedoch scheinbar bereits vor dem G20-Gipfel 2017 nicht mehr aktualisiert wurde (vgl. hamburg.de 2022c). Alle Daten beziehen sich auf einen Zeitraum zwischen 2015 und Ende 2016, über den Gipfel wird in der Zukunft berichten (»Geplant ist, die Rote Flora und das Centro Sociale im Juli 2017 als Info-Zentrum

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Vgl. https://​www.hamburg.de​/​impressum/ (Zugriff 15.12.2022). Vgl. https://​marketing.hamburg.de​/​hamburg-​tourismus-​gmbh-​hht.html und https://​marketing.hamburg.de​/​impressum.html (Zugriff 15.12.2022).

Die Rote Flora als Touristifizierungstreiberin?

zu betreiben.«). Hier wird ihr Wichtigkeit für die linksautonome Politik zugesprochen (»seit 1989 der bedeutendste politische Treff- und Veranstaltungsort der autonomen Szene in Hamburg«), jedoch auch darauf verwiesen, dass die Stadt sich um einen Rückkauf bemüht habe, es Renovierungsmaßnahmen von Seiten der Floristinnen gab und das Gebäude insgesamt von »unterschiedlichsten Gruppen« genutzt werde. Auf ein Bild wird hier verzichtet. Über die Unterseite des Hamburger Verfassungsschutzes findet sich ein Überblick zum Thema Linksextremismus, welche mit der Rubrik »Linksextremistische Zentren in Hamburg« ein stilisiertes Bild der Roten Flora als Icon nutzt. Hier verwundert die Wahl sowie die Qualität der visuellen Elemente, da diese mit der Seriosität des Politischen kontrastiert (vgl. hamburg.de 2022d). Die Darstellung der Roten Flora auf der Themenseite zu linksextremistischen Zentren (vgl. hamburg.de 2022e) beginnt mit einem historischen Abriss, welcher der Flora jedoch schnell sehr eindeutig die Funktion als alternatives Stadtteilkulturzentrum abspricht (»Aus einem Treffpunkt für die Anwohner entwickelte sich die ›Rote Flora‹ aber zu einem Treffpunkt für Linksextremisten.«) und im Folgenden auf die Bedeutung bei politischen Auseinandersetzungen und bei Nutzerinnengruppen eingeht (»immer wieder Ausgangspunkt bzw. Anlaufstelle anlässlich verschiedener gewalttätig verlaufender Aktionen im Schanzenviertel«, »der wichtigste Kristallisationspunkt der Autonomen in Hamburg und Umgebung«, »Nicht alle Nutzer der ›Roten Flora‹ sind Autonome. U.a. finden dort Konzerte statt, die auch bei unpolitischen Jugendlichen regen Zuspruch finden.«). Die negative Konnotation ist anhand der Tatsache, dass es sich bei Linksextremismus per Definition um »Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Deutschland« (Bundesministerium des Innern und für Heimat 2017) handelt, nicht verwunderlich, jedoch bedient sich der Artikel äußerst einfacher Sprache, beinhaltet Fehler und nutzt für eine offizielle Repräsentation eine unprofessionelle Wortwahl. Baudenkmal Der Vierzeiler in der Unterkategorie Bezirk Altona – Freizeit und Kultur – Altona Draußen erleben – Baudenkmäler erwähnt die Besetzung des Gebäudes 1989: »[S]eitdem ist hier ein autonomes Kulturzentrum ansässig.« (hamburg.de 2022f). Ein Bild ist vorhanden.

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Jobs & Wohnen: Bezirke & Stadtteile – Altona – Sternschanze Weitere Nennungen finden sich unter dem Stadtteilportrait Sternschanze, wo die Rote Flora das Titelbild des Headers stellt und mit der Überschrift »Ein kunterbuntes Viertel mit eigensinnigen Bewohnern« bereits auf die ›Besonderheit‹ der im ›Szeneviertel‹ anzutreffenden Menschen verweist. Weiter unten findet sich eine Empfehlung für »9 Dinge, die man in der Sternschanze gesehen haben sollte«, in der ebenfalls eine Erwähnung der Flora zu finden ist (vgl. hamburg.de 2022g). Der Link aus dem Header führt verschiedene Konsum- und Erlebnisangebote auf, welche unter dem Titel »Sternschanze: Wissens- und Sehenswertes« genannt werden und direkt auf die Erlebbarkeit des Stadtteils in Form von »Durchschlendern, sich treiben lassen, bummeln, entdecken und Menschen beobachten« verweisen. Nach Eckdaten folgen Abschnitte zu den verschiedenen alternativen und subkulturellen Angeboten der Schanze, wie auch Beschreibungen des dort ansässigen Publikums (»Studenten mit Blumenkränzen im Haar«, »junge Eltern«, »Freunde von Food-Festivals«). Nach fünf rein konsumorientierten Abschnitten folgt die Überschrift »Eigensinnige Bewohner«, welche zwar im folgenden Text nicht erwähnt werden, jedoch werden der Widerstand gegen die Aufwertung, politische Proteste und die Deattraktivierungsstrategien genannt (»mit eingeworfenen Schaufenstern, brennenden Autos und Wasserwerfer-Einsätzen der Polizei«), denen Graffiti als »Vandalismus der anderen Art« gegenübergestellt wird, welche »die Häuserwände des Schanzenviertels zieren« und »von den Sprayern als Kunstform verteidigt« werden (hamburg.de 2022h). Ebenfalls werden besagte Graffiti als »Sprachrohr für Gesellschaftskritik« beschrieben. Unter dem Abschnitt »Ein Monument stetigen Protests« wird die Rote Flora schließlich explizit erwähnt: »Das wuchtige freistehende Gebäude, über und über von Plakaten und Graffitis bedeckt, mit Obdachlosen auf den Treppen und einem zwielichtigen Ruf: das ist die Rote Flora.«. Nach Erwähnung der politischen Rolle der Flora (»über Hamburgs Grenzen hinaus […] für linksradikalen Widerstand«, »Zentrum der Autonomen«) führt der Artikel zurück zur Historizität des Gebäudes und bietet eine neutrale Chronologie, die damit endet, dass »die Flora schließlich von der Stadt zurückgekauft und seit 2015 von ehrenamtlichen Helfern renoviert« wurde. Im nächsten Abschnitt (»Gentrification live«) wird interessanterweise auf die Sanierung der »schönen Altbauwohnungen« und die folgende Verdrängung und gewerbliche Umstrukturierung hingewiesen, nur um damit abzuschließen, dass sich »[d]och gegenüber von strahlend weißen Hausfassaden

Die Rote Flora als Touristifizierungstreiberin?

[…] immer noch Graffiti-übersäte Wände, von denen der Putz bröckelt« befinden, »auf der Straße vor den teuren Läden« Straßenmusiker spielen und »das Publikum […] auf dem Bordstein« sitzt, »[i]n der Hand ein Kiosk-Bier und eine bunte Tüte mit Lakritze und Gummibärchen«. Die »9 Dinge, die man in der Sternschanze gesehen haben sollte« belaufen sich zwar nur auf acht Empfehlungen, jedoch findet sich die Rote Flora hier auf Platz 3 und wird als »Gebäude, das das Gesicht der Sternschanze prägt« und als »autonomes Kulturzentrum« betitelt; es folg nur ein weiterer Satz, welcher die vorherigen Nutzungen und die Besetzung 1989 erwähnt. Hierzu gibt es ein Bild der Flora-Fassade mit Protestbannern. Hotel & Tourismus: Sehenswürdigkeiten – Schanzenviertel (Beliebtes Szeneviertel) Unter der Rubrik Hotel & Tourismus findet sich das Schanzenviertel unter den Sehenswürdigkeiten und versprüht als »angesagtes Szeneviertel […] mit vielen kleinen Boutiquen, Restaurants, Cafés und einer Partymeile einen ganz eigenen Charme« (hamburg.de 2022i). Die weniger konsumorientierte Beschreibung beinhaltet kein direktes Bild der Flora, erst nach Klick auf die Bildergalerie folgt diese an fünfter Stelle und wird als »autonomes Kulturzentrum der Hansestadt« beschrieben. Zwar wird der Body direkt mit dem Titel »Altbau und Hedonismus« eingeleitet, jedoch folgt eine insgesamt deutlich nüchterne Darstellung (keine Erwähnung von Ausschreitungen, Graffiti, jedoch von Verdrängung und Aufwertung) und Einordnung in den Kontext der umliegenden Stadtteile und Geschichte. Im vierten Abschnitt der Seite wird die Rote Flora als »ehemaliges Theatergebäude« in nur zwei Sätzen und ohne Bild vorgestellt. Betitelt als »autonomes Zentrum«, welches durch »Anhänger der alternativen Szene« besetzt wurde, habe sich die Flora seitdem »einen Namen mit politischen und kulturellen Veranstaltungen gemacht.«

Hamburg.com Das Portal Hamburg.com bietet unter der Rubrik Visitors – Sights neben den Empfehlungen für die klassischen Sehenswürdigkeiten und touristischen Erlebnisse eine eigene Kategorie für alternative Attraktionen (vgl. hamburg.com 2022a). Hier nimmt die Rote Flora als eigenständige Sehenswürdigkeit ohne den Stadtteil u.a. nach Gänge- und Karolinenviertel Platz 6 ein, das Schanzenviertel folgt auf 8. Der Seitenbeginn verweist direkt auf die widersprüchlichen Haltungen um die Roten Flora, indem diese als »eyesore to some, a symbol of freedom to others« polarisiert, und betont sowohl die politischen Banner

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und Graffiti, die Historizität des Gebäudes und die Besetzung durch Anwohnerinnen und links-autonome Gruppen, welche zu der Entstehung des »cultural center« führten (hamburg.com 2022b). Auf die geschichtliche Zusammenfassung folgt ein Abschnitt über Proteste und Besetzung, um final auf die aktuelle Situation einzugehen. Hier wird betont, dass, obwohl die Rote Flora und ihre Umgebung oft Ausgangspunkt für links-autonome Demonstrationen sind, die auch zu Zusammenstößen mit der Polizei führen, die Flora doch weiterhin am besten für ihre Rolle als kulturelles und politisches Zentrum bekannt ist, »albeit a sometimes controversial one«. Hier ist anzumerken, dass in der anschließenden Beschreibung des Veranstaltungsorts nicht nur »venue for donation-based concerts and lectures« genannt werden, sondern auch explizit das Antifa-Café sowie die Vokü und letztendlich auch »political action«. Die Floristinnen werden als »activists« bezeichnet, und auch ein Bild ist vorhanden. Unter Neighbourhoods in der Kategorie Residents findet sich das Schanzenviertel erneut (»with a quirky vibe by day and a cool alternative atmosphere by night«); hier wird die Flora ebenfalls genannt und wie folgt beschrieben: »a former theatre turned autonomous youth centre and squat since 1989, still functions as a symbol of the area’s strong alternative scene and is now known for its wide array of political and cultural events.« (hamburg.com 2022c). Es wird kein Bild der Flora verwendet, dafür aber Street-Art gezeigt.

Hamburg Tourismus Sternschanze & Karolinenviertel Auf dem eigenen Portal von Hamburg Tourismus findet sich die Rote Flora auf einer gemeinsamen Seite der Stadtteile Sternschanze und Karolinenviertel; hier wird darauf hingewiesen, das Schanzenviertel habe »viel von seiner rauen, links-alternativen Unangepasstheit bewahrt«, und die Rote Flora wird mit dem Schulterblatt gemeinsam – anders als noch 2020 – direkt als eines von fünf weiterführenden Bildern im Header abgebildet (vgl. Startseite/Das ist Hamburg/Stadtteile/Sternschanze & Karoviertel auf Hamburg Tourismus 2022a). Sehenswürdigkeit – Rote Flora und Schulterblatt Die mit dem Untertitel »Pulsierendes Viertel« zu findenden Informationen (vgl. Startseite/Sehen & Erleben/Sehenswürdigkeiten/Rote Flora und Schulterblatt auf Hamburg Tourismus 2022b) haben sich ebenfalls seit 2020 verän-

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dert. Damals wurde davon gesprochen, dass »auf dem Schulterblatt das Leben pulsiert«, während die Rote Flora die »kulturelle Mitte des Viertels« darstellt, dabei für die »alternative Hamburger Szene« steht und dieses »besondere Viertel« es schafft, »studentisches Publikum, ultra-hippe Gutverdiener und die alternative Hamburger Szene, die ihr Zentrum in der Roten Flora hat,« zusammenzuführen und es »wohl keinen spannenderen Zeitvertreib [gibt], als sich in eines der Cafés am Schulterblatt zu setzen und bei einem Espresso oder Caipirinha genau diese aufregende Mischung an Menschen zu beobachten.« Mittlerweile ist das Schulterblatt nur noch »Hot Spot der Schanze mit vielen Restaurants und Bars«, während die Flora als »selbsternanntes autonomes Kulturzentrum« auf die »besondere Geschichte« des Gebäudes reduziert wird. Die Veränderung könnte durch das Bemühen erklärt werden, das Schanzenviertel aufgrund der Überlastung durch den angestiegenen Tourismus nicht noch weiter zu bewerben. Weiter unten findet sich nun der Hinweis, dass die Flora »nach wie vor Dreh- und Angelpunkt politischer Aktionen« sei. Nach einem kurzen historischen Abriss folgt die Erwähnung des bereits damals vorhandenen Widerstands gegen eine Aufwertung, hier habe die Stadt den »wehrhaften Initiativen das Gebäude vorübergehen zur Miete an[geboten], um die vorgeschlagene Nutzung als Stadtteilkulturzentrum zu präsentieren«; nach der folgenden Besetzung habe sie »ihre Bestimmung als Rote Flora unter Selbstverwaltung« erhalten. In einem separat gehaltenen Magazinbeitrag »Ein Tag in Sternschanze und Karoviertel« berichtet die Autorin von ihren Empfehlungen und ›Geheimtipps‹ (vgl. Hamburg Tourismus 2022c). Nach einem langen, konsumfokussierten Tag endet die Route auf dem Schulterblatt, vorbei an der »der berühmt-berüchtigten [Roten Flora]«. Im Vergleich zu 2020 ist anzumerken, dass 2022 ein inhaltlicher Fehler zu bestehen scheint, denn es fehlt der Name, sodass ein unvollständiger Satz zu lesen ist. Da in der Zwischenzeit ein Wechsel der Webadresse für einige der untersuchten Seiten vollzogen wurde, ist davon auszugehen, dass es sich hier um ein Versehen handelt und nicht um eine besonders konsequente Auslegung des Prinzips mit der Roten Flora »ausdrücklich und grundsätzlich keine Werbung« zu machen (vgl. Heinemann 2017). Die englischsprachige Version scheint zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung noch im Aufbau und bietet eine automatische Übersetzung der deutschen Seite (vgl. Hamburg Tourismus 2022d).

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Sternschanze kulinarisch Die zu einer Werbepartnerschaft führende Seite der Food-Tour offeriert eine »kulinarische Stadtführung der besonderen Art« in der nicht nur das Kennenlernen örtlicher Kulinarik, sondern auch die Möglichkeit »sich von der Geschichte und aktuellen Ereignissen des Schanzenviertels begeistern« zu lassen (Hamburg Tourismus 2022e). Denn »[h]ier arbeiten Kunstschaffende neben Hipstern, hat die linke Szene mit der Roten Flora ihren Sitz und leben Zugezogene neben alteingesessenen Hamburgerinnen und Hamburgern.«, was die Verwendung der Flora als Titelbild naheliegender erscheinen lässt als ein gastronomisches Foto.

Printmedien Für die Analyse der Zeitungsartikel wurde im ersten Schritt das Vorkommen des Begriffs Rote Flora abgefragt, um diesen dann mit den fremd- und eigenpositionierenden Attributen autonom*, linksextrem*, linksradikal*, alternativ*, den Begriffen der Kategorie Devianz (Polizei*, Ausschreitung*, Gewalt*, Krawall*, Chaoten und Demo*) und Eigentumskonflikt (Verkauf*, Kauf*) sowie der Bezeichnung Kulturzentrum und den Begriffen Touris* und Gentri* zu kombinieren. Die Begriffe der Kategorie Devianz ergaben sich aus einer qualitativen Analyse der Archivartikel, während der Eigentumskonflikt verwendet wird, um die allgemeine Berichterstattung erweiternd abzubilden, Kulturzentrum als positiv-konnotierter Gegensatz untersucht wird und die beiden letzten Suchbegriffe Aufschluss über die Thematisierung von Tourismus und Aufwertung ergeben sollen. In der Berichterstattung um die Sternschanze stehen weiterhin drei Ereignisse im Vordergrund, welche im Zusammenhang mit der Roten Flora von Relevanz sind: die jährlichen 1. Mai Demonstrationen, das Schanzenfest sowie der G20-Gipfel. Diese wurden eigenständig abgefragt und anschließend ebenfalls mit den Begriffen der Kategorie Devianz kombiniert, um die Suche im nächsten Schritt um Rote Flora zu erweitern. Das Ziel ist es zu verdeutlichen, wie oft über die jeweiligen Ereignisse und vorkommende Devianz berichtet und dabei ein Zusammenhang zur Roten Flora hergestellt wurde. Selbstverständlich bedeutet eine Nennung der Roten Flora im Zusammenhang mit den jeweiligen Suchbegriffen nicht, dass diese auf das Kulturzentrum selbst bezogen sind, jedoch erzeugt die bloße Verbindung in einem gemeinsamen Artikel automatisch eine Konnotation.

Die Rote Flora als Touristifizierungstreiberin?

Case Sensitivity war bei den Archiven nicht von Relevanz, die Verwendung des Asterix ermöglicht eine Suche mit variablen Endungen, die Ergebnisse werden auf eine Dezimalzahl hinter dem Komma gerundet. Von den insgesamt 2.900 Artikeln,9 welche Rote Flora erwähnen, entfielen 269 auf die Bild, 670 auf die Mopo und 1.667 auf das Abendblatt als Hamburger Tageszeitungen und 284 auf Die Zeit. Eine genauere Suche wie autonom* Zentrum oder *alternativ* ließen sich leider technisch bedingt nicht durchführen. Die Stichwortsuche beinhaltet auch Artikel, welche die Rote Flora inhaltlich am Rande nennen, sowie Dopplungen durch Print und Onlineartikel. Außerdem gibt keine Einsicht über Löschungen und Datenbankstrukturen.

Positionierende Attribute Die häufigste Verwendung fand autonom* (in 20,5 % aller Artikel) gefolgt von linksextrem* (14,9 %), weit dahinter alternativ* (8,4 %) und linksradikal* (5,7 %), wobei es Unterschiede bei der Häufung je nach Medium gab. Die Bezeichnung autonom* fand sich in 593 Artikeln (davon Bild 25,7 %, Mopo 27,6 %, Abendblatt 14,6 % und Die Zeit 33 %), mit dem Begriff linksextrem* wurde die Rote Flora in 433 Fällen benannt (davon Bild 22,3 %, Mopo 7,1 %, Abendblatt 16,7 % und Die Zeit 16,2 %). linksradikal* – im Gegensatz zu linkextrem(istisch) nicht als verfassungsfeindlich eingestuft – fand eine deutlich geringere Verwendung mit 165 Resultaten (davon Bild 7 %, Mopo 2,4 %, Abendblatt 5,7 % und Die Zeit 12 %). Ähnlich sieht es bei dem neutraleren Begriff alternativ* aus, der in 245 der Artikel Verwendung fand (davon Bild 9,7 %, Mopo 10,3 %, Abendblatt 5,3 % und Die Zeit 21 %).

Devianz Mit 1.538 Nennungen (in 53 % aller Artikel) wird der Begriff Polizei* auffallend häufig verwendet, gefolgt von Demo* (1.237 Nennungen, 42,7 %), Gewalt* (1036 Nennungen, 35,7 %), Krawall* (868 Nennungen, 29,9 %), Ausschreitung* (566 Nennungen, 19,5 %) und Chaoten mit nur 185 Nennungen (6,4 %). Während Die Zeit die Rote Flora in 72,5 % ihrer Artikel mit Polizei* in Zusammenhang bringt, findet sich dies bei der Bild in 60,2 %, beim Abendblatt in 54,7 % und bei der Mopo in 33,4 % der Artikel. Demo* wurde von Die Zeit in 62,7 % der Artikel im Zusammenhang mit der Roten Flora genannt, von der Bild in 46,1 %, dem Abendblatt in 43 % und der Mopo in 31,4 %. Rote Flora und Gewalt* fand sich bei 9

Diese 2.900 Artikel stellen die Grundgesamtheit für die folgenden Berechnungen dar.

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der Bild in 114 Artikeln (42,4 %), der Mopo in 182 (27,1 %), dem Abendblatt in 653 (38,9 %) und Die Zeit in 87 (30,6 %). In Kombination mit Krawall* fanden sich 99 Artikel mit Nennungen bei der Bild (36,8 %), 156 bei der Mopo (23,3 %), 534 im Abendblatt (31,8 %), und bei Die Zeit 79 (27,8 %). 67 Artikel in der Bild nannten die Rote Flora weiterhin zusammen mit Ausschreitung* (24,9 %), 50 (6,6 %) in der Mopo, 366 im Abendblatt (21,8 %) und 67 in Die Zeit (23,6 %). Bei der gemeinsamen Aufführung mit dem Begriff Chaoten fällt die Bild mit 27,9 % aller Artikel über die Rote Flora (75) weit heraus, die Mopo nutzte ihn nur in 4,3 % der Artikel (29), das Abendblatt in 4,35 % (73) und Die Zeit in 2,82 % (8).

Abgleich mit anderen Themen: Eigentumskonflikt, Kulturzentrum, Tourismus und Gentrifizierung Ein präsentes Thema in der Berichterstattung war wie zu erwarten das Thema der Eigentumsverhältnisse des Gebäudes; so nannten 20,4 % der Artikel Kauf* und 16,1 % Verkauf*. 21,3 % (619) der Artikel nannten die Rote Flora im Zusammenhang mit Kulturzentrum, wobei hier die Mopo mit nur 14,8 % heraussticht, während die anderen drei Zeitungen bei Werten über 20 % liegen. Der Begriff Gentri* fand sich nur in 3,2 % aller Artikel, Touris* nur in 5 %.

Ereignisse In Artikeln mit Erwähnung der Roten Flora wurde diese in 4,6 % mit Schanzenfest gemeinsam genannt, 19,3 % enthielten G20 und 8,7 % 1. Mai. Bei der genaueren Untersuchung der Ereignisse in Kombination mit Begriffen aus der Kategorie Devianz (z.B. G20 + Ausschreitung*) wurde deutlich, dass der Großteil aller Berichterstattungen die Rote Flora nicht erwähnte. Bei Nennungen des Schanzenfests fand sich nur in 20,2 % der Artikel Rote Flora, in weiterer Kombination mit Chaoten* blieben 26,32 %, mit Gewalt* 31,07 %, mit Ausschreitung* 37,44 % und mit Krawall* 31,52 %. Noch geringere Prozentsätze finden sich bei den Artikeln mit Nennungen von G20 oder 1. Mai.

Resümee Reiseführer Der Großteil der untersuchten Reiseführer erwähnt die Rote Flora nicht; wenn doch, dann wird sie im Zusammenhang mit der Sternschanze aufgeführt; da-

Die Rote Flora als Touristifizierungstreiberin?

bei ist die Berichterstattung unterschiedlich gefärbt. Generell ist die Rolle von Reiseführern zwar vernachlässigbar, jedoch unterstreichen die Erwähnungen, dass die Inszenierung als widerständiger Raum eine Vermarktung möglich macht.

Webseiten Die Berichterstattung über die Rote Flora auf den verschiedenen städtischen Portalen ergibt kein einheitliches Bild und verdeutlicht, dass hier seitens der Betreiberinnen kein Bemühen besteht, ein gemeinsames Narrativ zu erzeugen. Gleichzeitig verdeutlichen die Aufführungen an verschiedenen Stellen der Portale, inwieweit die Rote Flora nicht nur als widerständiger Ort in Form eines autonomen Zentrums, sondern von der Stadt auch als kulturelle Institution gehandelt wird (Markierung als Disco/Musik-Club, Porträt mit Bild unter Baudenkmal). Die eindeutigste Einordnung in einen politischen Kontext findet sich über die Seiten der Innenbehörde im Zusammenhang mit Linksextremismus, wobei das Portrait der Roten Flora auf Grund mangelnder Aktualität darauf hindeutet, dass dieses Thema auf der eigenen Webseite eher vernachlässigt wird, und die Aufmachungen des Portals sowie der Sprachwahl allgemein Seriosität vermissen lassen. Es wird auf die unterschiedlichen, auch nicht-politischen Nutzerinnengruppen eingegangen, dabei der Begriff Kulturzentrum vermieden und bis auf die entfremdete Darstellung als Symbolbild für linksextremistische Zentren keine Visualisierung verwendet. Das Porträt der Sternschanze unter der Rubrik Jobs & Wohnen betont das Widerständige, Ausschreitungen und Polizeieinsätze, nutzt teilweise wiederum romantisierende Formulierungen und positiv konnotierte Attribuierungen. Die Darstellung der Flora selbst im Zeitraum der Besetzung verwendet sensationsheischendes Vokabular und Beschreibungen, nutzt jedoch linksradikal statt linksextrem, vermeidet (abgesehen von der Tatsache der Besetzung) eindeutig kriminalisierende Begriffe sowie einen Zusammenhang mit Straftaten oder gewaltsamen Konflikten. Ebenfalls wird die euphemistische Bezeichnung ›ehrenamtliche Helfer[innen]‹ für die Aktivistinnen verwendet. Die Darstellung der Roten Flora unter »9 Dinge, die man in der Sternschanze gesehen haben sollte« nutzt die von den Floristinnen selbst zugeschriebene Bezeichnung ›autonomes Kulturzentrum‹ sowie ein Bild des Gebäudes. Die klar an Touristinnen adressierten Seiten unter Sehenswürdigkeiten benutzen ebenfalls die Bezeichnung »autonomes Kulturzentrum«, stellen dabei eine Zugehörigkeit zur Stadt her (»der Hansestadt«), stigmatisieren die Ak-

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tivistinnen nicht, sondern stellen diese als Teil der Hamburger »alternativen Szene« dar und nutzen eine positive Konnotation (»Namen gemacht«). Auf sensationsheischendes Vokabular wird weitgehend verzichtet, statt Kriminalisierung steht die Aufwertung der Sternschanze im Vordergrund. hamburg.com als englischsprachige Version des Stadtportals verwendet explizit alternative Orte zur eigenen Vermarktung und bietet eigene Seiten für die Rote Flora, wie auch für das Gängeviertel und die Hafenstrasse – letztere beides legitimierte Besetzungen, welche nun unter Selbstverwaltung stehen. Die Rolle der Flora als kulturelles Veranstaltungszentrum wird hervorgehoben, ebenfalls eine direkte politische Verbindung über die Antifa hergestellt; die Konnotation ist positiv. Auf dem Tourismusportal der Stadt (hamburg-tourism.de) erhält die Rote Flora zusammen mit dem Schulterblatt eine eigene Unterseite, jedoch wurde die Darstellung der Flora im Untersuchungszeitraum verändert. Mittlerweile wurde die Beschreibung von einer deutlich spektakuläreren Inszenierung abgemildert, wobei eine positive Konnotation erhalten und die Bezeichnung ›autonomes Kulturzentrum‹ bestehen bleibt. Besonders zu bemerken ist an dieser Stelle, dass hier sowohl die von der Roten Flora selbst gewählte Adresse angegeben ist (Achidi-John-Platz 1, eigentlich Schulterblatt 71) als auch ein direkter Link zur Webseite der Besetzerinnen neben der Betitelung zu finden ist (vgl. Hamburg Tourismus 2022b). Die externe, aber integrierte Werbepartnerschaft mit einer kulinarischen Führung nutzt die Rote Flora deutlich als Imageträgerin und verwendet ebenfalls ein Bild. Die englische Version ist inhaltlich identisch und daher nicht gesondert analysiert worden. Die Webseiten der Stadt Hamburg erzeugen – mit Ausnahme der Innenbehörde – kein negatives Bild der Roten Flora, sondern nutzen überwiegend neutrale bis positive Darstellungen, verwenden regelmäßig Fotos des Gebäudes und stellen auf unterschiedliche Weisen Bezug zu Devianz und Transgression her, während sie die Widerständigkeit der Aktivistinnen betonen. Zwar fallen zwischenzeitlich leicht negative Zuschreibungen, diese stehen aber vermehrt in einem Zusammenhang, welcher das ›alternative‹ und ›unangepasste‹ Bild der Sternschanze anreichert; eine Zuordnung zur linksextremen Szene wird vermieten. Auf den Seiten für englischsprachiges Publikum wird offenkundig mit der Devianz geworben und die kulturelle sowie politische Bedeutung der Roten Flora hervorgehoben.

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Zeitungen Die Berichterstattungen in den vier Publikumsmedien betrachten das Schanzenfest, die Demonstrationen zum 1. Mai, so wie den G20-Gipfel mit jeweilig negativ assoziierten Begriffen der Kategorie Devianz zum Großteil losgelöst von der Roten Flora. Umgekehrt macht in der Berichterstattung über die Rote Flora zumindest der der G20-Gipfel mit fast 20 % einen bedeutenden Anteil der erschienenen Artikel aus. Obwohl die Verbindung zu autonom* und linksextrem* (im Gegensatz zu linksradikal) zu je etwa 20 und 15 % eine hohe Verwendung findet, so ist auch die positiv konnotierte Bezeichnung Kulturzentrum mit über 20 % aufgefallen. Eine sehr hohe bis hohe Nennung in Zusammenhang mit Polizei*, Demo*, Gewalt* und Krawall* macht deutlich, welche Inhalte die Berichterstattung dominieren, während ein Bezug zu Tourismus und Gentrifizierung in der relativen Betrachtung kaum vorkommen. Die absoluten Zahlen von 97 und 147 Artikeln weisen jedoch darauf hin, dass es einen Diskurs zu diesen Themen gibt.

Zusammenfassung Um abschließend erörtern zu können, inwieweit die Darstellungen der Roten Flora in den untersuchten Medien zu deren Transformation in einen weichen Standortfaktor der Sternschanze beigetragen haben, kann zusammengefasst werden, dass gedruckte Reiseführer eine vernachlässigbare Rolle spielen, jedoch die stadteigenen Webseiten alle drei Ebenen der Reckwitzschen Kulturalisierungsstrategien aufweisen, welche für die Nutzung im Feld der Imageerzeugung für die Sternschanze notwendig sind. Die verschiedenen Seiten erzeugen trotz ihrer Unterschiedlichkeit durch Gebrauch ähnlicher Informationen ein Bild der Roten Flora, welches die Symbolproduktion der Sternschanze durch verschiedene Qualitäten (z.B. ›alternativ‹, ›widerständig‹, ›transgressiv‹ und ›politisch‹) erheblich bereichert. Die wiederholte Betonung ihrer ›besonderen‹ Geschichte, im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Situation (reflexive Historisierung) findet sich ebenso deutlich wie die Verwendung von Bildern und Vokabular, welche die Besonderheit der dort erlebbaren Atmosphäre (Ästhetisierung) unterstreichen. Auch der politische Kontext mindert die Nutzbarkeit der Roten Flora in der städtischen ›Narrativierung‹ nicht, im Gegenteil: Die Devianz ist dadurch weiter für eine Bedeutungsproduktion rund um das Phänomen ›Rote Flora‹ verwertbar,

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sowie die derogativen Bezeichnungen dazu beitragen, die sinnlich-affektive Spannung der besonderen Authentizität zu erzeugen. Diese Kommodifizierbarkeit ist der Stadtverwaltung offenkundig bekannt, da die widerständigen Atmosphären gezielt bei der Vermarkung für ein englischsprachiges Publikum genutzt werden, um das Bild von einem ›alternativen Hamburg‹ zu konstruieren. hamburg.de und hamburg.com nutzen weiterhin die Hafenstraße, das Gängeviertel und das Münzviertel, um dieses Bild auszubauen (die Hafenstraße als »[k]ulturelle Straße mit Vergangenheit« und »[d]ie Straße des Terrors«, das Münzviertel »international, subkulturell, unkommerziell«, »Künstlertreff und City-Nähe«, »Einzigartige urbane Mischung aus Kunst, Bildung, Pädagogik und Kultur«).10 Hamburg Tourismus tut dies zurzeit nur mit einem Magazinbeitrag, der Hamburgs »alternativen Charakter«11 hervorhebt, was dahingehend interessant ist, als dass dies das eigentliche touristische Portal der Stadt ist. Die untersuchten Zeitungen wiesen alle eine deutliche Inbezugsetzung von Devianz und Transgression mit der Roten Flora auf, welche zur Erzeugung einer distinkten widerständigen Identität führen. Ob hierbei ein weiteres Framing durch Übertreibung, Verzerrung, Prognostizierung und Symbolisierung erfolgt, wurde in diesem Beitrag nicht gezielt untersucht, jedoch fielen bereits bei der Aufnahme aller Artikelüberschriften die bewusste Verwendung von Stereotypen sowie die Wahl von Bildern und Vokabular mit symbolischer Bedeutung wie ›Krawallzentrum‹, ›Anarcho-Stüzpunkt‹, ›Trutzburg‹, ›Brutalo-Hausbesetzer‹ auf, sodass eine dahingehende Tendenz in einer weiteren Untersuchung analysiert werden könnte. Es kann abschließend behauptet werden, dass das Zusammenspiel von städtischer medialer Darstellung und publikumsmedialem Framing ein Bild um die Institution Rote Flora erzeugt, welches mehr beinhaltet als das historische Gebäude und die Aktivitäten und Gruppen in ihm und somit ein eigenes Narrativ aus Vergangenheit und Gegenwart, Ausschreitungen und Protesten, politischem Widerstand und subkulturellen Identitäten, Transgression, aber auch kultureller Vielfältigkeit hervorbringt. Das erzeugte Narrativ spannt somit eine Atmosphäre des Widerständigen, Devianten und Unvorhersehbaren

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Vgl. https://www.hamburg.com/alternative/11747640/gaengeviertel/; https://www.ha mburg.de/hafenstrasse/; https://www.hamburg.de/sehenswuerdigkeiten-strassen-pl aetze-viertel/9386212/muenzviertel-hamburg (Zugriff 15.12.2022). Vgl. https://www.hamburg-tourism.de/magazin/quer-durch-die-stadt-interview-mit -jan-schmitt/ (Zugriff 15.12.2022).

Die Rote Flora als Touristifizierungstreiberin?

um das Areal um die Rote Flora, welche nicht rein faktenbasiert, auf die Gegenwart bezogen oder selbstbestimmt ist. Das Auffinden von transgressiven subkulturellen Praxen in der räumlichen Nähe macht den Konsum von real verorteter Devianz aus sicherem Abstand beim Nutzen der angrenzenden Gastronomien oder beim ›Schlendern durch die Schanze‹ möglich, andererseits lädt das medial erzeugte Narrativ des widerständigen, transgressiven und devianten Raums Konsumentinnen zu einem Besuch der Sternschanze ein, ohne dass ein damit verbundenes aktuelles Geschehnis zu erwarten sei. Die reine Anwesenheit in einem so geframten Raum befriedigt das Bedürfnis nach Konsum von gefühlter Authentizität und Spannung als Teil moderner Subjektivierung, während bei tatsächlicher Devianz die Hürde von Konsumentinnen, sich an ihr zu beteiligen, nicht nur gesunken ist, sondern die Transgression auch willentlich in Kauf genommen wird, was die Plünderungen von angrenzenden Läden während des G20-Gipfels von unpolitischen Trittbrettfahrerinnen unterstreicht. Auch wenn es seit 2017 und während den Pandemiejahre deutlich ruhiger in der Berichterstattung sowie um Demonstrationen und Proteste geworden ist, das von allen untersuchten Medien erzeugte Bild zeigt, es könnte jederzeit wieder etwas passieren. Die Aufnahme weiterer widerständiger Räume in das Repertoire von hamburg.de im Zeitraum zwischen den Untersuchungspunkten belegt, dass diese nonkonformen Räume mit ihrer erlebbaren widerständigen Geschichte und Gegenwart, essenzieller Bestandteil für die Konstruktion des Images des ›authentischen alternativen Hamburgs‹ sind. Die durch die Medien erzeugte Stimmung von konsumierbarer Spannung und Authentizität ermöglicht die Umwandlung in ortsgebundenes kulturelles Kapital entgegen der Absicht der Aktivistinnen und erzeugt mit der Roten Flora einen weiteren weichen Standortfaktor für eine Touristifizierung in die Sternschanze.

Ausblick Die Gruppierungen der Roten Flora sind sich darüber im Klaren, dass ihr Handeln sowie die partikulare historische Bausubstanz auf absurde Weise Teil der Aufwertung der Sternschanze sind, bleiben dabei bis zu einem gewissen Grad jedoch ohnmächtig, da die kapitalistische Romantisierung der Protestkultur nicht von ihrer Seite abgewendet werden kann. Da auch ein kurzfristiges Entfärben des erzeugten Bildes nicht realistisch ist, wird dieses in der eigenen Rhetorik mit Sarkasmus adressiert und der Fokus eher auf die Kritik anderer

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städtischer Prozesse und Bauvorhaben sowie Positionierung zu internationalen politischen Geschehnissen gelenkt. Um eine weitere Entpolitisierung und Aufnahme in den Mainstream entgegenzuwirken, entscheidet sich das Kollektiv der Roten Flora nach wie vor gegen eine Annahme von öffentlichen Geldern, da es bei anderen Fällen autonomer Projekte zu einer Assimilation in öffentliches Kulturgut geführt hat, nachdem Projekte von städtischer Seite finanziert worden und ein ›gemeinsamer Weg‹ angestrebt wurde (vgl. Birke 2014; Blechschmidt 2007; Rote Flora 2001, 2011, 2022). Die Situation um die Rote Flora zeigt, dass politischer Widerstand und Deattraktivierungsstrategien keinen Schutz vor Aufwertung und Verdrängung bieten und Städte sowie Wirtschaftsakteurinnen deren Kommodifizierung zur eigenen Imageerzeugung nutzen. Daraus geht hervor, dass ein Kampf für gerechte, inklusive und zugängliche Städte von allen Seiten geführt und politische und gesetzliche Garantien geschaffen werden müssen, um Verdrängung und Exklusion langfristig zu verhindern, während eine breite Partizipation der Bürgerinnen beim Erstellen dieser Grundlagen zu erreichen ist.

Literatur Birke, Peter (2014): »Autonome Sehenswürdigkeit. Die Rote Flora und die Hamburger Stadtentwicklung seit den späten 1980er Jahren«, in: Sozial. Geschichte Online (13), S. 80–104. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:h bz:464-20140530-141748-4 (Zugriff 13.01.2023). Blechschmidt, Andreas (2007): »Die Rote Flora im Hamburger Alltag: Störoder Standortfaktor?«, in: Peter Birke/Chris Holmsted Larsen (Hg.), Besetze Deine Stadt. Häuserkämpfe und Stadtentwicklung in Kopenhagen, Berlin: Assoziation A, S. 190–198. Bundesministerium des Innern und für Heimat (2017): Linksextremismus. https://www.bmi.bund.de/DE/themen/sicherheit/extremismus/lin ksextremismus/linksextremismus-node.html (Zugriff 11.12.2022). Cohen, Stanley (2011): Folk Devils and Moral Panics. The Creation of the Mods and Rockers, London/New York: Routledge. Decker, Eva/Schilling, Jörg (2015): Flora – Theater am Schulterblatt, Hamburg: Schaff-Verlag (= Hamburger Bauheft, Nr. 10). della Porta, Donatella/Reiter, Herbert (2006): »The Policing of Transnational Protest: A Conclusion«, in: Donatella della Porta/Abby Peterson/Herbert

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Anhang Tabelle 1: Untersuchte Reiseführer Quelle

Format

Bohlmann-Modersohn, Marina (2020): Hamburg. MERIAN Reiseführer – Mit Extra-Karte zum Herausnehmen, München: Merian/Holiday ein Imprint von GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH.

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Dohnke, Kay (2019): Hamburg (= ADAC Reiseführer plus), München: GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH.

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Frey, Elke (2019): Hamburg on tour (= POLYGLOTT on tour), München: GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH.

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Fründt, Hans-Jürgen (2010): CityTrip Hamburg. Mit großem CityAtlas (= Reise Know-how), Bielefeld: Reise-Know-How-Verl. Rump.

Digital

Heintze, Dorothea/Riege-Schmickler, Manuela (2019): Hamburg (= Baedeker SMART), Ostfildern: Verlag Karl Baedeker.

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Höhne, Wieland/Missler, Eva (2016): Hamburg (= Baedeker Wissen), Ostfildern: Verlag Karl Baedeker.

Digital

Iwanowski, Michael (Hg.) (2016): 101 Hamburg. Geheimtipps und TopZiele, Dormagen: Iwanowski’s Reisebuchverl.

Digital

Kobiella, Rayka (2020): DuMont Reise-Taschenbuch Reiseführer Hamburg (= DuMont REISE-TASCHENBUCH), Ostfildern: DuMont Reiseverlag.

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Kröner, Matthias (2019): Hamburg (= MM-City), Erlangen: Michael Müller Verlag GmbH.

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Kröner, Matthias (2020): Hamburg. Stadtabenteuer (= Reiseführer), Erlangen: Michael Müller Verlag.

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Die Rote Flora als Touristifizierungstreiberin?

Tabelle 2: Untersuchte Webseiten Abkürzung im Text

Webseiten (Zugriff 15.12.2022) hamburg.de

hamburg.de 2022a

»Rote Flora Disco/Musik Club Hamburg Sternschanze«. https://www.hamburg.de/branchenbuch/hamburg/eintrag/10243 727/

hamburg.de 2022b

»Rote Flora Tickets«. https://www.hamburg.de/tickets/l/801/rote-flora.html

hamburg.de 2022c

»Rote Flora: Linksextremismus«. https://www.hamburg.de/innenbehoerde/linksextremismus/905 1618/rote-flora/

hamburg.de 2022d

»Linksextremismus«. https://www.hamburg.de/innenbehoerde/linksextremismus/

hamburg.de 2022e

»Linksextremistische Zentren in Hamburg«. https://www.hamburg.de/innenbehoerde/linksextremismus/2313 82/linksextremistische-zentren-in-hamburg/ (Zugriff 15.12.2022)

hamburg.de 2022f

»Rote Flora – Baudenkmal«. https://www.hamburg.de/altona/baudenkmaeler/2847040/rotefl ora/

hamburg.de 2022g

»Sternschanze – Hamburger Stadtteile«. https://www.hamburg.de/sternschanze

hamburg.de 2022h

Ein kunterbuntes Viertel mit eigensinnigen Bewohnern«. https://www.hamburg.de/sehenswertes-sternschanze/2091158/st ernschanze-sehenswertes/

hamburg.de 2022i

»Schanzenviertel – Sternschanze – Schanze«. https://www.hamburg.de/schanzenviertel hamburg.com

hamburg.com 2022a

»Alternative Sights in Hamburg«. https://www.hamburg.com/alternative/

hamburg.com 2022b

»Rote Flora Cultural Centre«. https://www.hamburg.com/alternative/11747588/rote-flora/

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Abkürzung im Text

Webseiten (Zugriff 15.12.2022) hamburg.com

hamburg.com 2022c

»Schanzenviertel«. https://www.hamburg.com/residents/neighbourhoods/11751068/ schanzenviertel/ Hamburg Tourismus

Hamburg Tourismus 2022a

»Stadtteilportrait: Sternschanze & Karoviertel«. https://www.hamburg-tourism.de/das-ist-hamburg/stadtteile/st ernschanze-karoviertel/

Hamburg Tourismus 2022b

»Rote Flora und Schulterblatt – Pulsierendes Viertel«. https://www.hamburg-tourism.de/sehen-erleben/sehenswuerdi gkeiten/rote-​flora/

Hamburg Tourismus 2022c

»Ein Tag in Sternschanze & Karoviertel«. https://www.hamburg-tourism.de/magazin/ein-tag-in-sternscha nze-karoviertel-unterwegs-mit-petra-langemeyer/

Hamburg Tourismus 2022d

»Rote Flora und Schulterblatt«. https://www.hamburg-travel.com/see-explore/sightseeing/rote-f lora/

Hamburg Tourismus 2022e

»Kulinarische Stadtführung im Schanzenviertel«. https://www.hamburg-tourism.de/sehen-erleben/rundfahrten-fu ehrungen/stadtfuehrungen/sternschanze-kulinarisch-die-food-t our/

Diese Wand bleibt bunt Lokale Identifikation über Street-Art Anna Möllgaard

Das Jahr 2008 ist für die Sternschanze insofern von besonderer Bedeutung, als dass sie zu diesem Zeitpunkt zu einem eigenständigen Stadtteil erklärt und dem Bezirk Altona zugeordnet wurde (vgl. Siebecke 2012: 7). Auch fuhren gerade in diesem Jahr die Kameras von Google Street View durch die Straßen und ließen zu Beginn dieses neuen historischen Abschnittes die Zeit hier, zumindest auf virtueller Ebene, stillstehen. ›Begeht‹ man nun über den Besuch der Website die Sternschanze, so fällt im direkten Vergleich auf: An den Fassaden der Häuser ist es bunter geworden innerhalb der letzten 14 Jahre. Stencils, Pasteups, Sticker und Kacheln – die Street-Art, welche bereits auf den Aufnahmen von 2008 zu sehen ist, hat sich mittlerweile immer weiter ausgebreitet. Auch die Popularität der Millerntor Gallery, die in diesem Jahr bereits zum zehnten Mal stattfand, deutet auf ein wachsendes allgemeines Interesse an der Kunstform hin. Das Festival mit dem Fokus auf Street-Art und Graffiti, das erstmals 2011 durch den gemeinnützigen Verein Viva con Agua de Sankt Pauli e.V. sowie den Fußballclub Sankt Pauli initiiert wurde, lockt jährlich etwa 17.000 Besucherinnen in das Stadion des Vereins, welches in unmittelbarer Nähe der Sternschanze gelegen ist. Die Veranstalterinnen haben es sich zum Ziel gesetzt, Spendengelder für internationale Trinkwasserprojekte zu generieren. In ihrem Artikel für den Katalog zur sechsten Millerntor Gallery schreibt die Kunsthistorikerin Corinne Küllenberg über die rege Teilhabe an derartigen Projekten: »Die Partizipation und das Interesse unterschiedlichster Menschen verdeutlicht den Wunsch nach Selbstwirksamkeit und Identifikation mit der Umgebung. Es zeigt, dass es Bedarf gibt, sein Umfeld aktiv zu gestalten und sich anzunähern: an den urbanen Lebensraum, aber auch an seine Nachbarn.« (Küllenberg 2016: 83)

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Küllenberg betrachtet Street-Art im Zuge dessen als Rückeroberung des urbanen Raumes, welche sich in Folge einer artifiziellen, austauschbaren Stadtplanung einer Entfremdung der Anwohnerinnen von ihrer Umgebung entgegensetzt (vgl. ebd.). Betrachtet man die Hamburger Sternschanze und ihre unmittelbare Umgebung, so sind tatsächlich erhebliche Veränderungen des städtischen Raumes zu beobachten, die auf einen zunehmenden Verlust von Individualität zugunsten einer fortschreitenden städtischen Kommerzialisierung und Eventisierung hindeuten. So begann beispielsweise im vergangenen Jahr – unter dem Protest lokaler Initiativen – der Abriss der Gewerbehöfe am Neuen Pferdemarkt, in denen zuvor ein indisches Restaurant, ein Tonstudio und eine Autowerkstatt angesiedelt waren. Es soll an dieser Stelle mit dem Paulihaus ein mehrstöckiger Bürokomplex mit einigen neuen Gewerbeflächen im Erdgeschoss entstehen. Auch in der angrenzenden Feldstraße verändert sich das Stadtbild derzeit erheblich und wird dabei zunehmend den Ansprüchen angepasst, welche an die Umgebung als touristischen Hotspot gestellt werden. So wurde der dort gelegene Hochbunker, in welchem sich verschiedene Akteurinnen der Medien- und Kulturszene niedergelassen haben, in den letzten Monaten um weitere fünf Etagen aufgestockt. Die zusätzlich entstandene Fläche soll nach ihrem Ausbau unter anderem Gastronomiebetriebe und ein Hard Rock Hotel beherbergen. Gleichzeitig soll das benachbarte Heiligengeistfeld, welches abseits von Großveranstaltungen wie dem Hamburger Dom zuletzt von Anwohnerinnen als Freizeitfläche genutzt wurde, nach einem Eigentümerwechsel nun wieder vermehrt zu einem Großparkplatz werden. Wird Street-Art also als ein Element betrachtet, über welches sich sowohl zwischenmenschlich als auch in Bezug auf den eigenen Lebensraum ein Gefühl von Zugehörigkeit reproduzieren lässt und über das sich lokale Identifikation konstituiert, so erscheint es gerade vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen plausibel, dass die Motivation zur Gestaltung von StreetArt und das rege Interesse an dieser Kunstform im Bereich der Sternschanze auch hiermit zu begründen sind. Im Folgenden soll daher näher betrachtet werden, inwiefern ein solches Potenzial der Street-Art im Kontext des Hamburger Schanzenviertels tatsächlich zum Tragen kommt. Dabei soll sich auch auf Berichte von Anwohnerinnen und Personen der Szene bezogen werden. Es ist im Zuge dessen nicht außer Acht zu lassen, dass Street-Art, insbesondere außerhalb des geschützten Rahmens des Festivals, auch Konflikte aufwirft. So vielfältig wie die Materialien, Stile, Farben und Motive und so unterschiedlich wie die Intentionen ihrer Urheberinnen, so divers sind im großstäd-

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tischen Alltag auch die Interessen und Bedürfnisse der von dem Phänomen bedingten Akteurinnen. Prozesse der Identifikation spielen sich jedoch gerade auch innerhalb von Dynamiken des Widerstandes und der Abgrenzung ab und werden von ihnen beeinflusst.

Entwicklung der Street-Art im öffentlichen Raum

Abbildung 1 (links): Paste-up (2020); Abbildung 2 (Mitte): Kachel (2020); Abbildung 3 (rechts): Ton (2020)

Fotos: Anna Möllgaard

Die Kulturwissenschaftlerin Julia Reinecke, die bereits 2007 eine umfangreiche qualitative Analyse zur Verortung der Street-Art zwischen Graffiti, bildender Kunst und Werbung veröffentlichte, erläutert, dass die Street-Art ein internationales Phänomen sei, dessen Ausbreitung in etwa seit 2000 zunehmend im öffentlichen Raum und insbesondere in gentrifizierten Gegenden zu beobachten sei (vgl. Reinecke 2012: 17). Als Ursprung der Street-Art, bei deren Ausübung die Akteurinnen ihre Motive, genannt Pieces, ungefragt im öffentlichen Raum anbringen, sei das Graffiti-Writing zu betrachten, welches sich in den 70er Jahren in den amerikanischen Großstädten etabliert habe (vgl. ebd.: 17f.). Dabei zeichnet sich die Street-Art durch die Vielzahl an Techniken aus, auf die von den Künstlerinnen zurückgegriffen wird. Gearbeitet wird zum Beispiel mit Plakaten oder auch mit Bildausschnitten, sogenannten Cut-Outs, welche mit Kleister angebracht werden. Auch bereits Vorhandenes wird von den Künstlerinnen verfremdet. Dies geschieht zum Beispiel beim sogenannten adbusting, der Intervention an Werbemedien. Besonders häufig zu sehen sind mit

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Hilfe von Schablonen erstellte Stencils, jedoch auch der direkte Farbauftrag mit dem Pinsel, der Spraydose oder der Malerrolle. Darüber hinaus werden Kacheln und verschiedene andere Materialien wie zum Beispiel Ton genutzt. So entstehen auch Skulpturen und Installationen. Die Street-Art wird dabei nicht nur an Fassaden, sondern auch an Laternen, ausrangierten Möbeln, Stromkästen, Mülleimern und anderen verfügbaren Flächen angebracht. Der Begriff Street-Art habe sich laut Reinecke als hauptsächlicher Terminus insbesondere deshalb durchgesetzt, weil er verstärkt durch Magazine, Fernsehberichte und andere Medien aufgegriffen worden sei (vgl. Reinecke 2012: 22). Allerdings erfahre er auch Kritik, die beispielsweise damit zusammenhinge, dass einige Akteurinnen sich explizit nicht als Künstlerinnen verstünden (vgl. ebd.: 23). Es existieren jedoch auch eine Reihe alternativer Begriffe. Reinecke nennt als einen relevanten Terminus, der auch die Herkunftsgeschichte des Phänomens aufzeigt, zum Beispiel Post-Graffiti (vgl. ebd.: 24). Eine weitere Möglichkeit, die Verknüpfung von Street-Art und Graffiti hervorzuheben, stellt die Verwendung einer kollektiven Bezeichnung wie Urban Art dar, welche beide Phänomene zusammenfasst. Letztlich verdeutlichen sowohl derartige Lösungen in Bezug auf die sprachliche Einordnung als auch einige der beschriebenen Gestaltungstechniken, wie eng Street-Art und Graffiti-Writing miteinander verbunden sind. Dieses Zusammenspiel spiegelt sich auch im Stadtbild der Sternschanze wider. Eine vollkommen isolierte Betrachtung der Street-Art ist demnach nicht möglich.

Raumbezogene Identifikation Bei der Beschäftigung mit verschiedenen theoretischen Überlegungen zu raumbezogenen Prozessen der Identifikation wird deutlich, dass das Sichmit-etwas-Identifizieren als einer von drei Teilaspekten aufgefasst wird, aus denen sich in ihrer Gesamtheit eine Identität konstituiert. Der österreichische Sozialgeograph Peter Weichhart schlug dazu 1990 erstmals sein Konzept der raumbezogenen Identität vor. Weichharts Überlegungen basieren auf der Bedeutung des Begriffes der Identität innerhalb des psychologischen Konzepts der multiplen Identität und den theoretischen Ausführungen des Psychologen Carl-Friedrich Graumann hierzu. Nach Graumann konstituiert sich Identität aus drei grundlegenden mentalen Vorgängen: Zum einen ist dies die Wahrnehmung der eigenen Umwelt, welche stets mit einer Kategorisierung dieser einhergeht. Darüber hinaus wird, dies ist der zweite Identifikationsvorgang,

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gleichzeitig jeder Mensch von Geburt an selbst zum Gegenstand einer Identifikation, wobei er kategorisiert, mit Zuschreibungen und Attributen versehen und auf gewisse Art und Weise benannt wird. Der dritte Prozess ist nach Graumann die Identifikation mit der eigenen Umwelt, da eine Person auch einen anderen Menschen, ein Objekt oder ein Ereignis auf die eigene IchIdentität beziehen kann. Im Zuge dessen wird zum Beispiel die soziale Zugehörigkeit konstruiert (vgl. Graumann 1983: 309–321). Diese beschriebenen Prozesse der Identifikation überträgt Weichhart in seiner Theorie erstmals explizit auf räumliche Aspekte. Dabei betont er, dass die beschriebenen Vorgänge auch im Rahmen von raumbezogener kollektiver Identität Bedeutung hätten, wenn bestimmte Raumausschnitte als Bestandteil eines Wir-Gefühls aufgefasst würden (vgl. Weichhart/Weiske/Werlen 2006: 36). Ralph Richter fasst hierzu zusammen: »Der individuelle Bezug zu Orten und Räumen ist bei Weichhart Teil des menschlichen Selbstkonzeptes. Jedoch erweitert er die Perspektive und betrachtet raumbezogene Identität auch als Bestandteil kollektiver Identitäten.« (Richter 2013: 13) Der dargelegte theoretische Rahmen zeigt auf, dass das Sich-mit-der-Umgebung-Identifizieren auch für die wahrgenommene Stadtteilidentität1 eine zentrale Bedeutung einnimmt. Lokale Merkmale, auf denen eine solche Identifikation aufbaut, sind dabei prägend. Ein Modell, welches sich auf die dargelegten Ideen bezieht, ist das des Österreichers Leo Baumfeld. Dieser veröffentlichte 2011 eine Formel, welche die Dichte der Identität einer Region beschreiben soll und sich aus drei Aspekten zusammensetzt. Dabei bezieht sich das X, welches für identification of steht, auf regionale Merkmale, welche entweder auf den Regeln der Zusammenarbeit, den bestehenden Traditionen, den besonderen Fähigkeiten oder dem gegebenen, materiellen Raum basieren (vgl. Baumfeld 2011: 5f.). Baumfeld geht zudem davon aus, dass jede Region ganz bestimmte individuelle Bindungsmerkmale aufweist, welche sich in soziale, kulturelle und ökonomische Merkmale einteilen lassen. Er spricht von Bindungsmerkmalen (Y), da sie über Dichte und Intensität der Beziehung und damit die empfundene Zugehörigkeit der Menschen zu ihrer Region bestimmen (vgl. ebd.: 6). Als drittes Element steht das Z für die nicht weniger wichtigen Zuschreibungen,

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Hier ist bewusst nicht von einer festgeschriebenen, objektiv erfassbaren, sondern von einer wahrgenommenen Stadtteilidentität die Rede, da von einer prozesshaften Identitätsauffassung ausgegangen wird, wie sie der Soziologe und Kulturtheoretiker Stuart Hall im Kontext der englischen Cultural Studies geprägt hat (vgl. Hall 1994: 183).

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durch welche die Region zum Beispiel von anderen Personen oder Medien charakterisiert wird (vgl. ebd.: 9). Um also herauszufinden, inwiefern sich Street-Art als identifikationsstiftendes Element betrachten lässt, soll im Folgenden ein Ausschnitt des baumfeldschen Modells auf den Untersuchungsgegenstand und den Kontext des Stadtviertels übertragen werden. Es wird sich dabei auf das Element Y bezogen, welches jene Merkmale einbezieht, die über ein Erlebnis der Zugehörigkeit eine Identifikation mit einer räumlichen Bezugseinheit bewirken. Da es sich, wie bereits beschrieben, um Elemente oder Merkmale handelt, die entweder im kulturellen, sozialen oder ökonomischen Sinne für diese Identifikation von Bedeutung sind, soll das Phänomen Street-Art auf eben diesen drei Ebenen betrachtet werden.

Die kulturelle Ebene Mit der zunehmenden Popularität der Street-Art ist auch die Entstehung von Institutionen in Form von Galerien oder Vereinen zu beobachten. Möchte man untersuchen, inwiefern die Street-Art auf kultureller Ebene eine Identifikation mit dem Stadtteil vermittelt, liegt also die Frage nach solchen Institutionen und ihren Wirkungsweisen nahe. Einen wichtigen Beitrag zur generellen Etablierung, aber auch zur Institutionalisierung von Street-Art und Graffiti im Viertel hat sicherlich die OZMGalerie (One-Zero-More-Galerie) geleistet. Die Galerie in der Bartelsstraße wurde 2018 abgerissen, um Platz für den Bau neuer Wohnungen zu schaffen. Sie war über ein Jahrzehnt hinweg ein wichtiger Anlaufpunkt der Szene. Graffiti- und Street-Art-Größen, wie beispielsweise der verstorbene Hamburger Writer Oz, beteiligten sich an Ausstellungen und schufen letztlich ein Gesamtkunstwerk, welches sich über vier Etagen des Hauses erstreckte. Vor dem Abriss wurde dieses von dem Begründer Alex Heimkind dokumentiert und als VR-Rundgang aufbereitet. Die Galerie ist nun in den Stadtteil Hammerbrook weitergezogen. In der näheren geografischen Umgebung der Sternschanze haben sich mittlerweile – neben der bereits eingangs erwähnten Millerntor Gallery – noch weitere Adressen herausgebildet, welche als Anlaufpunkte für Street-Art fungieren. So hat sich zum Beispiel die Street-Art-Künstlerin Marambolage mit ihrem Zauberei-Atelier im angrenzenden Karolinenviertel niedergelassen, wo sie an ihren Projekten arbeitet, aber auch Interessierten die Street-Art,

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zum Beispiel in Form von Workshops, näherbringt. Auch haben sich in den benachbarten Stadtteilen Orte wie der Art Store des Künstlers Rebelzer, die Affenfaustgalerie oder die Urbanshitgallery herausgebildet. Ein weiteres Projekt ist die 2015 gegründete Street Art School, deren Räume in der Rindermarkthalle zu finden sind. Der Verein wirkt nach außen, indem er die Leidenschaft für Street-Art sowie das Wissen über die Kunstform vermittelt. Gleichzeitig bietet er den Künstlerinnen die Möglichkeit, sich über ein offenes Atelier zu vernetzen. Der Street-Art-Künstler El Boso berichtet zum Beispiel, wie sein Einstieg in die Street-Art durch die Institution geprägt wurde. Der erste Kontakt zur School sei durch die Teilnahme an einer themenbezogenen Stadtteilführung zustande gekommen: »Und dann bin ich irgendwie ein paar Wochen später hier hingetigert und seitdem bin ich da voll drin und mir macht das voll Spaß. Am Anfang noch hauptsächlich Graffiti gemacht, aber dann nur auf so einer eigenen Vorstellungs-Basis, also wie man sich vorstellt, wie Graffiti aussieht und danach auch in dem Bereich Street-Art angefangen was zu machen […] Ich habe dann irgendwie mein Pseudonym und Künstlernamen gefunden und habe dann nach und nach hier auch die Kontakte geknüpft.«2 Diese Erzählung verdeutlicht, dass die Street Art School lokalen Akteurinnen die Möglichkeit gibt, über Street-Art Teil einer ortsbezogenen Gemeinschaft zu sein und die Street-Art zudem denjenigen näherbringt, die (noch) nicht Teil dieser Gemeinschaft sind. Dass sich die Street Art School bereits an der Millerntor Gallery beteiligte, zeigt zudem, dass lokale Institutionen auch untereinander interagieren. Es lässt sich allerdings nicht allein aufgrund des Standortes sagen, inwieweit die Millerntor Gallery ein Erlebnis der Zugehörigkeit im Hinblick auf die Gegend bewirkt, da das Festival sich nicht primär auf lokale StreetArt und auf lokale Themen bezieht. Es kann aber durch die Teilnahme lokaler Künstlerinnen sowie durch die Beteiligung lokaler Szenen sicherlich von einer gewissen lokalen Ebene ausgegangen werden, welche im Rahmen des Festivals künstlerisch vermittelt wird. Die Street-Art-Kultur wird jedoch nicht nur über derartige Institutionen im Viertel verankert. Auch soziale Medien und insbesondere das bildbasierte Netzwerk Instagram sind für sie im Viertel von Bedeutung. Die Kunst auf der Straße wird über diesen Weg in Echtzeit aus dem Viertel hinausgetragen, da 2

Alle im Folgenden zitierten Interviews wurden im Zeitraum Juni bis Dezember 2019 durchgeführt.

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sie mit Hilfe von Handykameras schnell fotografiert, über die Apps verschlagwortet sowie mit einem Standort verknüpft werden kann. Im Netz entsteht so eine Kombination aus Außendarstellung und Selbstzuschreibung, welche kollektiv und überwiegend anonym über die Partizipation der Touristinnen, Anwohnerinnen und der Künstlerinnen selbst gestaltet wird. Die fotografische Dokumentation der eigenen Pieces ist bereits vor der zunehmenden Digitalisierung eine gängige Praxis der Szene gewesen. Die nun durch die sozialen Medien hinzukommenden Möglichkeiten der digitalen Verbreitung bieten sich für die Künstlerinnen an. Während die Street-Art durch die Überführung in den digitalen Kontext neue Wirkungsmöglichkeiten erhalten kann, so kann sie natürlich auch in ihrer Wirkung eingeschränkt werden. Gleichzeitig wirken Onlinepraktiken auf das Phänomen zurück. Dies äußert sich zum Beispiel durch die Integration von Instagram-Nutzernamen in die Pieces, da die Verbreitungspraktiken bei der Erstellung der Street-Art bereits mitgedacht werden. Diese Dynamiken beschreibt die Kunst- und Medienwissenschaftlerin Katja Glaser. Sie betont in Street Art und neue Medien: Akteure – Praktiken – Ästhetiken: »Letztlich kommt es zu einem wechselseitigen Ineinandergreifen von Offlineund Onlinepraktiken, welche sich auch in die damit einhergehenden Ästhetiken einschreiben.« (Glaser 2017: 15f.) Es kann sicherlich von einer ortsbezogenen Bindung an den Stadtteil über eine Instagram-Praxis gesprochen werden, in welche Fotografie, Verschlagwortung sowie Kartierung eingebunden sind. Diese können die Nutzerinnen jedoch nur entwickeln, insofern der Ortsbezug im digitalen urbanen Raum tatsächlich erhalten bleibt oder durch eine Kontextualisierung wiederhergestellt werden kann.

Die soziale Ebene In einem Interview betont die Künstlerin Marambolage, deren Street-Art an diversen Plätzen im Schanzenviertel anzufinden ist, dass die Ausübung für sie und andere Akteurinnen aus ihrem Umfeld auch eine soziale Komponente beinhalte: »Ich treffe mich schon auch mit Leuten. Wir ziehen dann auch um die Häuser […] Also, wir kennen uns untereinander.« Marambolage berichtet zudem davon, dass auch abseits solcher gemeinsamen Street-Art-Runden in Form von Ausstellungen zusammengearbeitet werde. Als ein Beispiel für eine solche Aktion lässt sich eine im März 2022 durch den Street-Art-Künstler Rumo veranstaltete Ausstellung betrachten,

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an welcher sich neben Marambolage Künstlerinnen wie Neal, Marshal Arts, SIRO KRKN, Art.omato und Frau Jule beteiligten, deren Street-Art ebenfalls im Schanzenviertel zu finden ist. Oftmals haben derartige Ausstellungen einen gemeinnützigen Hintergrund. Auch in diesem Fall kam der Erlös Projekten zur Unterstützung ukrainischer Geflüchteter zugute.

Abbildung 4: Paste-up Sternbrücke (2022)

Foto: Marambolage

In der kreativen Ausgestaltung der Fassaden sind zum Teil auch Berührungspunkte von Graffiti und Street-Art und lokalen Szenen, wie zum Beispiel der Fußballszene, erkennbar. Andreas Grün beobachtet in Ultras und Graffiti – Ein Aufeinandertreffen zweier Subkulturen, dass bereits seit dem Aufkommen der Graffitipraxis eine Ausbreitung der Fangruppen im öffentlichen Raum erkennbar gewesen sei (vgl. Grün 2016: 165). Heute seien Graffiti, Street-Art und Ultras untrennbar verbunden. So würden nicht nur Ultras auf die Subkultur zurückgreifen, sondern es würden sich auch die Personenkreise überschneiden (vgl. ebd.: 170). Auch für die Antifa seien Street-Art und Graffiti, insbe-

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sondere als Kommunikationsstrategien, von Bedeutung, wie die Autorin Laura Naegler in ihrer Publikation Gentrification and resistance betont (vgl. Naegler 2012: 109). Es lässt sich also beobachten, dass Street-Art durch ein gemeinnütziges Engagement, den Kontakt zu lokalen Szenen sowie durch die Möglichkeit der gemeinsamen Ausübung auf der Straße in das soziale Gefüge des Stadtteils eingebunden ist und so die Bindung und Identifikation der in diese Aktivitäten einbezogenen Personen mitgestaltet. Ein weiterer sozialer Aspekt betrifft insbesondere die kommunikative Funktion der Street-Art im Viertel. Abgesehen davon, dass durch die StreetArt fortwährend ein Diskurs über die Stadtteil-Identität existiert, indem die Künstlerinnen an der Wand darüber verhandeln, welche Themen und Motive das Stadtbild hier prägen, werden auch explizit lokale Themen aufgegriffen. Ein Beispiel hierfür ist die Debatte um den Erhalt der vom Abriss bedrohten Sternbrücke, welche von Marambolage in Form eines Paste-ups thematisiert wurde. Laut Naegler dient die Street-Art gerade auch dazu, Entwicklungen sichtbar zu machen, welche sich im Viertel vollzögen und dabei nicht unbedingt für die Allgemeinheit ersichtlich seien. So würde sie, zum Beispiel über verfremdete Straßenschilder oder ähnliche kreative Interventionen, auf die vermehrte Überwachung des öffentlichen Raumes durch im Schanzenviertel angebrachte Kameras und in Zivil gekleidete Polizeibeamtinnen hinweisen (vgl. Naegler 2012: 110f.). Es werden aber nicht nur lokale Themen aufgegriffen. Auch an Klima- und EU-politischen Entscheidungen wird beispielsweise Kritik geübt. Darüber hinaus werden gesellschaftskritische Themen wie der Umgang mit psychischer Gesundheit oder die Enttabuisierung der Menstruation angesprochen. Doch benötigt Street-Art immer einen politischen, aktivistischen Bezug? Marambolage, die sich mit eigenen Projekten regelmäßig für gemeinnützige Zwecke einsetzt, betont hierzu, dass die politische Ebene auf jeden Fall einen Aspekt der Street-Art darstellen könne, jedoch nicht ausschließlich daran geknüpft sein müsse: »Das kann auch ganz ohne sein. Da kann ich einfach eine Blume malen und irgendwo hinkleben. […] Wenn jemand vorbeiläuft […] denkt der: Oh, ist doch nett […] Aber wenn es natürlich politische Sachen gibt, die mich voll mitnehmen, […] dann mache ich dazu auch Aktionen.«

Diese Wand bleibt bunt

Abbildung 5: Paste-up El Bocho (2020)

Abbildung 6: Fliese Haekelbar (2020)

Fotos: Anna Möllgaard

Dass es den Urheberinnen der Street-Art teilweise auch lediglich um die Freude an der Gestaltung des Stadtbildes geht, bestätigt auch El Boso, indem er betont: »Aber es gibt auch viele Leute, darunter zähle ich mich in den meisten Fällen auch, die halt ihren Kram machen und sagen: Sieht cool aus, was ich jetzt gemalt oder gesprüht habe. Und die hängen oder kleben das raus oder malen das draußen auf die Wand, einfach nur damit das cool aussieht.« Trotzdem liegt auch dieser Motivation meist ein gewisses politisches Selbstverständnis zu Grunde. Durch ihr kreatives Engagement fordern die Künstlerinnen ihr Recht auf die Entscheidung hinsichtlich der Gestaltungsprinzipien ihres Stadtviertels sowie auch das Recht ein, auf kreative Weise gegen die vorherrschende Ästhetik zu protestieren. Die Street-Art-Künstlerinnen eignen sich den städtischen Raum dabei im Sinne einer von Henri Lefebvre geprägten Vorstellung von einem Recht auf Stadt an. In Le droit à la ville forderte der Soziologe 1968 das Recht auf Teilhabe an den Qualitäten einer urbanisierten Gesellschaft ein und verstand dies als kollektive, am Gebrauchswert der Stadt orientierte Wiederaneignung des städtischen Raumes (vgl. Gebhardt/

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Holm 2011: 7f.). Auch die Street-Art-Künstlerin Art.omato, die wie El Boso innerhalb der Street Art School aktiv ist, möchte durch das Anbringen ihrer Kunstwerke im öffentlichen Raum den Zugang zu Kreativität für alle Bewohnerinnen der Stadt ermöglichen: »Meine Hauptmotivation ist eigentlich, dass ich denke, dass Kunst barrierefrei sein sollte.«

Abbildung 7 (links): Paste-up Marambolage (2022); Abbildung 8 (Mitte): Styrocut El Boso (2019); Abbildung 9 (rechts): Paste-up Art.omato (2020)

Fotos: Marambolage, Anna Möllgaard, Art.omato

Es ist also festzuhalten, dass die politischen und gesellschaftskritischen Pieces die politische Kultur im Stadtteil prägen und dabei auch eine Identifikationsfläche bieten, die mit dem etablierten Narrativ der Sternschanze als politischem Viertel verknüpft ist. Parallel dazu findet jedoch auch ein Prozess der Identifikation statt, welcher sich lediglich durch die Freude an der StreetArt und an der kreativen Ausgestaltung des städtischen Raumes auszeichnet. Gleichzeitig identifizieren sich Künstlerinnen im Sinne einer Aneignung des städtischen Raumes mit ihrem Viertel.

Die ökonomische Ebene Der Sozialwissenschaftler Sascha Schierz schreibt in seiner Publikation Graffiti als ›doing Illegality‹. Perspektiven einer Cultural Criminology: »Während illegalen Graffiti im Rahmen städtischer Aufwertungskampagnen immer noch der Kampf als ›Schmiererei‹ angesagt wird, kann es im Falle von Street Art anders aussehen. Sie zu entfernen, scheint gegebenenfalls

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fatal, dient sie im Rahmen einer leicht verständlichen und zugänglichen Ästhetik doch gerade auch als Hinweis auf eine ehemals vorherrschende und als authentisch wahrgenommene, alternative Färbung eines Quartiers, das sich durch Differenz und Toleranz auszeichnet und so auch vermarkten lässt.« (Schierz 2014: 50) Ist Street-Art also ein im Viertel durchweg erwünschtes Phänomen, da es einem profitablen Image entspricht? Die Instagram-Praxis der Akteurinnen, die ihre Street-Art online veröffentlichen, lässt vermuten, dass es relativ wenig Scheu vor strafrechtlicher Verfolgung und Repressionen zu geben scheint, da die Ausübung auf der Straße teilweise recht offen gezeigt wird. Art.omato berichtet zudem, dass es zumindest in Bezug auf wieder entfernbare Paste-ups, wenig Konflikte mit Anwohnerinnen und Eigentümerinnen gebe: »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Resonanz sehr positiv ist. […] Ich klebe teilweise auch tagsüber, weil ich eben an Stellen klebe, wo es Niemandem weh tut.« Trotz dieser offenbar überwiegend positiven Grundhaltung, müssen die Künstlerinnen durchaus mit Repressionen rechnen, wie Marambolage betont: »Jedes Paste-up, jeder Sticker ist strafbar. Das ist einfach so. Klar ist es nicht so schlimm wie Graffiti.« Sie ergänzt hierzu jedoch: »Mein Tipp, einfach vorher fragen. Die meisten Läden oder Hausbesitzer haben gar nichts dagegen und freuen sich über die Kunst.« Trotzdem lassen sich im öffentlichen Raum auch Schutzmaßnahmen erkennen – zum Beispiel in Form von Gittern an den Fassaden. Die Einstufung der Street-Art als Vandalismus scheint demnach durchaus Bestandteil der Innenzuschreibung im Viertel zu sein. Im Interview mit El Boso zeigt sich jedoch, dass dieser nicht von einer vollständigen Verdrängung der Street-Art ausgeht, da er nach einer größeren Entfernungs-Aktion erlebt hat, dass die lokalen Künstlerinnen sofort mit einer Steigerung ihrer Produktivität reagierten: »Je mehr abgemacht wird, desto mehr kleben wir hinterher. Das hat man da sofort gesehen. Da ist halt die doppelte Schicht an Stickern drauf, seitdem sie das gemacht haben.« Auch Marambolage erinnert sich an das Ereignis und hat hierzu eine klare Meinung: »Wenn ihr das an der Messe wegmacht oder was weiß ich, Mönkeberg – das stört ja hier keinen. Aber das man einfach das Street-Art-Viertel mal so sein lässt.«

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Abbildung 10: Graffito ABC Wong (2020) Abbildung 11: Mural Stefan Marx (2019)

Fotos: Anna Möllgaard

Während der Street-Art also an bestimmten Stellen mit verschiedenen Mitteln entgegengewirkt wird, ist ihre Ästhetik anderswo, wie von Schierz ausgeführt, äußerst willkommen. Sie wird teilweise sogar bewusst aufgegriffen und imitiert. So gestaltete die Deutsche Bahn 2019 den S-Bahnhof der Station Sternschanze neu und ließ eine Glasfront anfertigen, die an StreetArt erinnert. Auch wurde der Künstler ABC Wong dazu beauftragt, ein großflächiges Graffito im Bereich des Bahnsteiges anzufertigen. Diese Strategie bringt natürlich auch die Möglichkeit mit sich, eine gewisse Kontrolle über die Fassade auszuüben, da sie eine Gestaltung durch andere Street-Art-Künstlerinnen mit unerwünschten Inhalten unwahrscheinlicher macht. Auch der Optiker ace&tate, eine niederländische Kette, welche Anfang 2017 im Viertel eine Filiale eröffnet hat, ließ das Innendesign von dem Hamburger Künstler Stefan Marx übernehmen, dessen Karriere als Graffiti-Writer begann und der sich mittlerweile in der Kunstszene einen Namen gemacht hat. Er gestaltete ein Mural und Neonlicht-Installationen für den Shop. Ein Beispiel aus dem touristischen Bereich ist außerdem die Adaption einer Street-Art-Ästhetik durch das Pyjama Park Hotel und Hostel, welches die Street-Art ebenfalls in die Hotelgestaltung und in seine Corporate Identity ein-

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bezogen hat. Das Hotel hat 2016 eine Dependance in der Bartelsstraße eröffnet und stieß auf heftige Gegenwehr vieler Anwohnerinnen, da dem Betreiber die Verdrängung des Restaurants Schanzenstern sowie des alternativen Projektes Schanzenhof vorgeworfen wurde. Darüber hinaus sind Marketing-Aktionen im Viertel zu beobachten, welche mit Stickern, Paste-ups oder Murals für ihre Produkte werben. Laut Julia Reinecke werden seit 2003 in Großstädten wie Hamburg und Berlin sowie ganz besonders in London, Paris und New York derartige Strategien von größeren Konzernen verfolgt (vgl. Reinecke 2012: 166). Diese ungewöhnliche Platzierung von Werbung im Außenbereich ist als Guerilla-Marketing oder Ambient-Marketing zu bezeichnen und wurde durch den Amerikaner Jay Conrad Levinson begründet (vgl. ebd.: 167). Laut Marambolage sind derartige Werbemaßnahmen, welche sich die Street-Art aneignen, ohne einen tatsächlichen Bezug dazu zu haben, innerhalb der Szene nicht gerne gesehen: »Die werden auch von allen Street-Art-Künstlern abgerissen. Jeder hasst das.« Auch ein Manifest, welches die Street Art School im April 2015 veröffentlichte, betont gleich zu Beginn ein Paradigma der konsumkritischen Haltung in der lokalen Street-Art-Gemeinschaft, welches gerade einen Gegenentwurf zur Werbung darstellt: »Wir rückerobern ›unseren‹ öffentlichen Raum, geben Denkanstöße, spenden schöne Bilder, frische Farben, zaubern ein Lächeln auf’s Gesicht. Wir bringen Menschen dazu kurz innezuhalten im ewigen Hamsterrad des Arbeitens, in dem sie laufen um zu konsumieren, um zu arbeiten, um zu konsumieren […]«3 Gerade diese Haltung scheint die Street-Art im Viertel für die wirtschaftlichen Akteurinnen wiederum interessant zu machen. Julia Reinecke betont diesbezüglich, dass die Subkulturen, die sich am stärksten gegen eine kommerzielle Aneignung wehren würden, den höchsten Grad an Individualisierung mit sich brächten, was die Neugier der Unternehmerinnen in besonderem Maße wecke (vgl. Reinecke 2012: 173f.). Die Anziehung, welche die Street-Art offenbar auf ökonomische Akteurinnen ausübt, kann sicherlich als eine Begleiterscheinung einer kulturell vermittelten Aufwertung des Viertels betrachtet werden, wie sie bereits durch das Zitat von Schierz angesprochen wurde. Dabei wird Street-Art offenbar als ein Aspekt einer spezifischen Gesamtatmosphäre wahrgenommen. Insbesondere im Hinblick auf die Touristifizierung der Gegend scheint diese relevant zu sein. Wie die Autorinnen Verena Pfeiffer und 3

http://street-art-school.de/das-maniflex/ (Zugriff 14.01.2022).

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Sophia Döbbeling erläutern, entwickeln sich innenstädtische Wohngebiete zu touristischen Destinationen, indem anstelle von besonderen Sehenswürdigkeiten das spezifisch Lokale, die authentische Atmosphäre eines Stadtteils vermarktet wird (vgl. Pfeiffer/Döbbeling 2006: 8). Der Philosoph Gernot Böhme beschreibt eine urbane Atmosphäre in seinem Werk Architektur und Atmosphäre als etwas Subjektives, über das sich aber dennoch verständigt werden könne und welches das Lebensgefühl beeinflusse (vgl. Böhme 2006: 131–133). Eine solche Verständigung kann zum Beispiel so aussehen, dass der Stadtteil als besonders ›bunt‹ bezeichnet wird. Dies zeigt sich auch in den Interviews mit Anwohnerinnen der Sternschanze. So antwortet beispielsweise ein Anwohner auf die Frage, ob die Street-Art im Viertel eine bestimmte Atmosphäre kreiere: »Also, Atmosphäre, dass du irgendwo durchfährst und sagst: Hier fühle ich mich wohl, weil hier ist es irgendwie bunt und ein bisschen weniger gerade als bei den anderen Leuten.« In dieser Aussage wird zudem deutlich, dass eine Abgrenzung zu den ›anderen Leuten‹ vorgenommen wird. Identifikation scheint hier also auch über eine gewisse Differenzierung zu funktionieren. Letztlich zeigt sich hier aber: Die Street-Art trägt zu einer spezifischen Atmosphäre bei, welche über Zuschreibungen wie ›bunt‹ oder ›weniger gerade‹ greifbar wird. Die Street-Art muss daher im städtischen Marketing nicht zwangsläufig direkt beworben werden, es kann auch auf dieses Atmosphärische Bezug genommen werden. Auch auf visueller Ebene lässt sich eine solche Entwicklung beobachten. So gehen touristische Blogs, welche die Sternschanze ihrer Community nach einem Besuch als Ort alternativer Kultur vorstellen, zwar nicht unbedingt inhaltlich auf die Street-Art ein, binden Street-Art-Fotografie jedoch großzügig zur Bebilderung in ihre Beiträge ein, um eine authentische Gesamtatmosphäre zu transportieren. Eine Strategie, die nicht verwundert, denn wie Andreas Kagermeier in seiner Publikation Overtourism betont, nehmen soziale Medien eine zentrale Rolle als Informationskanäle eines New Urban Tourism ein (vgl. Kagermaier 2021: 28). Es wird ein Tourismus abseits der als ausgetreten empfundenen Pfade promotet, bei welchem die Besuchenden das Gefühl haben, sich unter die Anwohnerinnen mischen zu können. Einen besonderen touristischen Anziehungspunkt stellen zudem Events dar. Während bei Führungen, wie der eingangs von El Boso erwähnten Tour, vorrangig die Idee der StreetArt an Interessierte vermittelt wird, wird das Format der Street-Art-Tour auch kommerziell vereinnahmt. Der Journalist KP Flügel schildert dies in Free OZ! Streetart zwischen Revolte, Repression und Kommerz anhand der PR der Zigarettenmarke Gauloise, die eigene Street-Art-Touren im Rahmen einer Marketing-

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Aktion anbot. Dies stieß laut Flügel jedoch auf deutlichen Protest (vgl. Flügel 2014: 90). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass von der Zusammenarbeit mit PR-Agenturen bis hin zu Kooperationen mit anerkannten, lokalen Künstlerinnen viele Strategien der ökonomischen Aneignung von Street-Art zu existieren scheinen, die sich in ihrer Authentizität stark unterscheiden und daher von Unterstützung bis zu Widerstand auch ganz verschiedene Resonanz erfahren. Street-Art lässt sich aufgrund ihrer Kommerzialisierung demnach als Faktor betrachten, der für diverse wirtschaftliche Akteurinnen durchaus eine Rolle spielt. So wird auch eine Bindung dieser an das Viertel als Standort generiert. Diese Identifikation ist allerdings primär auf die Konsumentinnen ausgerichtet und bezieht sich meist auch nicht auf die Gesamtheit, sondern nur auf bestimmte, gewünschte Elemente des Phänomens. Trotzdem kann sich über das Konsumerlebnis ein Teil von dem, was als Identität der Sternschanze wahrgenommen wird, angeeignet werden. Allerdings kommt es auch zu Verweigerungen dessen, zum Beispiel wenn Künstlerinnen Werbe-Paste-ups zerstören und mit ihren Pieces eine aufwertungsbedingte Verdrängung aufzeigen. In diesem Zusammenhang wird dann wiederum eine Zugehörigkeit zum Viertel erzeugt, welche im Sinne einer Verteidigung des Viertels gegen ›die Anderen‹ erlebt wird.

Diese Wand bleibt bunt Über das Anschauen und Erleben, das Ausüben oder die Nutzbarmachung von Street-Art – auf ganz unterschiedliche Art und Weise wird über die Kunstform eine Bindung an die Sternschanze hergestellt. Sowohl das wirtschaftliche als auch das soziale und kulturelle Gefüge des Stadtteils wird immer wieder von der Subkultur beeinflusst, wobei, sei es im Rahmen einer spezifischen Atmosphäre oder durch die Gemeinschaft eines Vereines, Erlebnisse der Zugehörigkeit entstehen. Somit kann die Street-Art durchaus als ein identifikationsstiftendes Element für das Hamburger Schanzenviertel angesehen werden. Es wird zudem deutlich, wie unterschiedlich, vielfältig und teilweise auch gegensätzlich die Identifikationsangebote aussehen. Sie reichen beispielsweise von einer kritischen Auseinandersetzung mit Stadtteilthemen über die Verbindung durch das Medium der Fotografie bis hin zur Aneignung im Rahmen von Konsumerlebnissen. So kommt es auch zu Widersprüchen und Konflikten,

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wobei sich Prozesse der Identifikation oftmals gerade innerhalb dieser Dynamiken abspielen. ›Diese Wand bleibt bunt‹ – so liest es sich auf einer Hausfassade in der Schanzenstraße. Der mehrere Meter große Schriftzug stammt aus dem Juni 1987 und entstand im Rahmen der Hausbesetzung der Schanzenstraße 41a. Heute ist in diesem Haus ein Wohnprojekt beheimatet. Zur Zeit der Entstehung waren bemalte Häuserwände hier ganz eindeutig in den Kontext von Protest und Gesellschaftskritik einzuordnen. Heute sind sie in Form von Street-Art zunehmend sogar bei den wirtschaftlichen Akteurinnen willkommen. Während die Motivationen zur Ausübung von Street-Art unterschiedlich sind und die Meinungen über ihre Konsumierbarkeit ebenfalls auseinandergehen, scheint eine überwiegende Einigkeit zumindest in Folgendem zu bestehen: Die Fassaden der Sternschanze bleiben zunächst bunt.

Abbildung 12: Diese Wand bleibt bunt (2020)

Foto: Anna Möllgaard

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Literatur Baumfeld, Leo (2011): Regionale Identität gestalten. https://www.baumfeld.at /files/11-10-28-Regionale_Identitaet.pdf (Zugriff 19.12.2022). Böhme, Gernot (2006): Architektur und Atmosphäre. München: Wilhelm Fink Verlag. Flügel, K.P. (2014): »Streetart zwischen Illegalität und Galerie. Interview mit Rudolf Klöckner«, in: Andreas Blechschmidt/K.P. Flügel/Jorinde Reznikoff (Hg.), Free OZ! Streetart zwischen Revolte, Repression und Kommerz, Berlin/Hamburg: Assoziation A, S. 73–75. Gebhardt, Dirk/Holm, Andrej (2011): »Initiativen für ein Recht auf Stadt«, in: Andrej Holm/Dirk Gebhardt (Hg.), Initiativen für ein Recht auf Stadt. Theorie und Praxis städtischer Aneignungen, Hamburg: VSA Verlag, S. 7–24. Glaser, Katja (2017): Street Art und neue Medien. Akteure – Praktiken – Ästhetiken, Bielefeld: transcript. Graumann, Carl Friedrich (1983): »On Multiple Identities«, in: International Social Science Journal 35, S. 309–321. Grün, Andreas (2016): »Ultras und Graffiti – Ein Aufeinandertreffen zweier Subkulturen«, in: Gabriel Duttler/Boris Haigis (Hg.), Ultras. Eine Fankultur im Spannungsfeld unterschiedlicher Subkulturen, Bielefeld: transcript, S. 157–172. Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg: Argument Verlag. Kagermeier, Andreas (2021): Overtourism, München: UVK. Küllenberg, Corinne (2016): »Street Art und das Recht auf Stadt«, in: Viva con Agua de Sankt Pauli e.V. (Hg.), Millerntor Gallery #6 Waterproof, Hamburg: Gudberg Nerger, S. 80–83. https://issuu.com/gudberg/docs/katalog_mille rntorgallery_6_online (Zugriff 16.01.2023). Naegler, Laura (2012): Gentrification and Resistance: Cultural Criminology, Control, and the Commodification of Urban Protest in Hamburg. Berlin: LIT. Pfeiffer, Verena; Döbbeling, Sophia (2006): Touristification in der Spandauer Vorstadt – eine empirische Untersuchung 1990–2005. Wissenschaftliche Arbeiten zum Vordiplom Stadt- und Regionalplanung TU Berlin. https://www.urbanophil.net/wp-content/uploads/2011/03/Toursitifiz ierung-Spandauer-Vorstadt_2006.pdf (Zugriff 19.12.2022).

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Reinecke, Julia (2012): Street-Art: Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz, 2. Aufl., Bielefeld: transcript. Richter, Ralph (2013): »Ortsbezogene Identität. Die kognitive Repräsentanz von Orten im Zeichen zunehmender Wohnmobilität«, in: Maik Hömke (Hg.), Mobilität und Identität. Widerspruch in der modernen Gesellschaft, Wiesbaden: Springer VS, S. 11–30. Schierz, Sascha (2014): »Graffiti als ›doing Illegality‹. Perspektiven einer ›Cultural Criminology‹«, in: sub\urban – Zeitschrift für kritische Stadtforschung 2 (2), S. 39–60. Siebecke, Gerd (2012): Die Schanze. Galão-Strich oder Widerstandskiez? Streifzug durch ein klammheimliches Klavierviertel, Hamburg: VSA. Weichhart, Peter/Weiske, Christine/Werlen, Benno (2006): Place Identity und Images. Das Beispiel Eisenhüttenstadt, Wien: Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien (= Abhandlungen zur Geographie und Regionalforschung Bd. 9).

Touristifizierung durch soziale Medien? Eine Image-Gegenüberstellung von sozialen Medien und Anwohnerschaft Jasmin Annuß, Daria Klaassen und Miriam Riesch

Die Sternschanze gilt als das Trendviertel Hamburgs. Dies zieht nicht nur immer mehr junge Menschen als potenzielle Mieter an, sondern sorgt auch für ein erhöhtes Aufkommen von Street-Art-Liebhabern, Partygängern und Tagestouristen. Immer mehr Menschen wollen das Schanzenviertel erleben. Doch die Bewohner setzen sich zur Wehr. Im Jahr 2020 machte der Stadtteil Schlagzeilen durch die Einführung eines Alkohol-Verkaufsverbotes ab 20 Uhr. Damit sollte gegen die Ansammlung von Menschenmassen, die sich nicht an die Abstandsregelungen hinsichtlich der COVID-19-Pandemie hielten, vorgegangen werden.1 Die Sternschanze setzte den Touristen etwas entgegen, ein Ziel, für das sich die Anwohnerschaft des Schanzenviertels schon lange einsetzt.2 Der Tourismus in Hamburg wächst seit Jahren stetig und führt, insbesondere in den inneren Stadtteilen, zu denen das Schanzenviertel gehört, zu einer wachsenden Belastung durch Lärm, Schmutz und Überfüllung für die Anwohner (vgl. Wybraniec 2018: 18f., 63). Das war nicht immer der Fall. Der Stadtteil im Bezirk Altona galt in den 1970er Jahren als linksalternativ geprägtes Arbeiterviertel. Er entwickelte sich in den darauffolgenden Jahren zunehmend zu einem alternativen Viertel und zog viele Künstler an, die den Stadtteil nachhaltig mitgestalteten.3 Graffitis und Street-Art prägen noch heute das Erscheinungsbild und sind eine beliebte Fotokulisse für Besucher des Schanzenviertels geworden. Nicht selten werden 1 2 3

Vgl. https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Hamburger-Schanzenviertel-wehrt-s ich-Strassenpartys,offenerbrief162.html (Zugriff 14.01.2023). Vgl. https://www.standpunktschanze.de/stadtteilbeirat-sternschanze-protokoll-der49-sitzung-am-25-10-2017/ (Zugriff 14.01.2023). Vgl. https://www.hamburg.de/sehenswertes-sternschanze/ (Zugriff 14.01.2023).

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diese Fotos in den sozialen Medien veröffentlicht. Mittlerweile lässt sich die Sternschanze in allen sozialen Medien auffinden. Instagram, Blogs und Co. sind aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. Auch für touristische Zwecke gibt es inzwischen zahlreiche Apps, die als hilfreiche Tools die Planung und Vorbereitung von Reisen vereinfachen. Auf der Suche nach Bestätigung und Zuspruch von der Community in Form von Likes und positiven Kommentaren, wirkt das Erscheinungsbild von beliebten Orten wie der Sternschanze im Internet durch die geposteten Inhalte aufgebessert (vgl. Reuter 2019: 121). Ob dies auch tatsächlich mit der Realität übereinstimmt, ist fraglich. Genau dieser Fragestellung wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit nachgegangen.4 Hierbei wurden Images seitens der Anwohnerschaft und seitens ausgewählter sozialer Medien zur Sternschanze erfasst und gegenübergestellt, um mögliche Diskrepanzen zu identifizieren. Die Vermutung liegt nahe, dass die sozialen Medien durch ihren Einfluss in allen Bereichen des Lebens auch zur Zunahme des Tourismus im Schanzenviertel beitragen.

Der Weg zur Fragestellung und der Stand der Forschung Ausgangspunkt unserer Studie war der Themenschwerpunkt Soziale Medien in Verbindung mit der Touristifizierung der Sternschanze. Um generell einen Überblick über die Präsenz der Sternschanze in den sozialen Medien zu gewinnen, erfolgte eine Orientierungs- und Recherchephase. Dabei kamen die sozialen Medien Facebook, YouTube, Instagram, Tripadvisor und Reiseblogs in die engere Auswahl. Die drei letzteren wurden schlussendlich für die Ausarbeitungen herangezogen, da diese für die Auswertungen quantitativ ausreichend Beiträge über die Schanze bereitstellten. Schon an dieser Stelle konnte ein ganz eigenes Image der einzelnen sozialen Medien zur Sternschanze festgestellt werden, was den Anstoß für die nächste Phase gab. Zum allgemeinen Verständnis von Images und ihrer Entstehung wurde zunächst die Drei-Komponenten-Theorie der Einstellung, welche auf der kognitiven, der affektiven sowie der konativen Komponente basiert, berücksichtigt (vgl. Meffert et al. 2019: 109) und der Fokus auf geeignete, bereits vorhandene wissenschaftliche Studien zur Imageerfassung von touristischen Gebieten gelegt. 4

Die unveröffentlichte Studie war Teil eines Projektseminars an der Leuphana Universität Lüneburg im Sommersemester 2020 zur Touristifizierung der Sternschanze.

Touristifizierung durch soziale Medien?

In dem Paper Advancing destination image: the destination content model von Kock, Josiassen und Assaf (2016) wurde ein Modell zur Imagemessung entwickelt und die Wirksamkeit mittels qualitativer sowie quantitativer Forschung anhand der Reiseziele Deutschland und Spanien überprüft. Insbesondere die Methodik war für die zugrundeliegende Arbeit interessant. Sie umfasste im ersten Schritt die Erstellung eines Pools von Charakteristika des Reiseziels anhand qualitativer Forschungsmethoden und sah die darauffolgende quantitative Bewertung dieser Charakteristika mittels Likert-Skalen vor (vgl. Kock/ Josiassen/Assaf 2016: 35f.). Auch in der Studie von Stylidis und Cherifi (2017) sowie in den Ausarbeitungen von Stylidis, Shani und Belhassen (2017) wurden die drei Komponenten der Einstellung genannt und auf das Image eines Reiseziels bezogen (vgl. Stylidis/Cherifi 2017: 3,5; Stylidis/Shani/Belhassen 2017: 187). Letztere befassten sich dabei mit einer Gegenüberstellung von den Images zur Stadt Eilat seitens der Anwohner und seitens vor Ort befragter Touristen. Genau dieser Ansatz brachte die entscheidende Idee für die Fragestellung der zugrundeliegenden Arbeit. Sie lautet demzufolge »Begünstigt das durch die sozialen Medien Instagram, Tripadvisor und Reiseblogs vermittelte Stadtteilimage die Touristifizierung der Sternschanze?« und strebt eine Image-Gegenüberstellung der sozialen Medien und der Anwohnerschaft an.

Theoretische Einordnung der einzelnen Fragestellungskomponenten E-Tourismus Als E-Tourismus bezeichnet man eine neue Form des Tourismus, bei der das Internet als Informationsquelle für touristische Zwecke genutzt wird. Vor allem die sozialen Medien dokumentieren die Mund-zu-Mund-Kommunikation digital (vgl. Landvogt 2017: 115). Aufgrund der zunehmenden Nutzung von sozialen Medien entwickelte sich allerdings auch noch ein anderes Phänomen. Die Instagramability ist für etwa 40 Prozent der Millennials ein ausschlaggebendes Kriterium, wenn es um die Entscheidung bezüglich ihres nächsten Reisezieles geht (vgl. Byrd-McDevitt 2019: 20). Somit gibt es Touristen, die einen bestimmten Ort nur oder vorwiegend deshalb aufsuchen, weil sich dieser besonders gut als Fotokulisse eignet. Diese Art des Tourismus wird als Fototourismus bezeichnet. Die gemachten Fotos werden meist mit der Intention aufgenommen, um sie auf Plattformen der sozialen Medien zu

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veröffentlichen. Durch die immer wiederkehrenden Fotokulissen werden bestimmte Viertel oder Orte zu Fotohotspots und sind somit vom Fototourismus betroffen (vgl. Schmitt 2019: 260).

Die Entstehung von Einstellungen und Images Im Rahmen dieser Arbeit sollen die Images zur Sternschanze seitens der Anwohnerschaft und seitens der sozialen Medien untersucht werden. Bei einem Image handelt es sich um eine Art System, welches sich aus vielen einzelnen Einstellungen zusammensetzt. Es stellt daher ein umfassendes, mehrdimensionales Bild eines Einstellungsobjektes dar, während Einstellungen nur als kleinteilige Momentaufnahmen des Bildes zu verstehen sind (vgl. Meffert et al. 2019: 108). Einstellungen werden als innere Haltungen von Individuen definiert, welche eine beständig positive oder negative Reaktion auf äußere Reize hinsichtlich eines Einstellungsobjektes bewirken (vgl. ebd.). In den folgenden Ausarbeitungen soll der Fokus auf die Sternschanze als Einstellungsobjekt gelegt werden. Um zu erschließen, wie sich Einstellungen zusammensetzen, wurde in dieser Arbeit die Drei-Komponenten-Theorie der Einstellung von Rosenberg und Hovland (1960) herangezogen. Nach diesem Ansatz vereinigen Einstellungen stets drei Komponenten, die jedes Individuum in variierenden Ausprägungen gegenüber den spezifischen Einstellungsobjekten besitzt (vgl. Foscht/Swoboda/Schramm-Klein 2017: 71). Bei der kognitiven Komponente handelt es sich um vorhandenes Wissen sowie Erfahrungswerte zur Sternschanze (vgl. ebd.). Die affektive Komponente wird durch Gefühle geprägt (vgl. Hoffmann/Akbar 2019: 91). Dies könnte beispielsweise eine positive Wertung der Sternschanze als ›schöner Ort‹ implizieren. Die dritte Komponente ist die konative. Sie ist verhaltensbezogen und umfasst Absichten wie Weiterempfehlungen und das Vorhaben eines zukünftigen Besuchs der Sternschanze (Meffert et al. 2019: 109). Für die Imageerfassung der Sternschanze wurden diese drei Komponenten im Fragebogen an die Anwohnerschaft sowie bei der Auswertung der sozialen Medien berücksichtigt.

Soziale Medien Soziale Medien sind Formen des Web 2.0, welche kommunikative, interaktive und kollaborative Aktivitäten im Internet antreiben und eine Fläche für User Generated Content bieten (vgl. Burmann et al. 2012: 131). Unter dem Web 2.0 ist ein Verhalten zu verstehen, bei dem die Nutzer des Internets mit ihrer Um-

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welt aktiv interagieren und selbst Inhalte hervorbringen (vgl. Bender 2011: 145). User Generated Content umfasst unterdessen die sehr individuellen und heterogenen Inhalte, welche von den Nutzern sozialer Medien unter kreativen Bemühungen erstellt und verbreitet werden (vgl. Wunsch-Vincent/Vickery 2007: 35). Was noch vor einigen Jahren ausschließlich im persönlichen Gespräch kommuniziert wurde, ist heutzutage in großen Teilen digitalisiert in den sozialen Medien aufzufinden (vgl. Landvogt 2017: 26). Die sozialen Medien fungieren auch im Rahmen des touristischen Kontextes als eine Art digitale Mundpropaganda (vgl. Pikkemaat/Peters/Tschol 2017: 115). Die für die weiteren Ausarbeitungen herangezogenen sozialen Medien sind Tripadvisor, Instagram sowie Reiseblogs, welche zunächst kurz vorgestellt werden sollen. Tripadvisor ist die weltweit größte Touristikplattform, welche seit dem Jahr 2000 Touristen dabei unterstützt, ihren Urlaub auf Basis von Erfahrungsberichten anderer Nutzer zu planen und zu organisieren. Die Funktionsweise lässt sich dabei wie folgt beschreiben: Nutzer können dabei die von anderen Reisenden verfassten Erfahrungsberichte zu dem Ort selbst sowie zu Gastronomiebetrieben, Sehenswürdigkeiten, Unterkünften und Aktivitäten lesen.5 Instagram ist eine international genutzte, digitale Plattform zum Teilen von Fotos und Videos. Die App wurde im Jahr 2010 veröffentlicht und gehört seit 2012 zu dem sozialen Netzwerk Facebook (vgl. Decker 2019: 224f.). Dass die App sehr beliebt ist, zeigt sich insbesondere an den Nutzerzahlen. Im Jahr 2018 verzeichnete Instagram rund eine Milliarde aktive Nutzer.6 Letztere können sich bei Instagram Profile anlegen und Beiträge in Form von Bildern oder Videos auf Instagram hochladen. Reiseblogs können als digitale Reisetagebücher verstanden werden und sind eine Unterform der klassischen Weblogs (vgl. Klemm 2016: 36f.). Mithilfe von Beiträgen innerhalb ihrer Reiseblogs, berichten Blogger über ihre Reisen, sprechen Empfehlungen aus und teilen Bilder sowie Videos (vgl. ebd.: 42–45).

Imageerfassung und Auswertung Das Image, welches ein Netzwerk verschiedener Einstellungen darstellt, muss für diese Gegenüberstellung messbar gemacht werden. Inspiriert von der Studie von Stylidis, Shani und Belhassen (2017) erfolgte die Transformation von 5 6

Vgl. https://tripadvisor.mediaroom.com/US-about-us Zugriff 14.01.2023). Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/300347/umfrage/monatlich-aktive -nutzer-mau-von-instagram-weltweit/ (Zugriff 14.01.2023).

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qualitativen Inhalten in quantitative, messbare Größen durch die Bewertung über eine Drei-Punkte-Ratingskala. Das Bewertungssystem ließ sich über die Bewertungen der Nutzer auf Tripadvisor entwickeln. Zunächst wurden aus den Bewertungen eines ausgewählten Zeitraumes sich wiederholende Stichworte gesammelt. Dabei konnte die Nennung positiv, negativ und neutral sein. Dies ergab eine Sammlung von 22 Stichpunkten, darunter Charakteristika wie beispielsweise Gastronomie sowie alternative Szene. Zur Beurteilung der Stärke der positiven beziehungsweise negativen Wahrnehmung eines Punktes wurde dieser über eine DreiPunkte-Skala bewertet. Die Skala reicht von Eins bis minus Eins, dabei steht die Eins für eine positive Nennung, Null ist eine neutrale Nennung ohne Wertung und eine minus Eins ist eine Nennung im negativen Zusammenhang. Zur Bewertung der Stichpunkte wurde je Nennung ein jeweiliger Punkt vergeben. Zur Veranschaulichung ein Beispiel: So schreibt ein Nutzer in seiner Bewertung »[…] es gibt unzählige kleine Läden und Restaurants […]. Leider sieht man auch viel Armut und Elend auf den Straßen/Hinterhöfen.«7 . In der Bewertungsmatrix ergibt das für die Stichpunkte Kleine Läden und Gastronomie eine Null sowie für Armut eine minus Eins. Rechnet man abschließend die summierten Werte der Stichpunkte gegeneinander auf, so ergibt das einen Wert zwischen Eins und minus Eins, der die Wahrnehmung des Stichpunktes auf Tripadvisor erkennen lässt. Zur Veranschaulichung als Beispiel die Berechnung des Wahrnehmungswertes des Nachtlebens. Dieser Punkt wurde 18-mal positiv, dreimal negativ und einmal neutral genannt. Rechnet man nun 18 – 3 + 0 ergibt das in der Summe 15. Teilt man die Summe durch die Gesamtanzahl der Nennungen, 22, ergibt das einen Wahrnehmungswert von 0,7. Auf der Drei-Punkte-Ratingskala ist dieser Wert nah an der Eins, sodass sich sagen lässt, dass das Nachtleben auf Tripadvisor tendenziell als positiv wahrgenommen wird. Dieses Bewertungssystem wurde auf die Social-Media-Plattform Tripadvisor angewendet. Für die anderen sozialen Medien musste das System geringfügig abgeändert werden. Instagram lässt nur schwer Aussagen darüber zu, wie ein Nutzer das von ihm gepostete Objekt wertet. Tendenziell lässt sich jedoch die Vermutung aufstellen, dass User sich und ihr Leben besonders gut darstellen wollen und daher eher Bilder posten, zu denen sie eine positive Verknüpfung haben. Ähnlich ist es bei den Reiseblogs: Eine Durchsicht der sieben 7

Vgl. https://www.tripadvisor.de/Attraction_Review-g187331-d7363450-Reviews-The_ Schanzenviertel-Hamburg.html (Zugriff 14.01.2023).

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untersuchten Reiseblogs8 zeigte, dass auch hier lediglich über positive Erfahrungen geschrieben wurde. Anstatt die zu untersuchenden Stichpunkte zu bewerten, analysierten wir sie daher hinsichtlich der Häufigkeit des Auftretens. Die Auswertungen der drei Plattformen ergeben schlussendlich das Image der Social-Media-Nutzer. Die Untersuchung der Images der Bewohner zur Sternschanze erfolgte über eine quantitative Online-Befragung mittels einer willkürlichen Stichprobe.

Das Image der Sternschanze innerhalb der sozialen Medien Auswertung von Bewertungen auf Tripadvisor Das Image der Sternschanze sollte anhand der Bewertungen auf Tripadvisor herausgearbeitet werden. Im ersten Schritt musste die Auswahl der Bewertungen eingeschränkt werden. Beim Ort fiel die Wahl auf den konkreten Stadtteil The Schanzenviertel (in dieser Schreibweise auf Tripadvisor). Die zweite Eingrenzungskategorie ist der Zeitraum der geposteten Bewertungen. Es wurden alle Bewertungen in Zeitraum zwischen Januar 2018 und dem 26. Mai 2020 betrachtet. Im Vergleich zu den anderen ausgewerteten Plattformen ist dieser Zeitraum relativ lang gewählt, um genug Bewertungen zur Auswahl heranziehen zu können. Die Gesamtzahl der zur Auswertung betrachteten Bewertungen beträgt 102. Die Auswertung der Beiträge erfolgte nach der soeben beschriebenen Auswertungsmethode. Auf Tripadvisor hat man die Möglichkeit, eine Gesamtwertung für das Schanzenviertel abzugeben. Dabei reicht die Skala von einem bis fünf Sternen. Zusätzlich zu den in der Methodik erläuterten Stichpunkten wurden diese Sterne-Bewertungen ausgewertet. Das Ergebnis ist eine Bewertung von 3,9 Sternen für das Schanzenviertel. Die Auswertung ergab, dass der am häufigsten genannte Stichpunkt mit 64 Nennungen (n = 102) die Gastronomie ist. An nächster Stelle stehen die kleinen Läden mit 47 Nennungen. Anschließend folgen, ungefähr auf einem Level zwischen 20 und 25 Erwähnungen, die Punkte Atmosphäre, Umfeld (bezogen auf Schmutz), Nachtleben, alternative Szene und Vielfalt. Publikum, Graffiti und Sicherheit liegen zwischen 15 und 20 Nennungen. Weniger häufig genannte 8

Eine Übersicht über die in die Untersuchung eingeflossenen Reiseblogs findet sich im Anhang in Tabelle 1.

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und daher nicht explizit aufgeführte Stichpunkte sind unter anderem Preise, Politik und Treffpunkt. Ziel der Bewertung der Stichpunkte ist es, die zugrunde liegenden qualitativen Daten der Punkte messbar und somit vergleichbar zu machen. Die beigefügte Abbildung zeigt die zehn am häufigsten genannten Charakteristika sowie die jeweiligen Bewertungen. Je näher der Wert an der Eins ist, desto positiver wurde der Punkt wahrgenommen, während ein Wert an der Minus Eins eine negative Tendenz aufzeigt. Dabei sind die Bewertungen der Charakteristika unabhängig voneinander zu verstehen, denn sie beziehen sich lediglich auf die Häufigkeit der positiven und negativen Bewertungen. Sollte der Punkt Gastronomie einen höheren Wert als der Einzelhandel haben, dann nicht, weil die User die Gastronomie positiver empfinden als den Handel, sondern weil sie diesen Punkt häufiger im positiven Zusammenhang genannt haben.

Abbildung 1: Die zehn am häufigsten genannten Charakteristika auf Tripadvisor sowie die dazugehörigen Bewertungen nach der Bewertungsskala

Quelle: Eigene Darstellung

Die Gastronomie, der am häufigsten erwähnte Punkt, wurde mit einer Bewertung von 0,9 besonders oft im positiven Zusammenhang genannt. Auch die kleinen Läden, die Vielfalt im Viertel und die alternative Szene wurden

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eher positiv wahrgenommen. Der Punkt Graffiti veranschaulicht, dass die Nutzer sich in ihren Bewertungen nicht immer einig waren. Die Bewertungen erwähnten Graffitis im positiven und im negativen Zusammenhang, sodass der letztendliche Wert bei 0,15 liegt. Der am unangenehmsten aufgefallene Punkt ist das Umfeld, bezogen auf den Schmutz, mit einem Wert von -0,7. Die Sicherheit im Viertel wurde teils negativ wahrgenommen, sodass der Wert bei -0,4 liegt. Die wahrgenommene Unsicherheit ist den Bewertungen zufolge beispielsweise auf den offensichtlichen Alkohol- und Drogenkonsum im Viertel zurückzuführen. Abschließend wird das Image der Tripadvisor-Nutzer von der Sternschanze durch das Drei-Komponenten-Modell von Rosenberg und Hovland (1960) beschrieben. Die kognitiven Komponenten, das bereits vorhandene Wissen, sind im Fall von Tripadvisor die gesammelten Stichpunkte und Charakteristika. Die Bewertungen der Punkte über das Bewertungssystem sind Inhalt der affektiven Komponente, die gefühlsgeprägt ist. Die konative Komponente umfasst die Verhaltensabsicht einer Person. Im Fall von Tripadvisor lässt sich die konative Komponente in zwei Weisen aufteilen. Auf der einen Seite zeigt sich das Verhalten eines Users bereits durch das Abgeben einer Bewertung. Mit einer positiven Bewertung möchte der Nutzer seine Erfahrung teilen und somit indirekt einen Besuch empfehlen, während eine negative Bewertung dementsprechend andere Nutzer von einem Besuch abhalten soll. 30 Prozent der Bewertungen enthielten eine konkrete Besuchsempfehlung.

Auswertung von Beiträgen auf Instagram Im ersten Schritt der Instagram-Analyse wurde der Zeitraum der zu untersuchenden Beiträge eingegrenzt. Dieser Zeitraum erstreckt sich über den gesamten Juli 2019. Im nächsten Schritt wurde der Suchbegriff gewählt. Um möglichst präzise vorzugehen, wurde die Filtersuche nach spezifischen Standorten genutzt. Dabei wurde der Fokus auf die Suchbegriffe Schanze, Schanzenviertel sowie Sternschanze gelegt. Da die Standorte Schanzenviertel und Sternschanze nicht ergiebig genug waren, stützt sich demnach die dieser Arbeit zugrundeliegende Instagram-Analyse auf den Standort Schanze9 , wobei insgesamt 127 öffentlich einsehbare Beiträge aus dem Juli 2019 ausgewertet wurden. 9

Vgl. https://www.instagram.com/explore/locations/581138845298905/schanzenvierte l/ (Zugriff 14.01.2023).

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Orientiert an dem Analyseprozess von Linzenmeier (2019: 109f.) wurden die Beiträge quantitativ nach abgebildeten Motiven einzeln analysiert. Hierfür wurden die Kategorien aus der Tripadvisor-Analyse verwendet. Mehrfachzuordnungen der Beiträge zu den Kategorien waren durch die Option, mehrere Motive verschiedener Kategorien zu fotografieren, möglich. Mit einer absoluten Häufigkeit von 46 war das Portrait von Personen das am meisten abgebildete Motiv, was auf die oft in vorhandenen Artikeln thematisierte Tendenz zur Selbstdarstellung in Instagram-Beiträgen hinweist (vgl. Jackson/Luchner 2018: 5). An zweiter Stelle wurden Graffitis und Street-Art fotografiert (H = 45). Die Sternschanze als Treffpunkt von mehreren Personen zum Cornern wurde insgesamt 14-mal abgebildet und die Motiv-Kategorien Restaurant/Café, Hauseingang, Bars/Nachtleben und Bahnhof verzeichneten jeweils Anzahlen zwischen sieben und neun. Im Rahmen der GastronomieMotive wurden vereinzelt Beiträge in den Lokalen Jills, Quan36 sowie Omas Apotheke erstellt. Die Rote Flora, Straßenmusiker und kleine Läden wurden lediglich zwei- bis dreimal abgebildet. Das über Instagram vermittelte Image der Sternschanze präsentiert sich anhand des Drei-Komponenten-Modells. Die kognitive Komponente konnte durch die quantitative Auswertung festgestellt werden, indem ein bestimmtes Wissen über die Fotokulissen und die abgebildeten Charakteristika der Sternschanze besteht. Die kognitive Komponente bezieht sich innerhalb der Instagram-Beiträge daher auf die abgebildeten Motive, wobei es sich am häufigsten um Portraits und Graffitis beziehungsweise Street-Art handelte. Die affektive, bewertende Komponente kann hier nicht wie etwa bei Tripadvisor durch positive oder negative Formulierungen festgestellt werden. Vielmehr kann ihr unmittelbar eine positive Tendenz zugeschrieben werden, da das Veröffentlichen von Social-Media-Beiträgen insbesondere bei Facebook und Instagram plattformbedingt aus einer überwiegend positiven Intention hervorgeht und negative Darstellungen eher weniger häufig Gegenstand der Beiträge sind (vgl. Rosenberg/Egbert 2011: 12). Die dritte und damit letzte Komponente der Theorie ist die konative, verhaltensbezogene Komponente. Allein der Vorgang des Erstellens und Hochladens eines Beitrages auf Instagram erfordert ein gewisses Maß an Motivation und eine Verhaltensabsicht, denn hier liegt eine Art Hemmschwelle vor. Zusammengefasst liegt auf Instagram ein sehr positives Image der Schanze vor, wobei insbesondere Graffitis und Street-Art das Image als beliebte Fotokulisse prägen.

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Auswertung von Reiseblogs Bei der Auswertung wurden die Reiseblogs auf die Nennung der gleichen Charakteristika wie zuvor untersucht. Zusammengefasst handelt es sich bei den insgesamt sieben untersuchten Blogs um sechs, die von Touristen geführt wurden. Lediglich ein Blogger ist gebürtiger Hamburger. Alle Blogs behandelten unterschiedliche Themen, von Beauty, Lifestyle bis hin zu Familie. Der Schwerpunkt lag allerdings auf Reisen. Bei den Auswertungen wurde deutlich, dass sechs von sieben Reisebloggern die Gastronomie der Schanze lobten. Dabei wurden sehr häufig auch explizite Restaurantempfehlungen ausgesprochen und auch die generelle kulinarische Vielfalt im Viertel betont. Des Weiteren empfahlen fünf der sieben Blogger einen Besuch in der Schanze. Die kleinen Läden, die Freizeitaktivitäten und die Graffitis wurden in vier der sieben Blogs genannt. Die Graffitis wurden hierbei nur in einem positiven Zusammenhang aufgezählt, da die meisten Blogger einen Besuch besonders für Street-Art-Liebhaber empfahlen. Eher weniger häufig wurde die Schanze als alternatives Viertel herausgestellt, die Vielfalt in der Schanze genannt und auf die Anwohner eingegangen. All diese Aspekte wurden lediglich in einem der sieben Blogs genannt. Darüber hinaus gaben die Blogger des Öfteren Hoteltipps und allgemeine Informationen zur Geschichte des Viertels. In Anbetracht der Drei-Komponenten-Theorie wird zunächst die kognitive Komponente beleuchtet. Die meisten Blogger beziehen sich in ihren Beiträgen auf ihre persönlichen Erfahrungen, die sie während eines oder mehrerer Besuche in der Schanze sammelten. Dies wird vor allem dadurch verdeutlicht, dass viele Blogger auf verschiedene explizite Cafés, Läden oder ähnliches eingehen und hierzu ihre subjektiven Erfahrungen mitteilen. Neben ihren persönlichen Erfahrungen beziehen sich viele der Blogger auch auf allgemeine Informationen zum Viertel, häufig die Entstehungsgeschichte. Für diese Informationen wird von den Bloggern wahrscheinlich in den meisten Fällen eine Recherche über das Schanzenviertel angestellt, weswegen sich die kognitive Komponente aus den eigenen Erfahrungen und gegebenenfalls einem Wissensstand durch die vorgelagerte Recherche zusammensetzt. Bei der affektiven Komponente wird das Augenmerk speziell daraufgelegt, wie die Sternschanze von den Bloggern bewertet wird. Da in den untersuchten Reiseblogs die dargestellten Orte und Aktivitäten stets positiv bewertet wurden, stellt sich das Format Reiseblog damit tendenziell positiv bewertend dar. Diese positive Tendenz lässt sich vor allem durch die verbalen Wertungen der Blogger erkennen. Die konative Komponente betrachtet, inwiefern das Reiseziel Sternschanze von den

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Reisebloggern weiterempfohlen wurde. Die Blogger sprechen, wie bereits zuvor erwähnt, häufig konkrete Empfehlungen aus. Dabei handelt es sich meistens um Bars, Cafés und Restaurants, aber auch um verschiedene Aktivitäten wie zum Beispiel der Besuch auf dem Flohmarkt.

Das Image der Sternschanze aus Sicht der Anwohnerschaft Im Rahmen dieser Arbeit sollte die Generierung des Sternschanzen-Images seitens der Anwohnerschaft erfolgen. Hierbei lag ein besonderes Augenmerk auf den Schanzen-Charakteristika, die sich bereits aus der Analyse der sozialen Medien herausgestellt hatten. Als optimal geeignete Methode zum Erreichen der Zielgruppe wurde eine Online-Befragung gewählt. Um eine möglichst hohe Teilnahme zu erreichen, wurde der Fragebogen über verschiedene Kanäle verbreitet. Dazu wurden sowohl der Standpunkt.Schanze10 als auch die Stadtteilbeauftragte kontaktiert, die als Mitglied des Schanzenbeirates den Fragebogen durch einen Verteiler an viele Anwohner weitergeleitet hat.

Der Aufbau des Fragebogens Nach der einleitenden Beschreibung des Forschungsvorhabens, der Abfrage der demografischen Daten und einer Filterfrage zur Sicherstellung der korrekten Zielgruppe, sollten die Befragten das Viertel zunächst auf einer FünfSterne-Skala als Ganzes bewerten. Im Hauptteil sollte der Teilnehmer die in den sozialen Medien identifizierten Charakteristika anhand einer dreistufigen Rating-Skala bewerten. Die Skala erstreckte sich dabei von einer positiven Bewertung über die Auswahl neutral bis hin zur negativen Wahrnehmung des Charakteristikums. Obwohl eine fünfstufige Rating-Skala in der Praxis geläufiger ist (vgl. Kuß/Wildner/Kreis 2018: 229), wurde in diesem Fragebogen die Anzahl der Stufen an das Auswertungsmodell von Tripadvisor angepasst, um eine bessere Vergleichbarkeit zu erzielen. Es folgten mehrere offene Fragen zur eigenen Wahrnehmung, die im folgenden Auswertungsabschnitt genauer betrachtet werden. Der Fragebogen wurde am 10. Juni 2020 veröffentlicht und am 1. Juli 2020 geschlossen.

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Vgl. https://www.standpunktschanze.de/ (Zugriff 14.01.2023).

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Auswertung der Anwohnerbefragung An der Befragung nahmen insgesamt 43 Personen teil, von denen 39 angaben, Anwohner der Schanze zu sein. Die 50- bis 60-Jährigen bildeten mit 38,1 Prozent die größte Gruppe der Befragten. Dicht gefolgt wurden diese von den 23bis 30-Jährigen und den 40- bis 50-Jährigen mit jeweils 21,4 Prozent. 7,1 Prozent der Teilnehmer befanden sich im Alter von 16 bis 22 Jahren und 11,9 Prozent gaben an, 61 Jahre oder älter zu sein. Das Geschlechterverhältnis der Teilnehmenden war ausgeglichen. Die Mehrzahl der Befragten lebt schon lange im Schanzenviertel. 64,1 Prozent gaben bei dieser Frage an, schon mehr als 15 Jahre in der Schanze zu wohnen. Nur 15,4 Prozent wohnten zwischen einem und fünf Jahren im Viertel. 20,5 Prozent gaben an, 6 bis 15 Jahre in der Sternschanze zu wohnen oder gewohnt zu haben. Bei der Gesamtbewertung der Schanze wurden die Anwohner aufgefordert, das Viertel auf einer Skala von Eins bis Fünf zu bewerten. Dabei schwankte der Stimmenanteil zwischen einer Drei- und Vier-Sterne-Bewertung, so dass daraus ein Mittelwert von 3,4 Sternen resultiert. Es wird deutlich, dass sich eine Tendenz der befragten Anwohner zu einer starken Identifikation mit der Schanze als Wohnort oder ehemaliger Wohnort zeigt. 65 Prozent der Teilnehmenden identifizierten sich stark bis sehr stark mit ihrem Wohnort. Einer der Anwohner schreibt: »Lebendiger Stadtteil, mittendrin in Hamburg, Multi-Kulti-Stadtteil, Diversität, eher links geprägt, nicht so teuer, man kennt die Leute, die hier leben und kommt gut miteinander klar: Jung und Alt, mit und ohne Handicap, mit unterschiedlichen Religionen und Lebensentwürfen.«11 Den Anwohnern wurde die Möglichkeit gegeben, positive Assoziationen zu nennen, die sie mit der Schanze in Verbindung bringen. In diesem Zusammenhang nannten viele Personen die gute Gemeinschaft der Anwohner, die dem Viertel – trotz der zentralen Lage – eine dörfliche Atmosphäre verleihen würde. Viele der Anwohner schätzen auch die Vielzahl an Restaurants und Bars sowie die entspannte Atmosphäre:

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Alle Zitate wurden wörtlich aus der Auswertung der offenen Fragen des Online-Fragebogens übernommen und finden sich im Anhang des Projektberichts.

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»Schon immer war einer der Pluspunkte des Schanzenviertels, dass es hier Bars gab, in denen auch unter der Woche immer etwas los war. Perfekt für alle die Kreativen, Künstler und Medien-Schaffenden des Viertels, deren Arbeitsrhythmus eben nicht so strukturiert ist, dass das Feierabendgetränk zum Abschluss eines Projekts immer exakt auf’s Wochenende fällt. Aber alle, die sich dann eben mal an einem Mittwoch Morgen um 03:00 Uhr ›die Festplatte neu formatieren‹ wollten, haben das mit so viel Rücksicht gemacht, dass man in den umliegenden Wohnungen trotzdem bei offenem Fenster schlafen konnte. Und wenn denn doch mal jemandem der Gaul durchgegangen ist, hat es gereicht, dass der Barkeeper ihn wieder eingefangen hat. Polizeieinsätze wegen Ruhestörung zwischen 1999 und 2005? Kann ich an einer halben Hand abzählen.« Neben all diesen positiven Assoziationen zum Schanzenviertel wurden die Bewohner auch nach ihren negativen Assoziationen gefragt. Hier zeigte sich vor allem, dass die Bewohner sich durch den Lärm und Schmutz, der vor allem durch Partys, Bars und Großveranstaltungen verursacht wird, massiv gestört fühlen. Einige der Befragten verglichen die Sternschanze deshalb mit dem Ballermann, da viele Touristen das Viertel als Party-Ort nutzen und ihren Müll dort hinterlassen. Des Weiteren bemängelten einige Anwohner die extrem hohen Mietpreise, das Cornern, die Gentrifizierung, den erhöhten Drogenkonsum und rücksichtslose Touristen. »Spätestens seit etwa 2012/2014 verkommt die einst spannende Schanze […] immer stärker zu einer Art ›Urbanem Disney Land‹ für Bewohner ›langweiligerer‹ Stadtteile, Touristen und das Bridge&Tunnel Umland. Nichts gegen Input von außen: den gab es hier immer und der war immer wichtig! Aber je mehr dieser auswärtige Einfluss von dem ganz entscheidenden kleinsten gemeinsamen Nenner an gegenseitiger Toleranz UND Respekt abweicht, der den Meltingpot Schanze einst erst lebenswert gemacht hat, um so mehr geht genau das verloren, weshalb das Quartier speziell und liebenswert war. […] Das Bild der Tourismusbehörde, Medien und Reiseführer als spannendes, kreatives, urbanes Viertel vermarkten, ist jedenfalls kaum mehr als traurige Deko-Folklore aus längst vergangenen Zeiten.« Auch wurden die Teilnehmer dazu aufgefordert, die verschiedenen Charakteristika der Social-Media-Analyse zu beurteilen. 42,5 Prozent der Befragten empfanden die Gastronomie als positiv, 25 Prozent positionierten sich neutral und 32,5 Prozent empfanden die Gastronomie als negativ. Anhand dieser

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Beurteilungen ist eine leicht positive Tendenz der Befragten zur Gastronomie festzustellen. Bei der Frage, wie die Anwohner den individuellen Einzelhandel abseits der Ketten empfinden, positionierten sich 62,5 Prozent positiv und 25 Prozent neutral. Bezüglich der Preise in Gastronomie und Handel zeigte die Beurteilung der Bewohner eine neutrale Tendenz. Die Frage zur Empfindung des Nachtlebens in der Schanze zeigte eine klare negative Tendenz der befragten Anwohnerschaft. Nur 15,4 Prozent nahmen das Nachtleben des Viertels als positiv wahr. Die Schanze als Treffpunkt für Freunde und Bekannte wurde von den Bewohnern neutral, mit einer leicht positiven Tendenz wahrgenommen. Des Weiteren wurde das Viertel von den Bewohnern tendenziell als sicher eingestuft. Beim Publikum zeigte sich ebenfalls eine deutliche Tendenz. Nur 7,5 Prozent empfanden das Publikum der Schanze als positiv, 20 Prozent gaben neutral als Antwort an und 72,5 Prozent drückten eine negative Empfindung aus. Die alternative Szene der Schanze wurde von 66,7 Prozent positiv und von 25,6 Prozent neutral wahrgenommen, wodurch sich auch hier eine deutlich positive Tendenz herauslesen lässt. Ähnliches gilt auch für die linksalternative Prägung der Schanze sowie für Graffitis und Street-Art. 51,3 Prozent der Befragten gaben an, die Graffitis als positiv wahrzunehmen. Eine weitere sehr deutliche Tendenz zeigte sich bei der Frage nach dem erhöhten Menschenaufkommen in der Schanze. Dieses wurde von 7,7 Prozent als positiv, von 12,8 Prozent als neutral und von 79,5 Prozent als negativ wahrgenommen. Auch dass die Schanze das Image eines Trendviertels trägt, wurde von den befragten Anwohnern als ähnlich negativ aufgefasst. Bei der Wahrnehmung der Atmosphäre gab es hingegen keine klaren Tendenzen. 41 Prozent hatten eine positive Wahrnehmung der Atmosphäre, 33,3 Prozent eine neutrale und 25,6 Prozent eine negative Wahrnehmung. Am Ende des Fragebogens wurden die Teilnehmer gebeten, sich zu ihrer Wahrnehmung des Fototourismus zu äußern. Der Fototourismus wurde im gleichen Maße als positiv bis neutral (jeweils 42,9 Prozent) wahrgenommen. Außerdem wurden die Teilnehmer im Rahmen einer offenen Frage gebeten, Stellung zur negativen Charakterisierung des Schanzenviertels in den sozialen Medien zu nehmen: Was bedeutet es für sie, wenn ihr Viertel als ›schmuddelig‹ dargestellt wird? Dazu gab es geteilte Meinungen.

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Abbildung 2: Positive beziehungsweise negative Tendenzen in der Wahrnehmung einzelner Charakteristika der Sternschanze aus Sicht der Anwohner

Quelle: Eigene Darstellung

Aussagen wie, »Ich weiß nicht, was am Schanzenviertel schmuddelig sein soll. Innenstädtisches Wohnquartier mit interessanten Hinterhöfen« trafen bei dieser Frage auf gegensätzliche Aussagen, wie zum Beispiel »Ja es ist dreckig und zu voll.« und »Ja: Die Schanze ist und war immer schmuddelig. Das gehört hier dazu.«. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass etwas mehr als die Hälfte der Befragten die Schanze als schmuddelig empfindet, dies allerdings sowohl als positiv, als auch als negativ wahrnimmt. Hierbei beziehen sich die meisten Aussagen auf den Dreck, der vor allem durch die Partygänger verursacht wird. Einer der Anwohner merkt beispielsweise an, dass nicht die Graffitis das Viertel schmuddelig machen, sondern der Müll: »Ja, es ist schmuddelig, das empfinde ich als negativ. Das bezieht sich jedoch nicht auf Streetart, sondern lediglich auf achtlos weggeworfenen Müll, Pisse, Zigarettenkippen und sonstigen Dreck«. Bei der Fragestellung, ob die Teilnehmenden einem Touristen einen Besuch in der Schanze empfehlen würden, entschieden sich etwas mehr als die Hälfte für eine Empfehlung. Generell zeigt sich vor allem bei den Weiterempfehlungen, dass besonders die kleinen Läden, Restaurants und Street-Art als interes-

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sant für Touristen wahrgenommen werden und somit weiterempfohlen werden würden. Beachtlich ist, dass sich dennoch 40,5 Prozent gegen eine Weiterempfehlung der Schanze entschieden. Begründung sei, dass der Touristenandrang auf die Schanze bereits zu groß sei. Ein Anwohner schreibt zum Beispiel: »Eigentlich fand ich mich immer gastfreundlich und offen. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Aus Eigeninteresse würde ich insofern einen Besuch nicht empfehlen.« Zusätzlich gaben 63,9 Prozent an, durch den Tourismus gestört zu werden. Betont wurden hierbei vor allem die Touristenmassen, die das Viertel regelmäßig besuchen: »Ja, sehr. In einem normalen Sommer laufen ständig geführte Touristengruppen durch die Gegend. An einigen Tagen ist kein Durchkommen mehr. Die Rücksichtslosigkeit der Touristen ist häufig sehr groß und einige meinen, sie seien endlich in Freiheit. Als Anwohner fühlt man sich bisweilen als Zootier. Der massiv zugenommene Tourismus verändert die Infrastruktur. Jegliche mögliche Kommerzialisierung wird ausgenutzt und langfristige Qualität reduziert.« 22,2 Prozent der Befragten gaben an, dass sie den Tourismus eigentlich gut finden, aber beispielsweise unzufrieden mit dem hinterlassenen Dreck der Touristen oder dem von ihnen verursachten Lärm sind. Bei der letzten Frage des Fragebogens wurden die Anwohner aufgefordert, Stellung zu nehmen, ob die sozialen Medien den Tourismus der Schanze ihrer Meinung nach verstärken. Der Großteil der Befragten war der Meinung, dass die sozialen Medien den Tourismus beeinflussen. Es sei auffällig, dass durch die sozialen Medien die Sternschanze als Trendviertel vermarktet wird und weitere Touristen angelockt werden würden.

Gegenüberstellung der Images Zentrum der zugrundeliegenden Forschung ist die Fragestellung, ob das durch die sozialen Medien vermittelte Stadtteilimage die Touristifizierung der Sternschanze begünstigt. Dazu muss geklärt werden, ob und inwiefern sich die Wahrnehmung der Touristen von jener der Bewohner unterscheidet. Im Folgenden werden zunächst die Bewertungen der in Tripadvisor gesammelten Charakteristika miteinander verglichen. Im Anschluss werden die durch die Auswertung der weiteren Social-Media-Plattformen sowie durch

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den Fragebogen gesammelten Ergebnisse integriert, um die Wahrnehmung des Viertels zu beschreiben und zu vergleichen.

Abbildung 3: Die acht am häufigsten genannten Charakteristika auf Tripadvisor sowie deren dazugehörige Bewertungen im Vergleich mit den Bewertungen aus dem Anwohner-Fragebogen

Quelle: Eigene Darstellung

Die Grafik lässt erkennen, dass die Wahrnehmung sich in einzelnen Fällen ähnelt, sie jedoch in einigen Aspekten auch stark auseinanderklafft. Die Gastronomie wurde von den Tripadvisor-Nutzern sehr positiv wahrgenommen. Die befragten Anwohner erkennen sowohl die positive als auch die negative Seite des gastronomischen Angebotes, wie sich an der Bewertung von 0,1 erkennen lässt. Ein extremeres Beispiel ist die Kategorie Nachtleben. Die Nutzer von Tripadvisor nehmen auch das Nachtleben im Schanzenviertel tendenziell sehr positiv wahr (Wert von 0,7). Bei den Anwohnern ist es das genaue Gegenteil. Das Nachtleben wird mit einem Wert von -0,5 eher negativ wahrgenommen. Die Lautstärke, der hinterlassene Schmutz der Partygänger und die gefühlte Respektlosigkeit, ausgelöst durch die Feiertouristen im Schanzenviertel, lassen bei den Bewohnern nur wenig positive Gefühle bezogen auf

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das Nachtleben aufkommen. Dies deckt sich mit der Bewertung der Kategorie Publikum. Bei den Anwohnern ist dieser Punkt mit einem Wert von -0,6 der schlechteste. Aus den Antworten zu den offenen Fragen wurde jedoch deutlich, dass sich die negative Wahrnehmung des Publikums auf den Binnentourismus bezieht. »Die Tourist*innen stören mich, wenn sie distanz- und rücksichtslos sind und ihren Müll und ihre Exkremente in meinem Hauseingang hinterlassen. Ansonsten reise ich gerne, bin also auch oft Touristin. So wie ich dort willkommen geheißen werde, bin ich auch gastfreundlich zu Besucher*innen in meiner Nachbarschaft. Die vielen kleinen Gewerbetreibenden, die ein wichtiger Teil des Viertels sind, und ihm das Gesicht geben, sind auf touristische Kundschaft angewiesen.« »Die Tourist*innen sind nicht so sehr das Problem, eher die Partygänger*innen, die aus Hamburg oder den umliegenden Gemeinden zum Feiern kommen und die stören in der Masse und Rücksichtslosigkeit.« In der Wahrnehmung der Befragten sind es die Bar- und Clubbesucher, die aus anderen Stadtteilen Hamburgs oder der näheren Umgebung kommen und sich nicht angemessen verhalten. Touristen, welche nicht aus Hamburg kommen, werden von manchen Anwohnern gelegentlich auch als negativ wahrgenommen, beispielsweise wenn sie in Gruppen unterwegs sind und so Wege und Eingänge zu den Wohnhäusern blockieren. Tendenziell sind jene Touristen, die am Schanzenviertel aktiv interessiert sind, jedoch eher willkommen. Ein weiterer Punkt, in dem sich die Wahrnehmungen der beiden Gruppen stark unterscheiden, ist das Sicherheitsgefühl. Die Social-Media-Nutzer schätzten das Gefühl der Sicherheit im Viertel eher negativ ein. Begründen lässt sich dies den Bewertungen zufolge durch die Konsumenten von Alkohol und Drogen, die vor allem im Schanzenpark anzutreffen waren. Die Anwohner der Schanze empfinden ihr Viertel nicht als unsicher. In den Punkten Alternative Szene und Graffiti sind sich beide Gruppen mit ihrer positiven Tendenz relativ einig. Die Atmosphäre im Schanzenviertel wird von den Nutzern von Tripadvisor positiver wahrgenommen als von den Anwohnern. User von Reiseblogs ähneln sich in ihrer Wahrnehmung des Schanzenviertels den in der Grafik abgebildeten Bewertungen der Tripadvisor-Nutzer, denn auch sie schätzen die Gastronomie und den Einzelhandel. Großen Wert scheinen die Blogger jedoch im Gegensatz zu den anderen sozialen Medien auf die konkrete Empfehlung von Restaurants, Hotels und Aktivitäten, wie beispiels-

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weise den Flohmarkt Flohschanze, zu legen. Derartige Empfehlungen lassen sich in fast allen untersuchten Blogs finden. Im Vergleich zu den anderen sozialen Medien lassen lediglich die Reiseblogs einen tatsächlichen tieferen Einblick in das Schanzenviertel zu. So schreibt beispielsweise der Blog Das fliegende Klassenzimmer sogar etwas über die Historie des Viertels. Die Auswertung der Instagram-Beiträge machte deutlich, was die User am Schanzenviertel als Fotokulisse schätzen. So zählen die Graffitis neben den Porträts zu den am häufigsten abgebildeten Motiven. Die Graffitis werden von den Bloggern, Nutzern von Tripadvisor sowie auch von den Anwohnern tendenziell positiv wahrgenommen. Die hohe Häufigkeit der Graffitis als Instagram-Motiv bekräftigt deren Bedeutsamkeit für den Fototourismus im Schanzenviertel.

Schlussbetrachtung und Ausblick Abschließende Image-Gegenüberstellung Was macht die Sternschanze für die Anwohnerschaft aus? Die Anwohner sind sich einig. Sie schätzen das tolerante Miteinander unter den Bewohnern und schreiben beispielsweise »Ein Dorf, in dem vieles vertraut ist«, oder auch »Man kennt die Leute, die hier leben und kommt gut miteinander klar«. Die Lage in der Stadt ist zentral. Dennoch gibt es durch den Schanzenpark ausreichend Grünflächen, welche die Bewohner besonders schätzen. Die Sternschanze bietet durch ihre zentrale Lage die Vorteile einer Stadt, ist in der Atmosphäre untereinander aber »dörflich« geblieben. Die politische Verbundenheit in der Sternschanze ist etwas, wofür das Viertel spätestens seit dem G20-Gipfel im Jahr 2017 bundesweit bekannt ist.12 Auch die Bewohner schätzen das politische Engagement der Nachbarschaft. Zum Image des Schanzenviertels seitens der Bewohner zählt mittlerweile jedoch auch der Ballermann-Tourismus. Die Partytouristen bringen einige Probleme mit sich, denn deren Anströmen führt vor allem am Wochenende zu starken Lärmbelästigungen. Dabei geht die Lautstärke nicht nur von den Nachtclubs und Bars aus, denn auch das Cornern ist ein stetiges Problem im Schanzenviertel (vgl. hierzu den Beitrag von Kirschner und Saretzki im vorliegenden Band). Die Menschengruppen, die sich in 12

Vgl. https://www.welt.de/regionales/hamburg/article166433213/G-20-wird-sich-wieSturmflut-in-Hamburgs-DNA-brennen.html (Zugriff 14.01.2023).

Touristifizierung durch soziale Medien?

den Hauseingängen und auf Bürgersteigen sammeln, erhöhen nicht nur den Lärmpegel direkt vor der Tür, sondern blockieren auch die Wege und Eingänge für die Bewohner. Des Weiteren werden der Müll und die leeren Flaschen häufig nicht rechtmäßig entsorgt und die Hauseingänge werden gelegentlich, wie die Bewohner berichteten, als ›öffentliche Toiletten‹ genutzt. Im Juni 2020 ging es dem Stadtviertel zu weit – der durch das Virus COVID-19 ausgelöste Lockdown führte zu einem enormen Aufkommen von Cornernden in der Schanze.13 Auch die Gentrifizierung des Stadtviertels belastet die Bewohner und hat das Stadtbild über die Zeit stark verändert. Für die Bewohner und die Gewerbetreibenden sind die Mieten gestiegen. Als Folge dessen konnten alteingesessene Betriebe ihre Läden nicht mehr halten und mussten schließen. Stattdessen wurde die Schanze durch die Sanierungsmaßnahmen ein vielversprechender Standort für die Gastronomie, welche sich stark angesiedelt hat und ein Anziehungspunkt für Touristen ist. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Anwohnerschaft des Schanzenviertels dieses als nachbarschaftlich wahrnimmt, aber auch als zu touristisch. In einer Eins- bis Fünf-Sterne-Bewertung vergeben die Anwohner im Durchschnitt 3,4 Sterne an die Sternschanze. Die Bewertung der Nutzer von Tripadvisor beträgt 3,9 Sterne. Was umfasst das Image der Social-Media-Nutzer? Vielfältig, künstlerisch und alternativ – so wird das Schanzenviertel online empfunden. Hier treffen Menschen verschiedener Kulturen und mit unterschiedlichen Lebensweisen aufeinander. Graffiti und Street-Art prägen die Erscheinung des Stadtviertels. Die Schanze ist zu einem Trendviertel geworden. Neben dem kulinarischen Angebot eignet sie sich als Fotokulisse und als Treffpunkt mit Freunden. Jedoch wird das Stadtviertel auch als dreckig und unsicher wahrgenommen. Für einen Tagesausflug lässt sich das scheinbar hinnehmen. Bei den Auswertungen der Plattformen ließen sich kaum Touristen finden, die ein Hotel im Schanzenviertel empfahlen oder von einem mehrtägigen Aufenthalt sprachen. Im Gegenteil: »Die Sternschanze eignet sich gut für einen Tagesausflug«, lauten die Aussagen auf Tripadvisor. Denn die Sternschanze unterscheidet sich von den anderen Teilen Hamburgs. Der Tourist kann dort das ›richtige Hamburg‹ entdecken und einen Einblick in das Leben der hippen Hamburger erhalten. Zumindest scheinen die Nutzer sozialer Medien dieses Gefühl zu haben. Der Vergleich der Images zeigt, dass sich diese deutlich voneinander 13

Vgl. https://www.mopo.de/hamburg/urin-kot-und-kotze-anwohner-wehren-sich-geg en-partyvolk-auf-der-schanze/ (Zugriff 14.01.2023).

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unterscheiden. Das Image der Nutzer von sozialen Medien verschönert die tatsächliche Situation der Sternschanze. Durch die Betrachtung des Viertels als Tagesausflugsziel werden wichtige Aspekte, die das Leben der Anwohner stark beeinflussen, nicht berücksichtigt.

Fazit Zusammenfassend kann die Fragestellung, ob das durch die sozialen Medien Tripadvisor, Instagram und Reiseblogs vermittelte Stadtteilimage die Touristifizierung der Sternschanze begünstigt, bejaht werden. Die Sternschanze besitzt in den sozialen Medien ein extrem positives Image. Das Viertel wird als ein abwechslungsreiches, spannendes und trendiges Tagesausflugsziel dargestellt und scheint den Touristen dabei ein authentisches Eintauchen in das augenscheinlich hippe Alltagsleben der Schanzenbewohner zu versprechen. Negativ empfundene Charakteristika wie der Schmutz und die Unsicherheit sind im Gesamtbild eher kleine Einbußen, die sich an ein bis zwei Tagen gut ertragen lassen. Intensiviert wird diese Ansicht durch das Phänomen der sogenannten Instagramability. Die Folge sind Diskrepanzen zwischen den Wahrnehmungen des Ortes in der digitalen und der realen Welt. Um die Sicht der Anwohner nachvollziehen zu können und damit einen Blick hinter die – durch die sozialen Medien aufgebaute – Fassade des Schanzenviertels zu werfen, ist es jedoch nicht ausreichend, einen Tag in der Sternschanze zu verbringen. Die Touristen sind also von den Problematiken der Anwohner nicht betroffen. Das gute Image des Viertels wird im Netz weiterhin verbreitet, womit auch die Touristifizierung der Sternschanze vorangetrieben wird. Das Image seitens der Anwohner, welche die Schanze als dörflich, aber zu touristisch beschreiben, wird dadurch noch stärker ins Negative beeinflusst. Für die Anwohner machen besonders das nachbarschaftliche und tolerante Miteinander sowie das politische Engagement die Sternschanze zu einem einzigartigen und gern bewohnten Ort. Berücksichtigt werden sollte jedoch, dass bei der Befragung der Anwohnerschaft keine Repräsentativität sowie eine mögliche Verzerrung des Meinungsbildes durch die Verärgerung der Anwohner hinsichtlich der oftmals nicht eingehaltenen Kontaktbeschränkungen von Besuchern der Sternschanze im Zuge der während der Umfrage grassierenden COVID-19-Pandemie vorlag. Des Weiteren empfinden die Bewohner vor allem die Binnentouristen, welche zum Feiern in den Stadtteil kommen, als störend. Es wäre ein wei-

Touristifizierung durch soziale Medien?

terer interessanter Forschungsansatz, beispielsweise durch eine Befragung bei cornernden Personen zu analysieren, inwieweit die sozialen Medien bei ihren Beweggründen, das Schanzenviertel zu besuchen, überhaupt eine Rolle spielen. Auch könnte die Vergrößerung der Auswahl der sozialen Medien neue Erkenntnisse bringen. Plattformen wie TikTok, die hauptsächlich von jüngeren Zielgruppen genutzt werden, oder Pinterest, eine Plattform zum kreativen Austausch, bieten ganz andere und durchaus interessante Daten zum Auswerten. Generell lässt sich zu der Auswertung der sozialen Medien sagen, dass die Bewertung der Beiträge durch die persönliche Meinung der Auswerter beeinflusst sein könnte. Die Objektivität ist bei vorliegenden Daten in Form von Bewertungen und Posts nur schwer zu gewährleisten. Eine Umfrage bei den Nutzern mit einem der Anwohnerbefragung ähnlich gestalteten Fragebogen könnte Ergebnisse hervorbringen, die eine höhere Objektivität aufweisen. Unbestritten ist, dass die Sternschanze auch in nächster Zeit als Trendviertel Hamburgs gelten wird und die sozialen Medien weiterhin das Leben sowie die Entscheidungen vieler Menschen beeinflussen. Es bleibt zu beobachten, wie das Viertel mit der unter anderem daraus resultierenden Touristifizierung umgehen wird.

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›Cornern‹ als urbane Praxis Ursula Kirschner und Anja Saretzki

»Die corner boys, die Eckensteher, sind Gruppen von jungen Männern, deren gesellschaftliche Aktivitäten sich an bestimmten Straßenecken konzentrieren, die nächstgelegenen Friseurläden, Imbißstuben, Billardsalons oder Clubs eingeschlossen.« (Whyte 1996: 4)

Ende der 1930er Jahren studierte der US-amerikanische Soziologe William Foote Whyte die sozialen Aktivitäten einer Gruppe von jungen, meist arbeitslosen oder prekär beschäftigten Männern im Bostoner North End. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Nutzung des öffentlichen Raums in Form von Straßenecken, die informelle Treffpunkte darstellten. Daran anknüpfend schuf Whyte die Bezeichnungen Corner Boys und Street Corner Society und legte so die begriffliche Grundlage für ein Phänomen, das im deutschsprachigen Raum, vor allem aber in Hamburg als Cornern bezeichnet wird. Die Straßenecke als Ort des Zusammentreffens, des ›Abhängens‹, des geselligen Zusammenseins und Alkoholkonsums im öffentlichen Raum hat mittlerweile in Presse und Populärkultur Karriere gemacht (vgl. Kurby 2018) und ist dabei zum Problemfeld urbanen Miteinanders geworden. In Hamburg zählt das Schanzenviertel zu den bevorzugten Zielen von Cornernden und dort zeigen sich diese Probleme deutlich. Der nachfolgende Beitrag unternimmt den Versuch, das Cornern theoretisch zu kontextualisieren und darauf aufbauend für das Schanzenviertel zu diskutieren. Der Blick soll sowohl auf die Bedeutung des Cornerns als urbane Praxis junger Menschen als auch auf die damit verbundenen Probleme und diesbezügliche Lösungsansätze gelenkt werden. Als

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Grundlage für die folgenden Ausführungen dienen einerseits ein Literaturund Dokumentenstudium, wobei letzteres den Fokus auf die Analyse von Tageszeitungen und Websites rund um das Hamburger Corner-Geschehen legt. Weiterhin wurden quantitative und qualitative Daten im Rahmen von zwei Lehrforschungsprojekten in den Sommersemestern 2020 und 2021 erhoben. Dazu wurden u.a. Straßeninterviews, Online-Befragungen und teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Ergänzt wurden diese Daten durch Studien einzelner Masterstudierenden sowie durch Gespräche und Expertinneninterviews mit Vertreterinnen von Bezirksamt und Polizei, die Ende 2022 und Anfang 2023 realisiert wurden.

Was ist Cornern? Beim Begriff des Cornerns handelt es sich aus linguistischer Sicht um einen Neologismus bzw. Pseudoanglizismus. Das Wort leitet sich vom englischen Substantiv corner (= Ecke) ab. Als ein gemeinschaftliches Herumstehen an Straßenecken hat der Begriff jedoch kein Pendant in der englischen Sprache.1 Das Cornern erfüllt die Funktion eines Kneipenbesuchs,2 kommt aber ohne die Institution Kneipe aus. Es ist eine ›Begegnungsform‹ (Siber 2018), bei der man den öffentlichen Raum als Kneipe nutzt. Man steht oder sitzt zusammen auf dem Bürgersteig, redet und trinkt, muss aber nicht trinken, denn im öffentlichen Raum gibt es keinen Konsumzwang. Es geht vor allem um das eher spontane, gesellige und zwanglose Zusammensein. Während der Begriff Cornern vor allem in Hamburg für diese Art der Raumaneignung genutzt wird, spricht man in Lüneburg vom Bridgen auf der Stintbrücke,3 in Hannover ist es das Limmern auf der Limmerstraße (vgl. Kalinke 2022) und in Stuttgart geht man pa-

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»To corner someone« bedeutet im Englischen »jemanden in die Ecke drängen«, »jemanden in die Enge treiben« oder »jemanden in Verlegenheit zu bringen« (https://dict.leo. org/englisch-deutsch/corner; Zugriff 19.12.2022). In der angelsächsischen Wirtschaftsund Börsensprache gibt es zudem die Begriffe corner the market (= eine marktbeherrschende Stellung erlangen) und stock cornering (im Deutschen: Wertpapier-Cornern). Letzteres bezeichnet spekulative Aktionen, die darauf abzielen, Engpässe zu erzeugen, um Kurse in die Höhe zu treiben (vgl. https://boersenlexikon.faz.net/definition/corne rn/; Zugriff 19.12.2022). Kurby (2018) verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Verwandtschaft des Cornerns mit der der Eckkneipe. Vgl. https://www.luenepedia.de/wiki/Bridgen (Zugriff 19.12.2022).

›Cornern‹ als urbane Praxis

lasten am Kiosk ›Palast der Republik‹4 . Ebenfalls in diese Aufzählung gehört die Kultur der Spätis in Berlin (vgl. Klier 2013; Wenzl/Everts/Ringel 2020) und der Büdchen und Trinkhallen in Nordrhein-Westfalen (vgl. Osses 2009) mit ihrer Bedeutung als soziale Treffpunkte sowie die Praxis des Botellón in Spanien (vgl. Pedrero-García 2018) oder in der Schweiz5 , wobei letzteres sich vor allem durch den übermäßigen Konsum von Alkohol auszeichnet. Alle genannten Praktiken verweisen auf eine Nutzung des öffentlichen Raums, die sowohl durch den sozialen Austausch als auch durch Konflikte über die Art und Weise dieses Austausches und der damit einhergehenden Besetzung des öffentlichen Raums gekennzeichnet ist. Diese Charakteristika finden sich schon in Whytes Studie Street Corner Society. Die unangepassten Corner Boys nutzen die Straßenecken ihres Stadtteils für ihr hedonistisch orientiertes Freizeitverhalten. In einer interaktionistischen Lesart von Whytes Studie ist deren Street Corner Society in der Subkulturforschung zu verorten, wie Lindner (1998: 280) konstatiert. Das deviante Verhalten der Corner Boys steht im Gegensatz zum dominanten Wertesystem, das bei Whyte die angepassten und aufstiegsorientierten College Boys verkörpern. Ähnlich argumentieren auch MacDonald und Shildrick (2007: 344) in ihrer Beschreibung der Street Corner Leisure von sozial exkludierten Jugendlichen im Nordosten Englands. Straßenecken werden dort als Lebensmittelpunkt von Schulabbrechern identifiziert: »Friendships and street corners are the main thing« (ebd.: 339, Herv. i.O.) zitieren die Autoren eine von ihnen interviewte Sozialarbeiterin. Diese Zusammenhänge finden sich auch in der Hip-Hop-Kultur, die sich ab den 1970/1980er Jahren in den USA ebenfalls an den Straßenecken großer Städte etabliert und als zweiter Vorläufer des Cornerns gilt. Hier liegt der Fokus auf der räumlichen Aneignung von Straßenecken im Rahmen von Rap- und Breakdance Battles durch afro-amerikanische Jugendliche der Arbeiterklasse. Forman (2002: 42, 67) betont die zentrale Rolle des städtischen Raums und gerade der Straßenecke für die Entwicklung des Hip-Hops. Für ihn kann »the corner« auch als Metapher und als »a source of black identification and ghetto authenticity« (ebd.: 128) gelesen werden. Welche Bedeutung dieser Art von städtischem Raum noch heute im Hip-Hop zukommt, verdeutlicht der Song »The Corner« (2005) des US-Rappers Common feat. The Last Poets: »The corner was our magic, our music, our politics […] Our testimonial to freedom, to 4 5

Vgl. https://geheimtippstuttgart.de/palast-der-republik/ (Zugriff 19.12.2022). Vgl. https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/wil/was-ist-botellon-ld.497447 (Zugriff 21. 12.2022).

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peace, and to love, down on the corner«.6 Als sozialer Treffpunkt wird die Straßenecke in der Hip-Hop-Kultur zum Ort von Kunst und (Sub-)Kultur, in der sich gleichzeitig sozialer Protest ausdrückt. Die Straßenecke ist also nicht nur einfach als Teil des Ordnungsmusters der städtischen Verkehrsinfrastruktur zu verstehen, sondern sie kann auch einen repräsentationalen Raum im Lefebvreschen Sinne und damit einen emotionalen, gelebten Raum darstellen (vgl. Lefebvre 1991: 39), der zum zentralen subkulturellen Symbol wird, wie Whytes Street Corner Society und der Street Corner Rap der Hip-Hop-Kultur zeigen. Diese Funktion zeigt sich auch in der Praxis des Cornerns: Ohne Konsumzwänge stellt die Straßenecke einen demokratischen Ort der Versammlung und Unterhaltung dar. Indem es den öffentlichen Raum auf eine abweichende Weise nutzt, beinhaltet das Cornern ein soziales Statement, das auf die Wiederaneignung des öffentlichen städtischen Raums abzielt.

Der öffentliche Raum als Spiegel der Gesellschaft Öffentliche Räume sind Teile der Stadt, die (potenziell) für alle leicht zugänglich und vielfältig nutzbar sind. Sie zeichnen sich durch eine spezifische räumliche und soziale Infrastruktur aus (vgl. Roll 2019: 89f.). Damit sind öffentliche Räume integrale Bestandteile der städtischen Struktur (vgl. Klamt 2012: 778f.; Stadtentwicklung Wien 2009: 17). Ihre soziale und politische Bedeutung als Orte des Diskurses macht sie zum Wohnzimmer oder auch Gemeinschaftsraum einer Stadt (vgl. Arendt 1997: 62–70; Habermas 1990: 53). In ihnen treffen die unterschiedlichsten Lebensentwürfe und Vorstellungen aufeinander. Interessenskonflikte entstehen aus gegensätzlichen Nutzungsansprüchen, fragmentierten Zuständigkeiten und einer zunehmenden kommerziellen Beanspruchung des öffentlichen Raums. In beliebten Stadteilen werden durch Verdichtung Flächen knapp und teuer. An anderen Orten hingegen führt Wegzug und Strukturwandel, wie derzeit durch Schließung innerstädtischer Einzelhandelsgeschäfte, zu Leerstand und Vernachlässigung. Am Zustand öffentlicher Räume wird deshalb sichtbar, welchen Stellenwert die Gesellschaft ihnen entgegenbringt (vgl. Bundesstiftung Baukultur/Nagel 2020: 19). Gleichzeitig bilden öffentliche Räume gesellschaftliche Trends und Veränderungen ab und

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https://www.youtube.com/watch?v=6mnKNr2Tiq8 (Zugriff 21.12.2022).

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werden so zum Spiegel der Gesellschaft (vgl. Schubert 2000: 7; Stadtentwicklung Wien 2009: 17).

Entwicklung des öffentlichen Raums Der Begriff des öffentlichen Raums taucht im Deutschen erst nach 1950 auf. Zuvor sprach man lediglich von Straßen, Plätzen und öffentlichen Anlagen. Plätze wurden vor der Zeit der Industrialisierung in erster Linie zur herrschaftlichen Repräsentation angelegt. Dabei überlagerten sich bspw. auf Marktplätzen die Nutzungen durch Handel oder Militär. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es auf den Straßen feste Fahrbahnen sowie eine Regulierung des Verkehrs. Das unkontrollierte Wachstum der Städte machte es nötig, den Ausbau neuer Flächen zu planen und zu regulieren. Im Zuge dieser Entwicklung entstand der öffentliche Raum in seiner heutigen Form (vgl. Bundesstiftung Baukultur/Nagel 2020: 21f.). Durch die Entwicklung vom Verkehrsraum zum Lebensraum übernimmt der öffentliche Raum neue Aufgaben. Im Vordergrund stehen idealerweise seine gesellschaftlichen und politischen Funktionen: Als Raum der Versammlung, der sozialen Verständigung, der sozialen Teilhabe und der Bildung steht er für die Herstellung von Öffentlichkeit und ist damit unabdingbar für demokratisch verfasste Gesellschaften (vgl. Arendt 1997: 71; Bundesstiftung Baukultur/Nagel 2020: 23; Klamt 2012: 788f.; Simon 2007: 156). Fraser (1990: 65–70) hebt aus einer feministischen Perspektive die Möglichkeit des Aufeinandertreffens diverser Akteurinnen als wichtiges Moment des öffentlichen Raums hervor, in dem das Gemeinwohl im Sinne einer »public-spirited collectivity« (ebd.: 72) zum Ausdruck gebracht wird. Da Gesellschaften sich ständig wandeln, wandeln sich auch die Ansprüche an öffentliche Räume und machen sie zu Seismografen der gesellschaftlichen Beschaffenheit (vgl. Bundesstiftung Baukultur/Nagel 2020: 23). Blicken wir auf die Zeit der Nachkriegsjahre, so waren diese charakterisiert durch einen Rückzug ins Private. Die eigenen vier Wände hatten einen hohen Stellenwert, und der Fernseher übernahm die Funktion einer neuen Öffentlichkeit. In den 1960er und 70er Jahre wurde mit der Kahlschlagsanierung in den Großstädten vieles dem Ziel der autogerechten Stadt untergeordnet. In Alexander Mitscherlichs Buch aus dem Jahr 1965 Die Unwirtlichkeit unserer Städte und der Reportage von Kai Hermann und Horst Rieck mit dem Titel Christiane F. – Wir Kinder von Bahnhof Zoo (1978) wurde die Architektur in den Satellitenstädten verantwortlich gemacht für menschliche Tragödien. In Folge trat lang-

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sam ein Paradigmenwechsel in der Stadtplanung ein, eine Rückbesinnung auf die Gründerzeitstadt wurde neu diskutiert. Sichtbar wurde diese Trendwende an den Bauwerken der internationalen Bauausstellung (IBA) 1986 in Berlin. Die Neubau-IBA rekonstruierte die südliche Friedrichstadt mit moderner Architektur und die Altbau-IBA setzte Altbauten mit modernen Nutzungen instand. Erst seit den 2000er Jahren mit der Mediterranisierung und Eventisierung der Großstädte und dem Aufkommen tragbarer digitaler Geräte (Laptops, Smartphones) wurde der öffentliche Raum zum erweiterten Wohnzimmer. Der Coffee-to-go ermöglichte es, sich zum Kaffeetrinken unabhängig vom Café an einem öffentlichen Ort eigener Wahl niederzulassen und sich den Raum anzueignen. Menschen begannen, den Genusswert öffentlicher Räume schätzen zu lernen. Das mit der WM 2006 einhergehende ›Sommermärchen‹ in Deutschland hat mit der Austragung kollektiver Feiern beim Public Viewing in bisher unbekannter Dimension das Potenzial öffentlicher Plätze vor Augen geführt. Der Ausbau der Außengastronomie wurde aktiviert, nachdem in Innenräumen das Rauchen weitgehend verboten wurde. Die zunehmend warmen Sommer- und Übergangszeiten locken Menschen insbesondere abends und nachts in den öffentlichen Raum, um die lauen Abendstunden außerhalb der aufgeheizten Wohnungen zu verbringen (vgl. Bundesstiftung Baukultur/ Nagel 2020: 25). Neben den Anwohnerinnen sind es zudem temporäre Stadt(teil)nutzerinnen, die den öffentlichen urbanen Raum stärker beanspruchen: Städtetourismus boomt. Das betrifft auch die nächtliche Stadt. Nofre (2021) konstatiert einen Zusammenhang zwischen Städtetourismus und nächtlicher Freizeitökonomie und sieht in dieser ›Touristifizierung der Nacht‹ eine Verdrängung des traditionellen lokalen Nachtlebens. Diese Zusammenhänge lassen sich mittlerweile in vielen Städte beobachten (vgl. Aramayona/García-Sánchez 2019; Giordano/Nofre Mateu/Crozat 2018). Auch in Hamburg lässt sich der Städtetourismusboom beobachten.7 Mit St. Pauli und der Reeperbahn verfügt die Stadt zudem über ein weithin bekanntes Ziel des Nachtlebens. Zu den temporären Stadtnutzerinnen gehören jedoch nicht nur Übernachtungsgäste:

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Hamburg zählt mittlerweile zu den Top-Destinationen Deutschlands und verzeichnet mit einer Steigerung von 88 % (Deutschland gesamt: +34 %) im Zeitraum 2009 bis 2019 überdurchschnittliche Wachstumsraten bei den Übernachtungen (vgl. Hamburg Tourismus 2020: 5, 10).

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Insbesondere in der Sternschanze breitet sich zudem eine Form von Binnentourismus8 aus: Junge Menschen aus den benachbarten Stadtteilen oder dem Umland kommen zum Feiern in die Sternschanze, und viele genießen diesen Ort gerade wegen des Cornerns.

Urbanität Die Attraktivität von Stadtvierteln speist sich häufig aus ihrer wahrgenommenen Urbanität. Nach Bahrdt basiert Urbanität im Wesentlichen auf der Polarisierung von Öffentlichkeit und Privatheit: »Je stärker Polarität und Wechselbeziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre sich ausprägen, desto städtischer ist, soziologisch gesehen, das Leben einer Ansiedlung.« (Bahrdt 1961: 38f., Herv. i.O.). Begriffe von Privatheit und Öffentlichkeit haben sich jedoch im historischen Verlauf kontinuierlich hinsichtlich ihrer Normativität gewandelt. Heute erweckt die Stadt den Eindruck, je mehr das private Alltagsleben im öffentlichen Raum stattfindet, umso urbaner wirkt die Stadt. Die Praxis des placemaking9 gewinnt in diesem Zusammenhang immer mehr Bedeutung, um den Bedürfnissen aller Stadtnutzerinnen gerecht zu werden (vgl. Toolis 2017). Die Stadtforscherin Jane Jacobs beschreibt in ihrem Buch The Death and Life of Great American Cities (1961) die Unordnung der öffentlichen Räume und erkennt darin das, was eine Stadt urban macht. Sie kritisiert in hohem Maße die Segmentierung der Stadt durch den Verkehr und den damit einhergehenden Verlust des öffentlichen Lebens in den Straßen und auf den Plätzen. »Die Straßen und ihre Bürgersteige sind die wichtigsten öffentlichen Orte einer Stadt, sind ihre lebenskräftigsten Organe« (Jacobs 2015: 27). Auf den Beobachtungen von Jacobs basiert Jan Gehls Etablierung eines veränderten Blickwickels auf die gebaute Stadt – weg von der Vogelperspektive hin zu einer Betrachtung auf Augenhöhe der Menschen (vgl. Gehl 2015). Der dänische Stadtplaner und unermüdliche Aktivist für eine menschengerechte 8

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Gleichzeitig könnte man auch vom Als-ob-Tourismus sprechen: Im Zuge der »Touristifizierung des Alltags« (Wöhler 2011: 40) verschwimmen die Grenzen zwischen lokaler und touristischer Raumaneignung und »[c]itizens in the postindustrial city increasingly make quality of life demands, treating their own urban location as if tourists« (Clark et al. 2002: 493). »Placemaking is a term that encompasses the diverse actions that seek to ensure people’s surroundings offer them the best possible chances of thriving and fulfilling their potential in life.« (UN-Habitat 2020: 6, Herv. i.O.; vgl. auch Ellery/Ellery/Borkowsky 2021)

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Stadt macht den Menschen wieder zum Mittelpunkt der Stadtplanung und benennt Schutz, Komfort und Freude als übergeordnete Qualitätskriterien für öffentliche Räume (vgl. ebd.: 274). Auch in der Neuen Leipzig-Charta zur Stadtentwicklungspolitik haben die Staaten der Europäischen Union diesen veränderten Ansprüchen und Blickwinkeln in ihrer urbanen Agenda Rechnung getragen (vgl. Neue Leipzig-Charta 2020). Der Soziologe Richard Sennett verbindet Urbanität zudem mit der Neugier auf Fremdes und Diversität, die sich im öffentlichen Raum vielfach finden.10 Er überträgt Kants Vergleich des Menschen mit einem ›krummem Holze‹ auf Städte: »Städte sind krumm, weil sie von Unterschieden geprägt sind, voller Einwanderer mit Dutzenden von Sprachen; weil die Ungleichheit dort so offenkundig wird […]« (Sennett 2018: 11). Dieser Vision Sennetts liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund ein harmonisches Zusammenleben führen können und sollen sowie das Vielfalt sich positiv auf die Gesellschaft im Allgemeinen auswirkt. Auf dieser Grundthese bauen Sennetts weitere, spezifische Überlegungen zur Öffnung der Stadt auf. Er kritisiert, dass derzeit Städte als geschlossene Systeme geplant werden und schlägt vor, sie wieder zu öffnen. Damit soll der zunehmend segregierten, von sozialen und ethnischen Ungleichheiten wie von Ideologien geprägten Stadt entgegengewirkt werden, um sie zu ihrem ursprünglichen Ideal eines bedingungslosen, gerechten Stadt- und Lebensraums für alle zurückzuführen (vgl. ebd.: 11f.). Auch der marxistische Philosoph Henri Lefebvre versteht die Stadt als Ort der Begegnung, geht aber noch einen Schritt weiter, wenn er sie charakterisiert als »Ort der Begierde, permanentes Ungleichgewicht, Sitz der Auflösung von Normalitäten und Beschränkungen, Augenblick des Spielerischen und Unvorhersehbaren« (Lefebvre 2016: 122). Daraus ergibt sich Zentralität als besondere Qualität des Urbanen: Als Ort »des Zusammenlaufens von Kommunikationen und Informationen« (ebd.) und deren Vermittlung steht die Stadt für die Konvergenz unterschiedlicher gesellschaftlicher Elemente. Die Stadt akkumuliert und konzentriert, sie bedeutet dabei Komplexität und Verwirrung, Virtualität und Unvorhersehbarkeit (vgl. Lefebvre 2014: 46f.). »Das Städtische definiert sich als der Ort, wo die Menschen sich gegenseitig auf die Füße treten« (ebd.: 46). Öffentliche Räume sind dafür exemplarisch. Begegnung, Gleichzeitigkeit 10

»Die ethische Verbindung zwischen Stadtplaner und Stadtbewohner besteht darin, sich in einer gewissen Bescheidenheit zu üben: Man lebt als einer unter vielen in einer Welt, in der man sich nicht selbst gespiegelt sieht.« (Sennett 2019: 369f.)

›Cornern‹ als urbane Praxis

und Differenz markieren folglich für Lefebvre die städtische Form. Damit birgt sie ein hohes Konfliktpotenzial, stellt aber gleichzeitig eine Quelle von Kreativität und Innovation dar (vgl. ebd.: 127). Diese Widersprüchlichkeit der Stadt macht sie einerseits zu einem staatlichen und ökonomischen Entscheidungsund Machtzentrum. Andererseits bleibt sie aber ein potenziell revolutionärer Ort, »ein Herd der Agitation« (Lefebvre 2016: 120), dem für Lefebvre die Möglichkeit zur gesellschaftlichen Veränderung innewohnt. Die in der heutigen Stadt zu beobachtende neokapitalistische Kommodifizierung und Einhegung der Stadt fordert den urbanen Widerstand einerseits heraus, doch gleichzeitig hat die hegemoniale politische und ökonomische Klasse kein Interesse daran, diesen Widerstand gänzlich einzuhegen, da sich dahinter eine »Verwegenheit«, ein »Willen zur Erforschung des Möglichen und des Unmöglichen« und eine »kulturelle Entwicklung« verbirgt, wie Lefebvre es nennt (Lefebvre 1991: 386, Übersetzung A.S.), die sich in kreativen Aktionen ausdrückt und entscheidend zur städtischen Reputation beiträgt (vgl. ebd.). Aus der Sicht von Entscheidungsträgern vergrößert die Stadt durch die »Kommerzialisierung des Widerständigen« (Naegler 2013: 198) ihr Vermarktungspotenzial, was neue Widerstände hervorruft,11 aber auch zu einer ›eigentumslogischen Evolution‹ führen kann. Jende (2018: 205) bezeichnet damit performative Akte, wie sie auch beim Cornern entstehen: Durch das Cornern gelten Orte wie die Sternschanze als hip und attraktiv für ein junges Publikum. Diese Attraktivität strahlt auf den Immobilienmarkt aus und bewirkt oder beschleunigt Gentrifizierungsprozesse. Die neuen Anwohnerinnen schätzen zwar das jugendlich-attraktive Image des Quartiers, versuchen aber gleichzeitig, die Auswirkungen des Cornerns durch das Anrufen von Polizei und Politik einzuhegen. Diese Zusammenhänge mögen hier verkürzt dargestellt worden sein, sie zeigen aber das grundsätzliche Konfliktpotenzial, das sich aus den unterschiedlichen Ansprüchen an die Stadt und ihren öffentlichen Raum ergibt, sowie die damit einhergehenden Widersprüche, die bereits Lefebvre angesprochen hat.

11

Die Hamburger Kampagne »Not in Our Name« ist ein Beispiel für diesen Prozess (vgl. http://wiki.rechtaufstadt.net/index.php/Manifest_Not_In_Our_Name,_Mar ke_Hamburg!; Zugriff 09.01.2023).

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Das Recht auf Stadt Lefebvre (2016) formulierte diese Widersprüche des Städtischen unter dem vielsagenden Titel Das Recht auf Stadt. Er legte damit eine Polemik gegen den technokratischen Urbanismus vor. Das Buch wurde zuerst im März 1968 veröffentlicht und zeigte viele Ideen auf, die kurze Zeit später während der Pariser Unruhen auch von seinen eigenen Studentinnen gefordert wurden (vgl. Götze 2014: 133). Lefebvre geht es in dieser Schrift nicht um ein Zugangsrecht zur traditionellen Stadt. Stattdessen fordert er ein Recht »auf das städtische Leben, die erneuerte Zentralität, auf Orte der Begegnung und des (Aus)tauschs, auf Lebensrhythmen und Tagesabläufe, die den vollen und vollständigen Gebrauch dieser Augenblicke und Orte erlauben« (Lefebvre 2016: 197, Herv. i.O.). Adressaten dieses Rechts sind die Nutzerinnen und dabei in erster Linie die Bewohnerinnen der Stadt (vgl. Gomes de Matos/Starodub 2016: 20). Doch die Wiederaneignung des öffentlichen städtischen Raums ist auch ein Kampf um Territorialität, wie Lefebvre am Beispiel der Studentinnenproteste aufzeigt (vgl. auch Ronneberger 2012: 17): »[I]m Mai 1968 sammeln sich von der Peripherie, von außen gekommene Leute, die dorthin geworfen wurden und nichts als eine soziale Leere fanden, und begeben sich in die urbanen Zentren, um sie wiederzuerobern.« (Lefebvre 1969: 106). In Lefebvres Verständnis ist Raum also eine politische und strategische Größe, und in diesem Sinne hat der öffentliche Raum im Rahmen der 68er-Proteste die Funktion einer demokratischen Aushandlungsplattform eingenommen. Jedoch verbleibt Lefebvre mit seiner Forderung des Rechts auf Stadt soweit im Vagen, dass es eher als moralische und gleichzeitig utopische Forderung nach einem erneuerten urbanen Leben bzw. als ein Recht auf die Teilhabe und Aneignung der Stadt als Œuvre zu interpretieren ist (vgl. Marcuse 2014: 5). Im Gegensatz zur Stadt als kapitalistischem Produkt bedeutet die Bezugnahme auf den Terminus des Œuvres bzw. des Werks, dass die Stadt der einzigartige Ausdruck eines langwierigen nicht-kapitalistischen, kollektiven Handelns ist, dem der Status eines Gemeinguts zukommt (vgl. Lefebvre 1991: 73–77; 2016: 31; vgl. auch Morell 2018: 38). Wenn man nun konkret danach fragt: Wer hat ein Recht auf die Stadt?, dann steht zuerst einmal die Stadt all jenen offen, die die Stadt produzieren und zu ihrem Gebrauchswert beitragen. Kornberger und Borch (2015: 7f.) verweisen darauf, dass erst menschliche Aktivitäten den Wert der Stadt hervorbringen und dass auch die (freizeitliche/touristische) Nutzung der Stadt und Praktiken des städtischen Konsums zum Kollektivgut Stadt gehören: »[I]n

›Cornern‹ als urbane Praxis

fact, consuming the city is nothing but the most subtle form of its production.« So inkludiert das Recht auf Stadt ein Recht auf Freizeit, Erholung und kollektive Kreativität (vgl. Kothari 2011: 147). Aus dieser Perspektive kann argumentiert werden, dass auch Touristinnen, Binnentouristinnen oder Cornernde ein Recht auf Stadt haben (vgl. Saretzki 2020), eine Vorstellung, der Lefebvre wahrscheinlich kritisch gegenüberstehen würde, betrachtete er doch den Tourismus als unproduktive Form des Raumkonsums (vgl. Lefebvre 1991: 352). Lefebvre hatte einst die Beendigung der Trennung zwischen Alltag und Freizeit gefordert, um der Stadt das Fest (ebenso wie das Leben, das Zusammentreffen) und damit ein zentrales Element ihres Gebrauchswerts zurückzugeben. Für ihn war diese Forderung Teil der Veränderung der gesellschaftlichen Praxis, mit der der Gebrauchswert wieder die Oberhand über den Tauschwert gewinnen sollte (Lefebvre 2016: 180f.). Wenn in heutigen Diskursen von einer »Touristifizierung des Alltags« (Wöhler 2011: 40) und dem recreational turn in den Städten Europas die Rede ist (vgl. Stock 2007), dann verweist dies auf eine solche Phase veränderter gesellschaftlicher Praxis, in der das Verhältnis zwischen Menschen und urbanem Raum neu zu denken ist.12 Das von Lefebvre reklamierte »Recht auf das städtische Leben« wurzelt in einer Vorstellung des Urbanen, die Lefebvre folgendermaßen beschreibt: »Es ist eine geistige und soziale Form, die der Gleichzeitigkeit, der Versammlung, des Zusammenwirkens, der Begegnung (oder besser von Begegnungen). Es ist eine Qualität, die aus Quantitäten hervorgeht (Räume, Objekte, Produkte). Es ist eine Verschiedenheit oder besser eine Menge an Verschiedenheiten.« (Lefebvre 2016: 124f., Herv. i.O.) Ähnlich wie bei Hannah Arendts (1997: 71) öffentlichem Raum, in dem »die Wirklichkeit […] aus der gleichzeitigen Anwesenheit zahlloser Aspekte und Perspektiven« erwächst und »ein Gemeinsames« repräsentiert (Arendt 1997: 71), zeigt sich in Lefebvres Verständnis von Urbanität das Zusammenspiel von Vielschichtigkeit und Gemeinsamkeit. Zentral ist dabei der letzte Teil des Zitats: die Betonung von Verschiedenheiten. Der urbane Raum ist aufgrund seiner kapitalistischen Produktionsweise latent vom Zerfall bedroht (vgl.

12

Auch wenn sich Lefebvre eine solche veränderte Praxis wahrscheinlich anders vorgestellt hat, ging es ihm doch eher um die »Überwindung des Ökonomismus« (Lefebvre 2016: 180) und weniger um die Festivalisierung der Stadt als vielmehr um die Stadt als Fest (ebd.: 181).

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Lefebvre 2002: 18), was sich auch in den Auseinandersetzungen um Gentrifizierung und Touristifizierung zeigt. Für Lefebvre erwächst aus ihm deshalb ein Raum der Gegensätze, den er als differenziellen Raum bezeichnet. Dieser Raum bietet die Möglichkeit, Konflikte zu artikulieren und bislang Getrenntes zusammenzufassen bzw. »Vermischungen zu antizipieren« (ebd.; vgl. auch Vogelpohl 2011: 236f.). In ihrer idealen Form erfüllen öffentliche Räume diese Funktion und produzieren damit die von Fraser (1990: 72) skizzierte »publicspirited collectivity«. Das Recht auf Stadt beinhaltet folglich auch ein ›Recht auf Differenz‹, das sich nur im Handeln und durch den Kampf durchsetzen lässt (vgl. Lefebvre 1991: 396), sowie Lefebvre schon in seiner Aufarbeitung der 1968er-Ereignisse davon sprach: »[Sie] begeben sich in die urbanen Zentren, um sie wiederzuerobern.« (Lefebvre 1969: 106; Hervorhebung A.S.). Dieser Begriff der Wiedereroberung bzw. Aneignung/Wiederaneignung ist wesentlich für Lefebvres Verständnis des differenziellen Raums.

Cornern als politische Praxis Unter dem Stichwort Reclaim the City lässt sich Aneignung nicht nur als ein Akt der materiellen, symbolischen oder sozialen Veränderung urbaner Räume verstehen, die von den eigenen Bedürfnissen ausgeht (vgl. Schmidt/Vogelpohl 2023). Das aktivistische Schlagwort Reclaim the City! verweist in der kritischen Stadtforschung auf die Herausforderung einer als neoliberal markierten Stadtpolitik, bei der es gilt, Lefebvres abstrakte Räume der Bürokratisierung und Kommodifizierung für das Alltagsleben einfacher Menschen zurückzuerobern (vgl. Surborg 2007). Bezogen auf den öffentlichen Raum heißt das, nach der »publicness of public space« (Varna/Tiesdell 2010: 575) zu fragen, also danach, wie (möglichkeits-)offen und zugänglich der urbane Stadtraum für unterschiedliche Nutzergruppen tatsächlich ist. Gleichzeitig kann die Aneignung und damit die Besetzung öffentlicher Räume den Zugang oder die Nutzungsmöglichkeiten für andere Menschen verhindern oder erschweren (vgl. Klose 2012). Für Schmidt und Vogelpohl (2022) sind räumliche Aneignungsprozesse nicht ohne die damit verbundenen Machtverhältnisse zu denken. Dabei geht es nicht nur um die Durchsetzung legaler Machtausübung durch Gesetze, Ordnungen, Erlasse oder Eigentumsansprüche (vgl. Klose 2012). Die schiere Masse und Rücksichtlosigkeit von Cornernden machen die Durchsetzung eigener Ansprüche von Anwohnerinnen (z.B. das ›Recht auf die Nachtruhe‹) oftmals schwer. Hesse spricht in

›Cornern‹ als urbane Praxis

diesem Zusammenhang von einem Cornern mit kleinbürgerlichem Habitus. Er konstatiert weiter: »Anwohner fühlen sich oft als ›Touristen in der eigenen Stadt‹. In dieser Wahrnehmung gerät das Cornern zum Menetekel des sogenannten Easyjetset-Tourismus. Man wähnt sich in einer außer Kontrolle geratenen Kolonialisierung der Stadt durch Menschen, die mit den Folgen nicht leben müssen, da sie am Tag danach vielleicht schon wieder zu Hause sind – was im Zweifel auch nur ein anderer Bezirk sein kann.« (Hesse 2019b: Abs. 8) Diesem kleinbürgerlichen Cornern, das zwischen hedonistischer, günstiger Freizeitgestaltung und exzessiver, rücksichtsloser Nutzung des öffentlichen Raums changiert, steht eine Deutung des Cornerns als politische Praxis gegenüber, die Lefebvres Forderung nach dem Recht auf Stadt und der Wiedereroberung des städtischen Raums ernst nimmt. Gemäß Lefebvres Diktum, dass Raum immer politisch sei und hinsichtlich seiner strategischen Verwendung untersucht werden muss (vgl. Lefebvre 2009: 170–174), verbirgt sich auch hinter der urbanen Praxis des Cornerns ein latent politisches Handeln. Indem Cornernde sich das Recht auf die zentralen Orte der Stadt ebenso wie das Recht auf Begegnung und differentes Verhalten nehmen, protestieren sie gegen die neoliberale Vereinnahmung des öffentlichen Raums. Dieser Protest lässt sich als Widerstand gegen die »Kriminalisierung des öffentlichen Trinkens« (Boeing 2022: Abs. 12) und als »Dekommodifizierung von unten« (Hesse 2019a: Abs. 7) deuten. Noch offensichtlicher wird die politische Seite des Cornerns, wenn es in Protestaktionen eingebunden wird. In der Sternschanze war dies während der G20-Proteste zu beobachten. Aktivistinnen starteten kurz vor dem Hamburger G20-Gipfel einen Aufruf zum sog. ›Hedonistischen Massencornern‹. Diese »spaßige Protestsituation« sollte auf subversive Art deutlich machen, »dass unser Viertel uns gehört und nicht den Staatschefs der G20« (AllesAllen 2017). Durch das Cornern sollte vor allem gegen die polizeiliche Allgemeinverfügung protestiert werden, die für große Teile Hamburgs ein Versammlungsverbot vorsah. Das vermeintlich unpolitische Herumstehen und Trinken im öffentlichen Raum übernahm dabei die Funktion einer politischen Versammlung (vgl. Boeing 2022: Abs. 9). Weitere Beispiele für das Cornern als politische Praxis sind das eher elegante Protestevent ›Cornern auf Crémant‹13 gegen den Abriss 13

Vgl. https://www.hinzundkunzt.de/cremonbruecke-wird-abgerissen/; Zugriff 08.01. 2023.

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der Hamburger Cremonbrücke oder die Aktion ›Cornern gegen Leerstand‹14 in München, die auf die Umwandlung einer lange Zeit leerstehenden Gaststätte in einen Tauschladen abzielte. Ob man das Cornern als »revolutionären Akt verklärt« (Hesse 2019a: Abs. 10) oder darin einen Anspruch auf Zentralität und Konsumfreiheit sieht, in dem ›zusammenkommende Körper‹ (Bodies in Alliance; Butler 2016: 37) den öffentlichen Raum durch gemeinsame Aktionen erst erschaffen und die Architektur »beleben und organisieren« (ebd.: 97): Die Aneignungspraxis des Cornerns hat in jedem Fall eine Dimension, die der normierten Nutzung von Straßen und Plätzen entgegensteht.

Junge Menschen als Ko-Produzenten des öffentlichen Raums Eine zentrale Zielgruppe für das Cornern sind junge Menschen bzw. Jugendliche.15 Für sie ist der öffentliche Raum ein erster Ort des informellen Lernens außerhalb des Zuhauses, in dem Emanzipierungsprozesse stattfinden (vgl. Deinet 2015; Reutlinger 2015). Nach Zinnecker (2001) zeichnet sich der ›Lernort Straße‹ durch drei Funktionen aus, die sich auch im Cornern wiederfinden:

14 15

Vgl. https://www.mucbook.de/wir-wollen-schnitzel-wir-wollen-haus-spontan-corner n-gegen-leerstand/; Zugriff 09.01.2023. Wenn wir im Hinblick auf das Cornern von Jugendlichen und jungen Menschen sprechen, dann beziehen wir uns altersmäßig auf jene Gruppe, die den größten Teil der Cornenden in der Sternschanze stellt: Dabei handelt es sich um Menschen zwischen 17 und 34 Jahren, wobei der größte Teil zwischen 20 und 24 Jahren liegt (vgl. Eilers/ Schildhauer 2021: 11; Kemme/Taefi 2018: 14; Mannott/Schöning 2021: 12). Es handelt sich also vor allem um Menschen, die sich – je nach gewählter Periodisierung des Jugendalters – im Bereich der späten Adoleszenz/im frühen Erwachsenenalter (vgl. Oerter/Dreher 1995: 312) oder der mittleren und späten Jugendphase (vgl. Hurrelmann/ Quenzel 2022: 44) befinden. Wie diese Periodisierung zu konkretisieren ist und welche Begrifflichkeiten dafür verwendet werden, darüber besteht keine Einigkeit (vgl. King 2013: 31–33), auch da das Phänomen der Jugend über seine historische Wandelbarkeit hinaus zunehmend als ›Konstrukt‹ thematisiert wird (vgl. Göppel 2019: 197). Außerdem ist gerade mit Blick auf das Cornern zu berücksichtigen, als wie alt bzw. wie erwachsen Menschen sich selbst wahrnehmen. So zeigen Studien des Deutschen Jugendinstituts, dass sich bei den 18–29-Jährigen der Anteil derer, die sich – sei es aus Gründen der Überforderung beim Erwachsenwerden, sei es aus Gründen des ›Jugendwahns‹ – für eher jugendlich halten, zwischen 1992 und 2009 auf über 40 % verdoppelt hat (vgl. Gille 2012).

›Cornern‹ als urbane Praxis

Zum einen wirkt der Auftritt auf der Straße förderlich bei der eigenen geschlechts- und persönlichkeitsspezifischen Identitätsausbildung (vgl. ebd.: 62). Als »Lernort bürgerlicher Öffentlichkeit« (ebd.: 51) liefert die Straße zudem einen »gesellschaftlichen Anschauungsunterricht« (ebd.), bei dem in Auseinandersetzung mit anderen Menschen soziale Kompetenzen erlangt werden. Eine dritte – und für das Thema Cornern überaus relevante – Funktion sieht Zinnecker darin, dass die Straßenexistenz es ermöglicht, »diesen funktionsbestimmten Ort für ihre Zwecke umzuwidmen, ihm eine neue Bedeutung zu verleihen, ihn auf Zeit zu ›kolonisieren‹« (ebd.: 59). Sie schaffen sich damit eigene Räume zur Ausformung jugendlichen Lebens (vgl. Deinet 2015: 162). Gleichzeitig sind Jugendliche Motor einer lebendigen Subkultur und dabei spielt der Austausch mit Gleichaltrigen eine besondere Rolle. Abels (1993) weist darauf hin, dass der Jugend eine hohe Bedeutung hinsichtlich der gesellschaftlichen Entwicklung zukommt und stilisiert sie damit zu ›Kulturträgern‹ (ebd.: 30) für die Zukunft: »Die Jugend beherrscht die Sprache, in der sich diese Gesellschaft verständigt, und entwirft die Sprache, die die Gesellschaft morgen sprechen wird. Sie ist kompetenter Repräsentant eines Lebensstils auf der Höhe der Zeit und ist doch schon auf dem Sprung darüber hinaus. Die Gesellschaft wird ohne diese Unruhe nicht überleben können.« (Abels 1993: 555) Auch Feldmann (2019) konstatiert in ihrer Studie zu den Aufenthaltsorten von Jugendlichen in der Sternschanze, dass das Viertel von jungen Menschen profitiert: »Sie prägen das Stadtbild und sind der Gesellschaft voraus.« (Ebd.: 167) Dabei sind Jugendliche (ebenso wie Cornernde) keine homogene soziale Gruppe (vgl. Scherr 2009: 24). Vielmehr gilt es, »die gesellschaftsgeschichtlich und gesellschaftsstrukturell bedingten Unterschiede zwischen jeweiligen Jugenden zu berücksichtigen« (ebd.). Das zeigt sich auch in der Studie von Feldmann (2019). Die Gegenüberstellung der Aufenthaltsorte zweier Jugendlicher in der Sternschanze zeigt, dass es zwischen der freizeitlichen Raumaneignung des jungen Mannes, der im Viertel wohnt, und jener der jungen Frau, die im Nachbarviertel aufgewachsen ist und die Sternschanze vor allem zum Feiern genutzt hat, kaum Überschneidungen gibt. Stattdessen wird deutlich, dass jugendliche Anwohnerinnen sich von den öffentlichen Räumen des Viertels verdrängt fühlen und bei ihrer Freizeitgestaltung und zum ›Abhängen‹ auf halb-öffentliche Räume wie Innenhöfe ausweichen.

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Dass solche Nutzungskonflikte von jungen Leuten durchaus wahrgenommen werden, zeigt eine Studie zur sog. Erasmus Corner im Viertel Bairro Alto in Lissabon (vgl. Malet Calvo/Nofre/Geraldes 2017; Nofre/Malet Calvo 2019): Einerseits ist das Viertel gerade für die internationalen Erasmus-Studierende ein beliebter Ort zum Ausgehen und Feiern. »[They] frequented the district to consume and socialise in a bohemian, artistic and counter-cultural atmosphere. […] circulation through the Bairro Alto was part of their process of transition to adulthood, a learning experience abroad that involves a desire for new experiences and lifestyles.« (Malet Calvo/Nofre/Geraldes 2017: 784) Andererseits empfehlen Erasmus-Studierende ihren Nachfolgenden jedoch, besser in einem der ruhigeren angrenzenden Viertel zu wohnen.16 Sie sind sich ihrer Rolle als »Nightscape Colonisers« (Malet Calvo/Martins/Sánchez-Fuarros 2018: 161) also durchaus bewusst. Ein jugendlicher Habitus wird auch als Problem wahrgenommen. Nicht selten wird Menschen, die sich in der Adoleszenz befinden, eine höhere Delinquenzwahrscheinlichkeit nachgesagt, und sie werden als Gefahr gesehen (Lüdke 2018: 209; Travlou 2003: 12–15). Dennoch gehören Devianz zur Jugendphase, denn: »Auch konformes Handeln wird sozial gelernt, und dies schließt Erfahrungen mit Regelverletzungen als Teil des Lernprozesses ein.« (Scherr 2009: 201) Athanassiou (2023: 42) folgert daraus, dass es für die Ausgestaltung öffentlicher Räume in der auf Sicherheit und Konsum ausgerichteten neoliberalen Stadt zu einer tendenziellen Marginalisierung Jugendlicher hinsichtlich ihrer räumlichen Ansprüche kommt. Sie stellt in ihrer Untersuchung zu Praktiken des Cornerns in Thessaloniki fest, dass man in der Stadt relativ tolerant gegenüber einer illegalen Vereinnahmung des Stadtraums durch Straßencafés ist, aber umso intoleranter gegenüber den alternativen kollektiven Aneignungspraktiken junger Menschen im öffentlichen Raum (ebd.: 48–50). Gerade junge Menschen verweisen jedoch auf ihr Recht auf eine konsumfreie bzw. kostengünstige Freizeitgestaltung und damit auf ihr Anrecht, den öffentlichen Raum nach ihren Bedürfnissen zu nutzen (Rodriguez-Martos 2006, S. 138). Im Fokus steht nicht in erster Linie der Bedarf an billigen Getränken, sondern vielmehr die Suche nach Freiheit und Spaß sowie der

16

Vgl. z.B. https://erasmusu.com/de/erasmus-lissabon/erasmus-erfahrungen/erasmuserfahrung-in-lissabon-portugal-von-miroslava-556370 (Zugriff 05.12.2022).

›Cornern‹ als urbane Praxis

soziale Austausch mit Gleichgesinnten, wie Studien an ganz unterschiedlichen Orten bestätigen (vgl. Athanassiou 2023: 46; Eilers/Schildhauer 2021; Kemme/Taefi 2018: 18; Mannott/Schöning 2021; Rodriguez-Martos 2006). Die Schanzen-Gastronomin Patricia Neumann konstatierte im Interview, dass es vor allem darum geht, »dass es hip ist zu cornern« (Twickel/Herrmann 2019). Speziell für das Cornern in der Sternschanze lässt sich beobachten, dass es sich bei den Teilnehmenden überwiegend um junge Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen handelt.17 Es geht den Cornernden also nicht per se um ein Gegenmodell zur Konsumgesellschaft, sondern vielmehr um deren Anpassung an die Bedürfnisse junger Menschen (Spaß haben, sozialer Austausch) und die Limitationen (begrenzte finanzielle Mittel, Öffnungszeiten), die diesen Bedürfnissen entgegenstehen (Rodriguez-Martos 2006: 139). Dennoch ist der Alkoholkonsum ein wesentlicher Bestandteil des Cornerns, wie in vielen Studien zum Alkoholkonsum junger Menschen hervorgehoben wird. Briggs, Gololobov und Ventsel (2015) betonen in ihrer Studie zur Kultur des Alkoholtrinkens, dass es sich dabei für die jugendlichen Probandinnen um eine kommunikationsförderliche soziale Praxis handelt, auch wenn ihnen bewusst ist, dass sie in ihrer exzessiven Form destruktiv wirkt. Gerade Straßen und Plätze bieten jungen Menschen eine Umgebung der sozialen und physischen Entgrenzung, die durch das Alkoholtrinken noch verstärkt wird. Für Wilkinson (2015) macht der inklusive Charakter des öffentlichen Raums die Attraktivität solcher »Outdoor Urban Drinkscapes« (ebd.: 116) aus. Freitas et al. (2020) gehen davon aus, dass der Konsum von Alkohol als Teil der jugendlichen Freizeitagenda betrachtet werden muss, der einen bestimmten Lebensstil symbolisiert und identitätsstiftend wirkt. Generell ist festzuhalten, dass jugendliche Trinkpraktiken einen wesentlichen Teil der nächtlichen urbanen Raumproduktion darstellen und nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Transgression, sondern auch als Ausdruck von Freiheit und Identitätsfindung betrachtet werden kann.

17

In der Studie von Kemme und Taefi (2018: 13f.) liegt der Anteil der Befragten mit Fach-/Hochschulreife oder Fachhochschul-/Universitätsabschluss am Neuen Pferdemarkt bei 89,9 %. Die Studien von Bornhorst/von Eichel-Streiber/Nagel (2020) und Mannott/Schöning (2021) zeigen mit 83,3 % und 94,1 % ein ähnliches Profil.

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Nutzungskonflikte zwischen Wohnen und Feiern Wie aus den voranstehenden Ausführungen deutlich geworden sein sollte, scheiden sich am Cornern die Geister. Während viele Kommentatorinnen die positiven Aspekte der Konsumfreiheit oder der günstigen selbst organisierten Getränke betonen,18 wird gleichzeitig auf die Probleme verwiesen, die das Cornern für Anwohnerinnen mit sich bringt. Die negativen Nebeneffekte des Cornerns auf Kosten der Wohnbevölkerung, nämlich die Problembereiche Überfüllung, Lärmbelästigung und Verschmutzung, sind in vielen touristischen Destinationen mit einer hohen Besucherinnenfrequenz vor allem jüngerer Menschen bekannt. Sie decken sich mit jenen Aspekten, die CocolaGant (2018: 288f.) für die verminderte Lebensqualität im Zusammenhang mit dem sog. place-based displacement im Rahmen der touristischen Gentrifizierung festgestellt hat und für den »loss of place«19 (ebd.: 289) und den daraus resultierenden Wegzug der betroffenen Bevölkerung verantwortlich macht. Für die betroffenen Städte und Stadtviertel gilt es deshalb, Maßnahmen zu entwickeln, die den Spagat zwischen dem »Nachtleben als Attraktivitätsfaktor« (Weber/Henckel 2019: 128) und den Ruheansprüchen der Wohnbevölkerung berücksichtigen. Dabei werden im Wesentlichen drei Maßnahmenbereiche unterschieden: Zum einen geht es um restriktive, sog. ›harte‹ Maßnahmen, die auf das Ordnungsrecht zurückgreifen und vielfach ökonomische Nachteile für einzelne Akteursgruppen nach sich ziehen (vgl. Helbrecht/Mackrodt/Schlüter 2016: 31). Andererseits setzen Städte auf verständigungsorientierte, sog. ›weiche‹ Maßnahmen, die mit einer dialogischen Ansprache der involvierten Akteurinnen auf Konsens bei der Problemlösung setzen (ebd.). Es handelt sich oftmals um Bottom-up-Initiativen der Anwohnerinnen, die teilweise auch seitens der Behörden finanziell und personell unterstützt sowie ebenfalls initiiert werden. Bei der dritten Kategorie handelt es sich um die Einrichtung sog. Nachtbürgermeisterinnen, deren Aufgaben sehr unterschiedlicher Natur sein können. In London oder auch in Schaffhausen übernahmen diese eher die Aufgabe der Attraktivierung des Nachtlebens und setzten sich gegen das Clubstreben ein. Für Nachtbürgermeisterinnen

18

19

Vgl. dazu beispielsweise https://www.mucbook.de/cornern-muenchen-sommer-biercorona/; https://taz.de/Streit-ums-Cornern/!5699175/; https://hamburg.mitvergnuege n.com/2016/cornern-hamburg/ (Zugriff 23.01.2023). »Loss of place« (Ortsverlust) meint hier den Verlust der Zugehörigkeit zu einem Ort, an dem man sich sicher und wohl fühlt.

›Cornern‹ als urbane Praxis

an touristischen Hotspots geht es hingegen vor allem um die Entwicklung von Konfliktlösungsstrategien zwischen den unterschiedlichen Stakeholdern. Auch die institutionelle Verortung der Nachtbürgermeisterinnen ist sehr unterschiedlich: Mal sind es gewählte Personen, die eine eigene Stelle in der Stadtverwaltung haben, mal sind es Initiativen unterschiedlicher Gruppen.

Restriktive Maßnahmen Restriktive Maßnahmen zur Einschränkung oder Verhinderung unerwünschten Verhaltens sind eng an rechtliche Vorgaben geknüpft. Betroffene Städte müssen beim Erlass eigener ordnungsrechtlicher Maßgaben Gesetze auf Bundes- oder Landesebene berücksichtigen. Streitpunkt sind dabei häufig Alkoholverbote, die von Kommunen erlassen werden, um nächtliche Ruhestörung und Gewaltdelikte einzuhegen. Diese Verbote sind jedoch rechtlich umstritten und werden von Verwaltungsgerichten meist als rechtswidrig wieder aufgehoben (vgl. Albrecht/Hatz 2012; Menke 2009) oder gelten nur im sehr eingeschränkten Rahmen einer Gefahrenabwehrverordnung.20 Gleiches gilt für das Verbot des Mitführens oder Verkaufs von Glasflaschen in bestimmten Gebieten, wie es beispielsweise auf der Hamburger Reeperbahn gilt.21 Die häufigste Anwendung finden restriktive Maßnahmen im Bereich des Lärmschutzes. Ein Beispiel dafür ist Barcelona. Auf ausgewählten Plätzen und Straßen der Stadt werden seit 2022 die Lärmpegel mithilfe von Schallpegelmessern erhoben und analysiert. Die Ergebnisse zeigen, dass die zulässigen Grenzwerte des Nachts kontinuierlich um drei Dezibel überschritten wurden. Auf dieser Grundlage können die entsprechenden Stadträume als ›des Nachts akustisch belastete Zonen‹ (zonas acústicamente tensionadas en horario nocturno = ZATHN) betrachtet werden und man entwickelt an die spezifischen Bedürfnisse des jeweiligen Falls angepasste Strategien zur Verringerung der Lärmbelastung.22

20

21 22

Vgl. https://www.zvr-online.com/archiv/2013/ausgabe-2/2013-januar/ovg-lueneburgalkoholverbot-in-goettingen sowie https://dejure.org/gesetze/PolG/18.html (Zugriff 28.01.2023). Vgl. https://www.landesrecht-hamburg.de/bsha/document/jlr-GlasFlVerbGHArahme n (Zugriff 28.01.2023). Vgl. https://ajuntament.barcelona.cat/sants-montjuic/es/noticia/nuevas-medidas -para-reducir-la-contaminacion-acustica-a-las-zonas-mas-tensionadas-4_1195622 (Zugriff 06.12.2022).

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Tabelle 1: Restriktive Maßnahmen Maßnahmen

Beispielstädte

Örtliche Alkoholverbote

Augsburg, Freiburg, Magdeburg

Verkaufsverbot von Glasflaschen

Augsburg, Freiburg, Hamburg St. Pauli

Ausweitung der Sperrstunde

Bamberg, Erlangen, Regensburg

Ordnungsbehördliche Kontrollen

Frankfurt a.M.

Lärmreduzierungsplan (Pla de mesures contra la contaminació acústica 2022–2030, seit 2022):23 Erstellung einer akustischen Karte der Stadt und Festlegung zulässiger Lärmgrenzwert; in des Nachts akustisch belasteten Zonen Aufstellung von Schallpegelmessinstrumenten; bei Überschreitung von Grenzwerten kommt es zur Einschränkung von Außengastronomie, Veranstaltungen und anderen Aktivitäten sowie zur Begrenzung der Ladenöffnungszeiten

Barcelona

Schließung unerwünschter Einrichtungen

Amsterdam

Quelle: Eigene Zusammenstellung in Anlehnung an fair.kiez (2015: 9), Helbrecht/ Mackrodt/Schlüter (2016: 35) und Weber/Henckel (2019: 129–131)

Zu den extremsten Maßnahmen zählt die Schließung unerwünschter Einrichtungen. Das Projekt 1012 in Amsterdam stellt einen solchen Versuch dar (vgl. Aalbers/Deinema 2012). Um die Prostitution und die Drogenkriminalität im Rotlichtviertel von Amsterdams Altstadt einzudämmen, kaufte die Stadt im Rahmen von Public-private-Partnerships u.a. als Bordelle genutzte Immobilien auf und veränderte den Flächennutzungsplan zugunsten einer Wohn- und Einzelhandelsnutzung. Die Gebäude wurden saniert und einer ›erwünschten‹ Nutzung zugeführt (u.a. Gourmet-Restaurants, exklusive Modeboutiquen und Hotels). Der Erfolg des Projekts ist jedoch umstritten,24 und statt der Eindämmung von Zwangsprostitution und Kriminalität spricht 23 24

Vgl. https://www.barcelona.cat/infobarcelona/en/new-measures-to-cut-noise-polluti on-in-areas-where-levels-are-highest_1195088.html (Zugriff 09.12.2022). Vgl. https://www.dutchamsterdam.nl/2018-are-amsterdam-red-light-district-cleanu p-efforts-successful (Zugriff 13.01.2023).

›Cornern‹ als urbane Praxis

man von einem staatlich finanzierten Gentrifizierungsprojekt (vgl. Aalbers/ Deinema 2012; Buijs/Duits 2015).

Verständigungsorientierte Maßnahmen Verständigungsorientierte Maßnahmen sind als ›weiche‹ Lösungsansätze oftmals den ›harten‹ Maßnahmen vorgelagert. Helbrecht, Mackrodt und Schlüter (2016: 32–34) unterscheiden dabei zwischen dialog-orientierten und künstlerisch-spielerischen Formen der Konsensfindung. So gibt es beispielweise in Berlin und in Hannover von der lokalen Verwaltung unterstützte Webseiten, die sich der Entwicklung gemeinschaftlicher Lösungsansätze für die durch das Cornern bzw. den Partytourismus ausgelösten Konflikte widmen. Der Berliner Kiez-Knigge25 und die LimmernLichter 26 in Hannover zielen vor allem darauf ab, Partytouristinnen für das Konfliktpotenzial zu sensibilisieren. Im Jahr 2014 bis 2015 wurde in Berlin im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg nach dem Vorbild von Paris ein Projekt mit Pantomimekünstlerinnen vom Bezirksamt initiiert. Durchgeführt wurde es unter der Leitung der Clubkommission in Kooperation mit Gewerbetreibenden und Menschen aus der Stadtverwaltung mit Unterstützung durch EFRE-Mitteln des Landes Berlin und privaten Mitteln. Eine Evaluierung durch die Projektleitung ergab, dass ca. 3.500 Personen durch die Pantomime-Künstlerinnen und die Kommunikatorinnen kontaktiert wurden. Davon ließen sich 70 % auf die Künstlerinnen und Kommunikatorinnen ein, 60 % der Gäste kannten das Projekt durch die Öffentlichkeitsarbeit und 30 % befürworteten den fairen Umgang miteinander (fair.kiez 2015: 18). Letztendlich müssen aus den 30 % Einsichtigen fast 100 % werden, damit ein Effekt für die Anwohnerinnen spürbar wird. Im Jahr 2020 wurde dann im Kiez Tempelhof/Schöneberg ein Nachtbürgermeister in Kooperation mit »Nachtlichtern« mit Erfolg eingesetzt. Vorerst jedoch ein auf zwei Jahre beschränktes Pilotprojekt (vgl. Kiefert 2020).

25 26

Vgl. https://fairkiez.berlin/ (Zugriff 17.12.2022). Vgl. https://limmernlabor.de/pilot/limmernlichter/ (Zugriff 17.12.2022).

291

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Ursula Kirschner und Anja Saretzki

Tabelle 2: Verständigungsorientierte Maßnahmen Maßnahmen

Beispielstädte

Netzwerkgründung

Cambridge*, Paris*, Rom*, Schaffhausen*

Säule der Toleranz: Leuchtstele, die an die Nachtruhe erinnert

Freiburg

Sensibilisierung durch Plakate

Schaffhausen*,

Sensibilisierung durch Pantomime (Psst) und andere Aktionen

Berlin Friedrichshain-Kreuzberg, Hannover*, München, Paris

Sensibilisierungskampagnen zur Reduzierung des nächtlichen Lärms (seit 2003: Pla Silenci, De nit, respect), Einsatz eines sozialen Konfliktbearbeitungsdienstes im urbanen Raum (v.a. Umweltpromotoren und Pantomimen)

Barcelona

Prävention an Schulen

Rom

E-Mail-Adresse für Beschwerden

Schaffhausen

Aktion Besen am Tresen und Flexi-Carebleche zum Selbstauffegen von Müll und Scherben

Hannover*

Clubcommission

Berlin (2001)*

* Bottom-up-Organisationen mit staatlicher Akzeptanz und teilweise finanzieller Unterstützung (im Unterschied zu Einrichtungen innerhalb einer Behörde) Quelle: Eigene Zusammenstellung in Anlehnung an fair.kiez (2015: 9), Helbrecht/ Mackrodt/Schlüter (2016: 35) und Weber/Henckel (2019: 129–131)

Nachtbürgermeisterinnen Der Begriff ›Nachtbürgermeister‹ hat seinen Ursprung in den Niederlanden.27 Nachtbürgermeisterinnen sind Akteurinnen, deren Aufgabe es ist, Dissonanzen im Nachtleben zu bewältigen und gleichzeitig mit der Stadtverwaltung, 27

Der Dichter Jules Deelder war in den 1970er Jahren eine bekannte Figur im kulturellen Leben von Rotterdam. Dies brachte ihm den Spitznamen Nachtburgemeester (Nachtbürgermeister) ein. In einer Dokumentation zum Thema Nachtbürgermeister erklärte er jedoch, dass er sich die Rolle nicht so vorgestellt habe, wie sie heute gemeinhin interpretiert wird (vgl. Seijas/Gelders 2020: 320f.).

›Cornern‹ als urbane Praxis

Club-und Barbetreibenden zusammenzuarbeiten, um die Nacht zu einem sichereren und integrativeren Raum zu machen. Der gesuchte Ausgleich zwischen dem nächtlichen Freizeitpublikum, den Unternehmen des Nachtlebens und den Ansprüchen der ruhesuchenden Wohnbevölkerung macht sie auch zu Vermittlern oder Übersetzern zwischen zwei Welten – dem Nachtleben und der Stadtverwaltung. Eine erfolgreiche Governance der nächtlichen Freizeitstadt ermöglicht einerseits einen größeren Zugriff auf nächtliche Räume, schafft gleichzeitig aber auch eine neue Form der Repräsentation der nächtlichen Stadt und ihrer spezifischen Probleme (vgl. Hae 2011b; Seijas/Gelders 2021: 330; Wolifson 2018: 51).28 2001 gründete sich in Berlin mit der Clubcommission die weltweit erste und bis dato größte offizielle Organisation, die sich der Förderung der Nacht verschrieben hat. Die neue Hauptstadt wurde nach der Maueröffnung die ›Partyhauptstadt Deutschlands‹, vielleicht sogar Europas. Die Ausgangsbedingungen dafür waren positiv: Es gab viel Platz im Zentrum entlang des ehemaligen Mauerstreifens, interessante leerstehende Gebäude, billiges Bier, die Erlaubnis im öffentlichen Raum unbeschränkt Alkohol zu trinken, eine rasante Zunahme von billigen Hostels und später ein erhöhtes Aufkommen von AirbnbVermietungen. Der ›EasyJet-Tourismus‹ boomte (vgl. Rapp 2009). 2015 kam für den Stadtteil Friedrichshain die Forderung nach einer Nachtbürgermeisterin nach dem Vorbild von Amsterdam und Paris auf. Daraufhin bemerkte Olaf Möller, Vorstand des Vereins aus Clubbetreibern und Kulturschaffenden, dass in Berlin die Clubcommission die Aufgaben einer Nachtbürgermeisterin übernehme (vgl. Krause 2015: 19). Der Verein versteht sich als »Sprachrohr der Berliner Clubszene«29 , hilft Clubs bei Schwierigkeiten mit Anwohnerinnen und fungiert als Ansprechpartnerin für Medien und Behörden. In ihrer Studie zur Governance der nächtlichen Stadt zeigen Seijas und Gelders (2021), dass die frühen Interessenvertretungen und Nachtbürgermeisterinnnen aus Berlin und Amsterdam Bottom-up-Initiativen sind. Spätere

28

29

Eine der erfolgreichsten Initiativen, die von Amsterdams Nachtburgemeester ausging, ist die Einführung der 24-Stunden Lizenz, ein innovatives Pilotprojekt, das 2013 gestartet wurde und die Verlängerung der Öffnungszeiten für Nachtlokale in den Außenbezirken der Stadt ermöglicht. Diese erfolgreiche Initiative ist heute noch aktiv (vgl. https://www.nighttime.org/applications-for-24-hour-permits-open-in-amsterda m/; Zugriff 05.12.2022). https://www.clubcommission.de/join/ (Zugriff 05.12.2022).

293

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Ursula Kirschner und Anja Saretzki

Stellen sind weitestgehend in der Kommunalverwaltung angesiedelt: Zwischen 2017 und 2019 wurden 23 neue Stellen für Nachtbürgermeisterinnen geschaffen, von denen zwei Drittel innerhalb der Kommunalverwaltung angesiedelt wurden (vgl. ebd.: 328). Diese zunehmende Institutionalisierung des Amtes geht einher mit einer Kritik an der zunehmenden Gentrifizierung des Nachtlebens (vgl. Hae 2011a, b; Kolioulis 2018; Lamontagne 2021). Demgegenüber zielen Pro-Nightlife-Initiativen, die aus dem Nachtleben kommen, stärker auf die Eindämmung von Verdrängungsentwicklungen (vgl. Wolifson 2018). Seijas und Gelders (2021: 328f.) arbeiten vier Hauptthemen heraus, die der Rolle der Nachtbürgermeisterin zugeschrieben werden: • • • •

Schaffung institutioneller Foren, um Themen der städtischen Nacht zu behandeln, Förderung innovativer Ansätze für eine bessere Governance der nächtlichen Szene, Schutz des Nachtlebens als kulturelle Form und Schaffung inklusiver nächtlicher Räume für benachteiligte Gruppen.

Da die Vor-Ort-Situationen sich im Detail sehr unterscheiden, gibt es keine Blaupause für die Behebung von Problemen. So zählte beispielsweise für Londons im Jahr 2016 ernannte erste Nachtbürgermeisterin (›Night Czar‹) Amy Lamé der Schutz der schrumpfenden Nachtszene zu den prioritären Aufgaben.30 Demgegenüber verstehen sich Nachtbürgermeisterinnen im deutschsprachigen Raum eher als Moderatorinnen zwischen den unterschiedlichen Anspruchsgruppen der nächtlichen Stadt.

30

Vgl. https://www.london.gov.uk/press-releases/mayoral/mayor-reveals-uks-first-eve r-night-czar (Zugriff 25.01.2023).

›Cornern‹ als urbane Praxis

Tabelle 3: Nachtbürgermeisterinnen (Europa) Maßnahmen

Beispielstädte

Clubcommission

Berlin (2001)*

Nachtbürgermeisterin in Kooperation mit »Nachtlichter«, Übernahme von sozialer Kontrollfunktion

Berlin (organisiert vom Bezirksamt, von MANEO und vom »Das Schwule AntiGewalt-Projekt« in Berlin (2019)

Nachtbürgermeisterin

Mannheim (2018)*, Osnabrück (2021), Aachen (2022), Münster (2022)

Nachtbeauftragte

Dortmund (2021)

Koordinatorin für nächtliches Feiern

München (2021)

Grand Conseil de la Nuit

Genf (2011)*

NachtStadtrat

Zürich (2015)*

Club Commission

Innsbruck (2018)*, Wien (2022)*

Nachtburgermeester

Amsterdam (2003)*, Groningen (2011)*, Nijmegen (2014)*, Zwolle (2015)*, Den Haag (2018)*, Eindhoven (2018)*

Night Mayor

Mailand (2014)*

NIX–Mesa de la Noche

Madrid (2017)*

Comissió Nocturna de Barcelona

Barcelona (2018)*

Association Toulouse Nocturne

Toulouse (2013)*

Maire de la Nuit

Paris (2014)

Give us the night

Dublin (2004)*

Night Czar

London (2016)

Evening and Night-Time Economy Manager

Aberdeen (2017)

Night Mayor

Manchester (2018)

Night Mayor (inoffiziel)

Vilnius (2015)*

Night Mayor

Budapest (2017)*

Nocni Starosta

Prag (2019)

Night Liaison

Helsinki (2020)

* Bottom-up-Organisationen mit staatlicher Akzeptanz und teilweise finanzieller Unterstützung (im Unterschied zu Einrichtungen innerhalb einer Behörde) Quelle: Eigene Zusammenstellung in Anlehnung an Seijas/Gelders (2021: 324) und VibeLab (2021: 12f.)

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Ursula Kirschner und Anja Saretzki

Die Analyse zeigt, wie vielfältig das Spektrum der Maßnahmen ist. Dabei lässt sich eine Tendenz in Richtung lokal-staatlicher Intervention in Kooperation mit allen betroffenen Akteuren beobachten. Alternativ verbleibt die Möglichkeit restriktiver Maßnahmen, die jedoch an enge gesetzliche Vorgaben geknüpft sind. Erfahren Stadtviertel kein steuerndes Korrektiv, wirkt ein attraktives Nachtleben gentrifizierend (vgl. Kolioulis 2018; Nofre/Martins 2017; Nofre et al. 2017).

Cornern als Problem der Sternschanze In Hamburg findet das Cornern bevorzugt im Stadtteil St. Pauli (Bezirk Mitte) und im Bezirk Altona in den Stadtteilen Ottensen (v.a. Alma-WartenbergPlatz) und Sternschanze (v.a. am Neuen Pferdemarkt, am Schulterblatt und an der Kreuzung Susannenstraße/Bartelsstraße) statt und sorgt dort regelmäßig für Konflikte zwischen Anwohnerinnen und Feiernden. Dies gilt aufgrund der relativ hohen Bevölkerungsdichte des Viertels insbesondere für die Sternschanze. Schaut man sich die aktuell gültige Sozialraumbeschreibung31 der Sternschanze an, so ist dort Folgendes zu lesen: »Die Partyszene und Attraktivität für Besucher*innen und Touristen prägt die Schanze stark. Die Folgen werden von vielen Bewohnergruppen als starke Beeinträchtigung benannt und beschrieben: es ginge Mittwochabend los, wenn die Besucher*innen in das Viertel kommen um Party zu machen. Dies ginge bis Sonntag. Folge sei Lärm, Müll, Wildpinkeln und überfüllte Wege

31

»Die Sozialraumbeschreibung ist ein methodischer Ansatz, Lebensräume möglichst realitätsgetreu und wirklichkeitsnah abzubilden. Dabei werden fachübergreifend die Lebenslagen aller dort lebenden Alters- und Zielgruppen quantitativ und qualitativ beschrieben und in Bezug gesetzt zu den bezirklichen Handlungsfeldern Senioren, Bildung, Gesundheit, Sport, Integration, Inklusion, Jugendhilfe und Soziales. Für diese kleinräumige Analyse bedient sie sich soziodemografischer und infrastruktureller Daten (quantitativer Teil), die mit fachübergreifenden Informationen und Ergebnissen qualitativer Erhebungen (qualitativer Teil) zu den Planungs- und Sozialräumen in einem Gesamtbericht zusammengeführt werden. In Abstimmung mit den Fachbereichen werden Potenziale und Defizite sowie daraus abzuleitende Ziele und Handlungserfordernisse für die einzelnen Sozialräume ermittelt und für Politik und Verwaltung benannt.« (Fachamt Sozialraummanagement 2015/2017: 6)

›Cornern‹ als urbane Praxis

im Sommer. Es wird vereinzelt auch betont, dass der Umbau des Schulterblattes zur Flaniermeile für die Anwohner*innen und die eingesessenen Geschäfte zumindest tagsüber auch positive Seiten habe. So stehe der negativen Belastung durch die Partyszene das alltägliche Leben in der Schanze gegenüber, dass sehr geschätzt werde.« (Fachamt Sozialraummanagement 2015/2017: 66) Weiter wird betont: »Prägend für das Leben in der Schanze sei der hohe Nutzungsdruck auf den öffentlichen Raum. Kinder werden aus dem öffentlichen Raum verdrängt – sie können auf der Straße nicht mehr spielen, weil es zu voll ist. Es verbleiben die Spielplätze und Schulhöfe.« (Ebd.) Aus dieser Beschreibung wird bereits deutlich, dass die im Rahmen der touristischen Gentrifizierung für das sog. place-based displacement identifizierten Problembereiche Überfüllung, Lärm und Vermüllung auch in der Sternschanze Belastungen für die Wohnbevölkerung darstellen. Geklagt wird von Seiten der Anwohnerinnen schon seit langem, und Politik und Verwaltung sind sich dieser Probleme auch bewusst. Sie initiierten deshalb im Oktober 2017 Gesprächsrunden zwischen den betroffenen Stakeholdern.32 Gebracht haben diese Veranstaltungen jedoch wenig. Im Sommer 2020 verfasst der Schanzenbeirat deshalb einen offenen Brief an die Spitzen der Hamburger Politik, der jedoch nicht beantwortet wurde. Es gab zwar von vielen Seiten Mitleidsbekundungen und Versprechen, jedoch keine greifbaren Verbesserungen (vgl. dazu auch den Beitrag von Brauer in diesem Band). Im Juni 2021 entschlossen sich die Anwohnerinnen der Rosenhofstraße, einer Seitenstraße der bei Feiernden besonders beliebten Straßen Schulterblatt und Susannenstraße, zu einer denkwürdigen Plakataktion. Die eigentlich ruhige Rosenhofstraße besteht fast durchgängig aus Wohnhäusern und beherbergt keine Gastronomiebetriebe oder Kioske. Gerade das macht sie jedoch zum bevorzugten Rückzugsort für Cornernde, die dort in Ruhe »Geschäften« nachgehen, bei denen man gerne alleine ist. Am Morgen finden die Anwohnerinnen dann Urin, Kot und Erbrochenes vor ihren Haustüren und in ihren Vorgärten. »Die vögeln auch in den Hauseingängen«, so lässt sich ein Anwohner

32

Vgl. https://www.hamburg.de/altona/pressemitteilung/9606272/gespraechsrundenzum-cornern/ (Zugriff 10.10.2022).

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Ursula Kirschner und Anja Saretzki

im Gespräch mit der Hamburger Morgenpost zitieren.33 Auf diese Missstände reagierten die Rosenhofstraßenbewohnerinnen mit denkwürdigen Sprüchen, die sie auf einer Vielzahl größerer und kleinerer Transparente und Plakate öffentlich machten (siehe Abbildung 1). Diese Aktion zeigt den Frust der Anwohnerinnen und verweist auf die relevanten Problembereiche.

Abbildung 1: Protestaktion in der Rosenhofstraße im Juni 2021

Quelle: Eigene Aufnahme

Problembereiche Überfüllung Um es vorweg zu nehmen: Es gibt keine exakten Zahlen dazu, wie viele Cornernde die Straßen der Sternschanze in der Regel bevölkern. Aber es sind offenbar zu viele, oftmals Hunderte an einem Standort, wie aus den Äußerungen von Anwohnerinnen,34 Polizei oder Presse (vgl. Schrader 2021; Twickel 2017) deutlich wird. Die Masse der Cornernden wird im Viertel als Belastung empfunden. 33 34

Vgl. https://www.mopo.de/hamburg/urin-kot-und-kotze-anwohner-wehren-sich-geg en-partyvolk-auf-der-schanze/ (Zugriff 22.01.2023). Vgl. hierzu auch den offenen Brief des Schanzenbeirats (https://www.standpunkt schanze.de/offener-brief-des-stadtteilbeirates-sternschanze/#comment-399; Zugriff 30.12.2022).

›Cornern‹ als urbane Praxis

Zum einen werden Lärm und Vermüllung vor allem durch die große Anzahl Cornernder (gemeinsam mit den vielen Besuchern der Gastronomie) zum Problem. Außerdem beklagen Anwohnerinnen ihre Verdrängung aus dem öffentlichen Raum ihres Wohnquartiers (vgl. hierzu den Beitrag von Annuß, Klaassen und Riesch in diesem Band). Menschenmassen auf den Bürgersteigen sowie ausufernde Außengastronomie beeinträchtigen die alltäglichen Nutzungsmöglichkeiten für Anwohnerinnen: Wer sich durch Ansammlungen fremder Menschen zu seinem Hauseingang hindurchdrängen muss und dabei noch von Betrunkenen bedrängt wird, fühlt sich in seinem Zuhause fremdbestimmt und verdrängt. In der Folge lässt sich für die Sternschanze ein Verlust an Lebensqualität für Anwohnerinnen feststellen.

Lärm In seinem TAZ-Beitrag »Kleine Freiheit in Gefahr« schreibt der Journalist Michel Ruge, dass die Geräuschkulisse des Cornerns zum »wunderbaren und lebendigen Großstadtsound« (Ruge 2020) zählt. Für ihn steht fest: »Lebendigkeit bedeutet Lärm und ich finde, das Cornern klingt ganz gut« (ebd.). Dies sehen die Anwohnerinnen der Sternschanze anders, wie Befragungsergebnisse zum Cornern zeigen. Für sie ist die Lärmbelästigung eines der zentralen Probleme der Sternschanze (vgl. hierzu den Beitrag von Annuß, Klaassen und Riesch in diesem Band). »Lärm ist das neue Asbest!« (Vetter 2018: 77) konstatierte eine Clubbetreiberin der Sternbrücken-Clubs am Rande der Sternschanze, um die ständigen Lärmbelästigungsanzeigen der Anwohnerinnen als überzogen darzustellen. Tatsächlich sind die Sternbrücken-Clubs eingebettet in eine überdurchschnittlich hohe Lärmbelastung durch Bahn- und Straßenverkehr, und trotzdem reichen einige Nachbarinnen Beschwerde gegen die Clubs ein. Zu Unrecht, wie Jannick Vetter in seiner Masterarbeit resümiert: »Um diese nächtliche Konfliktlage zwischen Wohnen und Freizeit, in der sich zahlreiche Live-Musikclubs befinden, zu entschärfen, sollten Maßnahmen wie die Einrichtung sogenannter Kulturgebiete mit einem erhöhten nächtlichen Immissionswert und einer deutlich späteren Nachtruhe in Erwägung gezogen werden. Für die Betreiberinnen der Clubs unterscheiden sich die Emissionen, die durch Kulturbetriebe entstehen, nicht von den Emissionen von Spiel- und Sportplätzen, daher sollte der Wunsch nach Ruhe von einzelnen Personen nicht höher bewertet werden, als der Wunsch eines größeren Publikums, ein gutes Konzert zu hören.« (Vetter 2018: 77)

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Ursula Kirschner und Anja Saretzki

Das Thema Lärm in der Stadt ist dem Anschein nach das Schlüsselthema, welchem auch in der Sternschanze nur schwer beizukommen ist. Im Interview mit uns berichtet ein Mitarbeiter der Polizei von regelmäßigen Beschwerdeanrufen der Anwohnerinnen. Welche Spezifika die dortige Geräuschkulisse aufweist, zeigen sog. Transect Walks auf (vgl. Barber 2020). Bei zwei in der Tradition des Soundwalking (vgl. Westerkamp 1974; Radicchi 2017) angelegten auditiven Schanzenbegehungen, die Hannah Sophie Trampe im Februar 2019 zu unterschiedlichen Zeiten durchgeführt hat (Gang 1 abends und Gang 2 tagsüber), lassen sich differente Soundscapes aufzeigen.

Abbildung 2: Route der Transect Walks

Quelle: Trampe (2019: 189)

»Zunächst ist zu sehen, dass der Lautstärkepegel insgesamt bei der Begehung im Hellen höher anzusiedeln ist als der im Dunkeln [1. Gang]. Zudem sind in beiden Fällen Besonderheiten aufgefallen, welche der Schanze zuzuordnen sind. Direkt um das Schanzenviertel herum ist sowohl bei dem ersten, wie auch bei dem zweiten Gang zu erkennen, dass der Stadtteil Sternschanze, zumindest auf der begangenen Strecke, umgeben zu sein scheint von einer auditiv anders zu kennzeichnenden Umgebung. […] Bei der ersten Begehung waren die Unterschiede enorm. Die ersten großen Peaks der Aufzeichnung entstanden durch eine vielbefahrene Straße, die selbst in den späten Abendstunden eine hohe Fluktuation von Automobilen und den damit verbundenen Geräuschen aufwies. Keine anderen menschlichen Einflüsse wie Stimmen waren hier zu verzeichnen. Mit der Zeit und der Veränderung der Straßengegebenheiten wurden die durch Maschinen

›Cornern‹ als urbane Praxis

erzeugten Töne zunehmend geringer. Dann kam die Sternschanze. Das ein oder andere Auto fuhr lautstark an, aber davon ab sind hier die zu erkennenden Peaks in dem Graphen Stimmen, die verschiedene Sprache sprechen. Auszumachen waren deutlich Englisch, Spanisch und Russisch, einige lagen im Hintergrund und sind nicht identifizierbar. Zudem schallte Musik aus den Bars, an denen der Weg entlangführte. Eine divers geprägte Geräuschkulisse, die im klaren Unterschied zu den bisherigen Erfahrungen des Ganges stand, wurde deutlich.« (Trampe 2019: 191)

Abbildung 3: Vergleich der visualisierten Tonspuren mit Sternschanzen-Markierung

Quelle: Trampe (2019: 190)

Die Visualisierungen der Tonspuren zeigen, dass Verkehrslärm nachts und tagsüber am stärksten präsent ist, doch mit dieser Lärmbelästigung scheinen sich die Menschen in der Sternschanze weitestgehend abgefunden zu haben. Demgegenüber werden Geräusche wie das Reden von Menschen oder Musik gerade beim Einschlafen als wesentlich störender empfunden. Fragt man die Cornernden, so stimmten bei einer Online-Befragung mehr als drei Viertel der Befragten der Aussage zu, dass das Cornern Lärm verursacht (vgl. Mannott/Schöning 2021: 15). Gleichzeitig gehen sie nicht davon aus, dass dies ein Problem für die Anwohnerinnen darstellt (vgl. ebd.: 19). Ein gleiches Bild zeigte sich bei Straßeninterviews von Cornernden: Es gab ein Bewusstsein für den verursachten Lärm, aber dennoch keine Verhaltensänderung. Stattdessen wurde ausgesagt, dass die Anwohnerinnen ja wüssten, wo sie wohnen und deshalb schon Verständnis für das Cornern und den dabei entstehenden Lärm hätten (vgl. Spiewak/Martinez Harms 2021: 11).

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Ursula Kirschner und Anja Saretzki

Für die Polizei zählen Lärm und nächtliche Ruhestörung zu den häufigsten Einsatzgründen in der Sternschanze. Gruppen von Cornernden sind jedoch problematisch, da rechtliche Grundlagen wie das Hamburgische Lärmschutzgesetz oder die Freizeitlärmrichtlinie der Bund-/Länderarbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz vor allem auf maschinelle Lärmquellen abstellen. Nutzen Cornernde tragbare Musikanlagen, so besteht die Möglichkeit der Beschlagnahmung durch die Polizei. Handelt es sich um rein menschliche Lärmquellen wie lautes Lachen oder Schreien, so kann dieses nur als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden, wenn der Lärm konkret einer einzelnen Person zuzuordnen ist. Beim Cornern entsteht Lärm jedoch durch eine Gruppendynamik, die für die Polizei nicht fassbar ist. Es kann also nur darum gehen, Gruppen von Cornenden aufzulösen, um die Lärmdynamik einzuhegen.

Verschmutzung Orte, an denen gecornert wird, zeichnen sich am Ende der Nacht durch einen erhöhten Grad an Verschmutzung auf. Während Städte wie Hannover im Pilotprojekt Lupenreines Limmern35 durch den Einsatz von FlexiCareblechen und auffällige spezielle Müllbehältnisse auf Eigenverantwortung der Cornenden setzt, kommt es in Hamburg vor allem auf die Stadtreinigung an, die die Hotspots des Cornerns intensiver reinigt. Dafür fallen bei den Grundeigentümern (und damit letztlich auch bei den Mietern) jedoch Straßenreinigungsgebühren an, wodurch sich Anwohnerinnen (neben dem Lärm) durch das Cornern doppelt belästigt fühlen. Ein spezielles Problem bei Cornern ist die Toilettenfrage. Wie die Aktion der Rosenhofstraßenbewohnerinnen zeigt, werden Hauseingänge und Vorgärten regelmäßig als öffentliche Toiletten missbraucht. Daran hat letztlich auch die seit 2018 auf der Piazza installierte gendergerechte Toilette wenig geändert, auch wenn diese Toilette laut Auskunft des Bezirksamtes intensiv genutzt wird.

Gastronomisierung Für Anwohnerinnen der Sternschanze sind das Cornern und die dabei entstehenden Probleme eng mit der zunehmenden Gastronomisierung des Viertels verbunden. Der Begriff der Gastronomisierung bezeichnet die zunehmend monostrukturelle Ausrichtung eines Areals auf den Bereich der Gastronomie. 35

Vgl. https://limmernlabor.de/lupenreineslimmern/ (Zugriff 13.01.2023).

›Cornern‹ als urbane Praxis

Damit einher gehen eine nachlassende Orientierung am alltäglichen Bedarf der lokalen Wohnbevölkerung sowie ein Verlust der Nutzungs- und Optionsvielfalt (vgl. Lammert/Schläger 2020: 14). Gaststättenagglomerationen beinhalten ein Aufwertungspotenzial (vgl. Franz 2020: 199–201) und begünstigen die Touristifizierung von Stadtvierteln (vgl. Burnett 2014; Kivela/Crotts 2006). Ergänzend dazu kommt es zu einer Gastronomisierung des öffentlichen Raums, wenn sich der Bereich der Außengastronomie auf immer größere Teile des Bürgersteigs oder die Überbauung von Parkbuchten erstreckt. Die Menge der gastronomischen Betriebe sowie die Rücksichtslosigkeit mancher Betreiber (und ihrer Gäste) hinsichtlich Öffnungszeiten, Platzbedarf (vor allem der Außengastronomie), Lärmbelastung, Belieferung, Müllablage, Geruchsbelästigung und vermehrtem Verkehrsaufkommen beeinträchtigen die Wohnqualität der ansässigen Bevölkerung (vgl. ARGE Kirchhoff/Jacobs 2011: 48; Bezirksamt Altona 2012: 26). Bereits seit dem 19. Jhd. ist die Sternschanze als Vergnügungsviertel bekannt (vgl. dazu auch den Beitrag von Kirschner und Stolze in diesem Band). Insbesondere am Schulterblatt und am Neuen Pferdemarkt befanden sich eine Vielzahl von Kneipen, Restaurants, Theatern und Tanzlokalen sowie Hagenbecks ›Thierpark‹ (vgl. Kirchberg 1985; Siebecke 2012: 40–42). Seit den 1980er Jahren werden die Gastronomie und ihre hohe Anzahl nicht vor Ort ansässiger Besucherinnen zunehmend als Belastung empfunden (vgl. ARGE Kirchhoff/ Jacobs 2011: 25). Damals gab es im Dreieck Schulterblatt/Schanzenstraße/ Susannenstraße ca. 35 Gastronomiebetriebe (vgl. ebd.). 2011 wurden im Kerngebiet der Sternschanze 85 genehmigte gastronomische Betriebe mit Alkoholausschank gezählt (vgl. Bezirksamt Altona 2012: 16), die sich vor allem am Schulterblatt und in der Susannenstraße konzentrieren und deren Einzugsbereich weit über die Sternschanze hinausreicht (vgl. ebd.: 4). Aufgrund der hohen Nachfrage gastronomischer Betriebe nach geeigneten Gewerberäumen im Viertel kommt es bereits zu einer Verdrängung von Einzelhandelsund anderen Gewerbebetrieben (sog. commercial gentrification; vgl. CocolaGant 2018: 288) und damit zu einer Gefährdung des Gebietscharakters, wie das Bezirksamt (2012: 25) feststellte. Aus diesem Grund entstand im Zuge der Sanierung des Viertels der Bebauungsplan Sternschanze 6 als Textplan, dessen übergeordnetes Planungsziel »der Schutz und Erhalt der Wohnnutzung und die Regulierung der Schank- und Speisewirtschaft durch eine Beschränkung auf einen Ausnahmetatbestand« waren (Bezirksamt Altona, 2012: 3; vgl. dazu auch das Interview mit dem ehemaligen Schanzenbeauftragten Heinz Evers). Im Textplan Sternschanze 6 heißt es dazu:

303

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Ursula Kirschner und Anja Saretzki

»Das Planungsrecht soll zudem dahingehend angepasst werden, dass Schank- und Speisewirtschaften im Plangebiet nur noch ausnahmsweise statt wie bisher allgemein zulässig sind. Außerdem sollen zur Vermeidung von städtebaulichen Spannungen und zur Wahrung des Gebietscharakters Vergnügungsstätten in allen Baugebieten ausgeschlossen werden. Betriebe des Beherbergungsgewerbes sollen in den Wohngebieten zukünftig ausgeschlossen werden und in den weiteren Baugebieten nur ausnahmsweise zulässig sein.« (Bezirksamt 2012: 4) Problematisch bleibt dabei weiterhin die Regulierung der zulässigen Außengastronomieflächen, »da eine Genehmigung durch Sondernutzungserlaubnisse für den öffentlichen Straßenraum auf der Grundlage des Hamburgischen Wegegesetzes (HWG) in der Fassung vom 22. Januar 1974 (HmbGVBl. S. 41, 83), zuletzt geändert am 15. Februar 2011 (HmbGVBl. S. 73), erfolgt. Eine Regelung ist nur im Wege einer stärker restriktiven Genehmigungspraxis für Sondernutzungserlaubnisse möglich. Bei Änderungen oder Erweiterungen von Schank- und Speisewirtschaften wird im Baugenehmigungsverfahren darauf zu achten sein, dass die Wahrung gesunder Wohnverhältnisse sowie die Minderung der Lärmemissionen durch entsprechende Lärmschutzauflagen gesichert werden. Die Einhaltung dieser Auflagen muss durch ordnungspolitische Maßnahmen sichergestellt werden.« (Bezirksamt Altona 2012: 19f.) Das Ziel der Einhegung der Gastronomie konnte durch den Bebauungsplan jedoch nur bedingt erreicht werden. Tatsächlich hat sich die Anzahl der Betriebe seit 2011 noch einmal erhöht. Zählungen vom August 2022 haben ergeben, dass es im Gebiet der Sternschanze 129 Gastronomiebetriebe gibt, davon 23 getränkegeprägte und 106 speisegeprägte Betriebe.36 Die gastronomische Dichte liegt mit einem Wert von ca. 61 Einwohnerinnen pro Betrieb deutlich über dem Hamburger Mittelwert von 46437 und weist nur mehr eine bedingte Orientie-

36 37

Die Erfassung der Gastronomiebetriebe erfolgte auf der Basis eigener Erhebungen vor Ort. Die Bevölkerungszahlen für diese Berechnung wurden aus den Berichten des Statistischen Amtes für Hamburg und Schleswig-Holstein für 2021 entnommen (vgl. https://www.statistik-nord.de/fileadmin/Dokumente/Statistische_Berichte/bev oelkerung/A_I_S_1_j_H/A_I_S1_j21.pdf; Zugriff 14.03.2023). Die Anzahl der Gastronomiebetriebe für die Sternschanze wurde mit Hilfe eigener Erhebungen im August 2022 ermittelt. Der Wert für Hamburg gesamt wurde der aktuellsten verfügbaren

›Cornern‹ als urbane Praxis

rung an Nachfrage und Bedürfnissen der Wohnbevölkerung auf. Von den 129 Betrieben entfallen 105 auf das Kerngebiet der Sternschanze (= Sanierungsgebiet Sternschanze 6). Geht man davon aus, dass sich die Bevölkerungszahl für das ehemalige Sanierungsgebiet Sternschanze 6 entsprechend der Entwicklung im gesamten Stadtteil nur minimal erhöht hat, dann liegt die gastronomische Dichte hier sogar bei 48 Einwohnerinnen pro Betrieb und hat sich folglich noch einmal erhöht.38 Die Abbildung 4 zeigt die räumliche Verteilung der Betriebe. Die stärkste Gaststättenagglomeration weist die Piazza am Schulterblatt auf. Auch der Bereich der Susannenstraße ist in seinem gesamten Verlauf stark belastet. Weitere Ballungen von Gastronomiebetrieben gibt es im nördlichen Teil der Schanzenstraße jenseits der Bahntrasse sowie am Neuen Kamp (beide in der Karte nicht dargestellt). Orte der Gastronomie sind dabei häufig auch Corner-Treffpunkte, was insbesondere für das Schulterblatt sowie den Kreuzungsbereich Susannenstraße/Bartelsstraße gilt. 78,3 % (101 Betriebe) der Kneipen, Restaurants, Cafés und Imbisse in der Sternschanze verfügen über eine Außengastronomie.39 Im Kerngebiet liegt der Wert mit 64,8 % (68 Betriebe) etwas niedriger, bewegt sich aber dennoch auf einem hohen Niveau. Die Gastronomie belegt damit einen erheblichen Teil des öffentlichen Raums und trägt gleichzeitig stark zur lokalen Geräuschkulisse bei. Dies gilt insbesondere in den Abendstunden und in der Nacht,40 da die Hälfte aller Betriebe auch nach 23 Uhr noch geöffnet hat (Kerngebiet: 38,1 % = 40 Betriebe). Die Öffnungszeiten erstrecken sich selbst in der Woche teils weit in die Nacht. Während das Gros der gastronomischen Betriebe spätestens um 1 Uhr schließt, haben 10,9 % (14 Betriebe) bis 2 Uhr, 7,8 % sogar länger geöffnet (Kerngebiet: 7,6 %/8 Betriebe bzw. 4,8 %/5 Betriebe). Am Wochenende

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Umsatzsteuerstatistik (Voranmeldungen 2019; Kategorien 56.1 und 56.3) entnommen (vgl. https://www.statistik-nord.de/fileadmin/Dokumente/Statistische_Berichte/wirt schaft_und_finanzen/L_IV_1_j_H/L_IV_1_j19_HH.pdf; Zugriff 14.03.2023). Die errechneten Verhältniswerte Einwohner pro Gastronomiebetrieb sind also nicht exakt vergleichbar. Im gesamten Stadtteil stieg die Bevölkerungszahl 1,86 %. Da uns die exakten Zahlen für das ehemalige Sanierungsgebiet Sternschanze 6 nicht vorliegen, gehen wir also für 2021 analog von 4.989 Einwohnerinnen aus. Die Zuordnung der Außengastronomie erfolgte ebenfalls auf der Basis eigener Erhebungen vor Ort. Erfasst wurden exemplarisch die Tage Mittwoch und Samstag. War der Mittwoch ein Ruhetag, wurde alternativ der Donnerstag erfasst.

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liegen diese Werte noch einmal deutlich höher: 30,2 % (39 Betriebe) bis 2 Uhr, 19,4 % (25 Betriebe) darüber hinaus (Kerngebiet: 18,1 %/19 Betriebe bzw. 11,4 %/12 Betriebe). Bei der Verteilung der nachtaktiven Gastronomiebetriebe stechen wieder das Schulterblatt, die Susannenstraße sowie der Imbisscluster an der nördlichen Schanzenstraße heraus. Auch hier zeigt sich, dass für die Anwohnerinnen Cornern und Gastronomie ein sich räumlich überlagernder Problembereich darstellt.

Abbildung 4: Verteilung der Gastronomie im Kerngebiet der Sternschanze (Sanierungsgebiet Sternschanze 6)

Quelle: Anlage 3 der Begründung zum Bebauungsplan Sternschanze 6 mit eigenen Ergänzungen (abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Bezirksamtes Altona)

›Cornern‹ als urbane Praxis

Aus der Sicht der Gastronomie stellt sich dieses anders dar. Das Cornern und die damit verbundenen Kioske werden von Gastronominnen als Konkurrenz wahrgenommen (vgl. Twickel/Herrmann 2019). Im Kernbereich der Sternschanze existieren derzeit acht Kioske, wobei insbesondere die Kioske am Schulterblatt mit ihren langen Öffnungszeiten kritisch gesehen werden. Einerseits sind die Kioske ebenso wie die Gastronomie Teil des nächtlichen Partytreibens und damit mitverantwortlich für die Konflikte mit den Anwohnerinnen. Andererseits gelten für Kioske als Einzelhandelsbetriebe aber andere Vorschriften, da sie z.B. davon befreit sind, Toiletten oder Lärmschutzschirme vorzuhalten. Da es für den Kiosk nur um den Verkauf von Alkohol geht und keine Aufenthaltsqualität wie z.B. in einer Gaststätte angeboten wird, können alkoholische Getränke deutlich günstiger angeboten werden. Für Gastronominnen ebenso wie für Anwohnerinnen und für die Polizei stellt diese günstige Versorgung mit Alkohol für die Cornenden eines der Hauptprobleme in der Sternschanze dar.

Lösungsansätze Das Thema Cornern in der Sternschanze wurde im Jahr 2021 von Studierenden der Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts untersucht. In einem Stadtteilspaziergang mit drei Protagonisten (lokaler Polizist, Gastronom und Anwohnerin/Abgeordnete der Bezirksversammlung Altona) wurden folgende Argumente gesammelt. Im Gespräch mit der Stadtteilkoordinatorin wurden folgende Maßnahmen, die seit 2010 in der Sternschanze erfolgt sind, eruiert: • • • • • • • •

Infoflyer zum verantwortungsvollen Feiern B-Plan Sternschanze 6 als Textplan zum Ausschluss von Nutzungsänderungen für gastronomische Zwecke Selbstverpflichtung der Gastronominnen zur pünktlichen Schließung der Außengastronomie (vgl. Interview von Heinz Evers in diesem Band) Einführung von regelmäßigen Kontrollen zur Einhaltung der Auflagen von Sondernutzungsgenehmigungen, wie Außengastronomie Runde Tische mit verschiedenen Akteursgruppen Kommunikationsprojekt zur Stärkung nachbarschaftlichen Engagements Respektplakat als Anwohnerinneninitiative der Rosenhofstraße Förderung kultureller Projekte als programmatischen Gegenpol

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Stadtteilkoordinatorin41 , ansässig im Fachamt Stadt- und Landschaftsplanung, Bezirksamt Altona/Hamburg



Tabelle 4: Das Cornern in der Sternschanze aus unterschiedlichen Sichtweisen Polizist

Gastronom42

Anwohnerin

Cornern ist problematisch hinsichtlich des Wegerechts: Einerseits dienen öffentliche Wege dem Gemeingebrauch und jeder darf sich dort privat unbegrenzt aufhalten.43 Andererseits könnte bei Party-ähnlichen Treffen der Gemeingebrauch überschritten sein. Auslegung liegt in der Zuständigkeit der Bezirksämter.

Doppelstandards bei Kiosk und Restaurant; Verantwortung der Betreiber für diejenigen, die auf seinem Grundstück stehen.

Verschmutzung des öffentlichen Raumes durch Urinieren etc. in den Hauseingängen.

Cornernde betrachten Straße als quasi rechtsfreien Raum.

Der Gedanke, die Bar aufzugeben, weil es einfach nicht mehr so viel Spaß macht wie früher.

Angst davor, abends rauszugehen, um das Gespräch mit den Cornernden zu suchen.

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Eine Stelle für die Stadtteilkoordination ist in Hamburg nur im Stadtteil Sternschanze ansässig (vgl. Interview mit Heinz Evers in diesem Band). Der Gastronom hat seine Bar Ende 2022 aufgegeben (vgl. https://www.mopo.de/ham burg/kuschelige-pinte-hamburger-trauern-ueber-ende-einer-beliebten-schanzen-b ar/; Zugriff 29.12.2022). Vgl. § 16 des Hamburgischen Wegegesetzes (https://www.landesrecht-hamburg.de/b sha/document/jlr-WegeGHAV2P4; Zugriff 22.02.2023).

›Cornern‹ als urbane Praxis

Gefährdung anderer, wenn Cornernde Krankenwagen oder Feuerwehr nicht durchlassen.

Toilettendilemma mit den Kunden des Kiosks nebenan.

Lärmbelästigung und Verschmutzung (Vermüllung) durch Cornernde.

Alkohol-Versorgungsmöglichkeiten kappen, um Anwohnerinnen vor Belästigungen zu schützen.

Kioskbetreibende verfügen über eine kombinierte Einzelhandels- und Ausschank-/Gastrolizenz.

Respektlosigkeiten gegenüber Anwohnerinnen.

Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung in der eigenen Wohnung. Quelle: Eigene Zusammenstellung

Falko Droßmann, der ehemalige Bezirksamtsleiter von Hamburg Mitte, stellte einst fest: »Wenn alles vom Gesetz her erlaubt ist, kann ich nichts verbieten. Aber wir können das Bundesgaststättengesetz durch ein Hamburgisches Gesetz ersetzen« (zitiert nach Twickel 2017). Auf diesem Wege könnten maßgeschneiderte Lösungen entwickelt werden. »Wir wollen in bestimmten Ecken in Altona und Mitte an warmen Tagen den Alkoholverkauf ab 23 Uhr untersagen können«, so Droßmann (ebd.). Ein solches Gesetz existiert jedoch bis heute nicht. Nach intensiver Auseinandersetzung mit der Problematik haben die Studierenden des Seminars folgende Maßnahmen zur Diskussion gestellt:

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Tabelle 5: Maßnahmen mit Blick auf das Cornern in der Sternschanze aus der Sicht der Seminarteilnehmerinnen Räume verändern

Restriktionen reflektieren

Infrastruktur verbessern

Mediation ausprobieren

Corner-Orte entzerren, bspw. großflächiger verteilte Sitzmöglichkeiten/›attraktive‹ Ecken o.ä. schaffen.

Einhaltung der Landes- und Bundesimmissionsschutzgesetze.

Schalldämmung für Anwohnende.

Bewusstsein für Ruhestörung und die Bedürfnisse der Anwohnerinnen erhöhen.

Kostengünstige Konsumangebote/ Aufenthaltsmöglichkeiten für nichtkonsumierende Menschen schaffen.

Cornern unter der Woche viel früher beenden, ggf. nur nicht-alkoholische Getränke.

Bessere Infrastruktur vor Ort schaffen (Mülleimer, öffentliche Toiletten, ÖPNV – bessere Taktung etc.).

Bewusstsein durch ehrliche Dialoge schaffen.

Im Bereich der Immobilienbranche/ Administration frühzeitig Menschen auf die evtl. Nutzung ihrer (neuen) Wohnorte hinweisen.

Konsequentere Durchsetzung der Ruhezeiten über einen längeren Zeitraum an bestimmten Tagen, jedoch z.B. am Freitag und Samstag die Nachtruhe nicht durchsetzen.

Hinweisschilder anbringen.

Gemeinsame Veranstaltungen zwischen Cornernden und Anwohner*innen, um Austausch zu schaffen und öffentlichen Raum für alle Beteiligten nutzbar zu machen

›Cornern‹ als urbane Praxis

Mietminderungen für Anwohner*innen.

Frühere Nachtruhe.

›Nächtliche Wächter‹, die auf Müll, Nachtruhe etc. hinweisen … basierend auf ausgearbeiteten Regeln, die die ›Wächter*innen/ Security Mitarbeitenden‹ kommunizieren können.

Langfristig: andere, weniger stark bewohnte Gebiete attraktiver machen. Quelle: Eigene Zusammenstellung

Schlussfolgerungen Das Nachtleben ist für die junge Generation von großer Bedeutung, da sie hier erstmalig eigenverantwortlich agieren und sich vernetzen kann. Allerdings werden sowohl öffentliche Räume als auch Clubs, die von jungen Menschen frequentiert werden, im innerstädtischen Bereich mit den bekannten Konflikten wie Lärm und Verschmutzung in Verbindung gebracht, was wiederum zur Stigmatisierung dieser Generation beiträgt. Es gibt zahlreiche weiche und restriktive Maßnahmen, die erzieherisch darauf abzielen, diese Lebensphase zu reglementieren, in der junge Menschen sich außerhalb von Erziehungseinrichtungen wie Elternhaus und Schule zurechtfinden müssen. Anwohnerinnen dieser Szeneviertel fühlen sich oft mit den Auswirkungen konfrontiert, drängen Verwaltung und Politik dazu, deeskalierend tätig zu werden. Der Polizei fällt es schwer, Menschen zur Einhaltung von Regeln anzuhalten, wenn diese auf der Auslegung unbestimmter bzw. umstrittener Rechtsbegriffe beruhen.44 Änderungen der Interpretationen sind häufig Ge44

Hier geht es beispielsweise um die Begriffsdefinition von ›Gemeinwohl‹ oder um die Frage, ab wann man von einer ›Party‹ auf einem Gehweg sprechen kann.

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genstand parteipolitischer Debatten oder verlaufen im Sande (vgl. Twickel 2017). Wie sich die Konfliktlagen des städtischen Nachtlebens und damit auch des Cornerns auflösen lassen, dazu gibt es, wie aufgezeigt, nicht nur ganz unterschiedliche Ansätze, sondern auch unterschiedliche Beurteilungen. Jacob Schmid kommt in seiner Dissertation Stadt nach Acht zu dem Schluss, dass es nicht die kleinen Maßnahmen sind, die zu einem nachhaltigen Nachtleben führen, sondern Programme und eine kohärente Strategie, die regelmäßig auf ihre Effektivität, Wirksamkeit und Effizienz geprüft werden (vgl. Schmid 2018: 150). Vom Stadtteilbeirat der Sternschanze wird bei zu viel Andrang durch Touristinnen vorgeschlagen, Straßen zu schließen, ähnlich wie es in Amsterdam45 diskutiert wird (vgl. Stadtteilbeirat Sternschanze 2019). Darüber hinaus hat Amsterdam zum Beispiel Maßnahmen ergriffen, um das Nachtleben räumlich zu entzerren. Im Jahr 2013 wurde die 24-Stunden-Lizenz für Club- und Barbetriebe in Außenbezirken eingeführt, um attraktive und nachhaltige Alternativen für das innerstädtischeNachtleben zu schaffen.46 Halle (Saale) und Bremen haben beispielsweise Flächen zum spontanen Feiern ausgewiesen.47 Vetter (2018: 78) fordert besonders geschützte ›Kulturgebiete‹. Auch die Seminarteilnehmerinnen machten Vorschläge zur Nutzung anderer Stadtareale und damit zur Entzerrung der Problemzonen. Das von Lefebvre adressierte Recht auf Stadt fordert genau solch ein Recht auf Teilhabe und Aneignung der Stadt als Œuvre und damit als Gemeingut, in dem die Trennung von Alltag und Freizeit aufgehoben und die Stadt den Menschen, auch den feiernden Menschen mit all ihrer Konflikthaftigkeit zurückgegeben wird.

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»Stef Driessen hat im Auftrag der Bank [ABN Amro] einen Bericht über den Tourismus in der Stadt verfasst. Er sagt, dass die Kapazität durch Tore begrenzt werden kann. ›Irgendwann kann man sagen: Dieser Bereich ist jetzt voll. Es ist zu voll.‹ Die Einwohner sollten aber immer die Möglichkeit haben, hineinzukommen, indem sie zum Beispiel einen Ausweis oder ihre ÖPNV-Chipkarte scannen.« (https://www.nhnieuws.nl/nieuws/308530/toegangspoortjes-met-entreeg eld-op-de-wallen-dan-wordt-het-helemaal-een-reservaat; Übersetzung U.K., Zugriff 13.03.2023) Vgl. https://www.theguardian.com/cities/2016/mar/21/night-mayor-amsterdam-holl and-mirik-milan-night-time-commission (Zugriff 13.03.2023). Vgl. https://m.halle.de/de/Verwaltung/Online-Angebote/Dienstleistungen/m.aspx?R ecID=1147; https://www.service.bremen.de/dienstleistungen/anmeldung-einer-freilu ftparty-124721 (Zugriff 14.03.2023).

›Cornern‹ als urbane Praxis

Demgegenüber hört man Stimmen aus der Polizei, dass in der näheren Umgebung der Sternschanze keine Flächen verfügbar sind. Wenn man jedoch die gesamte Innenstadt betrachtet, kämpft auch Hamburg mit einem Strukturwandel. In der einst lukrativen Mönckebergstraße schließen Einzelhandelsgeschäfte und es resultieren Leerstand bis hin zur Vernachlässigung. Um junge Menschen an die Stadt zu binden und die Stadt für Fremde attraktiver zu machen, könnten alternative Kulturinitiativen an solch ungewohnten Orten Fuß fassen, eine Spielart von Christiania nach dem Vorbild von Kopenhagen wäre ein mutiger Schritt. Kleine Aktivitäten wie das Transcornern im Jahr 2018 waren Bemühungen, das Cornern mit Nachbarschaftsaktivitäten positiv zu besetzen (vgl. Siber 2018). Statt sich auf die Stadtentwicklungsstrategie einer Creative City zu konzentrieren, könnte in Zukunft der Fokus in Richtung Young Generation City verschoben werden. Junge Menschen sind ein Humankapital der städtischen Entwicklung und wichtiger Bestandteil der sozialen Stabilität. Eine Wertschätzung dieser Generation und eine Abkehr von restriktiven Maßnahmen, die sie aus attraktiven Stadtvierteln vertreiben oder kriminalisieren, wäre eine mehr als vielversprechende Alternative. Es sind allerdings nicht nur junge Menschen, die cornern. Vielmehr wird das Cornern von verschiedenen Altersgruppen und sozialen Schichten praktiziert, und dies kann auch ortsabhängig sehr unterschiedlich sein. Die Gruppe der Cornenden ist nicht homogen, da beispielsweise der Anteil der befragten Konsumentinnen mit Fach-/Hochschulreife oder Fachhochschul-/ Universitätsabschluss am Neuen Pferdemarkt bei 89,9 %, im Unterschied dazu am Hansaplatz bei 50 % liegt (vgl. Kemme/Taefi 2018: 13f.). Dieses auch im Städtevergleich genauer zu untersuchen, könnte helfen, die Konflikte zu verstehen und Maßnahmen oder auch Programme noch genauer dem Ort und den verschiedenen Gruppen anzupassen. Die Vielzahl der in diesem Beitrag aufgeführten weichen Maßnahmen sind in der Regel bottom-up entwickelt worden und versuchen den Ton der vor Ort Cornernden zu treffen. Nachtbürgermeisterinnen, Nachtmanagerinnen oder die Clubkommission in Berlin schaffen institutionelle Foren, um Themen des städtischen Nachtlebens zu behandeln. In der Sternschanze nimmt sich die Stadtteilkoordinatorin neben dem Tagesgeschäft auch dem Thema des Cornerns und seiner Begleiterstellungen an und hat in der Vergangenheit ein umfangreiches Maßnahmenpaket umgesetzt. Ein Teil dieser Maßnahmen umfasst die Förderung einer besseren Governance innerhalb des Nachtlebens, um dieses als kulturelle Form zu etablieren und als prägendes Element für eine junge, dynamische und inklusive Stadt zu positionieren. Dabei ist Respekt

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gegenüber den Anwohnerinnen ebenso wie Nachsicht gegenüber der jungen Generation geboten, denn genau das beinhaltet auch Lefebvres Forderung nach dem Recht auf Stadt als Ort der Begegnung und des Gebrauchs. Die von ihm beschriebene Konvergenz unterschiedlicher gesellschaftlicher Elemente erzeugt erst die letztlich von allen Akteurinnen gewünschte Urbanität und damit auch das Cornern als urbane Praxis. Urbanität ist jedoch nicht ohne die Aushandlung von Konflikten zu haben, aber genau diese Aushandlungsprozesse machen die Stadt zum Zentrum von Kreativität und Innovation, und dieses sollte der vorliegende Band mit seinen Beiträgen gezeigt haben.

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Autorinnen und Autoren

Jasmin Annuß studiert Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing an der Leuphana Universität Lüneburg. Andreas Blechschmidt war langjähriger Aktivist der Roten Flora und lebt mittlerweile in Halle. Henning Brauer ist IT-Unternehmer, wohnt seit 20 Jahren in der Sternschanze und ist seit Anbeginn 2013 im Vorstand des Standpunkt.Schanze e.V., der den Stadtteilbeirat Sternschanze trägt. Außerdem ist Henning Abgeordneter im Plenum der Handelskammer Hamburg und in den Ausschüssen für IT sowie Finanzen der HK engagiert. Er sitzt im Vorstand der Stichting EuroBSDcon, die die gleichnamige IT-Konferenz organisiert, sowie im Program Committee der AsiaBSDcon. Er ist Mitglied im Chaos Computer Club, Deutschen Alpenverein, Pro Asyl und Greenpeace. Ursula Kirschner (Prof. Dr.-Ing.) ist Professorin für Architektur und digitale Kultur am Institut für Stadt- und Kulturraumforschung der Leuphana Universität Lüneburg, Fakultät Kulturwissenschaften. Sie schloss ihr Studium der Architektur an der Universität der Künste Berlin mit dem Diplom ab und promovierte an der Hochschule für bildende Künste (HfBK) in Hamburg. Ihr derzeitiger Forschungsschwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Baukultur in den Bereichen nachhaltige Siedlungsstrukturen (international), Partizipation in Stadtplanungsprozessen und digitale Medien im urbanen Raum. Daria Klaassen studiert Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg. Derzeit schreibt sie ihre Bachelorarbeit im Bereich Tourismus und Marketing.

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Gentrifizierung und Touristifizierung in der Hamburger Sternschanze

Anna Mirjam Möllgaard wurde 1990 bei Hamburg geboren und wuchs zunächst im Stadtteil Altona auf. Während ihrer Schulzeit verbrachte sie einige Jahre in Nordfriesland und absolvierte dort ihr Abitur an einem Musik-Gymnasium. Seit 2010 lebt sie wieder überwiegend in Hamburg. Beruflich war sie bisher im Medienbereich sowie in der kulturellen Bildung tätig. 2020 hat sie ihr Masterstudium der Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg abgeschlossen. Martin Pries arbeitet an der Leuphana Universität Lüneburg im Institut für Stadt- und Kulturraumforschung. Er beschäftigt sich seit Jahren mit städtischen Entwicklungsprozessen, insbesondere in Hamburg. Miriam Riesch hat ihren Bachelor in Betriebswirtschaftslehre an der Leuphana Universität Lüneburg absolviert und ist jetzt im regionalen Marketing tätig. Anja Saretzki (Dipl.-Kffr., M.A.) ist Lehrbeauftragte am Institut für Stadtund Kulturraumforschung der Leuphana Universität Lüneburg. Aktuelle Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen in den Bereichen touristische Raumproduktion, Kulturerbetourismus, Städtetourismus und Destination Governance. Cornelia Stolze (Dipl.-Ing.) ist Landschafts- und Stadtplanerin mit Abschlüssen an der Hochschule Osnabrück und der Technischen Hochschule Hamburg-Harburg. Sie arbeitete in Stuttgart und Hamburg in interdisziplinären Architekturbüros und in der öffentlichen Planung. Zum vielfältigen Berufsfeld zählten alle Planungsphasen der Objekt- und Landschaftsplanung, Projektentwicklung und -management, Öffentlichkeitsarbeit, Studienbetreuung u.v.a.m. Von 2007 – 2020 bildete insbesondere der Themenkomplex »Kulturlandschaft und Landschaftskultur im Kontext der Europäischen Stadt im 21. Jhdt.« einen Schwerpunkt. Sie ist in mehreren stadtpolitisch relevanten Beiräten in Hamburg aktiv. Maria Franziska Stöppler ist Studierende an der Leuphana Universität Lüneburg. Als gebürtige Hamburgerin (Altona, St. Pauli) hat sie früh die Aufwertung der umliegenden Viertel miterlebt und geriet so zur Stadtteilpolitik. Irgendwann kam der Schritt vom persönlichen Aktivismus zur kritischen Stadtforschung. Ihre Interessen liegen vor allem bei den internationalen Forderun-

Autorinnen und Autoren

gen nach dem Recht auf Stadt, dem gerechten Zugang zum urbanen Raum und dessen alternativen Verwaltungsformen. Anne Vogelpohl ist Geografin und Soziologin. Wissenschaftlich hat sie sich an den Universitäten Hamburg, TU Berlin, New York University und Frankfurt am Main mit sozialen Ungleichheiten in Städten und Stadtquartieren beschäftigt. Im Fokus standen dabei die Felder Wohnen, Arbeiten und Politikberatung. Inzwischen ist sie an das Bezirksamt Hamburg-Altona gewechselt und sorgt im Rahmen der Quartiersinitiative Urbanes Leben für die soziale Flankierung des Stadtwachstums. Karlheinz Wöhler ist Professor (im Ruhestand) für Tourismuswissenschaften am Institut für Stadt- und Kulturraumforschung (IFSK), Leuphana Universität Lüneburg. Seine derzeitigen Forschungsinteressen liegen im Bereich Touristifizierung und Kommodifizierung von Räumen.

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Geographie Finn Dammann, Boris Michel (Hg.)

Handbuch Kritisches Kartieren Februar 2022, 336 S., kart., 4 SW-Abbildungen, 77 Farbabbildungen 32,00 € (DE), 978-3-8376-5958-0 E-Book: PDF: 31,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5958-4

Stefan Heinig

Integrierte Stadtentwicklungsplanung Konzepte – Methoden – Beispiele 2021, 206 S., kart., 66 SW-Abbildungen 49,00 € (DE), 978-3-8376-5839-2 E-Book: PDF: 48,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5839-6

Johanna Betz, Svenja Keitzel, Jürgen Schardt, Sebastian Schipper, Sara Schmitt Pacífico, Felix Wiegand (Hg.)

Frankfurt am Main – eine Stadt für alle? Konfliktfelder, Orte und soziale Kämpfe 2021, 450 S., kart., durchgängig vierfarbig 25,00 € (DE), 978-3-8376-5477-6 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5477-0

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Geographie Friederike Landau, Lucas Pohl, Nikolai Roskamm (eds.)

[Un]Grounding Post-Foundational Geographies 2021, 348 p., pb., col. ill. 50,00 € (DE), 978-3-8376-5073-0 E-Book: PDF: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5073-4

Georg Glasze, Annika Mattissek (Hg.)

Handbuch Diskurs und Raum Theorien und Methoden für die Humangeographie sowie die sozial- und kulturwissenschaftliche Raumforschung 2021, 484 S., kart., 18 SW-Abbildungen, 7 Farbabbildungen 29,50 € (DE), 978-3-8376-3218-7 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3218-1

Lisa Maschke, Michael Mießner, Matthias Naumann

Kritische Landforschung Konzeptionelle Zugänge, empirische Problemlagen und politische Perspektiven 2020, 150 S., kart., 3 SW-Abbildungen 19,50 € (DE), 978-3-8376-5487-5 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5487-9

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