Geniale Pflanzen 3662631512, 9783662631515, 9783662631522

In diesem Buch finden Sie eine Auswahl erstaunlicher Eigenheiten unserer grünen Mitgeschöpfe, der Pflanzen. Beim bloßen

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Geniale Pflanzen
 3662631512, 9783662631515, 9783662631522

Table of contents :
Einleitung
Inhaltsverzeichnis
1 Von Stämmen, Stängeln und Stielen
1.1 Stabil und stämmig
1.2 Was ein Baumstamm uns erzählen kann
1.3 Vom Winde verdreht
1.4 Wasser bis zu den höchsten Wipfeln
1.5 Wie Pflanzen ihre Runden drehen
1.6 Wendelranken – eine geradezu geniale Befestigung
1.7 Eindringliche Wehrhaftigkeit
1.8 Lebensprinzip Aufsässigkeit
1.9 Versteckter Hochadel
1.10 Ganz und gar geradstielig
1.11 Gesellschaft mit (fast) unbeschränkter Haftung
1.12 Allerhand bleiche Gestalten
1.13 Teuflisches Fadenwerk
1.14 Kleinholz aus dem Hochgebirge
1.15 Ritzensteher und Spaltensiedler
1.16 Nicht nur eine Frage der Ähre
1.17 Platt wie ein Blatt
1.18 Konkurrenzlose Klimmstängel
1.19 Die Haut der Gehölze
1.20 Druckluft für die Unterirdischen
2 Was Pflanzen so hinblättern
2.1 Blatt und Blüte fest verpackt
2.2 Aufleben im Frühjahr
2.3 Nur eine stille Attacke
2.4 Abkehr von der Sommersonne
2.5 Manche tragen Sonnenbrillen
2.6 Finale Farborgie
2.7 Im Dunkeln lassen sich viele hängen
2.8 Und nachts werden sie auch noch sauer
2.9 Grüne Salzstangen
2.10 Planmäßige Versenkung
2.11 Auf glattes Parkett locken
2.12 Gläserne Giftspritzen
2.13 Alles hat seine zwei Seiten
2.14 Knallbunt und rätselhaft
2.15 Fibonacci und die Folgen
2.16 Auch eine Spitzenleistung
2.17 Hart im Nehmen
3 Blühen, Reifen, Fruchten
3.1 Frühlingserwachen noch im Winter
3.2 Was Blüten alles im Schilde führen
3.3 Ziemlich süße Verführung
3.4 Ganz dufte Typen
3.5 Gezielte Nachhilfe
3.6 Eine knisternde Ouvertüre
3.7 Logarithmen im Kopf
3.8 Mathe mit der Malve
3.9 Hefeheizung für die Hummeln
3.10 Zuerst männlich, später weiblich – oder umgekehrt
3.11 Und noch ein wenig Verhütungsbotanik
3.12 Wie man auf die schiefe Bahn gerät
3.13 Frühling schon im Herbst
3.14 Komplex konstruiert, aber einfach aussehen
3.15 Einsame Gipfelstürmer
3.16 Gigantisches Getreide
3.17 Reifezeugnis in nur wenigen Tagen
3.18 Der Flugtag der Früchte
3.19 Glänzend, rund und schwergewichtig
3.20 Zum Saisonschluss: Farbiges für die Fauna
Abbildungsverzeichnis
Literatur
Stichwortverzeichnis

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Bruno P. Kremer

Geniale Pflanzen

Geniale Pflanzen

Bruno P. Kremer

Geniale Pflanzen

Bruno P. Kremer Wachtberg, Nordrhein-Westfalen Deutschland

ISBN 978-3-662-63151-5 ISBN 978-3-662-63152-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-63152-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung der Verlage. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © lakalla/stock.adobe.com Planung/Lektorat: Stefanie Wolf Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Einleitung

In den kleinsten Dingen zeigt die Natur ihre allergrößten Wunder. Carl von Linné (1707–1778)

Auf den Spuren ungewöhnlicher Lebensentwürfe Grüne Pflanzen sind in unserer Umwelt geradezu omnipräsent. Wir erleben sie als dichten krautigen Bewuchs von Äckern und Grünland, als hochwüchsige und artenreiche Staudensäume an Gewässern sowie als Gehölzgruppen in Gebüschen und Wäldern, aber auch in etlicher gestaltlicher Bandbreite in Gärten sowie Parkanlagen. Zudem erfreuen sie uns im V

VI      Einleitung

Siedlungsraum, wo eine fürsorgliche Gemeinde- bzw. Stadtverwaltung die öde Tristesse grauer Verkehrswege mit flankierenden und bestenfalls artenreich bestückten Grünstreifen abzumildern versuchte. Pflanzen findet man also bei genauerem Hinschauen wirklich überall – auch an zumeist übersehenen Wuchsplätzen wie in Gehwegritzen oder Mauerfugen sowie in mancher kleinen wilden Ecke, wo ein gewöhnlich als Unkraut diffamiertes kleines Artenensemble dem bürgerlichen Sauberkeitswahn vorerst entgangen ist. Pflanzen fehlen demnach im täglichen Erlebnisraum wirklich nirgendwo. Sie zeigen sich als Moose, Farne und blühende Kräuter, als Gehölzkeimlinge in Kellerschächten oder als hoffnungsfroher Aufwuchs in der Umrandung von Gullys und Kanaldeckeln. Sogar auf bedeutenden Bauwerken sind sie geradezu massiv zu Hause: Die gründlich untersuchte Flora etwa des Kölner Doms umfasst mehr als drei Dutzend Arten, darunter sogar Baumarten wie Sal-Weide und Weiß-Birke. Die gesamte auf dem Dom siedelnde Biomasse (vor allem beigesteuert von Kleinstorganismen) summiert sich nach vorsichtiger Schätzung immerhin auf über 1000 t. Eingeschränkte Wahrnehmung Aber nehmen wir das überall präsente grüne Ambiente auch bewusst und wirklich wahr? Zugegeben: So manche(r) schnuppert völlig verzückt an einer gerade aufgeblühten Rose am Zaun zum Nachbargarten, erfreut sich am Farbenrausch eines buntblumigen Ackersaums in der dörflichen Feldflur oder nimmt sich von draußen ein paar aromatisch duftende DostExemplare für die heimische und mediterran inspirierte Kräuterküche mit. Ansonsten spielen Pflanzen eher eine Rolle in der unterschwelligen Wahrnehmung – die Zuwendung beschränkt sich auf die kulinarisch verwertbaren Nutzpflanzen bzw. ihre verfeinerten Produkte. Wer kann denn schon die rund 4000 in Mitteleuropa wild wachsend bzw. verwildert vorkommenden Blütenpflanzen benennen oder auch nur ein deutlich bescheideneres Quorum mit dem korrekten deutschen Artnamen zitieren? Naturkundliches Allgemeinwissen ist nach aller Erfahrung seit Langem klar auf dem Rückzug. Schon vor Jahrzehnten mokierten sich professionelle, aber eben klassisch trainierte Botaniker darüber, dass die meisten ihrer modernen Kollegen nur noch bestimmte Gensequenzen ihres bevorzugten Forschungsobjekts Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana) hersagen können, die betreffende Pflanze im Freiland aber nicht mehr zuverlässig (er) kennen. Das ist eine zweifellos erbärmliche und so nicht unbedingt kritiklos hinnehmbare Diagnose.

Einleitung     VII

Eine neue Wahrnehmung? Nein – Pflanzen in ihrer Gesamtheit sind gewiss nicht das vermeintlich langweilige Grünzeug, das einfach nur so herumsteht, im Gegensatz zur agilen und mobilen Tierwelt, deren Vertreter mit ihren diversen Aktivitäten sofort die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das muntere Eichhörnchen im Schlosspark, die gründelnden Enten auf dem Stadtparkteich oder ein munter umhergaukelnder Tagfalter sind sofort gerne gesehene Blickpunkte. Aber Pflanzen? Von den unscheinbaren Moosen bis hin zu den hochwüchsigen Waldbäumen verdienen sie schon allein deswegen verstärkte Zuwendung und sogar uneingeschränkte Bewunderung, weil sie mit ihrer biochemischphysiologisch so unglaublich ausgeklügelten Fotosynthese nicht nur sich selbst, sondern die gesamte übrige Biosphäre permanent in Gang halten. Ohne pflanzliche Fotosyntheseprodukte wäre der gesamte kulturellzivilisatorische Aufstieg der Menschheit nicht denkbar. Auch Werk- und Wirkstoffe von Pflanzen bestimmen nach wie vor unser Leben. Man denke außer dem sprichwörtlichen täglichen Brot nur einmal an Bau- bzw. Brennholz sowie an die pflanzenbasierte Fasertechnologie, deren Einsatzgebiete vom schicken Schal über das verrückt bedruckte T-Shirt bis zu den ultimativ (etwa mit destructive elements) gestylten Jeans reichen. Auch eine Vielzahl pflanzlicher und unentbehrlicher Arzneimittel wäre gebührend zu würdigen. In diese zweifellos umfangreiche Produktpalette gehört letztlich auch diese Buchseite, die jetzt aufgeschlagen vor Ihnen liegt. Das ist sicherlich nur die eine Facette pflanzlicher Wohltaten, denn es gibt natürlich etliche weitere, die geradezu unglaublich spannend sind und zudem mächtig staunen lassen. Ist schon das einzigartige Solarkraftwerk grünes Blatt mit seiner Fotosynthese eine geradezu an Wunder grenzende Sonderleistung (s. Textkasten), so finden sich im Leben vieler, ja sogar sehr vieler Pflanzenarten hervorhebenswerte Angepasstheiten (als Ergebnisse eventuell über sehr lange Zeiträume optimierter Evolutionsprozesse), mit denen sie sich auch in ökologisch kritischen, weil von der Ressourcenlage her nicht gerade überbordend bestückten Lebensräumen erfolgreich behaupten können. Dazu gehört beispielsweise das unscheinbare PolsterKissenmoos(Grimmia pulvinata), das selbst an intensiv besonnten und daher – unter ökologischem Aspekt – eher unsympathisch trockenwarmen Mauerstandorten unverhältnismäßig üppig gedeiht. Weitere überzeugende Beispiele liefern die diversen Arten der Salzwiesen im Übergang vom Festland zum Weichbodenwatt, weil sie dem für die weitaus meisten Landpflanzen sonst absolut lebensfeindlichen Ökofaktor Meersalz – im Wesentlichen Natriumchlorid (NaCl) – in erstaunlichem Maße trotzen.

VIII      Einleitung

Besonders faszinierend sind natürlich die zahlreichen und immer wieder erstaunlichen Interaktionen zwischen Blütenpflanzen und ihren blütenbesuchenden Kleintieren. In diesen Szenarien finden sich beispielsweise Arten, die früh fliegenden Hummeln aufgeheizte Blüten bieten und ihnen damit an noch recht kühlen Spätwintertagen ein offenbar hochwillkommenes, weil aufwärmendes Zwischenasyl bescheren. Andere Pflanzenspezies locken ihre sechsbeinigen Besucher mit besonderen Blütenmustern buchstäblich auf den Strich oder täuschen ihnen sogar einen aktionsbereiten Paarungspartner vor. Diese und viele weitere ungewöhnliche Sachverhalte werden Ihnen die folgenden Seiten detaillierter vorstellen. Man muss also nicht unbedingt exotische Weiten aufsuchen, um völlig abgedreht erscheinende  autökologische  Eigenheiten zu finden, beispielsweise die erbärmlich nach vergammelndem Aas „duftende“ Riesenblume Rafflesia oder rigoros umschlingende Lianen, die ihren Trägerbaum regelrecht erwürgen, ehe sie eventuell auf eigenen Beinen stehen können. Pflanzliche Wunder gibt es in beachtlicher Bandbreite sozusagen direkt (oder zumindest in der Nähe) der eigenen Haustür. Man muss nur ein wenig intensiver und vor allem „wissenden Auges“ hinschauen. Übersicht Die Geschichte des O Wasserstoff (H) und Sauerstoff (O), relativ enge Nachbarn im wundervollen Periodensystem der Elemente, weisen im Unterschied zu fast allen übrigen Elementen ein besonders beträchtliches Redoxpotenzial auf. Aus dem

Einleitung     IX

Chemieunterricht erinnert man sich eventuell an die zu Recht so benannte Knallgasreaktion: Ein Gemisch aus Wasserstoff- und Sauerstoffgas reagiert aus minimalem Anlass äußerst heftig zu Wasser nach der einfachen Reaktionsgleichung 2 H2+ O2→ 2 H2O. Diese einfache, aber mitunter folgenreiche Reaktion ist auch bei professionellen Chemikern sehr gefürchtet. Die Fotosynthese der grünen Pflanzen ist nun gleichsam die organismische Umkehrung dieser Reaktion. Nachdem die Chlorophyllmoleküle in den grünen Geweben die Energie des Sonnenlichtes eingefangen und auf wundersame Weise zwischengespeichert haben, zerlegen sie mithilfe angeschlossener und recht komplexer Zusatzsysteme das Betriebsmittel Wasser wieder in seine Komponenten. Die dabei entstehenden Protonen (H+) reduzieren anschließend den oxidierten Kohlenstoff aus dem weiteren Betriebsstoff CO2 zum energiereichen Kohlenhydrat (CnH2nOn). Dieser einzigartige Prozess konvertiert also auf äußerst raffinierte Weise die physikalische Energie der Photonen aus dem Sonnenlicht in die chemische Bindungsenergie der C-, H- und O-Atome einer organischen Verbindung vom Typ Haushaltszucker (Saccharose). Dieser bewundernswerte Prozess steht in der gesamten Biosphäre einzigartig da. Der zweite Wasserbestandteil verlässt die grünen Gewebe als molekularer Sauerstoff (O2). Diese Stoffwechselleistung ist mit Abstand der wichtigste Motor der Biosphäre, denn in der Natur gibt es außer der Fotosynthese keinen anderen Prozess, der O2 in nennenswerten Mengen freisetzt. Erst die mit Chlorophyll ausgestatteten frühen Lebewesen, die fotosynthetisch aktiv sein konnten, haben die Erdatmosphäre mit dem heutigen O2-Anteil von rund 20% angereichert, damit von den ursprünglich reduzierenden auf oxidierende Bedingungen umgestellt und letztlich auch den Landgang der ursprünglich nur aquatisch lebenden Tiere eingeleitet. Bei den in der Abbildung gezeigten Beleuchtungsverhältnissen läuft die Fotosynthese in den Blättern garantiert, aber äußerlich nicht weiter erkennbar, auf Hochtouren.

X      Einleitung

Pflanzen sind ganz anders In aller Öffentlichkeit sollte man selbst die behutsam-vorsichtige Frage, wie man denn eigentlich eine Pflanze definiert, trotz der geradezu immensen typologischen Vielfalt vielleicht besser nicht stellen – es sei denn, man riskiert ganz unerschrocken ein heftiges Augenrollen seiner Gesprächspartner oder gar ein besonders mitleidiges Lächeln mit der unterschwelligen Ansage, dass da jemand in seiner Schulzeit offenbar eine wichtige Aussage überhört habe. Vermutlich muss man sich zudem die auch nicht besonders hilfreiche Empfehlung anhören, doch mal in den nächsten Stadtpark zu eilen oder einen Blick auf eine artenmäßig gut bestückte Fensterbank zu werfen. Einigermaßen informierte und zudem ansatzweise missionarisch veranlagte Gemüter werden nach kurzem Nachdenken gewiss darauf verweisen, dass (grüne) Pflanzen schließlich per Fotosynthese ständig das Sauerstoffbudget der Atmosphäre ergänzen und als Primärproduzenten sozusagen die unersetzliche stofflich-energetische Basis der gesamten Biosphäre bereitstellen, ohne die auch die seltsame Spezies Mensch absolut nicht existenzfähig wäre. Ist sicherlich alles richtig – nur erklären uns diese zweifellos zutreffenden Notierungen nun überhaupt nicht die Alleinstellungsmerkmale der wissenschaftlich so umrissenen Pflanzen, die man heute ausnahmslos dem Organismenreich Pflanzen (Plantae) zuordnet. Jedoch: Das sicherlich absolut bewundernswerte, weil in vielen Details fast nicht zu glaubende Leistungsmerkmal Fotosynthese kann schon allein deswegen kein konstitutives bzw. ausschließliches Kriterium für Pflanzen sein, weil die etwa in einem Kopfsalat ablaufende fotosynthetische Kohlenstoffreduktion nach dem gleichen biochemischen Grundmuster abläuft wie auch in einem beliebigen fotoautotrophen Cyanobakterium der Gattung Nostoc oder in sämtlichen ein- und mehrzelligen Algen vom Typ Chlorella bis Macrocystis. Es muss also offensichtlich ein anderes Kriterium für das heute so umrissene Organismenreich Plantae innerhalb der von dem bedeutenden amerikanischen Mikrobiologen Carl R. Woese (1928–2012) erstmals bereits im Jahre 1978 vorgeschlagenen Domäne Eukarya geben, denn nicht erst die ältesten Pflanzen haben die Fotosynthese „erfunden“, sondern diese ist tatsächlich eine frühe Entwicklungs- und Pionierleistung der mit besonderen biochemischen Fähigkeiten ausgestatteten Bakterien. Ihre heutigen und noch existenten Nachfahren bezeichnet man als Cyanobakterien (nur mit Chlorohyll a); eine kleine analoge und entwicklungsbiologisch bedeutsame Verwandtschaftsgruppe mit etwas anderer Pigmentausstattung (nämlich Chlorophyll a und b) sind die Chloroxybakterien.

Einleitung     XI

Ein viel besseres Kriterium Das geradezu fantastische Stoffwechselkriterium Fotosynthese ist also für die Definition des Pflanzenreiches erstaunlicherweise eher nachrangig, denn nach neuerer Festlegung ist nämlich nur eine entwicklungsbiologische Eigenheit entscheidend: Alle aus heutiger Sicht als (eigentliche) Pflanzen zu bezeichnenden Organismen durchlaufen in ihrer Individualentwicklung ein in eine eventuell längere Ruhephase eingeschaltetes Embryonalstadium. Ein solches findet sich erstmals bei den Moosen, dann aber auch bei sämtlichen Farnpflanzen und erst recht in den Samen der Nackt- und Bedecktsamer. Vor diesem entwicklungstechnischen Hintergrund bezeichnet man die heute so verstandenen Pflanzen eben als Embryophyten. Bei den Samenpflanzen (Nackt- und Bedecktsamern) ist etwa die vertraute Ausbreitungseinheit Samen immer ein auf einem frühen Stadium in seiner weiteren Entwicklung zunächst gestoppter Embryo (s. Abb.). Analog liegen die Dinge bei allen anderen Hauptverwandtschaftsgruppen der eigentlichen Pflanzen, nämlich den Moosen, Schachtelhalmen, Bärlappen und Wedelfarnen, wobei wir die sicherlich spannenden entwicklungsbiologischen Details hier übergehen können.

Übersicht Systematik ganz neu Die moderne biologische Systematik unterscheidet in unserer lebenden Mitwelt nicht mehr nur – wie früher vereinfachend angenommen, in vielen Schulbüchern immer noch fortlebend und in der bürgerlichen Vorstellung nach wie vor verankert – Pflanzen und Tiere, sondern nach den bahnbrechenden Forschungen

XII      Einleitung bzw. heute weithin akzeptierten Vorschlägen von Carl R. Woese und seinem Team verschiedene Domänen und eine entsprechende Vielzahl von Organismenreichen. Die folgende Übersicht gibt den derzeitigen Diskussionsstand wieder (s. dazu auch die beigefügte Abbildung von Helgoländer Laminarien): Domäne Archaea: Sie umfasst zellkernlose Urbakterien mit besonderen biochemisch-physiologischen Eigenschaften, vor allem (aber nicht ausschließlich) in heißen vulkanischen Quellen verbreitet, ferner in den in Riftgebieten aller Ozeane zahlreich vorkommenden black smokers bzw. hot vents.  Domäne Eubacteria: Sie schließt alle spätestens seit Robert Koch klassisch bekannten (zellkernlosen) Bakterien ein, zu denen nicht nur gefährliche Krankheitserreger (Cholera, Diphtherie, Lungenentzündung u. a.), sondern auch die (mehrheitlich) ökosystemar völlig unentbehrlichen Formen, die das notwendige Totstoffrecycling in der Natur managen, gehören.  Domäne Eukarya: Sie umfasst alle zellkernführenden Lebewesen, deren zellulären Grundbauplan man nach einem Vorschlag des verdienstvollen Freiburger Zellbiologen Peter Sitte (1929–2015) als Euzyten bezeichnet. Nach neueren Vorstellungen gehört hierzu die Mehrzahl der aus dem persönlichen Erlebnisumfeld am ehesten vertrauten Vertreter der folgenden Organismenreiche:  • Protista (bzw. früher Protoctista), ein- oder mehrzellige einfache Lebewesen wie die tierischen Einzeller oder sämtliche Algen • Pilze (Fungi) • Pflanzen (Plantae) • Tiere (Animalia)

Wer demnach nicht dazugehört Lange Zeit ging man mit der Verteilung der verschiedenen Typen von Lebewesen auf die jeweiligen Organismenreiche genauso unbekümmert um wie

Einleitung     XIII

vor Urzeiten der dennoch herausragende Naturgelehrte Aristoteles (384–322 v. Chr.). Der konnte es allerdings wirklich nicht besser wissen, weil ihm die zu seinen Lebzeiten noch nicht entdeckten Einzeller unbekannt waren. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein unterschied man also lediglich die aus der naiven Anschauung abgeleitete Sortierung in ein Pflanzen- und ein Tierreich, ablesbar beispielsweise an den Titeln der seinerzeit etablierten Schulund sogar Hochschullehrbuchliteratur. Aber schon immer verursachten manche Verwandtschaftsgruppen bei nachdenklichen Biologen ein deutliches Unbehagen, weil sie sich partout nicht eindeutig bzw. widerspruchsfrei zu- oder einordnen ließen. Wohin sortiert man beispielsweise die seltsamen Schleimpilze (Myxomyzeten) ein, die mal als kleine Flagellaten, dann wieder als Riesenamöben auftreten und zum guten Ende gar pilzähnliche sowie lebhaft gefärbte Fruchtkörper entwickeln? Und wie behandelt man etwa Formenkreise wie die mikroskopisch kleinen Euglenen, in denen es grüne und demnach fotosynthetisch aktive („pflanzentypische“) ebenso wie farblose heterotroph lebende (eben „tiertypische“) Vertreter gibt? Es kann doch irgendwie nicht sein, dass die genaue Grenze zwischen Pflanzen- und Tierreich irgendwo in irgendeiner Verwandtschaftsgruppe der Einzeller verlaufen soll.

Diese Problematik war natürlich schon kritischen Biologen des späten 19. Jahrhunderts aufgefallen. Der ebenso streitbare wie verdienstvolle Ernst Haeckel (1834–1919) schlug daher den Begriff „Protisten“ als zusammenfassende Bezeichnung für alle einzelligen Organismen vor, unterschied dabei aber mangels genauerer Erkenntnisse der späteren zellbiologischen Forschung noch nicht die prokaryotischen von den eukaryotischen

XIV      Einleitung

Formen. Kurz zuvor (1861) hatte der Brite John Hogg (1800–1869) die Bezeichnung „Protoctista“ „für alle niederen Lebensformen, die mehr den Pflanzen ähneln oder eher tierische Merkmale zeigen“ eingeführt. Von Herbert F. Copeland (1902–1968) stammt schließlich der erstmals 1956 vorgetragene Vorschlag, sämtliche eukaryotischen Einzeller sowie die davon direkt ableitbaren Vielzeller in einem eigenen Organismenreich Protoctista zusammenzuführen. Diese bedenkenswerte Anregung fand bedauerlicherweise zunächst nur wenig Beachtung und wurde erst durch die bahnbrechenden Darstellungen der herausragenden Harvard-Biologin Lynn Margulis (1938–2011) weithin akzeptiert. Heute verwenden die meisten etablierten Übersichten zur übergeordneten Biosystematik nach sorgfältiger begrifflicher Bereinigung dennoch den auf Ernst Haeckel (1834–1919) zurückgehenden Begriff „Protista“. Wer überhaupt zu den Protisten gehört, lässt sich beispielhaft an dem Problem festmachen, was eigentlich Algen sind. Diese vielgestaltige und zudem enorm artenreiche Organismengruppe genauer definieren zu wollen, gleicht in etwa dem Versuch, einen aufgeblasenen Luftballon zu sezieren – eine einfache Festlegung gibt es tatsächlich nicht. Das hängt damit zusammen, dass die Algen insgesamt doch recht unterschiedliche Bauplantypen darstellen, die man nun wirklich nicht allesamt in nur eine einzige Schublade stecken kann. Es ist sogar noch gewöhnungsbedürftiger: Obwohl (fast) alle Algen wie die Gräser und Kräuter des Festlandes die Fähigkeit zur Fotosynthese besitzen, gelten sie in der modernen Biosystematik nicht als Pflanzen. Dahinter stehen viele neue molekulare, ultrastrukturelle und zellbiologische Erkenntnisse zur Theorie der Organismen.

Einleitung     XV

Obwohl die meisten Menschen aus der Alltagserfahrung nur Pflanzen (aus dem Pflanzenreich) und Tiere (aus dem Tierreich) unterscheiden, verwenden die Biologen heute mindestens fünf Organismenreiche: Neben den Pflanzen und Tieren weisen sie auch die seltsamen Pilze konsistent einem eigenen Reich zu. So ist auch der Geweihförmige Schleimpilz (Ceratiomyxa fruticlosa) (s. Abb.) weder Pflanze, Tier noch Pilz, sondern vertritt mit seiner artenreichen Verwandtschaft ein eigenes Organismenreich ebenso wie die in der Abbildung gezeigten Spaltblättlinge (Schizophyllum commune). Außerdem trennen sie davon alle einzelligen sowie die damit in engem Entwicklungszusammenhang stehenden einfachen Mehrzeller ab. Die vier Organismenreiche Pflanzen, Tiere, Pilze sowie Protisten bilden zusammen nach einem Vorschlag des verdienstvollen Carl R. Woese die Domäne Eukarya – es sind dies alle mit Zellkern ausgestatteten Lebewesen. Vor allem die mit modernsten Methoden betriebene Zellforschung hat unser Bild von den Bauplänen und Besonderheiten der verschiedenen Vertreter der Protisten unterdessen gewaltig erweitert. Dieses früher eher als unsortierbares Sammelsurium aller möglichen Formgruppen aufgefasste Organismenreich gliedert man aktuell in mehrere klar abtrennbare Unterreiche. Der Blick auf ein Schema mit den wichtigsten Verwandtschaftsgruppen innerhalb der Protisten zeigt, dass es einfache sowie fotosynthetisch aktive (fotoautotrophe) Formen tatsächlich in vier der fünf modernen Gruppierungen gibt. Diese Formenkreise bilden in ihrer Gesamtheit die Algen. Sie verkörpern demnach – wenn man alle relevanten Merkmale der Zellstruktur und des Stoffwechsels zusammennimmt – mindestens vier verschiedene und wohl unabhängig voneinander entstandene Entwicklungslinien mit erheblichen Unterschieden im Grundbauplan ihrer Zellen. Aus diesem Grund kann man auch keine einfache, alle Aspekte berücksichtigende Definition der Algen formulieren. Zu den Pflanzen im oben festgelegten Sinne gehören sie aber – auch wenn sich dagegen die Wahrnehmung vieler trainierter Naturkundler heftig wehrt – auf keinen Fall. Geniale Pflanzen? Zugegeben: Die bewundernswerten und oft fast unglaublich erscheinenden Fähigkeiten der fotosynthetisch aktiven grünen Pflanzen nötigen uns zweifellos eine gehörige Portion Respekt ab, denn viele kommen mit erstaunlich wenig aus, wie die verwilderten Horn-Veilchen zeigen.

XVI      Einleitung

Aber sind sie deswegen auch genial? Im Kontext mit pflanzlicher Existenz – und sei sie in ihren Details auch noch so abgedreht – ist Genialität sicher ein etwas sperriger, wenn nicht sogar unangemessener Begriff. Er bedarf folglich einer erläuternden Inspektion, um das gesamte Begriffsfeld inhaltlich zu bewerten und zu sortieren. Der vertraute Begriff „Genie“ und das davon abgeleitete Attribut „Genialität“ haben ihren Ursprung in der römischen Antike: Hier verstand man den genius als einen (sorry: nur den Männern) innewohnenden, aber (sic!) sterblichen Schutzgeist, der gleichsam deren jeweilige Persönlichkeit repräsentierte. In der Kunstszene bildete man die so verstandenen Genien später als geflügelte Gestalten ab – seit der Hochrenaissance und dem Barock komischerweise überwiegend als adipös-dickliche Säuglinge in Engelsgestalt, wie sie bereits Raffael (1483–1520) etwa als Staffage zu seiner berühmten Sixtinischen Madonna (zu sehen in Dresden) verewigt hat. Eine andere Begriffswurzel ist das lateinische Wort ingenium (angeborenes Talent). Etwa ab der Renaissance umschrieb man mit dem daraus abgeleiteten „Genie“ die besondere künstlerische Schaffenskraft bzw. die Fähigkeit zu außergewöhnlicher Inspiration. Beide ohnehin nicht besonders trennscharfen Begriffsfelder verblassten in späterer Zeit zunehmend, auch wenn sie die philosophischen Diskurse noch eine ganze Weile lang belebten.

Einleitung     XVII

Heute neigt man eher dazu, Menschen mit einem deutlich überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten (sagen wir oberhalb von 140 und somit geborene Mitglieder des Mensa-Clubs) als Genies zu bezeichnen – wobei der IQ alleine nur das Potenzial bezeichnet, aber eben gar nichts darüber aussagt, ob der so mit überragenden Geistesgaben Begabte auch tatsächlich außergewöhnliche Lebensleistungen erbringt oder erbracht hat. In der nachbewertenden Betrachtung von hervorhebenswerten Lebensleistungen sprechen Kulturwissenschaftler gerne von Universalgenies (wie etwa im Fall von Leonardo da Vinci, Johann Wolfgang von Goethe oder Alexander von Humboldt), während andere vor allem als Vertreter ihres Spezialgebiets Ungewöhnliches geleistet haben und somit als Fachgenies gelten können. Beispielhaft wären hier Leonhard Euler, Carl Friedrich Gauß, Max Planck, Werner Heisenberg, Albert Einstein sowie Adolf Portmann neben vielen anderen zu nennen, um einmal nur das mathematisch-naturwissenschaftliche Segment zu bemühen. Viel Ungewöhnliches in der Botanik Die oben benannten Persönlichkeiten konnten und wussten etwas, was die meisten ihrer Zeitgenossen eben auch konnten und wussten, aber sie waren mit ihren außerordentlichen Sonderbegabungen eben über die Durchschnittspopulation hinaus bemerkenswert weit herausgehoben – und stellten sozusagen einsame Fähigkeitsinseln mit ziemlich steilen Gipfeln in einem sonst nahezu uferlosen Mittelmeer der Mediokrität dar. Im soziokulturellen Kontext sind solche Bewertungen sicher unkritisch und allgemein akzeptiert. Wer etwas total Außergewöhnliches kann oder leistet, ist eben nach allgemeiner Überzeugung ein Genie. Aber was ist mit den angeblich genialen Pflanzen? Vor dem Hintergrund der oben skizzierten und aus dem praktischen Alltag übernommenen Überlegungen trägt dieses Buch zweifellos nicht unbedingt einen zutreffenden Titel, denn Genie und Genialität sind nach üblichem Verständnis nun einmal besondere und unzweifelhaft hervorhebenswerte Qualitäten unserer spezifischen conditio humana. Aber: Beim genaueren Blick in unsere belebte und so unglaublich vielfältige Mitwelt, beim intensiven Betrachten und Erforschen unserer Mitgeschöpfe, wie sie der Naturphilosoph Klaus Michael Meyer-Abich (1936–2018) seinerzeit gerne benannte, kommen wir aus dem Bestaunen und Bewundern einfach nicht heraus. Überall finden wir hier nämlich geradezu mengenweise und überwältigend Außerordentliches, Bemerkenswertes, Bereicherndes, Einzigartiges, Faszinierendes, Hinreißendes, Spezielles, Ungewöhnliches oder – kurz – Wunderbares. Die vielen kleinen

XVIII      Einleitung

und großen Naturwunder, die uns in jeglichem täglichen Umfeld umgeben, muss man natürlich als solche erst einmal wahrnehmen können – das setzt eine gewisse Sensibilisierung für das jeweilig Besondere voraus und ist insofern untrennbar eng mit dem naturkundlichen bzw. naturwissenschaftlichen Bildungsbegriff verbunden. Hier könnte (müsste) man zweifellos eine etwas umfangreichere und sicherlich auch zu Recht kritische Programmschleife zur Qualität der derzeitigen naturkundlichen Allgemeinbildung in Schulen und sicherlich auch Hochschulen mit ihren unterdessen vielfach unsäglichen Studienprogrammen in der Umsetzung des nach mehrheitlicher Überzeugung reichlich schrägen Bologna-Prozesses einrichten, aber die kritische Auseinandersetzung damit lassen wir an dieser Stelle aus mancherlei Gründen lieber weg; das wäre sicherlich ein überaus ergiebiges Thema für ein eigenes Buch mit scharfäugig-kritischer Betrachtung der neueren Bildungspolitik in unserem Lande – die oft reichlich hilflos agierende Kultusministerkonferenz (KMK) kann man in dieser Hinsicht wirklich nicht (mehr) allzu ernst nehmen. Naturverständnis auf neuen Wegen Es wäre indessen schon ein echter Gewinn, wenn man naturbegeisterte, aber vorerst noch relativ kenntnisarme Mitmenschen für ein vertieftes Naturverständnis gewinnen könnte. Motivierende Anlässe bietet unsere Umwelt geradezu mengenweise. Wenn blühende Pflanzen mit ungewöhnlichen und eventuell sogar geradezu perfiden Methoden ihre potenziellen tierischen Bestäuber anlocken und erfolgreich-eigennützig zum angestrebten Tun verführen, stehen wir als menschliche Betrachter mit heruntergeklappten Unterkiefern staunend daneben. Die ökologische Welt (auch der heimischen) Pflanzen ist zwar ein unglaubliches und zunächst vielleicht nicht leicht zu entwirrendes Sammelsurium verschiedenster und sicherlich spezieller Angepasstheiten, aber zweifellos eines, in dem jeder auf seine eigene Entdeckungsreise gehen kann und immer wieder erstaunliche Kenntnisgewinne mit nach Hause nehmen kann. Die erlebnisträchtigen Aktionsorte sind einfach zu umreißen: Es könnte der eigene (artenreich bestückte) Garten sein, aber ebenso ein Spaziergang durch die Feldflur mit ihren heftig blühenden Randsäumen oder ein Wegabschnitt durch ein angrenzendes Waldstück, in dem sich ganz andere pflanzliche Autökologien offenbaren. Auch das enorme Alter, das manche Pflanzen erreichen, ist ein klarer Fall für uneingeschränkte Bewunderung – wie die alte Rot-Buche in der Abbildung, die buchstäblich die Jahrhunderte überstanden hat.

Einleitung     XIX

Genial gut sind solche besonderen pflanzlichen Fähigkeiten allemal, allerdings auf einer gänzlich anderen Ebene als der oben skizzierten und eher im kulturellen Kontext diskutierten Leistungen. Genialität drückt sich im soziokulturellen Kontext immer und ausschließlich auf der Ebene der Profildaten ungewöhnlicher Einzelpersonen aus. Genialität im Pflanzenreich ist – ebenso wie bei den Tieren – dagegen ganz anders geartet, nämlich immer und grundsätzlich ein systemisches Merkmal: Was die eine Ackerdistel hinsichtlich ihrer erfolgreichen Fruchtproduktion kann, leistet die andere derselben Spezies mindestens genauso wirksam. Und die übrigen heimischen Korbblütlerarten stehen darin einer x-beliebigen Verwandten aus anderen Biogeografien erfahrungsgemäß in nichts nach. Um es demnach sogleich und vorsichtshalber einigermaßen korrekt einzuordnen: „Geniale Pflanzen“ sind also in unserem Sinne durchaus kein Individual-, sondern in jedem Fall vielmehr nur ein Systembegriff. Die von Anbeginn des Lebens auf der Erde waltende Evolution hat sämtliche unserer zahlreichen Mitgeschöpfe durch optimierende Eingriffe in absolut bewundernswerter Weise mit höchst unterschiedlichen, aber in ihrer Summe geradezu unglaublich gut funktionierenden Leistungsprofilen in ihren jeweiligen Lebensraum eingepasst. Wer mag, kann vor diesem Hintergrund als Erklärungsansatz auch gerne das viel und durchaus kritisch diskutierte „intelligente Design“ anführen, obwohl dessen Kernaussagen sich mit

XX      Einleitung

unserer Überzeugung nicht einmal in sehr distanten Randbereichen überlappen. Natur ist überall erlebniswert Sicherlich ist die für dieses Buch getroffene Themenauswahl in hohem Maße subjektiv, wenngleich sie versucht, einige besonders spektakuläre Beispiele zusammenzuführen. Die Natur bietet – schon allein im heimischen bzw. europäischen Maßstab und erst recht bei weltweiter (hier allerdings nicht weiter berücksichtigter) Perspektive – eine fast als beliebig zu beziffernde Anzahl von darstellenswerten Fallbeispielen, welche bei genauerer Betrachtung einfach nur baff erstaunen lassen und möglicherweise, aber sicherlich verständlich, zielgenau-direkt in die Schnappatmung führen. Die Fülle erwähnenswerter Sachverhalte ist eben gigantisch. Aus einem relativ schmalrückigen Band wie diesem, der aus der Faktenfülle nur eine gewisse vorsortierende Auswahl von besonderem bzw. vermutetem Unterhaltungswert vornimmt, ließe sich zugegebenermaßen ganz locker eine vielbändige Enzyklopädie generieren. Aber: Wenn man erst einmal gelernt bzw. trainiert hat zu sehen, was uns draußen an wunderbaren Erlebnisinhalten in größeren und kleineren Dimensionen begegnet, und sich nach genauerer Wahrnehmung daran auch hochgradig erfreut, wird man im jeweiligen Ambiente auch viele weitere erstaunliche Sachverhalte erkennen. Auch wenn man diese nicht sofort einsortieren oder erklären kann, genügt doch die Feststellung, dass unsere wunderbare Natur uns hier im konkreten Fall wieder einmal ein respektables Paradebeispiel mit geradezu genial anmutenden Angepasstheiten und Leistungen vor Augen führt. Einen ersten Eindruck vermittelt die Typologie der verschiedenen pflanzlichen Lebensformen (Abb. 1.1), die für sich betrachtet bereits erstaunlich genug ist. Schon allein aus diesem Grund bleibt es tatsächlich beim gewählten Buchtitel Geniale Pflanzen (analog unserem Springer-Titel Geniale  Tiere, Heidelberg 2019), auch wenn er bei begriffskritischen Geistern auf heftigen Widerstand stoßen mag. Und übrigens: Die hier nicht weiter berücksichtigten Mikroorganismen und Pilze sind in diesem Sinne mindestens genauso genial, denn auch sie zeigen uns bei intensiverem Hinsehen fast generell vielerlei und geradezu unglaublich erfolgreiche Lebensentwürfe. Man muss nur etwas genauer und vor allem „wissenden Auges“ (Goethe) hinschauen. Die kleinen (und auch die etwas größeren) Geheimnisse der Natur offenbaren sich uns immer erst im Detail (s. Eingangsmotto). Mit diesem kleinen Buch halten Sie sozusagen das Starterkit für eigene spannende Erkundungen in Händen.

Einleitung     XXI

Und noch etwas: Wir befassen uns hier nahezu ausschließlich mit heimischen und meist nicht einmal besonders seltenen Pflanzenarten, die man bei Streifzügen und Wanderungen draußen in vertrauten Biotopen zuverlässig erleben kann – sicherlich nicht überall, aber immer wieder, und das sogar im Siedlungsraum. An überraschenden Anschauungsobjekten mangelt es keineswegs. Nur gelegentlich ist ein Seitenblick auf Pflanzen auch aus anderen Regionen eingestreut, die irgendeine spannende Facette ihres Daseins inszenieren.

Inhaltsverzeichnis

1 Von Stämmen, Stängeln und Stielen 1 1.1 Stabil und stämmig 4 1.2 Was ein Baumstamm uns erzählen kann 9 1.3 Vom Winde verdreht 13 1.4 Wasser bis zu den höchsten Wipfeln 19 1.5 Wie Pflanzen ihre Runden drehen 23 1.6 Wendelranken – eine geradezu geniale Befestigung 27 1.7 Eindringliche Wehrhaftigkeit 31 1.8 Lebensprinzip Aufsässigkeit 34 1.9 Versteckter Hochadel 37 1.10 Ganz und gar geradstielig 41 1.11 Gesellschaft mit (fast) unbeschränkter Haftung 45 1.12 Allerhand bleiche Gestalten 53 1.13 Teuflisches Fadenwerk 61 1.14 Kleinholz aus dem Hochgebirge 62 1.15 Ritzensteher und Spaltensiedler 66 1.16 Nicht nur eine Frage der Ähre 69 1.17 Platt wie ein Blatt 72 1.18 Konkurrenzlose Klimmstängel 75 1.19 Die Haut der Gehölze 78 1.20 Druckluft für die Unterirdischen 83

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XXIV      Inhaltsverzeichnis

2 Was Pflanzen so hinblättern 85 2.1 Blatt und Blüte fest verpackt 88 2.2 Aufleben im Frühjahr 93 2.3 Nur eine stille Attacke 98 2.4 Abkehr von der Sommersonne 105 2.5 Manche tragen Sonnenbrillen 109 2.6 Finale Farborgie 111 2.7 Im Dunkeln lassen sich viele hängen 120 2.8 Und nachts werden sie auch noch sauer 123 2.9 Grüne Salzstangen 125 2.10 Planmäßige Versenkung 131 2.11 Auf glattes Parkett locken 133 2.12 Gläserne Giftspritzen 137 2.13 Alles hat seine zwei Seiten 141 2.14 Knallbunt und rätselhaft 146 2.15 Fibonacci und die Folgen 150 2.16 Auch eine Spitzenleistung 153 2.17 Hart im Nehmen 155 3 Blühen, Reifen, Fruchten 159 3.1 Frühlingserwachen noch im Winter 163 3.2 Was Blüten alles im Schilde führen 167 3.3 Ziemlich süße Verführung 180 3.4 Ganz dufte Typen 185 3.5 Gezielte Nachhilfe 191 3.6 Eine knisternde Ouvertüre 199 3.7 Logarithmen im Kopf 202 3.8 Mathe mit der Malve 205 3.9 Hefeheizung für die Hummeln 208 3.10 Zuerst männlich, später weiblich – oder umgekehrt 210 3.11 Und noch ein wenig Verhütungsbotanik 215 3.12 Wie man auf die schiefe Bahn gerät 218 3.13 Frühling schon im Herbst 220 3.14 Komplex konstruiert, aber einfach aussehen 222 3.15 Einsame Gipfelstürmer 226 3.16 Gigantisches Getreide 231 3.17 Reifezeugnis in nur wenigen Tagen 236 3.18 Der Flugtag der Früchte 239

Inhaltsverzeichnis     XXV

3.19 Glänzend, rund und schwergewichtig 243 3.20 Zum Saisonschluss: Farbiges für die Fauna 246 Abbildungsverzeichnis 253 Literatur 255 Stichwortverzeichnis 257

1 Von Stämmen, Stängeln und Stielen

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 B. P. Kremer, Geniale Pflanzen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-63152-2_1

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Die Höheren Pflanzen bestehen bei aller Verschiedenheit der jeweiligen artspezifischen Abwandlung und Ausformung grundsätzlich immer nur aus den drei Grundorganen Wurzel, Sprossachse und Blättern. Vom Grundorgan Wurzel sieht man gewöhnlich nicht allzu viel, weswegen wir es hier ungeachtet seiner enormen Bedeutung für das Pflanzenleben zunächst einmal übergehen können. Die an der Wurzel direkt ansitzende Sprossachse – je nach Ausgestaltung und Stabilität auch Halm, Schaft, Stamm, Stängel oder Stiel genannt – macht das gesamte Erscheinungsbild einer Höheren Pflanze aus. Einjährige Arten (Therophyten) entwickeln üblicherweise nur schwache und im Laufe der Vegetationsperiode meist rasch vergängliche Achsen, die man aber dennoch zutreffend als Stängel bezeichnet. Bei mehrjährigen Arten sind die Sprossachsen dagegen gewöhnlich viel kräftiger entwickelt, was aber nicht bedeutet, dass sie auch über die kalte Jahreszeit hinaus Bestand haben, denn bei sehr vielen Arten sterben sie am Ende der Vegetationsperiode planmäßig ab – sie ziehen regelmäßig ein, wie die Gärtner sagen. Bleibt die blütentragende Sprossachse unbeblättert, spricht man auch von einem Schaft – er ist ebenfalls meist nur kurzlebig. Dauerhafte und mehrjährig bestehende Sprossachsen entwickeln daher nur die Gehölze (Bäume und Sträucher) – Bäume mit einem meist klar definierten Einzelstamm und einer erst weiter oben reichästig verzweigten Krone, Sträucher dagegen eher vielstämmig und schon weit unten kurz über dem Boden reichlich verzweigt. Man bezeichnet sie daher gerne auch als Gehölze mit einer dichten Krone, die unmittelbar dem Erdboden aufsitzt. Einheitliche Bäume, vielfältige Sträucher Zumindest bei den heimischen Baumarten finden sich nicht allzu verschiedene Wuchsformen. Gewiss – eine Fichte oder Tanne weist mit ihrem klar dominierenden Stamm und den allseits abgehenden Ästen ein recht überschaubares Organisationsmuster auf. Bei den meisten Laubbäumen stellen sich die Verhältnisse durchaus komplexer dar, und man muss bei den Zweigen meist etwas genauer hinschauen, um die unterschiedlichen Verzweigungstypen zu erkennen. Bei den Sträuchern ist das im Prinzip genauso, aber gerade in dieser Lebensformgruppe findet sich eine beachtliche Vielfalt an gut erkennbaren Sonderformen – neben kletternden Lianen mit relativ dünnen Sprossachsen beispielsweise auch so bezeichnete Halbsträucher wie Lavendel (Lavandula angustifolia) oder Salbei (Salvia officinalis). Bei ihnen sind jeweils nur die basalen und damit ältesten Teile kräftiger verholzt, während die wachsenden und blühenden Teile krautig bleiben. Daneben gibt es auch in der

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heimischen Flora Rutensträucher, die kaum oder überhaupt kein Blattwerk mehr entwickeln. Beispiele sind der Besenginster (Cytisus scoparius) oder der Binsenginster (Spartium junceum). Spaliersträucher sind an ihren zumeist hochalpinen Wuchsplatz bestens angepasst und bilden dort auffallend dichtästige, aber immer unmittelbar dem Boden aufliegende Teppiche wie etwa die Kraut-Weide (Salix herbacea). Mitunter ist hierbei nicht einmal zwischen Minibäumen und Strauchsonderformen sicher zu unterscheiden. Kurz: Es lohnt sich gewiss, die interessanten Wuchsformen und ihre Abwandlungen auch der heimischen Gehölze einmal genauer zu inspizieren. Sie sind jeweils ein sichtbarer Ausdruck ihrer besonderen Überlebensstrategien. Die mechanische Stabilität, die manchen Baumarten eine Wuchshöhe von vielen Dutzend Metern erlaubt (die hochwüchsigste heimische Laubbaumart ist mit bis zu 70 m Wuchshöhe die Gewöhnliche Esche), ist die eine wichtige Aufgabe des Sprossachsensystems. Die andere und so nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbare Funktion ist der Transport gelöster Stoffe – einerseits des in den feinsten Wurzelspitzen aufgenommenen Wassers mit den darin gelösten und lebensnotwendigen Mineralstoffen (einschließlich Spurenelemente) und andererseits  der frisch hergestellten Fotosyntheseprodukte aus den Blättern in die jeweiligen Depots. Typische und zielgenau angesteuerte Depotorte sind u. a. die Früchte, sodann auch Speicherorte in den mehrjährigen Stämmen (hier vor allem in den immer horizontal verlaufenden Markstrahlen) sowie in unterirdischen Reserveorganen wie Knollen und Zwiebeln. Für diese Stoffbewegungen verfügen die Sprosspflanzen über zwei funktionell getrennte, aber im Gewebe immer eng assoziierte Leitgewebe: für die Wasserbewegung von unten nach oben bis in die obersten Blätter das Xylem, für die organischen Stoffe das Phloem. Xylem und Phloem nehmen in einer Sprossachse jeweils charakteristische Positionen ein. Das Xylem liegt immer im Inneren der Sprossachse, das Phloem jeweils außerhalb davon und somit direkt unterhalb der Rinde. Beide zusammen bilden jeweils Leitbündel oder geschlossene Leitgeweberinge. Mit dem vor allem bei den Gehölzen erfolgenden Dickenwachstum der Achsen müssen eben auch die stoffleitenden Längsbahnen jeweils jährlich erneuert werden. Bei relativ dünnrindigen Bäumen kann man an sehr warmen Sommertagen den Wassertransport nach oben sogar mit einem Stethoskop hören. Wenn man vor einer – sagen wir – rund 100-jährigen und dann schon recht dickstämmigen Rot-Buche stehen und neben ihrem aufrechten Wuchs ihren schönen, glatten Stamm bewundert, ahnt man zunächst nichts von dem komplexen stofflichen Geschehen nur wenige Millimeter tiefer im

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Rindenbereich. Das ist nur eines der vielen alltäglichen, weil überall erfolgreich funktionierenden Wunder, die einen Moment kontemplativen und staunenden Innehaltens verdienen.

1.1 Stabil und stämmig Die meisten Bäume und sogar viele Sträucher überdauern unsere eigene durchschnittliche Lebenserwartung erheblich. Bei den Bäumen finden sich – vor allem bei Eichen und Linden – überall im Land (ungefähr) 1000-jährige Exemplare. Eiben werden noch viel älter – im südlichen Allgäu wächst ein auf rund 2000 Jahre geschätztes Exemplar. Aber auch das lässt sich noch toppen: Sogar noch ein paar Jahrtausende älter sind die Grannen-Kiefern in den südwestlichen USA (vgl. Richarz und Kremer 2017). Insofern war es eine konsequente Überlegung, dass der dänische Botaniker Christen Raunkiær (1860–1938) den Gehölzen einen besonderen Lebensformentyp zugeordnet hat. Seine Einteilung hat er um 1905 entworfen und in französischer Sprache veröffentlicht. Darin nennt man die Bäume und Sträucher Phanerophyten (Luftpflanzen). Obwohl die geniale Einteilung nach Raunkiær später von anderen Autoren vielfach ergänzt und modifiziert wurde, ist sie nach wie vor für ökologisch orientierte Pflanzenbeschreibungen in Gebrauch und gültig. Abb. 1.1 fasst seine Überlegungen zusammen. Eine mehrere Hundert Jahre alte Rot-Buche (Fagus silvatica), wie sie Abb. 1.2 (am Beispiel eines prächtigen Exemplars aus dem Waldnaturschutzgebiet Kottenforst im Naturpark Rheinland) zeigt, ist ebenso wie viele andere imposante Bäume fast ein Naturwunder. Wie schafft es ein anfangs nur klein und krautig aufwachsender Sämling, eine solchermaßen stabile und die Zeiten buchstäblich überstehende Gestalt hervorzubringen? Vermutlich ist die abgebildete Buche in ihrer Jugend im Freistand und damit fernab heftiger Konkurrenz aufgewachsen, was ihren sehr regelmäßigen Kronenaufbau schon im unteren Verzweigungsbereich erklärt. Zudem zeigt sie einen eindrucksvollen Drehwuchs – im Stammbereich ist sie deutlich rechts gewunden, was bei Bäumen (und zumal dieser Spezies) eine durchaus ungewöhnliche und immer noch wenig verstandene Wachstumsreaktion darstellt. Die holzhistologischen Details dazu sind überaus komplex; wir lassen sie hier aus verständlichen Gründen einfach beiseite, weil sich ohne viele erläuternde Skizzen keine einfachen Erklärungsmuster für die Entstehung eines solchen – auch bei Forstfachleuten so bezeichneten – Reaktionsholzes anbieten, bewundern aber gleichwohl und uneingeschränkt

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Einjährig krautig

Sommerannuelle (Therophyten)

Mehrjährig krautig

Bodenpflanzen (Geophyten)

Knollenpflanzen

Zwiebelpflanzen

Rhizompflanzen

Oberflächenpflanzen (Hemikryptophyten)

Rosettenpflanzen Schaftpflanzen

Kriechpflanzen

Mehrjährig holzig

Halbsträucher

Zwergsträucher

Sträucher

Bäume

Abb. 1.1  Das Besondere des Gesamtentwurfs Blütenpflanze drückt sich u. a. in der Typologie der erstmals von Christen Raunkiær vor rund 120 Jahren unterschiedenen Lebensformen aus – und eine jede verfolgt besondere Anpassungsstrategien. In diesem Schema sind die jeweils überdauernden Pflanzenteile rot dargestellt. Die grünen Teile bestehen nur saisonal

die resultierende beeindruckende Gesamterscheinung. Oftmals verbessern die so gestalteten Bäume ihre jeweilige Standfestigkeit. Vergleichbare Beispiele gibt es natürlich in vielen hinreichend gealterten Waldgebieten mit naturnaher Bewirtschaftung und zweifellos auch von anderen waldbildenden

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Abb. 1.2  Wie aus dem Bilderbuch: Die mindestens 300-jährige Rot-Buche hat die Zeiten buchstäblich durchstanden

Baumarten. Daher die dringende Empfehlung: Beim nächsten Waldspaziergang auch einmal die Morphologie der älteren Waldbäume intensiv anschauen – sie überraschen fast immer mit bewundernswerten Gestalten. Beachtenswert sind aber – gerade im fortgeschrittenen Frühjahr – die Baumkeimlinge am Waldboden. Ihre ersten Blätter sehen bei vielen Arten völlig anders aus als beim schon herangewachsenen Baumindividuum (siehe Abb. 1.3, 1.4 und 1.5). Bäume bilden Kompromisse ab Die Wuchsform eines Baumes ist – wie Claus Mattheck in seiner 1992 erschienenen Arbeit eindrucksvoll und wunderbar dargestellt hat – immer eine und so nicht auf den ersten Blick erkennbare notwendige Kompromiss-

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Abb. 1.3  Kaum zu glauben, dass diese noch winzigen Keimlingen der Rot-Buche einmal zu imposanten Bäumen heranwachsen

Abb. 1.4  Am gealterten Bauholz schrumpfen die Frühholzanteile stärker und zeichnen ein besonders deutliches Jahrringrelief

Frühholz

Wachstumsrichtung

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Jahrring

Jahresgrenze

Spätholz

Jahresgrenze Trachee

ringporiges Holz

Markstrahl

zerstreutporiges Holz

Abb. 1.5 Die heimischen Laubhölzer zeigen (mindestens) zwei unterschiedliche Konstruktionstypen: Die ringporigen Hölzer legen im Frühjahr großkalibrige Tracheen an, deren Abmessungen im Lauf der Saison immer kleiner werden. Bei den zerstreutporigen Arten sind die jahreszeitlichen Unterschiede weniger gut zu erkennen

lösung: Der noch junge Baum strebt konsequent eine möglichst ausladende und große Krone an, mit deren üppigem Blattbesatz er viel Licht absorbieren und über den daraus resultierenden fotosynthetischen Stoffgewinn zusätzliches Wachstumspotenzial entwickeln kann. Auf der anderen Seite ist eine üppig entwickelte Krone jedoch in beachtlichem Maße schwergewichtig und erfordert nicht nur im Ast- und Zweigwerk eine optimal stützende Ausgestaltung. Das ist aber nur die eine Seite, denn eine große Krone muss auch laufend mit den mineralischen Versorgungsgütern aus dem Boden (Spurenstoffen, Wasser) supplementiert werden, damit der Stoffwechselbetrieb geordnet ablaufen kann. Das ist einerseits eine logistische Herausforderung, aber andererseits auch eine mechanische: Eine hochragende Rot-Buche oder ein vergleichbar hochwüchsiger Waldbaum einer anderen Spezies benötigen konsequenterweise ganz einfach eine zuverlässig stabile Verankerung im Waldboden, denn die Baumkrone ist gegebenenfalls einer enormen seitlichen Winddruckbelastung ausgesetzt. Flachwurzler wie die überall angepflanzte Gewöhnliche Fichte haben es in dieser Hinsicht wirklich nicht einfach – schon ein etwas kräftiger Sturm legt sie, zumal bei niederschlagsbedingt aufgeweichtem Boden, gleich reihenweise um; sie bilden dann mit ihrem bloß liegenden Wurzelwerk sogenannte Windwurfteller, die nach Wasserfüllung des Wuchsplatzes interessante Kleinökosysteme bilden. Viele andere Waldbäume – zumal die Herz- oder erst recht

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die gut verankerten Tiefwurzler – sind in dieser Hinsicht wesentlich standfester. Hier kommt es nur bei extremer Belastung durch heftigst seitlich angreifende Orkanböen gelegentlich zu fatalen „Stielbrüchen“ – die Wurzelmasse hält dann, aber der Stamm gibt unfreiwillig nach und wird mit der Krone abgeschert. Beachtenswert ist aber immer, wie selbst hochgewachsene Bäume den Massenschwerpunkt ihrer Kronenkonstruktion genau über denjenigen ihrer Wurzelsubstanz im Boden bringen und somit ein optimal ausgewogenes Gefüge für die Kräfteableitung schaffen. Gegebenenfalls finden durch gezielte Wachstumsbewegungen ausgleichende Korrekturen statt – eindrucksvoll zu sehen bei Baumindividuen an Steilhängen, wo der Boden durch fortgesetzte Solifluktion langsam hangabwärts gleitet und einen Baum in eine bedrohliche Schieflage bringen kann. Kompensatorisches Wachstum richtet ihn weitgehend wieder auf, woraus der charakteristische Säbelwuchs der Stämme resultiert. Eine biomechanische Gratwanderung Ein großer Waldbaum oder auch ein eindrucksvoll gealterter Solitär in der traditionellen Kulturlandschaft sind immer eindrucksvolle Pflanzengestalten. Sie erreichen zwar nicht die geradezu gigantischen Abmessungen der beiden Mammutbaumarten im pazifischen Nordamerika oder mancher Eukalyptusarten in Australien, die man zur Not nur diagonal über ein FIFA-konformes Fußballfeld legen könnte, aber eindrucksvoll sind sie allemal. Und was man auf den ersten Blick überhaupt nicht abschätzen kann: Die viel(hundert) jährig gewachsene und schließlich überaus imposante Baumgestalt ist nicht nur ein bewundernswerter Kompromiss zur Bewältigung der jeweiligen von Wind und Wetter ausgehenden mechanischen Beanspruchungen, sondern auch rein materialökonomisch überaus ausgeklügelt – in allen mechanischen Teilen nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Alte Bäume sind eben wahre Naturwunder.

1.2 Was ein Baumstamm uns erzählen kann Holz besteht chemisch aus Holzsubstanz, von Fachleuten Lignin genannt. Obwohl Lignin auch bei krautigen Pflanzen vorkommt und dort die Wasserleitungen in den Stängeln wirksam aussteift, ist die Holzproduktion eine Spezialität der Sträucher und vor allem der Bäume, die man deshalb zutreffend als Gehölze bezeichnet. Holz ist ein geradezu wunderbarer und

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sogar völlig unentbehrlicher Naturstoff – relativ leicht, bemerkenswert biegefest und bei geeigneter Pflege sogar erstaunlich dauerhaft. Keine andere Natursubstanz weist diese enorm praktische Merkmalskombination auf. In der Archäologie ist es üblich, die verschiedenen Kulturstufen nach den jeweils verwendeten Hartmaterialien zu benennen – eben Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit –, aber die bis heute fortdauernde Holzzeit hat man als solche tatsächlich nie definiert. Und noch etwas: Die Chemie der Holzsubstanz ist zur betonten Freude der Naturstoffchemiker außerordentlich komplex: Ihre ringförmigen molekularen Bausteine (diverse Phenylpropanabkömmlinge) sind dreidimensional so eng miteinander in alle Richtungen vernetzt, dass man selbst einen mächtigen Baumstamm als gigantisches Makromolekül auffassen könnte. Im Rhythmus der Jahreszeiten In unserem mitteleuropäischen Jahreszeitenklima wachsen Gehölze nur im Sommerhalbjahr, und diese Rhythmik bildet sich konsequent im Holzwachstum ab. Zu Beginn der Wachstumsperiode im Frühjahr legt ein Baum im Xylem nur ziemlich dünnwandige Zellen von großem Durchmesser für die rasche Wasserleitung an – sie ergeben zusammen das helle Frühholz. Gegen Spätsommer lässt das Holzwachstum erkennbar nach. Jetzt entwickelt ein Stamm bei nachlassendem Wasserbedarf eher enge und dickwandige Röhren. Sie ergeben zusammen das dunkle Spätholz. Helles Früh- und dunkleres Spätholz bilden nun zusammen einen scharf abgegrenzten Jahrring. Wenn man also am liegenden gefällten Stamm das Alter des Baumes zum Zeitpunkt des Fällens ermitteln möchte, muss man je einen hellen und einen dunklen Streifen pro Jahr berücksichtigen. Durch Abzählen der jeweiligen Jahresgrenzen lässt sich jedoch nicht nur das Alter eines Baumes ermitteln. Vor allem die unterschiedlichen Breiten der Jahrringe lassen weitere interessante Aussagen zu, etwa über die Wachstumsbedingungen früherer Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Niederschlagsreiche und zudem warme Jahre ergeben breitere Jahrringe als trockene und heiße. Die erstaunliche Konsequenz: Keine zwei Ringe im Stamm sind daher ganz genau gleich breit. Die Ringfolgen im Baumstamm halten somit wie ein Strichcode die gesamte Biografie eines Baumes fest. Das bietet interessante und durchaus überraschende Aussagemöglichkeiten. Übrigens: Der Fachbegriff „Jahrringe“ ist nicht besonders sprachfreundlich, denn eher ist man versucht, aus Gründen der sprachlichen Glättung von „Jahresringen“ zu sprechen. Der eingeführte Fachterminus lautet aber unverrückbar „Jahrringe“.

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Ein Klimakalender im Baumstamm Mit den Abmessungen der Jahrringe kann man nämlich die gesamte jüngere Klimageschichte rekonstruieren. Und das funktioniert so: Man vermisst die Jahrringe im dicken Eichenbalken eines uralten westfälischen Bauernhauses, von dem durch Balkeninschrift das Fälldatum des betreffenden Baumes bekannt ist – sagen wir 1673. Vielleicht weist der Balken noch den jüngsten Zuwachsring unter der Rinde auf, was an Rindenspuren zu erkennen ist. Das wäre ein besonderer Glücksfall, denn nun kann sich der Dendrochronologe – so nennt man die Jahrringspezialisten – gleichsam rückwärts durch den ganzen Balken arbeiten und die Jahrringbreiten beispielsweise für die vorangegangenen 250 Jahre Lebensalter der verbauten Eiche ermitteln. Mit diesen Daten hat dann ein Klimahistoriker klare Hinweise auf das Klima für die Jahre 1423 bis 1673, aus denen sonst keine oder nur indirekt brauchbare Aufzeichnungen vorliegen. Hat man irgendein weiteres datierbares Bauholz, beispielsweise den Eichenkiel einer 1445 erbauten Hansekogge, kann man die Ringbreiten schon wieder um etliche Dutzend Jahre weiter zurückverfolgen. Auf diese Weise ist es inzwischen gelungen, für die Eichen eine komplette Ringchronologie immerhin für die letzten 7000 Jahre zu erarbeiten. Diese genau vermessene Eiche existiert natürlich so nur im Computer – sie hätte einen Stammdurchmesser von rund 30 m (Abb. 1.6).

1285

1445

1665

besonders auffällige Ringfolgen

2020 1672

1423

Abb. 1.6  Die Arbeitsweise der Dendrochronologie: Durch rückwärtige Überlappung der Jahrringmaße per Computerhilfe erhält man kontinuierliche Chronologien, die am Beispiel der Eichen unterdessen viele Jahrzehntausende umfassen

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Wertvolle Datierungshilfe Der Dendrochronologe als „Herr der Ringe“ kann nun mit seiner kompletten Sammlung von Ringbreitenmaßen noch weitere und geradezu kriminalistisch anmutende Aussagen beisteuern. Wenn ihm ein Archäologe beispielsweise die bei einer Ausgrabung geborgenen Reste eines hölzernen keltischen Wagenrades bringt, lässt sich durch Ringbreitenvergleich ziemlich genau das (Mindest-)Alter ermitteln. Ähnlich gelang beispielsweise die jahrgenaue Datierung bronzezeitlicher Wegbohlen in norddeutschen Mooren oder von Brückenbauten, welche die Römer an Rhein und Mosel errichtet hatten. Im Flussgrund stecken hier und da nämlich immer noch die eichenen Fundamente für die Brückenpfeiler. Ähnlich hat man auch vorgeschichtliche Brunnenschächte datieren können oder anhand vergessener Schalhölzer einzelne Bauabschnitte mittelalterlicher Kathedralen (beispielsweise des Trierer Doms) genauer eingegrenzt. Die Bandbreite der praktischen Anwendung ist beeindruckend. Umgekehrte Kalibrierung Für die Archäologen war lange Zeit die vom amerikanischen Chemiker Wilford F. Libby (1908–1980, Nobelpreis 1960) entwickelte Altersbestimmung nach seiner Radiokarbonmethode (14C-Bestimmung) eine verlässliche Datierungshilfe für organische Stoffe. Sie basiert auf dem Restgehalt an Radiokohlenstoff (14C) in organischen Materialien und dessen bekannten Halbwertszeiten (ca. 5500 Jahre), denn nur lebende Organismen bauen dieses in unserer Luft immer vorhandene (und harmlose) radioaktive Kohlenstoffisotop über ihre laufende stoffwechselbedingte CO2-Aufnahme (oder über die Aufnahme pflanzlicher Nahrung) bleibend in die eigenen Körpersubstanzen ein. Das radioaktive Kohlenstoffisotop 14C entsteht in den höheren Schichten der oberen Atmosphäre unter dem Einfluss der Sonnenstrahlung laufend neu. Die in der Archäometrie neben anderen faszinierenden Methoden (z. B. Thermolumineszenz) immer noch vielfach eingesetzte Radiokarbondatierung geht von einer über lange Zeiträume gleichbleibenden atmosphärischen Nachlieferung von 14C aus, aber dies ist nach neueren Erkenntnissen durchaus nicht der Fall. Mit dem Radiokarbonrestgehalt an 14C in den Jahrringen der älteren bis sehr alten mittel- und westeuropäischen Eichenhölzer kann man daher die Historie der atmosphärischen 14C-Nachlieferung in länger zurückliegenden Zeiträumen erstaunlich genau nachverfolgen und zuverlässig korrigieren.

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1.3 Vom Winde verdreht Das Erscheinungsbild einer Pflanze geht immer auf zwei Ursachenkomplexe zurück: Der eine ist ihr genetisches Erbe (Genotyp), dessen Ausstattung während des gesamten Entwicklungsganges in relativ strikter Festlegung diktiert, wie das wiederum reproduktionsfähige Ergebnis auszusehen hat. Alle Arten tragen in den Chromosomen ihrer Zellkerne ihr spezifisches Budget, das sie bei planmäßiger Entwicklung zu unverwechselbaren und eben mit den arttypischen Merkmalen ausgestatteten Individuen werden lässt. Nur deswegen kann man eine Hänge-Birke oder Stiel-Eiche immer zweifelsfrei als eine solche identifizieren. Im Tierreich und bei den Pilzen sieht das ganz analog aus. Der andere und gewiss nicht zu vernachlässigende Wirkkomplex ist die Umwelt mit ihren diversen Einflussgrößen, die letztlich am Erscheinungsbild einer Pflanze (Phänotyp) ebenso wirksam beteiligt sind. Gewöhnlich fasst man sie unter dem Sammelbegriff „standörtliche Faktoren“ zusammen. Ihre Summenwirkung hat – neben der von den Genen vorgegebenen Reaktionsnorm – zur Folge, dass beispielsweise keine zwei Hainbuchen oder selbst eng benachbarte Spitz-Ahorne im ansonsten am betreffenden Waldstandort ökologisch weitgehend einheitlichen Laubwald völlig identisch sind. Die Pflanzen sind zwar im Artrahmen genetisch gleich ausgestattet, aber im jeweils fertigen Entwicklungsergebnis durchaus unterscheidbar, weil sie während ihrer Entwicklung modifikatorischen Effekten ausgesetzt waren. Diese von Minimalfaktoren ausgehenden Einflüsse diverser Steuerungsgrößen, die wir hier nicht im Detail analysieren werden, erfreut uns mit einer auch innerhalb der Artgrenzen beachtlichen und zweifellos erfreulichen Vielfalt. Hochgradig wirksam: Einflussgröße Wind Durchfährt man in der Niederungslandschaft eine Allee angepflanzter Bäume (vorzugsweise vielleicht auf Abschnitten der erlebniswerten Deutschen Alleenstraße), ist meist nicht zu übersehen, dass die einzelnen Mitglieder ganzer Baumzeilen in der Richtung der vorherrschenden Winde zumindest leicht geneigt sind. Der eventuell ziemlich häufige und vor allem einigermaßen konstante seitliche Winddruck bringt die (meist noch jungen) Bäume erkennbar in eine leichte Schieflage in Richtung Lee. Gewöhnlich reagieren Bäume auf solche – in diesem Fall ziemlich einseitigen – Effekte mit kompensatorischem und die Stämme schließlich wieder in die Senkrechte bringendem Wachstum, aber: Die auslösenden Winde wehen

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häufig, und das korrigierende Stammwachstum kann nur in längeren Zeiträumen und eben nicht total kurzfristig reagieren. Die Stämme bleiben also in gewissem Maße immer schief. Die klassische Pflanzenmorphologie hat dafür den (heute allerdings kaum noch gebrauchten) Fachausdruck „aiolostatisch“ geprägt (Abb. 1.7). Windoffene Landschaftsteile kann man heute an der Verbreitung der überall zahlreich aufsprießenden und für die Landschaftsästhetik nicht unbedingt förderlichen, aber politisch stark forcierten Windkraftanlagen (WKA) kartieren. Dazu gehören vor allem weite Teile der Mittelgebirgshöhen und erst recht die nördlich anschließenden Niederungsregionen bis zu den Küstengebieten. Je näher man sich dem Küstenraum nähert, desto dichter sieht man sich den dichten Populationen der WKA gegenüber. Dem Wind ganz und gar abgeneigt Vor allem an den direkt windoffenen Küsten ist der Windfaktor auch für die hier siedelnden Gehölze ein enorm wirksamer Ökofaktor. Man kann es oftmals sogar an ihrem Erscheinungsbild direkt ablesen. Die Kronen der küstennah wachsenden Bäume sind – sofern überhaupt im direkten Küstenraum hochwüchsige Gehölze vorkommen – oft recht auffällig in das Lee der Hauptwindrichtung verformt. Die Kronengestalten sind eigenartig asymmetrisch und in die Richtung der vorherrschenden Starkwinde geradezu fahnenartig ins Lee ausgezogen. Besonders eindrucksvoll beobachtet man

Abb. 1.7  An windoffenen Wuchsplätzen führt  die permanente Belastung die Kronen zu abenteuerlichen Gestalten 

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diese Erscheinung bei den küstennah vorkommenden Wald-Kiefern, beispielsweise überall im Ostseeraum, wo im Unterschied zu großen Teilen der Nordsee hochwüchsige Baumgehölze auch strandnah vorkommen. Die den konstanten Starkwinden ausgesetzten Baumkronen reagieren notgedrungen konsequent: Im Luv (auf der dem Wind zugewandten Seite) lässt die heftige Luftbewegung die hoffnungsfrohen Knospen und Blätter rasch vertrocknen. Folglich kann von diesen Kronenteilen kein weiteres Längenwachstum ausgehen – die Baumkrone verarmt hier einseitig und zusehends. Damit verbunden ist meist auch eine Schiefstellung der Stämme und in deren Holzkörper eine entsprechend exzentrische Ausbildung der jährlichen Zuwachsringe (Jahrringe). Der ständige Wind verformt die Bäume, weil er sie zu verstärkt einseitigem Wuchs provoziert. Im Erscheinungsbild sieht es so aus, als würden die Bäume dem Wind ausweichen wollen, weshalb man sie in der Fachsprache auch als Windflüchter bezeichnet. An der Nordseeküste nennt man sie – mindestens ebenso treffend – Windlooper bzw. Windläufer (Abb. 1.7). Im Lee (auf der vom Wind abgewandten Seite) stellt sich die Sache – gerade auch im kleinökologischen Kontext betrachtet – gänzlich anders dar. Der verbliebene und stark ins Lee ausgezogene Kronenraum bietet einen gewissen Windschutz, und deswegen können sich hier die Zweige weitgehend normal entwickeln und ihr übliches Längenwachstum fortsetzen. Das Ergebnis sind eben die allenthalben zu beobachtenden Windflüchter mit ihren stark asymmetrisch verformten Kronen, an denen man zuverlässig die Hauptwindrichtung der letzten Jahre ablesen kann. Der Wind ist ein schnippelnder Gärtner An der Küste, aber stellenweise auch im Gebirge, lässt sich ein vergleichbarer, aber im Erscheinungsbild der betroffenen Gehölze etwas abweichender Effekt beobachten: Die Strauchvegetation, die üblicherweise einen parallel zum Steilabfall der Küste verlaufenden Wanderweg begleitet, setzt im Aspekt das Vertikalprofil des betreffenden Küstenprofils linear fort. Das ungewöhnlich dicht geschlossene Kronendach der hier siedelnden Gehölze – oft handelt es sich um die hier zahlreich vorhandene Schlehe (Prunus spinosa) – ist von Luv nach Lee mit klaren Konturen abgeschrägt und fast so, als habe ein Gärtner mit seinem (lautstarken) Gerät einen besonderen modellierenden Kastenheckenschnitt hingelegt. Dieses Phänomen bezeichnet man als Windschur (Abb. 1.8) – die Gehölzkronen sehen (ähnlich einer heftig getrimmten Kastenhecke) aus wie geschoren und sind auch entsprechend kompakt verzweigt. Daher bilden sie an ent-

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Abb. 1.8  Wie mit der Heckenschere getrimmt: Geradezu klassische Windschur der Strauchgehölze an einem Küstenwanderweg

sprechenden Küstenabschnitten nahezu undurchdringliche Gehölze. In dieser speziellen Formgebung böten sie eigentlich ideale Brutgehölze für Kleinvögel, aber diese bevorzugen erfahrungsgemäß doch klar die deutlich windberuhigteren Wuchsplätze tiefer im Binnenland. Paradies ohne Apfelbaum? Im Jahre 1965 veröffentlichte der heute wenig bekannte Autor Friedrich Wilhelm Lehmann unter dem Titel Paradies ohne Apfelbaum eine zu Unrecht vergessene „Liebeserklärung an Helgoland“. Zur Entstehungszeit dieses nach wie vor lesenswerten Büchleins (im Internetantiquariat immer noch erhältlich) war es um die Apfelbäume auf der Felseninsel wohl mager bestellt. Jedenfalls sind dem Autor offenbar keine erwähnenswerten Exemplare aufgefallen, was ihn zu der trefflichen Titelwahl seines Buches veranlasst haben mag. Heute gibt es hier jedoch (heute) definitiv nicht wenige Vertreter des Kultur-Apfelbaums (Malus domestica). Nur sehen diese völlig anders aus, als man sie aus den Obstgärten auf dem Festland kennt. Sie wachsen hier fast ausschließlich als kniehohe und höchstens knapp 2 m hohe, aber ziemlich breite Sträucher. In dieser für die Art eher ungewöhnlichen Abmessung und Wuchsform sind sie als Vertreter von Malus domestica kaum zu erkennen

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und werden so auch nicht weiter wahrgenommen, wie eine kleine Stichprobenbefragung von Helgoland-Besuchern ergab. An ihren Standorten zeigen sie zudem alle Kennzeichen einer kräftigen, häufigen und offensichtlich recht wirksamen Windschur. Die obersten Zweigenden sind durch die starke Windbelastung fast immer vertrocknet und abgestorben, sodass sich die Apfelsträucher jeweils aus tiefer oder weiter im Kroneninneren liegenden Seitenknospen erneuern. Das führt zu erstaunlich dichten, extrem flachkronigen Strauchgestalten, die auf den ersten Blick keinerlei Anklänge an das Aussehen eines typischen Apfelbaums oder selbst einer in Plantagen verwendeten Niederstammsorte aufweisen. Insofern stellen sie aus botanischgärtnerischer Sicht eine echte Rarität und ein Helgoland-Spezifikum dar. Im Wuchsbild ähnliche wildwachsende Birn„sträucher“ (Pyrus communis ) gibt es auf Helgoland auch, aber nur sehr wenige. Bemerkenswert und sicherlich verräterisch sind die aktuellen Wuchsplätze der Helgoländer Apfelsträucher. Sie flankieren im Nordostgelände und am Falm überwiegend die stark begangenen Hauptspazierwege. Da sie hier gewiss nicht gezielt angepflanzt wurden, liegt somit folgender Verdacht nahe: Es handelt sich dabei wohl um Exemplare, die aus den Apfelkernen weggeworfener Kerngehäuse aufgekeimt sind. Dafür spricht auch die Beobachtung, dass die Apfelsträucher ein breites, aber vorerst noch nicht näher bestimmbares Sortenspektrum umfassen. Neben Exemplaren mit grasgrünen oder gelblichen finden sich auch solche mit besonders appetitlich aussehenden rotbackigen Äpfeln. Markante Wetterbäume Der kleine Helgoland-Exkurs führt – was die beteiligten Gehölzgestalten anbelangt – linear zu den so bezeichneten Wetterbäumen in der Hochgebirgslandschaft (Abb. 1.9). Der Bergwald ist überall dort besonders eindrucksvoll, wo er die Grenzen des ökologisch Bewältigbaren erreicht. Wild und verwegen aussehende Fichten, völlig zerzauste Zirben und geduckte Krüppellärchen beherrschen überall in den Hochgebirgen die Szene zwischen der höhenstufenabhängigen Wald- und der Baumgrenze, die gewöhnlich aus mancherlei Gründen nicht zusammenfallen. Nicht immer ist es einfach zu entscheiden, ob die mitunter abenteuerlich verformten Gehölzgestalten die verbliebenen Zeugen einer ursprünglich höher  reichenden, jetzt jedoch nutzungsbedingt gedrückten Waldbestockung sind oder tatsächlich ökologische Kampfposten in einer Höhe beziehen, in der ein geschlossenes Waldband nicht mehr möglich ist. Im bewegten Blockschutt müssen sich die hier siedelnden Arten mit mancherlei Knie- und Säbelformen um die steinernen Hindernisse herumwinden. Auch Schneedruck oder -schub zwingt die einzelnen Arten

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Abb. 1.9  Den Wetterbäumen im Hochgebirge sieht man immer die Auseinandersetzungen mit dem Standortklima an

dazu, gegen den normalen Trend fallweise auch einmal hangabwärts zu kriechen. Mitunter biegt auch langsames Bodenfließen die Stämmchen entsprechend zurecht. Kurz: An der klimatisch erzwungenen Verbreitungsgrenze der alpinen Gehölze sind mancherlei skurril erscheinende Gestalten zu bewundern (siehe Abb. 1.10). Überaus bemerkenswert ist jedoch vor allem bei der Arve oder Zirbe (Pinus cembra) die zunehmende Frostresistenz im Laufe der Herbstwochen. Bereits Anfang November erträgt die Arve Temperaturen bis −30 °C; im Sommer würde sie schon bei −5 °C zugrunde gehen. Im Januar können ihr auch −40 °C nichts anhaben. Sie erreicht diese beachtliche Resistenz durch eine starke Erhöhung des Zuckergehalts im Zellsaft und Verlagerung von Wasser in die Zellzwischenräume, wodurch sich die Gefahr zerstörerischer Eiskristalle deutlich vermindert. Auf der anderen Seite muss sie die Wasserabgabe über die Nadeln enorm einschränken. Das gelingt durch die tief eingesenkten Spaltöffnungen, deren äußere Zugänge auch noch mit Harzpfropfen versiegelt werden. Dennoch funktioniert diese Vorsorge nicht immer und überall: Einzelne Zweige sterben in besonders harten Wintern ab und hinterlassen einen unregelmäßigen Kronenaufbau – eben das auch aus Dichtung und Malerei

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Abb. 1.10  Stiel-Eiche im Freistand – hier ist eine Menge Wasser auf dem Weg nach oben unterwegs

überlieferte Bild eines kampferprobten Wetterbaumes. Gleiches gilt auch für die Weiß-Tanne (Abies alba) am Grenzstandort, wobei die geradezu sprichwörtliche Wettertanne auch schon einmal eine Wald-Kiefer bzw. Föhre (Pinus sylvestris) sein kann.

1.4 Wasser bis zu den höchsten Wipfeln Bäume wachsen erfahrungsgemäß zwar nicht in den Himmel, dehnen die erlebbare Biosphäre aber dennoch beträchtlich in die dritte Dimension aus. Die Gewöhnliche Esche (Fraxinus excelsior) erreicht Wuchshöhen bis 45 m und stellt damit die höchsten Laubbäume Europas. Die heimische Weiß-Tanne (Abies alba) wird in seltenen Fällen gar über 70 m hoch, und auch die Gewöhnliche Fichte (Picea abies) steht ihr an günstigen Standorten mit ihren über 60 m Höhe nur wenig nach. Beide Nadelbaumarten sind die hochwüchsigsten heimischen Gehölze und damit die absoluten Spitzenreiter – uneingeschränkt bewundernswert, auch wenn sie den Rekordhaltern mit ihren Abmessungen ein wenig nachstehen (vgl. Richarz und Kremer 2017). Aber selbst bei diesen beachtlichen Wuchshöhen werden sogar ihre obersten

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Blattorgane zuverlässig mit Wasser versorgt. Diese geniale und gleichzeitig beeindruckend einfache Leistung bedarf zweifellos einer näheren Inspektion. Unpraktisch konstruiert? Regenwetter – es schüttet zeitweilig wie aus Eimern. Jetzt wird auch das vielteilige Blattwerk der Park- und Gartenbäume reichlich nass, aber: Erstaunlicherweise können diese damit zunächst überhaupt nichts anfangen. Es ist ihnen – von ganz wenigen und eher tropisch verbreiteten Arten – partout nicht möglich, die ergiebigen himmlischen Güsse direkt mit ihren Blättern aufnehmen, denn das normalerweise immer saftige Blattwerk, das an einem großen Laubbaum eventuell 30 m oder noch mehr Meter hoch an den Zweigen im Kronenraum sitzt, erhält sein unentbehrliches Betriebswasser für die Fotosynthese ausschließlich aus dem Boden. Die fein verzweigten Feinwurzelenden nehmen dieses Betriebsmittel – dabei meist wirksam unterstützt durch eine interessante und folgenreiche Kooperation mit Pilzhyphen (Mykorrhiza) – grundsätzlich nur aus den Porenräumen zwischen den feinen Bodenteilchen auf, leiten es dann durch die kräftigen Stützwurzeln in den Stamm und von dort hoch in die Äste und Zweige. Was aber treibt das Wasser so erfolgreich in die Höhe? Anfangs dachte man an eine Art Pumpleistung der Wurzeln. Einen gewissen Wurzeldruck gibt es tatsächlich, aber er reicht nicht einmal aus, auch nur die untersten Blätter einer Baumkrone zu versorgen. Die Sache funktioniert nämlich ganz anders. Nachschub durch Verdunstung Ähnlich der zum Trocknen auf der Leine flatternden Wäsche verlieren alle oberirdischen Teile einer Landpflanze und erst recht ihre dünnen Laubblätter selbst bei mäßiger Windbelastung ständig Wasser an die Atmosphäre. Der physikalische Grund dafür liegt in den enormen Dampfdruckunterschieden zwischen dem Blattinneren (den Blattzellen bzw. ihren Zellzwischenräumen) und der frischen, meist immer etwas bewegten Außenluft, die überaus wirksam ständig Gradienten abbaut. Bei den trocknenden Wäschestücken nennt man die gänzlich unkontrollierte Wasserdampfabgabe an die Atmosphäre Verdunstung oder Evaporation. Bei den Blattorganen spricht man dagegen von Transpiration. Alle Landpflanzen müssen das geradezu unvermeidbar über ihre Blätter (und Stängel) verlorene Wasser jeweils aus ihrem Wurzelmilieu ersetzen – und das ist zweifellos eine ihrer wichtigsten Lebensleistungen. Dabei leisten sie Erstaunliches. Immerhin müssen Bäume das Wasser entgegen der Schwerkraft in größere Höhen ver-

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frachten – bei manchen Arten wie bei australischen Eukalyptusarten oder beim kalifornischen Riesen-Mammutbaum bis in über 100 m Höhe. Die Wuchshöhen der oben erwähnten heimischen Laub- und Nadelbaumarten sehen sich absolut vergleichbaren Herausforderungen gegenüber. Ehe das Wasser bei den Blättern im obersten Wipfelbereich ankommt, hat es also eventuell einen ziemlich weiten Weg hinter sich. Die unfreiwillige, aber notwendige Wasserabgabe vollzieht sich übrigens nicht über die gesamte Blattfläche, sondern vorwiegend über die zahlreich (meist) in der Blattunterseite eingebauten Spaltöffnungen (Stomata) (Abschn. 2.13). Das sind absolut genial eingerichtete und spezialisierte Epidermiszellen – je zwei Schließzellen bilden eine Spaltöffnung, und die können ihren Öffnungsgrad sogar regulieren. Spaltöffnungen sind mit ihren unterschiedlichen Typologien ein besonders faszinierendes Thema der Blattanatomie, über das schon dickleibige Spezialmonografien geschrieben wurden. Einer der zunächst verblüffenden Effekte besteht darin, dass sie zwar den Wasserdampf an die Atmosphäre abgeben, aber im Gegenzug gleichzeitig das Betriebsmittel Kohlenstoffdioxid aufnehmen (müssen). Die genauere Physikochemie dieser gegenläufigen Gasmolekülbewegungen zu ergründen, war für die Pflanzenphysiologen eine echte Herausforderung. Wasserleitungen im System Bereits im 17. Jahrhundert fand der italienische Arzt und Naturforscher Marcello Malpighi (1628–1694) durch vergleichende mikroskopische Studien heraus, dass alle Organe einer beliebigen Landpflanze von zahlreichen Röhren durchzogen sind, die jeweils Wasser führen. Sie alle bilden in ihrer Gesamtheit eine vom Wurzelraum bis in die obersten Wipfel durchgehende Wasserleitung, vergleichbar den Leitungssträngen in einem Hochhaus. Diese Röhren, die das Wasser nach oben führen, nannte er – in Anlehnung an die Atmungsorgane der Gliedertiere – Tracheen. Heute bezeichnet man sie auch als Gefäße. Sie können bemerkenswert großkalibrig sein und sind auf Querschnittbildern mit Lupenhilfe klar zu erkennen: Bei den so bezeichneten ringporigen (zykloporen) Hölzern wie Eiche, Esche, Nussbaum und Ulme kann man sie auf einem quer geschnittenen Astoder Stammstück als millimetergroße Löcher bereits mit bloßem Auge ausmachen. Bei den zerstreutporigen (mikroporen) Hölzern wie Ahorn, Birke, Buche oder Linde sind sie dagegen deutlich kleiner und daher nur mit einer guten Lupe erkennbar. Nadelholz führt überhaupt keine Gefäße, sondern nur relativ kurze, aber lückenlos miteinander verbundene Wasserleitzellen (Tracheiden), die im funktionstüchtigen Zustand eigenartigerweise genauso

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tot sind wie die Tracheen der Laubhölzer oder anderer bedecktsamiger Pflanzenarten. Fließendes Wasser – absolut durchgehend Im Sommer ist das gesamte feine Röhrensystem eines Baumes normalerweise mit Wasser befüllt – genauer mit einem ununterbrochenen Wasserfaden. Jetzt kommt der entscheidende Zusammenhang: Wenn die Blätter über ihre zahlreichen Spaltöffnungen an den Blattunterseiten (sie machen bei Laubblättern rund 1 % der Blattfläche aus) Wasser verdunsten, entsteht unvermeidlich ein Sog zu den grünen Blattgeweben, und diese geben die durch den Wasserverlust entstandene Sogwirkung an die innere Wasserleitung weiter. Die Röhren in Blättern, Zweigen, Ästen und Stamm decken dann ihren Bedarf in dieser Reihenfolge jeweils durch Nachtanken über die Wurzeln. Das funktioniert rein physikalisch und ganz automatisch wie das Aufsaugen eines Cocktails per Trinkhalm anlässlich einer Terrassenparty; deswegen kostet es im Unterschied zum meist abwärts gerichteten Zuckertransport im Phloem auch nicht einmal Energie. Den gesamten Baum durchzieht somit von der feinsten Wurzelspitze bis in das oberste Blatt ein feiner und vor allem kontinuierlich bewegter Wasserstrom, den man wegen der beteiligten Physik auch Transpirationsstrom nennt. An warmen bis heißen Sommertagen erreicht der Wassertransport beachtliche mittägliche Spitzengeschwindigkeiten, bei ringporigen Laubbäumen bis über 20 m/h, bei den zerstreutporigen dagegen höchstens 6–8 m/h. Die besonders wasserökonomisch lebenden Nadelhölzer bleiben – vor allem wegen ihres noch ein wenig archaisch anmutenden Wasserleitsystems aus Tracheiden – fast immer unter 2 m/h. Übrigens: Bei den ringporigen Laubhölzern mit besonders dünner Rinde kann man den aufsteigenden Wasserstrom mit einem Stethoskop, wie es die Ärzte zum Abhorchen ihrer Patienten verwenden, sogar als feines Rauschen hören. Die Wasserteilchen hängen aneinander Das Geheimnis und gleichzeitig die einfache, jedoch folgenreiche physikalische Basis des stetigen Aufwärtsstroms in einer Buche oder Eiche sowie allen anderen Bäumen funktioniert nur deswegen, weil die bewegten Wasserteilchen enorm zusammenhalten. Gemeint ist hier die beachtliche Kohäsionskraft des Wassers (vgl. Bannwarth et al. 2019), eine der vielen ungewöhnlichen Eigenschaften dieses bewundernswerten Naturstoffs. Diese ist zwar hochwirksam, aber dennoch begrenzt. Bei etwa 130 m Höhe reißt ein Wasserfaden nämlich unter seinem Eigengewicht ab – und das auch im Leitsystem der hochwüchsigsten Gehölze. Bezeichnenderweise liegt hier

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tatsächlich auch die nach biomechanischen Aspekten sonst nicht verständliche Obergrenze der höchsten Bäume – der kalifornischen RiesenMammutbäume ebenso wie die der vergleichbar hochwüchsigen Eukalyptusarten in Australien. Übersicht Wege des Wassers Transpiration ist die Abgabe von Wasser als Wasserdampf durch oberirdische Pflanzenorgane. Der Wasserverlust durch Transpiration ist die zwangsläufige Konsequenz aus dem beträchtlichen Gefälle des Wasserpotenzials Ψ zwischen den Geweben und der im Vergleich dazu ziemlich trockenen Atmosphäre. Während das Wasserpotenzial im Wurzelraum bei guter Feuchteversorgung etwa −2 bis −4 bar beträgt, liegt es in der Luft bei etwa 50 % relativer Luftfeuchte tatsächlich bei −940 bar. Da Wasser sich in der Pflanze grundsätzlich nur vom Ort des weniger negativen Wertes von Ψ (Psi) zu demjenigen mit stärker negativem Ψ bewegt, durchzieht ein kontinuierlicher und ausschließlich physikalisch bedingter Wasserstrom den Pflanzenkörper von den Wurzelspitzen bis zu den obersten Blättern. Was mit Blick auf die Wasserökonomie einer typischen Landpflanze als blanke Verschwendung und deswegen problematisch erscheinen mag, ist auf der anderen Seite die Voraussetzung für die unentbehrliche Versorgung aller Pflanzenteile mit Wasser und den darin gelösten Ionen aus der Bodenlösung. Die Wasserdampfabgabe eines Blattes erfolgt einerseits über die gesamte Oberfläche als • nicht regulierbare kutikuläre Transpiration sowie als • regulierbare stomatäre Transpiration. Die Gesamtfläche aller Spaltöffnungen (Stomata) macht etwa 1 % der Blattfläche aus. Dennoch vollziehen sich über diese Spaltöffnungen meist mehr als 90 % der gesamten Transpiration.

1.5 Wie Pflanzen ihre Runden drehen Bekanntermaßen hatte der ungebrochen allseits beliebte Geheimrat Goethe (1749–1832) bis in das hohe Alter ein überaus waches Auge für hübsche Rundungen – nicht nur in seiner weiblichen Umgebung, sondern auch draußen in der Natur. Folglich musste ihm ganz einfach in die Augen springen, dass geradeaus bzw. senkrecht in die Höhe im Freien eine zwar weit verbreitete, aber nicht die einzige gültige Richtungsansage ist. Vieles bewegt sich eben im Kreis, anderes entwickelt sich eben zu hübschen Kurven. In einer heute weitgehend vergessenen bzw. nur noch wenig beachteten Abhandlung („Über die Spiraltendenz der Natur“) beschäftigte sich der

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naturkundige Goethe eingehend mit Verbogenem und Verschrobenem im Aufbau der Lebewesen und stellte darin zutreffend fest, dass solchen natürlichen Abweichungen von der Geradlinigkeit eine erstaunliche, weil genetisch festgelegte Regelhaftigkeit innewohnt, die bis heute im Formbildungsprogramm der Organismen nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat. Exakt dieser Sachverhalt bildet den Inhalt seiner letzten, in den Jahren 1829–1831 durchgeführten botanischen Studien, nachdem ihn der Münchner Botaniker Carl Friedrich Philipp von Martius (1794–1867) anlässlich einer der ersten Tagungen der bis heute fortbestehenden Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) in Weimar (1828) auf diese Phänomene aufmerksam gemacht hatte. Immerhin lässt sie sich sogar mit mathematischen Gesetzmäßigkeiten wiedergeben. Beispiele aus dem Tierreich sind etwa die konsistent rechts oder links gewundenen Gehäuse von Land- und Meeresschnecken, die körperachsensymmetrisch angelegten Schraubungen imposanter Gehörne (wie bei der Kudu-Antilope) oder die Drehrichtung des Stoßzahnes vom Narwal. Nicht selten stammt der häufig als Elfenbein deklarierte Werkstoff aus gehorteten Kirchenschätzen nicht von den Stoßzähnen Afrikanischer oder Asiatischer Elefanten, sondern tatsächlich von dieser kleinen Walart, die in hochnordischen Gewässern verbreitet ist. Bei den bis über 4 m Länge erreichenden Männchen verlängert sich der linke Vorderzahn zu einem spiralig im Uhrzeigersinn gedrehten, also rechtsgewundenen, aber linksgängigen Gebilde bis etwa 2 m Länge (zum Dreh- bzw. Windungssinn s. Abb 1.11). Selten haben auch die weiblichen Individuen einen solchen Stoßzahn, doch bleibt er dann jeweils deutlich kleiner. Schon im Mittelalter waren die für Schnitzwerk gesuchten

Z-Schraube

S-Schraube

Abb. 1.11  Rechtsgewundene, linksgängige Z-Schraube vs. linksgewundene, rechtsgängige S-Schraube – beide kommen im Pflanzenreich vor

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Narwalstoßzähne ein wichtiges Handelsgut. Sie haben übrigens – weil man sich im küstenfernen Mitteleuropa die betreffenden Tiere verständlicherweise so gar nicht vorstellen konnte – die in der älteren Literatur geradezu notorisch kolportierte Mär vom pferdegestaltigen Einhorn beflügelt. Dessen häufige bildliche bzw. skulpturale Wiedergabe zeigt, gewöhnlich zentral auf der Stirn einer Pferdefigur platziert, meist völlig korrekt den rechtsgewundenen Narwalstoßzahn. Solche Darstellungen persistieren – denn sie haben als Plastikkitsch (wie üblich) chinesischer Provenienz unterdessen sogar erfolgreich ihren Weg in die Spielzeugarsenale von Kinderzimmern gefunden. Ranker und Schlinger Viele Kletterpflanzen aus der heimischen Flora, vom Wuchsbild her auch Lianen genannt, sind sozusagen systemisch begründete grüne Emporkömmlinge. Sie ersparen sich beim Höhenwachstum eine Menge Aufwand für eigene stabile Achsenkonstruktionen und investieren stattdessen alle verfügbare Energie in rasches Längenwachstum. Als Stütze verwenden sie dabei nahezu jede beliebige Unterlage, die sie an ihrem Wuchsort erreichen. Bei Brombeeren und Wildrosen ist kein eindeutiger Windungssinn der Sprossachse erkennbar – sie hangeln sich einfach als Spreizklimmer mithilfe ihrer zahlreichen Stacheln (nicht Dornen!) ähnlich wie die fallweise enorm wüchsigen Kletterrosen (vor allem die Sortengruppe „Rambler“) an geeigneten Stützen überaus erfolgreich hoch und bilden, einmal erfolgreich etabliert, in kurzer Zeit enorm dichte Dickichte. In Hausgärten, wohin die besuchenden Gartenvögel die betont keimfreudigen Diasporen mit ihren Verdauungsresten erfolgreich importieren, sind sie daher eventuell nicht besonders gerne gesehen. Die windenden Schlinger praktizieren dagegen eine ganz andere, aber dennoch enorm erfolgreiche Strategie. Bei ihnen umwickelt die wachsende Sprossachsenspitze die Wuchsunterlage in exakt festgelegten Schraubengängen und bewerkstelligt so im Wachstumsablauf die benötigte Befestigung. Acker- und Zaunwinde schrauben sich auf diese Weise an anderen und meist stängelstarken Pflanzennachbarn elegant in die Höhe, und auch die Feuerbohne erreicht auf diese Weise in wenigen Wochen windungs- sowie erfolgreich das Ende der Bohnenstange. Strikt festgelegtes Programm Die Windungsrichtung ist bei diesen Pflanzen ebenso strikt festgelegt wie bei Geißblatt, Glyzine oder Gurke sowie bei Kürbis und der parasitischen

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Hopfenseide (Abschn. 1.13) Die wachsende Sprossachsenspitze bewegt sich – wie bei den weitaus meisten Windepflanzen – jeweils gegen den Uhrzeigersinn, also links herum. Das Ergebnis ist daher eine rechtsgängige, aber linksgewundene Z-Spirale. Hopfen (Abb. 1.12), Wald-Geißblatt und Winden-Knöterich bilden in der heimischen Flora eine Ausnahme – sie sind notorische Rechtswinder und folglich Aufsteiger mit S-Spiralen. Wenn sich also Winde und Geißblatt gegenseitig umrunden, was an manchen Standorten nicht auszuschließen ist, sind folgerichtig erhebliche Verwicklungen zu erwarten. Im Sommernachtstraum lässt Shakespeare bezeichnenderweise seine Titania einen botanisch erstaunlich korrekten Vergleich ziehen („… ich will dich mit meinen Armen umfassen wie die Winde das süße Geißblatt umschlinge …“). Dem erfolgreichen Umwinden einer hilfreichen Stütze liegt ein erkennbar kompliziertes und hoch differenziertes Wachstumsmuster der Sprossachsenflanken zugrunde, bei der sich jeweils die Zellen der Außenflanke stärker strecken als die der Innenseite. Von dieser gehen allerdings offen-

Abb. 1.12  Der Hopfen ist ein klassischer Rechtswinder. Techniker würden ihn allerdings als Linksschraube beschreiben

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bar die orientierenden Signale aus – vermittelt über Berührungsreize an den jeweiligen Kontaktstellen. Wie genau die Signalkette von dort an die reagierenden Zellen der gegenüberliegenden Achsenflanke aussieht, bedarf noch weiterer genauerer Forschung. Mit Sicherheit ist jedoch anzunehmen, dass sie fein abgestimmte unterschiedliche Aktionen spezifischer Pflanzenhormone einschließt, insbesondere aus der Gruppe der Auxine. Warum pflanzliche und andere organismische Strukturen in den weitaus meisten Fällen die linkswendige Z-Spirale verwirklichen, ist ein ungeklärtes Problem. Vielleicht liegt es daran, dass eindeutige Schraubungen bereits in der molekularen Dimension festgelegt sind. Denn schon die berühmte Doppelhelix der DNA ist immer eine Linksschraube, und auch bei helikal (nach Manier eines Schneckenhauses) gewundenen Proteinmolekülen liegt generell diese Windungsrichtung vor. Die Natur weist auf vielen Strukturebenen einen betonten Linksdrall auf. Rechts oder links im Experiment In einem einfachen Fensterbankversuch kann man das Windeverhalten eindrucksvoll verfolgen – das wird auch Kinder total begeistern. An Stangen gezogene Bohnenarten bzw. -sorten umschlingen beim Wachstum zuverlässig nach Lianenmanier ihre Stütze und gewinnen durch Einrasten ihrer feinen Hakenhaare (Tastprobe!) in Unebenheiten der Unterlage genügend Halt, sodass sie problemlos etliche Meter Höhe erreichen können. Als Versuchsmaterial dienen also Jungpflanzen der Garten-Bohne (Phaseolus vulgaris) oder der Feuer-Bohne (Phaseolus coccineus) mit jeweils ein bis zwei Blattpaaren. Beim Schlingen bzw. Winden führt die wachsende Sprossspitze kreisende Bewegungen aus und umwickelt dabei jede angebotene Kletterhilfe. Die Sprossspitze der Bohnenpflanze dreht sich beim Längenwachstum gegen den Uhrzeigersinn (links herum). Für eine Runde benötigt sie weniger als 2 h. Die endogen gesteuerten Kreisbewegungen der Sprossspitze nennt man Zirkumnutation.

1.6 Wendelranken – eine geradezu geniale Befestigung In der heimischen Flora gibt es nicht nur als enorm wüchsige Klettersträucher vorkommende Lianen wie die bemerkenswert hoch reichende Waldrebe (Clematis vitalba) oder die beiden als Neophyten aus Nordamerika

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heute weit verbreiteten Jungfernreben (Parthenocissus spp.), die im Gegensatz zur Waldrebe – sie benötigt immer einen Baum als stabile Stütze – auch ganz mühelos relativ glatte Gebäudefassaden bis zu einer beachtlichen Wuchshöhe bewältigen. Selbst inmitten ihrer gar nicht so seltenen städtischen Vorkommen erreichen sie scheinbar mühelos sogar das vierte Stockwerk. Die in unserer Flora ebenfalls vertretenen krautigen Lianen kommen dagegen über die 1- bis 2-m-Klasse kaum hinaus. Sie zeichnen sich allesamt durch relativ dünne und schlaffe Stängel aus, weil sie ihre gesamte Wuchskraft eben bevorzugt in ein möglichst rasches Längen- bzw. Höhenwachstum investieren und das mit mancherlei raffinierten Kletterhilfen sowie der stützenden Hilfe kräftigerer Pflanzen aus der direkten Nachbarschaft auch tatsächlich erledigen. Zu dieser Gruppe gehört das häufige und besonders erfolgreiche Kletten-Labkraut (Galium aparine), das praktisch auch in allen Gärten vorkommt (Abschn. 1.18). Alle Pflanzenteile sind mit zahlreichen und rückwärts gekrümmten, als kurze Widerhaken dienenden Haaren besetzt. Die rasten wirklich überall ein. Wenn die Pflanze im Spätsommer fruchtet, sind ihre kleinen Kugelfrüchte zuverlässig im Fell von Hund oder Katze zu finden, die den Garten durchstreift haben. Eine spezielle Taktik Eine der besonders erfolgreichen heimischen Lianen ist die Zweihäusige (Bryonia dioica = B. cretica ), die ihrem Namen alle Ehre macht, denn man findet sie gewöhnlich in dichten Gehängen auf der Lichtseite von Zäunen und Hecken (Abb. 1.13). Der weitere Namensbestandteil verweist auf die kräftige im Boden steckende Wurzelrübe, das Überdauerungsorgan der Art. Beim Ausgraben bzw. Verletzen verbreitet sie eine für unsere Nasen recht unangenehme Duftnote. In früheren Zeiten hat man sie als Ersatz für die als magisch geltenden Alraune (Mandragora officinalis) zurechtgeschnitzt, die als mediterrane Art jedoch in unseren Breiten nicht wild vorkommt (siehe Abb. 1.14). Das krautige Sprossachsensystem praktiziert eine besondere und sehr bemerkenswerte Befestigungstechnik.  Am gleichen Stängelknoten wie die Blätter entwickelt die Pflanze dünne, lange Ranken, die nur in ihrem basalen Teil aus Sprossachsengewebe bestehen und im oberen (distalen) Bereich gestaltlich stark umgewandelte Blätter darstellen. Man könnte sie also gleichermaßen zutreffend als Spross- und als Blattranken bezeichnen – ein im Übrigen in der Pflanzenwelt nicht ganz häufiger Fall. Der vordere Teil dieser bis zu 20 cm langen und ziemlich dünnen Ranken führt im

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Abb 1.13  Federnd befestigt und dennoch frei schwingen – eine geniale Lösung

Abb. 1.14  Diese Ranke war erfolgreich. Wie viele Umkehrbögen erkennen Sie?

Laufe eines Tages mehrere im Uhrzeigersinn ablaufende Kreisel- bzw. Suchbewegungen durch, bis die Rankenspitze schließlich auf ein stabiles Hindernis – eine andere Pflanze oder den Maschendrahtzaun – trifft. Die solchermaßen berührte Rankenspitze krümmt sich innerhalb von nur ein paar Minuten durch verstärktes Wachstum der nicht berührten Rückseite ein und umwickelt so ziemlich rasch die hoffnungsfroh aufgefundene Befestigungsmöglichkeit – man kann der Pflanze dabei sogar zusehen, zumal sich diese besondere Wachstumsreaktion auch mit einem Grashalm oder

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einem Kugelschreiber auslösen lässt. Damit wäre zumindest die sichere Verankerung in der direkten Nachbarschaft gesichert. Es bleibt nicht dabei Im Prinzip könnte sich die Zaunrübe mit der erfolgreichen Befestigung ihrer Rankenspitze zufriedengeben, aber sie setzt noch eins drauf. Jetzt beginnen nämlich weitere und recht bemerkenswerte Wachstumsprozesse: Die bereits fixierte Ranke rollt sich nun – ungefähr ausgehend von der Rankenmitte – durch weitere Wachstumsbewegungen spiralig ein, und zwar weiterhin im Uhrzeigersinn. Dadurch entstehen an der Rankenbasis linksläufige Wendeln, im vorderen Teil dagegen rechtsläufige. An der Begegnungsstelle beider Drehbewegungen entsteht somit zwangsläufig ein U-förmiger Umkehrbogen. Man kann  diese eigenartige Wachstumsbewegung experimentell leicht nachvollziehen. Wenn man eine aufgespannte Schnur mit einem in der Mitte angesetzten Bleistift durch Drehung (in beliebige Richtung) aufzwirbelt, entsteht das gleiche Drehmuster wie bei der Zaunrübe. Bei ziemlich langen Ranken kann die Pflanze übrigens auch zwei oder sogar mehr Umkehrbögen einlegen. Das Ergebnis ist jedenfalls eine hochelastische und irgendwelche mechanische Beanspruchungen zuverlässig abfedernde Befestigung zwischen einer relativ dünnstängeligen krautigen Liane und ihrer wuchsstabilen Nachbarschaft. Für dieses besondere Befestigungsmuster findet sich übrigens in der heimischen Flora keine Parallele. Nicht ganz ohne Zaunrüben gehören zwar zu den Kürbisgewächsen (Cucurbitaceae), sind aber wegen ihres Gehalts an Cucurbitaceen-Bitterstoffen ziemlich giftig. Solche Stoffe kommen auch – wenngleich in minimalen Spuren – in den nahe verwandten Speisekürbissen sowie in Zucchini vor, weswegen manche Menschen die saisonal überall angebotenen Zubereitungen nicht besonders gut vertragen. Mit den reifen roten und ziemlich toxischen Beerenfrüchten der Zaunrübe haben die ab Spätsommer erntenden Kleinvögel allerdings überhaupt keine Probleme – die erfolgreiche Ausbreitung der Art erfolgt somit zuverlässig über die Vogelausscheidungen an den bevorzugten Sitzbzw. Ruheplätzen der gefiederten Konsumenten – eben an Heckensäumen und Gartenzäunen. Übrigens: Rotten Sie die Zaunrüben in Ihrem Grundstück bitte nicht aus, denn die relativ seltene Wildbiene Andraena florea sammelt ausschließlich den Pollen der heimischen Zaunrüben als Nahrung für ihre Nachkommenschaft.

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1.7 Eindringliche Wehrhaftigkeit Das kennen Sie gewiss: Wenn man die Gartenarbeit im Bereich der Beetrosen beendet hat, sehen die Unterarme eventuell so aus, als käme man gerade aus dem Tigerkäfig. Auch bei der spätsommerlich-frühherbstlichen Brombeerernte in Feld und Flur muss man ständig damit rechnen, dass sich die überall heftig bewehrten Sprosse erbarmungslos in Haut, Hemd und Hose vertiefen. Eigentlich sind wir gar nicht das planmäßige Zielobjekt dieser pflanzenseitigen Attacken, denn die überall an den Sprossachsen vorhandenen Spitzfindigkeiten haben einen ganz anderen biologischen Auftrag – sie sind nämlich überwiegend Kletterhilfen, mit denen sich manche Sorten von Gartenrosen (insbesondere die Sortengruppe „Rambler“) erfolgreich an jeglicher vorhandener Möglichkeit eventuell viele Meter in die Höhe hangeln – und dabei für einige Wochen eine geradezu wunderbare Blütenfülle entwickeln. Dabei verhaken sich die spitzig bewehrten Sprossachsen auch gegenseitig und bieten sich so eine wirksame wechselseitige Hilfe auf dem weiteren Weg nach oben. Auch die Hauptrippe der Laubblätter trägt auf der Blattunterseite bei fast allen Rosensorten und zudem den weitaus meisten heimischen Wildrosenarten solche enorm spitzen und eindringlichen Elemente. Bei den enorm typenreich in der Kulturlandschaft und im Wald vorhandenen Brombeeren verhält es sich ähnlich (Abb. 1.15). Diese komplexe Artengruppe ist fast überall auch in den Gärten im Siedlungsraum vertreten, weil die ab Spätsommer früchtefressenden Kleinvögel die überaus keimfreudigen Samen aus den vielkernigen Sammelsteinfrüchten der Brombeeren mit ihren Ausscheidungen fast überall absetzen. Deswegen finden sich weit wuchernde Brombeersträucher (zunächst) auch völlig unerwartet in Bereichen, wo man sie gar nicht angepflanzt hat – vor allem im Bereich von Gartenhecken oder sonstigen Gebüschgruppen – eben den Lieblingssitzplätzen vieler Gartenvögel (siehe Abb. 1.16). Dornen oder Stacheln? Im bürgerlichen Sprachgebrauch gilt alles als Dorn, was in irgendeiner unverschämt spitz und bei unsachgemäßer Handhabung an den nicht planmäßigen Zielorganen eben spürbar eindringlich ist. Bei den (Kultur-) Rosen ist diese Notierung geradezu sprichwörtlich: „Keine Rose ohne Dornen“ verkündet unreflektiert eine verbreitete Volksweisheit. Diese Einschätzung hat durchaus Tradition: Im Grimm’schen Märchen vom Dornröschen (das Eugen Drewermann so bemerkenswert tiefenpsycholoisch ausgedeutet hat) sind die angeblich dornentragenden Wildrosen das vordergründige Hauptthema.

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Abb. 1.15  Eine nahezu unfassbare Dornenfestung ist der atlantisch verbreitete Stechginster

Abb. 1.16  Die nadelspitzen Blattrandfortsätze der Stechpalme sind Blattdornen

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Jetzt ist es sicher an der Zeit, den botanischen Unterschied zwischen einem Dorn und einem Stachel – beide für unsere empfindsame Fassade Haut gleichermaßen unangenehm – definitorisch aufzuklären. Im Prinzip ist es ja ganz einfach: Dornen sind immer in stechend-spitze Gebilde umgewandelte Sprossachsen (meist in Form von Kurztrieben) oder gestaltlich total umgebaute Blätter – also in jedem Fall komplett modifizierte Pflanzenorgane. Kurztriebdornen finden sich demnach – und sogar namengebend – an den Ästen und Zweigen etwa von Feuerdorn, Sauerdorn (Berberitze), Schwarzdorn (Schlehe) und Weißdorn. Zu respektablen Blattdornen umgewandelte Nebenblätter tragen beispielsweise an ihrer Basis die Fiederblätter der neophytischen, weil ursprünglich nur in Nordamerika beheimateten Robinie (Robinia pseudacacia). Mitunter sind aber gar nicht die kompletten Blätter dornig ausgestaltet, sondern nur ihre Randbereiche. Ein gerne zitiertes Beispiel sind die stark verlängerten Blattzähne der Stechpalme oder Hülse (Ilex aquifolium), die vor allem im atlantisch geprägten Klimabereich Mitteleuropas vorkommt. „Ich wünsch dich auf die Hülsen“ ist im Niederrheingebiet ein verbreitetes Verdikt für unliebsame Zeitgenossen, das eine großflächige und sicher unangenehme Akupunktur erwarten lässt. Auch die rundum unfassbaren Disteln – es sind übrigens die in der Bibel am häufigsten erwähnten Pflanzen – haben bedornte Blätter. Die an den Sprossachsen fallweise dicht ansitzenden Stacheln sind dagegen von gänzlich anderer Natur. Sie stellen einheitlich spezielle (und fallweise auch recht große) Auswüchse der Sprossachsenoberfläche dar. Man nennt sie wegen dieser besonderen Entstehung auch Emergenzen. Im Unterschied zu den Dornen kann man sie schon durch ein nur ganz leichtes Andrücken von der Seite sehr leicht wegdrücken, denn es sind ja rein epidermale Bildungen, auch wenn sie fallweise recht groß ausfallen mögen. Nun lösen wir mal die Eingangsfrage auf: Haben die allseits beliebten Rosen nun Dornen oder Stacheln? Es sind tatsächlich nur und ohne jede Ausnahme immer Stacheln. Testen Sie es selbst: Die unverschämt spitzigen Gebilde, die Sie mit dem Rosenstrauß zum Geburtstag Ihrer Angebeteten erworben haben, lassen sich schon durch sanften Druck von der Seite problemlos entschärfen – die knicken einfach weg, übrigens ohne jede Schädigung des eventuell teuer erworbenen Rosenbouquets, denn es sind ja nur relativ locker aufsitzende epidermale Emergenzen. Keine unserer geliebten Wild- oder Gartenrosen entwickelt im Unterschied zu

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ihren in derselben Pflanzenfamilie angesiedelten nächsten Verwandten (z. B. Schwarzdorn, Weißdorn; s. o.) keine Dornen. Bleibt nur noch das Klärungsproblem Stachelbeere. Die feinen spitzigen und für die Art namengebenden Auswüchse der Beerenhaut sind tatsächlich nur Stacheln, aber Vorsicht bei der Ernte: Die spitzen kurzen Verästelungen im dichten Gezweig sind tatsächlich veritable Dornen.

1.8 Lebensprinzip Aufsässigkeit Man kennt sie vor allem als Dekoartikel von den Weihnachtsmärkten. Draußen fallen sie uns vor allem in der kalten Jahreszeit und besonders in den wintermilden Gebieten auf, wenn die Bäume keine Belaubung mehr aufweisen – die äußerst seltsamen immergrünen Misteln: Es sind kugelförmige, dicht verzweigte Sträucher in den sonst winterkahlen Laubbaumkronen und fallen dort enorm auf. Mitunter sieht es aus der Distanz sogar so aus, als sei der betreffende Laubbaum tatsächlich wintergrün. Hinsichtlich ihrer Wuchsunterlage sind diese aufsässigen Gebüsche allerdings ziemlich wählerisch. Laubholz-Misteln findet man nur auf Ahorn, Birke, Hainbuche, Linde, Obstgehölzen (vor allem Apfelbäumen; Abb. 1.17), Pappel, Robinie,

Abb. 1.17  Diesen dichten Mistelbesatz werden die Apfelbäume nicht mehr lange (er)tragen

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Weide und Weißdorn, niemals dagegen auf Buche oder nur sehr selten auf Eiche. Auf Nadelhölzern wachsen andere Arten in verschiedenen Unterarten. Kurzschluss zu den Stoffströmen Bei der Keimung bildet der Mistelsamen zunächst eine rundliche Haftscheibe, von der ein der Wurzel entsprechender Saugfortsatz (Senker) in das junge Holz der gewählten und als geeignet befundenen Wuchsunterlage eindringt. Schon im Folgejahr bilden sich in der Rinde zunächst horizontal verlaufende Seitenwurzeln, von denen jeweils mehrere weitere Senker abzweigen. Ihrem Wirtsbaumast, auf dem sie sich bleibend verankern, entnehmen sie lediglich Wasser und die darin gelösten Mineralsalze, dagegen regulär keine organischen Baustoffe. Diese können sie mit ihren gelbgrünen Lederblättern nämlich rund ums Jahr selbst herstellen. Daher gelten Misteln lediglich als Halbparasiten. Die Mistelsenker müssen auf ihrem Weg zu den Saftströmen im funktionstüchtigen Holzteil (Xylem) allerdings den Siebteil (Phloem) ihrer Wuchsunterlage durchqueren. Es ist daher nicht auszuschließen, dass sie daraus fallweise auch organische Stoffe entnehmen. Dazu passt auch der neuere Befund, wonach die Holzsubstanz (Lignin) der Mistelzweige in gewissem Maße jeweils Details aus der chemischen Zusammensetzung der gewählten Wirtsbaumart widerspiegelt. Folglich muss es eben doch – wenn auch minimale – physiologische Kontakte zwischen Wirt und Epiphyt geben. Aber ein totaler Vollparasit mit völliger Abhängigkeit vom Wirtsgehölz ist die beeindruckende Mistel auch deswegen gewiss nicht. Auf ihrem Weg in die Tiefen eines Baumastes setzen die Mistelsenker übrigens holzauflösende Enzyme ein, denn sonst hätten sie im dichten Gewebeverband ihres Wirtsgehölzes keine Chance (Abb. 1.18). Weil die Wirtsgehölze natürlich ständig in die Dicke wachsen und jedes Jahr einen neuen Jahrring anlegen, müssen auch die Misteln damit Schritt halten. Bemerkenswerterweise bleiben die Senker im Bereich des teilungsfähigen Kambiums ihrer Wuchsunterlage viele Jahre lang wachstumsfähig und können somit eine Länge von bis zu 70 Jahrringen erreichen. Wuchsplatz in luftiger Höhe Wie kommen die Misteln überhaupt auf die Bäume? Die Germanen und auch die Gallier glaubten, dass die Misteln vom Himmel fallen und dabei schließlich im Geäst hängen bleiben. Deswegen waren ihnen diese interessanten Pflanzen besonders heilig – man erinnert sich in diesem Kontext natürlich an den weisen gallischen Druiden Miraculix, der für die

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Abb. 1.18  Erfolgreich angedockt – nun können die Säfte fließen

beliebten Comic-Helden Asterix und Obelix aus speziell (nämlich mit einer goldenen Sichel) geernteten Mistelzweigen einen kraftspendenden Zaubertrank braut. Tatsächlich sind die Misteln für die Primärbesiedlung eines Baumkronenteils fast immer auf tierische Hilfe angewiesen. So haben vor allem Misteldrosseln, aber auch andere Vogelarten, eine besondere Vorliebe für die weißlichen Scheinbeeren. In deren klebrigem Fruchtfleisch sind die Samen mit der eigentlichen Fruchthülle eingebettet. Diese überstehen problemlos die Magen-Darm-Passage durch den Vogel, landen mit dem nächsten Kotspritzer auf (eventuell) geeignetem Geäst und keimen dort aus. Ist der Mistelbusch erst einmal bis zur Fruchtreife herangewachsen, geht er auch zur Selbsthilfe über. Die kleinen Samen seilen sich an den zähen Fruchtfleischfäden regelrecht ab, bis sie einen tiefer gelegenen Zweig treffen und sich darauf gleichsam selbst aussäen. Frühe Blüte, späte Reife Die (meist) zweihäusigen Misteln sind typische Frühblüher. Sie blühen schon im zeitigen Frühjahr. Die Staubbeutel in den Blüten der männlichen Exemplare sind eigenartigerweise mit der Blütenhülle verwachsen. Normalerweise erfolgt Windbestäubung. Da die Blüten aber auch Nektar absondern und zudem nach Orangen duften, kommen auch frühzeitig aktive Fliegen, Bienen und Hummeln als Bestäuber infrage. Die weißen,

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unter Beteiligung des Blütenbodens entwickelten Scheinbeeren der weiblichen Pflanzen sind ab Dezember reif, was ihre Beliebtheit zur Weihnachtszeit erklärt. Übrigens: Alle Teile der Misteln sind ziemlich giftig – sie enthalten als Viscotoxine bezeichnete Polypeptidgemische. Am giftigsten sind bezeichnenderweise die auf Ahorn wachsenden Exemplare, deutlich weniger toxisch sind die Misteln auf Apfelbäumen. Die Gründe dafür sind noch unklar. Die Inhaltsstoffe der Misteln sind pharmakologisch von Bedeutung – man setzt sie jetzt wieder zunehmend in den Frühphasen bestimmter Krebserkrankungen ein. Selbstmedikation ist indessen überhaupt nicht ratsam. Und noch etwas: Wenn Sie Misteln mögen, können Sie sie leicht durch „Anschmieren“ der extrem klebrigen Scheinbeeren (vom Gattungsnamen Viscum ist übrigens der technische Begriff „viskös“ abgeleitet) auf die noch glatte Rinde eines jüngeren Apfelbaumastes im eigenen Garten ansiedeln.

1.9 Versteckter Hochadel Den kennen Sie von Ihren Spaziergängen durch Fluren und Wälder garantiert: Der eindrucksvolle und weit verbreitete Adlerfarn, der bis über 3 m hohe leicht überhängende, aber nur saisonal bestehende Wedelblätter mit schöner goldgelber Herbstfärbung entwickelt, ist innerhalb der Verwandtschaftsgruppe Farnpflanzen (Pteridophyta) die mit Abstand größte heimische Art und überdies als „Forstunkraut“ auf Hiebflächen bzw. Lichtungen nicht besonders gerne gesehen, weil sie an ihren Wuchsplätzen mit ihren gewöhnlich ziemlich dichten Beständen jegliche Naturverjüngung wirksam unterdrückt (Abb. 1.19). Was mag dieser besonderen Spezies nun den kennzeichnenden deutschen Artnamen Adlerfarn eingetragen haben? Ob es wirklich die wie Adlerschwingen ausgebreiteten und wirklich beeindruckenden unteren Fiedern erster Ordnung der Wedelblätter waren? Diese erreichen immerhin durchaus respektable Abmessungen und erinnern somit durchaus an einen segelnden Großgreif. Das mag die Namengeber tatsächlich zur Benennung beflügelt haben, auch wenn man bei der nachvollziehenden Betrachtung der Pflanze ein wenig die Fantasie bemühen muss. Immerhin greift auch die wissenschaftliche Bezeichnung Pteridium aquilinum gleich zwei Großvogelattribute auf: Der Gattungsname ist vom griechischen pteron (Flügel) abgeleitet, den Artzusatz lieferte die lateinische Bezeichnung aquila (Adler) (siehe Abb. 1.20 und 1.21).

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Abb. 1.19  Als einzige heimische Farnart entwickelt der imposante Adlerfarn eine schöne Herbstfärbung

Viele Alleinstellungsmerkmale Der imposante Adlerfarn ist der einzige Vertreter seiner Gattung und – was für ein hohes entwicklungsgeschichtliches Alter spricht – in zusagenden Klimagebieten tatsächlich weltweit verbreitet. Keine andere Farnart weist eine vergleichbar großräumige Verbreitung auf. Gleichzeitig gilt er als besonders überzeugendes Beispiel für einen erfolgreichen Spreizklimmer: Die kräftigen Blattfiedern erster und zweiter Ordnung legen sich im erreichbaren Geäst am Wuchsplatz eng benachbarter Kleingehölze einfach quer und sichern dem ungemein rasch wachsenden Wedel damit immer einen förderlichen Platz an der Sonne mit vollem Lichtgenuss. Die eventuell mehrere Meter hohen Wedel sind trotz ihrer reichen, fast strauchartig erscheinenden Fiederung jeweils Blätter – sie hätten daher auch ebenso in Kap. 2 dieses Buches vorgestellt werden können. Im Prinzip entwickelt jede Pflanze jeweils nur ein großes Wedelblatt, aber angesichts der langen unterirdisch wachsenden Kriechsprosse (Rhizome) sind die Grenzen zwischen den Individuen kaum zuverlässig zu ziehen. Kurz nach dem Aufwachsen

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Abb 1.20  Ein Querschnitt durch den kräftigen Blattstiel zeigt (vor allem im basalen Teil) ein ungewöhnliches Verteilungsmuster der Leitbündel, in dem man (mit etwas Fantasie) einen österreichischen Doppeladler sehen könnte

und Entrollen finden sich an der Basis der unteren Fiederblätter extraflorale Nektarien (Abschn. 3.3) – bei dieser Art und in dieser Position höchst ungewöhnlich. Ob nektarerntende Insekten diese Quelle tatsächlich nutzen, ist bislang ungeklärt. Farne vermehren sich generativ üblicherweise über Sporangien(gruppen) auf der Wedelunterseite, die gegen Ende der Saison heranreifen. Bei den meisten heimischen Farnarten kann man sie ab Spätsommer in kleinen, meist punkt- oder strichförmigen Ensembles (Sori) sehen, die anfangs von einem grünen Schleier (Indusium) bedeckt sind. Beim Adlerfarn entwickeln sich die Sporangien als einziger heimischen Art dagegen nicht in getrennten Sori, sondern immer linienhaft unter den eingerollten Blatträndern, welche somit die Funktion der schützenden Indusien übernehmen. Die Sporenreife fällt in den Herbst (meist Oktober).

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Abb 1.21  Anfangs sind die Blattfiedern noch ein wenig haltungsschwach – aber die Blattstiele erledigen ihren Job schon recht ordentlich

Die Heraldik liegt am Boden Ein etwas verborgenes Kennzeichen kommt neben den „Adlerschwingen“ der großen Wedelfiedern ebenfalls für die Artbenennung infrage. Rupfen Sie ein voll entwickeltes Wedelblatt aus dem Boden und schneiden den untersten (schwarzbraunen) und deutlich verdickten Teil des Blattstiels mit scharfer Klinge leicht schräg durch. Jetzt zeigen die bei den Farnen ohnehin sehr seltsam, weil noch relativ einfach aufgebauten Leitbündel in ihrer räumlichen Verteilung in der Querschnittsmitte das Bild eines doppelköpfigen Wappenadlers. Als man die Donaumonarchie noch recht ehrfürchtig wahrnahm, deutete man diese seltsame Leitbündelfigur sogar gerne als habsburgischen Doppeladler, von dem zahlreiche, aber immer doppelköpfige Varianten existieren. In unserem bürgerlichen Zeitalter genügt zweifellos die Verständigung auf ein Wappenbild. Diese Leitbündelgruppen auf dem Achsenquerschnitt sind nicht nur wegen ihrer ungewöhnlichen Anordnung bemerkenswert, sondern auch in den Details ihrer Histologie – sie weisen nämlich einerseits noch recht archaische, andererseits aber auch schon überraschend moderne Züge

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auf. Als archaisch darf man ansehen, dass jedes der recht unregelmäßig geformten Leitbündel vom übrigen Achsengewebe durch eine besondere einlagige Zellschicht (Endodermis) getrennt ist. Die für den Wassertransport zuständigen Elemente des Xylems sind – wie immer bei den Gefäßpflanzen – im funktionstüchtigen Zustand tot, denn sie leiten den Flüssigkeitsstrom von unten nach oben rein physikalisch durch bloßen Kohäsionszug. Das ist eine geradezu moderne und somit als genial einzustufende Errungenschaft, die sich auch bei allen Blütenpflanzen erfolgreich durchgesetzt hat. Die für den Transport der organischen Komponenten aus der laufenden Fotosynthese zuständigen Bereiche sind allerdings lediglich einfache, leicht verlängerte Siebzellen mit durchbrochenen Zellwänden, wie man sie im Bereich der Höheren Pflanzen generell bei den Nacktsamern findet. Durchgehende Siebröhren wie bei den Bedecktsamern besitzt der Adlerfarn demnach nicht. Man findet also bei dieser Spezies beim genaueren Hinschauen auch in seiner Mikromorphologie eine recht bemerkenswerte Mischlösung aus vielen Besonderheiten der funktionsspezialisierten Gewebe. Nicht so ganz ohne Alle Teile des Adlerfarns gelten als giftig. Sie enthalten u. a. Saponine und ein gefährliches Sesquiterpenglykosid, dessen krebserzeugende Wirkung schon seit Jahrzehnten bekannt ist. Dennoch empfiehlt eine neuere Zusammenstellung der essbaren Wildpflanzen Europas (vgl. Dreyer 2010) unverdrossen und sicher ein wenig unverantwortlich die Zubereitung junger Wedel als Wildgemüse. In Teilen Japans gelten die abgekochten Wedelspitzen als Delikatesse – in diesen Gebieten besteht indessen eine deutlich höhere Rate an Krebserkrankungen. Die längst erwiesene Giftigkeit besteht auch für Weidetiere, in deren Erreichbarkeit Adlerfarnbestände liegen. Im Winterfutter (Heu) sollte getrockneter Adlerfarn daher besser nicht vorkommen.

1.10 Ganz und gar geradstielig Selbst bei sonst dem aktiven Erleben der Natur gewidmeten und entsprechend aufmerksamen Spaziergängen durch Dorf, Flur und Wald wundert man sich über viele augenfällige Sachverhalte irgendwie gar nicht. Dazu gehören zweifellos auch die überaus erstaunlichen, aber so oft gar nicht wahrgenommenen Blattstielkonstruktionen etlicher heimischer Laubbaumarten. Laubblätter können an ihrer Abstammungsachse in sehr unter-

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schiedlicher Weise befestigt (inseriert) sein – dieser Merkmalsbereich liefert für die artgenaue Bestimmung der jeweiligen Spezies wichtige und zuverlässige Hinweise: Mal sind Blattstiele kaum erkennbar – dann bezeichnet man die entsprechenden Blattgebilde als kurzstielig oder gar sitzend. Beispiele dafür liefern die heimischen Buchen, Eichen und Hainbuchen. Hier „kleben“ die saisonalen Laubblätter sozusagen unmittelbar an ihrer Abstammungsachse Zweig. Bei anderen Laubbaumspezies – vor allem bei den heimischen Ahornarten oder bei der ursprünglich aus den Balkangebirgen stammenden Rosskastanie – entfalten sich die flächigen Blattspreiten jeweils am Ende langer und mitunter sogar sehr langer Blattstiele, die durchaus die Länge eines büroüblichen Bleistifts erreichen können. Das überaus Erstaunliche ist nun: Nach einer nur kurz währenden Phase mit betont schlaffer Haltungsschwäche unmittelbar nach der Knospenöffnung und Blattentfaltung im Frühjahr stehen die Blätter alsbald an ihren gegebenenfalls ziemlich langen Blattstielen beeindruckend strikt geradeaus und immer schön horizontal zum optimalen Sonnenlichtgenuss hin ausgerichtet. Dieser vielfach zu beobachtende und keineswegs selbstverständliche Sachverhalt sollte eigentlich heftig zu denken geben, denn er schreit förmlich nach einleuchtenden Erklärungsmustern. Verdeutlichen wir uns kurz die Alternative: Befestigt man eine dem Laubblatt vergleichbar dünn geschnittene Schinkenscheibe per Reißzweck oder Tacker an einem Bleistiftende, hat man anschließend ein geradezu jämmerliches Bild vor Augen. Die Schinkenscheibe hängt vollends haltlos, schlaff und erbarmungswürdig herunter, weil ihr eben die typischen und geradezu genial eingerichteten Festigungselemente eines langstieligen Laubblattes gänzlich fehlen. Vitale Aufgaben Blattstiele haben nun nicht nur die Aufgabe, die flächigen Blattspreiten an ihrer Abstammungsachse zuverlässig zu befestigen – bei manchen Arten viele Jahre lang, bei anderen nur saisonal. Die Blattstiele sind vielmehr auch unentbehrliche Einrichtungen der Stoffpassagen. Durch sie erhalten die grünen Blattgewebe den über die Wurzeln aus der Bodenlösung aufgenommenen Stoffmix mit allen möglichen anorganischen Ionen. Umgekehrt führen sie die via Fotosynthese hergestellten organischen Verbindungen gleichsam im Gegenstrom den übrigen Stängelbereichen zu. Für beide Stoffbewegungen gibt es getrennte und funktionsoptimierte Leitgewebe – für die Anorganik den Gefäßteil (Xylem), für die Organik den Siebteil (Phloem). Haupttransportgut im Phloem ist bei den meisten

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Pflanzen das Disaccharid Saccharose (üblicher Haushaltszucker) neben ganz wenigen weiteren Komponenten. Der zuckerige Phloemsaft schmeckt folglich enorm süß – was u. a. die Blattläuse entdeckt haben, die sich mit ihren Saugrüsseln ganz gezielt und enorm treffsicher in die Siebröhren vertiefen und dann buchstäblich volllaufen lassen. Was sie nicht für ihre eigene Ernährung benötigen, scheiden sie wieder aus, und das können durchaus größere Mengen sein. Wenn man sich im Sommer über einen beschatteten Parkplatz unter einem Ahorn oder eine Linde freut, hat man wenig später den klebenden Beweis dafür vor Augen, dass die Blattläuse (nicht nur) die Frontscheibe des Fahrzeugs sozusagen kandiert haben. Eine geniale Konstruktion Die oft zahlreichen Leitbündel bilden im Blattstiel außerhalb des Markbereichs einen meist fast geschlossenen Ring – das Xylem liegt innen, das Phloem außen. Die Elemente des Xylems sind gewöhnlich sehr dickwandig und geradezu starr, aber im Phloem sind sie ziemlich dünnwandig und könnten daher bei windbedingten Verbiegungen der Stiele leicht gequetscht oder zerschert werden. Wirksame Vorsorge schaffen hier besonders stabile Gewebestreifen, die außerhalb des Phloems liegen und im Falle des seitlichen Verbiegens die unvermeidlich auftretenden Scherkräfte wirksam abfangen. Man nennt diese Gewebe Sklerenchyme. Oft haben sie nur minimale Zelldurchmesser, sind aber immer auffallend dickwandig. Außerdem finden sich geschlossene Lagen solcher Sklerenchyme direkt unter der Rinde der Blattstiele – nur deswegen fühlen sich diese relativ fest und fallweise sogar bemerkenswert steif an. Das gesamte komplexe Gewebearrangement zeigt beispielhaft der Querschnitt durch den Blattstiel der Rosskastanie in Abb. 1.22. Abwurf oder Abfall? Bei den sommergrünen Gehölzen sind die stoffproduzierenden Laubblätter jeweils Saisonartikel – bevor ab Spätherbst wegen der zu erwartenden Bodenfröste keine geregelte Wasserzufuhr mehr zu erwarten ist, verabschiedet sich der Baum planmäßig und rechtzeitig von seiner meist üppigen Sommerbelaubung. Das ist ein hochgradig koordinierter und viele Einzelaktionen umfassender Vorgang, von dem man so gar nichts ahnt, wenn irgendwann in den Herbstwochen mengenweise das Falllaub herumliegt. Die beteiligten biochemischen und physiologischen Abläufe sind komplex, und wir werden sie hier nicht im Detail vorstellen. Nur so viel: An der Ansatzstelle des Blattes am Zweig entwickelt sich ab Spätsommer ein

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Abb. 1.22  Querschnitt durch den Blattstiel einer Rosskastanie: Die Verstärkungselemente sitzen überwiegend in der Peripherie (Abschn. 1.16)

besonderes Trenngewebe, in dem sich die Zellwände – enzymatisch gesteuert – allmählich auflösen und somit den Blattabgang erleichtern. Gegebenenfalls reicht dann bereits ein heftiger Windstoß – die ausrangierten Blätter lösen sich also weitgehend von selbst ab. Danach lägen die am Zweig verbleibenden Anschlussstellen der Leitgewebe völlig bloß, und folglich müssen diese mit einer Schutzschicht versiegelt werden. Diese Aufgabe erledigt ein besonderes Korkgewebe. An den besonders großen schildförmigen Blattnarben einer Rosskastanie kann man die Korkschicht als helle Zone erkennen und zudem die abgesicherten Narben der Blattspuren, die während des Sommers den gesamten stofflichen Im- und Export zum Blatt gemanagt haben. In den vergangenen extrem niederschlagsarmen Sommern konnte man hier und da das folgende Phänomen beobachten: Wenn die Gehölze schon vor Spätsommer bzw. Frühherbst vertrocknet waren, hatten sie keine Gelegenheit mehr, Korkschicht und Trenngewebe auszubilden. Ihre abgestorbene Blattmasse blieb daher noch lange am Gezweig, bis ein heftiger Herbst- oder Wintersturm auch sie schließlich ablöste. Ein kurzer Blick auf zitternde Pappeln Der berühmte Carl von Linné (1707–1778) wählte für einen gar nicht so seltenen heimischen Laubbaum aus der Gattung Pappel (Populus) den trefflich formulierten Artnamen Populus tremula. Die deutsche Artbezeichnung

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lautet Aspe, Espe oder auch – in Anlehnung an den zweiten Teil des wissenschaftlichen Artnamens (lateinisch tremula = die Zitternde) einfach Zitter-Pappel. In Nordamerika kommt die sehr nahe verwandte Art Aspen (Populus tremuloides) vor – sie gab ihren populären Namen sogar für einen berühmten Wintersportort in den Rocky Mountains. Aber was zittert an den Pappeln? Sobald ein etwas kräftiger Wind in den Weiden (Titel eines bekannten Kinderbuches) in die Kronen fährt, ist gewöhnlich alles bis in die jüngsten Zweige heftig in Bewegung. Jedoch: Selbst bei Windstärke 0–1, die der segelnde Seemann ungern erlebt und als nervtötende Flaute bezeichnet, ist erwartungsgemäß im Kronenraum der Laubbäume absolut nichts los. Ganz anders bei den Zitter-Pappeln: Bereits der leiseste Windhauch lässt ihre kreisrunden Blattspreiten aufgeregt flattern und flimmern. Dafür ist ein auffälliges Konstruktionsmerkmal ihrer relativ langen Blattstiele verantwortlich. Diese sind nicht – wie bei anderen Laubbaumarten üblich – einigermaßen stielrund, sondern seitlich bemerkenswert flach und komprimiert. Das hat für den Übergangsbereich zwischen Blattstiel und Blattspreite die Konsequenz, dass sich dieser bemerkenswert flexibel zeigt. Somit reicht also ein kaum spürbarer Lufthauch aus, um das gesamte Laubwerk heftig zu beunruhigen – es zittert dann, so eine bekannte Metapher, tatsächlich wie Espenlaub. Die Blätter der benachbarten Laubbaumarten verharren derweil weitgehend unbeeindruckt in geradezu stoischer Gelassenheit.

1.11 Gesellschaft mit (fast) unbeschränkter Haftung Die in gewissem Maße berüchtigten Lianen sind sicherlich keine exklusiv tropische Angelegenheit, auch wenn man mit diesem Begriff zumeist den sich von einem zum anderen Regenwaldbaum schwingenden Tarzan assoziiert oder – in eher botanischen Kategorien argumentiert – die fatalen Baumwürger vor Augen hat, die sich an noch jungen Baumstämmen mit raschem Längenwachstum emporhangeln und diese nach ausgeprägtem eigenen Dickenwachstum schließlich buchstäblich strangulieren. Im tropischen Regenwald regieren eben fallweise andere ökologische Usancen, und der Wettbewerb um den besten Platz am Licht nimmt oft ziemlich erbarmungslose Formen an. Bemerkenswert erfolgreiche, wenngleich nicht ganz so mörderische Lianen gibt es aber auch in der heimischen Gehölzflora –

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zugegebenermaßen nicht besonders viele Arten, aber auf jeden Fall solche, die vor allem beim Blick auf die Vegetation an Flussufern oder Waldrändern auffallen. Hier bilden sie die in der Vegetationskunde so bezeichneten Schleiergesellschaften – eben vergleichsweise und vor allem an der Lichtseite dicht wüchsige Vorhänge, die aber den Stütze bietenden Bäumen kaum Schäden einbringen. Eine der hier regelmäßig vertretenen Arten ist die Gewöhnliche Waldrebe (Clematis vitalba), die insofern bemerkenswert erscheint, weil sie in der heimischen Flora das einzige Holzgewächs innerhalb der sonst nur mit krautigen Arten vertretenen Familie der Hahnenfußgewächse und zudem mit gegenständigen Laubblättern ausgestattet repräsentiert. Auch die Sprossachsenquerschnitte zeigen mancherlei histologisch interessante Details, weswegen sie bei Mikroskopikern ein gerne untersuchtes und bestauntes Objekt darstellen. Neben der Waldrebe kommt in den flussnahen Auen häufig auch die Gewöhnliche Jungfernrebe (Parthenocissus inserta) vor, die als ausgeprägter Linkswinder viele Meter hoch in die Kronen der ufernahen Baumgehölze klettert. Schon geraume Zeit bevor die allgemeine herbstliche Laubfärbung einsetzt, begeistert diese Spezies mit einer geradezu spektakulär heftigen karminroten Blattfärbung. Da sie häufig verwildert, ist sie an Bachund Flussufern, Waldrändern oder in größeren Gebüschgruppen häufig anzutreffen. Die Art ist ein typischer Neophyt. Sie ist ursprünglich im atlantischen und zentralen Nordamerika und heute in gemäßigten Klimagebieten nahezu weltweit verbreitet. Nach Europa kam sie bereits um 1610 (erstmals nach Paris), aber schon Ende des 19. Jahrhunderts war sie europaweit so häufig verwildert, dass sie fortan als eingebürgert gelten konnte. Im Unterschied zu den beiden nachfolgend vorgestellten Arten entwickelt sie an den Sprossachsenenden zwar leicht verdickte Ranken, aber keine Haftscheiben und ist somit für ihr erfolgreiches Höhenwachstum ausschließlich auf ihre Umschlingungskünste angewiesen. Die lassen sogar Spiderman blass aussehen Wie man relativ glatte Hausfassaden bewältigt und mit Mauerwerk generell überhaupt keine Probleme hat, führen die beiden anderen Jungfernrebenarten geradezu exemplarisch vor: Die Fünfblättrige Jungfernrebe (Parthenocissus quinquefolia) stammt aus dem östlichen Nordamerika, während die Dreispitzige Jungfernrebe (Parthenocissus tricuspidata) aus Ostasien stammt. Beide Arten verwildern allerdings höchst selten – ihre Vorkommen im Siedlungsbereich sind fast immer auf gezielte Anpflanzungen

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zurückzuführen, um unschöne Architektur etwas ansehnlicher erscheinen zu lassen (siehe Abb. 1.23). Bei beiden Arten ist das Sprossachsenverzweigungssystem bemerkenswert. Die Enden eines jeden Sprossachsenabschnitts bilden eine nicht allzu reichlich verzweigte Ranke, denen fast immer ein Blatt gegenübersteht. Der nachfolgende, das Längenwachstum fortsetzende Sprossabschnitt entsteht jeweils aus einer Achselknospe des Blattes, womit ein geradezu klassisches und in der Pflanzenmorphologie monochasial-sympodiales Wachstumsmuster vorliegt (Abb. 1.25). Das gesamte Sprosssystem der kletternden Jungfernreben ist also aus sich wiederholenden Einheiten und damit bemerkenswert modular aufgebaut. Diese besonderen Verzweigungsverhältnisse, die aus naheliegenden Gründen immer planar (in einer Ebene) erfolgen, erkennt man natürlich am besten im unbelaubten Zustand an einer kahlen Hauswand oder Mauer – die Jungfernreben sind, nach einer überaus spektakulären Herbstfärbung, winterkahl.

Abb. 1.23  Die seitlich stark abgeflachten und von oben betrachtet daher sehr dünnen Blattstiele der Zitter-Pappel sind für die permanente Blattunruhe verantwortlich

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Abb. 1.24  Der Mauerbewuchs wurde teilweise entfernt, aber die Haftscheiben bleiben

Abb. 1.25  Monochasial-sympodiales Sprossachsensystem der Weinrebengewächse: Jedes Sprossachsenglied endet in einer Sprossranke. In der Achsel eines Tragblattes entwickelt sich ein Seitenspross, der durch Übergipfelung das Längenwachstum fortsetzt

Die beiden hier benannten Arten besitzen eine geradezu geniale und außerordentlich wirksame Kletterhilfe: An den Verzweigungsenden der

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Sprossranken entwickeln sich bis mehrere Millimeter (meist 5–8 mm) breite Haftscheiben, die mit ihrer epidermalen Unterseite bemerkenswert erfolgreich in feinste Vertiefungen von (einigermaßen) rauem Mauerwerk eindringen und für die gesamte Pflanze somit eine wirksame Befestigung leisten. An hochglanzpolierten Fassadenverkleidungen moderner Architektur oder gar an Glasfronten haben sie allerdings kaum eine Chance, weil sie sich hier in der mikroskopischen Dimension nicht einhaken können – mal ganz abgesehen davon, dass die Gebäudedesigner aus formalästhetischen Gründen auch gar keine pflanzliche Verkleidung aus immens wuchsfreudigen Klettersträuchern tolerieren würden. So schön eine Wohnhausverkleidung mit einer der beiden Jungfernrebenarten auch über den größten Teil des Jahres aussieht und gebäudeökologisch im Übrigen durchaus wertvoll ist, muss man schon wegen ihrer enormen Wuchshöhe ein wenig Obacht geben, dass sie letztlich nicht zwischen die Elemente der Dacheindeckung vordringen und hier unerwünschte Probleme verursachen. Rechtzeitiger Rückschnitt entschärft die Lage. Die betonte Anhänglichkeit der Jungfernrebenhaftscheiben ist beachtlich – wo sie sich einmal erfolgreich verankert haben, bekommt man sie auch durch heftiges Herumgezerre kaum noch los. Eher beschädigt man beim Entfernungsversuch den Fassadenputz oder zumindest den Wandanstrich (Abb. 1.24). Aber warum überhaupt entsorgen? Fassadengrün aus den pflegetechnisch übrigens bemerkenswert unproblematischen Jungfernreben ist gerade auch im städtischen Bereich ein wohnklimatisch angenehmes und das Ambiente auch sonst klar aufbesserndes Additiv. Förderung und Toleranz sind also auch in dieser Hinsicht klar angesagt (siehe Abb. 1.26 und 1.27). Die relativ unscheinbaren Blüten der Jungfernreben duften übrigens recht angenehm und werden deswegen auch im Siedlungsraum gerne sowie zahlreich von Bestäuberinsekten aufgesucht, vor allem Bienen und Hummeln. Die sich daraus entwickelnden blauschwarzen Beerenfrüchte sind wegen ihres beachtlichen Oxalsäuregehalts (wie auch alle übrigen Pflanzenteile) für den menschlichen Konsum gänzlich ungeeignet, aber vor allem für Drosseln und Tauben ein gerne akzeptierter Leckerbissen. Und noch eine aus dieser Liga Die Jungfernreben gehören botanisch zur Familie der Weinrebengewächse (Vitaceae). Auch die zu dieser Pflanzenfamilie gehörende Weinrebe (Vitis vinifera),  die Wildform sämtlicher heute angebauter  Kulturreben, ist ursprünglich tatsächlich eine heimische Liane der Flussauen, aber in Mittel-

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Abb. 1.26  Die halten ewig – Haftscheiben der Dreispitzigen Jungfernrebe

europa vermutlich bis auf wenige kaum dokumentierte Restvorkommen (Donauauen, Oberrheingebiet) ausgestorben. Nach anbautechnisch-botanischen Kriterien ist sie ein von Natur aus bis 20 m hoher Kletterstrauch. Diese ausschließlich sommergrüne Kletterpflanze befestigt sich an ihrer jeweiligen Stütze (im Weinberg bzw. Weingarten Pfähle oder Drahtgespanne) mit verzweigten, anfangs gegen den Uhrzeigersinn windenden Sprossranken, die tatsächlich umgebildeten Blütenständen entsprechen. Die Triebe sind anfangs behaart, aber später meist kahl; die Ranken oder die daraus entstandenen Blütenstände fehlen an jedem dritten Sprossknoten. Befestigungstechnisch verfahren die Sprossranken auf besonders interessante Weise. Solange sie noch keinen Halt gefunden haben, führen die freien Enden kreisende Suchbewegungen aus – mit ungefähr einer Umdrehung je Stunde. Dieses Bewegungstempo ist für pflanzliche Verhältnisse erstaunlich rasch. Haben die Enden irgendwo Kontakt gefunden, löst der Berührungsreiz über noch weitgehend unklare Signalketten gezielte Wickelbewegungen aus, und der betreffende Spross-

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Abb. 1.27  Vor allem die roten Rebsorten erfreuen im Herbst mit einer intensiven Farbigkeit

achsenabschnitt ist schließlich sicher verankert. Wenn man ein wenig Geduld mitbringt und im Frühsommer den rankenden Reben zuschaut, kann man das gesamte Manöver in relativ kurzer Zeit eindrucksvoll verfolgen. Der Verzweigungsaufbau ist auch bei der Weinrebe monochasialsympodial und entspricht somit den Familienverhältnissen. Auch sonst sind die Kulturreben überaus interessante Beobachtungsobjekte und auf jeden Fall betrachtenswert. Die Blätter sind immer lang gestielt, im Umriss rundlich bis herzförmig, mit unterschiedlich großer Stielbucht ausgestattet, drei- bis fünflappig, scharf gezähnt, oberseits kahl, unterseits dicklich behaart und im Herbst (sortenabhängig) goldgelb oder intensiv rot. Die Blüten sind erstaunlicherweise recht unscheinbar, nämlich grünlich gelb und nur schwach duftend. Sie stehen zahlreich in aufrechten oder bogig abstehenden Rispen (Gescheinen) an der Basis jüngerer Triebe. Ihre Kelchund Kronblätter fallen schon frühzeitig ab, werden aber erstaunlicherweise von vielen Bestäuberinsekten (besonders Hautflüglern) angeflogen. Bei der Wildform sind die Blüten immer eingeschlechtig (zweihäusig), bei Kulturreben dagegen überwiegend zwittrig. Die daraus entstehende Beerenfrucht ist kugelig bis länglich, bei der Wildform nur etwa erbsengroß und schwärzlich blau sowie von betont saurem Geschmack, bei den zahlreichen Kulturreben dagegen sortenabhängig gelbgrün, rotbraun oder blauviolett.

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Die auch als Wildform bemerkenswert typenreiche Weinrebe ist in Südost- und Südeuropa beheimatet, ferner im gesamten Mittelmeergebiet sowie in Vorderasien. Von Natur aus ist sie eine auch im Halbschatten gedeihende Liane strukturreicher Auenwälder und bevorzugt insofern tiefgründige, basenreiche Lehm- und Tonböden. Die zahlreichen Kulturformen werden heute in einem breiten Gürtel zwischen 30 und 50° nördlicher Breite sowie 30 und 40° südlicher Breite auf allen Kontinenten in diversen Rebsorten angebaut. Aus klimatischen Gründen ist nur im Tropengürtel kein Weinbau möglich. Die Beerenfrüchte der Weinreben, meist verkürzt und botanisch wegen des besonderen Verzweigungstyps nicht ganz korrekt Trauben genannt, verwendet man als Tafelobst oder bereitet daraus regionaltypische Weine zu. Nur das ausschließlich aus der Weinbeere nach strengen Regeln mit vielschrittiger Kellertechnik bereitete Gärprodukt darf nach rechtlicher Regelung tatsächlich die Bezeichnung „Wein“ tragen. Alle anderen aus süßen und vergärbaren Früchten hergestellten Fruchtweine erhalten eine gesetzlich vorgeschriebene Zusatzbezeichnung, so etwa Apfel-, Brombeer-, Holunder- oder Pflaumenwein. Schon die Menschen der Jungsteinzeit sammelten und verwerteten die wilden Weinbeeren, wie Traubenkernfunde in alten Siedlungshorizonten selbst im nördlichen Mitteleuropa beweisen. Da die frühesten angebauten Reben der rotfrüchtigen Wildform noch sehr nahestanden, sind die schon in der Bibel, beispielsweise beim Weinwunder von Kana (vgl. Joh 2,12), erwähnten Weine mit größter Wahrscheinlichkeit Rotweine gewesen. Die in einem großen zusammenhängenden Verbreitungsgebiet bis in den Vorderen Orient beheimatete Wildrebe ist eine der wichtigsten Stammarten im heute außerordentlich komplexen Sortenbild der Kulturreben, die man in züchterisch veredelter Form schon seit der frühen Vorantike anbaut, beispielsweise in Kleinasien. Im Vergleich zur Wildrebe entwickeln die Kulturreben, die man meist als eigene Unterart oder auch als selbstständige Art auffasst, viel dickere Zweige, stärker behaarte Blätter und wesentlich größere, saftreichere Beeren in vielen Farbnuancen. Man kennt heute über 3000 verschiedene Rebsorten, von denen aber nur etwa 100 in größerem Umfang angebaut werden. Die sichere Ansprache der hierzulande behördlich zugelassenen Rebsorten nur nach Blatt- und Fruchtmerkmalen ist recht schwierig und nur mit großer Erfahrung möglich. Bei den in Deutschland angebauten Sorten (etwa 30) sind die vielerorts eingerichteten Weinlehrpfade hilfreich, die jeweils die Leitsorten der betreffenden Weinbaulandschaft genauer vorstellen, beispielsweise Riesling an Rhein und

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Mosel, Früh- sowie Spätburgunder neben Portugieser an der Ahr sowie Gutedel, Lemberger und Trollinger in Baden-Württemberg.

1.12 Allerhand bleiche Gestalten Verständlicherweise haben Parasiten im Allgemeinen keinen auch nur annähernd guten Ruf, denn schon bei der bloßen Namensnennung tauchen Bilder von fürchterlich blutsaugenden, saftzehrenden oder sonstwie nachhaltig heimtückischen Kreaturen auf, die man irgendwo zwischen extrem lästigem Plagegeist und real gefährlichem Monster einzuordnen hat. Aus menschlicher Sicht ist die darauf begründete kritische Distanz zu Flöhen und Fußpilzen, ferner zu Milben, Wanzen oder auch Zecken durchaus nachvollziehbar, denn die benannten Arten(gruppen) verursachen durchweg heftige Probleme, und man fragt sich (wie generell auch im Fall sämtlicher Viren), warum die sonst so weithin erfreuliche Natur solche geradezu biblischen Plagen bereithält. Aber: Trotz allgemeiner und durchaus verständlicher Ächtung sind die pilzlichen sowie tierischen Parasiten als hochgradige Nahrungsspezialisten biologisch außerordentlich interessant. Geradezu spannend wird es immer dann, wenn etwa eine schmarotzende Art in ihrem Entwicklungsgang mit verschiedenen aufeinanderfolgenden Stadien auch noch ein kompliziertes Rondo zwischen unterschiedlichen Wirtsarten durchläuft. Da staunt man bei genauerer Beschäftigung nicht schlecht, dass solche komplexen Entwicklungszyklen überhaupt einigermaßen zuverlässig funktionieren. Räuber vs. Parasiten Räuberisch lebende Arten konsumieren andere Lebewesen und töten sie damit. Nachbars Katze, die eine Feldmaus verzehrt, verhält sich in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich anders als ein Kaninchen, das die angebotene Mohrrübe zerknabbert. Die Blattlaus, die einen Pflanzenstängel ansticht und sich mit Zuckersaft volllaufen lässt, ist dagegen auf nachhaltige Nutzung eingerichtet – sie bringt ihren Nahrungslieferanten nicht um, sondern zweigt aus dessen Stoffströmen lediglich einen kleineren Teil für sich ab – und verhält sich somit parasitisch bzw. als Schmarotzer. Räuberisch lebende Arten gibt es in allen Organismenreichen. Das Wimpertierchen Didinium frisst erstaunlicherweise die viel größeren Pantoffeltierchen, einzellige Panzergeißler fallen über nahe verwandte mikroskopisch kleine Planktonalgen her, und manche Bodenpilze strangulieren

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sogar die Fadenwürmer in ihrem Lebensraum, die sich unvorsichtigerweise ihren Fallen genähert haben. Selbst unter den sonst so friedfertigen Höheren Pflanzen finden sich Arten, die mit Leimruten Insekten fangen oder andere Kleintiere auf ein betont schlüpfriges Parkett locken, um sie in eine todbringende Kesselfalle abstürzen zu lassen, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Mindestens so spannend sind die schmarotzenden Blütenpflanzen, zumal man vielen nicht so ohne Weiteres ansieht, mit welchen Untergrundmethoden sie sich eigentlich ihre Nahrung beschaffen. Parasitisch lebende Pflanzen machen jeweils kurzen Prozess: Statt aufwendigerumständlicher Eigensynthese nutzen sie einfach die Stoffvorräte anderer Blütenpflanzen. Stoffschieberei im Untergrund Der Waldboden ist ein durchaus zwielichtiger Lebensraum, denn das dichte Laubdach lässt die Basis über große Teile des Jahres in mystischem Halbdunkel versinken. Im Tiefschatten der Bodenregion wachsen aber dennoch einige erfolgreiche Pflanzen – richtig finstere Gestalten mit betont dunkelgrünen Blättern. Mit sehr viel Blattgrün (Chlorophyll) gleichen beispielsweise Wald-Sanikel (Sanicula europaea), Haselwurz (Asarum europaeum) oder Wintergrün (Pyrola spp.) die Lichtbenachteiligung ihres Standortes aus und werden zu Spezialisten für ein sommerliches Schattendasein. Auch Efeu und Brombeeren darf man dieser Artengruppe zurechnen. Neben schwarzgrünen Waldbodenpflanzen zeigen sich hier und da auch gespenstisch weißliche Gewächse, die offenbar nicht einmal Spuren von Chlorophyll enthalten. Orchideen wie Korallenwurz (Corallorhiza trifida), Widerbart (Epipogium aphyllum) und Nestwurz (Neottia nidus-avis) oder der überaus seltsame Fichtenspargel (Monotropa hipopitys) (Abb. 1.28) fallen in diese Kategorie. Mit ihren lang gestreckten Achsen und mickrigen Blättern erinnern sie stark an Keimsprosse von Kartoffeln, die sich aus der schummerigen Kellerecke dem wenigen Licht entgegenrecken. Pflanzen können sich nur dann buchstäblich von Licht und Luft ernähren, wenn sie gleichzeitig grün sind (s. Einleitung). Damit wird umgekehrt sofort klar, dass ihre total oder zumindest großenteils chlorophyllfreien Varianten grundsätzlich auf wirksame Fremdhilfe angewiesen sind, um stofflich-energetisch über die Runden zu kommen. Die bleichen Blütenpflanzen des Waldbodens sitzen im Moder der angesammelten Blattstreu und damit gleichsam in einem natürlichen Kompost, der reich an organischen Totstoffen ist. Früher nahm man an, solche Pflanzen könnten dieses üppige Stoffangebot durch die Anstachelung von Fäulnisprozessen

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Abb. 1.28  Fichtenspargel – bemerkenswert bleich und daher vollparasitisch

selbst aufschließen, und nannte sie deshalb Saprophyten. Blütenpflanzen sind zu solchem Stoffabbau allerdings gar nicht in der Lage, und so müssen ihre Stoffrouten wohl anders funktionieren. Den Zugang zu den organischen Bodenschätzen vermitteln die zahlreich im Waldboden vorkommenden Pilze. Nur sie verfügen über die entsprechenden Stoffwechselwerkzeuge, um die organischen Abfallstoffe aus der Bodenstreu zu knacken und aufzunehmen. Jetzt wäre nur noch der Kurzschluss zwischen Pilzmyzel und Pflanzenwurzel nötig. Tatsächlich gehen beispielsweise Fichtenspargel und Nestwurz im Wurzelbereich innige Verflechtungen mit benachbarten Bodenpilzen ein. Über direkte und intensive Zellkontakte fließen Stoffe aus dem Myzel in deren Wurzeln – diese Blütenpflanzen parasitieren also tatsächlich auf dem Bodenpilz und sind Importgebiet für dessen Stoffvorräte. Eine Gegenleistung, die dem Pilz zugutekäme, ist hier nicht erkennbar. Echte Dreiecksverhältnisse Nun spinnen viele Bodenpilze sehr enge Beziehungen auch zu den meisten Waldbäumen an, umgarnen deren Wurzelenden und begründen mit ihnen eine einzigartige Kooperative, nämlich die gemeinsame Mykorrhiza (Pilzwurzel). Diese ist erwiesenermaßen eine hervorragend funktionierende Stoffumschlag- und -übergabestelle.  Die Baumwurzeln erhalten hier Wasser und darin gelöste Mineralstoffe vom Pilzpartner, wodurch sie mit-

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hilfe des allgemein recht weitläufig verzweigten Myzels ihren Aktionsradius gewaltig vergrößern. Umgekehrt fließen dem Pilzpartner aus den Wurzelenden organische Stoffe wie Zucker und Aminosäuren zu, die direkt aus der Produktion der grünen Baumblätter stammen. Hier fällt die NutzenKosten-Bilanz für beide Beteiligte positiv aus. Diese Partnerschaft ist entwicklungsgeschichtlich schon sehr alt – man findet sie in klaren Spuren schon bei Pflanzenfossilien aus dem Erdaltertum. Vermutlich haben sie den damals eingeleiteten Landgang der Gefäßpflanzen außerordentlich wirksam unterstützt. Eine Baum-Mykorrhiza sieht fast genauso aus wie das Wurzelpilzgeflecht bei Widerbart oder Korallenwurz, die davon sogar ihren Namen erhielt. Obwohl der experimentelle Nachweis wegen der sehr zarten Bande zwischen den Partnern schwierig ist, schlagen die Bodenpilze die stoffleitende Brücke auch zwischen Baumwurzel und chlorophyllfreier Moderpflanze. Die fotosynthetische Stoffproduktion der grünen Blätter einer Buche ernährt somit auf längerem Weg die bleichen Orchideen zu ihren Füßen. So hängt sich auch der Fichtenspargel als einseitig abhängiger Endkonsument an das unterirdische Versorgungsnetz zwischen Baumwurzeln und Bodenpilzen. Wie die bleichgesichtigen Waldbodenorchideen ist er ein Mykorrhizaparasit, da er zu diesem Dreiecksverhältnis ebenfalls nichts beisteuert. Manchen sieht man es nicht an Außer den wenigen, oben erwähnten chlorophyllfreien Orchideen in der heimischen Flora kommen in Laubwäldern hier und da auch völlig normalgrüne Arten vor, darunter das Weiße Waldvöglein (Cephalanthera damasonium) (Abb. 1.29). Ihre solchermaßen beschaffene Pigmentausstattung lässt den begründeten Schluss zu, dass sie – trotz der gewählten und relativ schattigen Wuchsplätze am sommerlichen Laubwaldboden – durch die sicherlich ausreichenden Stofferträge ihrer eigenen Fotosynthese autotroph lebt. Das ist aber noch nicht alles. Die Art entwickelt, wie alle heimischen Orchideen, eine intensive Wurzelsymbiose mit einem Pilz. Dieser schließt sich aber seinerseits ausnahmsweise auch an bestimmte Waldbäume an, vor allem Rot-Buchen, und aus dieser intensiven Beziehung erhält er alles Notwendige für seinen eigenen Betriebsstoffwechsel. Davon zweigt der eine oder andere kleinere Stoffstrom auch in die Orchidee ab, und somit wird diese ebenfalls aus dem Stoffbudget der Buche ernährt, wie jüngere Untersuchungen zeigen. Bezeichnenderweise lebt das Waldvöglein viele Jahre lang sogar ausschließlich mit seinem Mykorrhizapilz, denn erst ungefähr im neunten Jahr bildet es sein erstes grünes Laubblatt aus, und erst im Folgejahr gelangt

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Abb. 1.29  Das Weiße Waldvöglein, eine heimische Orchidee, betreibt im Waldboden eine komplexe Stoffschieberei

die Art zur Blühreife. In dieses Bild passt bestens, dass die total bleiche nordamerikanische Art Cephalanthera austiniae zeitlebens auf ihrem Pilzpartner parasitiert. Eindringlich wie ein Pflanzensauger Das Umlenken billiger Nährstoffströme aus durchaus unfreiwillig spendenden Wirtspflanzen für den Materialbedarf eines Parasiten erfolgt nicht nur auf Umwegen über die komplex organisierte Pilzbrücke, sondern auch im Direktverfahren. Dabei verhalten sich die parasitischen Blütenpflanzen mindestens so eindringlich wie eine Blattlaus. Mit einem speziellen Saugorgan, dem Haustorium, durchwuchern sie das Gewebe ihrer Wirtspflanze. Ziel ihrer Attacke sind die Stoffleitbahnen des Wirtes, die sich – im Blatt noch als Streifen- oder Netznervatur sichtbar – über den Blattstiel in entsprechende Strukturen des Stängels fortsetzen. Die eigenartige Schuppenwurz (Lathraea squamaria) (Abb. 1.30) überfällt mit Wurzelhaustorien die

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Abb. 1.30  Die seltsame Schuppenwurz entwickelt zwar rötliche Schutzpigmente, ist aber völlig chlorophyllfrei

Wurzeln ihrer Wirtsgehölze. Eigenartigerweise sucht sie aber nur Anschluss an deren Wasserleitungsbahnen. Da diese jedoch im Frühjahr ausnahmsweise ebenfalls organische Stoffe enthalten, beschränkt die Schuppenwurz ihre Stoffschieberei genau auf diese Jahreszeit. Sie wächst und blüht von März bis Mai und ist während des übrigen Jahres kaum zu sehen (siehe Abb. 1.31 und 1.32). Die hübschen, in der europäischen Flora artenreich vertretenen Sommerwurzarten (Orobanche spp.) setzen ebenfalls an den Wurzeln ihrer grünen Wirte an, bilden die stoffklauenden Haustorien jedoch aus den Sprossachsen. Einige Arten wie Gamander-Sommerwurz (Orobanche teucrii), Efeu-Sommerwurz (O. hederae), Ginster-Sommerwurz (O. rapumgenistae) oder Salbei-Sommerwurz (O. salviae) sind in besonderem Maße so wirtsspezifisch, dass man sie danach unterscheiden und benennen kann. Andere wie die Gelbe Sommerwurz (O. lutea) halten sich zumindest an den gleichen Verwandtschaftskreis (Steinklee und andere Schmetterlingsblütengewächse). Die Orobanchen enthalten zwar kein Blattgrün, sind aber dennoch nicht völlig pigmentfrei. Außer ihren wunderschön gelb, purpurn oder stahlblau ausgefärbten Blüten sind auch Stängel und Schuppenblätter rötlich-bräunlich überlaufen. Diese Farbstoffe sind offenbar Schutzpigmente – an den stark besonnten Offenlandstandorten dieser Pflanzen wirken sie wie eine strahlungsabschirmende Sonnenbrille.

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Abb. 1.31  Sommerwurzarten wie die  seltene Thymian-Sommerwurz  sind erfolgreiche Vollparasiten

Abb. 1.32  Verwirrendes Gewirr: Die vollparasitischen Seidenarten (Cuscuta spp.) legen sich erfolgreich quer

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Eher unauffällige Nutznießer Chlorophyllfreien und deshalb weitgehend bleichen Gestalten sieht man ihre Stoffschieberei im Wurzelbereich sofort an. Fast wie im richtigen Leben gibt es unter den Blütenpflanzen aber auch Artengruppen mit ausgeprägten Untergrundaktivitäten auf Kosten anderer, die aber dennoch völlig normalgrün und damit gänzlich harmlos aussehen. Ein großer Teil der früher zur Familie der Rachenblütengewächse (Scrophulariaceae) gestellten und heute nach molekulargenetischen Befunden bei den Sommerwurzgewächsen (Orobanchaceae) einsortierten Arten gehört in diese ehrenwerte Gesellschaft. Gattungen wie Alpenhelm (Bartsia), Alpenrachen (Tozzia), Augentrost (Euphrasia), Klappertopf (Rhinanthus), Läusekraut (Pedicularis), Wachtelweizen (Melampyrum) und Zahntrost (Odontites) sind ausnahmslos Wurzelparasiten auf Gräsern, anderen Kräutern oder kleinen Gehölzen. Man kann sie zwar auch unabhängig von ihren Wirten kultivieren, doch gedeihen sie deutlich besser, wenn sie in ihrer direkten Nachbarschaft wirksam abkassieren können. In Europa sind parasitische Blütenpflanzen eher eine amüsante botanische Kuriosität, die keine nennenswerten Schäden verursachen. Auch ein Mistelbesatz, an dem der Druide Miraculix gewiss seine Freude hätte, muss nicht unbedingt ein ernst zu nehmendes Problem sein (Abschn. 1.8). Die äußerst invasiven Striga-Arten führen in Asien und Afrika jedoch zu erheblichen Ernteausfällen. Striga asiatica befällt vor allem Getreide wie Hirse, Mais und Reis. Einige Orobanchen sind aus Europa nach Nordamerika und Australien verschleppt worden und wurden dort gebietsweise zu einer Gefahr im Anbau von Bohnen, Linsen, Tomaten und anderen Kulturpflanzen. Übersicht Anschluss sichern – parasitische Blütenpflanzen In vielen Familien der Blütenpflanzen kommen parasitische Arten vor, die andere Pflanzen gezielt anzapfen, um sich fremde Stoffquellen zu erschließen. Nach Aussehen, Kontaktort und Zapfstelle lassen sie sich in verschiedene Gruppen einteilen. Während man früher nach chlorophyllfreien Vollschmarotzern, beispielsweise Schuppenwurz (Lathraea squamaria  ), und grünen Halbparasiten, wie etwa Augentrost (Euphrasia stricta  ), unterschied oder danach trennte, ob der penetrante Nutznießer überwiegend nur die Wasserleitbahnen seiner Wuchsunterlage anzapft  wie die Laubholz-Mistel (Viscum album ) oder für sich auch die fremden Zuckersaftröhren öffnet wie die Sommerwurzarten (Orobanche spp.), gruppiert man die parasitischen Blütenpflanzen heute vor allem nach dem Ursprung ihres Eindringorgans (Haustorium): Sprossparasiten schließen sich mit Sonderbildungen der eigenen

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Sprossachse an die Wurzeln (Sommerwurz) oder die Stängel (Teufelsseide, Cuscuta-Arten; Abschn. 1.13) ihrer Wirte an. Auch die immergrünen Misteln vertiefen sich auf diese Weise in ihre Unterlage. Wurzelparasiten dringen dagegen mit speziellen Wurzelumbildungen in ihre Opfer ein, meist in deren Wurzeln oder Wurzelstöcke (Klappertopfarten, Rhinanthus spp.). Der seltene Fall, dass ein Parasit auf den Stängeln seines Wirtes wurzelt, kommt unter den europäischen Arten nicht vor.

1.13 Teuflisches Fadenwerk Die im vorhergehenden Abschnitt benannten Art- bzw. Gattungsbeispiele sehen zwar mitunter schon recht eigenartig aus, aber einen total bleichen Fichtenspargel oder eine immerhin farbig blühende Sommerwurz wird auch ein botanischer Laie ohne Schwierigkeit als eine besondere, wenngleich etwas seltsam gestaltete Pflanze erkennen. Ganz anders verhält es sich bei den als Teufelszwirn oder Seiden bezeichneten Arten der Gattung Cuscuta, die man früher als eigene Familie behandelte, aber in der modernen Blütenpflanzensystematik zu den Windengewächsen (Convolvulaceae) stellt. In Mitteleuropa ist die Gattung mit neun Arten (davon fünf eingeschleppt aus anderen Kontinenten) vertreten. Eine voll entwickelte Cuscuta-Pflanze sieht tatsächlich nicht so aus, wie man sich üblicherweise eine Blütenpflanze vorstellt: Die wurzellosen und bleichen bis rötlichen Individuen sind gestaltlich enorm vereinfacht und bestehen nur aus fadendünnen, reichlich verzweigten und viele Meter langen Sprossachsen. Blätter gibt es – von den wenig auffälligen Blüten abgesehen – nicht. Wegen dieser vielfädigen Verworrenheit bezeichnet sie der Volksmund auch gerne als Teufelszwirn. Die botanische Namengebung geht indessen etwas weniger dramatisch vor. Die häufigste heimische Art ist die formenreiche Europäische Seide (Cuscuta europaea), auch Hopfen- oder Nessel-Seide genannt. Man findet sie an Flussufern und in Auengehölzen sowie gelegentlich auch in Anbaukulturen (vor allem Kartoffeläckern). An Flussufern sind Brennnesseln, Luzerne, Wild-Hopfen und andere Stauden, gelegentlich aber auch junge Erlen oder Weiden die bevorzugten und durchweg gerne gewählten Wirtspflanzen. Wie man sich erfolgreich querlegt Die Seiden legen sich als meterlange Geflechte auf ihren jeweiligen Wirtspflanzen mächtig quer und umgarnen mit ihren vielen Verzweigungen erfolgreich Stängel und Blätter. An den Kontaktstellen bilden sie Saug-

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scheibchen (Haustorien), die unter Auflösung der Zellwände der befallenen Wirtspflanze rasch bis zu deren Leitgeweben vordringen. Wenn ein Haustorium sich erfolgreich etabliert hat, sitzt es sozusagen direkt an der Quelle und zweigt fortan aus dem Phloem bzw. Xylem (Abschn. 1.4) unentwegt dessen interne Stoffströme für den eigenen Betrieb ab. Wenn es sein muss oder sich die Gelegenheit bietet, tankt eine Cuscuta auch schon einmal an sich selbst – mit solchen effizienten Kurzschlüssen vermeidet sie offenbar unnötig lange Stoffleitungswege durch das eigene komplexe Stängelsystem. Im Sommer entwickelt die Europäische Seide weißliche bis blassrosa gefärbte Blüten in dichten, köpfchenartigen Büscheln mit klebrigem Pollen. Sie werden sehr gerne von Wildbienen besucht, vor allem von Grabwespen. Aus der bestäubten Blüte entwickeln sich Kapseln mit je vier Samen, die wegen der verbleibenden Blütenhülle als sogenannte Ballonflieger durch den Wind oder durch die herbstlich-winterlich üblichen Flusshochwasser ausgebreitet werden. Die Keimung im Frühjahr ist die einzige kritische Phase im Leben dieser bemerkenswerten Pflanze. Der blattlose, bereits fädig dünn angelegte Keimling muss innerhalb weniger Tage mithilfe rotierender Suchbewegungen eine geeignete Wirtspflanze finden – sonst stirbt er eben ab. Vermutlich finden die Keimlinge einen geeigneten Wirt durch spezifische Inhaltsstoffe, die dieser im Bodenbereich in sein direktes Umfeld entlässt und damit seine potenzielle Besatzung auf die richtige Spur führt. Eine solche chemische Kommunikation zwischen den Arten verläuft in allen Ökosystemen viel differenzierter, spannender und weiter verbreitet, als man gewöhnlich annimmt. Dazu und zu den beteiligten biochemischen Wirkketten wissen wir indessen bedauerlicherweise immer noch viel zu wenig.

1.14 Kleinholz aus dem Hochgebirge Die Ausgangslage im Vergleich: Ende Juni reifen im Kulturland normalerweise bereits die Sommerkirschen und das Wintergetreide. Oberhalb von 2500 m zieht in den Alpen und anderen europäischen Hochgebirgen (Karpaten, Pyrenäen) dagegen jetzt erst der Frühling ein. Vor allem die Nordflanken der Berge sowie die weniger stark geneigten Trogschultern und Karmulden bewahren expositionsbedingt noch eine ganze Weile ihre winterlichen Schneereste. Die sommerlich kräftigere Sonneneinstrahlung fördert die Schneeschmelze ebenso wie ein kräftiger Wind, der wärmere Luftmassen heranführt. Am längsten bleibt der Schnee an leeseitigen Schattenhängen liegen, wo ihn weder Direktstrahlung noch Warmluftgebläse erreichen. Das Ausaperungsmuster der alpinen Stufe in den Hochgebirgen zeigt somit nur

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scheinbar eine völlig regellose Verteilung der verbliebenen Schneeflecken und zeichnet tatsächlich ein reliefgetreues Bild vom jeweils bestimmenden Mikroklima. Hier stehen Pflanzen im Stau Im Kleinrelief der alpinen Pflanzenstandorte finden sich alle Übergänge von frühzeitig schneefreien Hängen zu lange schneebedeckten Mulden und Tälchen. Wegen deren oft eher geringen Hangneigung sammelt sich in den schattigen Mulden und Vertiefungen während der gesamten Schneeschmelzperiode das hangabwärts abgeführte Sickerwasser. Auf seinem stetigen Weg nach unten durchnässt es die meist schweren Böden. Schneeböden sind daher in aller Regel ständig staunasse Standorte und als solche auch merklich kühler als die trockeneren Steilhänge in der Nachbarschaft. Nur wenige Pflanzenarten schätzen solche Standortnachteile – eben permanente Staunässe in Verbindung mit einer recht kurzen Vegetationszeit. Die Aperzeit bestimmt die Auswahl So wie sich die Schneebedeckung von den frühzeitig offenen Kuppen hin zu den schattigen Schneetälchen verlängert, ändern sich folglich die Wuchsbedingungen für die hier siedelnden Pflanzen. Wo die Schneeauflage rechtzeitig verabschiedet wird, haben die Pflanzen oft eine Vegetationsperiode von mehr als drei Monaten zur Verfügung. Das ist für alpine Verhältnisse geradezu üppig. Am Rande der persistierenden Schneefelder oder Schneeflecken sind es dagegen nur vier bis sechs Wochen. Mit diesen unterschiedlichen Zeitfenstern entscheidet sich erwartungsgemäß auch, welche Arten solche Standorte überhaupt besiedeln können. Die trockenen Stellen überzieht der kennzeichnende Krummseggenrasen mit der namengebenden Krumm-Segge (Carex curvula). Die Randzonen direkt am Schnee reservieren sich Moose. Bestandsbildend kommt hier das Norwegische Widertonmoos vor, begleitet von Zwerg-Ruhrkraut, Zweiblütiger Sandkresse sowie Klebriger Primel. Am besten ist die Schneeboden-Moosgesellschaft in der oberen alpinen Stufe der Silikatgebirge zu erleben. Sie kommt in einer ähnlichen Artenzusammensetzung auch im Hohen Norden vor, so in den Fjälls der skandinavischen Gebirge. Nur streichholzhohe Wälder Unter Gehölzen stellt man sich gewöhnlich doch recht ansehnliche Pflanzengestalten im Strauch- oder gar Baumformat vor. Alpenrosen, Bärentrauben, Preiselbeeren und andere Arten aus der Verwandtschaft der Heidekrautgewächse (Ericaceae) zeigen dagegen, dass es auch etliche nur knapp

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kniehohe Gehölze gibt. Noch etliche Nummern kleiner sind allerdings die seltsamen Zwergweiden, die man vor Ort zunächst vielleicht gar nicht als Gehölze wahrnimmt. Über silikatischem Gestein überziehen sie in den Schneetälchen die Böden mit mehr als einem Monat Aperzeit mit einem dicht verzweigten, unter dem Tritt federnden Teppich – für den Bergwanderer wohl eine der wenigen Gelegenheiten, tatsächlich einmal über einen voll entwickelten Wald schreiten zu können. Bestandsbildende und namengebende Art dieser besonderen Schneetälchengesellschaft ist die Kraut-Weide (Salix herbacea),  vom bedeutenden schwedischen Pflanzensystematiker Carl von Linné (1707–1778) bei der Erstbeschreibung durchaus zutreffend als kleinster Baum der Welt (minima inter omnes arbores) bezeichnet. Stämmchen und Äste der Kraut-Weide wachsen handbreittief unter der Oberfläche im ständig durchnässten, aber kalkfreien und humusreichen Schneeboden. Nur die krautigen und blatttragenden ragen hervor (Abb. 1.33). An jedem Zweig sitzen nur zwei kleine voll entfaltete, glänzend grüne und rundliche Blätter mit besonders ausgeprägter Blattnervatur neben sehr schmalen Knospen mit purpurroter Schutzfärbung. Nur an einigermaßen länger schneefreien Stellen kommt die Kraut-Weide auch zur Blüte und Samenreife. Im Unterschied zu den Weidenarten des Tieflandes trägt sie ihre wenigblütigen Kätzchen nur an den Zweigenden und nicht blattachselständig. Wenn es mit der Blüte aus mancherlei Gründen nicht klappt, vermehrt sie sich auch recht effizient

Abb. 1.33  Sie sieht nicht aus wie ein Baum, ist aber einer – die hochalpin verbreitete Kraut-Weide

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vegetativ. Irgendwann stirbt der Hauptstamm ab, aber die längst bewurzelten Äste und Zweige werden dann zu selbstständigen Individuen. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Pflanzen eines viele Quadratmeter großen Krautweidenteppichs allesamt von der gleichen Mutterpflanze abstammen und daher völlig erbgleich sind. Krautweidenteppiche sind gewöhnlich mit der Alpen-Wucherblume vergesellschaftet. Die jährlichen Zuwachsraten sind erwartungsgemäß ziemlich überschaubar. Das Dickenwachstum eines Stämmchens liegt bei nur 0,1 mm im Jahr. Die Art stammt aus dem Hohen Norden – sie hat die Alpen erst während des letzten Glazials (Kaltzeit) erreicht und kommt ferner u. a. im Apennin sowie in den Pyrenäen vor. Auf den ersten Blick mag der Standort der Kraut-Weide äußerst problematisch erscheinen, aber er bietet – dank der genialen Angepasstheit dieses Minigehölzes auch gewisse Vorteile: Mit ihrem betont niedrigen Wuchs ist sie den in den Höhenlagen oft sehr heftigen Winden kaum ausgesetzt, denn so dicht am Boden ist die Windgeschwindigkeit deutlich vermindert. Zudem kann die Pflanze an ihrem Wuchsplatz bei Schneefreiheit die leichtere Erwärmbarkeit des dunklen Humusbodens nutzen. Dicht an den Boden gedrängt entgeht sie auch den Schurfwirkungen des Gleit- oder Kriechschnees, denn auch bei geringer Hangneigung bleibt die Schneeauflage nicht ortskonstant über die ganze Wintersaison liegen. Alpen-Bonsais über Kalk Alpine Böden über Kalkgestein als Ausgangsmaterial der Bodenbildung entwickeln wegen der deutlich besseren Wasserzügigkeit des Untergrundes meist keine großflächigen Schneeböden, obwohl es in vergleichbaren Höhenlagen durchaus ähnliche Schneebedeckungsverhältnisse geben kann. Nur zwischen Blockschutt sammelt sich hier und da ein wenig humose, wechselfeuchte Feinerde als einladendes Wuchssubstrat weiterer Zwergweiden an. Bis etwa 3000 m Höhenlage findet sich beispielsweise die Netz-Weide (Salix reticulata) – unverwechselbar wegen ihrer tief eingesenkten Blattnerven, die ihre ovalen Blätter ziemlich runzlig erscheinen lassen (Abb. 1.34). Mit ihren weitreichenden Spalieren überwächst sie auch größere Steine. Sie gilt als arktisch-alpine Art, kommt aber im Gegensatz zur Kraut-Weide nicht in Island, Grönland und Spitzbergen vor, wohl aber in den nordasiatischen Gebirgen und in entsprechenden Höhenlagen Nordamerikas. Als Einzige der spalierförmig wachsenden HochgebirgsZwergweiden ist sie wintergrün – solange durch die Schneedecke an einem sonnigen Wintertag genügend Licht zu ihr vordringen kann, ist sie tatsächlich fotosynthetisch aktiv und bessert damit auch während des langen Hochgebirgswinters deutlich ihre Stoffbudgets auf.

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Abb. 1.34  Auch die aparte Netz-Weide ist ein hochalpines Spaliergehölz und im Prinzip ein kleiner Baum

Ganz klein machen sich am gemeinsamen Wuchsplatz auch die Stumpfblättrige Weide (Salix retusa) oder die Quendelblättrige Weide (Salix serpillifolia), deren Blätter tatsächlich nur um 4 mm breit bzw. lang sind. Die Stämme und Äste dieser Art bilden oberirdische, dicht dem Boden anliegende Spaliere. Ihre enorm weitreichenden und verzweigten Wurzeln gelten als hervorragende Schuttstauer. Zudem verankern sich beide Arten an ihrem Wuchsplatz durch eine sprossbürtige Bewurzelung, die Äste und Zweige zusätzlich im Substrat fixieren. Alle alpinen Zwerg-Weiden sind zweifellos ganz ungewöhnliche Lebensentwürfe. Man darf sie daher sicherlich als geniale, weil ungewöhnliche Überlebenskünstler auffassen (vgl. Schauer und Caspari 2019). Sie sind (bis auf die Netz-Weide) winterkahl (kältekahl) und benötigen als Kälteschutz immer eine zuverlässig hohe Schneeauflage.

1.15 Ritzensteher und Spaltensiedler Trockenmauern oder auch solche mit Mörtelverfugung, die immer ein besonderes Biotopelement der Kulturlandschaft darstellen, kommen so in der Naturlandschaft überhaupt nicht vor. Tatsächlich sind sie ein typisches Ausstattungselement der traditionellen Kulturlandschaft, insofern auch eine primär technische Einrichtung, aber in vielen Regionen Europas in absolut

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sympathischer Weise landschaftsprägend und jeweils wunderbar in ihr jeweiliges Ambiente eingepasst. Die genauere Umschau ist sicher nicht überraschend: In vielen Regionen (Irland, Bretagne, Cornwall, Schweizer Jura, Menorca und anderswo) hat man aus verschiedenen praktischen Gründen (Grenzmarkierung, Hangsicherung, Weideschutz) schon vor Jahrhunderten mit bemerkenswertem handwerklichen Geschick Trockenmauern ohne Mörtelbindung der einzelnen Mauersteine aufgeschichtet. Etliche davon weisen gebietsweise als Ensembles viele Dutzend Kilometer Lauflänge auf. In Mitteleuropa erlebt man sie vor allem in den Weinbauregionen entlang der großen Flusstäler, und auch hier erreichen sie eine beträchtliche Ausdehnung. Mal sollen sie Windschutz bieten, mal das Weidevieh auf einer bestimmten Parzelle halten, Grundstücksgrenzen eindeutig markieren oder – vor allem im Gelände mit starker Hangneigung – zusätzliche Anbauflächen schaffen bzw. den niederschlagsbedingten Bodenabtrag blockieren. So entstanden die gerade für viele Weinbaulandschaften in Deutschland und der Schweiz typischen Hangterrassen in oft erstaunlicher Steillage, welche die sonst schwierig zu bewirtschaftenden Parzellen an den Talhängen überhaupt erst erschließen halfen, seit man den Weinbau spätestens im fortgeschrittenen Mittelalter aus den flachen Tallagen auf die wesentlich sonnenintensiveren, aber eben steil exponierten Hanglagen verlagert hatte. Die Gunst der Fuge Nun stellt eine Trockenmauer nicht nur nach ästhetischen Gesichtspunkten eine ansehnliche Bereicherung der Kulturlandschaft dar, sondern ist auch nach ökologischen Kriterien als Lebensraumgefüge äußerst bedeutsam. Abhängig von Alter, verwendeter Gesteinsart, Lückigkeit und Lage zeigt fast jeder Mauerstandort eine unverwechselbare Individualität. Zudem bietet er ein bemerkenswert reichhaltiges, auf den ersten Blick so nicht immer erkennbares Angebot an Kleinlebensräumen. Neben ganzjährig sichtbaren pflanzlichen Fugenbewohnern wie Kleinfarnen oder größeren Blütenpflanzen, kommen im Mauerbiotop eben auch überraschend zahlreiche Kleintiere vor. Viele dieser Arten(gruppen) wie etwa Spinnen oder Weberknechte genießen bei den üblicherweise naturentfremdeten Menschen keine allzu betonte Wertschätzung, was indessen ihre wirkliche Bedeutung aus (siedlungs)ökologischer Sicht kaum schmälert. Ein kleines Paradebeispiel Mauerpflanzen sind immer ökologische Spezialisten, die zahlreiche Sonderanpassungen demonstrieren. Aus der Vielzahl von Artbeispielen, die sicherlich eine jeweilige Einzelmonografie verdient hätten, befassen wir uns hier

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einmal nur mit einer auf den ersten Blick ziemlich unscheinbaren, aber auch im Siedlungsraum nicht gerade seltenen Spezies. Die knappe Artdiagnose ist zunächst eher ein Verdikt: ziemlich klein, enorm dünnstängelig, drückt sich nur an altem Gemäuer herum und ist selbst dann kaum auffällig, wenn die hellvioletten Blüten erscheinen, die – und das begründet die Familienverwandtschaft – irgendwie dem allenthalben bekannten Löwenmäulchen ähneln. Mit anderen Worten: Wir stellen hier das überaus interessante Mauer-Zymbelkraut (Cymbalaria muralis) vor, das man auch Mauer-Leinkraut nennt (Abb. 1.35). Diese kleine, eher unscheinbare und sicherlich häufig übersehene Blütenpflanze ist in unserer heimischen Flora gewiss kein üppig aufgemotztes Mannequin, aber in seiner Lebensweise eine recht ungewöhnliche Art. Sie verdient also unbedingt eine genauere Zuwendung. Bestimmt kommt sie auch in Ihrem Wohnumfeld vor. Waren es die Kreuzritter? Das Mauer-Leinkraut ist in Mitteleuropa von Natur aus gar nicht heimisch, sondern ein echter und unterdessen fest eingebürgerter Südeuropäer. Wann diese Spezies den Weg in die heimische Pflanzenwelt gefunden hat, lässt sich nicht genau angeben. Eine plausible Deutung geht davon aus, dass die mittelalterlichen Kreuzritter sie von ihren Routen durch das Mittelmeergebiet mitgebracht und wegen ihrer unstrittigen dekorativen Werte an den heimischen Burgmauern angesiedelt haben, wo sie noch heute vorkommt. Von dort hat sie dann den Weg in das weitere Umland gefunden.

Abb. 1.35  Erst sonnenhungrig, dann lichtflüchtig – das ursprünglich nur im mediterranen Raum beheimatete Mauer-Leinkraut ist ein klassischer Fugenspezialist

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Tatsächlich ist die Pflanze im Fugensystem gealterter Mauern und damit an typischen anthropogenen Wuchsplätzen fast überall ziemlich häufig, während man sie in der übrigen Naturlandschaft eher selten sieht – es ist eben eine typische Art unserer anthropogenen Siedlungslandschaft. Nach anderen Einschätzungen soll das durchaus hübsche Mauer-Zymbelkraut erst im 19. Jahrhundert durch gezielte Ansiedlungsmaßnahmen ins Gebiet gelangt sein. Wie auch immer – diese Art ist wie geschaffen für altes Gemäuer. Sie mag Kalk und findet deshalb Mörtelfugen als Wuchsplatz besonders attraktiv. Auf dem Kölner Dom ist sie eine der häufigsten Pflanzenarten und kommt dort noch zahlreich in 45 m Höhe vor. Anfangs ein Sonnenkind und dann ziemlich lichtscheu Bemerkenswert ist bei dieser Spezies der Umgang mit dem Sonnenlicht. Die beblätterten Sprossachsen und vor allem die Blütenstiele strecken sich an ihrem Mauerstandort immer direkt zum einfallenden Licht. So werden die Blüten auf jeden Fall von bestäubenden Besucherinsekten (überwiegend Wildbienen) wahrgenommen. Die botanische Fachsprache bezeichnet diese bemerkenswerte und nicht unbedingt ungewöhnliche lichtgeführte Hinwendung der Sprossachsenorgane als positiven Fototropismus. Was dabei an detaillierten Steuerungsprozessen im Pflanzenkörper vorgeht, ist zwar in Teilen bekannt, aber diese recht komplexe pflanzenphysiologische Szene blenden wir hier lieber aus. Zur Zeit der Fruchtreife findet indessen eine bemerkenswerte Umsteuerung statt, denn jetzt ändert sich das Verhalten der Sprossachsenorgane gegenüber dem einfallenden Sonnenlicht geradezu grundsätzlich. Nach erfolgter und bislang noch nicht so recht verstandener Umsteuerung krümmen sich jetzt die Blütenstiele mit den reifenden Kapselfrüchten konsequent vom Licht weg – und reagieren damit nunmehr ausgeprägt negativ fototrop. Das bringt den durchaus wünschenswerten, folgenreichen und beeindruckend sinnvollen Effekt mit sich, dass die reifen Samen mit großer Wahrscheinlichkeit wieder irgendwo direkt in einer Fuge in der engeren Nachbarschaft platziert werden. Wo das Mauer-Zymbelkraut einmal Fuß gefasst hat, erobert es sich innerhalb weniger Vegetationsperioden ganze Mauerflanken, die es gegebenenfalls mit üppigen Vorhängen überzieht.

1.16 Nicht nur eine Frage der Ähre Jeder Feierabend- oder Sonntagsspaziergang durch Feld und Flur konfrontiert uns mit etlichen kleinen, aber gewöhnlich übersehenen Naturwundern: Haben Sie sich je darüber gewundert, was uns eine beliebige Gras-

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oder gar eine Getreidepflanze vorführt? Ein geradezu unglaublich schlanker Halm mit zudem nur recht dünnen Halmwänden, die man zwischen zwei Fingern problemlos zusammendrücken kann, steht er geradezu gardemäßig aufrecht und trägt als Blüten- sowie wenige Wochen später als Fruchtstand eine vergleichsweise schwergewichtige Ähre (Gerste, Roggen, Weizen) oder Rispe (Hafer) – aber bricht bewundernswerterweise dennoch nicht unter deren im Laufe der Reifesaison auch noch ständig zunehmenden Last zusammen (Abb. 1.36). Mit einem einfachen und sogar vor Ort direkt durchführbaren Experiment lässt sich außerdem zeigen, dass man ihm sogar noch eine zweite oder gar dritte Ähre aufbürden kann. Der Halm biegt sich dann zwar deutlich und elastisch zur Seite, aber er knickt unter der zusätzlichen Auflast bestimmt nicht total weg. Nur wenn Wildschweine ungestüm durch ein Getreidefeld pflügen, liegt in ihrer Spur alles am Boden. Aber auch dafür hat die Natur Vorsorge getroffen: Im Getreidehalm gibt es (vor allem an der Basis) Wachstumszonen, welche die gesamte Konstruktion wieder aufrichten – zumindest einigermaßen. Einfach staunenswert Worüber soll man mehr staunen – über die ausgesprochen grazile Gestalt des Halmes oder seine bewundernswerte Statik? Viele heimische Wildgrasarten erreichen durchaus Wuchshöhen von mehr als 1 m. Dennoch misst ein so hoher Halm an seiner Basis nur ungefähr 3 mm Durchmesser. Die

Abb. 1.36  Die Ähren verneigen sich, aber die Halme stehen aufrecht

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Gesamtlänge (bis zum Wurzelansatz) und Basisdurchmesser weisen demnach ein Schlankheitsverhältnis von etwa 1:400 auf. Das fordert geradezu den Vergleich mit technischen Dimensionen heraus, und der ergibt überraschend Folgendes: Fabrikschornsteine, Fernmeldetürme oder andere himmelstrebende Hochbauten dieser Formgebung dürften dann bei 100 m Höhe an der Basis tatsächlich nur 1/400 ihrer Länge und somit einen Durchmesser von allenfalls 25 cm aufweisen. Das aber gibt kein technisches Baumaterial her, und folglich ist ein solches Gebäude im direkten Design eines Grashalmes allein aus statischen Gründen überhaupt nicht umsetzbar. Bestenfalls zeigen technische Konstruktionen wie Antennentürme, Brückenpfeiler oder Lampenmasten ein Schlankheitsverhältnis um 1:50. Im Aussehen weisen sie zwar alle ungefähr die Merkmale eines schlanken Halmes auf, aber dessen bewundernswerte statische Qualitäten erreichen sie partout nicht. Nur ein simpler Grashalm – jedoch gegenüber etlichen ebenfalls uneingeschränkt bewundernswerten Ingenieurleistungen geradezu um Welten überlegen. Aber wie ist das überhaupt möglich? Beeindruckende Materialökonomie Die Halme von Gräsern und eben auch von Getreidearten sind bis auf die mehrfach eingebauten, von außen sicht- bzw. fühlbaren Blattknoten hohl. Das ist eben das besondere Merkmal von Halmen (vgl. Trinkhalm ) im Gegensatz zu den üblicherweise von lockerem Markgewebe erfüllten Stängeln. Ihre bemerkenswerte Standfestigkeit geht also auch noch mit einer respektablen Materialersparnis einher. Feine Faserstränge durchziehen die ohnehin recht dünnen Halmwände – es sind die Leitbündel, welche die höheren Regionen der Pflanze (und also auch den Blütenstand) mit anorganischem Material aus dem Boden (Wasser und darin gelösten Spurenstoffen) versorgen. Hinzu kommt aber jeweils eine nachhaltig kräftigende Ummantelung der Leitbündel vor allem an deren Außenflanke mit Festigungsgewebe aus toten Zellen, die deswegen so stabilisierend wirken, weil ihre Zellwände dick und zum Teil kräftig verholzt sind. Solche Gewebekomplexe sind bei den Höheren Pflanzen weit verbreitet – man nennt sie Sklerenchyme. Im Halm liegen diese kräftigenden Zellkomplexe weit draußen in der Peripherie und reichen direkt bis an die Oberfläche (Abb 1.37). Auch bei den markerfüllten Stängeln anderer krautiger Pflanzen liegt das stützende Festigungsgewebe immer möglichst oberflächennah. Dieses interessante Arrangement verspricht und leistet natürlich eine besondere Biegefestigkeit. Zudem erklärt es, warum auch ein etwas höher aufgewachsener Halm mindestens so stabil ist wie ein dünnwandiges Metallrohr.

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Abb. 1.37  Konstruktive Geheimnisse: Der Halmquerschnitt verrät die Gründe für die erstaunliche Stabilität

1.17 Platt wie ein Blatt Selbst die oberflächlichste Umschau in der heimischen Natur orientiert überzeugend und immer wieder darüber, dass die flächigen oder fallweise auch nadelförmigen Blätter normalerweise irgendwie und irgendwo an schlanken Zweigen sitzen und dort zuverlässig ihren Hauptjob Fotosynthese erledigen. Es wäre indessen total verwunderlich, wenn es zum vertrauten Erscheinungsbild von gewöhnlichen Laubblättern nicht auch besondere gestaltliche Abwandlungen gäbe, die zwar auf den ersten Blick so aussehen wie „richtige“ Blätter, aber tatsächlich überhaupt keine sind. Fallweise können nämlich auch umgeformte Sprossachsen(teile) wie richtige Blätter aussehen und in dieser Gestaltgebung auch die typischen Ernährungsaufgaben eines gewöhnlichen Blattes übernehmen. In der klassischen Morphologie bezeichnet man solche bemerkenswerten Sonderbildungen als Platykladien, wenn es sich denn um komplett umgestaltete Sprossachsen (Langtriebe) handelt. Sind von der Umgestaltung dagegen nur Kurztriebe betroffen, spricht die Fachwissenschaft eher von Phyllokladien. Zusätzlich gibt es auch noch den Fachterminus „Phyllodien“ – damit meint man (meist) blattartig und eventuell sehr beträchtlich in die Fläche verbreiterte Blattstiele. Die genauere terminologische Kennzeichnung von Pflanzenteilen mit ungewöhnlicher, eben von der Norm abweichender Gestaltgebung ist

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unter Fachleuten häufig stark umstritten. Mit solchen Zwistigkeiten halten wir uns hier indessen lieber nicht auf, zumal die betreffenden strittigen Fallbeispiele in unserer heimischen Flora gar nicht vorkommen und bestenfalls in den immer anschauenswerten Sammlungen der botanischen Gärten zu bestaunen sind. Dort sind sie auch entsprechend beschriftet und als Besonderheit hervorgehoben. Sprossachsen werden blättrig In die Breite und daher nach typischer Laubblattmanier flächig vergrößerte Sprossachsen sind in der Globalbotanik absolut kein ungewöhnliches Thema. Viele in den ariden Gebieten der Erde beheimateten Acacia-Arten neigen zu dieser ungewöhnlichen Sonderform. Der ökologische Vorteil ist nicht immer direkt erkennbar, denn eine zur Pseudoblattfläche verbreiterte Sprossachse setzt an Problemstandorten mindestens ebenso so viel kostbares Wasser um wie ein normales Blatt. Aber schon allein aus morphologischen Gründen sind solche Sonderformen durchaus ein bemerkenswertes Thema. In der heimischen (mitteleuropäischen) Flora gibt es eigentlich nur ein einziges überzeugendes Beispiel dafür, und zwar ist das der Gewöhnliche Flügelginster (Chamaespartium sagittale), ein sehr hübsch anzusehender Zwergstrauch aus der großen Familie der Schmetterlingsblütengewächse (Fabaceae) (Abb. 1.38). Grüne Blätter gibt es bei dieser Art meist nicht – allenfalls an ziemlich schattigen Wuchsplätzen. Den üblichen Job der grünen Laubblätter übernehmen die namengebenden breit geflügelten Flachsprosse, die somit geradezu klassische Platykladien darstellen. Sie werden fallweise beidseits des Stängels um 5 mm breit und sind für die Pflanze auch deswegen besonders vorteilhaft, weil sie an den meist aufrecht wachsenden Stängeln einen Großteil der sommerlich belastenden Sonnenstrahlen einfach an sich vorbeistreichen lassen. Der Flügelginster darf insofern in gewissem Umfang auch als Kompasspflanze gelten (Abschn. 2.4). Er besiedelt vorzugsweise nährstoffarme Trockenrasenstandorte und kommt dort mitunter in quadratmetergroßen Beständen vor. Ganz anders, als sie aussieht Eine ganz ungewöhnliche Erscheinung zumindest in der zu Mitteleuropa benachbarten Pflanzenwelt sind die beiden als ungefähr kniehohe Sträucher wachsenden Mäusedornarten Ruscus aculeatus (Abb. 1.39) und Ruscus hypoglossum. Es sind einkeimblättrige Pflanzen; früher stellte man sie zu den Liliengewächsen (Liliaceae), dann zeitweilig in eine eigene Familie Ruscaceae, und heute gehören sie nach neuesten molekularbiologischen

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Abb. 1.38  Der heimische Flügelginster ist das einzige Beispiel für blattartig verbreiterte Sprossachsen

Befunden zu den Spargelgewächsen (Asparagaceae). Die beiden Mäusedornarten kommen in trocken-warmen Laubwäldern und Gebüschen vor. Die nächst benachbarten Vorkommen finden sich in Lothringen und Österreich. Nach Westen zu werden sie häufiger: In der Bretagne findet man sie fast überall. In Mitteleuropa sind sie als morphologische Kuriosa fast immer auch in botanischen Gärten zu sehen. Die zweifellos seltsamen Mäusedorne sind immergrün – aber ihre vermeintlichen Blätter sind tatsächlich Platykladien und somit in die Breite gegangene Sprossachsen. Das ist zunächst nicht so ohne Weiteres erkennbar, wird aber nach den üblichen Verzweigungsregeln sofort klar, wenn sie blühen und zur Fruchtzeit ihre scharlachroten Beerenfrüchte entwickeln. Die sitzen nämlich, was ansonsten enorm verwundern muss, mitten auf der zunächst so aussehenden Blattfläche – für einen erfahrenen Pflanzenmorphologen schlicht ein absolutes Unding. Hier stehen sie – und das macht die Deutung auch nicht gerade einfacher – in der Achsel eines

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Abb. 1.39  Der Stachelige Mäusedorn entwickelt keine Blätter, sondern nur blattartig verbreiterte Flachsprosse (Phyllokladien)

Gebildes, das aussieht wie ein Tragblatt, aber in Wirklichkeit ein stark verbreiterter Blattstiel mit enorm reduzierter Blattspreite ist, eben ein klassisches Phyllodium. Die in beachtlichem Maße derb„laubigen“ Mäusedornarten zeigen somit eine recht ausgefallene Wuchsgestalt, die auch mit normal entwickelten Blättern hinzubekommen wäre. Besondere ökologische Vorteile sind in ihren harten Platykladien bzw. Phyllodien nicht erkennbar. Fast hat man den Eindruck, die Natur habe hier zum besonderen Amüsement der Pflanzenmorphologen spezielle Sonderformen kreiert, die man erst einmal theoretisch bewältigen muss.

1.18 Konkurrenzlose Klimmstängel Gewiss haben Sie sich schon so manches Mal darüber gewundert, dass Hund oder Katze – wenn sie aus dem Garten zurückkehren – im Fell so mancherlei Grünzeug mit sich tragen. Auch bei der eigenen Gartenarbeit kommt man mit dieser interessanten Pflanze häufig in Berührung, und dann beweist sie ihre erfolgreiche und mitunter geradezu lästige Anhänglichkeit auch an der Kleidung. Wir sprechen hier gerade vom häufigen KlettenLabkraut (Galium aparine), das an Wegrändern sowie Waldsäumen, ferner auf Äckern und in Gärten sowie an Abfallstellen ziemlich häufig ist.

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Herausragende Eigenschaft dieser in der heimischen Flora einzigartigen Pflanze ist es, sich an allen möglichen Unterlagen anzukletten, weswegen man sie volkstümlich auch Klebkraut nennt. Strukturelle Basis dieser besonderen Affinität auch zu Fell und Kleidung sind die an Blättern und Stängeln zahlreich vorhandenen glasklaren und nur wenigzelligen Haare, die bemerkenswert ausgesteift und praktischerweise auch noch rückwärts gekrümmt sind. An den vierkantigen Stängeln bilden sie durchlaufende Eckleisten, an den Blättern sitzen sie unterseits vor allem auf den Hauptrippen. Mit den tastenden Fingerkuppen kann man sie leicht erfühlen, aber weitere Details verrät nur eine stärkere Lupe (Abb. 1.40). Schlaff, aber erfolgreich Die dünnen Stängel des Kletten-Labkrauts sind erstaunlich schlaff – sie entwickeln kaum stützendes Festigungsgewebe. Das ist ein typisches Merkmal auch der nur krautig wachsenden Lianen, zu denen diese Art zweifellos zu rechnen ist. In der mitteleuropäischen Flora gibt es dazu seltsamerweise nur sehr wenige Beispiele – in anderen biogeografischen Regionen sind solche Strategen weitaus häufiger. Die dünnen, schlaffen Stängel sind gleichzeitig der Schlüssel zu seinem Erfolg. Die Pflanze investiert alle fotosynthetischen Stoffgewinne in bemerkenswert rasches Längenwachstum, um der krautigen Konkurrenz in Bodennähe wirksam zu entkommen. (Hobby-)Gärtner

Abb. 1.40  Kletten-Labkraut – mit mancherlei Kletterhilfen ausgestattet

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kennen das: Kaum war man einmal ein paar Tage nicht vor Ort, reichen die sprießenden und zudem reich verzweigten Sprossachsen vom Kletten-Labkraut schon wieder (über) einen halben Meter hoch. Die reichliche Verzweigung ist ein weiterer Schlüssel zum Erfolg dieser Pflanze. Die ebenfalls mit steifer Behaarung ausgestatteten Seitenzweige und ihre Blätter legen sich auf allen sich anbietenden Stützen quer und ermöglichen es, dass diese Art als Spreizklimmer (daher auch etwas scherzhaft „Klimmstängel“ genannt) sich überall erfolgreich emporhangelt und damit alsbald in ein produktionstechnisch günstiges Licht kommt. Mit ihren offensichtlich enorm wirksamen Aufstiegshilfen führt sie übrigens durchaus keineswegs ein Schattendasein, sondern irgendwie mogelt sie sich ohne nennenswerte erkennbaren Schadeffekte für ihre pflanzliche Nachbarschaft direkt nach oben durch – und manchmal auch in die Breite. Damit erinnert das Kletten-Labkraut gleichsam metaphorisch an das richtige Leben. Manche schaffen es mit viel Raffinesse, aber ohne nennenswerte Anstrengung, in kurzer Zeit ganz weit nach oben zu kommen. Immerhin: Das Kletten-Labkraut ist eine einjährige Art, und seine meterhohen Wuchserfolge sind die Leistung nur weniger Sommerwochen. Die Art ist bei uns Kulturfolger seit der Jungsteinzeit, aber unterdessen längst weltweit verbreitet. In manchen Gebieten verursacht sie wegen ihrer üppigen Wüchsigkeit erhebliche Ernteausfälle. Winzig und wirksam Das beeindruckende Arsenal der überaus zahlreich vorhandenen Hakenhaare beschert der Pflanze auch gegen Ende ihrer Vegetationsperiode beachtliche Ausbreitungserfolge. Denn: Größere Waldtiere wie Hirsche, Rehe oder Wildschweine verschleppen erwiesenermaßen zumindest zeitweilig größere Pflanzenteile in ihrem Fell und tragen so zu einer weitreichenden Ausbreitung bei. Es geht aber auch anders: Auch die kleinen, leicht längsovalen Nussfrüchte tragen als Erbe des früheren Blütenkelches einen dichten Besatz von Hakenhaaren, die aber im Unterschied zu den Stängel- und Blatthaaren immer einzellig sind. Die bleiben natürlich ebenfalls überall hängen. Daraufhin sollten Sie doch mal Ihre Katze nach einer spätsommerlichen Exkursion in die Krautbestände des Umlandes genauer inspizieren. Es sollte sehr verwundern, wenn Sie in deren Fell nicht die eine oder andere grüne bis fahlbraune Kugel entdecken, die der samtpfotige Hausgenosse unterwegs spontan eingesammelt hat. Kletthaarige Früchte kommen bei allen heimischen Vertretern der Familie vor. Beim verwandten Wald-Meister (Galium odoratum) sind sie sogar noch ein wenig größer, weswegen man sie früher – gerade wegen ihrer ausgeprägten Griffigkeit – häufig als Stecknadelköpfe genutzt hat.

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Noch eine kleine Anmerkung: Das Kletten-Labkraut und seine Verwandten gehören zur Familie der Rötegewächse (Rubiaceae), so benannt nach der früher technisch häufig verwendeten Färberröte (Rubia tinctoria). Und außerdem: Auch die Kaffeepflanze (Coffea arabica) ist ein Mitglied dieser interessanten Pflanzenfamilie.

1.19 Die Haut der Gehölze Auch Sträucher und Bäume besitzen eine Haut, die sie nach außen abschottet, vor gefährlichen Wasserverlusten bewahrt, zudem unerwünschte Eindringlinge wie Bakterien oder Pilze abwehrt und schließlich auch noch das besondere Antlitz der Gehölze artspezifisch kennzeichnet. Wir nennen diese lebenswichtige Pflanzenhaut bei zarterer Ausführung Rinde und bei altersbedingt grobrissiger Faltenlage Borke. Mit unserer eigenen Haut teilt diese Außenlage mancherlei Eigenschaften. So ist sie beispielsweise durchaus verletzlich. Wenn die auch bei Gehölzen feinfühlige Fassade beschädigt wird, gibt es bestenfalls Vernarbungen und schlimmstenfalls Wachstumsprobleme bis zum Totalausfall. Aus mehreren Gründen ist der Rindenbereich recht sensibel. Schließlich befindet sich nur millimetertief unter der Oberfläche das aktive Wachstumsgewebe (Kambium), von dem das gesamt Dickenwachstum der Stämme, Äste und Zweige ausgeht. Außerdem ist hier erstaunlich oberflächennah das gesamte hochgradig spezialisierte Leitgewebe für die stoffliche Versorgung der Gehölzorgane lokalisiert – unmittelbar außerhalb des Kambiums das Phloem für den raschen Abtransport der Zucker aus den eifrig produzierenden Blätter und direkt innerhalb des kambialen Wachstumszylinders das Xylem für den Wassernachschub aus dem Boden. Obwohl ein massiver Holzstamm von etlichen Dezimeter Durchmesser im Inneren nur aus den über die Jahr(zehnt)e hinweg angesammelten Xylemelementen besteht, besorgen nur die ganz weit außen und somit unterhalb der Rinde befindlichen Tracheen bzw. Tracheiden das gesamte Wassermanagement. Verständlich, dass Bäume mit erheblichen Störungen reagieren, wenn man Nägel in die Stämme einschlägt oder die Rinde mit kryptischen Botschaften anritzt. Sonnenbräune sehr gefragt Meist ist die Rinde nicht unmittelbar an der fotosynthetischen Stoffproduktion beteiligt. Bei dünnrindigen Gehölzen ist sie jedoch transparent

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genug, dass immer noch genügend Licht in die grünen Rindengewebe vordringen kann. Bei etlichen Arten ist sie – zumindest an den jüngeren Zweigen – sogar grün, was man als sicheres Anzeichen für ihren laufenden Fotosynthesebetrieb verstehen darf. An den älteren Kronenteilen wechselt ihre Färbung gewöhnlich zu dunkleren Tönen, überwiegend zu Rot, Rotbraun, Braun oder Graubraun und fallweise sogar zu Schwarz. Diese auf den ersten Blick vielleicht weniger attraktive Kosmetik hat allerdings ihre guten Gründe. Die in Nuancen variierende Sonnenbräune ist auch in diesem Fall eine kompetente Antwort auf das jeweilige Strahlungsklima des Standortes. Vor allem die der Sonne zugewandte Seite ist meist besonders kräftig ausgefärbt. Sobald im Herbst der hilfreiche Abschirmdienst der sommergrünen Belaubung buchstäblich wegfällt, ist Strahlenschutz besonders gefragt. Ähnlich wie im Fall der mitunter heftigen Rottöne des Blattwerks (Abschn. 2.5) verschlucken die rötlichen Rindenpigmente die kurzwelligen Anteile aus dem jetzt ungebremst auf sie einwirkenden Sonnenlicht. Manche Gehölzarten, darunter die Purpur-Weide (Salix purpurea) und der Rote Hartriegel (Cornus sanguinea), tragen jetzt zumindest in der oberseitigen Rinde ihrer Äste und Zweige ein zusätzlich schützendes Rouge auf. Manche Gartengehölze pflanzt man allein aus dem Grund an, weil ihre Rinde ganzjährig kräftig rot gefärbt ist, wie beim hübschen Tatarischen Hartriegel (Cornus alba). Ein paar alternative kosmetische Akzente gegen die Strahlenbelastung gibt es fallweise aber auch noch – beispielsweise wachsige Bereifung, auf jüngeren Zuwachsteilen auch flaumigen Haarfilz oder besondere Leisten-, Netz- oder Punktmuster. Ganz und gar lockere Verhältnisse Die beachtliche Dichtigkeit des Rindengewebes gegen vermeidbare Wasserverluste oder sättigende Benetzung zur Unzeit bringt für Äste und Zweige auch mancherlei Probleme mit sich, die sie aber bemerkenswert kompetent managen. So blockiert die hübsche, aber wasserabweisende Fassade ja nicht nur die Wasserbewegung von innen nach außen oder umgekehrt, sondern auch den Gasaustausch, vor allem die Zufuhr von Sauerstoff aus der Luft für die Atmungsabläufe im Gewebe. Gerade dafür muss es Aus- und Einwege geben: Sie sind auf den Rinden vieler heimischer Gehölzarten in Gestalt kleiner und warziger Öffnungen vorhanden, sofort erkennbar aufgrund ihrer abweichenden Färbung. Man nennt sie Lentizellen – sie führen wie kleine Lüftungsschächte direkt in das Innere von Ästen und Zweigen. Im Bereich der Lentizellen ist das Rindengewebe reichlich aufgelockert. Die beteiligten Zellen sind abgestorben, und durch die schmalen Zwischen-

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räume findet der Luftsauerstoff zuverlässig seinen Weg zu den stoffwechselaktiven Geweben tiefer im Inneren (Abb. 1.41). Punkt- oder leistenförmig angeordnete Lentizellen bedingen immer eine gewisse Rauigkeit der Rinde. Rindenalgen und Rindenflechten – beide Vertreter bewundernswerter Lebensformtypen – verstehen diese Haltehilfen als klare Einladung zur dauerhaften Ansiedlung und nutzen sie erfolgreich als Griffe oder Tritte. Auch das übrige Mikrorelief einer Rinde oder Borke bietet dem oft ausgesprochen dekorativen Aufwuchs vielerlei Verankerungshilfen. Solche Kontakte gehen aber, im Unterschied zur Mistelbesatzung (Abschn. 1.8), in keinem Fall unter die Haut. Es bleibt immer bei rein oberflächlichem Kontakt. Zwischen den Beteiligten, Trägerpflanze (Basiphyt) und Aufwuchs (Epiphyten), finden keinerlei Stoffbewegungen oder vergleichbare Austauschvorgänge statt (siehe Abb. 1.42 und 1.43). Spurensuche im Gezweig Zum charakteristischen Erscheinungsbild der Zweigrinden gehören außer Färbung und Lentizellen noch ein paar weitere spannende Kennzeichen. So kann man bei den sommergrünen Laubgehölzen noch nach etlichen Jahren die Ansatzstellen längst abgeworfener Blattgenerationen wahrnehmen. Man nennt sie Blattnarben. Bei manchen Arten wie Esche

Abb. 1.41  Frischluft für die Stammtiefen: Lentizellenmuster der Zitter-Pappel

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Abb. 1.42  Trotz ihrer fuchsroten Färbung gehört die Rindenalge Trentepohlia sp. zu den Grünalgen

(Fraxinus excelsior), Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus) und Rot-Buche (Fagus silvatica) sind sie relativ groß und ohne Lupenhilfe gut zu erkennen. Eventuell zeichnen sich auf den persistierenden Blattnarbenfeldern auch noch die früheren Anschlussstellen der Leitbündel (Blattspuren) ab. Sehr schmale, meist auch breit auseinandergezogene Blattmarken, die gewöhnlich in dichter Folge hintereinanderstehen, sind gleichsam die Fundamente früherer Knospenschuppen – an ihrer Stelle befand sich einmal das Triebende, und von hier aus nahm der jeweilige Jahreszuwachs seinen Ausgang. Zurückzählen solcher äußerlich sichtbarer Jahresgrenzen gibt also sofort Aufschluss über das Alter eines Zweiges und seine – eventuell unterschiedliche – Zuwachsleistung der zurückliegenden Jahre. Bei den Zwerggehölzen der alpinen Stufe sind die Jahresgrenzen so eng zusammengerückt, dass man sie visuell nicht mehr trennen kann, denn in den Hochgebirgslagen mit ihren produktionslimitierenden Kurzsommern sind nennenswerte Triebverlängerungen nicht möglich. Sie sind aber auch nicht nötig, weil der betreffende Zweig sonst der schützenden Schneedecke entwachsen könnte.

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Abb. 1.43  Man sieht es nicht, aber die Blätter pumpen unentwegt Sauerstoff in die Tiefe

Sicher nicht jedermanns Geschmack Rinden bzw. Borken sind gewöhnlich ein wichtiger Bestandteil der pflanzlichen Verteidigungschemie. Sie enthalten nämlich allerhand scharf schmeckende, übel riechende oder sogar giftige Stoffe. Weiden führen in ihren Außenbezirken den wichtigen Naturstoff Salicylsäure, der nach geringer synthetischer Abwandlung zu einem der weltweit erfolgreichsten Arzneimittel wurde. In der Faulbaumrinde sind Anthrachinone vorhanden, die stark abführend wirken und nur nach besonderer Vorbehandlung als Arzneidroge zu verwenden ist. Der Seidelbast spickt seine Rindenpartien gar mit verschiedenen Diterpenen, die als gefährliche Gifte gelten. Wunden, die durch Abbrechen oder Anbeißen entstehen, können die Nadelbäume durch Harzfluss rasch wieder verschließen. Dieser automatisch arbeitende Wundverband versagt allerdings bei anhaltender Trockenheit und kann dann auch die eventuell massiv über einen Baum herfallenden Borkenkäfer nicht in Schach halten. Einzelne Käferindividuen werden zwar noch erfolgreich geleimt, aber gegen eine Masseninvasion müssen sie im Verbund mit anderen Wuchsplatzproblemen einfach kapitulieren. Die neuerlich zu beklagenden und beträchtlichen Ausfälle in den Nadelholzbeständen sind ein trauriger Beweis. Die im Allgemeinen recht vielseitige pflanzliche Verteidigungschemie zeigt auch bei den Bäumen, dass es einen absolut wirksamen Schutz nicht gibt. Immerhin umfassen die Pflanzenfresser, die auch den Gehölzrinden eventuell zu nahe treten, die beachtliche Palette vom winzigen Insekt bis zum

1  Von Stämmen, Stängeln und Stielen     83

geweihtragenden Wiederkäuer. Allerdings schränken die Rindeninhaltsstoffe die Konsumentenkreise spürbar ein und lassen nur Spezialisten eine gewisse Chance, soweit diese über wirksame Entgiftungsmechanismen verfügen.

1.20 Druckluft für die Unterirdischen Etliche heimische Pflanzenarten stecken nun wirklich heftig im Sumpf. Die gegebenenfalls tief im Uferschlamm verankerten Wurzelorgane etwa von See- oder Teichrosen sowie weiteren Mitgliedern des Schwimmblattgürtels unserer Stillgewässer haben allerdings ein massives Problem. Sie leben, eingebuddelt im Gewässerboden, in einer weitgehend, wenn nicht sogar total sauerstofffreien Zone. Dennoch benötigen sie Sauerstoff, denn als lebende Gewebe sind sie natürlich atmungsaktiv. Nun haben gerade die Schwimmblattpflanzen das Problem der Sauerstoffversorgung ihrer Wurzelorgane auf eine bemerkenswert elegante und geradezu geniale Weise gelöst: Zusätzlich zu den normalen Leitbündeln, die den unterirdischen, auf Zusatzversorgung angewiesenen Organen energiereiche Stoffe aus dem Fotosynthesebetrieb zuführen, weisen ihre langen Blattstiele besondere Gasleitungen auf, die den Luftsauerstoff nach unten führen. Ein Querschnitt durch den Blattstiel von See- oder Teichrose überrascht mit einem auffallend weitlumigen Lakunensystem im Stängelmark, durch das der Gasaustausch erfolgt. Dazu kann man leicht die Probe aufs Exempel anstellen. Wenn man durch das eine Ende eines abgeschnittenen und selbst meterlangen Blattstiels der Weißen Seerose (Nymphaea alba) pustet, perlt am anderen Ende sofort die Luft aus. Die Gasleitungen sind also durchgängig. Ähnliche Erfahrungen sind mit den Stängeln des Tannenwedels (Hippuris vulgaris) möglich. Vergleichbare Verhältnisse findet man auch bei vielen heimischen Binsengewächsen. Ihre schlanken und dennoch tragfähigen Stängel sind von einem bemerkenswert lockermaschigen und ausgesprochen formschönen Lockergewebe erfüllt, das ebenfalls dem Gasaustausch zwischen den unterirdischen Organen und der Atmosphäre dient. Solche weitmaschigen Spezialgewebe in den Achsenorganen vor allem der Sumpf- und Wasserpflanzen nennt man fachmännisch Aerenchyme. Sie sind beliebte Studienobjekte der Mikroskopie. Und doch nicht so einfach Die lückig-luftigen Aerenchyme stellen sich zunächst als eine wunderbare anatomische Voraussetzung für die Sauerstoffversorgung der tiefer im Schlamm sitzenden Wurzelorgane dar.

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Jedoch: In einem viele Dezimeter langen Stängel mit aufgelockertem Markgewebe reicht die reine Gasdiffusion allerdings überhaupt nicht aus, um den Sauerstoff über größere Strecken in die Tiefe zu bekommen. Normalerweise legen die Sauerstoffmoleküle durch freie Diffusion (und ohne einen weiteren Anschub) in jeder Sekunde nur Bruchteile eines Millimeters zurück. Angesichts solch minimaler Bewegungsraten können die Unterirdischen auf ihre Sauerstoffrationen lange warten – viel zu lange, um überleben zu können. Es muss also einen weiteren effizienten Prozess geben, der die laufende und lebensnotwendige Gasversorgung für die Tiefsitzenden gewährleistet. Dem kommt ein wichtiger blattanatomischer Sachverhalt sehr entgegen: Für alle Schwimmblattpflanzen, die der Wasseroberfläche mit ihrer gesamten Blattunterseite aufliegen, wären die dort üblicherweise angebrachten Spaltöffnungen (Stomata) aus naheliegenden Gründen gänzlich unbrauchbar. Tatsächlich befinden sich die ohnehin bemerkenswert raffiniert konstruierten Stomata (Abschn. 2.13) bei diesen Pflanzenarten ausnahmsweise und konsistent nur auf der Blattoberseite – diese sind also epistomatisch, wie die Fachliteratur zutreffend vermeldet. Damit sind sie folgerichtig die Hauptakteure in einem einzigartigen Ablauf, den erst die jüngere Forschung in seinen faszinierenden Details aufgedeckt hat. Seeoder Teichrosenblätter (und die Schwimmblätter anderer Arten auch) heizen sich durch die auftreffende Sonnenstrahlung in gewissem Maße auf. Diese Erwärmung führt im Blattinneren konsequenterweise zur Ausdehnung der in den Zellzwischenräumen (Interzellularen) eingeschlossenen und durch den Fotosynthesebetrieb der grünen Blattgewebe ohnehin mit Sauerstoff angereicherten Luft – hier entwickelt sich also unter Lichteinfluss ein messbarer Überdruck. Den geben die Blätter nun nicht nach oben, sondern sinnvollerweise überwiegend nach unten ab, nämlich in die direkt anschließenden und durchgängigen Aerenchyme ihrer Blattstiele, und diese leiten den solchermaßen druckvermittelten Gasstrom ganz einfach in die Tiefe weiter. Die dem Sonnenlicht ausgesetzten und folglich erwärmten Blätter arbeiten also gleichsam als Gaspumpe. Diesen äußerst raffinierten Prozess nennt man Thermoosmose. Einfach genial, oder?

2 Was Pflanzen so hinblättern

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 B. P. Kremer, Geniale Pflanzen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-63152-2_2

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Gewöhnlich sind sie nur einfach in irgendeiner variantenreichen Nuance zwischen blass und knallig grün. Aber zum Saisonende ändern sie fallweise ihr Aussehen doch recht auffällig, denn unterdessen haben diverse Insekten(larven) an den Blatträndern oder auch mittendrin geknabbert und damit ihre sichtlichen Aktionsspuren hinterlassen. Nicht selten haben sich eventuell auch noch diverse Mikropilze über die grünen stoffbeladenen Blattgewebe hergemacht und ebenfalls etliche auffällige Veränderungen ausgelöst. Manche Mikropilze nutzen ab Spätsommer die auf die Blattflächen gerieselten zuckerigen Ausscheidungen der unentwegt aktiven Blattläuse und fallen mit ihren dunklen Myzelmassen als Rußtau entsprechend auf. Schließlich beendet die oft spektakuläre herbstliche Blattfärbung das gesamte sommerliche Szenario mit einer – zumindest bei vielen Laubbäumen – geradezu gigantisch eindrucksvollen Farborgie. Aber haben Sie sich je über ganz normal grüne Pflanzenblätter gewundert oder sie zumindest einmal ganz aus der Nähe bestaunt? Sie sind scheinbar so alltäglich und gewöhnlich, dass man ihre Besonderheiten im Vorübergehen einfach übersieht und somit schlicht nicht wirklich wahrnimmt. Das ist zweifellos ein arges Versäumnis. Denn: Die Blätter der Höheren Pflanzen – die eigenartigen Nadelblätter der Nacktsamer vom Typ Eibe, Fichte, Kiefer oder Tanne ebenso wie die flächig ausgebreiteten Laubblätter der Bedecktsamer vom Rest der heimischen Botanik bieten eine gestaltlich überaus erstaunliche, weil enorm vielgestaltige Palette einer im Prinzip überschaubar einfachen und tatsächlich überraschend einfachen Grundkonzeption. Blätter sind neben Wurzel und Sprossachse nach allgemeinem Konsens das dritte wichtige Grundorgan einer höheren Pflanze. Als funktional spezialisierte und meist zahlreich vorhandene Anhangsorgane der Sprossachse bilden sie den Spross. Terminologisch wird dieser begriffliche Unterschied leider oft verwirbelt. Blätter sind in unterschiedlicher Weise an der Sprossachse angeheftet, stehen davon im Allgemeinen spreizend ab und sind damit in hervorragender Weise als sensible Antennen für das auftreffende Sonnenlicht geschaffen. Laub- und Nadelblätter als Lichtauffangorgane, in denen bereits Nanosekunden nach Absorption der eintreffenden Lichtquanten der stationenreiche und fast unglaubliche Prozess der Fotosynthese abläuft, sind die mit Abstand wichtigsten Produktionsorgane der Pflanzen. Zwar betreiben auch die grünen Sprossachsen und andere mit dem generell verbreiteten Grünfarbstoff Chlorophyll ausgestattete Pflanzenteile (beispielsweise unreife Früchte) nach dem allgemein üblichen biochemischen Grundmuster eine effektive Fotosynthese, aber dieser elementare Prozess bleibt doch im Wesentlichen der eigentliche Hauptjob der Blätter.

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Einheitlich und doch grundverschieden Nach ihren äußeren Gestaltmerkmalen sind Blätter tatsächlich so unglaublich verschieden und vielfältig, dass (zumindest einigermaßen) geübte Beobachter danach sogar zuverlässig die Artzugehörigkeit bestimmen können. Selbst innerhalb naher Verwandtschaftsgruppen ist die zutreffend unterscheidende Artdiagnose kein Problem. Die Blätter eines Feld-Ahorns (Acer campestre) kann man – wenn man die Unterschiede kennt – mit denen eines Spitz-Ahorns (Acer platanoides) nun wirklich nicht verwechseln, und eine Stiel-Eiche (Quercus robur) ist von ihrer Verwandten Trauben-Eiche (Quercus petraea) anhand vieler gut erkennbarer Merkmale klar zu trennen. Die wesentlichen und als sichere Diagnosehilfe so wichtigen Unterschiede der vielen Laubblattformen schließen eigentlich nur ganz wenige Merkmalsgruppen ein: Sind die Blätter an der Sprossachse gegen- oder wechselständig, sind sie ungeteilt oder gar gefiedert, gibt es einen besonderen Blattschnitt mit Buchten, Lappen oder sonstigen Segmenten, oder sind die Blattränder besonders ausgestaltet – ganz glatt, vielleicht nur ein wenig gewellt, gezähnt oder etwas gesägt? Liegt eventuell eine besondere Behaarung der Blattoberoder -unterseite vor? Hinsichtlich ihrer unglaublich variantenreichen gestaltlichen Merkmale könnte man die geradezu unendlich vielen Blatttypen der Blütenpflanzen geradezu als deren artspezifisch typischen „Personalausweise“ bezeichnen. Diese enorme Vielfalt gilt es allerdings im täglichen Umfeld bewusster wahrzunehmen. Im Unterschied zu ihrer enormen äußeren gestaltlichen Vielfalt zeigen die Laubblätter (fast) aller höheren Blütenpflanzen hinsichtlich ihrer Gewebe einen überraschend einheitlichen Grundaufbau auf: Blattober- und -unterseite sind jeweils von einer oft ziemlich dickwandigen und deswegen nach außen abdichtenden sowie meist farblosen Epidermis umgeben. Die eigentlich produktiven grünen Blattgewebe bilden das Mesophyll – bestehend aus dem dichtzelligen, der Blattoberseite zugewandten Palisadenparenchym und dem deutlich lockeren sowie chlorophyllärmeren Schwammparenchym der Blattunterseite. Dieser fundamentale histologische Unterschied begründet übrigens, warum gewöhnliche Laubblätter von der Oberseite betrachtet eher dunkelgrün, aber in der Unterseitenansicht eben deutlich heller erscheinen. Dieser durchaus überschaubare Grundaufbau aus nur vier Gewebeschichten gilt übrigens – bei aller Verschiedenheit der äußeren Blattgestalt – für alle Laubblätter. Die äußerlich viel einfacher, weil einheitlicher erscheinenden Nadelblätter weisen dagegen überraschenderweise einen ungleich komplexeren Gewebeaufbau auf (Abschn. 2.13).

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Auch gewöhnliche Blätter zeigen – sicherlich nicht ganz unerwartet – mancherlei funktionale Angepasstheiten bzw. Spezialisierungen. Einige erstaunliche Beispiele werden Sie auf den folgenden Seiten kennenlernen.

2.1 Blatt und Blüte fest verpackt Manche wirklichen, aber kleinen Naturwunder sind so offensichtlich und dabei überall zu erleben, dass sich darüber niemand mehr wirklich erregen kann oder gar heftiger nachdenkt. Zu diesen bemerkenswerten Naturphänomenen in unserer heimischen Natur gehören die Winterknospen, in denen die Gehölze die für die nächste Wachstumssaison vorgesehene Blattgeneration und passenderweise oft auch den im Frühjahr an die nunmehr mildere Luft zu setzenden Blütenflor behüten (Abb. 2.1). Manche Mitmenschen (vor allem solche aus dem (groß)städtischen Umfeld) wundern sich tatsächlich darüber, wie es denn überhaupt möglich ist, dass sich die winterkahlen Gehölze spätestens im Mai wieder so zuverlässig in erfreulich frisches Grün kleiden – und dann alsbald auch noch blühen. Wenn man im städtischen Lebensraum zu Hause ist und damit weitgehend abgekoppelt von den üblichen saisonalen Naturerscheinungen lebt, wird man sich über den plötzlichen Frühlingsaufbruch sicherlich wundern. Aber: Entgegen einer

Abb. 2.1  Alles drin: Die gegenüber den Seitenknospen durch Apikaldominanz stark geförderte Endknospe der Rosskastanie birgt sogar schon die vorgefertigten Blütenstände

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weitverbreiteten Einschätzung entwickeln sich die Blatt- und Blütenknospen unserer Gehölze nicht erst im März oder April, denn sie sind tatsächlich schon im Spätsommer fertig sowie funktionsbereit – und sogar unübersehbar, denn man muss beim Spaziergang durch Feld und Flur nur einmal an der Basis des Sommerlaubes genauer nachschauen. In den Blattwinkeln ist spätestens dann die nächste Blattgeneration in der Ruheknospe entwickelt. Vielleicht kennen einige den schönen Brauch der Barbarazweige.  „Knospen an  Sankt Barbara, sind zum  Christfest Blüten da“, beteuert vehement eine alte bäuerliche bzw. bürgerliche Erfahrungsregel. Traditionell schneidet man tatsächlich am 4. Dezember, dem (katholischen) Namensfest der heiligen Barbara, ein paar Zweige bestimmter Gehölze, stellt sie in Wasser in die warme Wohnung und kann dann ziemlich sicher sein, ungefähr drei Wochen später an Weihnachten (25. Dezember) nicht nur auf einen grünen, sondern sogar auf einen heftig blühenden Zweig zu kommen. Mitten in den düsteren Wintertagen nehmen also die durch die Zimmerwärme sichtlich angetriebenen und dann auch tatsächlich blühenden Barbarazweige den nächsten (und jetzt in der winterlichen Dunkelheit schon ziemlich ersehnten) Frühling ein wenig vorweg. Je nach Region verwendet man für den eigenen Vorfrühling im weihnachtlichen Wohnzimmer alternativ die Zweige von Apfelbaum, Forsythien, Hasel, Kirschbaum, Pflaumenbaum, Rosskastanie (Abb. 2.2) oder Weißdorn. Die Sache funktioniert natürlich auch mit beliebigen anderen Gehölzarten, die hübsch anzusehende Blüten(stände) entwickeln, beispielsweise mit Kornelkirsche, diversen Weiden, Winter-Jasmin oder Zaubernuss (vgl. Kremer 2017). Es funktioniert ziemlich zuverlässig mit vielen Laubgehölzen – meist aber nur dann, wenn die Zweige zuvor schon einmal die eine oder andere Frostnacht erfahren haben, was normalerweise erst in den Winterwochen erfolgt. Dadurch wird nämlich der physiologisch sinnvolle Ruhezustand der Knospen (endonome Ruhe) gebrochen und in eine von außen – etwa durch Temperatur – auslösbare Aktionsbereitschaft (aitionome Ruhe) überführt. Meist hilft es, die am St.-Barbara-Tag geschnittenen Zweige für mindestens eine Nacht ins Tiefkühlfach zu legen. Probieren Sie es einfach mal aus. Konsequente Antwort auf das Winterklima Während der Herbstmonate verlagert sich der arktisch-subarktische Klimagürtel aus astronomischen Gründen gleich um mehrere Hundert Kilometer nach Süden – jedenfalls bislang, denn ob es dabei bleibt, erscheint angesichts des Klimawandels tatsächlich etwas ungewiss. Jedenfalls bewegen sich die Durchschnittstemperaturen zumindest gebiets- und höhenlagenweise

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Abb. 2.2  Das alles und noch viel mehr steckte in der kompakten Winterknospe aus Abb. 2.1

fast nur noch in der Nähe des Gefrierpunktes, und Wasser gibt es dann in Wald und Flur nur noch im festen Aggregatzustand. Für die mehrjährigen Pflanzen ist damit eine kritische Zeit angebrochen. Abgesehen davon, dass die meist dünnhäutigen Sommerblätter unter solchen Bedingungen völlig durchfrieren, können es sich die meisten Bäume und Sträucher einfach nicht leisten, auch im Winter eine üppige Belaubung zu tragen, die unentwegt größere Wassermengen umsetzt. Die einzige sinnvolle Antwort auf diese frostige Seite des winterlichen Wettergeschehens ist gleichzeitig auch eine ökologisch perfekte Lösung: In der kalten Jahreszeit werden die durch Frost besonders anfälligen und nicht weiter schützbaren Teile einfach abgestoßen (Abschn. 2.6). Kleinwüchsige Pflanzen ziehen sich auf Erneuerungsbereiche zurück, die tief am oder sogar im Boden ruhen. Im Extremfall kann dies ein keimfähiges Samenkorn sein – viele krautige Pflanzen sind sogar auf eine solche Kälteinduktion angewiesen, um im folgenden Frühjahr erfolgreich auskeimen zu können. Für die großen Holzgewächse wäre diese Strategie natürlich extrem unpraktisch und zudem unökonomisch, denn sie müssten ja jedesmal den gesamten Jahreszuwachs der zurückliegenden

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Saison aufgeben. Die laubwerfenden Bäume und Sträucher der Gehölzflora winterkahler Klimabereiche gehen daher mit einem anderen Sicherungsverfahren in die hinsichtlich der Temperaturgestaltung eher unfreundlichen Spätherbst- und Winterwochen: Ihre Erneuerungsteile, aus denen im kommenden Frühjahr wieder neue Blätter und Blüten sprießen sollen, bleiben in der kalten Jahreszeit einfach am Geäst. Allerdings werden sie an diesem Ruheplatz mit einer besonderen Verpackung geschützt. Diese kleinen Schnürpakete mit ihrem jahreszeitlich fein abgestimmten Entwicklungsprogramm sind die Winterknospen – in vieler Hinsicht von der Evolution einfach genial eingerichtet. Vielschichtig verhüllt Nehmen wir es gleich vorweg: Die durchweg lagenreiche und vielschichtige Knospenhülle leistet keinerlei direkten Temperaturschutz. Nach tagelangen winterlichen Tieftemperaturen ist es im Knospeninneren genauso kalt wie wenige Millimeterbruchteile weiter draußen an der freien Luft. Andererseits kann aus den Knospen auch keinerlei Atmungswärme verlorengehen, denn als ausgewiesene Ruheorgane haben sie ihren respiratorischen Stoffwechsel (fast) vollständig gedrosselt – mithin entsteht auch kein durch intensive Atmungsprozesse bedingter Wärmeabfall. Knospenhüllen sind entgegen einer landläufigen Einschätzung absolut kein wärmender Wintermantel, auch wenn sich dieser Vergleich angesichts der derben Knospenschuppen zunächst anbietet. Die eigentliche Aufgabe der Knospen besteht neben einem gewissen mechanischen Schutz, ihr Innenleben vor kritischem Wasseraustausch mit der Außenwelt zu bewahren. Die stark komprimierten, aber entwicklungsfähigen Gewebe im Inneren der Knospen, die sich im Frühjahr zu Blättern und Blüten(ständen) strecken, enthalten immer noch geringe Restwassermengen, die sie auf keinen Fall verlieren sollten. Einen totalen Wasserverlust ertragen die Zellen und Gewebe überhaupt nicht. Andererseits dürfen sie auch nicht zur Unzeit von außen mit Wasser befüllt werden. Wenn nach Schneefall und Dauerfrost eventuell eine etwas wärmebetontere Tauperiode einsetzt, rinnen gegebenenfalls richtige Sturzbäche durch das Geäst. Von diesem Wasser darf aber auf keinen Fall etwas in die winterlichen Ruheknospen eindringen. Daher schotten sich die Knospen nach außen wirksam ab. So sind viele an ihren Schuppenrändern mit Klebematerial versiegelt (durch eine Fingerprobe leicht nachprüfbar an der Rosskastanie) und vielfach auch noch mit wasserabweisenden Haaren besetzt. Dieser übel schmeckende Schutz hat noch eine andere Funktion – er bewahrt vor den

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gezielten Erntefeldzügen der Halsbandsittiche, die in vielen Städten entlang der Rheinschiene unterdessen stabile Populationen etabliert haben und sich winters gerne von Baumknospen ernähren. Übrigens: Formal gesehen entsprechen die Knospenschuppen umgestalteten Blattstielen und damit dem Unterblatt. Bei manchen Arten, so beim Spitz-Ahorn (Acer platanoides), kann man die Übergänge beim vorsichtigen Aufpräparieren einer großen Endknospe sehr schön erkennen. Das dicke Ende sitzt ganz oben Am unbelaubten Zweig lassen sich fast immer End- und Seitenknospen unterscheiden, die in Größe und Ausformung oft sehr unterschiedlich sind. Die Endknospe wird nämlich durch besondere hormonelle Regulationsmechanismen in ihrer Entwicklung auf Kosten der benachbarten Seitenknospen stark gefördert. Erst weiter unten am Zweig finden sich wieder Knospen von vergleichbarer Größe wie am Zweigende. Ihren sichtlichen Entwicklungsrückstand können die oberen Seitenknospen jedoch rasch aufholen, falls die große Endknospe verloren gehen sollte. Vielfach haben die Seitenknospen auch die Aufgabe von Reservisten, die fallweise sogar jahrelang auf ihr Entwicklungssignal warten können. Knospen sind erstaunlich vielgestaltig und typenreich – ja geradezu artspezifisch unterschiedlich, denn man kann an ihnen zuverlässig die betreffende Gehölzart bestimmen. Zur genaueren Knospenkennzeichnung verwendet man die Anzahl der äußeren Knospenschuppen oder ihre besondere Anordnung, dazu auch Größe, Farbe und Gestalt – eben ein Thema mit unglaublichen Variationen. Ein paar Beobachtungsanregungen mögen angebracht sein: Der enorme Größenunterschied zwischen der Endknospe und den unmittelbar benachbarten Seitenknospen zeigt besonders eindrucksvoll der auch als Park- und Straßenbaum verbreitete Berg-Ahorn. Buchstäblich aufschlussreich ist ein Längsschnitt durch die große Endknospe mit einer Rasierklinge – deutlich sind die dichten Packlagen der Blattorgane für den Frühjahrsaustrieb zu erkennen. Ähnlich ist es mit der im Siedlungsraum fast überall präsenten Rosskastanie. Ihre besonders große und aus guten Gründen ziemlich klebrige Endknospe beherbergt außer den Blattanlagen, in denen jetzt schon fast alle Gewebezellen entwickelt sind und die sich im Frühjahr unter heftiger Wasseraufnahme nur noch zu strecken haben, auch schon den gesamten unentwickelten Blütenstand (Abb. 2.1). Übrigens: Einige heimische Gehölze und auch die eine oder andere der aus Nordamerika bzw. Ostasien für Garten- oder Parkanlagen importierten

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Arten entwickeln eigenartigerweise gar keinen durch eine besondere Schuppenhülle geschützten Winterschutz, beispielhaft zu sehen beim Schwarzen Holunder. Schon mitten im Winter stehen die ersten Blattanlagen, die sich ohnehin schon recht frühzeitig bei den ersten wärmenden Sonnenstrahlen regen, wochenlang völlig unbemantelt im Freien. Das Thema Winterknospen unserer Gehölze ist vor allem in morphologischer Hinsicht bemerkenswert variantenreich. Nehmen Sie bei Ihren nächsten Winterspaziergängen durch Wald und Flur auf jeden Fall eine brauchbare Lupe und – für die genauere Inspektion des jeweiligen Innenlebens – zusätzlich ein hinreichend scharfes Messer mit. Auch die Zweigregion unterhalb der aktuellen Knospen bietet interessante Informationen, denn sie zeigt millimetergenau die Längenwachstumsgrenze des Vorjahres. Man erkennt sie an den dicht gedrängten Blattnarben der längst abgestoßenen Knospenschuppen.

2.2 Aufleben im Frühjahr So schön der Winter mit Schnee, Schlittenfahren und Skifahren für viele Winterfreudenbegeisterte auch sein mag – irgendwann hat man eventuell reichlich genug von Frost und Kälte, die auch lästig zugefrorene Autoscheiben sowie unliebsame Glätte auf Straßen und Wegen bescheren. Spätestens ab Mitte Februar sehnen sich die meisten Menschen eben wieder nach Sonne und Wärme, nach frischem Grün, bunten Blumen, zwitschernden Vögeln und gaukelnden Schmetterlingen. Manche halten es schon vorher nicht mehr aus und reisen bereits während der Weihnachtsferien in den warmen Süden. Wenn denn endlich die Märzsonne die ersten wärmenden Strahlen losschickt, ist der nahende Frühling deutlich zu spüren – spätestens dann, wenn die Eisdielen wieder öffnen oder die Cafés ihre Tische und Stühle vor die Tür stellen. Und die ersten überwinterten Tagfalter wie Zitronenfalter oder Tagpfauenauge sind dann im blühenden Garten auch zur Stelle. Die vollbringen übrigens eine erstaunliche physiologische Leistung: Stocksteif durchgefroren hängen sie irgendwo an versteckter Stelle im Geäst – nur geschützt durch besondere stabilisierende Stoffe in ihren Körperflüssigkeiten. Der Wechsel der Jahreszeiten erfolgt natürlich nicht streng nach dem Diktat des Kalenders, sondern abhängig vom jeweiligen Witterungsverlauf und von der Höhenlage des jeweiligen Beobachtungsortes. Daher legt man den Beginn der Jahreszeiten weitaus zutreffender mit bestimmten Natur-

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erscheinungen fest (Tab. 2.1). Der Fachbegriff „Phänologie“ meint die periodisch wiederkehrenden Lebensäußerungen von Pflanzen (und Tieren). Der Jahreszeitenbeginn verzögert sich auch entsprechend der geografischen Lage des jeweiligen Beobachtungsortes. Je 1° nördlicher Breite und 100 m Höhenzunahme kann man daher eine gewisse durchschnittliche Verspätung in Tagen angeben sowie ein tägliches südnördliches Fortschreiten des jeweiligen Jahreszeitenstarts in Kilometer/Tag. Weil der Frühling im Allgemeinen von Süden nach Norden durch Mitteleuropa zieht, braucht er etwa vier Tage, um einen Breitenkreis zu überwinden. Im Westen startet die Saison etwas früher als im Osten. Für die Überwindung von einem Längengrad (ca. 100 km) benötigt er ebenfalls rund vier Tage. Wenn er von den Tälern auf die Berge steigt, schafft er es je 100 m ebenfalls in vier Tagen. Für die einzelnen Jahreszeiten hat man aus der genauen Beobachtung die Werte in Tab. 2.2 abgeleitet. In der heimischen Natur regt sich das wieder erwachende Leben schon ab Spätwinter mit den ganz früh blühenden Gehölzen wie Hasel und Erle. Einige Straucharten werden eigens deswegen in Gärten angepflanzt, weil Tab. 2.1  Zur Einteilung der Jahreszeiten Jahreszeit

beginnt mit …

… und endet mit

Vorfrühling

Blüte von Hasel und Schneeglöckchen Laubentfaltung der Rot-Buche Apfelblüte Blüte von Schwarzem Holunder Roggenreife Reife der Rosskastanien Einsetzende Laubverfärbung Tagesdurchschnittstemperatur unter 0 °C

Laubaustrieb der Rosskastanie

Erstfrühling Vollfrühling Frühsommer Hochsommer Frühherbst Vollherbst Winter

Blüte der Rosskastanie Stäuben des Roggens Beginn der Roggenernte Fruchtabwurf der Rosskastanie Einsetzende Laubverfärbung Allgemeiner Laubfall Stäuben der Haselkätzchen

Daten aus Kremer (2017a)

Tab. 2.2  Daten zum (durchschnittlichen) Einzug der Jahreszeiten Jahreszeit

Breitenverzögerung (km je Tag)

Höhenverzögerung (Tage je 100 m)

Fortschreiten nach Osten und Süden (km je Tag)

Vorfrühling Erstfrühling Vollfrühling Frühsommer Hochsommer

1,5–2,6 3,4–4,2 3,0–3,6 ca. 3 5,2–5,9

2,9–3,4 ca. 4 3,1–4,7 3,4–4,2 4,3–5,6

76–74 33–26 37–27 ca. 37 27–20

Daten aus Kremer (2017a)

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sie schon außergewöhnlich früh blühen. Dazu gehören die Zaubernussarten, der Nacktblütige Jasmin, der Winter-Schneeball oder der seltsame Fastnachtsbaum. Alle winterruhenden Lebewesen benötigen klare Signale aus der Umwelt, um ihre aktive Lebenstätigkeit erneut aufzunehmen. Auf den folgenden Seiten schauen wir uns ihre verschiedenen Strategien mal ein wenig genauer an. Den Durchbruch schaffen Kaum wird es im Frühjahr ein wenig wärmer, ist es definitiv aus mit der Winterruhe der Knospen an Sträuchern und Bäumen. Sie setzen ihr monatelang wohl behütetes Innenleben in nur wenigen Tagen an die frische Luft (Abb. 2.3). Neben der eindrucksvollen Blühorgie der Frühlingsblumen am Laubwaldboden (oder in den Gärten) ist der Blattaustrieb der Gehölze im Frühjahr gewiss eine der auffälligsten Erscheinungen in der heimischen Pflanzenwelt. Innerhalb nur weniger Tage öffnen sich die Winterknospen und setzen das frischgrüne Laubwerk schrittweise an die Luft – wenn denn die Tagesdurchschnittstemperaturen stimmen. Jede Strauch- und Baumart zeigt dabei ihre besonderen Vorlieben. Deshalb ergrünen auch nicht alle Gehölze genau zum gleichen Zeitpunkt. Sogar innerhalb derselben Art gibt es Unterschiede, wie man etwa beim Vergleich der Straßen- und Parkbäume leicht feststellen kann. Die wirksamste Entwicklungshilfe leistet aber jetzt in jedem Fall die wärmende Frühlingssonne, während die sonst in die Entwicklung ein-

Abb. 2.3  Fast geschafft – nun müssen sich die Blattspreiten nur noch strecken

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greifende zunehmende Tageslänge für das Ende der winterlichen Knospenruhe eher unbedeutend ist. Jetzt schwellen die Knospen Die Öffnung der Gehölzknospen setzt eine Reihe hochgradig koordinierter Einzelabläufe voraus. Den Winter haben die Blattgewebe in der Knospe in einem weitgehend entwässerten Zustand überdauert. Wenn man eine noch geschlossene Knospe eines spät austreibenden Gehölzes öffnet (beispielsweise Rot-Buche oder Rosskastanie), fällt sofort die relative Trockenheit der noch unentfalteten Blattgebilde auf. Daher müssen sie zunächst von innen her wieder auf volle Wasserspannung gebracht werden. Bei den nunmehr temperaturbedingt höheren Atmungsraten in den lebenden Stamm- und Zweiggeweben entsteht wie bei allen atmenden Lebewesen gleichsam als Abfallstoff auch freies Wasser, und dieses setzt nun schrittweise die pflanzeneigenen Wasserleitungen wieder zunehmend unter Druck. Noch vor dem eigentlichen Blattaustrieb kann man bei Verletzung einer Strauch- oder Baumrinde diese Vorbereitung der bordeigenen Wasserleitungssysteme als Blutungssaft wahrnehmen. Im Frühjahr steigen eben, wie es die Umgangssprache so treffend ausdrückt, buchstäblich – und ganz besonders bei den strikt winterruhenden Gehölzen – die Säfte. Sobald die Wasserversorgung von innen wieder funktioniert, können sich auch die Knospen öffnen. Und die Hüllen fallen Aufbrechen wie eine Eierschale? Schauen wir doch bei Ahorn, Birke, Eiche oder Hainbuche etwas genauer nach. Auch ohne Lupe ist ohne Weiteres zu erkennen, dass sich vor allem die Basis der zuvor ausgesprochen derb ledrigen und ziemlich festen Knospenschuppen nunmehr stark auflockert und jetzt ziemlich weich bzw. geradezu biegsam wird. Die einzelnen Schuppenblätter fallen also beim Wiederergrünen unserer Gehölze nicht einfach ab wie eine in Einzelteile zerrupfte Verpackung. Vielmehr verlängern sie sich unter Wasseraufnahme zunächst einmal durch ein begrenztes Streckungswachstum ihrer Basis. Nach und nach weich geworden, scheren sie alsbald zur Seite aus und geben damit den Weg für die weiter innen liegenden startbereiten Knospenbestandteile frei. Erst jetzt, nach Wegfall der einzwängenden, steifen Knospenschuppen können sich auch die neuen Laubblätter durch Wasseraufnahme entfalten. Zellteilungen laufen beim Vergrößern und Glätten der Blattspreiten übrigens kaum noch ab – der gesamte im Frühjahr ablaufende Blattaustrieb umfasst im Wesentlichen keine Zellvermehrung mehr, sondern besteht fast nur noch aus

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Zellvergrößerung durch Aufpumpen mit Wasser. Sobald sich die neue Laubblattgeneration beträchtlich gestreckt und geglättet hat, sind die Knospenschuppen wirklich entbehrlich. Sie lösen sich jetzt gänzlich undramatisch ab und rieseln mengenweise zu Boden. Da Knospenschuppen umgewandelte Blattorgane sind, findet also vor unseren Augen bereits im Frühjahr der erste heftige Blattfall der Saison statt. Eventuell haben die hellgrünen, frisch an die Luft gesetzten Laubblätter einen echten Durchhänger und sehen noch ziemlich schlaff aus. Doch auch dieses Problem ist relativ rasch bewältigt. Weitere Wasseraufnahme und Gewebefestigung beheben die anfänglichen Haltungsschwächen. Bald schon sind die Blätter formschön ausgebreitet als freitragende Flächenbauwerke, die jeder Architekt bewundern müsste. Vielerlei Lösungen für Verpackungsprobleme Der bürgerliche Begriff Blatt„entfaltung“ bezeichnet zutreffend eine der vielen Möglichkeiten, wie sich die Blätter aus der wochenlangen Zwangslage ihrer Winterknospe befreien. Bei vielen Arten sind die noch unentfalteten Blätter während der Knospenruhe ziehharmonieartig gefaltet – eine Ausgangslage, die man fachmännisch als plikat bezeichnet. Bei Hainbuche oder Hasel bleiben die entsprechenden Knickstellen bzw. Bügelfalten aus der Knospenlage des späten Vorjahres fast den ganzen Sommer über erhalten. Bei Birke und Buche strecken sich die anfangs ebenfalls ziemlich geknickten Blattflächen dagegen zu fast perfekter Glätte. Bei den Ahornarten sind die Blätter in der Knospe dagegen nicht ziehharmonikaartig, sondern fächerförmig gefaltet, und auch das sieht man dem ausgetriebenen fertigen Blatt noch lange an. Bei anderen Gehölzen sind die Blätter in der Knospenlage aufgerollt. Bei vielen Gehölzen, darunter Eichen und Weiden, sind sie quer gerollt – die genauere Frühjahrsinspektion dieser Gattungen in der aktiven Entfaltungsphase ist in jedem Fall aufschlussreich. Längsrollung, wie man sie bei den jungen Farnwedeln (alle heimischen Arten zeigen diese Eigenart) sieht, kommen dagegen in unserer heimischen Gehölzflora nicht vor. In diesen Fällen findet also, wenn sich die neue Blattgeneration an den saisonalen Funktionsstart begibt, zunächst einmal tatsächlich eine richtige „Entwicklung“ statt. Blätter, die in der Knospe liegen wie ein heftig zerknülltes Taschentuch, kommen bei heimischen Gehölzen ebenfalls kaum vor. Solche Knospenlagen kennt man aber beispielsweise von den Kronblättern des Klatsch-Mohns. Fachmännisch bezeichnet man sie als korrugat.

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2.3 Nur eine stille Attacke Pflanzen sehen im Allgemeinen sehr duldsam aus, aber dennoch: Sie kämpfen durchaus mit vielen Mitteln. So sind viele Pflanzenarten geradezu handgreiflich wehrhaft. Wenn der Hemdärmel an der Brombeerranke hängen bleibt oder die Hand unvorsichtig in den Stechginster langt, fühlt sich der Mensch unangenehm berührt (Abschn. 2.12). Dem liegt ein durchaus bemerkenswerter Sachverhalt zugrunde: In jeder natürlichen Lebensgemeinschaft fällt den Pflanzen die etwas undankbare Aufgabe zu, der Vielzahl der tierischen Vegetarier schmackhaftes und dazu auch noch recht nahrhaftes Grünzeug liefern zu müssen. Die Natur drängte sie förmlich in diese opferfordernde Rolle, sich einen Großteil der mühsam gewonnenen Zuwachsleistungen und dazu auch noch die saftigsten Gewebe immer wieder wegknabbern zu lassen. Niemand stellt diese Grundtatsache ernsthaft infrage. Es gehört eben zur üblichen Überzeugung, dass pflanzliche Biomasse vielerlei hungrige Mäuler zu stopfen hat. Die weidenden Rinder oder die Pferde auf der Koppel sind vertraute Bilder. Nur scheinbar passiv So passiv Pflanzen vielleicht aussehen mögen, so flexibel und trickreich haben sie aber im Laufe der Evolution auf den vielfältigen Fraßdruck reagiert. Mit gezielten Gegenmaßnahmen versuchen sie, den gierigen Zudringlichkeiten der Pflanzenfresser entweder standzuhalten oder zumindest auszuweichen. Viele Pflanzenarten verbergen daher aus Gründen des Selbstschutzes lebenswichtige Einrichtungen wie Wachstums- oder Reserveorgane tief am oder sogar im Boden, um dem Weidedruck zu entgehen – die ständig nachwachsenden Rasengräser im eigenen Garten unterstreichen diese Erkenntnis. Andere setzen sich dagegen mit besonders eindringlichen Stacheln und Dornen oder ausgeprägter Hartlaubigkeit zur Wehr. Äußerst erfolgreich ist auch das Verfahren, den pflanzenfressenden Weidegängern mit besonderen Inhaltsstoffen den Geschmack zu verderben (Abb. 2.4) oder sogar Giftstoffe zu speichern, die eventuell den Lebensnerv des unvorsichtigen Konsumenten treffen. Ohne hochproduktive Pflanzen gäbe es ganz sicher kein tierisches (und menschliches) Leben, aber weit weniger banal und eigentlich sehr erstaunlich liest sich die Umkehrung dieser Einsicht: Viele, sehr viele höhere Pflanzen gäbe es bestimmt nicht in der uns heute vertrauten Gestalt, wenn sie sich nicht seit Urzeiten gegen Fraßdruck hätten zur Wehr setzen müssen. Pflanzenfresser halten unter den konsumfähigen Pflanzen zugegebenermaßen eine strenge Auslese, aber die

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Abb. 2.4  Scharfer Mauerpfeffer – hübsch anzusehen, aber ungenießbar, denn alle Teile schmecken extrem scharf

Pflanzen blieben durchaus nicht untätig oder wehrlos. Die ständige Verbesserung ihrer Verteidigungsmittel und die darauf reagierenden Pflanzenfresser könnte man durchaus als biologisches Wettrüsten beschreiben. Selektiv und effektiv Um es gleich vorwegzunehmen: Keine Pflanze ist so total ungenießbar, dass ihr nicht irgendein findiger Pflanzenfresser dennoch ans Zeug kann. Unverschämt spitze Dornen oder besonders peinliche Stachel leisten ebenso wenig eine absolut wirksame Rundumversicherung wie ledrige Zählaubigkeit oder gefährliche Gifte (Abb. 1.16). Wenn Pflanzen sich durch allseitige Bewehrung zu bestechend gut geschützten Festungen ausgestalten, wehren sie sehr erfolgreich die eher wahllos zubeißenden Wiederkäuer ab, nicht jedoch die im Blattgewebe minierende Insektenlarve, die ihr grünes Menü auch im vielspitzigen Dornendickicht erreicht und dort sogar besonders gefahrlos genießen kann. Anpassung durch besondere Schutzvorrichtungen bietet eben keine Rundumabwehr, sondern schränkt lediglich die drohenden Verluste ein. Sie schließt die Generalisten unter den Pflanzenfressern weitgehend aus, lässt aber den Spezialisten immer noch genügend Aktionsraum. Angriff und Abwehr sind demnach so ausbalanciert, dass alle Beteiligten überleben können. Ein wirksamerer Automatismus zur Aufteilung von Nahrungsressourcen ist kaum denkbar.

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Wenn Pflanzen sich nicht nur mit mechanischen Mitteln wie Stacheln oder zähen Lederblättern gegen unnötigen Wegfraß zur Wehr setzen, sondern dazu auch oder sogar ausschließlich bestimmte Inhaltsstoffe einsetzen, könnte man geradezu von chemischer Verteidigung sprechen. Besonderes Interesse haben dabei vor allem diejenigen Pflanzenstoffe gefunden, die uns selbst in irgendeiner Weise betreffen und die wir nach dem Grad ihrer Wirksamkeit – höchst subjektiv – in giftige oder weitgehend harmlose Natursubstanzen einteilen. Häufig ist das Zielorgan der pflanzlichen Abwehr die Haut, im Unterschied zur unmittelbar aktionsbereiten Brennnessel (Abschn. 2.12) aber meist nur dann, wenn bereits irgendwelche Pflanzenteile abgebrochen, abgerissen, zerquetscht oder zerdrückt wurden und ein intensiver Hautkontakt mit dem Stoffbestand des Pflanzengewebes zustande kommt. Bekannte Beispiele für ausgesprochen hautreizende Pflanzenstoffe sind die charakteristisch riechenden Senfölglykoside der Kreuzblütengewächse (Kohl- oder Rettichgeruch) oder der für uns völlig geruchlose Milchsaft der Wolfsmilchgewächse. Stoffe, die unsere Haut angreifen, erreichen natürlich auch die empfindlichen Schleimhäute im Verdauungstrakt pflanzenfressender Säugetiere und stellen somit sicher, dass etwa das Weidevieh die meisten Arten aus den benannten Verwandtschaftskreisen nach der ersten Geschmacksprobe meidet. Gleichzeitig zeigen aber gerade die Kreuzblüten- und die Wolfsmilchgewächse sehr eindrucksvoll, dass die familienspezifischen Inhaltsstoffe durchaus nicht alle Konsumenten vom Zubiss abhalten können. Die Senfölglykoside der Kreuzblütler sind beispielsweise für viele Weißlingarten das entscheidende stoffliche Signal, an dem sie die Futterpflanze ihrer Raupen erkennen und danach die Wahl für die Eiablage treffen. Auch das Weibchen des Wolfsmilchschwärmers lässt sich bei der Suche nach dem passenden Grünfutter für seine Nachkommenschaft vom familien- oder gattungstypischen Stoffspektrum entsprechender Pflanzen leiten. Längst nicht alle der vielen Zehntausend verschiedenen Pflanzeninhaltsstoffe sind so eingehend untersucht, dass man ihre ökologische Rolle ganz eindeutig umreißen kann. Es gibt pflanzliche Naturstoffe, die beim Menschen höchst eigenartige Wirkungen entfalten, ohne dass man bisher angeben kann, welche Rolle sie bei der Auseinandersetzung mit pflanzenfressenden Tieren übernehmen. Ein unterdessen sehr respektiertes Beispiel ist die Flüssigkeit in den Drüsenhaaren des Riesen-Bärenklaus, auch Herkulesstaude genannt (Heracleum mantegazzianum  ) – sie enthält Psoralene, die auf unserer Haut erst nach Sonneneinstrahlung zu entzündlichen Reaktionen mit lang anhaltenden Pigmentstörungen führen (Abb. 2.5). Auch in manchen Zitrusfrüchten, deren ätherischer Duftzauber

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Abb. 2.5  Herkulesstaude – eine imposante Staude, aber für unsere Haut ziemlich kritisch

in Parfümölen verwendet wird, sind die hochwirksamen Psoralene enthalten. Ausgiebiger Auftrag bestimmter Parfüms und ein anschließendes Sonnenbad können also ganz unerwartet mit enormen Hautreizungen enden. Möglicherweise übernehmen die Psoralene in der Natur eine bestimmte Rolle für die Ausgrenzung bestimmter Insekten und die gezielte Einladung anderer – Genaueres wissen wir leider noch nicht. Eigenartigerweise empfinden wir eine ganze Reihe von umgebungswirksamen Pflanzenstoffen als recht sympathisch und wertvoll, die so manches entschlossene Insekt jedoch wirksam in die Flucht schlagen. Dazu gehören beispielsweise die besonders würzigen Duftöle vieler Lippenblütengewächse. Es muss doch einfach auffallen, wenn an den meisten hochgeschätzten Aromaklassikern von der Minze über Lavendel, Oregano oder Thymian bis zum Ysop so gut wie nie Insektenlarven knabbern. Tiere mögen die schweren Duftwolken offenbar weniger. Die früher im Kleiderschrank aufgehängten Duftsträußchen oder ähnliche Kräuter-Potpourris sorgten

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demnach recht zuverlässig dafür, dass die Garderobe nicht die Motten kriegt. Auch hierin zeigen sich wiederum sehr unterschiedliche stoffliche Wirkungen bei unterschiedlichen Lebewesen. Viele pflanzliche Abwehrmechanismen richten sich gegen tierische Konsumenten, um unnötige oder allzu vorzeitige Verluste an die Nahrungsketten zu vermeiden. Sie sind entweder waffenstarrende, praktisch unangreifbare Festungen wie unsere beweidungsfesten Disteln und Dornsträucher oder gefährliche Giftküchen wie Bilsenkraut, Eisenhut, Fingerhut (Abb. 2.6) und Tollkirsche. Die pflanzliche Verteidigungschemie, deren Wirkung bei unvorsichtigem „Genuss“ von leichter Unverträglichkeit über fatale Folgen bis hin zum Totalausfall der Organfunktionen reicht, arbeitet mit einer nahezu unübersehbaren Fülle verschiedener Verbindungen, an deren genauer Kennzeichnung die Naturstoffchemiker mit Sicherheit noch viele Jahrzehnte zu tun haben. Vieles zu den Wirkweisen der betreffenden Stoffe ist noch weitgehend unverstanden – beispielsweise das Problem, warum Vögel die verlockend aussehenden Giftfrüchte von Faulbaum, Pfaffenhütchen oder Schneeball unbeschadet verzehren können, während sich Säugetiere

Abb. 2.6  Der Wollige Fingerhut ist eine recht toxische Art, aber zugleich eine wertvolle Arzneipflanze

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(einschließlich des Menschen) damit erhebliche gesundheitliche Schwierigkeiten einhandeln. Interessant ist in diesem Zusammenhang sicher auch, dass die spezifischen Abwehrstoffe mancher Tiere mit bestimmten Pflanzengiften chemisch nahezu identisch sind, wie die Beispiele Bufadienolide und Cardenolide zeigen. Die Hautgifte von Kröten oder Salamandern und die Wirkstoffe in einigen Vertretern der Hahnenfußgewächse wie Adonisröschen oder Nieswurz bzw. Schneerose (Abb. 2.7) sind chemisch nahezu identisch. Mitunter sind die tierischen Gifte tatsächlich von pflanzlicher Herkunft, etwa bei den passiv giftigen Schmetterlingsraupen, die unbeeindruckt Giftpflanzen beknabbern und die für sie unschädlichen Problemstoffe ihrer Blattdiät einfach speichern. Ein unterdessen detailliert untersuchtes Beispiel ist das Jakobs-Kreuzkraut (Senecio jacobaea) – an sich eine durchaus ansehnliche Zier der Kulturlandschaft, wenn es denn nicht in beträchtlichen Mengen Pyrrolizidinalkaloide produzieren würde. Diese liegen in der Pflanze meist in Form einer weitgehend ungiftigen Vorstufe vor und werden erst in der Leber eines tierischen Konsumenten durch Oxidasen in giftige Pyrrolverbindungen umgewandelt. Diese können Weidetieren wie Pferden und Rindern durchaus zum Verhängnis werden. Indessen leben auf dem hübschen Jakobs-Kreuzkraut die Raupen mehrerer Schmetterlingsarten, darunter diejenigen des Jakobskreuzkrautbären (Tyria jacobaeae). Diese Larvenstadien verfügen allerdings über ein besonderes Enzym, das die über die geraspelten Blätter aufgenommenen Pyrrolizidine in deren ungiftige N-Oxide umwandelt. Über das Puppen-

Abb. 2.7  Die Nieswurzarten – darunter auch die Schneerose – enthalten die gleichen herzwirksamen Gifte wie manche Amphibien

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stadium geben sie allerdings die gespeicherten Problemstoffe an die Imagines (Faltergeneration) weiter. In einem etwaigen Endkonsumenten können daraus allerdings wieder die toxischen Pyrrolverbindungen entstehen. Abwehr auf Abruf Nicht immer steht die chemische Verteidigungslinie der Pflanzen sogleich bereit. Die neuere Forschung hat Dutzende von Fällen aufgedeckt, in denen Pflanzen gezielt wirkende Abwehrstoffe erst dann aufbauen, wenn wirklich akute Gefahr besteht – zum Beispiel bei Infektionen mit Bakterien und Pilzen. Wenn ein Pflanzengewebe von diesen winzigen Krankheitserregern befallen wird, steuern die betreffenden Zellen ihren Stoffwechsel kurzfristig um und bilden verstärkt Stoffe mit ausgeprägt antimikrobiellen Eigenschaften, welche die unerwünschten Invasoren hemmen oder sogar völlig ausschalten. Phytoalexine nennt man diese interessanten Stoffe, von denen bisher 60 verschiedene in der chemischen Struktur genau bekannt sind. Zum ersten Mal hat man sie aus Erbsen, Kartoffeln und anderen Kulturpflanzen isoliert. Vom Ablauf her ist die Phytoalexinwirkung in etwa der Immunantwort unseres Körpers vergleichbar. Einen ständigen Vorrat an antibiotisch wirkenden Schutzstoffen weisen vor allem Samen, Früchte und unterirdische Reserveorgane auf. Während diese Pflanzenteile im Boden ruhen und auf ihren Einsatz in der nächsten Vegetationsperiode warten, dürfen sie von ihrer Umgebung nicht einfach (wie Totholz oder Falllaub) als Bestandsabfall behandelt werden, sondern müssen sich entsprechend gegen mögliche Attacken der Bakterien und Pilze wappnen. Dornige Derbheit oder stachelige Widerspenstigkeit sind sichtbare und unmittelbar spürbare Abwehrmittel der Pflanzen gegen schädigende Zudringlichkeiten. Sehr viel ausgeklügelter und variantenreicher agieren die Pflanzen auf der molekularen Ebene untereinander. Auch davon nehmen wir nur den kleineren Ausschnitt einer umfänglichen Palette wahr, den unser Geschmacks- und Geruchssinn als pflanzliche Reizstoffe vermeldet. Allelopathie: Liebe deine Nächste nicht Pflanzen wehren sich nicht nur gegen Bakterien, Pilze oder hungrige Tiere. Sie tragen auch untereinander heftige Konkurrenzen aus. Manche wachsen rascher als andere und stellen die Mitbewerber des gemeinsamen Lebensraumes buchstäblich in den Schatten. Dominanz hat oft auch noch andere Gründe. Viele Pflanzenarten gehen sogar mit besonderen Kampfstoffen gegeneinander vor. Sie scheiden über die Wurzeln oder das Blattwerk

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spezielle Substanzen aus, die andere in der Entwicklung stark unterdrücken und gegebenenfalls nicht einmal über das Keimlingsstadium hinaus wachsen lassen. Diese Unduldsamkeit gegenüber anderen Arten desselben Standorts nennen die Ökologen Allelopathie. Entdeckt hat man diese Erscheinung in Beständen von Nussbäumen und Pappeln, unter denen der Boden von krautigem Aufwuchs weitgehend frei bleibt, obwohl genügend Licht und Nährstoffe vorhanden sind. Auch Platanen setzen sich mit chemischen Mitteln gegenüber Kräutern durch. In der Nähe von Ahornarten zeigen die sonst so erfolgreichen Birkenkeimlinge sichtlich Hemmungen. Die Effekte sind auch in der Naturlandschaft so verbreitet und wirksam, dass man daraus bestimmte Vegetationsmuster ableiten kann. Sie spielen selbstverständlich auch im Gartenbau oder in der Landwirtschaft eine besondere Rolle. Erfahrene Gärtner wissen, dass es im Gemüse- und Kräuterbeet gute und schlechte Nachbarschaften gibt. Nicht alle Kulturpflanzen eignen sich für einen beliebigen Mischanbau. Wenn die Zwiebeln neben den Stangenbohnen stehen oder der Salbei bei den Gurken wächst, gibt es allelopathisch bedingten Minderertrag oder Ernteausfall. An der Universität Bonn durchgeführte Forschungen galten der Frage, inwieweit man gepulverte Queckenwurzeln, die verschiedene allelopathisch wirksame Substanzen aufweisen, eventuell für die gezielte Unkrautkontrolle einsetzen kann. Praxisreife haben solche Präparate nach bisheriger Kenntnis aber noch nicht erlangt.

2.4 Abkehr von der Sommersonne Sommerliche Hitze mit Tageshöchstwerten deutlich jenseits von 30 °C schätzen die meisten Mitmenschen höchstens für zwei oder allenfalls drei Tage – dann wird der Temperaturstress allmählich unerträglich. Wenn die hochsommerliche Hitzewelle dann auch noch mit lang andauernden Niederschlagsdefiziten einhergeht und sich somit als Trockenperiode inszeniert, was fast der Normalfall ist, führen die erst wenige Wochen zuvor so herbeigesehnten Sommertage für alle Beteiligten tatsächlich klar an die Belastungsgrenzen. Tieren und Pflanzen ergeht es übrigens genauso. Wenn die Singvögel vergleichsweise lustlos im Geäst der Garten- oder Parkgehölze sitzen und den Schnabel ohne jede Lautäußerung weit öffnen, haben sie erkennbar ein Problem mit den Außenbedingungen. Jetzt müsste man ihnen dringend eine zuverlässig wassergefüllte Vogeltränke anbieten (vgl. Kremer und Richarz 2020), die sie erfahrungsgemäß sehr gerne annehmen.

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Pflanzen unter Wasserstress Auch Pflanzen geraten unter solchen Bedingungen erkennbar enorm unter Stress. Gleichgültig ob Kraut oder Gehölz – sie alle sind auf kontinuierlichen Wassernachschub aus dem Boden angewiesen. Wenn aber unter den sommerlichen Bedingungen bzw. infolge längerer Niederschlagsdefizite der Grundwasserspiegel in Tiefen abgesunken ist, die für die Pflanzenwurzeln nicht mehr erreichbar sind, wird es schwierig. Im Vorteil sind jetzt nur noch solche Arten, welche die Pflanzengürtel an den Binnengewässern aufbauen bzw. die Bachufervegetation zusammensetzen. Andere können aufgrund morphologischer Angepasstheit auch Trockenphasen recht gut überstehen. Dazu gehören beispielsweise die heimischen Fetthennenarten (Sedum spp.) mit ihren sukkulenten Blättern. Sie weisen relativ kleine, aber dicklich aufgedunsene Blätter auf, die bei geringer Gesamtoberfläche über viel Speichervermögen für Wasser aus besseren Zeiten verfügen (Abb. 2.9). Hinzu kommt, dass sie mit ihren auffallend kleinflächigen Blättern erkennbar keinen allzu verschwenderischen Wasserumsatz praktizieren. Um sie ist es also unter den oben benannten Bedingungen insgesamt recht gut bestellt. Sie zeigen übrigens die gleiche Strategie wie die meisten (und gar nicht so

Abb. 2.8  Der Kompass-Lattich stellt seine Blätter senkrecht zur mittäglichen Sonneneinstrahlung

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wenigen) Pflanzenarten, die auch Halbwüsten oder gar Wüsten mit ihrem notorischen Trockenklima erfolgreich besiedeln. Die Sonne überlisten Wenn man der strahlungsvermittelten Hitze eines heftigen Sommertages entgehen möchte, sucht man konsequent schattige Bereiche auf. Tiere handhaben das übrigens genauso. Pferde und Rinder stehen dann auf ihrer Weide zur Mittagszeit im Schattenbereich der (hoffentlich) vorhandenen Bäume oder Gehölzsäume. Für die ortsfest verwurzelten Pflanzen ist das natürlich keine Option, aber einige Arten haben dennoch eine bemerkenswerte Lösung gefunden: Dazu gehört der auf Ruderalstandorten ziemlich häufige Kompass-Lattich (Lactuca serriola), der übrigens als Stammpflanze unseres grünen Kopfsalats (Lactuca sativa) gilt. Nach seiner Hauptverbreitung ist dieser Lattich eine typisch südeuropäisch-westasiatische Steppenpflanze. Als Kulturfolger seit der Jungsteinzeit (Archäophyt) hat er aber unterdessen auch städtische Biotope erobert (Abb. 2.8). Diese Pflanze hat nun die bemerkenswerte Eigenart entwickelt, ihre Blattspreiten senkrecht und damit parallel zur mittäglichen Sonneneinstrahlung auszurichten. Zudem sind die Schmalseiten der Blattspreiten dabei überwiegend in Nordsüdrichtung orientiert, woraus man den zutreffenden Artnamen abgeleitet hat. Bei dieser interessanten Blattpositionierung geht die potenziell belastende Sonnenstrahlung zumindest in den besonders stressigen Mittagsstunden als Streiflicht an den Blättern einfach vorbei. Für

Abb. 2.9  Die Rotfärbung der dicklichen Blätter der Weißen Fetthenne ist am intensiv besonnten Wuchsplatz reine Strahlungsprävention

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ihren Fotosynthesebetrieb können sie aber dennoch eine genügend große Anzahl von Photonen einfangen. Patenrezept Oberflächenumkehr Bäume – vor allem solche im Siedlungsmilieu – leiden unter dem mehrtägigen und gegebenenfalls wiederholten sommerlichen Temperatur- und Trockenstress in besonderem Maße, wie man am vorzeitigen Blattabwurf ablesen kann. Zeitweilig wird hier schon der herbstliche Laubfall ein wenig vorweggenommen – die Bäume entledigen sich in Teilen ihrer wasserverbrauchenden Blattmasse. Zumindest eine unter den im Siedlungsraum häufig verwendeten Baumarten verfährt da ganz anders: Die als Park- und Straßenbegleitgrün gerne angepflanzte Silber-Linde (Tilia tomentosa) ist eigentlich eine südosteuropäische Art, fühlt sich aber auch in unserem Klima recht wohl. Ihren Namen erhielt sie wegen der dicht silbrigen bis weißfilzigen Behaarung ihrer Blattunterseite. Wegen dieses Merkmals wird sie kaum von Blattläusen befallen, die bei anderen Parkplatz- bzw. Straßenbäumen immer die Unterseiten der Blätter aufsuchen, weil sie hier am leichtesten an die sonst reichlich zuckerliefernden Phloemstränge der Blattleitbündel gelangen. Bei den dicht behaarten Blättern der Silber-Linden ist der Zugang zu den Leitbündeln erkennbar erschwert, und so finden sich hier so gut wie keine Blattläuse, die ihren überschüssig aufgenommenen Zuckersaft aus dem Phloem verspritzen. Hilfreicher Tipp: Parken Sie im Sommer möglichst im Schatten einer Silber-Linde – und die Frontscheibe ihres Autos wird nicht kandiert wie unter anderen Bäumen … Wie reagiert nun die Silber-Linde auf sommerlichen Strahlungsdruck? An der Außenseite ihrer Kronen dreht sie die Unterseite ihrer Blätter einfach dem Sonnenlicht zu. Die dicht silbrige Behaarung reflektiert die auftreffende Strahlung mit bemerkenswerter Effizienz und bewahrt den Baum an seinem eventuell ohnehin problematischen städtischen Straßenstandort vor unnötigem Wasserstress. An heißen Sommertagen sehen die vertrauten Silber-Linden somit noch ein wenig heller aus als gewöhnlich. Übrigens: Lange Zeit hatte man gerade die schmucke Silber-Linde in dem argen Verdacht, giftigen Nektar bzw. Pollen zu produzieren, weil man unter diesen relativ spät blühenden Bäumen regelmäßig tote oder sterbende Hummeln findet. Silber-Linden sind aber nach neueren Forschungsergebnissen für unsere Wildbienen völlig ungefährlich. Das Problem ist vielmehr, dass die Menge der Nektarproduktion für die zahlreich anfliegenden Besucher (gerade im städtischen Raum) einfach nicht ausreicht. Die

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Konsequenz daraus kann nur lauten, auch in größeren städtischen Parkanlagen mehr spät blühende Gehölze oder Stauden anzupflanzen.

2.5 Manche tragen Sonnenbrillen Dieser besondere Effekt ist Ihnen bei Streifzügen durch Feld und Flur bestimmt schon einmal aufgefallen: Bei vielen Pflanzen sind die an den jüngsten Trieben erscheinenden und gerade frisch entfalteten Blätter ebenso wie die jüngsten Sprossachsenabschnitte partout nicht so bleichgrün ausgefärbt, wie man es eigentlich erwartet. Vielmehr überraschen solche Pflanzenteile mit einer bemerkenswert intensiven Rotfärbung – beinahe so wie im Herbst, obwohl wir uns gerade erst im Frühsommer befinden. Das lässt die Vermutung aufkommen, dass gerade die jungen und frisch entwickelten Pflanzenteile eigenartigerweise noch recht lichtsensibel sind und gegen mögliche Strahlenschäden eben rechtzeitig Vorsorge treffen. Erstaunlicherweise ist das allüberall in der warmen Jahreszeit bei sämtlichen sprießenden Pflanzen das Erscheinungsbild dominierende Blattgrün (Chlorophyll), der geradezu universelle Hauptfarbstoff aller grünen Pflanzenteile, überhaupt nicht lichtecht: Lösen Sie die grünen Pigmente (es sind bei den Landpflanzen zwei verschiedene Chlorophylle mit den Bezeichnungen a und b) aus einem zerriebenen Blatt mithilfe von Ethanol, Aceton oder (notfalls Nagellackentferner, zumeist das ziemlich übelriechende Ethylmethylketon) heraus und geben den Extrakt auf ein Löschpapier, verblasst der anfangs frischgrüne Farbauftrag im intensiven sommerlichen Mittagslicht in kurzer Zeit zu unansehnlichem Braungrau. Im lebenden Blatt muss also offenbar ständig eine beträchtliche Nachlieferung durch Neusynthesen ablaufen, und das ist auch so. Sichtbares Rot vs. unsichtbares Ultraviolett Gewöhnlich gehören die kräftig roten Farbstoffe in Blättern und Stängeln zur bedeutenden Stoffklasse der Anthozyane. Sie kommen auch farbbestimmend in vielen Blüten und Früchten vor. In der Tat schützen sie erstaunlich wirksam die in vollem Licht stehenden neuen Organe der Pflanzen oder auch die Blätter von ökologisch spezialisierten Pflanzenarten an bestimmten Extremstandorten – beispielsweise an voll besonnten Weinbergmauern oder vergleichbaren Felsen, aber auch in (aufgelassenen) Steinbrüchen. Hier sind beispielsweise die Blätter vor allem der Weißen Fetthenne (Sedum album) (Abb. 2.9) oder des an solchen Wuchsplätzen

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Abb. 2.10  Nur der Ruprecht-Storchschnabel hat mit Schutzpigmenten Vorsorge getroffen, der Huflattich nicht

häufig vorkommenden Ruprecht-Storchschnabels (Geranium robertianum) (Abb. 2.10) praktisch während des ganzen Sommers intensiv purpurrot. Die in den Zellvakuolen eingelagerten Schutzpigmente verschlucken das energiereiche, daher biologisch wirksame und folglich gerade im Sommer in gefährlicher Überdosis einwirkende UV-Licht, solange in den Blattzellen noch kein ausreichender Selbstschutz durch größere und ständig erneuerte Chlorophyllmengen vorliegt. Dieser tolle Sonnenschutz wäre zweifellos ziemlich wirksam, aber in der Kosmetikbranche vermutlich nicht durchsetzbar: Kräftiges Einreiben beispielsweise mit Rotwein würde die Damenwelt in (möglicherweise immer noch beeindruckende) Rothäute verwandeln, und diese spezifische Perspektive ist zugegebenermaßen kompliziert. Alternative Erfolgsrezepte Effektiven Sonnenstrahlenschutz beobachtet man – so übrigens vielleicht nicht unbedingt erwartet – sogar bei den mikroskopisch kleinen Algen, die im Sommer die hochalpinen Firnfelder überziehen. Wenn sie, was gar nicht so selten vorkommt, sommerliche Massenentfaltungen inszenieren, verfärben sie sogar ihren gesamten Lebensraum, was zu kennzeichnenden Begriffsbildungen wie Blutschnee oder gar Rosteis führte. Obwohl die meisten hier beteiligten Arten zu den Grünalgen im weitesten Sinne gehören, sind sie durch Karotinoide kräftig rötlich gefärbt. Diese segensreiche Farbstoffgruppe erhielt ihre fachliche Sammelbezeichnung von der

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kommunen Möhre (Daucus carota). Das meist verwendete Basismolekül ist dabei bezeichnenderweise überwiegend Astaxanthin und damit exakt das gleiche Pigment, das auch den frisch servierten Hummer so ungesund rot umgefärbt hat, obwohl er in seinem Lebensraum und – natürlich hochvital – eher stahlblau aussieht. So wie die sicherlich segensreichen Karotinoide als Lichtschutzfaktoren ein wichtiger Bestandteil vieler Kosmetika zur Verhinderung von Sonnenbrand sind, wirken sie auch in den Pflanzenzellen als effektive Lichtfilter und beugen gleichsam als intrazelluläre Sonnenbrille im rigorosen sommerlichen Lichtklima den sonst drohenden Strahlenschäden vor. Schon gewusst? Die meisten technisch gewonnenen und kosmetisch eingesetzten Karotinoide stammen aus der heimischen Brennnessel.

2.6 Finale Farborgie Gelegentlich ist der September noch ein wenig widersprüchlich, denn oft erfreuen am Monatsanfang durchweg noch (spät)sommerliche Temperaturen, aber im Lauf der nächsten Tage kann es auf der Thermometerskala schon deutlich unfreundlicher zugehen. Vom herannahenden Herbst oder gar vom astronomischen Herbstbeginn am 23. des Monats ist in der Pflanzenwelt zunächst noch nicht viel zu sehen. Der Wald zeigt sich vorerst noch im kräftigen Grün des Hochsommers, und nur die bereits seit längerer Zeit abgeräumten Felder in der Agrarflur erinnern an die bereits deutlich fortgeschrittene Vegetationsperiode. Viele Feldfrüchte, darunter die meisten bei uns angebauten Getreidearten, sind in ihrem Entwicklungsablauf so programmiert, dass sie spätestens zu Beginn des Monats und meist schon viel früher eingefahren werden können. Eventuell werden jetzt nach Umpflügen und Neuvorbereitung der Äcker auch schon die Wintersaaten ausgebracht, denn die benötigen zum erfolgreichen Blühen und Fruchten in der Folgesaison den Kältereiz der Winterwochen – Vernalisation nennt man diese wichtige und von außen gesteuerte Umstimmung. Der Beginn des Frühherbstes lässt sich recht gut mit dem Reifezeitpunkt der Rosskastanien festlegen. Zumindest in den tieferen Lagen öffnen sich die stacheligen Kapseln der Rosskastanienfrüchte schon um die Monatsmitte und setzen ihr rotbraun glänzendes Innenleben frei – das sind übrigens die mit Abstand größten Samen, die man bei einer europäischen Pflanzenart erleben kann (Abschn. 3.19). Eine besonders interessante Zeigerpflanze für den Frühherbst ist auch die eigenartige Herbst-Zeitlose. Sie ist ebenfalls ein bemerkenswerter Rekordhalter: Sie weist die weitaus größten Blüten aller

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heimischen Pflanzen auf. Von den Spitzen der Blütenblätter bis zum Fruchtknoten tief unten im Boden sind es locker 25 cm (Abschn. 3.13). Aufmerksame Beobachter sehen jetzt auch deutliche Veränderungen in der Vogelwelt. Die Mauersegler, die auch mitten in der Großstadt brüten, sind schon seit Anfang August als Erste weit weg. In Gegenden, in denen noch oder schon wieder Weißstörche vorkommen, haben auch diese stattlichen Gestalten längst das Weite gesucht. Und heftigen Vogelgesang hat man jetzt eigentlich auch schon lange nicht mehr vernommen. Der Herbst ist also eine Zeit des gründlichen Umbruchs und Wandels, denn die Natur muss sich jetzt auf den bevorstehenden und eventuell ganz schön knackigen Winter einstellen, der eine angepasste Vegetationsruhe einfordert. Die herbstlichen Sommertemperaturen täuschen zwar noch über die unerbittlich kommenden Witterungsveränderungen der folgenden Wochen und Monate hinweg, aber angesichts der zu erwartenden Bedingungen muss folglich ein anderer und vor allem unabhängiger Signalgeber die jetzt notwendigen Vorbereitungen einleiten. Absolut zuverlässig und mit der Präzision eines Uhrwerks wirkt die abnehmende Tageslänge. Der 23. September ist der Termin der Tagundnachtgleiche, von den Astronomen Herbstäquinoktium genannt. An diesem Tag ist es noch genauso lange hell wie anschließend schon dunkel. Die Sonne, die sich längst auf ihrem (scheinbaren) Weg zum südlichen Wendekreis befindet, steht an diesem Termin zur Mittagszeit am Äquator im Zenit. Bereits am folgenden Tag ist die Nacht um ein paar Minuten länger, und so setzen sich die Kurztagbedingungen bis zum Winterbeginn am 21. Dezember fort. Aber dann geht es zumindest lichtmäßig wieder aufwärts. Bunter Abfall: Von Laubfall und Falllaub Zu Beginn und erst recht gegen Ende der Vegetationsperiode inszeniert ein Großteil der heimischen Gehölzflora ein erstaunliches und immenses Farbspektakel: Der Laubaustrieb im Frühjahr beendet mit seinen lebhaften Grünnuancen die winterliche Graubraun-Monochromie und erfreuen mit mancherlei abwechslungsreichen Farbtönen – die Gehölze im Stadtpark oder Stadtwald sind tatsächlich nicht nur einfach langweilig grün, sondern zeigen wunderschön abgestuft Nuancierungen. Aber: Zum Auftakt des definitiven Saisonendes erwartet uns vor dem eher tristen herbstlichen Blattfall in allen heimischen Bioregionen eine geradezu unglaubliche Inszenierung: Die sommergrünen Sträucher und Bäume stellen jetzt ihr Erscheinungsbild innerhalb weniger Tage vielstufig bunt mit einer beachtlichen Farb-

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Abb. 2.11  Mehr geht eigentlich nicht – Spitz-Ahorn in der vollen Umfärbung

palette zwischen verhaltenem Käsegelb und flammendem Karminrot um. Gegenüber dem Laubaustrieb im Frühjahr ist das zweifellos ein viel auffälligeres Event. Die heimischen Gehölzarten mischen in dieser Hinsicht kräftig mit – das intensive Goldgelb der Rot-Buchen (Fagus silvatica) oder der satte Rotton mancher Exemplare des Spitz-Ahorns (Acer platanoides) (Abb. 2.11) bietet auch in mitteleuropäischen Gefilden einen deutlichen Anklang an den berühmten Indian Summer im atlantischen Nordamerika. Noch auffälliger präsentieren sich allerdings die in Gärten bzw. Parkanlagen gerne angepflanzten Gehölzarten aus Nordamerika oder Ostasien, beispielsweise Rot-Eiche (Quercus rubra), Essigbaum (Rhus typhina), Amberbaum (Liquidambar styraciflua) oder der formenreiche Fächer-Ahorn (Acer palmatum ). Aber auch die heimischen Gehölze wie der Rote Hartriegel (Cornus sanguinea) bieten interessante Farbspektakel (Abb. 2.12).

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Abb. 2.12  Das herbstliche Umfärbeereignis ist eine klassische konzertierte Aktion – die Blätter bauen ihren Pigmentbestand schrittweise um

Die wahren Hintergründe Diese enorme und durchweg ansehnliche Farbigkeit ist sicher nicht eine beliebige oder nur einfach nette dekorative Beigabe der Herbstwochen. Die zeitliche Koppelung der herbstlichen Laubfärbung mit dem planmäßigen Blattabwurf lässt die heftigen Umfärbeereignisse in einem anderen Licht erscheinen – nämlich physiologisch in direktem Zusammenhang mit dem jetzt abflauenden Stoffwechsel der alternden und dann auszurangierenden saisonalen Blattmasse. Diese sind bei den laubwerfenden Gehölzen eben typische Saison- bzw. Einwegartikel. Wichtigster Auslöser dieser Ereignisse, die der gezielten Vorbereitung der Gehölze auf die jahreszeitlich vordiktierte Winterruhe dienen, ist die schrittweise abnehmende Tageslänge. Die für das Licht sensiblen Pflanzenteile geraten im Laufe des Septembers zunehmend unter Kurztagbedingungen: Die Tage werden merklich kürzer – die Tageslänge verringert sich im Laufe des Monats um rund 1,5 h. Entsprechend geht die Mittagshöhe der Sonne im Verlauf des Monats von 48° auf höchstens 37° zurück. Bei Laubbäumen, die künstlich unter einem Langtagregime bleiben, wie einzelne Kronenteile von Straßenbäumen im direkten Lichtkegel der Straßenbeleuchtung, bleibt das entscheidende Schaltereignis dagegen aus: Solche Blätter sind – sofern noch keine strengen Nachtfröste eintreten – auch noch bis weit in den Dezember grün und sogar fotosynthetisch aktiv.

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Stoffe auf Abruf Vor der endgültigen Verabschiedung ihrer sommergrünen Blätter leiten die Gehölze ein beachtliches und umfangreiches Materialrecycling ein. Sie exportieren dabei einen großen Teil an solchen Stoffen, die Stickstoff und/ oder Phosphor enthalten. Auffälliges äußeres Zeichen dieser planmäßigen Rückrufaktion ist der innerhalb weniger Tage stattfindende Abbau des Blattgrünstoffs Chlorophyll, während die in den Chloroplasten ebenfalls vorhandenen gelben Karotinoide vorerst noch verbleiben. Sie stellen jetzt vielfach ganz allein den Farbstoffvorrat und das Erscheinungsbild der Belaubung. Das Ergebnis sind dann warmtonig gelb verfärbte Wälder. Die genauere Logistik der Stoffverlagerung im Blatt kann man bei näherer Betrachtung einzelner Blätter fallweise ziemlich genau verfolgen: Zunächst verfärben sich die Randbereiche in den üblichen Herbsttönen, während die Säume entlang der Blattnerven zunächst noch grün bleiben. Fast täglich sind hier allerdings Veränderungen zu registrieren. Bei manchen Gehölzarten findet eigenartigerweise überhaupt keine herbstliche Umfärbung statt, beispielsweise bei Erlen. Sie haben nämlich eine gut funktionierende Wurzelsymbiose mit Bakterien, die recht effizient Luftstickstoff (N2) binden, und sind daher offenbar so üppig und konstant mit reduzierten Stickstoffverbindungen versorgt, dass sie keine weiteren Sparmaßnahmen benötigen. Auch beim Holunder, der gerne auf überdüngten und stickstoffreichen Stellen wächst und hinsichtlich seiner Stickstoffversorgung ähnlich dasteht, fallen die Blätter immer (bleich)grün ab. Gelbe und rote Karten Das Abzugmanöver der grünen Blattfarbstoffe erklärt aber nur einen Teil des herbstlichen Erscheinungsbildes unserer Gehölze: Das prächtige Sattgelb etwa von Spitz-Ahorn, Rot-Buche oder Schwarz-Pappel geht nämlich auf deutlich höhere Mengen an Karotinoiden zurück, als zuvor im sommerlich grünen Blatt vorhanden waren. So ist die Umfärbung zumindest anteilig auch noch eine Ausfärbung mit ergänzender Neusynthese (Abb. 2.13). Schattengehölze, die in ihrer stofflichen Gesamtbilanz ohnehin weniger begütert erscheinen, bauen auch die Kohlenwasserstoffskelette der Karotinoide ab und sehen im Herbstaspekt daher gewöhnlich besonders blass aus. Fallweise und oft artspezifisch verfärbt sich das Herbstlaub auch intensiv rot. Dabei beladen sich die Blattzellen zusätzlich mit völlig anderen, nämlich kräftig rötlichen Farbstoffen (Anthozyanen), die sonst eher in Blüten und Früchten vorkommen. Deren Kombination mit den gelblichen Karotinoiden ergibt besonders leuchtende Farbstellungen zwischen Orange-

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Abb. 2.13  Manche sind recht früh dran, andere folgen später

und Flammenrot. Bemerkenswert ist allerdings, dass vor allem die aus Nordamerika stammenden Garten- und Parkgehölze, darunter beispielsweise Amberbaum (Liquidambar styraciflua), Essigbaum (Rhus typhina), Rot-Eiche (Quercus rubra), Felsenbirne (Amelanchier canadensis) oder Jungfernrebe (Parthenocissus spp.) besonders heftige Farbstellungen zuwege bringen – nicht umsonst ist der Begriff „Indian Summer“, erlebbar u. a. in den Laubwäldern der Neuenglandstaaten der USA, längst auch ein ferntouristisch wirksames Locksignal. Allerdings: Manche heimischen Arten wie der Spitzund der Berg-Ahorn überzeugen durchaus mit wunderschönen Herbstfarben – insbesondere an ihren Wuchsplätzen im Gebirge, denn erwiesenermaßen greift auch das standörtliche Temperaturregime in die farbliche Ausgestaltung der stofflichen Rückrufaktionen ein. Nun ist bald Zapfenstreich Als wasserbedürftige Organismen weisen alle Landpflanzen notwendigerweise einen ausgeglichenen Wasserhaushalt auf. Weil der Grundsatz „Einmal vertrocknet, immer vertrocknet“ gilt, ist es für sie eine Überlebensfrage, Wasserzufuhr und Wasserabgabe möglichst im Gleichgewicht zu halten. Im Winter ist die geregelte Wasserversorgung wegen des normalerweise zu erwartenden Bodenfrostes nicht gesichert. Deshalb müssen die Laubbäume ihre Blätter als Transpirationsflächen und Wasserverbrauchsstellen unbedingt loswerden. Außerdem müssen sie die Abtrennstellen der Blattstiele so abdichten und verheilen, dass nach dem Blattabwurf keine Wunden bleiben,

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durch die kostbares Wasser verloren gehen könnte. Bei Rosskastanien, aber auch bei anderen Laubbäumen, sind sie an allen Zweigen eindrucksvoll zu sehen. Dem sommergrünen Baum droht demnach im Winter nicht das Erfrieren, sondern die Frosttrocknis. Der Laubfall ist insofern eine sehr wichtige Vorsorgemaßnahme. Und dann? Wenn die Gehölze ihre Blätter am Ende der Betriebssaison zu Boden geschickt haben, stellt sich in ökologischen Kategorien die Anschlussfrage, was mit dem vielen und gleich tonnenweise abgestoßenen Abfall anschließend eigentlich geschieht. Das führt sofort zu einem buchstäblich grundlegenden Problem der Bodenbiologie: Böden entstehen generell aus der festen Erdrinde durch chemische und physikalische Verwitterung von Ausgangsgestein. Um eine produktive Pflanzendecke mineralisch zu ernähren, müssen darin immer auch organische Bestandteile enthalten sein. Diese gehen nun immer aus den Resten von Lebewesen hervor. Auf jeden Hektar Waldboden rieseln in Mitteleuropa jährlich etwa 4 t organisches Material herab – eindrucksvoll zu sehen eben beim herbstlichen Laubfall (Abb. 2.14), aber auch mitten im Winter, wenn man eine wenige Tage alte Schneedecke im Nadel- oder Laubwald betrachtet, denn auch hier sammelt sich eine nicht unbeträchtliche tote Biomasse an. Zum organischen Stoffbestand des Bodens gehören ferner die Ausscheidungen von Organismen und natürlich auch deren Leichen. Alle diese Materialien bleiben nicht auf Dauer dort liegen, wohin sie fielen. Kleinlebewesen wie Würmer,

Abb. 2.14  Zuletzt liegen sie alle am Boden

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Schnecken, Insekten(larven), Milben, Pilze und Bakterien bauen sie in erstaunlich kurzer Zeit weitgehend ab. Dann geht es am Boden richtig rund Die Laubstreuauflage eines Waldbodens zeigt besonders eindrucksvoll, wie eine natürliche Recyclinganlage perfekt funktioniert: Pflanzlicher Abfall, der aus dem Kronenraum als Zweig- und Astbruch, in Form von Knospenschuppen, Blütenresten, Zapfen, unreifen und reifen Früchten oder Blättern praktisch während des gesamten Jahres als Totmaterial auf dem Boden landet, stellt einen reichen Stoffvorrat organischer Substanz dar. Spezialisten der Bodenfauna nutzen dieses reichhaltige Angebot. Loch-, Fenster- und Skelettfraß sind die Stationen vom intakten Buchenblatt bis zum feinkrümeligen Humus. Der schrittweise erfolgende Abbau vom toten Blatt bis zum Humus ist praktische Fließbandarbeit, bei der sich verschiedene Konsumentengruppen ablösen. Je nach Material dauert der Komplettabbau vom frisch gefallenen Blatt bis zur strukturlosen Krümelmasse bei Esche und Erle etwa ein Jahr, bei Ahorn zwei, bei Pappel und Birke zwei bis drei, im Fall von Rot- und Hainbuche drei, bei Eiche vier und bei der Lärche über fünf Jahre. Alle beteiligten Konsumentengruppen arbeiten als Zersetzer oder Destruenten: Sie bauen die Totsubstanz unter Sauerstoffverbrauch und Energiegewinn ab. Endprodukte ihres Tuns sind Kohlenstoffdioxid und Wasser, dazu anorganische Ionen wie Phosphat, Sulfat, Ammonium und Nitrat sowie etliche Spurenstoffe wie Bor, Mangan, Molybdän, Selen und Zink, die für die mineralische Pflanzenernährung buchstäblich von grundlegender Bedeutung sind. Manche Stoffe oder deren Umwandlungsprodukte sind wegen ihrer komplexen chemischen Struktur auch für die Spezialisten nicht zu zerlegen. Auf solche Restmoleküle – Huminstoffe genannt – geht die charakteristische Braun- oder Schwarzfärbung des Bodens zurück. Die bis auf feinste Krümelgröße zerlegten pflanzlichen und tierischen Reste, die noch nicht vollständig remineralisiert sind, bezeichnet man als Humus. Der Humusgehalt eines Bodens bestimmt über vielerlei Wechselwirkungen mit den mineralischen Bodenteilchen die Krumenstruktur und das Porenraumvolumen. Davon hängen wiederum Bodenbelüftung, Wasserbindevermögen oder Erwärmbarkeit und damit wichtige Momente der Bodenfruchtbarkeit ab.

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Ein Job für viele Typen Viele Bodentiere ernähren sich nicht ausschließlich von pflanzlicher Totsubstanz, sondern verzehren auch im Boden lebende Bakterien oder Einzeller. Selbst kleine Arten leben mitunter auch oder ausschließlich räuberisch, beispielsweise die üblicherweise als Kompostierer zitierten Springschwänze oder die Doppelschwänze. Die wegen ihrer harten Chitinpanzer als Drahtwürmer bezeichneten Larven der Schnellkäfer (sie schnellen aus der Rückenlage durch rasches Einknicken hoch) oder die Larven der Skorpionsfliegen bevorzugen sogar ein unterschiedliches Nahrungsspektrum: Junge Larven nehmen überwiegend (tote oder lebende) Pflanzenkost, während sich ältere fallweise auch räuberisch ernähren. Na ja, und die Mistkäfer sind hervorragende Beispiele dafür, dass nicht einmal die Exkremente größerer Waldtiere ungenutzt bleiben. Von den im oder auf dem Boden vorkommenden Gliedertieren sind beispielsweise die Steinläufer, Laufkäfer und Spinnen ausschließlich räuberisch lebende Arten. Die machen sich gerne über das Heer der Pflanzenfresser wie Fliegenlarven und Springschwänze her. Die Streuauflage eines Laubwaldbodens ist insofern vor allem in der kleinen Dimension ein hochdynamisches Gefüge. Winter- vs. immergrün Bei einigen Gehölzarten müssen die laubzersetzenden Kleinorganismen jedoch eine ganze Weile auf ihren Job warten, denn manche Arten trennen sich in den Herbstwochen noch gar nicht von ihrer Belaubung – die Blätter bleiben auch während des Winters grün und sogar fotosynthetisch aktiv. Erst relativ spät im nachfolgenden Frühjahr werden sie durch eine neue saisonale Blattgeneration ersetzt. Solche Arten bezeichnet man als wintergrün. Dieses Phänomen zeigen manche Kleinarten der Brombeere (Rubus fruticosus agg.) (Abb. 2.15) oder der Liguster (Ligustrum vulgare). Man kann es aber auch bei vielen Gehölzen in der Siedlungslandschaft beobachten, beispielsweise beim häufig angepflanzten Feuerdorn (Pyracantha coccinea). Dagegen gibt es in der heimischen Flora auch echt immergrüne (besser: dauergrüne) Laubgehölze, beispielsweise die vor allem im atlantischen Klimabereich häufige Stechpalme (Ilex aquifolium), von der auch zahlreiche Gartenformen existieren. Jahrzehntelang bleiben aber auch deren dornspitzige Blätter nicht am Gezweig, sondern werden nach einigen Jahren ausgiebiger Betriebsdauer ausgetauscht.

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Abb. 2.15  Manche Kleinarten der Brombeere bleiben durch den ganzen Winter grün und auch fotosynthetisch aktiv

2.7 Im Dunkeln lassen sich viele hängen Vorsichtige Anfrage: Haben Sie eigentlich schon mal abends oder gar nächtens die Pflanzen Ihres Gartens oder eines Parks im Schein der Taschenlampe betrachtet? Das ist zugegebenermaßen deutlich weniger gruselig, als im Dunkeln allein auf einem großen Friedhof zu spazieren, und dennoch werden Sie (auch) bei einer solchen Gelegenheit eine erstaunliche Feststellung treffen: Obwohl der spätere Abend kühl und eventuell auch noch feucht ist, hängen die Blätter etlicher Pflanzenarten völlig schlaff herunter – genauso wie unter starkem Wasserstress. Besonders eindrucksvoll zeigen es beispielsweise die Fiederblätter vom Weiß-Klee (Trifolium repens). Aber auch die Blattfiedern von Bohnenpflanzen (Phaseolus spp.) im Gemüsegarten haben nach dem Einbruch der Dämmerung einen echten Durchhänger, wobei sich in diesem Fall die Blattstiele während der Nachtstunden noch ein wenig steiler stellen, aber die Blattspreiten deutlich nach unten weisen. Am nächsten Morgen – und meist schon geraume Zeit vor Tagesanbruch – gehen die Blattorgane jedoch wieder in ihre Normallage mit ungefähr horizontaler Positionierung der Blattfiedern über. Der Vorgang wiederholt sich täglich. Beobachtet hat das Phänomen erstmals Albertus Magnus (ca. 1200–1280), und er beschrieb es am Beispiel von Hülsen-

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früchten in seiner 1260 erschienenen Studie De vegetabilibus (Das Buch der Pflanzen). Auch Carl von Linné (1707–1778) beschäftigte sich eingehend mit dieser seltsamen Erscheinung und widmete ihr mit der 1775 erschienenen Schrift Somnium plantarum (Der Schlaf der Pflanzen) eine ausführliche Darstellung. Auslöser dafür war ein ihm von dem französischen Botaniker François Boisier de Sauvages (1706–1767) übersandtes Exemplar vom Gewöhnlichen Hornklee (Lotus corniculatus), das Linné in seinem Gewächshaus weiterkultivierte. Seither spricht man in diesem Zusammenhang von Schlafbewegungen. Die moderne Bewegungsphysiologie verwendet dafür den Begriff Nyktinastie – eine offensichtlich durch den täglich-periodischen Licht-Dunkel-Wechsel gesteuerte Bewegung eines Pflanzenorgans. Eigenartigerweise betätigen sich vor allem die gefiederten Blätter von Vertretern der Schmetterlingsblütengewächse gleichsam als Uhrzeiger. Man findet sie recht auffällig auch beim Kleefarn (Marsilea quadrifolia) sowie beim heimischen Wald-Sauerklee (Oxalis acetosella) (Abb. 2.16). Zu derselben Gattung gehören die zu Silvester mengenweise angebotenen Exemplare von „Glücksklee“ (Oxalis tetraphylla), die ebenfalls einen periodischen Positionswechsel ihrer Fiederblätter praktizieren. Bei diesen erwähnten Arten sind die Blattbewegungen direkt zu beobachten, bei anderen sind wesentlich aufwendigere Untersuchungen erforderlich. Eine internationale Forschergruppe hat unlängst je eine WeißBirke (Betula pendula) in Finnland und in Niederösterreich zum selben

Abb. 2.16  Blätter des Wald-Sauerklees in Schlafstellung

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Datum bei ruhigem Wetter mit hochauflösender Laserscantechnik vermessen – eine ganze Nacht lang, aber jeweils nur für Sekundenbruchteile im Infrarotbereich, um die Pflanzen durch die Lichtblitze nur minimal zu stören. Die aus Millionen Datenpunkten abgeleiteten Ergebnisse sind überaus erstaunlich: Die solchermaßen supergenau gecheckten Birken senken ihre Zweige und Blätter während der Nachtstunden um bis zu 10 cm ab und lassen sie erst vor Sonnenaufgang wieder in ihre Tagesposition zurückkehren. Physiologisch besteht sicherlich kein Zweifel daran, dass diese tagesperiodischen Bewegungen ganz eng mit dem Wasserhaushalt der Pflanzen verknüpft sind, aber der biologische Sinn solcher Bewegungsmanöver ist noch völlig rätselhaft – zumal diese überhaupt nicht bei allen Pflanzenarten und schon gar nicht bei allen Spezies einer Familie mit Bewegungsaktiven vorkommen. Im Prinzip sind tagesperiodische Blattbewegungen auch bei Bäumen schon lange bekannt – so auch von der in Parkanlagen häufig angepflanzten Robinie (Robinia pseudacacia), bezeichnenderweise eben ein Vertreter der Schmetterlingsblütengewächse, die ihre zahlreichen Fiederblätter nächtens richtig schlaff hängen lassen  (Abb. 2.17). Aber so hightechmäßig exakt wie bei den erwähnten Birken hat man die Nyktinastie von Zweigen und Blättern dieses Gehölzes bislang noch nicht dokumentiert.

Abb. 2.17  Auch frühmorgens hängen sie noch durch – Fiederblätter der Robinie

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2.8 Und nachts werden sie auch noch sauer Im Jahre 1804 entdeckte der seinerzeit berühmte Genfer Naturforscher Horace de Saussure (1740–1799) die seltsame Eigenart mancher Pflanzenarten, während der Nacht in ihren Blattorganen in besonderem Maße organische Säuren anzuhäufen. Besonders bekannt wurde dieser von der Fachwelt zunächst nicht weiter beachtete Saussure-Effekt jedoch erst nach 1815, als auch dem Engländer John Heyne (1784–1832) auffiel, dass bestimmte seiner Zimmerpflanzen am frühen Morgen ausgesprochen sauer schmeckten. Er hatte nämlich die – vergleichend-kulturkritisch gesehen gewiss leicht spleenige – Angewohnheit, ab und zu ein Blatt beispielsweise einer Kalanchoe (Bryophyllum) von seiner Fensterbank zu verspeisen. Weil dieses Phänomen nach späterer systematischer Nachprüfung vor allem bei Vertretern der Dickblattgewächse (Familie Crassulaceae) auftritt, spricht man heute auch von Crassulacean Acid Metabolism oder – mit dem entsprechenden Akronym – vom CAM-Phänomen. Wegen der sich darin ausdrückenden tageszeitabhängigen Rhythmik ist diese seltsame Erscheinung auch als diurnaler Säurerhythmus bekannt. Von einem Verständnis der physiologischen bzw. biochemischen Zusammenhänge blieb man aber bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts noch recht weit entfernt. Heute wissen wir es indessen besser – und staunen dennoch. Die Probe aufs Exempel Flammendes Käthchen (Kalanchoe blossfeldiana) sowie Brutblattarten (Kalanchoe = Bryophyllum-Spezies wie K. daigremontiana K. tubiflora oder K. pinnata) sind als Fensterbankpflanzen ziemlich beliebt und folglich weitverbreitet. Ebenso geeignet sind heimische Sedum-Arten wie Weiße Fetthenne (Sedum album) oder Felsen-Fetthenne (S. rupestre), die für die Steingartenoder Kiesdachbepflanzung in Gartencentern als Containerware erhältlich sind. Die vergleichende Geschmacksprobe – die benannten Arten sind ungiftig – leistet eine durchaus überraschende Überzeugungsarbeit – also betonter Mut zum spätabendlichen sowie frühmorgendlichen Test à la Saussure bzw. Heyne auf der Fensterbank oder an der Gartenmauer. Aber was geht hier tatsächlich vor? Eigenartiger Stoffwechsel Zahlreiche Wüstenpflanzen, darunter vor allem die ausgeprägt dickblättrigen (sukkulenten) Arten bestimmter Pflanzenfamilien, haben nämlich eine besondere Anpassung bzw. Eigenart ihres Stoffwechsels entwickelt.

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Nur damit können sie durchaus trickreich und geradezu raffiniert an ihren gewöhnlich trocken-heißen Standorten überleben: Sie bauen nämlich das für ihre Stoffproduktion benötigte Kohlenstoffdioxid (CO2) der Atmosphäre raffinierterweise vor allem nachts in organische Verbindungen ein, wenn die Wasserverluste wegen des jetzt fehlenden Strahlendrucks der Sonne bei offenen Spaltöffnungen (Stomata) minimal sind. Tagsüber können sie dagegen ihre regulierbaren Stomata total geschlossen halten. Der Einbau des ursprünglich atmosphärischen CO2 erfolgt mithilfe des Enzyms Phosphoenolpyruvatcarboxylase. Dabei wird Phosphoenolpyruvat (PEP) durch das Enzym PEP-Carboxylase zu Oxalessigsäure (Oxalazetat) carboxyliert. Diese Verbindung ist eine wichtige Station im berühmten Zitratzyklus (auch Tricarbonsäure- oder nach seinem Entdecker Krebs-Zyklus benannt), und so ist es kaum erstaunlich, dass auch die Folgereaktionen Zwischenstationen dieses Zyklus oder unmittelbare Anschlussreaktionen einschließen. Eine dieser Reaktionen betrifft die Umwandlung von Oxalazetat zu Apfelsäure (Malat) durch das Enzym Malatdehydrogenase (MDH) (Abb. 2.18). Gerade im Dunkeln geht es weiter Die Pflanzen dieses speziellen Stoffwechselweges legen also in der Dunkelheit gebundenes CO2 zunächst in Säure (vor allem Apfelsäure) fest, zerlegen diese Verbindung in der Tageslichtphase wieder unter Rückbildung

Abb. 2.18  Von ihrer angesäuerten pflanzlichen Nachbarschaft bekommen die Mauereidechsen nichts mit

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von OAA ( = oxalic acetic acid, Oxalessigsäure) und binden das dabei freigesetzte CO2 regulär über die üblichen Reaktionen des Calvin-Zyklus. Die nächtliche Anhäufung von Apfelsäure und der tagsüber im Licht erfolgende Malatabbau ist ein rhythmisch ablaufender Stoffwechselvorgang. Man bezeichnet den Gesamtablauf daher als diurnalen Säurerhythmus. Die Bindung von atmosphärischem CO2 zunächst an PEP und dessen anschließende Weiterverarbeitung zu Malat zeigen gewisse Ähnlichkeiten zum eigenartigen C4-Stoffwechsel der tropischen Hochleistungspflanzen (Abschn. 3.16). Der generelle Unterschied liegt u. a. darin, dass die C4Pflanzen die Orte der Primär- und Refixierung von CO2 innerhalb ihrer Blattgewebe und zusätzlich über verschiedene Chloroplastentypen räumlich getrennt haben, während bei den CAM-Pflanzen eine ausgeprägte tageszeitliche Trennung der CO2-Fixierungswege besteht (vgl. Bannwarth et al. 2019).

2.9 Grüne Salzstangen Die buntblumigen Wiesen der Mittelgebirgsregion, von Bildbänden und von Kalenderblättern gleichermaßen gerne als vermeintliche Leitbilder einer ganz und gar urwüchsigen Natur inszeniert, stellen tatsächlich ausnahmslos anthropogene Pflanzengesellschaften auf Waldersatzstandorten. Natürliche Wiesen gibt es in Mitteleuropa aber auch – nur jeweils an den geografisch weit auseinander liegenden oberen und unteren Enden der Höhenstufenskalierung, nämlich einerseits als alpine Matten oberhalb der klimatischen Baumgrenze und andererseits als Salzwiesen in der Gezeitenzone von Weichsubstratküsten. Innerhalb dieser wenigen natürlichen Wiesenformationen in der Vegetation Mitteleuropas sind die Küstensalzwiesen besonders faszinierende Lebensräume. Hier, im unmittelbaren Verzahnungsbereich terrestrischer und mariner Rahmenbedingungen, unterliegen sie im Quasisechsstundenrhythmus des üblichen Tidenregimes ständig der Dynamik nahezu aller ökologischen Einflussgrößen. Amphibische Welten Die Weichbodengezeitenzone (Eulitoral) sowie die nur bei ungewöhnlichen Flutständen erreichte Spritzwasserzone (Supralitoral) werden interessanterweise nahezu ausschließlich vom Festland her besiedelt. In diesem nur zeitweise dem Meer angehörenden Teilbereich siedeln daher konsequenterweise Gesellschaften aus Pflanzen terrestrischer Herkunft, die sich erst sekundär an

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das Leben im ständigen Kontakt zum Meerwasser angepasst haben. Wegen des bemerkenswert kompetenten Umgangs ihrer Physiologie mit dem Stressfaktor Salz bezeichnet man sie als Salzpflanzen (Halophyten). Analog einer konventionellen Wirtschaftswiese impliziert der Begriff „Salzwiese“ die periodische oder zumindest episodische Nutzung zur Futtergewinnung. Tatsächlich werden die Küstensalzwiesen nur in wenigen Teilbereichen, beispielsweise auf einigen nordfriesischen Halligen, in der Bretagne und in Südengland, gemäht. Auf diesem nutzungstechnischen Hintergrund verwendet das Schrifttum in Anlehnung an die internationale vegetationskundliche Terminologie (salt marshes ) zunehmend den Begriff „Salzmarschen“. Oftmals dienen sie jedoch als Weidegebiete für Schafe oder andere Herdentiere. In der Normandie findet man auf den Menüvorschlägen häufig den Eintrag „Mouton de prés salées“ (Hammel von der Salzwiese). Zoniert, aber verzahnt Die vom Meer geprägte, aber vom Festland ausgehende Vegetation auf sandig-tonigen Weichböden tritt in Abhängigkeit von Tidenniveau und Küstenexposition meist in gürtelartig angeordneten Zonen bzw. Gesellschaften auf, die nicht immer linienscharf voneinander abzugrenzen, sondern häufig auch recht kleinräumig miteinander verzahnt sind. Die auf salzimprägnierten Böden wachsende Vegetation umfasst (auch) an der Nordsee ausschließlich bedecktsamige Blütenpflanzen, die sich jeweils von terrestrischen Verwandtschaftsgruppen ableiten. Moos- und Farnpflanzen fehlen in diesem Bereich ebenso wie Nacktsamer. Die am weitesten seewärts vorgeschobenen und weit außerhalb des eigentlichen Verlandungsbereichs wachsenden Blütenpflanzengürtel sind die Seegraswiesen, die man üblicherweise nicht zu den Salzwiesen im engeren Sinne rechnet, obwohl sie deren seewärtige Anschlussgesellschaften sind. Pioniergesellschaft im Verlandungsbereich des Watts und Wegbereiter der eigentlichen Salzwiesen ist die Quellergesellschaft mit den verschiedenen Sippen der formenreichen Sammelart Queller (Salicornia europaea agg.), die mit ihren sommerannuellen Fluren zwischen der mittleren Tidenniedrig(MTnw) und der mittleren Tidenhochwasserlinie (MThw) in landwärts zunehmend dichteren Beständen die niedrige Salzmarsch bildet. Kräftige, stark verzweigte Exemplare mit steil aufwärts gerichteten Seitenzweigen gehören meist zur tetraploiden Form(engruppe) Langähren- oder Schlickwatt-Queller (Salicornia stricta). Weniger ästige und oft bodenanliegend wachsende Gestalten mit rechtwinklig abstehenden Zweigen stellt man zum

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Abb. 2.19 Der formenreiche Queller ist eine der seltsamsten Pflanzen der heimischen Flora

diploiden Kurzähren- oder Sandwatt-Queller (Salicornia europaea i. e. S.). Jährlich gehen rund 700 bis 500 Überflutungen über die Quellerfluren hinweg. Dick und rund und fast nur Wasser Der Queller (Abb. 2.19) gehört zweifellos zu den eigenartigsten Blütenpflanzen der heimischen Flora. Während Meersalz für gewöhnliche Landpflanzen ein starkes Gift ist, kommt der Queller mit der Salzfracht, die ihm jede Flut täglich zweimal anliefert, offenbar bestens zurecht – allerdings nur eine Wachstumsperiode lang: Die Art lebt nur einjährig und stirbt im Spätsommer bis Herbst ab, nachdem sie sich zuvor überaus prächtig karminrot umgefärbt hat (Abb. 2.20). Die wichtigste Strategie der Halophyten besteht darin, die Blattfläche enorm zu verkleinern. So können sie die unvermeidliche Meerwasseraufnahme auf ein Minimum beschränken. Gleichzeitig werden sie dick, weil sie in den Vakuolen ihrer Gewebe viel Salzspeicherraum benötigen. Solche Pflanzengestalten nennt man sukkulent und im Fall der Wattrandpflanzen

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Abb. 2.20  Schon im Spätsommer haben die Queller genug (vom Salz) – sie färben kräftig um und sterben ab

halosukkulent. Der Queller ist dafür ein augenfälliges Beispiel – er sieht aus wie ein sehr schlanker, allerdings stachelloser Minikaktus, ist aber im Unterschied dazu nicht stamm-, sondern definitiv blattsukkulent: Die zu schuppenförmig verkleinerten, den erstaunlich dünnen Achsen eng anliegenden Blätter fallen als solche allerdings kaum auf, weil sie enorm dicht aneinanderschließen. Wenn man einen frisch aus dem Wattboden gezupften Queller anknabbert, schmeckt er wie eine grüne Salzstange. Marinierte oder auch frische Quellerstängel werden übrigens als besondere und durchaus empfehlenswerte Delikatesse in Fischgeschäften auch im Binnenland angeboten, manchmal schon im Frühjahr; dann kommen sie meist aus Portugal. Früher erntete man diese Pflanzen und auch die verwandte Strand-Sode (Suaeda maritima) im Spätsommer und verbrannte sie. In der Asche fanden sich dann u. a. mengenweise Kaliumsalze – seinerzeit sehr gesuchte Rohstoffe, die man in Glashütten für die Herstellung von Glasschmelzen (Glasschmalz) benötigte. Für die notorisch armen Marschbauern war das ein durchaus netter Nebenerwerb. Von den Pötten, in denen man die salzigen Wattpflanzen veraschte, stammt übrigens der Name Pottasche für Kaliumkarbonat (K2CO3) und das englische Wort potassium für das Element Kalium. Die Strand-Sode wurde zum Namengeber für das im britischen Sprachraum so bezeichnete Element sodium (Natrium).

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Lösungen für die Salzprobleme Meerwasser weist hinsichtlich seiner Hauptkomponenten eine weitgehend konstante Salzkonzentration (Na+ ca. 480 mM, Cl− bei 560 mM) auf. Die normale Salinität von 35 ‰ entspricht einem osmotischen Potenzial von −2,5 MPa (1 Megapascal (MPa) = 10  bar; Autoreifendruck ca. 0,2 MPa = 2 bar). Jeder neue Flutwasserstand imprägniert den Boden am Standort der Salzpflanzen mit gelösten Ionen. Wasserverdunstung während der Ebbezeit kann den Ionengehalt im Boden zusätzlich erhöhen. In den eulitoralen Schlickböden kann allein die Na+-Konzentration daher bis > 1200  mM erreichen. Unter Annahme eines durchschnittlichen Zellbinnendrucks von 0,5 MPa müssen die Wurzeln der im meerwassergesättigten Salzboden wachsenden Pflanzen ein Wasserpotenzial von mindestens −2,0 MPa aufweisen, um überhaupt Wasser für ihren Stoffwechselbetrieb aufnehmen zu können und keines an die Umgebung zu verlieren. Eine Wasseraufnahme zur Aufrechterhaltung des eigenen Zellbinnendrucks ist somit nur um den Preis eines massiven Ionenimports aus der Bodenwasserlösung möglich: Die Pflanzen konkurrieren an ihrem Salzstandort also osmotisch um das verfügbare Wasser, indem sie ihr Wasserpotenzial deutlich unter das des Bodens absenken. Die notwendigen bzw. tatsächlich auftretenden Potenzialdifferenzen können fallweise enorme Beträge annehmen. Eine hohe Salzkonzentration belastet die Zelle nicht nur über osmotische Effekte, sondern auch durch ionenspezifische und eventuell toxische Wirkungen, beispielsweise durch Ungleichgewichte gegenüber K+-, Ca2+-  und anderen Ionen, die für die Stabilisierung von Funktionsproteinen oder spezielle Membranleistungen zuständig sind. Da Salz jedoch als abiotischer Faktor für die Halophyten auf ihren Salzstandorten unvermeidbar ist, benötigen sie auf der zellulären wie auf der organismischen Ebene besondere Anpassungen, mit denen sie der tatsächlichen Salzbefrachtung ausgleichend begegnen können. Auf der organismischen Ebene sind damit alternativ drei unterschiedliche Strategien gekoppelt: • Die Halophyten schaffen zusätzlichen Speicherraum für die mit den internen Wasserströmen aufsteigenden Salzfrachten bei gleichzeitiger Einschränkung des Wasserverbrauchs durch Transpiration – sie werden eben sukkulent. Von der oberen Salzwiese bis zum Quellerwatt, d. h. in Richtung steigender Salzbelastung, nimmt die Blattflächen-VolumenRelation von Keilmelde, Salz-Aster, Strand-Wegerich und Strand-Sode sowie Milchkraut bis zur so erscheinenden Stammsukkulenz der Quellerformen stetig ab.

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• Einjährige Arten wie Queller, Salz-Spörgel und Salz-Sode befrachten sich bei moderatem Wasserumsatz jeweils nur bis zum Ende der Vegetationsperiode mit Salz und sterben dann – eventuell mit eindrucksvollem Farbfinale ab. Mehrjährige Arten wie die Rosettenpflanzen wie Salz-Aster oder Strand-Wegerich werfen mit Salz gesättigte Blattorgane während der Wachstumssaison einfach ab und stellen mit neu angelegten Blattorganen anschließend weiteren Stauraum zur Verfügung. • Statt ständig Unmengen an Salz einzuspeichern, können manche mehrjährigen Halophyten ihre Salzladung auch wieder löschen. Absalzende Drüsen kommen in den Blättern von Milchkraut, Strandflieder und Strandnelke vor. Sie bestehen aus einem meist mehrzelligen Apparat, dessen Exkretionszellen die Chloridionen energieabhängig über ionenaktivierte Enzyme ausschleusen und die Natriumionen elektrochemisch nachströmen lassen. Niederschlagswasser entfernt die an der Blattoberfläche kristallin deponierten Salze. Analog arbeiten die eigenartigen Absalzhaare vieler Vertreter der Gänsefußgewächse (Chenopodiaceae), beispielsweise der Salz-Keilmelde. Straßenränder sind sekundäre Salzstandorte Der folgende Sachverhalt ist sicherlich bemerkenswert: Die seit Jahrzehnten üblichen winterlichen Auftausalzaufträge auf die Bundes- bzw. sonstigen Fernstraßen haben unerwartet eine deutliche Arealausweitung von Pflanzenarten ausgelöst, die man zuvor nur aus dem engeren Küstenraum kannte. Neben der halophilen Grasart Salz-Schwaden (Puccinellia distans) gilt dies u. a. für das Dänische Löffelkraut (Cochlearia danica), das im Spätfrühjahr an Autobahnen und Bundesstraßen in Niedersachsen und selbst im nördlichen Nordrhein-Westfalen durch seinen üppigen Blütenflor auffällt. Die bei winterlichen Bedarfsfällen mit massiv mit Auftausalzen bestreuten Fahrbahnen geben ihre Salzfracht alsbald an die Straßenränder weiter und imprägnieren auch diese Spezialstandorte. Folglich findet sich auch deutlich küstenfern in Anteilen das typische Artengefüge der oberen Salzwiese, vor allem vertreten mit den Arten Strandnelke sowie Strand-Wegerich. Die Strandnelke entwickelt im Spätfrühjahr bzw. Sommer einen sehr auffälligen Blühaspekt, während der als windblütige Art eher unscheinbare blühende Strand-Wegerich meist unbemerkt bleibt (Abb. 2.21). In fast allen daraufhin überprüften Fällen waren jedoch beide erwähnten Arten miteinander vergesellschaftet. Auf Amrum, Föhr und Sylt und auf vielen anderen unterdessen daraufhin überprüften Stellen des nordfriesischen Festlandes ist vor

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Abb. 2.21  Typische Straßenrandhalophyten in Norddeutschland – Strandnelke und Strand-Wegerich

allem die Artenkombination der beiden erwähnten Spezies kennzeichnend. Man darf die betreffenden Straßenrandvorkommen daher gewiss vorbehaltlos als sekundäre Halophytenstandorte bewerten. Halophyten sind eine in ökophysiologischer Hinsicht außerordentlich faszinierende Artengruppe und geradezu wunderbare Beispiele dafür, wie Pflanzen mit bemerkenswert genialen biochemisch-physiologischen Tricks einen enorm schwierigen Standort bewältigen, auf dem sie nach normalen Maßstäben eigentlich gar nicht vorkommen dürften.

2.10 Planmäßige Versenkung Hier ist in jedem Fall besondere Achtsamkeit angesagt: Die (meist linksseitige) Greif- bzw. Knackschere der großen heimischen und nur marin verbreiteten Zehnfußkrebse wie Strandkrabbe (Carcinus maenas) oder Taschenkrebs (Cancer pagurus) können bei unsachgemäßer Handhabung tatsächlich bemerkenswert kräftig bis ausgesprochen schmerzhaft zupacken. Ein ausgewachsener Nordsee-Hummer (Homarus vulgaris) könnte mit seiner besonders kräftig ausgeprägten Linken sogar einen kleinen Finger abtrennen. Die hier gemeinte Krebsschere (Stratiotes aloides), eine vor allem im nördlichen Mitteleuropa außerhalb des Mittelgebirgsgürtels und sonst nur stellenweise am Main sowie an der mittleren Donau verbreitete Wasser-

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pflanze aus der Familie Froschbissgewächse, ist dagegen weitgehend harmlos. Die bis 40 cm langen, schwertförmigen und an den Rändern allerdings mit stechend nach vorn gerichteten Sägezähnen ausgestatteten Blätter sind als Rosette so angeordnet, dass je zwei davon in etwa wie die klaffende Schere eines angriffsbereiten Großkrebses aussehen. Nur ihr oberer Teil ragt aus dem Wasser. Vielleicht bezieht sich die Namengebung aber auch auf die scherenähnlichen Hüllen der Blütenstände. Der ursprünglich von dem epochal bedeutsamen schwedischen Botaniker Carl von Linné (1707–1778) gewählte Name Wasseraloe war insofern ungleich zutreffender. Krebsscheren trifft man heute übrigens auch außerhalb ihres genuin natürlichen Verbreitungsgebiets an. Sie sind nämlich eine beliebte pflanzliche Zutat zu heimischen Gartenteichen, und gelegentlich werden sie auch in Fischteichen als potenzielle Laichablagehilfen eingesetzt. Die Art ist geschützt, aber im Bestand nicht bedroht. Bemerkenswerte Schweber oder Schwimmer Im Unterschied zu vielen, wenn nicht sogar zu den meisten pflanzlichen Bewohnern der ufernahen Bereiche von Stillgewässern wurzelt die seltsame Krebsschere eigenartigerweise nie im Gewässergrund. Vielmehr hängt ihre gesamte Wurzelmasse total frei im Wasser – die gesamte Pflanze ist also ein völlig bodenunabhängiger Schweber oder Schwimmer  (Abb. 2.22). Das allein ist schon erstaunlich genug. Noch bemerkenswerter ist jedoch ihre Überwinterungsstrategie: Im Spätherbst sinkt die gesamte Pflanze ein-

Abb. 2.22  Noch sind sie oben, aber bald tauchen sie ab

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fach – wohl auch in der Folge der jetzt in ihren Blattzellen üppig erfolgten und die Erdschwerkraft provozierenden Beladung mit sommerlich reichhaltig produzierter Reservestärke – einfach auf den Gewässergrund ab und taucht erst im nachfolgenden Frühjahr buchstäblich wieder aus der winterlichen Versenkung auf. Genauso praktizieren es auch ihre vegetativen Vermehrungseinrichtungen – es sind knospenförmige Abschnürungen der Hauptachsen, die man fachmännisch Hibernakel oder Turionen nennt. Diese können eventuell auch von Wasservögeln verschleppt werden und die Art somit weiter ausbreiten. In Mitteleuropa versamt sich die Krebsschere nur selten, da im Gebiet fast nur männliche Pflanzen vorkommen. Bedeutsam ist sie indessen für Großlibellen: Die extrem selten gewordene Grüne Mosaikjungfer (Aeshna viridis) legt ihre Eier durch Anstechen ausschließlich in die Blattbasen der Krebsschere ab und ist somit auf gerade diese Pflanze in besonderer Weise angewiesen. Und noch etwas: Zur Gattung Stratiotes gehört heute nur (noch) die einzige hier erwähnte und im Wesentlichen eurasiatisch verbreitete Art. Vor den Eiszeiten gab es in Mitteleuropa auch noch weitere Spezies. Die Krebsschere ist somit auch ein bemerkenswertes Tertiärrelikt.

2.11 Auf glattes Parkett locken Im Allgemeinen stellen unsere wild wachsenden Blütenpflanzen der heimischen Kleintierwelt nicht direkt nach – eine bemerkenswerte Ausnahme sind allerdings die vergleichsweise wenigen tierfangenden Arten, die heimtückischerweise extrem klebrige Leimruten auslegen und damit kleine Insekten sowie unvorsichtige Spinnen erbeuten. Die in Mooren vorkommenden Sonnentauarten liefern dafür beeindruckende Beispiele. Aber wer hätte Folgendes geahnt? Tatsächlich ereignen sich am Boden des Frühlingswaldes ganz unbemerkt und sozusagen in aller Heimlichkeit, aber dennoch durchaus spektakuläre und veritable Kriminalfälle mit vorübergehender Arrestierung, die aber gewöhnlich für die Betroffenen glücklicherweise glimpflich enden. Wir sprechen hier von der auf gezieltes Kidnapping ihrer besuchenden Insekten überaus funktionssicher angelegte Kesselfalle des heimischen Aronstabs (Arum maculatum) (Abb. 2.23). Diese Spezies lockt ihre tageweise in größeren Scharen eintreffenden Besucher ziemlich erfolgreich in ein recht finsteres Verlies und hält sie darin zumindest für eine gewisse Zeit gefangen – meist allerdings nur wenige Stunden oder allenfalls ein bis zwei Tage. Die solchermaßen Übertölpelten – in unseren Breiten

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Abb. 2.23  Sie sehen zunächst sehr unverdächtig aus – Bestand des Gefleckten Aronstabs

zumeist die Art Psychoda phalaenoides – haben somit sehr gute Chancen, wieder unbeschadet zu entkommen. Ein äußerst seltsamer Blütenstand Den Aronstabblütenstand umschließt ringsum ein großes, tütenförmiges Hochblatt (Spatha genannt), in das die kolbenförmige Verlängerung der Blütenstandsachse (Spadix) hineinragt (Abb. 2.24). In diesem speziellen Organ findet ein so intensiver Atmungsstoffwechsel statt, dass der Spadix fast immer um mindestens 10 °C wärmer ist als die Umgebung. Das können Sie sogar fühlen. Gleichzeitig produziert er einen für unsere Nasen nicht gerade angenehmen Duft nach Mäuseurin und setzt diese spezifische olfaktorische Note wärmebedingt sogar noch besonders wirksam frei. Die Schmetterlingsmücken finden diesen jedoch so unwiderstehlich toll, dass sie scharenweise herbeikommen – meist aber nur die Weibchen. Die gewöhnlich nur etwa 2 mm großen schwarzgrauen Tiere können in Ruhestellung ihre beiden Flügel deutlich angewinkelt nach oben tragen, womit sie aussehen wie kleine Schmetterlinge. Sie vermuten in dem Verlies, in das sie ihrem Geruchssinn folgend geraten sind, einen geeigneten Lebensraum für ihre Larven, die meist in organisch stark belasteten Klein(st)gewässern leben, beispielsweise in Jauchegruben. Ein glattes Parkett ist immer kritisch Sobald sie auf dem verführerisch-einladenden Duft gefolgt sind und irgendwo auf der Innenseite des Hochblattes landen, gibt es allerdings

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Hochblatt (Spatha) Kolben (Spadix)

sterile weibliche Blüten mit Borsten (Reuse) männliche Blüten sterile weibliche Blüten mit Borsten

Blütenstand in der Kesselfalle

fruchtbare weibliche Blüten Schmetterlingsfliege

Abb. 2.24  Organisation des Gesamtblütenstands beim heimischen Aronstab

kein Halten mehr. Auf dessen öliger und deshalb spiegelglatter Oberfläche rutschen sie geradewegs nach unten in den Bereich der Spatha, der kesselförmig erweitert ist und die eigentliche Falle darstellt. Hier befinden sich die üblichen, allerdings vergleichsweise schmucklosen Einzelblüten. Alle Versuche, dem Kessel zu entkommen, vereiteln einerseits die auch hier hemmungslos glatten Wände sowie die starren, nach unten gekrümmten Reusenhaare am Kesseleingang. Sie stellen verlängerte Auswüchse eines mehrteiligen Kranzes steriler weiblicher Blüten dar. Unmittelbar darunter befindet sich der Blütenstandsabschnitt mit dicht gedrängten männlichen Blüten, dem ein weiterer Kranz steriler weiblicher Blüten mit kräftigen Reusenhaaren folgt. An der Kesselbasis liegen schließlich die Gruppen weiblicher Blüten, die nur aus einem angeschwollenen Fruchtknoten bestehen  (Abb. 2.25).

136     B. P. Kremer Schmetterlingsmücke sterile weibliche Blüten mit Borsten (Reuse) männliche Blüten sterile weibliche Blüten mit Borsten fruchtbare weibliche Blüten

Abb. 2.25  Die Kesselfalle aus der Nähe: Alle kommen gut weg, aber manchmal gibt es bedauerliche Unfälle, wenn der Kessel durch Starkniederschläge unter Wasser steht

Die weiblichen Blüten reifen als Erste heran. An ihrer Narbenspitze sondern sie einen klebrigen Tropfen ab, der den von den „hereingefallenen“ weiblichen Schmetterlingsmücken mitgebrachten Pollen übernimmt. Sobald die Narben der immer vorweiblichen Blüten mit dem mitgebrachten Pollen bestäubt sind, geht auch allmählich der Spadix-Heizofen aus. Die vorübergehend Inhaftierten sammeln sich dann gerne nahe beim Kesselausgang, wo es noch am längsten warm ist, und hier öffnen sich jetzt tatsächlich fast synchron die männlichen Blüten. Nachdem sich die Inhaftierten hier erneut mit hellgelbem Pollen beladen haben, welken die nunmehr entbehrlichen Reusenhaare, schlaffen folglich ab und geben nunmehr den Weg nach draußen frei. Spätestens nach 24 h hat die Inhaftierung somit ein gutes Ende gefunden – bis zum Besuch der nächsten Kesselfalle, die wieder so ungemein einladend nach Fäkalien duftet. Im Mittelmeergebiet gibt es mehrere weitere Aronstabarten, die nach dem gleichen Prinzip arbeiten. Rund um das Mittelmeer ist auch der Krummstab (Arisarum vulgare) beheimatet, der mit seinem unangenehmen Aasgeruch allerdings überwiegend (weibliche) Aasfliegen zur Eiablage anlockt, deren Larven in der Natur üblicherweise den zwar unschönen, aber wichtigen Job der Kadaverbeseitigung erledigen. Weltweit gibt es zahlreiche weitere Arten der Familie Aronstabgewächse, die in dieser Branche aktiv sind.

2  Was Pflanzen so hinblättern     137

2.12 Gläserne Giftspritzen Im Allgemeinen sehen Pflanzen doch recht duldsam aus, und sie sind es wohl auch. Aktive Aggressivität kann man ihnen wahrhaftig nicht unbedingt unterstellen – es sei denn, man nähert sich ihnen betont unvorsichtig und unter Vernachlässigung ihres fallweise durchaus vorhandenen Arsenals wirksamer Abwehrmaßnahmen. Aber auch diese sind recht klar und zudem rechtzeitig abschätzbar, wie im Fall der eindringlichen Stacheln etwa von Brombeeren und Rosen, die unsere feinfühlige Fassade so erbarmungslos und enorm wirksam ramponieren können (Abschn. 1.7). Dabei sind diese Einrichtungen gar nicht einmal darauf angelegt, den gierigen Zudringlichkeiten etwaiger Pflanzenfresser standzuhalten. Viel hinterhältiger agieren dagegen im Kontext Herbivorenabwehr diejenigen Pflanzenarten mit fatal giftigen und auf Dauer auch letal wirkenden Inhaltsstoffen. Dazu gehört beispielsweise das Jakobs-Kreuzkraut (Senecio jacobaea), das für Weidetiere sehr schädlich ist und schon viele Ausfälle verursacht hat. Die Raupen mancher Schmetterlingsarten, die auf dieser Art fressen, verstehen es dank einer besonderen und biochemisch unglaublich ausgeklügelten Enzymausstattung dennoch, den Giftattacken damit problemlos zu entkommen (vgl. Richarz und Kremer 2019). Unangenehme Stichelei Mit den feinen Sticheleien der Brennnesseln (Abb. 2.26) hat sicherlich schon jeder von uns ein- oder mehrmals Erfahrung machen können (bzw. müssen) – zumal bei der Arbeit im Garten, wo sich in stillen Winkeln immer auch Brennnesseln ansiedeln. Wenn man mit der mehrjährigen Großen Brennnessel (Urtica dioica) oder ihrer einjährigen, aber noch etwas verschärfter reagierenden Verwandten Kleine Brennnessel (Urtica urens) schon einmal hautnah kennenlernen konnte, wird sie künftig gewiss zu meiden versuchen und auch die allfällige Gartenarbeit nicht ohne sichernde Handschuhe erledigen. Das aber nur am Rande. Man muss die wenigen Brennnesseln an einer vergessenen Gartenecke gar nicht unbedingt ausrotten wollen, denn sie sind immerhin die Futterpflanzen der Raupen unserer beliebtesten Tagfalter wie Landkärtchen, Kleiner Fuchs, Tagpfauenauge und Admiral. Ebenso wichtig ist im häuslichen Garten ein genügendes Angebot an Nektarpflanzen, darunter beispielsweise Sumpf-Dotterblume, Wiesen-Kerbel, Wilde Möhre, Sterndolde, Gewöhnliche und Sumpf-Schafgarbe, Dost, Lavendel, Brombeeren, Wasserdost und Fuchs-Kreuzkraut (vgl. Kremer und Richarz 2020).

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Abb. 2.26  Bewundernswerte Sonderbildung – die Brennhaare der Großen Brennnessel, gleich reihenweise einsatzbereit

Technisch einfach perfekt Zweifellos sind die an allen Sprossteilen vorhandenen Brennhaare der Brennnesseln technisch verblüffend funktionssicher konstruierte Gebilde. Jedes einzelne Brennhaar besteht aus einer besonders großen farblosen Zelle mit verdickter Basis und lang ausgezogener Spitze, an der seitlich mit kurzem, verengtem Übergang ein kleines, rundliches Köpfchen ansitzt (Abb. 2.27). Die kugelige Zellbasis, steckt in einem grünen Gewebehöcker, der einen Auswuchs der Epidermis und folglich eine Emergenz darstellt. Dieser ist bemerkenswert elastisch, während sich der längliche Brennhaarteil als ziemlich biegefest zeigt, und die Spitzenregion ist sogar ausgesprochen spröde. Denn nur dadurch wird das Brennhaar selbst bei nur wenig unachtsamer Berührung buchstäblich kopflos – das spröde Haarköpfchen bricht jetzt augenblicklich weg und hinterlässt eine scharfkantige, ritzende Bruchstelle, die sofort mühelos in die Haut eindringt. Dort ent-

2  Was Pflanzen so hinblättern     139 Köpfchen spröde Bruchstelle Zellinhalt tritt aus ritzende Spitze abgebrochenes Köpfchen biegsamer Teil der Zellwand einzelliges Brennhaar eingesenkte Brennhaarbasis mit Zellkern mehrzelliger Blatthöcker (Emergenz)

Abb. 2.27  Aufbau und Funktion eines Brennhaares der heimischen Brennnesselarten

leert sie ihren Inhalt nach Art einer Schreibfeder, aus der das Schreibpapier durch Kapillarwirkung die Tinte aus dem Schreibgerät zieht. Meist wird das kopflos gewordene Brennhaar bei der unachtsamen mechanischen Belastung auch noch ein wenig umgeknickt. Jetzt gerät beinahe planmäßig auch die im Blatthöcker steckende verdickte Zellbasis unter Druck, gibt diesen sofort an die nunmehr geöffnete Brennhaarkanüle weiter und entleert dann erst recht ihren gesamten Inhalt in die aufgeritzte Haut. Diese phasenreiche Attacke vollzieht sich sekundenschnell – man spürt es eben geradezu momentan, wenn man bei einer Brennnessel unerwünschten Anstoß erregt hat. Nach dieser zunächst rein mechanischen Ouvertüre beginnen die dabei injizierten Stoffe ihre das Nervenkostüm beeindruckende und durchaus vielstufige Aktion. Einer der beteiligten Hauptakteure ist das hochwirksame Histamin, das in der Haut mit Rötung, Schwellung, Erwärmung und Schmerz eine klassische, aber glücklicherweise meist nur sehr lokale Entzündungsreaktion hervorruft. Histamin ist übrigens auch bei vielen Insektenstichen als effizienter Zündstoff beteiligt. Erstaunlicherweise ist

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es ein total simpler Abkömmling der lebensnotwendigen Aminosäure Histidin, die am Aufbau fast aller Proteine beteiligt ist. Bemerkenswerterweise haben gerade die biogenen Amine (im molekularen Aufbau um nur eine funktionelle Gruppe eingekürzte Aminosäuren) eine bemerkenswerte physiologische Karriere als hochwirksame Aktionsstoffe hingelegt. Und noch etwas: Nur bei total nackter Haut funktioniert der recht unfreundliche und für eine Weile nachhaltig wirkende Empfang, den Brennnesseln bei etwaigen unbeabsichtigten Handgreiflichkeiten bereiten. Sperlinge oder andere Finkenvögel, die gerne an den Brennnesseln herumturnen und die im Spätsommer reifenden Samen ernten, haben mit dieser durchaus interessanten Pflanze überhaupt keine Probleme. Auch die Raupen von Tagfaltern, die sich von Brennnesselblättern ernähren, sind für die winzigen Giftspritzen unerreichbar. Selbst Nachbars Katze, die im etwaigen Brennnesseldickicht die Mäuse beschleicht, bleibt wegen ihrer beachtlichen Dickfelligkeit gänzlich unbehelligt. Pflanzliche Abwehr arbeitet eben selektiv. Weidetiere meiden die Brennnesseln im Allgemeinen – und vielleicht nur deswegen, weil sie zumindest einmal unangenehme Erfahrungen damit gemacht haben müssen. Es geht auch anders Die gezielte Hautattacke der beiden in unseren Regionen hauptsächlich verbreiteten Arten steht jedoch hinter der Wirksamkeit einiger ihrer Verwandten weit zurück. Tage- oder sogar wochenlangen enorm starken Schmerz verursachen die kurzen, steifen Brennhaare der beiden tropischen Brennnesselbäume Dendrocnide excelsa und Dendrocnide moroides aus dem nordöstlichen Australien – sie gelten als die wirksamsten Akteure, da ihre Kampfstoffe im Vergleich zu den heimischen Brennnesseln höher dosiert und auch ganz anders zusammengesetzt sind. Erst seit Kurzem kennt man die chemische Struktur des hauptsächlich wirksamen Brennhaarwirkstoffes. Es ist ein sehr ungewöhnlich aufgebautes Peptid aus 36 Aminosäuren mit drei Disulfidbrücken, die im Molekülinneren einen Knoten bilden. Auch die molekularen Effekte auf die Schmerzrezeptoren sind erforscht: Die Dendrocnide-Peptide verhindern das Schließen bestimmter Ionenkanäle an der für die Schmerzempfindung zuständigen Nervenmembran und stimulieren sie somit über lange Zeit. Ähnlich konstruierte Peptide kommen auch in den ähnlich wirksamen Giften von Kegelschnecken und Spinnen vor. Zu Recht hat man in Australien entlang von Wanderwegen Warnschilder aufgestellt, die eindringlich zur Vorsicht mit den zunächst noch strauchförmig wachsenden Brennnesselbäumen mahnen.

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Übrigens: Obwohl die Brennnesselgewächse nach ihren äußerst unangenehmen Effekten benannt sind, tragen die meisten Arten dieser umfangreichen Familie gar keine Brennhaare. Völlig harmlos ist beispielsweise das zu dieser Verwandtschaft gehörende Bubiköpfchen (Soleirolia soleirolii), eine beliebte Zierpflanze aus dem Mittelmeergebiet.

2.13 Alles hat seine zwei Seiten Der folgende Sachverhalt ist beinahe banal, aber dennoch bemerkenswert: Bei den Laubblättern der meisten Pflanzen kann man immer klar und eindeutig eine dunklere Ober- von einer deutlich helleren Unterseite unterscheiden (Abb. 2.28). Deswegen nennt man diese Standardversion der Blattanatomie einer Landpflanze auch bifazial (zweigesichtig). Aber warum ist das so? Genaueren Aufschluss gewährt nur die mikroskopische Ansicht eines Blattquerschnitts. Es zeigt sich überraschend bei den meisten Arten ein weithin einheitlicher Grundaufbau aus nur vier übereinanderliegenden

Abb. 2.28  Wie beim Kirschlorbeer sind bei den meisten Pflanzen die beiden Blattseiten farbverschieden. Die dunklen Punkte an der unterseitigen Spreitenbasis sind extraflorale Nektarien (Abschn. 3.3)

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Gewebeschichten, die bei verschiedenen Arten zwar unterschiedliche Abmessungen aufweisen, aber ansonsten verblüffend identisch sind: Die kennzeichnende Gewebefolge beginnt an der Oberseite mit einer dickwandigen, dem Transpirationsschutz dienenden Epidermis (Oberhaut). Dann folgt eine meist einschichtige Lage aus schmalen und dicht stehenden Zellen, die man wegen ihrer Ähnlichkeit mit manchen Zaunkonstruktionen Palisadenparenchym nennt. Und dann geht es eher locker zu: Die folgende dritte Zellschicht im Blatt besteht aus vielarmigen Zellen mit großen Zellzwischenräumen. Sie erinnern sehr an einen lückigen Schwamm, und deswegen heißt diese Zelllage auch zutreffend Schwammparenchym. Nach unten folgt dann eine weitere Epidermis, in die allerdings eine bemerkenswerte und geradezu geniale Spezialkonstruktion eingelassen ist – nämlich die Spaltöffnungen (Stomata), die jeweils aus zwei (meist bohnenförmig geschwungenen) Schließzellen bestehen. Diese erfüllen für die Landpflanzen eine absolut vitale Funktion – über sie (und fast nur über sie) erfolgt der Gasaustausch (Wasser raus, Kohlenstoffdioxid rein) mit der freien Atmosphäre. Es sind also – vereinfacht ausgedrückt – die unentbehrlichen Luftlöcher der Blattorgane. Ohne sie wäre kein geregelter Stoffwechsel möglich, und deswegen kommen sie auch bei allen Landpflanzen vor. Unterschiedliche Farbdichte Das unterschiedliche Erscheinungsbild der Blattober- und -unterseiten der meisten Landpflanzen ist also durch die besondere Gewebetopografie leicht erklärbar: Das besonders dichtzellig organisierte, zudem ziemlich pigmentreiche und praktischerweise der Blattoberseite als wichtigster Antennenregion für die Fotosynthese zugewandte Palisadenparenchym begründet also das jeweils deutlich dunklere Erscheinungsbild der Blätter. Im Schwammparenchym sind die Zellen dagegen ungleich lockerer arrangiert. Sie enthalten zwar je Zelle ungefähr die gleiche Anzahl farbgebender Chloroplasten wie die Zellen der Palisadenschicht, aber die zahlreich vorhandenen und großen Zellzwischenräume mit ihren Lufteinschlüssen lassen diese Blattschicht eben ungleich blasser erscheinen. Bei manchen Pflanzen stellen sich die Verhältnisse allerdings ein wenig anders dar. Vor allem bei den Einkeimblättrigen sehen die meist schwertförmig schmalen Laubblätter von beiden Seiten betrachtet ununterscheidbar aus – sie sind eben äquifazial (gleichgesichtig). Auch diese Ausstattung hat ihre enormen Vorteile: Die bifazialen Laubblätter sind gewöhnlich horizontal ausgebreitet und empfangen die produktionsantreibende Sonnenstrahlung jeweils mit der gesamten Oberfläche, aber die äquifazialen Blätter

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stehen meist senkrecht und können daher während eines Tages mit seiner wechselnden Sonnenstellung immer irgendwelche Strahlungsanteile aus fast beliebiger Einfallsrichtung einfangen. Ein grandioser Entwurf Die vor allem in der Epidermis der Blattunterseiten lokalisierten Spaltöffnungen kommen so nur bei Landpflanzen und zudem ausschließlich an Organen wie Sprossachsen sowie Blättern (inkl. Blüten und Früchten) vor, die jeweils im Direktkontakt mit der freien Atmosphäre stehen. Wasserpflanzen besitzen erwartungsgemäß keine Stomata – sie tauschen die notwendigen Stoffwechselgase rein diffundiv über ihre meist nur mit schmächtigen Zellwänden ausgestattete gesamte Oberfläche aus. Für die Evolution der Landpflanzen war die Entwicklung regulierbarer Stomata eine entscheidende Voraussetzung, denn nur mit ihrer Hilfe ist ein kohärenter Transpirationsstrom über gegebenenfalls mehrere Dutzend Meter Vertikaldistanz zur Versorgung auch sehr hoch gelegener Achsenanhangsorgane möglich (Abschn. 1.4). Relativ einfach aufgebaute Spaltöffnungen des in Lehrbüchern der Botanik meist so benannten, aber nur selten näher erläuterten Mnium-Typs finden sich erstmals bei den Laubmoosen und dort bezeichnenderweise nur an den Mooskapseln, die den Sporophyten bilden. Aber sie zeigen bereits den grundsätzlichen Aufbau, wie er auch bei den Blütenpflanzen auftritt. Danach besteht ein Stoma aus zwei Chloroplasten führenden Schließzellen (Abb. 2.29), die von chloroplastenfreien Neben-

turgeszent

Zentralspalt antikline Kontaktwand Schließzelle mit Chloroplasten Nebenzelle ohne Chloroplasten

geöffneter Zentralspalt

Wasserstress

Schließzelle mit Chloroplasten

Abb. 2.29 Die unterschiedlich dicken Zellwände der Schließzellen („Gelenkbereiche“) gewährleisten bei wechselnder Turgeszenz die notwendige Verschließbarkeit einer Spaltöffnung

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zellen eingefasst sind. Diese können fallweise von der Gestalt der übrigen Epidermiszellen stärker abweichen. Die einander zugewandten antiklinen Zellwände der beiden Schließzellen sind auf etwa der Hälfte ihrer gemeinsamen Kontaktstrecke nicht miteinander verwachsen, sodass hier ein schmaler Schlitz (Zentralspalt) verbleibt. Bei Wasserstress lässt der Zellbinnendruck (Turgor) in den Schließzellen nach, und der Zentralspalt schließt sich. Damit ist die Gaspassage zunächst beendet. Bei ausreichender Wasserversorgung nimmt der Turgor jedoch wieder seinen Maximalwert an, womit – über die Vakuolen vermittelt – jeweils eine deutliche Volumenzunahme verbunden ist. Dann werden die beiden bohnenförmigen Schließzellen deutlich rundlicher und wölben sich in der Ebene der Epidermis ein wenig nach außen. Jetzt weitet sich auch der Zentralspalt, und das Stoma steht für den Gasaustausch wieder offen. Nur in diesem Funktionszustand können die Blätter den Fotosynthesebetriebsstoff Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre aufnehmen – allerdings um den Preis gewisser Wasserverluste, weil das Wasserpotenzial der (trockenen) Atmosphäre weitaus negativer ist als derjenige der wasserdampfgesättigten Interzellularbereiche oder gar der direkt angrenzenden Zellbinnenräume. An der Regulation dieser durch den Turgor vermittelten Bewegung sind neben dem Wasserpotenzial mehrere weitere Stellgrößen beteiligt. Unter anderem spielen dabei auch die in den Schließzellen stets vorhandenen Chloroplasten eine wichtige Rolle. Die Schließzellen sind bezeichnenderweise die einzigen Epidermiszellen, die Chloroplasten führen. Ihre erstaunliche Beweglichkeit ist im Lupenbild wegen der Kleinheit der Komponenten nicht erkennbar, aber das mikroskopische Bild zeigt die entsprechenden Abläufe sehr überzeugend (Abb. 2.30). Bei diesen Ansichten ist auch die – formalästhetisch recht ansprechende – Musterbildung der Stomaverteilung in der Epidermis äußerst betrachtenswert. Bei einkeimblättrigen Pflanzen finden sich gänzlich andere Anordnungen als bei den zweikeimblättrigen. Außerdem zeigen die mikroskopischen Schnittbilder, dass viele Pflanzen aus Regionen mit zeitweilig problematischer Wasserversorgung zur Vermeidung unnötiger Transpirationsverluste ihre Stomata unter die Ebene der Epidermis und somit weit nach innen verlagern – so beispielsweise der Oleander (Nerium oleander). Spezielle Verhältnisse Außer den flächigen Laubblättern führen uns die heimischen oder eingeführten Baumarten noch einen gänzlich andersartigen Blatttyp vor Augen – die schlanken, schmalen, aber meist ziemlich starren Nadelblätter. Diese

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Abb. 2.30 Die Anordnung der Spaltöffnungen (meist auf der Blattunterseite; Abschn. 1.20) ergibt hübsche Muster, die so allerdings nur das Mikroskop darstellen kann

stellen gleichsam einen alternativen Entwurf zum großflächigen Laubblatt dar, und außerdem sind sie auch entwicklungsgeschichtlich bedeutend älter. Schon in der Lupendimension überraschen sie mit etlichen besonderen Merkmalen. Mit Ausnahme der hellgrün benadelten Europäischen Lärche sind alle übrigen in Gärten, Parks und Forsten angepflanzten Nadelhölzer immergrün. Deren Nadelblätter sind demnach keine kurzlebigen Saisonartikel wie bei den sommergrünen Laubbäumen, sondern bleiben normalerweise viele Jahre am Gezweig. Schon mit bloßem Auge ist erkennbar, dass die dünnen Nadelblätter etwa von Fichte, Kiefer oder Douglasie keine Blattnerven aufweisen oder allenfalls einen feinen Mittelstrich zeigen. Dafür sind besonders auf der Unterseite der als Flachbauten konstruierten Nadeln von Douglasie, Hemlock oder Tanne äußerst dekorative, weiße Längsstreifen zu sehen. Auf diesen schmalen Bändern sind die feinen Spaltöffnungen angeordnet, die den Gasaustausch der Nadelblattgewebe mit der freien Atmosphäre übernehmen. Die Spaltöffnungen selbst sind unter der Lupe nicht zu erkennen, zumal sie auch noch in die Blattgewebe versenkt sind. Nur ihre Wachsversiegelung zeigt sich als auffälliges, gegen das dunkle Grün sehr apart kontrastierendes Streifenmuster. Bei der Fichte erkennt man einen solchen, allerdings nicht allzu auffälligen Nadelstreifen auf allen vier Flanken der im Querschnitt

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rautenförmigen Nadel. Bei den Kiefern sind die allseits (eingesenkten) Spaltöffnungsreihen ebenfalls nur mit der Lupe zu erkennen. Dafür überraschen sie mit einer besonderen Positionierung. Sie stehen nämlich im Unterschied zu den anderen Koniferennadeln immer auf Kurztrieben und bilden immer einen Vollkreis. Bei zweinadeligen Arten wie der heimischen WaldKiefer (Pinus sylvestris) sind sie folglich im Querschnittsbild halbkreisförmig, während sie bei fünfnadeligen wie der Arve (Pinus cembra) und der Strobe (Pinus strobus) aussehen wie besonders breite Tortenstücke. Eine erwähnenswerte Besonderheit weisen die Nadelspaltöffnungen aller heimischen oder eingeführten Nadelbäume auf. Ihre Schließzellwände sind mit hölzernen Spangen ausgestattet. Wie sie dennoch ihre regulativen Bewegungen hinbekommen, ist immer noch ein wenig rätselhaft. Fazit: Es lohnt sich, bei den Streifzügen draußen auch eine gute Lupe dabei zu haben, denn es gibt gerade in den kleineren Dimensionen (und nicht nur bei den Nadelbäumen) immer eine Menge zu entdecken.

2.14 Knallbunt und rätselhaft Die typischen Organe der Landpflanzen (Stängel, Blätter, Blüten und Früchte) sehen bei den mehr als 3500 in Mitteleuropa erlebbaren heimischen Pflanzenarten und den nicht minder zahlreichen Gartenpflanzen für den Ungeübten schon reichlich seltsam und zudem nach erstem Eindruck ziemlich unübersichtlich aus. Noch seltsamer erscheinen jedoch die auffälligen Wucherungen an den verschiedenen Pflanzenteilen, die man bei aufmerksamen Streifzügen in Wald und Flur sofort als etwas Untypisches bzw. aus der Norm Geratenes erkennt. Da finden sich auf den Blättern – wo sie in Augenhöhe am ehesten auffallen – oft stiftförmige, kugelige, linsenartige oder gar bärtige Auswüchse, die zumeist auch noch kräftig rötlich ausgefärbt sind und sich deswegen vom üblichen Bild eines Laubblattes klar abheben. Diese oftmals sicherlich kuriosen Gebilde tragen die Bezeichnung Pflanzengallen (Abb. 2.31). Mit unserer eigenen Anatomie und der darin arbeitenden namensähnlichen Galle(nflüssigkeit) bzw. der Gallenblase haben sie indessen überhaupt nichts zu tun. Vielmehr stellen sie eine örtlich und zeitlich begrenzte, aber durchaus besondere lokal begrenzte Wucherung eines bestimmten Pflanzenorgans dar, die unter direkter und ursächlicher Vermittlung eines (meist) tierischen Gallerzeugers entsteht. Dabei bilden sich an allen möglichen Pflanzenorganen auffällige und meist auch sehr

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Abb. 2.31  Gallen der Gallmücke Harmandia tremulae auf einem Blatt der ZitterPappel

formschöne Gewebewucherungen, die mit den eigentlichen Aufgaben der betroffenen Pflanzenteile überhaupt nicht zusammenhängen und auch sonst kaum Ähnlichkeit mit einem typischen Pflanzenorgan aufweisen. Gallträger und Gallerzeuger Eine Pflanzengalle als solche eindeutig zu definieren, erinnert ein wenig an den Versuch, einen aufgeblasenen Luftballon zu sezieren. Sie als auffällige Abweichung vom normalen Bauplan oder gar als Missbildung im weitesten Sinne zu erkennen, ist dagegen recht einfach. Gallträger können praktisch fast alle Vertreter des Pflanzenreiches sein. Besonders häufig treten sie bei den zweikeimblättrigen Pflanzen auf. Eine recht ungewöhnliche Bereitschaft zur Gallbildung besteht in Mitteleuropa bei den Vertretern der Pflanzenfamilien Buchen-, Weiden-, Rosen- und Korbblütengewächse. Klare Rekordhalter sind unsere Eichen (Buchengewächse): Bis zu 30 verschiedene Gallformen kann man auf einem einzigen Baum entdecken. Ebenso typenreich wie die Gallträger sind auch die Gallerreger. Die Auflistung beginnt bei bestimmten Bakterien, schließt etliche einfach gestrickte Mikropilze ein und endet bei manchen Tieren, besonders bei Fadenwürmern, Milben und Insekten. Jeder dieser Erreger erzeugt wirtsspezifisch seine besondere Gallform – und das ist besonders geheimnisvoll. Daher lassen sich nur anhand der Gallen die jeweiligen Erreger relativ eindeutig bestimmen.

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Geniale Umsteuerung Geradezu meisterhaft verstehen es manche Insekten, die pflanzliche Entwicklungsbereitschaft auszunutzen und nach ihrem eigenen Aktionsplan eventuell total umzusteuern. Mehrere Pflanzensauger sind wichtige Gallerzeuger. Auffällig sind beispielsweise die Aktionen der Fichtengallenlaus. Sie gestalten die Seitensprosse der Gewöhnlichen Fichte völlig um: Sprossachse und Nadeln verwachsen miteinander zu einer dickfleischigen, bleichgrünen Ananasgalle. Auch im braun vertrockneten Zustand kann man diese Lausgallen an den Zweigen noch lange sehen. Neben den an Pflanzen saugenden Läusen kommen aber auch Zweiflügler als Erreger von Gallbildungen infrage. An Birnen macht sich u. a. die Birnengallmücke zu schaffen und sorgt dafür, dass die Früchte schon sehr frühzeitig zu ganz ungewöhnlichen Formen anschwellen. Enorm umständlicher Ablauf Die bizarrsten und trickreichsten Gallen erzeugen die Gallwespen. Am Beispiel der Eichenschwammgallwespe schauen wir einmal auf Ablauf und Zweckbestimmung der Gallbildung. Mitten im Winter, etwa zwischen Dezember und Februar, sticht das Weibchen mit seinem Legebohrer die große Endknospe eines Eichenzweiges an und legt mehrere Eier hinein. Etwa ab Mitte März beginnt die Entwicklung der Knospengalle. Unter dem steuernd-manipulierenden Einfluss hormonartiger Substanzen, die zum Teil noch vom Legeeinstich stammen, beginnt nun das Pflanzengewebe, charakteristisch zu wuchern. Alsbald schlüpft aus jedem (meist einzeln) deponierten Ei eine Larve und sorgt durch weiteren Hormonschub für zusätzliche pflanzliche Wachstumsleistungen. Ringsum wächst nun eine besondere und völlig aus dem planmäßigen Entwicklungsprogramm der betreffenden Pflanzenart artspezifisch gestaltete Galle heran. In ihrem Inneren hält die Wirtsart mehrere Larvenkämmerchen frei, sodass die Larven sich inmitten reicher und ständig nachwachsender Nahrungsvorräte aufhalten können. Etwa Mitte Juni endet das Gallwachstum. Im Juli stellen auch die Larven ihr Wachstum ein und verpuppen sich. Etwa zwei Wochen später schlüpfen die nur 2–3 mm langen Gallwespen – geflügelte Männchen und ungeflügelte Weibchen. Die befruchteten Weibchen dieser Sommergeneration verkriechen sich in den Boden und legen dort ihre Eier an Eichenwurzeln ab. Wieder wird hier die Eiablage zum Startereignis einer Gallbildung, dieses Mal aber nur einer einzelnen Wurzelgalle. Galle und Larve benötigen unter Tage am Wurzelwerk der Eiche fast anderthalb Jahre

2  Was Pflanzen so hinblättern     149

Abb. 2.32  Gallbildung der Schlafapfel-Gallwespe (Diplolepis rosae) – die recht auffällig ausgefärbte und bärtig verzweigte Galle entsteht aus umgesteuerten Blattanlagen. Wenn sie an fertigen Blättern entstehen, bleiben sie deutlich kleiner

für die komplette Entwicklung. Erst im Winter des Folgejahres schlüpfen aus den Wurzelgallen die jetzt 3–6 mm langen Weibchen. Sie entwickeln unbefruchtete Eier und legen diese wiederum in die Blattknospen. Der vollständige Entwicklungszyklus einer Eichenschwammgallwespe umfasst somit volle zwei Jahre (Abb. 2.32). Parasitismus oder Sonderform einer Partnerschaft? Sind die Larven der Gallerzeuger nun freche Parasiten oder nicht? Früher fiel die Antwort rasch und eindeutig aus: Die Larven ernähren sich erwiesenermaßen von Pflanzenmaterial und verhalten sich als phytophage Konsumenten damit also eindeutig parasitisch. Die daraus entstehenden Schäden sind für die befallenen Pflanzenarten aber sicherlich nur minimal und daher vernachlässigbar, weil lokal total begrenzt – ganz anders als bei einer Borkenkäferinvasion bzw. einem  Massenbefall durch bestimmte andere Forstschädlinge wie Nonne oder Prozessionsspinner. Unter diesem besonderen Eindruck stellt man heute daher zunehmend einen ganz anderen und weitaus sympathischeren Aspekt in den Vordergrund: Unter dem direkten Einfluss der jeweiligen Gallerzeuger lässt sich das Pflanzengewebe (was ohnehin schon ein Wunder ohnegleichen ist) recht bereitwillig und nur punktuell umsteuern. Es stellt mit der fremdinduzierten artspezifisch aussehenden Galle bereitwillig eine sichere Wohnung sowie reichlich Nahrung

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zur Verfügung. Das sieht doch sehr nach fürsorglicher Kooperation aus – ein im Übrigen auch in anderen ökologischen Kontexten zunehmend diskutierter Sachverhalt, denn Lebensgemeinschaften funktionieren weitgehend eben nur auf der Basis solcher besonderen Gegenseitigkeiten bzw. Partnerschaften. Dem einen Beteiligten ermöglicht dieses bemerkenswerte Zusammengehen überhaupt das Leben, aber den anderen schädigt es jedenfalls nicht lebensbedrohend nachhaltig. Es ist also fast so wie bei einer Schwangerschaft …

2.15 Fibonacci und die Folgen Nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung könnte man zu der Einschätzung gelangen, die Blätter einer Höheren Pflanze seien an Sprossachse bzw. Stängel nahezu beliebig oder gar zufällig verteilt. Dieser Eindruck bedarf einer nachhaltigen Korrektur – Sie werden überrascht sein. Die Achsenorgane gliedern sich üblicherweise in Knoten (Nodien) und die jeweiligen Abschnitte dazwischen (Internodien). Sitzt an einem Knoten nur ein Blatt, steht das Blatt des nächsthöheren Knotens am Stängel wegen der immer angestrebten Lichtgenussökonomie nicht genau darüber, sondern ist jeweils um einen bestimmten Winkelbetrag versetzt. Die Blätter sind dann eben wechselständig. Von unten nach oben ergibt ihre Abfolge somit eine regelmäßige Spirale. Und jetzt kommt ein wenig Spielerei hinzu: Man kann beim sorgfältigen Abtasten eines Stängels die Zahl der Umläufe bestimmen, um weiter oben wieder auf ein höheres Blatt zu treffen, das (einigermaßen) genau über einem tieferen Vorgänger steht. Das Ergebnis lässt sich höchst elegant als Bruchzahl ausdrücken. Die Zahl der benötigten Umläufe um den Stängel schreibt man in den Zähler, die Anzahl der beim spiraligen Aufstieg angetroffenen Blätter in den Nenner. Überraschend ergeben sich dann mit 1/2, 1/3, 2/5, 3/8 und 5/13 nur relativ wenige, aber weitverbreitete Grundtypen. Noch überraschender ist, dass diese von den Botanikern Karl Schimper (1803–1867) und Alexander Braun (1805–1877) bereits um 1830 herausgefundene Regelhaftigkeit in der Gestalt der Blütenpflanzen ziemlich exakt der berühmten Zahlenreihe entspricht, die nach dem italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci (eigentlich Leonardo von Pisa, 1170–1250, seinerzeit Hofmathematiker bei Friedrich II.) benannt ist. Die Summe der Zähler und der Nenner zweier benachbarter Brüche ergeben jeweils die folgende Bruchzahl (Tab. 2.3). Die zugrunde liegenden Spiralen haben aber wegen der Stängelgeometrie immer den gleichen Winkelabstand ihrer Windungen – es sind deswegen archimedische

2  Was Pflanzen so hinblättern     151 Tab. 2.3  Fibonacci-Zahlen und Goldener Schnitt Fibonacci-Reihe

Quotienten

Zahlenwert

1 1

1:1

1,000000

2

2:1

2,000000

3

3:2

1,500000

5

5:3

1,666666

8

8:5

1,600000

13

13:8

1,625000

21

21:13

1,615385

34

34:21

1,619047

55

55:34

1,617647

89

89:55

1,618162

Spiralen. Die diesen Positionierungen folgenden Blätter streben mit ihren jeweiligen Winkelabständen einen Grenzwert um 137° an. Spiralen in Projektion Pflanzen zeigen dazu durchweg bemerkenswerte Alternativen. Ungemein eindrucksvoll zeigt sich das Projektionsbild einer Fibonacci-Reihe bei solchen Pflanzenarten, die eine bodenanliegende Blattrosette entwickeln. Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel in der heimischen Flora präsentiert der überall häufige Breit-Wegerich (Plantago major) (Abb. 2.33). Bei ihm bleibt es auch bei der Blattrosette, denn die schmucklosen Blütenstände entwickeln sich jeweils an einem blattlosen Schaft. Genaueres Nachzählen ergibt nun Folgendes: Startend beim ältesten (untersten) Blatt der Rosette benötigt man drei Umläufe und berührt dabei acht Blätter, bis man zum neunten Blatt gelangt, und dieses steht wieder ziemlich genau über dem Ausgangsblatt. Der zwischen Blatt 1 und 8 eingeschlossene Winkel beträgt 135°. Dieser Divergenzwinkel kennzeichnet auch den Winkelabstand zwischen zwei anderen aufeinanderfolgenden Rosettenblättern. Damit kommt der Breit-Wegerich dem mathematisch exakten Goldenen Winkel von 135°30′, der den umgebenden Kreisbogen (1→8): (8→1) im Verhältnis des Goldenen Schnitts teilt, doch erstaunlich nahe. Vergleichbare Verhältnisse trifft man auch bei den Königskerzen (Verbascum spp.) und etlichen Disteln oder deren Verwandten (Carduus, Cirsium oder Dipsacus ) an, die vor dem Sprosslängenwachstum zunächst

152     B. P. Kremer 5

2

8

3 135°

7

9 6

4 1

Abb. 2.33  Idealbild einer Blattrosette des Breit-Wegerichs

eine vielgliedrige und den Winter überdauernde Blattrosette dicht am Boden entwickeln. Sie zeigen einen ganz anderen Spiraltyp, der von der Blattstellung am Stängel grundverschieden ist. Es sind auch hierbei nämlich logarithmische Spiralen. Solche entdeckt man auch bei der genaueren Betrachtung etwa von Pinien- oder anderen Kiefernzapfen sowie in Magnolienblüten. Erstaunliche Kurven Erstmals befasste sich mit diesem Spiraltyp der französische Mathematiker und Philosoph René Descartes (1596–1630). Rechnerisch behandelte diese besondere Kurvenform und von ihm als spira mirabilis (wundersame Spirale) bezeichnete Kurvenform erstmals der Schweizer Mathematiker Jakob Bernoulli (1654–1705). Er empfand sie wegen ihrer ästhetischen Gesamtwirkung als besonders faszinierend sowie beinahe magisch. Folglich bat er bezeichnenderweise sogar darum, man möge ihm ein solches nach seinem Empfinden bemerkenswert ausgewogen erscheinendes Kurvenbild sogar auf seinen Grabstein meißeln. Der zweifellos geniale Bernoulli ist im Basler Münster beigesetzt. Seine Nachfahren haben jedoch bei der Auftragserteilung bedauerlicherweise nicht hinreichend aufgepasst, denn die auf seinem in schönen barocken Formen gestalteten Epitaph ganz unten wiedergegebene Spirale ist nämlich fatalerweise überhaupt keine logarithmische, sondern eine simple archimedische, in welcher der Abstand der Spiralbögen

2  Was Pflanzen so hinblättern     153

vom Ausgangspunkt eben nicht exponentiell, sondern nur konsistent nach einfachen Rechenvorschriften konstant bleibt.

2.16 Auch eine Spitzenleistung Die Laubblätter der Bäume sind nach durchweg unterschiedlichen und sogar artspezifisch verschiedenen Schnittmustern gestaltet – und gewöhnlich bemerkenswert formschön. Bei der Artbestimmung einzelner Gehölzarten übersieht man jedoch häufig ein bei etlichen Spezies ausgeprägtes und zweifellos besonderes Merkmal der Blattmorphologie, das sicherlich Beachtung verdient: Die Blattspreite (Lamina) ist vorn nicht einfach gerundet oder stumpf, sondern läuft in eine betont schlanke Spitze aus. Andeutungsweise kann man diese Formgebung bei der heimischen RotBuche (Fagus sylvatica) sehen, dazu etwas ausgeprägter auch bei der HängeBirke (Betula pendula) und den meisten Pappelarten (Populus spp.), aber auch beim Haselstrauch (Corylus avellana). Noch eindrucksvoller zeigt sich dieses Blattgestaltungsmerkmal bei dem in Parkanlagen oder Gärten gerne angepflanzten Trompetenbaum (Catalpa bignonioides) – hier misst die Blattspitze sogar mehr als 1 cm Länge  (Abb. 2.34). Eine solche besondere Blattform kann kein blanker Zufall sein, sondern fordert zu zielführenden Erklärungen heraus.

Abb. 2.34  Schlank und spitz – bei den gerne angepflanzten Trompetenbäumen sind die Träufelspitzen sehr ausgeprägt

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Niederschläge können arg belasten Ein kurzer erquickender Landregen ist für Feld und Flur ebenso wie für die Waldstücke eine Wohltat – insbesondere nach längeren sommerlichen Hitzewochen. Tagelanger Dauerregen ist für die sichernde Auffüllung der Grundwasservorräte zwar ebenfalls bedeutsam, hat aber für die Bäume die folgende und eventuell nachteilige Konsequenz: Das eventuell reichlich auftreffende Niederschlagswasser haftet zunächst adhäsiv eine Weile lang auf den zahlreichen Blättern eines üppig entwickelten Kronenraums – erfahrungsgemäß bieten große Bäume einen vorübergehenden Regenschutz. Aber dann ist es aus. Die Blätter führen die anhaftenden Wassermengen nach unten ab, und man gerät dann zunehmend in die Traufe. Was man nicht unterschätzen sollte: Die nach Dauer- oder Starkregen im Baumkronenbereich haftende Wassermenge kann sich zu etlichen Kubikmetern aufsummieren und sich dann – 1 m3 Wasser wiegt 1 t – zu einem schwergewichtigen Problem ausgestalten, und das ist für die Bäume eventuell eine arge zusätzliche Belastung. Ab und weg Blattoberflächen sind wegen der besonderen chemischen Ausstattung gerade ihrer oberseitigen Grenzschichten (Epidermis) im Prinzip immer deutlich hydrophob. Die Außenwände vor allem der oberen Epidermis weisen eine gewisse Wachsbeschichtung auf, die den Wassermolekülen keinen längeren Aufenthalt in Aussicht stellt. Die Folge ist, dass sie – sobald es die beim Wasser ausgeprägten Adhäsionseigenschaften zulassen – abperlen und wegrennen. Dieses bezeichnende Fluchtmanöver wird nun enorm erleichtert durch eine ausgeprägt schlanke Blattspitze – hier sammeln sich die ablaufenden Minirinnsale der übrigen Blattfläche, vereinigen sich in der Spitzenregion zu größeren Tropfen, und diese fallen dann – sozusagen als Sekundärregen – zu Boden. Physikalisch erwiesen ist, dass gerade die schlank ausgezogenen Blattspitzen die Tropfenbildung enorm beschleunigen und deren erneutes Abregnen in die Wege leiten. Zutreffenderweise nennt man diese wirksame Abtropfhilfe daher Träufelspitzen  (Abb. 2.35). In unseren Breiten ist deren Funktion vielleicht nicht ganz so essenziell. Aber in den besonders niederschlagsreichen tropischen Regenwäldern kann das schon eine vitale Hilfe sein. In früheren Zeiten haben Ökologen die besonderen Besiedlungsverhältnisse von Regenwaldbäumen nur deswegen genauer erkunden können, weil fallweise ein viele Tonnen schwerer Ast

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Abb. 2.35  Auch die heimische Hainbuche zeigt eine deutlich entwickelte Träufelspitze

abbrach und dann für die nähere Inspektion am Boden lag. Bei tropischen Gehölzen sind Träufelspitzen viel häufiger als in der heimischen Baum- oder Strauchflora. Bei Ihrem nächsten Besuch im Tropenhaus eines Botanischen Gartens wäre das ein interessantes Beobachtungsziel.

2.17 Hart im Nehmen Jede Landkarte vereinfacht: An einer Weichbodenküste grenzt das Festland durchaus nicht messerscharf an den Meeresstrand. Zwischen diesen unterschiedlichen Welten erstreckt sich jeweils eine je nach Küstenmorphologie schmalere oder breitere Zone, die zwar zum Land gehört, aber vom Meer nachhaltig geformt wird. Massenhaft schleppen die Gezeiten vom tieferen Meeresboden Sande unterschiedlicher Korngrößen heran, lagern sie in stillen Buchten ab oder ziehen sie zu kilometerlangen Stränden auseinander. Das war’s aber noch nicht, denn an Land geht der unentwegte Sandtransport ständig weiter. Jetzt ist aber nicht mehr das Wasser, sondern nur noch der Wind das hauptsächlich beteiligte Versand(ungs)unternehmen. Insofern ist ein Strand ein hochgradig dynamisches Strukturgefüge, in dem sich ständig irgendwelche Veränderungen auf unterschiedlichen Zeitskalen ereignen (vgl. Kremer 2021b).

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Dünamisches: Sand in Serie Bei trockenem Wetter hält der Wind die Sandlieferung aus dem Bereich der tidenabhängigen Wasserlinie ständig in Gang. Sandkörner, die zunächst nicht mehr durch die Kapillarkräfte der Wasserfilme in den Lücken zusammengehalten werden, werden ziemlich bald völlig haltlos und segeln vor dem Wind in flachen Flugbahnen landeinwärts. Hier bauen sie schrittweise den oberen Strand auf, der im Sommer kaum noch von den Springtidenflutständen erreicht wird, aber bei starken Winterstürmen beträchtliche Umbauten erfährt. Die zunächst noch flachen Sandwälle wachsen allmählich in die Höhe und bilden Sandberge mit steileren Flanken. So wird die anfangs noch wenig auffällige Vordüne schließlich zur steilkuppigen Weißdüne, die so manche Küstenszenerie wunderbar garniert. Die helle Färbung verdeutlicht, dass der Sandboden hier noch keinen dunklen Humus angesammelt hat wie in der anschließenden Graudüne. Außerdem ist abzusehen, dass das Wasserrückhaltevermögen hier nicht besonders ausgeprägt ist. Hinsichtlich ihrer Ökologie sind Dünen also durchaus problematische Standorte. Allen Widerständen trotzen Obwohl der an der Oberfläche ständig bewegte und auch kaum wasserbindende Sand nicht gerade besonders einladend erscheint, siedeln hier in beachtlicher Dichte spezialisierte Pflanzen – vor allem Gräser. Sie helfen erkennbar, auf den Kämmen und Leelagen der Weißdünen das noch lockere, vom Wind aufgeschüttete und zusammengetragene Machwerk zu befestigen. Man darf ihnen daher einen bemerkenswerten Pionierstatus zuerkennen. Die hier tatsächlich und durchaus erfolgreich siedelnde Pflanzengesellschaft ist bemerkenswert artenarm. Zu ihrer Standardausstattung gehört der Strandhafer (Ammophila arenaria), der – wie sein wissenschaftlicher Gattungsname ausdrückt, eine besondere Affinität zu solch schwierigen Standorten besitzt (ammophil =  sandliebend). An seinen Wuchsplätzen sehen seine Horste üblicherweise immer ein wenig nach Sturmfrisur aus (Abb. 2.36), macht aber sonst fast immer einen überraschend vitalen Eindruck. Wie schafft er das? Ganz besondere Blätter Strandhafer rollt seine ohnehin grasartig schlanken Blätter zur Unterseite hin stark zusammen, sodass sie fast wie Rundblätter aussehen. Auch bei Gräsern liegen die für den Gasaustausch mit der Atmosphäre zuständigen

2  Was Pflanzen so hinblättern     157

Abb. 2.36  Erkennbar kein allzu gemütlicher Wuchsplatz: Der Strandhafer begründet gerade ein Primärdüne

Spaltöffnungen auf der Blattunterseite. Im zusammengerollten Blatt befinden sie sich sozusagen in einem bemerkenswert windgeschützten Raum – hier können also auch kräftigere und vor allem permanente Luftbewegungen direkt an der offenen Küste die immer vorhandenen Transpirationsverluste nicht nennenswert antreiben. Und noch etwas fällt bei der Betrachtung eines Querschnittsbildes auf (Abb. 2.37): Die Spaltöffnungen liegen nicht nur im wirksamen Windfang der eingerollten Blattunterseite, sondern dort auch in besonderen Vertiefungen zwischen den Leitbündeln. Das ist zweifellos Prophylaxe pur. Aber noch etwas ist zu berücksichtigen: Eigentlich müsste der ständig auf die Pflanzen der Weißdünen einprasselnde Flugsand ebenso zerstörerisch wirken wie ein Sandstrahlgebläse. Aber auch diese enorme mechanische Belastung steckt der Strandhafer ganz locker weg. Erstens lässt die schlanke Rundform der Blätter viele auftreffende Sandkörner einfach abprallen. Und außerdem: Das mikroskopische Querschnittsbild (Abb. 2.37) – es zeigt einen Blattschnitt zusammen mit einigen Feinstsandkörnern aus dem Dünenmilieu – überzeugt sofort davon, dass die besonders dicken und folglich derben Epidermen der Blattoberseite auch vom permanenten Flugsand nicht so schnell anzugreifen sind. Windschliffspuren hat man kaum je einmal gesehen. Ähnlich sand- bzw. windresistent zeigt sich der Strandroggen (Leymus [Elymus] arenarius). Seine breiten, flachen und blaugrauen Blätter fühlen

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Abb. 2.37  Mikroskopisches Schnittbild durch ein Strandhaferblatt – aufgenommen zusammen mit Sandkörnern der feinsten Fraktion

sich ähnlich hart und widerstandsfähig an wie die vom Strandhafer – und sie sind es auch. Gegebenenfalls kann der Strandroggen sein Blattwerk ebenfalls zur Unterseite einrollen und dem Flugbetrieb der Sandkörner damit einen wirksamen Schutzschild präsentieren. Ein Blick in die Tiefe Der Standort der Dünengräser ist ganz ohne Zweifel nicht unproblematisch. Die beteiligten Arten entwickeln deswegen ein sehr dichtes und weit reichendes Wurzelwerk mit erheblich größerer Biomasse, als es die wenigen Halme vermuten lassen. Außerdem sind alle Dünengräser erstaunlich übersandungsfest. Sollten sie von den auflandig bewegten Sandmassen einmal verschüttet werden, bilden sie einfach neue Wurzeletagen und kommen nach kurzer Zeit wieder mit frischen Trieben zum Vorschein. Dünen schützen die Küste. Mit künstlichen Anpflanzungen von Dünengräsern (vor allem Strandhafer) versucht man daher, Dünen auf Dauer festzulegen. Weil sie gleichsam eine natürliche Hochwasserbarriere bilden, darf man Dünen verständlicherweise nicht betreten, denn wilde Trampelpfade zerstören die Pflanzendecke. Zudem könnten Windanrisse erneut Bewegung in die Düne bringen und ihre Sandmassen weitflächig verlagern. Eine Wanderdüne ist zwar zugegebenermaßen ein interessantes Naturphänomen, aber an den meisten Küsten überaus unerwünscht.

3 Blühen, Reifen, Fruchten

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021 B. P. Kremer, Geniale Pflanzen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-63152-2_3

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Wenn die nackt- ebenso wie die bedecktsamigen höheren Pflanzen blühen, präsentieren sie gleichsam die besonderen Höhepunkte in ihrem Leben. Man darf diese Feststellung sogar durchaus wörtlich nehmen, denn Blüten entwickeln sich fast immer in Ein- oder Mehrzahl ganz am Ende der Sprossachsen(glieder) und nehmen dort – ganz unverkennbar gewollt – fast immer eine unübersehbare Spitzenposition ein. Das kann so einfach kein Zufall sein, und daher muss man deren buchstäblich herausragende Positionierung als besondere Adresse an die Umwelt verstehen: Blüten bzw. Blumen sind zwar ebenso direkt wie unzweifelhaft strikt in die Fortpflanzungsbiologie ihrer jeweiligen Arten eingebunden, aber sie sind – ganz anders als Stängel oder grüne Blätter – in besonderem und geradezu bewundernswertem Maße auf zum Teil äußerst komplexe Umweltbeziehungen angelegt. Für die in ihrer unmittelbaren Entwicklungsfolge stehenden Samenstände bzw. Früchte gilt das konsequenterweise entsprechend. Dieses Kapitel stellt Ihnen aus diesem zweifellos besonders spannenden Feld der Pflanzenbiologie einige aufregende bis faszinierende Fallbeispiele vor. Blüten bestehen als Sprossanhangsorgane zwar grundsätzlich nur aus – oftmals zugegebenermaßen besonders hübsch aus- und umgestalteten – Blättern, sind aber tatsächlich kein eigenständiges Grundorgan der Höheren Pflanzen. Im Unterschied zur üblichen grünen Belaubung repräsentieren sie aber eben doch eine ganz besondere Klasse. Flora: Farbe, Freude und Faszination Wo Blumen blühen, verzaubern sie nachhaltig ihre Umwelt. Blühende Pflanzen verändern das Gesicht der Landschaft und lassen diese fallweise flächig in Farbe versinken. Die angeblich rund drei Dutzend verschiedenen Grünnuancen einer irischen Hügellandschaft mit oder ohne tief hängende Wolken geben zwar zugegebenermaßen auch ein ansprechendes und meist zweifellos kalenderblatttaugliches Gesamtbild her, aber eine blumige Wiese oder ein total bunter Ackerrain laufen ihr unstrittig den Rang ab. Die Blüte als bewundernswerte und bewunderte Einzelschöpfung der Natur und erst recht die vielköpfigen blumigen Ensembles in der Naturbzw. Kulturlandschaft sind einfach visuelle Knalleffekte schlechthin. Ausgleich in Sicht? Der hinreichend dokumentierte Rückgang der Insektenvielfalt in unserer modernen Kulturlandschaft hat viele naturbegeisterte Menschen verständlicherweise aufgeschreckt. Wenn die Insekten ausbleiben, verweist dieser zweifellos bedauerliche Befund auf den einfach einzusehenden

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Zusammenhang, dass die in aller Regel heftig begiftete bzw. total überdüngte Kulturlandschaft im Bereich der landwirtschaftlichen Nutzflächen Nahrungsressourcen nicht mehr in genügendem Umfang bereitstellt. Wo kein hinreichendes Nahrungsangebot besteht, kann es folglich auch keine interessanten Nahrungsnutzer geben, und diese einfache systemökologische Einsicht durchzieht sämtliche Nahrungsketten bzw. -netze bis hin zu den Vögeln und Kleinsäugern. Hier ist wirksame Abhilfe dringend geboten und überraschenderweise durchaus möglich – im behördlich organisierten, aber auch im privaten Rahmen. Immerhin: Fehlende Bestäuberinsekten haben auch ernste Konsequenzen für den gewerblichen wie privaten Obstbau. Farbenfroh blühende Ackerwildkräuter sind aber immer noch ziemlich rar. Kornblume und Klatsch-Mohn, Echte Kamille oder Saat-Wucherblume treten in der Feldflur kaum noch oder allenfalls ausnahmsweise aspektbildend in Erscheinung. Sommer-Adonisröschen, Venusspiegel, AckerLöwenmäulchen, Kleinblütiger Erdrauch oder Ackerkohl sowie etliche andere in der traditionell bewirtschafteten Feldflur üblicherweise anzutreffende Arten werden viele Pflanzenfreunde nicht einmal mehr dem Namen nach, geschweige denn von der unmittelbaren Anschauung vor Ort kennen. Aber: Die Politik hat dazu bemerkenswerte Initiativen eingeleitet. Schon vor  Jahren  wurde das für die Bewahrung der charakteristischen Wildkrautflora beackerter Flächen das sogenannte Randstreifenprogramm eingeführt. Dabei verzichten die Landwirte in ausgesuchten Randbereichen der Äcker gegen Ausgleichszahlung für Minderernte oder Ernteerschwernis auf die Ausbringung von Pflanzenvernichtungsmitteln bzw. auf bestimmte mechanische Verfahren der Unkrautbekämpfung. Nichts tun ist in vielen Fällen für naturnahe Gefüge immer sehr vorteilhaft. So dankt es die Wildkrautflora u. a. auch mit üppigerer Entfaltung, wenn die Düngung mit stickstoffhaltigen Verbindungen weitgehend aussetzt. Wie so oft: Römische Ursprünge Für die dekorativen Ensembles in den Blumentöpfen auf dem heimischen Balkon oder die hübschen Farbtupfer der Pflanzbeete im ausgedehnten Stadtpark verwenden die Umgangs- und die Fachsprache den Sammelausdruck „Flora“. Der lateinisch-römische Ursprung dieser Bezeichnung ist unverkennbar. Mit Flora bezeichneten die alten Römer ihre für Blüten und Gärten zuständige Göttin – in späterer Zeit vielfach in ansprechenden bis hintergründig allegorischen Gemälden dargestellt, so beispielsweise im berühmten, 1478 entstandenen Bild La Primavera von Sandro Botticelli

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(1445–1510). Nachweislich errichteten sie ihr schon im Jahre 238 v. Chr. nahe beim Circus Maximus im antiken Stadtzentrum Roms einen eigenen Tempel. Konsequenterweise hatte die göttliche Flora im Frühjahr auch ihre eigenen und – glaubt man den antiken Quellen – meist sogar ziemlich heftig bis ausgelassen begangenen Festtage. Die Floralia fanden jedes Jahr zwischen April und Mai statt, wenn auch im mediterranen Süden fast alles in Blüte stand. Nach römischer Auffassung soll die blumige Göttin Flora mit der seinerzeit ebenfalls hochverehrten Ceres verwandt sein, der wachsamen Göttin des Ackerbaus und aller der Ernährung dienenden Pflanzen (daher die namentliche Ableitung „Cerealien“). Das wäre gewiss eine durchaus passende Familienbande. Somit steht der Begriff „Flora“ seit weit über 2000 Jahren in enger Verbindung zur blühenden Pflanzenwelt. Begrifflich sind damit in vielen modernen europäischen Sprachen diejenigen Wörter eng verwandt, die Blüten bzw. Blumen bezeichnen, beispielsweise flores (spanisch), fleurs (französisch), fiori (italienisch) oder flowers (englisch). Kleiner Ausdruck großer Eindrücke Soweit es überhaupt schriftliche und/oder bildliche Zeugnisse gibt, haben gerade die Blumen in sämtlichen Hochkulturen und zu allen Zeiten eine bewundernde Wahrnehmung erfahren, obwohl sie im Leben der Pflanzen nur eine vorübergehende und damit zeitlich durchaus begrenzte Erscheinung darstellen – eben ein relativ kurzes Intermezzo zwischen Keimen, Wachsen, Fruchten, Reifen und Vergehen. Die unstrittige formale Ästhetik, mit der sich fast alle Blumen in Szene setzen, ist nach Aussage der meisten Psychologen gewiss ein höchst subjektives und besonders durch die kulturelle Vorformung des Wahrnehmenden entscheidend mitgeprägtes Empfinden. Andererseits muss es aber nachdenklich stimmen, dass die Menschen offenbar nicht die einzigen Fans der florierenden Flora sind. Nicht wenige Tiere nehmen Blüten und Blumen umso eher wahr und reagieren darauf mit gezielter Hinwendung, je eher diese auch unser eigenes Formempfinden ansprechen. Und ganz wichtig: Blüten und Blumen hat die Evolution sicherlich nicht primär für die Menschen entwickelt. Die organismischen Sonderbildungen stehen in einem gänzlich anderen Funktions- bzw. Bedeutungszusammenhang. Erst die menschliche Kultur hat sie aus ihrem engen biologischen Auftrag gelöst und zur dekorativen Zutat für mancherlei Anlässe instrumentalisiert. Aber an ihnen erfreuen dürfen wir uns trotzdem!

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3.1 Frühlingserwachen noch im Winter Es ist immer beeindruckend: Lange bevor sich das Kronendach der Bäume belaubt, breiten sich auf dem Laubwaldboden üppigste Blütenteppiche aus. Dagegen herrscht zu diesem Zeitpunkt in den angrenzenden Wiesen und Feldern praktisch noch tiefe Winterruhe. Der typisch mitteleuropäische Laubwald erfährt seinen Blühhöhepunkt also erstaunlicherweise bereits geraume Zeit vor dem allgemeinen Laubaustrieb Ende April/Anfang Mai. Die gleichsam vor der Saison blühenden Waldbodenpflanzen müssen daher wohl über besondere Angepasstheiten verfügen, um schon so relativ früh blühend zur Stelle zu sein. Die betont früh blühaktiven Arten sind zweifellos allesamt ökologische Spezialisten. Sie haben sich auf einen Zeitraum eingerichtet, in dem es nicht mehr allzu kalt, aber auch noch nicht zu dunkel ist. Sobald sich nämlich die winterkahlen Bäume im weiteren und deutlich wärmeren Frühjahr belauben, geht gleichsam der Sargdeckel zu – der Waldboden empfängt dann nur noch einen Bruchteil des Strahlungsangebots, das auf die Oberseiten der Baumkronen trifft, und versinkt wieder im Halbdunkel. Nur solange die Frühjahrssonne durch die noch kahlen Baumkronen scheint, erwärmt sich der meist dunkle Waldboden rascher als der Luftraum darüber, sodass hier Bodentemperaturen bis etwa 20 °C durchaus keine Ausnahme sind. In erstaunlich kurzer Zeit nutzen die Waldbodenpflanzen diese Starthilfe hochgradig effizient. Eingemachtes auf Abruf Alle betont früh  blühenden Waldbodenpflanzen besitzen besondere unterirdische Speicherorgane mit beträchtlichen Stoffreserven, mit denen sie die ungünstige Jahreszeit ohne oberirdische Teile überdauern. Solche Lebensformen nennt man Geophyten. Diese früh blühende Artengruppe des Waldbodens kann also gleichsam ans Eingemachte gehen und die im Vorjahr eingelagerten Vorräte direkt nutzen. Märzenbecher, Schneeglöckchen, Goldstern und Bärlauch verwenden als Reserveorgan jeweils Zwiebeln, also gestauchte Sprossachsen mit besonders dicken Speicherblättern. Leberblümchen, Buschwindröschen und Maiglöckchen besitzen dicke Rhizome (Wurzelstöcke). Die Lerchensporne sind mit Sprossknollen ausgestattet. Beim Scharbockskraut dienen verdickte Wurzelknollen als Speicherorgan.

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Frühstart auch im Garten Viele Waldbodengeophyten haben wegen ihres betont frühen Blühtermins als Zierpflanzen Eingang in die Gärten gefunden, neben Schneeglöckchen auch Märzenbecher, Leberblümchen, Winterling, Hasenglöckchen und Traubenhyazinthe. Die Wildformen der Krokusse, Tulpen oder Hyazinthen stammen aus süd(ost)europäischen oder asiatischen Offenlandbiotopen und sind ökologisch vergleichbar eingerichtet, denn sie schließen ihren Entwicklungszyklus vor der artenreichen und oft sehr hochwüchsigen Staudenkonkurrenz des gleichen Standorts ab. Ganz besonders früh dabei Eine der markantesten Arten aus der früh aktiven Frühjahrsflora ist das allgemein bekannte Schneeglöckchen (Galanthus nivalis) (Abb. 3.1). Die natürlichen Vorkommen nördlich der Alpen lassen sich heute nicht mehr ganz genau ausmachen, aber humusreiche Laubmischwälder und Gebüsche in Süddeutschland kommen als (letzte) Wildpopulationen der Art infrage. Als Wildpflanze ist das Schneeglöckchen durch EU-Verordnung geschützt – ausgraben und mitnehmen geht also gar nicht. Meist kann man an den zahlreichen Vorkommen entlang von Flurgebüschen aber kaum mehr unterscheiden, ob es sich bei den betreffenden Pflanzen um eine autochthone Wildpopulation oder schlicht Gartenflüchtlinge handelt, und die sind nach aller Erfahrung überaus häufig. Stellenweise

Abb. 3.1  Schneeglöckchen starten die Blühsaison – in manchen Regionen schon im Januar

3  Blühen, Reifen, Fruchten     165

überziehen die (verwilderten?) Schneeglöckchenvorkommen ganze Waldstücke oder Gebüschhänge mit Zehntausenden Individuen – ein im Vorfrühling zweifellos überaus erfreulicher und hoffnungsfroher Aspekt. In den Gärten wintermilder Regionen (beispielsweise im Rheinland) und in den Weinbauregionen zeigen sich die ersten Blattspitzen der Schneeglöckchen bereits im Dezember. Fallweise blühen einige Exemplare auch schon Mitte Januar auf. Sollten diese von Frost und/oder Schnee ab Januar überrascht werden, ist auch das überhaupt kein Problem. Sowohl die schmucken Blüten wie auch die etwas fleischigen und blaugrünen, weil wachsbereiften Blätter sind zuverlässig winterfest. Schneeglöckchen erfrieren nicht. Mal genauer hinsehen Die hübsche Blüte eines Schneeglöckchens verdient durchaus eine nähere Inspektion. Das strahlende Weiß ihrer sechs Blütenhüllblätter (Perigonblätter) ist nicht farbstoffbedingt, sondern geht auf Lufteinschlüsse in den Zellzwischenräumen der Blattgewebe mit daraus resultierender Totalreflexion zurück – zerquetscht man ein Perigonblatt zwischen den Fingern und vertreibt so die Lufteinschlüsse aus den Interzellularen, bleibt ein unansehnlich glasig-wässriges Gebilde zurück. Die drei äußeren Perigonblätter sind immer ein wenig länger als die inneren. Letztere tragen an ihrer Basis eine umgekehrt V-förmige grüne, gelblich umsäumte Marke, die den besonders frühen Blütenbesuchern (vor allem Bienen und Hummeln) als wichtige Orientierungshilfe zum Auffinden der Nahrungsquellen dient (Abschn. 3.2). Ungewöhnlich ist dabei, dass das sonst überwiegend den Blättern vorbehaltene Chlorophyll (Blattgrünstoff) auch als gezielter Marker in Blüten zum Einsatz kommt. Zudem duften diese auch viel intensiver. Und noch ein interessanter Befund: Die weißen Perigonblätter reflektieren die UV-Anteile im Tageslicht sehr stark, sodass die Blüten selbst bei weitgehender Schneebedeckung von potenziellen (und UV-sichtigen) Besucherinsekten leicht zu entdecken sind (Abschn. 3.2). Sollten Sie eine kleine Schneeglöckchenpopulation in Ihrem Garten haben, nehmen Sie sich an einem sonnigen Spätwintertag unbedingt einmal die Zeit, dem tierischen Treiben an den einzelnen Blüten genauer zuzuschauen. Ergebnisreiche Blütenbiologie kann man durchaus auch von der Gartenbank aus betreiben. Jetzt machen auch die Ameisen mit Meist achtet man gar nicht darauf, wann und wie die Schneeglöckchen fruchten. Im fortgeschrittenen Frühjahr (ab Mai) sinken die längsovalen Kapselfrüchte an den ehemaligen und nunmehr schlaffen Blütenstielen zu

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Boden. Sie öffnen sich von der Spitze zur Basis hin. Die Samen tragen nämlich besondere ölreiche Anhängsel (Elaiosomen), die bei fouragierenden Ameisen besonders beliebt sind. Die Tiere nutzen die Elaisomen als willkommene Diät, lassen aber die weithin verschleppten Samen irgendwo liegen. Das mag den beachtlichen Ausbreitungserfolg der Art erklären – man findet im eigenen Garten (und auch in der freien Landschaft) irgendwann einmal Schneeglöckchen an Stellen, an denen man sie nie gepflanzt hat. Noch ein bemerkenswerter Frühstarter Ein unbedingt anschauenswerter und nur wenig später als die Schneeglöckchen blühender Frühstarter ist der Winterling (Eranthis hyemalis) (Abb. 3.2). Er führt seine frühe Blühphase (ab Februar) sogar im Artnamen. Die Art stammt aus Südosteuropa, ist aber seit etlichen Jahrhunderten als Zierpflanze weit verbreitet und vielerorts auf Friedhöfen sowie in Parkanlagen verwildert. In der freien Landschaft findet man sie dagegen so gut wie nie. Die Blüte ist interessant konstruiert – sie ist nämlich ausnahmsweise sechszählig und besteht nur aus den (stark UV-reflektiven; Abschn. 3.2) Perigonblättern. Die Funktion des fehlenden Kelchblattkreises übernehmen hier drei unmittelbar unterhalb der Blüte entwickelte Hochblätter. Die handförmig geteilten Grundblätter erscheinen erst geraume Zeit nach der Blüte. Ab Mai ist von dieser Art, die besonders früh aktiven Insekten reichlich Nektar bietet (Abschn. 3.3), nichts mehr zu sehen – sie zieht ein und

Abb. 3.2  Winterlinge sind gewöhnlich auch sehr früh dabei

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kommt erst im kommenden zeitigen Frühjahr und dann eventuell sogar unter leichter Schneebedeckung zum Vorschein.

3.2 Was Blüten alles im Schilde führen Kooperation oder zumindest die effiziente Nutzung der sich anbietenden Möglichkeiten ist in der heimischen Natur ein weitverbreitetes und erfolgreich eingesetztes Prinzip. Es zeigt sich in vielen Bereichen – beispielsweise auch in der notwendigen Verfrachtung von Pollenkörnern, ohne die eine effektive Versamung und Fortpflanzung nicht denkbar wären. Von den fallweise auch beschrittenen alternativen Wegen mit vegetativer Vermehrung, die mancherlei Sonderbildungen voraussetzen, sehen wir in diesem Kontext einmal ab. Die Frucht- bzw. Samenbildung setzt die Bestäubung von Pollen des Individuums A mit der artgleichen Blüte B voraus – die komplexen Abläufe der daraus resultierenden Befruchtung, die den Entwicklungsanstoß für die nachfolgende Generation gibt, blenden wir hier einmal aus, obwohl die Details faszinierend sind. In diesem Abschnitt steht nur der effiziente Pollentransport im Vordergrund. Für die räumlich möglichst weitreichende Verteilung von Pollenkörnern, die jeweils das männliche Erbgut einer Pflanze transportieren, setzen (nicht nur) die heimischen Blütenpflanzen drei verschiedene Vektoren ein: Einerseits sind es abiotisch wirkende Kräfte wie Wasser (Hydrogamie; Abschn. 3.12), das aber nur vergleichsweise wenige Arten gezielt einsetzen. Ungleich häufiger ist das allgegenwärtige Medium Wind (Anemogamie) das wirksame Transportunternehmen – es kommt bei zahlreichen windblütigen Pflanzenarten (Gräsern,  inkl. Getreide,  sowie bei vielen Waldbäumen) zum Einsatz. Dieser Verteilungsweg mag auf den ersten Blick ein wenig archaisch erscheinen, aber immerhin garantiert er beachtliche Bestäubungserfolge in blütenbiologisch monostrukturierten größeren Pflanzenbeständen wie Wiesen, Getreideäckern und Wäldern, die weitflächig überwiegend nur windblütige (anemogame) Arten aufweisen – und das auch noch über beachtliche Distanzen hinweg. Auf dem alpinen Firn findet man im Sommer Pollendepots von mediterranen oder noch weiter entfernten Arten. Wasser oder Wind als wirksame Pollenvektoren setzen bei den so agierenden Pflanzenarten dennoch eine Menge bewundernswerter Angepasstheiten voraus, denn sonst bliebe ihnen der Erfolg dieser zunächst etwas unsicher erscheinenden Zustellungsrouten versagt. Das ist aber objektiv ganz sicher nicht der Fall.

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Eines der bemerkenswerten Anpassungsmerkmale der anemogamen Arten betrifft das in vielen Bereichen wirksame Prinzip der genügend großen Zahl. Die im Frühjahrswind locker baumelnden männlichen Kätzchen blühender Birken werden bis zu 10 cm lang, produzieren je Staubblatt etwa 10.000 und je Kätzchen schätzungsweise über 5 Mio. Pollenkörner. Je Hektar bringt es ein Birkenbestand somit auf etwa 5,5 109 Pollenkörner – eine absolut gigantische Produktion. Diese lassen sich übrigens die sonst auf ganz andere Nahrungsquellen abonnierten Bienen nicht unbedingt entgehen. Sie sammeln tatsächlich den aus den weit geöffneten Antheren auf die schmucklosen Perianthblätter herabgerieselten Pollen eifrig ein, besuchen aber umgekehrt keine weiblichen Blüten(stände). Demnach sind diese Pollenkörner für den Baum rein quantitativ als verschmerzbarer Verlust zu verbuchen. Auch windblütige Arten sind demnach für die fouragierenden Insekten fallweise durchaus von Belang, auch wenn diese Nahrungsbeziehung nicht unbedingt in das übliche Bild passt (Abb. 3.3). Eine komplexe Beziehung Gleichsam die ökologisch ungemein faszinierendere und in der Detailanalyse immer wieder begeisternde Krönung ist allerdings die Direkteinbindung bestimmter tierischer Verwandtschaftsgruppen in das Bestäubungsgeschäft (biotische Bestäubung) – in unseren Breiten überwiegend vermittelt von Insekten (Fliegen, Hautflügler wie Bienen und Hummeln, Käfer sowie

Abb. 3.3  Insekten und Blüten – eine faszinierende Beziehung

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Schmetterlinge), in anderen biogeografischen Regionen zusätzlich auch von Vögeln (Nektarvögeln in der Alten Welt, Kolibirs in der Neuen Welt) sowie kleineren Säugetieren (vor allem Fledermäusen, in Australien auch kleinen Beuteltieren). Tiere als Pollenvektoren haben für die so arbeitenden Pflanzen gegenüber der Anemogamie der Gräser und vieler Waldbäume doch enorme Vorteile: Sie kommen meist mit einer geringeren Pollenproduktion aus, und zudem ist die Zustellung – ähnlich wie bei der Briefpost – erstaunlich zielgenau. Allerdings setzt sie bei allen Beteiligten vielerlei spezialisierte Angepasstheiten voraus, die immer wieder erstaunen lassen. Zu Recht darf man die biotische Bestäubung unter gezieltem Einsatz bestimmter Tiergruppen als einen absolut genialen Coup der Evolution bewerten, der natürlich eine intensivere Betrachtung verdient (Abb. 3.4). Wir beschränken uns in diesem Kontext vor allem auf das besondere Erscheinungsbild der insektenbestäubten Blüten, klären aber zuvor noch einige wichtige Zusammenhänge für das Verständnis des lebhaften Besucherverkehrs. Warum kommen sie überhaupt? Vielleicht etwas enttäuschend: Ganz nüchtern betrachtet ist die Beziehung zwischen Blüten und ihren unentbehrlichen Besucherinsekten gänzlich leidenschaftslos. Die flugfähigen und damit zu größeren Aktionsradien befähigten Insekten kommen nämlich partout nicht zu den Blüten, um sie zu bestäuben (wie manche Texte treuherzig finalistisch, aber eben unzulässig

Abb. 3.4  Zum Besucherkreis der Blüten gehören auch die überaus interessanten Schwebfliegen

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vermelden), sondern weil die aufgesuchten blumigen Einrichtungen für sie enorm wichtige und jahreszeitlich geradezu unverzichtbare Proviantstationen darstellen. Für nahrungssuchende Bienen, Hummeln oder Käfer ist eine pollenspendende Blüte gleichsam eine lohnende Imbissbude – hier kann sich der Besucher eine gehörige Portion Fast Food in Form von nahrhaftem Knabberzeug abholen, und das auch noch kostenlos. Das eigentlich biologisch wichtige Zentralereignis – eben die gezielte Übertragung von Pollen der Staubgefäße in Blüte A auf die Narbe von Blüte B (Bestäubung, Pollination) – ist dabei für die tierischen Blütenbesucher eher ein nicht weiter bezweckter bzw. berücksichtigter oder gar störender Randeffekt. Daran wirken sie zwar planmäßig, aber immer nur zufällig und dennoch unverzichtbar mit (Abb. 3.5). Aus der Perspektive der Blüte stellt sich die Sache jedoch ganz anders dar. Sie produziert in ihren Staubbeuteln (Antheren) ein Pollenangebot, das mit mancherlei Sonderanpassungen (beispielsweise Klebrigkeit) geradezu unvermeidbar in das meist dichte Haarkleid des tierischen Blütenbesuchers (unbehaarte „Skinheads“ gibt es unter den heimischen Blütenbesuchern so gut wie nicht) gepudert wird. Typische Pollenblumen, wie man sie vor allem bei den Vertretern der Hahnenfuß-, Mohn- und Rosengewächse findet, entwickeln in ihren Blüten dicht und zahlreich besetzte Staubblattgebüsche mit einem entsprechend massiven Pollenangebot. So kann eine einzige Mohnblüte tatsächlich mehrere Hundert Staubblätter enthalten.

Abb. 3.5  Die heimischen Wildrosen wie die Runzelblättrige Rose sind typische Pollenblumen

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Das Mengenverhältnis der Pollenkörner, die von den Blütengästen eingesammelt und alsbald schlicht verzehrt werden, zu denjenigen, die für eine effektive Bestäubung unbedingt nötig sind, ist somit lediglich eine Frage der Statistik. Die Quote stellt sich aber im Allgemeinen recht günstig dar und fast immer so aussichtsreich, dass tatsächlich genügend viele Pollenkörner auf das Zielorgan Narbe gelangen, selbst wenn sich die Pollenkuriere nach Kräften mit Pollenproviant eingedeckt haben (Abb. 3.6). Hochprozentiges ist auch dabei Die von hungrigen Pollensammlern aufgesuchten Blüten erinnern mit ihrem großzügigen Pollenangebot somit irgendwie an Imbissbuden, an denen sich die Tiere energiereich mit Fast Food eindecken können. Das hier dargebotene Insektengrundnahrungsmittel Pollen ist eigentlich nicht einmal etwas Besonderes, weil es ohnehin zur Normalausstattung einer Blüte gehört. Eine typische mitteleuropäische Pommesbude bietet jedoch üblicherweise auch Flüssiges an, und in vielen tierbestäubten Blüten verhält es sich ebenso. Das spezifische Angebot umfasst neben dem proteinreichen Knabberzeug Pollen vielfach auch noch eine hochkonzentrierte klebrige Zuckerlösung mit Glukose (Traubenzucker), Fruktose (Fruchtzucker) und/ oder Haushaltszucker (Saccharose). Nur heißt dieser energiereiche Zuckermix bei den Blüten nicht Cola oder Limo, sondern schlicht Nektar. In den Blüten ist er immer das Sekret besonderer Drüsen, der Nektarien (Abschn. 3.3). Diese sind allerdings nicht dessen Entstehungsort, sondern Ereignis 1: Blüte A bestäubt den Bestäuber

Biotische (Doppel-)Bestäubung: Pollenvektor Insekt

Ereignis 2: Bestäuber bestäubt Blüte B

Abb. 3.6  Die Pollenübertragung von Blüte A zu Blüte B ist immer eine Doppelbestäubung: Zunächst wird der tierische Spediteur eingepudert, und dann erst erfolgt das Abstreifen auf der Zielblüte. (Verändert nach Kremer 2013)

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lediglich die direkte Übergabestation, denn alle Nektarbestandteile stammen grundsätzlich aus dem Fotosynthesebetrieb der grünen Laubblätter. Die gelösten Zucker werden über die Leitbündel von Blättern und Stängeln in die Drüsenfelder der Nektarien transportiert, dort noch ein wenig aufkonzentriert und mithilfe durchweg komplizierter Mechanismen als Nektar freigesetzt. Mit ihrem meist sehr reichlichen Zuckerangebot haben sich die Blütenpflanzen interessanterweise gerade auch solche Tiergruppen als Besucher und Bestäuber erschlossen, die sich wegen der besonderen Beschaffenheit ihrer Mundwerkzeuge leckend und/oder saugend und insofern ausschließlich von flüssigem Hochprozentigem ernähren können. Das trifft in der heimischen Fauna auf viele Zweiflügler (Diptera) und fast alle Schmetterlinge (Lepidoptera) zu. Blüten mit eigener Ölquelle Pollensäcke und Nektardrüsen unterbreiten ihren tierischen Blütenbesuchern während der Fouragetouren ein sowohl qualitativ als auch quantitativ ein alle ihre Ernährungsbedürfnisse zufriedenstellendes Angebot. Manche Blüten setzen aber noch eins drauf. Gemeint sind hier nicht die in den anrührenden, um die vorletzte Jahrhundertwende erschienenen Darstellungen oft so benannten Beköstigungsantheren oder Futterhaare, die es für diesen Zweck so gar nicht gibt, sondern ein ganz andersartiges Sonderangebot, das bei den Blütenpflanzenarten Mitteleuropas jedoch nur wenig verbreitet ist. Daher hat man es auch nicht in der heimischen Flora entdeckt. Vielmehr durchschaute der verdienstvolle Mainzer Blütenbiologe Stefan Vogel (1925–2015) erst in den 1970er Jahren diese weitere Angebotslage am Beispiel südamerikanischer Arten: Manche Blüten produzieren statt oder ergänzend zu Pollen und Nektar in speziellen Drüsenfeldern auch fette Öle. Das passt irgendwie zu dem Vergleich, wonach die Blüte für ihre Besucher im Prinzip eine ergiebige Imbissbude ist, in der es halt (auch) betont fette Speisen gibt. Das Lipidangebot der Ölblumen besteht meist aus den Glyzeriden von ungesättigten Hydroxyfettsäuren. Die Blüten bieten sie in speziellen Drüsenfeldern (Elaiophoren) an. Ein für die eigene Beobachtung leicht erreichbares Beispiel sind die aus Südamerika stammenden Pantoffelblumen (Calceolaria tripartita), die man heute in eine eigene Familie stellt. Ihre Ölquelle liegt am oberen Innenrand der pantoffelförmig gewölbten Unterlippe. Aber auch die Umschau bei den in Mitteleuropa als Wild- und Zierpflanzen weitverbreiteten Gilbweidericharten (Lysimachia spp.) gibt

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Aufschluss – sie produzieren ihr fettes Öl in zahlreichen kräftigen Drüsenhaaren an der Basis der Staubblattfilamente. Dieses spezielle Nahrungsangebot nutzen indessen nur wenige und ausgesuchte Konsumentenkreise. Bei den Gilbweiderichen sind nahezu ausschließlich die Weibchen der zu den Solitärbienen gehörenden Macropis-Arten zu Gast und sogar geradezu darauf angewiesen. Sie sammeln die feinen Öltröpfchen mit ihren Vorderbeinen ein, vermischen sie mit Pollen, platzieren sie irgendwo an geschützter Stelle und legen ein Ei darauf. Damit ist die Ernährung der Bienenlarve bis zur Verpuppung gesichert. Wenn man also diese seltene Wildbiene unterstützen möchte: unbedingt den schmucken Gilbweiderich (Abb. 3.7) im eigenen Garten ansiedeln. Die Optik ist entscheidend Ohne gezielte visuelle Besucherlenkung geht es meist nicht: Kein Landgasthaus und nicht einmal die bereits zitierte Pommesbude, geschweige denn eine Dorfkneipe, kommen ohne werbewirksames Aushängeschild mit der wichtigen Aufgabe der zuverlässigen Gästelenkung aus. Aus diesem Grund haben sich die ursprünglich eher unauffälligen, weil nur

Abb. 3.7  Der Gilbweiderich bietet den Besucherinsekten auch fette Öle an

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mit den abiotischen Pollenvektoren Wasser oder Wind arbeitenden Blüten zu ungemein attraktiven Blumen fortentwickelt, die an ihre potenziellen Besucher mit allerhand optischen Raffinessen besondere Signaladressen richten. Dabei hat die Evolution überaus erstaunliche und geradezu geniale Effekte geschaffen und optimiert. Eine kleine orientierende Umschau mag diesen vorbehaltlos bewundernswerten Sachverhalt verdeutlichen. Eines springt doch bei der Betrachtung einer biotisch, d. h. von fliegenden und gelegentlich auch laufenden Kleintieren bestäubten Blüte sofort auf: Ihre optische Gesamterscheinung ist immer deutlich mehr als nur ein farbgesättigter visueller Aufreißer, denn Blüten versorgen ihre potenziellen Besucher im optisch-visuellen Bereich auch mit nützlichen Zusatzinformationen. Anstelle eines nur schlicht plakativ wirkenden und ansonsten weitgehend undifferenzierten Farbfleckes präsentieren sie etliche hochgeordnete Einzelstrukturen, die allesamt besondere Signalfunktionen übernehmen. Blüten praktizieren somit in bewundernswerter und geradezu genialer Weise angewandtes Kommunikationsdesign – sie haben gleichsam die Werbung erfunden. Wer durstig und/oder hungrig ein Landgasthaus ansteuert, sucht gewiss nicht gerne umständlich und eventuell auch noch vergeblich nach dem Eingang – eine klare und vor allem zielführende Ansage ist also gerade dafür erwünscht und hilfreich. Exakt diese Minimalinformation bietet die Blüte auch dem anfliegenden Insekt. Eine dafür hochwirksame Lenk- und Landehilfe ist vor allem die farblich-kontrastbetonende Unterscheidung zwischen dem Blütenzentrum und der Blütenperipherie.  Nahezu alle insektenbestäubten Blüten färben ihre für die potenziellen Besucher ausschließlich interessante Mitte – denn nur hier befinden sich die letztlich interessanten Pollenkornvorräte und/oder das Nektarangebot, entweder deutlich heller oder ganz andersfarbig aus als die umgebenden Randbereiche  (Abb. 3.8). Beispiele aus der heimischen Flora sind etwa Venusspiegel (Legousia speculum-veneris), Acker-Gauchheil (Anagallis arvensis), Leberblümchen (Hepatica nobilis) sowie alle Wildrosen (Rosa spp.). Unter den zygomorphen (bilateralsymmetrischen) Blütenmodellen wären Feld-Rittersporn (Consolida regalis), Acker-Veilchen (Viola arvensis), Vogel-Wicke (Vicia cracca) oder alle Ehrenpreisarten (Veronica spp.) anzuführen. Wir nennen diese bezeichnende Farbkontrastierung das Zielscheibenmuster, weil es in seinem Basisdesign genau einer Ziel- bzw. Schießscheibe vom dörflichen Schützenfest entspricht. In der Blütenökologie spricht man weniger plakativ auch oder überhaupt von Blüten- oder Farbmalen. Das Zielscheiben- bzw. Blütenmaldesign (Abb. 3.8) gibt es in den beiden grundsätzlichen Modellversionen innen hell/außen dunkler wie

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Abb. 3.8  Beispiele für verschiedene Typen von Blütenmalen: 1 Strichmal (Malve), 2 Ringmal (Vergissmeinnicht), 3 mittiges Fleckenmal (Schlüsselblume), 4 Kombination aus Strich- und Fleckenmal (Ehrenpreis), 5 Fleckenmal (Taubnessel), 6 Lippenmal (Leinkraut). (Verändert nach Kremer 2013)

bei der Korn-Rade (Agrostemma githago), dem Wiesen-Storchschnabel (Geranium pratense) oder der Mehl-Primel (Primula farinosa), aber ebenso auch umgekehrt mit hellerem Saum gegen dunkleres Blütenzentrum wie bei beim Klatsch-Mohn (Papaver rhoeas), Sommer-Adonisröschen (Adonis aestivalis) und Gilbweiderich (Lysimachia vulgaris). Das gleiche Design findet sich natürlich auch bei fast allen Zierpflanzen, deren Wildformen gewöhnlich aus fernen Ländern stammen. Die Lenkung über ein solches visuell wirksames Kontrastprogramm führt das anfliegende Insekt zielgenau in das Zentrum, wo sich üblicherweise der Zugang zu den offen oder verborgen präsentierten Nektarvorräten befindet (Abschn. 3.3) – eben eine induzierte Punktlandung und für alle Beteiligten ein echter Gewinn. Am bezeichnenden Zielscheibendesign beteiligen sich nicht nur die Kronblätter. Bei etlichen Arten sind auch die sich kontrastreich abhebenden Staubblätter einbezogen – so etwa bei der Küchenschelle (Pulsatilla vulgaris) und der Himmelsleiter (Polemonium coeruleum). Gelegentlich trägt zu

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diesem Erscheinungsbild auch noch eine kontrastreich farbverschieden große Narbe bei, beispielsweise beim Klatsch-Mohn (Papaver rhoeas). Sensibler Pionier Jahrtausendelang haben die Menschen Blüten angeschaut und sich daran auch sicher erfreut, dabei aber den geradezu offensichtlichen Funktionszusammenhang zwischen Aussehen und Folgeeffekten schlicht übersehen. Jedenfalls gibt es bei den älteren Autoren keine eindeutigen Hinweise. Die frappierende Entsprechung von Aussehen und Funktion hat als Erster der Berliner Pädagoge Christian Konrad Sprengel (1750–1816) erkannt und akribisch dokumentiert; in seinem schon 1793 erschienenen und zunächst umstrittenen Grundlagenwerk Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen spricht er ausdrücklich von den Saftmalen der Blüten. Fachsprachlich nennen wir diese der gezielten Besucherlenkung dienenden Markierungen einfach Farbmale oder auch nur Blütenmale. Aus heutiger Sicht markiert Sprengels epochales Grundlagenwerk übrigens den Beginn der systematisch arbeitenden Blütenbiologie. Im Botanischen Garten in Berlin-Dahlem steht verdientermaßen sein Denkmal. Bei vielen Blüten sind die Farbmale übrigens keine unveränderlichen Signale. Bei der Rosskastanie (Aesculus hippocastanum) zeigen die frisch geöffneten Blüten ein kräftig chromgelbes Farbmal (Abb. 2.2). Dieses färbt sich nach der erfolgreichen Bestäubung bzw. nach der Ausbeutung des Nahrungsangebots nach wenigen Tagen über orange nach tiefrot um. Damit verliert die Blüte auch ihre UV-Reflektivität (s. unten). Sobald die Rosskastanienblüte für unsere Augen also die Rote Ampel zeigt, ist sie für die rotblinden, aber UV-tüchtigen Hautflügler schlicht uninteressant und wird folglich nicht mehr angeflogen. Ähnliche Farbumbauten findet man in den ungemein attraktiven Blüten der Trompetenbäume (Catalpa spp.) und bei vielen Wildrosen. Vielleicht auch nicht so ganz nebensächlich: Lässt man unvoreingenommene Kinder, die den Kontext nicht kennen können, ganz einfach mal eine Blume malen, kommt gewöhnlich exakt das geschilderte Zielscheibendesign mit deutlich abgesetztem zentralen Farbmal heraus. Das funktionierte so übrigens auch immer wieder überraschend mit Studierenden in den Vorlesungen des Autors … Und noch etwas: Mitunter pervertiert die Natur ihre Erfolgsmodelle und liefert auch auf diesem Wege faszinierende Effekte. Aus menschlicher Sicht besonders perfide verhält sich die Krabbenspinne (Misumena vatia). Sie kommt auch bei uns in mehreren Farbvarianten von Grellweiß bis Rot-

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braun vor, setzt sich üblicherweise mitten in die Blüten und erscheint dann als prächtig einladendes Farbmal – für Blütenbesucher ein absolut tödlicher Irrtum, denn ihr Ausflug endet zielgenau in den Giftklauen der Spinne (vgl. Richarz und Kremer 2019). Was wir gar nicht sehen Selbst wenn uns die verschiedenen Bestandteile einer Blüte ganz und gar monochrom und dann vermeintlich unstrukturiert einheitlich ohne jedes Blütenmal erscheinen, präsentieren sie sich für Insektenaugen meist gänzlich anders und auch dann aufreizend kontrastreich ausgestattet, was für die Besucherlenkung wichtig ist. Bei vielen Arten können nämlich sämtliche Blütenteile eventuell blaunahes UV-Licht entweder stark reflektieren oder alternativ völlig absorbieren. Damit bieten sie ein gegenüber unserer menschlichen Sinnesempfindung gänzlich abweichendes visuelles Spektakel. Beispiele hierfür sind die Blüten vieler heimischer Hahnenfußgewächse. Bei genauerem Hinsehen erkennt man in der Blütenkrone von Scharbockskraut (Ranunculus ficaria) oder Kriechendem Hahnenfuß (Ranunculus repens) allenfalls ein paar unauffällige Unterschiede zwischen dem fettglänzenden Hellgelb der Blütenperipherie und einer zum Blütenzentrum hin eher trüberen Farbausstattung. Die Betrachtung dieser Blüten im UVLicht ergibt ein völlig anderes Bild: Das trübe Zentrum erscheint wegen seiner starken Strahlungsabsorption für Licht der Wellenlängen