Gemeinsame Welt denken 9783161534201, 9783161534195, 3161534204

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Gemeinsame Welt denken
 9783161534201, 9783161534195, 3161534204

Table of contents :
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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis der Werke Jürgen Habermas’
Abkürzungsverzeichnis der Werke Eilert Herms’
I. Einleitung
I.1. Fragestellung
I.2. Die interdisziplinäre Forschungslage
I.2.A. Theorielage zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschreibung des globalen Wandels
I.2.B. Theorielage zur Verhältnisbestimmung des ‚Gerechten‘ und des ‚Guten‘
I.2.C. Theorielage zur Verhältnisbestimmung von ‚Vernunft‘ und ‚Religion‘
I.3. Der Beitrag dieser Arbeit zur Erforschung der Werke von Habermas und Herms
I.4. Ziele und Gesamtbeitrag
II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens
II.1. Intention des Werkes im lebens- und theoriegeschichtlichen Horizont
II.1.A. Biografie und Theorie
i. Sensibilität für die Schwierigkeiten und Chancen der Kommunikation
ii. Todeskult des Nationalsozialismus und das Zauberwort der Demokratie
II.1.B. Theoriegeschichte: Zwischen pragmatistischem und kantischem Kosmopolitismus
II.1.C. Strukturierung des Theorieansatzes
II.2. Auf der Spur ‚interkultureller Vernunft‘ im Hauptwerk
II.2.A. Was sollen wir tun?
i. Theorie des kommunikativen Handelns (1981)
a. Methodologie des Werkes als interkulturelle Systematik
b. Der universale Begriff kommunikativen Handelns
ii. „Treffen Hegels Einwände gegen Kant auf die Diskursethik zu?“ (1985)
a. „Zum Formalismus des Moralprinzips“
b. „Zum abstrakten Universalismus begründeter Urteile“
c. „Zur Ohnmacht des Sollens“
d. „Die Tugend und der Weltlauf“
iii. Faktizität und Geltung (1992)
a. Die Bürger als Adressaten und Autoren des Rechts
b. Der „schwankende Boden“ kommunikativer Freiheit
iv. Zwischenresümee
II.2.B. Was können wir wissen?
i. Nachmetaphysisches Denken (1988)
a. Die Ablösung der Metaphysik
b. Intersubjektivität und Subjektivität
c. „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“
ii. Wahrheit und Rechtfertigung (1999)
a. Differenzierungen im Rationalitätsbegriff
b. Transzendentaltheorie. Wahrheit im Horizont eines schwachen Naturalismus
iii. Zwischenresümee
II.2.C. Was dürfen wir hoffen?
II.2.D. Was ist der Mensch?
II.2.E. Schlussfolgerungen: Die ‚situierte, interkulturelle Vernunft‘
II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk
II.3.A. Was ist das: Kosmopolitismus?
II.3.B. Der Zusammenhang von postsäkularer und postnationaler Zeitdiagnose
II.3.C. Zur postnationalen Konstellation
i. Habermas auf den Spuren von Kants „Zum Ewigen Frieden“
ii. Habermas im Kreuzfeuer zwischen ‚Realisten‘ und ‚Globalisten‘
iii. Zwischenresümee
II.3.D. Zur postsäkularen Zeitdiagnose
i. Globalisierte Religionsgemeinschaften. Ein Überblick
ii. Grenze zwischen Glauben und Wissen. Kategoriale Überlegungen im Spätwerk
II.3.E. Schlussfolgerungen: Weltgesellschaft in weltbürgerlicher Absicht
III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen – als Bedingung interkulturellen Zusammenlebens
III.1. Apologie des Pluralismus. Zur Ausrichtung und Struktur des Theorieansatzes
III.1.A. Was ist der Mensch?
i. „Das christliche Verständnis vom Menschen in den Herausforderungen der Gegenwart“
ii. Der Gewissheitsbegriff als Verbindung von Geltung und Genesis
III.1.B. Was dürfen wir hoffen?
i. „Ist Religion Privatsache? Unzeitgemäße Betrachtungen über die Grundlagen des Zusammenlebens“
ii. „Theologie und Politik. Die Zwei-Reiche-Lehre als theologisches Programm einer Politik des weltanschaulichen Pluralismus“
III.1.C. Was sollen wir tun?
i. „Grundzüge eines theologischen Begriffs sozialer Ordnung“
ii. Ethos und Ethik; Deskription und Normativität; Sein und Sollen
III.1.D. Was können wir wissen?
i. Rechtfertigung – erste Definition von Metaphysik und Ontologie
ii. „Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens. Über den Sinn und die Tragweite dieses Verständnisses von Theologie“
iii. „Wahrheit – Offenbarung – Vernunft“
III.1.E. Schlussfolgerungen
III.2. Friedrich Schleiermacher als interkultureller Denker – Anfragen an die hermssche Interpretation
III.2.A. „Schleiermachers Erbe“
III.2.B. Wie ist der Ansatz der hermsschen Interpretation einzuordnen?
i. Kant oder Jacobi? Herkunft und Gestalt der Systematik Schleiermachers
ii. U. Barth oder E. Herms? Interpretationen des Transzendentalen
III.2.C. Welcher Stellenwert wird der Kommunikationstheorie im Gesamtwerk verliehen?
i. Kommunikatives Streiten – Vermittlung zwischen Identischem und Individuellem
ii. Intersubjektivität und Subjektivität – ein Zirkel von Identität und Differenz
III.2.D. Wie ist die ‚Ethik der Menschheit‘ bei Schleiermacher zu verstehen?
i. Die Bedeutung der Religion für die Ethik
ii. Das Verhältnis zur Moralphilosophie Kants
iii. Ansätze einer Kulturtheorie der Menschheit
III.2.E. Schlussfolgerungen
III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs um den globalen Wandel
III.3.A. Zum ‚Gerüst‘. Kategoriale Bearbeitung der Globalisierungsthematik
i. Beschreibung: Einheit und Vielfalt der Weltkulturen
a. Der Kulturbegriff: Zwischen Homogenität und Hybridisierung
b. Interkulturelle Werte: Weltethos, Menschenrechte und Humanismus
ii. Qualifizierung: Annäherung an eine Bewertung globaler Ordnung
a. Konturen der Wirtschaftsordnung
b. Konturen der Friedens- und Rechtsordnung
c. Bildung, Kernaufgabe der Kirchen
iii. Zwischenresümee
III.3.B. Zum ‚Gewebe‘. Vermögen interkultureller Verständigung
i. Die Problemlage interkultureller Hermeneutik
a. Selbstverortung: Der hermssche Blick auf andere Religionen
b. Öffnung zu Anderen: Das Problem geschlossener Rationalitätsformen
ii. Einheit in der Vielfalt. Die interpretative Vernunft
III.3.C. Schlussfolgerungen. Bildung der Weltanschauungen
IV. Ergebnisse und Ausblicke
IV.1. Perspektiven des Theorievergleichs
IV.1.A. Eine ‚Topik der Verständigung‘ – als Struktur der Forschungsfragen
IV.1.B. Vernunft und Religion als komplementäre Konkurrenz
IV.2. Möglichkeiten interkultureller Koexistenz
IV.2.A. Evangelischer Glaube im Horizont des globalen Wandels
IV.2.B. Diskurskultur und Diskurs der Kulturen
IV.2.C. Konstitutionalisierung der Wirkungsgemeinschaft der Menschheit
Bibliografie
Literatur von Jürgen Habermas
Literatur von Eilert Herms
Weitere Literatur
Personenregister
Sachregister

Citation preview

I

Perspektiven der Ethik herausgegeben von Reiner Anselm, Thomas Gutmann und Corinna Mieth

7

II

III

André Munzinger

Gemeinsame Welt denken Bedingungen interkultureller Koexistenz bei Jürgen Habermas und Eilert Herms

Mohr Siebeck

IV André Munzinger: geboren 1972; 1995–98 Studium der Theologie in Bonn, Wuppertal, London; 2004 Promotion an der London School of Theology; 2012 Habilitation an der Evang.Theol. Fakultät der Universität Bonn; ab 2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Coach an der Universität Oldenburg und Privatdozent an der Evang.-Theol. Fakultät der Universität Bonn, seit 2014 Professur für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. e-ISBN PDF 978-3-16-153420-1 ISBN 978-3-16-153419-5 ISSN  2198-3933 (Perspektiven der Ethik) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mi­ kroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg a.N. gesetzt und von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

V

Meinen Lehrern

VI

VII

Vorwort Die Globalisierungsprozesse faszinieren mich. Die Spannung von Einheit und Differenz ist beinahe greifbar. Zufällig ist meine Faszination nicht. Durch das Erleben verschiedener Kulturen in meiner Kindheit, Schulzeit und während meines Studiums entwickelte sich mein Interesse für die Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen. In Pakistan geboren und aufgewachsen, habe ich schon früh erlebt, wie stark die Menschen dort bereits auf ‚den Westen‘ bezogen sind  – selbst in den abgelegensten Winkeln des Himalajas. Im Gespräch mit ihnen kamen oftmals Fragen nach der Bedeutung der Religion für politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung auf. Zutiefst verunsichert durch den vermeintlichen Sieg des Abendlandes über den Islam,1 verteidigten viele mit Herzblut, manchmal auch verbissen, die Vormachtstellung des Islam. Und viele christliche Missionare, die ich in Pakistan beobachtete, verstärkten diese aggressive Gegenüberstellung von Christentum und Islam. Es ist deshalb auch nicht zufällig, dass ich die Frage nach dem Zusammenleben der Kulturen in dieser Arbeit vor allem mit dem Blick auf die Rolle der Religionen bearbeite. Religion habe ich früh als ambivalent erlebt – als Immunisierung gegenüber neuen, kritischen Ideen, aber auch als emanzipierende Inspiration. Die Religionstheorie von Eilert Herms kann beide Erfahrungen erfassen und nebeneinander stehen lassen. Sein Werk hat mich deshalb angeregt. Er bietet einen formalen Zugriff auf religiöse Erfahrungen, um unterschiedliche, ja gegensätzliche Weltdeutungen innerhalb eines Theorierahmens verständlich zu machen. Herms entwickelt eine theoretische Möglichkeit, die starke Plausibilitätsstruktur, die Religionen und Weltanschauungen den Menschen liefern, zu verstehen und zu analysieren. Plausibel ist demnach, was in unsere Weltanschauung passt. 1  Der paktistanische Atomphysiker Pervez Hoodbhoy bringt dieses latente Gefühl des Scheiterns auf folgenden Punkt: „Es gibt rund 1,5 Milliarden Muslime in der ganzen Welt – aber sie können in keinem Bereich eine substantielle Errungenschaft vorweisen. […] Welche bedeutende Erfindung oder Entwicklung haben Muslime in den vergangen tausend Jahren gemacht? Strom? Elektromagnetische Wellen? Antibiotika? Den Verbrennungsmotor? Computer? Nein, nichts, jedenfalls nichts, was eine moderne Zivilisation ausmacht. […Es] gibt keine Bemühungen, die Lebensbedingungen innerhalb islamischer Gesellschaften zu verbessern. Unbewusst spüren die Menschen natürlich, dass das ein kollektives Versagen ist.“ Hoodbhoy, Gesellschaften, 2.

VIII

Vorwort

Einen ganz anderen Blick auf Pakistan habe ich vor allem durch Amartya Sen erhalten. Er verdeutlicht, wie die heutigen Länder Pakistan, Bangladesch und Indien (also der indische Subkontinent) auf Traditionen der diskursiven Vernunft zurückgreifen. Besonders bemerkenswert sind seine Hinweise auf den Herrscher Ashoka im dritten Jahrhundert vor Christus und auf den Moghul Kaiser Akbar fast zweitausend Jahre später. Bereits Ashoka entwickelt eine öffentliche diskursive Kultur, in der alle Überzeugungen auf faire Weise einbezogen und gehört werden sollten. Akbar, der bekannt ist für seine Politik der Duldung verschiedener Religionen, stellt gezielt die Frage nach der Vernunft über die Tradition, um gesellschaftliche Missstände und Konflikte zu beherrschen. 2 Pakistan ist heute sicherlich mehr für Terror und Tod als für Diskurs und Kompromiss bekannt. Aber Letztere, Gespräch und Aufeinaderzugehen, entsprechen meiner Erfahrung des alltäglichen Miteinanders dort genauso wie der massive Fundamentalismus. Dass es über die weltanschauliche Gebundenheit hinaus die Möglichkeit gibt, mit Menschen anderer Religionen und Überzeugungen produktiv und konstruktiv ins Gespräch zu kommen und gemeinsam zu denken, ist eine grundlegende Perspektive des Lebenswerks von Jürgen Habermas. Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen können demnach positiv aufeinander Bezug nehmen, weil sie auf eine gemeinsame kognitive Basis zurückgreifen. Vernunft verbindet. In dieser Schrift verschränke ich meine Frage nach der Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens auf der Erde mit der theoretischen Problemlage des Verhältnisses von Religion und Vernunft – wie sie Herms und Habermas in unterschiedlicher Weise darstellen. Diese Publikation stellt eine leicht überarbeitete Form meiner Habilitationsschrift dar, die von der Evangelisch-Theologischen Fakultät Bonn 2012 angenommen wurde. Angeregt durch die Rückmeldung der Gutachter habe ich neben einigen zu klärenden Passagen auch den Titel geändert. Der ursprüngliche Titel, „Vernunft und Religion. Zur Ermöglichung interkulturellen Zusammenlebens“, war insofern missverständlich, als er eine umfassende religionsphilosophische Diskussion im Lichte der Frage nach der gemeinsamen Gestaltung der einen Welt versprach. Die Arbeit ist aber umgekehrt konzipiert: Die Frage nach der gemeinsamen Welt steht im Mittelpunkt und die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Religion in den Werken von Herms und Habermas dient als Fokus des Theorievergleichs. Ich verwende den Titel „Gemeinsame Welt denken“ als Anspielung auf die seit der Antike erkennbare Bemühung um universale Verständigung, auf die stoische und idealistische Suche nach einer gemeinsamen, den Erdkreis umspannenden Ordnung und auf die Frage, ob die gemeinsame Erde auch eine gemeinsame ‚Welt‘ (im Sinne einer Anschauung) impliziert.

2 

Sen, Indian, 3–33; 273–293.

Vorwort

IX

Die wichtigste Literatur, die seit der Abgabe der Arbeit erschienen ist, habe ich berücksichtigt. So habe ich einzelne relevante Aufsätze von Habermas aus dem nun als Nachmetaphysisches Denken II herausgegebenen Band eingearbeitet, aber es würde sich lohnen, der Fährte aus seiner Einleitung nachzugehen, bei der Habermas religiösen Riten eine grundierende soziale Kraft zuspricht, die ein geteiltes Wissen bereitstellen, auf das Sprachgemeinschaften aufbauen. Diese Idee ist aber selbst noch nicht ausgereift. Ich habe vielen Lehrern und Freunden zu danken: zunächst Prof. Dr. Konrad Stock dafür, dass er mich an die Kategorienbildung von Eilert Herms und Friedrich Schleier­macher herangeführt und in großer Geduld diese Arbeit mitbedacht hat. Darüber hinaus war es Prof. Dr. Martin Laube, der an entscheidenden Stellen das Projekt befördert, präzisiert und unterstützt hat. Ich danke ihm herzlich dafür. Zudem war mir Prof. Dr. Michael Roth in den Anfängen der Arbeit eine wesentliche Inspiration. Sie alle haben mir die Systematische Theologie ‚schmackhaft‘ gemacht. In verschiedensten entwicklungspolitischen und zivilgesellschaftlichen Foren sind mir Menschen begegnet, die den Diskurs bereits praktizieren, der hier im Blick ist. Namentlich nenne ich: Prof. Dr. Winfried Pinger, der mich in die herausfordernde Welt politischer Meinungsbildung eingeführt hat und zugleich als Freund zur Reflexion dieser Prozesse bereitsteht; Dr. Rupert Neudeck, der das Engagement für die eine Welt vorlebt; Dr. Armin Frey, der mir viel Freude in der gemeinsamen Beleuchtung der hier bearbeiteten Fragestellungen bereitet; Prof. Dr. Dr. Franz-Josef Radermacher, der Mut dazu macht, eine Welt mit Zukunft zu denken. Ihnen gilt mein Dank. Für den Druck dieses Werkes stellte die Deutsche Forschungsgemeinschaft einen großzügigen Druckkostenzuschuss zur Verfügung, wofür an dieser Stelle ausdrücklich gedankt sei. Für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe Perspektiven der Ethik möchte ich mich bei den HerausgeberInnen, Prof. Dr. Reiner Anselm, Prof. Dr. Thomas Gutmann und Prof. Dr. Corinna Mieth bedanken. Frau Dr. Stephanie WarnkeDe Nobili und Frau Rebekka Zech vom Verlag Mohr Siebeck haben die Drucklegung in kompetenter Weise betreut. Dafür danke ich ihnen sehr. Ich bin glücklich, dass diese Arbeit im Kreise vieler Freunde entstanden ist, die oftmals die Ausrichtung meines Denkens geprägt haben und mit denen ich viele Teilaspekte besprechen konnte. Marcus Held M.A. gab mir die Idee für den Titel (ursprünglich als ‚mundus communis‘ gedacht), der meine Frage und mein Anliegen präzise zum Ausdruck bringt. Schließlich möchte ich Dr. Annette Glaw, Claudia Keller und Dr. Sabine Kozdon für Ihre Hilfe bei den Korrekturarbeiten danken. Frau Merle Große und Frau Magdalena Klettner möchte ich für die Erstellung der Register herzlich danken.

X

Vorwort

Die Arbeit möchte ich meinen Lehrern widmen. Über die bereits Erwähnten hinaus sind Prof. Dr. Max Turner als mein Doktorvater und Phil Billing aus der Schulzeit zu nennen. Kiel, Februar 2015

André Munzinger

XI

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  XVII

I. Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   1

I.1. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   1 I.2. Die interdisziplinäre Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   8 I.2.A. Theorielage zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschreibung des globalen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   8 I.2.B. Theorielage zur Verhältnisbestimmung des ‚Gerechten‘ und des ‚Guten‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  14 I.2.C. Theorielage zur Verhältnisbestimmung von ‚Vernunft‘ und ‚Religion‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  21 I.3.

Der Beitrag dieser Arbeit zur Erforschung der Werke von Habermas und Herms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  29



Ziele und Gesamtbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  34

I.4.

II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens ����  39 II.1. Intention des Werkes im lebens- und theorie geschichtlichen Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  41 II.1.A. Biografie und Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  42 i. ii.

Sensibilität für die Schwierigkeiten und Chancen der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  42 Todeskult des Nationalsozialismus und das Zauberwort der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  45

II.1.B. Theoriegeschichte: Zwischen pragmatistischem und kantischem Kosmopolitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  46 II.1.C. Strukturierung des Theorieansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . .  53

XII

Inhaltsverzeichnis

II.2. Auf der Spur ‚interkultureller Vernunft‘ im Hauptwerk . . . . . . .   56 II.2.A. Was sollen wir tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   58 i. Theorie des kommunikativen Handelns (1981) . . . . . . . . . a. Methodologie des Werkes als interkulturelle Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Der universale Begriff kommunikativen Handelns . . . ii. „Treffen Hegels Einwände gegen Kant auf die Diskursethik zu?“ (1985) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. „Zum Formalismus des Moralprinzips“ . . . . . . . . . . . . . b. „Zum abstrakten Universalismus begründeter Urteile“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. „Zur Ohnmacht des Sollens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. „Die Tugend und der Weltlauf“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . iii. Faktizität und Geltung (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Bürger als Adressaten und Autoren des Rechts . . . Der „schwankende Boden“ kommunikativer Freiheit �� b. iv. Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



II.2.B. Was können wir wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i. Nachmetaphysisches Denken (1988) . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Die Ablösung der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Intersubjektivität und Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . c. „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii. Wahrheit und Rechtfertigung (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Differenzierungen im Rationalitätsbegriff . . . . . . . . . . . b. Transzendentaltheorie. Wahrheit im Horizont eines schwachen Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . iii. Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.2.C. II.2.D. II.2.E.

  59   59   60   68   69   71   75   76   78   79   84   86   87   88   88   92   95   98   98  100  104

Was dürfen wir hoffen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  104 Was ist der Mensch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  110 Schlussfolgerungen: Die ‚situierte, interkulturelle Vernunft‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  112

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk . . . . . . . . . . . . . . II.3.A. Was ist das: Kosmopolitismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3.B. Der Zusammenhang von postsäkularer und postnationaler Zeitdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II.3.C. Zur postnationalen Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 113  114  120  122

i. Habermas auf den Spuren von Kants „Zum Ewigen Frieden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  123 ii. Habermas im Kreuzfeuer zwischen ‚Realisten‘ und ‚Globalisten‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  128 iii. Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  139

Inhaltsverzeichnis

XIII

II.3.D. Zur postsäkularen Zeitdiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  140 i. Globalisierte Religionsgemeinschaften. Ein Überblick . . .  142 ii. Grenze zwischen Glauben und Wissen. Kategoriale Überlegungen im Spätwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   149 II.3.E. Schlussfolgerungen: Weltgesellschaft in weltbürgerlicher Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  158

III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen – als Bedingung interkulturellen Zusammenlebens . . . . . . . . . . . . .  163 III.1. Apologie des Pluralismus. Zur Ausrichtung und Struktur des Theorieansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  168 III.1.A. Was ist der Mensch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  170 i. „Das christliche Verständnis vom Menschen in den Herausforderungen der Gegenwart“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .  171 ii. Der Gewissheitsbegriff als Verbindung von Geltung und Genesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  173

III.1.B. Was dürfen wir hoffen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  175 i. „Ist Religion Privatsache? Unzeitgemäße Betrachtungen über die Grundlagen des Zusammenlebens“ . . . . . . . . . . . .  175 ii. „Theologie und Politik. Die Zwei-Reiche-Lehre als theologisches Programm einer Politik des weltanschaulichen Pluralismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  179 III.1.C. Was sollen wir tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  185 i. „Grundzüge eines theologischen Begriffs sozialer Ordnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   186 ii. Ethos und Ethik; Deskription und Normativität; Sein und Sollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  193



III.1.D. Was können wir wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  200 Rechtfertigung – erste Definition von Metaphysik i. und Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  200 ii. „Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens. Über den Sinn und die Tragweite dieses Verständnisses von Theologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  201 iii. „Wahrheit – Offenbarung – Vernunft“ . . . . . . . . . . . . . . . . .  204 III.1.E. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  206 III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker – Anfragen an die hermssche Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  210 III.2.A. „Schleier­machers Erbe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  211

XIV

Inhaltsverzeichnis

III.2.B. Wie ist der Ansatz der hermsschen Interpretation einzuordnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  216 i. ii.

Kant oder Jacobi? Herkunft und Gestalt der Systematik Schleier­machers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  217 U. Barth oder E. Herms? Interpretationen des Transzendentalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  222

III.2.C. Welcher Stellenwert wird der Kommunikationstheorie im Gesamtwerk verliehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  232 i. ii.

Kommunikatives Streiten – Vermittlung zwischen Identischem und Individuellem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  233 Intersubjektivität und Subjektivität – ein Zirkel von Identität und Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  241

III.2.D. Wie ist die ‚Ethik der Menschheit‘ bei Schleier­macher zu verstehen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  245



i. Die Bedeutung der Religion für die Ethik . . . . . . . . . . . . .  247 ii. Das Verhältnis zur Moralphilosophie Kants . . . . . . . . . . .  250 iii. Ansätze einer Kulturtheorie der Menschheit . . . . . . . . . . .  255

III.2.E. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  260

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs um den globalen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  261 III.3.A. Zum ‚Gerüst‘. Kategoriale Bearbeitung der Globalisierungsthematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  263 i. Beschreibung: Einheit und Vielfalt der Weltkulturen . . . . a. Der Kulturbegriff: Zwischen Homogenität und Hybridisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Interkulturelle Werte: Weltethos, Menschenrechte und Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualifizierung: Annäherung an eine Bewertung globaler ii. Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a. Konturen der Wirtschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Konturen der Friedens- und Rechtsordnung . . . . . . . . . c. Bildung..Kernaufgabe der Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . iii. Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 263  264  271  276  281  282  287  292

III.3.B. Zum ‚Gewebe‘. Vermögen interkultureller Verständigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  293 i. Die Problemlage interkultureller Hermeneutik . . . . . . . . . a. Selbstverortung: Der hermssche Blick auf andere Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. Öffnung zu Anderen: Das Problem geschlossener Rationalitätsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ii. Einheit in der Vielfalt. Die interpretative Vernunft . . . . . .



 293  293  297  299

III.3.C. Schlussfolgerungen..Bildung der Weltanschauungen . .  305

Inhaltsverzeichnis

XV

IV. Ergebnisse und Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  307 IV.1. Perspektiven des Theorievergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  308 IV.1.A. Eine ‚Topik der Verständigung‘ – als Struktur der Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  310 IV.1.B. Vernunft und Religion als komplementäre Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  313 IV.2. Möglichkeiten interkultureller Koexistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.A. Evangelischer Glaube im Horizont des globalen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.2.B. Diskurskultur und Diskurs der Kulturen . . . . . . . . . . . . IV.2.C. Konstitutionalisierung der Wirkungs gemeinschaft der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 316  317  320  323

Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  329 Literatur von Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  329 Literatur von Eilert Herms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  332 Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  335

Personenregister Sachregister

. .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  369

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  376

XVI

XVII

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungen richten sich bis auf folgende Ausnahmen nach Siegfried M. Schwertner, Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie, Berlin/New York 19942. HH KGA

SW

Hauke Brunkhorst, Regina Kreide, Christina Lafont (Hgg.), Habermas-Handbuch, Stuttgart/Weimar 2009. Friedrich D.E. Schleier­macher, Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hans-Joachim Birkner, Gerhard Ebeling, Hermann Fischer, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge; ab 1991 Hermann Fischer, Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge; ab 2011 Günter Meckenstock, Andreas Arndt, Lutz Käppel, Notger Slenczka, Jörg Dierken (ab 2014); 5 Abt., Berlin/New York 1980 ff. Friedriech D.E. Schleier­macher, Sämtliche Werke, hg. von Ludwig Jonas, 3 Abt., 31 Bde, Berlin 1834–1864, 18842.

Abkürzungsverzeichnis der Werke Jürgen Habermas’ AE EA ED EI FG

GW LS MB ND ND II NR NU PDM PK

Ach Europa. Kleine Politische Schriften XI, Frankfurt a.M. 2008. Die Einbeziehung der Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M. 1996. Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991. Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1968/19732 mit einem neuen Nachwort. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1992/1994 um ein Nachwort ergänzt. Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften X, Frankfurt a.M. 2004. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973. Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983. Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1988. Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Berlin 2012. Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VIII, Frankfurt a.M. 1990. Die Neue Unübersichtlichkeit. Politische Schriften V, Frankfurt a.M. 1985. Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985. Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a.M. 1998.

XVIII PT RhM TkH TGS WR ZmN ZNR

Abkürzungsverzeichnis

Philosophische Texte Band 1–5, Frankfurt a.M. 2009 –  Band 1: Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie –  Band 2: Rationalitäts- und Sprachtheorie –  Band 3: Diskursethik –  Band 4: Politische Theorie –  Band 5: Kritik der Vernunft. Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a.M. 1976. Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981 –  Band I: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung –  Band II: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. mit Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a.M. 1971. Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 1999/2004 erweiterte Auflage. Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik, Frankfurt a.M. 2001/2002 erweiterte Auflage. Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005.

Abkürzungsverzeichnis der Werke Eilert Herms’ EK GG KW

Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1990. Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991. Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995. KG Kirche. Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums, Tübingen 2010. MW Menschsein im Werden. Studien zu Schleier­macher, Tübingen 2003. OG Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992. Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006. PG PRP Politik und Recht im Pluralismus, Tübingen 2008. TE Theologie – eine Erfahrungswissenschaft, Tübingen 1978. TfP Theorie für die Praxis. Beiträge zur Theologie, Tübingen 1982. R Rechtfertigung – Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens (gemeinsam mit Wilfried Härle), Tübingen 1979. WM Die Wirtschaft des Menschen. Beiträge zur Wirtschaftsethik, Tübingen 2004. ZWW Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen. Beiträge zur Sozialethik, Tübingen 2007.

1

I. Einleitung I.1. Fragestellung Unter welchen Bedingungen lässt sich das Zusammenleben verschiedener Kulturen auf friedliche und egalitäre Weise gestalten? Die Aktualität dieser Frage betrifft den lokalen wie den nationalen Kontext, aber mit besonderer Brisanz und Dringlichkeit drängt sich die Problematik der Koexistenz auf der internationalen Ebene auf. Aus der schlichten Einsicht, dass der weltweite Austausch von Gütern und Dienstleistungen zunimmt, und dass wesentliche Aufgabenfelder über Staatsgrenzen hinaus geregelt werden müssen, entstehen neue Anforderungen an das Zusammenleben. Entscheidende Herausforderungen der Gegenwart stellen sich nicht nur für einzelne Völker, sondern für die gesamte Weltgemeinschaft – ob interkontinentale Migrations- und Flüchtlingsbewegungen, Atomwaffenarsenale, Proliferation von Kleinwaffen, Ungleichgewichte der Leitwährungen, weltweite Finanz- und Handelsströme, Marktdominanz transnationaler Konzerne, ökologischer Wandel, abnehmende Biodiversität, ‚Cyberkriegsführung‘, global-operierende Terrorzellen oder Nahrungsmittel- und Ressourcenknappheit. In diesem Sinne reklamiert Anthony Giddens, dass die Frage nach der angemessenen Gestaltung der ‚Globalisierung‘ die entscheidende sozialtheoretische Debatte des 21. Jahrhunderts darstellt, weil sie die Form unserer Gesellschaften bis in ihr Mark verändern wird.1 Wolfgang Schäuble bemerkt in einem Leitartikel unterstützend, dass es kaum noch politische Entscheidungen gibt, die sich aus dem globalen Zusammenhang herauslösen lassen, denn nationale Willensbildung steht zunehmend im Geflecht weltweiter Interdependenzen. 2 In dieser Analyse sind sich führende Denker aus allen gesellschaftlichen Funktionsbereichen zunehmend einig.3 Derweil wird die Vernetzung politischer und öko1  Giddens, Globalisierungsdebatte, 33. Vgl. die ähnlich leidenschaftliche Analyse von Kennedy, Lives, 1–26. 2  Schäuble, Europa, 8: „Es gibt kaum eine ‚nur‘ deutsche Politikentscheidung, die nicht ohne Folgen für die Welt um uns bliebe; und umgekehrt gibt es kaum eine internationale oder ‚nur‘ europäische Entscheidung, die nicht Auswirkungen auf unser Land hätte.“ 3  Vgl. als Beispiel, die 2013 erschienene zusammenfassende Analyse für die Vereinten Nationen, A New Global Partnership: Eradicate Poverty and Transform Economies through Sustainable Development. The Report of the High-Level Panel of Eminent Persons on the Post-2015 Development Agenda, vorgelegt von Dr. Susilo Bambang Yudhoyono, Ellen John-

2

I. Einleitung

nomischer Funktionssysteme durch kulturelle Differenzen beansprucht. Pippa Norris und Ronald Inglehart schließen aus ihren empirischen Forschungen zum weltweiten Wertewandel, dass die tief greifenden Diskrepanzen zwischen tendenziell säkularen und explizit religiösen Gesellschaften, die weltpolitische Aufmerksamkeit verstärkt beanspruchen werden.4 Das gemeinsame Anliegen dieser drei Einschätzungen ist unverkennbar: Die Gestaltung der Polis überschreitet Grenzen und Gewohnheiten, sie stellt sich als interreligiöse, interkulturelle und intergesellschaftliche Aufgabe dar – als Gestaltung der einen, gemeinsamen Erde. Nun sind Zeitdiagnosen schwer zu überprüfen, und globale Analysen verschärfen die Unübersichtlichkeit. Dementsprechend stellt Hans-Georg Soeffner fest, dass für die transnationale „Konkurrenz, Koexistenz und Verschränkung“ der Kulturen und Religionen bisher keine adäquaten Begriffe zur Verfügung stehen – bis auf den „eher provisorischen Ausdruck ‚Interkultur‘“, mit dem das Phänomen globalisierten Zusammenlebens artikuliert wird, das Politik und Wissenschaft in gleicher Weise herausfordert.5 Wie geht die evangelische Theologie mit dieser Problemlage um; wie kann ein Forschungsbeitrag aus dieser Disziplin auf diese weit gefasste Fragestellung und Analyse reagieren? Zunächst fällt auf, dass eine Lücke in der Forschungslandschaft der evangelischen Sozialethik besteht. Angesichts intensivster Untersuchungen in den angrenzenden Wissenschaften zum Phänomen der ‚Globalisierungsprozesse‘ ist es bemerkenswert, dass die evangelische Sozialethik dieses nur sehr zögerlich berücksichtigt. Trotz der „außerordentlich hohen lebensweltlichen Relevanz“ der Thematik ist nach Heinrich Bedford-Strohm, zumindest in der deutschsprachigen Theologie, keine entsprechend intensive Diskussion zu erkennen.6 Zwar haben sich verschiedene Kirchen, vor allem auch die ökumenische Bewegung, zu Wort gemeldet.7 Aber die gegenwärtig stark diskutierten sozialphilosophischen und -ethischen Beiträge aus der Philosophie und der Soziologie finden kaum eine ebenbürtige Antwort evangelisch-theologischer Provenienz: zum Beispiel zu den Fragen nach einer demokratischen Weltordnung (Otfried Höffe), dem son Sirleaf und David Cameron, in Absprache mit wesentlichen Akteuren aus allen gesellschaftlichen Schichten und Funktionen (vgl. die Rückschau in der Executive Summary). 4  Norris/Inglehart, Sacred, 241. 5  Soeffner, Zukunft, in seiner Eröffnungsrede zur Tagung „Transnationale Ver­ge­sell­ schaftung“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zum 100. Jubiläum im Oktober 2010 in Frankfurt a.M. 6  Bedford-Strohm, Vorwort. Systematische Theologie, 3. 7  Durchaus anders ist für Bedford-Strohm nämlich „die Situation im Hinblick auf die Urteilsbildung im Raum der Kirchen, insbesondere auf globaler Ebene. An verschiedenen Orten hat sich die ökumenische Bewegung mit dem Thema befasst. […] Insbesondere aus den Ländern der südlichen Hemisphäre sind eindringliche Beiträge in die weltweite Debatte eingebracht worden. In ihnen äußert sich ein Leidensdruck, der von der Erfahrung der Schattenseiten der Globalisierung geprägt ist.“ (Ebd.)

I.1. Fragestellung

3

gemeinsamen Gesetz der Völker (John Rawls), den universalen Werten (Michael Walzer), der Weltrisikogesellschaft (Ulrich Beck), den globalen Institutionen (Dieter Senghaas, Franz Nuscheler) oder der Verteilung der Gemeingüter der Erde (Martha Nussbaum, Amartya Sen, Thomas Pogge).8 Und in der Debatte um die begriffliche Fixierung des ‚Interkulturellen‘, wie sie Heinz Kimmerle, Franz Wimmer, Bernhard Waldenfels und Ram Adhar Mall erarbeiten, sind prominente Beiträge der evangelischen Theologie nicht zu erkennen.9 Diese Aussage betrifft nicht im selben Maße die katholische Sozialethik, die durch die von Hans Küng angeregte Weltethos-Debatte (vgl. I.2.B), durch engagierte Beiträge von Herwig Büchele10, Friedhelm Hengsbach11 und durch gehaltvolle Einzelstudien, die Globalisierung als vielschichtiges aber eigenständiges sozialethisches Thema aufbereitet.12 Grundsätzlich ist das Problem zwar in der evangelischen Theologie erkannt, sodass die Arbeit „an einem ‚planetarischen Ethos‘“ selbst als die „wichtigste Aufgabe der Ethik“ herausgestellt werden kann.13 Insgesamt bleibt es aber ein Nebenmotiv der Sozialethik. In diesem Sinne bilden die Studien von Jörg Hübner (Globalisierung) zur Weltwirtschaft eine herausragende Ausnahme der beschriebenen Lücke, indem sie die Bedeutung der Globalisierung für Theologie und Kirche als ein ihr immanentes Pro­ blem erarbeiten, ihre Arbeiten haben bisher jedoch keine weiterführenden Forschungen initiieren können.14 Auch die kürzlich erschienenen, bemerkenswerten Analysen von Michael Haspel und wiederum Jörg Hübner (Ethik der Freiheit) könnten ein Hinweis dafür sein, dass eine Trendwende in der evangelischen Ethik eingeleitet worden ist; denn sie verdeutlichen, dass es mit der Globalisierung nicht nur um einen Teilbereich der Ethik geht, sondern um ein grundlagentheoretisches Problem.15 Auf beide Werke kann ich nicht in gebührender Weise eingehen, denn sie sind nach der Hauptarbeit am Text erschienen, aber auf Hübner ist kurz zu verweisen.

 8  Vgl. Höffe, Wirtschaftsbürger; Rawls, Völker; Walzer, Kritik; Beck, Weltrisikogesellschaft; Senghaas, Paradigma; Nuscheler, Globalisierung; Nussbaum, Frontiers; Pogge, Poverty.  9  Vgl. Kimmerle, Philosophie; Wimmer, Philosophie; Waldenfels, Grundmotive; Mall, Philosophy. Die Studien zur Interkulturellen Philosophie geben einen Überblick über die Vielfalt der Zugänge und die Tiefenschärfe, die die Diskussion bereits erlangt hat (z.B. Mall/ Schneider/Lohmar (Hgg.), Einheit; Bickmann/Scheidgen (Hgg.), Tradition). Vgl. die Einführung unter II.2 und die Diskussion unter III.3.B.ii. 10  Vgl. z.B. Büchele, Governance; zur Einordnung Anzenbacher, Soziallehre. 11  Vgl. z.B. Hengsbach, Globalisierung, 27–46. 12  Vgl. die Studien Globale Solidarität − Schritte zu einer neuen Weltkultur der Rottendorf-Stiftung an der Hochschule für Philosophie, München, hgg. von Norbert Brieskorn, Georges Enderle, Franz Magnis-Suseno, Johannes Müller, Franz Nuscheler, die sich dem Versuch verpflichten, die intellektuellen Grundlagen einer ‚neuen Weltkultur‘ in und durch eine Güterethik zu erarbeiten. 13  Huber, Gewalt, 38 f. Vgl. auch schon die Arbeit von Gollwitzer, Weltverantwortung. 14  Vgl. Hübner, Globalisierung, zur Diskussion seines Werkes III.3.B.ii. Des Weiteren sind Aufsätze oder Teilstudien zum Thema zu berücksichtigen: Bedford-Strohm, Einleitung, 7–11; Gabriel, Religion, 173–205; Welker, Globalisierung, 365–382; Graf, Götter, 172–197; H.-M. Barth, Globalisierung, 284–298. 15  Haspel, Sozialethik.

4

I. Einleitung

Hübner hat 2012 eine globale Ethik der Freiheit vorgelegt.16 Die Weltgemeinschaft bedarf demnach der Ordnung, aber diese Ordnung muss und kann freiheitsverstärkend sein. Dieses Verständnis von Freiheit, mit dem globales Zusammenleben ermöglicht werden soll, entwickelt Hübner aus biblischer bzw. protestantischer Tradition heraus. Das Hauptaugenmerk liegt zunächst auf einer tugendethischen Perspektive (Kapitel 1), nämlich auf der Frage nach der Bedeutung der affektiven Dimension menschlichen Daseins. In den Affekten „bündeln sich machtvolle Wahrnehmungsmuster“, die das Handeln und Erkennen orientieren (387). Hübner bietet eine Vielfalt von lohnenswerten Überlegungen und Formulierungen. Neben dem kompakten Exkurs zum Freiheitsverständnis in anderen Religionen ist auf die weitreichende güterethische Ausarbeitung hinzuweisen (Kapitel 2), in der die pflichtenethische Perspektive eingeordnet wird. Vor allem die bemerkenswerte Verbindung wirtschaftsethischer Gesichtspunkte mit ökologischer und entwicklungstheoretischer Tiefenschärfe sowie die Sensibilität für die neuen Kommunikations- und Organisationsformen (Stichwort NGOs) lassen die längere Beschäftigung mit der Globalisierungsproblematik bei Hübner erkennen. In der Zielsetzung einer vertraglich abgesicherten, bürgerlichen Gesellschaft auf globaler Ebene, die sich an der Konzeption der öko-sozialen Marktwirtschaft ausrichtet, stimme ich Hübner jedenfalls nachdrücklich zu. Der argumentative Weg zu diesem Ziel ist mir jedoch nicht klar. Unberücksichtigt bleibt nämlich m.E. die Frage nach Religion in ihrer formalen Gestalt als selbstständige Größe und Institution der Gesellschaft. Hübner scheint die Klärung dieser Funktion vorauszusetzen und von der partikularen Ebene protestantischer Überzeugungen auszugehen und seinen Entwurf globaler Ethik im Chor der anderen Religionen zu präsentieren. Aber wie die kategoriale Zuordnung von Religion zur Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zu verstehen und zu bestimmen ist, ist derzeit ja höchst umstritten. Im Kern seiner Arbeit bietet Hübner zwar eine pluralismusfähige Theorie an – da er die Freiheit des Gewissens, der Kommunikation und der Religion als grundlegend für eine freiheitliche Gesellschaft bestimmt (203–231) –, aber die Diskussion um die Begründung dieser Freiheit und somit um die Begründung des Pluralismus selbst fehlt. Auch Konrad Raiser und Robert J. Schreiter beleuchten die globale Situation der christlichen Kirchen und fordern deren katholisches, konziliares Engagement für eine ‚andere‘ Globalisierung ein.17 Auf die Arbeit von Raiser wird noch einzugehen sein (vgl. II.3.C.ii). Die sozialphilosophische Grundlagenforschung ist allerdings nicht das wesentliche Anliegen dieser Autoren. Dass ich das Werk von Herms als ein solches grundlegendes Angebot in dieser Diskussion verstehe, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er die genannte Debattenlage selbst kaum rezipiert und dort auch dementsprechend nicht wahrgenommen wird.

Über die genannte zögerliche Annäherung an die Debatten um die Globalisierungsprozesse in der evangelischen Theologie hinaus sollte nicht vergessen werden, dass diese nicht völlig neue Probleme hervorrufen. Vielmehr drängt sich mit der globalisierten Perspektive der alte Streit zwischen zwei gegenläu16 

Hübner, Ethik, Seitenzahlen im Text. Schreiter, Katholizität; Raiser, Religion. Hübner, Globalisierung, verweist auch auf die wirtschaftsethischen Arbeiten von Ulrich Duchrow und Helmut Diefenbacher (aaO. 141–144). 17  Vgl.

I.1. Fragestellung

5

figen Theorierichtungen in der Ethik mit besonderer Prägnanz auf – zwischen denjenigen, welche die Begründbarkeit von Universalität als möglich erachten und denjenigen, die auf die Relativität jedweder Begründung verweisen.18 In der Geschichte der evangelischen Theologie ist diese Frage nach dem Zusammenleben der Völker, Kulturen und Religionen nicht unbekannt (vgl. III.3.B). Sie liegt insgesamt in der Fluchtlinie der neuzeitlichen protestantischen Ethik, in der die Verbindung explizit theologischer Motive mit der Frage ihrer universalen „Kommunikabilität“ – also der Teilnahme am „grundlegenden ethischen Diskurs der Menschheit“ – diskutiert wird.19 Seit den grundlegenden Arbeiten Friedrich Schleier­machers steht die evangelische Theologie mit den sich entwickelnden Human- und Kulturwissenschaften im Austausch, um die Bedeutung der Religion in sich ausdifferenzierenden Gesellschaften zu thematisieren. Und es besteht weiterhin ein Bedarf nach einer Auseinandersetzung mit der Theologie in verschiedenen Human- und Sozialwissenschaften, weil die Thematik des weltanschaulichen Pluralismus aus den einzelnen Weltreligionen und Konfessionen beleuchtet werden soll. 20 Eine umfangreiche Interaktionsforschung der Religionen im sozial-globalen Wandel ist jedoch nicht zu erkennen.21 Diese Aussage betrifft das Verhältnis der Religionen untereinander wie auch die Beziehung zu den anderen Funktionssystemen der Wirtschaft, des Rechts, der Wissenschaft und der Medien. 22 Als vorläufiges Ergebnis der dargestellten zwiespältigen Forschungslage ist die Einsicht Ulrich Barths geltend zu machen (der auf Niklas Luhmanns wiederholte These hinweist), dass „die Idee der Weltgesellschaft“ als eigenes Thema der Religion weitestgehend unbearbeitet geblieben ist. 23 Der Herausforderung der wachsenden Konfliktpotenziale, so Barth präzisierend, sind einzelne Religionsgemeinschaften nicht mehr gewachsen: Soll „die wechselseitige Anerkennung des Allgemein-Humanen“ vermittelt werden, werden vielmehr „interreligiöse Verständigungsprozesse“ notwendig sein. 24 Entsprechend spitzt sich die 18 

Vgl. Rohls, Geschichte, 483 f.; Schockenhoff, Grundlegung. Rendtorff, Problemfelder, 204. 20  So werden Theologen z.B. in Fragen der Säkularisierung (z.B. in: Joas (Hg.), Säkularisierung) oder im Bereich der Menschenrechte gerne nach ihrer Perspektive gefragt (z.B. Lohmann, Bedeutung). 21  Wolfram Kinzig verlangt nach einer Erforschung der Interaktion der Religionen, aber dazu fehlen ihm zufolge die wesentlichen Voraussetzungen – und zwar fehlen diese Bedingungen europaweit (ders., Christentum, 27 f.). 22  Aus der englischsprachigen Religionssoziologie sind kürzlich (2011) vier Bände, Religion and Globalization (hg. von Véronique Altglas), erschienen, mit bemerkenswerten Forschungsbeiträgen zur Rolle der Religionsgemeinschaften in der Globalisierung. Diese verdeutlichen eine andere Diskurslage im angelsächsischen Bereich. Auf einige Beiträge gehe ich unter II.3.B&C ein. 23  U. Barth, Dimension, 325; ders., Herkunft, 369. Vgl. Luhmann, Weltgesellschaft, 63– 89; ders., Gesellschaft, 145–171. 24  U. Barth, Herkunft, 369. 19 

6

I. Einleitung

normative Erfassung des globalen Wandels in der Gegenüberstellung zweier Sammelbegriffe zu, der ‚Religion‘ und der ‚Vernunft‘. Mit ihnen werden wesentliche Grundlagenprobleme einer Ethik, welche die globalen Bezüge des Zusammenlebens auf den Begriff bringen will, berührt. Ob es möglich ist, Verständigungsprozesse zu etablieren und kulturübergreifende Gerechtigkeitsmaßstäbe zu formulieren, hängt von deren Plausibilität ab. Sie müssen verständlich, nachvollziehbar und schließlich anerkannt sein – eine Frage der die Kulturen verbindenden Vernunft. ‚Gerechtigkeit‘ muss zugleich dem jeweiligen Selbstgefühl über das Verhältnis von Einheit und Vielheit wie auch dem Weltgefühl über die grundlegende Ordnung menschlicher Interaktion entsprechen – eine Frage des jeweiligen Daseinsverständnisses und Sinnhorizontes. So sind die zwei Momente bestimmt, welche die Pole dieser Arbeit bilden: einerseits das Moment der universalen Verständigung, andererseits das der Zuwendung zu den eigenen Werten, Gewissheiten und Überzeugungen. Angesichts der Weite der Fragestellung muss ihre Bearbeitung sinnvoll eingegrenzt werden. Deshalb führe ich zwei Denker ein, Jürgen Habermas und Eilert Herms, deren Werke dazu anleiten, die Bedeutung und diffizile Fassbarkeit dieser Problemkonstellation im Horizont der Diskussionen um eine globale Ordnung analysieren zu können. Während Habermas in bezeichnender Weise für die Beachtung universaler Vernunft im Zusammenleben steht, wird bei Herms die zentrale Bedeutung der Religion für die Gesellschaft hervorgehoben. Auf deren Theorien greife ich deshalb zurück, weil sie vergleichbar strukturierte Anliegen haben, sie diese allerdings gegensätzlich durchführen. Das zeigt sich an zwei zentralen Beispielen. Erstens plädieren beide Denker dafür, die Gerechtigkeitsfrage im globalen Diskurs nicht einfach als einen Streit um unterschiedliche bereichs-ethische Antworten (z.B. um die Wirtschafts- oder Rechtsethik) anzusehen, sondern die Bedingungen der Möglichkeit des Zusammenlebens zu erkunden. Sie sind sich einig darin, dass die eigentlichen existenziellen Antworten nicht von der Theorie beantwortet werden können, sondern der Praxis überlassen werden müssen. Die Theorie muss lediglich, aber in fundamentaler Absicht, die Vollzugsbedingungen einer egalitären, friedlichen Diskussion erhellen. Freilich schließen ihre Arbeiten sich in ihren Prämissen und Ergebnissen wechselseitig aus – streicht Habermas die Vernunft heraus, um von jedweder Partikularität abstrahieren zu können, liegt bei Herms der systematische Versuch vor, dem Einheitsmoment der Vernunft die Partikularität der Selbst- und Welterschlossenheit (also der Religion) voran zu stellen. Zweitens: Ihre Werke verbindet die Einsicht, dass die interkulturelle Ordnung nicht ein Seitenschauplatz der Moral- und Sozialtheorie sein kann, sondern dass die Gestaltung der Globalisierungsprozesse den unabdingbaren Horizont solcher Theorien aufweist. Damit verfolgen sie eine klassische Grundintuition: Für Friedrich Schleier­macher ist der eigentliche Horizont der Ethik nicht ein Mensch, eine Nation oder eine Kultur, sondern die „Gesammtheit

I.1. Fragestellung

7

des menschlichen Geschlechts“25 (vgl. III.2.D.iii). Er antwortet auf Immanuel Kant, der seine Kritiken im Horizont der kosmopolitischen Fragestellung auffächert; der „ewige Frieden“ wird von diesem nämlich nicht als Teilgebiet der Philosophie, sondern als ihre Prämisse gesetzt (vgl. II.1.B; III.3.C). Habermas und Herms erarbeiten allerdings sehr unterschiedliche Begriffe einer kosmopolitischen Ordnung. Der Verweis auf Schleier­macher und Kant zeigt nämlich eine Differenz an, die sich in den Werken von Herms und Habermas fortbildet – einerseits die teleologische Güterethik, andererseits die deontologisch und kognitivistisch ausgerichtete Sollensethik. Diese Differenz in ihren praktischen Theorien wird in unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Paradigmata ausgebaut. Folgt Herms, so lässt sich verkürzt sagen, der phänomenologischen Tradition, bemüht sich Habermas um ihre Überwindung durch die linguistische Wende. Beide, Herms und Habermas, greifen auf eine Vielzahl verschiedener Disziplinen zurück, indem sie deskriptive, normative und kategoriale Urteile über die Möglichkeiten interkultureller Koexistenz bilden. Ihre Arbeiten leiten dazu an, das methodologische Problem solcher Urteilsverschränkungen zu beachten. Wie stehen Beschreibung, Wertung und Hintergrundannahmen miteinander in Verbindung? Können sie analytisch hinreichend getrennt werden, um universale, kosmopolitische Aussagen treffen zu können? Sind die ‚Erde‘ und die ‚Menschheit‘ in diesem Zusammenhang Objekte sozialethischer Fragen oder der kategoriale Rahmen für Einzelaussagen einer jeden Wissenstheorie und Handlungsorientierung? Zwar ist die leitende Frage dieser Arbeit sozialethischer Natur und praxisorientiert; aber die Pointe des Theorievergleichs liegt in der Vermessung des methodologischen Problems, die normative Frage angemessen beantworten zu können. Indem ich nach den Bedingungen frage, unter denen Verständigung zwischen den Angehörigen der verschiedenen Kulturen für das gemeinsame Überleben auf der Erde möglich ist, geraten grundlagentheoretische Überlegungen in den Blick. Der Theorievergleich zwischen den Werken von Herms und Habermas dient sowohl der sinnvollen Eingrenzung des Forschungsmaterials als auch der Zuspitzung auf die besondere Problematik der Verständigung – nämlich auf die Verhältnisbestimmung der Daseinsüberzeugungen und ihrer begründeten Vermittlung. Die Spannungen im Vergleich der zwei im Ansatz sehr unterschiedlich ausgerichteten Konzeptionen von Herms und Habermas soll produktiv genutzt werden, um die Komplexität der Leitfrage besser zu verstehen. Die Analyse der gegensätzlich ausgerichteten Werke im Horizont der Herausforderung interkultureller Gerechtigkeit bildet somit den Mittelpunkt dieser Arbeit.

25 

Schleier­macher, Begriff des höchsten Gutes, KGA I/11, 660.

8

I. Einleitung

Im Folgenden soll der interdisziplinäre Zusammenhang zunächst beachtet werden (2), um dabei deskriptive (2.A), normative (2.B) wie auch kategoriale Forschungsergebnisse (2.C) darstellen zu können. Daraufhin werden der Forschungsbeitrag (3) und die Ziele der Arbeit konkretisiert (4).

I.2. Die interdisziplinäre Forschungslage I.2.A. Theorielage zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Beschreibung des globalen Wandels In den Kultur- und Sozialwissenschaften 26 ist die Beschreibung des gegenwärtigen sozial-globalen Wandels bereits hinsichtlich des geschichtlichen Rahmens umstritten. Dennoch können einige Eckdaten benannt werden. So kann im Anschluss an Karl Jaspers die Achsenzeit vorläufig als Dynamisierung eines fortwährenden Wandels bestimmt werden. 27 Seit dieser Zeit sind geistesgeschichtliche Parallelen in verschiedenen Hochkulturen der Erde zu verzeichnen und erste interkulturelle Austauschprozesse und interkontinentale Handelsverbindungen zu beobachten (vgl. II.3.B). Diese Beziehungen werden während der Renaissance, der portugiesischen und spanischen Kolonialisierung im 16. Jahrhundert sowie im Übergang zu weiteren europäischen, hegemonialen Bestrebungen im 18. und 19. Jahrhundert maßgeblich intensiviert. 28 Mit dem Zusammenbruch der bipolaren Welt 1989 ist schließlich eine neue Dynamik erkennbar, da alte Ordnungsparadigmata ihre Gültigkeit einbüßen und die Verdichtung weltweiter Interdependenzen in allen Funktionssystemen voranschreitet. 29

26  Entstammen die folgenden Theorien soziologischer und politologischer Diskussionen, integrieren sie mittlerweile philosophische, kulturtheoretische und geschichtswissenschaftliche Konzeptionen. Für die engere politologische Diskussion zwischen Realisten und Globalisten vgl. II.3.C; Meyers, Theorien, 450–481. 27  Vgl. Jaspers, Ursprung, der von einer Mitte der gesamten Menschheitsgeschichte zwischen 800–200 v. Chr. spricht und auf Entwicklungen in Indien (in den Upanishaden und bei Buddha), in Persien (mit Blick auf Zarathustra), Palästina (mit Blick auf die Prophetie) und Griechenland (angesichts der Dichter und Philosophen) verweist, die zur Entmythisierung, zum Transzendenzbewusstsein, zur Vergeistigung wie auch zu neuen Formen der Vergesellschaftung führen. 28  Immanuel Wallerstein, World-Systems, 1–22, weist auf die Bedeutung der portugiesischen und spanischen kolonialen Bestrebungen im Aufbau erster integrativer gesellschaftlicher Vernetzungen hin. Diese Prozesse nahmen zu, sodass Phänomene heutiger Globalisierung bereits bis Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt waren, wie z.B. weltweit operierende Unternehmen und interkontinentale, politische Abhängigkeiten (Osterhammel, Globalization, 28 f., vgl. Borchardt, Globalisierung, 21–49; Figueroa, Philosophie, 13). 29  Zwischen 1989 und 1991 sind allein drei europäische Ordnungen zusammengebrochen: erstens die Ordnung von Jalta und Potsdam, welche die östliche Hälfte Europas dem Kommunismus überantwortete; zweitens das Staatsmuster der Versailler Verträge von 1919/20 –

I.2. Die interdisziplinäre Forschungslage

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Eine Vielfalt an Theoriemodellen steht nun zur Deutung dieser Phänomene bereit, und spätestens seit der Fundamentalkritik an der Modernisierungs­ theorie – auch nach deren Neuauflagen – werden die Referenzsysteme der Sozial- und Geschichtswissenschaften mit Blick auf die globale Perspektive umstrukturiert.30 Um diese Vielfalt ordnen zu können, lassen sich vier wesentliche Interpretationsmodelle in der derzeitigen Theorielandschaft bestimmen: Das erste Modell ist systemtheoretischer Art und konzentriert sich auf die Konstituierung der ‚Weltgesellschaft‘. Von dieser ist bereits seit dem 18. Jahrhundert die Rede, aber erst mit den – im Detail sehr unterschiedlichen – Beiträgen von Niklas Luhmann, Peter Hintze, John W. Meyer und Rudolf Stichweh wird der Begriff als ein makro-soziologischer Rahmen gefasst, in dem das eine, alle Nationalstaaten transzendierende Weltsystem beschrieben wird.31 „Die These der Weltgesellschaft besagt, daß es in der Gegenwart nur noch ein einziges Gesellschaftssystem gibt.“32 Die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionen, die bereits in den Industrienationen stattgefunden hat, wird auf die globale Ebene projiziert – und zwar als notwendiger sozialevolutionärer Entwicklungsschritt. Dementsprechend wird konstatiert, dass durch die Entgrenzungsleistung des Kapitalismus eine Angleichung in allen Funktionsbereichen der Welt stattfindet oder stattfinden wird. Stichweh verteidigt die Grundintuition Luhmanns,33 in der Gesellschaft über Kommunikation und über kommunikative Erreichbarkeit definiert wird und letztlich in der operationalen, einheitlichen Abstraktionsebene der Weltgesellschaft aufgeht.34 Weil dieses Konstrukt von der Kommunikation zwischen gleichgestellten Partnern ausgeht, die durch Inklusion aufeinander bezogen sind, ist die globale Exklusion großer Bevölkerungsteile vom Zugang zu etablierten Funktionssystemen als berechtigte Anfrage an die Plausibilität der Theorie gerichtet worden.35 Dieser Ansatz beangesichts des Zerfalls Jugoslawiens und der Spaltung der Tschechoslowakei; drittens die 300 Jahre alte petrinische Ordnung des großrussischen Raumes (vgl. Sommer, Venus, 15–25). 30  Vgl. zum Überblick: Schwinn, Vielfalt, 7–36; Spohn, Globalisierung, 9–30. Erweiterte Referenzsysteme zeigen sich auch in Spezialfächern wie der Sinologie, der Japanologie, den Islamwissenschaften, der Indologie und der Lateinamerika-Forschung (vgl. Schwinn, Vielfalt, 9). 31  Für eine Einleitung in die Genese des Begriffs bei Peter Hintze, John W. Meyer und Niklas Luhmann, vgl. Wobbe, Weltgesellschaft; Hübner, Globalisierung, 40. 32  Stichweh, Genese, 245. 33  „Weltgesellschaft beginnt in dem Augenblick, in dem eines der Gesellschaftssysteme nicht mehr akzeptiert, dass es neben ihm noch andere Gesellschaftssysteme gibt“ – und dieser Prozess habe bereits im 15./16. Jahrhundert begonnen (aaO. 249 f.). 34  AaO. 246; Luhmann, Gesellschaft. Vgl. bei Stichweh die Diskussion, inwiefern Gesellschaft weiterhin ein praktikabler Begriff ist. 35 Brunkhorst, ‚Habermas‘, 108 f. Auch der Versuch von Stichweh, die regionalen Disparitäten durch die Idee der „Ungleichzeitigkeit“ zu verstehen, konnte nicht recht überzeugen, da die Exklusionen z.T. durch Interdependenzen entstanden und nicht allein durch eine langsamere Entwicklung zu erklären sind.

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I. Einleitung

sticht zwar dadurch, dass weltweite, vergleichbare Strukturen erklärt werden können,36 die rein funktionale Sicht auf den globalen Wandel bleibt aber für die Erfassung wesentlicher Differenzen merklich blind. Das zweite Modell ist ein Konglomerat gemeinsamer Ansätze der so genannten Globalisierungstheoretiker wie Anthony Giddens, David Held und Ulrich Beck. Sie verweisen vor allem auf die veränderte politische und rechtliche Lage, die durch die zusammenwachsende Weltwirtschaft entstanden ist und warnen, dass der Weltmarkt politisches Handeln „verdrängt“.37 Ökonomische Global Player unterlaufen demnach politische, soziale und ökologische Ordnungen und nationale Regierungen werden in ihrem Handlungsspielraum verstärkt eingeschränkt.38 Ulrich Beck führt die Forschung zum „Neuen Kosmopolitismus“ an, in der verschiedenste interdisziplinäre Fragen – der global culture studies, der Migrationsforschung, der Auseinandersetzung mit neuer Kriegsführung oder der sozialpsychologischen Identitätsforschung – beachtet werden.39 In seiner Zeitdiagnostik zur „Weltrisikogesellschaft“ werden alte Prognosen (der nationalen Risikogesellschaft aus dem Jahr 1986) zugespitzt.40 Weil Risiken heute globale Zerstörungskräfte haben und diese Risiken zudem durch „Inszenierung“ instrumentalisiert werden, sieht er die Angst als bestimmendes Lebensgefühl und die Sorge um Sicherheit wichtiger als die Werte der Freiheit und Gleichheit.41 Aufgrund dieser Bedrohungsanalyse gilt es Beck zufolge, auf eine kosmopolitische Realpolitik hin zu arbeiten. Entscheidende Widersprüche kommen von (politologisch benannten) ‚Realisten‘, die konzeptionell eher von einer Internationalisierung, also weiterhin von der paradigmatischen Stellung der Nation ausgehen.42 Zwar verweist dagegen David Held mit Recht darauf, dass der Nationalstaat als zentrale Institution der modernen Welt an Bedeutung verliert (vgl. II.3.B.ii), völlig unklar sind aber die Konsequenzen dieser Einsicht.

36  Für die weitere Entwicklung des Weltgesellschaftsbegriffs innerhalb der Sozialwissenschaften vgl. Anghel u.a., Introduction, 11–24; Bornschier, Weltgesellschaft; Neves, Gerechtigkeit, 323–348. 37  Beck, Globalisierung, 26 f. 38  Diese Analyse ist schon früh vorgetragen worden von Held, Democracy, 222 ff. 39  Beck, Weltrisikogesellschaft, 314 ff. (Hervorhebung im Original) 40  Die Dimensionen der Risiken der achtziger Jahre erscheinen ihm „idyllisch“, wenn er die Gefahr durch Al Quaida mit derjenigen der RAF, der globalen Klimakatastrophe mit derjenigen von Tschernobyl und der Weltfinanzmarktkrise mit heimischen Konjunkturkrisen vergleicht (aaO. 28). 41  „‚Inszenierung‘ meint dabei nicht, wie in der Umgangssprache, die bewußte Verfälschung der Wirklichkeit durch das Aufbauschen ‚irrealer‘ Risiken.“ Vielmehr gehe es um die Aufzeichnung möglicher Katastrophen, um auf gegenwärtige Entscheidungen Einfluss zu nehmen (aaO. 30). 42  Vgl. Paul Hirst und Grahame Thompson, in: Osterhammel, Globalization, 11; und unten II.3.C.

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Bemerkenswert sind die unterschiedlichen philosophischen und politologischen Interpretationen dieses Modells. Zum einen sind neoliberale Deutungsmuster prominent, die staatliche Institutionen dem freien Handel des Weltmarktes unterordnen wollen.43 Zum anderen sind postmarxistische Deutungen zu nennen, die an die Stelle der ökonomischen Antriebskräfte des sich selbst verwertenden Kapitals eine expressive Macht setzen („a biopolitical empire“), das alle Differenzen nivelliert.44 Schließlich stellt eine vermittelnde Interpretation eine öko-soziale Marktwirtschaft in den Mittelpunkt ihres Lösungsvorschlags und übt sowohl an neoliberalen als auch marxistischen Extremen berechtigte Kritik.45

Als drittes Schema ist der Ansatz der multiple modernities zu nennen, der als markante Revision der Modernisierungstheorien entstand und inzwischen von Shmuel Eisenstadt und Johann Arnason zu einem eigenständigen Forschungszweig ausgeweitet wurde.46 Entscheidend ist in diesem Modell, dass den kulturellen Modernisierungsprozessen neben den ökonomischen und politischen Entwicklungen eine eigenständige Bedeutung zugestanden wird. Statt von einer Säkularisierungsdynamik auszugehen, die vom ‚Westen‘ aus andere Kulturen erfasst, werden die Zivilisationskomplexe differenziert und unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweiligen Modernisierungsstrategien betrachtet. So wird betont, dass es so gut wie keine Gesellschaften oder Regionen mehr gibt, die als vormodern zu bezeichnen sind. Diese Theorie der vielschichtigen Moderne ist am deutlichsten mit der These der Achsenzeit verknüpft und der damals in den Religionen und Kulturen ansetzenden Transformation, die sich in allen Funktionsbereichen der Gesellschaft schließlich bemerkbar gemacht haben soll. Zwar lässt auch dieses Modell entscheidende Fragen in der präzisen Erfassung von Unterschieden offen (vgl. III.3.A.i), dennoch stellt es den bisher umfangreichsten Forschungsstrang dar. Das vierte kulturalistische Interpretationsmodell betont den Grundkonflikt zwischen den Zivilisationen und Religionen der Welt.47 Die verbindende These lautet, dass die Vielzahl konkurrierender Zivilisationen im Widerspruch zu einem einheitlichen globalisierten System wie auch im Kontrast zu rein territorialstaatlich verfassten Gesellschaften steht.48 Am profiliertesten ist die Position 43  Vgl. Jean-Marie Guéhenno in Habermas, Konstellation, in: GW, 184 f.; die Diskussion zu Karl Homanns Ordnungsethik im weiteren Verlauf der Arbeit (III.3.A.ii). 44  Hardt/Negri, Empire, 10 ff.; dies., Multitude. 45  Vgl. Radermacher, Balance; Nuscheler, Globalisierung. 46  Eisenstadt, Modernen, 37–63; ders., Civilizations, 519–534, 925–936. 47  Vgl. als Überblick Weidner, Manual, 18 ff., 51 ff., 79 ff. 48  Heinz Dieter Kittsteiner macht die Einsicht geltend, dass auf der Suche nach einer dünnen Moral für die globalisierte Welt, auf das Europa des 17. Jahrhundert verwiesen werden sollte. Was damals die Konfessionen als „Stabilisierungsmoderne“ etabliert hätten, müsse heute auf globalisierter Ebene wiederholt werden. Nicht die Menschenrechtsdebatten des 18. und 19. Jahrhunderts sollten Ausgangspunkt der globalen Einigung werden, sondern die davor liegenden grundsätzlicheren Toleranzdiskussionen. Hinter dieser Position lauert Carl Schmitt: „Es ist im Sinne Carl Schmitts ein – wenn auch nur fiktiver – Schritt zurück von

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Samuel P. Huntingtons, der Zivilisationen als „großräumige historische Formationen“, die mehrere Gesellschaften umfassen, darstellt.49 Diese werden essenzialistisch als Großsubjekte „vergegenständlicht“, sodass verschiedene Kulturen aufeinanderprallen. Er behauptet, dass der Zusammenprall die Weltpolitik beherrschen wird, weil die Verwerfungslinien zwischen den Zivilisationen (vor allem dem Westen und anderen Kulturen) verlaufen werden – und nicht wie bisher zwischen Königen, Völkern oder Ideologien. „Die provozierendste These besagt, dass der Universalitätsgedanke der westlichen Moderne ausgespielt hat und sich besser zurückziehen sollte.“50 Sind die wesentlichen Differenzierungsmängel dieser Position bereits mehrfach aufgegriffen worden,51 indem die Homogenität und Handlungsfähigkeit ganzer Kulturen oder Zivilisationen in Frage gestellt werden, muss das Grundanliegen der Achtsamkeit für Differenz angesichts der Prägekraft der Religionen für die internationale Ordnungssuche weiterhin berücksichtigt werden. Es stellt nämlich vorschnelle Konstrukte einer globalen Zivilreligion (Roland Robertson), einer Weltkultur (Frank J. Lechner und John Boli) oder eines interkulturellen Humanismus (Jörn Rüsen) in Frage, indem diesen Modellen die dauerhafte, differenzerzeugende Kraft der Kulturen und Religionen entgegengehalten wird (III.3.B).52 Der Dissens, der sich aus diesen Modellen ergibt, verdeutlicht, dass die Beschreibung des sozialen Wandels durch kategoriale und normative Entscheidungen mitbestimmt wird und deshalb nachzufragen ist, inwiefern eine kulturunabhängige Beschreibungsebene möglich und sinnvoll ist. Dabei gerät der Kulturbegriff selbst wieder in den Mittelpunkt der Diskussion.53 Auf welche Abgrenzung verweist dieser; wie verhält er sich zu denjenigen des Ethos, der Religion und der Gesellschaft? Setzt die Frage nach den Bedingungen interkultureller Koexistenz tendenziell stabile Strukturen voraus oder ist von einem Auflösungsprozess der Kulturen auszugehen?54 Unterlaufen die transkultureleinem moralphilosophischen und metaphysischen Diskurs in einen religiösen.“ (Kittsteiner, Kulturgeschichte, 46) 49  Bei Huntington werden sieben bis acht Zivilisationen differenziert: (i) westliche, (ii) lateinamerikanische, (iii) islamische, (iv) konfuzianische (in der die buddhistische und shintoistische sich auflösen), (v) hinduistische, (vi) orthodoxe, (vii) japanische, (viii) afrikanische (mit Vorbehalten), (ders., Kampf). 50  Schurz, Kampf, 125 (Hervorhebung im Original). 51  Vgl. H. Müller, Kampf, 560 ff. (dort Literatur); Küng, Herausforderungen, 110–121. 52  Vgl. unter III.3.A.i zu: Robertson, Religion; Lechner/Boli, Weltkultur; Rüsen, Einheitszwang. 53  Stephan Moebius und Dirk Quadflieg stellen in ihrem Überblick über Kulturtheorien fest, dass eine fächerübergreifende Präferenz für einen weiten Kulturbegriff zu erkennen ist, der soziale Institutionen ebenso erfasst wie mentale Dispositionen und künstlerische Ausdrucksweisen. Zugleich wird betont, dass dieser Begriff semiotisch, bedeutungsorientiert und konstruktivistisch ausgelegt ist (dies., Kulturtheorien, 10, mit Verweis auf Vera und Ansgar Nünning). 54  Vgl. Welsch, Transculturality, 194–213.

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len Prozesse der „Kreolisierung“, „Hybridisierung“ und „Synkretisierung“ ein substanziales Kulturverständnis und lösen sie gar jedweden Homogenitätsanspruch auf?55 Angesichts dieser Problemlage stellt sich nicht einfach die Frage an Herms und Habermas, welches der obigen Modelle sie bevorzugen, sondern wie sie mit der anspruchsvollen Aufgabe einer Zeitdiagnostik im Horizont anthropologischer, gesellschaftlicher und kultureller Konstanten in begründeter Form umzugehen gedenken. Einige begrifflichen Klärungen sollten hier noch erfolgen: Innerhalb der Anthropologie muss auf Differenzierungen hingewiesen werden. Während im deutschen Sprachraum die wissenschaftliche Anthropologie mit biologischen Menschenwissenschaften verbunden wird, ist im englischen die Ethnologie gemeint.56 Beide Bereiche wären noch stärker in die vorliegende Fragestellung einzubeziehen als der Umfang der Arbeit dies ermöglicht, zugleich bleibt die hermeneutische Aussagekraft mancher Ergebnisse dürftig. Wenn Christoph Antweiler in seiner ethnologischen Universaliensuche seine universalistische Position von absolutistischen und relativistischen Theorien abgrenzt, bleibt die hermeneutische Problematik merklich offen:57 Denn in der Hauptthese wird zwar beansprucht, dass es „viele Phänomene“ gibt, „die in allen Gesellschaften regelmäßig vorkommen“, es wird aber nicht bedacht, dass diese unterschiedlich gedeutet werden.58 Auch die Ethologie hat einen universalistischen Anspruch, z.B. bei Johannes Brantl: „Die These eines umfassenden kulturellen Relativismus läßt sich vom humanethologischen Befund her nicht aufrecht erhalten. Der Mensch ist in seinen sozialen Interaktionen an ein universales Grundmuster gebunden, das sich zwar in eine Vielzahl kulturell verschiedener Erscheinungsmuster einkleiden kann, aber gleichwohl an die biologische Natur des Menschen rückgebunden bleibt.“59 Wenn nach diesen Grundmustern gefragt wird, bleibt lediglich das zentrale Moment humanethologischer Forschung, das den Menschen „in der Polarität“ von Nähe und Distanz, Geselligkeit und Dominanz, „Liebe und Haß“ beschreibt.60 Mit dem Begriff ‚interkulturelles Zusammenleben‘ wende ich mich gegen die Idee einer kommenden einheitlichen ‚Weltzivilisation‘ (Roland Robertson) oder Weltkultur und auch gegen die konturlose Vermischung (‚Hybridität‘) der Kulturen (vgl. vor allem III.3.A). Mit dem Begriff ‚Interkultur‘ wird sowohl eine gewisse Abgrenzung der einzelnen Kulturen als auch eine sie übergreifende Verständigungsmöglichkeit über die gemeinsamen Topoi bestimmt. Ich verwende den Begriff als Problemstellung der Sozialphilosophie und Sozialethik und nehme einerseits in Abgrenzung zu Huntington die Möglichkeit des Zusammenlebens als Leitperspektive auf, andererseits ist die Leitidee der Koexistenz gewissermaßen zurückhaltender als die neuere Hoffnung auf eine

55  Vgl. zur Einführung dieser Begriffe das Glossar http://transkulturalitaet.blogspot. com/search/label/und zur Diskussion mit Jan Nederveen Pieterse und Homi Bhabha im weiteren Verlauf: III.3.A.i. 56  Vgl. Hampe, Anthropologie, 521–524. 57  Antweiler, Menschen, 282. 58  AaO. 10. 59  Brantl, Moral, 82 (Hervorhebung im Original). 60  AaO. 252 ff.

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I. Einleitung

Kooperation der Kulturen.61 Diese Kooperation ist zwar dringlich, setzt aber eher voraus, dass der Widerstreit bereits angemessen bearbeitet worden ist.62 Mit dem Weltgesellschaftsbegriff folge ich Habermas und Herms,63 die diesen der Beschreibungsebene der System- und Globalisierungstheoretiker entlehnen. Diese wiederum verweisen auf eine mehr oder weniger bereits vorhandene Infrastruktur, welche alle wesentlichen Funktionssysteme der Erde verbindet (vgl. II.3.A; III.3.A). Für beide Denker ist die Weltgesellschaft deshalb schon da, auch wenn wesentliche Verbindungen noch im Werden sind.64 Mit der bereits vorhandenen Weltgesellschaft ist allerdings nur eine deskriptive Ebene eingeholt, die Weltgesellschaft in weltbürgerlicher Absicht ist ein normatives Ideal.

I.2.B. Theorielage zur Verhältnisbestimmung des ‚Gerechten‘ und des ‚Guten‘ Neben einer Vielzahl von impliziten normativen Überzeugungen, die in den eingeführten Modellen verborgen liegen, gelten mittlerweile zwei wirkmächtige explizite normative Leitideen als interkulturelle Bezugspunkte: die Menschenwürde bzw. Menschenrechte und das Weltethos.65 Beide entstammen der ‚westlichen‘ Kulturgeschichte (das Weltethos als eine Weiterentwicklung der Diskurse um die Menschenrechte), und sie stehen gemeinsam in der Tradition der lessingschen ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘.66 An den universalen Geltungsansprüchen solcher Ansprüche nagt die Frage nach ihrer Differenzsensibilität. Bereits Johann Gottfried Herder wusste um die Gefahren der Universalisierung abendländischer Moralauffassungen, denn durch die von Fremden eingeführte Freiheit werden Völker „aufs ärgste belästigt“.67 Nicht ohne Grund 61  Vgl.

das Forschungsprogramm zu den „Kulturen der Kooperation“ im „Global Cooperation Research“, das federführend von Claus Leggewie entwickelt wird (http://www. gcr21.org/de). 62  Vgl. z.B. das Dokument, welches den VN 2013 vorgelegt wurde, in dem eine neue globale Partnerschaft gefordert wird: http://www.post2015hlp.org/wp-content/uploads/2013/05/ UN-Report.pdf. Hier wird der mögliche Kampf der Kulturen oder zumindest deren berechtigten Auseinandersetzungen kaum thematisiert. 63  Grundsätzlich ist der Begriff der ‚Erdgesellschaft‘ präziser als derjenige der ‚Weltgesellschaft‘, denn mit der ‚Welt‘ ist die Totalität aller Einzelerscheinungen im Blick und somit nicht nur unsere Erde. Dennoch ist der Begriff der ‚Weltgesellschaft‘ geläufiger und wird deshalb bevorzugt verwendet. 64  „Wir leben längst in einer Weltgesellschaft und zwar in dem Sinne, dass die Vorstellung geschlossener Räume fiktiv wird. Kein Land, keine Gruppe kann sich gegeneinander abschließen“ (Beck, Globalisierung, 26 f., Hervorhebung im Original). 65  Vgl. die Diskussion beider Ideen in III.3.A.i; zu den Menschenrechten: Menke/Pollmann, Menschenrechte; Dehn, Menschenwürde; Galtung, Zukunft; Honneth, Universalismus; zum Weltethos: Küng, Herausforderungen, 110–121; ders., Spurensuche; ders., Welt­ ethos; Mieth, Ethik. 66  Von Hentig, Polis, 262. 67  Herder, Beförderung, 734. Herder weiß um die Unmöglichkeit, die „Glückseligkeit eines Volkes“ anderen „aufdringen, aufschwätzen, aufbürden“ zu lassen, weil auch die beste Regierungsform nicht „für alle Völker“ auf einmal taugt (ebd.). Vgl. Stauf, Messung, 14 f.

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werden westliche Bestrebungen, die Menschenrechte gleichsam als Ausfuhrprodukt zu betrachten, nicht nur als Hinderung für die interkulturelle Verständigung, sondern auch als Anlass erheblicher Ressentimentgefühle in betroffenen Ländern angesehen.68 Dementsprechend bleibt der Optimismus Kants, dass die völkerrechtliche Wohlordnung eine erreichbare Möglichkeit darstellt,69 für Viele eine weltfremde Utopie. Skeptisch betrachten Kritiker die elementaren Probleme der Vertrauensbildung zwischen Kulturen, Religionen und Nationen,70 und sagen, je nach Schwerpunkt, einen globalen „Bürgerkrieg“ (Hans Magnus Enzensberger)71 oder eine „Coming Anarchy“ (Robert Caplan)72 voraus. Die Warnungen vor vorschnellen Konstrukten eines globalen Konsenses sind auf diesem Hintergrund mehr als angebracht.73 Deshalb bedarf es eines Grundlagendiskurses, in dem eben die Möglichkeitsbedingungen interkultureller Koexistenz gemeinsam geklärt werden.74 Dieser ist wiederum nach zwei Richtungen offen, wie John Rawls schildert: „The two main concepts of ethics are those of the right and the good … The structure of an ethical theory is, then, largely determined by how it defines and connects these two basic notions.“75 68 Yousefi,

Einführung, 11; vgl. Wimmer, Philosophie. „[Die Protagonisten der Französischen Revolution] haben Ideen in Bewegung gebracht, verbreitet, die nicht mehr auszutilgen seyn werden. Wie bei der Schöpfung alles chaotisch aufgerollt war, so auch bei der Revolution: nun schwebt der Geist Gottes darüber und wird nach und nach scheiden und ordnen“ (Kant in: Geier, Welt, 275). Dieser Optimismus war vor allem nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt, Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, bei Francis Fukuyama erkennbar. Bestärkt durch seine Rezeption Hegels stellte er die These auf, dass ein Ende der Geschichte durch den Sieg der Demokratie, des Liberalismus und damit des freien Marktes sichtbar sei (ders., End, 22–49). 70  Honneth, Universalismus, 255. 71  Enzensberger, Aussichten, erstellt ein globales Szenario der rohen Gewalt, mit der Begründung, dass der Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung 1989 eine Destabilisierung der politischen Beziehungen zur Folge hat, die zu einer Explosion enthemmter Brutalität führt und führen wird. 72  Kaplan, Anarchy, sieht die Zukunft von Kämpfen um Wasser, Nahrung und saubere Luft, von innerstaatlichen Unruhen, Konflikten um Rohstoffe und vom Chaos zerfallender Staaten geprägt. 73  Vgl. Kersting, Recht, 313 f.; die Kritik am „Menschenrechtsfundamentalismus“ bei H. Ebeling, ‚Habermas‘, 83–95. 74  Höffe, Menschenrechte, 1. 75  Rawls, Justice, 24. Anders als in dieser Definition hebt Mack, Gerechtigkeit, 9–16, den verwirrenden Tatbestand hervor, dass diese Begriffe vor allem in der deutschen und angelsächsischen Tradition unterschiedlich verwendet werden. Im angelsächsischen Bereich geht man z.T. von „Ethics“ als einer Zusammenfassung der jeweiligen Konzeption des ethisch guten Lebens aus und der „Moral Philosophy“ als Oberbegriff wissenschaftlicher Reflexion (Mack, Gerechtigkeit, 25). Auch Habermas und Herms verwenden die Begriffe unterschiedlich. Während Herms eher Rawls folgt, geht Habermas von einer strikten Trennung zwischen Moral und Ethik aus (vgl. II.2.A.ii; III.1.C.ii). Die habermassche Unterscheidung ist 69 

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Je nach Diskussionslage wird infolge dieser zwei Prinzipien eine Spannung zwischen teleologischen und deontologischen Ethikmodellen deutlich.76 Ob alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre nach Carl Schmitt „säkularisierte theologische Begriffe“ oder nach Jan Assmann, „theologisierte politische Begriffe“ sind, bleibt umstritten.77 Der Dissens verdeutlicht aber die Komplexität der Verhältnisbestimmung zwischen ‚Gutem‘ und ‚Gerechtem‘, die in der gegenwärtigen abendländischen Philosophie als Diskrepanz zwischen kommunitaristischen und liberalistischen Denkern deutlich wird. Diese Auseinandersetzung lässt sich nicht auf eindeutige Positionen reduzieren. Im Gegenteil, es ist schwierig eine genaue Klassifizierung der Denkansätze zu erstellen, weil auch bemerkenswerte Synthesen erkennbar werden.78 Dennoch ist die grundlegende Auseinandersetzung zwischen „kontextversessenen Kommunitaristen“ und „kontextvergessenen Liberalen“79, also zwischen Loyalitätsethik und Gleichheitsmoral für die weitere Diskussion der interkulturellen Spannungen der Weltgemeinschaft fundamental. 80 Die sozialphilosophische Diskussion der letzten Jahrzehnte stand im Zeichen dieser Auseinandersetzung. So heben Denker wie Alasdair MacIntyre, Charles Taylor und Michael Walzer – die gemeinsam als Kommunitaristen bezeichnet werden – hervor, dass das „ungebundene Selbst“ durch den Liberalismus überfordert und die Gemeinschaft durch den Atomismus des Individualismus bedroht ist.81 MacIntyre betont, dass nur kultursensitive Konzeptionen des Guten bindende und plausible Gerechtigkeitsvorstellungen herstellen, und nur umfassende Theorien des Guten gelungene soziale Integration ermöglichen können.82 Der Liberalismus habe die Unterschiede und Besonderheiten der spezifischen Gemeinschaften nivelliert und deshalb auch nicht zu moralisch nachvollziehbaren Positionen geführt.83 Die Identität und die Tugend des Indi„unglücklich“ (Joas, Entstehung der Werte, 282), denn sie macht den Begriff „Diskursethik“ unverständlich (Habermas, Vorwort, in: ED, 7). 76  Vgl. Solomon/Murphy, Justice, 305–356; zur Diskussion in der Rechtswissenschaft vgl. Horn, Einführung, 46–64. 77  Assmann, Herrschaft, 29, stellt diese zwei Thesen anschaulich gegenüber. Er sieht in der Verhältnisbestimmung von Herrschaft und Heil, in „den verschiedenen Kulturen der Erde“, „eine der aktuellsten, wichtigsten und offensten Fragen der Kulturwissenschaft überhaupt“ (aaO. 28). 78  Vgl. z.B. die bemerkenswert religiös gefärbte, politische Zukunftsvision von Richard Rorty, in der er ein Plädoyer für die Identifikation von Gutem und Rechtem abzugeben scheint (ders., Anticlericalism, 40). 79  Forst, Kontexte, 15. 80  Dementsprechend wird die philosophische Auseinandersetzung um den Gerechtigkeitsbegriff „zur Zeit vornehmlich auf dem Feld der internationalen bzw. globalen Gerechtigkeit geführt“. (Scarano, Einleitung, 353, Hervorhebung im Original). 81  Vgl. MacIntyre, Verlust; Walzer, Sphären; Taylor, Multikulturalismus. 82  Moderne Gesellschaften sind, „zumindest an der Oberfläche, nichts als eine Ansammlung Fremder“, weil sie „jede Darstellung der menschlichen Gemeinschaft ausschließen“ (MacIntyre: in Horn, Philosophie, 410 f.). 83  Michael Walzer hat das liberalistische Problem am Bild eines zwar zweckmäßigen, aber trostlosen Hotelzimmers veranschaulicht: Liberaler Konsens ist demnach wie eine Einigung

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viduums sollten für die Rechtsfindung nicht als uninteressant gelten, denn letztere wird von Bürgern konstituiert und befolgt.84 Ernst-Wolfgang Böckenförde drückt das Problem auf mittlerweile beinahe legendäre Weise so aus: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“.85 Dagegen hebt Wolfgang Kersting hervor, dass die kommunitaristische Position „auf einem anthropologischen Fehlschluß“ beruht, weil sie verlangt, dass das in der jeweiligen Tradition des Guten verstandene soziale Muster auf den Staat insgesamt übertragen wird und „eine staatliche und somit zwangsbewährte Politik des Guten“ entstehen soll.86 Kersting wehrt sich dagegen, das abstrakte Selbst des Liberalismus als Produkt einer Tradition zu sehen; für ihn ist der Kommunitarismus ein Irrglaube, dessen Traditionen „sind das Problem, nicht die Lösung“.87

In Folge dieser schroffen Positionierungen wird kontrovers um den Primat entweder des Rechten oder des Guten gestritten; eine Diskussion, die sowohl mit Habermas als auch mit Herms anzusehen ist (vgl. II.2.A.ii; III.1.C.ii). Die zu Grunde liegende Problematik wird mittlerweile durch zwei neue Diskussionsaspekte in einen weiteren Rahmen übertragen. Zum einen ist dies der (neue Zugang zum) Kosmopolitismus: Kann anhand einer universalistischen Theorie tatsächlich eine Rechtsordnung entworfen werden, die für den gesamten Erdkreis gilt – oder sind prinzipielle Grenzen der liberalistischen Gerechtigkeitstheorie zu berücksichtigen? Auf diese kosmopolitische Dimension gehe ich unter II.1.B und II.3.A ausführlich ein. Zum anderen entsteht eine veränderte Diskurslage durch die (zumindest postulierte) Renaissance der Religionen. In dieser Hinsicht wird vor allem die kommunitaristische Sichtweise herausgefordert, da deutlicher wird, dass der Begriff des Guten nur auf dem Hintergrund eines radikalen Pluralismus thematisiert werden kann.88 Ein Grunddatum ist der 11. September 2001 mit den Terrorattacken auf die USA. Die Diskussionslage verschiebt sich seither merklich zur erneuten Auseinandersetzung mit der auf eine gemeinsame Unterbringung, die zwar alle notwendigen Bestandteile zum Leben beinhaltet, aber eben eine Gelegenheitsunterbringung ist und kein Zuhause, da der Konsens nicht den persönlichen Geschmack verallgemeinern kann. Das führt zu Ungebundenheit (Walzer in: Horn, Philosophie, 344). 84  Vgl. Taylor, Multikulturalismus, 1–70. Die grundlegende Unterscheidung benennt er als eine an der kantischen Tradition ausgerichtete Politik der Gleichachtung und im weitesten Sinne eine an Rousseau orientierte Politik der Differenz. 85  Böckenförde, Entstehung, 112 (Hervorhebung im Original). 86  Kersting, Recht, 423. 87  Ebd. Für Kersting existiert die „Universalismus-Partikularismus-Problematik“ „bei Lichte betrachtet nicht“, denn dieser Gegensatz basiert auf einem unvollkommenen Verständnis „der moralischen und politischen Welt“ (aaO. 493). „Die Moralphilosophie wird vielmehr ihre systematischen Möglichkeiten beträchtlich unterbieten, wenn sie sich davon abhalten läßt, die komplexe moralische Welt vollständig zu vermessen und die Unparteilichkeitsmoral durch eine Loyalitätsmoral der besonderen, von der Freundschaft bis zur nationalen Gemeinschaft reichenden Beziehungen zu vervollständigen“ (ebd., Hervorhebung im Original). 88  Das Problem des radikalen weltanschaulichen Pluralismus ist bei kommunitaristischen Denkern verhältnismäßig neu, vgl. Reese-Schäfer, Kommunitarismus, 1532.

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Religion und gerade Jürgen Habermas verschränkt mittlerweile die Gerechtigkeitsfrage mit der Säkularisierungsthematik (II.3.D). Zu Recht wird also die Diskussion um Liberalismus und Kommunitarismus um diejenige des Verhältnisses von Vernunft und Religion erweitert. Bevor auf diese Debatte eingegangen wird, soll nach dem Beitrag der evangelischen Theologie zur Verhältnisbestimmung des ‚Gerechten‘ und des ‚Guten‘ gefragt werden. Zunächst sind Zweifel erkennbar, ob die Theologie sich überhaupt mit diesen Fragen beschäftigen oder sich vielmehr ihren vermeintlich originären Aufgaben zuwenden soll – nämlich dem einzelnen Menschen in seiner Gottesbeziehung.89 Sollte sich die theologische Wissenschaft eigener Urteile und Aussagen über die gerechte Weltordnung enthalten oder sich offensiv mit anderen Überzeugungen auseinandersetzen? Erste tastende Überlegungen zu einer Weltordnung sind relativ früh im Blick der biblischen Autoren. Von einer Wallfahrt der Völker zum Zion, wo der Tempel Gottes steht, ist bei Micha (4,1–4) und Jesaja (2,2–4) die Rede: Die Völker werden „ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Spieße zu Rebmessern“ (Jes 2,4) und ihre Differenzen von Gott schlichten lassen. Einerseits kann diese Vision vor dem Hintergrund der altorientalischen Kulturen und deren „Theologisierung“ der Gerechtigkeit und Wechselseitigkeit verstanden werden.90 Recht und Unrecht wurden dort zunehmend in eine umfassende, den gesamten Kosmos einschließende Ordnung eingebunden,91 die alle Bereiche des Lebens in einer ewigen Wirksamkeit umschließt.92 Andererseits ist diese Schau einer Weltordnung mit einem konkreten Erlebnis Israels in Verbindung zu bringen, das Gott in besonderer Weise als Gott des Rechts erlebt, der seinen Willen und sein Wesen in der Rechtsetzung manifestiert. Insofern kann die Gerechtigkeit zwar als eines der wesentlichen Themen des Alten Testamentes betrachtet werden,93 aber sie ist dort meist auf die eigene Gemeinschaft bedacht.94 Die Prinzipien der Gerechtigkeit werden „konsequent“ aus dem Gotteswillen abgeleitet95 und sind als eine Tradition des Guten zu verstehen. Bei Paulus ist eine ähnliche Lage zu erkennen, denn  89  Vgl. Luz, Gott, 52; Huber, Gerechtigkeit, 111, der diese Haltung beschreibt, sie aber nicht teilt.  90  Assmann, Ma’at, 288, spricht von einem Prozess oder einer Entwicklung mit drei Stadien: i. „das Stadium der impliziten Solidarität“ ohne eine explizite Tugend- und Weisheitslehre; ii. „das Stadium der explizit und reflexiv gewordenen Lehre von der vertikalen Solidarität“; iii. das Stadium eines neuen Weltbildes durch die Theologisierung der staatlichen Solidarität.  91  Assmann, Ma’at, 9 f.; Höffe, Gerechtigkeit, 13.  92  Ptahhotep, Handeln, 17–24: „Die Ma’at leuchtet, ihre Wirksamkeit dauert an, sie ward nie verwirrt seit der Zeit dessen, der sie geschaffen hat“ (V, 19).  93  Kein alttestamentlicher Begriff ist von derart zentraler Bedeutung wie derjenige der Gerechtigkeit, so von Rad, Theologie, 382.  94  Die Schwerpunktsetzung wird in der handelnden Loyalität Gottes zu seinem Volk deutlich, die ihren Ausdruck in der Heilsgabe des Gesetzes findet (Ps 50,6). Im Deuteronomium wird die Konsequenz deutlich: Das Halten aller Gebote wird als Gerechtigkeit vor Gott gewertet (Dt 6,25; 24,13), in der die Loyalität Gottes als motivierende Triebkraft zur Einhaltung des Gesetzes gilt.  95  Eckart Otto versteht das Alte Testament als „Durchbruch“ in der altorientalischen

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bei ihm steht ebenfalls der Gerechtigkeitsbegriff im Mittelpunkt, aber in einem neuen partikularen Zusammenhang (Röm 1,17),96 der nur eschatologisch aufgelöst werden kann. Gerechtigkeit wird verstanden als Gottes um die Welt als Schöpfung kämpfende Macht (Röm 3,29 f.). Insgesamt verdeutlichen diese Texte aber schon Ansätze der Spannung zwischen dem Gerechten und dem Guten, die sich mit der Entwicklung der Menschenrechte und liberaler Gesellschaften zuspitzen wird.

Wolfhart Pannenberg antwortet auf die Fragen nach dem Beitrag der Theologie zu dieser Debatte mit der These, dass der liberalistische Gerechtigkeitsbegriff aus dem zentralen Liebesgedanken Jesu zu erhellen ist. Er zieht Traditionslinien von der Bergpredigt und den ersten christlichen Gemeinden97 über Rechtsreformen in der alten Kirche98 bis hin zur Entwicklung der Grundidee der politischen Freiheit – als Vollendung und Konsequenz der Idee der christlichen Freiheit und der unmittelbaren Souveränität Gottes.99 Sein Entwurf läuft somit auf eine unmittelbare Verschränkung von Gerechtigkeit und Liebe hinaus, in der die Liebe selbst als die „Wurzel des Rechts“ verstanden wird.100 Diesem Vorschlag sind verschiedene Bedenken entgegenzuhalten: Zum einen ist die Pluralismustauglichkeit der Theorie Pannenbergs in Frage zu stellen,101 zum anderen ist die gesellschaftstheoretische Bedeutung christlicher Liebesethik (z.B. von Reinhold Niebuhr und Emil Brunner) bezweifelt worden.102 Bei Wolfgang Huber ist ein Vermittlungsversuch in diesem Streit erkennbar: Zwar gilt für ihn der Zusammenhang von Recht und Liebe als entscheidendes Thema der Sozialethik,103 aber er warnt davor, diese Verknüpfung zu stark hervorzuheben. Er schlägt einige Differenzen vor: Das Recht ist im Wesentlichen Rechtsgeschichte, weil das Leben „umfassend“ durch das Recht geordnet wird, aber es wird „konsequent“ aus dem Gotteswillen abgeleitet (ders., Recht, 202 f.; vgl. Koch, Sädaq, 61 f.).  96  Die Gültigkeit juristischer Ansprüche des römischen Reiches wird zwar anerkannt, aber die religiöse Identität der christlichen Gemeinschaft ist insofern entscheidend, als sie bestehende Rechtsverhältnisse transzendieren kann (Wolter, Recht, 212).  97  Er verweist auf die Antithesen der Bergpredigt mit Blick auf die Eschatologie und auf die Paränese der Apostel mit Blick auf die Ordnung der Gemeinden (Pannenberg, Rechtsbegründung, 323–338).  98  AaO. 334, mit Bezug auf das Beispiel Leo III. und Konstantin V., die in ihrer Ekloge um 740 Rechtsreformen in Richtung größerer Humanität entwickeln.  99  Vgl. Pannenberg, Bestimmung, 79 f., 123; ders., Spiritualität, 71. Durch das „negative Element“ in den politischen und religiösen Freiheitsgedanken wird „jeder menschlichen Instanz, jeder menschlichen Lehre und jeder menschlichen Regierung die absolute Autorität“ verweigert, die nur Gott beanspruchen kann (aaO. 73). Allerdings sind hier viele Fragen offen, denn es müsste das Freiheitsverständnis näher betrachtet und die komplexen Paradoxien, die im 20. Jahrhundert in Philosophie und Theologie thematisiert worden sind, erörtert werden. 100  Pannenberg, Mensch, 73. 101  Vgl. z.B. folgende Aussage: „Eine Selbständigkeit weltlicher Gerechtigkeit gegenüber Gott kann es jedenfalls in der Sicht christlichen Glaubens nicht geben […] Die Ablösung von der theologischen Fundierung hat zur Auflösung des Gerechtigkeitsbegriffs in eine Vielzahl von einander widersprechenden Gerechtigkeitstheorien geführt.“ (Pannenberg, Leben, 209) 102  Vgl. Niebuhr, Justice, 27–29; Brunner, Gerechtigkeit, 84. 103  Huber, Gerechtigkeit, 55.

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durch Abstraktion gekennzeichnet, während die Liebe wesentlich auf Konkretion aus ist: „Recht zielt auf Typisierung, Liebe auf Individualisierung“.104 Zudem beruht das Recht auf dem Grundsatz der Wechselseitigkeit, während die Liebe diese durch die Möglichkeit des zuvor- und entgegenkommenden Umgangs überbietet.105 Die Vernachlässigung der Grundlegungsfragen in der evangelischen Ethik, die wiederholt bemängelt wird, muss differenziert bewertet werden.106 Zwar ist diese Einschätzung insofern zutreffend, als auf die vielen ethischen Appelle der evangelischen Kirche verwiesen werden kann, die kaum an der Begründung ihrer Äußerungen interessiert scheint.107 Aber wesentliche Auseinandersetzungen der theologischen Reflexion stehen seit der Aufklärung gerade im Zeichen der Frage nach dem wissenschaftlichen Stellenwert der Ethik.108 So lässt sich feststellen, dass weniger ein mangelndes Interesse an der Grundlegungsfrage zu konstatieren ist, als ein Streit um ihre adäquate Fassung.109 Auch diese Arbeit steht im Horizont dieses Dissenses. Sie folgt dabei der Spur, in der auf der einen Seite die Perspektivität jedweder Positionierung betont wird, und auf der anderen die verständigungsorientierten Übergänge zwischen den disparaten Positionen erforscht werden.110

Wie anschlussfähig ist die christlich-theologische Diskussion für die Probleme eines universalen Gerechtigkeitsbegriffs? Ist es denkbar, christliche Liebe als formale Eigenschaft anzusehen, indem sie auf die Traditions- und Wertbindung

104 

AaO. 213 f. Das bedeutet aber auch, dass die Verhältnisbestimmung wesentlich von der genaueren Definition der Liebe abhängig ist – ob Liebe als Lebenskraft (Tillich) oder als Selbstlosigkeit (Niebuhr) verstanden wird. In ähnlicher Weise wie Huber spricht Paul Ricœur von einer dialektischen Beziehung zwischen dem „formalen Charakter der Gerechtigkeit“ und dem „supramoralischen Charakter der Liebe“ (Ricœur, Liebe, 37, 48, 57; vgl. ders., Gerechte, 269–295 und im Folgenden II.2.A.ii). 106  Lohmann, Naturrecht, 6 ff., verweist für diese Analyse auf Arbeiten von Klaus Tanner, der sich wiederum u.a. auf Helmut Thielicke, Wolfgang Trillhaas und Trutz Rendtorff beruft. 107  Vgl. Lange, Ethik, 18 f. 108  Vgl. Atze, Ethik, 16–241; Lohmann, Naturrecht, 17–163. 109  Der Streit reicht vom Vorschlag einer ‚ethischen Theologie‘ bei Trutz Rendtorff über vermittelnde Positionen bei Martin Honecker oder Johannes Fischer bis hin zu einer politischen Theologie mit barthianischen Wurzeln oder zur ‚verantwortlichen Gesellschaft‘ bei Heinz-Dietrich Wendland. 110 Friedrich Lohmann bearbeitet die Begründungsfragen dementsprechend auf dem Hintergrund der Verhältnisbestimmung von Universalität und Partikularität in der sozialphilosophischen Diskussion. Inhaltlich teile ich den Richtungssinn seiner Ergebnisse, dass Ethik auf anthropologischen Überzeugungen beruht, die nicht anders als perspektivisch sein können (ders., Naturrecht, 391 ff.). Viel stärker als Lohmann werde ich dagegen die unabdingbare Rolle der transversalen Vernunft hervorheben. Unbearbeitet bleibt bei Lohmann zudem, wie die kategoriale Grundlagenarbeit sich in die gesellschaftlichen Funktionsbereiche übersetzen lässt, wie die Anthropologie mit einer Sozialtheorie einerseits und einer Wissenstheorie andererseits zusammenhängt. 105  Ebd.

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jedweder Religion verweist?111 Sind die Werte des Christentums interkulturell nachvollziehbar?112 Oder muss die Verhältnisbestimmung von Gutem und Gerechtem insgesamt unter weltanschauliche Vorzeichen gestellt werden? Diese Fragen zeigen, dass das Problem der Kompatibilität auf grundlegende kategoriale Zusammenhänge hinweist. Die christliche Erfahrung mit der Begegnung anderer Wertvorstellungen betrifft andere Religionsgemeinschaften in gleicher Art, und so stellt sich die Frage nach der Koexistenz partikularer Wertvorstellungen und Überzeugungen im Allgemeinen: Welche kulturübergreifende Verständigungsmöglichkeiten sind zu erwarten und inwiefern sind alle Ordnungskonzeptionen mehr oder weniger abhängig von einer Tiefenhermeneutik des Daseins? Es gilt nun, die Begriffe der ‚Vernunft‘ und der ‚Religion‘ einzuführen.

I.2.C. Theorielage zur Verhältnisbestimmung von ‚Vernunft‘ und ‚Religion‘ Der Zusammenhang von Vernunft und Religion im Horizont der Herausforderungen interkulturellen Zusammenlebens ist in eine verzweigte Theoriegeschichte und eine gegenwärtig kaum zu überblickende Säkularisierungsdiskussion eingebettet.113 Als Einstiegspunkt bietet sich die 2009 herausgegebene Enzyklika Papst Benedikt XVI. an, der mit Caritas in Veritate den Horizont der Fragestellung dieser Arbeit abschreitet und eine anspruchsvolle Verschränkung kategorialer, deskriptiver und normativer Urteile erkennbar macht. So wird der normative Appell, die Liebe in Wahrheit wirksam werden zu lassen auf dem Hintergrund der Beschreibung sich ausweitender Globalisierungsprozesse geäußert und mit Hilfe der Kategorien der Vernunft und des Glaubens eingeordnet.114 Benedikt verfolgt eine streng dualistische Arbeitsteilung zwischen der Vernunft und dem religiösen Glauben, in der beide sich gegenseitig „reinigen“ 111  „Der große amerikanische Philosoph und Psychologe William James sprach in diesem Zusammenhang immer von Parallelen zwischen dem religiösen Glauben und der Liebe – nicht nur im Sinne der christlichen Religion als einer Religion und eines Ethos der Liebe, sondern auch in dem Sinne, dass wir uns an unsere Werte und Überzeugungen so gebunden fühlen, wie wir uns in unserem Leben an bestimmte Personen gebunden fühlen.“ (Joas, Einleitung, 10) 112  Vgl. Rendtorff, Ethik I, 45 f., zur Diskussion über die Kommunikabilität der christlichen Sitte in der Neuzeit. 113  Vgl. neuere Sammelbände zum Thema: Slenczka (Hg.), Vernunft; Laube/Pfleiderer (Hgg.), Vernunft; Hasselhoff/Meyer-Blanck (Hgg.), Religion; Rusconi (Hg.), Staat; Ramb/ Valentin (Hgg.), Kultur; Kirchhofer/Stinshoff (Hgg.), Religion; Johannsen (Hg.), Postsäkularität. 114  Benedikt, Caritas, 2: „Liebe ist der Hauptweg der Soziallehre der Kirche […]; sie ist das Prinzip nicht nur der Mikro-Beziehungen – in Freundschaft, Familie und kleinen Gruppen –, sondern auch der Makro-Beziehungen – in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen.“

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sollten.115 Für ihn steht fest, ohne eine Klärung des Verhältnisses von Glaube und Vernunft, kann der interkulturelle und interreligiöse Dialog nicht zielführend sein.116 Es ist bezeichnend, dass die turbulente und buchstäblich gewalttätige Reaktion auf seine Äußerungen in der Rede an der Universität Regensburg im Jahre 2006 diese Einschätzung auf ungewollte Weise bestätigen.117 Seine diffizilen Aussagen zum Islam wie auch die einseitige Einschätzung des Protestantismus verdeutlichen die Notwendigkeit, das gemeinsame interkulturelle Denken und die konfessions- und kulturvergleichende Grundlagenforschung voranzutreiben. Protestantische Theologen reklamieren, dass die theologiegeschichtliche Rekonstruktion des Papstes – insbesondere dessen Enthellenisierungsvorwurf und dessen Deutung Luthers, Kants und Harnacks – nicht stichhaltig ist.118 Derweil konkurrieren in der evangelischen Theologie eine kaum zu vereinbarende Vielfalt an Verschränkungsmodellen zwischen den Begriffen ‚Glaube‘, ‚Offenbarung‘, ‚Religion‘ und ‚Theologie‘ einerseits und ‚Vernunft‘, ‚Wissen‘, ‚Rationalität‘ und ‚Philosophie‘ andererseits.119 Die Geschichte des Protestantismus kann insgesamt als Auseinandersetzung um die angemessene Verhältnisbestimmung dieser Begriffe und Phänomene betrachtet werden.120 Es ist nicht möglich, im Folgenden eine Forschungsgeschichte oder eine Systematisierung des Streites zu bieten – auch wenn beide Aufgaben Desiderate darstellen.121 Vielmehr wird mit der Bearbeitung der zwei gegensätzlich ausgerichteten Theorien von Herms und Habermas ein Ausschnitt des Gesamtproblemkomplexes gewählt, um aus 115 

AaO. 56. „Der christliche Glaube, der in den Kulturen Gestalt annimmt und sie dabei transzendiert, kann ihnen helfen, in universaler Gemeinschaft und Solidarität zum Vorteil der gemeinsamen weltweiten Entwicklung zu wachsen.“ (AaO. 59) Interessant ist es, dass als ethische Grundlage des interkulturellen Dialogs das universale Naturrecht vom Papst wieder eingeführt wird – vgl. die Diskussion unter III.3.B.ii. 117  Ratzinger, Welt, 39–60; Benedikt, Gott, 124–141. 118  Vgl. Meyer-Blanck, Vernunft, 43–62. Dass für Luther die Vernunft „die höchste Hur“ ist (WA 51,126,9), bedeutet, dass sie im Hinblick auf den Glauben in die Irre führt, mit Blick auf die iustitia civilis jedoch notwendig ist. Zugleich führt sie zu einer allgemeinen, nicht auslöschbaren Gotteserkenntnis im Herzen aller Menschen (Meyer-Blanck, Vernunft, 53, mit einem Hinweis auf die Interpretation Oswald Bayers). 119  Während bei Karl Barth Offenbarung im Gegensatz zur Relgion und in Spannung mit der Vernunft bestimmt wird, so kann sehr vereinfachend gesagt werden, wird die Offenbarung bei Paul Tillich als Tiefe der Vernunft verstanden. Derweil führt Wolfhart Pannenberg Offenbarung als Hypothese ein, die auf die Bewährung vor der Vernunft bezogen bleibt, aber Oswald Bayer bestreitet mit Blick auf ihre Geschichtlichkeit die Einheit und Reinheit der Vernunft, vgl. den Überblick bei Roth/Harbeck-Pingel, Vernunft, 2. 120  „Die Verbindung von Glauben und Vernunft gehört von Anfang an zu den bestimmenden Merkmalen des Protestantismus.“ (Huber, Glaube, 55) 121  Schulz, Theorie, 1 ff., zeigt, wie anspruchsvoll aber lohnenswert ein solches Unternehmen alleine für den Glaubensbegriff ist. Vgl. Deuser, Religionsphilosophie, 40–55, für eine rudimentäre aber hilfreiche Kategorisierung der Verhältnisbestimmungen von Philosophie und Theologie mit Blick auf die ‚Religion‘. 116 

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deren Dissens die Tiefe der Herausforderung des interkulturellen Zusammenlebens vermessen zu können. Habermas und Herms zeigen in ihren Unterschieden, welche Folgen divergente Verständnisse der Polarität zwischen Vernunft und Religion für die Gestaltung der gemeinsamen Welt beinhalten. Mit diesen Begrenzungen im Blick ist ein kurzer Problemaufriss der zwei Sammelbegriffe möglich, zunächst der Vernunft, dann der Religion. Der Vernunftbegriff unterlag in der europäischen Philosophie tief greifenden Umbrüchen.122 Herbert Schnädelbach akzentuiert drei dieser Veränderungen und beschreibt deren paradigmatische Bedeutung. Zunächst ist eine kognitivistische Engführung des Vernunftthemas von der antiken über die mittelalterliche bis zur neuzeitlichen Metaphysik zu beachten.123 Die Konzentration auf die theoria als die höchste menschliche Lebensform geht zu Lasten der Aufmerksamkeit für die praktischen und ästhetischen Dispositionen des Menschen. Mit Francis Bacon, und vor allem mit Immanuel Kant, wird eine pragmatische Wende eingeleitet, indem die praktische Vernunft zentrale Aufmerksamkeit erhält, obwohl bis in die Gegenwart der Dissens um deren Umfang bestehen bleibt. Schließlich weist Schnädelbach auf eine grundlegende Neukonturierung des Verständnisses der Vernunft durch die hermeneutische Tradition hin: Spätestens mit dem Historismus wird das Verstehen selbst auf seine kulturellen, sprachlichen und historischen Entstehungsbedingungen verwiesen.124 Wie dieser kurze Überblick zeigt, sind verschiedene Rationalitätsgesichtspunkte zu konstatieren, nämlich ästhetische, praktische, theoretische und hermeneutische, die unterschiedlich korreliert werden. Es liegen bereits innerhalb des Sammelbegriffs der Vernunft plurale Rationalitätsformen vor, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen.125 Hinzu kommen drei weitere Pluralisierungsmerkmale, denen die Einheit der Vernunft gegenübersteht. Zum einen entsteht analog zu den verschiedenen Gebrauchsweisen der Vernunft die neuzeitliche Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionssysteme, in dem verschiedene – ökonomische, politische, wissenschaftliche und kulturelle – Rationalitätsformen in der Öffentlichkeit konkurrieren.126 Zum zweiten ist auf eine 122  Die wesentlichen Stadien sind mit den Klassikern der griechischen Antike, der scholastischen Theologie, der Aufklärung und der Rationalitätstheorien im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts oberflächlich benannt. 123  Schnädelbach, Religion, 37–41; ders., Vernunft. 124  Diese Dimension der Vernunft stellt nach Schnädelbach auch den wesentlichen, gegenwärtigen religionskritischen Ansatzpunkt dar. Anfragen an die Rationalität des Religiösen werden nach seiner Einschätzung nicht primär mit theoretischen oder praktischen Argumenten begründet, sondern mit denjenigen, die nach der Verständlichkeit und Zugänglichkeit der Religiosität fragen. 125  Vgl. Welsch, Vernunft, 486; vgl. auch ähnlich U. Barth im Folgenden. 126  Luhmann spricht genauer, je nach Verhältnis von Teilsystem zum Gesamtsystem, von segmentärer Differenzierung, Differenzierung nach Zentrum und Peripherie, von stratifika-

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Vervielfältigung der wissenschaftlichen Paradigmata zu achten: So werden wahrheitsfähige Aussagen entweder auf eine mehr oder minder spezifizierte Ontologie bezogen (so Herms im Anschluss an phänomenologische Traditionen), auf die Letztbegründungsfunktion der Subjektivität (wie es bei Ulrich Barth der Fall ist) oder auf die Sprache (wie es Habermas in evolutionärer Abgrenzung von den vorherigen Paradigmata einfordert). Diese paradigmatische Vielfalt ist für den vorliegenden Theorievergleich eine besondere Hürde, schließen sich doch die Paradigmata von ihrem jeweiligen Anspruch aus.127 Drittens verweist Herms darauf, dass Weltanschauungen in sich geschlossene Rationalitätsformen darstellen, die gleichsam nur von der Innenperspektive heraus verständlich sind. Ob alle Religionen formal betrachtet in ihrer Rationalität vergleichbar sind, oder ob sie sich bereits in ihrer grundlegenden substanzialen und funktionalen Beschreibung unterscheiden, ist dabei noch unentschieden (vgl. III.3.B).128 Dieser weltanschauliche Pluralismus ist mit den anderen Formen der Ausdifferenzierung nicht zu verwechseln. Wenn im Folgenden nach der Einheit der Vernunft zu fragen ist,129 muss dieser Rationalitätspluralismus berücksichtigt werden. Ob angesichts einer solchen komplexen Ausgangslage überhaupt eine Kontinuität innerhalb der Vernunft zu erkennen ist, darf bekanntlich als umstritten gelten (vgl. III.3.B.i). Dennoch plädieren Jürgen Habermas, Ulrich Barth, Wolfgang Welsch und Herbert Schnädelbach (um einige zentrale Namen zu nennen) für eine solche Kontinuität – auch wenn diese im Detail unterschiedlich beschrieben wird. Barth arbeitet die Aufgabe der Bestimmung eines die Brüche und Vielfalt berücksichtigenden Vernunftbegriffs in der „Kompossibilität“ verschiedener Rationalitäten heraus, die vor allem durch Übersetzung und Interpretation erzielt werden kann.130 Die Frage der Übersetzbarkeit ist dabei das Kernproblem: „Im interkulturellen Dialog entspringt sie der pragmatischen Notwendigkeit von Verständigungsprozessen, im Falle des Theorienvergleichs der Notwendigkeit von Modellzuordnungen als Folge der impliziten Voraussetzung, daß die miteinander verglichenen Theorien sich auf ein und dieselbe Realität beziehen.“131

Welsch argumentiert, dass eine solche Übersetzung aufgrund der „Übergangsfähigkeit“ der Vernunft möglich ist: Diese transversale Funktion der Vernunft torischer und von funktionaler Differenzierung (ders., Gesellschaft, 613; vgl. zur Diskussion, G. Wagner, Vielfalt, 29). 127  Welsch, Vernunft, 542, bestätigt die Problematik eines solchen Vergleichs. 128  Vgl. Petzoldt, Rationalität, 56. 129  Damit wird eine fundamentale Problemstellung der Philosophie beansprucht, die alleine wegen den verschiedenen Hauptbedeutungen von Einheit letztlich kaum fassbar ist. Einheit, im Sinne von Einzahl ist von der Einzigkeit, Einmaligkeit wie auch von der Ganzheit und Totalität zu unterscheiden. 130  U. Barth, Vernunft II, 762. 131 Ebd.

I.2. Die interdisziplinäre Forschungslage

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entspringt keiner eigenen Totalsynthese oder einer in der Vernunft liegenden Ganzheit, sondern liegt einzig und allein in der Funktion, Pluralismus verständlich zu machen, d.h. Vielfalt bestimmen zu können und die Unübersichtlichkeit nicht als Aporie offen zulassen (vgl. III.3.B.i).132 Schnädelbach macht darauf aufmerksam, dass die Unterscheidungen im Vernunftbegriff nicht eingeholt werden können, aber dass die Bedeutung der „Verständlichkeit“ das Grundmoment der verschiedenen Rationalitäten bildet.133 Stärker als die genannten Autoren arbeitet Habermas schließlich die Konsequenzen eines interkulturellen Vernunftbegriffs für die ordnungstheoretischen Herausforderungen der werdenden Weltgesellschaft heraus. Seine Arbeit bietet deshalb einen geeigneten Ausgangspunkt für die Frage, ob es eine kulturübergreifende Vernunft gibt. Die Vernunft interessiert also im Folgenden vornehmlich in ihrer Funktion, notwendige Verbindungen zwischen verschiedenen Rationalitätsformen herstellen zu können.134 Nach wie vor bietet die prototypische Verhältnisbestimmung von Vernunft und Rationalität bei Kant eine sinnvolle Eingrenzung, die Welsch so deutet, dass die Vernunft sich auf „Verstandesformen“ bezieht und somit „die korrekte Gesamtordnung der diversen rationalen Gesetzgebungen“ bestimmen kann.135 Entscheidend ist dabei, dass mit Vernunft und Rationalität nicht verschiedene Vermögen oder Fähigkeiten bezeichnet werden, sondern „ein und dasselbe Denken in verschiedenen Funktionen“.136 Neben der Aufgabe, die Einheit dieser Rationalitätsformen zu bestimmen, stellt sich das Problem, welchen Anspruch auf Allgemeinheit und Notwendigkeit die Vernunft beansprucht.137 Diesbezüglich stellen Habermas und Herms die transzendentale Theorie Kants hinsichtlich ihrer Leistungskraft in Frage: Bei Habermas wird sie zu Gunsten eines sprachpragmatischen, schwachen Naturalismus (vgl. II.2.C.ii), bei Herms zu Lasten ihrer konstruktivistischen Bezüge als Vergewisserungspraxis eingeschränkt (vgl. III.1.D.iii). Bei beiden steht also die subjektivitätstheoretische Lesart der Transzendentaltheorie in der Kritik, dennoch halten sie an schwachen Ansprüchen der Deduzierbarkeit des Besonderen aus 132 

Vgl. Welsch, Moderne, 295 ff. Schnädelbach, Vernunft, 140 f. 134  Einleuchtend ist demnach die schlichte Definition von Brand Blanshard, die recht wirkmächtig im englischen Sprachraum ist: „Reason“ ist demnach „the faculty and function of grasping necessary connections“ (Reason, 12). Allerdings scheint ein Unterschied darin zu bestehen, dass im Folgenden die Vernunft auf den Verstand zurückgreift, während bei Blanshard, ‚reason‘ direkt die Sinneswahrnehmungen organisiert. Hier macht sich die anders gelagerte englische Vernunfttradition erkennbar. 135  Vgl. Welsch, Vernunft, 625 mit Bezug auf die KrV. 136  Schnädelbach, Vernunft II, 91. 137  In der Verhältnisbestimmung von ‚Allgemeinem‘ und ‚Einzelnem‘ ist nicht nur die angemessene Zuordnungslogik umstritten (Induktion, Deduktion oder Abduktion), sondern auch die Charakterisierung des Allgemeinen und Besonderen nebst dem Individuellen als Nicht-Identischem (vgl. die Diskussion II.2.B.i.c). 133 

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dem Allgemeinen fest – bei Herms mit dem Begriff der ‚Fundamentalontologie‘, bei Habermas mit dem des schwachen Naturalismus. Mit dem Vernunftbegriff steht also im Folgenden die diskursive Verständigung im Mittelpunkt. Damit folge ich zunächst Habermas und hebe die Bedeutung der Verfahrensrationalität hervor – zur Begründbarkeit und Kritisierbarkeit von Äußerungen. Anders als Habermas schließe ich aber nicht die subjektivitätstheoretische Dimension der Vernunft aus (Habermas sieht hier selbst Grenzen seines Vernunftbegriffs, vgl. II.2.B.ii.a). Denn sonst geht die Unterscheidung zwischen ‚Vernunft‘ und ‚Rationalität‘ verloren (vgl. zu Habermas II.2.B.ii.a; und bei Herms besteht dieses Problem auch III.1.C.i). Hilfreich ist der erwähnte Vorschlag von Welsch, der „Rationalität“ mit „Verstand“ identifiziert und den Begriff „Vernunft“ diesen als Übergang zwischen verschiedenen Rationalitätsformen gegenüberstellt: Rationalität ist demnach bereichsspezifisch, sie betrifft die „Erfassung und Praxis eines Gebiets“, Vernunft „das überschreitende Vermögen“.138 Rationalität und Vernunft sind also „unterschiedliche Funktionsweisen desselben reflexiven Gesamtvermögens“.139 In jedem Fall ist eine ‚schlanke‘ bzw. ‚schwache‘ Vernunft gemeint, die Übersetzungen und Übergänge möglich, aber keine inhaltlichen Vorgaben macht. So werde ich auch Schleier­machers Vernunftbegriff, der synonym mit dem der ‚Kultur‘ und in Gegenüberstellung zur ‚Natur‘ gebraucht wird (III.2.C.i und III.2.D), nicht weiter verwenden. Zum Religionsbegriff: Lassen sich islamische Umma, hinduistisches Na­tio­ nal­ethos, millenaristische Sekten und die Stammeskultur der Aborigines auf einen Begriff bringen? Konrad Stock argumentiert, dass die Theoriegeschichte „auf jeden Fall“ zeigt, dass es einen universal gültigen Begriff der Religion als Kategorie einer Ordnung ihrer vielfältigen Erscheinungen „nicht gibt und auch nicht geben kann“.140 Der Religionsbegriff erscheint einerseits als zu undifferenziert, da er wesentliche Unterschiede zwischen den diversen Religionen der Welt einebnet.141 Andererseits wirkt er zu differenziert, weil dessen Bestimmung schon „abendländische Herkunft“ verrät, nämlich die vorausgesetzte Differenz „zwischen der Gesamtheit einer Kultur und ihrer Religion“: In Kulturen, in denen die Religion als integraler Teil der ganzen Lebenswelt verstanden wird, ist bereits die Unterscheidung zwischen Kultur und Religion problematisch.142 Es kann nur, so Stock weiter, eine Reihe historisch-sensibler, 138 

Welsch, Moderne, 295 (Hervorhebung im Original). Welsch, Vernunft, 635. 140  Stock, Gewißheit, 42 f. 141  Erörterungen darüber, was die Religion in Wahrheit ist, sind nach Cobb sinnlos. So etwas wie Religion existiert nicht. Es gibt nur Traditionen, Bewegungen, Gemeinschaften, Völker, Glaubensüberzeugungen und Bräuche, die über Kennzeichen verfügen, die viele Menschen mit dem verbinden, was sie unter Religion verstehen. (Cobb, Pluralism, 81–84) 142  Sundermeier, Religion, 11. 139 

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theoretischer Perspektiven geben, die das Phänomen der Religion zu verstehen intendieren, von denen die Theologie aus einer bestimmten Perspektive heraus „einen kritisch-konstruktiven Gebrauch“ macht.143 Interessant am Werk von Eilert Herms ist es nun, dass diese Perspektivität als Grundlage eines allgemeinen, aber den radikalen Pluralismus voraussetzenden Religionsbegriffs dient: Seine These ist es, dass mit dem Begriff eine anthropologische Konstante beschrieben wird, die hinreichend formal ist, um für alle Weltanschauungen anschlussfähig zu sein und zugleich einen breiten inhaltlichen Pluralismus voraussetzt. Erfasst wird nach Herms das humane Daseinsverständnis, welches für alle Funktionsbereiche der Gesellschaft und ihrer Ordnung die Zielwahlüberzeugungen liefert. Herms präsentiert den Religionsbegriff somit als Leitkategorie, um die interkulturellen Zusammenhänge beschreiben zu können. Dabei sind im Richtungssinn zwei divergente Anfragen zu beachten, die sich an den perspektivischen Religionsbegriff von Herms richten: Beraubt die Orientierung am Religionsbegriff die Theologie der Möglichkeit, die Radikalität des Glaubens von anderen Weltanschauungen abgrenzen zu können?144 Oder besteht gerade das Defizit der Theologie darin, dass sie sich von den kulturwissenschaftlichen Forschungen am Religionsbegriff zu sehr abhebt?145 Auf beide Fragen ist im weiteren Verlauf einzugehen, allerdings beschreiben sie einen Debattenumfang, der nicht insgesamt abgearbeitet werden kann. Denn sonst müssten die unterschiedlichsten religiösen Anschauungen, Normen und Haltungen, Gefühle und Einstellungen, kultischen Praktiken, Organisationsformen und religiösen Sondersprachen verglichen, untersucht und kategorisiert werden.146

143 

Stock, Gewißheit, 42 f. Dalferth, Theologie, 191. Vgl. die Untersuchung von Ernst Feil, der in seiner vierbändigen Studie zum Religionsbegriff die Verwendung des Begriffs in der europäischen Geschichte untersucht und zu dem Ergebnis kommt, dass der Begriff bis ins 18. Jahrhundert seine spezifische antik-römische Bedeutung unverändert beibehält. In der Mitte des 18. Jahrhunderts erfuhr der Begriff einen „epochalen Wandel“, nämlich als verinnerlichte und emotionale Bestimmung der „Religion“ als „Liebe“ und als „Einigung mit Gott“ (Feil, Religio, 879). Dieses Verständnis sei aber vor allem in der protestantischen Tradition zu finden und historisch in der Zeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu verankern. Man könne nicht mehr von Religion als anthropologischer Konstante ausgehen, vielmehr sei sie „an ihr Ende gekommen“ (Feil, Bestimmungs- und Abgrenzungsproblematik, 7, 17). Allerdings muss eingewandt werden: Während seine Analyse in historisch-deskriptiver Weise komplexe Nuancen darstellt, sind seine systematischen Folgerungen schlicht, denn er scheint nicht zwischen dem formalen Begriff der Religion als Gefühl und den inhaltlichen Aspekten christlichen Glaubens zu differenzieren (aaO. 26). 145  Vgl. für solch eine Einschätzung U. Barth, Theoriedimensionen, 29–88; Graf, Religion, 3–12. 146  Vgl. für den kategorialen Überblick Kutschera, Glaube, 212 ff. 144 

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I. Einleitung

Im Folgenden steht vielmehr die kategoriale Stellung der Religion mit Blick auf die menschlichen Vermögen, die Funktionssysteme der Gesellschaft und somit ihre sozialphilosophische Theoriefähigkeit im Mittelpunkt. Wird die Religion eher den emotiven, voluntativen oder kognitiven Geistesfähigkeiten zugeordnet, verändert sich dementsprechend deren psychologische und philosophische Einordnung.147 So schreibt Habermas der Religion insgesamt weiterhin keinen epistemisch nachvollziehbaren Gehalt zu, sodass er deutliche Grenzen zwischen Glauben und Wissen meint bestimmen zu müssen (vgl. II.3.D). Dagegen plädiert Ulrich Barth für die ‚Selbstständigkeit‘ der Religion, die sich aus ihrem vernünftigen Status als Teilbereich der Kulturwissenschaften ergibt – in ihrer Deutungsleistung unbedingten Sinns (vgl. III.2.B.ii). Wie verwende ich den Religionsbegriff also im Folgenden? Dieser ermöglicht einen formalen Zugriff auf die Vielfalt der Daseinsverständnisse mit ihren jeweiligen unbedingten, lebensorientierenden Geltungsansprüchen. Umstritten ist die Reichweite des Phänonems. Die hermssche weitreichende Identifizierung problematisiere ich im Folgenden ausdrücklich: ‚Religion‘, ‚Kultur‘ und ‚Daseinsverständnis‘ sind nicht einfach gleichzusetzen (vgl. III.3.A). Allerdings ist eine Differenzierung nicht problemlos. Religion verweist m.E. auf einen eigenständigen Bereich der psychologischen und sozialen Verfassung menschlichen Lebens, der berücksichtigt werden muss, soll das menschliche Erkennen und Handeln verstanden werden. Religion verstehe ich als die tiefenhermeneutische Erschließung des Daseins und als diejenige Symbolisierungsleistung, die den eigenen Ort in der Welt und das Verhältnis zum Unbedingten zum Ausdruck bringt. Wird im Folgenden ein Begriff der Religion als Strukturmerkmal menschlichen Daseins erarbeitet, bedeutet das nicht, dass jeder Mensch gleichermaßen religiös oder überhaupt religiös ist, sondern dass Religion ein anschlussfähiges, und zwar basales anthropologisches Phänomen ist. Dabei verweist dieses auf die Partikularität, Individualität und Positionalität des jeweiligen Zugangs zum Unbedingten. Deshalb wirken die Inhalte der Religionen für Außenstehende oftmals opak und scheinen sich öffentlicher Verständigung zu entziehen. Im letzten Punkt sind sich Habermas und Herms durchaus einig. Dass religiöse Aussagen aber in ihrer sozialen Funktion nicht nur verständlich gemacht werden können, sondern auch gemacht werden müssen, um die Bedingungen friedlichen Zusammenlebens zu reflektieren, in dieser Einsicht folge ich Herms – und letztlich gegen Habermas. Die Verhältnisbestimmung von ‚Religion‘ und ‚Vernunft‘ muss infolge dieser ersten Begriffsbestimmungen einen diffizilen Fragenkatalog beachten: Sind sie als Konkurrenten in der Beschreibung von Einheit und Absolutheit zu verstehen, sind sie komplementäre, gleichursprüngliche Größen in der Begründung

147 

Vgl. F. Wagner, Religion, 522–545.

I.3. Der Beitrag dieser Arbeit zur Erforschung der Werke von Habermas und Herms

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von Geltungsansprüchen oder stellen sie gänzlich unvergleichbare Aspekte menschlicher Geistesverfassung dar?

I.3. Der Beitrag dieser Arbeit zur Erforschung der Werke von Habermas und Herms Die Herausforderung, aber auch der Reiz des vorliegenden Theorievergleichs ergibt sich nicht nur aus dem divergenten Richtungssinn der Intentionen von Habermas und Herms, sondern auch aus völlig unterschiedlichen Rezeptionslagen, ihrem ungleichen Bekanntheitsgrad und einer inkongruenten öffentlichen Wirkkraft ihrer Ideen. Welchen Beitrag diese Arbeit angesichts dieser asymmetrischen Forschungslandschaften leistet, ist nun zu skizzieren. Zur Erforschung des habermasschen Werkes: Mit der Hilfe neuerer Bibliografien lässt sich ein präziser Überblick des Werkumfangs und der Sekundärliteratur gewinnen.148 Laut dieser Quellen ist das Werk bisher mit Bezug auf den interkulturellen Grundlagendiskurs nicht analysiert worden. Damit ist eine Lücke im Blick, die ich auf dreifache Weise zu bestimmen und auszufüllen beabsichtige. Erstens ist zu bemerken, dass zwar die ‚postnationale‘ Begrifflichkeit und die ‚postsäkulare‘ Zeitdiagnose von Habermas umfangreiche Debatten ausgelöst haben, aber deren – von Habermas gezielt hergestellter – Zusammenhang wird bisher nicht diskutiert.149 Dieser ist nun deshalb von besonderem Interesse, weil er damit systemische und kulturalistische Deutungen des globalen Wandels verschränkt. Neben der Infragestellung der grundlegenden Ordnungsinstitution der Moderne, nämlich dem Nationalstaat, wird zeitgleich den Religionen in der Form von öffentlichen Interpretationsgemeinschaften eine neue politische Bedeutung zugemessen. Zusammen stellen diese Entwicklungen die einheitliche Herausforderung dar, eine Ordnungskonzeption zu entwickeln, die sowohl pluralistisch verfasst ist als auch der Menschheit ‚als Ganzes‘ gerecht wird. Zweitens ist die Zeitdiagnose auf das Hauptwerk, in dem die kulturübergreifende Vernunft bestimmt wird, zu beziehen. Diese Arbeit würdigt in kritischer Absicht die habermassche Grundintuition, ein dem menschlichen Handeln zu Grunde liegendes Potenzial der Vernunft zu bestimmen, das die Engfüh148  Laut der Bibliografie von Luca Corchia sind es 764 Publikationen, die zwischen 1952 und 2010 entstanden sind, und 4823 Titel der Sekundärliteratur (1964–2010); vgl. die Bibliografien von Görtzen und von Horster und die Website www.habermasforum.dk (vom 10.11.2010) mit laufenden Hinweisen auf neue Literatur. 149  Dies betrifft auch die Beiträge von James Bohman und Hent de Vries in dem 2013 herausgegebenen Band von Calhoun, Mendieta und VanAntwerpen, Habermas and Religion. Bohman und de Vries antworten m.E. eher auf Aspekte der habermasschen Theoriebildung der letzten Jahre als eine Analyse seiner Beiträge zu liefern.

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I. Einleitung

rung strategischer Vernunft und die Grenzen weltanschaulicher Partikularität transzendiert. Meine Kritik seines Ansatzes liegt zwar auf der Linie der bisherigen sozialphilosophischen Rezeption (z.B. von Charles Taylor, John Rawls, Richard Rorty oder Hans Joas), aber die Absicht ist es, einer weniger beachteten Nuance im habermasschen Werk Kontur zu verleihen:150 die universale Vernunft in ihrer „schwachen“ und „situierten“ Form.151 Dabei wird genau zu bestimmen sein, was mit diesen Adjektiven gemeint ist, welches Verhältnis also die ‚schwache‘ Vernunft zum radikalen Pluralismus der ‚starken‘ Kulturen und Religionen besitzt. Dass die Ideen von Habermas eine gewisse interkulturelle Anschlussfähigkeit besitzen, kann bereits durch seine Wirkkraft auf allen Kontinenten belegt werden. So ist exemplarisch aus den vielfältigen Würdigungen zu seinem 80. Geburtstag im Juni 2009 auf die Beiträge in der ZEIT hinzuweisen, die von Cristina Lafont (gebürtige Spanierin), Richard Sennett (New York, London), Ronald Dworkin (New York), Wang Hui (Peking), Kenichi Mishima (Tokyo) und Ahmet Çiğdem (Ankara) stammen und den Einfluss, den sein Denken auf die philosophische Kultur der jeweiligen Länder hat, dargestellt haben.152 Angesichts des Umfangs der Sekundärliteratur erhält nur Heidegger eine vergleichbare globale Aufmerksamkeit. 153

Drittens liegt meiner Kritik eine besondere Aufmerksamkeit für die verschiedenen Rationalitätsdimensionen – der theoretischen, praktischen und ästhetischen Vernunft – zu Grunde, denn diese werden bisher in der Forschung kaum thematisiert.154 Die Frage nach der von Habermas beabsichtigten, aber nicht durchgeführten Zusammenführung der selbstständigen Gebrauchsweisen der Vernunft führt auf eine Fährte, die mich nach der Ausarbeitung eines Individualitätsbegriffs im habermasschen Werk suchen lassen wird. Das Problem lässt sich vor allem an mangelnden Begriffen einer Ästhetik und einer Religionsphilosophie, die Kognition, Emotion wie auch Volition berücksichtigen, erkennbar machen. Die vorliegende Arbeit intendiert derweil keine Gesamtkritik seines Werkes. Diese liegt bereits in unterschiedlichen Schattierungen vor – als schrilles Lob oder als abgründige Verwerfung.155 Als Beispiel einer umfassenden Kritik kann die Analyse von 150 Hedrick, ‚Rawls and Habermas‘, 1–16, arbeitet diesen Aspekt für dessen politische Philosophie heraus. 151  Vgl. z.B. Habermas, Replik, in: EA, 331; ders., Motive, in: ND, 41; ders., Einheit, in: ND, 182. 152  DIE ZEIT, Zum 80. Geburtstag von Jürgen Habermas (vom 07.10.2010). 153  Von Habermas’ Büchern sind fast 150 Übersetzungen in mehr als 25 Sprachen erschienen (Görtzen, ‚Habermas‘, 543). 154  Vgl. die Überraschung von Strecker, Gesellschaft, 223, hinsichtlich dieser Einsicht. 155  Die Einführungen in sein Werk verdeutlichen, dass es an Überblick hinsichtlich seiner Wirkung nicht mangelt. Vgl. in chronologischer Reihenfolge die Einführungen von Helga Gripp (1984), William Outhwaite (1994), Gábor Kiss (1987), Walter Reese-Schäfer (2001), Rolf Wiggershaus (2004), Andrew Edgar (2005 und 2006), Detlef Horster (20063), Hauke

I.3. Der Beitrag dieser Arbeit zur Erforschung der Werke von Habermas und Herms

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Uwe Steinhof genannt werden, der seine Arbeit mit der Schlussfolgerung beendet, dass die gesamte Diskursethik von Habermas unzulänglich sei, denn von der Analyse der Sprechakte bis zur Diskurstheorie sei „kaum ein Argumentationsschritt gültig“, die angeblich intendierte „‚Makroethik der Menschheit‘ oder ‚Kritische Theorie der Gesellschaft‘“ gescheitert.156 Anderweit wird dagegen das Theorieunternehmen als herausragend hervorgehoben. So lautet das Urteil von William Outhwaite: „In my view Habermas is the most important social theorist of the second half of the twentieth century – a judgement shared by contemporary sociologists much less enthusiastic than I am about the content of his work.“157 Ralf Dahrendorf sieht in ihm den bedeutendsten Intellektuellen seiner Generation.158 Ob dieser Lob oder jene Kritik Habermas zusteht, kann und muss hier nicht ausführlich erörtert werden, meine eigene Urteilsbildung wird sich vielmehr auf die wirkmächtigen Beiträge und die problematischen Lücken konzentrieren. Ausführliche Forschungsberichte der theologischen Rezeption des habermasschen Werkes liegen zudem bereits vor: Edmund Arens und Hermann Düringer haben die entscheidenden Auseinandersetzungen der Theologie mit Habermas bis Ende der achtziger (Arens) und der neunziger Jahre (Düringer) zusammengefasst.159 Ist bei Arens der Blick auf TkH und die Auseinandersetzung mit der Postmoderne zentral,160 steht bei Düringer die Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft im Mittelpunkt. Auf die zentralen theologischen Probleme des Gesamtansatzes (II.2.C) und die neueren religionsphilosophischen Diskussionen (II.3.C) gehe ich aber ausführlich ein. Meine Habermas-Rezeption ist im Ausgangspunkt vergleichbar mit der des Theologen Nicholas Adams, der die Stärken der Theorie einer kommunikativen, öffentlichen Vernunft aufgreift und deren sozialtheoretische Bedeutung für die Theologie hervorhebt. Zugleich betont er zu Recht, dass Habermas kein theologischer Gesprächspartner ist, denn dieser weist deren innerste Anliegen als opak zurück.161 Angesichts dieser Einordnung sind zwei Tendenzen in der theologischen Rezeption zu vermeiden. Einerseits ist eine schlichte apologetische, ablehnende Position nicht weiterführend, in der die Grenzen des Werkes anhand einzelner Glaubensaussagen aufgezeigt werden. So argumentiert z.B. Oswald Bayer, dass die Diskursethik sich um den „Vorgriff“ eines Brunkhorst (2006), Alessandro Pinzani (2007), Stefan Müller-Doohm (2008), Andreas Greve (2009), Matthias Iser und David Strecker (2010). 156  Steinhof, Kritik, 446. 157 Outhwaite, ‚Habermas‘, 4. 158  Dahrendorf, Freund, 124. 159  Vgl. Düringer, Vernunft, 225–303, rezipiert Helmut Peukert, Edmund Arens, Rudolf Siebert, Karl Bauer, Wolfgang Pauly, Wolfhart Pannenberg, Trutz Rendtorff, Henning Luther, Jens-Glebe Möller, Micha Brumlik, als jüdischen (Nicht-)Theologen. Arens, Theologie, 9–32, rezipiert Walter Lesch und Alberto Bondolfi, Klaus Demmer, Andreas Lob-Hüdepohl, Hans-Joachim Höhn, Christian Kissling, Matthias Möhring-Hesse und David Tracy, vgl. die Sekundärliteratur bei Arens, Theologie, 24–32. 160  Für Arens sind vier Themen zentral: 1. Reichweite und Grenzen des moralischen Universalismus; 2.Verhältnis von Konsens und Dissens; 3. Problemkreis misslingender Kommunikation und zugleich der schuldhaften Praxis durch Unterlassung und Verweigerung; 4. Das Gespräch mit französischen Denkern zur Alterität und Differenz (aaO. 9–32). 161 Adams, ‚Habermas‘, zielt aber in der Gesamtrezeption auf Argumentationsfiguren, die sich an die postliberale Debatte im angelsächsischen Bereich anlehnen, von denen diese Arbeit deutlich abweicht.

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I. Einleitung

„egalitär vorgestellten Eschatons“ bemüht, welches in der idealen Sprechsituation „ungeduldig fungiert“ wird.162 Diese Kritik trifft die habermassche Intention der Idealisierung allerdings nicht (vgl. II.3.C). Andererseits ist eine Rezeption zu vermeiden, die sein Werk vorschnell für theologische Ziele vereinnahmt, ohne wiederum seinen Intentionen gerecht zu werden, wie es tendenziell bei Edmund Arens der Fall ist (vgl. II.2.C). Wesentliche theologische Kritiken können unter der Frage versammelt werden: „Ist eine auf der Theorie des kommunikativen Handelns basierende Diskursethik tatsächlich so universal wie sie vorgibt?“163 Deren Antwort ist tendenziell negativ: Erstens wird der Verdacht geäußert, dass die Diskursethik die nichtmenschliche Natur ausblendet; zweitens, ‚unmündige‘ Menschen werden ausgeschlossen, weil die Diskursethik Sprachfähigkeit und kommunikative Vernunft voraussetzt (so vor allem bei Micha Brumlik und Johann B. Metz). Drittens eine Diskursethik wird nur dann ihrem universalistischen Anspruch gerecht, wenn sie das Schweigen der unschuldigen Opfer und derer, die jenseits des Todes ständen, mit einbezieht – so die sogenannte anamnetische Ethik.164 Meine Arbeit schließt sich dieser Rezeption differenzierend an. Mit Schleier­macher wird diese erweiterte, spekulative Sicht der Vernunft zu thematisieren sein (vgl. III.2.D), im engeren Sinn allerdings kann der Vernunftbegriff als universale, kommunikative Ebene etabliert werden. Darin liegt die Leistung des habermasschen Ansatzes.

Zur Erforschung des hermsschen Werkes: Der Forschungsbeitrag dieser Arbeit ist im Vergleich zur Positionierung bei Habermas einfacher einzuschätzen, denn außer in der Dissertation von Rainer Goltz ist das Werk von Eilert Herms bisher nicht eigens thematisiert worden.165 Mein Beitrag lässt sich in drei Aspekte aufteilen: Erstens würdige ich die Konzeption von Herms als kohärente Bearbeitung der Leitfrage dieser Arbeit. Sein Entwurf lässt sich mit dem habermasschen Zugriff insofern messen, als Herms eine eigenständige Sozialphilosophie ausarbeitet. Er stellt die pluralistische Verfasstheit der Weltgesellschaft in den Mittelpunkt, indem er auf die konstitutive Rolle religiöser Überzeugungen für die Orientierung des Zusammenlebens verschiedener Kulturen hinweist – und liefert somit einen wesentlichen Beitrag für die Diskussion um die gerechte Gestaltung der Globalisierungsprozesse. Das Besondere an dessen gesamtgesellschaftlicher Schau ist es, dass er sowohl die Selbstständigkeit als auch die wechselseitige Verwiesenheit der Funktionssysteme herausarbeitet.

162  Bayer, Freiheit, 293 f. Damit würden „Asymmetrien, die dem Leben durchaus zugute kommen können“, beseitigt und die „Aufgabe der Gerechtigkeit … konkret verkannt“ (ebd.). 163  Düringer, Vernunft, 330. 164 Ebd. 165  Steht bei Goltz das Fundament der Dogmatik im Mittelpunkt, wende ich mich vornehmlich dem Fundament der Ethik zu. Ist bei Goltz der Vergleich mit Karl Barth und Gerhard Ebeling leitend, steht hier die Auseinandersetzung mit Ulrich Barth im Mittelpunkt. Im Anschluss an Goltz werde ich den apologetischen Zug des hermsschen Werkes betonen, dagegen hebe ich die pluralistische Pointe der Apologetik für die Sozialphilosophie hervor.

I.3. Der Beitrag dieser Arbeit zur Erforschung der Werke von Habermas und Herms

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Zweitens analysiere ich das hermssche Werk auf die Leistungsfähigkeit seiner Verständigungstheorie hin. Herms hebt zwar die Notwendigkeit weltanschaulicher Diskurse als conditio sine qua non für den gesellschaftlichen Frieden im Angesicht des globalen Wandels hervor. Aber letztlich ist seine Theorie derart auf die Differenzen zwischen den Kulturen ausgerichtet, dass die formalen und substanzialen Gemeinsamkeiten aus dem Blick geraten. Um diese Problematik präzise bestimmen zu können, ist nach dem Status der Vernunft in seinem Werk zu fragen. Dazu wird die hermssche Schleier­macher-Interpretation eingeführt, die einerseits das Profil der hermsschen Arbeit unterstreicht und andererseits dessen mangelnde Berücksichtigung der Wirkung identischer Wissensbestände auf das individuelle Selbstgefühl deutlich werden lässt. Herms legt also eine pointierte Deutung Schleier­machers vor, deren Bedeutung im engen Bezug zu der hier besprochenen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Vernunft steht. In dieser Auseinandersetzung wird zudem der Beitrag der Kommunikationstheorie Schleier­machers zur Leitfrage dieser Arbeit herausgearbeitet. Drittens ist der synthetische Ansatz seiner Gesamtkonzeption zu beachten. Herms versteht diese dezidiert als einen theologischen Entwurf, weil er im Horizont christlicher Gewissheit erarbeitet wird. Oder anders ausgedrückt: Für Herms ist Theologie eine Kulturwissenschaft, die ihren perspektivischen Blick auf die Wirklichkeit anerkennt und ihre Hintergrundannahmen offenlegt. Einerseits ist zu würdigen, dass er somit eine in der gegenwärtigen Theologie kaum vergleichbare Verschränkung von sozialtheoretischen, epistemologischen, religionsphilosophischen und dogmatischen Problemstellungen bereitstellt. Andererseits wird zu verdeutlichen sein, dass er mit seiner Synthese die notwendigen Differenzen zwischen Gewissheits-, Handlungs-, Sozial- und Wissenstheorien – also sozusagen zwischen Religion, Moral und Metaphysik – einebnet. Die Gesamtkonzeption von Herms ist bisher nicht rezipiert worden. Während Hermann Fischer und Jan Rohls seinen Theorieansatz in ihre Überblicke über Theologen des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufnehmen und als bedeutsamen Einfluss dieser Zeit würdigen, nehmen sie seine Arbeit nur in Auszügen wahr.166 Der Grund für die ausschnittartige Rezeption mag an der äußeren Form des Werkes liegen,167 und daran, dass wesentliche Publikationen erst kürzlich (seit 2003) erschienen sind,168 welche den Eindruck eines Gesamtwerkes unterstreichen. Einzelne Themenfelder sind dagegen ausführlich diskutiert worden.169 Rainer Goltz zufolge hat Herms sich in der jüngeren 166 

Rohls, Theologie, 820–822; H. Fischer, Protestantische Theologie, 251 ff. Aufsatzsammlungen machen es schwierig, das Gesamtkonzept in den Blick zu bekommen und der Sprachstil ist nicht einfach (vgl. Böttigheimer, ‚Herms‘, 134; Honecker, Gesellschaft, 728; und Herms selbst in: Selbstdarstellungen, 335). 168 Vgl. Glaubensgemeinschaft II (2003); MW (2003); WM (2004); PG (2006); ZWW (2007); PRP (2008); Kirche (2010) und maßgebliche Beiträge in RGG. 169 So z.B. Herms’ Ethik durch Ivo Bäder-Butschle, die Wirtschaftsethik durch Andreas Grabenstein, die Pluralismustheorie durch Stefan Grotefeld, die Schleier­macherInterpretation durch Günter Meckenstock, Michael Moxter und Peter Grove, die Offenba167  Die

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I. Einleitung

theologischen Diskussion als „äußerst wirkmächtig“ gezeigt.170 In der Tat ist er ein maßgeblicher Denker des Theologischen Arbeitskreises Pfullingen und Konrad Stock, Wilfried Härle, Hermann Deuser und Christoph Schwöbel setzen sich in ihren theologischen Werken in zentraler Weise mit ihm auseinander.171 Inwiefern darüber hinaus sein Ansatz in der Systematischen Theologie breitenwirksam ist, ist bisher noch nicht abzuschätzen. In der internationalen Theologie wird sein Werk bisher so gut wie gar nicht rezipiert, in der Sozialethik sind die jüngsten Gesamtentwürfe nicht maßgeblich auf seine Arbeiten eingegangen.172 Obwohl Martin Honecker z.B. den Ansatz von Gesellschaft gestalten als „imponierend in seiner Geschlossenheit und Folgerichtigkeit“ lobt und einer näheren Auseinandersetzung empfiehlt,173 ist dieser Eindruck bei ihm nicht nachhaltig.174 Den wesentlichsten Einfluss ist wohl in der kirchlichen und besonders in der ökumenischen Diskussion zu erkennen. Gunther Wenz würdigt ihn als „Normaldogmatiker der Evangelischen Kirche in Deutschland im ausgehend 20. und 21. Jh. […]. Wie wenige Theologen neben ihm hat er den theologischen und theologiepolitischen Kurs der EKD der vergangenen Jahrzehnte im Rahmen der Leuenberger Kirchengemeinschaft geprägt.“175 Eine Präsentation der Gesamttheorie – vor allem der Verbindungslinien zwischen Ekklesiologie, Sozialethik und Fundamentaltheologie – bleibt also ein Forschungsdesiderat – gerade angesichts der 2013 zu erwartenden Dogmatik. Meine Arbeit leistet einen ersten Beitrag dazu in dem Plädoyer für eine Erweiterung der Diskussionslage in Richtung einer interkulturellen Theologie.

I.4. Ziele und Gesamtbeitrag Kennzeichen dieser Arbeit ist der Versuch, die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen globalisierten, interkulturellen Zusammenlebens im Rahmen eines Theorievergleiches zu entfalten. In der Gegenüberstellung der Werke von Jürrungs- und Fundamentaltheologie durch Michael Roth, Christoph Kock und Rainer Goltz. Auf diese ist im Folgenden zurückzukommen. 170  Goltz, Werden, 224. 171  Vgl. Stock, Gewißheit, 56–59; ders., Gegenwart, 3, 184 ff.; Härle, Dogmatik, 84; Deuser, Systematische Theologie, 39 Fn. 12; Schwöbel, Einleitung, IX. 172  Dietz Lange übernimmt die Verbindung von Tugend-, Pflichten- und Güterethik bei Schleier­macher und verweist auf Herms als wesentlichen Interpreten (ders., Ethik). Ulrich Körtner bezieht sich zwar auf Herms an zentralen Stellen seiner Sozialethik, in der Verhältnisbestimmung von Sein und Sollen (ders., Sozialethik, 100), in der grundlegenden Funktion weltanschaulicher Überzeugungen (aaO. 104) und in der weiten Bestimmung des Kulturbegriffs als „Ausdruck eines Gesamtethos“ (aaO. 337). Er macht aber stärkere Unterschiede zwischen Sozial- und Individualethik als Herms und die gesellschaftlichen Funktionsbereiche sollen nicht so starr wie bei diesem, sondern eher dynamisch verstanden werden (aaO. 64). 173  Honecker, Gesellschaft, 726, 728. 174  Honecker, Positionen, 78–93, bevorzugt die Ansätze von Dietz Lange und Johannes Fischer. 175  Wenz, Kirche, 97. Er fügt hinzu: „Seine engagierten Leistungen in Theologie und Kirche verdienen Anerkennung auch vonseiten derer, die ihm nicht in jeder Hinsicht zu folgen bereit waren und die in ekklesiologischer, bekenntnistheologischer und ökumenischer Hinsicht abweichende Akzente setzten.“

I.4. Ziele und Gesamtbeitrag

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gen Habermas und Eilert Herms tritt eine entscheidende Problemkonstellation der sozialphilosophischen Theoriebildung zutage: Sie muss sowohl die kulturübergreifende Verständigung als auch die partikularen Überzeugungen und Daseinsverständnisse erfassen. Der Zielgedanke des Zusammenlebens auf der gemeinsamen Erde erfordert allerdings die Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen – z.B. auf der theoretischen, praktischen und ästhetischen. Deshalb lohnt sich die mühsame Arbeit, die Werke von Herms und Habermas in den jeweils ersten Kapiteln (II.1–2 und III.1–2) in ihrer Stuktur und Intention in Betracht zu ziehen. Denn die Frage friedlichen Zusammenlebens ist nicht ein Addendum ihrer Werke, sondern ein Leitgedanke. Daraus folgt, dass sich das Problem interkulturellen Zusammenlebens nicht als eine ethische Frage neben anderen darstellt, sondern als eine Anfrage an die Fundamente des Denkens zu gelten hat. Einerseits will ich also gleichsam „Tiefenbohrungen“ durchführen, um die Frage nach der Koexistenz der Kulturen möglichst grundlegend zu verorten, andererseits ist dies nur begrenzt möglich. Der Theorievergleich zwischen Herms und Habermas bietet diese Begrenzung an. Was ist meine leitende Intuition? Zusammenleben gelingt, wenn Menschen die Freiheit besitzen, bei sich selbst zu sein und zugleich die Möglichkeit wahrnehmen, in Beziehung mit anderen zu treten. Dazu müssen sie sowohl ihre grundlegenden Überzeugungen verstehen als auch die Brücken der Kommunikation in Anspruch nehmen, auf denen sie auf Andere zugehen können. Als wesentliches Merkmal der Religion wird im Folgenden die lebensorientierende Tiefenhermeneutik des Daseins benannt und als bestimmendes Kennzeichen der Vernunft das Vermögen, kommunikative Übergänge zu ermöglichen. Religion und Vernunft bedürfen also gleichermaßen der Beachtung; diese wird im gemeinsamen Denken erkennbar. Gemeint ist ein anspruchsvoller Prozess der Verständigung, in der das individuelle Daseinsverständnis auf die plural verfasste Allgemeinheit bezogen wird. Menschen verschiedenster Kulturen können ihre Zukunft gemeinsam gestalten, so meine These, wenn sich diese Gestaltung am gemeinsamen, kulturübergreifenden Denken orientiert.176 ‚Gemeinsam‘ bedeutet weder vereinigt, einhellig noch völlig übereinstimmend, sondern jede Tradition für sich mit Blick auf die alle verbindende Frage nach dem Zusammenleben in dem einheitlichen Wirkungszusammenhang der Erde. ‚Gemeinsam Denken‘ definiere ich deshalb als einen kommunikativen Austausch von Argumenten, die wiederum auf bestimmten Überzeugungen beruhen. Somit entsteht die notwendige Verbindung zwischen Überzeugungen und Argumenten, um Verständigung ermöglichen zu können: nur in der Explikation des Daseinsverständnisses eines Menschen ist dieser zu verstehen; nur in der Angabe 176  „Denken ist zunächst ein Fragen und Suchen nach Gründen und erweist seine kognitive Leistung gegenüber dem bloßen Meinen in der Bereitstellung von Gründen.“ (U. Barth, Religion, 7)

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I. Einleitung

von Gründen ist eine nachvollziehbare Auseinandersetzung über ein friedliches Miteinander zu erreichen.177 Die These ist es, dass das Zusammenleben dann friedlich und egalitär gestaltet werden kann, wenn die Angehörigen der einzelnen Kulturen in der Anerkennung ihrer Partikularität sich auf die Wirkungsgemeinschaft mit allen anderen in argumentativer Weise beziehen. Die These muss nun so entwickelt werden, dass sie weder als illusorisch noch als trivial gilt. Trivial ist sie schon deshalb nicht, weil die vorgeschlagene Verbindung von ‚Partikularem‘ und ‚Universalem‘ durch gemeinsames Denken in der Forschung höchst umstritten ist. Werden einerseits bei Habermas die partikularen Ansprüche der Religionen als opak dargestellt, wird andererseits bei Herms die Leistungskraft kommunikativer Vernunft der religiösen Gewissheit untergeordnet. Trivial ist die Möglichkeit des Denkens über Kulturgrenzen hinweg also nicht, weil das Denken auf dem Hintergrund des tief greifenden Konflikts weltanschaulicher Ganzheitsansprüche zu verstehen ist.178 Werden die Menschen im Horizont ihrer Überzeugungen und Traditionen in Anspruch genommen, die Koexistenz mit anderen mitzubegründen, so werden sie in die Pflicht genommen, das Zusammenleben als ein Gut unter den Gütern der eigenen ethischen Tradition zu verteidigen. Illusorisch wäre die These zur Möglichkeit des gemeinsamen Denkens, wenn dieses als von den gesellschaftlichen Funktionssystemen abgekoppelt konzipiert würde. Die Begründung friedlicher Koexistenz ist keine rein moral-, erkenntnistheoretische oder anthropologische Aufgabe, sondern bedarf der sozial- und ordnungstheoretischen Aufmerksamkeit. Illusorisch wäre die Möglichkeit gemeinsamen Denkens also, wenn nicht die Sicherung des Gewaltmonopols, der wirtschaftlichen Subsistenz und der Wissensressourcen als Bedingung der Möglichkeit des Miteinanderredens berücksichtigt werden. Die ethische Aufgabe der Koexistenz ist nur unter der Mitwirkung aller gesellschaftlichen Funktionssysteme zu lösen. Für den Theorievergleich ergeben sich folgende Pointen: Gegenüber Herms hebe ich die Möglichkeiten der begründeten Verständigung zwischen den partikularen Überzeugungen der Mitglieder verschiedener Religionen hervor. Mit Habermas wird die Möglichkeit der nachvollziehbaren Übergänge zwischen ihnen reklamiert – im Zeichen einer kommunikativen, interpretativen und transversalen Vernunft, die als ‚schwache‘, ‚situierte‘ Größe zu bestimmen sein wird. Gegenüber Habermas plädiere ich für eine Ausrichtung des Denkens am par177  „Betrachten wir nun das Denken im Akte der Mitteilung durch die Sprache, welche eben die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens ist, so hat dies keine andere Tendenz, als das Wissen als ein allen gemeinsames hervorzubringen.“ (Schleier­macher, Hermeneutik, 77) 178  Ziel ist es, dass dieser Streit nicht als Verstärker reaktionärer oder fundamentalistischer Abgrenzungsprozesse, sondern als Transformationsriemen wirkt, damit Weltanschauungen „mit sich selbst in Konflikt geraten und darüber selbstreflexiv werden“ (Senghaas, Philosophie, 48, Hervorhebung im Original).

I.4. Ziele und Gesamtbeitrag

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tikular verfassten Daseinsverständnis der einzelnen Kulturen. Mit Herms wird zu argumentieren sein, dass dieses Verständnis eine rationale Struktur besitzt und dass es keine säkulare Sprache gibt, die sich von allen Religionen absetzt. Meine Leitthese greift somit entscheidende Anliegen von Jürgen Habermas und Eilert Herms auf und liegt zugleich quer zu beiden Vorschlägen. Ziel ist es nun, den Theorievergleich als eine Art Topik179 interkultureller Verständigung aufzubereiten, indem Habermas und Herms nach dem Verhältnis der verschiedenen Gebrauchsweisen der Vernunft (theoretische, praktische, ästhetische) und der verschiedenen Dispositionen des Geistes (Verstand, Wille und Gefühl) befragt werden.180 Derweil soll die einigermaßen parallele Darstellung ihrer Werke diese Topik der Begriffe ermöglichen. Bereits der Aufbau der Arbeit reflektiert die wesentlichen differenten Vorentscheidungen. So stellt die Orientierung an den grundlegenden kantischen Fragen eine Struktur bereit,181 mit der die wesentlichen Topoi gegliedert werden können: der Zugang zum Wissen, das angemessene Handeln, die mögliche Hoffnung und das Bild des Menschen. Anhand dieser Struktur wird deutlich, dass Herms sich von der Anthropologie aus den Religionsbegriff und die Handlungs- und Sozialtheorie erschließt, sowie dass die Epistemologie diese bestimmte Reihenfolge untermauert – denn Wissen ist nach Herms ein gewissheitsdefinierendes Handeln. Bei Habermas dagegen sind Religionsbegriff und Menschenbild lediglich Anhänge an die Theorien praktischer und theoretischer Vernunft. Eine Topik stellt den Versuch dar, ‚Gemeinplätze‘ der Kulturen, Weltanschauungen und Religionen zu bestimmen, an denen gemeinsam gearbeitet und gedacht werden kann, um eine friedliche Koexistenz zu ermöglichen. Gemeinplätze sind aber weniger als eine neue gemeinsame Kultur, sondern vielmehr Diskursebenen. Ich beabsichtige nicht eine vollständige Topik zu liefern. Die Arbeit ist so aufgebaut, dass die Werke von Habermas und Herms in jeweils drei Kapiteln bearbeitet werden. Der Klimax liegt jeweils in dem letzten Kapitel (II.3 und III.3), da dort die Leitfrage der Arbeit am deutlichsten bearbeitet wird. Dazu bedarf es einer ausführlichen Auseinandersetzung mit den Grundbegriffen ihrer Werke (II.1 und III.1). Bei Habermas bildet das zweite Kapitel insofern den Kern der Auseinandersetzung (II.2), als hier der Begriff der ‚interkulturellen Vernunft‘ im Horizont seiner fundamentalen Texte Kontur erhält. Bei Herms hingegen wird im ersten Kapitel begründet, wie der Ge179  Vgl. für den Begriff einer ‚ethischen Topik‘ Körtner, Kunst, 128 f., und dort weitere Literatur dazu. 180  Da deren Werke diese auf unterschiedliche Weise aufbereiten, ist ein durchgehender Vergleich ihrer Positionen nicht sinnvoll. Vielmehr werden sie, soweit dies hermeneutisch möglich ist, anhand ihrer eigenen Kategorien beschrieben und bewertet. Erst im Schluss­ kapitel wird eine Gegenüberstellung der zwei Entwürfe durchzuführen sein. 181  Ich werde wiederholt darauf hinweisen, dass der Gebrauch der kantischen Leitfrage keine eigenständige Theorie oder eigenständigen Beitrag zu Kant zu entfalten beabsichtigt. Sie bieten lediglich eine ordnende und klärende Form des Denkens für den Theorievergleich.

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I. Einleitung

samtansatz zu verstehen ist, und im zweiten Kapitel wird dieser Ansatz auf dem Hintergrund seiner Schleier­macher-Interpretation diskutiert (III.2). In summa: Diese Arbeit vermisst den Horizont einer in der evangelischen Theologie bisher sehr zögerlich wahrgenomenen Problemlage – nämlich die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen interkulturellen Zusammenlebens angesichts wachsender, weltweiter Interdependenzen. Dabei greife ich auf die Problemstellung mit einer spezifischen begrifflichen Polarität zurück und frage nach dem Verhältnis von ‚Religion‘ und ‚Vernunft‘. Mit diesen Sammelbegriffen verbinden sich markante Anfragen einer adäquaten Zeitdiagnose des globalen Wandels mit originären Anliegen aus der sozialethischen Grundlagenforschung. Sind deskriptive und normative Urteile kulturübergreifend gültig oder werden sie von weltanschaulichen Hintergrundannahmen bestimmt? In ihren unterschiedlich ausgerichteten Antworten markieren Eilert Herms und Jürgen Habermas entscheidende Grenzverläufe der Diskurslage um ‚Religion‘ und ‚Vernunft‘ und ermöglichen eine begrenzte, fruchtbare Auseinandersetzung. Indem ich deren Perspektiven als konkurrierende, aber sich wechselseitig nicht ausschließende Anliegen bestimme, nehme ich selbst keine neutrale Position ein, sondern leiste einen Beitrag aus der evangelischen Theologie für den sozialphilosophischen Diskurs um ein Verständnis globalisierten Zusammenlebens.182

182 

Dieses Werk ist eine systematisch-theologische Auseinandersetzung mit der Fragestellung, weil die sozialphilosophische Problematik der interkulturellen Koexistenz im Horizont einer in der christlichen Tradition geprägten Wirklichkeitsdeutung in wissenschaftlicher Form bearbeitet wird, um theologische Kompetenz zu stärken: Die Theologie reflektiert den christlichen Glauben als Religion in Mitten anderer Weltanschauungen und gesellschaftlicher Funktionssysteme und dies wird sie nur mit Blick auf die geschichtliche Lage des gegenwärtigen Zustandes des Christentums und dessen Zukunftsfähigkeit leisten können, um eine selbstständige Meinungsbildung und einen entsprechenden Praxisbezug fördern zu können. Vgl. Stock, Einleitung, XXf. für diese Sicht theologischer Kompetenz, der sich auf Schleier­ macher dazu beruft. Zu dieser Aufgabe gehört zunehmend ein Verständnis der werdenden Weltgesellschaft.

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II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Ein erster Blick auf die Selbsteinschätzung von Habermas und ein kurzer Überblick über prominente Interpretationen seines Werkes vermitteln den Eindruck einer dezidiert universalistischen Ausrichtung der Theorieanlage: – Habermas versteht seine Rolle als Philosoph als „Hüter der Rationalität“, der für „empirische Theorien mit starken universalistischen Ansprüchen“ eintritt.1 – Er hält am „Vernunftbezug der Geschichte“ trotz der nachmetaphysischen Konzeption fest – gerade darin besteht nach Peter Dews seine überragende Leistung. 2 – „Er ist unter allen Theoretikern am wenigsten dazu bereit, die Grenze zwischen Allgemeingültigkeit und historischem Konsens zu verwischen.“ Das ist die Einschätzung von Richard Rorty.3 – „Habermas presents an innovative theoretical basis for a constitutionalist, universalist project of global order and provides elaborate reasons why a universalist project should be pursued“ – so Armin von Bogdandy.4 – Dabei versteht er sich Hans Joas zufolge bei aller Distanznahme in Einzelfragen als „ein neuer Kant – ein Kant der kommunikativen Vernunft und des Zeitalters nach ­Darwin“.5

Zwar entsprechen diese Zielsetzungen – der Vernunftbezug der Geschichte wie auch die globale Ordnungstheorie – zentralen habermasschen Anliegen. Aber bei näherer Betrachtung des Hauptwerkes ergibt sich ein differenziertes Bild. Diese Arbeit wird nämlich auf eine andere Seite im habermasschen Werk aufmerksam machen, die sich auf die „schwache“, „situierte“, „schwankende“ Vernunft einlässt.6 Fragt man nach einer ersten Definition des Adjektivs 1 

Habermas, Philosophie, in: MB, 27, 23. in: Dews, Introduction, 2 (Zitat aus PDM, 392). Habermas’ Leistung liegt Dews zufolge in der Betonung des Potenzials der Vernunft und dem Aufweisen ihrer Grenzen: „The notion that philosophy after Hegel must retrieve the rational content of the metaphysical tradition, but in a desublimated form, has been a constant of his thought.“ (Dews, Introduction, 22) Habermas hebt diese Einführung als „kenntnisreich“ hervor, weil sie seine „metaphilosophischen Überlegungen“ darstellt (ders., Einleitung, in: PT 5, 11 Fn. 2). 3  Rorty, Gerechtigkeit, 86. 4  Bogdandy/Dellavalle, Universalism, 30. 5  Joas, Religion, 5. 6  Vgl. z.B. Habermas, Replik, in: EA, 331; ders., Motive, in: ND, 41; ders., Einheit, in: ND, 182. 2  Habermas,

40 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens „schwach“ mit Blick auf die Vernunft, ist der Vorschlag von Wolfgang Welsch weiterführend: „Schwäche“ ist demnach nicht auf eine „Ohnmacht“ der Vernunft zurückzuführen, sondern verweist darauf, dass diese nicht mehr „herrscherlich“ oder „dekretorisch“ ist – weder Wahrheit entdecken noch die „Welt beherrschen“ kann.7 Ihre Depotenzierung wird also gegenüber Interpretationen hervorgehoben, in denen der Vernunft Autorität und Orientierungskraft per se zugesprochen wird.8 Wird diese Schwäche anerkannt, so Welsch zu Recht, kann die Vernunft ihre Aufgaben effektiver ausführen – und diese liegen vor allem in der Ermöglichung von Verständigung. Habermas fragt folglich nach den Grenzen der Vernunft und bietet eine Kritik ihrer Leistungsfähigkeit, um deren erkenntnistheoretische und praktische Ansprüche deutlicher erfassen zu können. Diese Definition der ‚Schwäche‘ lässt zugleich Fragen offen: Folgt auf die „Depotenzierung der Vernunft“ eine „Potenzierung des Verstandes“, wie Welsch Kant schlagwortartig interpretiert?9 Oder profitieren von der ‚Schwäche der Vernunft‘ andere Dispositionen, sodass der Wille und das Gefühl in den Mittelpunkt der Wissens- und Handlungstheorie rücken? Sind es letztere Vermögen, die Gewissheit hervorbringen, Wahrheit finden und Orientierung leisten? In dieser Hinsicht ist Habermas längst nicht eindeutig: In der Lebenswelt sind zwar Emotion und Motivation für die Menschen maßgebend, denn durch sie entstehen Tugenden, ethische Überzeugungen und die Orientierung am Guten. Aber entscheidend für das Zusammenleben bleibt das rationale Vermögen. Und insofern gilt die folgende Differenzierung für Habermas: Religion, Kultur und Tradition sind partikular, perspektivisch und deshalb opak, Vernunft ist universal, allgemein nachvollziehbar und deshalb transparent. Die Ausgangslage ist demnach alles andere als deutlich: Einerseits verfolgt Habermas die Ausarbeitung einer starken universalistischen Theorie, andererseits richtet er sein Theorieunternehmen an der schwachen Vernunft aus. Ziel ist es nun, angesichts dieser Problemlage die Möglichkeiten des kultur­ übergreifenden Diskurses in weltbürgerlicher Absicht zu bestimmen. Zu zeigen ist, dass Habermas um die Reichweite einer Theorie der kommunikativen Vernunft ringt, dass er sich bewusst ist, wie komplex die Abgrenzung zwischen der Kritik der Vernunft und deren Trivialisierung ist. Er weiß um die Gefahr, 7  Welsch, Vernunft, 816–827. Welsch verweist auf Kant, der der Vernunft die Möglichkeit der Wahrheitsfindung abspricht und ihre Rolle auf die Verhütung von Irrtümern begrenzt (aaO. 819). Daneben wird Hegel angeführt, für den die Herrschaft der Vernunft gilt (aaO. 822). 8  Eine Präzisierung ist wichtig an dieser Stelle: Die Eingrenzung der Vernunft in dieser Weise ist nicht neu, sondern vielmehr ein Charakteristikum ganz unterschiedlicher Theorien der Vernunft seit Kant. Das besondere Merkmal der habermasschen Vernunft-Konzeption liegt in ihrer intersubjektiven, kommunikativen Bestimmung. 9  Welsch, Vernunft, 818 (Hervorhebung im Original).

II.1. Intention des Werkes im lebens- und theoriegeschichtlichen Horizont

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nur „die Vorurteile des erwachsenen, weißen, männlichen, bürgerlich erzogenen Mitteleuropäers von heute“ zu reflektieren und bezeichnet den Umgang mit diesem Problem als den empfindlichsten Aspekt seiner Theorie.10 Gerade angesichts seines Problembewusstseins leistet Habermas einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der kommunikativen Übergänge zwischen den vielschichtigen Rationalitätsformen und Wirklichkeitsverständnissen. Zugleich bleibt er einen gehaltvollen Begriff des gemeinsamen, interkulturellen Denkens und Gestaltens schuldig, da er die partikularen und perspektivischen Überzeugungen und Daseinsverständnisse als opake Größen ausgrenzt. Diese Ausgrenzung ist insofern nicht sinnvoll, als die ‚schwache Vernunft‘ auf eine Theorie dieser Daseinsverständnisse angewiesen ist. Dazu gehört ein Begriff der anderen geistigen Vermögen, des Gefühls und des Willens, wie auch ein Verständnis von religiöser Rationalität. Der Begriff der interkulturell unverzichtbaren Vernunft im Hauptwerk von Habermas wird im zweiten Kapitel dieser Arbeit (II.2) präzisiert. Die Beantwortung der Frage, worin die Unverzichtbarkeit der Vernunft angesichts ihrer ‚Schwäche‘ liegt, erfordert eine ausführliche Rekonstruktion seiner wesentlichen Texte. Zuvor werden im ersten Kapitel (II.1) die Grundlinien seines Denkens biografisch und theoriegeschichtlich eingeführt. Diese Kontextualisierung eröffnet die Frage nach dem Verhältnis von Genesis und Geltung mit Blick auf seine kosmopolitische Theorieanlage. Schließlich wird im letzten Kapitel (II.3) seine neueste Positionsbestimmung zur postsäkularen und postnationalen Weltordnung im Horizont des Hauptwerkes eingeordnet.

II.1. Intention des Werkes im lebens- und theoriegeschichtlichen Horizont In diesem Kapitel gilt es, die Intention und Struktur des habermasschen Werkes mit Blick auf die leitende Fragestellung dieser Arbeit zu bestimmen. Dazu wird zunächst sein autobiografischer Rückblick auf seine wissenschaftlichen Schwerpunkte eingeführt (A), um die dort lozierten Hauptbegriffe im theoriegeschichtlichen Horizont einzuordnen – vor allem die Orientierung am Pragmatismus und an Kant (B). Dabei wird die Frage in den Mittelpunkt gerückt, ob Habermas wie Kant und Dewey sein Werk kosmopolitisch interpretiert. Aus dieser Gegenüberstellung ergibt sich meine Strukturierung des habermasschen Ansatzes (C).

10 

Habermas, Einwände, in: ED, 12.

42 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens

II.1.A. Biografie und Theorie Habermas beschreibt in einer autobiografisch orientierten Selbstdarstellung seiner Philosophie die begriffliche Trias von Öffentlichkeit, Diskurs und Vernunft als beherrschend für sein wissenschaftliches und politisches Leben.11 Dabei ist es auffällig, dass er in dieser Darstellung zwar Verbindungslinien zwischen seinem lebensgeschichtlichen Kontext und seiner Philosophie nachzeichnet. Aber er macht dies in „Verlegenheit“, vorsichtig „vermutend“ (15), weil solch eine Verbindung keinen Grund für einen Zusammenhang zwischen Genesis und Geltung bieten soll. Aus seiner Biografie heraus wird zumindest verständlich, dass die hartnäckige Ablehnung eines solchen Zusammenhangs dem Ziele einer öffentlichen Verständigung dienlich sein soll. i. Sensibilität für die Schwierigkeiten und Chancen der Kommunikation Die „traumatischen Erfahrungen“ frühkindlicher medizinischer Eingriffe angesichts seiner Sprachbehinderung führen Habermas in jungen Jahren zu einem ausgeprägten „Gefühl von Abhängigkeit“ von Anderen (16 f.). Durch die Schwierigkeiten mit seiner Nasalisierung und der verzerrten Artikulation sei es vor allem in seiner Schulzeit zu fehlschlagender Kommunikation und infolgedessen zu Kränkungen gekommen. Tiefe Spuren werden hinterlassen: Sein Verständnis von der zwischenmenschlichen Reziprozität entwickelt sich zu dem „Bild einer Subjektivität“, die er sich wie „einen nach außen gestülpten Handschuh“ ausmalt, in dem die Fäden der Intersubjektivität das gesponnene Gewebe ausmachen und das Innere jedes einzelnen Subjekts die vielfältigen Einwirkungen Anderer erkennbar werden lässt (18 f.). Diese Fäden der Intersubjektivität sind sowohl strukturell als auch inhaltlich zu verstehen: Der subjektive Geist wird durch den objektiven Geist konstituiert und der Blick des Anderen auf ein Subjekt hat eine individuierende Implikation. Es leuchtet ihm nicht ein, das Selbstbewusstsein der Gesellschaft als ursprünglichere Größe vorzuordnen, vielmehr werde ich mir selbst erst durch mein Gegenüber als ein sprach-, handlungsfähiges und individuelles Subjekt bewusst. Infolge dieser Erfahrungen bildet sich eine hohe Sensibilität für die Bedingungen von Lernprozessen aus, und Habermas konzentriert sich deshalb auf die Phänomene der Öffentlichkeit und der Kommunikation. So kann er die Konzeption von Intersubjektivität als „Paradigma“ bezeichnen, in dem sich seine Forschung bewegt und in dem er seinen sprachphilosophischen Ansatz und die Moraltheorie entwickelt (19). Es ist Habermas’ Faszination für die „Besonderheit der menschlichen Kommunikation“, die als einigendes Band seines Denkens gelten darf.12 Drei differenzierende Aspekte müssen zu dieser Hervorhebung der Kommunikation erläutert werden. 11  12 

Habermas, Raum, in: ZNR, 15–26. Seitenzahlen im Folgenden im Text. Joas, Sozialtheorie, 297 (Hervorhebung im Original).

II.1. Intention des Werkes im lebens- und theoriegeschichtlichen Horizont

43

Zum ersten sind Sprache und Kommunikation zu differenzieren. Das Interesse an der Kommunikation prägt sein gesamtes Werk, aber erst in den Christian Gauss Lectures, die er 1971 an der Princeton University hält, wird ein „Einschnitt in der Entwicklung“ seiner Philosophie deutlich.13 In diesem Sinne wird auch vom „linguistic turn“ oder der sprachpragmatischen Wende seiner Arbeit gesprochen.14 Darin vollziehe er nicht einen methodologischen Schritt, sondern die Wende sei ein Epochenbruch: Wird der aus der Wissenschaftsgeschichte stammende Paradigmenbegriff auf die Philosophiegeschichte übertragen, dann verläuft – so Habermas in Anlehnung an Karl-Otto Apel – „eine grobe Epochen­ einteilung“ unter den Begriffen ‚Sein‘, ‚Bewusstsein‘ und ‚Sprache‘.15 Während im ersten Paradigma seit Platon ontologische Fragen im Mittelpunkt stehen, wird dieses mit der Aufklärung von den transzendentaltheoretischen Fragen der Bewusstseinsphilosophie abgelöst. Schließlich ermöglichen dieser Logik zufolge die sprachphilosophischen Entdeckungen sowohl der hermeneutischen als auch der analytischen Traditionen eine vollständig neue Herangehensweise an Fragen der Welterschließung und Normativität.16 Erste Konturen seines Vernunftbegriffs zeichnen sich bereits ab: Für ihn trägt die Vernunft gleichsam immer schon „sprachliche Kleider“, erwächst aus dem kommunikativen Handeln und ist somit eine „inkarnierte Vernunft“.17 Infolgedessen kann zum zweiten die Differenzierung zwischen kommunikativem Handeln und kommunikativer Vernunft eingeführt werden.18 Im Grunde soll letztere eine Abstraktion der Alltagspraxis und Erfahrungswelt darstellen.19 In der Kommunikation zwischen Menschen komme es demnach (implizit) beim kommunikativen Handeln und (explizit) im Diskurs zum Austausch von Ideen, Meinungen und Geltungsansprüchen: „Im kommunikativen Handeln verhalten wir uns gewissermaßen naiv, während wir im Diskurs Gründe austauschen, um problematisch gewordene Geltungsansprüche zu prüfen.“ (20; Hervorhebung im Original)

13 

Habermas, Einleitung, in: PT 1, 9. ‚Habermas‘, 87. Genauer differenziert Habermas anderswo: Er spricht von einer „kommunikationstheoretische[n] Wende“, die über die linguistische Wende hinausgreift (Habermas, TkH I, 531, Hervorhebung im Original). Diese Wende in der Wende ist wohl eher als Spezifizierung der ersten Wende zu sehen. 15  Habermas, Metaphysik, in: ND, 20. 16  Habermas betont die kommunikative Dimension der Sprache mehr als die kognitive: „Die Sprache ist nicht der Spiegel der Welt, sondern eröffnet uns einen Zugang zu ihr.“ (Habermas, Raum, in: ZNR, 20) 17 Habermas, Ausweg, in: PDM, 374 (meine Hervorhebung). 18  Ein Fehler in der Habermas-Rezeption ist der undifferenzierte Gebrauch dieser Begriffe, vgl. Habermas, Rationalität, in: Niesen, Anarchie, 406 ff. 19  Im Alltag liegen die Möglichkeiten der Verständigung bereit. Jeder Austausch von Argumenten enthält die Hoffnung auf Verständigung. 14 Pinzani,

44 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Die kommunikative Vernunft stellt für Habermas eine Formalisierung und Idealisierung des kommunikativen Handelns dar: Die Voraussetzungslage sprachlicher Verständigung verweist kontrafaktisch auf die Geltungsbasis der kommunikativen Vernunft. 20 D. h. Habermas weiß, dass der Diskurs faktisch nicht durch Verständigung oder Anerkennung gekennzeichnet ist. Die ideale Sprechsituation habe demnach weder den Status eines empirischen Phänomens noch sei sie ein ideales Konstrukt. Sie sei vielmehr „eine in Diskursen reziprok vorgenommene Unterstellung“. 21 Es gilt hervorzuheben, dass die ideale Sprechsituation somit als regulativ und konstitutiv zugleich prädiziert wird, denn es verhält sich nach Habermas so, dass das Ideal der Gültigkeit von Argumenten vorausgesetzt werden muss, um überhaupt eine sinnvolle Kommunikation aufzunehmen – und damit erzeugt dieses Handlungsideal soziale Fakten.22 In diesem Sinne ist die kommunikative Vernunft an empirischen Einsichten ablesbar, nämlich an den konkreten Erfahrungen des kommunikativen Handelns, die zugleich eine regulative Funktion haben. Überhaupt kann die „Vernunft“ nur im Horizont von sprachlichem Austausch begriffen werden, sie besteht „von Haus aus im Gebrauch der Vernunft“.23 Schließlich ist auf die besondere habermassche Verbindungsleistung mit Blick auf die Kommunikationsbedingungen hinzuweisen: Entscheidend für die Entwicklung des Begriffs kommunikativer Vernunft ist seine Entdeckung des Zusammenhangs zwischen Bedeutung und Geltung. Während die Erforschung der formalen Semantik sich darauf konzentriert, die Sprache auf ihren universalen propositionalen Gehalt hin zu untersuchen, nimmt Habermas die illokutionäre Kraft des Sprechaktes zum Anlass, über die Bedingungen kommunikativer Kompetenz nachzudenken. Diese verlangt von Sprechern, sich entweder über etwas in der Welt zu einigen oder sich über ein gemeinsames Ziel zu verständigen. Die daraus erwachsende ‚Formalpragmatik‘ ist der Grundstock seiner Apologie der Vernunft mit Blick auf ihre kommunikative Rolle neben ihren strategischen und instrumentellen Funktionen. Ein Sprechakt kann nur durch dessen Regeln der Akzeptierbarkeit verstanden werden und deren Erfassung verlangt eine Beurteilung der spezifischen Gründe für die Aussage. Die Frage nach der Rechtfertigung, die einen Sprechakt somit immer begleitet, lässt den kommunikativen Erfolg nicht rein auf Grund der Leistung instrumenteller Ver20  Die Voraussetzungen, die der Sprache inhärent sind, lassen sich laut Habermas in drei Ebenen aufteilen: i) auf der logischen Ebene der Produkte geht es um die Widerspruchsfreiheit oder Konsistenz der Rede; ii) auf der dialektischen Ebene der Prozeduren geht es um die Wahrhaftigkeit und Zurechnungsfähigkeit der Teilnehmer; iii) auf der rhetorischen Ebene geht es um die Struktur der Sprechsituation, also z.B. das Verbot von Repression und Ungleichheit (Habermas, Moralbewußtsein, in: MB, 97 ff.). 21  Habermas, Wahrheitstheorien, in: Fahrenbach, Wirklichkeit, 258. 22  Habermas, in: Interview, in: NR, 132 f. Vgl. Horster, ‚Habermas‘, 56 ff. 23  Habermas, Einleitung, in: PT 3, 10 (Hervorhebung im Original).

II.1. Intention des Werkes im lebens- und theoriegeschichtlichen Horizont

45

nunft zu Stande kommen, sondern der Erfolg beruht auf einer symmetrischen Beziehung zwischen den Gesprächsteilnehmern. 24 ii. Todeskult des Nationalsozialismus und das Zauberwort der Demokratie Habermas berichtet, dass neben den Erfahrungen mit seiner Sprachbehinderung vor allem die Erlebnisse mit dem Nationalsozialismus prägend für ihn waren. Dabei ist ihm erst nach dem Ende des Krieges bewusst geworden, „in einem dumpfen, ressentimentgeladenen Milieu von Heimatkitsch, Monumentalismus und Todeskult aufgewachsen“ zu sein (22). Den Kontrapunkt dazu findet er zwar in der neu aufblühenden Kultur, Kunst, Architektur und Filmwelt; „das Zauberwort“ aber ist Demokratie (ebd.). Zugleich wird er zutiefst durch die Tatsache enttäuscht, dass sich in der Anfangszeit nach dem Krieg keine Erneuerung in der politischen oder moralischen Ausrichtung abzeichnet. Hinzu kommt die akademisch-philosophische Verunsicherung, als er im Jahr 1953 Martin Heideggers Einführung in die Metaphysik erhält und bemerkt, dass sein bisheriger Lehrer der „Vergötzung des völkischen Geistes“ und dem kollektivistischen „Wir-Sagens“ verfallen war – und dabei den Faschismus als „Seinsgeschick“ hinnahm (23 f.). Es ist die Auseinandersetzung mit Heidegger und Carl Schmitt, Ernst Jünger und Arnold Gehlen, die ihn daraufhin umtreibt und ihn zu seinem Habilitationsthema – und lebenslangem Forschungsinteresse – der „Öffentlichkeit“ führt. 25 Diskurs und Vernunft entfalten durch allgemeine Zugänglichkeit öffentliche Wirksamkeit. Die lebendige und diskussionsfreudige Meinungsfindung, also „die geheimnisvolle Kraft der Intersubjektivität“, den Konsens in der Vielfalt zu suchen, ist die entscheidende Grundlage für den offenen Zusammenhalt komplexer Gesellschaften (25). 26 In dieser Linie steht auch Habermas’ Interesse an der Weltgesellschaft, denn Deliberation und Öffentlichkeit machen nicht an nationalen Grenzen halt, sondern sind auf den Geltungsbereich der Menschheit bezogen. 27 Die Erfahrungen des Nationalismus prägen derweil auch die grundlegendsten Entscheidungen der theoretischen Fundierung seines Werkes. Auf die Frage, was der am schwierigsten zu verteidigende Aspekt seiner Philosophie sei, wird von Mitchell Aboulafia folgende Antwort überliefert: Habermas habe in seiner prägnanten Antwort nicht gezögert, seine quasi-transzendentale Argumentation („quasi-transcendentalism“) zu benennen; und auf die Frage, wozu er die24  Zur Definition der Formalpragmatik vgl. Habermas, Handeln, in: ZNR, 30; ders., Entgegnung, in: Honneth: Handeln, 358; zur einführenden Diskussion Lafont, Vernunft. 25  Zu diesen vier Kontrahenten notiert er: „Das Schweigen wird gegenüber dem Gespräch, die Ordnung von Befehl und Gehorsam gegenüber Gleichheit und Selbstbestimmung ausgezeichnet.“ (ders., Raum, in: ZNR, 24) 26  Er beendet den Rückblick mit der beachtenswerten Mahnung, dass ein Intellektueller sich eines nicht erlauben darf, nämlich „zynisch zu sein“ (Habermas, Raum, in: ZNR, 26). 27  Habermas, Rationalität, in: Niesen, Anarchie, 436.

46 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens ses Konstrukt verteidige, antwortete er wiederum: „the Holocaust“. 28 Er habe dabei deutlich machen wollen, dass dies nicht als psychologisches Motiv, sondern vielmehr als rationale Theorie gegen den Irrationalismus und die moralische Barbarei zu verstehen sei. Dieser Hinweis verdeutlicht, wie stark die eigenen Erfahrungen seine Theoriegestaltung prägen. Für Habermas bleibt es somit entscheidend, dass öffentlich relevante Meinungen für alle verständlich vorgetragen werden, dass moralische Diskurse den Blick aller möglicherweise Betroffenen einbeziehen und dass entsprechende Institutionen eine Äquidistanz zu allen Weltanschauungen einüben. Alle weiteren Unterscheidungen gehen vom Universalisierungsprinzip aus, 29 das von dem idealisierenden Gehalt allgemeiner und unvermeidlicher Argumentationsvoraussetzungen zehrt.30 An diesem Abriss wird erkennbar, dass die Trias von ‚Vernunft, Diskurs und Öffentlichkeit‘, die Habermas als fundamental für sein Denken benennt, eine komplexe interdisziplinäre Welt eröffnet. Habermas ist demnach ein „Grenzgänger“ und „Vermittler“, wie Otfried Höffe meint, der sozialwissenschaftliche und philosophische Großtheorien zusammenführt.31 Dabei erlaubt sich Habermas genau den Stil, wie Höffe weiter ausführt, den Habermas Talcott Parsons zuspricht, nämlich „den ökumenischen Stil eines sich alles einverleibenden Theo­retikers“.32

II.1.B. Theoriegeschichte: Zwischen pragmatistischem und kantischem Kosmopolitismus Es stellt sich nun die Frage an den ‚Ökumeniker‘ Habermas, welches die maßgeblichen Bezugstheorien für ihn sind. Eine ausführliche Theoriegeschichte müsste zumindest folgende Traditionen berücksichtigen: die hermeneutische mit Bezug auf Wilhelm von Humboldt, den amerikanischen Pragmatizismus33 von Charles Sanders Peirce und George Herbert Mead, Ernst Cassirers Theorie der symbolischen Formen und Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie, die kritische Theorie Theodor Adornos und die Gesamtkonzeption Immanuel Kants. Diese Auflistung ist nicht so zu verstehen, als seien diese Einflüsse gleichermaßen bedeutend. Hans Joas weist darauf hin, dass es ursprünglich drei intel28  Aboulafia, Introduction, 4. Richard Bernstein ergänzt: „Habermas fears irrationalism [in] whatever guise it takes – whether ugly fascist forms, disguised neoconservative variations, or the playful antics of those who seek to domesticate Nietzsche“ (zitiert in: aaO. 5). 29  Habermas, Diskursethik, in: MB, 73. Vgl. das Universalisierungsprinzip in: Diskursethik in: MKH 75 f.; zur Einführung Pinzani, ‚Habermas‘, 142 f. 30  Habermas, Einleitung, in: PT 3, 16. 31  Höffe, Rechtsprinzipien, 358. 32  Ebd. Darin liegt eine bemerkenswerte Parallele zum Theoretiker Eilert Herms. 33  Im Folgenden wird der Pragmatismus als Oberbegriff verwendet, der Pragmatizismus bezeichnet lediglich die Lehre von Charles Sanders Peirce.

II.1. Intention des Werkes im lebens- und theoriegeschichtlichen Horizont

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lektuelle Traditionen sind, die Habermas prägen:34 der Marxismus, die Hermeneutik und die liberal-demokratische Tradition des Westens (Frankreichs, Großbritanniens und den USA). Dagegen ist die kritische Theorie laut Joas zunächst nicht im selben Maße entscheidend (wie dennoch häufig angenommen), denn diese wird von Habermas erst später rezipiert.35 Deshalb müssen verschiedene Entwicklungsphasen isoliert werden: Bis zum Ende der 1960er Jahre, schreibt Joas, habe man Habermas als „einen höchst innovativen westlichen Marxisten“ bezeichnen können.36 In den 70er und 80er Jahren entwickelt er sich in einer zweiten Phase zum kommunikativen Theoretiker, dessen Œuvre für den ersten großen Syntheseversuch in der Sozialtheorie nach der Theorie Talcott Parsons steht. Zu Joas’ Einteilung des Werkes muss jedoch eine dritte Phase ergänzt werden.37 Sie betrifft vor allem die Arbeiten mit Blick auf das Verständnis des Rechts (seit Anfang der 1990er Jahre), die neue Bedeutung der Religionen (seit 2001) und die Erkundung der globalen Ordnungsbezüge (seit Mitte der 1990er Jahre). Nun könnte gerade die Bedeutung des Weltgesellschaftsbegriffs in den letzten Jahren bei Habermas als Versuch einer Zusammenführung der Motive von Rousseau, Marx und Kant interpretiert werden:38 Immerhin benennt Habermas nach wie das Ziel der politischen Eingrenzung des Kapitalismus als „Sozialismus“, welcher „der selbstzerstörerischen Dynamik der wachsenden Ungleichverteilung von

34  Joas rezipiert das Werk von Habermas „wegen der großen Bedeutung“, die es für seine eigene Entwicklung hat (ders., Ehe, 172). In seinen Vorlesungen zur Sozialtheorie wird diese Bedeutung deutlich. Dort widmet Joas dem Entwurf von Habermas nicht nur zwei ausführliche Kapitel, sondern führt ihn im Verlauf der Auseinandersetzung mit anderen Autoren immer wieder ein, vgl. zu Alain Touraine (ders., Sozialtheorie, 579–591), Paul Ricœur (aaO. 593–597) oder Nancy Fraser (aaO. 635–637). 35  Joas/Knöbl, Sozialtheorie, 296; vgl. auch in ähnlicher Weise die Darstellung in Wiggershaus, ‚Habermas‘, 30, aber gegen Horster, ‚Habermas‘, 15 ff. 36  Joas/Knöbl, Sozialtheorie, 313 (Hervorhebung im Original). Der Unterschied zu anderen neo-marxistischen Autoren lag in erster Linie in der „Emphase, mit der er die Eigenstruktur menschlicher Intersubjektivität für seine Argumente in Anspruch nahm“ (ebd.). Dazu Outhwaite, ‚Habermas‘, 3: „If Max Weber has been described as a bourgeois Marx, Habermas might be summarily characterized as a Marxist Weber.“ 37  Diese neue Arbeitsphase stellt Habermas selbst in der Einleitung des fünften Bandes der 2009 herausgegebenen Studienausgabe dar: Erst infolge seiner Diskursethik hat er eine für sich annähernd befriedigende, nämlich Interessen-verallgemeinernde politische Theorie erarbeiten können (Einleitung, in: PT 4, 17). Deshalb sind bemerkenswerterweise alle Beiträge dieses Bandes aus der Arbeit mit und seit FG und die letzten drei Beiträge nochmal spezifisch als Antwort auf die Frage nach der postnationalen Konstellation entstanden. 38  Ralf Dahrendorf meint, dass er Habermas „seit langem als Rousseau-Typen“ sieht, weil „seine Kernideen über herrschaftsfreie Kommunikation etwas rousseau’anisches haben, nicht hegelianisches. Es ist ein Traum einer Rousseau-Welt. […] Für Rousseau ist Demokratie Totalkonsens aller, den es aber nicht gibt“ (ders., Freund, 122, Hervorhebung im Original).

48 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Macht und Wohlstand entgegenwirkt.“39 Axel Honneth z.B. liegt nach wie vor daran, die Distanz zu Marx und zur kritischen Theorie bei Habermas zu minimieren.40 Gegenüber dieser Interpretation des Spätwerkes steht Habermas’ Selbsteinschätzung in Zwischen Naturalismus und Religion, in der er sich auf „der Linie eines Kant mit Darwin verbindenden Pragmatismus“ präsentiert.41 Im Folgenden wird diese Stellung, die Habermas zwischen Kant und den Pragmatisten einnimmt, ausgeführt und erörtert. Sie dient dazu, einen Blick für die Gesamtstruktur seiner Arbeit zu erhalten, und in dieser Strukturierung liegen wiederum wesentliche Fragen für die Herangehensweise an das Problem einer interkulturellen Koexistenzgrundlage verborgen. Zunächst ist die pragmatistische Orientierung unverkennbar: Habermas will die Transformation der transzendentalen Fragestellung im Horizont der pragmatistischen Wende der Erkenntnistheorie (Richard Rorty) in einer Fassung darstellen, die mit naturalistischen Einsichten kompatibel ist.42 Entscheidend ist für ihn eine neue Ordnung in der Philosophie, die sich durch die Priorität der praktischen vor den theoretischen Problemen auszeichnet, sodass die erkenntnistheoretischen Fragen seit Hume und Kant einen pragmatischen Richtungssinn erhalten.43 Somit müssen sie im Kontext lebensweltlicher Praktiken ihre Priorität vor kommunikations- und handlungstheoretischen Fragen einbüßen: Seit Platon nimmt die Theorie der Erkenntnis den Platz einer ersten Philosophie ein, während Kommunikation und Handeln daraus abgeleitet werden. Insgesamt privilegiert demzufolge die Bewusstseinsphilosophie das Innere gegenüber dem Äußeren, das Private gegenüber dem Öffentlichen, die Unmittelbarkeit des subjektiven Erlebens gegenüber der diskursiven Vermittlung.44 Mit Charles Sanders Peirce wird diese Hierarchie eingeebnet.45 Dennoch behalten beide Zweige der Sprachphilosophie, sowohl die analytische (jedenfalls der 39 Habermas, ‚Ich bin alt aber nicht fromm‘, in: Funken, ‚Habermas‘, 183 (Hervorhebung im Original). Der Sozialismus wolle „nur ernst machen mit den Errungenschaften der beiden Verfassungsrevolutionen vom Ende des 18. Jahrhunderts“ (aaO. 182). 40 Entgegen der herkömmlichen Meinung trägt Honneth zufolge Habermas in der Auseinandersetzung mit Marx zur Erneuerung der kritischen Theorie bei und eine seiner Grundannahmen, die aus dieser Arbeit stammt, „besteht in einem materialistischen Bild der menschlichen Geschichte, in dem diese als eine nur durch vernünftig-praktische Anstrengungen zu unterbrechende Kette von undurchschauten Gewalt- und Unterdrückungszusammenhängen gedeutet wird“ (Honneth, Sublimierung, 53–56). 41  Habermas, Einleitung, in: ZNR, 13. 42  Habermas, Einleitung, in: WR, 17 ff. 43  AaO. 8. 44  AaO. 8–12. 45  Und John Dewey argumentiert, dass die epistemologische Tradition das „wichtigste Problem der westlichen Zivilisation“ bisher nicht hat lösen können, „nämlich die Verbindung zwischen wissenschaftlich deskriptiven und normativ ethischen Überzeugungen zu explizieren“ (Grube, Pragmatismus, 1552).

II.1. Intention des Werkes im lebens- und theoriegeschichtlichen Horizont

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‚mainstream‘) als auch die hermeneutische Philosophie, den Vorrang theoretischer vor praktischen und erkenntnisphilosophischer vor pragmatischen Fragestellungen bei.46 In der Kritik an dieser Entwicklung trifft sich Habermas mit Hans Joas, der selbst bei den Neopragmatisten Richard Rorty und Hilary Putnam die mangelnde sozialtheoretische Rezeption des Pragmatismus beanstandet.47 Dagegen ist für Joas ein Anlass seiner Auseinandersetzung mit Habermas seine „Überraschung“, wie wenig Habermas von der Handlungstheorie des Pragmatismus verstehe.48 Diese Kritik betrifft die einseitige Hervorhebung der Rationalität des Handelns bei Habermas, dessen Missachtung der Potenziale kreativen Handelns wie auch die Tatsache, dass dieser die theoretische Verbindung von ‚Gutem‘ und ‚Gerechtem‘ in dieser Tradition nicht beachtet (vgl. II.2.A). Darüber hinaus ist Habermas weit davon entfernt, die wissenschaftstheoretische Bedeutung der Religion bei William James zu berücksichtigen – nämlich die Überzeugungen über „the ultimate Nature of Things“, die in der Praxis Orientierung bieten.49 Habermas führt vielmehr Bedenken gegenüber dem Pragmatismus an und diese richten sich trotz seiner Zustimmung zur Priorität der Praxis vor der Theorie gegen die Tendenz, relevante Unterscheidungen zu verwischen und nur pragmatisch wirksame Unterschiede zu beachten. Das Misstrauen gegenüber dem ideologischen Missbrauch von abstrakten Ideen wird mit der Ablehnung unbedingter Wahrheitsansprüche verwechselt.50 Er fährt nun bemerkenswerterweise mit folgender Begründung fort: „There is an empiricist undercurrent in Dewey’s and an emotivist undercurrent in James’s thought. Both threaten the Kantian heritage that is saved, in pragmatist translation, by Peirce – and, by the way, by Brandom.“51

Bemerkenswert ist diese Einschätzung insofern, als er zwar mit Dewey und Rorty die „Detranszendentalisierung“ betreibt, die sich von der Einsicht in die Kontingenz jedweder Theoriebildung haben beeindrucken lassen,52 zugleich aber mit Peirce sich dem kantischen Erbe verpflichtet weiß.53 Diese Verpflich-

46 

Habermas, Einleitung, in: WR, 8–12. Joas/Knöbl, Sozialtheorie, 692. 48  Joas, Schritte, 17; vgl. auch die Diskussion in Aboulafia, ‚Habermas‘, zu der Frage, ob Habermas als Pragmatist zu verstehen ist. 49  In: Seibert, Religion, 377; vgl. dort die weiterführenden, maßgeblichen Diskussionen. 50  Habermas, Response, in: Aboulafia, ‚Habermas‘, 228. 51  „My friend Dick Rorty is most Kantian in the seriousness of his ambition to turn those weaknesses into philosophical strengths.“ (Ebd.) 52  „Heute hingegen gerät alles in den Strudel der Kontingenzerfahrung: alles könnte auch anders sein – die Kategorien des Verstandes, die Prinzipien der Vergesellschaftung und der Moral, die Verfassung der Subjektivität, die Grundlagen der Rationalität selber. Dafür gibt es gute Gründe.“ (Habermas, Einheit, in: PT 5, 146) 53  Gegen die Darstellung bei Kettner, Pragmatizismus, in: HH, 26. 47 

50 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens tung äußert sich in seinem Bestreben, an der transzendentalen Fragestellung festzuhalten und die kantische Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft beizubehalten.54 So bleibt die Orientierung an der kantischen Theoriebildung maßgeblich. Die Vernunft soll, so Habermas, skeptisch, aber nicht defätistisch begriffen werden; ihre Einheit wird vor dem Hintergrund ihrer Differenzierungen verstanden.55 Es ist entscheidend für ihn, die theoretische, praktische und ästhetische (aber nicht religiöse!) Vernunft in ihrer Ausdifferenzierung zu verstehen. Diese wird gleichsam zum Kriterium für ein ‚vernünftiges‘ Weltbild erhoben (vgl. II.2.A.i). Gezielt greift er auf Kant zurück, um seine Konzeption der postnationalen Weltordnung differenzierend zu verteidigen (II.3.B). Ebenso gezielt ist der Rückgriff auf Kant, wenn er die postsäkulare Zeitdiagnose begründet und der Religion ihren Platz zuweist (II.3.C). Derweil ist die Orientierung an Kant immer im Sinne einer aktualisierenden Absicht zu verstehen: Sein Ziel ist es, das Konzept der Moderne so zu transformieren, dass der in Kants kategorischem Imperativ zentrale Aspekt der Universalisierung aus der monologischen in eine intersubjektive Verifikation überführt wird.56 Die Philosophie kann, so Habermas, durch ‚monologische‘ Gedankenexperimente keine gehaltvolle Verifikation für alle Lebensbereiche entwickeln.57 Allenfalls ist sie in der Lage, rationale Diskurse zu rekonstruieren und damit normative Kriterien für die institutionellen Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Verständigungsprozesse zu entwickeln.58 Daraus erwächst der Solipsismuseinwand gegenüber Kant:59 Mit der sprachpragmatischen Wende will Habermas das transzendentale Bewusstsein (als Quelle der Konstituierung gesellschaftlicher Beziehungen) durch die Praktiken alltäglicher Kommunikation ersetzen und der Gesellschaft wie zuvor dem Subjekt „den gleichen ‚immanenten Wahrheitsbezug‘ sichern“.60 Zugleich wird der Geltungsanspruch der Vernunft in der Sprache begrenzt, denn die kommunikative Vernunft erkennt ihre eigenen kontingenten Entstehungsbedingungen an, nur die Struktur der sprachlichen Verständigung selbst stellt ein vorgegebenes und nicht erfolgreich zu hintergehendes Prinzip dar.61 54  Bernstein, Neopragmatismus, in: HH, 120. So kann insgesamt behauptet werden, dass es im Pragmatismus um die Aufhebung der Dualismen zwischen praktischer und theoretischer Philosophie zu Gunsten einer „Einheitsphilosophie“ geht (Grube, Pragmatismus, 1552), auch wenn unterschiedliche Einschätzungen bei Dewey, Peirce und James dazu vorliegen. 55  Habermas, Einleitung, in: PT 5, 119. 56  Vgl. II.1.A.i. 57  Vgl. Scarano, Einleitung, 350. 58  Habermas, Versöhnung, in: EA, 65–94; vgl. Fahrenbach, Vernunft, 161–174. 59  Vgl. die Diskussion bei Höffe, Völker. 60  Habermas, Einleitung, in: PT 1, 11. 61  Habermas, Einheit, in: PT 5, 146. Das ‚Nicht-Hintergehbare‘ der Sprache sei zwar universal, habe aber ermöglichenden und nicht repressiven Charakter. Es sei eben ein Missver-

II.1. Intention des Werkes im lebens- und theoriegeschichtlichen Horizont

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Interessant ist nun die Frage, ob Habermas mit Blick auf die leitende Frage nach der Grundlage interkultureller Koexistenz sich eher am Pragmatismus oder an Kant orientiert. Zur Beantwortung eignet sich eine Denkfigur, die in beiden Traditionen, aber mit gänzlich unterschiedlichen Schwerpunkten als Leitperspektive gilt – die Denkfigur des Kosmopolitismus. Diese ist durchaus vielfältig und ihre Geschichte und Begrifflichkeit bedarf im weiteren Verlauf der Arbeit der näheren Explikation und Diskussion (vgl. II.3.A). Hier sind einige Präliminarien von Interesse: Aus der pragmatistischen Tradition ist es John Dewey, der die kosmopolitische Theorie aufnimmt und ihr zugleich eine eigene Richtung gibt. Zu dessen 150. Geburtsjahr hebt Leonard J. Waks diesen eigenständigen Richtungssinn hervor.62 Dewey ist an einer Theorie der Menschheit interessiert, in welcher eben nicht der Abstraktionsgrad ihre Universalität garantiert. Vielmehr ist er praxisorientiert: die Theoriebildung muss hinreichend flexibel sein, um sich den tatsächlichen Bedürfnissen der Praxis fügen zu können. Dewey verwendet für diese Art Theoretiker das Bild eines Schreiners, der seine Ware kunden- und auftragsgerecht anfertigt und sich auf die partikularen Ansprüche vor Ort konzentriert.63 Kosmopolitisch ist dieser Zugang nun insofern, als Dewey in persona und in seinem Werk eine Offenheit für die Welt immer mit dem Interesse am Besonderen und Lokalen verbindet; das eine ist ohne das andere nicht möglich. Plastisch wird dieser bifokale Blick in seiner Demokratietheorie und seiner Ästhetik entwickelt: Die Demokratie ist nicht alleine die Wahl des Einzelnen für die Bestimmung des Ganzen, sondern sie spielt sich in den kommunikativen Beziehungen des Alltags ab, in denen Gemeinschaft immer wieder aufs Neue dynamisiert wird.64 In der Kunst wird eine unmittelbare Verbindung zwischen Menschen verschiedener Kulturen möglich, weil sie eine primäre Erfahrungsebene berührt – während die sprachliche Kommunikation stärker auf reflektierte Elemente angewiesen ist: Aus der Kunst eines uns fremden Volkes eröffnet sich somit ein Zugang zu dessen tiefsten Überzeugungen, die über die rationale Rekonstruktion verloren gehen kann.65 Dass Habermas diesem Ansatz nicht folgt, wird im Folgenden mehr als deutlich, denn der ästhetischen Vernunft wird bei ständnis, wenn die Begriffe des Universalismus und der Einheit nur im Rahmen eines hegelianisch geprägten Denkens verstanden würden. 62  Waks, Inquiry, 96–103. Vgl. auch den anders gelagerten Beitrag von Hansen, ‚Dewey‘, 104–116. 63  „The thinker, like the carpenter, is at once stimulated and checked in every stage of his procedure by the particular situation that confronts him.“ (Dewey, Objects, 177 f.) 64 Hansen, ‚Dewey‘, 108. 65  Dazu müsse der Geist der fremden Kunst erfasst werden, so Dewey, sodass Grenzen und Vorurteile aufgelöst und ein authentischer interkultureller Austausch hergestellt werden könne, welche die eigene Individualität nicht schwäche, sondern erweitere. Diese Art der Begegnung sei viel prägender als rein rationale Begegnungen, weil sie unmittelbar Gefühl und Wille ansprechen könne (in: Waks, Inquiry, 103).

52 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens ihm kein Raum gelassen, das Besondere wird zu Gunsten des Universalen ausgegrenzt und das Rationale zu Lasten einer Theorie des Gefühls betont. Zwar ist bei Habermas wie bei Dewey die Kommunikation konstitutiv für die Integration der (Welt-)Gesellschaft, aber dieser besitzt eine besondere Affinität für das Lokale und Individuelle. Ganz anders als bei Dewey ist die kosmopolitische Theorie von Immanuel Kant ausgerichtet, auf die Otfried Höffe wiederholt aufmerksam macht, indem er Kant mit Blick auf dessen Gesamtwerk kosmopolitisch liest. Bereits die Kritik der reinen Vernunft ist auf eine kulturunabhängige Allgemeingültigkeit ausgerichtet: „Die regelförmige Gesellschaft, welche die regelförmigen Subjekte bestimmen, hat den Rang einer regelförmigen epistemischen Weltrepublik“.66 Die erste kantische Kritik bezweckt mehr als einen Gattungsuniversalismus, mehr als die interkulturelle Anerkennung wissenschaftlicher Standards. Sie will die Bedingungen freilegen, die eine apriorische Begründung dieser Standards möglich machen und derentwegen alle Menschen zum Erkennen der gemeinsamen Welt berufen und befähigt sind.67 Gemäß ihrer weltbürgerlichen Bedeutung befasst sich die Philosophie „mit dem, was jedermann notwendig interessiert“,68 und deshalb muss bereits die Anlage einer Erziehungstheorie kosmopolitisch konzipiert werden: „Soviel ist aber gewiß, daß nicht einzelne Menschen, bei aller Bildung ihrer Zöglinge, es dahin bringen können, daß dieselben ihre Bestimmung erreichen. Nicht einzelne Menschen, sonden die Menschengattung soll dahin gelangen.“69

Wozu ist die Menschheit als Maßstab entscheidend? Erst durch eine kosmopolitische Ordnung wird die einzelne, lokale Ordnung legitimiert. Reinhard Brandt erklärt die kantische Intention so, dass bereits jeder freiheitliche Erwerb von etwas ‚Äußerem‘ als Ideal das öffentliche und weltbürgerliche Recht voraussetzt, denn erst im Horizont eines weltweiten öffentlichen Rechtssystems „findet die im ersten Akt der Besitznahme noch präsente einseitige Gewalt der Vorwegnahme ihr Ende“ – der Erwerb wird durch die Einordnung in den Ganzheitsbezug der Menschheit legitimiert.70 Es ist dann die kantische Friedensschrift, die eine Theorie der internationalen Rechts- und Friedensgemeinschaft ausarbeitet, in der diese Einsichten sozusagen politisch verortet werden. Das Ideal des Kosmopolitismus besitzt zwar im Abendland eine lange Tradition, aber die Ausformulierung dieses Begriffs fehlt bis zu Kant. Erst in seiner Schrift Zum Ewigen Frieden wird der unabdingbare globale Horizont der Rechts- und Politiktheorie begründet: „Für den Kosmopolitismus führt Kant weit mehr als nur 66 

Höffe, Kritik, 342. AaO. 344. 68  Kant, KrV, B 867 FN. 69  Kant, Pädagogik, A 13; vgl. Höffe, Völker, 32. 70  R. Brandt, ‚Habermas und Kant‘, 61. 67 

II.1. Intention des Werkes im lebens- und theoriegeschichtlichen Horizont

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den äußeren Grund an, daß es zwischen- und überstaatliche Rechtsaufgaben gibt. […] Die Leitaufgabe des Rechts wird erst hier realisiert.“71 In summa macht die theoretische und praktische Vernunft uns zu epistemischen und judikativen Weltbürgern, deren Vereinigungspunkt im Ideal des höchsten Gutes gesetzt wird.72 Soll die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht konzipiert werden, muss sie in allen Teilaspekten diese Intention verdeutlichen: „Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1. Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen. Der Philosoph muß also bestimmen können 1) die Quellen des menschlichen Wissens, 2) den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens, und endlich 3) Die Grenzen der Vernunft. – Das letztere ist aber das Nötigste, aber auch das Schwerste […].“73

Kant entwirft eine Topik der wesentlichen Fragestellungen weltbürgerlicher Philosophie. Inwiefern greift Habermas diese Vorlage auf?

II.1.C. Strukturierung des Theorieansatzes Betrachtet man die vielschichtigen theoriegeschichtlichen Hintergründe der habermasschen Konzeption, wird umgehend deutlich, dass diese Arbeit nur einzelne Hinweise zur weiteren historischen Einordnung liefern kann. Denn die Auslegung der kantischen und pragmatistischen Theorieentwürfe ist jeweils in sich umstritten, erst recht in ihrer Verhältnisbestimmung zueinander. Dennoch ist eine Strukturierung des habermasschen Theorieansatzes nun möglich, und zwar in der vorläufigen Abgrenzung von dem kantischen Programm. Auf den ersten Blick scheint die Verwandtschaft zwischen dem habermasschen und dem kantischen Ansatz nahezuliegen – und zwar angesichts der kosmopolitischen Ausrichtung beider Werke am Vernunftbegriff: Dass Habermas eine kosmopolitische Fragestellung verfolgt, ist bereits daran zu erkennen, dass sein Werk von einem starken universalistischen Interesse gekennzeichnet wird, welches die Menschheit als Kommunikationsgemeinschaft begreift. Interessant ist weniger die Frage, ob Habermas sein Werk kosmopolitisch ausrichtet, sondern wie er diesen Begriff definiert. Bevor dieser Frage nachgegangen werden kann (in Kapitel II.3), ist die zentrale Stellung des Vernunftbegriffs zu bedenken. Wie Kant sieht Habermas die Kritik der Vernunft als vornehmlichste Aufgabe der Philosophie (vgl. II.2.B) – also eine Kritik der Vernunft im Sinne genauer Grenzziehungen ihrer Vermögenskraft. Diese Grenzen betreffen die Depotenzierung zweier ihr ursprünglich zugesprochenener Charakteristika, 71 

Höffe, Völker, 30 f. (Hervorhebung im Original), vgl. den gesamten Abschnitt 29 ff. Höffe, Kritik, 342–348. 73  Kant, Logik, A 26. 72 

54 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens nämlich ihrer Tendenz zur Herrschaftlichkeit und Uniformierung. Die Depotenzierung ist für die Inanspruchnahme der Vernunft im Diskurs von großer Bedeutung, sie ermöglicht nämlich ihr eigentliches Konfliktlösungspotenzial herauszustreichen. Dieses Potenzial macht sich daran fest, dass die Vernunft Verbindungen zwischen Rationalitätsaspekten – theoretischen, praktischen und ästhetischen – herstellen kann, ohne sie aneinander anzugleichen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Aufmerksamkeit im Folgenden sowohl auf die Einheitsmomente der Vernunft als auch auf die Grenzen der einzelnen Rationalitätsformen zu richten ist. Letztere werden in den drei Kritiken von Immanuel Kant ausgeführt, der auf die Bestimmung ihrer Grenzen ebenso Wert legt wie auf ihre Einheit. Habermas’ Gliederungsvorschlag der Philosophie in der Theorie des kommunikativen Handelns ist nun im Vergleich bemerkenswert: Er unterscheidet darin das Spektrum der zu bearbeitenden Fragen in die Theorie der Wissenschaft, der sozialen Ordnung und in den Problemkomplex der Ästhetik: Diese drei Fragestellungen sind nach ihren verschiedenen Geltungsaspekten (Wahrheit, Richtigkeit und Authentizität) und Rationalitätsgesichtspunkten (Wahrheit, Gerechtigkeit und Geschmack) zu differenzieren.74 Habermas gilt heute als der bedeutendste Nachfolger Kants in der Aufrechterhaltung dieser Grenzziehungen.75 Einige wesentliche Unterschiede sind dabei festzustellen, aber diese unterstreichen, dass es Sinn macht, sein Werk anhand dieser drei Gesichtspunkte (und der sich an sie anschließenden Frage nach dem Menschen) zu gliedern, denn über die Unterschiede wird das Profil der habermasschen Theorie insgesamt und seines Vernunftbegriffs im Speziellen klarer: Erstens fällt auf, dass Habermas die Frage nach der begründeten Hoffnung wie auch nach den religiösen Geltungsansprüchen ausklammert. Das ist für die Schaffensphase, in der die Theorie kommunikativen Handelns entsteht, kein Zufall, denn dieses Werk ist von der Absicht geprägt, religiöse in moralische Geltungsansprüche zu überführen. Im Verlauf der 90er Jahre und vor allem im Übergang zum 21. Jahrhundert ändert sich diese Ambition in eine Betonung der Koexistenz von Religion und säkularer Vernunft bis hin zur Hoffnung auf ihre Kooperation.76 Sein Verhältnis zur christlichen Tradition bleibt aber ambivalent – wie ein Interview im Jahre 2008 erkennbar macht: „Ich bin alt, aber nicht fromm geworden. Kants eigene Antwort auf die Frage Was dürfen wir hoffen verwischt trotz aller Vorsicht die Grenze zwischen Hoffnung und Zuversicht. Beschränken wir uns auf das Beispiel des höchsten politischen Gutes: Bei allem empirisch begründeten Pessimismus über die Aussichten eines kosmopolitischen Rechtszustandes sollten wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich das Engagement für eine Neue Welt-

74 

Habermas, TkH II, 585; vgl. Reese-Schäfer, ‚Habermas‘, 45 f. Vgl. Welsch, Vernunft, 451–454. 76  Vgl. Diskussion in II.2.C; Trautsch, Glauben, 180 ff.; Düringer, Vernunft, 14. 75 

II.1. Intention des Werkes im lebens- und theoriegeschichtlichen Horizont

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ordnung, zu dem wir uns moralisch verpflichtet fühlen sollen, doch noch lohnen könnte. Aber niemand kann uns dessen vergewissern.“77

Es wird deutlich, dass Habermas die dritte kantische Frage nach der begründeten Hoffnung fest im Blick hat, und zwar hinsichtlich ihrer kosmopolitischen Bedeutung.78 Unscharf scheinen dabei auch Ansätze einer Geschichtsphilosophie durch, aber letztlich bleibt ein merklicher Zwiespalt erhalten: Einerseits beruht sein Engagement für die neue Weltordnung auf dem Erbe der christlichen Ethik,79 andererseits wird eben diese Tradition später als ‚opak‘ dargestellt (vgl. II.2.C). Diese Spannung ist ein Leitmotiv der folgenden Auseinandersetzung. Dabei kommt eine weitere, hier die zweite Dimension des habermasschen Gesamtwerkes in den Blick. Orientiert sich Kant an der Einsicht, dass die Grundfragen seiner Theorie sich zumindest in der Theorie der Urteilskraft, aber offenbar auch in der Anthropologie vereinigen lassen,80 bleiben bei Habermas beide Vereinigungsmomente unterbestimmt. Eine Ästhetik fehlt bei ihm gänzlich, und erst im Horizont der Fragen nach Biogenetik wendet er sich einer Theorie der menschlichen Gattung zu (vgl. II.E). Es wird zu überprüfen sein, ob Habermas aus dieser Theorie Konsequenzen für die Ausarbeitung der anderen drei Fragen (nach dem Erkennen, Handeln und Hoffen) zieht. Otfried Höffe bemängelt jedenfalls mit Recht, dass bei Habermas ein entsprechender einheitlicher Zugriff fehlt.81 Solch ein Zugriff müsste auch die Übergangsmomente zwischen den Diskursen um Wahrheit, Gerechtigkeit und Geschmack bestimmen. Wolfgang Welsch zeigt, wie stark diese Diskurse trotz berechtigter Unterschiede ineinandergreifen: Er verdeutlicht, dass die Ästhetik kognitive und voluntative Elemente beinhaltet, der kognitive Diskurs ästhetische und moralische Aspekte einschließt und schließlich der moralische Diskurs der ästhetischen und theoretischen 77 Habermas,

‚Ich bin alt aber nicht fromm‘, in: Funcken, ‚Habermas‘, 188. Allerdings ist in der Kant-Interpretation ungeklärt, wie diese Frage nach der Hoffnung zu konturieren ist. Während Höffe die Kritik der Urteilskraft aus der Fragestellung ausgrenzt (ders., ‚Kant‘, 246–287), bearbeitet Birgit Recki die Ästhetik und Geschichtsteleologie unter dieser Frage (dies., ‚Kant‘, 783 f.). Letztere Lösung erscheint mir angesichts der verwandten Bezüge sinnvoller. 79  Seine grundlegendsten, universalistischen Intuitionen zum demokratischen und menschengerechten Zusammenleben entstammen der christlich-jüdischen Tradition, deren immer wieder neu interpretierter Gerechtigkeitsvision und Liebesethik: „Dazu gibt es bis heute keine Alternative“ (Habermas, Gespräch, 175). 80 Beide Vereinigungsmomente, vor allem derjenige der Anthropologie, sind in der Kant-Exegese umstritten (vgl. Höffe, ‚Kant‘, 246–287). Aber klar ist, dass Kant ein solches Desiderat empfindet. In der Kritik der Urteilskraft macht er die systematische Notwendigkeit der Berücksichtigung eines weiteren Vermögens neben dem Verstand und der Vernunft i.e.S. geltend und führt den Begriff der Urteilskraft ein, die mit dem Gefühl der Lust und der Unlust die Übergänge zwischen Freiheitsbewusstsein und der Erkenntnis der Natur ermöglichen soll (ders., KU, A XXIII). 81  Vgl. Höffe, Völker, 260. 78 

56 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Überlegungen bedarf.82 Welsch macht darauf aufmerksam, dass für Kant das Ästhetische mehr als ein Ideal ist, weil es konstitutiv für unser Welterkennen und unser Weltverhalten ist.83 Diese Verschränkung steht im offenkundigen Widerspruch zum Anspruch von Habermas, der die ästhetischen Aspekte ausklammert und die praktische Vernunft isoliert behandelt. Diesem Widerspruch gilt es nachzugehen. Schließlich besteht ein wesentlicher Unterschied zu Kant darin, dass Habermas eine paradigmatische Neubestimmung der Philosophie durchführen will, indem er von der Subjektivitätstheorie zum Intersubjektivitätsparadigma zu wechseln beabsichtigt. Dieser Zugriff steht quer zu den genannten Fragestellungen und ermöglicht es, den Beitrag von Habermas zur Themenstellung dieser Arbeit genauer zu betrachten. Zugleich stellen die verschiedenen Paradigmata der Seins-, Bewusstseins- und Sprachphilosophie jedwede Vernunfttheorie vor die Herausforderung, auch die Grenzen und Übergangsmöglichkeiten jener Rationalitätsformen zu bestimmen. Insgesamt lassen sich diese Unterschiede insofern nur vorläufig ausführen, als weder eine eigenständige Kant-Exegese vorgelegt noch eine neue konzeptionelle Synthesis der menschlichen Vermögen bzw. Dispositionen vorgeschlagen werden soll. Alleine der Grundriss macht bereits die Komplexität der Aufgabe deutlich, eine Topik interkultureller Verständigung skizzieren zu wollen. Dieser Hinweis auf die Komplexität ist deshalb unverzichtbar, weil er darauf aufmerksam macht, dass die Übergänge zwischen Rationalitätsformen auch intrakulturell zu beachten sind. Um diese Problemlage schrittweise zu bearbeiten, wird im Kapitel II.2 zunächst Habermas’ Hauptwerk untersucht und dessen Begriff der Vernunft nachgezeichnet. Daraufhin wird in Kapitel II.3 sein Spätwerk betrachtet und darin der Begriff des Kosmopolitischen näher er­läutert.

II.2. Auf der Spur ‚interkultureller Vernunft‘ im Hauptwerk Der Begriff ‚interkulturelle Vernunft‘ bedarf der Präzisierung. Der Einwand könnte nämlich geltend gemacht werden, dass Vernunft per definitionem interkulturell ist, weil sie eine fundamentalanthropologische Disposition beschreibt. Aber diese Definition wird aus drei Gründen derzeit bezweifelt: Zum ersten ist der Begriff der Vernunft im ‚Innenverhältnis‘ umstritten, da dieser in viele Rationalitätsaspekte ausdifferenziert wird. Wie in der Einleitung 82  Welsch, Vernunft, 461–539. Bemerkenswert ist Welschs Einschätzung von Habermas in diesem Zusammenhang, da Welsch dessen Kritik an Nietzsches Ästhetisierungsstrategie selbst als eine „kognitive Majorisierung“, als einen „Kognitivismus“ einordnet (aaO. 532 f.). 83  Welsch, Vernunft, 490.

II.2. Auf der Spur ‚interkultureller Vernunft‘ im Hauptwerk

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beschrieben und von Wolfgang Welsch ausgeführt, ist der Diskurs um die Einheit der Vernunft längst nicht abgeschlossen, sondern verschärft sich weiterhin.84 Auch Habermas besteht auf der Ausdifferenzierung der Vernunftpotenziale, darin liegt gerade ein markanter Beitrag seiner Arbeit: Er fordert die Differenzierung der Geltungsaspekte (Wahrheit, Richtigkeit und Authentizität) als Merkmal der Rationalität eines Weltbildes ein. Wie er trotz dieser Differenzierung die Einheit der Vernunft bestimmt, ist entscheidend für die Bestimmung ihrer grenzüberschreitenden Leistungskraft. Zum zweiten ist die Vernunft im ‚Außenverhältnis‘ strittig, eben in ihrer interkulturellen Anschlussfähigkeit. Gemeint ist der Universalanspruch der Vernunft, der in allen Kulturen anerkannt sein muss, um eine gemeinsame Geltungsbasis und gemeinsame Ordnungskonzeption herstellen zu können. Für Habermas ist die Universalität ein durchgängiges Motiv und er setzt voraus, dass dieser universale Anspruch lediglich in der Abstraktion von dem partikularen Orientierungswissen der Religionen und Kulturen Bestand hat. Die Frage ist, wie dieser Anspruch begründet wird. Schließlich besteht ein Einwand gegen die Kennzeichnung der Vernunft als ‚interkulturell‘, der über die Frage der Anschlussfähigkeit hinausgeht: Georg Stenger, Heinz Kimmerle und Franz Wimmer postulieren, dass die interkulturelle Thematik nicht einfach als ein neues Spezialgebiet des Philosophierens anzusehen sei, sondern dass sie die Philosophie selbst verändere, weil die europäischen Fundamente der Philosophie in Frage gestellt werden und sie entsprechend neue Horizonte gewinne.85 Insofern solle nicht nur das Verhältnis der Kulturen zueinander neu bestimmt werden, sondern die Philosophie sich in der eigenen Begrifflichkeit neu ausrichten oder zumindest kritisieren lassen.86 Zwar gedenkt Habermas diesen Blick für die Selbstkorrektur der Philosophie durch die Perspektive der ‚Anderen‘ zu berücksichtigen, aber die Frage ist, ob seine Konzeption durch diese Perspektive tatsächlich verändert wird. Dieses Kapitel verfolgt somit das Ziel, die Hauptschriften von Habermas daraufhin zu befragen, inwiefern er seinen Vernunftbegriff im Horizont dieser interkulturellen Herausforderung entwickelt – und das Innen- und Außenverhältnis dieses Begriffs auf diese Frage hin klärt. Es gilt dabei, die Reichweite der Vernunft zu bestimmen, die sich für Habermas mit Hilfe des Verständnisses menschlicher Kommunikation vermessen lässt: Inwiefern ermöglicht sie gemeinsames, aufeinanderbezogenes Denken; inwiefern abstrahiert Habermas 84 

Vgl. I.2.C; Welsch, Vernunft, 53–426. Stenger, Philosophie, 14, 23 f.; Wimmer, Philosophie; Kimmerle, Vernunft, 13–34. 86  Kimmerle, Philosophie, 10. „Das soll indessen nicht heißen, in der Philosophie insgesamt gäbe es keine Rang-oder Qualitätsunterschiede. Es ist lediglich gemeint, dass eine Philosophie nicht deswegen einen geringeren Rang einnimmt als eine andere, weil sie geschichtlich gesehen früher ist oder weil sie aus einem anderen Weltteil und einer anderen Kultur stammt.“ (AaO. 131 f.) Vgl. Senghaas, Philosophie, 27–49. 85 

58 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens von den jeweiligen partikularen Daseinsverständnissen? Das Mittel zur Erreichung dieses Zieles besteht hier darin, die vier Strukturierungsfragen, die ich von Kant übernehme, auszuarbeiten und eine Topik der Verständigungsthemen aufzubereiten. Dabei ist bereits an der Reihenfolge der Fragen erkennbar, dass die praktische Vernunft bei Habermas nicht nur den ersten Platz vor der theoretischen und ästhetischen Vernunft einnimmt, sondern dass sowohl die Fragen nach der begründeten Hoffnung wie nach dem Menschen insgesamt kaum eine bedeutsame Rolle spielt. Wird vom habermasschen Hauptwerk gesprochen, ist die Arbeitsphase gemeint, die mit der ‚linguistischen Wende‘ beginnt und in der Theorie kommunikativen Handelns nicht nur den ersten deutlichen Ausdruck findet, sondern auch als ein vorläufiges Ergebnis des Umbruches oder Neuansatzes im Denken von Habermas definiert wird. Zugleich bereitet diese Schrift das Fundament für alle weiteren Arbeiten – bis in die Gegenwart.87 Dazu gehören die moraltheoretischen Publikationen (ED, EA), seine rechtstheoretische Studie (FG), die Aufsätze zur Wahrheitstheorie (ND, WR) und die ersten Antworten auf theologische Fragen.88 Die Publikationen, die seinem dezidierten Interesse an der globalen Interdependenz gelten, welche im nächsten Kapitel diskutiert werden, können deshalb nur auf dem Hintergrund der im Folgenden zu erörternden Werke verstanden werden.

II.2.A. Was sollen wir tun?89 Diese Frage lässt sich bei Habermas nur unter Berücksichtigung der Entwicklung seines Werkes beantworten, denn zunächst legt er die Gesellschaftstheorie, daraufhin die Moral- und schließlich die Rechtstheorie vor. Alle drei Entwürfe stellen eigenständige Vermittlungsversuche zwischen kategorialen, deskriptiven und normativen Aufgaben dar.90 Aber sie stehen in einem engen Zusam87  Diese zentrale Stellung lässt sich auch anhand der fünf Bände PT, die 2009 als Werksüberblick erschienen sind, nachweisen, da Habermas die Auswahl des Kernes seiner Arbeiten mit den Christian Gauss Lectures aus dem Jahr 1971 beginnt (Einleitung, in: PT 1, 9). Diese sind als erster Entwurf von TkH anzusehen (vgl. Horster, ‚Habermas‘, 69). Bemerkenswert ist zudem, dass der Argumentationsgang, den Habermas in der Einleitung nachkonstruiert, immer noch dem von TkH vergleichbar ist (ders., Einleitung, in: PT 1, 11–17). 88  Alleine die Schrift zur Anthropologie (ZmN) kann nicht vor dem Hintergrund von TkH verstanden werden. Insofern ist diese Schrift und dementsprechend die vierte systematische Frage (nach dem Wesen des Menschen) eher als Scharnier zwischen Hauptwerk und Spätwerk zu verstehen. 89  Dass ich hier die Frage, ‚Was soll ich tun?‘, insofern sehr stark ausweite, als ich hier auch die Sozialtheorie berücksichtige, soll nicht als eigenwillige Interpretation Kants verstanden werden. Vielmehr stellt meine Interpretation des haberamsschen Werkes dar, dass die Sozialtheorie einen dezidierten normativen Anspruch besitzt. 90  Gegen Strecker, Gesellschaft, 230 f., der behauptet, Habermas habe komplementär zur Zeitdiagnose in TkH, in der er den „Ist-Zustand“ der Gesellschaft beschreibt, den „Soll-Zu-

II.2. Auf der Spur ‚interkultureller Vernunft‘ im Hauptwerk

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menhang: Die Diskursethik bedarf als Ergänzung der kritischen Gesellschaftstheorie und die Rechtstheorie greift die Überlegungen sowohl zur Moral als auch zur sozialen Ordnung auf. So sind die folgenden Publikationen der Ausdruck dreier grundlagentheoretischer Arbeiten zu den Theorien des Sozialen (i), der Moral (ii) und des Rechts (iii), die gemeinsam die Grenzen der praktischen Vernunft neu vermessen. i. Theorie des kommunikativen Handelns (1981) 91 Ich erläutere zunächst die Ziele dieses Werkes (a) und erarbeite daraufhin dessen Relevanz mit Blick auf die vorliegende Fragestellung (b). a. Methodologie des Werkes als interkulturelle Systematik Es wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass in der Theorie kommunikativen Handelns vier Themenbereiche miteinander verbunden werden: Rationalitäts-, Handlungs- und Ordnungstheorien führen zu einer anschließenden sozialpathologischen Zeitdiagnose.92 So stellt das Werk insgesamt eine Gesellschaftstheorie dar, die auf den Potenzialen der Kommunikation aufgebaut ist:93 „Die Theorie des kommunikativen Handelns soll also eine Konzeptualisierung des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs, die auf die Paradoxien der Moderne zugeschnitten ist, ermöglichen.“ (I, 8)

Anders ausgedrückt: Habermas verbindet das „Grundthema“ der Philosophie, nämlich die Vernunft (I, 15), mit der Zielsetzung der Soziologie, nämlich die angemessene Beschreibung moderner Gesellschaften. Seine Fragestellung lautet, wie die Vernunft im Zusammenleben zu erkennen ist und wie sie sich auf die Entwicklung einer Gesellschaft auswirkt.94 Diese eigentümliche Verschränkung von Philosophie und Soziologie stellt einen zentralen und innovativen Aspekt des Werkes dar: Einerseits will Habermas nicht der traditionellen Vernunftphilosophie folgen, die materiale, ‚ontologische‘ Fragen beantwortet, sondern metaphilosophisch vorgehen und die formalen Bedingungen der Ratiostand“ in FG erörtert. Diese Differenzierung trägt nicht, denn beide Werke verzeichnen beschreibende und bewertende Aspekte. 91  Im Folgenden Seiten im Text mit Band- und Seitenangabe. Alle Titel von publizierten Schriften werden in den Überschriften kursiv und Aufsätze in Anführungszeichen gesetzt. 92  In TkH I nennt Habermas zunächst nur drei Ziele, weil er Handlungs- und Ordnungstheorie in einem Ziel zusammenfasst (8). Später (ders., Dialektik, in: NU, 167–202) werden vier zentrale Motive von TkH benannt: Neben den Theorien der Rationalität, des kommunikativen Handelns und der Moderne steht der Gesellschaftsbegriff, der System- und Handlungstheorie zusammenführt. Vgl. ähnlich: Strecker, Gesellschaft, 220 ff.; Joas/Knöbl, Sozialtheorie, 351–392; Pinzani, ‚Habermas‘, 107 f. 93  Das Ergebnis ist nach Habermas selbst vorläufig: Es sei noch keine „reife Theorie“, sondern er habe „einen theoretischen Ansatz gekennzeichnet“, der „gleichsam radial, in verschiedene Richtungen“ weiterentwickelt werden müsse (ders., Entgegnung, in: Honneth, Handeln, 327). 94  Strecker, Gesellschaft, in: HH, 220 f.

60 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens nalität erläutern. Durchgeführt wird diese Aufgabe, indem nicht eine klassische Erkenntnistheorie, sondern eine empirisch verwurzelte Sozialtheorie ausgearbeitet wird. Andererseits soll gezeigt werden, dass soziologische Grundbegriffe, wie die der Kommunikation und des Handelns, nicht hinreichend verstanden werden können, solange die philosophische Rationalitätsproblematik nicht eingeführt ist.95 Die synthetische, methodologische Leistung des Werkes besteht folglich darin, den internen Zusammenhang zwischen dem Konzept einer sinnverstehenden Soziologie und einem umfangreichen Rationalitätsverständnis herzustellen, indem kommunikatives Handeln und Vernunft aufeinander bezogen werden (I, 170). Die Arbeitsteilung zwischen diesen beiden Disziplinen besteht somit darin, dass die Philosophie gleichsam erfahrungswissenschaftlich geerdet und die Soziologie durch eine Geltungsbasis rational verankert wird.96 Der gesamte Aufbau des Werkes reflektiert dabei den arbeitsteiligen Zusammenschluss zwischen Theoriekonstruktionen und rekonstruktiver sozialwissenschaftlicher Arbeit (II, 587 f.). Eine Abgrenzung wird indes wiederholt vorgetragen: Habermas wehrt sich gegen den möglichen Verdacht, eine Theorie der kommunikativen Vernunft habe eine fundamentalistische Absicht, denn sein formalpragmatischer Ansatz bestehe gerade darin, dass die Vernunft in der Kommunikation inhärent präsent ist – „gewiß nur fragmentarisch und verzerrt“ (I, 9,17). Die von ihm vorgelegte Theoriegeschichte im Zusammenhang eines systematischen Entwurfes ist eine Art universalistischer Test, denn die Rationalitätstheorie soll bereits in der Methodologie diese Kontextlosigkeit gewährleisten: Habermas greift auf möglichst unterschiedlich ausgelegte Theorietraditionen zurück, um dem Vorwurf entgegnen zu können, dass schon in seiner Herangehensweise partikulare Interessen zur Geltung gebracht würden (I, 201 f.). In der Methodik wird somit der Anspruch eines universal gültigen Entwurfes erkennbar – also eine kulturübergreifende Systematik. b. Der universale Begriff kommunikativen Handelns Die Bedeutung der Theorie kommunikativen Handelns für die interkulturelle Interaktion stellt Habermas von Anfang an heraus. Das verbindende Element der verschiedenen Ziele des Werkes ist es nicht, „irgendein[en] Begriff von Rationalität“ zu entwickeln: Die Theorie soll nicht auf eine bestimmte kulturell oder historisch gebundene Perspektive begrenzt werden oder nur eine partikulare Tradition aufarbeiten (I, 197; Hervorhebung im Original). Vielmehr beabsichtigt Habermas, den universalistischen Anspruch der Vernunft programmatisch auszuarbeiten und ihren kulturübergreifenden Geltungsanspruch darzustellen. 95 

Vgl. für diese Einordnung Schnädelbach, Transformation, 17. Aus der Sicht von Habermas stellt sich für „jede Soziologie“ mit gesellschaftstheoretischem Anspruch „das Problem der Rationalität gleichzeitig auf metatheoretischer, auf methodologischer und auf empirischer Ebene“ (TkH I, 23). 96 

II.2. Auf der Spur ‚interkultureller Vernunft‘ im Hauptwerk

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Vorerst wird bei ihm Rationalität auf die Sprach- und Handlungsfähigkeit von Subjekten begrenzt, die in Verfahrensweisen eingebunden sind, welche wiederum objektiv beurteilt werden können (I, 44). Auf eine soziologische Arbeit ist diese Definition nun nicht unmittelbar übertragbar, weil sie individualistisch und unhistorisch ausgerichtet ist. Daher wird im Werk allgemeiner das rationale Verhalten von Gruppen und Individuen untersucht, um die intersubjektive Dimension der Vernunft erkennbar werden zu lassen. Ziel ist es, den im „okzidentalen Weltverständnis“ implizit enthaltenen Anspruch auf „Universalität“ insofern zu rechtfertigen (I, 72), als allgemeine soziale Strukturmerkmale bestimmt werden. Das Rationalitätsverständnis von Habermas setzt also eine bestimmte moderne Ausdifferenzierung der Gebrauchsweisen der Vernunft voraus, die er von undifferenzierten, mythischen Weltbildern absetzt und gegenüber zeitgenössischen Vernunftskeptikern vertritt – der Begriff der Vernunft wird so gegenüber Utilitaristen und Fundamentalkritikern verteidigt. Während erstere die Vernunft auf ihre Rolle in der angemessenen Mittelwahl reduzieren, relativieren letztere sie derart, dass ihr Geltungsanspruch vollständig an partikulare Interessenlagen gekoppelt wird. Dagegen stellt Habermas die kommunikative Vernunft, die weder reduktionistisch noch ideologisch, sondern als umfassend ableitbar und empirisch vorfindbar dargestellt wird.97 In jeder sprachlichen Äußerung, so Habermas, sind drei Geltungsansprüche erkennbar, die den Theorierahmen der Rationalität vorgeben: 1. Wir konstatieren etwas über die Welt und erheben einen Geltungsanspruch auf Wahrheit. 2. Wir regulieren Interaktion und erheben einen Geltungsanspruch auf Richtigkeit. 3. Wir äußern uns über uns selbst und erheben einen Geltungsanspruch auf Wahrhaftigkeit. Nicht nur konstative Äußerungen mit ihren Tatsachenbezügen sind demnach mit einem kritisierbaren Argument verbunden, sondern ebenso die an Normen orientierten Handlungen wie auch die auf Authentizität ausgerichteten Selbstdarstellungen: Alle drei Äußerungsformen können „fehlschlagen“, alle drei sind auf die intersubjektive „Anerkennung eines kritisierbaren Geltungsanspruchs“ angewiesen (I, 35). Im Verlauf des Werkes werden diese drei Ebenen so aufgestellt, dass sie der grammatischen Struktur der Sprache, d.h. konkret der Unterscheidung von 1., 2. und 3. Person entsprechen. Zugleich werden die drei Dimensionen auf die Handlungstheorie bezogen, sodass diese Aufteilung die 97  Ich folge hier Joas/Knöbl, Sozialtheorie, 324 f. Vgl. die spätere Zusammenfassung von Habermas, in der er die Verteidigung der Vernunft gegenüber zwei Varianten einer Versöhnungsdialektik (neoaristotelisch und neohegelianisch) und der neonietzscheanischen Vernunftskepsis anführt (ders., Entgegnung, in: Honneth, Handeln, 337).

62 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Grundlage für einen dreidimensionalen Handlungs- und Rationalitätsbegriff bildet, der insgesamt wie folgt dargestellt werden kann: Person

Welt 98

Geltung

Sprechakt

Handlung

1. 2. 3.

Innenwelt soziale Welt objektive Welt

Wahrhaftigkeit Richtigkeit Wahrheit

expressiv regulativ konstativ

dramaturgisch normenreguliert instrumentell

Tabelle 199

98

Um die Pointe der sich anschließenden Vernunfttheorie zu erfassen, sind zwei im Richtungssinn gegensätzliche Bestrebungen zu verstehen: Einerseits wird die Ausdifferenzierung der drei Rationalitätsmomente als Möglichkeitsbedingung für eine vernunftgemäße Kritik des Zusammenlebens konstatiert (I, 113). Kognitiv-instrumentelle Wahrheit, moralisch-praktische Richtigkeit und ästhetisch-expressive Wahrhaftigkeit werden allerdings von verschiedenen Expertenkulturen und in unterschiedlichen Funktionssystemen gleichsam autonom verwaltet: in Wissenschaft, Moral, Recht und Kunst. Andererseits ist die einheitsstiftende Funktion der Vernunft zu beachten. Wird nur die Differenzierung vorangetrieben, führt sie zur Auszehrung der Lebenswelt und zur Diffusität des Miteinanders. Die verschiedenen Rationalitäts- und Geltungsansprüche können und müssen als Einheit in der Differenz betrachtet werden. In der Vermittlung dieser Einheit besteht die Aufgabe der kommunikativen Vernunft. Diesen zwei Momenten ist nun präziser nachzugehen. Auf der einen Seite steht die einheitsstiftende Kraft der kommunikativen Vernunft: Habermas beabsichtigt mit seiner Theorie den Nachweis zu führen, dass die Differenzierung von drei Rationalitätsformen (der theoretischen, praktischen und ästhetischen Vernunft) nicht zur Inkommensurabilität zwischen ihren Geltungsansprüchen führt. Denn die differenzierten Geltungsbereiche (Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit) gehören zusammen; in jeder Äußerung sind alle drei zu identifizieren. Innerhalb eines umfassenden Rationalitätsbegriffs müssen deshalb nicht nur die angesprochenen Unterscheidungen vollzogen, sondern die drei Geltungsansprüche im Zusammenhang betrachtet werden. Dieser wird auf diskursive Weise hergestellt. Die Einheit wird durch die Kommunikation der Subjekte und durch die Kommunikation zwischen den Rationalitätsmomenten gleichermaßen erreicht.100 Wie komplex diese einheitsstif  98 Im Folgenden wird noch die entscheidende Welt des kommunikativen Handelns (TkH I, 128) eingeführt, die diese ersten drei Welten umgreift oder verschränkt.  99  Diese Tabelle ist eine um die fünfte Spalte erweiterte Darstellung von Horster, ‚Habermas‘, 79. 100  Auf diese durchaus nicht leicht eingängige Verdoppelung der Kommunikationsauf-

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tende Rolle der Vernunft ist, die Habermas vorschlägt, zeigt sich an seinen theoriegeschichtlichen Auseinandersetzungen mit so unterschiedlichen Autoren wie Peter Winch und Max Weber. Denn er muss seine These gegen die vorgebrachte kulturbezogene Partikularisierung der Rationalität ebenso verteidigen wie gegen den Instrumentalisierungsvorwurf der alles verfügbar-machenden Vernunft und schließlich gegen die Behauptung der unversöhnlichen Verselbstständigung der Subdimensionen zweckrationalen Handelns. Besonders herausfordernd ist die Verschränkung dieser Bedenken (vgl. I, 337). Dieser komplexen Diskurslage hält Habermas wiederholt den schlichten Grundgedanken entgegen, dass im kommunikativen Handeln die Einheit von verschiedenen Rationalitätsdimensionen implizit gegeben ist und in der kommunikativen Vernunft thematisiert werden kann, sodass es keineswegs notwendig ist, von einer inkommensurablen Pluralität von Geltungs- und Wertsphären auszugehen. Allerdings wird der Verlust der substanziellen Einheit der Vernunft dort sichtbar, wo sie instrumentell und strategisch eingesetzt wird. Und die Unvereinbarkeit verschiedener partikularer Inhalte darf nicht mit der Inkompatibilität formaler Maßstäbe verwechselt werden:101 „Geltungsansprüche können grundsätzlich kritisiert werden, weil sie sich auf formale Weltkonzepte stützen. Sie präsupponieren eine für alle möglichen Beobachter identische bzw. eine von den Angehörigen intersubjektiv geteilte Welt in abstrakter, d.h. von allen bestimmten Inhalten losgelöster Form.“ (I, 82; Hervorhebung im Original)

Das Kriterium der Formalität wird durch die Prozeduralität der kommunikativen Vernunft näher bestimmt, in den Verfahren also, in denen Inkohärenz, Widersprüche und Dissens bearbeitet werden (I, 110). Diese Art und Weise des Umgangs ist kommunikativ, sie ist weder strategisch – also instrumentell –, noch ist sie monologisch – also solipsistisch –, sondern sie ist auf Verständigung ausgerichtet. 102 gabe bei Habermas macht Welsch aufmerksam, denn Habermas sieht analog zur intersubjektiven Kommunikation die Aufgabe der Vermittlung zwischen den Rationalitätsmomenten. Für Welsch ist zwar die zweite Form maßgeblich (ders., Vernunft, 126), aber weder er noch Habermas klären, wie diese zusammenhängen. 101  Vgl. die famose Frage Max Webers, ob die unterschiedlichen Wertungen von Deutschen und Franzosen auf verschiedene „Götter“ zurückzuführen seien, die niemals objektiv beurteilbar wären (Habermas, TkH I, 340). 102  Vgl. Lafont, Objektivität, 197 ff.; dies., Handeln, 333. Habermas zitiert an anderer Stelle Mead auf zustimmende Weise, der das rationale Verfahren als Einlösung des kategorischen Imperativs aufzeigt: „In logical terms there is established a universe of discourse which transcends the specific order within which the members of the community, in a specific conflict, place themselves outside of the community order as it exists, and agree upon changed habits of action and a restatement of values. Rational procedure, therefore, sets up an order within which thought operates; that abstracts in varying degrees from the actual structure of society“ (Mead in: Habermas, TkH II, 144 f., Hervorhebung im Original). Das moralisch urteilsfähige Subjekt kann demnach nicht für sich, sondern nur in Gemeinschaft mit allen

64 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Auf der anderen Seite sind die Differenzierungen im Rationalitätsbegriff für den nachvollziehbaren, kulturübergreifenden Umgang unverzichtbar: Universalistisch ist der von Habermas eingeführte Begriff der Rationalität, so ist eben erläutert worden, hinsichtlich der formalen, prozeduralen Verständigung über die erhobenen Geltungsansprüche, aber nicht hinsichtlich der Inhalte selbst. Um diese Verständigung zu gewährleisten, müssen Habermas zufolge ‚mythische‘ Weltbilder Vorleistungen erbringen, denn sie bilden keine hinreichende Differenzierung zwischen den grundlegenden Einstellungen zur objektiven, sozialen und subjektiven Welt. Zudem wird die Schwierigkeit angeführt, dass Mythologien sich nicht „als Weltbild, als kulturelle Überlieferung“ identifizieren können und somit nicht reflexiv mit ihrer eigenen Kultur umgehen (I, 85, Hervorhebung im Original). Die habermasschen Forderungen sind entsprechend weitreichend: 1. Weltbilder müssen die Differenzierung in propositionale Wahrheit, normative Richtigkeit und subjektive Wahrhaftigkeit vollziehen, weil nur diese Teilaspekte „einer objektiven Beurteilung zugänglich sind“; 2. Weltbilder müssen ein reflexives Verhältnis und offene Kritik zu ihrer eigenen Kultur zulassen, damit alternative Deutungen analysiert und „argumentativ gefilterte Lernprozesse“ eingeführt werden können; 3. diese Lernprozesse in den verschiedenen Geltungssphären müssen wiederum zu ausdifferenzierten gesellschaftlichen Institutionen führen: des Rechts, der Moral, der Wissenschaft und der Kunst. In diesen kulturellen Subsystemen können sich „durch Dauerkritik verflüssigte, aber zugleich professionell abgesicherte Traditionen bilden“; 4. schließlich müssen diese Subsysteme vom kommunikativen, verständigungsorientierten Handeln entkoppelt werden, um z.B. eine rationale Bürokratie und Wirtschaft zu ermöglichen (I, 109).

Zwar können Weltbilder selbst nicht objektiviert werden, sie legen aber dafür den interpretatorischen Rahmen fest und sind durch ihren Totalitätsbezug nicht für argumentative Beurteilungen zugänglich. Die Idee der Wahrheit darf aber nicht partikularistisch verstanden werden: In allen Sprachsystemen geht man von der Voraussetzung aus, dass Wahrheit ein universaler Geltungsanspruch ist. Wird eine Aussage als ‚wahr‘ identifiziert, verdient sie in jedweder Sprache und Kultur Zustimmung und insofern können Weltbilder entsprechend ihrer „kognitive[n] Angemessenheit“ beurteilt werden (I, 93).103 Deshalb meint Habermas, aus der formalen Vernunft auf die Vergleichbarkeit aller Kulturen schließen zu können.104 übrigen Betroffenen prüfen, ob eine Norm „im allgemeinen Interesse ist und gegebenenfalls soziale Geltung“ haben soll (Habermas, TkH II, 145). 103  Diese Wahrheit lässt sich anhand von wissenschaftlicher Rationalität, die zu „einem Komplex kognitiv-instrumenteller Rationalität“ gehört, verbürgen (Habermas, TkH I, 101). 104 Horster, ‚Habermas‘, 76. Dabei ist zu bemerken: Bereits der verkürzte Begriff von Rationalität kann Universalität beanspruchen. Diese Bürde trägt die ‚kommunikative Vernunft‘

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Er ist sich dabei bewusst, dass weitere diffizile Begründungsarbeit erforderlich ist, wenn er für diese Theorie der Rationalität Allgemeingültigkeit beansprucht. Das Gewicht dieser Beweislast wird vor allem deutlich, wenn die Gegensätze zwischen den verschiedenen Weltreligionen und Weltkulturen beachtet werden. Aber letztlich begegnet einem, so Habermas selbstkritisch, auch im Rahmen der abendländischen Moderne eine Vielfalt von Überzeugungen, aus denen „sich ein universeller Kern nicht so ohne weiteres herausschälen läßt“ (I, 199). Es bleibt in diesem Werk letztlich offen, wie er dieses Problem zu lösen gedenkt. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass bei Habermas keine Reflexion darüber stattfindet, dass dieses Werk auf den Rationalitätsbegriff ausgerichtet ist. So kritisiert Hans Joas zu Recht dessen Handlungstheorie, weil Habermas der „phänomenalen Vielfalt“ von Handlungen nicht gerecht wird,105 sondern sich lediglich am rationalen Handeln orientiert. Es fehlt die expressivistische Dimension des Handelns, die im Pragmatismus in der Betonung kreativer Problemlösung und in der Beachtung künstlerischer und spielerischer Züge des Handelns ausgearbeitet worden ist. In der Tat wird der Kommunikationsprozess von der Rationalitätsfrage vollständig überlagert,106 und Ästhetik und Authentizität werden im restlichen Werk kaum weiter berücksichtigt.107 Joas betont deshalb den situativen Charakter, die Körperlichkeit und Kreativität allen Handelns: Sowohl der Pragmatismus als auch die Phänomenologie machen darauf aufmerksam, so Joas, dass die Zwecke und Ziele des Handelns nicht immer schon von vornherein feststehen, sondern dass sie in den jeweiligen Situationen erst gefunden werden.108 Die Wahrnehmung und Erkenntnis der Ziele geht demnach nicht dem Handeln voraus, sondern ist eine Phase des Handelns selbst – aber eben als „Resultat einer Reflexion auf die in unserem Handeln immer schon wirksamen“ Intentionen.109 Aus der Kritik an der Handlungstheorie folgt für Joas auch eine Kritik an den makrosoziologischen Bestimmungen in TkH: Grundsätzlich müssen auch in kollektiven Prozessen neben rational formulierten Zielen und kontemplativ bestimmten Werten die kreativen, neuen und im Handlungsvollzug entstehenden Lösungen und Veränderungen beachtet werden.110 Joas kritisiert zudem, dass Habermas in TkH verschiedene Theoriedimensionen unabdingbar miteinander verbindet, nämlich die metatheoretinicht alleine. Sie wird vielmehr als Vollenderin der bereits universalen Vernunft aufgebaut. Vgl. die Ausführung in II.2.B.ii.a. 105  Joas, Ehe, 149; vgl. auch ders., Kreativität; Sozialtheorie, 335. 106  Vgl. die Kritik unter II.2.B.ii.b. 107  Vgl. Strecker, Gesellschaft, 223. 108  Joas, Ehe, 177. 109  Joas, Kreativität, 232. Hinzu komme, dass viele Handlungstheorien davon ausgingen, dass der Körper kontrolliert werden könne. Joas dagegen verdeutlicht mit Rückgriff auf Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty und George Herbert Mead, dass die Handlungsfähigkeit eng mit dem in der Kindheit konstituierten „Körperschema“ oder „Körperbild“ zusammenhängt (aaO. 257). Dieses Bewusstsein des Körpers sei präreflexiv präsent, werde aber intersubjektiv konstituiert (ders., Sozialtheorie, 714–716). 110  AaO. 717 f. Deshalb übt Joas scharfe Kritik (in Anlehnung an Castoriadis, Beck und Giddens) am Funktionalismus: Es seien immer Akteure und nicht die Eigenlogik eines Systems, die kreative Lösungen und Veränderungen hervorbringen.

66 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens schen Probleme des Handelns und der sozialen Ordnung mit aktuellen Zeitdiagnosen. Diese Zwangsläufigkeit bezweifelt Joas und behauptet, dass die Problemkomplexe so unterschiedlich sind, dass die Beantwortung des einen nicht Schlussfolgerungen für einen anderen Komplex erzwingt.111 Habermas verbindet nämlich zwei aus unterschiedlichen Traditionen stammende Ordnungsbegriffe: den Begriff der Lebenswelt, der aus der Phänomenologie entlehnt ist,112 und den Systembegriff, den Habermas funktionalistischen Diskursen entnimmt.113 Diese „Ehe“ aus Hermeneutik und Funktionalismus ist „unglücklich“, weil sie theoretische Probleme übersieht.114 Joas zielt darauf ab, die Notwendigkeit der funktionalistisch-systemtheoretischen Dimension sozialer Ordnung zurückzuweisen.115 Habermas erzeugt nämlich den Eindruck, als sei es die Begrenztheit der Handlungstheorie, welche zum Übergang zu funktionalistischen Systemkonzeptionen nötigt. Für Joas dagegen ist es entscheidend zu zeigen, dass die Handlungstheorie nicht in einem Konkurrenzverhältnis zur Ordnungstheorie steht, 111 

Joas, Ehe, 172. Mit dem Begriff Lebenswelt ist der „‚unbefragte Boden aller Gegebenheiten sowie der fraglose Rahmen, in dem sich mir die Probleme stellen, die ich bewältigen muß‘“ gemeint (TkH II, 199, mit Zitat von A. Schütz/Th. Luckmann), sie ist eine gemeinsame Norm, ein Übereinkommen oder eine Kultur, auf die sich alle Individuen beziehen. „Einzelne Elemente, bestimmte Selbstverständlichkeiten werden aber erst in der Form eines konsentierten und zugleich problematisierbaren Wissens mobilisiert, wenn sie für eine Situation relevant werden“ (aaO. 189, Hervorhebung im Original). Allerdings will sich Habermas von dem transzendentalen Lebensweltbegriff der Phänomenologie abgrenzen und zu einer Objektivierung der Teilnehmerperspektive kommen, die allerdings zu erheblichen Problemen führt: „Auch für den Menschen Jürgen Habermas ist die ihn umgebende Lebenswelt, die den Horizont seiner Erkenntnis bildet, grundsätzlich der vollständigen Thematisierung oder Überschaubarkeit entzogen. Die Einsicht in strukturelle Komponenten der Lebenswelt kann deshalb nicht bruchlos in Annahmen über Ausdifferenzierung und strukturelle Rationalisierung der Lebenswelt übergehen.“ (Joas, Ehe, 201, vgl. 205) 113  Systeme bilden für Habermas nicht den Willen von Individuen ab, sondern stellen ein Regelsystem dar, welches das nicht-beabsichtigte Ergebnis vieler verschiedener handelnder Individuen ist. Er hat den Systembegriff aus der Auseinandersetzung mit Luhmann übernommen. Zudem hat er die parsonssche Verschränkung von einer ‚normative order‘ und einer ‚factual order‘ als Interaktionsformen auf seine Definitionen von ‚Lebenswelt‘ und ‚System‘ übertragen.   Seine Auseinandersetzung mit Luhmann geht auf das Jahr 1971 zurück und wurde in der Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie in einer Reihe von Aufsätzen herausgegeben. Die Kritik von Habermas an Luhmann ist es, dass seine Systemtheorie der Gesellschaft eine Weiterführung der von Habermas kritisierten positivistischen Sozialtheorien darstelle: Luhmann arbeite in einem sozialtechnologischen Paradigma, welches nicht nur eine entpolitisierende Tendenz habe, sondern damit auch jegliche Demokratisierungs- und Emanzipations­ ideale aufgebe (Habermas, TGS, 145; vgl. LS als Weiterentwicklung). Luhmann dagegen sieht sich von Beginn an als Teil des Aufklärungsprozesses, aber er nennt sein Programm „Abklärung über Aufklärung“, eine Entlarvung der Ideale und eine Offenlegung der tatsächlichen komplexen Machtverhältnisse und der innersystemischen, selbstregulierenden bzw. „autopoietischen“ Komplexitätsreduktion und Problemlösungskapazität (ders., Aufklärung, 66–91; vgl. Horster, ‚Habermas‘, 37 f.). Er stellt Habermas demgegenüber als ideenkonservativ dar, der die Illusionen über normative Gesellschaftstheorien aufrechterhalte (vgl. Joas/ Knöbl, Sozialtheorie, 351–392). 114  AaO. 339. 115  Joas, Ehe, 192. 112 

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denn jede Handlungstheorie besitzt zumindest implizit entsprechende ordnungstheoretische Annahmen. Für ihn ist die funktionalistische Systemtheorie folglich nur ein metaphorischer Vorschlag zur Lösung der ordnungstheoretischen Problematik. „Sie ist dies aber eben nicht wegen prinzipieller Leistungsgrenzen der Handlungstheorien“, vielmehr muss ihre Überlegenheit „gegenüber anderen ordnungstheoretischen Modellen“ erwiesen werden; diese Begründung sieht Joas weder bei Habermas noch bei Luhmann durchgeführt.116

Insgesamt mag mit einigem Recht bezweifelt werden, ob die Begründung einer umfassenden Gesellschaftstheorie überhaupt noch möglich ist: „Angesichts gesteigerter gesellschaftlicher Komplexität traut sich heute kaum noch jemand zu, das Ganze in den Blick zu nehmen.“117 An die Stelle der Gesellschaftstheorie treten nun Sozialtheorien, die Begrifflichkeiten der empirischen Forschung theoretisch auf- und nacharbeiten. Auf der interkulturellen Ebene verschärfen sich diese Probleme, denn die Beschreibung und Bewertung politischer oder kultureller Entwicklungen kann sich nicht mehr an den präsumtiven Erwartungen der Staatsbürger einer Nation ausrichten. Zugleich fehlen entsprechende alternative Begriffe für Vergemeinschaftungen auf der europäischen und internationalen Ebene. Jedenfalls steht die Gesellschaftstheorie vor der Herausforderung, diesen heterogenen und zugleich interdependenten transnationalen Gebilden gerecht zu werden.118 Trotz dieser Bedenken ist festzuhalten, dass Habermas die Grundfragen einer Gesellschaftstheorie auf innovative Weise beantwortet und wesentliche Impulse für die Entwicklung der Sozialwissenschaften liefert.119 Im kommunikativen Handeln wird eine Interaktion ermöglicht, die den ausdifferenzierten Geltungsansprüchen ihre Eigenständigkeit belässt, ohne sie der Inkommensurabilität preiszugeben: Durch die kommunikative Vernunft, die dieses Handeln explizit thematisiert, besteht die Möglichkeit der Verständigung über Grenzen hinweg und Übergänge zwischen den Rationalitätstypen werden nachvollziehbar.120 Kommunikation ist sozusagen das entscheidende 116  AaO. 185. Joas begründet die Kritik an Habermas, indem er aufzeigt, wie Habermas Alternativansätze nicht hinreichend beachtet (aaO. 187–192). So gebe es bei Anthony Giddens die Möglichkeit, soziale Ordnung als Resultat von Aushandlungsprozessen und eines kollektiven Willens zu verstehen (aaO. 197). 117  Strecker, Gesellschaft, 221. 118  Vgl. G. Wagner, Herausforderung; Soeffner, Zukunft. 119  Vgl. die dementsprechende Würdigung durch Rosa, Gesellschaft, 317–320, der auf folgende, grundlegende Fragen hinweist, auf die Habermas eine Antwort liefert: Wie ist Gesellschaft möglich, was ist sie, wie verändert sie sich und wie lässt sie sich steuern? 120  Will man den emanzipatorischen Anspruch der kritischen Theorie aufrechterhalten, ohne hinter die habermassche Neujustierung zurückzufallen, werden sich Philosophie, Gesellschaftstheorie und Sozialwissenschaften verstärkt dem nur gemeinsam zu bewältigenden Projekt zuwenden müssen. Diese Verbindungsleistung ist das große Verdienst der TkH – sie unter veränderten Bedingungen erneut anzugehen, wäre die Aufgabe für heute, so Celikates/ Pollmann, Baustellen, 97–113.

68 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens ‚Bindemittel‘ für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, welches Habermas im Verlauf der Werksentwicklung konkretisieren wird (indem er den Funktionssystemen des Rechts, der Zivilgesellschaft und überraschenderweise der Religion besondere Aufmerksamkeit erweist). Die Erkenntnis, dass im kommu­ nikativen Handeln ein Vernunftpotenzial inhärent gegeben ist, welches jederzeit entfesselt werden kann, bleibt die kulturübergreifende Leistung dieser Theorie. ii. „Treffen Hegels Einwände gegen Kant auf die Diskursethik zu?“121 (1985) Diese Fragestellung dient hier als programmatische Überschrift für die habermassche Moraltheorie der 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Denn es soll deutlich werden, wie sich das Schwergewicht seiner Forschung nach der Abfassung der Theorie des kommunikativen Handelns zur Philosophie hin verlagert und somit Probleme aus dem deutschen Idealismus wieder im Mittelpunkt stehen.122 In dem hier zu behandelnden Text findet sich weniger eine Exegese kantischer und hegelscher Ausführungen als vielmehr eine Gegenüberstellung von zwei Prototypen moraltheoretischer Argumentation, die Habermas miteinander zu verschränken beabsichtigt. Deshalb ziehe ich andere Texte heran, vor allem die Replik auf Einwände zur Diskurstheorie (ED 123), die als eigenständiger Beitrag gewertet wird. Ich entscheide mich gegen die Auseinandersetzung mit dem grundlegendsten Text zu seiner Theorie (Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm aus dem Jahr 1983),124 weil dieser sich hauptsächlich auf die Auseinandersetzung zwischen Kognitivisten und Skeptizisten beschränkt und somit nicht die Nuancen der folgenden Diskussion wiedergibt.

Habermas führt vier Einwände Hegels gegen Kant an, beginnt aber damit, die Unterschiede zwischen Kant und der Diskursethik in aller Kürze zu erläutern. So übernimmt er nicht die Zwei-Reiche-Lehre Kants, die zwischen dem Reich des Intelligiblen (Pflicht, freier Wille) und dem Phänomenalen (Neigungen, Institutionen) differenziert. In der Diskursethik wird dieser „Hiatus“ in die Spannung „der faktischen Kraft kontrafaktischer Unterstellungen“ der kommunikativen Praxis überführt.125 Zweitens will die Diskursethik die monologische durch die intersubjektiv verfasste Begründungsstruktur ablösen (wie bereits in Kapitel I.1 ausgeführt). Drittens wird in der Diskursethik die Pflicht nicht durch

121 

In: ED, 9–30, und wiederabgedruckt in: PT 3, 116–140. Unterschied zur Linie von Marx über Weber bis Mead und Parsons in TkH wird hier eine neue Diskussion eröffnet. Habermas stellt sich nun einer philosophischen Debatte, während vorher ein interdisziplinärer Kontext vorherrschte (auch aus beruflichen Gründen, denn er zieht vom MPI zurück in das Philosophische Seminar in Frankfurt a.M., vgl. Habermas, Einleitung, in: PT 3, 15). 123  In: ED, 119–226, und wiederabgedruckt in: PT 3, 179–301. 124  In: MB, 53–126, und wiederabgedruckt in: PT 3, 31–115. 125  Habermas, Einwände, in: PT 3, 128 f. 122  Im

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ein Postulat – „der Erfahrung des Genötigtseins durch Sollen“ – sondern durch die in Argumentationen vorausgesetzten Geltungsansprüche begründet.126 a. „Zum Formalismus des Moralprinzips“127 Der vordergründige Einwand Hegels lautet, dass der kategorische Imperativ zu tautologischen Ergebnissen führt, weil und wenn er von allen bestimmten inhaltlichen Handlungsmaximen und Pflichten abstrahiert.128 Habermas hingegen besteht auf einer rein formalistischen Lesart der Diskursethik: Unter den Bedingungen nachmetaphysischen Denkens kann es nicht mehr um einen inhaltlichen Konsens gehen, sondern lediglich um die Festsetzung formaler Voraussetzungen. Habermas entscheidet sich deshalb für eine folgenreiche Differenzierung zwischen Ethik und Moral, denn der moralische Gesichtspunkt liegt seiner Meinung nach auf einem formalen Reflexionsniveau, die ethische Frage bezieht sich dagegen auf materiale Überzeugungen:129 „Weil es in substantiellen Fragen keine ‚letzten‘ Evidenzen und keine ‚schlagenden‘ Argumente gibt, müssen wir auf Argumentationen als Verfahren rekurrieren, um aus dessen Pragmatik zu erklären, warum wir uns überhaupt zutrauen dürfen, transzendierende Geltungsansprüche zu erheben und einzulösen.“130

Er verteidigt den Formalismus also in prozeduralistischer Lesart, wie er in seiner Auseinandersetzung mit John Rawls ausführt: Bei Rawls steht die Einigung auf einer unverrückbaren Basis einer Gerechtigkeitskonzeption im Mittelpunkt, die sich aus dem „overlapping consensus“ ergibt, dem alle zustimmen können.131 Er geht davon aus, dass Parteien im „Urzustand“ bestimmte Grundgü126 

AaO. 129.

127 Ebd.

128  Hegel, Behandlungsarten, 460. Habermas entgegnet, dass dieser Einwand, sobald er über die Semantik hinaus auf die Alltagspraxis angewandt wird, entkräftet werden kann, weil es nicht um grammatische Konsistenz, sondern um vorgefundene Konflikte geht. 129  „Dabei nenne ich ‚ethisch‘ alle die Fragen, die sich auf Konzeptionen des guten oder nicht-verfehlten Lebens beziehen. Ethische Fragen lassen sich nicht unter dem ‚moralischen‘ Gesichtspunkt beurteilen, ob etwas ‚gleichermaßen gut für alle‘ ist; die unparteiliche Beurteilung dieser Fragen bemißt sich vielmehr, auf der Basis starker Wertungen, am Selbstverständnis und dem perspektivischen Lebensentwurf partikularer Gruppen, als an dem, was aus ihrer Sicht aufs Ganze gesehen ‚gut ist für uns‘.“ (Habermas, Anerkennungskämpfe, in: Taylor, Multikulturalismus, 165) 130  Habermas, Erläuterungen, in: ED, 165. 131  John Rawls stellt die politische Philosophie und Vertragstheorie, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch utilitaristische, positivistische und kulturrelativistische Tendenzen aus der Mode gekommen war, in den Mittelpunkt seiner Arbeit (vgl. Kersting, Politik, 259 ff.). Er setzt ein rationales Interesse an der Gerechtigkeitssuche voraus und geht von einem Prozess aus, in dem die Gerechtigkeit aus einer egalitären Position bestimmt werden soll: Unter dem Schleier des Nichtwissens und dem Gedankenexperiment einer fiktiven Wahl soll ein (Ur)-Zustand der Unparteilichkeit hergestellt werden, um gerechte Ordnungen und Regeln zu generieren (Rawls, Gerechtigkeit, 178–181). Bei den Beteiligten bestehen dabei Kenntnisse über Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme sowie menschliche Bedürfnisse, aber

70 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens ter vorziehen würden, wie die fundamentalen Freiheitsrechte (vgl. weiter II.3.A und II.3.D.ii).132 Habermas bemängelt dabei, dass Rawls material gefüllte Gerechtigkeitsprinzipien formuliert, die nicht rein prozedural bestimmbar sind.133 Dagegen macht Habermas alle diese Grundsatzfragen dem öffentlichen Diskurs zugänglich.134 Einerseits ist Habermas zuzustimmen: Eine Moraltheorie muss hinreichend formal sein, um die egalitäre Abstimmung zwischen den Betroffenen erklären zu können; eine Abstimmungsebene also, die allen zugänglich ist. Daher liegt in seiner Konzeption gegenüber dem rawlsschen Programm ein entscheidender Vorteil, weil die Diskursgrundsätze prozeduralistisch weiterentwickelt werden können. Thomas McCarthy zeigt, dass Habermas das Problem, ein gemeinsames Fundament des Zusammenlebens zu finden, den jeweiligen Betroffenen selbst übergibt.135 Habermas, so McCarthy weiter, will gerade durch diese Aufgabenverlagerung von der Theorie in die Praxis nachweisen, dass die „grundlegenden moralischen Intuitionen“ kulturunabhängig diskursiv eingelöst werden können:136 Das Moralprinzip eröffnet im Diskurs die Perspektive der Universalität, es bezieht sich auf die ganze Menschheit als Kommunikationsgemeinschaft. Insofern überschreitet es die kontingenten, historisch gegebenen und kulturell ausgehandelten Grenzen.137 Der moralische Gesichtspunkt des Diskurses haftet demzufolge nicht an kulturell geprägten partikularen Lebensgewohnheiten:138 „Gerechtigkeit ist nichts Materiales, kein bestimmter ‚Wert‘, sondern eine Dikeine Kenntnis über die eigene Situation (materiell, genetisch, sozial) in der zu entwickelnden Gesellschaft. Unter dem größtmöglichen Maß an gleichen Grundfreiheiten sollen soziale Ungleichheiten nur dann legitim sein, wenn die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder davon profitieren. Die unveräußerlichen Grundrechte sind Gedanken- und Gewissensfreiheit, das Recht auf Leib und Leben, psychische Unversehrtheit und aktives und passives Wahlrecht (ders., Verteilungsgerechtigkeit, 365). Sein Differenzprinzip besagt, dass (nach der Zustimmung jedes Bürgers) vom sozialen Egalitarismus nur abgewichen werden darf, wenn jede einzelne Person davon Vorteile hat (aaO. 364). Der Schlüssel dabei liegt in den gesellschaftlichen Institutionen, die den Wettbewerb sichern, für Vollbeschäftigung sorgen, das soziale Minimum und die langfristige Erhaltung der Gesellschaft beachten (aaO. 370). 132  Rawls, Liberalism, 176. 133  Habermas, Reconciliation, 130 f. 134  „Eine solche prozeduralistisch angelegte Moral- und Rechtstheorie […] kann mehr Fragen offenlassen, weil sie dem Prozeß einer vernünftigen Meinungs- und Willensbildung mehr zutraut. Bei Rawls sind die Gewichte anders verteilt: während es der Philosophie vorbehalten bleibt, die konsensfähige Idee einer gerechten Gesellschaft zu entfalten, benutzen die Bürger diese Idee als Plattform, von der aus sie die bestehenden Einrichtungen und Politiken beurteilen. Demgegenüber schlage ich vor, daß sich die Philosophie auf die Klärung des moralischen Gesichtspunkts und des demokratischen Verfahrens, auf die Analyse der Bedingungen für rationale Diskurse und Verhandlungen beschränkt.“ (Habermas, Versöhnung, in: EA, 93) 135  McCarthy, Konstruktivismus, 947 f. 136  AaO. 934. 137  Habermas, in: FG, 113. 138  Habermas, Erläuterungen, in: ED, 199 ff.

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mension der Gültigkeit.“139 Und zwar ist diejenige Geltungsdimension im Blick, welche die Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen findet – dies ist der ‚moral point of view‘ der gegenseitigen Perspektivenübernahme. Andererseits gibt Habermas zu, dass die Begründung für diese Formalisierung der Diskursethik „bisher nicht befriedigend gelungen“ ist und in diesem weiten Sinne behält Hegel mit seinem Formalismuseinwand Recht.140 In seiner Auseinandersetzung mit Charles Taylor erläutert Habermas dieses Problem, indem er zeigt, dass die Diskursethik selbst auf substanziale Hintergrundannahmen angewiesen ist:141 Erstens besteht die Annahme, dass Moral auf intersubjektive Relationen und nicht auf individuelle Güter bezogen ist. Zweitens wird die Moral auf ihren verpflichtenden Charakter begrenzt und von dem Bereich des Vorzugswürdigen und Optimierbaren abgesteckt. Drittens wird die Moral von rein naturalistischen wie auch von religiösen und metaphysischen Weltbildern abgesondert, indem Handlungskonflikte nur noch argumentativ, in der individuellen Überzeugung gelöst werden können. Schließlich sind die auf Inklusion und Egalität ausgerichteten Diskursregeln zu nennen, die beachtet werden müssen, sodass die Machtverhältnisse des Diskurses nicht präfiguriert werden.142 Anhand dieses ersten hegelschen Einwandes ist also bereits eine prekäre Spannung zwischen Gerechtigkeitsmoral und Güterethik, zwischen universaler Vernunft und partikularer Präferenz festzustellen. Dieser Spannung gilt es nachzugehen. b. „Zum abstrakten Universalismus begründeter Urteile“143 Dieser nächste Einwand Hegels zielt auf das Problem, dass der kategorische Imperativ Kants das Allgemeine vom Besonderen trennt und deshalb moralische Urteile unempfindlich für die spezifischen Kontexte der zur Diskussion stehenden Phänomene werden.144 Dieses Argument will Habermas weder für die Moraltheorie Kants, noch für die Diskursethik gelten lassen. Vielmehr sind 139 

Habermas, Diskursethik, in: PT 3, 147. Habermas, Einwände, in: PT 3, 131. 141  Habermas, Erläuterungen, in: ED, 177 ff. 142  Die Regeln lauten: „1. Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. 2.a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. 3. Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in 1. oder 2. festgelegten Rechte wahrzunehmen.“ (Habermas, Diskursethik, in MB, 99; vgl. die ausführlichere Beschreibung in: ders., TkH I, 47) 143  Habermas, Einwände, in: PT 3, 131. 144  Hegel, Phänomenologie, 448. Im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit ausgedrückt besagt die hegelsche Kritik, „sich zumindest die Möglichkeit vor Augen zu halten, daß die angebliche Alternative zwischen dem Kampf und dem Dialog der Kulturen vielleicht falsch konstruiert ist, weil sie verkennt, daß das dialogische Konzept selbst bereits eine der Positionen im Kampf besetzt hält.“ (Ladeur/Augsberg, Toleranz, 13, mit Verweis auf Norbert Bolz) 140 

72 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens beide Modelle in der Lage, die Pluralisierung und Ausdifferenzierung moderner Gesellschaftsformen zu berücksichtigen und sie dennoch unter dem notwendigen Gesichtspunkt der Verallgemeinerung zu sehen. Im Übrigen meint Habermas, dass man an Hegel die Frage richten sollte, „ob sich das Allgemeine unauflöslich mit dem Besonderen verschränken müsse“.145 Weil in Argumentationen prinzipiell pragmatisch vorausgesetzt wird,146 dass alle Betroffene als Freie und Gleiche beteiligt werden können, geht Habermas davon aus, dass Argumentationen „per se“ über partikulare Perspektiven hinausreichen.147 In dieser Pragmatik wird der normative Gesichtspunkt des kommunikativen Handelns abstrakt formuliert, um durch das Konstrukt einer idealen Kommunikationsgemeinschaft – damit sind alle sprach- und handlungsfähigen Subjekte gemeint – den eigenen Blickpunkt gezielt zu entgrenzen.148 In diese anspruchsvolle These zur moralischen Argumentation wird wieder eine Differenzierung eingezeichnet. Einerseits ist sich Habermas dessen bewusst, dass alle Versuche gescheitert sind, den moralischen Gesichtspunkt als einen neutralen Standpunkt zu bezeichnen: Sowohl in der transzendentaltheoretischen Tradition Kants als auch in utilitaristischen Theorien ist der Beobachterposten ungeeignet, weil dieser monologisch, privilegiert und deshalb nicht für die intersubjektive Dimension der Unparteilichkeit geeignet ist. Andererseits beharrt er auf dem Argument, dass die moralische Perspektive eine berechtigte Abstraktion von ihrer Anwendung und ihrer Verwirklichung darstellt. Die Diskursethik entkräftet insofern den Einwand Hegels, als sie eben den intersubjektiven Zusammenhang der Kommunikation hervorhebt und mit die Einsicht produktiv zu nutzen weiß, dass moralische Geltung aus der Wir-Perspektive – also der ersten Person Plural – bestimmt wird.149 Es sei demnach ein Missverständnis, wenn Unparteilichkeit mit dem Verlassen des Kontextes der sprachlichen Interaktion, mit der Aufgabe der Teilnehmerper­ spektive oder mit dem externen Standpunkt des Beobachters verwechselt werde. Spricht Habermas also von der „Entschränkung“ individueller Blickpunkte, ist der Perspektivenwechsel mit jenen gemeint, die von Normen oder Handlun145 

Habermas, Einwände, in: PT 3, 131 Fn. 18 (Hervorhebung im Original). „Ich verstehe Argumentationen als ein Verfahren für den Austausch und die Bewertung von Informationen, Gründen und Terminologien […], natürlich kann das Verfahren diese Elemente nicht selbst erzeugen; es soll nur sicherstellen, daß der Argumentationsaustausch auf der Grundlage aller relevanten, zu einem Zeitpunkt erreichbaren Informationen und Gründe sowie innerhalb des jeweils fruchtbarsten und angemessensten Beschreibungssystems ablaufen kann.“ (Habermas, Erläuterungen, in: ED, 164) 147  AaO. 155 (meine Hervorhebung). 148  Ebd., in Anlehnung an Apel und Peirce. 149  AaO. 153. Habermas nimmt die grundlegenden Kritikpunkte Hegels insofern auf, als er weder eine individualistische Moral vorlegt, noch dem konkreten Partikularismus des Allgemeinwohls verfällt (z.B. in der Polisethik des Aristoteles oder in der thomistischen Güterethik): „Diese Grundintention Hegels nimmt die Diskursethik auf, um sie mit Kantischen Mitteln einzulösen.“ (Ders., Einwände, in: PT 3, 125) 146 

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gen betroffen sind.150 Spricht er von notwendiger Neutralität, wird eine Projek­ tions­fläche konstruiert, auf der alle Betroffenen im Blick sind. Die „Vermutung“ oder „Projektion“ von Neutralität ist etwas anderes als tatsächliche Neutralität: Im Fall der Projektion bleibt die Normativität ‚unser‘ Werk, im Fall der tatsächlichen Neutralität wäre sie unabhängig von ‚uns‘.151 Anders ist dies in der diskursethischen Bestimmung Karl-Otto Apels, der Neutralität im Sinne eines fixierten Punktes der Reflexion, also in einer Theorie und Praxis orientierenden Letztbegründung, bestimmt.152 Habermas dagegen sieht diese Möglichkeit nach der sprachpragmatischen Wende weder als sinnvoll zu begründen, noch als notwendig an. Dass Habermas in einer deontologischen Moral von partikularen Geltungsansprüchen abstrahieren will, liegt in der Natur deren Zielsetzung. Aber Habermas verdeutlicht mit dem „Schwanken“153 zwischen Zugeständnissen an Hegel und der Verteidigung Kants, dass die reine deontologische Moral in eine Aporie führt – eben zwischen universalen und besonderen Aussagen. Es bleibt jedoch unbefriedigend, dass er diese Aporie nicht offensiver bearbeitet und das berechtigte Anliegen des Perspektivenwechsels nicht mit den vielschichtigen Bedingungen gelingender Verständigung verbindet, die mit unserem Menschsein unweigerlich in Verbindung stehen. Denn dazu liegen weiterführende Vorschläge vor: Im Verlauf der Auseinandersetzung der letzten Jahrzehnte ist die Dichotomie zwischen ‚Gerechtem‘ und ‚Gutem‘ zunehmend als unnötig und unhaltbar herausgestellt worden. Ob Rainer Forst,154 Otfried Höffe,155 Michael 150 

Habermas, Erläuterungen, in: ED, 153 (Hervorhebung im Original). Habermas, Replik, in: EA, 339, und im gesamten Unterpunkt (1) 320–347. 152  Habermas, Erläuterungen, in: ED, 190 ff. 153  Larmore, Zwang, 107, erkennt ein „Schwanken“ in der Philosophie von Habermas, denn einerseits will dieser Normativität als Leistung der Diskursteilnehmer erklären, andererseits wird die „Autorität von Normen“ vorausgesetzt: „Sind Normen schließlich etwas, was wir stiften, wenn nicht individuell, dann wenigstens als Mitglieder einer Gemeinschaft? Oder müssen Normen ganz im Gegenteil unabhängig von unserem Tun existieren, weil es sonst unverständlich wird, wie sie etwas sein könnten, das wir respektieren müssen?“ 154  Forst verweist auf einen Mittelweg, indem er verschiedene Kontexte der Gerechtigkeit aufzeigt, je nachdem „welche Begriffe von Person und Gemeinschaft auf den jeweiligen Ebenen im Mittelpunkt stehen“ (ders., Kontexte, 16). Er unterscheidet den Begriff der „ethischen Person“ (als Mitglied einer identitätskonstitutiven ethischen Gemeinschaft) von der „Rechtsperson“ (die mit subjektiven Rechten ausgestattet ist und Mitglied einer Rechtsgemeinschaft ist). Dazu kommt die Differenzierung von „Staatsbürgerschaft“ (als Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft politisch verantwortlicher Bürger) und der „moralischen Person“ (der in der Gemeinschaft aller Menschen mit Würde und moralischer Achtung zu begegnen ist) (ebd., Hervorhebung im Original). Dabei ist für ihn entscheidend, dass eine gesellschaftliche Struktur dann als gerecht gilt, wenn sie diese Ebenen berücksichtigt: „Eine Theorie der Gerechtigkeit ist zugleich kontextgebunden und kontexttranszendierend, sofern sie diese normativen Dimensionen berücksichtigt, ohne eine davon zu verabsolutieren.“ (AaO. 19; Hervorhebung im Original) Allerdings unterscheidet Forst weiterhin strikt zwischen Moral und Ethik. 155  Höffe, Wirtschaftsbürger, 9–17, plädiert für eine politische Philosophie, die sich nicht 151 

74 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Walzer,156 Onara O’Neil,157 Seyla Benhabib,158 Paul Ricœur,159 sie alle eint die (mehr oder weniger eindeutige) Absicht, Ziele liberalistischer und kommunitaristischer Denker wie auch kontextsensible und kontexttranszendierende Gesichtspunkte aufzunehmen. Dies gilt auch für die Arbeit von Hans Joas, der ein Modell zur Integration der Theorie der Entstehung der Werte mit einer universalistischen Moralkonzeption vorgeschlagen hat.160 Im Pragmatismus sei demnach eine Theorie der kontingenten Wertentstehung (vor allem bei James und Dewey) mit einer Konzeption des Universalismus in der Moral (bei Dewey und Mead) verbunden worden. Deren Verweigerung, weder dem Guten, noch dem Rechten der Primat zu erteilen, sei kein „bloßer Mittelweg zwischen Extremen“ oder ein „schaler Kompromiß“ – und zwar angesichts der Besonderheiten der pragmatistischen Ethik (265): Zum einen betont diese Ethik den universellen Bedarf an normativer Regulierung menschlicher Kooperation, die in der Möglichkeit menschlicher Kommunikation gegeben ist. Zum anderen geht die pragmatistische Ethik von der Perspektive des Akteurs aus, und zwar mit besonderen Interesse an der Frage der Lösung von Handlungsproblemen. Diese Lösung entsteht für Mead aber nur unter den kontingenten Bedingungen eines experimentellen Weges, der in einem kreativen Entwurf des Handelns mündet. Daraus zeigt sich, laut Joas, dass eine universalistische Moraltheorie mit einer kontingenzbezogenen Konzeption der Wertentstehung verschränkt werden kann. Um diese zwei gegenläufigen Aspekte zusammenzuhalten, hat der Diskurs eine zentrale Stellung, allerdings anders als in der Diskursethik von Habermas und Apel: Es gibt zwar auch für Joas keine höhere sozialtheoretische Instanz als den Diskurs. In „der Perspektive des Akteurs aber, der seine Handlungen unter kontingenten Bedingungen entwirft, steht nicht die Rechtfertigung obenan, sondern die Spezifizierung des Guten oder des Rechten in einer Handlungssituation.“ (267) Zudem wird im Diskurs geprüft, wozu Personen diskutieren. Sie werden sich nicht ohne Wertbindung zur Teilnahme am Diskurs und zur Einhaltung der Regeln motivieren nur auf die Institutionen und Systeme konzentriert, sondern wie in der Antike als Doppeltheorie von Staat und Personen/Tugenden operiert. Ausdifferenzierungsprozesse der Neuzeit haben zu einer Vernachlässigung der Normativität und der Tugend geführt. 156 Walzer unterscheidet auch zwischen der notwendigen Universalität einer institutionellen Ebene und den Tugenden (ders., Erfahrung, 38–48). 157  Interessant ist, dass O’Neill als Schülerin von Rawls die Regelethik durch eine Tugendethik ergänzt (zusammengefasst in W.E. Müller, Argumentationsmodelle, 135–140). 158  Benhabib, Ethics, 177–206, ist überzeugt, dass die kommunitaristischen Anfragen an die Diskursethik dieser weder Trivialität noch Inkonsistenz nachweisen können. Es gelte vielmehr einzusehen, dass ein Austausch zwischen hermeneutisch inspirierten Neo-Aristotelikern und den Diskursethikern dazu führt, dass alte Oppositionen nicht länger gelten. Die Gegensätze zwischen prinzipieller und kontextueller Ethik seien überflüssig. Denn selbstverständlich müsse eine Diskursethik die Bedingungen für gute Urteilskraft mitbedenken, so z.B. „skills of moral imagination and moral narrative [… oder] an egalitarian and universalist model of moral conversation and the exercise of contextual judgment.“ (AaO. 200) 159  Ricœur, Selbst, 347 f., spricht von einer notwendigen „Dialektik zwischen Argumentation und Überzeugung“, die Habermas nicht hinreichend im Blick hat, weil er den Diskurs nicht innerhalb der Lebensbezüge und die Argumentationen nicht innerhalb von Überzeugungen verstehe. 160  Joas, Werte, 258. Seitenzahlen im Folgenden im Text.

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können, und sie werden die Ergebnisse des Diskurses nur dann respektieren, wenn bereits eine Wertbindung besteht.161 Somit sind Diskurse als formale Verfahren von werthaften Voraussetzungen nicht ablösbar, denn eine Trennung von Genesis und Geltung ist nach Joas nicht sinnvoll bzw. nicht möglich. Vielmehr ergänzen sich Situativität und Kreativität des Handelns mit der Universalität des Rechten und somit muss es auf „ein Reflexionsgleichgewicht zwischen dem Guten und dem Rechten“ hinauslaufen (274). Nicht die „Polarisierung“ zwischen Kommunitaristen und Liberalisten ist gefragt (263), sondern die „Integration“ ihrer Anliegen (292). Allerdings bleibt zum Schluss unkonturiert, wie nun Universalismus und Partikularismus integriert werden sollen. Joas schließt einfach mit dem Hinweis, dass „in Wirklichkeit“ Liberale und Kommunitaristen eine, nämlich die folgende Problematik, teilen: „Welches Maß von Respekt muß das Individuum der sozialen Ordnung zollen, von der es eine Garantie seiner individuellen Rechte erwartet?“ (ebd.). Joas ist zwar zuzustimmen, dass die Unterscheidung von Gutem und Gerechten letztlich nicht zu ihrer Trennung, sondern zu einer produktiven, wechselseitigen Verhältnisbestimmung innerhalb einer Fragestellung führen muss und er verweist zu Recht darauf, dass Werte, Tugenden, Normen, Pflichten und Güter innerhalb einer Theorie berücksichtigt werden müssen. Aber diese Wechselseitigkeit ist bei Joas selbst noch unterbestimmt.162

Angesichts dieser Theorielage kann festgehalten werden, dass der habermassche Versuch, die monologisch-begründete deontologische Ethik in eine wechselseitige Perspektivenübernahme zu überführen, nur dann Sinn macht, wenn sie einen Begriff der ethischen Überzeugungen, Güter und Präferenzen entwickelt, von denen abstrahiert werden soll. Solch ein Begriff ist bisher bei Habermas nicht erkennbar. c. „Zur Ohnmacht des Sollens“163 Entsprechend der soeben erarbeiteten Erkenntnis einer notwendigen Ergänzung deontologischer durch teleologische Begriffe ist ein weiterer Einwand Hegels gegen den kategorischen Imperativ zu nennen: Weil in diesem das Sollen vom Sein getrennt wird, bleibt offen, wie moralische Einsichten in der Praxis wirksam werden.164 Diese Frage betrifft sozusagen die ‚Ausgabeseite‘ der Moral, welche die Diskursethik insofern unberücksichtigt lässt, als sie eine Abstraktionsleistung vollzieht, da Handlungen und Normen einer hypothetischen Beurteilung unterworfen werden, ohne deren konkrete substanziale, sittliche Verortung zu berücksichtigen. Eine universalistische Moral ist – das sieht Habermas selbstverständlich ein – auf „entgegenkommende Lebensformen“ angewiesen, auf Soziali161  Joas fragt nach den werthaften Voraussetzungen der Verfahren, nach dem Entstehungsprozess von Geltungsansprüchen, nach dem Motiv, in einen Diskurs einzutreten und wie die erreichten Ergebnisse im Handeln angewendet werden sollen (aaO. 278 ff.). 162  Habermas mag auch deshalb von diesem Vorschlag „unbeeindruckt“ geblieben sein, wie Joas erstaunt anmerkt (aaO. 279), weil unklar bleibt, wie mit einem „Reflexionsgleichgewicht“ zwischen Gutem und Gerechtem die von Joas anvisierten Probleme zu lösen sind. 163  Habermas, Einwände, in: PT, 133. 164  Hegel, Phänomenologie, 444.

76 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens sations- und Erziehungspraktiken und auf politische und gesellschaftliche Institutionen, in denen Rechts- und Moralvorstellungen bereits „verkörpert“ sind.165 So ist der moralische Universalismus von Rousseau und Kant selbst im Horizont einer bestimmten geschichtlichen Konstellation entwickelt worden wie auch die Geistesgeschichte der westlichen Kultur die Entwicklung moralischer Überzeugungen förderte, die in der Diskursethik ausgearbeitet werden.166 Wie aber ist eine universalistische Moral infolge dieser Einsicht kulturübergreifend zu implementieren? Wie sollen die Intuitionen der Diskursethik in einer Umwelt geltend gemacht werden, die die Tradition deontologischer Argumentation nicht kennt? Diese Frage spitzt sich im Folgenden zu. d. „Die Tugend und der Weltlauf“167 Im Gegensatz zum vorherigen Einwand ist hier die ‚Eingabeseite‘ der Diskursethik im Blick oder, anders ausgedrückt, das Problem der Angewiesenheit der praktischen Vernunft auf Bildungsprozesse des Geistes: Unter welchen Bedingungen sind Teilnehmer eines Diskurses in der Lage, sich dessen Anforderungen zu stellen und in welchen Institutionen, Traditionen und Sozialisationsprozessen werden diese Fähigkeiten vermittelt? Habermas weicht an dieser Stelle der Argumentation insofern aus, als er auf die notwendige Ergänzung des moralischen Universalismus durch politische und rechtliche Verfahren verweist. Damit ist die Anfrage nach der ‚Tugenden‘ jedoch längst nicht beantwortet. Die ethische Bildung in Familie, Schule, Kunst und Öffentlichkeit ist ebenso wenig im Blick wie die komplexen Fragen nach dem Verhältnis von Kognition, Volition und Emotion, welches für ein Verständnis jedweder Handlung grundlegend ist. Es ist bemerkenswert, dass Habermas an dieser Weichenstellung der Moraltheorie besonders knapp antwortet – eine Lücke, die mit Hilfe von Schleier­macher und Herms im Folgenden zu bearbeiten ist. Richard Rorty nimmt dieses Problem auf. Die starke Unterscheidung zwischen „Vernunft“ und „Gefühl“ wie auch zwischen universalistischer Moral und ihrer partikularen Einbettung wird bei Habermas als irreführend dargestellt.168 Da moralische Konflikte dagegen von Rorty als verschiedene qualitative Stufen eines Loyalitätskonflikts eingestuft werden,169 folgt er dem Vorschlag Annette Baiers, Moral nicht in der 165 

Habermas, Einwände, in: PT, 134 (Hervorhebung im Original). 135. Allerdings sei diese Geistesgeschichte nicht mit „dem Gang des absoluten Geistes“ zu identifizieren, sondern verdanke sich den kollektiven Anstrengungen gesellschaftlicher Initiativen (ebd.). 167  Ebd. Habermas verweist auf das Kapitel Hegels zum jakobinischen Gesinnungsterror, in dem dieser argumentiert, dass die Moral zum Mittel werde, um „durch Aufopferung der Individualität das Gute zur Wirklichkeit zu bringen“ (Hegel, Phänomenologie, 289). 168  Rorty, Gerechtigkeit. Seitenzahlen im Folgenden im Text. 169  Rorty nennt dafür verschiedene Beispiele, die alle allerdings konstruiert und simplifiziert wirken: Um zu verdeutlichen, dass Loyalität vor die Pflicht zu stellen ist, argumentiert er, dass jeder mit Hilfe rechnen würde, „wenn wir auf der Flucht vor der Polizei Angehörige um ein Versteck bäten“ (aaO. 82). 166  AaO.

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Grundkategorie der Pflicht, sondern in derjenigen des Vertrauens zu verstehen. Was Kant als „Konflikt zwischen moralischer Pflicht und Gefühl beziehungsweise zwischen Vernunft und Gefühl“ beschrieben hat, will Rorty „als Konflikt zwischen verschiedenen Mengen von Loyalitätsbeziehungen“ ansehen (87). Er schlägt vor, diese Gegensätze als zwei Enden desselben Spektrums anzusehen – eines Spektrums des Vertrauens. Denn Konfliktpartner müssen in der zwanglosen, diskursiven Auseinandersetzung einander „bis zu einem gewissen Grade“ vertrauen können (102). Somit wird ein Kontinuum konstruiert, das die Loyalitätsüberzeugungen der Diskursteilnehmer aufnimmt und die gemeinsame Schnittmenge mit den Überzeugungen anderer Kulturen und Sprachsysteme auszuloten: „Die Empfehlung, vernünftig zu sein“, läuft nach diesem Vorschlag auf den schlichten Gedanken hinaus, gemeinsame Überzeugungen und Wünsche abzugleichen (103). Der vernünftige Universalismus von Habermas wird nach Rorty von nichtwestlichen Gesellschaften dagegen zu Recht als Übergriff gewertet.170 Werden in dieser Konzeption die starren Abgrenzungen von Habermas aufgeweicht, besteht zugleich die Gefahr, verschiedene Geltungsaspekte – Wahrhaftigkeit, Richtigkeit, Wahrheit – zu Lasten des deontologischen Anliegens der einzuebnen.171 Diese fehlende Differenzierung bei Rorty ist ebenso problematisch wie das umgekehrte Problem der rigiden Differenzierung bei Habermas.

Ich fasse die Ergebnisse dieses Abschnittes (II.2.A.ii) zusammen: Das bezeichnende und ausschlaggebende Kennzeichen der Moraltheorie von Habermas liegt in ihrer vermeintlichen ‚Schwäche‘: Sie überlässt es den Beteiligten des Diskurses, Moralität selbst zu bestimmen – also „was alle gemeinsam wollen könnten“.172 Dabei finden die Diskursteilnehmer das Grundmotiv des kategorischen Imperativs im Austausch ihrer Argumente bereits vor – nämlich im wechselseitigen Geltungsanspruch, der ihrer moralischen Kommunikation eingeschrieben ist. Zugleich wird deutlich, dass der Imperativ nur kommunikativ und nicht monologisch eingelöst werden kann. Die Universalisierbarkeit einer Handlungsmaxime kann nur mit den Betroffenen einer Entscheidung ausgehandelt werden. Dieser deontologische Zugang besitzt seinen Wert darin, dass er gleichsam quer steht zum Richtungssinn herkömmlicher Güterethiken.173 Die Leistungskraft des Zugangs kann allerdings nur entfaltet werden, wenn die Begrenzung der deontologischen Fragestellung erkannt wird. Dieser Grenze ist sich Habermas mehr oder weniger bei allen vier Einwänden Hegels bewusst.174 Die deontologische Moral muss allerdings nicht nur ihre 170  Dabei

will Rorty als „loyaler Abendländer“ auftreten, der offenherzig seine Ethnozentrizitität eingesteht. Damit kommt er auf seinen Vorschlag zurück, den „Liberalismus der Aufklärung vom Rationalismus der Aufklärung zu trennen“ (aaO. 105 f.). Rorty fällt insgesamt nicht auf, dass Habermas einen Begriff ‚schwacher‘ Vernunft entwickelt. 171 Die „Tugendzumutung“ kann nicht, wie Habermas meint, durch eine „Rationalitätsvermutung“ ersetzt werden (Replik, in: EA, 312; Hervorhebung im Original), sondern diese müssen als ein Ergänzungsverhältnis angesehen werden. 172  Habermas, Erläuterungen, in: ED, 124. 173  Selbst in der Ethik von Eilert Herms, so werde ich zeigen, ist ein deontologisches Moment eingeschrieben. 174 Der „Nervpunkt“ seines Gesamtwerkes, das sieht Habermas ein, liegt im Begriff

78 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Grenzen anerkennen, sondern auch die Beziehung zu den Grundbegriffen der Güterethik herstellen – also zu den Zielen, Institutionen und zur Befähigung der Wertegemeinschaften. Der Übergang ist fließend, darauf machen Kritiker wie Rorty und Joas zu Recht gegenüber Habermas aufmerksam. Habermas verteidigt eine abstrakte Moral und diese bedroht gleichsam die Sinnhaftigkeit seiner Theorie, weil sie keinen Anhaltspunkt in den Überzeugungen der Menschen und Kulturen finden kann. Eine Moraltheorie zu entwickeln, in der die Bedingungen expliziert werden, unter denen die jeweiligen Beteiligten selbst Antworten finden, indem die Theorie auf die kommunikativen Strukturen der Teilnehmer verweist, reicht nicht aus. Die Aufgabe, die komplexen Lebenskontexte in theoriefähiger Weise zu berücksichtigen, die für die Implementation und Realisierung der diskursiv erreichten Ergebnisse fundamental sind, bleibt der unabdingbare komplementäre Schritt zur deontologischen Fragestellung. Umgekehrt gilt auch, dass Theorien, die diese Verbindung zwischen ‚Gutem‘ und ‚Gerechtem‘ einzuholen beabsichtigen (exemplarisch bei Joas und Rorty), dem deontologischen Richtungssinn Rechnung tragen müssen – also dem Anliegen der kognitiven Per­ spek­tiven­übernahme. iii. Faktizität und Geltung (1992) Die politische Theorie von Habermas kann in drei Entwicklungsschritte eingeteilt werden: Die erste Phase ist mit einer impliziten Bearbeitung des Themas verbunden. So sind in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus und der Theorie kommunikativen Handelns zwar der Staat und das Recht im Blickfeld, allerdings im Zusammenhang einer gesamtgesellschaftlichen Analyse und lediglich in ihrer negativen Funktion der Machtbegrenzung.175 Mit Faktizität und Geltung tritt Habermas offensiver und direkter an die Themenstellung heran und findet für das Recht eine positive, sozial-integrative Funktion – eine zweite Phase seiner Denkentwicklung. Diese Hinwendung zur Rechts- und Staats­ philosophie begrüßt Otfried Höffe als „Konversion der kritischen Theorie“, da die konkrete Wirklichkeit der Rechtssetzung in den Blick gerät, die bisher in dieser Tradition nicht präsent war.176 Eine dritte Phase beginnt mit dem Umbruch des politischen Weltgeschehens in den Jahren 1989/90. Der Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung bringt sowohl die Schattenseiten als auch die Innovationen der Völkergemeinschaft ans Licht. Das „erweiterte Themenspektrum“, welches sich aus dieser neuen Konstellation ergibt, verändert den politiktheoretischen Horizont seines Werkes: Es zeichnete sich „die explosive Lage ab,

„kontrafaktischer Voraussetzungen“, als ob die Moral vorgegeben wäre: „Hier bleibt noch viel zu tun.“ (Habermas, Replik, in: EA, 354). 175  Vgl. Pinzani, Diskurs, 5 f. 176  Höffe, Vernunft, 146 f.

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in der kein Staat, auch keine Supermacht mehr im Alleingang die Komplexität der Weltgesellschaft würde beherrschen können“.177 Faktizität und Geltung bildet gleichsam das Scharnier zwischen der ersten und dritten Phase und ist zugleich als Grundlagenwerk einzuschätzen, das die kommunikative Vernunft in der Rechts- und Demokratietheorie verankert.178 Alle Aspekte des Werkes können und müssen hier nicht erfasst, sondern wesentliche Argumente in ihrer Relevanz für diese Arbeit bestimmt werden. Dazu sind zwei Beiträge dienlich,179 die diesem Werk sozusagen vor- und nachgeschaltet sind: Im ersten Text, Volkssouveränität als Verfahren, werden die konzeptionellen Weichenstellungen des Werkes vorbereitet.180 Der zweite Beitrag ist ein Nachwort für die vierte Auflage von Faktizität und Geltung, in dem Habermas seine Hauptthesen noch einmal zugespitzt vorträgt. Diese zwei Texte betrachte ich jetzt näher: a. Die Bürger als Adressaten und Autoren des Rechts Im Dezember 1988 hält Habermas einen Vortrag zum bevorstehenden zweihundertjährigen Jubiläum der Französischen Revolution und nimmt darin seine eigenständige Demokratie- und Rechtstheorie in Angriff.181 Er setzt mit der Frage nach der Aktualität und Orientierungsleistung der großen Revolution ein: Einerseits bewirkt sie Folgenschweres, da eine neue Mentalität durch ein verändertes Zeitbewusstsein geprägt wird: Politische Neuanfänge können nun „gemacht“ werden (40). Durch diesen veränderten Begriff politischer Praxis kann Jedermann als Autor seines Schicksals angesehen werden und in Kooperation mit anderen Zukunft gestalten. Legitimität wird Habermas zufolge nun weder in metaphysischen, noch in religiösen Herrschaftsansprüchen gesucht, sondern in der Vernunft selbst. Andererseits konzediert er, dass mittlerweile diese Erneuerungen sich verselbstständigen und trivial zu werden drohen. Insofern stelle sich die brisante Frage, wie das Erbe der Französischen Revolution heute weitergeführt werden könne. 177 

Habermas, Einleitung, in: PT 4, 30. ‚Habermas‘, 757–773. 179  Den inneren Zusammenhang der zunächst lose aneinandergereihten Beiträge von FG stellt Habermas in der Einleitung selbst dar (FG, 9 f., 21 f.). Nachdem er die Spannung von Faktizität und Geltung ins Verhältnis zur kommunikativen Vernunft gesetzt hat, erörtert er, wie er soziologische Rechts- und philosophische Gerechtigkeitstheorien verbinden will. Daraufhin führt er aus, dass er das klassische Vernunftrecht in die Diskurstheorie des Rechts übersetzt und er greift dazu auf seine moraltheoretischen Vorarbeiten zurück. Des Weiteren werden anhand der deutschen und amerikanischen zeitgenössischen Diskussionen zentrale Gegenstände der Rechtstheorie, z.B. die Verfassungsrechtsprechung, besprochen. Diese Abhandlungen werden mit Überlegungen ergänzt, wie die Zivilgesellschaft und Demokratie das Recht flankieren. Schließlich werden diese Ideen in ein prozeduralistisches Rechtsparadigma überführt. 180  Vgl. Habermas, Einleitung, in: PT 4, 19. 181  Habermas, Volkssouveränität, in: FG, 600–631; wiederabgedruckt in: PT 4, 35–69. Seitenzahlen im Folgenden aus diesem Druck im Text. 178 Forst,

80 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Die Interpretation des Erbes wird im Streit zwischen liberalistischen und radikal-demokratischen Positionen erkennbar, der sich an der unterschiedlichen Gewichtung der Prinzipien der Freiheit gegenüber der Gleichheit bzw. an der Orientierung der Menschenrechte gegenüber der Ausrichtung an der Volkssouveränität festmacht – ein Zwiespalt, der auf den Theoriestreit zwischen Locke und Rousseau zurückgeführt wird. Selbst durch Kant wird dieser Streit nicht in befriedigender Weise gelöst, obwohl dieser bereits einen Mittelweg vorschlägt, indem er in der Ausübung der Volkssouveränität die Sicherung der Menschenrechte als möglich ansieht (47). Habermas hebt vielmehr den süddeutschen Demokraten Julius Fröbel hervor, der das Problem (in Schriften um 1848) dadurch aufzulösen sucht, dass er die Volkssouveränität nicht konkretistisch, sondern prozedural versteht. Um den Sinn dieser Theorie bildhaft darzustellen, kann der Ansatz so formuliert werden, dass Fröbel die praktische Vernunft nicht in den Boden einer statischen Volksmeinung oder substanzieller Verfassungsrechte einpflanzt, sondern sie im Fluss der Prozeduren der Meinungs- und Willensbildung verankert. Diese sind nicht mit der Vernunft identisch, aber, so Habermas zustimmend, sie bieten eine diskursiv verfasste Annäherungsmöglichkeit an die Intention der praktischen Vernunft. Die Grundintuitionen der Diskursethik werden somit auf die Demokratieund Rechtstheorie übertragen. Die Struktur eines Verfahrens, in dem alle Betroffenen gehört und Entscheidungen durch Gründe plausibilisiert werden, die ihrerseits verallgemeinerbar sein müssen, wird von der Moral auf das Recht sozusagen transponiert.182 Das Erbe der Französischen Revolution kann demnach nur aufbewahrt und immer wieder neu formuliert werden, wenn zwischen den Rechten der Bürger und ihrer Institutionalisierung ein direktes, kommunikatives Verhältnis besteht.183 Die Pointe des Aufsatzes läuft auf das Zusammenspiel zwischen institutionalisierter Willensbildung und inoffiziellen, frei zustande kommenden Gesprächen sowie entsprechender Kommunikationsnetze hinaus. Somit wird die Herrschaftsordnung an die kommunikative Praxis gekoppelt, denn nur auf diese Weise kann sie legitimiert und erneuert werden. Für Haber182 

Vgl. Möllers, Demokratie, 257. legt Habermas indirekt Rechenschaft über sein verändertes Verhältnis zur sozialistischen Gedankenwelt ab: Er zeigt auf, dass der Diskurs über Freiheit und Gleichheit sich im Streit zwischen Liberalismus und Sozialismus fortsetzt. Zwar verspielt die marxistische Tradition ihren idealen, für Habermas durchaus nachvollziehbaren Gehalt, weil sie keine hinreichende Antwort auf die Komplexität und funktionale Differenziertheit moderner Gesellschaften entwickelt. Allerdings bleiben für ihn Kerngehalte ihrer diskursiven Gleichheitsorientierung als Stachel gegen administrativ verwendete Macht bestehen. In der „kommunikativ erzeugten“ Gegenmacht besteht das Potenzial für eine demokratische Selbsteinwirkung (ders., Volkssouveränität, in: PT 4, 59; Hervorhebung im Original). Später wird er diese positive Qualifizierung der kommunikativen Macht gegenüber der negativen Bewertung bürokratischer Macht als „irreführend“ bezeichnen und sie formal einander gegenüberstellen (ders., FG, 530 f.). 183  Zugleich

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mas liegt diesem „Modus einer selbstbezüglichen Reproduktion der Öffentlichkeit“ eine Entsubstanzialisierung der Idee der Volkssouveränität zu Grunde (63; Hervorhebung im Original).184 Jede Konkretisierung dieser Idee wird derweil abgelehnt, denn Habermas beabsichtigt, die Vermutungen praktischer Vernunft lediglich im „Fluß der diskursiven Meinungs- und Willensbildung“ abzusichern (64). Angesichts dieser ‚Verflüssigung‘ stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Faktizität der Meinungsbildung und ihrer Geltungsgrundlage. Diese Spannung zwischen Faktizität und Geltung verbindet die unterschiedlich gelagerten Beiträge des gesamten Buches. In diesem Sinne wende ich mich dem zweiten Text zu. Im Nachwort des Werkes stellt Habermas es unter folgende Leitfrage:185 Worauf gründet sich die Legitimität gesellschaftlicher Regeln und Gesetze, wenn der politische Gesetzgeber diese jederzeit ändern kann? Im Kontext pluralistischer Gesellschaften enthält diese Frage insofern weitreichende Konsequenzen, als keine einheitlichen ethischen Prinzipien, seien sie religiöser oder metaphysischer Natur, die soziale Ordnung mehr stabilisieren. Die „einzige nachmetaphysische Quelle der Legitimität“ stellt das demokratische Verfahren der Rechtserzeugung bereit, das seinerseits auf den freien Austausch von Informationen, Themen und Beiträgen angewiesen ist und das für „mehr oder weniger“ vernünftige Ergebnisse sorgt (662). Diese diskursethische Begründung der Herrschaftsordnung wird in zwei Hinsichten konkretisiert: Zunächst funktioniert das Recht aus gesellschaftstheoretischer Perspektive als eine Art „Transmissionsriemen“, durch welchen Anerkennung und Solidarität zwischen Lebenswelt und System übertragen werden. Recht produziert somit indirekt Solidarität, indem Verhaltenserwartungen zwischen abstrakten Aktoren stabilisiert werden (ebd.). Durch den kommunikativen Prozess der Rechtssetzung wird soziale Integration ermöglicht. Habermas möchte das Recht als funktionale Ergänzung zur Moral sehen, weil jenes diese von verschiedenen (kognitiven, motivationalen, organisatorischen) Anforderungen „entlastet“: „Das Recht kompensiert sozusagen die funktionalen Schwächen einer Moral, die, aus der Beobachterperspektive betrachtet, häufig kognitiv unbestimmte und motivational ungesicherte Ergebnisse liefert.“ (667) Aus rechtstheoretischer Sicht wird darüber hinaus die Diskurstheorie als eine Deutung des deontologischen Verständnisses des Gesellschaftsvertrages (bei Kant als Parteien des Naturzustandes und bei Rawls

184  Das heißt: „Die Menschenrechte konkurrieren nicht mit der Volkssouveränität; sie sind mit den konstitutiven Bedingungen einer sich selbst beschränkenden Praxis öffentlich-diskursiver Willensbildung identisch. Die Gewaltenteilung erklärt sich dann aus der Logik der Anwendung und des kontrollierten Vollzuges derart zustande gekommener Gesetze.“ (Habermas, Volkssouveränität, in: PT 4, 52) 185  Habermas, Nachwort, in: FG, 661–680 (seit der vierten Auflage). Im Folgenden Belege aus FG im Text.

82 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens als Parteien des Urzustandes) vorgestellt.186 Allerdings unterscheidet Habermas seine Konzeption von diesen beiden, indem er postuliert, dass das Verhältnis von Moral und Recht komplizierter geworden ist. Moral und Recht dienen zunächst beide der „Regelung interpersonaler Konflikte“; sie sollen „die Autonomie aller Beteiligten und Betroffenen gleichmäßig schützen“ (665). Zwar haben sich Recht und Moral gleichzeitig aus einem gesamtgesellschaftlichen Ethos ausdifferenziert,187 aber das Recht bildet ein institutionell verbindliches Handlungssystem, während die Moral lediglich ein kulturelles Symbolsystem darstellt. Insofern sollten diese beiden Ordnungen unterschieden und nicht platonisierend als Abbildrelation voneinander betrachtet werden – „so als würde dieselbe geometrische Figur nur auf eine andere Darstellungsebene projiziert“ (138). Die Frage nach allgemeiner Normativität verzweigt sich nun nach Habermas in moralische und juridische Aspekte, die beide auf dem postkonventionellen Diskursprinzip aufbauen, das den Sinn der Unparteilichkeit in sich trägt. Habermas nennt dieses Prinzip „D“: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.“ (Ebd.)188

Aus dieser abstrakten Grundlegung leitet Habermas nun eine Unterscheidung ab: Aus dem allgemeinen Diskursprinzip ergeben sich ein Moral- und ein Demokratieprinzip (140).189 Das Moralprinzip bezeichnet solche Handlungsnormen, die sich aus der gleichmäßigen Interessenberücksichtigung rechtfertigen lassen; das Demokratieprinzip definiert Handlungsnormen, die rechtsförmig sind und sowohl moralische, pragmatische als auch ethisch-politische Ziele beinhalten können. Für die Frage nach der universalen Reichweite der Vernunft ist diese Unterscheidung wichtig: Nur bei moralischen Fragestellungen bildet die Menschheit als eine unterstellte Republik von Weltbürgern den Bezugspunkt für die Begründung, nur bei diesen Fragen muss es um die gleichmäßigen Interessen aller gehen. Bei ethisch-politischen Problemstellungen bildet dagegen 186  Der entscheidende Unterschied zum Gesellschaftsvertrag von Hobbes liegt Habermas zufolge bei Kant und Rawls darin, dass bei diesen der Vertrag mit einem moralischen Sinn ausgestattet ist. 187  Moral und Ethik werden also weiterhin streng getrennt gehalten. 188  Mit dem Prädikat „gültig“ meint Habermas eine grundlegende normative Ebene, die gegenüber der Unterscheidung von Recht und Moral „noch neutral“ ist; mit Handlungsnormen sind „zeitlich, sozial und sachlich generalisierte Verhaltenserwartungen“ im Blick und mit rationalem Diskurs alle Verständigungsbemühungen, die unter dem Stichwort Herrschaftsfreiheit eingeführt werden (ders., in: FG, 138; Hervorhebung im Original). 189  Es ist allerdings meines Erachtens unklar, wie sich diese Prinzipien zu dem chronologisch betrachtet ursprünglicheren Universalisierungsprinzip verhalten (vgl. II.1.A.ii Fn. 29). Später räumt Habermas nämlich ein, dass „‚U‘ ein umfassenderes Diskursprinzip zunächst im Hinblick auf eine spezielle, nämlich moralische Fragestellung operationalisiert hat“ (ders., Betrachtung, in: EA, 64). Dann würde das Diskursprinzip die grundsätzliche Form abbilden, das Universalisierungsprinzip aber mit dem Moralprinzip konkurrieren.

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nur die jeweils eigene Polis mit ihren entsprechenden starken Wertungen den Bezugspunkt. Auf der einen Seite steht also somit die moralisch entgrenzte Erdgemeinschaft, die alle natürlichen Personen umfasst, auf der anderen die spezifische, lokalisierte Rechtsgemeinschaft. Verschiedene Facetten der Spannung von Faktizität und Geltung werden somit unterschieden. Moral und Recht sind Habermas zufolge ebenso wenig zu identifizieren wie die globale und die nationale Rechtsgemeinschaft. Zugleich, und diese diffizile Bezugnahme macht die Theorie anfällig für Missverständnisse,190 bleiben die diskurstheoretischen Prinzipien der nationalen Rechtsgemeinschaft interkulturell gültig, weil sie auf das Moralprinzip bezogen sind. Recht und Moral sollen nämlich auf einer diskurstheoretischen und somit „nachmetaphysischen Begründungsbasis […] in Einklang“ gebracht werden (668). Die Frage ist, wenn dieser Entflechtung von Moral und Recht gefolgt wird, ob die Menschenrechte auf derselben positivrechtlichen Ebene zu bestimmen sind wie politische Bürgerrechte. Habermas greift infolge dieser Frage noch einmal die zwei divergierenden Traditionen des auf Locke zurückgehenden Liberalismus und des von Aristoteles stammenden Republikanismus auf;191 erstere verweist auf den Schutz der privaten Autonomie vor der anonymen „Herrschaft der Gesetze“, letztere auf die „Selbstgesetzgebung“, den demokratischen Willensbildungsprozess (669; Hervorhebung im Original). Auf der einen Seite können die Menschenrechte, wenn sie als positives Recht verstanden werden, nicht einfach einem Gesetzgeber aufgegeben werden: Die Adressaten des Rechts müssen zu Autoren der Rechte werden. Auf der anderen Seite muss private Autonomie gewährleistet sein, damit die Adressaten überhaupt zu Autoren werden können. Er führt auf diese Weise aus, dass sich private und öffentliche Autonomie gegenseitig voraussetzen, ohne die eine oder andere Seite bevorzugen zu können. Die kommunikativen Verfahren haben also eine schlichtende Funktion in dieser Polarität;192 die prozedurale Rechtstheorie bietet gleichsam die Lösung des jahrhundealten Streites. Eine Rechtsordnung ist in dem Maße als legitim zu bewerten, wie sie private und staatsbürgerliche Autonomie „gleichmäßig sichert“; sie „verdankt“ ihre Legitimität den kommunikativen Prozessen, in denen sich beide Formen von Autonomie, die für Habermas gleich ursprünglich sind, äußern und bewahrt werden können.193

190  Die Missverständnisse entstehen dadurch, dass er einerseits die Rechts- und Politikordnung realistisch unter den Gesichtspunkten der Interessen, Machtspiele und Kompromissfindung betrachtet, andererseits dem Diskurs einen deontologischen Status verleiht, der diese strategischen Gesichtspunkte unterläuft. Man muss wohl vermuten, dass bei Habermas Moral, Ethik und Pragmatik drei unterschiedliche Dimensionen des Faktischen sind, die dementsprechend unterschiedliche Geltungsebenen aufweisen, weil sie mehr oder weniger einen universalen Standpunkt verteidigen können. Allerdings ist die Abgrenzung zwischen ihren Geltungsbereichen mehr als unklar. 191  Präziser: die Tradition, die von Aristoteles über Rousseau und Hegel bis zu den Kommunitaristen reicht. 192  An anderer Stelle stellt Habermas diese Theorie als die „in abstracto festgehaltenen Strukturen gegenseitiger Anerkennung“ dar, die „wie eine Haut um die Gesellschaft im ganzen“ gespannt sind (Habermas, in: FG, 493; meine Hervorhebung). 193  Ebd.; Hervorhebung im Original.

84 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens b. Der „schwankende Boden“ kommunikativer Freiheit194 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den vielfältigen Impulsen des Werkes kann an dieser Stelle nicht stattfinden.195 Rainer Forst ist zunächst in seiner grundsätzlichen Würdigung des Werkes zuzustimmen: „Der wichtigste Gedanke liegt zweifelsohne darin, die Doppelrolle von Bürgerinnen und Bürgern als Autoren und als Adressaten des Rechts aus einer horizontalen Perspektive der wechselseitigen Anerkennung als Beteiligte an einer Praxis politischer Selbstbestimmung heraus umfassend zu interpretieren, nicht nur normativ, sondern auch rechts- und institutionentheoretisch.“196

Es ist Habermas der Nachweis gelungen, dass das Recht nur so lange das Konfliktpotenzial des Zusammenlebens in modernen Gesellschaften zähmen kann, wie die Betroffenen die Kriterien, unter denen Zwang ausgeübt und Gewalt begrenzt wird, einsehen, nachvollziehen und begründen können (680). Zugleich zeigt er, dass die Autoren des Rechts sich als dessen Adressaten sehen, weil sie es benötigen, um ihre Beziehungen in hochgradig komplexen Funktionssystemen zu entlasten. Diese Verschränkung der Rollen der Autoren und der Adressaten ist auch für die interkulturelle Fragestellung brisant. Um das Zusammenleben auf der Erde überhaupt gestalten zu können, ist eine fortschreitende Verrechtlichung der Beziehungsgeflechte unabdingbar und dient ihrer Entlastung, wie es bereits im nationalen Kontext der Fall ist (vgl. III.3.B). Die Gestaltung des radikalen Pluralismus der Weltgemeinschaft ist derweil auf die von Habermas erläuterten diskursiv verfassten Verfahren angewiesen, will sie allen beteiligten Weltanschauungen Gehör verschaffen:197 Die friedliche Koexistenz ist nur möglich, wenn die Völker sich in Zukunft als Adressaten und Autoren des gemeinsamen Völkerrechts verstehen. Darüber hinaus besteht allerdings Anlass zu wesentlichen Rückfragen: Ist die Unterscheidung zwischen moralischen und ethisch-politischen Prinzipien, die Habermas als grundlegend herausarbeitet, nachvollziehbar? Wird die sozial-integrative Funktion des Rechts „maßlos“ zu Lasten der „Idee einer Identitätsstiftung über Werte“ übertrieben?198 Müssen neben der Rationalität als Grundlage einer Rechtstheorie auch die vielschichtigen emotiven und volun194 

Habermas, in: FG, 680. Horster, ‚Habermas‘, 141–145; ferner Lieber, Vernunft, und Goode, Democracy. Rasmussen, Law, 140, meint, dass die deutsche Rechtskultur mit Hegel und Weber zwei große rechts-theoretische Diskurse hervorgebracht habe, jetzt mit Habermas’ FG habe sie eine dritte große Theorie erzeugt. 196 Forst, ‚Habermas‘, 763. 197  So scheinen die gesellschaftlichen Umbrüche in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel des Frühjahres 2011 in eindrücklicher Weise zu belegen, dass die Adressaten des Rechts sich auch als dessen Autoren verstehen – auch wenn diese Einsicht dort lange unterdrückt wurde. 198  So zu Recht Joas/Knöbl, Sozialtheorie, 349. 195  Vgl.

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tativen Momente des Menschseins berücksichtigt werden?199 Diese Fragen verdichten sich in dem Verhältnis von Form und Inhalt: Es ist bereits angemerkt worden, 200 dass Habermas seine Konzeption von Rawls’ Political Liberalism insofern absetzt, als er behauptet, dass er selbst eine formale, prozedurale Theorie liefert, die alle inhaltlichen Fragen den Beteiligten in ihrer Lösungsfindung selbst aufgibt, während Rawls eine materiale Gerechtigkeitstheorie verfolgt. Rawls reagiert auf diese Kritik, indem er sich mit der Entsubstanzialisierung der Verfahren nicht einverstanden zeigt:201 Jede liberale Perspektive muss ihm zufolge substanziell sein und er sieht nicht ein, dass die Position von Habermas keine materialen Grundlagen enthält. Prozedurale und materiale Gerechtigkeit müssten vielmehr als miteinander verbunden angesehen werden und er benennt fünf Werte, welche für die habermasschen Verfahren grundlegend sind: „impartiality and equality, openness (no one and no relevant information is excluded) and lack of coercion, and unanimity“. 202 Habermas führt diese fünf Werte ein, um ein bestimmtes, gerechtes Ergebnis zu erzielen und formt infolgedessen die Verfahren so, dass sie dieses gewährleisten. Rawls erinnert daran, dass Habermas am Ende von Faktizität und Geltung selbst diese materialen Bestandteile seiner Theorie anspricht. Dort weist Habermas in der Tat darauf hin, dass die prozedurale Rechtstheorie einen „dogmatischen Kern“ beinhaltet: die Idee der Autonomie und ihrer diskursiven Gewährleistung. „Dogmatisch“ sei diese Idee „in einem unverfänglichen Sinne“ (537), nämlich in dem faktischen Gegebensein der sprachlich verfassten Lebensform. Habermas weiß, dass das Projekt der Verwirklichung des Rechts nicht lediglich einer formalen Theorie entstammen kann, deshalb unterscheidet er es von dem universalen Moralprinzip. Aber es ist für ihn entscheidend, dass das hier entwickelte prozedurale Rechtsparadigma im Gegensatz zu liberalen und sozialstaatlichen Theorien nicht eine bestimmte Überzeugung über die Ausprägung der Gesellschaft oder ein politisches Programm in sich trägt. Insofern ist das prozedurale Paradigma formal: Es definiert nur „die notwendigen Bedingungen, unter denen die Rechtssubjekte in ihrer Rolle als Staatsbürger sich miteinander darüber verständigen können, welches ihre Probleme sind und wie sie gelöst werden sollen“ (536).

199  McCarthy weist darauf hin, dass Bürger ihre Ansprüche in der Öffentlichkeit nicht lediglich aus rationalen Gründen geltend machen, sondern aus vielschichtigen Interessen und Gemütslagen: „A public sphere whose institutions and culture embodied this diversity would, I have wanted to suggest, be a more realistic ideal than one embodying, in however detranscendentalized a form, Kant‘s insufficiently contextualized notion of the rational will.“ (McCarthy, Discourse, 366) Vgl. Schaal, Einleitung, 9, der die Rationalität des Staates als den Gravitationspunkt der habermasschen Rechts- und Staatstheorie darstellt. 200  Vgl. II.2.B.ii (Einwände zur Moraltheorie). 201  Rawls, Reply, 123 ff. 202  AaO. 125.

86 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens In summa: Der Versuch, über das Recht die Integration der Gesellschaft zu ermöglichen, wird dieses Funktionssystem überfordern. Entlastungen der moralischen Kommunikation (also der Komplexitätsreduktion) sind sicherlich durch das Recht möglich, aber Erhalt der Moral und Zusammenhalt der Gesellschaftsteilnehmer wird das Recht nicht bewirken können. Habermas weiß selbst, dass das Recht „kein narzißtisch in sich abgeschlossenes System“ ist und dass es von der entgegenkommenden Sittlichkeit und den Tugenden der Staatsbürger zehrt (678). Er weiß zudem, dass eine Kultur die semantischen Stachel braucht, die mit der Kunst, der Religion und anderen Transzendenzverweisern gegeben sind, weil sie das Fremde, Abgründige und Unheimliche präsent halten und das Triviale aufbrechen (631). Dass er diesen Faktoren nicht in theoriefähiger Form Rechnung trägt, ist gleichsam die Achillesferse seiner Gesellschaftstheorie. Leistungsstark ist sie dagegen, wenn sie sich „dem schwankenden Boden entfesselter kommunikativer Freiheiten“ widmet, auf dem die Autoren und Adressaten des Rechts ihre Beziehungen regeln (680, meine Hervorhebung). Denn dieses ‚Schwanken‘ macht auf die eigentliche Leistungsfähigkeit diskursiver Vernunft aufmerksam: nachvollziehbare Verbindungen und Übergänge zwischen den divergierenden Interessenlagen der Angehörigen einer Gesellschaft zu ermöglichen. iv. Zwischenresümee „Of course, our moral and political world is more characterized by struggles unto death among moral opponents than by a conversation among them.“203

Die kommunikative Vernunft ist nicht blind für Kämpfe moralischer Opponenten, sie ist vielmehr auf zwanglose und inklusive Rahmenbedingungen angewiesen. Aber bereits die Suche nach diesen Bedingungen setzt ein kommunikatives Rationalitätspotenzial voraus, das allen sprach- und handlungsfähigen Menschen zu eigen und im Austausch von Geltungsansprüchen bereits mitgegeben ist, denn es liegt dem alltäglichen kommunikativen Handeln zu Grunde. Die gesamte Moral- und Sozialtheorie von Habermas kann als Plädoyer dafür gelesen werden, dieses Rationalitätspotenzial in bewusst geführten Diskursen für den Zusammenhalt ausdifferenzierter Gesellschaften zu nutzen. Denn diese Form des Miteinanders macht erkennbar, dass Vernunft nicht auf ihre strategischen und instrumentellen Aspekte reduziert werden kann. Insofern liegen hier bereits die ersten Bestandteile der habermasschen Kritik der Vernunft vor. Er präzisiert das Vermögen, allgemeingültige Aussagen über das Zusammenleben der Menschen machen zu können. Kommunikative Vernunft ist nämlich lediglich in dem unverfänglichen Sinne allgemeingültig, dass sie die Bedingungen expliziert, unter welchen sprach- und handlungsfähige Subjekte sich kulturübergreifend auf eine gemeinsam verein203 

Benhabib, Ethics, 184.

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barte Form der Koexistenz einigen können. Dazu gehört nach Habermas die Ausdifferenzierung von Rationalitätssphären in objektive, intersubjektive und persönliche Urteile. Diese verschiedenen Sphären werden wiederum in unterschiedlichen Funktionssystemen erkennbar (der Wissenschaft, des Rechts, der Kunst). Einheit in der Differenz wird durch die Kommunikation selbst gewährleistet; jede Aussage vereinigt verschiedene Geltungsansprüche. Die Hintergrundannahmen und weltanschaulichen Überzeugungen der Diskurseilnehmer werden derweil von Habermas als unverständlich verabschiedet. Muss aber eine Vernunfttheorie nicht bereits ein Verständnis dieser Überzeugungen besitzen, wenn sie eine Einheit in der Differenz bestimmen will? Dieser Frage ist im folgenden Abschnitt nachzugehen.

II.2.B. Was können wir wissen? Wozu bedarf es einer Auseinandersetzung mit der Wissenstheorie für die Bearbeitung der diese Arbeit leitenden, sozialphilosophischen Fragestellung? Neben der basalen Einsicht, dass kognitive Vollzüge die Bedingung für jedwede moralische Reflexion des Zusammenlebens sind, steht die anspruchsvolle Frage, ob sich diese Prinzipien der Koexistenz auf ein gemeinsames Verständnis ‚der Naturordnung‘ oder zumindest einer „unteilbaren Rationalität, einer ungeteilten rationalen Kultur“204 beziehen müssen. Es sind weitläufig Fragen nach der Erkennbarkeit der Welt, in der sich verschiedene Kulturen vorfinden, wie auch nach der Konstitution des Zusammenhangs von Theorie und Praxis, der das Zusammenleben möglich macht. Wie ordnet Habermas diese Probleme ein? Ist bei Kant erkennbar, dass wir erst epistemische und dann moralische Weltbürger sind (so Höffe, vgl. II.1.C), kann bei Habermas von solch einer Reihenfolge nicht die Rede sein. Im Gegenteil, die Praxis ist der Erkenntnistheorie vorgeordnet. Diese Priorität macht sich auch werksgeschichtlich bemerkbar: Außer in den Publikationen Erkenntnis und Interesse und Wahrheit und Rechtfertigung konzentriert er sich nicht gezielt auf Fragen der theoretischen Vernunft – eine „theoriestrategische Einseitigkeit“, wie er selber sieht.205 Deshalb gilt es, im Folgenden danach zu fragen, welche neuen Akzente in Wahrheit und Rechtfertigung gesetzt werden (ii).206 Als Grundlage dienen Weichenstellungen aus dem Werk Nachmetaphysisches Denken (i). 204 

Mittelstraß, Glanz, 98. der Entwicklung seiner Diskurstheorie in den 1980er Jahren verwendet er zwar Grundbegriffe z.B. Wahrheit, Objektivität und Rationalität, aber nicht im Sinne der theoretischen Philosophie. Weder das Interesse an „der Metaphysik am Sein des Seienden noch das Interesse der Epistemologie an der Erkenntnis von Gegenständen oder Tatsachen, nicht einmal das Interesse der Semantik an der Form von Aussagesätzen“ leitet ihn dort (Habermas, Einleitung, in: WR, 7). 206  Dass für Habermas die theoretisch-philosophischen Fragen in seinem Hauptwerk nicht im Mittelpunkt seines Interesses stehen, hat Konsequenzen für die Rezeption seiner 205  In

88 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Diese Texte führen in zweierlei Hinsicht zum Kern dieser Arbeit: Zunächst verweisen sie auf eine wichtige Anfrage an das habermassche Werk, die sein mangelndes Interesse für das individuelle Moment von Tradition, Religion und Kultur betrifft: Kann er einen hinreichenden Begriff des alle Kulturen verbindenden ‚Allgemeinverbindlichen‘ der Vernunft entwickeln, wenn das Individuelle unterbestimmt bleibt? Sodann ergibt sich im Theorievergleich mit dem hermsschen Werk und mit Blick auf die Bestimmung einer Topik interkultureller Verständigung das Problem der Selbstständigkeit der Wahrheitsthematik im Verhältnis zur Ästhetik, zu den Religions- und Moraltheorien. Habermas gilt in der gegenwärtigen Philosophie als einer der Hauptvertreter der Beibehaltung der kantischen Unterscheidung verschiedener Rationalitätsaspekte. 207 Zugleich ist die Zusammenführung dieser Aspekte im Akt der Kommunikation für das Gelingen verständigungsorientierter Interaktion notwendig (II.2.A.i). Wie also wird der Begriff der Wahrheit im Horizont der Differenzen eingeführt? Der Verhältnisbestimmung von ‚Einheit und Differenz‘ sowie von ‚Allgemeinheit und Individualität‘ ist nun nachzugehen. i. Nachmetaphysisches Denken (1988) a. Die Ablösung der Metaphysik Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Dieter Henrich benennt Habermas vier Aspekte metaphysischen Denkens und zeigt (in aller Kürze), weshalb er ihre Überwindung für geboten hält:208 Als Erstes wird Habermas zufolge das Identitätsdenken der metaphysischen Tradition durch die Verfahrensrationalität in Frage gestellt. Mythos und antike Philosophie eint der Blick auf das Ganze: Ob Schöpfergott oder abstraktes Sein, Habermas bezeichnet sie als Beispiele, Mannigfaltigkeit und Differenz einerseits und das Eine, Ganze und Identische andererseits als Grundrelation zu verstehen. Solch „totalisierende[s]“ Denken wird z.B. durch die erfahrungswissenschaftliche Methode der Naturwissenschaften oder durch den Formalismus der Moral- und Rechtstheorie unterlaufen, so Habermas weiter, indem diese von jenem Begründungsleistungen einfordern und dementsprechend Ausdifferenzierungen in den Geltungsaspekten erkennbar werden (41). Das heißt im Arbeit. Es werden zwar sporadisch z.B. erkenntnistheoretische Fragen behandelt, aber selten mit einem Blick für den Zusammenhang zwischen praktischen und theoretischen Fragen. Dies gilt für alle wichtigen Einführungen, z.B. die ansonsten umsichtigen Einführungen von Detlef Horster, Alessandro Pinzani und Hauke Brunkhorst, die einige Jahre nach der Veröffentlichung von WR erschienen oder überarbeitet worden sind (vgl. I.3 Fn. 155). Auch in der weiteren Sekundärliteratur wird diese Thematik wenig beachtet, vgl. Pinzani oder René Görtzen (vgl. I.3 Fn. 155). Erst seit WR sind einige Auseinandersetzungen mit seiner Wahrheits- und Erkenntnistheorie erschienen: vgl. Aboulafia, ‚Habermas‘; Larmore, Zwang; ­Lafont, Objektivität. 207  Vgl., wie bereits angemerkt, Welsch, Vernunft, 451 ff., 486; II.1.C. 208  Habermas, Motive, in: ND, 36 ff. Seitenzahlen im Folgenden im Text.

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Übrigen nicht, dass Habermas den philosophisch-interpretativen Blick auf das Ganze ablehnt. Im Gegenteil: In der Lebenswelt ist eine intuitive, vorwissenschaftliche Ganzheit für jeden gegenwärtig, aber diese ist nicht mit „jener Totalität des All-Einen“ zu identifizieren, welche die Metaphysik abbildet (46 f.). Die nachmetaphysische Philosophie operiert hingegen mit einem anderen, nämlich einem naturalisierten Weltbegriff (vgl. II.2.B.ii.b). Welchen Geltungsanspruch Habermas mit diesem Weltbegriff verbindet, ist jedoch unklar. Einerseits will er das Identitätsdenken für obsolet erklären, andererseits die Soteriologie der Religionen und das Weltwissen der Kosmologien daraufhin überprüfen, ob sie modernen Bürgern mit guten Gründen einleuchten können. Falls sich diese „alten Wahrheiten“ kritisch aneignen lassen, können sie anschließend transformiert und in argumentative Verfahren integriert werden. 209 Zweitens wird nach der habermasschen Konzeption der ‚Idealismus‘210 durch den Prozess der Detranszendentalisierung erschüttert: Wird seit der Antike eine „innere Beziehung“ zwischen dem Denken und dem Sein hergestellt, sodass die begrifflich dargestellte Ordnung der Dinge selbst die Attribute des „Allgemeinen, Notwendigen und Überzeitlichen“ erhält (38), ist durch das moderne Geschichtsbewusstsein die Kontingenz und Endlichkeit der „situierten Vernunft“ heute anerkannt (41). Mit dieser Situiertheit ist zunächst ein breites Spektrum an Kritikansätzen aus der Lebensphilosophie, dem Historismus und der Phänomenologie gemeint, welche die privilegierte Stellung des transzendentalen Subjekts aufzulösen drohen. Allerdings, so Habermas weiter, bleiben diese Ansätze den „begrifflichen Vorentscheidungen der Transzendentalphilosophie“ verhaftet und deshalb sei es unumgänglich, sich dem anderen, neuen Paradigma zuzuwenden, welches mit der linguistischen Wende eingeführt wird (51). Drittens wird infolge dieser ersten Kritiken die Bewusstseins- durch die Sprachphilosophie ersetzt: Identitätsdenken und Ideenlehre werden dabei, so Habermas, von der idealistischen Philosophie durch den „Paradigmenwechsel von der Ontologie zum Mentalismus“ auf der „Grundlage der Subjektivität“ erneuert (41 f.). Die sich daraus ergebende Subjekt-Objekt-Verengung soll durch Erkenntnisse der intersubjektiven, sprachlichen Verfassung menschlicher Welterfassung überwunden werden. Zwei sachliche Vorteile biete dieser Schritt: Bleibe die Philosophie an der Subjektivitätstheorie orientiert, werde sie sich weiterhin gegenüber dem Materialismus verteidigen müssen, während sich 209  Die Metaphysik berührt sich demnach eng mit der Religion, aber sie geht nicht darin auf, es empfiehlt sich, „um der Klarheit willen von metaphysischen und religiösen Fragen zu sprechen“ (Habermas, Metaphysik, in: ND, 23). Die Religion hat sich aber durch selbstreflexive Kritik weiterentwickelt, ja die Wurzeln nachmetaphysischen Denkens liegen im jüdisch-christlichen Denken (Pinzani, ‚Habermas‘, 133). 210  Habermas unterscheidet nicht, welchen Idealismus er vor Augen hat. Im Verlauf der Argumentation steht zunächst der platonische im Vordergrund, daraufhin der deutsche Idealismus, bei dem er allerdings kantische und hegelsche Anliegen zusammenführt.

90 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens die Intersubjektivitätstheorie an den empirisch gegebenen Sprach- und Kommunikationsphänomenen abarbeite. Zudem sei das Problem der Individualität in den Grundbegriffen der Metaphysik unlösbar (52). Dass m.E. diese beiden anspruchsvollen Probleme auch in der sprachphilosophisch orientierten Intersubjektivitätstheorie bestehen bleiben, werden die folgenden Abschnitte zu verdeutlichen suchen. Schließlich wird der starke, der Praxis vorgestellte Theoriebegriff durch Habermas kritisiert: Philosophie, die sich ursprünglich auf die Theorie konzentriert, besitze einen sakralen und elitären Charakter und selbst in der Neuzeit behalte sie eine absolutistische, verachtende Haltung gegenüber Materialismus und Pragmatismus bei. Durch ein intensiviertes Verständnis für die Einbettung der Theorie in die Kontexte ihrer praktischen Entstehung und Verwendung entsteht demnach ein Bewusstsein für die alltäglichen Bezüge der Kommunikation wie auch des Handelns insgesamt. Vereinfacht ausgedrückt wird dieser Versuch einer nachmetaphysischen, aber quasi-transzendentalen Philosophie zunächst von zwei Seiten scharf kritisiert: Auf der einen Seite stehen radikale Konstruktivisten und Relativisten. Aus deren Sicht ist die Position von Habermas problematisch – gerade auch für den interkulturellen Diskurs –, weil er an dem universalen Geltungsanspruch der Vernunft weiterhin festhält. Dagegen wird das Heterogene, Kontingente, Abweichende als solches hervorgehoben. Indem Habermas sich den (letztlich ‚idealistischen‘) Motiven der Allgemeinheit und Notwendigkeit verbunden wisse, zeige sich ein latenter Cartesianismus in seinem Denken. 211 Richard Rorty macht mit Bezug auf John Dewey dagegen die pragmatistische Einsicht konsequent geltend, dass „das, was in der Praxis keinen Unterschied macht, philosophisch ebenfalls keinen Unterschied machen sollte“.212 Rorty behauptet, dass „Erkenntnis“, „Wissen“ und auch „Wahrheit“ keine fundierenden Konzepte, sondern lediglich ein Lob dessen darstellen, „das man den Überzeugungen spendet, die man für derart gerechtfertigt erachtet, daß eine weitere Rechtfertigung zur Zeit nicht vonnöten sei“. 213 Auf der anderen Seite wird Habermas von Denkern herausgefordert, die eine transzendentale Letztbegründung für notwendig erachten. So meint Karl-Otto Apel in der Diskursethik die apriorischen Annahmen bestimmen zu können, die im Pluralismus der Glaubensmächte einen absoluten, archimedischen Punkt der Selbstreflexion sichern. Diese Annahmen seien implizit mit jeder Argumentation und in jeder sinnvollen Handlung gegeben.214 Mit der Selbstaufklärung 211  Margolis, Vicissitudes, 31–46. Zu verweisen ist auch auf die Positionen von JeanFrançois Lyotard und Odo Marquard, die mit unterschiedlichen Zielrichtungen kontextualistische Argumente verfolgen. 212  Rorty, Vorwort, 9. 213  Rorty, Solidarität, 17; vgl. Joas/Knöbl, Sozialtheorie, 693. 214  Apel, Relationship, 17–30.

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über die Bedingungen der Möglichkeit von Argumentation soll eine Theorie und Praxis umgreifende Letztbegründung möglich gemacht werden.215 Habermas erwidert, dass innerhalb der Sprachphilosophie ein Äquivalent für so etwas wie Kants transzendentale Deduktion der Verstandeskategorien fehlt und auch unnötig ist. 216 Alle drei Positionen (die konstruktivistische Position von Rorty, die letztbegründende von Apel und der Mittelweg von Habermas) eint die Überzeugung, dass sie ohne metaphysische Annahmen philosophisch arbeiten können und sollten. Aber ist diese Prämisse stimmig? Das Ziel der Habermas-Rezeption von Rudolf Langthaler ist es, den Begriff der Nachmetaphysik einer kritischen Analyse zu unterziehen. Dabei werden Mängel in der Argumentation offengelegt, anhand dessen Habermas die traditionelle Metaphysik als für die neuzeitliche Philosophie überflüssig nachweist. Zudem wird auch dessen Selbstverständnis hinterfragt, mit dem die Ablösung der Fragen der Bewusstseinsphilosophie betrieben wird. „Tatsächlich hat sich jedoch gegenüber einer überzogenen Einschätzung der philosophiegeschichtlichen Bedeutung dieser eingeleiteten ‚kommunikationstheoretischen Wende‘ und dem darin von Habermas proklamierten ‚Ende der Subjektphilosophie‘ skeptische Zurückhaltung als notwendig erwiesen.“217

Dieter Henrich ist wohl der prominenteste Kritiker des Versuches von Habermas, ohne „metaphysische Rückendeckung“ zu philosophieren. 218 Habermas entkomme demnach in seiner Naturalismusaffinität der Metaphysik letztlich nicht, sein Naturalismus könne vielmehr „mit einem Recht, was weit geht“, eine Form der Metaphysik genannt werden. 219 Derweil muss beachtet werden, dass Henrich und Habermas unterschiedliche Metaphysikbegriffe entwickeln: Für Henrich verweist der Begriff wie in der kantischen Verwendung nur auf die Funktion eines Abschlusses. Diese Funktion sei mit einem modernen Verständnis der Metaphysik insofern kompatibel, als eine letzte Verständigungsebene über das Verhältnis verschiedener Formen des Diskurses und der Erfahrung bestimmt wird. Henrich ordnet diesen Abschlussgedanken in eine umfangreiche Philosophiekonzeption ein, in der Antworten auf Lebensfragen gegeben werden. Habermas dagegen, so der Vorwurf von Henrich, entziehe sich der Frage nach dem bewussten Leben und löse die Aufgabe der Herstellung eines Zusammenhangs durch eine naturalisierende Konzeption, die letztlich auf eine „Selbstdistanzierung“ hinauslaufe. 220 215  Vgl. die Darstellung von und Diskussion mit Apel bei Habermas, Erläuterungen, in: ED 190. 216  AaO. 194 f. 217  Langthaler, Denken, 411. 218  Dieter Henrich, Metaphysik, 11–43; vgl. Daniel Henrich, Bewusstseinsphilosophie, 215–225. 219  Dieter Henrich, Metaphysik, 24. 220 Ebd.

92 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Habermas zeigt Verständnis für diese Einwände. 221 Wird der Begriff der Metaphysik für die Aufgabe der Sinnvermittlung zwischen dem lebensweltlich erfassten ‚Ganzen‘ (vor allem der Weltreligionen, aber eben auch der philosophischen Kosmologien) und dem rekonstruktiven Expertenwissen verwendet, ist es für ihn plausibel, von einer handlungsleitenden Metaphysik zu sprechen. Allerdings – und hier ist Habermas unnachgiebig – kann die Philosophie selbst keine abschließenden und integrierenden Gedanken (im Sinne von Kants Metaphysik) produzieren. Sie stellt nicht selbst Traditionen „einer sozialisationswirksam eingreifenden Lehre“, und sie verfügt über keinen „privilegierten Zugang zu Wesenseinsichten“. 222 Vielmehr würde sie das Ziel ihrer eigenen Aufgabe der Klärung allgemeiner Strukturen menschlicher Praxis unterlaufen, wenn sie die hier längst etablierten Differenzierungen zwischen Wissenschaft, Recht und Moral mit eigenen Ganzheitsvorstellungen auflösen würde. Diese Konzentration auf die allgemeinen Strukturen und die Missachtung deren Genese wird allerdings von Kritikern hinterfragt, wie die folgende Rückfrage und Anmerkung Manfred Franks an Habermas verdeutlicht: b. Intersubjektivität und Subjektivität223 „Woher rührt eigentlich die Furcht, Individualität in den Rang eines Erklärungsprinzips zu erheben?“224 Frank vermutet, dass darin die sozialtheoretischen Bedenken gegenüber Privatisierungstendenzen, bourgeoiser Individualisierung und dem methodischen Solipsismus zutage treten. Habermas antwortet dagegen mit einer theoriegeschichtlichen Betrachtung: Der erste Gewährsmann, den er für eine Theorie der Intersubjektivität anführt, ist Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Dieser gilt zwar in dieser Hinsicht als unverdächtig, aber Habermas führt den Nachweis, dass Hegel in den Jenaer Vorträgen bereits entscheidende Wegmarkierungen einer solchen Theorie setzt – um schließlich doch wieder zum objektiven Idealismus zurückzukehren.225 Hegel hinterfragt nämlich die einsame Welterzeugungskraft des Subjekts und hebt die Beziehungen und Kontexte hervor, in denen sich das erkennende Subjekt bereits vorfindet und in denen eine wechselseitige Prägung stattfindet. 226 Er unterläuft damit die Dualismen, die bis dahin die kategoriale Diskussion bestimmten: Grenzen zwischen Spontaneität und Rezeptivität, Form und Materie, Allgemeinheit und Besonderheit werden durchlässig. 227 Wesentliche 221 

Habermas, Metaphysik, in: ND, 18–34. AaO. 26 (Hervorhebung im Original). 223  Vgl. Habermas, Entgegnung, in: Honneth, Handeln, 328 ff.; ders., Individuierung, in: ND, 187–242. 224  Frank, Selbstbewußtsein, 475. Vgl. Möres, Ich, 96–110. 225  Habermas, Detranszendentalisierung, in: WR, 186–229. 226  AaO. 191, 195. 227 Denn: „Das Subjekt hat sich immer schon in Prozesse der Begegnung und des Austauschs verstrickt, findet sich selbst immer schon in Kontexten vor. […] Hegel bestreitet, daß 222 

II.2. Auf der Spur ‚interkultureller Vernunft‘ im Hauptwerk

93

Theorieelemente fügt des Weiteren Wilhelm von Humboldt hinzu: Bei ihm bildet nicht das ‚Ich denke‘ den Ursprung der Erkenntnisleistung, sondern in der Sprache wirken die Anderen immer schon auf ‚mich‘ ein. Zwar steht bereits bei Platon der Dialog im Mittelpunkt der Erkenntnistheorie und Humboldt orientiert sich an dessen Gesprächsmodell. Aber deutlicher als jener wird dieser den monologischen Ausgangspunkt wissenschaftlichen Denkens zu Gunsten dialogischer Erkenntnis hinterfragen. 228 Der neue Ausgangspunkt beinhaltet deshalb sowohl für die Erkenntnistheorie als auch für die Sozialtheorie weitreichende Konsequenzen. Denn die kommunikationstheoretische Grundfigur der Verständigung zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten über etwas in der Welt verdeutlicht die konstitutive Beziehung zwischen Alter und Ego. Bereits Humboldt, so Habermas weiter, versteht die Sprechakte als Koppelungen für Interaktionen und begreift „Verständigung als einen Mechanismus, der uno actu vergesellschaftet und individuiert.“229 Es ist aber George Herbert Mead, der diese ersten Ansätze so weiterentwickeln wird, dass er das im ‚Ich‘ zentrierte Bewusstsein nicht als ein unmittelbares, innerliches Phänomen darstellt, sondern den Interaktionszusammenhang der Introspektion des Einzelnen voranstellt: „Er verabschiedet das Reflexionsmodell des Selbstbewußtseins, demzufolge das erkennende Subjekt sich, um seiner habhaft und dadurch bewußt zu werden, auf sich als Objekt bezieht.“230 Im Anschluss an die Rezeption dieser kurz zusammengefassten Theoriegeschichte müssten essentielle Begriffe (‚Autonomie‘, ‚Individualität‘ und ‚Subjekt‘) ausführlich diskutiert werden und zugleich das Verhältnis zur neueren Philosophy of Mind bestimmt werden, in der die sprachpragmatische Wende hinterfragt wird. 231 Solch eine Diskussion kann hier nicht stattfinden, einige der Begriffe werden im Verlauf der Arbeit allerdings noch einmal aufgegriffen (vgl. III.3.B.ii; III.3.C.ii).

Wichtig ist es, die Zielrichtung der Argumentation von Habermas zu verstehen: Er will sich der Diskussion um die Grenzen der Subjektivitätstheorie gänzlich entziehen. Erst im Paradigma der Verständigung könne die falsche Alternative zwischen der überdehnten Beanspruchung der welterfassenden Kraft des Einzelnen und dem fatalistischen (postmodernen) Skeptizismus überwunden werden. Sich verständigende Subjekte sind sowohl autonom gegenüber als auch abhängig von der Sprache, denn Handlungsfähigkeit wird durch grammatische das erkennende, sprechende und handelnde Subjekt vor der Aufgabe steht, eine Kluft zwischen sich und einem von ihm separierten Anderen zu überbrücken.“ (AaO. 195) 228 Vgl. Habermas, Entgegnung, in: Honneth, Handeln, 331. Weder Saussure noch Chomsky sehen wie Humboldt „das Gespräch als Mittelpunkt der Sprache“. TkH ist der Versuch, aus diesem sprachtheoretischen Ansatz eine Gesellschaftstheorie zu entwickeln (aaO. 327). 229  AaO. 332 (Hervorhebung im Original). 230  Habermas, Individuierung, in: ND, 209. 231  Vgl. Frank, Selbstbewußtsein, 410 ff., der einen Überblick auch über die Arbeit von Ernst Tugendhat bietet, auf den sich Habermas und Henrich beziehen.

94 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Regelsysteme einerseits erst möglich gemacht und andererseits agieren Handelnde innerhalb dieser Systeme auf selbstbestimmte Weise. „Beide Momente sind gleichursprünglich.“232 Irritierend ist, dass die Gleichursprünglichkeit bei Habermas zu Lasten der Subjektivität durchweg unterbestimmt bleibt: „Vielmehr entsteht die Selbstbeziehung aus einem interaktiven Zusammenhang“, sie resultiert „aus der Perspektivenübernahme des kommunikativen Handelns“. 233 Gegenüber dieser Einseitigkeit argumentiert Dieter Henrich zu Recht, dass es unmöglich ist, die Entstehung von Selbstbezüglichkeit aus der Interaktion zweier Organismen zu erklären. 234 Ihre wechselseitige Bezugnahme ist zudem nur möglich, wenn beide die Fähigkeit besitzen, die Gerichtetheit des Aktes ihres Gegenübers auf sich selbst zu erkennen. Manfred Frank stimmt diesem Urteil zu, denn Intersubjektivität kann lediglich Gegenstand einer erkenntnistheoretischen Frage werden, wenn sie bereits durch das Individuum als solche erkennbar wird. 235 Peter Dews schlägt angesichts der weitreichenden Debatte eine vermittelnde Position vor. Er behauptet zwar mit Habermas, dass der Paradigmenwechsel von der subjektzentrierten zur kommunikativen Vernunft eine der entscheidenden Entwicklungen („if not the crucial development“) in der Geschichte westlicher Philosophie seit Hegel anzeige, aber es gebe keinen Anlass, die Fragen und Probleme der Subjektivitätstheorie auszugrenzen, denn ein neues Paradigma könne nicht einfach die vorhergehenden ersetzen: „Rather, they [die Fragen des alten Paradigmas] have reappeared in an altered form, as a fundamental tension with which our thinking is confronted – the tension between subjectivity and intersubjectivity.“ 236

Solch eine vermittelnde Position bereitet Friedrich Schleier­macher vor, auf den Habermas allerdings hier nicht eingeht; Gunther Wenz kritisiert diese Lücke in der habermasschen Kommunikationstheorie zu Recht. 237 Neben Humboldt ist es Schleier­macher, der die Bedeutung der Reproduktionskraft der Kommunikation und der intersubjektiven Wissensüberprüfung betont. Schleier­macher entwickelt zudem eine Wissenstheorie, in der Bewusstseinsphilosophie und Intersubjektivitätstheorie komplementär aufgestellt werden (vgl. die Diskussion unter III.2.C). 238

232 

Habermas, Motive, in: ND, 51. Metaphysik, in: ND 32 f. (Hervorhebung im Original), spricht von dem aus dieser Perspektive „resultierende[n] Selbstverhältnis“. 234  Vgl. Dieter Henrich, Metaphysik, 24 ff., vgl. Daniel Henrich, Bewusstseinsphilosophie, 84. 235  Frank, Selbstbewusstsein, 477. 236  Dews, Paradigms, 11 (Hervorhebung im Original). 237  Wenz, Religion, 76–88; ders., Subjektivität, 224–240. 238  Wenz, Religion, 87. 233  Habermas,

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95

Bei Humboldt (und bei Schleier­machers vergleichbarem Ansatz) wird der interkulturelle Anspruch seiner Theoriebildung deutlich, denn die Sprache ermöglicht bei ihm einen neuen Zugang zum Problem der Erfassung von Einheit in der Differenz und der Verhältnisbestimmung von Individuen, Nationen und Völkergemeinschaft zueinander. Einerseits erzwingt nämlich die Sprache die Individuierung der Völker und einzelner Subjekte, andererseits entsteht in der Unterscheidung die Idee der Einheit. Alle Sprachformen laufen nämlich auf einen Konvergenzpunkt zu und sie lassen Humboldt von der „konstanten und gleichförmigen Arbeit“ des Geistes sprechen: „Die hat zum Zweck das Verständnis. Es darf also Niemand auf andere Weise zum Anderen reden, als dieser unter gleichen Umständen zu ihm gesprochen haben würde.“239 Habermas folgert, dass das Allgemeinverbindliche kommunikativer Rationalität deshalb in der Pluralität der Lebenswelten zum Tragen kommt, da sie sich alle „über das Medium verständigungsorientierten Handelns reproduzieren müssen.“240 Dieser Gedanke wird nun im folgenden Text erläutert. c. „Die Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen“241 Die Hauptthese dieses Aufsatzes greift den schon genannten humboldtschen Impuls auf: Die „Einheit der Vernunft“ bleibt lediglich in der „Vielheit ihrer Stimmen vernehmbar – als die prinzipielle Möglichkeit eines wie immer okkasionellen, jedoch verständlichen Übergangs von einer Sprache in die andere“ (155). Diese Aussage macht Habermas sowohl gegenüber metaphysischen Begriffen geltend, die der Einheit den Vorrang vor der Vielheit gewähren, als auch gegenüber der kontextualistischen Sicht, die der Vielheit die Priorität vor der Einheit einräumt. Beide Bestrebungen enttarnt er als „heimliche Komplizen“ (ebd.), deren schlichtes Für und Wider dem differenzierten Streit um ‚Einheit und Vielheit‘ kaum gerecht wird. Der Verhältnisbestimmung von ‚Einheit und Vielheit‘ geht Habermas in der Ablösung des Mythos durch die Metaphysik nach und greift exemplarisch die Theorie Plotins auf, um drei weitreichende Verwicklungen aufzuzeigen: Zunächst stellt sich das Problem, dass das Eine, um Alles zu sein, in Allem und zugleich über Allem sein muss, um das Eine zu bleiben – also gleichsam immanent und transzendent. Im Anschluss daran stellt sich die Frage, welchen Status und Wert das Einzelne dann behält: Ist es lediglich ein Abbild des Allgemeinen? Wenn das Besondere nur in Relation zum Allgemeinen besonders ist, ist dann Raum für Einzelnes? Habermas jedenfalls sieht die Gefahr, dass das Individuelle unter Gattungsbegriffen subsumiert und somit dem Nichtidentischen Gewalt angetan wird: „Die metaphysischen Denkfiguren versagen vor dem In239 

Humboldt, Verschiedenheit, 42, vgl. Habermas, Entgegnung, in: Honneth, Handeln,

240 

AaO. 335. Habermas, in: ND, 153–186. Seitenzahlen im Folgenden im Text.

333.

241 

96 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens dividuellen“ (160). Schließlich erwächst das Problem, dass dem Ideellen die Materie entgegengehalten und das Materielle als Negativfolie gegenüber dem Intelligiblen und Guten eingesetzt wird. Kant greift diese Probleme auf und sucht sie in dem neuen Paradigma der „Vernunft als Quelle weltbildender Ideen“ zu bearbeiten (162; Hervorhebung im Original). Die Frage nach der Identität des Einen und des Vielen entspannt sich im Zuge dieser Kritik, denn sie wird nun nicht mehr an der objektiven Realität festgemacht, sondern im Rahmen der idealisierenden Synthesis gelöst – die Einheit steht lediglich als Ergebnis der regulativen Vernunftideen bereit. Auch die Herabsetzung des Materiellen zu Gunsten der Ideen entfällt, denn letztere sind das Resultat endlicher Vernunftwesen, die auf die äußere Welt mit ihren Sinneswahrnehmungen angewiesen sind. Bei Kant bleibt aber der Gedanke der Einheit242 ebenso problematisch wie das Thema „der Unaussprechlichkeit des Individuums“ (165). Hegel greift beide Probleme auf und sucht sie mit der in den metaphysischen Rang gehobenen ‚Geschichte‘ zu lösen: Der subjektive Geist steht dabei in einem Prozess der Selbstvermittlung, in der die verschiedenen Dualismen von Form und Inhalt oder noumenaler und intelligibler Welt in einem einzigen Bildungsprozess aufgehoben werden. Zugleich soll dem Individuellen insofern Rechnung getragen werden, als es in der „Form eines konkret Allgemeinen“ dem Identischen entgegensteht (168). Letztlich kann Hegel aber die Kontingenzen und Unbestimmbarkeiten der Geschichte eben nicht in einen Geschichtsverlauf zusammenfügen, sodass seine Nachkommen sich „dem unvorhergesehenen Anderen und Neuen“ widmen, um daraus die einheitsstiftende Kraft der Vernunft zunehmend als voreiliges Konstrukt zu enttarnen (170). Aus dieser Ideengeschichte heraus sind Positionen der Gegenwart, 243 wie diejenige von Richard Rorty, zu erklären, der den Vernunftbegriff als Versuch einer assimilierenden Einordnung fremder Ideen und Kulturen an die eigene versteht. Für Rorty, wie bereits oben ausgeführt, spielen Wahrheit und Vernunft nur die legitimierende Rolle partikularer Geltungsansprüche gegenüber fremden Weltanschauungen. Rorty missachtet aber, so Habermas im Anschluss an Hilary Putnam, 244 dass, trotz des Widerstreits aufeinanderprallender Ratio242 

Das Problem der Einheit verlagert sich dahin gehend, dass nun die Verhältnisbestimmung von praktischer und reiner Vernunft, von Freiheit und Natur wie auch von Moral und Recht unkonturiert bleiben. Bemerkenswert ist, dass Habermas den Versuchen Fichtes und Schleier­machers nicht nachgeht, die diese Schwierigkeit bearbeiten. 243  Habermas führt die Ideengeschichte über Marx und Kierkegaard weiter bis hin zur Vernunftkritik Joachim Ritters und Odo Marquards, um schließlich bei der Wissenschaftskritik Thomas Kuhns’ anzugelangen. 244  Putnam wird von Habermas wie folgt zitiert: „Diese kommunikative Vernunft ist ‚immanent‘, nämlich außerhalb konkreter Sprachspiele und Institutionen nicht zu finden, und zugleich transzendent – eine regulative Idee, an der wir uns orientieren, wenn wir unsere Tätigkeiten und Einrichtungen kritisieren.“ (AaO. 179)

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nalitätsstandards, wechselseitige Perspektivenübernahmen stattfinden, die auf Verständigungsmöglichkeiten und kulturübergreifende Lernprozesse schließen lassen. Jedenfalls lassen diese sich nicht auf eine schlichte Assimilation der einen oder anderen Seite reduzieren, sondern in der gegenseitigen Anhörung wird bereits die Möglichkeit symmetrischer Beziehungen der Argumentationsteilnehmer vorausgesetzt (177). Wird die Symmetrie der Ansprüche beachtet und der Perspektivenwechsel reziprok vollzogen, können Lernprozesse einsetzen. Und diese gehören „weder uns noch ihnen“: „Denn Konzepte wie Wahrheit, Rationalität oder Rechtfertigung spielen in jeder Sprachgemeinschaft, obwohl sie verschieden interpretiert und nach verschiedenen Kriterien angewendet werden, dieselbe grammatische Rolle.“ (178; Hervorhebung im Original)

Habermas zeichnet die Konturen einer „schwachen“, keineswegs aber „defaitistischen“ Vernunft (182, meine Hervorhebung), um nicht den Fehlschluss einer inkommensurablen interkulturellen Vielfalt zuzulassen. Oder anders ausgedrückt: Aus den formalen, pragmatischen Voraussetzungen des In-Kommunikation-Tretens ist ein „Begriff situierter Vernunft“ abzulesen, der kontextabhängig ist (weil er innerhalb bestimmter Sprachen und Institutionen stattfindet) und zugleich diese Kontexte transzendiert, indem Regeln und Normen erstellt werden, mit der unsere Kommunikation kritisiert und orientiert wird (179, meine Hervorhebung). Entscheidend ist es, dass die Möglichkeit der Verständigung nicht mit dem objektivistischen Fehlschluss verwechselt wird, Aussagen über die Welt machen zu können, die für alle Menschen und zu jeder Zeit gültig sind. Ganz bestimmt will Habermas die Transzendierungskraft der kommunikativen Vernunft nicht als Eingriff in die Kontexte der sich begegnenden Diskurspartner verstanden wissen. Beinahe bescheiden wird diese Verständigungsebene eingeführt: Sie ist weniger als eine negative Metaphysik, sie hat keine Möglichkeit des Trostes, aber sie ist nicht trostlos; sie lässt die „Idee einer unversehrten Intersubjektivität“ zu, ohne utopische Hoffnung (185). Der Richtungssinn dieser Argumentation ist klar: Habermas verfolgt die Ausbildung eines schwachen, situierten Begriffs der Vernunft, deren Potenz sich aus der bewussten Inanspruchnahme alltäglichen, gelungenen kommunikativen Handelns erklärt. Aber berücksichtigt diese spezifische Fassung der Vernunft deren gesamte Leistungskraft? Wird Habermas’ Theorie damit der Differenzierungskraft und Vielfalt des Vernunftbegriffs gerecht? Diesen Fragen widmet sich Habermas in Wahrheit und Rechtfertigung.

98 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens ii. Wahrheit und Rechtfertigung (1999) a. Differenzierungen im Rationalitätsbegriff245 Herbert Schnädelbach kritisiert den habermasschen Vernunftbegriff als reduktionistisch: Die Fixierung auf die Verfahrensrationalität – die Begründbarkeit und Kritisierbarkeit von Äußerungen – als Definition des Rationalen ist für Schnädelbach zu eng gefasst, weil in deren Folge alles, was nicht vollständig argumentativ geltend gemacht werden kann, als irrational ausscheiden muss. Dabei ist die Kritik an Habermas nicht so zu verstehen, als würdige Schnädelbach dessen innovative Wendung im Vernunftverständnis nicht: Ausdrücklich folgt dieser jenem in der Theorie des kommunikativen Handelns und ihrer Gegenüberstellung von instrumenteller und kommunikativer Vernunft.246 Die Basis aller verschiedener Rationalitätsformen ist nach Schnädelbach aber „Rationalität als Verständlichkeit“. 247 Dazu gehört, neben der Kommunikation, die Einsicht, dass es letztlich „das animal rationale selbst ist, das seine rationalitas untersucht“. 248 Deshalb kann dieses sie niemals vollständig objektivieren.249 Vielmehr ist Rationalität auf eine Vernunftdisposition zurückzuführen, die sich im „reflexive[n] Haben“, in der Selbstthematisierung äußert (103). 250 Einerseits verteidigt Habermas in seiner Auseinandersetzung mit Schnädelbach die diskursive Verfahrensrationalität: Für ihn ist Schnädelbachs Definition letztlich monologisch und berücksichtigt nicht, dass Reflexion sich einem vorgelagerten kommunikativen Verhältnis verdankt. Deshalb müssen Diskurs und Reflexion als aufeinander verweisend aufgestellt werden. Andererseits betont Habermas, dass Schnädelbachs Einwand berechtigte Kritik enthält: Im Reden, Handeln und Wissen sind drei „Wurzeln der Rationalität“ verborgen, die durch die Diskursrationalität integriert, aber nicht fundiert werden können (104; Hervorhebung im Original). Das heißt: Erstens wird die Diskursrationalität nicht weiter als Grundlage der unterschiedlichen Dimensionen angesehen, sondern ‚nur‘ noch als Integrations­ fläche. Habermas erkennt an, dass Erkennen und Handeln nicht alleine auf einem diskursiven Geltungsanspruch beruhen, sondern monologisch verfasst 245 

Habermas, Rationalität, in: WR, 102–137. Seitenzahlen im Folgenden im Text. Schnädelbach, Vernunft; ders., Transformation, 15–34. Schnädelbach und Habermas verbindet ihre Kritik an ihren gemeinsamen Lehrern Horkheimer und Adorno, die Vernunft auf ihren instrumentellen Gebrauch zu reduzieren beabsichtigten. 247  Schnädelbach, Vernunft, 140 f. 248  Ebd. (Hervorhebung im Original) 249  Schnädelbach vermutet, dass „dieser logische Tatbestand der systematische Grund dafür ist, dass ‚Vernunft‘ ein offenes Konzept ist, das Veränderung zulässt“ und „eine Geschichte“ hat (ebd.). 250  Irritierend ist bei Schnädelbach wie auch bei Habermas, dass sie die kantische Unterscheidung zwischen Vernunft und Rationalität an bestimmten Stellen mitzutragen scheinen, an anderen sie konsequent unterlaufen. Damit wird Verwirrung über die Grenzen der Vernunft gestiftet. 246  Vgl.

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sind (113). Zwar ist es bemerkenswert, dass Habermas diese subjektivitätstheoretische Dimension der Rationalität nun hervorhebt, aber Konsequenzen dieses Eingeständnisses sind nicht erkennbar. Denn Habermas schränkt deren Bedeutung umgehend wieder ein, um die diskursive Ebene von Erkenntnisprozessen und Handlungsfolgen aufzuzeigen. So argumentiert er, dass monologische Darstellungen und Handlungspläne, sobald sie in Frage gestellt werden, vor anderen gerechtfertigt werden müssen – und somit intersubjektiv herausgebildet werden. Zweitens wird zwischen verständnis- und einverständnisorientiertem Sprachgebrauch unterschieden: Einverständnis definiert Habermas so, dass ein Geltungsanspruch von Beteiligten „aus denselben Gründen“ akzeptiert wird, Verständigung dagegen als eine Anerkennung von Gründen, die für den anderen nachvollziehbar sind, ohne sie jedoch für sich selbst zu beanspruchen (116 f.). Er bezeichnet diese Differenz als Kommunikation in einem „‚schwachen‘“ und einem „‚starken‘ Modus der Verständigung“ (117). Der Sinn liegt darin, zwischen einfachen Imperativen oder Ankündigungen einerseits und Versprechen, Deklarativen und Befehlen andererseits differenzieren zu können, die auf unterschiedliche Qualitäten der Verständigung ausgerichtet sind (vgl. dessen Übersicht auf Seite 130). Drittens wird klargestellt, dass das Medium der Sprache nicht mit der kommunikativen Rationalität zu identifizieren ist: „Weder der Sprache noch dem Handeln wohnt als solchen das Telos der Verständigung inne.“251 Die Sprache erschließt den Menschen zwar die Welt in ihrer Relevanz und in ihrer Totalität, und diese welterschließende Funktion der Sprache steht in einer Beziehung zur Rationalität, ist selbst aber nicht rational – und deshalb verwendet er dafür das Adjektiv „a-rational“ (133). Die Vernunft verzichtet somit auf die Welterschließungsfunktion, zwingt allerdings die aus partikularen Lebenswelten stammenden Diskursteilnehmer zu einem universalistischen Blick auf den Anderen durch die Unbedingtheit, die theoretischen und praktischen Ansprüchen inhärent ist – als eine Art „‚Transzendenz von innen‘“ (134). Habermas justiert seine Rationalitätstheorie somit und bietet neue Unterscheidungen an: Diese Operation ist insofern verwirrend, 252 als diese Differenzierungen nicht zu den vorherigen passen. 253 Die propositionale Struktur des Erkennens, die teleologische Struktur des Handelns und die kommunikative 251 

Habermas, Einleitung, in: PT 2, 21 (Hervorhebung im Original). Die diskursive Rationalität erhält eine Doppelbestimmung: Zum einen ist die kommunikative Rationalität nur für die Dimension des Redens zugeteilt, zum anderen wird die Diskursrationalität als Integrationsfläche für alle drei Ebenen (Handeln, Erkennen und Reden) aufgestellt. Habermas klärt diesen Sachverhalt nicht auf. 253  Diese neuen Unterscheidungen sind m.W. bisher nicht diskutiert worden, sodass Strecker sogar behaupten kann, Habermas habe die ursprünglichen Unterscheidungen aus TkH nicht revidiert, was angesichts der hier vorgelegten Überlegungen nicht stimmt (vgl. Strecker, Gesellschaft, 223). 252 

100 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Struktur des Sprechens werden nun unterschieden; es bleibt dabei unklar, wie sich diese Dreiteilung zu den ursprünglichen Geltungsbereichen der proposi­ tionalen Wahrheit, normativen Richtigkeit und expressiven Wahrhaftigkeit verhält. 254 Letztere, die expressive Dimension, fehlt in dieser neuen Aufteilung, ihr wird keine eigene Rationalität mehr zugestanden – und somit werden die Bereiche der Gefühle, Ästhetik und Religion aus dem Zusammenhang der Vernunft ausgeschlossen. Das Ergebnis dieser Vernunfttheorie ist in mehrfacher Sicht unbefriedigend: Terminologisch bleibt unkonturiert, ob Habermas konsequent zwischen der Übersetzungsfähigkeit der ‚Vernunft‘255 und ihrem Gegenstand der verschiedenen, konkurrierenden ‚Rationalitäten‘ unterscheidet. Diese Differenz ist insofern weiterhin dienlich, als verschiedene Vermögen bzw. Dispositionen des menschlichen Bewusstseins beansprucht und unterschiedliche Aufgaben im Zusammenleben erfüllt werden. Er verfolgt diese kantisch inspirierte Unterscheidung zwischen ‚Vernunft‘ und ‚Verstand‘ deshalb nicht, so ist zu vermuten, weil sie dem bewusstseinstheoretischen Paradigma angehören. Damit werden aber wesentliche Fragen nach der mentalen Reflexion, deren Einheit und deren Individualität verspielt. Die Konzentration auf die Kommunikation, das zeigt Schleier­macher (vgl. III.2.C), verdeutlicht gerade die Brisanz dieser Fragen, denn die Probleme der Subjektivität, des Erkenntnis- und Realitätszugangs werden keineswegs erschöpfend durch eine Interaktionstheorie gelöst. Habermas meint dennoch gute Gründe zu besitzen, diese transzendentaltheoretischen Fragen zu ‚verflüssigen‘, wie seine Argumentation im weiteren Verlauf zeigt. b. Transzendentaltheorie. Wahrheit im Horizont eines schwachen Naturalismus In der ausführlichen Einleitung zu Wahrheit und Rechtfertigung zeigt Habermas, wie sich die transzendentale Fragestellung mit Erkenntnissen des Pragmatismus und Naturalismus verändert und welche Konsequenzen daraus für die Erfassung der Begriffe ‚Wahrheit‘ und ‚Richtigkeit‘ entstehen. 256 Lediglich einige zentrale Gesichtspunkte dieses Gedankengangs sind hier zu erörtern. Infolge der pragmatistischen Kritik der Transzendentaltheorie werden den intrinsischen die extrinsischen Begründungsleistungen vorgelagert: Praxis kommt vor Theorie und Kommunikation vor Darstellung (8). Während tradi254  Es ist zu vermuten, dass die neuen Kategorien ‚Handeln‘ und ‚Sprechen‘ im Bereich der ursprünglichen Kategorie der ‚Richtigkeit‘ liegen. 255  Jedenfalls vollzieht sich die Übersetzung im Prozess der Kommunikation. Aber diese wird von Habermas streng intersubjektivisch gefasst, während die Pointe der Übersetzungsfähigkeit der Vernunft auch das interne, kommunikative Forum der Verstandesaufgaben betrifft. 256  Habermas zeichnet auf knapp 60 Seiten den wesentlichen Gedankengang des Bandes nach, weil die einzelnen Aufsätze „sperriger“ als eine Monografie und nicht „aus einem Guß entworfen“ sind (ders., Einleitung, in: WR, 17). Seitenzahlen im Folgenden im Text.

II.2. Auf der Spur ‚interkultureller Vernunft‘ im Hauptwerk

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tionell die primäre Aufgabe der Erkenntnistheorie darin bestand, einen Bezug zwischen innerer und äußerer Realität herzustellen, richtet der pragmatistische Blick sich vornehmlich auf die gelingende Praxis: Erkenntnis gilt demnach als ein Ergebnis von intersubjektiven Lernprozessen. Handelnde Subjekte lernen, weil angewöhnte Gebräuche oder gezielte Instrumentalisierungen scheitern. Damit entsteht nebst den Sinneseindrücken eine Erfahrungsebene „zweiter Ordnung“, die zwar nicht die Autorität der Sinne ersetzt, aber eine neue Sicht auf die Erkenntnistheorie notwendig macht: „Aus pragmatistischer Sicht ergeben sich ‚Erkenntnisse‘ aus der intelligenten Verarbeitung performativ erfahrener Enttäuschungen.“ (21) Infolge dieser Pragmatik ist die Beziehung zwischen der Erfassung von Gegenständen (theoretische Vernunft) und der Bestimmung sozialer Ordnung (praktische Vernunft) neu auszutarieren. Denn ob soziale Praktiken oder widerständige ‚Welt‘, beide Untersuchungsgegenstände stehen im Horizont desselben Erkenntnisprinzips. Erzwingt nun diese Verschränkung von sozialer und epistemologischer Theoriebildung einen einheitlichen, objektivistischen Wahrheitsbegriff oder wird der Wahrheitsbegriff zu Gunsten pragmatischer, kontingenter Lernerfolge gänzlich fallen gelassen? Habermas ist sich der Schwierigkeit dieser Frage bewusst: Spricht er davon, dass der Pragmatismus die Dichotomie zwischen Transzendentalem und Empirischem „entspannt“ (26), hat er einen diffizilen theoretischen Balanceakt vor Augen. Zwar unterstellt die kommunikative Vernunft eine Kontingenz- und Kontexttranszendenz, indem die Diskursteilnehmer unbedingte Geltungsansprüche immer schon voraussetzen. 257 Aber diese kontrafaktischen Idealisierungen sind in der Faktizität der Praxis geerdet – gelungene Kommunikation ist unabweisbar auf solche Ideale angewiesen. Habermas schließt aus der Spannung zwischen Faktischem und Kontrafaktischem, dass lediglich eine ‚defla­ tionierte‘ Version der kantischen Transzendentalphilosophie übrigbleibt. Deren idealistischer Richtungssinn soll umgekehrt werden, indem aus dem alltäglichen Gebrauch der Vernunft auf ihre Prinzipien geschlossen wird. Gelingt diese Umkehr, wird zugleich die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit in Frage gestellt, welche die Kontexttranszendenz der Vernunft gewährleisten soll. Denn jeder erlebt seinen Horizont als allgemeingültig und kann zutreffende Vermutungen über alternativlose Möglichkeitsbedingungen des soziokulturellen Lebens überhaupt anstellen, aber sie bleiben allesamt horizontgebunden. Habermas beabsichtigt nun, den Anspruch auf allgemeine Wahrheit und Richtigkeit angesichts dieser Kontextualisierung des Wissens zu verteidigen, wie die weitere Argumentation zeigt. Zunächst wird die Unterscheidung zwischen objektiver und sozialer Welt wieder aufgenommen, die auf der Beschreibungsebene als Differenz zwischen Kommunikation und Darstellung begriffen wird: In der Kommunikation wird 257 

Vgl. Habermas, Handeln, in: ZNR, 30.

102 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens der ‚horizontale‘ Umgang mit anderen Aktoren koordiniert, in der Darstellung die ‚vertikale‘ Erfassung von Gegenständen ausformuliert: Wir bringen die soziale Welt erst hervor, während die objektive Welt vorgegeben ist.258 Hinter dieser Unterscheidung verbirgt sich die Differenz zwischen Verstehen und Beobachten. Auf der Geltungsebene wird diese Differenz auf die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Richtigkeit übertragen: „Der ontische Sinn des ‚Bestehens von Sachverhalten‘ steht im Gegensatz zum deontologischen Sinn der nach Achtung heischenden moralischen Gebote“. 259 Ersterer bezieht sich auf die gegenständliche Welt, letzterer auf die soziale, aber diese „verweisen reziprok aufeinander“: „Damit ändert sich das Bild vom transzendentalen Subjekt, das den erscheinenden Objekten in einer von ihm konstitutierten Welt gleichsam gegenübersteht. Die in ihre Praktiken verwickelten Subjekte beziehen sich aus dem Horizont ihrer Lebenswelt auf etwas in der objektiven Welt, die sie, ob in Kommunikation oder Intervention, als eine unabhängig existierende und für alle identische Welt unterstellen.“ (25; Hervorhebung im Original)

Die habermassche Weichenstellung wird nun deutlicher: Die ‚deflationierte‘ Transzendentalphilosophie, wie er sie nennt, wird in einen schwachen Naturalismus eingebettet, den er in dezidierter Weise vom strikten oder konsequenten Naturalismus abgrenzt (32 ff.). Indem Vertreter letzterer Denkrichtung Normativität und soziale Regeln objektivistisch und empiristisch begreifen, meinen sie, den konstruktivistischen Aspekt ihrer eigenen Teilnehmerperspektive transzendieren zu können. 260 Habermas führt dagegen die Einsichten von Darwin und Kant pragmatistisch weiter. Die Abhängigkeit von der kontingenten Natur und die konstruktivistische Teilnahme an ihr müssen zusammen gedacht werden. Um diese doppelte Perspektive zu gewährleisten, ist es Habermas zufolge hinreichend, die Wirklichkeitserfassung funktional zu verstehen – als Lernprozess. Dazu verabschiedet er sich zu Recht von dem realistischen Repräsentationsmodell, in dem die Wirklichkeit als Erkenntnis abgebildet wird, und führt eine zirkuläre Verbindung von ‚Realismus‘ und ‚Nominalismus‘ ein. 261 Der transzendentale Anspruch dieser Verbindung besteht (lediglich) in einer metatheoretischen Annahme: Eine Entwicklung in den evolutionären und den soziokulturellen Lernprozessen wird postuliert. Diese schwache Verbindung zwischen Kultur und Natur setzt zwar eine gewisse Kontinuität zwischen ihnen voraus, sie verdrängt aber weder die Kontingenz des Kulturellen, noch 258 

Habermas, Einleitung, in: PT 3, 26.

259 Ebd.

260  Das ist seine aktuell wiederholte Kritik an den reduktionistischen Ansprüchen neurologischer oder biogenetischer Erklärungsmodelle, vgl. ders., Freiheit, in: ZNR, 155–186. 261 Habermas plädiert für eine „ontologische Arbeitsteilung“ zwischen den beiden Größen: Der grammatische Begriffsrealismus ergibt sich aus der Teilnahme an den „existierenden Allgemeinheiten“ einer geregelten Lebenswelt, der Nominalismus bewahrt vor der Illusion einer propositionalen Erfassung der Welt (ders., Einleitung, in: WR, 42–44).

II.2. Auf der Spur ‚interkultureller Vernunft‘ im Hauptwerk

103

zieht sie direkte Linien zwischen Geist und Körper (38). Die natürliche Evolution wird als ein „lernanaloge[r]“ Prozess aufgefasst, der die soziokulturellen Lernvorgänge möglich macht und den natürlichen Strukturen selbst einen kognitiven Gehalt verleiht. 262 „Das wiederum erklärt, warum Allgemeinheit und Notwendigkeit ‚unserer‘ Sicht der objektiven Welt von den kontingenten Umständen ihrer Genese nicht beeinträchtigt werden müssen.“ (39) Der anspruchsvolle, „wissenserweiternde“ Kreislauf zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wahrheit und Richtigkeit lautet dann ungefähr so: Die Entdeckung schwacher transzendentaler Züge soziokultureller Lebensformen verdankt sich der Beobachtung der gegenständlichen, gesetzesförmig-gegebenen äußeren Welt; deren Darstellung ist allerdings insofern fallibel, als sie von den Lernprozessen innerhalb normativ strukturierter Lebenswelten abhängig ist (46). Damit provoziert Habermas viele Rückfragen. Zunächst: Was ist mit dem Zirkel genau gemeint? Wie stark ist die Analogie zwischen Natur und Kultur (auf der Beschreibungsebene), zwischen Wahrheit und Richtigkeit (auf der Geltungsebene), zwischen sozialer und kosmologischer Ordnung? Ist die Einsicht in einen schwachen Naturalismus Bedingung gelungener Praxis und bedingt die Praxis eine bestimmte Einsicht über die Welt? Dieser Zusammenhang ist wieder aufzunehmen (vgl. II.3.A). Hier ist noch einmal das Verhältnis von Transzendentalem und Individuellem zu beachten. Habermas geht von einem theoriegeschichtlichen Blick auf die Metaphysik aus, um kritisch einzuwenden, dass sie das Individuelle als Besonderes unter das Allgemeine subsumiert. Ziel des kommunikationstheoretischen Paradigmenwechsels ist es dagegen, sowohl das Allgemeine als auch das Individuelle zu bedenken. Letzteres bleibt aber merklich unterbestimmt. Das Partikulare als Einzelnes kann Habermas nicht erfassen; das „Abstraktionsniveau“ der Theorie wird jenseits der „produktiven Artikulationen der ersten Person Singular“ angesetzt. 263 Zugleich stellt sich hier die Frage, wie Habermas das Allgemeine erfassen will, wenn er keinen Blick für die Artikulation der ersten Person in ihren Gefühlen, Ausdrücken, Identitätsmerkmalen und ihrem Vertrauenspotenzial entwickelt: Entweder die Kommunikation wird trivial, weil bedeutungslos, oder sie wird autoritär, weil sie das Nicht-Identische ablehnt. Im Folgenden sind jedenfalls kommunikative mit interpretativen Aspekten der Vernunft zu ergänzen (vgl. III.3.B.ii).

262  Habermas zitiert zustimmend die Charakterisierung seiner Arbeit durch Peter Dews: „It is the combination of anti-idealism with anti-scientism and a propensity toward naturalism which makes for the distinctiveness of Habermas’s work. It marks him out as belonging to a sub-tradition which ultimately derives from the work of Hegel’s left-wing followers dur­ ing the 1830s and 40s.“ (AaO. 39 f. Fn. 41; Hervorhebung im Original) 263  Jung, Hermeneutik, 140. Er zeigt, wie Ferdinand Fellmanns symbolischer Pragmatismus die habermassche Konzentration auf die Rationalität des Verstehens ergänzen sollte.

104 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens ‚Wahrheit‘ ist mit dem Prozess ihrer Deutung unabweisbar verbunden. In diesem Sinne plädiert Petra Kolmer in Anlehnung an Dilthey für eine hermeneutische Wende in der Wahrheitstheorie. Ihre Hauptkritik an dem Konstrukt der Aussagenwahrheit im Allgemeinen besteht darin, dass erst verstanden werden muss, was mit ihr gemeint ist. 264 Vor die Bestimmung der Aussagenwahrheit kommt der Deutungsprozess. Ihre Kritik an Habermas im Besonderen richtet sich auf seinen Wahrheitsbegriff als „Idee der einzig richtigen Antwort […]. So gibt es auch auf die Frage, was Wahrheit ist, nicht die ‚einzig richtige‘ (eindeutige und deutliche) Antwort.“265

iii. Zwischenresümee Analog zum Ergebnis in der Moral- und Sozialtheorie ist festzustellen, dass der Boden der Wahrheits- und Wissenstheorie gleichsam ‚schwankt‘: Einerseits beabsichtigt Habermas klare Konturen eines neuen Paradigmas zu zeichnen, welches mentalistische, ontologische und metaphysische Kategorien ablöst. Andererseits werden die abzulösenden Phänomene und Fragen im neuen intersubjektiven, nachmetaphysischen Interpretationsrahmen nicht recht bearbeitet oder beantwortet. So bleibt weiterhin offen, welcher gehaltvolle Einheitsgedanke der diskursiven Vernunft zu Grunde liegt. Es fehlt die Explikation seines Denkrahmens, in der das in Zukunft Erwartbare und das in der Vergangenheit Geschehene expliziert werden, um das in der Gegenwart Mögliche zu klären. 266 Führt Habermas eine schwache Vernunft innerhalb eines schwachen Naturalismus an, deren einzige transzendentale Aussage sich auf die Möglichkeit von Lernprozessen bezieht, setzt diese Theorieanlage eine bezeichnende Eingrenzung der Philosophie voraus – die Theorie der Vernunft wird im Horizont der kontingenten Natur bestimmt. Im selben Zug wird seine Weichenstellung deutlicher erkennbar, sich jedweder expressiver, ästhetischer und religiöser Aussage zu entziehen und sie als theorieunfähig darzustellen.

II.2.C. Was dürfen wir hoffen? Habermas charakterisiert seine Grundhoffnung als die „Versöhnung der mit sich selber zerfallenen Moderne“ – die auf Traditionen der Mystik, auf Jakob Böhme oder Friedrich Schelling zurückgreift. 267 Er ist sich „selbst heute nicht sicher“, ob er das, was er „wirklich will und was intuitiv [s]eine Arbeit leitet, 264 

Kolmer, Wahrheit, vertritt vier Hauptthesen: i. Es gibt zwar verschiedene Wahrheitsauffassungen, aber sie teilen den Grundbegriff von Wahrheit als Verlässlichkeit; ii. damit kann die philosophische Frage nach der Wahrheit nicht unabhängig von der Frage nach ihrer Relevanz und Bedeutung gestellt werden; iii. daraufhin wird der atemporale Begriff von Wahrheit bestritten; iv. und in dieser Hinsicht wird ein philosophisches Wahrheitskonzept vertreten, das den „Zeit- und Kontingenzerfahrungen“ Rechnung trägt (aaO. 30–36). 265  AaO. 428, mit Bezug auf Habermas, in: WR, 295, 300. 266  Für diese Definition von Metaphysik als Rahmentheorie vgl. Herms unter III.1.D.i. Stephen Toulmin fordert eine solche Reflexion auch, nennt sie aber lediglich ‚Hintergrund­ annahmen‘ (II.3.A). 267  Habermas, Dialektik, in: NU, 202.

II.2. Auf der Spur ‚interkultureller Vernunft‘ im Hauptwerk

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in seinen wesentlichen Elementen im Wissenschaftssystem sozusagen unterbringen kann“. 268 Er wählt die Wissenschaft und die Philosophie als Medien der Explikation seiner Grundintuition, weil er Wahrheitsfragen nicht wie Heidegger und Adorno an den Wissenschaften vorbei produzieren und besondere Einsichten geltend machen will, die sich auf das ‚Sein‘ oder die ‚Natur‘ insgesamt berufen: „Meine tiefe Überzeugung ist, daß man, wenn man sich aufs Denken einläßt, das nicht darf‘“. 269 Dieser Einblick in Habermas’ Unsicherheit und Gewissheit zugleich ist entscheidend, um sein Projekt zu verstehen: Priorität hat die säkulare, öffentliche Zugänglichkeit. Dementsprechend meint er, auf eine Theorie der Religion 270 und auf eine Theorie der Urteilskraft verzichten zu müssen. Die Diskrepanz mit Blick auf die Religion ist mittlerweile bekannt: Einerseits gehören für Habermas „weltstabilisierende Deutungssysteme unwiderruflich der Vergangenheit an“271 und die „Sinnlosigkeit“ aller theologischen Aussagen wird propagiert, 272 andererseits braucht eine Kultur den „Stachel“ religiöser Überlieferungen, um das Triviale durch das Fremde aufbrechen zu lassen. 273 Hermann Düringer beschreibt diese Beziehung zur Religion zu Recht als „etwas Oszillierendes“, denn Habermas begründet seine religiöse Abstinenz mit Motiven, die er mehr oder minder bewusst religiöser Tradition entlehnt. 274 Die zwei Pole interpretiert Düringer als zwei religionsphilosophische Modelle, die er mit den Begriffen „dialektische Transformation“ und „Koexistenz“ beschreibt. 275 Wesentliche Inhalte der religiösen Tradition wie Gerechtigkeit, So268 

AaO. 204.

269 Ebd.

270  Für Habermas ist Religionsphilosophie die philosophische bzw. rationale Reflexion der Religion (Maly, Rolle, 547 Fn. 3). An vielen Stellen verweist er auf die jüdisch-christliche Theologie, an anderen auf einen abstrakten Begriff, in dem Religion mit einer epistemischen Einstellung, nämlich dem Glauben, gleichgesetzt wird. Mittlerweile erkennt er in Anlehnung an Rudolf Bultmann, Nicholas Wolterstorff und Paul Weithmann die Notwendigkeit, Glaube nicht nur als „Doktrin, geglaubter Inhalt, sondern als Energiequelle, aus der sich performativ das ganze Leben des Gläubigen speist“, anzusehen (Habermas, Religion, in: ZNR, 133). 271  Habermas, in: LS, 166. Düringer kommentiert dies so, dass in „einem eher lapidaren Nebensatz“ „eine Zäsur in der Menschheitsgeschichte markiert“ wird, in der undifferenziert Metaphysik und Religion zusammen verabschiedet werden (ders., Vernunft, 27). 272  Habermas, Profile, 29. 273  Habermas, Volkssouveränität, in: FG, 631; vgl. II.2.A.iii.a. 274  Düringer, Vernunft, 24. 275  AaO. 324 ff. Genauer werden folgende Stufen der Religionstheorie identifiziert: a. Ablösung der Religion durch eine kritische Gesellschaftstheorie des kommunikativen Handelns; b. Koexistenz zwischen Religion und nachmetaphysischem Denken, da letzteres noch nicht in der Lage ist, die Gehalte der Religion (z.B. Trost angesichts kontingenter Leiderfahrungen) abzudecken; c. „Das einschränkende noch wird gestrichen. Die Theorie des kommunikativen Handelns beschränkt sich auf universalisierende prozedurale Gerechtigkeitsnormen und ist grundsätzlich nicht in der Lage Weltanschauungen und Religionen zu ersetzen. Sie erörtert und formuliert die Bedingungen, unter denen unterschiedliche religiöse und nicht-religiöse

106 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens lidarität, Individualität sollen dabei nicht aufgegeben, sondern durch nachmetaphysisches Denken in ihrer allgemeinen Gültigkeit bestätigt und transformiert werden. Zugleich sollen diese religiösen Traditionen neben bzw. mit der säkularen Vernunft ko-existieren – ein Motiv, das im nächsten Kapitel zu betrachten ist (vgl. III.3.E). Asmus Trautsch unterbreitet einen ähnlichen Vorschlag, in dem er die „verschiedenen Gestalten der Relation von Wissen und Glauben“ bei Habermas wie folgt ordnet: Dazu verwendet er die Begriffe Ersetzung (I), 276 Koexistenz (II) und Kooperation (III). 277 Trautsch nimmt zwar eine Veränderung beim älteren im Gegensatz zum jüngeren Habermas wahr, aber er versteht diese Klassifikation nicht als eine lineare Entwicklung: Schon früh kann Habermas versöhnliche Bemerkungen gegenüber der Theologie äußern und in der Gegenwart sind weiterhin Absichten erkennbar, „religiöse Einsichten säkular formulieren zu können“. 278 Wichtig ist allerdings, dass das Kooperations-Motiv in den letzten Jahren stärker in den Vordergrund tritt.

Anders als das Thema der ‚Religion‘ bei Habermas, das in den letzten Jahren erhebliche Aufmerksamkeit erhielt, wird die Lücke der Ästhetik m.W. kaum diskutiert. Mit ‚Ästhetik‘ ist eine Theorie (bzw. eine Theoriefamilie) der Kunst, des Sinnlichen, der Zwecke, der Gefühle und somit des Zusammenhangs von theoretischer und praktischer Vernunft im Blick. Diese Lücke ist nun nicht eindeutig zu bestimmen. Vielmehr zeigt die Rezeption ‚der Ästhetik‘ in Philosophie und Theologie, wie anspruchsvoll ihre theoretische Verortung und Eingrenzung ist:279 Nicht ohne Grund ist Habermas darauf bedacht, deren Totalisierungsgefahr zu beschränken. Dennoch stellt sich mit Nachdruck die Frage, wie ein Verständnis unserer Kognition und Volition, ohne einen Begriff der ästhetischen Strukturen unseres Denkens und Erlebens zu entwickeln, möglich und sinnvoll sein soll. 280 Der Beitrag der Theologie liegt jedenfalls nicht nur in der Bewertung der unmittelbar theologischen Bezüge Habermas’, sondern geLebensentwürfe koexistieren können in einer weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft“ (aaO. 14). 276  Trautsch, Glauben, 180–198. Habermas „trachtet ja nach einer Überwindung des unbefriedigenden schiedlich-friedlichen Zusammenspiels von positiver Wissenschaft und einem dezisionistisch bleibendem mythologisch/religiösen oder metaphysischen Wertehimmel. Daraufhin ist die Theorie kommunikativen Handelns ja geradezu programmatisch angelegt“ (Düringer, Vernunft, 20; Hervorhebung im Original). 277 Trautsch, Glauben, 180 ff. Interessant ist, dass Trautsch sich nicht auf Hermann ­Düringer bezieht, der eine beinahe identische Einteilung vorgibt. 278  Trautsch, Glauben, 195. 279  Vgl. Höffe, ‚Kant‘, 267 ff. Stock, Ästhetik, 96 ff., weist auf das Desiderat einer theologischen Ästhetik hin. 280  Welsch zeigt zu Recht, dass Kants Einsicht in die konstitutive Bedeutung des Ästhetischen nicht in der KdU, sondern in der KrV entwickelt wird: Die transzendentalen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit sind ästhetische Vorgaben, nicht als Theorie der Kunst, sondern als epistemologische Fundamente: „Wenn Kant in der Gegenwart ein Klassiker ist, dann gerade auch hinsichtlich dieser von ihm aufgedeckten Protoästhetik der Kognition.“ (Ders., Vernunft, 495)

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rade auch in deren Einbettung in den weiteren Rahmen einer Theorie des ‚Gefühls für das Ganze‘ mit Blick auf das Individuum – in diesem Sinne führe ich das Werk Herms’ im Teil III ein. Meine Arbeit baut derweil auf der bisherigen theologischen Habermas-Rezeption auf, die in ersten Ansätzen solch eine weite Perspektive aufnimmt: Zum Ersten ist die bereits erwähnte Arbeit von Gunther Wenz zu nennen. Wenz macht darin darauf aufmerksam, dass Habermas nicht nur die Kommunikationstheorie von Schleier­macher, sondern auch dessen Religionstheorie missachtet:281 Ohne die Berücksichtigung religiöser Bindung droht die Diskurstheorie „genau jenem Formalismus zu verfallen, den sie an der transzendentalen Subjektivitätstheorie des Bewusstseins zu kritisieren nicht müde wird“. 282 Die Ausblendung der Religion ist umso problematischer, als Schleier­ machers Begrifflichkeit wesentliche Einsichten und Formulierungen von Habermas vorwegnimmt. 283 Dabei steht die Theorie von Habermas in der Gefahr, Individualität und Vielfalt auszuschalten und die Sprache als zeitinvariantes Regelsystem festzulegen. Dagegen ist Religion als „Grundbedingung möglicher Weltgestaltung“ zugleich „die Gewähr dafür, dass keine bestimmte Wirklichkeit absolut notwendig, sondern ihrem Prinzip nach kontingent ist“. 284 Zum Zweiten ist eine Kritik von Wolfhart Pannenberg am habermasschen Werk zu nennen: Pannenberg bemängelt die fehlende Konsequenz bei Habermas, die Sinntotalität von Geschichte und Welt so in den Blick zu nehmen, dass deren metaphysische und logische Bezüge beibehalten werden. 285 Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass Pannenberg einen Ganzheitsbezug einfordert, den Herms prima facie auch beansprucht. Aber Herms verfolgt nicht die pannenbergsche Absicht, „Aporien der Positivität“ zu vermeiden, sondern der Ganzheitsbegriff wird bei ihm vielmehr an die Positivität der Religion gebunden. 286 Schließlich steht meine Arbeit im Zeichen derjenigen Habermas-Rezeption, welche die Theorie des kommunikativen Handelns für eine theologische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie als Ausgangs- oder gar als Integrationspunkt verwenden. 287 An erster Stelle steht dabei die Wissenschaftstheorie von Helmut Peukert, deren „Grundidee“ darin besteht, die Theorie kommunikativen Handelns als Fundament der Theologie aufzugreifen. 288 Eben weil Habermas von der „Kernthese“ der egalitären Struktur kommunikativen Handelns ausgeht, ist seine Theorie mit Intuitionen der jüdisch-christlichen Sozialethik kompatibel. 289

281 

Wenz, Religion, 76–88; ders., Subjektivität, 224–240. Wenz, Religion, 82. 283 Ebd. 284  AaO. 87. 285  Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 92 ff. 286  Vgl. Pannenberg, in: Düringer, Vernunft, 254–267. 287  Vgl. die Beiträge in Lesch/Bondolfi, Ethik. 288  Peukert, Wissenschaftstheorie, 17. 289  AaO. 261. Peukert stellt den Anfang einer Rezeptionsgeschichte dar. Düringer behauptet, dass für manche katholische Theologen die Philosophie des „Protestanten“ Habermas durch Peukert einen ähnlichen Stellenwert erhalten habe wie seinerzeit die existen­ zialontologische Philosophie des „Katholiken“ Heidegger durch Bultmann für die evange­ lische Theologie (Düringer, Vernunft, 227). 282 

108 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Allerdings sollte diese Nähe zu materialethischen Überzeugungen nicht zu einer schlichten Nivellierung der Unterschiede zwischen Form und Inhalt oder Gutem und Gerechtem führen. Hermann Düringer kritisiert die Ethik von Trutz Rendtorff in diesem Sinne:290 Dieser würde die Theorie als eine Ethik des guten Lebens missverstehen. 291 Rendtorff hebt hervor, dass die Diskursethik „Züge einer ‚communio sanctorum‘ an sich trägt“ und dem Begriff einer Kirche entstammt, „die als Gemeinde des Grundkonsenses […] in einer ‚neuen Welt‘ lebt“. 292 Das sei die „geradezu groteske Entstellung“ der habermasschen Idee und verdeutliche, dass Rendtorff diese „konsequent substantialistisch mißversteht“. 293 Angesichts dieser Problematik sind im Folgenden materiale und formale Aspekte der Theoriebildung zu unterscheiden, ohne auf die notwendige Verbindung zwischen diesen Theorieaspekten zu verzichten.

Im Horizont der theoretischen Erfassung der Religion liegt nicht nur die Ästhetik, sondern auch die Begriffe der ‚Lebenswelt‘, ‚Weltanschauung‘ und ‚Kultur‘ bestimmen die Einordnung der Religionsthematik. Wird der Begriff der „Kultur“ in der Theorie kommunikativen Handelns als „Traditionspolster“ von Habermas abgetan, auf dem Neokonservative Platz nehmen und eine „Zuflucht bei entwurzelten, aber rhetorisch beschworenen Traditionen einer biedermeierlichen Kultur“ suchen, 294 stellt auch zunächst die „Weltanschauung“ für Habermas einen retrospektiv zu verwendenden Begriff auf die vergangenen „starken Traditionen“ dar. 295 Die Lebenswelt wird dagegen von solchen, auf Heilsnarrative oder Ideologien abzielenden Ganzheitsbegriffen abgesetzt als die Darstellung des vortheoretischen Erfahrungshorizonts und Erlebnishintergrunds: „Was in dieser kompakten Formel zusammengepresst wird, kann nicht wie der gestirnte Himmel über uns angeschaut oder im Vertrauen auf Gottes Wort als verbindliche Wahrheit akzeptiert werden.“296 Die Philosophie muss die allgemeinen Bedingungen dieser Lebenswelt reflektieren, um den Zugang zur Welt und formales Weltwissen aufzubereiten. 297 Gezielt lehnt Habermas Husserls’ Versuch ab, im Rückgriff auf die Kategorie der Lebenswelt das vergessene Sinnfundament der Wissenschaft offenzulegen:298 Husserl habe über einen transzendentalphilosophischen Ansatz dem 290 

AaO. 273 ff. „Über Kommunikation soll Einsicht in das ‚Gute‘ erreicht werden, wobei sprachliche Kommunikation Ort für die Präsenz des Guten ist.“ (Rendtorff, Ethik I, 168) Vgl. ähnlich unpräzise auch Lange, Dialog, 820 (meine Hervorhebung): „Für die Diskursethik (Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel, Trutz Rendtorff) ist der Dialog die Methode, mit der allein in einer Zeit reduzierter moralischer Selbstverständlichkeiten das Gute gefunden werden kann“. Das Gute wird eben nicht durch den Diskurs bestimmt, sondern das Gerechte. 292  Rendtorff, Ethik I, 30. 293  Düringer, Vernunft, 275. 294  Habermas, TkH I, 10. 295  Habermas, Weltbilder, in: PT 5, 203. 296  AaO. 204 f. 297  AaO. 205. 298  Habermas, Einleitung, in: PT 5, 24 (ohne Beleg zu Husserl). 291 

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szientistischen Missverständnis einer völlig objektivierbaren Welt entgegenwirken wollen. Aber, so kontert Habermas, der lebensweltliche Hintergrund ist dem innerweltlichen Geschehen „nicht grundsätzlich“ entzogen, denn lebensweltliche „Praktiken und Artefakte“ können in den Humanwissenschaften als Gegenstände behandelt und reflektiert werden. 299 Diese Reflexion darf ihrerseits nicht im Sinne einer vollständigen Naturalisierung missverstanden werden, als ob mit naturwissenschaftlichen Mitteln die Deutungswelt vermessen und bestimmt werden könne. Vielmehr beobachtet Habermas in den Natur- und Humanwissenschaften verschiedene Tendenzen der „Versachlichung“: Letztere nämlich verfolgen dieses Ziel durch interpretative Vergewisserung wie auch durch die Rekonstruktion lebensweltlicher Praktiken.300 Habermas fordert die Orientierung an der sachlichen Verständigungspraxis (also der Formalpragmatik) gegenüber der Konzentration auf die partikulare, sprachliche Welterschließung (Semantik) ein. Die hermeneutische Tradition (von Humboldt und Schleier­macher) wird von Heidegger und Gadamer einseitig zu Gunsten des Partikularismus fortentwickelt.301 Dagegen priorisiert Habermas die Pragmatik vor der Semantik. Sein zentrales antimentalistisches Argument ist, dass das Verstehen kein seelischer Vorgang ist, sondern vom Befolgen einer Regel abhängt. Tatsächlich blendet allerdings Habermas neben den formalpragmatischen Bedingungen der Verständigung die semantischen und auch die phänomenologischen Aspekte der Welterschließung aus. Herbert Schnädelbach plädiert dagegen neuerdings für die Beachtung phänomenologischer Bezüge in der sprachwissenschaftlich orientierten Philosophie:302 Die innere Erfahrung, das Zustandsbewusstsein und die basale Selbstempfindung, nämlich das „Wissen, daß ich es bin, der sich in jenem Zustand befindet, ihn erlebt und dabei genau dies empfindet oder fühlt“, lässt sich demnach nicht durch den grammatischen Nominalismus einholen.303 Jene grundlegende Selbstgewissheit betrifft das Feld des „phänomenalen Bewusstseins“, welches am Beispiel des Kindes exemplifiziert wird, das vor dem Spracherwerb ein nichtpropositionales Bewusstsein von sich besitzt. Schnädelbach zielt darauf ab, die sprachanalytische und phänomenologische Tradition als komplementäre Größen verständlich zu machen.304 Demnach sollte zwar das Erbe der Be299 

Habermas, Weltbilder, in: PT 5, 258 (Hervorhebung im Original). Habermas, Einleitung, in: PT 5, 25. 301  Habermas, Philosophie II, in: WR, 65 ff. Bei Heidegger wird die prädikative der hermeneutischen Funktion der Sprache untergeordnet, das Wahrheitsprädikat ist von der Welterschließung abhängig. Wittgenstein kommt Habermas zufolge zu einem ähnlichen Ergebnis und bei Gadamer schließlich bilden Wahrheit und Methode einen Gegensatz, den Habermas als Dualismus zwischen Erkenntnis und Interesse thematisiert. 302  Schnädelbach, Phänomenologie, 243–267. 303  AaO. 265. 304  AaO. 243–267. Mit „Phänomenologie“ ist Husserls Programm samt deren Wirkung über Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty, Lévinas u.v.a. im Blick, mit „Sprachanalyse“ ist auch die Philosophie gemeint, die nicht mehr im Sinne von „Russels logischem Atomismus“ analytisch ist, „sondern holistisch wie bei Quine, Davidson“ u.a. (aaO. 243). 300 

110 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens wusstseinsphänomenologie bei der sprachanalytischen Tradition sozusagen aufgehoben werden, aber unter der Bedingung, dass diese ihre Grenzen der Welterschließeung gegenüber Bereichen des Erlebens anerkennt, die durch grammatische Analyse nicht eingeholt werden.305 Habermas bleibt diese Komplementarität letztlich fremd.

Diese kurzen Ausführungen zur Hermeneutik der Lebenswelt bei Habermas verschärfen die bisher eingeführte Kritik, dass Habermas die Individualität der Welterschließung aus der Kommunikationstheorie ausschließt. Somit werden Religion, Kultur, Narrativität, Ästhetik und Geschichtsteleologie – als Leitbegriffe einer Theorie der Urteilskraft – als für das Zusammenleben rational nicht nachvollziehbar charakterisiert. Hoffnung auf Versöhnung ist für Habermas selbst zwar die orientierende Grundintuition, aber er schließt ihre Reflexion aus der öffentlichen Wissenssuche aus.

II.2.D. Was ist der Mensch? Es ist auffällig, dass die Anthropologie den wissenschaftlichen Gedankenweg von Habermas rahmt: 1954 erschien ein Beitrag, 2001 ein anderer.306 Allerdings sind diese Beiträge in ihrer Ausrichtung divergent: Anfangs wird die Handlungstheorie Gehlens und die Daseinsanalyse Heideggers durch Habermas so aufgestellt, dass er die Anthropologie insgesamt bezichtigt, lediglich eine den Wissenschaften nachträgliche Arbeit zu leisten.307 Eine begründende Funktion kann die philosophische Anthropologie demnach nicht mehr erbringen, weil diese aus Ideen des Guten und metaphysischen Restüberzeugungen zusammengesetzt ist. Mit den Aufsätzen in dem Band Die Einbeziehung des Anderen aus dem Jahr 1996 sind jedoch Akzentverschiebungen zu erkennen: Im Horizont der Verdichtung weltgesellschaftlicher Interdependenzen Anfang der 90er Jahre (für die er zunehmend die Begriffe ‚postnational‘ und ‚postsäkular‘ verwenden wird) verteidigt Habermas zwar den Sinn einer universalistischen Moral gegenüber dem Vorwurf der Assimilation und Gleichschaltung.308 Seine Sozial-, Moral- und Rechtstheorien seien begrifflich so ausgelegt, dass sie die falschen Alternativen von ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ überwinden. Der egalitäre Respekt sei nicht auf das Gleichartige, sondern auf den Anderen in seiner Andersartigkeit ausgerichtet; die Gemeinschaft sei offen für diejenigen, „die füreinander Fremde sind und Fremde bleiben wollen“.309 In dieser Einsicht sind Ansätze einer Theorie des Guten erkennbar, die allerdings letztlich nicht ausgeführt werden.

305  AaO.

267. Habermas, Anthropologie, 20; ders., in: ZmN, 11–33 und 34–45. 307  Vgl. Honneth, Geschichtsphilosophie, 15–17; Hampe, Anthropologie, 522. 308  Habermas, Vorwort, in: EA, 7. 309  AaO. 8. 306 

II.2. Auf der Spur ‚interkultureller Vernunft‘ im Hauptwerk

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Eine Unsicherheit anderer Art als durch die postnationale Situation entsteht durch die Herausforderung der Manipulation des menschlichen Erbguts. Im Rahmen dieser Arbeit ist eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik nicht möglich, bezeichnend für meine Fragestellung ist allerdings die Gattungsethik, die jener Diskussion im Text Die Zukunft der menschlichen Natur vorgeschaltet ist:310 Hier greift Habermas die vernachlässigte Frage des guten Lebens gezielt auf. Zwar verteidigt er seine bisherige Enthaltsamkeit gegenüber ‚dem Guten‘, aber die allgemein verbindliche Moraltheorie bezahlt einen „hohen Preis“ für die Auflösung des Zusammenhangs mit der identitätsbestimmenden Ethik (15). Bemerkenswert ist die Beunruhigung, die Habermas darüber verspürt, dass die philosophische Ethik den Psychotherapien „das Feld“ räumt, die in ihrer Heilkunst bewusst die traditionelle Aufgabe der Lebensorientierung „ohne große Skrupel“ aufnehmen (16). Warum, so Habermas weiter, sollte die Philosophie nicht auch das intuitive Verständnis eines gelingenden oder misslingenden Lebens zum Ausdruck bringen können? Um diese Frage zu beantworten, greift er auf Kierkegaard zurück, der als Erster diese Problematik im nachmetaphysischen Zusammenhang aufbereitet. Zwar ist dessen Antwort von theologischen Prämissen gekennzeichnet, aber Habermas gesteht gleichsam großzügig zu, dass sie doch hinreichend allgemein ist, sodass eine „Bevormundung“ in ethischen Fragen vermieden werden kann (18). Skizzenhaft zusammengefasst ist zu vermerken, dass nach Habermas Kierkegaard gegenüber Kant das Motivationsproblem aufgreift und dessen Lösung als die eigentliche Herausforderung des „Selbstseinkönnens“ in den Mittelpunkt der existentiellen Reflexion und Praxis stellt (20–22). Aus den verschiedenen gescheiterten Fluchtversuchen aus der Verzweiflung hilft letztlich nur der Blick auf eine das Selbst transzendierende Macht und die Anerkennung eines Anderen, der die eigene Freiheit begründet. Dem philosophischen „Ärgernis“ dieser Glaubensaussage kann selbst Habermas folgen und akzeptieren, dass das Endliche von Möglichkeitsbedingungen abhängt, über die nicht zu verfügen ist (25). Das mag mancherorts als Einfallstor für eine theologische Ethik verstanden werden. Aber Habermas interpretiert (oder deflationiert) diese Transzendenz des „ganz Anderen“ im Sinne der sprachpragmatischen Wende und sucht „das Unverfügbare“ in Kommunikationsformen (ebd.): „Niemand besitzt eine exklusive Verfügung über das gemeinsame Medium der Verständigung, das wir uns intersubjektiv teilen müssen“ (26). Die gemeinsame Sprache verkörpert somit eine Vernunft, die Habermas also jedweder Subjektivität zu Grunde liegend ansieht. Sein Argument läuft somit auf eine „schwache“ verfahrenstheoretische Interpretation des „Anderen“ hinaus, die sich fallibilistisch und antiskeptisch als Mittelweg präsentiert (ebd.; meine Hervorhebung): Der Logos der Sprache entzieht sich der Verfügbarkeit des Einzelnen, zugleich ist die Sprache aber ein 310 

Habermas, in: ZmN, 11–33. Seitenzahlen im Folgenden im Text.

112 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens gemeinsames Konstrukt der Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft. Für Habermas ist es entscheidend, dass das richtige Leben sich weder einer „ontologischen Gewähr“ verdankt noch in irgend einer Weise vorgegeben ist, es kann nur gemeinsam konstituiert werden – eine „transsubjektive“, keine „absolute Macht“ (ebd.). Axel Honneth fragt, ob es sich bei der Moraltheorie von Habermas insgesamt um „ein Stück verschämter Anthropologie in philosophischer Absicht“ handelt.311 Jedenfalls scheint dies Habermas selbst zu vermuten, indem er nun einen „gattungsethischen Wegweiser“ liefert.312 Aus seiner Perspektive ist es nachvollziehbar, dass er vor einer anthropologischen Moralbegründung (und Gattungslehre) dennoch zurückschreckt, stellt doch die Anthropologie die Frage nach dem individuell verstandenen Guten in den Mittelpunkt. Darin liegt sogar ihre Pointe: Sie verweist auf die Pluralität der Menschenbilder. Und diese will Habermas mit seinem Entwurf transzendieren – eine Strategie, die letztlich nicht aufgeht.

II.2.E. Schlussfolgerungen: Die ‚situierte, interkulturelle Vernunft‘ Die kulturübergreifende ‚Vernunft‘ manifestiert sich im Diskurs, der zwar an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten zu führen ist, aber trotz dessen Situiertheit wird der Anspruch auf eine den jeweiligen Kontext transzendierende Geltung mitgeführt. Die Herstellung von Verbindungen zwischen allgemeingültigem Anspruch und situativer Begrenzung obliegt dabei den Diskursteilnehmern selbst. In dieser vermeintlichen ‚Schwäche‘ der Vernunft liegt ihre Leistungskraft – so das bisherige, vereinfacht ausgedrückte Ergebnis. Derweil geht eine präzise Definition des gesamten Vernunft- und Rationalitätsspektrums im habermasschen Hauptwerk angesichts der mannigfachen Differenzierungen nicht leicht von der Hand: Einerseits betont er zu Recht die Unterschiede in den Rationalitätsbegriffen, die sich aus verschiedenen Geltungsansprüchen (Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit) und Kom­mu­ni­ka­tions­modi (strategischer oder kommunikativer Einstellungen) ergeben. Andererseits stehen die grundlegenden Differenzierungen in den Geltungsansprüchen, die sich an den ersten drei bearbeiteten Fragen (II A, B, C) festmachen lassen, eben für die unterscheidende Kraft der einen Vernunft. Diese hat nämlich ein integrierendes Moment, das sich aus dem symmetrischen Austausch von Argumenten ergibt – denn ohne den Anspruch auf reziproke Anerkennung kann Kommunikation nicht gelingen. Wird diese basale Einsicht verfolgt, ergibt sich ein formales Gerüst, das mit einigem Recht universale Geltung beanspruchen kann. In allen vier Fragen – nach dem Menschen, der begründeten Hoffnung, dem möglichen Wissen und richtigen Handeln – scheint der aufklärerische Impuls bei 311 

312 

Honneth, Anerkennungsbeziehungen, 104. Habermas, in: ZmN, 121.

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

113

Habermas durch, das Allgemein-Humane ohne autoritäre Vorgaben, lediglich durch gemeinsames Denken und Handeln bestimmen zu können. Auch wenn im vorliegenden Kapitel scharfe Kritik dahin gehend geübt wurde, dass dem ‚Individuellen‘ und ‚Partikularen‘ der ersten Person Singular (und zugleich den Momenten des ‚Ganzen‘ und ‚Einen‘) kein hinreichender Stellenwert verliehen wird, bleibt die Leistung Habermas’ bestehen, das kommunikative Potenzial des Alltags für die Reflexion und Gestaltung des Zusammenlebens in theoriefähiger Form nutzbar zu machen. Es ist dieses Potenzial, durch welches die interkulturellen Beziehungen eine produktive Zielrichtung erhalten können. Denn der interkulturelle Diskurs lässt sich nicht aus der Sicht von „Erstgeborenen“ führen, die einen privilegierten Zugang zur Vernunft beanspruchen, sondern nur im Rahmen der „symmetrischen Bedingungen der gegenseitigen Perspektivenübernahme“.313 Dann können sich die Diskursteilnehmer auch wechselseitig aufklären und durch den jeweils Anderen einen kritischen Blick auf sich selbst erhalten – das, in nuce, ist der Lerneffekt der ‚interkulturellen Vernunft‘.

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk Für eine globale Rechtsordnung, argumentiert Volker Gerhardt, „haben wir mit größtem Nachdruck einzutreten, weil die Zukunft aller daran hängt – auch die Zukunft jener, die das jetzt noch nicht erkennen“.314 Denn will die Mehrzahl der Länder und Völker der Welt ihren Verkehr und Austausch ausbauen, ihren Lebensstandard verbessern, zugleich ökologische Risiken minimieren und Rechtssicherheit gewährleisten, bedarf es kulturübergreifender politischer Koordination: „Für die gleichzeitige Geltung sich ausschließender Rechtsordnungen ist die Erde entweder zu klein oder zu voll – ganz wie man es nimmt.“315 Derweil sorgt die Rückkehr der Religionen in die öffentlichen, transnationalen Räume für erhebliche Irritationen bei denjenigen, die religiöse Deutungsansprüche in Fragen kollektiver Identität längst als ‚Opiat‘ abgeschrieben hatten: Gerhardt bemerkt polemisch, wie seit den Terrorattacken auf die USA vom 11.09.2001 hastig religionsphilosophische Kompetenzen erworben werden, um sich mit den vermeintlich religiösen Motiven hinter den Gewaltakten auseinanderzusetzen. Jürgen Habermas tritt in dieser Gesamtdiskurslage in prominenter Weise in Erscheinung. Im folgenden Kapitel wird die vorerst letzte Phase seines Denkens aufbereitet und analysiert. Diese betrifft die Weichenstellungen, die sich aus der Beobachtung der internationalen Entwicklungen der Institutionen, Funktionssysteme und Wertbindungen ergeben. Ich nenne sie eine kosmopolitische Theoriebil313 

Habermas, Interview mit Mendieta, 4. Gerhardt, Christentum, 27. 315 Ebd. 314 

114 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens dung, weil sie personale, soziale und religiöse Identität unter dem Gesichtspunkt des globalen Wandels erörtert – eine Theorie in weltbürgerlicher Absicht (A). Aufgeschreckt durch die Demontage des Nationalstaates und durch die öffentliche Präsenz der Religionen werden die Begriffe des ‚Postnationalen‘ und ‚Postsäkularen‘ von Habermas aufgegriffen und aufeinander bezogen (B). Zu fragen ist, ob diese Begriffe die Herausforderung interkultureller Koexistenz präzise beschreiben, wenn sie im Kontext der aktuellen Diskussion entfaltet werden (C und D). Dabei ergibt sich mit dieser Diskussionslage ein so weitreichendes Theorieangebot, dass hier nur die wesentlichen Ausschnitte thematisiert werden können.

II.3.A. Was ist das: Kosmopolitismus? „In its most basic form, cosmopolitanism maintains that there are moral obligations owed to all human beings based solely on our humanity alone, without reference to race, gender, nationality, ethnicity, culture, religion, political affiliation, state citizenship, or other communal particularities.“316

Die Betrachtung der Welt als egalitär-verfasste Polis entstammt einer langen humanistischen Tradition und den verschiedensten geschichtlichen Anlässen: Stoiker wie Marcus Aurelius entwickeln während der römischen Imperialherrschaft einen ersten an der humanen Vernunft ausgerichteten Ansatz;317 Neothomisten wie Bartholomé de las Casas reflektieren angesichts der spanischen Kolonisierung über universale Rechte, die allen Völkern unabhängig von ihrer Religion zustehen;318 mit Blick auf die umwälzenden Effekte der Aufklärung sind es Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller u.v.a., die sich der Begründung erdumgreifender Werte verpflichtet wissen.319 Aber erst die zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert erzwingen konkrete Gestaltungsperspektiven, die zunächst im schwachen Völkerbund, initiiert durch Woodrow Wilson, und ab 1945 in der Charta der Vereinten Nationen erkennbar werden. Zeitgleich entstehen Bürgerbewegungen, die angesichts der Kriegserfahrun316  So lautet die einführende Definition in The Cosmopolitanism Reader von Brown/ Held, Introduction, 1; vgl. zur weiteren Literatur Köhler, Soziologie, 1. 317  „Haben wir Alle das Denkvermögen gemein, dann auch die Vernunft; dann auch die Stimme, die uns sagt, was wir thun und lassen sollen; dann auch eine Gesetzgebung; wir sind also Alle Bürger eines und desselben Reiches. Und so würde folgen, dass die Welt ein Reich ist. Denn welches Reich wäre sonst dem menschlichen Geschlecht gemein?“ (Marc Aurel, Meditationen, Buch 4, Abschnitt 4) 318  Brown/Held, Introduction, 6. 319  Vgl. A. Albrecht, Kosmopolitismus. Stichweh, Weltgesellschaft, 488, weist auf die Definition von Joachim Heinrich Campe hin, der 1811 im Artikel ‚Weltbürger‘ seines Wörterbuchs formuliert: „der Mensch, als ein Bürger oder freier Einwohner der Welt, d.h. der Erde, der Mensch, als Glied einer einzigen über die ganze Erde verbreiteten bürgerlichen Gesellschaft, der alle Menschen als Glieder derselben Gesellschaft, als Mitbürger betrachtet und behandelt (Cosmopolit)“.

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

115

gen und der Atombombenabwürfe eine Neuausrichtung der einzelnen Gesellschaftsordnungen auf die Erfordernisse der gesamten Menschheit verlangen. Dementsprechend werden die Bürger in ihren Kommunen als die entscheidenden weltgesellschaftlichen Akteure bestimmt.320 Mit dem Ende der bipolaren Weltordnung ab 1989 und mit der Betrachtung wachsender Weltprobleme321 entsteht derweil ein neues, weit ausgelegtes Interesse an der Möglichkeit kosmopolitischer Ordnung. Dabei spitzt sich in der Sozialphilosophie die Diskussion auf die Gerechtigkeitsproblematik in der ‚Welt‘ zu und entzündet sich an der Interpretation konkreter Beobachtungen der Ungleichheit oder Ungerechtigkeit: „Die Dynamik, mit der sich die Publikationsaktivität zu diesem Thema in den letzten Jahren beschleunigt hat, steht dabei der Dynamik, mit der globale Gerechtigkeitsprobleme entstehen und in unser Bewusstsein gelangen, in nichts nach.“322

Tritt man derweil einen Schritt zurück, um dem Begriff ‚Kosmopolis‘ Kontur zu verleihen, bietet sich der gleichnamige Essay von Stephen Toulmin an. Ziel dieser Schrift ist es, den Erwartungshorizont der Moderne im Angesicht des dritten Jahrtausends neu nachzuzeichnen. Toulmin erkennt zu Recht, dass die Kategorien, mit denen die Vergangenheit beschrieben wird, den „Handlungsspielraum“ jedweder Veränderungsmöglichkeit abstecken und somit die Realisierungschance praktischer Ziele bestimmen.323 Er verweist dabei auf zwei wesentliche Ordnungskategorien, die Ordnung der Natur oder der Welt (Kosmos) und die Ordnung der Gesellschaft (Polis), die seit den Anfängen menschlicher Sozialität in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gebracht werden. Wird die als richtig anerkannte Gesellschaftsordnung in ein direktes Bedingungsverhältnis zum Bauplan der Natur gebracht, spricht Toulmin von der Idee einer ‚Kosmopolis‘. Infolgedessen lässt sich der Begriff auf verschiedene Ansichten der Weltordnung übertragen – auch die ‚Moderne‘ verfolgt ein bestimmtes Verständnis von ‚Natur und Gesellschaft‘.

320  Während Garry Davis 1948 die „World Citizen’s Registry“ einrichtet, die bis heute zur Eintragung offen steht, betreibt sein französischer Partner Robert Sarrazac 1947 die „mondialisation des communes“; einzelne Kommunen und Städte erklären sich zu „Städten der Welt“. Die Kommune sei hinreichend pluralistisch verfasst, sodass Sarrazac sie als grundlegende Einheit des Weltgesellschaftssystems ansieht. Seit 1950 sind 942 Städte in zehn Ländern registriert worden (aaO. 489). 321  Den Begriff der „Weltprobleme“ entlehne ich Volker Rittberger: Diese „zeichnen sich dadurch aus, dass – erstens – alle politischen Gemeinschaften zumindest potenziell davon betroffen sind (weltumspannender Charakter) und dass – zweitens – keine politische Gemeinschaft, die sich damit konfrontiert sieht, sie ohne Mitarbeit anderer, nicht selten sogar aller oder nahezu aller anderen politischen Gemeinschaften (sowie nichtstaatlicher Akteure) aussichtsreich oder zu für sie annehmbare Kosten bearbeiten kann.“ (Ders., Weltpolitik, 19 Fn.1) 322  Broszies/Hahn, Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte, 9 f. Vgl. Literatur I.1; I.2.A&B; III.3.A.ii. 323  Toulmin, Kosmopolis, 16.

116 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Obwohl Toulmin zufolge die wesentlichen Kategorien der Moderne aus der wegweisenden cartesischen Unterscheidung zwischen der rationalen menschlichen Freiheit und der kausalen Notwendigkeit mechanischer Vorgänge stammen, wird dennoch die Analogie zwischen den universalen und unveränderlichen Zentralkräften der Physik und der Notwendigkeit stabiler, zentralisierter und sozialer Institutionen (vor allem der staatlichen Macht) wirkmächtig. Sein Argument läuft darauf hinaus, dass zur Zeit das newtonsche bzw. physikalische durch ein ökologisches und biologisches Weltverständnis abgelöst wird, in dem vielschichtige Ökosysteme und Nahrungsketten miteinander verflochten sind und jede Nische oder jedes Milieu eigene Lebensbedingungen schafft. Dementsprechend zielt die ökologische Betrachtungsweise auch in der Gesellschaft nicht auf hierarchische Stabilität und standardisierte Gleichförmigkeit, sondern auf „Differenzierung und Vielfalt, Billigkeit und Anpassungsfähigkeit“. 324 Solch eine ökologische Kosmopolis soll gerade durch ihre Pluralismus- und Wandlungsfähigkeit emanzipatorische Effekte erzielen.

Eine solche durchaus plakative Charakterisierung bedarf zwar im Einzelnen der Differenzierungen; das Werk Toulmins macht aber insgesamt auf die wesentliche Verbindung zwischen den weltanschaulichen325 Hintergrundannahmen und den polisgestaltenden Kategorien aufmerksam. Überhaupt rückt Toulmin den praxisleitenden Erwartungshorizont in den Mittelpunkt der Fragestellung und konstruiert somit einen formalen Begriff der Kosmopolis, der inhaltlich unterschiedlich bestimmt werden kann. Andrea Albrecht macht in diesem Sinne darauf aufmerksam, dass bereits um 1800 in den vielschichtigen Diskursen um die Universalisierung aufklärerischer Ideen man nur von „Kosmopolitismen“ und nicht von einer Kosmopolitismusidee sprechen kann.326 In der derzeitigen Forschung zum Kosmopolitismus ist auffällig, dass diese umfangreichere, formale Betrachtungsweise fehlt und dafür ein inhaltlich bestimmter Begriff im Mittelpunkt steht – wie in der dieses Kapitel einführenden Definition. Diese zielt auf die universalen Rechte und Pflichten, die von partikularen Bindungen abgehoben werden. 327 Auch in dem 2010 erschienenen Kompendium zum Thema von Christoph Broszies und Henning Hahn wird eine relativ starre Gegenüberstellung von ‚Kosmopolitismus‘ und ‚Partikularismus‘ als Leitkategorien wirkmächtiger, gegenwärtiger sozialphilosophischer Konzeptionen erarbeitet. Diese Einschätzung lässt sich bereits an der Einordnung der verschiedenen Autoren belegen: Zu den Kosmopoliten zählen sie neben Otfried Höffe, Charles R. Beitz, Thomas Pogge, Iris Marion Young und Jürgen Habermas auch Martha Nuss324  AaO.

310. müsste bei Toulmin vom Weltbild gesprochen und zwischen Weltbild und Weltanschauung unterschieden werden. 326  A. Albrecht, Kosmopolitismus, 10, 392 (und durchgängig). 327  So macht sich der kulturelle Kosmopolitismus gerade an der Fähigkeit fest, von bestimmten Wertbindungen abstrahieren und universalen Verpflichtungsprinzipien zustimmen zu können (Brown/Held, Introduction, 10). 325  Genauer

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

117

baum (sic!); zu den Vertretern eines Partikularismus führen sie Thomas Nagel, David Miller und dazu John Rawls (sic!) an. Während Kosmopoliten von einem moralischen Universalismus, einem legitimatorischen Individualismus und der Möglichkeit legitimer globaler Herrschaft ausgehen, betonen Partikularisten die Priorität besonderer Beziehungsformen vor jedweder universalen Verpflichtung, nämlich die „gerechtigkeitskonstitutiven Beziehungen […], die nicht alle Menschen, sondern ausschließlich Mitglieder desselben Staates (Etatismus), derselben Nation (Nationalismus), Gemeinschaft (Kommunitarismus), oder Machtordnung (Machtrealismus) teilen“.328 Diese Aufteilung überrascht, denn die Bezeichnung der Position John Rawls’ als Partikularist und derjenigen von Martha Nussbaum als Kosmopolitin ist zumindest erklärungsbedürftig, galt Nussbaum doch in früheren Debatten als Kommunitaristin und Rawls als Liberalist (vgl. I.2.B). In der Debatte um globale Gerechtigkeit ist somit eine Veränderung hin zu ihrem nationalen Pendant zu konstatieren. Dieser neuen Gewichtung des Universalismus bei Rawls und Nussbaum müsste im Detail nachgegangen werden, denn ihre jeweiligen neuen Perspektiven machen auf gewichtige Probleme im Ansatz einer jeden Kosmopolitismus-Konzeption aufmerksam: Während Rawls die Herausforderung des weltanschaulichen Pluralismus für einen kulturübergreifenden Gerechtigkeitsbegriff entdeckt, blendet Nussbaum diese Vielfalt aus. Da Nussbaum dagegen erkennt, dass Rawls auf den Staat als Hauptakteur in der werdenden Weltgesellschaft sozusagen fixiert bleibt, hebt sie als entscheidende Akteure deren Bürger hervor. Der Wandel in den Theorieentwürfen von Nussbaum und Rawls hängt mit den grundlegenden Problemen einer kosmopolitischen Theorie zusammen: Wie weitreichend ist die Bedeutung der Kultur für die politische Auseinandersetzung und welche Akteure sind für diese Auseinandersetzung in erster Linie zuständig? Irritierend ist, dass Broszies und Hahn die beschriebene Umkehrung kaum thematisieren. Deshalb muss die Veränderung bei Rawls und Nussbaum an dieser Stelle in aller Kürze erläutert werden. John Rawls’ Gerechtigkeitstheorie ist zwar gekennzeichnet von der universalistischen Grundintuition, dass Menschen das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten haben. 329 Entsprechend greifen auch kosmopolitisch ausgerichtete Autoren wie Charles Beitz und Thomas Pogge auf seine vertragstheoretische Methode und seine liberale Grundposition zurück, um sie an die globalen Herausforderungen anzupassen. 330 Aber Rawls stellt Einschränkungen auf, die seine Grundintuition und Methode nicht einfach universalisieren lassen: Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass für Rawls sich die Gerechtigkeitsprinzipien nicht einfach aus universalen Moralprinzipien ableiten lassen, sondern als normativ eigenständige Legitima­tionskriterien politischer Institutionen gelten, die mit Blick auf die jeweilige 328  Broszies/Hahn, Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte, 11 (Hervorhebung im Original). 329  Rawls, Gerechtigkeit, 336. 330  Broszies/Hahn, Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte, 19.

118 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens tatsächliche Gesellschaftsordnung ausformuliert werden müssen.331 Diese Bedingung wird auch als der eben mit dem Namen Rawls verbundene institutional turn in der Gerechtigkeitstheorie bezeichnet.332 Werden die Prinzipien des Liberalismus durch partikulare institutionelle Vorgaben bedingt? In dem Werk Das Recht der Völker (1999) entwickelt Rawls ein zweistufiges Modell, welches die Ausarbeitung sozialer Gerechtigkeit dem jeweiligen Nationalstaat oder Volk überlässt, während er zugleich „allgemeine Grundsätze darlegt, die sowohl von liberalen als auch von nichtliberalen, aber achtbaren Völkern als Maßstab ihres gegenseitigen Handelns akzeptiert werden können“.333 Dabei geht es im Wesentlichen um die Achtung der Souveränität dieser Staaten wie auch der Sanktionierung von Schurkenstaaten, wenn sie fundamentale Menschenrechte verletzen. Martha Nussbaum führt nun gegen diese Konzeption wesentliche Kritikpunkte an: Sie wendet zum einen zu Recht ein, dass Rawls als Basiseinheit seiner Konzeption den Staat nicht hinterfragt, sondern ihn als selbstverständliche, finale Grenze einer globalen Gerechtigkeitstheorie fixiert.334 Dass diese Fixierung für die derzeitigen Strapazierungserscheinungnen des Staates ebenso blind ist wie für mögliche Souveränitätsteilungsprozesse (wie in der EU), stellt einen wesentlichen Mangel seiner interkulturellen Gerechtigkeitstheorie dar. Des Weiteren kritisiert Nussbaum die vertragstheoretischen Grundlagen der rawlsschen Theorie, da diese mit Prämissen verbunden sind, die sich nicht auf die globale Ebene transponieren lassen. So stellt sie in Frage, ob ein egalitärer Vertrag zwischen Staaten vereinbart werden kann, da Staaten anders als Bürger keine moralischen Akteure sind. Zudem sei die Prämisse, dass ein Vertrag Vorteile für alle Beteiligten bietet, kaum zu halten. Vielmehr plädiert Nussbaum dafür, globale Gerechtigkeit anhand derjenigen Fähigkeiten zu definieren, die Menschen entwickeln müssen, um ein selbstständiges und florierendes Leben führen zu können. Dieser zusammen mit Amartya Sen entwickelte „capabilities-approach“ bestimmt „a basic set of entitlements for all people“, die sich dezidiert am Gemeinschaftswillen und dem Eigeninteresse orientieren.335 Globale Institutionen müssen daraufhin diese Rechte entsprechend durchsetzen. Entscheidend ist nun die Begründung von Nussbaum, denn sie greift auf Hugo Grotius zurück, der den Menschen als ein soziales Wesen bestimmt, das von Natur aus in einer Welt leben will, in der jeder Mensch ein Leben in Würde leben kann. Sie greift somit ihre kommunitaristische Orientierung am Guten auf, verwendet sie aber als Basis eines universalistischen Gesellschaftsmodells: Eine bestimmte Idee der Natur wird zur universalen Begründung der Koexistenz. Dem weltanschaulichen Pluralismus und den unterschiedlichen Konzeptionen des Guten trägt sie jedoch nicht Rechnung. Es ist außerordentlich bemerkenswert, dass trotz der hervorgehobenen Schwierigkeiten mit dem Konzept von Rawls letztlich dieses differenzsensibler ist als dasjenige von Nussbaum. 331 

Rawls, Gerechtigkeit, 19. Broszies/Hahn, Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte, 20: „Ein Gericht urteilt beispielsweise gerecht, wenn es jede Person nach gleichen und fairen Grundsätzen beurteilt. Und ein Staat ist insgesamt gerecht, wenn seine Verfassung die Gleichheit und Freiheit aller Bürger garantiert. Es ist dieser Theorie zufolge aber weder gerecht noch ungerecht, wenn außerhalb der politischen Grundstruktur moralisch inakzeptable Zustände herrschen.“ (AaO. 20 f.) 333  Rawls, Recht, VI. 334  Nussbaum, Contract; weiter ausgeführt in dies., Frontiers, 224–324. 335  Nussbaum, Contract, 2. 332 

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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Es zeichnet die Theoriebildung von Habermas in den Jahren seit 1990 aus, dass er diese beiden Probleme – den kulturellen Pluralismus und die Frage nach den entscheidenden ‚weltinnenpolitischen‘ Akteuren – erkennt und sowohl auf Differenzsensibilität als auch auf die Notwendigkeit mehrerer politischer Entscheidungsebenen im Gefüge der werdenden Weltgesellschaft achtet. Habermas lässt zudem erkennen, dass er die Tragweite beider Problemstellungen in ihrer Verschränkung in den Blick nehmen will: Er argumentiert, dass sich ‚der Nationalstaat‘ und ‚das säkulare Selbstverständnis‘ im Übergang in eine neue gesamtgesellschaftliche Konstellation befinden und somit eine grundlegende Institution (der Staat) wie auch eine wirkmächtige Überzeugung der Moderne (die Säkularisierung) in Frage gestellt werden. Seine diesbezüglichen Beobachtungen und Theorieansätze haben auch deshalb interdisziplinär viel Aufmerksamkeit erregt.336 Ziel ist es im folgenden Kapitel, diese neuen Entwicklungen kritisch zu beleuchten. Im Folgenden grenzt sich diese Arbeit von der bisherigen Habermas-Rezeption ab, indem sie die Säkularisierungsthematik mit den Globalisierungsfragen verschränkt. Diese Verschränkung führt Habermas selbst durch, aber sie wird kaum diskutiert. Zugleich wird zu fragen sein, ob die Verbindung nicht zu anderen Ergebnissen führen muss – sowohl hinsichtlich der Beobachtung postnationaler Ordnung als auch der Bedeutung postsäkularer Kategorien: Kann Habermas in hinreichender Weise den radikalen weltanschaulichen, ethischen Pluralismus im institutionellen Gesellschaftsgefüge und in dem von ihm vorgeschlagenen Ordnungsrahmen berücksichtigen – wenn die bisher erarbeitete Kritik deutlich macht, dass er die Phänomene der Kultur, Religion und Subjektivität so gut wie aus seinem Hauptwerk ausgrenzt. Im Horizont der konkreten interkulturellen Herausforderungen spitzen sich diese Probleme deutlich zu. Dabei soll meine Grundintuition in diesem dritten Kapitel zu Habermas klarer gefasst werden, nämlich dass eine Theorie der ‚interkulturellen Vernunft‘ durch die Berücksichtigung der Orientierungskraft weltanschaulicher Bindungen nicht beeinträchtigt, sondern im Profil gestärkt wird. Die von Habermas zu Recht eingeforderte Solidarität angesichts zunehmender Weltprobleme bleibt sonst wirkungslos; das Zusammenleben wäre lediglich auf das „Bewusstsein kosmopolitischer Zwangssolidarisierung“ angewiesen – und dieses, das weiß auch Habermas, würde nicht ausreichen.337

336  Es bestätigt sich, dass Habermas einen Spürsinn für weitreichende gesellschaftliche Entwicklungen besitzt und diese theoretisch wie auch öffentlichkeitswirksam zu reflektieren vermag, vgl. zur Rezeption die Sammelbände z.B. von Niesen (Hg.), Anarchie; Wenzel/ Schmidt (Hgg.), Religion; Reder (Hg.), Bewußtsein; Langthaler/Nagl-Docekal (Hgg.), Glauben. 337  Habermas, Katastrophen, in: PK, 77 f.

120 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens

II.3.B. Der Zusammenhang von postsäkularer und postnationaler Zeitdiagnose338 In einem Text, der 2009 in Habermas’ Philosophischen Texten zum ersten Mal veröffentlicht wurde, verknüpft er seine Zeitdiagnose mit seinen theoretischen Vorarbeiten: nämlich die Beobachtung der Entgrenzung nationalstaatlicher Souveränität und der Veränderungen in der Säkularisierungswahrnehmung mit den Grundpfeilern seiner Theorie der kommunikativen Vernunft.339 Habermas stellt infolge der jüngsten internationalen Veränderungen (vor allem seit 1989) und der sich anschließenden sozialwissenschaftlichen Diskussionen den Konsens fest, dass es zu neuen Formen des Regierens jenseits des Nationalstaates kommt, nämlich zu einer Formveränderung der robusten, staatszentrierten Machtpolitik. Dissens besteht Habermas zufolge lediglich angesichts der Frage des „Wie“: Wie werden sich die neuen Formen internationalen Regierens einspielen?340 An dieser Entwicklung entscheidet sich, ob wir uns von dem politisch verfassten, demokratischen Gemeinwesen überhaupt verabschieden müssen oder ob sich die Errungenschaften der demokratischen Rechtsstaatlichkeit in die neue postnationale Konstellation „hinüberretten“ lassen.341 Infolge dieser Entwicklung besteht kein rein politologisches oder völkerrechtliches Problem, sondern ein gesamtgesellschaftliches oder kosmopolitisches – welches Habermas mit der postsäkularen Zeitdiagnose einführt. Mit dem Begriff ‚postsäkular‘ reagiert Habermas auf die Phänomene, die mit der Formulierung der ‚Rückkehr der Religionen‘ bezeichnet werden: Gemeint sind die missionarische Ausbreitung vieler Weltreligionen (vor allem in Ostasien, Afrika und Lateinamerika, aber auch in Osteuropa), die z.T. durch fundamentalistische Züge und gewaltbereite, politisierte Instrumentalisierung auf sich aufmerksam machen. Dabei will Habermas nicht das Ende der Säkularisierungsprozesse erkannt haben, sondern er merkt lediglich das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich „fortwährend säkularisierenden Um-

338  Beide Begriffe stammen nicht von Habermas, aber er setzt sie öffentlichkeitswirksam ein: ‚Postnational‘ wird mindestens seit den 1960er Jahren verwendet. Ein Beleg aus dem Jahr 1970 bei Thomas Knight (Global Democrat, 6–10) verdeutlicht bereits ein konzeptionelles Leitmotiv ‚postnationaler‘ Moral. Allerdings gewinnt der Begriff erst Ende der 80er und vor allem im Verlauf der 90er Jahre durch die politischen Umbrüche dieser Jahre an Brisanz, vgl. zuerst bei Habermas, Abwicklung, 168 f.; ders., in: NR, 26, wie auch erste Überlegungen in: FG (dazu II.2.A.iii). ‚Postsecular‘ wird erstmals im Kontext amerikanischer Religiosität in den 1960er Jahren verwendet. Ein erster interessanter Beleg ist bei Martin E. Marty (Shape) aus dem Jahr 1959 zu finden, der die amerikanische Religion zu der Zeit allerdings noch nicht als postsäkular bezeichnen will, den Begriff also im Gegensatz zu der damaligen Lage verwendet. 339  Habermas, Revitalisierung, in: PT, 387–408. Seitenzahlen im Folgenden im Text. 340  Habermas, Rationalität, in: Niesen, Anarchie, 406–459 (Hervorhebung im Original). 341  Habermas, Verfassung, in: ZNR, 340.

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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gebung“ an.342 Postsäkularität ist eine veränderte Lesart der Säkularisierungsthese; ein Bewusstseinswandel wird dokumentiert, in dem von einem säkularistischen Verständnis autonomer Vernunft Abstand genommen wird (402). Es ist ein Bewusstseinswandel, der sich in der Öffentlichkeit vollzieht und der auf soziale Wandlungsprozesse zurückzuführen ist. Aber unklar ist, inwiefern dieser Wandel die kategoriale und normative Einschätzung der Bedeutung der Religion in der Gesellschaft verändert. Auf dieses Problem ist zurückzukommen (III.3.D). Wie ist eine globale Konstellation theoretisch zu fassen, die sowohl als postnational als auch als postsäkular beschrieben wird? Habermas verortet seine Antwort auf diese Frage in einem Spektrum von aktuell verhandelten Konzeptionen, die in der Einleitung bereits eingeführt worden sind (vgl. I.2.A): Das ist zum einen der systemfunktionalistische Begriff der Weltgesellschaft, zum anderen der konträre Ansatz des radikalen Kulturalismus.343 Keine dieser Lesarten wird laut Habermas der neuen Konstellation gerecht – weder empirisch, noch normativ. Auf der einen Seite erkennt der radikale Kontextualismus nicht an, dass bestimmte Funktionssysteme sich global ausbreiten und dabei ihrer Eigenlogik folgen – so nötigt der Markt, Unternehmer unabhängig von ihrer Kultur sich dem utilitaristischen Vergleich von Gütern und der Gewinnmaximierung zu unterstellen. Es ließen sich auch entsprechende Beispiele aus Politik und Wissenschaft anführen, denn ähnlich strukturierte Bürokratien und Wissenscurricula sind in einem Großteil heutiger Gesellschaften zu finden. Aber der systemfunktionalistische Blick erfasst nur Ausschnitte weltgesellschaftlicher Integration. Durch diesen ist nicht zu erkennen, dass andere Gesellschaften und Kulturen mit der Herausforderung dieser funktionalen Ausdifferenzierung unterschiedlich umgehen und diese an ihre Traditionen und Überlieferungsgestalten anpassen oder auch ablehnen. Die dritte Interpretationsmöglichkeit, die Habermas befürwortet, nimmt Impulse von beiden dargestellten Alternativen auf: Shmuel Eisenstadt und Johann Arnason deuten die gegenwärtige multikulturelle Weltgesellschaft als eine eigene zivilisatorische Formation, die durch eine globale Modernisierungsdynamik gekennzeichnet ist und die eine Entkopplung „von allen Hochkulturen“ bewirkt (396). Diese beziehen sich nämlich auf dieselbe globalisierte Infrastruktur (in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft). Aber diese gemeinsame Grundlage wird durch einen Dissens der Deutungen der Interdependenz geprägt und ist durch eine materielle Ungleichverteilung im Zugang zu den Ressourcen und 342 

Habermas, Glauben, 13. Erinnerung: Während die weltsystemtheoretische Sicht postuliert, dass eine strukturelle Angleichung in allen Funktionsbereichen der Welt stattfindet oder stattfinden wird, machen kulturalistische Theorien darauf aufmerksam, dass es eine Vielzahl konkurrierender Zivilisationen gibt, die im Widerspruch zu einem einheitlichen globalisierten System wie auch im Kontrast zu rein territorialstaatlich verfassten Gesellschaften stehen. 343 Zur

122 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Angeboten gespalten. Somit begegnen sich verschiedene Kulturen auf der Basis einer globalisierten sozialen Infrastruktur – und diese Verschränkung von Differenz und Dependenz bildet die gemeinsame „Arena“ der ‚Moderne‘ (397). Wie kann, so fragt Habermas weiter, nun eine egalitäre und friedliche Bearbeitung des Deutungsdissenses und der materiellen Differenzen gelingen? An dieser Stelle greift Habermas auf den Kern seiner Theorie kommunikativer Vernunft zurück, um „das zivilisationstheoretisch angelegte Konzept der Weltgesellschaft um eine gemeinsame kognitive Ebene“ zu ergänzen (402, meine Hervorhebung): Die Beschränkung auf die Kognition ist weiterhin der Ausgangspunkt für ihn, denn die Bearbeitung des Dissenses ist im Diskurs insofern möglich, als dieser jedem prinzipiell zugänglich ist – unabhängig vom religiösen Gefühl oder von ethischen Zielen. Durch die öffentliche Zugänglichkeit entfaltet die kommunikative Vernunft ihre gerechtigkeits- und friedenserhaltende Wirksamkeit, denn die diskursive öffentliche Meinungsbildung wird als Verfahren profiliert, mit welchem Verschiedenes vereinigt wird, ohne es aneinander anzugleichen. Die prozedurale Vernunft verhält sich nämlich gegenüber dem Besonderen (vor allem mit Blick auf die Religionen) agnostisch. Zum Kern dieses Agnostizismus gehört die streng überwachte „Grenze zwischen Glauben und Wissen“.344 Wie aber können interkulturelle Deliberationsprozesse gelingen und Verschiedenes vereinigt werden, wenn eben diese kulturellen Differenzen nicht thematisiert werden können? Sind ‚Emotion‘ und ‚Volition‘ der Diskursteilnehmer neben ihrer ‚gemeinsamen kognitiven Ebene‘ nicht zu berücksichtigen? Und wer führt die Diskurse: Sind religiöse und weltanschauliche Gruppen als politische Akteure zu berücksichtigen? Mit diesen brisanten Fragen im Sinn gilt es, die Begrifflichkeiten genauer zu analysieren.

II.3.C. Zur postnationalen Konstellation Es ist im vorigen Kapitel gezeigt worden, dass die Frage der interkulturellen Koexistenz im habermasschen Hauptwerk verwurzelt ist. In zweifacher Hinsicht ist dieser Befund mit Bezug auf die postnationale Konstellation zu präzisieren. Zum einen geht es seit seinen Erstlingswerken um die Idee weltweiter Solidarität in emanzipatorischer Absicht. Spätestens seit Erkenntnis und Interesse hat Habermas eine kritische Gesellschaftstheorie vor Augen, deren Absicht es ist, die Bedingungen für die Beseitigung sozialen Leidens und sozialer Not zu bestimmen.345 Zwar bleibt diese Absicht bis heute ein treibendes Movens für seine philosophische Auseinandersetzung und sein öffentliches Engagement für die Neubewertung der globalen Institutionen: Mitten in der Finanzkrise der Jahre 2008/2009 beunruhigt ihn „die himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit“, dass das Systemversagen „die verletzbarsten sozialen Gruppen am härtesten“ 344  345 

Habermas, Revitalisierung, in: PT 5, 403–406, hier 406. Habermas, in: EI, 286; vgl. Pinzani, ‚Habermas‘, 72.

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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trifft, nämlich diejenigen, die ohnehin am wenigsten von der Globalisierung profitieren.346 Allerdings tritt dieses emanzipatorische Ideal im Horizont der diffizilen Überlegungen um ein neues politisches Mehr-Ebenen-System in den Hintergrund. Die zweite Kategorie, die ihm schon früh vor Augen steht, ist die Idee der Weltgesellschaft. So konzipiert er in Rekonstruktion des historischen Materialismus eine Theorie der sozialen Evolution als Gattungsgeschichte, in der die „Dynamik einer antagonistischen Weltgesellschaft“ im Horizont sozialistischer Ideen als Leitperspektive und Forschungsprogramm bestimmt wird.347 Auch hier lichten sich mittlerweile die Schatten seiner marxistischen Sympathien und Habermas wählt mit Kant eine nüchterne, aber optimistische Orientierung – denn die Idee der Weltbürgergesellschaft wird eingeführt.348 i. Habermas auf den Spuren von Kants „Zum Ewigen Frieden“ Kant postuliert: Wird „die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt […] so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex […] zum öffentlichen Menschenrechte überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annäherung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf“.349 Dieser Aufruf aus dem Jahre 1795 wird heute als weitsichtige Vision einer Architektur globaler Gerechtigkeit gefeiert. Die „folgenreiche Innovation“ Kants Ideen besteht, so Habermas im Jahre 1995, in der Einführung des Rechts „der Weltbürger“ neben dem staatlichen Recht und an Stelle des Völkerrechts.350 Die Berufung auf Kant hat die Absicht, den „ewigen Frieden“ als Konsequenz einer Verrechtlichung der Beziehungen zwischen den Staaten und Bürgern der Erde theoretisch zu fassen. In einem theoriegeschichtlichen Essay zeichnet Habermas die Entwicklung dieser Gedanken von Kant über Woodrow Wilson und dessen Völkerbund bis hin zu den Grundrechten der Vereinten Nationen nach, um sie schließlich für den gegenwärtigen globalen Handlungsbedarf ausführlich zu diskutieren. Zunächst soll dieser Bedarf ausgeführt werden, um daraufhin die weltbürgerlichen Ideen zu erläutern: Vor allem nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltaufteilung im Jahre 1989/90 entstehen durch die Deregulierung der Märkte und die Entgrenzung der Verkehrs- und Informationsströme globalisierte Interdependenzen der Funktionssysteme, die neuen Regelungsbedarf erzwingen. Die Notwendigkeit einer vereinten Ordnungspolitik manifestiert sich an zunehmenden Migrations346 

Habermas, Bankrott, 53. Habermas, Theorienvergleich, in: RhM, 129 f. 348  Vgl. Höffe/Pinzani, ‚Weber zu Kant‘, 56. 349  Kant, Frieden, 216 f. 350  Habermas, Idee, in: EA, 192 ff.; vgl. Huber, Gerechtigkeit, 237. 347 

124 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens bewegungen, weltweiten Finanz- und Informationsflüssen, global umstrittener Ressourcenverteilung, ökologischen Herausforderungen und der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Sie alle stellen großflächige Handlungsimperative dar.351 Dabei weichen diese Entwicklungen gleichsam die staatlichen Legitimationsverfahren auf, wie Habermas unter Rückgriff auf Analysen Michael Zürns argumentiert. Zürn belegt den wachsenden internationalen Koordinierungsbedarf exemplarisch an einigen Zahlen. So gibt es zwar seit Jahrhunderten internationale Abkommen und Organisationen, aber in den letzten Jahren nimmt deren Anzahl rapide zu: Gab es im Jahr 1960 ca. 150 multilaterale Abkommen (bei den VN belegt), stieg diese Zahl auf 522 bis zum Jahr 2009.352 Zugleich wuchs die Zahl der international tätigen NROs auf 20.928. Zudem verweist er darauf, dass die Regeleinhaltung und Regelüberwachung von bilateral beschlossenen Abkommen (z.B. der Kontrolle von CO²-Emissionen) zunehmend von supranationalen Agenturen durchgeführt werden: „The democratic decision-­ making processes within nation states are thus losing their anchorage. They are super­ seded by organizations and actors who indeed are mostly accountable to their national governments one way or another, but at the same time quite remoter [sic] and inaccess­ ible for the nationally enclosed addressees of the regulations in question. Given the extent of the intrusion of these new international institutions into the affairs of national societies, the notion of ‚delegated and therefore controlled‘ authority in the principal and agent sense no longer holds.“ 353

So entsteht eine Diskrepanz in den globalen Entscheidungsprozessen zwischen Beteiligten und Betroffenen und zwischen der Reichweite der Probleme und ihren politischen Lösungsinstrumenten.354 Gerade für demokratische Länder sind die Folgen brisant: Durch den Souveränitätsverlust der Staaten kommt es zu einem Partizipationsverlust in Demokratien, der sich in einem Mangel an Mitgestaltungsmöglichkeiten und der zunehmenden Begrenzung regionalen und lokalen Einflusses manifestiert. Diese Mängel wiederum führen zu Ohnmachtsgefühlen und entsprechenden reaktionären Bewegungen. Dem schleichenden Partizipationsverlust zu entgegnen, ist demnach eine zentrale Herausforderung gestalteter Globalisierung.355 Der neue Ordnungsbedarf wird aus zwei weiteren Gründen bedacht: Der eine liegt darin, dass die ökonomischen Errungenschaften der Globalisierungsprozesse selbst gefährdet sind. Die wirtschaftliche Vernetzung ist ohne politische Rahmenordnung langfristig nicht aufrechtzuerhalten.356 Des Weiteren ist die bisherige Interdependenz zutiefst asymmetrisch: Zwischen entwickelten, auf351 

Vgl. auch Daub, Interdependenz, 115. Zürn, Politik, 211 ff. 353  Zürn zitiert von Habermas, Verfassung, in: ZNR, 345. 354  Habermas, Konstellation, in: PK, 106, im Anschluss an John Agnew und Stuart Corbridge. 355  Vgl. Nuscheler, Transformation; ders., Globalisierung. 356  Die Globalisierung der Güter und Waren, der Produktion und des Handels kann selbst 352 

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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strebenden und unterentwickelten Ländern sind unversöhnliche Interessengegensätze zu erkennen: Es fehlen institutionalisierte Verfahren, die alle Länder anhalten, unabhängig von ihren eigenen Präferenzen, die notwendigen Gesichtspunkte gemeinsamer, globaler Interessen zu beachten.357 Deshalb ergibt sich für Habermas die Notwendigkeit, eine weltbürgerliche Solidarität auszubilden, die zwar eine schwächere Einbindungsfähigkeit als das aus lokaler Loyalität gewachsene Staatsbürgerethos haben würde: Warum aber, so fragt er, sollte sich der „historisch folgenreiche Abstraktionsschub vom lokalen und dynastischen zum nationalen und demokratischen Bewußtsein“ nicht fortsetzen lassen?358 Es ist eine rhetorische Frage: Habermas geht davon aus, dass eine solche Bewusstseinsveränderung durchaus möglich ist. Der Optimist Habermas glaubt aber nicht ohne Skepsis an den ‚ewigen Frieden‘. Gezielt greift er die Zweifel Kants auf: Denn dieser sorgt sich bereits um die Gefahr einer alle Unterschiede einebnenden, despotischen Macht einer Weltrepublik und um die utopische Hoffnung zur Beherrschung der Gewaltbesessenheit.359 Diese Bedenken greift Habermas auf und füllt ihre Leerstellen mit liberalen, pluralistischen und diskurstheoretischen Überlegungen. Seine ursprüngliche Begeisterung für die kosmopolitische Intuition Kants schwächt Habermas zudem leicht ab: Eine Weltdemokratie und auch der demokratische Bundesstaat „im Großformat“ als Weltrepublik sind für ihn mittlerweile weniger plausibel.360 Vielmehr muss eine Unterscheidung zwischen „Staat“ und „Verfassung“ eingeführt werden, um verschiedene Ziele des Zusammenlebens vereinbaren zu können – ein Einfall, den Kant Habermas zufolge zu seiner Zeit nicht haben konnte.361 So entfaltet Habermas seinen Vorschlag im Kontext der verhandelten Ideen des Weltregierens:362 Er will dem komplexen Legitimationsbedarf mit dem Modell der Weltinnenpolitik ohne Weltregierung Abhilfe leisten. Dieses Modell stellt ein Mehr-Ebenen-System auf, welches „durch drei Arenen mit drei Sorten von kollektiven Aktoren“ ausgestattet ist.363 nicht effektiv aufrechterhalten werden, wenn die rechtlichen und institutionellen Garantien nicht auch globalisiert werden (Sautter, Weltwirtschaftsordnung, 40). 357  Habermas, Katastrophen, in: PK, 76 ff. 358  AaO. 89. 359  Habermas, Konstitutionalisierung, in: GW, 142 f. 360  AaO. 132. 361  Baynes, Weltbürgergesellschaft, in: HH, 379–381. 362  Rittberger, Weltregieren, 190–198, stellt dabei die verschiedenen Optionen dar: i. Weltstaat: Dieser sei realitätsfern und beinhalte eine normative Problematik; ii. Welthegemonie: Diese sei effektiv, aber habe eine selektive Realitätswahrnehmung und sei dazu normativ geschwächt; iii. Weltweite horizontale Politik-Koordination: Diese ist relativ realitätsnah und normativ hinlänglich, aber in der Effektivität mäßig; iv. Dazu kommt ein neues Souveränitätsparadigma, welches den Staatszentrismus als überflüssig erklärt. Dieses Paradigma sei aber selbst noch unkonturiert und normativ problematisch. 363  Habermas, Verfassung, in: ZNR, 334 (Hervorhebung im Original); vgl. auch ders., Konstitutionalisierung, in: GW, 117 ff.

126 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Die erste, supranationale Arena enthält nur einen Aktor, eine Weltorganisation, die anders als die gegenwärtigen Vereinten Nationen auf zwei Funktionen fokussiert sein muss: auf die Wahrung der internationalen Sicherheit und auf die globale Durchsetzung der Menschenrechte. Diese Aufgabenspezifizierung beinhaltet zwei gegenläufige Implikationen: Zum einen soll die Weltorganisation in ihrer Durchsetzungskompetenz auf diesen zwei Gebieten gestärkt werden; zum anderen muss sie von den anderen derzeitigen, vielfältigen Aufgaben beschnitten und entlastet werden.364 Entscheidend ist, dass diese Weltorganisation keine Weltrepublik, sondern eher eine Art Völkerbund bildet. Ihre Legitimität und ihre Kompetenz erhält sie demnach weiterhin von Staaten und nicht direkt von den Weltbürgern. Die Weltorganisation konzentriert sich auf die Ermöglichung eines „legalen Pazifismus“, indem sie auf die Legitimität staatlicher „Machtzentren“ baut.365 Daraus folgert nun Habermas – und das ist hier wichtig –, dass es weder einer direkten demokratischen Legitimation noch einer ethischen Begründung der konkreten Operationen der Weltorganisation bedarf: Weil sich auf dieser supranationalen Ebene nach seiner Ansicht nur Fragen der Friedenssicherung und des Menschenrechtsschutzes stellen, stützt sich ihre Rechtfertigung nicht auf die starken ethischen Wertungen eines souveränen demokratischen Gemeinwesens, sondern „ein Gleichklang der moralischen Entrüstung über massive Menschenrechtsverstöße und evidente Verletzungen des Verbots militärischer Angriffshandlungen“ reicht aus.366 Fragen der Legitimation und Ethik werden nach Habermas auf den folgenden zwei Ebenen gestellt. Die zweite, transnationale Arena enthält eine überschaubare Anzahl von regionalen Regimen. Auf dieser Ebene müssen Habermas zufolge alle weiteren weitreichenden Fragen einer Weltinnenpolitik verhandelt, entschieden und durchgesetzt werden: Energie- und Umwelt-, Finanz- und Wirtschaftspolitik.367 Durch regional verbundene Einzelstaaten entstehen einige wenige ‚global players‘, die als kollektive Aktoren auftreten und die global-interdependenten Herausforderungen effektiv bearbeiten und gemeinsame Lösungen durchsetzen können. Als Vorbild dient ihm die EU, die er wiederholt in ihrer Vorreiterrolle hervorhebt, weil sie radikalisierte Nationalismen pragmatisch bändigt:368 „Heute hat die Europäische Union wenigstens das Stadium einer begründeten 364 

Zum Überblick über die weitverzweigten Aufgaben der VN vgl. Held, Covenant, 82 f. Habermas, Verfassung, in: ZNR, 335. 366  Habermas, Konstitutionalisierung, in: GW, 141 f. 367  Habermas trennt diese genuin politischen Aufgaben von denjenigen Koordinierungsaufgaben, die von transnationalen Netzwerken und Organisationen bereits geleistet werden (z.B. die Standardisierung von Maßen, die Regelung von Telekommunikation, Katastrophenvorsorge, die Eindämmung von Epidemien oder die Bekämpfung des organisierten Verbrechens), weil bei letzteren lediglich Verfahren, Beratung und Kontrolle ausreichen, während bei ersteren in „tief verankerte und schwer bewegliche Interessenlagen nationaler Gesellschaften“ eingegriffen wird (ders., Verfassung, in: ZNR, 336). 368  Vgl. das Plädoyer in: Habermas, AE. 365 

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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Anwärterschaft auf globale Handlungsfähigkeit erreicht.“369 Beachtenswert im Rahmen dieser Untersuchung ist der Hinweis von Habermas, dass der „wahrgenommene clash of civilizations“ vor allem diese Ebene der Weltgesellschaft belasten müsste und diese Arena für einen gleichberechtigten Dialog der Zivilisationen zuständig wäre.370 Denn auf dieser Ebene kommen die ethischen Interessen zu tragen; in der supranationalen Arena ist die moralische Frage Habermas zufolge bereits geklärt – eine eklatante Fehleinschätzung, wie zu zeigen sein wird. Die dritte Arena enthält schließlich alle Nationen, aus denen sich derzeit die Vereinten Nationen zusammensetzen. Diese Aktoren stellen weiterhin die Legitimationsquelle des Mehr-Ebenen-Systems dar und haben nach wie vor das Gewaltmonopol inne, denn auch in der zukünftigen Weltpolitik werden Nationalstaaten die entscheidenden Aktoren sein.371 Dazu müssten sie aber lernen, die Normen der Weltorganisation für sich in Anspruch zu nehmen und zugleich ihre nationalen Interessen zu Gunsten friedlicher Ausgleichsmechanismen eines Mehr-Ebenen-Systems zu relativieren. Mit diesem innovativen, vielschichtigen Reformvorschlag sind die Einwände gegen Kants Optimismus nicht ausgeräumt und Habermas weist selbst auf die „Ohnmacht des Sollens“ an dieser Stelle hin (die bereits thematisiert worden ist, vgl. II.2.B.i): „Allein, normativ noch so gut begründete Projekte bleiben folgenlos, wenn ihnen die Realität nicht entgegenkommt.“372 Er begegnet dieser Problematik mit den von ihm beobachteten historischen Entwicklungstendenzen, die dem revidierten kantischen Projekt Glaubwürdigkeit verleihen. So stellen die Vereinten Nationen für ihn eine Institution dar, die über das letzte halbe Jahrhundert Ideale in die Praxis neuer, normativer Verfahren umgesetzt hat.373 Lernprozesse sind auch in der Entwicklung des Völkerrechts in Richtung einer kosmopolitischen Rechtsordnung zu entdecken. Gleichzeitig beweist die Geschichte der EU, dass starke nationale Interessen in regionale Zusammenschlüsse überführt werden können. Wenn solche Lernprozesse theoretisch aufgegriffen werden, dann wird laut Habermas dokumentiert, dass Normen und Werte in internationalen Interaktionen nicht „bloße Überbauphänomene darstellen“:374 Vielmehr sollen diese Lernprozesse und der gerichtete Wandel den systemischen Imperativen, Machtdynamiken, gesellschaftlichen Interessenkonstellationen und der „Gewinn- und Verlustrechnung“ der Rational-Choice369 

Habermas, Verfassung, in: ZNR, 338 (Hervorhebung im Original). AaO. 339 (Hervorhebung im Original). 371  Habermas, Konstitutionalisierung, in: GW, 136. 372  Habermas, Verfassung, in: ZNR, 341. 373  Somit sind sie ein Beispiel dafür, wie überhaupt Ideen „über die unvermeidlich idealisierenden Voraussetzungen unserer alltäglichen Praktiken in die gesellschaftliche Realität“ eingehen und „auf diesem unscheinbaren Weg die Widerstandskraft von sozialen Tatsachen“ erlangen (aaO. 347; Hervorhebung im Original). 374  Habermas, Rationalität, in: Niesen, Anarchie, 408 f. 370 

128 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Theo­retiker entgegengesetzt werden.375 Habermas vermutet zu Recht, dass die Herstellung völker- und menschenrechtlicher Verhältnisse wie auch interkulturelle Diskurse bereits einen „bewusstseinsverändernden Einfluss“ haben.376 Die von Habermas identifizierten Gegenspieler dieser Theorie sind nicht nur die Rational-Choice-Theoretiker, sondern (auch und gerade) Schüler des Völkerrechtlers Carl Schmitt. In dessen Arbeit werden vor allem zwei Ziele verfolgt: zum einen der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen theoretisch entgegenzuwirken und zum anderen imperiale Großräume zu etablieren, um die globale Politik zu beherrschen. Weil er interkulturelle, moralische Kommensurabilität und Herrschaftsrationalisierung ablehnt, ist er „der gewissermaßen sozialontologische Gegensatz zur Kantischen Konzeption der Verrechtlichung der politischen Gewalt“.377 Habermas verknüpft gezielt diese aufs Dritte Reich ausgelegte Theorie mit der postmodernen Vernunftskepsis, welche die Möglichkeit interkultureller Verständigung über die Deutung der gemeinsamer Prinzipien und Rechte ausschließen. Wie werden nun diese Positionierung und sein Mehr-Ebenen-Konzept, das auf lern- und dialogfähigen Kollektiven aufbaut, bewertet? ii. Habermas im Kreuzfeuer zwischen ‚Realisten‘ und ‚Globalisten‘ Zwei gegenläufige Reaktionen auf diese Theorie lassen sich zunächst um die theoretischen Grundpositionen in den ‚Theorien Internationaler Beziehungen‘ einordnen: Während idealistisch ausgerichtete sogenannte „Globalisten“378 sich am Weltgesellschaftsmodell orientieren und die Hauptakteure als Individuen in sozialen Gemeinschaften betrachten, sind die „Realisten“ an einer vertikal segmentierten Staatengemeinschaft orientiert, in der die auf Selbsterhalt bedachten Nationen die wesentlichen Akteure sind.379 Stellen Realisten den kosmopolitischen Idealismus von Habermas in Frage, werfen ihm Globalisten vor, die idealistischen Prämissen seiner Sozialtheorie nicht hinreichend geltend zu machen. Andere schließlich sehen die habermassche Theorie als wegweisende Mittlerposition, die ihre Wirkkraft durch die Verbindung von realistischen und idealistischen Merkmalen erhält. Angesichts dieser diffizilen Theorielage sollen im Folgenden die verschiedenen Positionierungen anhand der drei von Habermas vorgeschlagenen Ordnungsebenen diskutiert werden. Ich gehe dabei in umge375 

AaO. 410. Habermas, Konstitutionalisierung, in: GW, 176. 377  AaO. 190. 378  Vereinfacht ausgedrückt, stellen diese eine politologische Ausarbeitung des Kosmopolitismus bereit. 379  Vgl. Meyers, Theorien, 470–472. Held/McGrew, Globalisation, nennen die Realisten „Sceptics“, worin ihre eigene Position und Wertung als Kosmopoliten deutlich wird. Rittberger, Weltpolitik, 28 ff., unterscheidet zwischen „Neorealisten“, „Liberalisten“ und Konstruktivisten“, wobei erstere hier mit dem Begriff ‚Realisten‘ beschrieben werden und letztere mit den ‚Globalisten‘ zu identifizieren sind. 376 

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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kehrter Reihenfolge vor und diskutiere erst die Nationalstaaten, daraufhin die regionalen Regime, schließlich die Weltorganisation. Dabei wird festzustellen sein, dass eine wesentliche Ebene fehlt – die lokale Arena. Zur Arena der Nationalstaaten: 380 In Teil B dieses Kapitels ist bemerkt worden, dass Habermas in der gegenwärtigen Forschung einen Konsens hinsichtlich der Tatsache feststellt, dass sich eine neue Konstellation im Verhältnis der Staaten zueinander anbahnt.381 Aber was besagt dieser Konsens genau? Zunächst ist das Argument zu vernehmen, die Erosion des Staates sei ein „Mythos“ der Globalisierungstheoretiker: Markus Pöhlmann verweist auf empirische Analysen (anhand von Ergebnissen eines DFG-Forschungsschwerpunktes zum Thema Globalisierung) aus Ostasien, die offenbar belegen, dass der Nationalstaat weiterhin als entscheidender gesellschaftspolitischer Akteur auftritt.382 Aber auch Pöhlmann gibt zu, dass sich die „Bedeutung nationalstaatlicher Politik im Zuge der Globalisierung verändert“.383 Es ist unverkennbar, dass internationale Organisationen und multilaterale Verhandlungsrunden zunehmend (wie z.B. mit den Klima-Protokollen oder durch Handelsrunden der W. T. O) auf die Entscheidungen im Nationalstaat nachhaltigen Einfluss ausüben und somit dessen Handlungskompetenz einschränken.384 Insofern steht eine Veränderung der nationalen Souveränität weniger in Frage als vielmehr die präzise Erfassung der Transformationsgeschwindigkeit und deren Qualität. Entscheidend ist also, wie ein Modell die Kompetenzverschiebungen innerhalb des Nationalstaates wie auch außerhalb dessen Grenzen einbindet – also wie reale Interessen und moralische Ziele verbunden werden. Folgt die politische Theorie nämlich einer hobbesianischen Wirklichkeitseinschätzung, in der die konfliktträchtigen Interessen vornehmlich unter dem Blick der gewalt-domestizierenden Instrumente betrachtet werden, wird ein Modell der starken Staaten als alternativlos gelten. Orientiert sich die politische Theorie hingegen an einem Menschenverständnis, das neben der Gewaltkonzentration im Staat andere kommunikative Mittel der Herrschaft kennt, können die Aufgaben des Staates stärker dezentralisiert werden. Habermas greift auf letzteres Menschenbild zurück. So wird mit Blick auf seine Staatstheorie zu 380 Mit ‚Nationalstaat‘ ist die konkrete territoriale Einheit gemeint, während ‚Staatlichkeit‘ wesentlich mehr Anschlussmöglichkeiten bietet und auch für Regime verwendet werden kann (vgl. Deitelhoff/Steffek, Einleitung, 9). 381  „Die rapide wachsende Literatur zu den neuen Formen des Regierens jenseits des Nationalstaats hat die Frage des ‚Ob‘ – ob sich auf der internationalen Ebene im Kommunika­ tionsmodus eine Formveränderung der robusten, staatszentrierten Machtpolitik abzeichnet – schon hinter sich gelassen und konzentriert sich auf die Frage des ‚Wie‘ – wie sich die neuen Formen internationalen Regierens ohne das staatliche Gerüst einer Weltregierung einspielen.“ (Habermas, Rationalität, in: Niesen, Anarchie, 427) 382  Pöhlmann, Globalisierung, 167–171. Vgl. weitere Literatur in Schwinn, Vielfalt. 383  Pöhlmann, Globalisierung, 179. 384  Vgl. den ausgezeichneten Überblick in Deitelhoff/Steffek, Einleitung, 7–34.

130 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Recht moniert, dass er die gewaltbändigende Funktion des Staates nicht hinreichend würdigt.385 Allerdings steht die hobbesianische Idee der staatlichen Gewalt für das internationale Sicherheitsproblem nicht zur Verfügung, denn die Unterwerfung unter die für alle Staaten verbindliche Zwangsgewalt eines Weltstaates ist keine plausible Alternative.386 Insofern gilt es, einen mittleren Weg zu finden, der zwischen kosmopolitischer Utopie und der Missachtung der Veränderungsprozesse in der nationalen Souveränitätsstruktur vermittelt. Habermas sucht solch eine vermittelnde Position, die dem Nationalstaat weiterhin die zentrale ordnungspolitische Rolle verleiht und zugleich neue Ebenen politischer Verfahren beschreibt. Er versucht dabei, die „Funktionsbestimmungen demokratischer Politik in die Struktur einer arbeitsteiligen Bewirtschaftung der Legitimationsressourcen auf supranationaler, regionaler und nationaler Ebene einzupassen“.387 Verschiedene politologische Beiträge der letzten Jahre greifen auf die Theorie kommunikativen Handelns zurück, um Engführungen ihrer Disziplin und vor allem verhärtete Ansichten des neorealistischen Paradigmas zu hinterfragen: Zum einen ist in den USA durch die Kritik am spieltheoretischen Ansatz über die Möglichkeit kommunikativer Rationalität im Gegensatz zu rein strategischer Interaktion ein Diskurs geführt worden. Zum anderen ist in Deutschland in der Zeitschrift für Internationale Beziehungen eine Auseinandersetzung darüber entbrannt (seit 1994), welches Ratio­ nali­täts­ver­ständ­nis internationalen Verhandlungen zu Grunde liegt.388 Dabei wird in Frage gestellt, ob die traditionelle Beschreibung internationaler Politik als ein anarchisches Weltsystem mit füreinander opaken Akteuren weiterhin plausibel ist. Ziel ist dabei nicht die Ersetzung des alten Modells: Vielmehr gilt es, verschiedene Kommunikationsmodi zu identifizieren und die begründet-argumentativen (arguing) und strategisch-verhandelnden (bargainng) Elemente auszudifferenzieren. Wie Habermas feststellt, „kann ein Beobachter das Gewirr von ‚arguing und bargaining‘ kaum durch die Zuordnung von Einstellungen zu Sprechakten auflösen“, aber der Gewinn der Differenzierung ist, dass überhaupt auf die Diskursqualität geachtet wird. 389 Zudem ist mit dem habermasschen Modell das kommunikative Handeln nicht nur als regulative, sondern als konstitutive Größe für den Erhalt dieser Qualität anzusehen.390 385 

Vgl. Schaal, ‚Habermas‘, 17–42. Einleitung, 18, zeigt, dass es derzeit keinen „überzeugenden Hinweis“ gibt, „dass sich ein Weltstaat im Entstehen befinden würde“, vielmehr geht es darum, einen analytischen Zugriff auf Fragen globaler Strukturbildung im politischen System der Weltgesellschaft zu ermöglichen, die zwar ein „Welteinheitsstaatskonzept“ als relevante Beobachtungskategorie ablehnt, aber mehr sein will als eine „Pluralisierung der Staatlichkeit“ (dabei zitiert Albert Ulrich Beck). Insofern ist die „Grenzverschiebung und Neukonstitution des Politischen in der Weltgesellschaft“ hochgradig brisant (aaO. 19). 387  Schmalz-Bruns, Grenzen, 271. 388  Vgl. den Überblick bei Herborth, Verständigung, 147–172. Angestoßen wurde die Diskussion demnach von Harald Müller. 389  Habermas, Rationalität, in: Niesen, 418 (Hervorhebung im Original). 390  Niesen, Anarchie, 13, weist darauf hin, dass für Habermas dem Gebrauch kommunikativer Freiheit trotz seiner Indienstnahme für die hierarchische Steuerung der Gesellschaft „eine subversive Bedeutung zukommt“. Als Begründung zitiert er Habermas: „Einen anar386  Albert,

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Zur Arena der regionalen Regime: Auf dieser Ebene siedelt Habermas die Hauptlast der weltinnenpolitischen Entscheidungsfindung an. Der politologische Status dieser Weichenstellung ist diffizil: Ziel ist es, einen flexiblen, aber leistungsfähigen Rahmen zu finden, in dem das staatliche Selbstbestimmungsinteresse mit global agierenden Regimen (wie das der EU) verbunden wird. Habermas versteht die realpolitische Herausforderung, dass wesentliche global-politische Fragen weder von einem bisher utopischen Weltparlament noch von allen Staaten gleichermaßen behandelt werden können. Es bedarf vielmehr der Konzentration auf wenige, effektive Entscheidungsträger, die die Interessen ihrer Weltregionen bündeln und verhandeln können. Dass eine solche Konzentration in der Praxis möglich, aber problematisch ist, zeigt die jahrzehntelange Diskussion um die richtige Verhältnisbestimmung von Solidarität und Subsidiarität in der Europäischen Union. Nimmt man an, dass sich die weltinnenpolitischen Konflikte auf dieser zweiten Ebene seines Modells – nämlich der regionalen Regime – zunehmend pragmatisch einordnen lassen, bleibt die Frage offen, ob diese Regime sich nicht selbst ideologisieren werden. Micha Brumlik weist Habermas auf diese Möglichkeit hin: Die schmittsche Großraumtheorie und der kantische Kosmopolitanismus sind demnach kaum gegeneinander auszuspielen, denn die Selbstbestimmung der Regime wird Brumlik zufolge mit ihrem Selbstbehauptungswillen einhergehen.391 Habermas kritisiert zwar das realistische Paradigma der Internationalen Beziehungen, weil es in der Tradition Carl Schmitts verharrt.392 Aber indirekt macht er der realistischen Theorie Zugeständnisse: Dass Habermas nämlich die Machtkonzentration auf der regionalen Ebene in Kauf nimmt und von einer wechselseitigen Ausbalancierung und Kontrolle der Regime ausgeht, gleicht der klassisch-realistischen Auffassung (z.B. eines Hans J. Mor­ gen­thau). So will Habermas diese Ebene des Regierens einerseits dem Kampf der Interessen freigeben und zugleich sie mit einer schlanken, dennoch starken Weltsicherheitsorganisation bändigen – die von einer Weltzivilgesellschaft flankiert wird. Beide Aspekte bedürfen der Analyse: Durchaus bemerkenswert ist es, dass Habermas den Kampf der Kulturen und Religionen als weltpolitisches Problem anerkennt und dessen Bearbeitung auf dieser regionalen Ebene integriert.393 Denn in der Politikwissenschaft im Allgemeinen und in den Theorien der Internationalen Beziehungen im Besonchischen Kern hat freilich jenes Potential entfesselter kommunikativer Freiheiten, von dem die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats zehren müssen.“ (Ders., in: FG, 10) 391  Brumlik, Form, 675–681. 392  Vgl. Scheuerman, Regieren, 253, der Habermas’ Beitrag in GW als „voller hochgradig polemischer Kommentare über die realistische Theoriefamilie“ einordnet. 393  Damit grenzt Habermas sich z.B. vom Vorschlag Otfried Höffes ab, der eine Weltrepublik entwirft, die stärker von der Realpolitik abgehoben wird und zugleich die Auseinandersetzung der Kulturen kaum in den Willensbildungsprozess integriert (vgl. III.3.A.ii.c).

132 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens deren ist die Vernachlässigung der Religionsthematik eklatant.394 Ob hier eine Art „theoretische Repression“ vorliegt,395 weil das modernisierungstheoretische Paradigma der Disziplin Religionen als politische Faktoren ausgeschlossen hat, kann hier nicht erörtert werden. Sicherlich besteht ein großes Forschungsdesiderat – mit einem heterogenen Gegenstandsbereich. Die Frage ist nun berechtigt, weshalb Habermas die Berücksichtigung der Religionen und Kulturen als politische Faktoren nicht auf allen Ebenen des Regierens einfordert. Denn einige Religionsorganisationen haben den regionalen Rahmen längst überschritten: Wie transnationale Unternehmen sind global agierende Religionsgemeinschaften Akteure, die sich auf mehreren oder allen Kontinenten zugleich profilieren. Ob römisch-katholische Kirche,396 Welthindurat oder die islamistische Gruppierung Lashkar-i-Taiba: Viele Organisationen haben sich bereits auf den globalen Wandel eingestellt. Darüber hinaus werden die Religionsgemeinschaften zunehmend als ursprüngliche Akteure und Mitinitiatoren der Globalisierungsprozesse betrachtet – wie im Folgenden aufzuzeigen ist (II.3.D.i). Nichtsdestotrotz ist es ein richtiger Schritt, nach den kosmopolitischen Zielen dieser Religionsgemeinschaften im Gefüge einer sich verändernden Weltordnung zu fragen. In seiner Studie, Gewalt als Gottesdienst, macht Hans G. Kippenberg entsprechend auf die zentrale Rolle der Religionen in Konfliktherden der Welt aufmerksam. Sein ernüchterndes Fazit lautet, dass es unwahrscheinlich ist, dass die Bedeutung der Wertegemeinschaften in diesen Konflikten abnehmen wird. Er verweist zugleich darauf, wie essenziell es ist, dass ein differenziertes Verstehen im Umgang mit ihnen vorliegt.397 Auch Mark Juergensmeyer entwirft ein erschreckendes Bild hinsichtlich des zunehmenden religiösen Aktivismus in politischen Prozessen, vor allem politischer Rebellionen:398 Die Globalisierung 394 

Vgl. Six, Welthegemonie, 124; Willems/Minkenberg, Politik, 13–44; Haus, Ort, 45 ff. So Philip Gorski, zitiert von Six, Welthegemonie, 125. 396  Vor allem die Rolle der römisch-katholischen Kirche im Globalisierungsprozess wird oft angeführt: Angesichts ihres öffentlichen, medialen Profils und ihrer Verbindung von lokalen Strukturen mit globalen Netzwerken ist sie besonders gut auf den sozialen Wandel vorbereitet. Stefan Nacke zeigt, wie dieser weltgesellschaftliche Blickpunkt bereits im Zweiten Vatikanischen Konzil einen maßgeblichen Einfluss auf dessen Entscheidungen hatte (Nacke, Kirche, 11). Zugleich will er die Kirchenentwicklung auch als Beleg für die systemische These der Systemangleichung in der Weltgesellschaft verwenden. 397  „So haben die Erfahrungen von Waco [Belagerung und Selbstmord der Davidian-­ Sekte] die amerikanischen Einsatzkräfte gelehrt, erst die Situationsdeutung einer renitenten Religionsgemeinschaft in Erfahrung zu bringen, um der Gefahr einer unbeabsichtigten Eskalation entgegenzuwirken.“ Alle von Kippenberg geschilderten Fälle ließen sich „in dieser Weise noch einmal aufrollen“, nämlich seine weiteren Beispiele der religiösen Gewalt aus den USA, dem Iran, Libanon, Israel und Palästina (ders., Gewalt, 206). Seine Quintessenz lautet, dass ein ausgereiftes Verständnis der partikularen Deutungswelt der Weltanschauungen für den friedlichen Umgang zwischen deren Mitgliedern und dem Staat notwendig ist. 398  Juergensmeyer, Globalisierung; vgl. auch Weingardt, Religion. 395 

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religiöser Gewalt lässt sich seinen Studien zufolge an den evangelikalen Christen, israelischen Juden, indischen Hindus, japanischen Buddhisten bis hin zu den medial kaum wegzudenkenden islamistischen Dschihadkämpfern beobachten. Seine Ursachenanalyse legt Wert darauf, dass der religiöse Aktivismus vornehmlich durch die Erosion des Vertrauens in die moralischen Grundlagen säkularer Staaten verstärkt wird. In einer für die praktischen und theoretischen Dimensionen dieser Problematik sensiblen Studie, Religion Macht Politik, sucht Konrad Raiser nach der Rolle der Religionen in einer zukunftsfähigen Weltordnung. Seine Studien zum Fundamentalismus bestätigen vorerst die Analyse von Juergensmeyer, dass sich der Konflikt an der Ordnungskraft des modernen säkularen Staates entzündet: „Dieses säkulare Verständnis legitimer staatlicher Ordnung, von dem auch alle Konzeptionen für eine neue Weltordnung ausgehen, trifft in der Mehrzahl der neuen Nationalstaaten der südlichen Hemisphäre auf Traditionen, welche die Legitimität gesellschaft­ licher und politischer Ordnung an die Übereinstimmung mit in der Kultur verankerten, religiös-moralischen Werten und Normen binden.“399

Zugleich betont er die friedensermöglichende Kraft der Religionen, die er an verschiedenen Beispielen verdeutlicht. So haben verschiedene Glaubensgemeinschaften in gesellschaftlichen Konflikten wie z.B. in Westafrika erheblich zur Entspannung durch dialogfördernde Maßnahmen beigetragen (294 ff.).400 Zudem sind zunehmend weltanschauliche Organisationen an einem interreligiösen Dialog in friedensschaffender Absicht involviert; neben dem Weltparlament der Religionen und der Weltkonferenz der Religionen verweist Raiser auf Organisationen wie ‚Temple of Understanding‘ oder ‚United Religions‘, die sich auf interkulturelle Bildungsarbeit konzentrieren. Entscheidend sind diese Initiativen auch deshalb, weil sie die Entwicklung eines „globalen öffentlichen Raumes“ vorantreiben, den Raiser für eine Neudefinition des Verhältnisses von Religion und Politik im Rahmen globaler Koexistenz für unabdingbar hält (304). Diese Überlegung ist auch deshalb von Interesse, weil Raiser dazu auf Habermas zurückgreift – und zugleich wesentliche Impulse von Eilert Herms vorwegnimmt. Die einseitige Beschränkung der Politik auf staatliche Macht hält Raiser dabei für ein Kernproblem und will Politik vielmehr als „alles zielgerichtete Handeln im öffentlichen Raum“ verstehen (79; Hervorhebung im Original). Im Sinne von Hannah Arendt und Jürgen Habermas will er den öffentlichen Raum als Bereich kommunikativer Macht bestimmen, welche der staatlichen, administrativen Macht vor- und nachgelagert ist. Ein Feld der kommunikativen politischen Meinungs- und Willensbildung auf globaler Ebene wird somit freigelegt, in das Religionen eintreten und ihre ordnungspolitischen Beiträge im Modus der kommunikativen Macht einbringen. Öffentliche Religion wird so 399  400 

Raiser, Religion, 254. Belege im Folgenden im Text. Er beruft sich u.a. auf die Studien von Markus Weingardt.

134 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens definiert, dass sie sich nicht so sehr mit Einzelfragen der politischen Entscheidungsfindung befasst (das wäre ein Interesse an „Policy“), als vielmehr mit den grundlegenden Fragen der Richtungs- und Zielvorstellung einer Gesellschaftsordnung (nämlich der „Polity“).401 Nur auf diese Weise lässt sich Raiser zufolge die Trennung von staatlicher Macht und den berechtigten öffentlichen Interessen der Religionen begründen und in eine transnationale Weltordnung überführen. Diese Idee müsste präzisiert werden, denn einerseits bleibt die religionsphilosophische und anthropologische Begründung eines solchen Modells unterbestimmt und andererseits die institutionelle Kontur eines globalen öffentlichen Raumes kaum fassbar. Insgesamt lässt sich an dieser Stelle schlussfolgern, dass wesentliche Fragen nach der Kulturpolitik im habermasschen Modell regionaler Regime zwar offen bleiben, aber die gezielte Berücksichtigung von Religion in einer Theorie der institutionellen Verfahren trotzdem einen weitreichenden Fortschritt darstellt. Wenn Souveränität im globalen Ordnungsgefüge neu bestimmt wird, müssen neben nationalen auch religiöse, kulturelle und regionale Identitätsmarkierungen berücksichtigt werden. Dafür stehen in der Forschung lediglich erste Vorschläge bereit (vgl. III.3.A.i). Zur supranationalen Arena: Mit Bezug auf die Ausformulierung dieser Ebene treffen sich im Streit zwischen Globalisten und Realisten Kritiker beider Theorieschulen: Vor allem die Trennung von Staat und Verfassung, die Habermas in seinem Mehr-Ebenen-System vollzieht, gilt für beide Seiten als problematisch. Zunächst steht noch ein Hinweis aus, was Habermas sich unter einer Reform der VN vorstellt: Der Sicherheitsrat soll demokratisiert, dessen Mitgliederkreis an die veränderten geopolitischen Verhältnisse angepasst und insgesamt durch strengere verfassungsmäßige, justiziable Regeln auf ihre Eingriffe verpflichtet werden. Zugleich soll die Generalversammlung für Anliegen der durch NROs vertretenen Weltöffentlichkeit offener verfasst sein. Entscheidend ist zudem die finanzielle und machtpolitische Unabhängigkeit der Exekutive, die bisher in beiderlei Hinsicht unterversorgt ist.402 Das heißt, einerseits würden die Aufgaben der VN auf die zentralen Felder der Menschenrechtspolitik und Friedenssicherung begrenzt, andererseits ihre Kompetenzen dafür weitestgehend gestärkt.

Nun bezweifelt William E. Scheuerman, dass die VN konsequent den Welt­ frieden schützen und die Menschenrechte gewährleisten können, wenn sie nicht „konstitutive Elemente moderner Staatlichkeit“ übernehmen.403 Scheuerman räumt zwar ein, dass kein Weltstaat existieren muss, um grundlegende Ziele globalen Regierens abzusprechen, aber es ist ihm zufolge unmöglich, eine effektive, politisch und militärisch sanktionsfähige Institution zu etablieren ohne zentrale Elemente staatlicher Verfasstheit. Auch Rainer Schmalz-Bruns erach401 

AaO. 244. Er greift auf eine Unterscheidung von Rainer Prätorius zurück. Habermas, Konstitutionalisierung, in: GW, 172 ff. 403  Scheuerman, Regieren, 248. 402 

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

135

tet es als problematisch, wenn die Institutionen der Staatlichkeit, der Deliberation und der Legitimität getrennt werden.404 Er bezweifelt, ob es Habermas gelungen ist, die unentbehrlichen Dimensionen von Staatlichkeit zu bewahren und zugleich eine verfassungsrechtliche Zähmung der globalisierten Interessenlagen voranzutreiben. Habermas’ Überlegung, die VN lediglich indirekt, nämlich über die nationalen Parlamente, zu legitimieren, ist angesichts der erweiterten Kompetenzen der VN in seinem Modell äußerst kritisch zu betrachten. Denn eine Institution, die unmittelbar über Leben und Tod entscheiden kann, muss „weit reichende demokratische Legitimation“ erhalten.405 Habermas meint, dass der Einsatz der Verfügungsgewalt der VN in seinem Mehr-Ebenen-Modell relativ unumstritten sein müsste, weil diese nur in eklatanten Menschenrechtsverletzungen zum Tragen käme. Aber Fragen, die mit Krieg und Frieden zusammenhängen, sind äußerst kontrovers und fundamental für die betroffenen Gemeinwesen. Neben diese problematische politologische Weichenstellung, die Friedenspolitik der VN von der staatlichen Ebene der Legitimation zu trennen, tritt hier Habermas’ moraltheoretische Überzeugung, dass die grundlegenden Fragen der Menschenrechte und des Einsatzes von friedenserhaltenden Missionen ethisch als unbedenklich gelten, weil sie einer universal gültigen Moral entsprechen. Fragen der Menschenrechte und des Friedens werden dem ethischen Diskurs somit schlichtweg entzogen. Diese Überzeugung beruht auf schwerwiegenden Fehleinschätzungen.406 Und Scheuermann hinterfragt Habermas’ Unterscheidung zwischen Moral und Ethik zu Recht. Selbst wenn vorausgesetzt wird, dass die Ächtung des Angriffskriegs und das Verbot des Genozids allgemein anerkannt werden, liegen die entscheidenden Konflikte in den „unweigerlich hochgradig kontroversen Fragen“ nach ihrer konkreten Bedeutung und Anwendung.407 Es ‚rächen‘ sich somit Grundentscheidungen aus dem habermasschen Hauptwerk. Diese betreffen vor allem die Ablösung universaler Moralansprüche von den partikularen Überzeugungen und der faktischen Rechtssetzung, die er an die ethisch-politische Dimension bindet (vgl. II.2.A.iii). An dieser Stelle zeigt sich auch die Diskrepanz zwischen der ‚starken‘ universalistischen Moral- und Gerechtigkeitstheorie und den von ihm gezogenen Grenzen der ‚situierten‘, schwachen‘ und ‚schwankenden‘ Vernunft. 404 

Schmalz-Bruns, Entstaatlichung, 269–293. Scheuerman, Regieren, 252. 406  Zur Erinnerung: Habermas isoliert eine universale Moral, die zwar auf Werte und Tugenden aus der entgegenkommenden Lebenswelt angewiesen bleibt, aber im Unterschied zu diesen besitzt die Diskursmoral einen kognitiven Status, der allen Menschen zugänglich ist. 407  AaO. 251. Johan Galtung fordert einen „Dialog der Kulturen“ neben der Einrichtung einer demokratisch gewählten VN-Volksversammlung „als Schöpfer von Menschenrechtsnormen“, um den hier beschriebenen Herausforderungen gerecht zu werden (ders., Zukunft, 46, 49). 405 

136 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Zur Arena der lokalen Verantwortung: Habermas vernachlässigt diese Dimension der politischen Willensbildung, obwohl gerade seine Theorie deliberativer Demokratie diese als unabdingbar für ein subsidiarisch ausgerichtetes Mehr-Ebenen-System erachten müsste. Denn selbst wenn Entgrenzungstendenzen in allen Funktionssystemen zu erkennen sind, agiert die Mehrzahl der Bürger weiterhin in lokal überschaubaren Öffentlichkeiten. Paul Kennedy weist in seinem neuen Werk überzeugend nach, dass gerade die Rolle lokaler Akteure weit mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken muss, wenn globalisierte Prozesse verstanden und bewertet werden sollen.408 Auch für Michael Zürn – als profilierter Theoretiker der internationalen Koordinierung politischer Institutionen – gehört zu der Klärung neuer Regierungsformen die lokale Politik dazu.409 Globalisierung versteht Zürn nicht lediglich als einen Prozess staatlicher Entgrenzung, sondern auch als Profilierung des lokalen Raums als politische Gestaltungsebene: „Der Nationalstaat gibt nicht nur nach oben ab, sondern auch nach unten.“410 Er verweist auf verschiedene statistische Analysen, die eine Dezentralisierung von Verantwortung belegen,411 versteht diesen Trend durchaus kausal mit dem Phänomen der Transnationalisierung verbunden und befürwortet diese Entwicklung ausdrücklich. Lokale, standortbezogene Netzwerke erweisen sich nämlich als flexibler und effektiver in der Weltwirtschaft. Sie sind zudem über regionale Programme effizienter förderbar als nationale Initiativen – so können z.B. lokale ‚Kompetenz-Cluster‘ aufgebaut werden. Neben den ökonomischen Argumenten für eine Dezentralisierung sieht Zürn darin eine Chance, der Fremdbestimmung lokaler Politik durch internationale Institutionen entgegenzuwirken. Wenn weitreichende Entscheidungen in Brüssel oder Washington getroffen werden, sind Rückkopplungseffekte des einzelnen Bürgers dabei kaum erkennbar und spürbar: „Transparente, wirkungsvolle und vor allem gefühlte Kanäle der Einflussnahme und der Partizipation lassen sich aber am besten auf der lokalen Ebene organisieren.“412 408 

Kennedy, Lives, 12 ff. sein mehrfach vorgetragenes Plädoyer für eine zunehmende Ausdifferenzierung der Regierungsformen („Multi-Level-Governance-System“) beruft sich auch Habermas, wie oben erläutert worden ist. 410  Zürn, Politik, 211. 411  Er zitiert eine umfassende Überblicksstudie, die belegt, dass in 63 von 75 untersuchten Entwicklungsländern in den letzten beiden Jahrzehnten eine Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen durchgeführt wurde. Darüber hinaus zeigt der „Regional Authority Index“, dass 29 von 42 gefestigten Demokratien sich formal dezentralisiert haben – lediglich zwei sind zentralstaatlicher ausgerichtet (ebd.). 412  AaO. 212 (Hervorhebung im Original). Zürn widerspricht sich hier z.T., weil er andererseits behauptet, dass die Kongruenz von sozialen und politischen Räumen durch die Globalisierung gerade auch nach oben hin aufgehoben worden ist (aaO. 207). Es muss allerdings kein Widerspruch bleiben. Die lokale Kontextverbundenheit kann und muss mit virtuellen Mitgliedschaften oder internationalen Organisationen zusammen gedacht werden. 409  Auf

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

137

Erhellend in diesem Zusammenhang sind die Studien von Saskia Sassen zur Veränderung des Souveränitätsbegriffs:413 Sassen gilt als sozialwissenschaftliche Pionierin der Globalisierungsforschung, hinterfragt aber nun übertriebene Einschätzungen zur Auflösung nationaler Autorität. Wenn die Trias ‚Lokal‘, ‚National‘, ‚Global‘ zu Gunsten der globalen Marktmacht aufgelöst wird, vernachlässigt diese Einschätzung Sassen zufolge häufig die tatsächlichen Machtverhältnisse: So kann sie anhand detaillierter Einzelstudien aufzeigen, dass z.B. selbst transnationale Unternehmen durch lokale rechtliche Ansprüche und entsprechende Urteile als Ganzes verändert werden können. Das Globale löst nämlich nicht das Nationale oder das Lokale ab, sondern ist im Inneren des Nationalen und Lokalen wirksam. Und umgekehrt. Das Paradoxon des Nationalen liegt darin, so Sassen weiter, dass innerhalb des Nationalen eine tief greifende Neuverteilung der Macht stattfindet, die den Staat verändert und zugleich als Hauptakteur miteinbezieht.414 So müssen komplementär zu den Lernprozessen auf der globalen Ebene diejenigen auf der lokalen Ebene genannt und gefördert werden. Aus der entwicklungspolitischen Diskussion kann darauf hingewiesen werden, dass die Verantwortung für Wachstum, Entwicklung und Transformation von Gesellschaften in entscheidendem Maße neben den Eliten aus der lokalen Basis eines Landes erwächst. Massive Mängel, die in der Planung und Durchführung von Entwicklungsprojekten erkannt werden, können auf diese ‚von oben‘ verordneten Maßnahmen zurückgeführt werden. Umgekehrt kann festgestellt werden, dass die erfolgreichen Transformationsprozesse in Entwicklungsländern der klaren Verantwortungsdelegation und Befähigung (‚Empowerment‘) der Armen selbst zugeschrieben werden. Beispielhaft dafür stehen Bildungsprozesse, die einkommensfördernde Kompetenzen der Armen integrieren. Zudem spielen die wachsenden Initiativen der Kleinstkredit- und Mikrofinanz-Anbieter für eine erfolgreiche Bereitstellung von Kapital und Wissen für die Ärmsten im ländlichen Raum eine zentrale Rolle.415 Um schließlich die gesamte Leistung des habermasschen Modells globaler Ordnung einordnen zu können und mit den kosmopolitischen Positionen zu Anfang des Kapitels in Zusammenhang zu bringen, ist die Einordnung von Armin von Bogdandy und Sergio Dellavalle zu vermerken, die dessen Ansatz als die plausibelste Neuformulierung universalistischer Sozial- und Rechtstheorien

413 

Vgl. Sassen, Paradox. verändert sich die Rolle der Judikative vom Hüter nationaler Rechtstaatlichkeit zu einer Instanz der Überprüfung von Privatisierung, Deregulierung und Vermarktung öffentlicher Funktionen. 415  Für die Vernetzung lokaler Initiativen kann die Grameen Bank des Friedensnobelpreisträgers Muhammed Yunus exemplarisch genannt werden (vgl. Munzinger, Menschenbild, 77–94; Robertson-von Trotha, Dialektik, 16, mit Verweis auf Nancy Wimmer). 414  Z.B.

138 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens der letzten vierzig Jahre im Horizont internationaler Ordnungsbemühungen bewerten.416 In ihrer Vergegenwärtigung verschiedener Paradigmata der Ordnung aus der europäischen Geschichte weisen sie auf zwei entscheidende Transformationen hin, auf die Habermas aufbaut: Zunächst kristallisiert sich eine ordnungstheoretische Entwicklung vom Partikularismus zum Universalismus heraus, die sich vorerst im Rahmen eines „holistic universalism“ bewegt (10). Dabei kennzeichnen die Autoren den stoischen Kosmopolitismus, den augustinischen Gottesstaat und die naturrechtliche Konstruktion Hugo Grotius’ als Exemplare solch einer Theorie, da sie holistische und nicht differenzsensible Begründungsmuster aufweisen: „Be it a single community or the entire humankind, the entity on which [such] paradigms of order are grounded is always a holon, i.e. a social totality, a whole that is conceived to be superior to its parts, the individuals.“ (14) Daraufhin setzt mit der Neuzeit, vor allem mit Hobbes, ein Umdenken ein, durch welches die Bestimmung des Gemeinwohls wie auch der Zentralgewalt des Gemeinwesens an einen mehr oder weniger abstrakten Vertrag der Individuen gebunden wird. Immanuel Kant überträgt diese Vertragstheorie auf die Problematik einer globalen Rechtsordnung und übersetzt den holistischen Universalismus in die Formalisierung allgemein anerkannter Maxime. Aber bei Kant bleibt die Subjektivitätstheorie den Autoren zufolge ein Mangel: „Insofar as theory and praxis are based on the monologic integrity of subjectivity that is conceived as a coherently and unitarily constructed monad, there is no place for plurality and, as a result, for the idea of an overarching, but pluralistic order.“ (16) Deshalb, so von Bogdandy und Dellavalle weiter, habe Kant sich auch außer dem unitarischen Konzept einer Weltordnung kein mehrschichtiges und horizontal strukturiertes politisches System vorstellen können. Als Kritik an diesem Unitarismus bieten sich den Autoren zufolge zunächst zwei unzureichende Konzeptionen an: die Systemtheorie und der postmoderne Dekonstruktivismus. Beide Ansätze sind nicht in der Lage, Ordnungsprinzipien zu entwickeln, die universale Anerkennung verdienen – so das durchaus vereinfachte Fazit der Autoren. Habermas dagegen greift die Kritik an der unitaristischen Begrifflichkeit Kants auf, ohne den Anspruch auf universale Geltung preiszugeben: „Habermas bietet eine theoretische Grundlage, um das unserer Situation nicht mehr genügende unitarische Denken – bei den Staatstheoretikern wäre das der ganze Bogen von Hobbes bis Kelsen – zu überwinden, ohne aber in postmoderne Befindlichkeiten abzugleiten. Das ist das Attraktive seines kommunikationstheoretischen Modells.“417

Die Konzeption von Habermas sei demnach nichts weniger als die zeitgemäße Antwort auf den globalen Ordnungsbedarf, da sie den Universalismus auf einer historisch sensibilisierten Intersubjektivitätstheorie aufbaue und aus ihr einen dynamischen Ordnungsbegriff entwickele. Diese Dynamik wird daran festgemacht, dass das kommunikationstheoretisch fundierte Rechtsverständnis nicht die vertikal ausgerichtete Zwangsgewalt eines Staates in den Mittelpunkt rückt, sondern die symmetrisch verfassten Geltungsansprüche, die in Argumentatio416 

417 

Bogdandy/Dellavalle, Universalism, 5. Seitenzahlen im Folgenden im Text. Bogdandy, Rechtsphilosophie, 110.

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

139

nen ‚mitgegeben‘ sind.418 Angesichts der dringend erforderlichen Neuformulierung der Ordnungs- und Rechtsbegriffe im Horizont der interdependenten, aber ohne Sanktionsgewalt ausgestatteten internationalen Vereinbarungen bietet der kommunikationstheoretische Ansatz eine vielversprechende Alternative: Er verbindet die auf Interesseneingrenzung ausgerichtete Rechtstheorie mit der Idee einer „Selbstverpflichtung in komplexen Verhandlungssystemen unter Diskussionspartnern, die wissen, dass sie auf lange Zeit zusammenarbeiten wollen und müssen“.419 iii. Zwischenresümee Es ist hier kaum möglich, der historisch und politologisch weitverzweigten Debattenlage unter sozialethischen Aspekten hinreichend gerecht zu werden und somit eine ausgereifte Kritik der habermasschen ‚Kosmopolis‘ zu liefern.420 Vielmehr zeigt die Arbeit an seinem Modell, wie komplex die Fragen sind, die eine solche Theorie beantworten muss. Habermas bewegt sich dabei geschickt zwischen verschiedensten Theorieangeboten und zeigt, dass er in vollem Bewusstsein der Schwierigkeit der zu behandelnden Phänomene dennoch von der Absicht nicht lässt, die Komplexität auf eine Weise zu reduzieren, dass sowohl den ‚realistischen‘ Bedenken als auch den ‚globalistischen‘ Idealen Rechnung getragen wird. Die Errungenschaft demokratischer Ordnung wird sich in Zukunft, das macht Habermas deutlich, nur unter erschwerten Bedingungen erhalten und gestalten lassen. Dazu zählt das Ringen um gemeinsame Problemlösungen mit Regenten und Regimen, die sich den Restriktionen gemeinsamer Ordnung gerade entziehen wollen. Armin von Bogdandy und Sergio Dellavalle zeigen, dass Habermas’ Ordnungskonzeption die Anliegen universalistischer Traditionen neu formuliert, um dem neuen Ordnungsbedarf gerecht zu werden. Die zentrale Stellung der Kommunikation in einer politischen Ordnungstheorie ist keine triviale Innovation, sondern bietet für die Gegenwart eine entscheidende Orientierung, weil das hergebrachte Institutionengefüge sich in ein Mehr-Ebenen-System auflöst: Es bedarf mehr denn je freiwilliger Absprachen mit Partnern, die aus anderen kulturellen Hintergründen stammen und mit anderen Geltungsansprüchen 418  „The coordination between the orders is not guaranteed anymore, as it was in the historical paradigm of order, by the unity of a vertical authority chain, but by the performances of a communicative reason shared by all actors.“ (Bogdandy/Dellavalle, Universalism, 28) 419  Bogdandy, Rechtsphilosophie, 115. Recht ist eben nicht nur als „Zwang ausüben“ zu verstehen, sondern auch als Sicherung der durch Kommunikation erreichten gesellschaftlichen Konsense (ebd.; Hervorhebung im Original). 420  Eine bemerkenswerte Kontinuität in der habermasschen Theoriebildung ist die skeptische Haltung gegenüber Bürokratien. Dass er in diesem Sinne die VN gleichsam radikal ‚entschlacken‘ will, um ihren Handlungsbedarf zu steigern, ist ein in der Literatur bisher längst nicht hinreichend gewürdigter Vorteil seiner Konzeption. Dass diese subsidiarische Einstellung nicht nachhaltig bei Habermas greift, zeigt sich in der Vernachlässigung der lokalen Ebene der Weltgesellschaft.

140 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens auftreten – ohne die Kommunikation unmittelbar durch rechtlichen Zwang absichern zu können. Bemerkenswert ist dabei, dass Habermas – und darauf haben bisher die Kommentatoren nicht hinreichend aufmerksam gemacht – einen Zusammenhang zwischen kulturellen wie auch religiösen Einflussfaktoren und der gelungenen Integration verschiedener politischer Ebenen für die ‚Weltinnenpolitik‘ herstellt. Zugleich bleibt dieser Zusammenhang insofern unklar, als die konkrete Funktion der Religionen in der Gesellschaft eigentümlich offen gelassen wird.

II.3.D. Zur postsäkularen Zeitdiagnose „Wenn es zu Fragen der Religion in der Gesellschaft kommt, dann gibt es nur die eine Regel, daß es keine globale Regel gibt.“421 Entscheidend ist vielmehr, so Ulrich Beck weiter, die Art und Weise, in der im Horizont internationalen und interkulturellen Bewusstseins „der Andere“ dargestellt wird – also welche „kosmopolitische Hermeneutik“ das Verstehen anleitet.422 Dabei ist für ihn völlig klar, dass religiöse Traditionen „einen in bestimmter Weise ‚deformierten Kosmopolitismus‘ enthalten“, weil sie den Kerngedanken des Kosmopolitismus – nämlich die freie Anerkennung des Anderen – letzlich nicht ohne Exklusion der Ungläubigen vollziehen und begründen können.423 Solch eine Abgrenzung des ‚reinen‘ Kosmopolitismus von ‚den‘ Religionen ist Habermas nicht fremd. Doch in seinen jüngsten Schriften ist der Ton ein anderer: Er will der Bedeutung der Religion „als einer kontemporären Gestalt des Geistes“ Geltung verschaffen, um sich das religiöse Erbe so anzueignen, dass dieses nicht rein als Mittel zur Verstärkung des „Vernunftglaubens“ eingesetzt wird.424 Zugleich bleibt die Vernunft auf sich selbst ausgerichtet und Habermas gegenüber dem Schicksal der Religion Agnostiker.425 Was heißt das? Ist Habermas den Religionen freundlicher gestimmt? Strebt er eine kategoriale Neuordnung seines Theoriegefüges zu Gunsten der Religionen an? Weiß er um die Interpretationskonflikte, die jedweder kosmopolitische Ordnungsbegriff auslöst? Der Begriff der ‚postsäkularen Gesellschaft‘ jedenfalls verrät kaum Klarheit, wirbelt allerdings erhebliche Diskussionen auf – selbst international.426 Dass die praktische Rolle, die er den Religionsgemeinschaften in seinem föderalen Modell zuteilt, unterbestimmt bleibt, ist bereits festgestellt wor421 

Beck, Weltreligionen, 376. Beck, Weltrisikogesellschaft, 337 (Hervorhebung im Original). 423  Beck, Weltreligionen, 383 (meine Hervorhebung). Dass Beck somit selbst eine Regel in der von ihm konstatierten allgemeinen Regellosigkeit definiert, wird von ihm nicht reflektiert. 424  Habermas, Replik auf Einwände, in: Langthaler, Glauben, 370 (Hervorhebung im Original). 425 Ebd. 426  Vgl. z.B. Wenzel (Hg.), Religion; Junker-Kenny, ‚Habermas‘. 422 

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

141

den. Habermas geht vom Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich „fortwährend säkularisierenden Umgebung“ aus – das hat die Einführung des Begriffs gezeigt.427 Das heißt, die Säkularisierung schreitet voran, lässt aber Religionen auf neue Weise zu. Diese durchaus ambivalente These bezieht er ausdrücklich auch auf die globale Konstellation, nicht nur auf die europäische Lage. Um genauer zu verstehen, was hier gemeint ist, muss der von ihm wahrgenommene „Bewußtseinswandel“ erläutert werden, der auf drei Phänomene zurückgeführt wird:428 Erstens verändert sich das Bewusstsein durch die mediale Vermittlung der weltweiten Konflikte, die auf (angeblich) religiöse Beweggründe zurückzuführen sind. Die Relativität der eigenen Überzeugungen wird dadurch selbst säkularistisch eingestellten Bürgern bewusst und jedwede triumphale Haltung gegenüber der Religion durch ihre öffentliche Präsenz in Frage gestellt – ganz abgesehen von der Angst vor fundamentalistischen oder terroristischen Gruppierungen. Die Annahme, dass sich die fortschreitende Modernisierung „auf Kosten“ der öffentlichen Bedeutung der Religion ausbilden wird, verliert durch diese Einblicke in den weltweiten sozialen Wandel ihre begründete Basis (392). Zweitens wandelt sich die Lage innerhalb der europäischen Öffentlichkeit: Habermas ist weniger an den medial inszenierten Auftritten der Kirchen interessiert als vielmehr an der Erfahrung, dass die Religionsgemeinschaften in politisch brisanten Fragen immer häufiger die „Rolle von Interpretationsgemeinschaften“ übernehmen – ein Begriff, den er sich von F. Schüssler Fiorenza aneignet (ebd.) – und auf die Meinungsbildung aktiv einwirken. Auf der Linie seiner neueren anthropologischen Arbeiten, die in der Sorge um biochemische Manipulationen an der ‚Gattung Mensch‘ entstanden sind (II.2.D), sieht Habermas zunehmend Wertkonflikte auf säkulare Gesellschaften zukommen, die von weltanschaulichen Begründungsmustern weitaus mehr als bisher abhängig sind. Drittens zeichnet sich durch die Migrationsbewegungen deutlicher ein Pluralismus von Lebensformen und Glaubensrichtungen innerhalb nationaler Gesellschaften ab. Vor allem viele muslimische Einwanderer, so stellt Habermas fest, leben ihre Religiosität in selbstbewusster Konkurrenz mit dem christlichen Weltverständnis. Diese Konkurrenz erschwert Habermas zufolge die Integration der Migranten in die Gesellschaft und veranlasst zugleich die bereits vorhandenen Konfessionen, ihr eigenes Profil zu klären und zu schärfen (393). Im Folgenden will ich anhand empirischer Überlegungen zur gegenwärtigen Lage der Religionen aufzeigen, dass sich das Verhältnis von ‚Religion‘, ‚Säkularisierung‘ und ‚Globalisierung‘ bereits erheblich komplexer darstellt, als die habermasschen Bemerkungen erkennen lassen (i) und daraufhin anhand seiner gegenwärtigen Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft 427 

428 

Habermas, Glauben, 13. Habermas, Revitalisierung, in: PT 5, 392 ff. Seitenzahlen im Folgenden im Text.

142 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens wie auch von Glauben und Wissen die Kategorien analysieren, mit denen er die neue postsäkulare Zeit diagnositiziert (ii). Um die umfangreiche Diskussion einzuordnen, isoliert José Casanova drei Verwendungsweisen des Begriffs ‚Säkularisierung‘:429 Zunächst wird der Begriff mit Bezug auf die abnehmende Bedeutung von religiösen Praktiken und Riten eingesetzt, sodann ist der Rückzug der Religion ins vermeintlich ‚Private‘ gemeint. Schließlich wird damit eine gesellschaftliche Ausdifferenzierung bezeichnet, in der das Funktionssystem der Religion von denjenigen der Wirtschaft, Wissenschaft und Recht/Politik im Einflussbereich und in der Zuständigkeit unterschieden wird. Es ist nun zu beachten, dass der folgende empirische Überblick bereits eine Ausdifferenzierung unterschiedlicher Funktionssysteme, eine Religionseingrenzung und somit gewissermaßen ein Säkularisierungsergebnis voraussetzt.

i. Globalisierte Religionsgemeinschaften. Ein Überblick Seit Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wird die religionssoziologische These in Frage gestellt, dass eine fortschreitende Säkularisierung stattfinde. Zweifel ergeben sich dabei aus einer Vielzahl kulturvergleichender und sozialwissenschaftlicher Studien. Auf der europäischen Ebene ist zwar erkennbar, dass institutionelle Bindungen und statistisch erfasste Mitgliedschaften einem starken Wandel mit abnehmender Tendenz unterliegen. Aber diese Entwicklung lässt sich nicht einfach fortschreiben, sondern es ist festzustellen, dass die europäischen Säkularisierungsprozesse aus der bestimmten Form europäischer ‚Modernisierung‘ erwachsen.430 Und selbst die europäische Lage bietet kein einheitliches Bild, wie José Casanova, Detlef Pollack und David Martin zeigen.431 Anhand deren Forschungen lassen sich z.B. geografische und konfessionsspezifische Unterscheidungen herausarbeiten, anhand derer die Diversität Europas deutlich wird.432 Die Beschreibung der Religionen im Horizont weltweiter Ausdifferenzierungsprozesse ist hingegen erheblich diffiziler. Einige Entwicklungen, wie diejenige der stärkeren öffentlichen Wahrnehmung der Religionen, sind dennoch erkennbar. Über zehn Jahre nach der Erscheinung seines Werkes Public Religions in the Modern World, in dem Casanova einen globalen Trend der Entprivatisierung der Religion feststellt, sieht er sich durch die öffentliche Aufmerksamkeit, die Religion selbst in säkularen Kreisen erhält, in seiner ursprünglichen Annahme bestätigt.433 Auch Martin Riesebrodt stellt fest: „Die 429 

Casanova, Religions; ders., Lage, 322–357. AaO. 332. 431  Vgl. Pollack, Pluralisierung; Casanova, Lage. Verschiedentlich ist zudem gezeigt worden, dass „das Religiöse und Säkulare“ in der europäischen Kultur „immer unauflöslich verknüpft waren“, weil eine ideengeschichtliche Beziehung zwischen Christentum und Aufklärungsgedankengut besteht, die auch institutionell erkennbar ist, vgl. die Verweise auf David Martin und Danièle Hervieu-Léger, in: aaO. 350. 432  Vgl. den Überblick in Graf, Säkularisation/Säkularisierung, 782 ff. 433  Casanova, Lage, 342 f. 430 

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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dramatische weltweite Rückkehr der Religionen und ihrer Bedeutung“ lässt berechtigte Zweifel am „westliche[n] Modernisierungsmythos“ und der damit verbundenen Säkularisierungsthesen entstehen.434 Diese These stimmt zwar mit den Studien von Hans Kippenberg, Mark Juergensmeyer und Konrad Raiser überein (vgl. II.3.C.ii), dass sich reaktionäre, religiös-fundamentalistische Rebellionen am säkularen Anspruch nationalstaatlicher Souveränität entzünden. Samuel Huntington kommt überdies zu dem pointierten Schluss, dass die Religionen und Zivilisationen eine, möglicherweise die zentrale, Kraft der Orientierung und Mobilisierung für Menschen sind: „Civilizations unite and divide humankind“.435 Allerdings muss diese kulturalistische Schlussfolgerung ebenso kritisch betrachtet werden wie die habermassche Überraschung angesichts der angeblichen Rückkehr der Religionen. Diese waren niemals ‚weg‘, vielmehr waren sie weiterhin präsent. Aber die Religionen können nicht einfach als die bestimmende kulturelle Kraft angesehen werden. Eine Art wechselseitiges Verhältnis zwischen Religionen und Globalisierungsprozessen ist vielmehr angemessen: Aktuell wird in religionssoziologischen Studien solch ein Verhältnis aufgezeigt, in welchem die Religionen als einer von verschiedenen wirkmächtigen Faktoren in der werdenden Weltgesellschaft gesehen werden. Einerseits sind Religionsgemeinschaften als ‚Subjekte‘ oder als Mitinitiatoren der Globalisierungsprozesse zu verstehen. In diesem Sinne werden jene als „original globalizer“ bezeichnet,436 da durch Missionstätigkeiten interkultureller Handel und Austausch initiiert, vertieft oder begleitet wurde. Bis heute bieten z.B. neben den rasant wachsenden Pfingstgemeinden und den traditionellen Großkirchen eine Vielzahl kleiner Religionsbewegungen wesentliche Impulse für transnationale Gemeinschaft.437 Neue religionssoziologische Forschungen untersuchen zudem, wie Religionen alternative Identitäts- und Raumvorstellungen zu politischen Abgrenzungen bereitstellen, die sich an ethnischen, nationalen oder regionalen Identitätsmarkern orientieren. So greifen z.B. Pfingstgemeinden auf eine ausgereifte mythologische Kosmologie zurück, um sich vor den dominanten westlichen Kulturen schützen und abgrenzen zu können.438 Da diese Konzeptionen universalistisch ausgerichtet sind, bieten sie Identifikationsmöglichkeiten weit über Ländergrenzen hinweg und fördern zugleich ein alternatives ‚Weltbewusstsein‘. 434 

Riesebrodt, Rückkehr, 9. Huntington, Response, 191 f., 194. 436  Lehmann, Religion, 75. 437  Während in Brasilien der Zen-Buddhismus in oberen gesellschaftlichen Schichten kosmopolitische Impulse setzt, wird in Dänemark unter den Baha’i, die sich vom Shia Islam abgespaltet haben, der Gedanke des Weltbürgertums gefördert und die buddhistische Soka-Gakkai Bewegung ist weltweit aktiv in der Ausformulierung ihres humanistischen Leitmotivs (vgl. Altglas, Introduction, 10–16, mit weiterer Literatur). 438  Vgl. z.B. die bemerkenswerte Studie von Robbins, Alterity, 125–141. 435 

144 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Andererseits werden die Religionsgemeinschaften durch die kulturellen Interdependenzen und gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse im Kern herausgefordert und unterliegen einem kaum zu erfassenden Wandel. Die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) wird mit dem intensiven intergesellschaftlichen Austausch weiter vorangetrieben, sodass die Folgen bisher nicht auszumachen sind. Denn die Religionen werden durch die unabhängigen Funktionssysteme der Wirtschaft, der Wissenschaft, des Rechts und der Medien in ihrem Aktionsradius eingeschränkt. Zugleich werden sie durch den radikalen weltanschaulichen Pluralismus in ihrem Wahrheitsanspruch relativiert. Es bedarf für jede einzelne Religion historischer Analysen, die diese Veränderungen analysieren. Alleine die europäische neuzeitliche Entwicklung verdeutlicht eine komplexe Mentalitätsgeschichte, und deshalb plädiert Charles Taylor dafür, dieser weitere Tiefenschärfe zu verleihen.439 Ihn interessieren die Veränderungen in den Bedingungen des Glaubens und er argumuntiert, dass die Gewissheit des Glaubens um das Jahr 1500 auf eine andere Realitätserfahrung als im Jahre 2000 verweist: Während damals der eigene Glaube in seiner Evidenz als alternativlos angesehen wurde, gilt er heute als eine mögliche Sinndeutung unter vielen. Zudem konstatiert er in der Gegenwart die selbstverständliche Bereitschaft, den Glauben überhaupt in Frage zu stellen. Neben der gesteigerten Optionalität in Fragen des Glaubens wird die Entwicklung eines ausgrenzenden Humanismus beschrieben. Jedenfalls gilt die schlichte Säkularisierungsthese, die Taylor polemisch als Subtraktions-Narrative bezeichnet (also als eine Geschichte des Glaubensverlustes) und von der Habermas ausgeht, so auch nicht in Europa. Es haben sich zwar tief greifende Veränderungen ergeben, aber diese sind diffiziler und subtiler als herkömmlich angenommen.

Jedenfalls ist die Religion in ihrem wechselseitigen Bestimmungsverhältnis mit allen anderen Funktionssphären zu untersuchen, denn diese grenzen den gegenwärtigen Einfluss der Religionen bereits ein. Über die von Huntington aufgestellte These über deren zentrale Wirkung hinaus müssen also andere, eher unerwartete Faktoren und Differenzierungen in der Diskussion beachtet werden. Studien von Norris und Inglehart greifen deshalb ökonomische Entwicklungen auf und zeigen, dass die Säkularisierung im Wesentlichen die vergleichsweise wohlhabenden Gesellschaften betrifft, während die ärmeren in ihrer Religiositätsstruktur gleichbleibende Muster aufweisen. Weil die mittelloseren Gesellschaften das größte Bevölkerungswachstum verzeichnen und die reichen Länder zugleich von einem negativen demografischen Wandel betroffen sind, wird proportional mit Blick auf die Weltbevölkerung die Anzahl der säkularen Bürger geringer.440 Treffen diese Prognosen zu, müsste der Begriff ‚postsäkular‘ als Rückgang säkularer Überzeugungen verstanden werden. Allerdings würde 439 

Taylor, Zeitalter, 11–45. „Societies where people’s daily lives are shaped by the threat of poverty, disease, and premature death remain as religious today as centuries earlier. […] The result of these combined trends is that rich societies are becoming more secular but the world as a whole is be­ coming more religious.“ (Norris/Inglehart, Sacred, 216; Hervorhebung im Original) 440 

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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ein solcher Schluss der Vielschichtigkeit religiöser und sozialer Identität nicht gerecht. Die angedeuteten ökonomischen Faktoren sind m.W. im internationalen Säkularisierungsdiskurs eine bisher nicht hinreichend thematisierte Größe. So müsste neben der groben Klassifikation von armen und reichen Gesellschaften auch auf wirtschaftliche Veränderungen innerhalb von Gesellschaften aufmerksam gemacht werden: Denn die Wohlstandszuwächse haben in Entwicklungsländern erhebliche Auswirkungen. Dieter Senghaas zeigt, dass die wirtschaftliche Entwicklung zu „sozialer Mobilisierung“ führt und diese „unumkehrbar eine Pluralisierung“ innerhalb der Gesellschaften impliziert, weil mit dem Erwerb unterschiedlicher Konsumgüter nicht nur unterschiedliche Präferenzen, sondern auch andere Werte und Geltungsansprüche bemerkbar werden, die „zu einer prinzipiell nicht überwindbaren Meinungs- und Interessenvielfalt“ führen.441 Auf der einen Seite lösen sich durch diese Vielfalt bisherige Identitätsgrenzen (wie z.B. starke ethnische, patriotische oder religiöse Bindungen) zu Gunsten individualisierter Lebensentwürfe auf und auf der anderen Seite erstarren sie in fundamentalistischen Interpretationsgemeinschaften. So unterliegen alle Sinnsysteme einem Rechtfertigungsdruck,442 und es „prallen“ ökonomische, kulturelle und politische Formen aufeinander, sodass die „Selbstverständlichkeiten, auch des westlichen Modells“, sich gegenüber anderen Gesellschaftskonzeptionen rechtfertigen müssen.443 Die Konfliktlinien sind aber längst nicht eindeutig zu bestimmen. So weisen Norris und Inglehart auf bemerkenswerte Unterschiede hin, die sich aus den World Value Surveys ergeben: Die Probleme vieler Muslime mit der Moderne betreffen weniger die demokratischen Bestrebungen und Reformen.444 Vielmehr sind beträchtliche Spannungen hinsichtlich Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und sexueller Liberalisierung dort zu beobachten. Und diese Diskrepanz nimmt zwischen dem Westen und muslimischen Gesellschaften zu.445 Darüber hinaus zeigen die Studien, dass die Widerstände gegenüber demokratischen Bemühungen in Osteuropa erheblich größer sind als in islamischen Ländern.446 Schließlich ist hinsichtlich der Anerkennung religiöser Autoritäten kein 441 

Senghaas, Paradigma, 101. „Den Chancen und Risiken der Globalisierung beziehungsweise der Einschätzung der Folgen einer wirtschaftlichen und politischen Vernetzung der Welt können wir nur gerecht werden, wenn wir Kultur in ihrer Komplexität und Widersprüchen als zentrale Dimension einbeziehen.“ (Zukrigl, Vielfalt, 60; vgl. Cowen, Weltmarkt; Nuscheler, Globalisierung, 242) 443  Beck, Globalisierung, 29; vgl. Küng, Herausforderungen, 111. 444 Dieses Ergebnis muss nicht den Studien von Juergensmeyer et al widersprechen (II.3.C), denn deren Schlussfolgerungen beziehen sich auf antidemokratische Segmente innerhalb muslimischer Gesellschaften. 445  Norris/Inglehart, Sacred, 154. 446  „This pattern could be explained equally well as reflecting the residual legacy of the 442 

146 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens einheitliches interkulturelles, sondern vielmehr ein stratifiziertes intrakulturelles Bild auf Grund deren Forschungsergebnisse zu verzeichnen.447 Dementsprechend müssen vielschichtige Entwicklungen innerhalb der Religionen und Kulturen erfasst werden. Martin Riesebrodt argumentiert, dass aus der Rückkehr der Religionen sich nicht ein „Zusammenprall der Kulturen“ ablesen lässt, in der religiös determinierte Zivilisationen sich gegenüberstehen, sondern eine differenziertere Analysenotwendigkeit der religiösen Situation:448 Riesebrodt beobachtet eine interne Differenzierung in vielen Religionen, in denen sowohl fundamentalistische als auch modernistische Aspekte zu beobachten sind. „Was die Ideale der Lebensführung, Kulturgüter, Stil und Geschmack angeht, haben diese Milieus mit ihren parallelen Milieus in anderen Religionen und Kulturen oft mehr gemein als mit ihrem jeweiligen innerreligiösen und innergesellschaftlichen Gegenmilieu.“449

In diesem Zusammenhang sind auch die differenzierten Ergebnisse der internationalen Studien von David Martin zu nennen, die sich an zwei Beispielen verdeutlichen lassen: Er kann auf wesentliche weltanschauliche und sozialpolitische Unterschiede zwischen den Pfingstkirchen und der katholischen Kirche sowohl in Lateinamerika als auch in Westafrika verweisen – z.B. im Mobilitätsverhalten der jeweiligen Mitglieder.450 Das beachtenswerte Wachstum der Pfingstgemeinden erklärt sich Martin im Horizont ihrer besonderen Bemühungen um weltanschaulichen Wettbewerb, der „zu einem immer weiter ausgefalteten Pluralismus paßt“.451 Gegen die These der intra- und interkulturellen Vielfalt könnte eingewandt werden, dass sich ‚die Moderne‘ prinzipiell in allen Zivilisationen auswirkt, wie es Shmuel Eisenstadt maßgeblich formuliert, und somit durch parallele Ausdifferenzierungsprozesse auch Homogenisierungseffekte erzielt werden.452 Aber Eisenstadt stellt klar, dass von einer einheitlichen modernen Zivilisation nicht zu sprechen ist: Die Verbreitung moderner Institutionen führt nicht automatisch zu einem homogenen ideologischen Muster in und zwischen den betroffe-

Cold War and a realistic evaluation of the actual performance of democracy in these states, rather than by the re-emergence of ethnic conflict based on the values of the Orthodox church, which are, after all, part of Christendom.“ (Ebd.) 447  Es gibt sowohl unter Christen wie auch unter Muslimen konservative Bestrebungen, die sich eine aktive politische Rolle von Geistlichen im öffentlichen Leben wünschen (ebd.). 448  Riesebrodt, Rückkehr, 56 f. 449  AaO. 57. 450  Im lateinamerikanischen Kontext stellt Martin eine Spannung fest „zwischen der katholischen Kirche mit ihren Wurzeln in sakralen Orten und ihrer Einbettung in die soziale Welt, so daß sie zur Förderung angeleiteter Mobilisierung neigt, und der Pfingstbewegung mit ihrer autonomen Mobilisierung“ (ders., Modell, 453). 451  AaO. 463. 452  Eisenstadt, Globalization, 519–534; vgl. I.2.A; zur Diskussion III.3.A.i.

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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nen Kulturen.453 In China, Japan und Korea ist es z.B. nicht sinnvoll, von Säkularisierungsprozessen im europäischen Stil zu sprechen. Denn die Koexistenz mehrerer staatlich unterstützter Religionen wie auch die Trennung von Religion und Staat sind bereits Teil der eigenen kulturellen Besinnung.454 Wilfried Spohn kritisiert sowohl Eisenstadt (Vertreter der ‚multiple modernities‘) als auch David Held und Roland Robertson (Vertreter der ‚Globalisten‘) dafür, dass ihre Modelle keine Erklärung dafür anbieten, warum religiös-fundamentalistische Initiativen gerade in der gegenwärtigen Lage aktiv sind.455 Spohns Antwort besteht darin, verschiedene Ambivalenzen der Modernisierungsbewegungen aufzuzeigen, die fundamentalistische Reaktionen auslösen: Zum einen verweist er auf die missliche Entwicklung, dass in vielen postkolonialen Gesellschaften säkular-autoritäre Regime eingerichtet worden sind, d.h. ohne liberale Strukturen. Zudem werden die Globalisierungsprozesse seit zwanzig Jahren vornehmlich vom ‚Westen‘ gelenkt oder zumindest beeinflusst.456 Somit ist neben der Dominanz des kapitalistisch-demokratischen Gesellschaftsmodells die kulturelle Deutungshoheit des Abendlandes in vielen Ländern zu spüren, vor allem in Afrika und Asien, die den Einfluss religiös-­ konservativer Gruppen unterminiert.457 Die Entgleisungen mancher Fundamentalismen können demnach als Ausdruck und Reaktion auf die Auflösung traditioneller Deutungsmuster verstanden werden.458 Für die Bemühungen um ein kulturübergreifendes Ordnungsgefüge besteht in diesem Sinne eine große Gefahr. Je mehr die jeweiligen Traditionen ausgehöhlt werden, desto stärker unterwandern konservierende Kräfte die Anstrengungen um interkulturelle Verständigung und globale Institutionen.459 Insgesamt ist festzustellen, dass die habermassche, postsäkulare Zeitdiagnose zwar zu Recht herkömmliche Säkularisierungsprognosen in Frage stellt und auf die veränderte Lage in den durch die Aufklärung unmittelbar geprägten Ländern aufmerksam macht. Allerdings besteht erheblicher Differenzierungsbe453  AaO.

531. Gentz, Lage, 377. 455  Spohn, Globalisierung, 9–31. 456  Six meint, die Rückkehr der Religionen sei vier Faktoren geschuldet: i. der Krise der Moderne; ii. der Krise der postkolonialen Staaten; iii. der „Suche nach Authentizität und Entwicklung“ (Thomas Scott); iv. der Demokratisierung autoritärer Staaten. Letztere verändere die Spielregeln politischer Herrschaftslegitimation und der zunehmend plebiszitäre Charakter von Politik mache Religion als politischen Mobilisierungsfaktor attraktiv. In Nigeria, Indien und Bangladesch wird so Religion als Mittel zur Stärkung politischer Macht missbraucht (ders., Welthegemonie, 126 f.). 457  Zugespitzt habe diese Situation die hegemoniale, militarisierte Weltpolitik der USA unter George Bush Jr. 458  Vgl. Armstrong, Battle; Danz, Religion, 346. 459  Vgl. Schied, Fundamentalismus, 236, der am Beispiel von Maulana Sayyid Abul Ala Maudidi in Pakistan die Ursprünge und Wirkung fundamentalistischer Bewegungen aufzeigt. 454 

148 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens darf: Der empirische Überblick offenbart einen vielschichtigen Befund, der eher als Forschungsdesiderat zu verstehen ist. So wird deutlich, dass z.B. die ökonomischen Faktoren des gesellschaftlichen Wandels auf wesentlich andere Schwierigkeiten aufmerksam machen als die politischen Ausdifferenzierungsprozesse säkularer Staatlichkeit. Ist angesichts einer wachsenden Weltwirtschaft grundsätzlich noch offen, wie sich die demografische Situation entwickelt, bleibt diese Entwicklung nach Norris und Inglehart gerade unter religionssoziologischen Gesichtspunkten von besonderem Interesse – denn ‚arme‘ und ‚reiche‘ Gesellschaften weisen unterschiedliche Überzeugungen hinsichtlich der Säkularisierung auf. Gleichzeitig wird es entscheidend sein, ob der säkulare Staat an Glaubwürdigkeit gegenüber orthodoxen Bewegungen gewinnt. Diese Entwicklung ist nicht nur für die Zukunft prekärer islamischer Staaten wie Pakistan, Afghanistan oder Somalia von Bedeutung, sondern in vielen Fällen auch für die regionale oder gar die globale Stabilität. Über diese politischen und ökonomischen Faktoren hinaus müsste genauer untersucht werden, welche Auswirkungen der Zugang zu ‚säkularem‘ Wissen (ob in der Form von Alphabetisierungsprogrammen, beruflicher Bildung oder universitärer Forschung) auf die religiösen Überzeugungen und Gemeinschaften in den verschiedenen Kulturen hat. Zugleich stehen durch neue Kommunikationsmedien bisher unbekannte kulturelle Angebote interkulturell zur Verfügung. Welche Auswirkungen die Verbreitung des Internets auf fundamentalistische Gruppen wie auch auf Säkularisierungsprozesse haben wird, ist kaum abzusehen.460 Jedenfalls müssen empirische Untersuchungen die Eigenständigkeit und die Interdependenz der verschiedenen Funktionssysteme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Kultur im engeren Sinne) hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Religion stärker in den Blick nehmen. Angesichts dieses Überblicks müssen zwei entgegengesetzte Aussagen mit erheblicher Skepsis behandelt werden: Einerseits kann bisher nicht von einer fortwährenden Säkularisierung ausgegangen werden, denn die vielschichtigen globalen Wandlungsprozesse lassen sich bisher kaum in ihrem Einfluss auf die europäische Gesellschaft eindeutig einschätzen. Andererseits müssen schlichte kulturalistische Positionen als reduktionistisch abgelehnt werden. So wird die Konzentration auf die zentrale Rolle der Religion in der Gesellschaft bei Samuel Huntington weder den vielfältigen politischen und ökomomischen Interessen noch der Interdependenz der Funktionssysteme gerecht.

460  Vgl. die vorsichtigen Schlussfolgerungen von Norris/Inglehart, Communications, 284 f.: Sie weisen nach, dass der Zugang zu Medien zwar eine liberalere, kosmopolitische Haltung bewirkt, dass aber dennoch nicht von einer Konvergenz zwischen den verschiedenen Kulturen zu sprechen ist, also von einer einheitlichen kosmopolitisch ausgerichteten Kultur.

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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ii. Grenze zwischen Glauben und Wissen. Kategoriale Überlegungen im Spätwerk Ziel ist es nun, nach den Kategorien zu fragen, mit denen Habermas diese empirische Lage aufgreift und in seiner Ordnungstheorie verarbeitet. Insgesamt meint Habermas, dass der Bewusstseinswandel sich auf den „prognostischen Gehalt der Säkularisierungsthese“, also auf den Rückzug und die Bedeutungslosigkeit „der Religion aus einer entzauberten Welt“ bezieht (394). Und dieser Wandel fordert Habermas gleichsam dazu auf, Gesellschaftstheorie und Religionsphilosophie zu überdenken. Zwar soll die Säkularisierung der Staatsgewalt als harter Kern des Säkularisierungsprozesses nicht hinterfragt werden, aber für Habermas ist es durchaus problematisch, dass das Religionssystem auch andere Funktionen weitgehend verloren hat, weil Gesellschaften sich ausdifferenzieren und Religionen sich „auf seelsorgerliche Funktionen“ begrenzen.461 Da das Politische metaphysische und theologische Konnotationen in sich birgt, sei es entscheidend, die Säkularisierung des Staates nicht mit der Säkularisierung der Bürgergesellschaft zu verwechseln.462 Dass Habermas diese Begrenzung als Mangel empfindet, ist durchaus bemerkenswert. Inwiefern wird hierdurch sein kategoriales Gerüst neu definiert? Die Antwort ist in seinen Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft, der ich mich zunächst zuwende, zu finden, um daraufhin die Gegenüberstellung von Glauben und Wissen zu analysieren. Zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft: Religion wird von Habermas als unverzichtbare Ressource angesehen, um der Gefahr der „entgleisende[n] Modernisierung der Gesellschaft […] im größeren Zusammenhang einer politisch unbeherrschten Dynamik von Weltwirtschaft und Weltgesellschaft“ zu widerstehen.463 So werden die vorpolitischen Quellen der Moral bedacht, aus denen sich die Motivation zur politischen Meinungs- und Willensbildung speist sowie politische Tugenden entstehen. Die moralischen Gehalte der Grundrechte können nicht „in Gesinnungen Fuß fassen“, wenn dieser Prozess rein kognitiv bestimmt wird, denn jene können nur für die minimale Integration der Bürger der Weltgesellschaft genügen. Was heißt das genau? In verschiedenen Texten antwortet Habermas auf diese Frage, indem er sich mit der neueren, vor allem angelsächischen Diskussion zur veränderten Rolle von Religionen in der Gesellschaft auseinandersetzt.464 Zunächst greift er dazu die Vorschläge von John Rawls zum öffentlichen Vernunftgebrauch auf: Auch Rawls unterstreicht die Bedeutung der Mitwirkung von 461  Habermas, Interview mit Mendieta, 3–4, meint, durch die „Entzauberung der Welt“ sind zwei Formen von Religiosität hervorgegangen: Fundamentalismus einerseits und reflektierter Glaube, der im Gemeindeleben verankert ist, andererseits. 462  AaO. 14 f. 463  Habermas, Grundlagen, in: ZNR, 111 f. 464  Habermas, Religion, in: ZNR, 119–154; vgl. die Beiträge 10–13 in: PT 5, 342–450.

150 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Vertretern umfassender Theorien des Guten in der Öffentlichkeit, denn den Bezug zur Identitätsfindung, Weltdeutung und zum ‚Transzendenten‘ erkennt er als eine wesentliche Möglichkeit an, Intuitionen über ‚das Gerechte‘ zu plausibilisieren.465 Wie bereits ausgeführt (II.2.A.iii.c), setzt Rawls anders als Habermas allerdings materiale Überzeugungen für ein gerechtes prozedurales Verfahren voraus.466 Aber für Rawls darf der Einfluss solcher Überzeugungen nur als Zuarbeit zur formalen Argumentation begriffen werden, denn der politische Liberalismus müsse freistehend und nicht abhängig von umfassenden Theorien des Guten sein:467 „Reasonable comprehensive doctrines“ können jederzeit in den öffentlichen politischen Diskurs eingeführt werden, solange jene durch „proper political reasons“ ergänzt oder ersetzt werden können.468 Das bedeutet, dass die politischen Gründe unabhängig von den religiösen Hintergrundannahmen geltend gemacht werden müssen. Religiöse Menschen seien eben keine Puppen, die gleichsam von umfassenden Überzeugungen aus dem Hintergrund manipuliert würden.469 Habermas tritt gegenüber Rawls dafür ein, dass Gläubige aus religiös fundierten Überzeugungen im politischen Raum das Rechte und Unrechte beurteilen müssen. Weil es ihnen schwer fällt, säkulare und religiöse Gründe für politisches Handeln zu unterscheiden, ist es für Habermas unzulässig, Gläubigen diese Unterscheidung aufzuerlegen. Er zitiert deshalb zustimmend Nicholas Wolterstorff, der dafür plädiert, die religiösen Überzeugungen vieler Gläubiger als unauflösbar mit ihren jeweiligen güterethischen Bewertungen des Sozialen verknüpft anzusehen: „Their religion is not, for them, about something other than their social and political existence.“470 Zu erwarten sei aber, dass Gläubige die Tatsache anerkennen, dass „jenseits der institutionellen Schwelle, die die Öffentlichkeit von Parlamenten, Gerichten, Ministerien und Verwaltungen trennt, nur säkulare Gründe zählen“.471 Alle diejenigen, die für öffentliche Mandate kandidieren oder diese annehmen, müssen folglich bereit sein, nur säkulare Gründe für ihre Überzeugungen anzugeben. Die religiösen Beiträge, die nach Habermas für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von größter Bedeutung sind, müssen deshalb im „vorparlamentarischen Raum“ übersetzt werden: Diese „Übersetzungsarbeit“ ist nun der Schlüssel für den Erhalt des weltanschaulich neutralen Staates.472 465 

Vgl. die zustimmende Rezeption von Mack, Gerechtigkeit, 281–285. Vgl. auch Forst, Kontexte, 21 ff. 467  Rawls, Liberalism, 154 f. 468  Rawls, Idea, 783 f. 469  AaO. 777. Elke Mack hat diese Position so zusammengefasst: Ein vernünftiger Dissens über Inhalte des guten Lebens soll in Relation zu dem Konsens über Normen politischer Gerechtigkeit gesetzt werden (dies., Gerechtigkeit, 145, 147). 470  Wolterstorff, Role, 105, zitiert in: Habermas, Religion, in: ZNR, 133 (Hervorhebung bei Habermas). 471  Habermas, Religion, in: ZNR, 136. 472  AaO. 137. 466 

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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„Illegitim ist der Verstoß gegen das Prinzip der weltanschaulich neutralen Ausübung politischer Herrschaft, wonach alle mit staatlicher Gewalt durchsetzbaren politischen Entscheidungen in einer Sprache formuliert sein müssen und gerechtfertigt werden können, die allen Bürgern gleichermaßen zugänglich ist.“473

Die Übertragung mutet beiden Gruppen, säkularen und religiösen Bürgern, demnach einen Beitrag in kooperativer Absicht zu – nämlich eine Sprache zwischen Religion und Naturalismus bzw. Säkularismus zu finden: Auf der einen Seite steht der Beitrag der säkularen Bürger. Aus verschiedenen Gründen sollten diese Habermas zufolge darauf achten, dass sie die Gläubigen und deren Gemeinschaften nicht davon abhalten, sich im Rahmen ihrer Weltanschauung zu äußern. Sonst kommen die grundlegenden Ressourcen der Sinnund Motiviationsstiftung dem liberalen Staat abhanden. Säkulare Bürger sollten sich deshalb gegenüber der Kreativität und Regenerationskraft der Religionen lernbereit zeigen.474 Habermas will somit ein mögliches Ressentimentgefühl der religiösen Bürger gegenüber unzumutbaren Forderungen des liberalen Staates vermeiden helfen. Gläubige hätten nämlich eine „asymmetrische Bürde auferlegt“ bekommen, indem sie sich den „kognitiven Dissonanzen“ der epistemischen Veränderungen der Moderne – ich komme auf diese zurück – aussetzen müssen, die „den aufgeklärten säkularen Bürgern mühelos zufallen“.475 Habermas unterscheidet den säkularen von dem säkularistisch eingestellten Bürger wie folgt: Die säkularistische Lesart versteht die Religion gleichsam als aussterbende Art, die letztlich keine berechtigten Beiträge mehr für die Gesellschaft leisten kann. Habermas ist selbst für diesen Szientismus durch seine Auseinandersetzung mit der Hirnforschung sensibilisiert worden (vgl. II.2.D), denn der säkularistische Naturalismus verwechselt einzelne Erkenntnisse der Naturwissenschaft mit einem künstlich hergestellten naturwissenschaftlichen Weltbild, das dadurch einen mit religiösen Weltbildern vergleichbaren epistemischen Status erhält. Dabei zitiert er wiederum Wolterstorff: „Much if not most of the time we will be able to spot religious reasons from a mile away […]. Typically, however, comprehensive secular perspectives will go undetected.“476 Es ist die Aufgabe der Philosophie, diese umfassenden säkularistischen Deutungshorizonte aufzuklären und einen komprehensiven Vernunftbegriff zu erarbeiten. 473  AaO.

140. Er widerspricht an diesem Punkt Wolterstorff, der eine solche Trennung problematisiert und der nicht davon ausgeht, dass der Streit zwischen den Weltanschauungen und den verschiedenen Gerechtigkeitsideen in einem formalen Konsens aufgelöst werden kann und deshalb nur die Möglichkeit eines „Modus Vivendi“ zwischen den Religionen in Betracht kommt (aaO. 140 f.). Für Habermas stellt sich hingegen mit dieser Position die Gefahr der weltanschaulichen Despotie dar, in der dann letztlich eine bestimmte religiöse Mehrheit andere Minderheiten unterdrücken würde – also ohne Äquidistanz zu allen Religionen (aaO. 141). 474  Habermas, Bewußtsein, in: Reder, Bewußtsein, 31. 475  Habermas, Religion, in: ZNR, 144. 476  Wolterstorff, Role, 105, zitiert in: Habermas, Religion, in: ZNR, 147 Fn. 48.

152 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Auf der anderen Seite steht der Beitrag der Gläubigen und Religionsgemeinschaften zur Übersetzungsarbeit: Es ist nach Habermas selbstverständlich, dass die Religionen die „Autorität“ der Vernunft anerkennen – also das universalistische Verständnis von Recht und Moral.477 Im öffentlichen Diskurs zählen nämlich nur öffentliche Gründe, die über die Grenzen partikularer Glaubensgemeinschaften verständlich sind, jenseits vom „Sperrklinkeneffekt der ‚Offenbarung‘“.478 Auf diesem Effekt beharrt Habermas: Religion bleibt im Kern opak;479 ihre Aussagen sind nicht diskursiv zugänglich, und sie ist kategorial anders als ‚immanente‘ ethische Lebensentwürfe zu behandeln. Habermas erkennt zwar ausdrücklich die Leistung der Theologie an, durch kritische Selbstreflexion religiöse Einstellungen in die Moderne überführt zu haben. Drei Neubewertungen werden von ihm genannt: zunächst die veränderte epistemische Einstellung der christlichen Religionsgemeinschaft zum weltanschaulichen Pluralismus und der Respekt vor fremden Heilslehren, ohne den eigenen Wahrheitsanspruch fallen zu lassen; daraufhin die neu gefasste Einstellung gegenüber der säkularen Wissenschaft, nämlich der Anerkennung von Erkenntnisfortschritten jenseits des traditionellen biblischen Weltbildes; schließlich die neue Haltung gegenüber der politischen Ordnung, die auf dem egalitären Individualismus und dem Vernunftrecht aufbaut. Aber trotz dieser drei tief greifenden Einstellungsveränderungen bleibt Religion das „intransparente Andere der Vernunft“, denn als nachmetaphysischer Denker will Habermas sich der Religion gegenüber als „lernbereit und agnostisch zugleich“ verhalten.480 Und der Religion bescheinigt er großzügig, dass deren Gehalte nicht verloren gehen müssen, wenn sie durch die Vernunft zum Zwecke einer Übersetzung in Anspruch genommen werden.481 Es bleiben dabei wesentliche Fragen offen. Ich nenne drei. Zum einen: Was ist eine ‚säkulare Einstellung‘? Im Duktus der Texte grenzt Habermas, wie gezeigt, diese wiederholt von der Religion und anderen dogmatistisch verankerten Doktrinen wie dem Säkularismus ab. Die ethischen Überzeugungen säkularer Bürger sind demgegenüber anscheinend eigentümlich transparent und nachvollziehbar. Es unterstreicht seinen substanzialistischen Religionsbegriff, wenn Habermas religiöse Überzeugungen von anderen ethischen Lebensorientierungen und Weltanschauungen oder „weltlichen ‚Konzeptionen des Guten‘“ dadurch unterscheidet, dass jene sich „vorbehalt-

477 

Habermas, Bewußtsein, in: Reder, Bewußtsein, 27. Habermas, Revitalisierung, in: PT 5, 406. 479  „Dieser Kern bleibt dem diskursiven Denken so abgründig fremd, wie der von der philosophischen Reflexion auch nur eingekreiste, aber undurchdringliche Kern der ästhetischen Anschauung.“ (Habermas, Religion, in: ZNR, 150) 480  AaO. 149. 481 Ebd. 478 

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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loser diskursiver Erörterung“ entziehen.482 In dieser Unterscheidung liegt ein „Rest säkularistischen Selbstmissverständnisses“, wie Hans Joas es formuliert, denn ob ethische oder religiöse Tradition, beide beruhen auf biografisch-historisch belegten Evidenzen.483 Habermas ist sich der Tragweite dieser Problematik bewusst. Es ist auch bezeichnend, dass er einen der bedeutsamsten letzten Texte zu diesem Thema mit der erneuten Nennung des Problems und eben nicht einer Lösung beendet: Er weiß, dass die Frage nach der Verhältnisbestimmung erfahrungswissenschaftlicher Aussagen und religiöser Überzeugungen zutiefst umstritten ist und dass sie das Selbstverständnis und somit die Gestaltungskraft der Moderne im Kern berührt.484 Zum zweiten: Angesichts der zentralen Stellung der postnationalen Konstellation in seinen neuen Überlegungen und dem von ihm gezielt hergestellten Zusammenhang zwischen den Fragen um den Status der Nation und denjenigen der Religion ist es bemerkenswert, dass Habermas kaum ein Problembewusstsein für die Stellung der Religion in anderen Gesellschaftsordnungen aufweist. Er hofft aber auf eine neue Weltordnung und dazu sollen die Religionen ihre Ressourcen bereitstellen. Wie wirkt sich die Religion auf die Identitätsbildung angesichts neuer Ordnungskonzeptionen aus? Sind die Religionsgemeinschaften als transnationale Akteure mit für die Auflösungserscheinungen nationaler Institutionen verantwortlich? Welche Ressourcen bieten die anderen Weltreligionen im Vergleich zum Christentum? Auch wenn diese Fragen wohl kaum von ihm selbst beantwortet werden können, skizziert er kein Forschungsdesiderat mit einem entsprechenden Richtungsinn und formuliert auch keinen Problemaufweis zu den vielfältigen Ausdifferenzierungsprozessen in den diversen Kulturen. Zum dritten: Die zutiefst ambivalente Einstellung gegenüber der Religion, die in Kapitel II.2.C festgestellt wurde, durchzieht auch die neueren Texte: Habermas will den Religionen zwar entgegenkommen, aber seine Auseinandersetzungen reflektieren weiterhin säkularistische Einstellungen, die er doch nun überwinden will.485 Einerseits beruft sich Habermas auf die jüdisch-christliche Tradition, andererseits wird die unüberwindbare Kluft zwischen dieser und der öffentlichen Vernunft herausgestellt. Martin Laube summiert, dass das Verhältnis von Glauben und Wissen „ein janusköpfiges Gesicht“ behält:486 Habermas hat nicht vor, die Säkularisierungsthese zu verabschieden, und hinterlässt die Leser zugleich mit der Ambivalenz, dass die neue Zeitdiagnose „doch verwi482 

AaO. 135. Religion, 5; vgl. ders., Mensch, 17. Es bleibt gleichsam ein Nachgeschmack, als ob die säkulare Sprache von Habermas diejenige sei, die alle anderen lernen müssten – um verständlich zu sein. 484  Habermas, Grundlagen, in: ZNR, 154. 485  Joas, Religion, 5. 486  Laube, Christentum, 456. 483  Joas,

154 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens ckelter“ ist als eine schlichte „Gleichsetzung von Modernisierung und Dechristianisierung“.487 Trotz dieser entscheidenden Fragen, die im Folgenden noch einmal anhand seiner neueren religionsphilosophischen Überlegungen vertieft werden sollen, ist die Entwicklung im habermasschen Werk unübersehbar: Eine egalitäre Ausgangsbasis für den gesellschaftlichen Konsens soll zwischen religiösen und säkularen Bürgern geschaffen werden. Er will „komplementäre Lernprozesse“ initiieren, die in ein Geben und Nehmen verschiedener Einstellungen zur Gesellschaft münden – also in einen „vernünftigerweise zu erwartenden Dissens“ über die divergenten Begründungen gemeinsamer Koexistenz.488 Zum Verhältnis von Glauben und Wissen: Habermas greift auf Immanuel Kant als Gewährsmann für den folgenden Argumentationsgang zurück, weil dieser für ihn gleichsam als Fels in der interkulturellen Brandung steht. „Allein die Kantianer“ hätten genealogisch betrachtet nämlich die Moral einer prozeduralen Vernunft übergeben und seien nicht der Versuchung erlegen, die Ablösung religiös-metaphysischer Weltbilder durch ihre eigenen Gefühle oder kulturellen Werte zu ersetzen – wie es Habermas bei einigen seiner Philosophen-Kollegen beobachtet.489 Zugleich meint Habermas, konsequenter als Kant den von ihm eingeschlagenen Weg verfolgen zu müssen. In einem Vortrag aus dem Jahr 2004 führt Habermas die Leistungsfähigkeit und die Grenzen der Religionsphilosophie Kants für die postsäkulare Situation an.490 Die „konstruktive Absicht“ der kantischen Religionsphilosophie verdient demnach gehört zu werden, weil die handlungsorientierende Kraft der Weltreligionen so reflektiert wird, dass die göttlichen Gebote „auf diskursivem Weg“ rekonstruiert werden und die Begrenzung der theoretischen Vernunft mit dem Optimismus der praktischen Vernunft verbunden wird (236). Die „Eingrenzung“ der Religion und der Vernunft werden dabei als zwei interdependente Bewegungen dargestellt: Einerseits wird die Religion der Vernunft untergeordnet und andererseits bescheidet sich die Vernunft, indem sie religiöse Aussagen unterlässt. „Es ist die transzendentale Vernunft selbst, die kraft ihrer einheitsstiftenden Ideen das Ganze der Welt entwirft; darum muss sie sich hypostasierende Aussagen über die ontologische oder teleologische Verfassung von Natur und Geschichte verbieten. Das Seiende im Ganzen oder die sittliche Welt als solche bilden keine möglichen Gegenstände unserer Erkenntnis.“ (217)

Dementsprechend stehen zwei dogmatistische Zielgruppen in der Kritik Kants: kirchlich verhärtete Orthodoxe, die Natur und Vernunft in der moralischen 487 

AaO. 470. Habermas, Grundlagen, in: ZNR, 146 (Hervorhebung im Original). 489  Habermas, Replik auf Einwände, in: Langthaler, Glauben, 382. 490  Habermas, Grenze, in: ZNR, 216–257. Seitenzahlen im Folgenden nach ZNR im Text. 488 

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Begründung missachten, und Skeptizisten, die Religionskritik mit moralischem Defätismus verwechseln. Beide Richtungen stellen auch nach Habermas Fehl­ ein­schät­zun­gen dar, vielmehr ist die „Religionskritik“ mit der Absicht ihrer „rettenden Aneignung“ zu verbinden (218; Hervorhebung im Original). So ist auch in der Gegenwart Kritik und Aneignung gleichermaßen zu beachten: Die praktische Vernunft ist dabei auf das kreative, welterschließende Potenzial der Religion angewiesen, um das normative Selbstbewusstsein zu vitalisieren. Dennoch ist keine Revision seiner bisherigen kategorialen Aussagen zur Religion selbst erkennbar: Nach wie vor darf die Grenze zwischen Glauben und Wissen nicht verwischt werden.491 Habermas problematisiert nun die Ambivalenz im Herzen der kantischen Theoriekonstruktion: Einerseits bedarf es zum Rechthandeln keines Zweckes, denn jede Art von Zweckvorstellung würde die Moralität der Unbedingtheit des kategorischen Gebots aufweichen. Andererseits besteht laut Kant weiterhin das Bedürfnis der Vernunft, eine Macht zu postulieren, die das Rechthandeln belohnt. Um dieses Dilemma innerhalb der Grenzen der praktischen Vernunft aufzulösen, wird als „Brücke“ der Begriff des „höchsten Gutes“ eingeführt.492 Habermas kann zwar nachvollziehen, wozu Kant auf der Pflicht zur Beförderung des höchsten Gutes besteht: Er sieht ein, dass Kant diese Dimension „um der Moral selbst willen“ hinzufügt, also um die moralische Gesinnung „gegen Defätismus abzuschirmen“ (229). Schließlich will Kant die in der Offenbarung autoritär daherkommende Moral diskursiv verallgemeinern und in einem „ethischen Staat“ umsetzen.493 Aber, so kontert Habermas, Kant widerspricht sich: Er ordnet die deontologisch begründete Moral einem Zweck unter und will die Wahrheit dieses Zweckes auf vernünftigem Wege beurteilen. Beide Absichten lassen sich aber Habermas zufolge nicht miteinander vereinbaren: „Die Vernunft kann den Kuchen der Religion nicht gleichzeitig verzehren und behalten wollen.“ (236) Mit diesen Aussagen wagt sich Habermas tief in die umstrittene Kant-Exegese hinein. Sie betrifft nicht nur die Stellung der Religionsphilosophie, sondern eben auch den Status der Kritik der praktischen Vernunft in der Gesamtarchitektonik des kantischen Werkes. Auf diese diffizile Diskussion kann hier nicht eingegangen werden. Aber aus der Auseinandersetzung mit Habermas’ Kant-Interpretation können dennoch einige Erkenntnisse gewonnen werden. Denn die Eigenart dessen gleichsam klinischer Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen wird dann deutlicher. 491  In diesem Kontext wird allerdings als Hauptgegnerin die „schwärmerische Philosophie“ stilisiert, die religiöse Bezüge in die Philosophie einführt und sich vom nachvollziehbaren Diskurs verabschiedet (aaO. 257). 492  In der „Gleichsetzung mit dem biblischen Begriff vom ‚Reiche Gottes‘“ wird das höchste Gut mit eschatologischen Gehalten aufgeladen (aaO. 224). 493  Kant, Religion, A219/B233, A121/B129; ders., Streit der Fakultäten, A 46.

156 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens Zunächst: Rudolf Langthaler verteidigt Kant gegen die habermasschen Einwände. Er argumentiert, dass Kant mit der Einführung des höchsten Gutes zwar die antike Weisheitslehre fortsetzt und somit über die abstrakte Moraltheorie hinausgeht, aber dieser betrete damit nicht den Boden vorkritischer Metaphysik.494 Es ist bei Kant eben nicht so, dass die Moral von jedwedem Zweck abgelöst werden kann. Vielmehr stellt sich aus der praktischen Vernunft die Frage nach der Realisierung der Freiheit.495 Habermas kann diese Lesart zwar als „eine Kantinterpretation“ anerkennen, nicht aber als einen heute nachvollziehbaren Weg zur nachmetaphysischen Begründung der Moral.496 Er besteht vielmehr darauf, die Orientierungskraft der praktischen Vernunft von jedwedem güterethischen Bezug zu trennen.497 Sodann: Herta Nagl-Docekal verteidigt die Rolle der Vernunft als Aufklärerin im Konflikt zwischen den Weltreligionen.498 Dabei will sie zwar den Religionen nicht die Wahrheit gleichsam von außen diktieren, doch mit der Rolle der Dolmetscherin im interreligiösen Dialog beabsichtigt sie sich nicht zu begnügen: Vielmehr könne die Philosophie den Religionen helfen, zur vernünftigen internen Aufklärung zu finden. Diese Selbstaufklärung der Weltreligionen, in der sie zum vernünftigen Kern ihres Glaubens vordringen, sei im Konzept der Vernunftreligion angelegt. Für Habermas dagegen verbirgt sich hier zu Recht ein „paternalistische[r]“ Zug.499 Solch ein Versuch, die Vernünftigkeit religiöser Überlieferungen zu beurteilen, kann dem Wesen des Glaubens nicht „gerecht werden“ und deshalb bescheidet er sich mit der mittlerweile bekannten Grenzziehung: „Als Kriterien für die Abgrenzung des Wissens vom Glauben genügen die allgemeine Zugänglichkeit der Sprache und die öffentliche Akzeptabilität der zugelassenen Gründe.“500

494 

Langthaler, Interpretation, 49. „Denn ohne allen Zweck kann kein Wille sein […]“ (Kant, Gemeinspruch, A211 f., Fußnote). In der Kant-Exegese ist dessen Verhältnis zum Guten besonders umstritten. Ulrich Barth hat jedenfalls davor gewarnt, die Funktion der Religion vorschnell zu unterschätzen. Vor allem die in der ‚Dialektik der reinen praktischen Vernunft‘ entfaltete Lehre vom Höchsten Gut ist für Kant Barth zufolge „keineswegs eine Verlegenheitslösung, etwa um die Theorie der Religion im kritizistischen System noch irgendwie unterbringen zu können, sondern entsprang dem immanenten Gefälle einer Theorie der Freiheit, welche das Problem ihrer Realisierung nicht einfach überspringen konnte.“ (U. Barth, Selbstdeutung, 282) 496  Habermas, Replik auf Einwände, in: Langthaler, Glauben, 373. 497  Es liegen also zwei Abgrenzungen vor: Zum einen sperrt sich Habermas gegen die Vermittlung deontologischer und teleologischer Aussagen. Zum zweiten werden religiöse Aussagen von immanenten ethischen Überzeugungen unterschieden. Beide Grenzziehungen sind letztlich nicht nachvollziehbar, wenn Pflichten, Tugenden und Güter in sinnvoller Weise aufeinander bezogen und vermittelt werden sollen. 498  Nagl-Docekal, Übersetzung, 93–119. 499  Habermas, Replik auf Einwände, in: Langthaler, Glauben, 380. 500  AaO. 381. 495 

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Schließlich lässt sich an der kurzen Auseinandersetzung von Habermas mit Schleier­macher verdeutlichen, wie wichtig Habermas die Abgrenzung zwischen Vernunft und Religion ist. Während er nämlich Nagl-Docekal für einen Übergriff des Wissens auf den Glauben kritisiert, ist er umgekehrt auch skeptisch, wenn der Glaube vernünftig wird. Habermas kann deshalb Schleier­ macher nur bedingt folgen: Einerseits respektiert dieser – anders als Hegel – die Grenzziehungen Kants gegenüber der Metaphysik, andererseits erweitert Schleier­macher Kants Programm der Vernunftkritik.501 Die transzendentale Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins bereitet dabei der religiösen Erfahrung eine Unabhängigkeit von der praktischen und theoretischen Vernunft. So kann Schleier­macher die Religion der Vernunft als gleichursprünglich gegenüberstellen und erstere zugleich als pluralismustauglich ausweisen: „Die pietistische Auszeichnung der religiösen Innerlichkeit führt nämlich zu dem weiteren Argument, dass sich das anthropologisch allgemeine Gefühl der Abhängigkeit in verschiedene Traditionen verzweigt, sobald das fromme Gefühl in bestimmter Weise artikuliert wird, also über die Schwelle des symbolischen Ausdrucks hinausgehoben wird und in der kommunikativen Vergemeinschaftung von Gläubigen die praktische Gestalt eines kirchlich praktizierten Glaubens annimmt.“ (242; Hervorhebung im Original)

Für Habermas ist dies zunächst insofern positiv, als sich die Theologie „unauffällig“ verhalten kann, weil sie von der philosophischen Aufgabe der Begründung religiöser Erfahrung entlastet ist. Aber die weitere Geschichte des Kulturprotestantismus zeigt ihm, dass diese Vorgehensweise der Religiosität ihren Transzendenzbezug und somit ihre „Sprengkraft“ beraubt.502 Wechselt die Theologie die Seiten und fordert wie Schleier­macher mit philosophischen Argumenten von der gelebten Religion eine Distanzierung vom eigenen Wahrheitsanspruch, verliert sie nach Habermas ihren Kern. Zugleich besteht er darauf, dass das nachmetaphysische Denken die Religion als ein ihm unzugäng­ liches Element verständlich machen muss (370). Denn die Philosophie kann angeblich nur vom religiösen Erbe lernen, wenn sie davon abstrahiert und dieses letztlich als undurchschaubar herausstellt. Wird die Grenze zwischen Religion und Vernunft aufgelöst, „verliert die Vernunft ihren Halt“ und die Religion ihre Kraft.503 In summa: Habermas hinterlässt einige inkonsistente Aspekte einer deutlich erkennbaren neuen Positionsbestimmung, die auf eine produktive Koexistenz zwischen religiösen und säkularen Bürgern hinausläuft. Der Gewinn für die Religion liegt in der Verschränkung eindeutiger Selbstständigkeit mit einer 501 

Habermas, Grenze, in: ZNR, 241 ff. 243. Im Teil III.2.B.ii wird zu zeigen sein, dass Herms genau diese Schleier­ macher-Tradition als zu stark an Kant gebunden kritisiert. Die Sprengkraft möchte Herms gleichsam der religiösen Gewissheit in ihrer Stellung vor der Vernunft – als Maßstab oder Autorität der Vernunft – zurückgeben. 503  Habermas, Grenze, in: ZNR, 252. 502  AaO.

158 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens profilierten Funktionsbestimmung in der Gesellschaft. Der Verlust besteht in Habermas’ nach wie vor bestehender Ablehnung der kognitiven Gehalte der Religion wie auch in dem mangelnden Blick für die notwendige Einbettung der Vernunfttheorie in einer Güterethik und Ästhetik (als Theorien des Willens und des Gefühls), welche nicht nur für die Welterfassung, sondern auch für das Verständnis der Weltordnung einheitsstiftende Rollen spielen.504 Letzlich bleibt die wesentliche Frage bestehen: Wie soll ein Gespräch und eine Übersetzung gelingen, wenn Religionen von opaken Traditionen zehren und eine rigide Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen verfolgt wird?

II.3.E. Schlussfolgerungen: Weltgesellschaft in weltbürgerlicher Absicht Ordnungsbemühungen für die eine Welt sind hochgradig umstritten. Dennoch stimme ich Habermas zu, dass der global-soziale Wandel die Menschheit vor Herausforderungen stellt, die anhand einer neuen Ordnungskonzeption gestaltet werden müssen. Diese muss vor allem zwei entgegengesetzte Kräfte, die der ‚Dependenz‘ und die der ‚Differenz‘, berücksichtigen.505 Die eine Entwicklung betrifft die sich verstärkende Dependenz zwischen Gesellschaften und den einzelnen Funktionssystemen der Erde. Auf die interkontinentale Verschränkung politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und kultureller Prozesse machen Globalisierungs- und Systemtheoretiker zu Recht aufmerksam. Die andere Entwicklungstendenz besteht in den zunehmend anerkannten, handlungsleitenden weltanschaulichen Differenzen: So machen sogenannte ‚Kulturalisten‘ und ‚Realisten‘ auf die entscheidenden Identitätsmerkmale der Religion, der Ethnie und der Nation aufmerksam, die durch die Dependenzen z.T. verschwimmen, sodass sich Abwehrmechanismen in Form unterschiedlichster Fundamentaloppositionen (Terrorgruppen, Globalisierungsgegner, Fundamentalisten, Separatisten usw.) zeigen. Diese Polarität zwischen Bestrebungen gesamtgesellschaftlicher Abhängigkeit und kultureller Unterscheidung lässt sich bei Habermas auf die Begriffe der postnationalen Konstellation (verstärkte soziale Dependenz) und der postsäkularen Zeitdiagnose (verstärkte weltanschauliche Differenz) übertragen. Als Folge seiner Analyse der schwindenden Souveränität des Nationalstaates stellt Habermas die Idee der Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft vor, die sich von den Institutionen des Staates über regionale Regime bis hin zu einer schlanken supranationalen Weltfriedensorganisation erstreckt. Entscheidend ist, dass mit der Konstitutionalisierung weder die Idee einer Weltrepublik ver504  Joas, Gestalt, 230, fasst das Problem prägnant zusammen: „Eine universalistische Moral muss nicht religiös motiviert, aber sie muss emotional intensiviert sein.“ 505  Vgl. zu diesen Begriffen die Erörterung bei Broszies/Hahn, Kosmopolitismus-Partikularismus-Debatte, 9–54.

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folgt wird noch die Machtfragen dem Interessensspiel der Hegemonialmächte überlassen werden. Vielmehr bindet er die Weltinnenpolitik an die Legitimation durch die Weltbürger, ohne dass diese unmittelbar an allen Entscheidungen beteiligt wären. Habermas präsentiert sich somit als Denker zwischen den politikwissenschaftlichen Positionen der ‚Realisten‘ und ‚Globalisten‘: Er will die Eigeninteressen der Kulturen und Machtblöcke in eine kosmopolitisch ausgerichtete Ordnung einbinden. In der Auseinandersetzung mit diesem Ordnungsbegriff fallen entscheidende Stärken und Schwächen auf, die abschließend kurz wiederholt werden sollen. Habermas erläutert die Notwendigkeit einer Weltordnung, die durch mehrere Entscheidungs-Ebenen vor Missbrauch abgesichert werden und einen mehr oder weniger ausgeprägten subsidiarischen Richtungssinn beibehalten soll. Bemerkenswert ist in diesem Rahmen die Konzentration der Aufgaben der Vereinten Nationen auf Konflikte um den äußeren Frieden und auf weitreichende Verletzungen der Menschenrechte. Politisch ist die Beschränkung (Habermas nennt sie eine ‚Entschlackung‘) dieser Weltorganisiation mit ihren Bürokratien sinnvoll; moralisch ist dagegen äußerst bedenklich, wenn er meint, dass es keiner diskursiven Begründung solcher Einsätze zu Gunsten des Friedens und der Menschenrechte bedürfe – sie stehen ihm zufolge außerhalb der Deutungskonflikte der Kulturen. Hier macht sich die entscheidende Fehleinschätzung seiner Moraltheorie bemerkbar: Habermas ignoriert durchgehend die Verwobenheit deontologisch ausgerichteter Argumentationen mit güterethischen Überzeugungen. Die von ihm selbst wiederholt hervorgehobene ‚Schwäche‘ und ‚Situiertheit‘ der Vernunft erlaubt jedoch keineswegs solche ‚starken‘ oder ‚robusten‘ politik- und moraltheoretischen Ansprüche – jedenfalls keinen moralischen ‚Blankoscheck‘ an die Weltorganisation. Die umfangreiche Rezeption seiner Hauptschriften im zweiten Kapitel (II.2) hatte auch den Zweck, eben diese Aporie in seinem Werk aufdecken zu können. Die Verwicklung von starken und schwachen Aussagen mit Blick auf die Leistungskraft der Vernunft macht sich auch in der erneuten Zuwendung zur Religionsthematik bemerkbar, die Habermas in der griffigen, aber vieldeutigen postsäkularen Begrifflichkeit fasst. Er beabsichtigt, eine Abstraktions- und Reflexionsebene zu sichern, die für alle Traditionen, Religionen und Kulturen nachvollziehbar und verständlich ist. Inwiefern diese Ebene die von ihm postulierte eindeutige Äquidistanz zu allen Weltanschauungen herstellt, bleibt im Gesamtwerk unklar. Zwar will Habermas nicht so verstanden werden, als sei die Trennung zwischen säkularen Prinzipien und dem Einfluss der Weltanschauungen einfach zu vollziehen. Dennoch bleibt das Ausmaß der Problematik bei ihm durchgehend unterbestimmt. Der empirische Blick auf die Lage der Religionsgemeinschaften und -organisationen brachte dementsprechend zwei gegensätzliche Tendenzen ans Licht: Einerseits sind die Religionen verstärkt in der global vernetzten Öffentlichkeit

160 II. Jürgen Habermas. Diskursive Begründung weltbürgerlichen Zusammenlebens als Mitinitiatoren der Globalisierungsprozesse präsent; andererseits sind weiterhin säkularisierende Prozesse zu verzeichnen, durch welche die Religionen in ihrem Kern verändert werden. Diese Prozesse betreffen das Verhalten Einzelner ebenso wie die Ausdifferenzierung ganzer Gesellschaften. Deshalb führte der Überblick zu meiner Schlussfolgerung, dass die Forschungsbemühungen sich auf die Verhältnisbestimmung aller Funktionssysteme wie auch auf die Interaktion der verschiedenen Religionen mit diesen Sphären konzentrieren müssen: Denn die wirtschaftlichen, demografischen, politischen und kulturellen Modernisierungsprozesse haben jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf traditionelle Gesellschaftsformen und verschiedene Religionen haben divergierende Einflüsse auf die entstehende Weltordnung. Habermas nimmt diese Differenzierungen nicht hinreichend zur Kenntnis: Denn es wird deutlich, dass dessen Verhältnisbestimmung von Religion und Gesellschaft zwar mit globalem Anspruch durchgeführt wird (II.3.B), aber in der Bearbeitung letztlich an den abendländischen Herausforderungen haften bleibt (II.3.D.ii). Bemerkenswert in jedem Fall ist die Zielgerichtetheit, mit der Habermas für eine egalitäre Beziehung zwischen religiösen und säkularen Bürgern eintritt: Geradezu defensiv wirkt sein Plädoyer gegenüber säkularistischen Ansprüchen; geradezu versöhnlich dagegen seine Anerkennung der Religionen gegenüber moralischem Defätismus. Die Bedeutung der Übersetzungsarbeit zwischen verschiedenen weltanschaulichen Positionen kann dabei kaum stark genug für das Überleben pluralistisch verfasster Gesellschaften betont werden. Für die Verstärkung des reziproken Verständnisses der Weltkulturen füreinander ist in diesem Sinne der Begriff der kommunikativen Vernunft unerlässlich. Die Suche nach gemeinsamen Prinzipien in der Absicht friedlicher Koexistenz ist bei Habermas nicht einer weltfremden Utopie geschuldet, sondern sie ist in der alltäglichen Praxis des kommunikativen Handelns bereits angelegt. Die Verständigungsbereitschaft ist die Voraussetzung dafür, dass jeden Tag globale Transaktionen jedweder Güterart gelingen: Die Anerkennung der Geltungsansprüche der Anderen ist gleichsam die Grundwährung, mit der ‚die Globalisierung‘ bereits funktioniert. Habermas macht deshalb zu Recht geltend, dass die in Ansätzen erkennbare kommunikative Verflechtung der internationalen Ordnung als interkultureller Lernprozess verstanden werden kann. Im Aufzeigen dieser Perspektive besteht die herausragende Leistung seines Gesamtwerkes. Letztlich bleibt aber unklar, was unter dem säkularen Diskurs zu verstehen ist: An der Möglichkeit eines solchen Diskurses ergibt sich für Habermas die Möglichkeit, das Richtige und das Wahre bestimmen zu können. Immer wieder wird dabei deutlich, dass er trennscharf zwischen Glauben und Wissen unterscheidet und den umfassenden Theorien des Guten wie auch den Religionen Opakheit unterstellt. Es bleibt die in dieser Arbeit erfasste entscheidende Lücke seines Werkes, dass die kommunikative Vernunft Ansprüche übersetzen soll,

II.3. Der kosmopolitische Theorieansatz im Spätwerk

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die nach Habermas begrifflich nicht erfasst werden können. Die Möglichkeit interkulturellen Zusammelebens und das Verhältnis von Religion und Vernunft sollen deshalb aus einer weiteren Perspektive betrachtet werden, die gleichsam das habermassche Anliegen umkehrt – gemeint ist das Werk von Eilert Herms.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen – als Bedingung interkulturellen Zusammenlebens Es versteht sich nicht von selbst, das Werk von Eilert Herms als Beitrag im Diskurs um die Gestaltung globaler Interaktion einzuführen und im Vergleich mit der Theorie Jürgen Habermas’ darzustellen. Diese Arbeit beabsichtigt deshalb den Nachweis zu führen, dass Herms in der Diskussion um die Bedingungen des friedlichen Zusammenlebens verschiedener Kulturen eine eigenständige, diskussionswürdige Position bezieht. Hinter dem Sachthema „Globalisierung“ verbirgt sich nach Herms der „verbindlich vorgegebene Gegenstand christlicher Glaubenskommunikation“ – nämlich die Einheit der Menschheit in ihrem einheitlichen Lebensraum auf der Erde.1 In diesem Sinne ist die Frage nach dem interkulturellen Zusammenleben der unabdingbare Horizont der Theologie. Und diesen weiten Rahmen steckt Herms mit Eckpunkten ab, die für die kritische Verhältnisbestimmung mit dem Werk von Habermas wesentlich sind. Die Bedeutung des hermsschen Werkes liegt vor allem in seiner anthropologisch fundierten Religionstheorie: Herms argumentiert, dass die Differenz der Religionen für die Differenz der Kulturen konstitutiv ist und alle Bereiche des Zusammenlebens unter dem „Vorzeichen“ der Religionen bzw. der Weltanschauungen stehen. 2 Nach Herms stellen die religiösen Überzeugungen nicht nur die entscheidenden gesellschaftlichen Konfliktpotenziale dar, sondern sie werden auch als die unhintergehbare Bedingung einer egalitären Ordnung eingeführt. Der Pluralismus wird als irreduzible Konkurrenz weltanschaulicher Geltungsansprüche aufgefasst, dessen friedliche Gestaltung von öffentlichen Dialogen abhängt, in denen diese Ansprüche thematisiert werden.3 Die Befriedung des Widerstreites der Weltanschauungen kann nach Herms nur gelingen, wenn ihre Evidenzansprüche im Rahmen ihrer jeweiligen Traditionen als kontingent und perspektivisch relativiert werden können. Der christliche Glaube ist für solch eine weltanschauungsimmanente Begründung des Pluralismus paradigmatisch. 1 

Herms, Globalisierung als Herausforderung, in: David, Theologie, 295 f. Herms, Erbe, in: MW, 224. 3  Herms, Bedeutung der Weltanschauungen, in: Nüssel, Ethik, 67. 2 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Diese anspruchsvollen und voraussetzungsreichen Thesen zum Thema der vorliegenden Arbeit sind im hermsschen Werk tief verankert. Die von ihm bereits als Heranwachsender gestellte Frage, wie es mit der „Tauglichkeit der christlichen Tradition – in ihrer evangelischen Gestalt – als Verstehenshorizont für das Gegenwartserleben im Vergleich mit anderen weltanschaulichen Traditionen“ steht,4 wird zu seiner „Grundfrage nach dem Verhältnis zwischen christlicher und säkularer Kultur“, die ihn „nie losgelassen hat“.5 Seine programmatische Antwort lautet: Es gibt „keine Vernunft, die nicht auf dem Boden von unverfügbaren geschichtlichen Erschließungsvorgängen, also von Offenbarung“ steht.6 Weiß Herms, dass dieser Gedanke „hyperorthodox“ wirkt,7 will er über das „Nebeneinander von Alltagsvernunft und Offenbarung“ aufklären,8 um eine egalitäre Ausgangsposition für alle Weltanschauungen in der Gesellschaft zu gewährleisten. Diese durchaus zugespitzten Absichten sind umstritten und bieten somit den Rahmen für die Aufgabenstellung dieser Arbeit: Kann Herms begründen, dass der Widerstreit der Weltanschauungen als fundamentaler Ausgangspunkt einer egalitären sozialen Ordnung zu gelten hat? Er kann zeigen, so meine These, dass Religion als Konstituens des Zusammenlebens gilt: Ohne ein Verständnis der divergenten handlungsorientierenden Daseinsverständnisse und Gewissheiten der Menschen kann ihr Miteinander nicht angemessen gestaltet werden; ohne die konstruktive Einbindung der Religionen können die intergesellschaftlichen Konflikte nicht friedlich bearbeitet werden. Aber es schließen sich weitreichende Fragen an seinen Religionsbegriff an: Wird die Bedeutung der Religion für die Anthropologie und Sozialtheorie überbewertet? Werden religiöse Überzeugungen zu Lasten allgemeingültiger, humaner Verbindlichkeiten wie der Menschenrechte hervorgehoben? Im Kern ist die folgende Auseinandersetzung mit Herms durch die Bewertung der Potenziale der Verständigung, Reflexion, Kritik, und Argumentation bestimmt – die unter den Begriffen der diskursiven und interpretativen Vernunft eingeführt werden. Meine Kritik lautet, dass bei Herms die Möglichkeit interkultureller Kommunikation unterbestimmt bleibt, weil er der religiösen Gewissheit keinen adäquaten Begriff der Verständigung gegenüberstellt. Ziel ist es, diesen Stärken und Schwächen Kontur zu verleihen, sodass Grenzen und Leistungskraft der Religion wie auch der Vernunft in ihrer jeweiligen Orientierung interkultureller Interaktion erkennbar werden. Die Zielführung ist gegenläufig aber komplementär zur Arbeit am Theoriegefüge von Habermas. Steht gegenüber diesem die Vernunft in ihrer Abstraktion von weltanschauli4 

Herms, in: Selbstdarstellungen, 321. AaO. 348. 6  AaO. 345. 7  AaO. 335 (Hervorhebung im Original). 8  Herms, Offenbarung, in: OG, 169. 5 

III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

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chen Inhalten in der Kritik, ist gegenüber Herms die Selbstständigkeit begründeter Argumentation neben der Prägekraft religiöser Überzeugungen einzufordern. Der Aufbau dieses dritten Teils der Arbeit stellt sich nun wie folgt dar: Im ersten Kapitel wird die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen interkultureller Koexistenz in die Struktur des Theorieansatzes von Herms insgesamt eingeordnet (III.1). Dabei werden die vier kantischen Fragen, die bereits an Habermas gerichtet worden sind, mit der Absicht aufgegriffen, die gegenläufige Ausrichtung, aber durchaus ebenbürtige Konzeption von Herms deutlich zu machen.9 Da das Werk von Herms eine ausgeprägte, systematische Dichte aufweist, bietet es sich an, in der Herangehensweise systematisierende Fragen in den Mittelpunkt zu rücken. Damit wird die historische Einordnung nicht als weniger wichtig bestimmt. Im Gegenteil, aus den Rückfragen, die der systematische Einblick in die relevanten Texte seines Werkes aufwirft, wird der Bedarf deutlich, das Verhältnis von Religion und Vernunft bei Herms historisch einzuordnen. Dazu bietet sich vor allem seine Schleier­macher-Interpretation an, da diese für Herms theoriegeschichtlich die entscheidende Rolle spielt.10 Im zweiten Kapitel wird diese Interpretation vorgestellt und an einigen Schwerpunkten erörtert (III.2). Dabei wird sich herausstellen, dass Schleier­macher selbst das Zusammenleben der Völker als Leitperspektive seiner Ethik wahrgenommen hat. Mit diesen Einsichten wird schließlich der sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurs um die Gestaltung der Globalisierungsprozesse wieder aufgenommen. Im dritten Kapitel werden die hermsschen Beiträge, die dieses Thema direkt betreffen, diskutiert (III.3). Dabei stehen das ‚Gerüst‘ der Funktionssysteme globaler Ordnung und das ‚Gewebe‘ der interkulturellen Kompetenzen und Vermögen im Mittelpunkt des Interesses.11 Exkurs: Das Gesamtwerk im Überblick Herms ist Fundamentaltheologe: Er verbindet nicht nur Apologetik, theologische Prinzipienlehre und Religionstheorie, sondern erörtert sie durchweg im wissenschaftstheoretischen Horizont.12 Seine Forschungsarbeit lässt sich auf diesem Hintergrund und als Bemühung um diese einheitliche Stoßrichtung verstehen.  9  Dass

dieses erste Kapitel so ausführlich ist, liegt daran, dass der Anspruch eines Gesamtentwurfes unterstrichen werden soll, welcher mit der Weite des habermasschen Theoriegefüges verglichen werden kann. 10  Zur Diskussion dieser These und zu weiteren entscheidenden Einflüssen vgl. den theologischen Exkurs zum Hintergrund des hermsschen Denkens am Ende des Kapitels III.1. Weitere Namen sind für die anfängliche Entwicklung und Abgrenzung seiner eigenen Konzeption maßgeblich und im ersten Kapitel zu diskutieren: Emanuel Hirsch, Niklas Luhmann und Wolfgang Stegmüller. 11  Zur Begründung dieser Unterscheidung vgl. III.3 Fn. 462. 12  Vgl. für diese Definition von Fundamentaltheologie: Petzoldt, Fundamentaltheologie, 434 f.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

In seinen ersten Buchpublikationen (von 1974–82) wird eine Grundlegung der Theologie angestrebt.13 Vor allem die zwei Qualifikationsschriften, zu Schleier­macher (1974) und zu William James (1977), veranschaulichen sein Interesse, die „Tauglichkeit“ der christlichen Tradition und der Religion insgesamt zu erörtern und unter Beweis zu stellen. Mit der Arbeit zu Schleier­macher werden Weichen gestellt, die bis in die Gegenwart sein Denken orientieren. Auch die Schrift zur Rechtfertigung, die er mit Wilfried Härle herausgegeben hat (1979), hebt seinen wissenschaftstheoretischen Schwerpunkt hervor. Die drei Bereiche, die Herms selbstständig in diesem Buch erarbeitet, betreffen die Ontologie, die Gesellschaftstheorie und die Geschichtstheorie und bereiten den Weg für die zukünftige Ausarbeitung dieser Topoi. In Theologie – eine Erfahrungswissenschaft (1978) und Theorie für die Praxis (einem Aufsatzband mit Aufsätzen aus den Jahren 1974–1978) erläutert er seine Sicht der Aufgabenstellung der Theologie, vor allem aber der Systematischen Theologie. Weil der Gegenstand des christlichen Nachdenkens die Praxissituation endlicher Freiheit ist, muss die Theologie sich insgesamt auf die Praxis beziehen, d.h. den gesellschaftlichen Gestaltungsauftrag der Kirchen theoretisch begleiten.14 In den nächsten Publikationen ändert sich zwar der Gegenstand seiner Studien, aber inhaltlich wird das beschriebene fundamentaltheologische Anliegen lediglich neu aufbereitet. Die Beschäftigung mit der Ökumene schlägt sich in einer Antwort auf den Rahner-Fries-Plan und in zwei zeitlich weit auseinanderliegenden, aber aufeinander aufbauenden Aufsatzbänden zur Ökumene nieder (1989 und 2003).15 Von Anfang an sind Herms pointierte Ausführungen dazu von der Bemühung getragen, den fundamentaltheologischen „Wurzelpunkt des Dissenses“ herauszustellen, nämlich die unterschiedlichen Verständnisse der Konstitution des Glaubens.16 Nur auf diesem Hintergrund würden sich die materialen dogmatischen Konflikte – etwa zum Verständnis des Amtes – bearbeiten lassen. Aus der reformatorischen Sicht „des Zustandekommens des Glaubens als Geschenk geistgewirkter Gewißheit“ werde nicht nur die Affektumwandlung als neues Wollen betont,17 sondern diese erlaube auch eine neue Sicht der sozialen Bildungskraft des Evangeliums, die für die neuzeitliche Kultur personaler Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit eine „Auslöserrolle“ gespielt habe.18 „Wie sehr [Herms] mit seiner illusionslosen Einschätzung der ökumenischen Strategie der römisch-katholischen Kirche […] Recht behalten hat, zeigen der Entstehungsprozeß der ‚Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre‘ sowie die Ereignisse, zu denen es im Anschluß an diese Erklärung gekommen ist“.19 Die ökumenische Diskus-

13 

Herms, Herkunft; ders., Empiricism; ders., TE; ders., R.; ders., TfP. Herms will aufzeigen, dass Theologie „handlungsorientierendes theoretisches Wissen“ produziert, „indem sie selbst sich als Erfahrungswissenschaft konstituiert“ (ders., TE, 10). Ziel ist es damit „die Ghettoisierung der Theologie gegenüber dem Gesamtrahmen gegenwärtiger Wissenschaft“ und „der Zunahme ihres Funktionsdefizits“ entgegenzuwirken (aaO. 73). 15  Herms, Einheit (1984); ders., Glaubenseinheit (1989); ders., Glaubenseinheit II (2003). 16  Herms, Vorwort, in Glaubenseinheit, IX. 17  Diese Grundeinsicht wird in Auseinandersetzung mit Luther in einer eigenständigen Publikation erläutert: Herms, Luthers Auslegung. 18  Herms, Vorwort, in Glaubenseinheit, XVI. 19  H. Fischer, Protestantische Theologie, 251. Dass dieser Ansatz einen Erfolg zu verzeichnen hat, zeigt auch die interkonfessionelle Arbeit zusammen mit der Päpstlichen Lateran-Universität in Rom, deren fundamentaltheologische Ausrichtung den vernehmbaren 14 

III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

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sion ist ein Vorbote seiner Auseinandersetzung mit dem gesamten weltanschaulichen Pluralismus. Die Ökumene bildet auch den Übergang zum ausführlich behandelten dogmatischen Topos der Ekklesiologie (Erfahrbare Kirche, 1990 und Kirche für die Welt, 1995; Kirche – Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums, 2010; Kirche in der Gesellschaft, Tübingen, 2011). Auch diese Ausführungen werden mit Bezug auf die Praxis entwickelt, denn „das dogmatische Thema der Ekklesiologie“ könne „nur unter Bezugnahme auf den Gesamthorizont von Gesellschaft und Geschichte angemessen behandelt werden“. 20 Und er führt weiter aus: „Folglich gilt auch umgekehrt: Jede Dogmatik enthält in ihrer Ekklesiologie zumindest implizit und ansatzweise eine Gesellschafts- und Geschichtstheorie“. 21 Insofern ist verständlich, dass er den Anspruch hat, dass seine weit angelegte sozialethische Theorie ihre Bezüge zum Glauben klären muss und seine Glaubenslehre wiederum ihre Bezüge zur Geschichtstheorie durchsichtig machen wird. Vor allem seit seinem Band Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik (1991) entwickelt Herms seine sozialethische Grundkonzeption in vielen Publikationen weiter. Hervorzuheben ist z.B. sein Wirken als Fachberater für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften in der vierten Auflage des Lexikons Religion in Geschichte und Gegenwart. Herms trägt zudem sukzessive zu allen vier Bereichen seines sozialethischen Viererschemas ausdifferenzierter Gesellschaften Arbeiten vor (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Weltanschauung). Der Weltanschauungsbereich wird u.a. in den Publikationen Sport. Partner der Kirche und Thema der Theologie (1993) und Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen: Beiträge zur Sozialethik (2007) thematisiert, das System der Wirtschaft in dem Aufsatzband Die Wirtschaft des Menschen: Beiträge zur Wirtschaftsethik (2004) und die Sphäre der Wissenschaft z.B. in Phänomene des Glaubens (2006) Schließlich behandelt ein Aufsatzband den politischen Funktionsbereich: Politik und Recht im Pluralismus (2008). Beinahe abwechselnd mit den ethischen Publikationen hat er prinzipientheoretische und dogmatische Themenbestände bearbeitet – die seine fundamentaltheologische Grundthesen insgesamt weiter entwickeln. Insbesondere in Offenbarung und Glauben (1992) erläutert er seine Sicht „vom Wesenszentrum des christlichen Lebens und seinem Fundament“. 22 Dieses Zentrum wird in dem Grund und Gegenstand des Glaubens bestimmt und so veranschaulicht, dass Schrift und Tradition im Horizont der universalen Bedingungen des Menschseins erläutert werden. In seinen Publikationen Menschsein im Werden: Studien zu Schleier­macher (2003) und Phänomene des Glaubens: Beiträge zur Fundamentaltheologie (2006) wird dieser Ansatz vertieft.

Einfluss – bis in die Sprachwahl hinein – von Herms deutlich macht (Herms [Hg.], Grund und Gegenstand des Glaubens). 20  Herms, Vorwort, in: KW, VIII. 21 Ebd. 22 Herms, Vorwort, in: OG, IX.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

III.1. Apologie des Pluralismus. Zur Ausrichtung und Struktur des Theorieansatzes Die „vernünftige Rechenschaft über den Glauben“ liegt nach Eilert Herms „heute in der Zeit des Eintritts aller regionalen Kulturen in ein globales Interdependenzsystem“ in der Aufgabe, das Existenzrecht konkurrierender Sichtweisen im Horizont der einheitlichen Wirklichkeit der Liebe Gottes zu begründen. 23 Die „‚weltkulturpolitische‘ Aufgabe der Apologetik“ wird dabei so definiert, dass exemplarisch am christlichen Wirklichkeitsverständnis der Nachweis für die Möglichkeit des Pluralismus geführt wird – damit die verschiedenen Weltanschauungen wiederum aus der eigenen Perspektive das Zusammenleben mit anderen im Horizont „der Einheit des Weltgeschehens“ erläutern. 24 Diese Überlegungen beinhalten programmatische Aspekte des hermsschen Werkes: Zunächst ist der Blick für das ‚Ganze‘ kennzeichnend, der sich hier mit dem Hinweis auf die Globalisierung als Horizont der Theologie und in der Überzeugung der einheitlichen Wirklichkeit äußert. Sodann argumentiert Herms, dass die eine Wirklichkeit nur aus vielfältigen Perspektiven und Zugängen zu erkennen ist, dass also der Pluralismus der Anschauungen unabdingbarer Teil dieser Einheit ist. Schließlich ist es bezeichnend, dass die angemessene Form des Umgangs miteinander als offensive Verteidigung der eigenen Perspektive bestimmt wird, d.h. Herms ist um die „vernünftige Rechenschaft des Glaubens“ nicht nur für das Christentum bemüht, sondern die Apologetik wird als angemessene Form des Umgangs auch für die anderen Weltanschauungen bestimmt. Um die Pointe dieser Programmatik für die vorliegende Fragestellung hervorzuheben, sind die wenigen, aber zentralen hermsschen Verweise auf Habermas anzuführen. Mit Habermas teilt er zwar das durchaus weitreichende Anliegen, die Globalisierungsprozesse als Leitperspektive der Sozial- und Moraltheorien aufzugreifen. Werden diese Theorien aber an der ‚Vernunft‘ orientiert, wie es bei Habermas der Fall ist, so wird nach Herms die Illusion einer „übergeschichtlichen, folglich auch aperspektivischen Position“ verfolgt. 25 Eine solche formalisierte Ethik wird an der Aufgabe friedlicher Koexistenz scheitern, weil sie keinen Begriff der Individualität und Partikularität besitzt, die jedwede Theorie bereits durch ihre kontingente Konstitution auszeichnet. 26 Habermas kann nach Herms diese Partikularität nicht erfassen, da seine Gesellschaftstheorie die Öffentlichkeit undifferenziert gleichsam unter dem Dach der Zivilgesell23 

Herms, Rücken, in: OG, 516.

25 

Herms, Ethik und Ökonomik, in: WM, 56. Herms, Bedeutung der Weltanschauungen, in: Nüssel, These 3.

24 Ebd. 26 

III.1. Apologie des Pluralismus

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schaft unterbringt und er die konstitutive Bedeutung des religiösen Funktionssystems und der jeweiligen Kultusgemeinschaften für die Zielwahlorientierung der Handelnden ignoriert. 27 Das Problem, so Herms weiter, liegt an der nicht ausgeführten transzendentalanthropologischen Begrifflichkeit. 28 Und dieser Mangel hat weitreichende Auswirkungen auf die gesamte Konzeption: Herms kann zwar die Grundlagenforschung der Diskursethik von Habermas als unwidersprochene Ausarbeitung der Bedingungen einer wechselseitigen Öffnung im Diskurs hervorheben. Aber er führt an, dass diese „Offenheit“ nur die notwendige, nicht schon die hinreichende Bedingung für Verständigung ist. Letztere liegt in der „Gegenstandsbezogenheit, in der unser Diskurs immer schon steht“, nämlich unserer jeweiligen Selbsterschlossenheit. 29 Aus dem kurzen Aufriss der Aspekte seiner Programmatik und der Gegenüberstellung mit Habermas ergeben sich weitreichende Fragen: Wie begründet Herms diese zentrale Stellung der Religion in seiner Moral- und Sozialtheorie? Ist der Pluralismus tatsächlich in seinem Gesamtwerk verankert? Wird der weltanschauliche Diskurs auf apologetische Beiträge begrenzt oder sind andere argumentative, begründete Formen des Umgangs denkbar? Welcher Vernunftbegriff steht dafür zur Verfügung? Mit der Hilfe der vier Fragen, die bereits an Habermas gerichtet worden sind (II.2), werden diese Probleme in Angriff genommen. Die folgende Reihenfolge der Fragen ist dabei nicht zufällig, denn die Anthropologie stellt bei Herms den Ausgangspunkt dar, aus der heraus der Gegenstand der Hoffnung, die Begründung des Handelns und die Quellen des Wissens definiert werden. Die Handlungs- und Wissenstheorien werden im Horizont der christlichen Glaubensgewissheit entwickelt. Somit ergibt sich eine vollständig alternative Bestimmung der Topoi und Differenzierungen, welche das Gelingen des interkulturellen Diskurses bedingen – und somit wird eine andere Topik gemeinsamen Denkens als diejenige von Habermas erkennbar (vgl. einleitend I.2.D; II.2.C). Die Textbasis dieses ersten Kapitels bilden Aufsätze – Herms hat kaum Monografien verfasst –, auf die er entweder als seine grundlegenden Theorieschritte zurückverweist oder die entscheidende Knotenpunkte seiner Arbeit in den Aufsatzbänden bilden.30 27  „Denn für Habermas zählen nur Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und die Medien zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen, während alle Religionsgemeinschaften in das bunte Spektrum der ‚zivilgesellschaftlichen Assoziationen‘ [Zitat aus Habermas, in: FG, 399 ff.] unterschiedlicher Leistungsart fallen, die alle innerhalb der genannten Funktionssysteme existieren.“ (Herms, Kirche in der Zeit, in: KW, 241 f., Fn. 17) 28 Ebd. 29  Herms, Theologische Ethik, in: Härle, Ethik, 14. 30  Grundlegend sind vor allem „Theologie und Politik“, „Grundzüge eines theologischen Begriffs sozialer Ordnung“, „Rechtfertigung“, „Theologie als Phänomenologie“, „Wahrheit, Offenbarung, Vernunft“ (als Belege für ihre Bedeutung vgl. z.B. Herms, PRP, 230, 250; OG, 487; Globalisierung als Herausforderung, in: David, Theologie, 299; ZWW, 13). Der Text zum christlichen Menschenbild (a.i) bildet einen Knotenpunkt seiner anthropologischen Auffas-

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

III.1.A. Was ist der Mensch? Wissenschaftlichen Theoriebildungen gemein ist Herms zufolge die Beschäftigung mit der Bestimmung des Grundes und Gegenstandes von Wirklichkeit: dem Erscheinenden.31 Das zentrale Thema der Neuzeit ist in diesem Horizont nicht in erster Linie die Selbstbegründungsleistung der Vernunft, sondern das Erleben dieser Wirklichkeit als „Erfahrungswirklichkeit“, dass die Welt sich nämlich als „Praxissituation des Menschen“ präsentiert.32 Wird die Erfahrungswirklichkeit als Ausgangspunkt bestimmt, sind die personalen Instanzen in den Blick zu nehmen, die diese Bestimmungsleistung vornehmen. Insofern ist der Aufbau des hermsschen Werkes durch einen fundamentalanthropologischen Zugang gekennzeichnet. Herms arbeitet diese Kategorien zunächst in Auseinandersetzung mit Luhmann und nicht mit Habermas heraus. Die Enttäuschung über seine anfänglich zustimmende Rezeption Luhmanns lässt sich an dieser kategorialen Entscheidung für eine transzendentalanthropologische Grundlegung festmachen. 33 Dass Luhmann dennoch eine weitreichende Wirkung auf das Denken von Herms hat, zeigt sich an einem durchgängigen Motiv. Der hermssche Vernunftbegriff ist letztlich auf eine innersystemische Rationalität begrenzt, die in ihren Prinzipien insofern kontingent ist, als sie von anderen Systemen in der Umwelt nicht nachvollzogen wird. Wie bei Luhmann steht die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme im Mittelpunkt: „Ego erfährt Alter als alter Ego. Er erfährt mit der Nichtidentität der Perspektiven zugleich die Identität dieser Erfahrung auf beiden Seiten. Für beide ist die Situation dadurch unbestimmbar, instabil, unerträglich. In dieser Erfahrung konvergieren die Perspektiven.“34 Dadurch stehen im interkulturellen Umgang ‚Ego‘ und ‚Alter‘ in einer doppelten Kontingenz und die Teilnehmer des Diskurses müssen von einer „prinzipiellen Differenz des Anderen“ ausgehen.35 Diese Eingrenzung der Vernunft ist insofern entscheidend, als sie letztlich der innersystemischen Vergewisserung und nicht der prinzipiellen Verständigung dient.

sungen, während der Text zur Religion als Privatsache (b.i) als einziger nicht aus Gründen seiner Bedeutung, sondern seines Gedankenflusses gewählt wurde. 31  Herms, Sinn, in: OG, 374 ff. 32  AaO. 388 (Hervorhebung im Original). 33  AaO. 381. 34  Luhmann, Kontingenz, 172. 35  Vgl. für diese interkulturelle Deutung Luhmanns Knoblauch, Kultur, 37, die auf die Kulturtheorie von Herms insofern exakt passt, als sie eben dessen Ausgangspunkt in der prinzipiellen Differenz erklärt (vgl. III.3.A.i).

III.1. Apologie des Pluralismus

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i. „Das christliche Verständnis vom Menschen in den Herausforderungen der Gegenwart“36 Der Begriff der Fundamentalanthropologie steht zusammenfassend für eine Theorie der Konstitution und Gestalt des menschlichen Personseins,37 das durch verschiedene Momente gekennzeichnet ist: Erstens hebt Herms die unmittelbare, passive Selbsterschlossenheit als konstitutives Moment des Menschseins hervor. Menschen finden sich als bestimmtes, leibhaftes38 Exemplar einer Gattung in einem Möglichkeitsraum als gesetzt vor:39 „Der Mensch ist das denkende Wesen, weil er das erlebende Wesen ist“.40 Das Bild des animal rationale ist eine Folgeleistung des ursprünglicheren „Fühlens“ oder „Erlebens“, und dieser Begriff des „Erlebens“ wird von Herms als „terminus technicus“ für die Konstitution des Personseins verwendet, weil er das „unmittelbare Innesein unserer eigenen personalen Lebenssituation so treffend bezeichnet“.41 Zweitens, indem Personen sich als in einen Möglichkeitsraum gesetzt erleben, sind sie genötigt, dessen Möglichkeiten in Anspruch zu nehmen, also auf ihre Situiertheit zu reagieren. Der Mensch findet sich als ein zum Handeln und zum Gestalten Bestimmter vor; er kann nicht anders, als seine vorgefundene Umwelt durch symbolisierendes und organisierendes Handeln mitzugestalten. Aus diesem vor- und aufgegebenen Menschsein folgt, dass menschliche Freiheit durch die beiden Merkmale der Selbsttätigkeit und der Abhängigkeit charakterisiert wird – eben „als Praxissituation endlicher Freiheit“.42 Die pas-

36  Herms,

in: ZWW, 1–24. Die hier zu findenden fünf Begründungsschritte verändere ich, um Gesichtspunkten aus anderen Texten gerecht zu werden, z.B. ders., Offenbarung und Wahrheit, 273–298; ders., Religion und Wirtschaft, in: WM, 1–34; ders., Mensch, in: ZWW, 25–46; ders., Anforderungen, in: ZWW, 342–373. Vgl. Goltz, Werden, 239–242. 37  Herms, Person, in: RGG, 1123–1129; ders., Systematik, in: NZSTh, 377–413. Hier wird erarbeitet, dass ‚Person‘ vorerst kein anthropologischer, sondern ein ontologischer Begriff ist, nämlich Verantwortlichsein in Beziehungen. So ist der Begriff der ‚Person‘ sowohl auf den Menschen als auch auf Gott ausgerichtet. 38  Gegen ein dualistisches Menschenbild setzt Herms Körper und Geist als Dimensionen des menschlichen Erlebens und Verhaltens (Herms, Leib, in: Sport, 13). 39  Um diesen Sachverhalt zu beschreiben, greift Herms auf Zitate von Husserl, Sartre, Heidegger und Schleier­macher zurück (vgl. Herms, Anforderungen, in: ZWW, 346), allerdings baut seine Anthropologie vor allem auf seiner Schleier­macher-Interpretation auf, die im folgenden Kapitel näher erläutert wird. 40  Herms, Verständnis vom Menschen, in: ZWW, 3. 41  Um die Passionalität des Momentes zu betonen, wird der Modus der Konstitution mit den Begriffen des „Erlebens“ oder „Fühlens“ bezeichnet (Herms, Offenbarung und Wahrheit, in: OG, 276). Unklar ist allerdings das präzise Verhältnis von Erleben und Erfahren. 42  Der Handlungsbegriff, den ich in III.1.B.2 bestimme, findet an dieser Stelle seinen Anschluss. Handeln ist die Realisierung bestimmter Möglichkeiten; eine Selektion also, die durch Wahlakte der Person vollzogen und zugleich durch die äußeren Bedingungen der Natur bedingt wird (aaO. 279).

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

sive Selbsterschlossenheit ist in sich auf aktive Gestaltung und Verantwortung angelegt.43 Drittens wird die formale Struktur des Personseins inhaltlich durch szenisches Erleben bestimmt. Gemeint ist die Abfolge von erlebten Szenen, die eine „Einheitlichkeit von Erinnerung und Erwartung“ schaffen, weil sie wesentlich auf Zukunft bezogen sind, deren Erwartung durch die Erinnerung vergangener Erlebnisse geprägt ist.44 Das Personsein wird infolge dieser Bestimmungen als einheitlich und prozessual charakterisiert. Weder die Aneinanderreihung zusammenhangsloser Erlebnisse noch eine statische Identität sind demzufolge gemeint, sondern die Einheit des leibhaften, selbstbewussten Lebens ist durch „kontinuierlichen Wandel“ bestimmt.45 Viertens, der Mensch erlebt sich in seinem Bezogensein auf sich selbst, zugleich als bezogen auf seine Umwelt und seine ihn setzende, ihm vorgegebene Macht. Da ein Mensch in seiner Selbstbezogenheit nicht selbstgenügsam ist, ist er angewiesen sowohl auf den Umgang mit anderen als auch auf die aus seinem Erschließungshorizont sich zeigende Ursprungsmacht.46 Wie dieses Beziehungsgeflecht verstanden wird – für Herms ist der Verstehensprozess sowohl Erkennen und Gestalten –, entscheidet sich, fünftens, vor allem am Verständnis der Ursprungsmacht. Denn die Wirklichkeitsgestaltung, die Qualität und das Telos des Menschseins, werden dadurch bedingt, ob diese Wirklichkeit als heilsame oder unheilsame, sich selbst setzende oder geschaffene begriffen wird.47 Die thetische Darstellungsweise dieser Punkte schließt an Herms an; sie entspricht seinem erfahrungswissenschaftlichen Zugang. Nicht die im Modus des Denkens reflektierte Welt ist die Grundlage wissenschaftlicher Aussagen, sondern aus der Selbsterschlossenheit heraus ist Denken möglich. So wird die strukturbildende Form (die Theorie der erlebten Wirklichkeit) vom individuellen Inhalt (die Erschlossenheit der Wirklichkeit) aus bestimmt und gleichzeitig dieser durch jene verallgemeinert. Wenn die Form durch den Inhalt bedingt wird, stellt sich die Frage nach dem Geltungsbereich formaler Aussagen. Um zu verstehen, wie Herms diese Frage beantwortet, muss sein Gewissheits43  Es ist ein Desiderat der Forschung, dieses Konzept der Freiheit mit alternativen Begriffen in der evangelischen Theologie zu vergleichen, z.B. mit Oswald Bayer oder Trutz Rendtorff. Dabei geht es im Kern um den Status des transzendentalphilosophischen Freiheitsverständnisses. Herms positioniert sich hier so, dass einerseits der Mensch als schlechthinnig abhängig von einer ihn transzendierenden Freiheit gedacht wird, andererseits ist auf diese Abhängigkeit eine unumgängliche Antwort zu geben. 44  Unsere Erlebnisse sind uns „selber so gegenwärtig, daß wir sie erinnern im Lichte der Erwartung gleichartiger Erlebnismöglichkeiten“ (Herms, Sprache, in: Beck, Kunst, 229; Hervorhebung im Original). 45  Herms, Offenbarung und Wahrheit, in: OG, 279. 46  Herms, Verständnis des Menschen, in: ZWW, 7 f. 47  AaO. 12 f. und die Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann und Peter Singer.

III.1. Apologie des Pluralismus

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begriff beachtet werden. Diesen leitet er in fundamentalanthropologischen Texten ein, um einerseits den Allgemeingültigkeitsanspruch seiner Theoriebildung und andererseits ihren individuellen Entstehungskontext fassen zu können.48 ii. Der Gewissheitsbegriff als Verbindung von Geltung und Genesis Durch die passive Verfasstheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit werden Einsichten, die dem Subjekt früher verschlossen waren, von nun an aber als zuverlässig und gewiss gelten, ausschließlich in Erschließungsgeschehen zugänglich. „Ohne Gewißheit in diesem genauen Sinne (des Inneseins der Zuverlässigkeit eines ‚Bildes‘ seiner Situation) kann kein Handlungsautor eine Entscheidung treffen.“49 Gewissheit ist nicht der Ausschluss von Unsicherheit, denn auch im Fall von Unsicherheit werden Entscheidungen durch die Gewissheit über „entscheidungsrelevante Lücken“ mit Blick auf die Lebenssituation gelenkt.50 Der Gewissheitsbegriff wird von Herms insofern weiter als herkömmliche Verwendungen gefasst, als diese ihn lediglich als Inhalt oder Resultat von Erkenntnis thematisieren. Er will dagegen Gewissheit als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und als Erkenntnis bestimmen.51 Dazu unterscheidet er primäre und sekundäre Gewissheit.52 Primäre Gewissheit wird als die Erschlossenheit eingeführt, die jedwedem Freiheitsgebrauch und allen Einzelerkenntnissen zu Grunde liegt. In der sekundären Gewissheit hingegen werden alle Inhalte, die bereits in der primären Gewissheit angelegt sind, explizit: Selbst-, Umwelt-, Welt- und Ursprungsgewissheiten. Im Akt der Explizierung, welches als Bildungsgeschehen dargestellt wird, wird die bereits vorgegebene Individualität entfaltet;53 je höher der Reflexionsgrad umso ausgeprägter die eigenständige Gewissheit.54 Mit der Bildungsgeschichte wird der Reflexionsgrad einer Person gesteigert und deren Individualität ausgeprägt. 48  Vgl. Herms, Gewißheit, in: RGG, 909 f.; ders., Offenbarung, in: OG, 168–220; ders., Offenbarung und Wahrheit, in: OG, 273–298; ders., Wahrheit/Wahrhaftigkeit, in: TRE, 363–378; Goltz, Werden, Fn. 1303, und dort zur argumentativ ausgezeichneten Diskussion mit Härle, Kastning und Grube. 49  Herms, Grundzüge, in: GG, 64. 50 Ebd. 51  Der Gewissheitsbegriff wirkt bei Herms auch deshalb äquivok (vgl. ders., Selbstdarstellungen, 335). 52  Herms, Gewißheit, in: RGG, 909–914. 53  AaO. 914. An anderer Stelle erläutert Herms das Verhältnis von Allgemeinheit und Individualität anhand des Erfahrungsbegriffs: „Indem dieses ursprüngliche Erschließungsgeschehen […] die Erfahrungswelt als Praxissituation endlicher Freiheit konstituiert, individualisiert es sie zugleich. Diese ursprüngliche Individualität von Erfahrung negiert nicht ihren Charakter als der einen und einheitlichen, allen Einzelnen gemeinsamen, sie alle zu einer ursprünglichen Gemeinschaft verbindenden Sphäre; aber sie qualifiziert sie.“ (Herms, Offenbarung und Erfahrung, in: OG, 269) 54  Herms, Anforderungen, in: ZWW, 357 f.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Ist Individualität als unreduzierbares Merkmal des allgemeinen Strukturbegriffs „Gewissheit“ eingeführt, werden Geltung und Genesis von Herms aufeinanderbezogen. Einerseits ist die Gewissheit an die biografisch bestimmten, individuellen Erschließungserlebnisse gebunden,55 andererseits wird diese Struktur als einheitlich und universal bestimmt. Oder anders ausgedrückt: Universalität wird für die Struktur beansprucht, die jeder Person auf kontingente Weise erschlossen ist und die unvermeidlich in individuellen Explikationsprozessen reflektiert wird. Entscheidend ist: Weil die primäre Gewissheit passiv konstituiert wird, ist sie kontingent und unverfügbar. Trotz ihrer Kontingenz aber ist sie mit unbedingter Evidenz ausgestattet. Herms resümiert: „Diese Momente des Gemeinsamen und des Individuellen, des Regelbaren, Verfügbaren und des Kontingenten, sind zwar unterschieden, können aber nicht getrennt werden.“56 So ist die Vielfalt als unhintergehbares und unüberwindbares Kennzeichen weltanschaulicher Gewissheit markiert.57 Alternativ formuliert es Herms so, dass die Daseinsgewissheit immer die Erschlossenheit personaler Lebensgegenwart „als individueller Variation ihrer dauernden, universalen Züge“ zu verstehen ist.58 Weil Individualität und Allgemeinheit in dieser Weise aufeinander bezogen werden, entsteht eine radikale Konkurrenzsituation von Geltungsansprüchen. Wenn Herms im Folgenden seinen umfassenden Religionsbegriff einführt, entstammt ‚Religion‘ dieser Konkurrenz und stellt zugleich deren einzige friedliche Lösungsmöglichkeit dar. Mit der Bestimmung der Gewissheit als Möglichkeitsbedingung und Einheitsmoment menschlicher Subjektivität greift Herms insofern ein nachkantisch-idealistisches Motiv auf, als jedwede Reflexion auf eine ihr zu Grunde liegende, vorprädikative Reflexivität zurückgeführt wird. Allerdings ist in der hermsschen Beschreibungsweise dieses Motivs der Schwerpunkt einseitig gesetzt: Er liegt auf der radikalen, passiven und unverfügbaren Bestimmung der primären Selbstgewissheit.59 Ulrich Barth legt eine alternative Deutung des Subjektivitätsbegriffs vor, in der die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Erleben und Reflexion, von passiver Betroffenheit und aktiver Konstruktion hervorgehoben wird.60 Im weiteren Verlauf wird auf diese Interpretation wie55 

„Diese Gewißheit über den Endzweck und die eigentliche Bestimmung des Menschen hat formal immer den Charakter der zwingenden Evidenz des Wahrseins einer bestimmten Darstellung der menschlichen Bestimmung“ (Herms, Luther, in: OG, 110 f.; Hervorhebung im Original). 56  Herms, Anforderungen, in: ZWW, 352. 57  „Jeder Versuch, diese pluralisierende Dynamik der Überzeugungsbildung zu verleugnen und einzudämmen, ist zum Scheitern verurteilt.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original) 58  Herms, Religion in der Gesellschaft, in: RGG, 287 (Hervorhebung im Original). 59  Selbst sekundäre Gewissheiten, die als kritisierbar dargestellt werden, werden von Herms als passiv und kontingent hervorgehoben (Herms, Anforderungen, in: ZWW, 352). 60  U. Barth, Theoriedimensionen, 66 f.

III.1. Apologie des Pluralismus

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derholt zurückzukommen sein – vor allem in dessen gegenläufiger Schleier­ macher-Interpretation (III.2.B.i). Denn aus der Klärung des Verhältnisses von Reflexivität und Reflexion, Vorgegebenem und Deutungsleistung oder von passiver Selbsterschlossenheit und ihrer kritischen Erfassung ergeben sich weitreichende Konsequenzen nicht nur für die Anthropologie, sondern für die Ordnung des gesamten Theoriegefüges. Der Streit betrifft den Kern der Beziehungsbestimmung von Vernunft und Religion.

III.1.B. Was dürfen wir hoffen? i. „Ist Religion Privatsache? Unzeitgemäße Betrachtungen über die Grundlagen des Zusammenlebens“61 Herms diagnostiziert gegenwärtig „ein gespaltenes Verhältnis zur Religion“: Einerseits wird sie als irrelevante, unwissenschaftliche oder gar krankhafte Erscheinung, andererseits als konstitutiv für das Menschsein erachtet (134). Dieser Streit kann nach Herms nicht entschieden werden, da beide Seiten einen berechtigten Wirklichkeitsgehalt zum Ausdruck bringen. Entscheidend ist für ihn, von welchem Standpunkt aus die zwei Seiten verbunden werden: So bezweifelt er nicht, dass es religiöse Pathologien („Furcht, Unwissenheit, Aberglauben“) gibt, aber da Pathologisches sich nur im Horizont eines Normalitätsbegriffs beurteilen lässt, stellt er sich die Aufgabe, diesen Normalzustand zu bestimmen:62 Religion wird im Verlauf dieses Textes als weltanschauliche Gewissheit charakterisiert, „die unseren Entscheidungen über die Investition von eigener Lebenszeit zugrunde liegt“ (135). Die Anlehnung an ökonomische Beschreibungsformen ist nicht nur dem Entstehungskontext des Textes zu verdanken (er entstammt einem Vortrag vor Bankern). Ziel ist es vielmehr, die fundamentale Bedeutung der Religion im Horizont der Alltagserfahrung zu entwickeln. Denn die Überzeugungen, mit denen die Endlichkeit des Lebens gedeutet wird, entscheiden über die Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Diese Überzeugungen betreffen den Ursprung, die Bestimmung und die Verfassung der Welt: „Kein menschliches Handeln ohne Entscheidungen über den Einsatz von Lebenszeit. Darum auch kein menschliches Handeln ohne irgendeine solche Gewißheit über ihr Prozeßgesetz, ihre dynamische Zielstrebigkeit, ihren Sinn und Wert. Diese Gewißheit meint der Ausdruck ‚Religion‘.“ (137 f.)

Ist der Religionsbegriff auf diese Weise formalisiert, kann er von Herms als semantisches Äquivalent von Weltanschauung, Dogma, Daseins- oder Existenz61  Herms, in: ZWW, 134–154, Seitenangaben im Folgenden im Text; vgl. vor allem auch: ders., Religion und Wirtschaft, in: WM, 9 ff.; ders., Religion, in: RGG, 286 ff. 62  Bemerkenswert ist dieser harmonisierende Zugang insofern, als Herms sonst die „polemische Zerfaserung“ des Religionsbegriffs geißelt (ders., Religion, in: RGG, 286) und die Theorien über die Pathologien der Religion als ihre „Denunziation“ attackiert (ders., Religion, in: WM, 11).

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

verständnis eingeführt werden.63 Religion wird somit als anthropologische und soziale Konstante bestimmt.64 Das heißt, die Überzeugungen über die Verfassung der Welt bestimmen zwar die individuelle Ausrichtung, Bewertung und Verwendung der Lebenszeit (140). Aber diese individuelle Perspektive besitzt immer zugleich eine öffentliche Dimension. Religion ist in diesem Sinne nicht Privatsache. Die öffentliche Bedeutung der Religion lässt sich durch zwei Argumente unterstreichen. Zunächst ist Religion für die Zielwahlorientierung der Handelnden maßgeblich und somit stehen die religiösen Organisationen in einer besonderen Pflicht für die Formulierung gemeinsamer Ziele einer Gesellschaft. (Dieser Zusammenhang ist in den nächsten Abschnitten auszuführen.) Darüber hinaus wird religiöse Gewissheit im Zusammenhang der Interaktion mit Anderen ausgebildet. Denn sie wird zwar individuell erfasst, aber der Verstehensprozess steht immer in der Wechselbeziehung mit Anderen. Wie die eigene Lebenszeit gestaltet wird, ist von der Prägung Anderer ebenso abhängig wie eigene Entscheidungen Andere prägen: Religion ist in diesem Sinne „höchst persönlich und dennoch nie einsam“ (143; Hervorhebung im Original). Es wird keine Intersubjektivitätstheorie als Grundlage des Theoriegefüges entwickelt, aber Herms führt die Austauschprozesse, nämlich die „Kommunikation“, als grundlegend für die Vermittlung von den wesentlichen erlebnismäßig gewonnenen Eindrücken ein, aus denen die lebensorientierenden Gewissheiten entstehen. Und weil diese Interaktion entscheidend ist, muss sie gepflegt werden – zuvorderst in der Familie und darüber hinaus in Bildungseinrichtungen jedweder Art (148). Die Institutionalisierung der Gewissheitskommunikation, das die Dauer und Weitergabe der Sitte ermöglicht (in Anlehnung an Arnold Gehlen), steht im Zentrum seiner Kirchentheorie, seiner Sozialtheorie und seines Gesellschaftsbegriffs (III.1.C; III.3.A.ii). Sind die Konturen des hermsschen Religionsbegriffs nachgezeichnet, stellt sich die Aufgabe einer ersten Einordnung. Es sind zwei gegenläufige Kritiken zu beachten: Auf der einen Seite wird argumentiert, dass Herms das aktive Entscheidungselement der Glaubensgewissheit überbetont. Rainer Goltz meint, dass Herms „mit der Passivität als Strukturmerkmal menschlicher Personalität nicht konsequent ernst macht“, weil er den Glauben als „freiwillentliche Anerkennung“ der offenbarten Gewissheit bestimmt.65 Diese Kritik leuchtet in63 

Vgl. ausführlicher Herms, Ganzheit, in: PG, 369–379. Herms, Religion, in: RGG, 287. 65  So Goltz, Werden, 308 (Hervorhebung im Original), im Anschluss an Kock, Kastning, Roth und H. Fischer. Goltz zeigt die „Unklarheit bzw. Ungenauigkeit bei Herms in der Verwendung des Lexems ‚Glaube‘“ auf, denn Herms verwendet diesen mit verschiedenen Betonungen: „Glaube“ wird synonym mit „Gehorsam“, mit „Gewissheit“ oder als „gehorsame[r] Vollzug der Gewissheit“ eingeführt. Dabei kann nach Goltz kein Zweifel daran bestehen, dass die erste Verwendung die eigentlich richtige nach Herms ist (ders., Werden, 281–3; Hervorhebung im Original). Problematisch sei, dass Herms nicht anerkenne, dass der Glaube 64 

III.1. Apologie des Pluralismus

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sofern nicht ein, als die Struktur menschlicher Personalität immer durch Elemente des passiven Erlebens und der aktiven Selbsttätigkeit durchzogen ist. Auf dieser Linie liegt auch die im Richtungssinn gegensätzliche Kritik. Wie bereits aufgezeigt steht Ulrich Barth für eine Interpretation, in der die aktive und konstruktive Rolle des Subjekts in der Ausbildung religiöser Gewissheit hervorgehoben wird: „Selbst in scheinbar rein empfänglichen oder rezeptiven Formen religiösen Anschauens und Fühlens sind produktive Leistungen des erlebenden Subjekts zu veranschlagen.“66 Barth bezieht sich nicht direkt auf Herms, aber er kritisiert Ansätze, in denen die konstitutive Leistung des Subjekts gerade auch im Glaubensakt übersehen wird.67 Dieser Überlegung ist im Folgenden nachzugehen, indem die Passivität und die aktive Deutungskraft des Subjekts in ein genaueres Verhältnis zu rücken sind (vgl. III.2.B.i; III.3.B.ii). Einer weiteren Kritik müsste an anderer Stelle nachgegangen werden. Diese betrifft die hermssche Bezeichnung des Glaubens als kategoriales Vorverständnis der Wirklichkeit.68 Michael Roth, der sich mehrfach mit dem Ansatz von Herms auseinandergesetzt hat, ist skeptisch gegenüber dem Versuch, einen kategorialen Rahmen, in denen alle Erfahrungen im Lichte des Glaubens hineinpassen, aufzustellen.69 Der Glaube lässt sich, so Roth an anderer Stelle weiter, nicht als „weltanschauliche Voraussetzung“ der Theologie verstehen, wie Herms es sieht. Roth setzt dagegen, dass der Glaube „im Sinne von Vertrauen“ verstanden werden müsste, als „eine Lebensbewegung, die gerade in unseren konfliktreichen Verstehensbewegungen aktuell wird“.70 Das hermssche Werk greift erkenntnistheoretisch in der Tat weit aus. Der Ganzheitsanspruch, den er in der Theologie stellt, und seine Gewissheitsemphase lassen einen Blick für die Brüche, Konflikte, Zweifel, und tragischen Sinnverluste im Lebensvollzug vermissen.71 Es kann zwar erwidert werden, dass Herms von prozessualer, „werdender“ Gewissheit ausgeht, Geschenk Gottes und nicht Tat des Menschen sei (ebd., vgl. Herms, Einleitung, in: TfP, 26). Herms hält dagegen: Lediglich die Offenbarung ist Tat Gottes, der Glaube aber ist „Tat und gutes Werk des Menschen“ (ebd.). 66  U. Barth, Theoriedimensionen, 75. 67  Der Streitpunkt betrifft neben der Schleier­macher- auch die Luther-Deutung: Während Goltz (Werden, 306) und Roth den reinen Geschenkcharakter des Glaubens bei Luther betont sehen wollen, hebt Ulrich Barth auch bei Luther den „Aneignungsvollzug“, das „Selbsttätigkeitsmoment“ im Übergang vom „nichtigen“ zum „heilsamen“ Glauben hervor (ders., Theoriedimensionen, 75). 68  Vgl. Grube, Unbegründbarkeit, 250 ff. 69  Vgl. Roth, Vernunft, 657–676; ders., Theologie, 507–526; Goltz, Werden, 276. 70  Roth, Theologie, 517 f. 71  Interessant ist, dass sich die Kritik von Roth z.T. mit der von Ulrich Barth trifft, der argumentiert, dass Gewissheit nicht zu Lasten der Deutung als erkenntnistheoretischer Form des Glaubens verstanden werden darf (ders., Theoriedimensionen, 85). Die Religionstheorie muss zwar „Formen expressiver Überzeugtheit“ berücksichtigen, aber Gewissheit ist „kein notwendiges Moment des religiösen Bewußtseins. Die religiöse Einstellung reicht von der dunklen Ahnung über die ungefähre Vorstellung und tastende Vermutung bis zur klaren Gewißheit.“ Er argumentiert ferner, dass „die modernen Erscheinungsformen von Religion sich nicht durch Überzeugungspathos oder Bekenntnisstrenge auszeichnen, sondern eher durch leisere Töne“ (ebd.). Ich komme darauf zurück, vgl. III.3.B.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

die sich vom Fluss des „Gegebenen“ immer wieder neu bestimmen und verändern lässt und insofern niemals totalitär noch statisch sein kann.72 Aber wie sich das Vertrauen in den Brüchen des Lebens und im Fluss des Werdens vollzieht, bleibt offen.73

Sinn und Ziel des formalen Religionsbegriffs von Herms werden deutlicher, wenn sie im Rahmen der Apologetik eingeordnet werden. Apologetik ist für Herms die „Grundgestalt“ der Theologie und gilt als ihre „elementare und unüberholbare Ortsanweisung“.74 Der Sinn dieser ‚Kunst des Antwortens‘ liegt für Herms nicht darin, einzelne Behauptungen der Bibel gegen das Erfahrungswissen zu verteidigen.75 Vielmehr geht es nach seiner Lesart den biblischen Schriften um „jeweils eine spezifische Einsicht in die Verfassung dieser Erfahrungswelt im ganzen“.76 Und eben dieser Blick auf das Ganze nötigt dazu, wie bereits zu Anfang des Kapitels notiert, den weltanschaulichen Pluralismus anzuerkennen und ihn zu gestalten. Wenn zu Recht betont wird, dass Herms zuvorderst Apologetiker ist, muss diese pluralistische, sozialethische Pointe der Apologetik unbedingt berücksichtigt werden – Apologetik muss als Verteidigung der Vielfalt im Horizont der Einheit der Menschheit verstanden werden.77 Bemerkenswert ist dabei, dass Herms das „Grundproblem der Apologetik“ zu ihrem Hauptanliegen entwickelt.78 Jenes liegt im formalen Paradoxon zwischen dem universalen Wahrheitsanspruch des Inhalts des Glaubens und dessen partikularen und unverfügbaren Zustandekommen. Zugleich bietet sich nach Herms eine wesentliche Chance: Wenn mit der passiven Konstitution des Glaubens ernst gemacht wird, impliziert dies seine Selbstrelativierung, ohne Relativismus. Diesem Argument gilt es nachzugehen.

72  So eröffnet nach Herms Schleier­macher „den Blick auf das Gegebene in seiner ganzen Dynamik, Weite und Komplexität“ und ermöglicht es „uns auf den Prozeß seines Gegebenwerdens zu verlassen, diesem Prozeß verantwortlich zu entsprechen und uns von ihm mitnehmen zu lassen“ (Herms, Philosophie, in: MW, 426). 73  Vgl. weitere Überlegungen in Munzinger, Gewissheit, 192–208. 74  Herms, Rücken, in: OG, 490. 75  AaO. 494. Als Beispiele nennt er die Schöpfung in sechs Tagen, Auferstehung, Wunder, Himmelfahrt usw. Von dieser „Last“ habe die historisch-kritische Methode das Christentum befreit (493). 76  AaO. 494 (Hervorhebung im Original). In der biblischen Botschaft stehen die „Grundzüge der Wirklichkeit von Welt und Mensch“ im Mittelpunkt, die in allen gedachten und erlebten Situationen wiederkehren – und in diesem Sinne geht es um „die Einheit der Wirklichkeit“ (ebd.). 77  Es ist Rainer Goltz zu verdanken, dass er die Bedeutung der Apologetik bei Herms herausgearbeitet hat (ders., Werden, 227 ff.), aber es ist eben keine Apologetik im herkömm­lichen Sinne, sondern die perspektivische Verteidigung der Anerkennung vieler weltanschaulicher Positionen in der Öffentlichkeit, die jeweils ihre Ganzheitsansprüche vertreten (können und sollen). 78  Diesen Entwicklungsschritt hat Herms m.E. erst sukzessive vollzogen. Jedenfalls ist er anfangs noch nicht in Sicht: vgl. Herms, Offenbarung und Erfahrung, in: OG, 246, 271.

III.1. Apologie des Pluralismus

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ii. „Theologie und Politik. Die Zwei-Reiche-Lehre als theologisches Programm einer Politik des weltanschaulichen Pluralismus“79 Die paradigmatische Leistungskraft evangelischer Theologie, so Herms, besteht darin, dass sie den weltanschaulichen Pluralismus aus ihrer eigenen Lehre begründen kann; sie kann und muss sich aus ihrem Wahrheitsanspruch heraus selbst relativieren. Wiederholt bearbeitet er dieses Konzept des „Pluralismus aus Prinzip“ oder des „konsequenten Pluralismus“ seit den 90er Jahren,80 in dem er die begründete und qualifizierte Befürwortung einer Vielzahl von Religionen und Weltanschauungen in einer Gesellschaft entwickelt. Im programmatischen Aufsatz Theologie und Politik wird die Zwei-Reiche-Lehre als theologisches Fundament einer Politik solch eines Pluralismus eingeführt.81 Er geht in drei Schritten vor: Erstens wird das Verhältnis von Theologie und Politik bestimmt, zweitens der Sinn der Zwei-Reiche-Lehre erklärt und drittens diese als Steuertheorie christlicher Politik veranschaulicht. ad 1: Gesellschaften, in der eine Religion weder die dominante noch die einzige ist, können nach Herms auf dreifache Weise verstanden und gestaltet werden: durch eine vollständige Neutralität der Politik, durch eine einheitliche Zivilreligion oder durch eine konsequente Pluralisierung der Politik. Den ersten Gestaltungstypus der umfassenden Neutralität lehnt Herms aus Gründen seiner fundamentalanthropologischen Annahmen ab: Weltanschaulich neutral können (politische) Überzeugungen kraft ihrer Konstitution nicht sein.82 In der zweiten Möglichkeit der Zivilreligion wird versucht, die Vielfalt dieser Überzeugungen „zu unterlaufen“, indem „‚kirchliche‘ Züge auf den Staat selbst“ übertragen werden (99). Gegen diese Alternative muss Herms zufolge anerkannt werden, dass eine im Prinzip unbegrenzte Vielfalt von Weltanschauungen auf die Gestaltung der Gesellschaft im Allgemeinen und den Staat im Besonderen „bestimmenden Einfluss“ nehmen will und dass Politik selbst diese Vielfalt in ihrer Verfasstheit reflektiert (ebd.). Wie aber, so fragt Herms weiter, kann dieser unrestringierte Pluralismus in eine stabile Ordnung überführt werden? Dazu werden die Weltanschauungen selbst in die Pflicht genommen. Sie müssen ihre ganzheitlichen Ansprüche aus internen Gründen – und nicht aufgrund ex79 

Herms, in: GG, 95–124. Seitenzahlen im Folgenden im Text. Herms, Pluralismus aus Prinzip, in: KW, 467–485; ders., Vom halben zum ganzen Pluralismus, in: KW 388–431; ders., Neutralität, in: PRP, 170–194; ders., Pluralismus aus christlicher Identität, in: ZWW, 336–341; ders., Anforderungen, in: ZWW, 342–373; Pluralismus, in: ESozL, 1246–1250. 81  Politik definiert Herms hier noch als „die Theorie und Praxis der rechtlichen Ordnung des Gemeinwesens (des Staates) mit bindender Wirkung für alle Personen, die seiner Rechtsordnung unterworfen sind“ (ders., Theologie, in: GG, 93). Später wird er eine erweiterte Definition entwickeln, in der staatliches Handeln nur einen Aspekt kollektiver Willensbildung darstellt, vgl. die Diskussion in III.3.A.ii.b. 82  Vgl. zur Begründung III.1.C.i und zur Einschränkung der Ablehnung jedweder Neutralität III.3.A.ii. 80 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

terner politischer Schranken – relativieren und ihre Teilnahme an einem nichttotalitären, pluralistischen Gemeinwesen rechtfertigen. ad 2: Die Zwei-Reiche-Lehre wird nun als die christlich-theologische Theorie eingeführt, welche die Kluft zwischen universalem und sich selbst relativierenden Anspruch überbrücken soll. In dieser Überbrückungsleistung liegt nach Herms nicht nur die Kernherausforderung der Religion in der Gesellschaft, sondern die ihr zu Grunde liegende Spannung ist auch das „systematische Grundproblem“ kirchlicher Lehre (106; Hervorhebung im Original). Denn, wie bereits angedeutet, der universale Geltungsanspruch des Glaubens steht im Widerspruch zur Unverfügbarkeit und Perspektivität seines Ursprungs. Wie kann die Zwei-Reiche-Lehre dazu dienen, dieses Grundproblem zu bearbeiten? Dazu wird die Lehre als Aussagezusammenhang über das Handeln Gottes und über das Handeln des Menschen eingeführt: Als erstes interpretiert Herms die Zwei-Reiche-Lehre als Differenzierung zwischen Gottes Schöpfer- und Gnadenhandeln und nicht als Unterscheidung zwischen dem Gerichts- und Gnadenhandeln. Es gelte die Sünde als einen Teil der größeren Ordnung der Schöpfung zu verstehen (113).83 Dann wird klar, so Herms, dass das Gnadenhandeln das Ziel des Schöpfungshandelns ist, wie auch umgekehrt Erwählung nur mit Blick auf die ganze Schöpfung stattfindet.84 Wenn Erwählung nicht „bloß“ als Zuspitzung der Schöpfung, sondern als das konkrete Beispiel des aufs Ganze gerichteten Schöpferhandelns Gottes gedacht wird, „wird jedes exklusive Verständnis“ des göttlichen Erwählungshandelns unmöglich gemacht“ (114). Es kann keine „Vergleichgültigung“ der Natur und der Schöpfung zu Gunsten der Erwählung geben, denn: „Gott geht aufs Ganze, indem er ins Einzelne geht; und nur indem er ins Einzelne geht, geht er aufs Ganze“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Zweitens versteht Herms die Zwei-Reiche-Lehre als Unterscheidung zwischen göttlichem und menschlichem Handeln, um zu zeigen, wie der Mensch im Willen Gottes leben kann und wie die Wohlordnung der Gesellschaft im Horizont dieses Willens aussieht. ad 3: Das Spannungsverhältnis zwischen Gottes universalem Handeln und seinem partikularen Erwählen spiegelt sich in der Polarität zwischen dem universalen Horizont christlicher Gewissheit und der Bedingtheit ihrer Entste83  Die

augustinische Bestimmung der Zwei-Reiche-Lehre als zwei Weisen der Reaktion auf die Sünde, als Gnade einerseits und als Verwerfung andererseits, leidet nach Herms daran, dass sie die Relation von Sünde und Gnade nicht auf das ursprünglichere Verhältnis des gnädigen Schöpfers hin relativiert. Auf diese Weise sei das Missverständnis des „Heilspartikularismus“ aufgetreten, welches eben den Bezug der Lehre zum Schöpfer aller Menschen missachtet (aaO. 111 Fn.15). 84  Zugespitzt heißt das, Erwählung findet nicht nur für die Erwählten statt, sondern für die ganze Schöpfung; sie ist nicht eine reine Angelegenheit des Herzens, sondern besitzt soziale Bedeutung. Wenn nun die Versöhnungslehre nur im Zusammenhang der Schöpfungslehre Sinn macht, so ist das christliche Leben „als systematische Variation des universalen Wesens des Menschseins überhaupt“ zu verstehen (Herms, Theologie und Ethik, 526).

III.1. Apologie des Pluralismus

181

hung; der Blick ist auf die ganze Schöpfung gerichtet, aber die Perspektive darauf entsteht aus der Erwählung. Beide Seiten dieser Polarität sind, so Herms, ohne einander nicht denkbar und sind nur wechselseitig zu verstehen. Aus der Reziprozität erwächst das Kriterium für die Wohlordnung der Gesellschaft: Wird der christliche Glaube im Horizont der Erwählung als partikular konstituiert verstanden, so entsteht die Sensibilität für die perspektivische, kontingente Genese aller Lebensanschauungen. Wird die eigene Erwählung als verbindlich und gewiss begriffen, so kann auch die Verbindlichkeit aller anderen derartigen Gewissheiten berücksichtigt werden. Weil jedwede konstitutive Erfahrung unverfügbar ist, schließt sie die Einsicht in ihre „Alternativenlosigkeit für die Betroffenen ein, eine Alternativenlosigkeit, die keine willkürliche Distanzierung erlaubt und solange besteht, wie die gegebene Gewißheit nicht durch eine weiterführende Selbsterfahrung überholt, korrigiert und konkretisiert wird“ (120). Zugleich bedeutet die unverfügbare, kontingente Genese der weltanschaulichen Überzeugungen, dass sie nicht reflexiv-aktiv herzustellen – schon gar nicht erzwingbar – sind. Der christliche Glaube räumt anderen Glaubens- und Nichtglaubensformen aus dieser Einsicht heraus dieselbe Berechtigung ein, denn die Schöpfungsordnung schließt die Partikularität von Überzeugungsgemeinschaften ein. Zugleich sind diese mit einem universalen, aber nicht exklusiven Wahrheitsanspruch ausgestattet.85 Auf diesem Hintergrund wird die Zwei-Reiche-Lehre als „Steuertheorie christlicher Politik“ und nicht als Theorie über die Trennung von Glaube und Politik eingeführt (117). Das Spezifische des christlichen Glaubens besteht Herms zufolge darin, dass der weltanschauliche Pluralismus gleichsam aus seinen Fundamenten heraus begründet werden kann. Vielfalt ist nicht nur ein unabweisbarer Teil der Gesellschaft, sondern ist auch im Horizont der christlichen Tradition gut zu heißen. Kirche und Gläubige treten für diesen Zusammenhang von Partikularität und Universalität ein. Wenn nun bestritten werden kann, dass es „eine weltanschaulich neutrale Politik“ gibt, muss auch, so fordert Herms, mit „Entschlossenheit“ jede Politik, „die nicht diesen christlichen Fundamenten und Zielperspektiven verpflichtet ist, hartnäckig nach ihrem weltanschaulich-ethischen Fundament“ gefragt werden (123 f.). Wie ist diese innovative Verortung des Pluralismus in der christlichen Theologie zu bewerten? Der in dieser Arbeit zu bedenkende Problemkomplex des Verhältnisses von Universalität und Partikularität, von Allgemeinem und Besonderem wird von Herms als urdogmatisches Problem eingeholt – in der Verschränkung von Schöpfungs- und Gnadenlehre.86 Daran schließen sich viele Rückfragen an, von denen zwei zu bedenken sind: 85 Weder ein historischer Relativismus noch ein exklusiver Geltungsanspruch folgt Herms zufolge daraus, sondern das Bezogensein einer partikular entstandenen Gewissheit mit universalem Anspruch auf andere, gleichartige Gewissheiten. 86  Es ist die Gewissheit, dass der „Schöpferwille Liebeswille ist und als solcher nicht nur

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Erstens besteht die Frage nach dem hermsschen Einheitsbegriff. So wird eingewandt, seine Konzeption führe zum dogmatischen Monismus. Herms reduziere die Zwei-Reiche-Lehre auf eine einzige Pointe, weil er Schöpfung und Erlösung einander so zuordne, dass die Differenz zwischen dem „Wohl“ der erschaffenen Ordnung und dem „Heil“ der Erlösung verschwimme: Dann drohe – so Michael Roth – die „Ethisierung des Christlichen“,87 und die qualitative Differenz von Schöpfung und Erlösung werde aufgehoben – so Wieland Kastning.88 Bei Herms liegen in der Tat Vereinheitlichungstendenzen vor, die sich in der Hermeneutik,89 Theologiegeschichte90 und – was diese Arbeit betrifft – in seinem Vernunftbegriff91 bemerkbar machen. Allerdings muss diese Kritik differenziert betrachtet werden. Denn die Entfaltung der Zwei-ReicheLehre zielt auf einen weltanschaulichen Pluralismus ab, d.h. die eine Wirklichkeit kann nur auf vielfältige Weise interpretiert werden. Die Einheit des Wirklichkeitsverständnisses wird eben nicht zu Lasten ethischer Vielfalt betont.92 Die Frage nach der Einheit spitzt sich m.E. vielmehr in ihrer Begründung zu, ob nämlich die Einheit ontologisch93 (so Herms), subjektivitätstheoretisch (so Ulrich Barth) oder sprachphilosophisch (so Jürgen Habermas) begründet wird. Diese Begründungsfrage wird im nächsten Kapitel präzisiert. Zweitens stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem: Ingolf Dalferth und Christoph Kock werfen Herms vor, das Besondere des Glaubens im Horizont des Allgemeinen zu bestimmen und somit unkenntlich zu machen.94 Dalferth macht geltend, dass Theologie ihren Gegenüberhaupt Gemeinschaftswille, sondern just Versöhnungs- und Vollendungswille“ (Herms, in: Selbstdarstellung, 335). 87 Roth, Bedeutung, 184–206. Im Hintergrund dieser Kritik steht die dogmatische Frage nach der Berechtigung einer monistischen Darstellung der Handlungsweisen Gottes (Schöpfung, Gesetz, Evangelium und Abscondität). Letztlich folgt Herms damit, so Roth, der Ontologie Karl Barths. 88  Kastning, Bewertung, 230 ff. Er befürchtet ferner in seinem insgesamt kritischen Resümee der Luther-Deutung von Herms die Ausblendung der Wirklichkeit des deus absconditus und die Reduktion der Heilsgewissheit auf Selbstgewissheit. Wie aber soll Heil ohne Selbstgewissheit vernehmbar werden? 89  Vgl. zu Recht Goltz, Werden, 313 Fn. 1467 und die Diskussion zur Hermeneutik-Konzeption III.3.B. 90  Vgl. im Exkurs zum theologischen Hintergrund des hermsschen Werkes am Ende des Kapitels III.1. die Linie von Luther über Schleier­macher bis K. Barth. 91  Herms führt die theoretische, praktische und ästhetische Vernunft auf die religiöse Selbsterschlossenheit und somit überhaupt das Denken auf das Fühlen, die Reflexion auf das Erleben zurück (vgl. III.2.B.ii). 92  Wird Vielfalt eingefordert, ist ein Einheitsbegriff bereits implizit vorhanden. Vereinheitlichung per se kann kaum kritikwürdig sein; es kommt auf die Begründung, Qualität und Modalität der Einheit an. 93  Der Begriff der ‚Ontologie‘ wird im Folgenden näher bestimmt (III.1.D.i; III.2.B.ii). 94  Kock, Theologie, 268 ff.; Dalferth, Wirklichkeit, 336–430. Im Mittelpunkt steht dabei Dalferths Kritik an subjektivitätstheoretischen Ansätzen insgesamt, die entweder Letztbe-

III.1. Apologie des Pluralismus

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stand nicht recht versteht, wenn sie diesen lediglich im Rahmen des vergleichbar Allgemeinen verortet und den Glauben in „seiner irreduziblen Eigenart“ missachtet. Denn Theologie sei auf die Gegenwart Gottes bezogen und denke „sub ratione Dei“.95 Allerdings ist dagegen festzuhalten, dass jedwede Eigenart nur auf dem Hintergrund eines Begriffs des Allgemeinen zu verstehen ist. Die hermssche Konzeption besticht gerade in ihrer Anerkennung des Anspruchs der Religionen, irreduzible Eigenart zu besitzen. Die Frage ist eher, ob Herms in seinem Ansatz das Allgemeine nur im Horizont des Besonderen verständlich machen kann. Dieser Ansatz würde intersubjektiv überprüfbare Geltungsansprüche problematisch machen. Kock unterstellt Herms, in Ethik und Dogmatik den „‚garstigen Graben‘ zwischen Form und Inhalt“ nicht überwinden und den Inhalt des christlich Glaubens nicht aus dem Allgemeinen ableiten zu können – insofern sei das hermssche Unternehmen unergiebig.96 Rainer Goltz hat dagegen klargestellt, dass diese Überwindung nicht die Absicht von Herms darstellt und dass sie seinen „Ansatz ins Gegenteil verkehr[t]“.97 Herms betont eben den unverfügbaren, passiven Charakter der Offenbarung. Erwähnt wird allerdings von Goltz nicht,98 dass dieser Charakter verallgemeinert wird und somit das Allgemeine aus dem Besonderem erklärt wird. Die Konsequenz ist, dass der christliche Glaube als passgenauer Inhalt der universalen Form konzipiert wird.

Zum Schluss dieses Abschnittes ist das Thema der Apologetik wieder aufzunehmen: Die Apologetik von Herms steht im Dienste der fundamentalanthropologischen und dogmatischen Begründung des weltanschaulichen Pluralismus. Dieser pluralistische Sinn der Verteidigungsrede ergibt sich aus der Einsicht, dass der Glaube selbst wie auch alle möglichen anderen Weltanschauungen aus unverfügbaren Erschließungsereignissen (also Offenbarungen) entsteht: „Alle sind individuell und perspektivisch“.99 Aus der radikalen Passivität der Erschlossenheitskonstitution schließt Herms, dass Apologetik „die Grundaufgabe“ christlicher Lehre und somit überhaupt der angemessene Gesprächsmogründungen suchen oder gar das Scheitern dieser Begründungen als notwendigen Aufweis für Transzendenz verwenden (389). 95  Dalferth, Theologie, 236, 242 ff. „Erst wo das geschieht [also die Eigenart des Glaubens bestimmt wird], wird unbeschadet seiner mannigfachen Vergleichbarkeiten mit anderem die radikale Andersheit seiner Sichtweise deutlich“; denn radikale Theologie tritt „in Kontrast nicht nur zu jeder monistisch konzipierten Philosophie, sondern auch zu allen empirisch arbeitenden Wissenschaften. Sie wird eine wissenschaftliche Unternehmung sui generis.“ (AaO. 236) 96  Kock, Theologie, 292. 97  Goltz, Werden, 304. 98  Goltz verteidigt Herms gegenüber dem Einwand von Härle, dass subjektive Gewissheit nicht mit objektiver Wahrheit identifiziert werden könne, in dem er darauf hinweist, dass Herms Wahrheit als subjektive Größe sehe (aaO. 275, Fn. 1303). Dabei thematisiert Goltz nicht die Frage, ob ein intersubjektiver, d.h. objektiver Begriff der Wahrheit mit Blick auf die theoretische Vernunft möglich ist. 99  Herms, Apologetik, in: RGG, 624.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

dus für religiöses Leben darstellt.100 Über vernünftige Einsicht lässt sich nach Herms ein Wirklichkeitsverständnis nicht verständlich machen. Stellt aber demnach die Apologetik die einzige Form des gemeinsamen Denkens mit Angehörigen anderer Weltanschauungen dar? Bietet sie die einzige Möglichkeit, um sich über Wissen und Verhalten mit ihnen zu verständigen? Auf diese Fragen gilt es nun, in den weiteren zwei Abschnitten einzugehen. Exkurs zur Dogmatikkonzeption von Eilert Herms Herms ordnet seinen Zugang zur Dogmatik in eine von drei möglichen – allerdings kombinierbaren – dogmatischen „Verfahren“ ein:101 entweder wird sie auf dem Hintergrund des zeitgenössisch dominanten und „deshalb selbstverständlich scheinenden oder vermeintlich ‚neutralen‘ Wirklichkeitsverständnisses“ entwickelt.102 Oder sie kann als rationale Bearbeitung kirchlicher Lehre durch logische Darstellung der Aussagen zueinander und ihrer Verteidigung im Außenverhältnis entfaltet werden. Als Beispiel der ersten Gruppe nennt Herms Dogmatiken von Emil Brunner, Karl Rahner, Paul Tillich und David Tracy, als Beispiel des zweiten Verfahrens nennt Herms die altprotestantische Orthodoxie und die römisch-katholische Scholastik. Dagegen setzt er eine dritte Möglichkeit, die sich auf den Gegenstandsbezug konzentriert, nämlich die „Offenbarung“ oder das „Wort Gottes“, „die Gewißheit schaffende Selbstvergegenwärtigung des Schöpfers in Christus durch den Heiligen Geist“.103 Der Gegenstand der Dogmatik wird auf ihr Geschehen bezogen. Bemerkenswert ist, dass nach Herms aus diesem Dogmatikverfahren ganz verschiedene Variationen hervorgegangen sind, von z.B. Albrecht Ritschl, Alexander Schweizer über Karl Barth bis hin zu Wolfhart Pannenberg und Jürgen Moltmann. Bei aller Vielfalt im Detail und Dissens über die Form der Glaubensgewissheit ist demnach ein Konsens festzustellen: „Die Auffassung des Gegenstands der Dogmatik als ‚Glauben‘ (im Gefolge Kants und Schleier­machers) oder als ‚Offenbarung‘ bzw. ‚Wort Gottes‘ (unter Einfluß der dialektischen Theologie) ist kein exklusiver Gegensatz […], beiden Ansätzen zufolge soll die Lehre aus dem Geschehen heraus verständlich werden, das sie als Grund und Gegenstand des Wahrheitsbewußtseins des Glaubens bezeugt.“104 Arnulf von Scheliha stellt dagegen die Dogmatik von Herms als eine von vier alternativen Reaktionen zur Problematik der Relation von Glaube und Geschichte, die vor allem Ernst Troeltsch und Gerhard Ebeling thematisiert haben, im 20. Jahrhundert dar.105 Während ein erster Dogmatik-Typ – dazu zählt er neben Emanuel Hirsch und Wolfhart Pannenberg auch Hans-Martin Barth – der Tiefe der historischen Schwierigkeiten am ehesten gerecht wird, ist im vierten Dogmatik-Typ, der Biblischen Dogmatik 100  AaO. 625. „A[pologetik] ist aller zur Zustimmung zwingenden oder verpflichtenden Mittel des logischen Verweisens und des Erzeugens experimenteller Evidenz beraubt. Sie pflegt nur das Gespräch, das Chancen für das Aufleuchten der Wahrheit des christl. Daseinsverständnisses ermöglicht.“ (AaO. 624) 101  Vgl. zum Folgenden: Herms, Dogma, in: RGG, 895–899; ders., Dogmatik, in: RGG, 899–915. 102  AaO. 900. 103  AaO. 901. 104 Ebd. 105  Von Scheliha, Dogmatik, 60–84.

III.1. Apologie des Pluralismus

185

Friedrich Mildenbergers, bereits vom Anspruch her offenbar, dass sie sich den historischen Begründungsproblemen nicht stellt.106 Im zweiten Typ wird auf einer religions­ philosophischen, idealistischen Basis das historische Bewusstsein im dogmatischen Aufbau dokumentiert – so in unterschiedlicher Form bei Falk Wagner, Ulrich Barth und Jörg Dierken.107 Wenn der dritte Dogmatiktyp von Eilert Herms und Wilfried Härle erfahrungstheologisch beim christlichen Glaubensbewusstsein einsetzt, wird zwar ein religionsphilosophischer Ansatz verfolgt, aber in geschichtsphilosophischer Hinsicht ergibt sich eine Reduktion. Der Zugang zu den ursprünglichen Zeugnissen der christlichen Tradition ist nach Herms insofern unmittelbar gegeben, als dieselben Erfahrungen damals wie heute gemacht werden können. Damit wird die historische Problematik in der Offenbarungstheorie gleichsam aufgelöst. Es fällt in der Tat auf, dass Herms die geschichtliche Dimension des Interpretierens kaum beachtet, denn für ihn ist die historisch-kritische Legitimationskrise der Theologie bereits in der Aufklärungszeit „konstruktiv überwunden“ worden – nämlich im phänomenologischen Zugang zur ‚Sache‘ der Dogmatik.108 Auf diesen Zugang komme ich verschiedentlich zurück (vgl. zur methodologischen Diskussion III.1.D.ii; III.3.B.ii).

III.1.C. Was sollen wir tun? Kennzeichnend für die hermssche Gesamtkonzeption ist ihr integraler Zugriff auf die vier Leitfragen, die hier als Strukturierungsprinzip verwendet werden: Anthropologie und Religionstheorie bilden das unabweisbare Fundament der hermsschen Handlungs- und Gesellschaftstheorien und somit besitzt sein Ansatz eine hohe innere Stringenz. Zugleich sind diese ausgesprochen differenziert – vor allem in der sozialtheoretischen Fundierung der Ethik. Da im Folgenden nur ein Aufriss der vielfältigen Aspekte dieser umfangreichen Theoriebildung dargestellt werden kann, bietet sich sein Vernunftbegriff als hilfreicher Einstiegs- und Kristallisationspunkt an. Herms positioniert seinen Ansatz als Alternative zu zwei Ethikkonzep­ tionen in der evangelischen Theologie, die im letzten Jahrhundert wirkmächtig waren: Zum einen werden „christozentrische“ Ethikansätze benannt, die Herms von Barmen bis zu den Konzeptionen von Jürgen Moltmann und Wolfgang Huber nachzeichnet und die, verkürzt betrachtet, die christologisch „erleuchtete Vernunft“ als Orientierungspunkt wählen.109 Zum anderen wird eine „liberale“ Linie abgegrenzt, die durch Impulse von Leibniz, Wolff und Kant Kontur erhält und die in den Konzeptionen von Trutz Rendtorff, Dietz Lange und Martin Honecker erkennbar wird. Sie ist durch den Anspruch „perspektivenfreier Vernünftigkeit“ als Fundament ihrer Konzeption gekennzeichnet.110 Herms problematisiert sowohl die erste Alternative, sofern sie sich nicht den 106 

AaO. 68–73. AaO. 70 f. 108  Herms, Dogmatik, in: RGG, 900. 109  Herms, Ethik, in: RGG, 1614 f. 110  AaO. 1615. 107 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

„formalen Regeln der Handlungsrationalität“ beugt, als auch die zweite, sofern sie nur das jeweils gesellschaftlich dominante Wirklichkeitsverständnis vertritt und dieses mit der Vernunft identifiziert.111 Vielmehr muss Herms zufolge aufgezeigt werden, dass jede Ethik an ein die Vernunft bildendes Daseinsverständnis gebunden ist. Infolgedessen entsteht ein Konflikt der Vernunftverständnisse und dieser steht wiederum im Mittelpunkt der Gesellschaftstheorie und Ethikkonzeption von Herms.112 Derweil ist es bemerkenswert, dass dieser Konflikt wiederum „im christl[ichen] Vertrauen auf die Bildungsfähigkeit der Vernunft offengelegt, bearbeitet und ertragen werden“ kann.113 Wenn aber die Vernunft an ein Daseinsverständnis gebunden ist, wie kann sie konfliktlösend wirken? Welchen Sinn hat dann das Vertrauen auf ihre Bildungsfähigkeit? Mit diesen Fragen im Sinn gilt es zunächst Herms’ Sozialtheorie zu erörtern (i), um daraufhin die Sozialethik zu diskutieren (ii). i. „Grundzüge eines theologischen Begriffs sozialer Ordnung“114 Das Ziel der Sozialtheorie von Herms ist es, soziale Ordnung als „durch Interaktion in Abhängigkeit“ von den Gewissheiten ihrer Akteure konstituiert darzustellen (61; Hervorhebung im Original). Seine Ausführung ist in fünf Teile gegliedert, die aufeinander aufbauen: Erstens wird Handeln als „die selbstbewußt-freie zielstrebige Wahl von folgeträchtigem Umweltverhalten durch ein Individuum, das in dieser Wahl sich selbst zu dieser Umwelt verhält“ definiert (62). Entscheidend ist dabei die Annahme, dass das Lebensinteresse einer Person, das jede Zielwahl orientiert und motiviert, mit der Gewissheit über deren Bestimmung identisch ist, denn somit stellt Herms den Bezug zu seiner Anthropologie und Religionstheorie her (69). Wenn Herms, zweitens, ausführt, dass Handeln immer den Charakter von Interaktion hat, stellt sich für ihn die Frage, wie sich das Bezogensein auf andere Interessen gestaltet. Ob es asymmetrisch oder symmetrisch ist, entscheidet sich nun am Gewissheitsgefüge der Beteiligten (der Selbst-, Welt- und Ursprungsgewissheit). Aber die Auswahl der Interaktionsregeln hängt nicht nur von ethischen Überzeugungen ab, sondern auch von technischen Gewissheiten über die Regeln der Natur. Während technisches Wissen sich durch allgemein-zugängliches Regelwissen auszeichnet (es gilt für jede Person in gleicher Weise), ist für

111  „Das Rechnen mit einer Sphäre perspektivenfreier Vernünftigkeit macht die liberale Seite tendenziell wehrlos gegenüber dem Anspruch des in der Gesellschaft jeweils faktisch Dominanten, auch das Vernünftige zu sein, und gegenüber seiner Einforderung des ihm gebührenden christl. und kirchl. Beifalls.“ (Ebd.) 112  Der Konflikt der Vernunftverständnisse ist ein Streit um das jeweilige Daseinsverständnis. Insofern kann Herms auch die Aufgabe der theologischen Ethik als Klärung des Unterschiedes zwischen christlicher Ethik und nicht christlicher Ethik beschreiben. 113 Ebd. 114  Herms, in: GG, 56–94. Seitenangaben im Text im Folgenden.

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III.1. Apologie des Pluralismus

ethisches Wissen die konkrete Gestalt kennzeichnend, da es eben nicht auf die Einsichten in die Natur, sondern auf individuelle Erfahrung angewiesen ist (90). Drittens wird festgestellt, dass diese Interaktionen immer in bestimmten Ordnungen organisiert und koordiniert werden – und zwar in funktionsspezifischen Systemen (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Religion), die auf unterschiedliche Grundaufgaben und Güter ausgerichtet und folgendermaßen schematisiert werden:115 Religion/ Weltanschauung (ethisch orientierende Gewissheit)

Politik und Recht

Wissenschaft (technisch orientierende Gewissheit)

Ökonomie

Abb. 1116 Viertens wird die Qualifizierung von Interaktionsordnungen „primär“ vom Lebensinteresse der Interaktionspartner und „sekundär“ durch deren technische Überzeugungen bestimmt (86 f.). Daraus folgt fünftens, dass die Pflege und Ausbildung ethischer Traditionen und Überzeugungen in den Vordergrund rückt. Bildungsinstitutionen können laut Herms sich nicht auf die Weitergabe technischen Wissens und Könnens beschränken, sondern müssen auf die Förderung der Ausbildung des jeweiligen Lebensinteresses besonderen Wert legen. In Abgrenzung zu sozialwissenschaftlichen Entwürfen spezifiziert Herms seine Entfaltung als theologische Sozialtheorie: Ihre „Theologizität“ besteht darin, dass sie „Handeln“, „Personalität“ und „Interaktion“ im Horizont des 115  1. Die ökonomische Interaktion zur Gewährleistung des materiellen Lebensunterhaltes und zur Herstellung von Waren und Dienstleistungen; 2. politische und rechtliche Interaktion zur Gewährleistung des Bestandes von Interak­ tionsordnungen überhaupt durch Herrschaft und Sicherheit; 3. Erbringung und Weitergabe gemeinsamer technischer Gewissheiten; 4. Erbringung und Weitergabe gemeinsamer weltanschaulich-ethischer Gewissheiten (aaO. 74 ff.). 116  AaO. 77.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

christlichen Wirklichkeitsverständnisses begreift (92 f.). Diese theologische Beschreibungsweise unterscheidet sich von anderen nicht dadurch, dass sie eine bestimmte Perspektive auf die Sozialtheorie hat, sondern dass sie ihre Perspektivität anerkennt und für sie Rechenschaft ablegt (94). Ihre „Leistungskraft“ liegt nach Herms gerade darin, dass sie soziale Theorie im Horizont der grundlegenden Gewissheiten betreibt und soziale Praxis auf die fundamentale Bedeutung der ethischen Ausbildung des Lebensinteresses (als „Herzensbildung“) hinweist:117 „Wenn also Gesellschaft aus ihren Konstitutionsbedingungen heraus verstanden werden soll, kann nicht nur, sondern muß nach der Stellung von Religion in der Gesellschaft gefragt werden.“118

Für die theologische Ethik ist es entscheidend, auf einer solchen handlungsund sozialtheoretischen Grundlegung aufzubauen, und die hermssche Pointe des Gestaltungscharakters ist auf jeden Fall zu befürworten.119 Dennoch bieten im Einzelnen seine Handlungs-, System- und Gesellschaftsbegriffe und im Allgemeinen deren Verortung im Horizont der Gewissheitstheorie Grund zur kritischen Rückfrage. Zum Handlungsbegriff: 120 Johannes Fischer stellt die aktive Rolle Handelnder in Frage und lehnt die hermssche Handlungstheorie aufgrund der Orientierung an teleologisch verfassten Wahlakten und der mangelnden Berücksichtigung intuitiven Verhaltens ab. Diese Kritik ist verkürzt,121 denn sie hat nicht 117  Die Motivations- und Orientierungskraft der Daseinsgewissheit bestimmt die Ziele der Interaktion und die Fähigkeiten, mit denen diese Ziele erreicht werden; eben die Bedingungen der Möglichkeit von Sozialität. 118  Herms, Religion, in: RGG, 287 (meine Hervorhebung). 119  Denn wie eingangs festgestellt, Herms setzt seine Theorie bewusst von christologischen Engführungen ab, die den Gestaltungscharakter des Werdens sozialer Ordnungen nicht anerkennen und/oder empirische Ordnungen als göttliche Setzung auffassen. Diese verkennen, dass Ordnungen immer durch Menschen gebildet werden und ihr geschaffener Charakter sich auf die Bedingung menschlicher Handlungsmöglichkeit bezieht. Gemeint sind z.B. E. Brunner, P. Althaus und H. Thielicke (Herms, Vorwort, in: GG, VIII). 120 Der „Schlüsselbegriff“ der „Handlung“, der in der Philosophie und fast allen Sozialund Kulturwissenschaften als „Brennpunkt gegenwärtigen theoretischen Interesses“ gilt (Joas, Kreativität, 11), ist als anschlussfähiger Grundbegriff für eine theologische Auseinandersetzung sinnvoll. 121  J. Fischer stellt in Frage, dass Handlungen Wahlakte sind. Dagegen setzt er ein Beispiel einer reflexartigen Handlung (die plötzlich auftretende Notwendigkeit der Rettung eines Kindes im Straßenverkehr), die „ersichtlich kein Akt der Wahl zwischen mehreren Optionen“ sei (ders., Urteilsbildung, 4). Das ist insofern verkürzt, als Reflexe durch die gefühlsmäßige Bewusstheit des Handelnden geformt werden, die vorweggenommene Entscheidungen zu unserem Selbst-, Welt- und Ursprungsverhältnis reflektieren. Am Beispiel Fischers ausgedrückt, sind alternative Reaktionen möglich, weil andere Reflexe durch andere Umweltverhältnisse vorgeprägt werden können. Darüber hinaus liegt ein Missverständnis der hermsschen Personen- und Freiheitsbegriffe bei ihm vor, die durch vorgegebene und leibliche Bedingungsverhältnisse gekennzeichnet sind und von diesen nicht kognitiv losgelöst werden.

III.1. Apologie des Pluralismus

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im Blick, dass der hermssche Handlungsbegriff weder rein rationalistisch noch rein normativistisch ist.122 Er betont die leiblich verfasste, selbstbewusste Zielstrebigkeit, die affektiv konstituiert und intuitiv strukturiert ist. Die einzelnen Güter stehen insofern nicht nur zur freien Wahl, als ihre Konstellation von einem Begriff des „Höchsten Gutes“ bestimmt wird, das eben nicht aktiv gewählt wird, sondern lediglich vorgegeben ist.123 Die Schwierigkeiten des Handlungsbegriffs liegen m.E. vielmehr umgekehrt in der Bindung der Handlung an die ‚Gewissheitsstruktur‘ des Handelnden: Zum einen ist zu fragen, ob unsere Zielwahlen diskursiv zugänglich sind, wenn sie ‚alle‘ unverfügbar konstituiert werden. Hier wiederholt sich das Problem, dass die passive Gewissheit zu Lasten rationaler Reflexion und Deutung betont wird. Wenn Handlungen in dieser Weise weltanschaulich gebunden sind, bleiben die Möglichkeiten wechselseitiger Kritik zwischen verschiedenen Akteuren und selbstbestimmter Orientierung unterbestimmt. Zum anderen müssen Zweifel angemeldet werden, ob die teleologische Ausrichtung des Handlungsbegriffs an der weltanschaulichen Gewissheit alle Aspekte menschlicher Intentionalität abdeckt. Ob nämlich kindliches und erwachsenes Spielen, ob Sport und Kunst durchweg als weltanschaulich-teleologisch charakterisiert werden können, ist zu bezweifeln.124 Vielmehr ermöglicht gerade das Spiel einen veränderten Blick auf die menschliche Intentionalität insgesamt, indem darin herkömmliche Ziel-Mittel-Schemata durch das Potenzial kreativ neu gesetzter Zwecke unterlaufen werden.125 Damit ist kein Argument gegen die grundsätzliche Ausrichtung des Handelns an einem Höchsten Gut eingeführt,126 sondern vielmehr die menschliche schöpferische Dimension in der Intentionalität hervorgehoben. Religiöse Gewissheit als einheitsstiftendes und zielwahlorientierendes Moment menschlicher Handlung und Interaktion zu bestimmen, greift zu kurz, wenn rationale Verständigung und kreative Intentionalität dabei aus122  Dies hat den Vorteil gegenüber Habermas, die Körperlichkeit von Handlungen und die Orientierung am Guten (bzw. am Höchsten Gut) integrieren zu können (vgl. II.2.A; ähnlich auch Joas/Knöbl, Sozialtheorie, 335). 123  „Das Ziel unseres Daseins ist uns aus der Hand genommen, ist uns vorgesteckt, so wie unser Dasein uns auch aus der Hand genommen und uns vorgegeben ist“ (Herms, Bedeutung der Weltanschauungen, in: Nüssel, Ethik, 54). 124  Vgl. die Überlegung von Roth, Sinn, 170 ff., zum Verhältnis von freiem Spiel und befreitem Gewissen. 125  Hans Joas stellt herkömmliche Handlungstheorien in Frage, indem er ein neues „typologiestiftendes Prinzip“ einführt: Das kreative Handeln ergänzt nicht nur moralisches und rationales Handeln, sondern es bietet ein neues Fundament. Kreativität ist „eine besondere ‚Tönung‘ der gesamten Haltung gegenüber der äußeren Realität“ (Joas, Kreativität, 244, im Anschluss an Donald W. Winnicott). Joas sieht das Problem der teleologischen Deutung des Handelns darin begründet, dass Wahrnehmung und Erkenntnis der Handlung vorgeordnet werden. Dagegen versteht er sie als Phase des Handelns (aaO. 233). 126  Im Gegenteil, menschliche Kreativität kann als Hinweis auf eine schöpferische Macht gedeutet werden, aber eben dieser Deutungsprozess ist Teil menschlicher Kreativität.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

geblendet werden. Bei Herms besteht jedenfalls die Tendenz, diese zwei letzten Aspekte nicht hinreichend zu berücksichtigen. Zum Systembegriff: Sind nun Handlungen für Herms der „spezifische Gegenstand der Ethik“ (56),127 so ist der Systembegriff für ihn „unverzichtbar“, um die Regel- und Dauerhaftigkeit von Handlungen zu analysieren.128 Ziel ist eine differenzierte Erfassung geregelter Interaktionsbereiche, in denen die gesamtgesellschaftliche Relevanz der individuellen ethischen Handlungsziele aufgewiesen wird.129 Dazu wählt er den Systembegriff Bertalanffys im Unterschied zu demjenigen von Niklas Luhmann, weil ersterer „ontologisch offen“ ist, also offen für geregelte soziale und natürliche Beziehungen.130 Herms gelingt es auf diese Weise, die Gesamtzielsetzung gesellschaftlicher Dynamiken mit seiner Religionstheorie zusammenzuführen. Angesichts seines Ausgangspunktes im methodischen Individualismus versteht sich aber die Verbindung von Handlungs- und Systembegriff nicht von selbst.131 Wesentliche Begründungsschritte bleiben zumindest offen: Neben der eingeschränkten Rezeption des sozialwissenschaftlichen Diskussionsstandes,132 in dem eben die Frage funktionaler Analysen höchst umstritten ist, besteht das Problem, dass der hermssche Systembegriff nicht hinreichend präzisiert wird.133 Verweist ein Interaktionssystem auf die Möglichkeit kollektiven Handelns, gar auf die systemischer Autopoiesis oder lehnt Herms diese Möglichkeiten ab, um die Individualverantwortung nicht zu unterlaufen? Wenn Letzteres der Fall ist, was angesichts seines Ausgangspunktes im Individualismus zu vermuten ist, wird er die Tendenzen zur Selbstinstitutionalisierung gesellschaftlicher Systembildungen

127  Sein Begriff der sozialen Ordnung wird von drei Voraussetzungen bestimmt: 1. Sie ist eine Interaktionsordnung, die den Beteiligten vorgegeben und von ihnen gestaltet wird; 2. sie wird von personalen Individuen konstituiert; er verfolgt einen „methodischen Individualismus“; 3. die jeweils als gut befundene Ordnung kann entweder erreicht oder verfehlt werden (Herms, Grundzüge, in: GG, 57). 128  Herms, System, in: RGG, 2010–2011. Vgl. ders., Fähigkeit, in: TfP, 259–287; ders., Gesellschaft, in: RGG, 825–827; 830–834; ders., Institution, in: ESozL, 748–752; ders., Systemtheorie, in: RGG, 2024–2025. 129  Herms gibt an, dass es nicht um ein „Streben nach nivellierender Vereinheitlichung der Erscheinungswelt“ geht, sondern um die Erfassung „der uns in der Erscheinungswelt begegnenden Differenzen: zwischen natürlichen und sozialen Systemen, aber auch zwischen verschiedenartigen natürlichen Systemen und zwischen verschiedenartigen sozialen Systemen“ (Herms, Weltwirtschaftsordnung, in: WM, 237). 130 Ebd. 131  Herms, Grundzüge, in: GG, 61; vgl. die Diskussion zu Joas und Habermas unter II.2.A.i.b. 132  Pauschal wird von der „Soziologie heute“ (Herms, Religion und Organisation, in: EK 56) oder „in den Sozialwissenschaften durchgehend“ (aaO. 215) gesprochen. 133  Vgl. S. Brandt, Kirche, 296–304, die kritisiert, dass Herms nicht klärt, ob soziale Systeme „geordnete Mengen von Personen oder – ein ganz anderer Ansatz – Interaktionssysteme“ sind (297).

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kaum erfassen können.134 Durch die direkte Beziehung zwischen mikro- und makrosoziologischer Intentionen, die Herms herstellt, indem er die Gewissheiten der Handelnden und die Ziele der Gesamtgesellschaft verbindet,135 steht seine Theorie in der Gefahr, die komplexen unintendierten Handlungsfolgen zu ignorieren und die faktische Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionsbereiche ethisch zu simplifizieren. Dabei müsste darauf geachtet werden, dass auch der Gewissheitstheoretiker keine Position einnehmen kann, die über den anderen Funktionsbereichen steht. Zum Gesellschaftsbegriff: 136 Sind kontroverse Aspekte der hermsschen Sozialtheorie bereits benannt worden, spitzt sich die Kritik am „Vierer-Schema“ der Funktionssysteme zu (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Religion).137 Vor allem das Teilsystem der Religion und die Beziehung der vier Systeme untereinander sind zu bedenken. Herms subsumiert, wie dargestellt, unter dem Funktionsbereich ‚Religion‘ die gesamten ethischen Bildungsinstitutionen einer Gesellschaft, in denen die Ziele des Zusammenlebens tradiert werden.138 Da auch in der Kunst und im Sport diese Aufgaben wahrgenommen werden, gelten diese als Sonderfälle des Teilsystems ‚Religion‘. Nun sind weder Kunst noch Sport hinreichend in dieser Funktion beschrieben; es bedarf dringend der angemessenen Differenzierungen.139 Es fällt zudem auf, dass die Aufgabe der sozialen Integration nicht eigens thematisiert wird, und es ist zu vermuten, dass sie für

134 Mit „Selbstinstitutionalisierung“ ist nicht die Loslösung von handlungstheoretischen Zusammenhängen gemeint, sondern die Beobachtung, dass soziale Prozesse „nicht vollständig als intendiert aufzufassen“ sind: Unintendierte Handlungsfolgen sind, so Hans Joas, vielmehr der Regelfall (ders. Kreativität, 337). Weitere Überlegungen zur Verschränkung mit den Begriffen der Intentionalität und Kontingenz von Handlungen sind hier erforderlich. 135  Bei Herms bleibt undeutlich, welche ethische ‚Planbarkeit‘ er voraussetzt: Einerseits sieht er ein, dass die Vielfältigkeit der individuellen und kulturellen Muster von Güterspektren nicht zentral geplant werden kann, weil „sie vom polyzentrischen Zusammenspiel einer unendlichen Menge einzelner Überzeugungen und Entscheidungen“ abhängt (ders., Religion und Wirtschaft, in: WM, 55). Andererseits geht Herms davon aus, dass die Organisationen im Religionssystem „das Verhalten der einzelnen Mitglieder in allen Interaktionsgebieten ihres Alltags innerlich steuern“ (ders., Kirche in der Welt, in: KW, 255). 136  Vgl. die ausführliche Untersuchung von Herms dazu: Kirche in der Zeit, in: KW, 321 ff. 137  Der theoriegeschichtliche Hintergrund des hermsschen Schemas liegt in der reformatorischen Drei-Stände-Lehre und dem ethischen Viererschema Schleier­machers (vgl. III.2.D.ii). 138  Herms kann es auch das „System Metaphysik“, „System Philosophie“ oder das „System Weltanschauung“ nennen, aber er bevorzugt den Begriff „System Religion“, weil er auf die fundamentalanthropologisch eingeführte und handlungstheoretisch ausgebaute Gewissheitstheorie zurückgreifen kann, mit der er die existenzielle und zielwahlorientierende und -motivierende Bedeutung des Funktionssystems aufweist (ders., Grundzüge, in: GG, 76 Fn. 24). 139  Wird der Handlungsbegriff auf die kreative Intentionalität ausgeweitet, muss ein Begriff von Sport und Kunst entwickelt werden, der nicht dem weltanschaulichen Funktionssystem untergeordnet ist.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Herms dem Religionssystem obliegt.140 Ob aber alle Institutionen, die Integration leisten, als weltanschaulich bzw. religiös charakterisiert werden müssen, ist fraglich.141 Diese Anfragen spitzen sich im Außenverhältnis der Religion zu anderen Funktionsbereichen zu: Denn es besteht der Vorwurf, dass Herms der Religion im gesellschaftlichen Gesamtrahmen eine dominante Stellung einräumen will. Norbert Tofall bezichtigt Herms, dass er z.B. die Ökonomik wieder zur „Magd“ der Theologie machen wolle.142 Dieser Einwand ist nur bedingt berechtigt. Denn Herms geht davon aus, dass die Teilordnungen „gleichursprünglich“ sind und hinsichtlich ihrer Leistungen „irreduzibel verschiedenen Grundaufgaben“ zugeordnet sind.143 Entscheidend ist es, dass jeder Teilordnungsbereich sich auf die Erfüllung der eigenen Funktion (unter Berücksichtigung der Selbstständigkeit der anderen Grundfunktionen, ihrer Organisationen und Sachwalter) beschränkt. Somit wird klargestellt, dass diese Funktionsbereiche subsidiarisch ausdifferenziert werden müssen und Religionen und Weltanschauungen nur auf Kosten der eigenen Bestimmung in andere Ordnungen eingreifen. Insofern liegt hier ein nicht zu vernachlässigender religionskritischer Aspekt bei Herms vor (vgl. III.3.B.ii). Für die Bewertung der Globalisierungsprozesse wird diese Ausbalancierung der Funktionssysteme als weitsichtig zu bewerten sein (vgl. III.3.A.ii). Dennoch stehen die Funktionsbereiche bei Herms in einer „natürlichen Hierarchie“: Die politische Interaktion ist fundamental, weil in ihr Regelbefolgung sichergestellt wird, aber die Ziele dieser Regeln liegen schon in ethischen Überzeugungen vor, die in der religiös-weltanschaulichen Teilordnung erlangt werden. Gegenüber den politischen und weltanschaulichen Bereichen haben Wirtschaft und Wissenschaft eine mediale Funktion. Die wissenschaftliche Sphäre entdeckt gleichsam die Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele; 140  Wolfgang Huber bemängelt im Vergleich mit der Aufteilung, die Talcott Parsons in Anwendung seines AGIL-Schemas vorlegt, dass die soziale Integration im hermsschen Schema fehlt und sich durch ihre Ersetzung mit der technischen Wissenschaft eine „Kolonia­ lisierung der Lebenswelt“ (in Anlehnung an Habermas) vollzieht (ders., Kirche, 166 f.). In einer kurzen Erwiderung wirft Herms Huber vor, den „elementarsten methodischen Fehler“ zu begehen, indem er einen Vergleich zweier vollständig unterschiedlicher Herangehensweisen vollzieht (Herms, Kirche in der Zeit, in: KW, 251 Fn. 29). Es müsste deshalb ein ausführlicher Vergleich zwischen Parsons, Luhmann und Herms durchgeführt werden. 141  Sicherlich haben Sport, Kunst und ‚Entertainment‘ weltanschauliche Bezüge; diese so zu betonen, wie Herms dies im Sinn hat, überdehnt aber den Weltanschauungsbegriff. 142  Tofall, Eigenart, 14 (in einer FAZ-Rezension von WM). Es sei „offensichtlich, daß Eilert Herms die Ausdifferenzierung der Ökonomik aus der mittelalterlichen Moralphilosophie und Theologie nicht wirklich ernst nimmt. Die Ökonomik hat sich nach den europäischen Glaubenskriegen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts als eine sozialwissenschaftliche Disziplin entwickelt, die systematisch auf den Rückgriff auf Instanzen verzichtet, die dem Wollen und den Präferenzen der Individuen extern bleiben, wie beispielsweise Gott, der Kosmos, die Natur, die Gesetze der Geschichte.“ (Ebd.) 143  Herms, Kirche in der Zeit, in: KW, 243.

III.1. Apologie des Pluralismus

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die ökonomische Interaktion ermöglicht es, diese Mittel ein- und umzusetzen.144 Anders ausgedrückt, die wechselseitige Abhängigkeit der Teilsysteme ist „asymmetrisch“: Der Einfluss der Religion auf die Systeme Wissenschaft, Politik und Wirtschaft ist „radikaler“ als umgekehrt, weil eben die unverfügbare „Stiftung“ ethischer Gewissheit die Evolution aller anderen Systeme bedingt.145 Insofern kann von einer konsequenten Ausbalancierung der Teilordnungen nicht die Rede sein.146 Gerade wenn die wechselseitige Verwiesenheit der Systeme durchgehalten würde, könnten auch die Ethosgestalten, die Herms im Religionssystem aufnimmt, auf neue Erfahrungshorizonte stoßen und Korrekturen ihrer tradierten ethischen Überzeugungen durch Rationalitätsimpulse aus den anderen Funktionsbereichen empfangen.147 Ist die Sozialtheorie von Herms in ihren Grundzügen eingeführt, stellt sich die Frage, inwiefern dieser christliche Entwurf eine Beschreibung faktischer gesellschaftlicher Zusammenhänge oder eine normative Vorgabe leisten will. Wie hängen die deskriptive Leistung einer Sozialtheorie und die normative Begründung seiner Sozialethik zusammen? ii. Ethos und Ethik; Deskription und Normativität; Sein und Sollen „Ethik ist die Theorie eines Ethos“.148 Das Ethos bezeichnet laut Herms das grundlegende Gesamtgefüge der Überzeugungen und Institutionen einer weltanschaulichen oder religiösen Gemeinschaft. Es stellt somit nicht nur die inneren Haltungen dar, sondern umfasst auch die äußeren Gewohnheiten der jeweiligen Gemeinschaft. Deshalb kann Herms ‚Ethos‘ mit ‚Kultur‘ gleichsetzen, von ‚Gesellschaft‘ aber abgrenzen: In einer Gesellschaft bestehen mehrere 144 

Herms, Weltwirtschaftsordnung, in: WM, 243, 263. Herms, Bedeutung der Religion, in: Korff, Wirtschaftsethik, 681. 146  Zudem ist die Interferenz der Funktionsbereiche noch unterbestimmt. So sind z.B. alle Teilsysteme mehr oder weniger verrechtlicht und keine Einzelsphäre dem ökonomischen Haushalten oder politischer Willensbildung entzogen. Insofern gibt es Wirtschaft und Politik sowohl als einzelnes Funktionssystem wie auch als Interaktionsprinzip in der Gesamtgesellschaft. Im Verlauf der letzten Jahre präzisierte Herms zwar zunehmend diese Unterschiede, indem er von Ökonomie und Politik sowohl im weiten wie im engen Sinne spricht (vgl. III.3.A). Bei der Ethik fehlt allerdings solch eine Unterscheidung. Ihr überträgt er nach wie vor die Kompetenz der Zielwahlorientierung für die Gesamtgesellschaft. In diesem Sinne wird in der Tat eine Deutungshoheit für die Religionen und ihre Organisationen geltend gemacht. 147  Zwei Ebenen solcher Rückkopplungseffekte müssen unterschieden werden: Neben den Eigendynamiken (die angesprochenen Prozesse der „Selbstinstitutionalisierung“) müssen die Eigenrationalitäten der jeweiligen Funktionsbereiche berücksichtigt werden, die sich auf die ethischen Überzeugungen auswirken. Und diese Rückkopplung ermöglicht auch berechtigte Kritik an der Ethik; denn z.B. mit Blick auf die effiziente „Umsetzung moralischer Zielvorstellungen ist die Logik der Ökonomik dem […] Repertoire einer sich um Praxisrelevanz mühenden Sozialethik deutlich überlegen“ (Höhn, Zeit, 262). 148  Herms, Ethik und Ökonomik, in: WM, 54. Im Folgenden greife ich auf diesen Text zurück. 145 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

ethische Gemeinschaften nebeneinander (vgl. zur Diskussion III.3.A.i).149 Da es ein Handeln außerhalb eines solchen Ethos nicht gibt, ist Ethik die umfassende Theorie allen Handelns. Anders als bei Habermas besteht kein Anlass zur Unterscheidung zwischen Ethik und Moral, zwischen einer Theorie des Guten und des Gerechten. Moral wird vielmehr „äquivalent“ zum Begriff des Ethos verwendet.150 Ethik kann nicht außerhalb eines konkreten Ethos erarbeitet werden, denn das Ethos oder die Moral bilden die Grundlage und den Kontext für ethische Reflexion und binden diese an die jeweilige tradierte Perspektive: „Eine aperspektivische Ethik gibt es nicht.“151 Herms unterscheidet deskriptive und normative Aufgaben in der Ethik. Die deskriptiven Aufgaben sind fundamental für die Entwicklung normativer Theo­rien.152 Mit ‚deskriptiv‘ bezeichnet Herms sowohl die kategoriale (oder konzeptuelle) als auch die empirische Teilaufgabe. Die kategoriale Betrachtung macht die impliziten Überzeugungen – also die perspektivisch verfassten Daseinsgewissheiten – über die universale Struktur des Werdens bewusst. Diese Kategorien sind insofern universal, als sie den Möglichkeitsraum der gesellschaftlichen oder ethischen Evolution (als Synonym für Geschichte) abbilden.153 Erst im Horizont dieser kategorialen Begriffsbestimmung kann die empirische Teilaufgabe gelöst werden: Dazu gehört laut Herms erstens die Beschreibung eines gegebenen Ethos zu einem konkreten Zeitpunkt. Dabei ist es von Bedeutung, die ursächlichen Faktoren, die gegenwärtige Gestalt und die Entwicklungstendenzen zu bestimmen. Erst solch eine weite Erfassung eines Ethos als geschichtliche Größe ermöglicht den Vergleich mit anderen Ethos­ kon­stella­tio­nen. Daraufhin können zweitens einzelne Handlungen bzw. Handlungszusammenhänge beschrieben werden. Jede Entscheidung ist im Horizont einer bestimmten Ethosgeschichte zu verstehen und insofern kann Herms resümieren: „Alle Entscheidungen haben kraft dieses Kontextes eine 149  Indem Herms die Institutionen berücksichtigt, setzt er einen wichtigen Akzent gegenüber den Ethosdefinitionen, die sich auf die ‚inneren‘ Überzeugungen beschränken. 150  Herms, Moral, in: RGG, 1484. 151  Herms, Ethik und Ökonomik, in: WM, 55. 152  Vgl. Herms, Politik, in: RGG, 1451 f. Für eine andere Verhältnisbestimmung, vgl. ders., Globalisierung, in: WM, 255. Dort wird kategoriale und angewandte Ethik unterschieden und die angewandte Ethik hat eine deskriptive und normative Funktion. Der Hauptunterschied besteht m.E. lediglich darin, dass die topische Ethik hier stärker berücksichtigt wird. 153  Alle großen Theorien der Gesellschaft („von Hume bis Hayek“) basieren nach Herms auf einer solchen Fundamentalanthropologie. Derartige Konzepte beachten: 1. die Differenz und den Zusammenhang zwischen manifesten Institutionen und den Überzeugungsbeständen; 2. die Differenz zwischen ethisch und technisch orientierenden Überzeugungen; 3. dass alle ethischen Überzeugungen nur in „leibhaft manifesten Gewohnheiten und Institutionen“ tradiert und entwickelt werden können; 4. dass verschiedene Funktionsbereiche einer Gesellschaft ausgebildet werden (Herms, Ethik und Ökonomik, in: WM, 57).

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ethische Bedeutung.“154 Daran schließt sich die normative Aufgabe an. Der Übergang von der deskriptiven (also kategorialen und empirischen) zur normativen Funktion einer Ethik ist für Herms insofern notwendig, als die Beschreibung des Gegebenen eine Entscheidung über dessen Gültigkeit fordert. Bezieht man an dieser Stelle die Leitfrage der Arbeit wieder ein, kann bereits in Ansätzen verdeutlicht werden, welchen Beitrag Herms zur sozialethischen und sozialtheoretischen Frage nach den Möglichkeitsbedingungen des Zusammenlebens liefert. Die entscheidende Orientierungsleistung für die Theorie und die Praxis der Koexistenz kommt aus der jeweiligen Weltanschauung, denn diese bestimmt den Möglichkeitsraum des Denkens und Handelns. Bezeichnend ist dabei das ganzheitliche, integrative Motiv des hermsschen Zugangs, der den Einzelnen in den Horizont des gesellschaftlichen Ganzen rückt: Ohne die Erkenntnis der Verantwortlichkeit für die Gesamtordnung erreicht kein Einzelner seine persönliche Bestimmung und das Kriterium dieser Wohlordnung ist der Grad der Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, welches jene dem Individuum gewährt. Das ganzheitliche Grundmotiv wird in drei Teilmotiven unterstrichen und verdeutlicht. Zunächst ist die Integration der Frage nach dem ‚Gerechten‘ in diejenige nach dem ‚Guten‘ zu bemerken: Sowohl die Beschreibung als auch die Bewertung jedweder Form des Zusammenlebens sind an die Überzeugungen und Gewissheiten der Akteure gebunden. Zwar unterscheidet Herms diese Aspekte der Ethik, aber sie sind unauflösbar aufeinander bezogen. In diesem Sinne wird auch die Differenzierung zwischen ‚Gutem‘ und ‚Gerechtem‘ eingezogen; für Herms geht die deontologische Fragestellung an der Realität des Menschseins vorbei (vgl. III.2.D.ii). Dabei fällt auf, dass er die Kommunitarismus-Liberalismus-Debatten kaum rezipiert, was insofern bemerkenswert ist, als seine Auseinandersetzungen diese Diskussion implizit reflektieren: Die bei Platon und Aristoteles ansetzende Theorie des Guten, der Rückbezug auf einen Begriff der Tugenden und die im Horizont von bestimmten Wertorientierungen und Gemeinschaften eingebundenen Individuen lassen sich als gemeinsame Anliegen von Herms und kommunitaristischen Autoren formulieren (vgl. I.2.B).155 Zwei Pointen zeichnen die Position von Herms dieser Theorierichtung gegenüber aus. Zum einen besteht sein Interesse darin, die Güter- und Tugendethik 154  Herms, Ethik und Ökonomik, in: WM, 58; vgl ders., Ethik, in: RGG, 1622; Ganzheit, in: PG, 369–379. 155  Missverständlich ist der Ansatz von Bäder-Butschle: Im Vergleich mit Michael Walzer werden drei protestantische Ethiker, nämlich Johannes Fischer, Stanley Hauerwas und Eilert Herms mit ähnlichen Theorien dargestellt, weil sie alle einen hermeneutischen und nicht normativistischen Zugang hätten und die Bedeutung der fundierenden Ebene sowie das Pluralismusproblem herausarbeiten (ders., Welt, 118 ff.). Das Missverständnis liegt im Begriff der Hermeneutik, da die hermssche Konzeption eher als phänomenologisch und fundamentalontologisch zu charakterisieren ist. Die deutliche Unterscheidung zwischen Herms und J. Fischer z.B. wird bei Bäder-Butschle nicht berücksichtigt.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

mit einer Pflichtenethik zu verschränken, mit der er das ‚Sollen‘ als integrales Moment des ‚Seins‘ charakterisiert: Aus der Selbsterschlossenheit ergibt sich unweigerlich eine bestimmte Affektlage, die den Lebenstrieb orientiert und das ‚Wollen‘ impliziert. Zum anderen unterscheidet die hermssche Konzeption vom ‚Kommunitarismus‘, dass er einen radikalen Wertepluralismus voraussetzt, der bereits im Ansatz als religiös charakterisiert wird. Somit wird die ethische Verhältnisbestimmung von ‚Gutem‘ und ‚Gerechtem‘ als unabweisbare Herausforderung der Religionen thematisiert.156 Zugleich werden die Anliegen des formalen Gerechtigkeitsbegriffs liberalistischer Herkunft von Herms als „inakzeptabel“ abgetan, weil der Gleichheitsbegriff dieser Denkrichtung für die materialen Differenzen nicht sensibel ist.157 Die Gerechtigkeitstradition, die vor allem seit Kant interkulturell anschlussfähige, formale Kriterien erarbeitet, wird von Herms deshalb ausgeschlossen (vgl. III.3.A.ii). Bei aller berechtigten Kritik an der deontologischen Fragestellung bleibt allerdings in ihr ein wesentliches Wahrheitsmoment bestehen: Die Universalisierung von Handlungsmaximen durch die kognitive Perspektivenübernahme mag, wie Habermas feststellt, eine Projektion sein, sie leitet aber zum Verständnis des epistemischen Konstrukts der Gleichheit aller Menschen und Kulturen an.158 Diese Perspektivenübernahme hat einen anderen Richtungssinn als der Allgemeinheitsanspruch einer Güterethik; sie bietet die Möglichkeit der Überprüfung der eigenen Überzeugungen mit dem kognitiven ‚Test‘ ihrer Universalisierbarkeit (vgl. die Diskussion unter III.2.D.ii; III.3.B.ii). Herms könnte nun einwenden, dass die Diskussion zwischen Kommunitaristen und Liberalisten nicht die entscheidende Trennlinie darstellt, die es aktuell in der Ethik zu beachten gilt. Diese liegt vielmehr auf der fundamentalanthropologischen Ebene und betrifft die Fragen nach dem präzisen Zusammenhang von Freiheit und Kausalität und dessen Erkennbarkeit. Die Antworten auf diese Fragen werden nach Herms Aufschluss darüber geben, wie Verantwortungsfähigkeit, ihre Konstitution und Entwicklung verstanden werden und somit wie das Zusammenleben überhaupt gestaltet werden kann. Interessant ist, dass Herms hier „eine Koalition“ zwischen theologischer Ethik im Allgemeinen und dem „phänomenologischen Personalismus“ für geboten hält, weil beide „in Opposition gegen die Leugnung“ von Freiheit und der daraus folgenden physikalistischen, behavioristischen Verhaltensbegriffe stehen: Herms ruft gleichsam dazu auf, den bisherigen Konsens zwischen christlicher Ethik und vielen humanistischen Positionen zu pflegen.159 In dieser Hinsicht besteht eine auffällige Parallele zur Einschät156  Der pluralistische Blick auf das Gute und der Bezug zu den Religionen ist für kommunitaristische Denker bisher relativ neu, so Reese-Schäfer, Kommunitarismus, 1532. 157  Herms, Bedeutung der Weltanschauungen, in: Nüssel, Ethik, 66 f. 158  M. E. führt auch Herms eine deontologische Argumentation letztlich ein, denn er verweist auf eine jedem sprach- und handlungsfähigen Menschen zumutbare kognitive Einsicht der allgemeinen, passiven Konstitution des Menschen. Dieses Argument wird aber auf einer anderen Ebene eingeführt, denn es bezieht sich auf die unverfügbare Selbsterschlossenheit und nicht auf die Konstruktionsleistung der Vernunft. 159  Herms, Ethik, in: RGG, 1618 f.

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zung der aktuellen ethischen Herausforderung bei Habermas, der die wesentlichen Differenzen in der Bioethikdebatte nicht zwischen religiösen und säkularen Bürgern erkennt, sondern zwischen Hume und Kant: Die Menschheit muss sich laut Habermas für oder gegen das nietzscheanische Großexperiment des Lebens entscheiden.160

Sodann ist die integrative Funktion der Religion für die soziale Identität einer Person zu beachten: Die religiöse Gewissheit bietet gleichsam die verbindende und antreibende Achse für die Identität eines Individuums in seiner sozialen Umgebung. Mit dieser Operationalisierung der Religion gelingt Herms eine zweifach bedeutsame Beschreibung des Zweckes von Religion in der Gesellschaft. Nach innen, also für Theologie und Kirche bestimmt, bietet sein Modell die theoretische Anschlussfähigkeit der Frömmigkeit an die grundlegenden Funktionssysteme einer Gesellschaft. Der Glaube wird als unabweisbares Element jedweder Sozialordnung bestimmt. Im Außenverhältnis zur Sozialphilosophie und zu den Humanwissenschaften stellt Herms seine theologische Sozialethik als exemplarische Reflexion einer Weltanschauung dar, die ihre Grundannahmen über die Möglichkeitsbedingungen des Handelns offenlegt. Dabei sind Nachfragen an das integrative Moment der religiösen Gewissheit zu richten: Sind die sozialpsychologischen Erkenntnisse, die auf die verschiedenen Rollen hinweisen, die Menschen in unterschiedlichen Funktionssystemen einnehmen, in der hermsschen Theorie unterzubringen? Inwiefern kann sein Modell diese Herausforderung divergierender Rollenerfordernisse, die in ausdifferenzierten Gesellschaften zu beobachten sind, berücksichtigen? Ulrich Barth verweist auf die entsprechende Theorieentwicklung: Erving Goffmann arbeitet demnach im Anschluss an George Herbert Mead heraus, dass die Vermittlung von verschiedenen Identitätsebenen (sozialer Identität, personaler Identität und innerer Ich-Identität) „ein hochgradig konstruktives Identitätsmanagement vonseiten des betreffenden Individuums“ voraussetzt; und durch Lothar Krappmann wird diese Einsicht ergänzt, indem dieser die Leistung ausbalancierter Identität als „das Werk einer interpretativen Selbstintegration“ würdigt.161 Barth argumentiert nun, dass angesichts dieser zentralen Stellung des Vermögens interpretativer Vernunft die vermittelnde Selbstdeutung im Gegensatz zur gegebenen Selbstgewissheit für das integrierende Moment der Religion in der Identitätskonstitution zu betonen ist. Die Deutung setzt gegenüber der Gewissheit stärker aktive, konstruktivistische Akzente. Darauf ist zurückzukommen (III.2.B.ii; III.3.B.iii), aber die Unterscheidung wird bereits im Folgenden deutlich. Denn schließlich ist das bestimmende Moment der religiösen Überzeugung für jedwede moralische Argumentation zu beachten: Herms bestimmt die Form 160 

Habermas, Replik auf Einwände, in: Langthaler, Glauben, 402. U. Barth, Theoriedimensionen, 50–62, hier 62, mit dem Aufriss zu Mead, Goffmann und Krappmann. 161 

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aus dem Inhalt, die Vernunft aus der christlichen Überzeugung, universale Aussagen aus der partikularen Erfahrung. Er weiß wohl, dass dies eine „paradoxe“ Position darstellt.162 Denn aus partikularen Perspektiven einer Lebensanschauung werden Urteile über alle möglichen Ethosgestalten gefällt. Das Paradoxon zwischen der perspektivischen Relativität ethischer Urteile und ihrer universalen Reichweite sei aber nicht notwendigerweise ein Widerspruch: Ohne Selbstrelativierung der eigenen Position sei nämlich keine Offenheit für andere Überzeugungen möglich; ohne universalen Anspruch wäre dagegen die eigene ethische Überzeugung indifferent. Das Paradoxon ist nach Herms auszuhalten, wenn folgende Bedingungen erfüllt werden: „Innerhalb“ der Ethostraditionen müssen die deskriptiven und normativen Aufgaben so erfüllt werden, dass die Selbstrelativierung sich aus dem eigenen universalen Anspruch ergibt. Dann können „zwischen“ verschiedenen Ethosgestalten Verständigungsbemühungen einsetzen, die in wechselseitiger Anerkennung friedliche, egalitäre Koexistenz ermöglichen.163 Die Möglichkeit der Verständigung wird allerdings im hermsschen Werk als stark eingeschränkt kritisiert: Michael Roth fragt, „ob Herms tatsächlich zu einem interdisziplinären Gespräch anleitet, wie er es selbst intendiert, oder ob er ein Forum skizziert, in dem sich verschiedene Weltanschauungssysteme ihre Weltdeutungen vortragen, ohne an einem gemeinsamen Verstehensprozess teilzunehmen“.164 Teilnehmer am Diskurs über das Zusammenleben werden unter dem Gesichtspunkt der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Funktion, nicht im Rahmen der Möglichkeit neuer gemeinsamer Erkenntnisse wahrgenommen. Stefan Grotefeld bemerkt dazu,165 dass unter den von Herms beschriebenen Bedingungen ein eigentlicher Diskurs nicht denkbar ist: Das Problem entsteht dadurch, dass der unverfügbare Charakter der Daseinsgewissheiten betont und zugleich diese Thema eines Diskurses werden sollen. Ein argumentativer, auf Gründen basierter Austausch ist im Umgang mit kontingent entstandenen Überzeugungen nicht sinnvoll.166 Stimmt diese Kritik, dann droht in der Tat die Immunisierung der einzelnen Positionen (weil keine argumentative Korrektur möglich ist), und zugleich wäre die Überforderung ethischer Verständigung durch die ausschließliche Orientierung an den Weltanschauungen zu konstatieren. Die Kritik ist nicht unberechtigt, sie muss aber differenziert werden: Letztbegründung scheidet als Möglichkeit moralischer Kommunikation für Herms 162 

Herms, Ethik und Ökonomik, in: WM, 61. Ebd. (Hervorhebung im Original) 164  Roth, Theologie, 517 Fn. 53. 165  Vgl. Grotefeld, Überzeugungen, 139–157; ders., Distinkt, 262–284. 166  Dann ist nach Grotefeld das hermssche „Verständnis von Verständigung“ defizitär, weil ethische Positionen nur bezeugt, aber nicht begründet oder behauptet werden können (aaO. 271). 163 

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jedenfalls aus, denn jene ist nur im Horizont des Geltungsanspruchs einer Obernorm möglich; diese ist aber in vielfacher Weise umstritten (nämlich ihr Inhalt und ihre Konstitution), und dieser Streit kann nicht durch Gründe, sondern nur durch Explikation der Überzeugungen geführt und beigelegt werden – d.h. die Grund- oder Obernorm wird „nicht argumentativ begründet, sondern nur daseinsanalytisch expliziert“.167 Herms räumt aber sehr wohl für die der Obernorm sich anschließenden Normen die Möglichkeit argumentativer Begründung und Rechtfertigung ein. Auf dieser Ebene findet ein diskursiver Austausch statt. Die entscheidende Frage also im Folgenden ist, wie weitreichend dieser argumentative, auf Gründen basierende Diskurs ist oder wie stark er durch die Überzeugungen der jeweiligen Teilnehmer bestimmt wird. Nach Herms ist es letztlich entscheidend, „realistische Wege der Verständigung über unterschiedliche Obernormen“ zu suchen.168 Wie dieser ‚Realismus‘ aber aussieht, wird noch nicht deutlich. Zusammenfassend sind einige Eckpunkte aufzugreifen: Herms geht davon aus, dass jede Beschreibung und Bewertung von sozialer Ordnung an ein die Vernunft bildendes Daseinsverständnis gebunden ist. Infolgedessen sind ‚Ethosgemeinschaften‘ für die Zielwahlorientierung einer Gesellschaft konstitutiv und jedwede Theorie der Sozialität an weltanschauliche Überzeugungen gebunden. Konsequent beschreitet er selbst diesen Weg in der Explikation einer christlich-theologischen Sozialtheorie und -ethik. Diese bietet insofern eine egalitäre Ausgangsbasis für den pluralistisch verfassten Weltanschauungsdiskurs in der Gesellschaft, als jede Ethosgemeinschaft zunächst auf die Klärung der eigenen handlungs- und sozialtheoretischen Überzeugungen und Obernormen verwiesen ist. Keine Kultur, Religion oder Philosophie kann eine neutrale Position für sich beanspruchen. Wie aber wird der Diskurs über das gemeinsame Anliegen des Zusammenlebens durchgeführt? Werden lediglich die Obernormen vorgetragen und abgeglichen? Inwiefern sind diese tatsächlich dem argumentativen Diskurs entzogen? Bei Herms besteht die Gefahr, dass das handlungsorientierende und -motivierende Daseinsverständnis lediglich aus der religiösen Gewissheit hergeleitet wird. Somit wird der weltanschauliche Diskurs auf den Austausch von Überzeugungen reduziert und die deutenden, konstruktiven und somit aktiven Elemente werden nicht hinreichend berücksichtigt. Bevor allerdings diese Überlegung im Folgenden verdeutlicht wird, ist die hermssche Wissenstheorie zu analysieren, denn diese wird den Rahmen seiner Gesamtkonzeption abrunden und zugleich präzisieren.

167 

Herms, Ethik, in: RGG, 1620 (Hervorhebung im Original).

168 Ebd.

200

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III.1.D. Was können wir wissen? Erkennen ist nach Herms ein Handeln. Und Handeln wird durch die Überzeugungen des Handelnden orientiert. Insofern ist die Wissens- und Wahrheitstheorie systematisch der Handlungs- und Gewissheitstheorie nachgeordnet. Diese Stellung entzieht ihr allerdings nicht ihre Bedeutung. Wie ‚Wissen‘ und ‚Wahrheit‘ begriffen werden, ist für die Befriedung des interkulturellen Konflikts von größter Signifikanz; denn die egalitäre Ordnung des weltanschaulichen Pluralismus lässt sich nur unter Berücksichtigung der unverfügbaren Hintergrundannahmen jedweder Positionierung in diesem Konflikt errichten. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, müssen einige Problemkomplexe in gebotener Kürze referiert werden. Ziel ist es, die von ihm eigens definierten Begriffe der ‚Ontologie‘ (i), ‚Phänomenologie‘ (ii), ‚Offenbarung‘ und schließlich der ‚Vernunft‘ (iii) unter dem Gesichtspunkt der Begründung des unhintergehbaren Pluralismus zu erfassen. i. Rechtfertigung – erste Definition von Metaphysik und Ontologie169 Seit der Veröffentlichung des Werkes Rechtfertigung mit Wilfried Härle im Jahr 1979 weist Herms darauf hin, dass in der Dogmatik nicht Einzelthemen der christlichen Verkündigung, sondern das christliche Wirklichkeitsverständnis expliziert wird. In dieser Weise wird der Rechtfertigungsglaube als „umfassende Selbstauslegung des christlichen Glaubens“, als Charakterisierung der „Existenzverfassung“ der Wirklichkeit eingeführt (10). Wird die Rechtfertigungslehre lediglich im Rahmen einer Anthropologie behandelt, so Herms, ist dies gegenüber ihrer metaphysischen Einordnung eine Engführung; sie verliert ihre „Relevanz“ (54). Die partikulare Sicht des Glaubens – das wird hier noch deutlicher als bisher hervorgehoben – soll im Horizont allgemeiner, philosophischer Begriffe entfaltet werden. Entscheidend ist, dass für Herms bereits früh die Positionalität in der Bestimmung des ‚Allgemeinen‘ feststeht. Hierin bezieht er sich wiederholt auf Wolfgang Stegmüllers Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft. Trotz der Unlösbarkeit des Problems der Evidenz sind Evidenzvoraussetzungen sowohl für die Metaphysik als auch für die Wissenschaft insgesamt unentbehrlich; beide können nach Stegmüller also letztlich nicht begründet werden, sondern setzen bereits eine Entscheidung voraus. Dieser Grundgedanke wirkt nachhaltig auf die im Folgenden darzustellende Wissenstheorie von Herms.170

In diesem Sinne reiht Herms die Rechtfertigungslehre und die bisher behandelte Anthropologie in eine Wissenschaftstradition ein, die ihre Aufgabe in der Erfassung derjenigen Bestimmungen sieht, „die das in der Welt Seiende bloß als 169  Herms/Härle, Einleitung, in: R, 10; Herms, Die Rechtfertigung als Ontologie, in: R., 41–77. Seitenzahlen im Folgenden im Text. 170  Vgl. die Belege in: ders., Verständnis vom Menschen, in: ZWW, 14; ders., Schleier­ machers Verständnis, in: MW, 481 u.v.a.

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solches, also bloß als in der Welt Existierendes hat“ (41). Spätestens seit Aristoteles beschäftigt sich die Philosophie mit dem Seienden bloß als solchem und vollzieht dies unter dem Begriff der „Metaphysik“. Herms verwendet den Begriff der „Ontologie“ somit als Teil der „Metaphysik“.171 „Ontologie“ ist die Bezeichnung eines bestimmten metaphysischen Aussagebereiches: nämlich die „welthafte Existenz“ unter dem Gesichtspunkt des „Existierens“ (44 f.).172 Indes teilt er diejenige Metaphysikkritik, in der Metaphysik als eine „Theorie über eine Hinterwelt“ abgelehnt wird (ebd.). Vielmehr bezweckt er den Aufweis der lebenspraktischen Funktion von Metaphysik als Rahmentheorie, in der das in Zukunft Erwartbare und das in der Vergangenheit Geschehene expliziert werden, um das in der Gegenwart Mögliche (die Handlungschancen) zu klären. Insofern stellt Metaphysik „faktisch ein Strukturmoment jeder rationalen, sinnvollen, ihre Ausgangsbedingungen, Ziel und Mittel erwägenden Lebenspraxis dar“ (49; Hervorhebung im Original). In der Metaphysik werden diejenigen Kategorien geklärt, die den Horizont der Erfahrungswelt und ihren Möglichkeitsraum abstecken. Derartige kategoriale Aussagen sind von empirischen Aussagen zwar logisch verschieden, aber sie sind zugleich miteinander in konstitutiver Weise verbunden. Der logische Unterschied besteht für Herms darin, dass empirische Aussagen partikulare Sachverhalte (Einzelfälle oder Mengen/Klassen von solchen) zum Gegenstand haben, kategoriale Aussagen dagegen das mögliche Seiende; insofern haben diese Aussagen gegenüber jenen universale Reichweite. Dabei bedingen sich für Herms (und an dieser Stelle auch für Wilfried Härle) kategoriale und empirische Aussagen, weil die Kategorien sich an der Erfahrung „zeigen“ und die Erfahrung durch die kategoriale Arbeit bewusster und verantwortlicher reflektieren lässt (11). In der logischen Differenz zwischen empirischen und metaphysischen Aussagen zeigt sich kein Dualismus, sondern es zeigen sich nur zwei Aspekte der einen erkennbaren Wirklichkeit. Die erkennbare ist aber nach Herms – so ist dieses Kapitel eingeführt worden (III.1.A) – die erscheinende Wirklichkeit. Was heißt das? ii. „Theologie als Phänomenologie des christlichen Glaubens. Über den Sinn und die Tragweite dieses Verständnisses von Theologie“173 In diesem Text aus dem Jahr 1994 wird der erkenntnistheoretische Zugang zur erscheinenden Wirklichkeit präzisiert und die frühe hermssche Erfahrungstheorie zu einem Modell der Phänomenologie fortentwickelt.174 Indem Herms „Phänomenologie“ als „die Erkenntnis und sprachliche Darstellung der Er171  Herms verbindet existenzial- (Heidegger) und formalontologische (Husserl) Aspekte des Ontologiebegriffs (vgl. Enskat, Ontologie, 566–8), der allerdings weiterer Klärung bedarf (vgl. III.2.B.ii; III.3.B.ii). 172  In der Kosmologie steht dagegen die Welthaftigkeit im Mittelpunkt. 173  Herms, in: PG, 205–237. Seitenzahlen im Folgenden im Text. 174  Vgl. Herms, Vorwort, in: OG, I–XXII; ders., Schöpfungsordnung, in: OG, 431–456; ders., TE; Goltz, Werden, 254 ff. für eine präzise Zusammenfassung.

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kenntnis von Erscheinendem (Offenbarem) als solchem, d.h. in seinem Erscheinen“ definiert (206), positioniert er sich innerhalb der Diskussion über die breit gefächerten materialen Verständnisse von dem, was als „Phänomen“ verstanden wird: Er wählt einen transzendentalen Begriff der Verfassung von Erscheinendem. Dieses ist „da als erkennbar für eine zu seiner Erkenntnis fähige Instanz“ (216). Das erkenntnistheoretische Ziel liegt darin, den Gegenstandsbezug aller Erkenntnis zu bestimmen und sich von ihm in der Theoriefindung leiten zu lassen, d.h. sich am Vorgegebenen, am Erscheinenden auszurichten. Nun umfasst die Sphäre des Erscheinenden in erster Linie uns selbst: Erscheinendes als solches „ist verfaßt als endliches Selbst“ (207). Der vorgegebene Gegenstand der Erkenntnis ist jeweils der Erkennende selbst, sein reflexives Selbstverhältnis oder sein Sich-selbst-Erschlossensein. In jedem beliebigen Erkenntnisprozess ist immer dieser Charakter der Selbsthaftigkeit mitpräsent. Ist nun diese Selbsthaftigkeit von Herms als Erscheinendes für Instanzen, die erkenntnisfähig sind, eingeführt,175 wird aus diesem ‚als…für‘ Verhältnis Allgemeines, Einzelnes und Individuelles bestimmt: Das Erscheinende ist Einzelnes, das für den jeweiligen Erkennenden als individueller Fall eines Allgemeinen auftritt. Jedes Erscheinen gilt einer einzelnen, bestimmten „Instanz als sie selbst im Unterschied zu möglichen gleichartigen anderen.“176 Sie ist sich in ihrem unmittelbaren Selbstbewusstsein „als jeweils ein unverwechselbarer Einzelfall neben anderen gleichartigen“ erschlossen.177 Im Selbstverhältnis eröffnet sich somit der Horizont einer „Welt“, verstanden als „der Inbegriff der Konditionen des möglichen ‚Ko‘existierens von als Verschiedenes Erscheinendem unter identischen Bedingungen“ (220). Selbsthaftigkeit impliziert Welthaftigkeit. Konkret sei Selbstreflexion erst dann, wenn nicht nur der Einzelfall, sondern immer auch das den Einzelfall bestimmende Allgemeine erfasst wird. Vom Selbst- und Umweltverhältnis wird das Ursprungsverhältnis nochmals phänomenologisch abgesetzt, weil es der konstituierende Grund (das „Woher“) des Erscheinenden ist (222 ff.).178 Das Selbstverhältnis (und somit Welt- und Ursprungsverhältnis) ist unvermeidlich perspektiviert: Das Wesen der Selbsthaftigkeit wird so zugänglich, dass es für den jeweiligen Erkennenden aus seiner Perspektive erfassbar ist. Alle Erkenntnisprozesse sind „durchgängig perspektivisch gebrochen“.179 Mit dieser Behauptung wird die unhintergehbare Perspektivität aller Erkenntnis transzendentaltheoretisch eingeholt. Das heißt: Die Phänomenologie selbst wird als eine 175 Genauer: „Das, was für die zur Erkenntnis fähigen und bestimmten Instanzen jeweils als durch sie zu erkennen vorgegeben ist, sind jeweils sie selbst […]“ (Herms, Theologie als Phänomenologie, in: PG, 220; Hervorhebung im Original). 176  Herms, Schöpfungsordnung, in: OG, 433. 177 Ebd. 178  Vgl. Stock, Phänomenologie, 1257. 179  Herms, Schöpfungsordnung, in: OG, 434.

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spezifische Perspektive eines bestimmten Phänomenologen entfaltet, die zugleich den Anspruch erhebt, das Formgesetz allen Erscheinens, die formalen Wesenszüge der Phänomenologie überhaupt aufzustellen.180 Es ist nun umstritten, ob diese Verallgemeinerung tatsächlich phänomenologisch eingeholt werden kann. Lukas Ohly unterstellt Herms, dass er Phänomenologie mit einer „ontologischen“ Prämisse durchführt:181 Aus Erscheinendem kann keine allgemeine Geltung abgeleitet werden, da diese von dem Erscheinen für andere Instanzen abhängt, die das Erscheinende als gültige Erkenntnis anerkennen müssen. Herms setzt die ‚Ontologie‘ ein, um gattungsspezifische Aussagen machen zu können. Zugleich, so Ohly weiter, wird die Phänomenologie theologisch gedeutet, um diese „Ontologie“ zu rechtfertigen.182 Obwohl bei Ohly die schillernde Begrifflichkeit der „Ontologie“ auch unkonturiert bleibt, macht er auf eine entscheidende Problematik aufmerksam, nämlich auf den selbstverständlichen Übergang zwischen Selbst-, Welt- und Ursprungsaussagen bei Herms. Dieser Übergang setzt hochkomplexe Deutungsoperationen voraus, die sich nicht aus dem Erscheinenden selbst ergeben. Dieser Problematik ist im weiteren Verlauf nachzugehen. Fest steht soweit: Herms will das Erscheinende in einer transzendentalen Theorie verständlich machen, in der die invarianten Strukturmomente und die Variationen des Erscheinenden zugleich erklärt werden können. Und dabei soll gezeigt werden, dass das Erscheinende selbst einen externen Ursprung hat – also nicht selbstkonstituierend ist. Diese Betonung der externen Konstitution wird auch an seiner Herangehensweise an Begriffsbildungen deutlich, die nämlich von ihrem Gegenstand (in Form und Inhalt) bestimmt werden sollen.183 Herms lehnt eine rein „nominalistische“ zu Gunsten einer „realistischen“ erkenntnistheoretischen Position ab: Das heißt nicht, dass „der menschlichen Erkenntnisaktivität fertige Begriffe als das von ihr zu erfassende vorgegeben wären“ – das wäre eine rein realistisch-ontologische Position.184 Vielmehr sieht Herms, dass unsere „Begriffsaktivität“ angeregt wird durch die Tatsache, „daß Reales für uns vorgegeben (präsent, erschlossen) ist als von uns angemessen zu Verstehendes“.185 Die Begriffstätigkeit wird demnach „ermöglicht und verlangt“ durch das Vorgegebene; sie wird dadurch wahrheitsfähig gemacht, aber nicht determiniert; sie steht innerhalb eines mehr oder weniger angemessenen Variations- und Möglichkeitsraums, ist aber nicht festgelegt.186 Die Begriffe können und müssen sich an den Erfahrungen 180 Ebd. 181 

Ohly, Mensch, 97–114. 98 f. Weil das ‚Sein-für‘ als wesentlich und nicht akzidentell aufgestellt wird, kann nach Herms keine Differenz zwischen Erscheinung und Sein hergestellt werden. 183 Herms, Menschenwürde, in: Härle, Menschenwürde, 79–134. Vgl. zur Einordnung Hampe, Erkenntnistheorie, 1414. 184  Herms, Menschenwürde, in: Härle, Menschenwürde, 108. 185  Ebd. (Hervorhebung im Original) 186 Ebd. 182  AaO.

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messen lassen und sich infolgedessen bewähren.187 Dabei wird von Herms nicht die Behauptung aufgestellt, dass die Bestimmung der angemessenen Begriffsbildung kulturell, geschichtlich und individuell nicht schwankt, sondern dass sich über solche Unterschiede hinweg „eine Verständigung erzielen läßt“ – eben weil alle Differenzen „nur Weisen des Verstehens“ der einheitlichen und gemeinsamen Realität sind.188 iii. „Wahrheit – Offenbarung – Vernunft“189 Die Auseinandersetzung mit diesen hochkomplexen Theoriekontexten („Ontologie“, „Phänomenologie“, „Realismus“) steht selbst unter weltanschaulichen Vorzeichen, kann also nicht von einem neutralen Beobachter entschieden werden. Herms jedenfalls erblickt dahinter den „Weltanschauungskrieg“ zwischen Offenbarung und Vernunft, dessen Regeln er allerdings doch formalisieren will (114). Zum einen will er zeigen, dass sich säkulare Weltanschauungen gegenüber Religionen nicht als rational überlegen behaupten können, zum anderen, dass Religionen sich nicht jenseits von „Vergewisserungspraktiken“ auf einen absoluten Wahrheitsanspruch berufen können (113). Der Zweck dieser Argumentation ist die Einführung einer formalen Basis, um einen egalitären Wahrheitsdiskurs zwischen allen Weltanschauungen und Religionen führen zu können. Am Ausgangspunkt der Überlegungen steht die Beobachtung divergenter Weisen, Wahrheitsansprüche geltend zu machen: Einerseits wird innerhalb von Religionen auf höhere Einsichten durch Offenbarung rekurriert, andererseits wird der wissenschaftliche bzw. philosophische Anspruch erhoben, Wahrheit auf der Basis „menschlicher Vergewisserungspraktiken“ (die mit Vernunft gleichgesetzt werden) begründen zu können (98; Hervorhebung im Original). Im Verlauf der europäischen Bildungsgeschichte werden diese unterschiedlichen Geltungsgrundlagen hauptsächlich als Konkurrenzverhältnis verstanden. Trennt bereits die antike griechische Philosophie die Selbstvergewisserungspraxis von Offenbarungsansprüchen, so wird diese Trennung in der mittelalterlichen christlichen Theologie übernommen und in die Dogmatik integriert.190 Von den Religionskritikern der Neuzeit wird die Selbstständigkeit der menschlichen Erkenntnisvermögen gegen jedweden Anspruch „der Offenbarung“ auf gültiges oder öffentlichkeitsrelevantes Wissen verwendet (101). 187 Denn: „Diese auf das universal Allgemeine gehende spekulative und jene das unverwechselbar Besondere erfassende empirische Erkenntnis verlangen und bedingen sich gegenseitig.“ (AaO. 89) 188  AaO. 90. 189  In: PG, 96–115. Nummerierung im Folgenden im Text. Vgl. ders., Wahrheit/Wahrhaftigkeit in: TRE, 363 ff. 190  Die Wahrheit der Offenbarung wird in der Tradition von Albert dem Großen und Thomas von Aquin als kontingentes Faktum, als inhaltlich von humaner Erkenntnis unterschieden (Gottes Wesen, Heilswillen und Heilswirken) und als übernatürlich gewährt dargestellt (aaO. 99 f.).

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Herms stellt diese Konkurrenz grundsätzlich in Frage, indem er zunächst den verwendeten Offenbarungsbegriff als Engführung darstellt. Wie in seiner Anthropologie und Phänomenologie vorgetragen, soll der Offenbarungsvorgang als bedeutungsgleich mit demjenigen des Erlebens, mit der Konstitution von Selbst-, Ursprungs- und Weltgewissheit verwendet werden.191 In diesem Sinne ist Offenbarung eine anthropologische Konstante192 und, so Herms weiter, inhärent von der Selbstvergewisserung abhängig.193 Deshalb spricht er von einer „einheitlichen […] in sich gedoppelten Quelle“ der Wahrheitsgewissheit (112 f.; Hervorhebung im Original). Ist ‚Offenbarung‘ auf diese Weise erkenntnistheoretisch universalisiert, wird die ‚Vernunft‘ umgekehrt an die partikulare Erlebensdynamik gebunden. In der Vergewisserung über die Wahrheit oder Unwahrheit praktischer und theoretischer Fragen ist das Evidenzerlebnis für den Gewissheitsaufbau unabdingbar; ein Erlebnis, das nicht produziert werden kann: „Wir können es zwar erwarten und uns dieser Erwartung entsprechend verhalten, dann aber sein Eintreten doch nur erleiden.“ (111)194 Sind die zwei Weisen der Wahrheitsbegründung wechselseitig voneinander abhängig, steht dieses Bedingungsverhältnis in einem asymmetrischen Zusammenhang. Diese Asymmetrie ist entscheidend für das Gesamtkonzept: Denn die Vergewisserungspraktiken werden vom Erlebnishorizont geprägt und sie reflektieren, entfalten und vollziehen lediglich die Inhalte des Erlebten; erstere sind auf die „Autorität“ letzterer verwiesen (112). So wird deutlicher, dass Herms einen Vorschlag zur Kritik der Vernunft vorlegt: Die Endlichkeit der „situierten Vernunft“ im Gegenzug zu idealistischen Positionen wird hervorgehoben,195 aber sein Ziel ist keinesfalls, eine Position kulturalistischer Beliebigkeit oder skeptizistischen Relativismus zu verteidigen. 191 

Vgl. zur Konkretisierung: Herms, Offenbarung, in: TRE, 146–210. Und deshalb ist „jede Handlung“ und „jede gemachte Erfahrung“ „Ausdruck von Gewißheit und insofern: Bezeugung von Offenbarung“ (Herms, Offenbarung und Erfahrung, in: OG, 270). Herms nimmt das Beispiel eines Suchbildes in einer Zeitung, das wir mit großer Konzentration aber ohne Erfolg versuchen zu lösen und es plötzlich in unverfügbarer Weise erkennen (Offenbarung, in: OG, 176). Auf den Einwand, dass dies triviale und nicht religiöse Erschließungsereignisse sind, erwidert Herms, dass eine religiöse Offenbarung inhaltlich nicht mit der Erschließung eines Suchbildes zu vergleichen ist. Aber die religiöse Offenbarung ist formal als Erschließungsereignis betrachtet kein Sonderphänomen. 193  Das Erlebte will gedanklich und sprachlich dargestellt werden; es erzwingt freie, aber immer folgeträchtige Verhaltensreaktionen (Herms, Wahrheit, in: PG, 111). 194  Hier greift die Unterscheidung von primärer und sekundärer Gewissheit: Jede Vergewisserungsleistung ist laut Herms von „vorgängigen Gewissheiten“ geleitet. Damit meint er diejenigen Gewissheiten, die das „Fundament jedes Zweifels bilden“, so z.B.: 1. Gewissheit, dass ein Zweifel besteht, 2. Gewissheit, dass Wahrheitsgewissheit möglich ist, 3. Gewissheit über die Bedingungen, unter denen Gewissheit eintritt, 4. Gewissheit, dass menschliches Handeln zur Vergewisserung beitragen kann. Fehle die erste Gewissheit, so sei „der Zweifel nicht wirklich“, fehle die zweite und dritte, so sei „der Zweifel sinnlos“, und fehle die vierte, so sei der Zweifel nicht Gegenstand realistischen, menschlichen Handelns (aaO. 109 f.). 195  Herms, Kontingenz, in: RGG, 1647–1650; ders., Notwendigkeit, in: RGG, 408–414. 192 

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Herms erkennt die formale Einheit der Vernunft und ihre grundlegende Bedeutung für das Menschsein überhaupt an:196 Vernunft zeichnet den Menschen „innerhalb des Kontinuums allen Lebens“ aus.197 Dieser weite Begriff – den Herms in seinen Beiträgen zum Vernunft-Artikel in der RGG4 formuliert – ist bemerkenswert, weil Herms sich bewusst von Engführungen in der Definition von Vernunft absetzt, die diese auf ihre kognitive Dimension reduzieren. Vielmehr müsse sie als „Wesenszug des ganzen leibhaften, daher auch sozialen und geschichtlichen Menschseins“ verstanden werden.198 Entscheidend allerdings bleibt, dass das bestimmende Moment dieses Menschseins die präreflexive Selbsterschlossenheit ist; aus ihr erwächst die Orientierung, Motivation und Individualität der Lebensbewegung. Die Vernunft ist dagegen das ausführende Vermögen;199 sie kann und muss Rechenschaft (lógon didónai) über die Lebensbewegung, Selbsterschlossenheit und das Daseinsverständnis abgeben.

III.1.E. Schlussfolgerungen Die Koexistenz der Kulturen, so könnte man das Gesamtanliegen von Herms verkürzt darstellen, ist eine Frage gelungener Apologetik – und zwar einer Verteidigung des Pluralismus als Existenzrecht konkurrierender Sichtweisen. Die Menschheit hat eine „‚weltkulturpolitische‘ Aufgabe der Apologetik“ vor sich, die Möglichkeit des Pluralismus muss aus den Religionen im Horizont der gemeinsamen einheitlichen Wirklichkeit begründet werden. 200 Dabei wird ein sehr anspruchsvoller Begriff von Religion vorausgesetzt – in Gegenüberstellung zur Vernunft. Er beabsichtigt weder mit der Religion das ‚Andere der Vernunft‘ herauszustreichen, noch die beiden Größen durch wechselseitige Korrekturmöglichkeiten als komplementär aufzuweisen.201 Religiöse Gewissheit und ihre Verteidigung steht überhaupt nicht jenseits der Vernunft, sondern diese verweist auf den Bestimmungsgrund jener. Dass das Denken handlungsorientierende Kraft besitzen und das Daseinsverständnis bestimmen oder neu orientieren könnte, ist Herms zwar fremd. Entschieden wehrt er sich aber dagegen, die Vernunft „ad acta“ zu legen (Richard Rorty), 202 oder sie fatalistisch den vorgegebenen Sinnzusammenhängen auszuliefern (Martin 196  Herms, Begründung, in: Härle, Rechte, 271: „Die Einheit der Vernunft ist eine rein formale, alle ihre materialen Erkenntnisse sind rückgebunden an geschichtliche Erlebniskonstellationen und Erschlossenheitslagen“ (mit Verweisen auf Kant, Luther und Schleier­ macher). 197  Herms, Vernunft, in: RGG, 1039 ff. 198  Ebd. Er spricht auch vom „gesunden Menschenverstand“ (Herms, Vorwort, in: GG, XX). 199  So die wiederholte Definition: Herms, Vernunft, in: RGG, 1039, 1040, 1042. 200 Ebd. 201  Vgl. für Letzteres z.B. Benedikt, Caritas, 56; einführend I.2.C; Dalferth, Wirklichkeit, 59 ff. 202  Rorty, Kontingenz, 313; vgl. Welsch, Vernunft, 241 ff.

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Heidegger).203 Vielmehr will er zeigen, dass unsere personale und soziale Existenz insofern Rationalität besitzt, als sie im nachvollziehbaren Verhältnis zur orientierenden und motivierenden Kraft des jeweiligen Daseinsverständnisses steht. Herms greift methodisch auf die Phänomenologie zurück, um der Vernunft eine ausführende, aber keine orientierende Rolle zu gewähren. Gleichzeitig wird über diese Methode sowohl eine Art ‚Realismus‘ als auch ein ontotheologischer Bezug gesichert;204 eine Operation, die allerdings weder im Ergebnis noch in der Durchführung gänzlich klar geworden ist. Um diese Klarheit zu erlangen, wird seine Schleier­macher-Interpretation im Folgenden zu analysieren sein. Herms richtet Wissenschaft an der Erkundung der ‚Erscheinungswelt‘ aus, die im individuellen Selbstgefühl zugänglich ist, welches wiederum als unverfügbare Gewissheit zu verstehen ist. Diese Selbsterschlossenheit ist die Grundlage für alle weiteren Reflexions- und Bildungsprozesse, die sich für Herms mit der Erfahrung der einheitlichen Wirklichkeit der Liebe Gottes inhaltlich füllt. Aus diesem Erfahrungskomplex entwickelt er ein Theologieverständnis, dessen innerstes Gebot lautet, ‚den prinzipiellen Pluralismus‘ im Horizont der Aufgabe des Zusammenlebens begründen, verstehen und gestalten zu müssen. Diese Überzeugung wird in einem systematischen Theorieaufbau erläutert, der in konsistenter Weise auf eine Anthropologie, Religions- und Sozialtheorie rekurriert und für die perspektivischen Daseinsüberzeugungen sensibilisiert. Sein Theoriekomplex stellt für die Diskussion um die Bedeutung der Weltanschauungen als integrale Momente gesellschaftlicher Prozesse einen reflektierten Beitrag dar. Sein Ziel ist es, den weltanschaulichen Pluralismus als unabdingbare Form des Zusammenlebens aufzuweisen und den angemessenen Umgang in der antwortenden Rede – also in der Apologie – zu suchen. Der Sinn dieser Interaktion ist nicht, die Anschlussfähigkeit des Glaubens an eine bestimmte ‚philosophische Rationalität‘ nachzuweisen, vielmehr wird diese als an weltanschauliche Gewissheiten zurückgebunden aufgewiesen. Die ‚vernünftige Rechenschaft über den Glauben‘ ist deshalb nach Herms die konkrete Ex203  So die habermassche Einschätzung Heideggers: „Die Begegnung mit Innerweltlichem bewegt sich fatalistisch in den Bahnen vorgängig geregelter Sinnzusammenhänge, so daß diese ihrerseits von den gelingenden Problemlösungen, vom akkumulierten Wissen, vom veränderten Stand der Produktivkräfte und der moralischen Einsichten nicht affiziert werden können.“ (Habermas, Motive, in: ND, 50; Hervorhebung im Original). Es gibt wohl Stellen bei Herms, die einen solchen Fatalismus nahe legen könnten, weil der Rückbezug auf die religiöse Gewissheit als so dominierend für die Kräfte des Menschen eingeführt wird; aber es ist entscheidend, dass sein Vernunft- und Freiheitsbegriff dieser Auslieferung entschieden im Wege steht. Denn: Wir sind als Menschen bestimmt zur Selbstverantwortung. 204  In diesem Sinne ist hier konstatiert worden, dass die Phänomenologie, wie Herms sie ausführt, nicht das Spektrum an Relationen (Selbst-, Welt- und Ursprungsverhältnis) in vorgegebener Weise enthält, sondern dass jedwede Verhältnisbestimmung von komplexen Deutungsleistungen begleitet wird.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

plikation der eigenen universalen Überzeugungen. Dafür wird der christliche Glaube als exemplarisch vorgestellt, da dieser in der Einsicht der eigenen kontingenten Genese und angesichts einer Vielzahl gleichartiger Überzeugungs­ traditionen sich selbst relativiert. Exkurs: Theologiegeschichtliche Hintergründe des hermsschen Werkes Ist Schleier­macher tatsächlich der entscheidende Bezugsautor für Herms? Wie steht es mit anderen theologischen Einflüssen? Im Vorwort seines Schleier­macherbandes Menschsein im Werden würdigt Herms diesen als Denker, der die Kategorien der universalen Bedingungen der Natur und der Kultur aufdeckt, diese aber im Kontext einer bestimmten geistesgeschichtlichen Lage und mit Blick auf die daraus resultierende individuelle Verantwortung gewinnt. Wurde Herms in der Begegnung mit Schleier­ machers Reden die Antwort auf die Frage nach dem Gegenstand religiösen und theologischen Redens in seiner Studienzeit klar – die menschliche Freiheit ist nur zu verstehen in „ihrem absolut unhintergehbaren Vorgegebensein für sie selber“205 –, so baut er diese Erkenntnis doch als eine kosmologische und ontologische Theorie aus, die er als einheitliche Linie von Paulus über Luther und Schleier­macher bis hin zu Gerhard Sauter, Jürgen Moltmann, Eberhard Jüngel und Wolfhart Pannenberg nachzeichnet.206 In der Bezogenheit auf den einheitlichen Wirklichkeitsgrund, auf „die Phänomene des Glaubens, kommen das biblische Glaubenszeugnis, das Zeugnis der Reformation und der neuzeitlichen evangelischen Theologie – deren maßgeblicher Vertreter Schleier­ macher ist – überein“. 207 Und die Aufnahme des Offenbarungsbegriffs ist von Herms in diesem einheitlichen Sinne als Anschlussfähigkeit an die Arbeit von Karl Barth gedacht. 208 Herms will die Erfahrungs- und Offenbarungstheologie zusammenführen; er will Kontinuitäten insbesondere zwischen Luther und Schleier­macher, aber eben auch zu K. Barth aufweisen. 209 Diese Positionierung scheint zunächst eine eindeutige Verortung seiner Theorie zu verhindern. Dennoch wird zu Recht behauptet, dass Schleier­macher das Fundament für die Theologie von Herms liefert. 210 Und die 205 

Herms, in: Selbstdarstellung, 327. Parallele zwischen seiner Arbeit und denen von Sauter, Moltmann, Jüngel und Pannenberg sieht er darin, dass auch sie die anthropologische Engführung der Theologie (bei Ritschl, Hermann, Bultmann, Hirsch und Ebeling) kritisieren und den „kosmologischen, geschichtstheologischen und ontologischen Gehalt der Überlieferung“ festhalten und erneut entfalten (Herms, Rücken, in: OG, 498). 207  Herms, Vorwort, in: PG, XIX (vgl. die ersten drei Aufsätze von PG zu Paulus, Luther und Schleier­macher, 1–81). 208  Herms, in: Selbstdarstellung, 326, 344. Vgl. H. Fischer, Theologie, 252. 209  Vgl. Kock, Theologie, 280; Goltz, Werden, 248. Insofern ist die Zentralstellung des Offenbarungsbegriffs nicht als „Umorientierung“ in der Arbeit von Herms zu verstehen, wie Hermann Fischer meint (ders., Theologie, 252; vgl. Goltz, Werden, 247 f.). Dabei argumentiert Herms, dass eine durchgehende Einsicht im Protestantismus seit Schleier­macher in der Einsicht der Differenz zwischen dem Geschehen der Offenbarung und ihrer Reflexion besteht – eine Einsicht, die auch Barth geteilt habe (Herms, Ganzheit, in: PG, 181). Auch für Barth sei das ‚Dogma‘ nicht identisch mit den Aussagen der Schrift oder der Lehre, „mit der Folge, daß das Dogma ebenso als schlechthin vorgängiger Grund wie als schlechthin uneinholbares Ziel aller menschlichen Glaubensrede zu stehen kommt“ (ebd.). 210  Vgl. Goltz, Werden, 234; Kock, Theologie, 250. 206  Die

III.1. Apologie des Pluralismus

209

Gestalt seines Werkes, 211 kritische Bemerkungen gegenüber K. Barth 212 und das dezidierte erfahrungstheologische Interesse können ebenso im Horizont seiner Schleier­ macher-Interpretation gelesen werden. 213 Für Herms ist Schleier­macher nicht nur der Begründer der neueren Theologie, sondern auch „der bedeutendste Erbe“ der Aufklärung. 214 Allerdings steht eine ausführliche Verhältnisbestimmung dieser theologischen Einflüsse im hermsschen Werk noch aus. Dazu gehört vor allem die Verbindung zu Ernst Troeltsch und Emanuel Hirsch. Beiden Denkern gegenüber macht Herms geltend, dass sie zwar zu Recht auf den umfassenden gesamtgesellschaftlichen Bruch aufmerksam machen, der sich mit der Aufklärung für das Christentum ergeben hat. 215 Beide Theologen betreiben allerdings ein Programm, das Herms für verfehlt hält, weil sie die Diskontinuität zum biblischen Bekenntnis und zur christlichen Tradition zu Lasten der wesentlichen Kontinuität betonen. Hirschs Umformungsprogrammatik sei in diesem Sinne ein „Ausdruck von Konfusion“, denn der Kern der Ursprungsbotschaft bleibe erhalten. 216 Für Hermann Fischer erklärt sich aus dieser Haltung das hohe Interesse von Herms an den Bekenntnisschriften für die dogmatische Lehrbildung. 217 Herms versteht sich dabei in der Nachfolge Schleier­machers und er argumentiert, dass die bei Emanuel Hirsch geforderte „Umformung“ der Lehre sich „bei Schleier­macher gerade nicht“ finde, denn dieser habe die „geltende kirchliche Lehre“ nicht verändert, sondern ein epochemachendes, hermeneutisches Paradigma zum Umgang mit dieser Lehre entwickelt. 218 Bemerkenswert ist in diesem Sinne auch die dezidierte Ablehnung des Programms der ‚Kultursynthese‘ von Troeltsch: Dieser habe Schleier­machers transzendentaltheoretisches Programm letztlich missverstanden und sei anders als Schleier­macher dem Schwanken zwischen Rationalismus und Empirismus, zwischen Identischem und Individuellem, nicht entkommen. Er spitzt diese Kritik wie folgt zu: Wenn Karl Barth heute von manchen Interpreten (Herms spricht von der „Münchner Barthdeutung“) so gedeutet werde, dass Gott dort als transzendentales Subjekt verstanden werde, dann müsse demgegenüber von Troeltsch behauptet werden, dass er das transzendentale Subjekt zu Gott mache, „nämlich zur Quelle allen erkenn- und kommunizierbaren Sinnes des Weltgeschehens“. 219 Insofern steht Schleier­macher nicht nur als entscheidender Be211  Seit seiner Dissertationsschrift überlagert die Rezeption Schleier­machers alle anderen Einflüsse. Insbesondere seine Konzentration auf die fundamentalanthropologische Grundlegung der Theologie macht es möglich, diesen Einfluss in allen Schriften nachzuzeichnen. 212  Karl Barth habe mit seiner eigenen Theologie letztlich „versagt“ (Herms, Weltanschauung, in: TfP, 142; vgl. Goltz, Werden, 235). Wenn Jener gerade das „Weltfremde“ des Pro­testan­tismus lobt, und sich weigert als Konfession eine „Größe“ sein zu wollen, wie Martin Hailer (Papst, 288) zeigt, ist dies der hermsschen Konzeption diametral entgegengesetzt. 213  Herms lehnt eben nicht wie Barth die großen Inversionen der Neuzeit ab (z.B. etwas plakativ, von Gott zum Subjekt und vom Gegebenen zum Möglichen) sondern vollzieht diese mit. 214  Herms, in: Selbstdarstellungen, 348; ders., Luthers Auslegung, 95. 215  Vgl. Herms, Neuprotestantismus; ders. Umformungskrise. 216  Herms, Glaubenseinheit I, 255 Fn. 24. 217  Vgl. H. Fischer, Theologie, 253. 218  Ebd. (Hervorhebung im Original). 219  Herms, Neuprotestantismus, 333. Das transzendentale Subjekt ist allerdings nicht wie bei Kant „auf die Synthese von Sinnesdaten beschränkt, sondern darüber hinaus zur Synthese von Geschichtsdaten, also zur ‚Kultursynthese‘ befähigt“ (ebd.).

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

zugspunkt mit Blick auf ein Verständnis dialektischer Theologie, sondern auch hinsichtlich der Kritik an der liberalen Tradition. Diese wesentliche Rolle Schleier­machers ist deshalb im Folgenden unbedingt zu analysieren.

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker – Anfragen an die hermssche Interpretation Schleier­macher versteht die Menschheit als eine „Wirkungsgemeinschaft“:220 Seine Wissens- und Handlungstheorien reflektieren die Überzeugung, dass ein Verständnis dieses Gesamtzusammenhangs für gelungene Sozialität und ausgebildete Individualität unerlässlich ist. Insofern wird Schleier­macher von Andreas Krebs zu Recht als interkultureller Denker herausgehoben. 221 Was aber impliziert diese Einsicht? Zwei wesentliche Richtungen in der Schleier­ macher-Forschung bestimmen den kulturübergreifenden Anspruch seines Werkes auf divergente Weise. 222 Eine dieser Interpretationslinien wird maßgeblich von Eilert Herms entwickelt: Demnach ist für Schleier­macher das Schicksal aller Kulturen und Zivilisationen vom „Schicksal des religiösen Bewußtseins“ abhängig. 223 Dagegen macht Ulrich Barth geltend, dass Religion bei Schleier­ macher als eine wesentliche, mit den Kulturwissenschaften kompatible, nicht aber als bestimmende Größe für das Verständnis von Kultur eingeführt wird. Dieser durchaus diffizilen, aber weitreichenden Unterscheidung gilt es im Folgenden nachzugehen. Ich gehe in vier Teilschritten vor: Zunächst ist in die hermssche Interpretation des schleiermacherschen Werkes anhand eines zusammenfassenden Textes einzuleiten (a), denn dieser Beitrag wird Rückfragen hinsichtlich des Verhältnisses der Religion zur Wissens- und Handlungstheorie veranlassen. Im Wesentlichen sind dabei die Transzendentaltheorie (b), der Stellenwert der ‚Kritik‘ und ‚Kommunikation‘ im Gesamtwerk (c) und die Einordnung der ‚Ethik‘ (d) zu bedenken. Angesichts des Umfangs dieser Probleme wird der Fokus auf der Frage nach der Verbindung des individuellen mit dem identischen Symbolisieren liegen, welche Herms in besonderer Weise aufgreift – nämlich in der bestimmenden Funktion der individuellen Selbsterschlossenheit für das allgemeine Denken. Somit wird die bereits im vorigen Kapitel eingeführte und problematisierte Beziehung der konstruktiven Kraft der Reflexion zur vorgegebenen, alle Lebensbereiche bestimmenden religiösen Gewissheit wieder aufgenommen. Mit einem anderen Akzent als bei Herms würdige ich den Beitrag Schleier­machers 220 

Schleier­macher, Begriff des höchsten Gutes II, KGA I/11, 662. ‚Schleier­macher‘, 9–24, 119–120. 222  Zur derzeitigen Forschungslandschaft vgl. III.2.B. 223  Herms, Verständnis, in: MW, 481. 221 Krebs,

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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als Kultur- und Kommunikationstheoretiker für jene Verhältnisbestimmung: Schleier­macher bietet eine Theorie an, die den wechselseitigen Bezug von der individuellen Ganzheitserfassung der Religion und der allgemeingültigen Struktur der diskursiven und interpretativen Vernunft denken lässt.

III.2.A. „Schleier­machers Erbe“224 Einleitend zu seinen Schleier­macher-Studien stellt Herms dessen literarische Hinterlassenschaft in der Form „großer Werkstattentwürfe“ als Aufforderung dar, sich selbst zu den angesprochenen Phänomenen „in Beziehung zu setzen“: Nur im „Durchhalten dieses eigenen Blicks auf die Sachen selbst“ ist es möglich, die dichten Hinweise der Texte „selbständig zu entschlüsseln und zu überprüfen“ und die Sicht Schleier­machers „nachzuvollziehen, sie zu präzisieren und zu korrigieren“.225 Insofern räumt Herms bezeichnenderweise ein, dass seine Ausführungen im Aufsatzband Menschsein im Werden deutlich von dem gekennzeichnet sind, was sich ihm „als die leitende Sachintention Schleier­machers“ gezeigt hat – auch wenn sich dabei „gewisse Abweichungen von Schleier­machers Position oder Schritte über ihn hinaus“ ergeben. 226 Agiert Herms selbst mit einer Hermeneutik der Großzügigkeit, kann er zugleich den Nachvollzug seiner Interpretation Schleier­machers dezidiert einfordern. 227 Mit diesem wohl provokativ zu verstehendem Widerspruch, den Herms „phänomenologische Stichhaltigkeit“ nennt, 228 wird auch das Terrain bereitet, um das Erbe Schleier­machers bestimmen zu können: nämlich diejenigen transzendentalphilosophischen Grundlinien, die für die Gegenwart theoretische und praktische „Orientierungskraft“ aufweisen (200). Gemeint ist eine zusammenhängende Abfolge von Topoi: Ontologie, Psychologie, Theologie, Kosmologie, kategoriale Ethik, das Wesen des Christentums und Kritik und Technik, die ich im Folgenden nachzeichne. 1. Ontologie: Leitend für Herms’ Interpretation ist der Kontrast zwischen Kant und Schleier­macher: Dieser ist zwar am Projekt der „Umwandlung“ der Metaphysik in Transzendentalphilosophie, die durch jenen eingeleitet wird, beteiligt: Für beide kann das Reale lediglich von verständigen Instanzen als „Seinfür“ sie, als erkennbares Reales gedacht werden. In dieser Bezogenheit ist es 224 

In: MW, 200–227. Seitenzahlen im Folgenden im Text. Herms, Vorwort, in: MW, VII. 226  AaO. VIII. Die „historisch-kritische Beschäftigung mit den Texten der Klassiker“ sei zwar notwendig, „aber nicht Selbstzweck“. 227  Am Ende des Aufsatzes zur Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie fragt Herms, ob das Ergebnis (auf das wir noch zu sprechen kommen) zustimmungsfähig ist. Darauf antwortet er mit einem Zitat Schleier­machers aus der 2. Auflage der Glaubenslehre: „Zu diesen Sätzen kann die Zustimmung unbedingt gefordert werden, und keiner wird sie versagen, der einiger Selbstbeobachtung fähig ist und Interesse an dem eigentlichen Gegenstand unserer Untersuchung finden kann.“ (Herms, Philosophie, in: MW, 426, mit Zitat aus Schleier­macher, Glaubenslehre, Redeker-Ausgabe I 25 Z. 7–10). 228  Herms, Philosophie, in: MW, 426. 225 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

„Phänomen“ (200 f.). Allerdings besitzt nach Herms Schleier­macher, anders als Kant, ein objektives Verständnis der Phänomensphäre. Diese wird nicht durch die Erkenntnisleistungen konstituiert, sondern zeigt sich als Reales, was zu verstehen gegeben ist. Bei Kant bleibt das Reale zudem eigentümlich abstrakt gegenüber den verstehenden Instanzen. Schleier­macher, Fichte und Schelling weisen darauf hin, dass in jedem Verständnis des Realen die verstehenden Instanzen bereits eingeschlossen sind. Bei Schleier­macher ist über Fichte und Schelling hinaus eine weitere Korrektur zu beobachten, denn er verlagert alle „Fundierungsleistungen“ vom Begriff der Anschauung (wie bei Schelling und Fichte) in den Begriff des Gefühls. Dahinter verbergen sich zwei Intentionen: Erstens macht Herms geltend, dass für Schleier­macher die Grundlage aller vermittelnden Bewusstseinsprozesse und ihrer Resultate eine unmittelbare ist. Demnach schließt Schleier­macher eine wesentliche Lücke, die Kant offenlässt: Ist für Kant das Zusammenspiel von Rezeptivität und Spontaneität „die Möglichkeitsbedingung unserer gegenständlichen Erkenntnis“ (202), bleibt ungeklärt, unter welcher Bedingung dieses Zusammenspiel ermöglicht wird. Deshalb führt Schleier­macher die Begriffe des „Gefühls“ und des „unmittelbaren Selbstbewußtseins“ ein, die Herms wie folgt erläutert: Während jedwedes Gegenstandsbewusstsein sich im Medium der Reflexion aufbaut, ist die ermöglichende Bedingung dieser „Reflexionsakte“ das nicht vermittelte – eben unmittelbare – Sich-selbst-haben (203). Aus dieser Selbsterschlossenheit ist das Erkennen und Gestalten des Lebens dem Subjekt unabdingbar aufgegeben. Zweitens wird durch Schleier­macher nach Herms die ursprüngliche Konstitution und Verfassung menschlichen Werdens als „eines ursprünglicheren Gewordenseins“ in den Blick genommen (ebd.). Gemeint sind zunächst die unterschiedlichen Bestimmtheiten des organischen Werdens (des Eintrittes des Geistes in die Natur) und der vorgegebenen Selbsterschlossenheit (des unmittelbaren Selbstbewusstseins), die auf einen einheitlichen Ursprung zurückzuführen sind. Die genaue Zuordnung von Ursprungsrelation, organischem Werden als Ganzes und ihrer menschlichen Reflexion folgt nach Herms direkt aus der ‚Ontologie‘. 2. Psychologie, Theologie und Kosmologie: Das Relationengefüge – Mensch, Gott, Welt – wird auch im Unterschied zu Kants transzendentalphilosophischer Wende der Metaphysik bestimmt. Schleier­macher erkennt zwar Herms zufolge wie andere maßgeblichen, nachkantischen Autoren, dass das eigentliche Ziel Kants nicht allein in der Neujustierung der Erkenntnistheorie, sondern in der Erforschung der Möglichkeiten des endlichen Geistes liegt, um den theoretischen und praktischen Gebrauch der endlichen Freiheit zu verstehen. Schleier­ macher bestimmt diese endliche Freiheit aber in ihren psychologischen, theologischen und kosmologischen Dimensionen. Für Herms ist es unerlässlich, dass diese drei Aspekte in einem Zusammenhang verstanden werden. Zwar entwickelt Schleier­macher diesbezüglich keine ausgereiften Disziplinen (205, 208), dennoch werden diese als Implikat seines

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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Werkes gedeutet – und diese Deutung ist zentral für die hermssche Argumentation. Den Zugriff bietet für ihn die Psychologie, die er als grundlegende Disziplin in den Mittelpunkt der Gesamtkonzeption von Schleier­macher stellt. 229 Anders als Dilthey will er sie nicht nur empirisch, sondern transzendental 230 und somit als Verschränkungsebene verstehen: Jedes „Ich“ kann demnach nicht anders als sich, indem es sich zu sich selbst verhält, auch zur Welt und zu seinem Ursprung verhalten. Die theologische und kosmologische Dimension ist in der psychologischen immer bereits „gegeben“ (208). 231 Darin liegen zwei divergente Pointen: Einerseits: Alle drei Dimensionen sind nicht das Ergebnis konstruktiver Tätigkeit. Die „Welt“ und das „Ich“ werden durch eine externe Ursprungsmacht konstituiert (209). Vor allem mit Blick auf die „Welt“ betont Herms, dass Schleier­macher ein konstitutionstheoretischer Idealismus nur bei „oberflächlicher Lektüre“ bestimmter Texte unterstellt werden kann (210). Vielmehr sei die Welt nicht durch uns, sondern für uns gesetzt; die Einheit unseres Verhältnisses zu uns und unserer Umwelt ist immer schon gegeben. Andererseits wird erst durch die Bildungsgeschichte das Verhältnis der drei Ebenen bestimmt. Dass die Aspekte des Selbst-, Welt- und Ursprungsbewusstseins nicht als von uns konstituiert zu verstehen sind, bedeutet nicht, dass das ‚Wie‘ ihrer Verhältnisbestimmung vorgegeben ist. Die Ausdifferenzierung der Ebenen und ihre Subordination können inhaltlich verschieden ausfallen und sie ist vom kontingenten Verlauf jedes individuellen Lebens abhängig. Die Subordinationsprozesse unterscheiden sich „je nach Höhe des Gottesbewußtseins (vom Fetischismus über den Polytheismus bis zum Monotheismus) und je nach Art des Weltbewusstseins (Verhältnis zwischen Bewußtsein der relativen Freiheit und der relativen Abhängigkeit)“ (213). Im Rahmen der Bildungsprozesse ergeben sich individuierende Entschlüsse und Unterscheidungen. 3. Die kategoriale Ethik „bietet die Möglichkeitsbedingungen des Werdens der Formen des Zusammenlebens durch Handeln unter den Bedingungen des Eingetretenseins des Geistes in die Natur, d.h. unter den Bedingungen der 229  Herms zeichnet eine Traditionslinie von Schleier­macher und Dilthey über Heidegger und Sartre in der Hervorhebung der Analyse des menschlichen Daseins – also der Begründung der Psychologie als „ontologischer Fundamentaldisziplin“ (ders., Erbe, in: MW, 206). Aber Dilthey habe die „beschreibende Psychologie“ nicht hinreichend als „Theorie der menschlichen Natur“ verstanden. Herms selbst hat im Gefolge Diltheys die Psychologie zunächst als empirische Disziplin bei Schleier­macher aufgefasst, um heute die Psychologievorlesung von 1818 und vor allem die „Lehnsätze aus der Psychologie“ in der Einleitung zur 2. Aufl. der Glaubenslehre als eine transzendentale Disziplin zu begreifen (ebd.). 230 Herms verwendet „spekulativ“, „kategorial“ und „transzendental“ als Synonyme (ders., Religion, in: MW, 292 Fn. 39); darin liegt allerdings gegenüber Kant eine Unschärfe, denn die spekulativen Ideen und Kategorien sind Elemente der transzendentalen Fragestellung – erstere folgen also aus letzterer. 231  Schleier­m acher habe das „Ursprungsverhältnis“ immer dann thematisiert, wenn er auch das Bewusstsein bzw. das Ichsein besprochen habe (Herms, Erbe, in: MW, 206 f.).

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Selbsterschlossenheit des leibhaften Daseins, wie es in der Psychologie beschrieben worden war“ (214). Aus dieser Rückbindung der Ethik an die Psychologie verfolgt Herms weiter seine eigenständige Interpretationslinie, die sich wieder in einer Kritik gegenüber Kant bemerkbar macht. Denn der ethische Prozess wird nicht nur als eingebunden in Natur („die Leibhaftigkeit“ der Handelnden) und Kultur (die Bildungsbedürftigkeit der Handelnden) dargestellt, sondern Herms identifiziert des Weiteren Sittlichkeit und Religion (217). 232 Wie kommt es zu dieser Identifikation? Herms deutet das schleiermachersche Viererschema der Ethik, 233 auf das zurückzukommen ist (vgl. II.2.D), auf der Grundlage der Ontologie – von Herms als „Fundamentalontologie“ oder „Personontologie“ bezeichnet (221). Die ursprüngliche Selbsterschlossenheit ist konstitutiv für das Freisein überhaupt und die Frömmigkeit, als ein Aspekt des „individuellen Symbolisierens“, ist der Bereich, indem diese Freiheit dargestellt und für alle anderen Handlungsformen zugänglich wird (219). Aus dieser Argumentationslinie folgert Herms, dass es notwendig ist, an Schleier­machers Konzeption insofern Kritik zu üben, als dieser die Bedeutung und Bestimmungskraft des individuellen Symbolisierens nicht hinreichend zur Geltung bringt:234 Das identische wird von Schleier­macher nicht als abhängig vom individuellen Symbolisieren dargestellt. 235 Durch diese Positionierung führt Herms bewusst einen Interpretationszirkel ein: Alle bisher erarbeiteten Disziplinen des Wissens (Ontologie, Psychologie, Theologie, Kosmologie und Ethik) sind gebunden an die jeweilige inhaltliche Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins – in Schleier­machers Fall an die christliche Frömmigkeit. Ist das Gesamtgefüge des Wissenszusammenhangs nach Herms als eine „Philosophie“ auf christlichem Fundament zu verstehen, verabschiedet sich diese Philosophie nicht von dem Anspruch allgemein zugänglicher Wissenschaft, sondern sie entlarvt lediglich „den ontologischen Aposteriorismus und Perspektivismus“ allen Denkens und Wissens (221; Hervorhebung im Original). 232  „Kant wollte die Sittlichkeit von Religion emanzipieren, Schleier­macher sieht, daß sie mit ihr identisch ist.“ (Ebd.) 233  „Identisches Organisieren“ als Rechtsleben; „individuelles Organisieren“ als Geselligkeit und Hausgestaltung; „identisches Symbolisieren“ als spekulatives und empirisches Wissen; „individuelles Symbolisieren“ als Kunst und Frömmigkeit (aaO. 218 f.). 234  Zudem: Reife religiöse Überzeugungen werden nach Herms von Schleier­macher gegenüber fehlerhaften Formen des individuellen Symbolisierens nicht ausgezeichnet. Gemeint ist das richtige Subordinationsverhältnis zwischen Selbst-, Welt- und Ursprungsverhältnis. Denn die Bestimmtheit des Selbstbewusstseins entscheidet darüber, ob Menschen ihr Weltverhältnis aus ihrem Ursprungsverhältnis (das wäre sachgemäß) oder ihr Ursprungsverhältnis aus ihrem Weltverhältnis (das wäre unsachgemäß) verstehen. Insofern entscheidet die Bestimmtheit des Selbstbewusstseins über den gesamten Weltumgang – also über das Verhalten des Einzelnen in der Gesellschaft (aaO. 220). 235  „Der formale Unterschied zwischen beiden Arten des Symbolisierens ist klar: Symbole für Erlebtes auf der einen [individuelles Symbolisieren], Symbole für reflexiv und methodisch Erfaßtes auf der anderen Seite [identisches Symbolisieren]“ (aaO. 221).

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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Dieser Aspekt ist für die hermssche Interpretation zentral und für die Fragestellung dieser Arbeit ein Gravitationspunkt. Aus dem Gesamtbild des schleier­ macherschen Werkes erachtet Herms zwar diese Weiterentwicklung Schleier­ machers als konsistent und unabweisbar, aber an ihr entzündet sich, wie zu zeigen sein wird, ein folgenreicher, berechtigter Streit. 4. Das Wesen des Christentums: Herms kommt zu dem Ergebnis, dass Schleier­machers Philosophie christlich ist, weil es Reflexion nur unter der Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins gibt. Diese Wissensgenese wird als exemplarischer Befund der universalen Bedingungen des Menschseins ausgewiesen: Das universale Moment liegt in der partikularen, unverfügbar erschlossenen Daseinsgewissheit, die allem Erkennen und Handeln zu Grunde liegt (222). Eben weil jedwede Religion durch solche grundlegenden Erlebnisse konstituiert wird, kann eine egalitäre Verständigungsbasis festgestellt werden. Weder die Isolierung noch die Privilegierung einer Religion gegenüber der anderen ist sinnvoll. Auch das „Christentum kann sein eigenes Wesen nur in Relation zum Wesen aller anderen positiven Religionen erfassen“ (223). Wird die systematische Höchststellung des Christentums von Schleier­macher beansprucht, ist damit der „unbedingte Respekt vor der unverfügbaren Eigenart aller anderen Religionen und Kulturen wesentlich verbunden“ (225). 236 Das universale Strukturmoment in dieser Interpretationslinie ist das unverfügbare Selbstbewusstsein des Einzelnen und dieses ist inhärent auf das Ganze und Unbedingte ausgerichtet. Deshalb steht auch das Zusammenleben unter dem Vorzeichen der Religion. Deshalb ist „die Differenz der positiven Religionen konstitutiv für die Differenz der Kulturen; die Geschichte der Zivilisationen ist letztlich die Geschichte der Religionen“ (224). 5. Kritik und Technik: Kennzeichnend für die Schleier­macher-Interpretation und die Gesamtkonzeption von Herms ist es, dass er den Prozess, die Technik und die Kunst des Verstehens am Schluss und im Gesamtverhältnis äußerst kurz thematisiert. Diese Prozesse und Verfahren fasst Schleier­macher unter dem Titel von „Kunstlehren“ oder „technischen Disziplinen“ zusammen, nämlich der Verstehenslehre oder Hermeneutik, der Wissenslehre oder Dialektik, der Erziehungslehre oder Pädagogik, wie auch der Politik. Auch in der hermsschen Beschreibung dieser Verfahren wird schließlich deutlich, dass sie auf der phänomenologisch interpretierten Fundamentalontologie basieren, die den inhärenten Zusammenhang von Religion und Kultur erfassen und unterstreichen soll. Das kritische Verstehen richtet sich nämlich auf das „geschichtliche Wesen von Erscheinungen“, um die konkreten in Wandel befindlichen Kontexte zu verstehen – exemplarisch dafür ist das Verständnis des Christentums (225). 236  Schleier­macher hat Herms zufolge zwar nicht hinreichend andere religiöse Variationsmöglichkeiten seiner grundlegenden ontologischen Einsichten erfasst und infolgedessen die anderen Religionen nicht analysiert; dies ist aber ein Mangel der „Durchführung“ nicht des „Programms“ (aaO. 224).

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Dieses „Wesen“ ist nur in der konkreten Wechselbeziehung zwischen Religion, Kultur und Gesellschaft zu finden. Die Religion fällt nicht einfach mit der Gesellschaft zusammen, sie ist aber für ihre „sittliche Qualität entscheidend“ (226). Herms legt mit dieser Darstellung des schleiermacherschen Erbes eine profilierte, dichte und in sich schlüssige Schleier­macher-Interpretation vor. Der Streit um diese Interpretation beginnt derweil bereits mit dem gewählten Ansatz, nämlich der Verhältnisbestimmung zu Kant, und manifestiert sich daraufhin in allen fünf dargestellten Topoi. Die Kernfrage lautet derweil: Lässt sich Schleier­macher so verstehen, dass das identische Symbolisieren durch die individuelle Frömmigkeit bestimmt wird (221)?

III.2.B. Wie ist der Ansatz der hermsschen Interpretation einzuordnen? Die Rezeptionsgeschichte des schleiermacherschen Werkes ist eng verwoben mit der Geschichte der neueren evangelischen Theologie, sodass ihre Facetten in Deutschland (wie auch Interpretationsentwicklungen in Nachbardisziplinen oder im Ausland) heterogen sind.237 Wird gängigen Forschungsübersichten gefolgt, zeichnet sich dennoch eine Linie ab, die von Wilhelm Dilthey über Emanuel Hirsch bis zum neu aufbrechenden Interesse an Schleier­macher in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts reicht – ein Interesse, welches gerade auch durch Herms geweckt und gefördert wird. 238 Aus dieser Generation der Schleier­macher-Renaissance kristallisieren sich Schülerkreise heraus, die eher einzelne Themen in den Vordergrund stellen.239 Herms deutet die beträchtlichen Unterschiede der Interpretation auf seine eigene pointierte Weise:240 Er tritt für eine Forschungspolitik ein, die analog zum römisch-katholischen Interesse an Thomas von Aquin Schleier­macher als Klassiker protestantischer Theologie (mit entsprechend großer Bedeutung für die Gegenwart) liest. 241 Schleier­machers Relevanz liegt für Herms einerseits in der Möglichkeit, Engführungen der dialektischen Theologie zu vermeiden und die Philo237  Vgl. H. Fischer, Schleier­macher, 138 ff.; Sockness, Preface, xiff.; Scholtz, Philosophie, 9–44; U. Barth, Schleier­macher-​Literatur, 408–461; Schmidt, Konstruktion, 3 f. 238  Vgl. Grove, Deutungen, 7 ff. Diese Generation wird vor allem mit dem Namen von Hans-Joachim Birkner, daraufhin mit Falk Wagner, Andreas Arndt, Ulrich Barth, Konrad Cramer, Günter Meckenstock und Eilert Herms verbunden. Grove nennt bemerkenswerterweise Birkner nicht. 239  Zu nennen sind hier z.B. Christian Albrecht, Claus-Dieter Osthövener, Folkart Wittekind, Jörg Dierken, Peter Grove, Anne Käfer, Kirsten Huxel, Dorothee Schlenke, Ralf Stroh, Johannes Michael Dittmer. 240  Vgl. den Vortrag vor dem transatlantischen Schleier­macher-Kongress im November 2008, in dem Herms gebeten wurde, die Gesamtlage der deutschsprachigen evangelischen Forschung zu Schleier­machers Encyclopedia, Philosophical Ethics, Anthropology, and Dogmatics zu beschreiben (ders., Encyclopedia, 361–374). 241  AaO. 362.

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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sophie der Aufklärung sichtend aufnehmen zu können. Andererseits besteht mit Schleier­macher Herms zufolge Anlass, der liberalen Theologie gegenüber einen kritischen Standpunkt einzunehmen und stärker als diese auf die Kontinuität mit der christlichen Tradition, auf die Anerkennung spezifisch christlicher, ethischer Überzeugungen und auf die Anbindung der Theologie an die Gemeinschaft des Glaubens in der Kirche zu bestehen. 242 In der Auseinandersetzung um das Verständnis der Moderne muss laut Herms „nicht die reformatorische Einsicht im Lichte der neuzeitlichen Bildungswelt interpretiert und ggf. umgeformt werden, sondern umgekehrt, die neuzeitliche Bildungswelt und ihre vielfältigen Positionen müssen im Lichte der reformatorischen Einsicht verstanden und u. U. kritisiert werden.“243 Diese Kontroversen machen sich an einigen anspruchsvollen Weichenstellungen im Rahmen der Interpretation Schleier­machers fest; und zwei dieser Problemkomplexe sind, so meine These, wesentlich für die Entwicklung der vorliegenden Fragestellung. Eine grundlegende Entscheidung betrifft den systematischen Zugang zu den Texten Schleier­machers (i), die andere das daraus folgende Verständnis der Vernunft in Relation zum ‚unmittelbaren Selbstbewusstsein‘ (ii). i. Kant oder Jacobi? 244 Herkunft und Gestalt der Systematik Schleier­machers Das Verdienst der Dissertationsschrift von Herms zur Entwicklung der Gestalt der Wissenschaften bei Schleier­macher liegt darin, so wird ihm bis in die neuere Forschung bescheinigt, den frühen intellektuellen Kontext Schleier­machers –  mit besonderer Beachtung Jacobis – eingehender beschrieben zu haben. 245 Herms erkennt die Rolle Kants in der Bildungsgeschichte Schleier­machers zwar an, er rezipiert sie aber in kritischer Absicht: Bedeutender als der Einfluss Kants sei zum einen Schleier­machers eigene Frage nach einer Theorie der mensch­ lichen Natur gewesen, die er an den Bildungsstationen von Barby über Halle 242  In der Frage nach dem Verhältnis von Gott und Welt liegen nach Herms entscheidende Differenzen zwischen seiner kosmologischen Theorie und derjenigen Ulrich Barths vor (aaO. 372 f.). 243  Herms, in: Selbstdarstellungen, 337; vgl. zur Diskussion H. Fischer, Theologie, 253. 244  Diese Alternative soll nicht in Abrede stellen, dass weitere wichtige Beziehungen zu klären sind, wie z.B. zu Spinoza, Friedrich Schlegel und später zu Fichte und Hegel. Sie ist aber exemplarisch für die Problematik der Schleier­macher-Exegese wie auch für die Folgen in der gegenwärtigen Theologie. Um allein der Rezeption Kants bei Schleier­macher gerecht zu werden, müsste die Forschung auch des 19. Jahrhunderts berücksichtigt werden (vgl. zur Literatur Schmidt, Konstruktion, 9). 245  Vgl. Grove, Deutungen, 9 f.; Ellsiepen, Anschauung, 149. Dass Schleier­macher durch seinen Hallenser Lehrer Johann August Eberhard zum Studium Kants wie auch Platons und Aristoteles’ (und der klassischen Epoche insgesamt) angeleitet wird und später durch eigene Jacobi-Studien (und indirekt dadurch das Studium Spinozas) seine eigene grundlegende Positionierung findet, ist mittlerweile anerkannt. Wie Schleier­macher sein Verhältnis zu diesen Traditionen bestimmt, ist höchst umstritten.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

bis Berlin fortentwickelt, zum anderen die folgenreiche Begegnung mit F.H. Jacobis’ Texten (und wiederum dessen Spinoza-Forschung). 246 Zu Recht weist Herms auf die Verehrung Jacobis durch Schleier­macher hin, 247 er bindet diese aber gleichsam an die inhaltliche Übereinstimmung mit einer zentralen These Jacobis. Sie betrifft die „Theorie der Unmittelbarkeit des Realitätsbewußtseins“, wie Herms sie benennt, aus der eine Korrelation des Bewusstseins der Realität mit der äußeren Welt selbst abgeleitet wird. Schleier­macher habe sich diese kritisch-ergänzend angeeignet und für die Ausbildung der Theorien des Erkennens, der Religiosität und der Sittlichkeit verwendet. 248 Der einheitliche Zugriff von Herms auf Schleier­machers Werk zeichnet sich hier ab; ein Zugriff, der sich aus „der inneren Nachkonstruktion“249 eines bestimmten Realismus speist – nämlich „als Theorie des unmittelbaren Erschlossenseins der Wirklichkeit der Phänomensphäre nicht mehr als primitive[n] Realismus der Wirklichkeit der Außenwelt, sondern als Realismus ‚höherer‘ Art“. 250 Die weitere Arbeit von Herms wird im Lichte dieser Jacobi-Rezeption entwickelt.251 Herms’ These ist es, dass sich die Entwicklung Schleier­machers „im ganzen als fester Zusammenhang von Einsichten, Theorien und Argumenten vollzog“. 252 Mit dieser Rezeption und ihren Schlussfolgerungen sind nun wesentliche Probleme verbunden, von denen drei zu nennen sind: Die erste Schwierigkeit betrifft die Textbasis, die Herms als Beleg für diese Entwicklungsgeschichte anführt. Sowohl Peter Grove als auch Christof Ellsiepen bemängeln, dass die wenigen Hinweise nicht hinreichende Argumente für die enge Anbindung an Jacobi bieten.253 In der Tat sind es wenige Textstellen, die Herms anführt. 254 Da die diesbezüglichen Jacobi-Exzerpte Schleier­ machers nicht vollständig erhalten sind, greift Herms vor allem auf eine Passage aus der Briefabhandlung „Wissen, Glauben, Meinen“ zurück:255

246 

Herms, Herkunft, 265 f. AaO. 121 f. Diese Wertschätzung wird anhand einiger Briefe dokumentiert und wird am Vorhaben festgemacht, die Glaubenslehre Jacobi zu widmen; ein Vorhaben, das durch den Tod Jacobis verhindert wird. 248  AaO. 136–139, 154–164. 249  AaO. 17. 250  AaO. 133 (Hervorhebung im Original), vgl. 229 Fn. 291. Darüber hinaus lässt sich nach Herms Schleier­macher von dem Leibniz folgenden Jacobi dazu anregen, den bei ihm zentral angesiedelten Individualitätsbegriff zu übernehmen (aaO. 266). 251  Vgl. z.B. Herms, in: MW, 98, 195 Fn. 37, 287. 252  Herms, Herkunft, 17. 253  Vgl. Ellsiepen, Anschauung, 149; Grove, Deutungen, 93 f. 254  Herms, Herkunft, 136 ff. Zudem greift Herms auf eine Predigtäußerung Schleier­ machers zurück. Die diesbezüglich angeblich noch deutlicheren Spinoza-Studien Schleier­ machers werden aber von Herms nicht genannt. 255  Jetzt zu finden unter: Schleier­ macher, Brief, 326, ‚Wohl an Wilhelm Dohna‘, KGA V/1, 424–428. 247 

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

219

Anders als das wissende „Fürwahrhalten aus objektiven Gründen“ bedeutet Glauben, so Schleier­macher, „ein Fürwahrhalten aus subjektiven Gründen“, dank dessen die „Existenz oder Eigenschaften eines Gegenstandes außer mir [angenommen wird,] nicht weil ich sie durch sich selbst oder mittelbar durch andere Objekte erkenne, sondern weil etwas in mir selbst ist oder seyn soll, welches mit jenem in einem nothwendigen Verhältniß steht […] Es giebt ein noch höheres Fürwahrhalten aus subjektiven Gründen, welches sich aber deswegen nicht auf ein äußeres Objekt, sondern auf das fürwahrhaltende Subjekt selbst bezieht. Dies ist das unmittelbare Selbstbewußtseyn. Auf diesem muß immer das Interesse, welches den Grund des Glaubens enthält beruhen.“256 Herms folgert: „Demnach wäre für Schleier­macher im ‚unmittelbaren Selbstbewußtsein‘ die Wirklichkeit des mit der Außenwelt in einem notwendigen sinnlich vermittelten Verhältnisse stehenden und diese für wahr haltenden Selbstes unmittelbar erschlossen“. 257

Problematischer als diese unterbestimmte Folgerung wirken allerdings die interpretatorischen Rahmenannahmen, die notwendig sind, um die wenigen Belegstellen einzuordnen. 258 Hier begegnet die zweite Schwierigkeit, die umfangreicher und voraussetzungsreicher ist, denn sie betrifft die vielschichtige Kant-Rezeption Schleier­ machers: Herms, so Günter Meckenstock in seiner Studie zu den Jugendschriften, habe seine systematischen Interessen zu Lasten der historischen Nachweise verfolgt. 259 Obwohl Kant eine wichtige Rolle in der Entwicklung Schleier­ machers einnimmt, kommt die Auseinandersetzung mit ihm bei Herms, so Meckenstock weiter, zu kurz. 260 Das Bild der Entwicklung Schleier­machers bekommt eine „Schieflage“, weil aufgrund einer schwachen Quellenbasis eine starke Abgrenzung vom Deutschen Idealismus durchgeführt wird. 261 Infolgedessen rückt Meckenstock Schleier­macher in die Nähe der Transzendentalphilosophie Kants und distanziert ihn von der empirischen, psychologischen Theorie der Halleschen Tradition und der Jacobi-Studien. 262 Die zentrale These von Herms über Schleier­machers Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins ist laut Meckenstock jedenfalls schwer zu halten. Einige der Kritikpunkte von Meckenstock hat Herms mittlerweile akzeptiert, 263 aber der grundlegende divergente Richtungssinn besteht weiterhin. 256 

AaO. 424. Herms, Herkunft, 138 (Hervorhebung im Original); vgl. 224, 229, 235, 251 (zur Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins). 258  Grove, Deutungen, 93 ff. zeigt, wie sich das Textgefüge von Herms anders interpretieren lässt, wenn eine grundlegend positivere Einschätzung Kants vorausgesetzt wird. 259  Meckenstock, Ethik, 13–15; Barth, Schleier­macher-Literatur, 416. 260  Vgl. Meckenstock, Ethik, 13. Herms billigt zwar Kant eine Bedeutung zu, aber er weist diese im Detail nicht nach (vgl. Herms, Herkunft, 18, 265). 261  Meckenstock, Ethik, 14. 262  AaO. 15. 263  Vor allem die Kritik Meckenstocks, dass Herms die erkenntnistheoretischen Fragen betont und die Ethik nicht hinreichend berücksichtigt, lässt sich nicht mehr halten, denn 257 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Herms präsentiert Schleier­macher im Gefolge von Platon, Aristoteles, Spinoza, Eberhard und Jacobi, um auf diese Weise die Kant-kritische Haltung zu verschärfen. Schleier­macher habe die kopernikanische Wende Kants nicht als einen vollständig neuen Aufbruch aus einer vorkritischen Naivität verstanden, sondern als eine „Vollendung“ des Philosophierens seit Platon – bei Schleier­ macher gebe es keinen Hinweis auf einen „Epochenbruch“ mit und seit Kant. 264 Im Gegenteil, die Einheitlichkeit aller drei Glieder der Wissenschaft (Logik bzw. Dialektik, Physik und Ethik) wird von Herms in den Mittelpunkt gerückt; eine Einheit, die eben die „Alten“ deutlicher erkannten.265 Herms folgert: Die transzendentale Frage im Sinne einer „reinen Subjektivität“ ist Schleier­ macher fremd geblieben, 266 die Theorie des unmittelbaren Selbstbewusstseins darf nicht als „Subjektivitätstheorie“, sondern sollte als „Ontologie“ begrifflich gefasst werden. 267 Was mit dieser Unterscheidung gemeint ist, wird im Folgenden präzisiert. Zuvor ist auf die dritte hier zu erwähnende Problematik mit dem Ansatz von Herms einzugehen. Diese besteht in dem einheitlichen Zugriff auf Schleier­ machers Texte und der daraus folgenden Systematik, die sich für Herms aus der Jacobi-Rezeption ergibt. Herms weist in verschiedenen Aufsätzen darauf hin, dass er das grundlegende Wissenschaftssystem von Schleier­macher, wie es H.J. Birkner darlegt, für richtig und unstrittig hält. 268 Dazu gehören die vor allem aus der „Idee des Wissens“ abgeleiteten Gegensatzpaare von Idealem und Realem, von Physik und Ethik, von spekulativem und empirischem Wissen und von kritischen und technischen Disziplinen. 269 Umstritten ist nun wie diese Verhältnisbestimmung durchgeführt wird. Wie bereits verdeutlicht, will Herms nachweisen, dass in Schleier­machers reifer Systemkonzeption nicht die Dialektik, sondern die Psychologie die höchste Wissenschaft ist. Sie bietet die Theorie des „unmittelbaren Ich-Gefühls“, des vorwissenschaftlichen Wissens und die „Vorstufe“ der „Vollendungsgestalt“ des spekulativen und empirischen Wissens überhaupt. 270 Die Psychologie hat diese Bedeutung nicht deshalb, weil sie selbst das entscheidende Wissen generiert, sondern „weil sie Theorie dieses für uns UnHerms hat sich seither umfassend mit der Ethik befasst. Zugleich behauptet Herms, dass insgesamt seine Schrift Herkunft „not wholly superseded“ sei (ders., Encyclopedia, 363 Fn. 11). 264  Herms, Platonismus, in: MW, 155. 265  Vor allem meint Herms die von Schleier­macher übernommene antike Einsicht, dass Sittlichkeit in das Natürliche eingebettet, die Ethik von der Physik umgriffen ist (ebd.). 266  Herms, Herkunft, 97 f. 267  Herms, Philosophie, in: MW, 412. 268  Herms, Ethik des Wissens, in: MW, 2 (er spricht „von weitgehender Anerkennung“); ders., Psychologie, in: MW, 173; ders., Philosophie, in: MW, 401. Er bezieht sich auf die Aussage von Birkner: „die Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie bei Schleier­macher findet ihre Orientierung an der von ihm vorausgesetzten Wissenschaftssystematik“ (Birkner, Theologie, 43). 269  Vgl. Herms, Psychologie, in: MW, 176. 270  AaO. 193.

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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mittelbaren, Ersten und Ursprünglichen ist, Theorie des unmittelbaren Selbstbewußtseins“. 271 Damit rückt Herms seine früheren Aussagen in ein anderes Licht. In dem Aufsatz „Ethik des Wissens“ aus dem Jahre 1976 hatte er gezeigt, wie die Ethik als spekulative Wissenschaft der Dialektik als Kunstlehre systematisch vorgeordnet ist. 272 Dieses Verhältnis möchte Herms nun nicht revidieren, sondern „deutlicher“ bestimmen: Die Ethik bietet nämlich keine Theorie über die Möglichkeitsbedingung des Wissens. Alle Aussagen in der Ethik, die diese Bedingungen erläutern, haben den Charakter von „Lehnsätzen“ aus einer der Ethik „vorgeordneten Disziplin“, nämlich der Psychologie.273 Herms ist insofern zuzustimmen, als der Forschungsbedarf erheblich ist: Zwar sind mittlerweile detaillierte Studien entstanden, die wesentliche Teile des Gesamtwerkes durchleuchten, 274 aber das Verhältnis der Psychologie zu den anderen Schriften ist noch unterbestimmt. Es ist noch unklar, wie die Disziplin zur Dialektik steht und wie sie überhaupt zu verstehen ist.275 Eine umfangreiche Studie müsste also das Verhältnis von Ethik, Dialektik und Psychologie bestimmen. Diese Studie müsste berücksichtigen, dass bei Schleier­macher bis zu den letzten Schriften die Ordnung des Wissenschaftsgefüges und dessen Zentrum im Fluss zu sein scheinen. 276 Allerdings besteht die Schwierigkeit an der hermsschen Vorordnung der Psychologie darin, dass sie nicht explizit in der Wissens- und Handlungstheorie

271 

Ebd. (Hervorhebung im Original) in: MW, 1–48. Demnach stehen Dialektik und Ethik in einem Wechselverhältnis: „So gewiß Schleier­macher seine Ethik aus seiner Dialektik begreift, so gewiß begreift er seine Dialektik ihrerseits aus seiner Ethik.“ (AaO. 3) 273  Herms, Psychologie, in: MW, 183. 274 Vgl. Schröder, Identität; Grove, Deutungen; Schmidt, Konstruktion; U. Barth, Schleier­macher-Literatur. 275  Gunter Scholtz behauptet in seinem knappen Überblick zur Disziplin der Psychologie, dass Schleier­macher deren systematischen Ort im Gesamtwerk nicht genau benennt. Einmal ordnet Schleier­macher sie zusammen mit der Geschichtswissenschaft als empirische Wissenschaft von der Wirklichkeit des Geistes ein, ein andermal wird sie zur Voraussetzung für Logik, Physik und Ethik bestimmt, weil sie eine Verknüpfung von apriorischem und empirischem Denken bietet (Scholtz, Philosophie, 162 f., mit Hinweis auf die Psychologie in: SW 3/VI, 530, 406 f., 492 ff.). Die Psychologie ist demnach weder eine apriorische Philosophie noch eine rein empirische Disziplin, sondern eine vorläufige Verbindung von spekulativem und empirischem Denken (aaO. 166). 276  Arndt schlägt vor, die Psychologie als „höhere kritische Disziplin, welche das empirisch gegebene Geistige mit dem Spekulativen, dem transzendentalen Grund der Dialektik, vermittelt,“ zu verstehen. Dann ergibt sich ein viergliedriges System: Horizontal stehen Physik und Ethik nebeneinander, vertikal bilden Dialektik und Psychologie die Pole (ders., Psychologie, 158 f.). Gegen Herms wendet er ein, dass die Bemühungen einer ethischen oder psychologischen Fundierung des Wissensprozesses daran scheitern, dass sie nicht eine kritische Auseinandersetzung mit der Metaphysik Schleier­machers widerspiegeln. Nur unter Einbeziehung der metaphysischen Voraussetzungen der schleiermacherschen Wissenstheorie kann der Anspruch der Dialektik überprüft und kritisiert werden (ders., Metaphysik, 136 f.). 272  Wiederabgedruckt

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

von Schleier­macher zu finden ist.277 Wird sie denn implizit bestätigt? Im Folgenden ist eine umfangreiche Antwort nicht möglich, aber der hermssche Ansatz wird exemplarisch an der Dialektik und daraufhin an der Ethik überprüft. Die entscheidenden Textpassagen, die Herms systematisch verknüpft, stammen aus den Reden über die Religion, 278 aus der Ethik279, aus dem transzendentalen Teil der Dialektik280, aus der Einleitung und dem ersten Teil der Psychologie 281 und schließlich aus den grundlegenden Teilen der Einleitung in der zweiten Auflage der Glaubenslehre 282. Darüber hinaus wird der §39 aus Kurze Darstellung des theologischen Studiums angeführt, 283 in dem das Verhältnis von Religion und Wissen erläutert wird. 284 Im folgenden Abschnitt wird vor allem an der Exegese der Dialektik die Schwierigkeit deutlich, einen einheitlichen Rahmen für das Wissenschaftsgefüge finden zu können.

ii. U. Barth oder E. Herms? Interpretationen des Transzendentalen Herms spitzt seine Kant-Kritik in einem Vortrag (auf dem Schleier­macherKongress in Halle, 1999) mit Bezug auf die Schleier­macher-Rezeption des 19. Jahrhunderts zu. Er vertritt die These, dass im Gefolge von Wilhelm Herrmann und Albrecht Ritschl eine bis in die Gegenwart hineinragende Interpretation wirksam ist, in der Schleier­macher missverstanden wird. 285 Ritschl und Herrmann würdigen demnach die Zielsetzung der Religionstheorie Schleier­ machers nicht, weil sie bestimmten Grundentscheidungen des kantischen Kritizismus Folge leisten und übersehen, dass bei Schleier­macher ein Religionsverständnis entwickelt wird, dass in einer „dezidierten – wenn auch nicht in wünschenswerter Ausführlichkeit artikulierten – Kritik“ am kantischen Wirklichkeitsverständnis endet (273). Dabei wird Herms zufolge die Pointe Schleier­ machers zur Selbstständigkeit der Religion gegenüber dem Wissen und der Moral nicht verstanden, sondern nur im Horizont des kantischen Vernunft- und Wirklichkeitsverständnisses erläutert. Schleier­macher ordnet demnach die Vernunft-Konzeption Kants in den Rahmen eines umfassenderen Vernunftverständnisses ein, in dem das religiöse Bewusstsein eine maßgebliche Rolle für die 277 Die Ethik wird explizit als „Deduction aus der Dialektik“ entwickelt (Schleier­macher, Ethik, 7–9). Ich folge der Paginierung der Ausgabe von O. Braun von 1981/1990, während Herms der 1915 herausgegebenen Werke in vier Bänden folgt (vgl. ders., Ethik des Wissens, in: MW, 3). 278  Besonders ist hier die zweite Rede zu nennen (Schleier­macher, Reden, KGA I/2 222– 239). 279  Sowohl aus den Einleitungstexten (Schleier­macher, Ethik, 5–17, 181–226) wie auch aus Passagen der Vorlesung selbst (aaO. 52–79, 240–274). 280  In der Jonas-Ausgabe: Schleier­ macher, Dialektik, in: SW II/4.2 39–172 (besonders §214–216); bei Odebrecht 123–314 (besonders 294–314); bei Arndt: KGA II/10.1, 90–154 (besonders 141–146). 281  SW III/6 1–59, 76–216. 282  KGA I/13.1 und 2. 283  KGA I/6. 284  Vgl. z.B. Herms, Schleier­machers Verständnis, in: MW, 481. 285  Herms, Religion, in: MW, 272–295. Seitenzahlen im Folgenden im Text.

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theoretische und praktische Vernunft besitzt. Dieser grobe – bereits erwähnte – Zugriff ist nun genauer zu fassen. Die entscheidende Ergänzung zu Kant liegt für Herms darin, die unmittelbare Selbsterschlossenheit des Selbstbewusstseins herauszustellen, die der Selbstreflexion vorausgeht. Zwar ist diese Unmittelbarkeit laut Herms in einem Hinweis in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bereits bei Kant aufzuspüren, aber bei Schleier­macher wird sie grundlegend ausgearbeitet. Als Beleg wird die zweite Rede der Religionsschrift angeführt, die Herms so liest, dass die ursprüngliche Erschlossenheit des Subjekts als „Gefühl der Anschauung“ der Welt verstanden wird:286 Das Subjekt erlebt sich „für sich selbst als in freier Wechselwirkung“ mit der Umwelt erschlossen (291; Hervorhebung im Original). 287 Dieses ursprüngliche Bewusstsein wird von Herms als Möglichkeitsbedingung von Wissen und Handeln und als gefühlte Offenbarung des Ursprungs des Daseins aufgestellt. Ohne Religion sind Wissen und Handeln nicht möglich. Aber: Religion wird selbst nicht als unmittelbar, sondern als vermittelte, geschichtlich bestimmte Bewusstseinslage dargestellt;288 Religion ist selbst nicht die „Möglichkeitsbedingung“ von personalem Leben, sondern „das gewordene Innesein dieser Möglichkeitsbedingung“ (292); sie ist eine bestimmte Ausprägung des unmittelbaren Selbstbewusstseins. „Insofern ist sie diejenige erste und unhintergehbare Weise der Präsenz der realen Möglichkeitsbedingungen von Handeln und Wissen, aufgrund deren dann erst die bewußte und zielstrebige transzendentalphilosophische Ausarbeitung dieser Möglichkeitsbedingungen möglich ist.“ (ebd.)

Herms folgert, dass es eine religionsunabhängige Transzendentalphilosophie nicht gibt – und in dieser Folgerung ist die Nahtstelle seiner Schleier­macherInterpretation erreicht. Sie wird an anderer Stelle entfaltet: Das unmittelbare Selbstbewusstsein ist nämlich, so Herms, die allgemeine Form des „Sich-selbst-habens“, aber eben 286  „Anschauung ohne Gefühl ist nichts und kann weder den rechten Ursprung noch die rechte Kraft haben, Gefühl ohne Anschauung ist auch nichts: beide sind nur dann und deswegen etwas, wenn und weil sie ursprünglich Eins und ungetrennt sind.“ (Schleier­macher, Religion, KGA I/2 221, Z. 16–19) 287  „Der Streit zwischen Sinnesdaten oder Vernunftbegriffen um die Stellung als fundamentales Erkenntnisprinzip ist damit überholt zugunsten einer ursprünglicheren Erschlossenheit, welche älter ist als alle diese Unterscheidungen, ihnen vorausliegt, sie alle erst möglich sein lässt und die Gleichursprünglichkeit, das unauflösliche Aufeinanderbezogensein des Unterschiedenen, trägt und welche für das kraft solcher Erschlossenheit existente Subjekt unhintergehbar ist, weil sie sich einem die innerweltliche Subjektivität von jenseits ihrer selbst her konstituierenden Erschließungsgeschehen verdankt.“ (Herms, Neuprotestantismus, 315, meine Hervorhebung) 288  Die Vermittlung geschieht „nicht durch eine auf [die Religion] zielende Aktivität der Person“, sondern durch „die Erlebnisgeschichte dieser Person“ (Herms, Religion, in: MW, 292; Hervorhebung im Original).

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nicht in einer verfügbaren Weise; nicht als Besitz, der durch eine eigene Tätigkeit hervorgebracht wird, sondern nur in einer Weise, dass „über uns verfügt“ wird: „Wir haben uns als verfügtes Sein“. 289 Das Sein ist uns somit zugleich vorund aufgegeben. Die Beschreibung des Bewusstseins als „unmittelbar“ sollte dabei nicht, so präzisiert Herms, auf einen geschichts- und beziehungslosen Zustand verweisen. Vielmehr wird dieses „Sein“ als in Beziehung bestimmt: Unsere eigene Reflexion sei bereits das Resultat einer Reflexion, „einer Reflexion ursprünglicherer Art“, oder, wie Herms es auch bezeichnen kann, ein „Gefühlsgefühl“. 290 Ziel der Einführung dieses durchaus schwer nachvollziehbaren Begriffs ist es, das Gefühl auf einen reflektierten Möglichkeitsgrund zurückzuführen, nämlich auf das „Woher“ der schlechthinnigen Abhängigkeit – mit der Pointe, dass das letztgültige Beziehungsgefüge des unmittelbaren Selbstbewusstseins dessen Ursprungsrelation ist.291 Ist diese hermssche Deutung alternativlos und unbedingt zustimmungspflichtig, wie er behauptet?292 Ulrich Barth bietet eine gegenläufige Interpretation an und verfolgt jene Spur, die Herms als an Kant orientiert, kritisiert.293 Barths Gedankengang in dem Aufsatz zum „Letztbegründungsgang der ‚Dialektik‘ (Schleier­machers Fassung des transzendentalen Gedankens)“294 verleiht dieser Spur ihre Kontur und bereitet die Grundlage einer differenzierten Kritik. Barth will Schleier­machers Beitrag in der Dialektik einerseits im Horizont der gegenwärtigen Selbstbewusstseinsforschung würdigen und positioniert ihn auf der Seite der idealistischen Subjektivitätstheorien, die auf den Strukturbegriff Subjektivität aus konstitutionstheoretischen Gründen zurückgreifen. Andererseits hebt Barth hervor, dass Schleier­macher die Meinung von Herder, Hamann und Humboldt teilt, dass die Sprache eine konstitutive Rolle im Denk- und Wissensprozess spielt. Die Dialektik ist deshalb auch als Kommunikationswissenschaft zu verstehen. Beiden Theoriedimensionen geht Barth nach – zunächst der kommunikationstheoretischen, die dann in eine subjektivitätstheoretische 289 

Herms, Philosophie, in: MW, 412. 413 (Hervorhebung im Original). Dieser Begriff verwirrt und ist höchst problematisch. Die Gedankenschritte werden an dieser Stelle kaum mit Verweisen auf das Werk Schleier­machers belegt. Während am Anfang des Textes eine Vielzahl von Belegen vorliegt, werden hier (aaO. 412–414) nur zwei aus der Glaubenslehre angegeben. 291  Infolge dieser Konstruktion definiert Herms jedwedes Wissen – ob empirisches oder spekulatives, ob reines oder geschäftsmäßiges – als abhängig von dieser Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins. Die Verweise für diese Wissensdefinition bei Schleier­macher entstammen alle der Odebrecht-Ausgabe der Dialektik (aaO. 420–422). Deshalb macht es Sinn, auch die Jonas-Ausgabe zum Vergleich heranzuziehen. 292  AaO. 426. 293  U. Barth ist ein zu vermutender Adressat der hermsschen Kritik an der Schleier­ macher-Interpretation im Gefolge Ritschls und Herrmanns. Seine Texte sind m.E. die derzeit stärkste – denn kenntnisreiche und methodisch-konzentrierte – Alternative zur hermsschen Schleier­macher-Deutung. 294  U. Barth, Letztbegründungsgang, 353–385. 290  AaO.

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

225

Fragestellung überleitet. Weil Barth auf die genaue Verhältnisbestimmung nicht eingeht, wird auf sie noch einmal zurückzukommen sein (III.2.C.ii). Zunächst ist seinem Gedankengang zu folgen. Barth zufolge verfolgt Schleier­macher in der Dialektik das Argument, dass Wissen sich in konkreten Situationen ausbildet und gebunden ist an die jeweilige Sprachgemeinschaft – eine doppelte Kontingenz. Schleier­macher stellt dieser die „intersubjektive Geltungsintention“ entgegen, die in allem Wissen steckt (357). Um diesen Allgemeinheitsanspruch begründen und einlösen zu können, muss auf dialogische, geregelte Verfahren zurückgegriffen werden. Schleier­ macher setzt mit dieser Theorie über die Praxis der menschlichen Verständigung gegenüber dem Systemdenken seiner frühidealistischen Zeitgenossen einen Kontrapunkt, indem er die Grundlage der gesamten Dialektik in der kommunikativen Vernunft verortet. Gegen Kant und Fichte, so Barth an anderer Stelle, macht Schleier­macher geltend, dass „der Begriff einer reinen Vernunft eine irreführende Fiktion darstellt“ und dass Wissen – ob theoretischer oder praktischer Natur – „nur auf dem Weg intersubjektiver Verständigungsprozesse“, die sich immer zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen bewegen, erzeugt werden kann. 295 Im Zuge der Fragestellung dieser Arbeit ist es von entscheidender Bedeutung, dass Schleier­macher im Horizont der Entwicklungsgeschichte der „kommunikativen Vernunft“ von Barth insofern gewürdigt wird, als bei Schleier­macher erstmals die platonischen Hinweise auf die epistemologische Rolle des Dialogs aufgenommen wurden, die wiederum dann erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Erlanger Schule, von Karl-Otto Apel und schließlich von Jürgen Habermas entfaltet werden – auch wenn diese sich nicht auf Schleier­macher beziehen. 296

Schleier­macher erfasst den Prozess der Verständigung als Dissensbewältigung und zielt darauf, Regeln aufzustellen, die den Streit in ein gemeinsames Wissen überführen. Dass Dissens und Wissen einander letztlich ausschließen, ist die konsenstheoretische Voraussetzung möglichen Wissens. Darüber hinaus besteht Schleier­macher auf der Einsicht, dass ein Diskurs nur möglich ist, wenn alle Gesprächsteilnehmer auf ein und dieselbe Realität bezogen sind und diese wechselseitige Unterstellung wird von Barth als „adäquationstheoretische Präsupposition möglichen Wissens“ bezeichnet: „Die gemeinsame Bezogenheit auf Sein bildet die notwendige Bedingung intersubjektiver sprachlicher Weltauslegung“ (358). Indes entsteht der Dissens häufig in Bezug auf einzelne Aspekte des Seins, vor allem angesichts unterschiedlicher Referenzparadigmata und Begriffsapparate, und deshalb plädiert Schleier­macher dafür, dass möglichst das virtuelle Ganze in den Blick der Streitenden gerät. Darin liegt nach 295 

U. Barth, Kontingenzmomente, 353. Auf diese entscheidende theoriegeschichtliche Stellung Schleier­machers geht Herms nicht ein. 296  Ebd.

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Barth der kohärenztheoretische Anspruch der Dialektik. Zwar nimmt Schleier­ macher somit die wesentlichen Fragestellungen des traditionellen Wahrheitsdiskurses auf – die Konsens-, Adäquations- und Köhärenzproblematiken –, aber sie werden nicht wahrheits-, sondern wissenstheoretisch entfaltet.297 Im Mittelpunkt der weiteren Ausführung der Dialektik steht die Einsicht, dass jedwede Konstruktion von Wirklichkeit auf einer nichtkonstruierbaren Voraussetzung ruht, nämlich dem transzendentalen und transzendenten Grund allen Wissens: Der Grund ist transzendental, weil er die Möglichkeitsbedingung von Wissen darstellt, er ist transzendent, weil er als Grenze allen Wissens erfasst wird. „Der Sache nach“, so Barth, „handelt es sich um den philosophischen Begriff des Absoluten“ (361). Entscheidend ist, dass Schleier­macher diesen metaphysischen Begriff nicht über eine Deduktion, sondern über „eine reduktive Theorie der Transzendenzbeziehung des menschlichen Geistes“ einführt (ebd.). Überraschenderweise, so Barth, spitzt sich bei Schleier­macher zwar diese Frage auf das Problem einer letzten Korrespondenzbasis zu, aber er leistet die argumentative Durchführung nicht, weil er an die logischen und ontologischen Grenzen der Sprache stößt. Vielmehr muss er den Problemkomplex umbilden, 298 und so steuert Schleier­macher auf ein anderes Ziel zu: die Verbindung der Subjektivitätstheorie mit dem Begriff des Absoluten. Der Gefühlsbegriff leistet bei Schleier­macher demnach ein Zweifaches. Er stellt die mentale Einheit des Subjekts sicher und bietet den Bezugspunkt für die Letztbegründung (364). Im Gefühl präsentiert sich sowohl das Absolute als auch der Übergang vom Denken zum Wollen – in dieser doppelten Aufgabe wird das Gefühl zur Verbindungsstelle von Wissens- und Wahrheitstheorie. 299 Was aber genau ist das Gefühl? Barth räumt ein, dass sich die entscheidenden Stellen in der Dialektik präziser Interpretation entziehen und arbeitet seine eigene Lesart in Abgrenzung zu alternativen Zugängen heraus:300 Anders als Falk Wagner identifiziert er das Gefühl nicht mit der „Reflexion“, sondern mit dem „Zustandsbewußtsein eige297  Schleier­macher ist mit Hegel der Meinung, dass „die für die Verifikationsfragen jeglicher Art erforderlichen Vermittlungsschritte so komplex sind, daß sie nur in einem holistischen Wissensbegriff miteinander abgeglichen werden können“ (U. Barth, Letztbegründungsgang, 359). 298  So ergeben sich folgende Problemverschiebungen: 1. die Erweiterung des transzendentalen Problems, indem die ethische Frage miteinbezogen wird; 2. die Subjektivierung des transzendentalen Problems; 3. die Innenverlagerung des transzendentalen Problems, die auf die zentrale Stellung des Gefühlsbegriff hinausläuft. 299  Vgl. R. Barth, Wahrheit, 352 ff. 300  U. Barth verweist auf die entscheidende Passage im Vorlesungsmanuskript von 1822: „Im Denken ist das Sein der Dinge in uns gesezt auf unsere Weise, im Wollen ist unser Sein in die Dinge gesezt auf unsere Weise. […] Aber unser Sein ist das sezende und diese bleibt im Nullpunkt übrig; also unser Sein als sezend in der Indifferenz beider Formen. Dies ist das unmittelbare Selbstbewußtsein = Gefühl“ (Schleier­macher, Dialektik, KGA II.10,1, 266; U. Barth, Letztbegründungsgang, 368).

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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ner unbestimmter Bewußtseinsagilität, also mit dem „Innesein mentaler Lebendigkeit überhaupt“ (369). Anders als Manfred Frank will Barth die Beziehung zum „Sein“ nicht als konstitutive, sondern nur als regulative301 Idee verstehen. Frank versuche eine ontologische Aufladung des „Gefühls“ und verkenne, dass lediglich die „Verfaßtheit als unbestimmte mentale Agilität“ gemeint sei (370). Schließlich wendet er sich gegen Andreas Arndt, der das Gefühl mit dem individuellen Selbstbewusstsein gleichsetzt. Barth dagegen erklärt, dass es Schleier­ macher um die „Formbedingungen des Wissens, die schon rein als solche Allgemeinheitscharakter besitzen müssen“, geht (ebd.).302 Das Gefühl, so präzisiert Barth, wird strukturtheoretisch eingeführt. Insofern liegt Schleier­macher auch daran, das Gefühl vom Empfinden zu differenzieren – es geht nicht um „subjective Passivität“.303 Die Kategorie der Passivität greift für Schleier­macher hinsichtlich des Selbstverhältnisses des Gefühls deshalb nicht, weil der „Gegensatz des Subjektiven und des Objektiven hier nicht anwendbar ist“.304 Die Unmittelbarkeit besteht laut Barth vielmehr in der „ungegenständlichen Reflexivität“ (371).305 Aus dieser dichten Auseinandersetzung werden weitreichende Unterschiede zum hermsschen Entwurf erkennbar, die im Folgenden näher betrachtet werden sollen: Zunächst wird deutlich, dass das Paradigma, durch welches Barth Schleier­ macher interpretiert, dasjenige einer reinen Subjektivitätstheorie ist. Somit schwenkt er nicht nur von der Kommunikationstheorie ab, sondern die „Personontologie“, wie sie bei Herms grundlegend ist, findet erst recht keinen Anhalt.306 Barth nimmt dezidiert Abstand von einem realontologischen Bezug allen Wissens, denn das ‚Sein‘, von dem bei Schleier­macher die Rede ist, ist in dieser Interpretationslinie keine dem Subjekt externe Objektivierung, vielmehr fungiert es hier als Denkkategorie. Um den ontologischen Status des Diskurses geht es Schleier­macher im Streit um das reine Denken laut seiner eigenen Aussage in der Tat nicht, sondern lediglich um die Tatsache, dass zwei Streitende auf etwas anderes als Denken bezogen sein müssen.307 301 

‚Regulativ‘ zielt auf Regeln ab und besitzt zunächst keinen normativen Anspruch. „Das Persönliche liegt nicht im Gefühl, denn die Identität des Denkens und Wollens ist in Allen ein und dieselbe und ebenso der Uebergang“ (Schleier­macher, Dialektik, KGA II.10,2, 566). 303 Ebd. 304 Ebd. 305  U. Barth hat an anderer Stelle das „objektive Bewusstsein“ so charakterisiert: „I. Ein Vorstellendes stellt ein Vorgestelltes so vor, daß es dieses von sich bzw. von ihm unterscheidet. II. Vorstellen ist das Sich Beziehen eines Vorstellenden auf das von ihm Vorgestellte. III. Ein Objekt ist ein solches Vorgestelltes, welches vom Vorstellenden vorgestellt wird als unabhängig davon existierend, daß es von ihm vorgestellt wird.“ (Ders., Gott, 126 f.) Das unmittelbare Selbstbewusstsein wird als Form der Selbstbeziehung definiert, bei der die Bedingung III nicht erfüllt ist. 306  U. Barth, Vernunft der Religion, 192 f. 307  Schleier­macher, Dialektik, KGA II/10.1, 409, Z. 28 ff. 302 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Zwar lässt sich aus dieser Einsicht nicht folgern, dass das Gefühl, das als Erscheinung des Absoluten gilt, sich selbst setzt. Es verdankt sich Schleier­macher zufolge einem „ihm vorausliegenden Bestimmungsgrund“, der nicht endlich ist, aber eben nicht als transzendent im Sinne einer räumlichen Externalität gedacht wird (382). Aus der Identität von Denken und Sein lässt sich demnach weder eine ‚Ontologie‘ begründen, noch das Absolute selbst ableiten.308 Es geht lediglich um ein Fundierungsverhältnis und, wie bereits erwähnt, um ein „strikt reduktiv“ ausgearbeitetes Letztbegründungsmodell (378). Diese Transzendentalphilosophie als Begriff des Absoluten, in der die Grenze des Wissens im Mittelpunkt steht, findet Barth zufolge am ehesten am Vorbild Kants Orientierung, und zwar an der Kritik der praktischen Vernunft mit der Lehre vom höchsten Gut. Das kantische Postulat eines „Übereinstimmungsgaranten“ zwischen Naturordnung und Sittengesetz wird von Schleier­macher auf das Verhältnis von Denken und Realität (oder von Sprache und Welt) übertragen. Dieser Garant gilt somit für die praktische und die theoretische Vernunft als konstitutives (und nicht nur als regulatives) Prinzip (362). Die reine Transzendentalphilosophie, die aus dieser Interpretation folgt,309 steht im deutlichen Gegensatz zur ‚Fundamentalontologie‘ bei Herms. Wie aber ist das Verhältnis der Wissenstheorie zur Theologie und Kosmologie nach Barth zu bestimmen? Dazu ist es ausschlaggebend, die Unterscheidung zwischen der Dialektik und der Glaubenslehre, die Barth hervorhebt, einzuführen. Auch hier ist sich Barth bewusst, dass die entscheidenden Texte der Dialektik, in denen die Religion thematisiert wird, erhebliche interpretatorische Probleme bereiten. Dennoch wird der schleiermachersche Gedankengang so gedeutet, dass die Religion in der Wissenstheorie lediglich ergänzenden, aber keinen fundierenden Sinn verleiht.310 Dafür sprechen gute Gründe. Es ist, mit Schleier­macher gesprochen, „Bombast“, dem Gottesgedanken eine stärkere Begründungsleistung zuzusprechen,311 vielmehr muss auf „rein philosophischem Wege“ diese Begründung ge308  „Jeder Versuch einer gedanklichen Ableitung ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil der erforderliche erste Schritt, nämlich die Ur-Teilung jener höchsten Einheit von Ideellem und Reellem in deren endliche Zweiheit, sich dem Denken entzieht.“ (AaO. 378) 309  U. Barth, Prämissen, 344 f. 310  Grove bestimmt das Verhältnis von metaphysischem und religiösem Gottesgedanken wie „Unbestimmtes zu Bestimmtem, wie Abstraktes zu Konkretem“. Das soll nicht so verstanden werden, „daß die Metaphysik den Begriff Gottes klar denken und nur seine faktische Annahme nicht begründen kann und der Religion überlassen muß. Im Gegenteil, der Unterschied hinsichtlich der Fähigkeiten des metaphysischen und des durch die Religion angeregten Denkens betrifft den Inhalt des Gottesbegriffs. Der betreffende Zuwachs an Bestimmtheit des Begriffs vom gemeinsamen Korrelat der Metaphysik und der Religion korrespondiert mit einem proportionalen Verlust an allgemeiner, objektiver Geltung“ (ders., Deutungen, 608). 311  „Anders als daß die Gottheit als transcendentes Sein das Princip alles Seins und als transcendente Idee das formale Princip alles Wissens ist, ist auf dem Gebiet des Wissens nichts von ihr zu sagen. Alles andere ist nur Bombast oder Einmischung des religiösen, wel-

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leistet werden.312 Schleier­macher nimmt Abstand von der in den „Reden“ bemühten Verschmelzung von Gottes- und Weltgedanken im Begriff des Universums. In der Dialektik (vor allem in §216–227 der Jonas-Ausgabe) wird die wechselseitige Beziehung der beiden Ideen aufgezeigt. Für Barth ist also der Übergang vom transzendentalen zum religiösen Gefühl nur als Vollzug einer Selbstdeutung zu verstehen. Den schleiermacherschen Sinn für eine stärkere Trennung zwischen dem metaphysischen und religiösen Gottesgedanken und deren Begriffsbildungen hat Barth hier richtig erkannt, denn Schleier­macher fordert zwei „ganz verschiedene Thätigkeiten“ ein: „Diejenigen, welche die religiöse Seite des unmittelbaren Selbstbewußtseins über die Function der Speculation stellen wollen […], verwechseln 2 ganz verschiedene Thätigkeiten. Es giebt freilich über das unmittelbare Selbstbewußtsein und über das religiöse eine Reflexion, aber diese ist durchaus nicht die Analyse der Denkfunction in Bezug auf den transcendentalen Grund [Ergänzung Mitschrift Hagenbach: das ist aber etwas ganz andres, worin wir bis jetzt begriffen gewesen sind]. Was sind die Resultate der Reflexion über das religiöse Selbstbewußtsein? Wir finden sie in der Form der Glaubenslehre […].“313

Somit läuft es für Barth auf ein „echtes Kompatibilitätsmodell“ zwischen Transzendentalphilosophie und Religion hinaus: Die Dialektik begnügt sich demnach „aus guten Gründen mit dem, was man heute wechselseitige Anschlußrationalität“ nennt – also „nicht auf eine Globalfunktion der Religion, sondern auf deren bewußte Selbstpartikularisierung, aber eine solche, die sich nach allen Dimensionen der Kultur als theoretisch und praktisch anschlußfähig erweist“ (385). An dieser Schlussfolgerung wird die Konsequenz der unterschiedlichen Interpretationszugänge sichtbar: Herms zufolge gilt es, die orientierende Bestimmungskraft des religiösen Bewusstseins für Handeln und Erkennen aufzuklären, Barth betreibt demgegenüber die wissenschaftlich anschlussfähige Partikularisierung der Religion; für Herms bahnt eine empirische Psychologie den Zugang zur Transzendentalphilosophie, für Barth läuft diese empirische Fundierung transzendentaler Argumentation ins Leere. Profiliert Herms die Disziplinen der Kosmologie und Theologie auf der Basis der ‚Fundamentalontologie‘ gegenüber einer sich verselbstständigenden Philosophie, wird bei Barth eine gegenläufige Interpretation entwickelt, welche das Verhältnis von Theologie und Philosophie zu entflechten beabsichtigt. Um den divergenten Richtungssinn dieser Programme näher verstehen zu können, ist es von Interesse, dass auch ches als hieher nicht gehörig hier doch verderblich wirken muß.“ (Schleier­macher, Dialektik, KGA II.10,1, 43) 312  „Wenn nun das Gefühl von Gott das religiöse ist: so scheint deshalb die Religion über der Philosophie zu stehen, wie auch viele behaupten. Es ist aber nicht so. Wir sind hieher gekommen, ohne von dem Gefühl ausgegangen zu sein, auf rein philosophischem Wege.“ (AaO. 143) 313  AaO. 2, 573.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Barth (wie bereits Herms, nur mit gegenläufigem Interesse) Schleier­macher kritisch weiterentwickelt. Für Barth werden auch in der Artikulation der religiösen Seite des Gefühls Deutungsleistungen vorausgesetzt (383Fn.62). Was die Bestimmung des Gefühlsbegriffs in der Glaubenslehre betrifft, werden diesem von Schleier­macher kaum leistbare Operationen zugeschrieben. Es sind komplexe „Reflexionsprodukte“, so Barth, die Schleier­macher phänomenologisch aus dem „unmittelbaren Selbstbewusstsein“ gewinnen will, nämlich die vielschichtige Beziehung zu Anderem.314 Es stellt sich die Frage, ob die Totalitätsidee der Welt und der Gedanke der absoluten Einheit aus dem Gefühl entwickelt werden können oder ob sie nicht vielmehr bereits Leistungen der Vernunft in Anspruch nehmen. Indem Schleier­macher die Reflexion erst am Übergang von Gefühl in Sprache auftreten lässt, bleibt unklar, wie die im schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl vollzogenen Überlegungen erklärt werden können. Infolgedessen schlägt Barth vor, das religiöse Bewusstsein als komplexe, integrierte „Duplizität von Erleben und Deuten“ zu bestimmen, in der „Unmittelbarkeit“ und „Reflexion“ nicht mehr gegeneinander ausgespielt, sondern als notwendige Ergänzungen betrachtet werden: Zwar sind Erleben („also Empfindungen, Affektregungen, Stimmungen und Gefühle“) und Deuten („also formative, konnektive, interpretative und konstruktive Operationen“) unterscheidbar, aber im Erleben ist ein deutendes Element miteinbezogen und in der Reflexion können habitualisierte, „passive Synthesen“ vorausgesetzt sein.315 Am Ende dieser ersten Rückfrage zeigt sich, wie schwierig es ist, ein eindeutiges Ergebnis anhand der Dialektik zu ermitteln, denn dieser Text ist vielschichtig, interpretationsoffen und die Ansätze von Herms und Barth widersprechen sich. Der gegenläufige Richtungssinn der beiden Schleier­macher-Interpretationen lässt sich über Begriffe wie die der ‚Individualität‘ und der ‚Intentionalität‘ präzisieren: Was den ersten (schleiermacherschen) Begriff betrifft, lässt sich feststellen, dass während bei Herms die Individualität durch die Ausbildung des jeweils Vorgegebenen bestimmt wird, ist sie bei Barth der Ausdruck der Selbstbestimmungsleistung des Subjekts. 316 Was ‚Intentionalität‘ angeht, verbindet beide Denker die (husserlsche) Einsicht, dass dieser Begriff als Grundsachverhalt des bewussten Lebens gilt. Für Barth stellt der Begriff das Vermögen dar, sich auf „mentale Gehalte“ beziehen zu können, die vom Subjekt produziert werden, aber dennoch von diesem unterschieden werden.317 Für Herms dagegen ist diese Produktivität nur mit Blick auf die passive Erschlossenheit – er spricht von „einer erlittenen Intentionalität“, die „rein aus dem Erleben“ stammt – möglich.318 314 

U. Barth, Vernunft der Religion, 200. 202 f. (mit Verweis auf die Emotionspsychologie).Vgl. ders., Gehirn, 427–460, besonders 452 ff. 316  Vgl. Herms, Verständnis, in: MW, 430; U. Barth, Individualitätskonzept, 311. 317  U. Barth, Gehirn, 448. 318  Herms, Intentionalität, in: RGG, 189, meine Hervorhebung. 315  AaO.

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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Ich mache nun gegenüber beiden Interpretationen Einwände geltend, die sie angesichts ihres jeweiligen exklusiven Anspruchs aus dem Blick verlieren: Einerseits muss mit Barth gegenüber der hermsschen Interpretation festgehalten werden, dass es bei Schleier­macher in der Dialektik eine religionsunabhängige Transzendentalphilosophie gibt. Schleier­macher betrachtet die Phänomene der ‚Religion‘ und des ‚Wissens‘ zwar in einem Beziehungsgefüge, aber die religiöse Gewissheit ist nicht das fundierende Moment allen Wissens.319 Von dem „ontologischen Aposteriorismus“320 allen Denkens, welchen Herms betont, kann in den hier untersuchten Belegstellen nicht die Rede sein. In der Dialektik hebt Schleier­macher vielmehr die konstruktiven Elemente des Wissensaufbaus hervor. Deshalb macht es Sinn, wie Barth zeigt, auf dem unauflösbaren Zusammenhang von Erleben und Deuten gegenüber der eindeutigen Vorordnung des Erlebens vor der Reflexion, wie Herms meint, zu bestehen. Der Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins setzt bereits eine komplexe Deutungsleistung voraus – der Begriff des ‚Unmittelbaren‘ ist also selbst ein Deutungsprodukt (vgl. die weiteren Überlegungen unter III.3.B.ii). Insgesamt bereitet Barth eine sinnvolle Entflechtung von Dialektik und Glaubenslehre wie auch von Metaphysik und Religion vor. Eine Interpretationslinie wird erkennbar, die den zwei Domänen, ‚Vernunft‘ und ‚Religion‘, mehr Eigenständigkeit und somit ihre wechselseitige Befruchtung in Aussicht stellt. Andererseits verspielt die barthsche Interpretation den realistischen Sinn der Dialektik. Zwar bietet er nachvollziehbare Gründe, den fundamentalontologischen Ansatz von Herms zu problematisieren, aber das hermssche Argument, dass das Vorgegebene Bestimmungskraft für die Wissenskonstitution besitzt, kann nicht vollständig zu Gunsten der konstruktivistischen Wissensgenese aufgegeben werden;321 bei Barth wird die Gegenüberstellung der Unmittelbarkeit des Gefühls und der Mittelbarkeit des Denkens zu Lasten ersterer eingezogen.322 Schleier­macher scheint diese Gegenüberstellung nicht auflösen zu 319  Oder anders ausgedrückt: Die hermssche Argumentation überspannt die Bedeutung des religiösen Bewusstseins für die Wissenstheorie in einer der Dialektik widersprechenden Weise. Herms baut seine Interpretation der Wissenstheorie Schleier­machers auf einem Gefühlsbegriff der ontologischen Unmittelbarkeit auf, der in der Dialektik differenzierter gefasst wird. Angesichts der Grundlage der hermsschen Interpretation – ihrer schmalen Textbasis und ihrer Systematik – ist diese als problematisch anzusehen und die für Schleier­macher wesentliche „Grenzziehung zwischen Philosophie und Theologie“ einzufordern (Schmidt, Konstruktion, 163 Fn.132). 320  Herms, Erbe, in: MW, 221 (Hervorhebung im Original). 321  Bei U. Barth verflüchtigt sich der Sinn Schleier­machers für die ‚vorgegebene Wirklichkeit‘ vollkommen. Die Verhaltenheit, die er gegenüber dem passiven Bezug zum ‚Realen‘ aufweist, geht so weit, dass er selbst die sonst von ihm hervorgehobene Position von Dieter Henrich dafür kritisiert, dass dieser eine mittlere Position zwischen Idealismus und Realismus sucht, vgl. U. Barth, Gedanken, 478 ff.; meine Diskussion unter III.3.B.ii. 322  Vgl. für diese Gegenüberstellung Schleier­ macher, Dialektik, in: KGA II/10.2, 240; Gräb, Religion, 159.

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wollen: Es muss vielmehr der schwierige Weg zwischen dem hermsschen ‚Realismus‘ und dem barthschen ‚Idealismus‘ gegangen werden, um Schleier­macher gerecht zu werden.323 Auch wenn in der Dialektik die Frage nach dem ontologischen Status des Subjekts nicht im Mittelpunkt steht, wie Barth zu Recht darstellt, bleibt die Frage nach dem ‚Sein‘, also nach dem Wirklichkeitsbezug des Bewusstseins, für Schleier­macher bedeutsamer als Barth meint, weil es Bewusstsein nur unter der Voraussetzung von vorgegebener Wirklichkeit gibt.324 Zudem ist unklar, was Barth meint, wenn er die Anschlussfähigkeit der Religion an den Wissenschaftsdiskurs gegenüber einer vermeintlichen ‚Globalfunktion‘ der Religion betont.325 An anderen Stellen seines Werkes ist erkennbar, dass nur in der Religion – also in der Funktion der Deutung unbedingten Sinns – die ‚Tiefenhermeneutik‘ des Daseins möglich ist. Dann allerdings ist die Religion nicht nur kompatibel mit der Wissens- und Handlungstheorie, sondern ein unverzichtbares Element, um diese hinreichend zu erfassen. In summa zeichnet sich ab, dass zwar eine Form von „Gewalt“ an den ambiguen Texten unvermeidlich ist, weil sie weiterentwickelt werden müssen.326 Aber in welche Richtung diese Entwicklung geht, darum muss im Folgenden weiter gestritten werden: Wie sind die aktiven, selbstdeutenden, reflexiven und konstruktiven Aspekte mit dem Moment der Passivität, des Vorgegebenen und Unverfügbaren zu bestimmen? Kann das Verhältnis von ‚Sein‘, ‚Denken‘ und ‚Kommunikation‘, das Schleier­macher beschäftigt, näher erläutert werden?327

III.2.C. Welcher Stellenwert wird der Kommunikationstheorie im Gesamtwerk verliehen? Der Ausgangspunkt für diese Rückfrage liegt in der bisher erarbeiteten Einsicht, zwei weitreichende Problemkreise näher erörtern zu müssen: Einmal ist das Verhältnis von ‚Religion‘ und ‚Vernunft‘ im schleiermacherschen Werk weiter zu klären: Wie wird Wissen generiert und wie ist mit dem Konflikt um strittiges Wissen umzugehen? Welche Bedeutung spielt die Weltanschauung der 323  Die notwendige Verbindung von konstruktiven und passiven Elementen ist in der folgenden Schleier­macher-Interpretation wie auch im nächsten Kapitel näher zu betrachten (vgl. auch III.3.B). 324  Frank drückt es so aus, dass das Selbstbewusstsein von sich aus auf vorausgesetzte Wirklichkeit verweist, welche die „Unselbstgenügsamkeit des Selbstbewusstseins“ aufzeigt (ders., Auswege, 11). 325  U. Barth, Letztbegründungsgang, 385. Vgl. Grove, Leben, 250 f., der den Wert deutungstheoretischer Ansätze bestätigt, aber vor einer „hypertrophen Verwendung des Deutungsbegriffs in Bezug auf Schleier­macher“ warnt. Dieser habe zukunftsweisende Impulse gesetzt, die von späteren Hermeneutikern weiterentwickelt werden. 326  Darin sind sich wohl Herms und Barth einig; vgl. U. Barth, Christentum, 119 f. 327  Diese Frage ist auch deshalb hier von großer Bedeutung, weil sie die drei wesentlichen Paradigmata der ‚Ontologie‘, ‚Bewusstseinstheorie‘ und ‚Intersubjektivität‘ bei Habermas spiegelt.

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Streitenden? Steht bei Schleier­macher m.E. der Kritik ermöglichende Diskurs im Mittelpunkt seines Werkes, rückt Herms dagegen diesen eher an den Rand seiner Interpretation des schleiermacherschen Erbes. Zum zweiten stellt sich die Frage, die Barth bereits bearbeitet: Welche Bedeutung kommt der Kommunikation als Grundlage der Wissenskonstitution zu? Sollte Schleier­macher als Sprach- und Kommunikationstheoretiker avant la lettre betrachtet werden? Welchen Stellenwert verleiht er der Intersubjektivität? Nun stellen diese Fragen eine derart umfangreiche Problemlage dar, dass im Folgenden der Fokus auf das Verhältnis von identischem und individuellem Symbolisieren in der hermsschen Interpretation ausgerichtet bleibt. Zunächst wird dabei die kritisch-kommunikative Ausgangsbasis der Bearbeitung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Fragestellungen bei Schleier­macher betrachtet (i) und daraufhin das Verhältnis von Intersubjektivitäts- und Subjektivitätstheorien erörtert (ii). i. Kommunikatives Streiten – Vermittlung zwischen Identischem und Individuellem Bernd Oberdorfer bemängelt in seiner Studie zur „Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit“, dass die Erforschung des schleiermacherschen Gesamtansatzes am Individuum orientiert ist und die sozialtheoretische Dimension lediglich als „Konsequenz“ dargestellt wird.328 Problematisch ist demnach, wenn subjektivitätstheoretische Zugänge mit dem Anspruch auftreten, die grundlegende Struktur der schleiermacherschen Theoriebildung gefunden zu haben. Weder das Frühwerk noch die Hauptschriften lassen aber solch eine Reduktion zu. Oberdorfer hebt einleitend den „kommunikationstheoretischen Ansatz“ der Dialektik, die „Theorie interpersonalen und interkulturellen Verstehens“ der Hermeneutik und die Kulturtheorie der integrativen und zentralen Schrift, der Ethik, hervor, die aus einem ursprünglichen und sich nachhaltig entwickelnden sozialtheoretischen Interesse hervorgehen.329 In der Tat: In seinem Gesamtwerk ist Schleier­macher in bezeichnender Weise an der intersubjektiven Genese und Produktion des Wissens interessiert.330 Schleier­macher stellt bereits in dem 1799 publizierten Versuch einer Theorie des geselligen Betragens den Dialog für die Ethik und die Wissenschaft als zentrales Thema auf. Das freie Gespräch eröffnet nicht nur Einsichten in fremde und andere Welten, sondern ihm eignet ein „sittlicher Zweck“.331 Dieser Zweck dient der freien Geselligkeit und der Ausbildung einer individuellen Identität.332 Das Anliegen, Gemeinschaft und Individuum gleichzeitig und gleichursprünglich im Blick zu haben, ist bereits als Grundfigur 328 

Oberdorfer, Geselligkeit, 1 (Hervorhebung im Original). AaO. 3 f. 330  Die Forschungslage wird in dieser Hinsicht mittlerweile weit positiver einzuschätzen sein. 331  Schleier­macher, Theorie des geselligen Betragens, KGA I/2, 165. 332  AaO. 168; vgl. Burdorf, Streitgespräche, 8 f. 329 

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in den ersten Versuchen einer Auseinandersetzung mit Aristoteles bemerkbar und ist ein wesentliches Motiv für die wiederholte Hervorhebung der Notwendigkeit freien Austauschs.333 Was könnte „lächerlicher“ sein, so Schleier­macher nun weiter, als dass man „hartnäckig“ bei seiner Meinung stehen bleibt und auch andere „mit Gewalt“ dort festhalten will.334 Diese Sturheit betrifft nicht nur den kleinen Rahmen der Konversation, vielmehr ist sie ebenso in der Wissenschaft und der Politik anzutreffen. Auch in der Religion – so die Reden und die Glaubenslehre – gilt es, die Interdependenz der Wissensgenese zu beachten. „Ist die Religion einmal, so muß sie nothwendig auch gesellig sein: es liegt in der Natur des Menschen nicht nur, sondern auch ganz vorzüglich in der ihrigen“ – emphatisch fordert Schleier­macher dazu auf, die praktische und intellektuelle „Wechselwirkung“ mit den anderen Mitgliedern der „Gattung“ freizügig zu suchen.335 Ulrich Barth expliziert die Interaktionsebene der Religion auf dem Hintergrund der anthropologischen Annahmen Schleier­machers und zeigt, dass dieser wesentliche Einsichten der gegenwärtigen Religionssoziologie vorwegnimmt.336 Weil Schleier­macher mit dem Wechselwirkungsverhältnis zwischen Leib und Psyche rechnet, offenbaren sich Emotionen ganz ohne Intention in leiblichen Äußerungen, z.B. in Mimik und Gestik. Weil die anderen Menschen „strukturell isomorph“ sind, können sie durch Wahrnehmung, Empathie und Nachbildung die Gemütszustände spiegeln; insofern „ist das religiöse Gefühl für [Schleier­macher] von Hause aus kommunikativ“.337 Nun ist diese intersubjektive Wechselwirkung im Bereich der Emotionen wesentlich mit derjenigen des Denkens und des Sprechens verbunden. Ein Blick auf Schleier­ machers Hermeneutik und Kritik zeigt, dass er eine allgemeine Kunstlehre zu begründen intendiert, die nicht auf den einen oder anderen speziellen Gegenstand des Verstehens gerichtet ist. 338 Vielmehr ist seine Arbeit durch die Herausforderung gekennzeichnet, die transzendentalen Bedingungen des Verstehens mit dessen individueller Erschließung zu vermitteln. Der Prozess der Verständigung verdient Aufmerksamkeit, weil das Missverstehen die Regel darstellt und eine Universalhermeneutik die Prozeduralität gelingenden Verstehens berücksichtigen muss. Diese verweist über die Grenzen der Disziplin hinaus, denn das Werk Schleier­machers, so Gunter Scholtz mit Recht, ist insgesamt als ein Verstehensprozess des Menschen in seiner sozialen Wirklichkeit anzusehen.339

333  Oberdorfer, Geselligkeit, 23 ff. U. Barth kritisiert zu Recht, dass ein systematisches Ergebnis dieser breit gefächerten Gesamtstudie Oberdorfers fehlt (ders., Schleier­macherLiteratur, 416). 334  Schleier­macher, Theorie des geselligen Betragens, KGA I/2, 165, 180 f. 335  Schleier­macher, Religion, KGA I/2, 267, Z. 16–26; vgl. Schleier­macher, Glaube, KGA I/13.1, 53 (§6). 336  U. Barth, Vernunft der Religion, 197–200. 337  AaO. 199. Er verweist auf die Entwicklung Schleier­machers, der erst später erkennt, wie wichtig die institutionelle Verankerung der inhaltlich übereinstimmenden Kommunikation ist. 338  Frank, Einleitung, 25. 339  Scholtz weist zu Recht darauf hin, dass Schleier­ machers originaler und wesentlicher Beitrag zur Hermeneutik-Debatte des 20. Jahrhunderts nicht allein in seiner Hermeneutik-Schrift zu suchen ist, sondern auch in seiner Dialektik, Psychologie und Ethik (ders., Ethik, 92).

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Derweil stellt Schleier­macher einen inhärenten Zusammenhang zwischen der Rhetorik, Hermeneutik und Dialektik her. Das „Werden des Wissens“ ist abhängig vom Reden und Verstehen, deshalb ist für Schleier­macher die Einheit von Sprechen und Denken zentral. Es gibt keinen Gedanken ohne Rede; die Sprache ist das Wirklichwerden der Gedanken. „Betrachten wir nun das Denken im Akte der Mitteilung durch die Sprache, welche eben die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens ist, so hat dies keine andere Tendenz, als das Wissen als ein allen gemeinsames hervorzubringen.“340 So beruht der Umgang mit dem Neuen Testament wie auch der Umgang mit Texten überhaupt auf einer dialogischen Methodik. In diesem Sinne würdigt Schleier­macher Platon in seiner Eigenschaft als dialektisch-dialogischer Denker,341 der die technischen Regeln der Konstruktion und die Prinzipien realen Wissens verbindet – eine Leistung, die als Vorbild für Schleier­machers Dialektik gilt.342

Wird der Dialog als wesentliches, durchgehendes Motiv der konzeptionellen Arbeit Schleier­machers bestimmt, ist dieser nicht als unkritische Befürwortung des Miteinanders misszuverstehen. Während nämlich im Frühwerk der Dialog als harmonistische Symphilosophie begriffen wird,343 wird die Konzeption differenziert fortentwickelt. Der Kommunikationsbegriff wird im Horizont des Streitens mit der Zielorientierung des reinen Denkens weiterverfolgt und steht in Wechselwirkung mit der Kritik. Dieser diffizile Zusammenhang des Streites, der Sprache, der Vernunft, der Kritik und der Kommunikation bedarf der Erläuterung. Dazu ist auf die durch Herms eingeführte Erörterung der systematischen Stellung der Kritik im Rahmen seiner detaillierten Verhältnisbestimmung von Dialektik und Ethik zurückzugreifen.344 Herms verweist zu Recht darauf, dass die Einordnung ‚der Kritik‘ in das System der Wissenschaften bei Schleier­ macher problematisch ist. In einem ersten Schritt untersucht Herms die Prämissen der Funktionsbestimmung des kritischen Verfahrens, nämlich die Dis340  Schleier­macher, Hermeneutik, 77. So ergibt sich das gemeinsame Verhältnis der Grammatik und Hermeneutik zur Dialektik, „als der Wissenschaft von der Einheit des Wissens“ wie folgt: „Jede Rede kann ferner nur verstanden werden durch die Kenntnis des geschichtlichen Gesamtlebens, wozu sie gehört, oder durch die Kenntnis der sie angehenden Geschichte. Die Wissenschaft der Geschichte aber ist die Ethik. Nun aber hat auch die Sprache ihre Naturseite; die Differenzen des menschlichen Geistes sind auch bedingt durch das Physische des Menschen und des Erdkörpers. Und so wurzelt die Hermeneutik nicht bloß in der Ethik, sondern auch in der Physik. Ethik aber und Physik führen wieder zurück auf die Dialektik als die Wissenschaft von der Einheit des Wissens.“ (Ebd.) 341  So wird in der Parmenides-Interpretation von Schleier­macher hervorgehoben (ders., Philosophie Platons, 133), dass nicht nur Sokrates im Gespräch mit seinem Gegenüber ist, sondern dass Platon selbst eine Konversation in kritischer, aber die Vorgänger durchaus würdigender Absicht führt – auch wenn Schleier­macher selbst hier wesentliche Schwierigkeiten des Dialogs missachtet, vgl. Lamm, Force, 253. 342  Vgl. Rohls, Wahrheit, 186 f. 343  Vgl. Tholen, Erfahrungen, 107–124, der in diesem Zusammenhang Widersprüchlichkeiten bei Schleier­macher aufspürt. 344  Herms, Ethik des Wissens, in: MW, 1–48, hier 29–38. Seitenzahlen im Folgenden im Text.

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kontinuität zwischen spekulativem und empirischem Wissen. Was unter dieser Differenz wie auch ihrer wechselseitigen Bestimmtheit zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Sachverhalt, dass bei Schleier­macher spekulatives und empirisches Wissen sich einem „Sezen“ verdanken: „Die Meinung ist also: Kein Wissen kommt vor, ohne entweder als empirisches oder spekulatives gesetzt zu sein.“ (30) In diesem Zusammenhang kommen allerdings zwei divergente Begriffe der „Kritik“ vor. Der eine Begriff stellt die „weltweisheitliche“ Beziehung zwischen dem Beschaulichen und Erfahrungsmäßigen her, der andere stellt ein Verfahren dar,345 „welches sucht, indem es diese Gestaltungen in nothwendigen Bezug auf einander bringt, schon im Werden der Wissenschaft ihre Vollkommenheit aufzufinden“.346 Im ersten Begriff wird reines Wissen vorausgesetzt, das durch die weltweisheitliche Kritik auf empirisches Wissen bezogen wird, der zweite setzt demgegenüber empirische Gegebenheiten voraus, die durch Kritik spekulativ entwickelt werden. Des Weiteren: Während das erste kritische Verfahren eher eine subjektive, lebensweltliche Zuweisung objektiven Wissens betreibt,347 bedingt das zweite kritische Verfahren die Konstitution spekulativen Wissens. Herms löst diese Spannung wie folgt auf: Als erstes bestimmt er eine Entwicklung innerhalb des Kritikverständnisses. Schleier­macher habe sich vorerst zu Lasten der „wissenskonstitutiven Rolle der Kritik“ für eine „Unterordnung der Kritik unter die Idee des Wissens überhaupt“ entschieden (33).348 Später sei dann mit „zunehmender Konsequenz“ die „wissenshervorbringende“ Bedeutung der Kritik in den Mittelpunkt getreten (36). Insgesamt stellt Herms zwar fest, dass es wissenschaftliches Wissen „nur im Modus des Werdens durch Kritik“ gibt (38). Aber Herms will nun, wie bereits mehrfach erklärt, das Gesamtgefüge des Wissens – zu der die Kritik gehört – auf eine „Systemformel“ Schleier­machers zurückführen (ebd.). Diese stellt sich im Rahmen seiner „alternativen Ontologie, deren spezifischer Sinn […] ein theologischer ist“, aus den ausgeführten Implikationen des unmittelbaren Selbstbewusstseins zusammen (39 Fn. 231). Herms beabsichtigt den Beleg vorzulegen, dass das unmittelbare Selbstbewusstsein als „Indifferenz- und Ursprungspunkt von organisierendem und symbolisierendem Vernunfthandeln thematisiert“ und somit als das „Realprinzip“ des Handelns und Wissens begriffen wird (46). An seine Exegese der Ethik stellen sich vor allem zwei Fragen. Herms hebt zu Recht erstens mit 345 

Schleier­macher, Ethik, 217 (Abschnitt III der Einleitung von 1816/17). AaO. 200 (aaO. Abschnitt I). 347  Insofern liegt die Kritik oder das Kritische hier „außer [sic] der realen Wissenschaft, es fehlt ihm an der Gemeingültigkeit und an der festen Gestaltung von dieser; denn es ist immer in einem höheren Grade als die Darlegung eines realen Wissens das Werk des Eigentümlichsten in dem Menschen“ (aaO. Abschnitt III, 549). 348  Er versucht nachzuweisen, dass seit der Kritik der Sittenlehre Schleier­macher auf die Abhängigkeit der Kritik von einem sie orientierenden Wissen rekurriert – mit Bezug auf die Ethik-Einleitung von 1814/16 (Herms, Ethik des Wissens, in: MW, 33). 346 

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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entsprechenden Einzelnachweisen hervor, dass für Schleier­macher das individuelle Symbolisieren eine grundlegende Funktion für das identische Symbolisieren und Organisieren besitzt (vgl. 43 Fn. 246). Aber diese Erkenntnis wird bei Schleier­macher eingerahmt durch die gegensätzliche Einsicht, dass das identische Symbolisieren auf das individuelle Erkennen und Handeln einwirkt. Geradezu durchgängig hebt Schleier­macher hervor, dass Einerleiheit und Verschiedenheit, Denken und Fühlen, Identität und Individualität sich wechselseitig bestimmen – dass sie also unbedingt ineinandergreifen.349 Zweitens argumentiert Herms zu Recht, dass der Indifferenz- und Ursprungspunkt selbst kein Symbol ist, sondern der Vereinigungspunkt von Natur und Vernunft im transzendenten Grund der Gottesbeziehung. Um allerdings diesen Punkt zu belegen, weicht Herms auf Belege aus der Glaubenslehre und der Dialektik aus (45).350 Letztere Passagen sind in ihrer Bedeutung bereits besprochen worden. Insgesamt muss deshalb die von Herms postulierte „Systemformel“ in der Ethik als problematisch angesehen werden, da weder der individuelle Bezug allen Wissens noch der transzendente Grund auf diese Weise im Mittelpunkt stehen.351 Herms vernachlässigt andere Aspekte des Zusammenhangs von Wissen und Handeln zu Gunsten dieser „Systemformel“. So kommt eine Pointe des schleiermacherschen Kritikbegriffs, nämlich die wissenskonstituierende Funktion nicht hinreichend zur Geltung. Sarah Schmidt arbeitet z.B. den Kritikbegriff unabhängig von einer solchen Systemformel im Zusammenhang einer Theorie des Endlichen heraus, die in eine „Struktur oder Architektur der Wechselwirkungszusammenhänge“ eingebettet ist.352 Bevor nun die Ethik noch einmal genauer in den Fokus dieser Arbeit gerät, ist im Folgenden dieser Wechselwirkungszusammenhang zwischen identischem und individuellem Wissen anhand (vor allem) der Dialektik zu erkunden. Drei Aspekte sollen ergänzend und präzisierend zur hermsschen Einordnung der kritischen Verfahren benannt werden: Als erstes gilt es, den Ausgangs- und Zielpunkt schleiermacherschen Denkens in der Dialektik nochmals hervorzuheben:353 Eine „Kunstlehre des Streitens“ soll am Anfang der Wissenschaft stehen,354 sodass durch reines Denken 349 

Schleier­macher, Ethik, 70, §208; 591, Z.2; 254, §46; 260 u.v.a. verweist auf die Dialektik, KGA II/10.1, 266 ff. und die Glaubenslehre, §4. Der Beleg aus der Ethik, 74, §228 verweist m.E. nicht auf den transzendenten Grund, sondern auf das Eigentümliche der Religion. 351  Vgl. u.a. Schleier­macher, Grundlinien, KGA I/4,47 f.; ders., Dialektik, KGA II/10.1, 416 f.; Schmidt, Konstruktion, 106 ff.; Grove, Deutungen, 613 ff. 352  Schmidt, Konstruktion, 260–294. Sie stimmt mit Herms überein, dass Schleier­macher die Kritik als wissenskonstitutiv und wissensintegral bezeichnen kann; anders als Herms sieht sie diese nicht als Entwicklungsstufen, sondern als zwei Ebenen.Das heißt natürlich nicht, dass sie unabhängig von interpretatorischen Prämissen arbeitet. 353  Schleier­macher, KGa II/10.1 und 2. Seitenzahlen im Folgenden im Text. 354  Es gilt, „keine Wissenschaft des Wissens aufzustellen in der Hoffnung dadurch von selbst dem Streit ein Ende zu machen [vielmehr] gelte es nun eine Kunstlehre des Streitens 350  Er

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

für alle nachvollziehbares Wissen generiert werden kann.355 Das „reine Denken“ unterscheidet Schleier­macher vom „geschäftlichen“ einerseits und vom „künstlerischen“ andererseits. „Geschäftliches Denken“ ist durch Instrumentalisierung und Zweckrationalisierung gekennzeichnet, „künstlerisches“ durch Kreativität, Individualität und Zwecklosigkeit. Das reine unterscheidet sich vom geschäftlichen und künstlerischen Denken, da es weder in der Erreichung eines bestimmten Zweckes noch im „Moment des Wohlgefallens“ aufgeht (395, Z. 16 f.). Vielmehr ist das reine Denken auf sich selbst und die dauerhaften Züge des Wissens ausgerichtet. Die nachhaltige Betonung der Unterscheidung ist deshalb entscheidend, weil sie bei Herms zu Lasten des „reinen Denkens“ relativiert wird, denn er argumentiert, dass es für Schleier­macher interesseloses Denken nicht gibt.356 Damit vernachlässigt Herms die Korrektivmomente gegenüber dem individuellen Symbolisieren und reduziert den Diskurs letztlich auf die Erreichung ethischer Zwecke. Bei Schleier­macher hingegen ist die Unterscheidung zwischen den Formen des Denkens wesentlich, denn jede dieser unterschiedlichen Richtungen hat eine ihr entsprechende Weise der Gesprächsführung. Während das freie Gespräch zum künstlerischen Denken gehört, ist das geschäftliche Denken für die Kunst der Überredung grundlegend. Für die Bestimmung und Durchführung des interkulturellen Diskurses ist es unabdingbar, dass die verschiedenen Formen des Denkens und Miteinander-Redens differenziert werden, sonst wird das Denken den Skeptikern überlassen, die Schleier­macher dezidiert angreift: „Dabei liegt die Voraussezung zum Grunde, das beschriebene Entgegenstreben im Denken, da nämlich dem einen nicht gewiß werden will, was dem andern gewiß ist, bedeute nichts anderes als die in der Natur gegebene und auf keine Weise aufzuhebende Differenz sei es nun mehrerer Einzelwesen oder auch nur mehrerer Momente in dem Leben desselben Einzelwesens. Keinem könne in einem Augenblikk anderes gewiß sein als ihm ist, denn dieses sei das unvermeidliche Ergebniß der jedesmaligen Umgebungen in sein Dasein; und weil jedem jedesmal das seinige unvermeidlich sei: so sei jede Zusam­menstimmung mehrerer im Gewißsein nur etwas zufälliges und nicht zu erwirken. Diese Handlungsweise in Bezug auf das Denken ist das Wesen des folgerechten Skepticismus.“ (398)357

aufzustellen in der Hoffnung dadurch von selbst auf gemeinschaftliche Ausgangspunkte für das Wissen zu kommen“ (Schleier­macher, Dialektik, KGA II/10.1, 372). 355  Im ersten Paragrafen wird die Dialektik als „Darlegung der Grundsäze für die kunstmäßige Gesprächsführung im Gebiet des reinen Denkens“ bestimmt (aaO. 393.). Da die Begriffe in unterschiedlichen Umfängen verwendet werden, erläutert sie Schleier­macher im Folgenden: „Denken“ beinhaltet auch die Verarbeitung von Bildern und Fantasie und „Gesprächsführung“ auch ein Gespräch mit sich selbst, sofern ein Argumentationsvorgang stattfindet (ebd.). 356  Herms, Verständnis, in: MW, 435 f.; vgl. ders., Ethik des Wissens, in: MW, 48. 357  Das von Herms benannte Problem, dass Gewissheiten nicht durch Denken kritisch korrigiert werden können, kennt Schleier­macher von den Skeptikern.

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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Nun wird man Herms nicht mit den Skeptikern gleichsetzen wollen, aber die enge hermssche Verknüpfung des Wissens und Handelns mit der religiösen Gewissheit ist bei Schleier­macher (jedenfalls hier) nicht zu finden. Vielmehr ist die Unterscheidung verschiedener Gebrauchsweisen des Denkens zu betonen. So steht neben dem apologetischen Austausch, der für Herms bestimmend ist, bei Schleier­macher die Möglichkeit ‚reinen‘ Denkens als Mittel der Verständigung zur Verfügung.358 Bezeichnend ist des Weiteren, dass das reine Denken nach Schleier­macher einen respektvollen, freudigen Umgang mit dem Fremden aufweist: Je mehr ein Denkender alles Fremde in sein Denken hineinzuziehen versucht, umso mehr wird er sein eigenes Denken als Maßstab allen anderen Denkens aufstellen und letztlich, die eigene Begrenztheit veranschaulichend, für Fremdes nicht offen sein. Je mehr dagegen ein Denker „von der allgemeinen Freude“ am reinen Denken ausgeht, desto mehr wird er den Ausgleich und das Gemeinsame suchen. Daraufhin wird der Denker sich auf die anderen Sprachkreise ausrichten, seinen Sprachkreis „fast nur um ihretwillen“ ausbilden und somit „seine eigenthümliche Denkweise weniger geltend machen“ (407). Mit Schleier­macher ist für den interkulturellen Diskurs diese Dimension der positiv gestimmten Neugierde für den Anderen unbedingt hervorzuheben.

Ein zweites Moment, das mit Schleier­macher gegenüber Herms geltend zu machen ist, liegt darin, dass Einheit und Differenz des Denkens zunächst nicht an der Weltanschauung bzw. Religion, sondern an der Sprache festgemacht werden. Dabei scheint vorerst der Unterschied unwesentlich, denn Schleier­macher baut auch auf der relativierenden Einsicht auf, dass die Dialektik nicht für alle Sprachkreise gleichermaßen gelten kann; sie ist vielmehr abhängig von einem bestimmten Sprachkreis (401, Z. 12–16). In diesem Sinne ist es für Schleier­ macher unnatürlich, wenn das Denken aus einem Sprachraum für alle anderen vorausgesetzt wird. Seine Ablehnung „jedes Anspruchs auf Allgemeingültigkeit“ (406, Z. 6) entsteht nicht aus Resignation gegenüber der Vielfältigkeit der Sprachen, sondern aus der Einsicht, dass nur in der Vielfalt sich das „Denken des menschlichen Geistes“ erschöpft (404, Z. 8). Aber der Unterschied zwischen der Sprache und der Weltanschauung als Kennzeichen der Differenz ist für die Überwindung der Irrationalität letztlich entscheidend: Denn diese kann „ausgeglichen werden durch die Einheit der Sprache, und die Irrationalität der Sprachen durch die Einheit der Vernunft“; eine Perspektive, die jedenfalls denkbar ist aufgrund der Tatsache, dass „die Operationen aller Sprachen“ unter „denselben Combinationsgesezen“ stehen. „Also ist auch hier eine Begrenzung und ein Mittel der Approximation welches noch durch die Gemeinschaft der Sprachen erleichtert wird.“359 Über die Sprache wird ein argumentativ nachvoll358  Damit wird die Priorität der Apologie, die Herms als Gesprächsform geltend macht, problematisiert. 359  Schleier­macher, Dialektik, KGA II/10.1, 190: „(das speciell grammatische verschwindet gegen das Allgemeine)“.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

ziehbarer Dialog ermöglicht, der zwar die Eigentümlichkeiten der jeweiligen Sprache berücksichtigt, aber eine universale Verständigungsebene bietet.360 In jeder Sprachäußerung wirken das individualisierende und das gemeinschaftliche Moment der Sprache mit. Darin liegt insofern eine Ergänzung zur hermsschen Wissenstheorie, als der rationale Zugriff auf orientierende Überzeugungen bei Schleier­macher stärker hervorgehoben wird.361 Im Anschluss an diese Überlegung ist drittens die Bedeutung der Wechselbeziehung zwischen identischem und individuellem Symbolisieren hervorzuheben. Zunächst ist der Vernunftbegriff anzusehen. Zugegebenermaßen ist die Bestimmung dieses Begriffs bei Schleier­macher nicht einfach. Ein erster Ansatzpunkt liegt in der logischen, also formalen Vereinbarkeit, im Gegensatz zur „Organisation“ des Denkens (232; vgl. 2,458). Das Wissen als ein von allen identisch produziertes Denken kann nur auf die intellektuelle (die „Vernunft“), nicht auf die organische Funktion (das „Sensuelle“) zurückgeführt werden, denn erstere ist in allen dieselbe. Das heißt, „was in der Zeit im wirklichen Denken zum Vorschein kommt, ist in der Vernunft auf ewige Weise enthalten“ (2,523 f.). Schleier­macher weiß, dass dieser Gedanke der zeitlosen Vernunft problematisch ist, denn „Denken ist stets ein zeitliches Moment“ und es ist „die in allen identische Vernunft als Princip betrachtet“, die „zu der Production derselben Begriffe“ anleitet (ebd.). In der Vernunft ist also die „zeitliche BegriffsBildung [sic] auf zeitlose Weise gesetzt“.362 Zwar mögen die Unterscheidungen zunächst an Kant erinnern; aber von einer reinen Vernunft ist laut Schleier­macher nicht auszugehen.363 Vielmehr „tritt die humane Vernunft immer schon in der Differenz von gattungsmäßiger Allgemeinheit und individueller Besonderheit auf“.364 Dabei wird eine weitere Unklarheit deutlich. Sara Schmidt macht auf die verschiedenen Aussagen Schleier­machers zur Bedingtheit der Vernunft einerseits und zu ihrer Zeitlosigkeit anderseits aufmerksam.365 In diesem Sinne ist bemerkbar, dass sowohl die Dialektik als auch die Hermeneutik trotz aller Verweise auf die Empirie rein formal, also gleichsam inhaltsleer sind.366 Um diese 360 

Vgl. Pleger, Philosophie, 177 f.; Schmidt, Konstruktion, 259; Scholtz, Ethik, 133 ff. Auch Herms sieht ein Wechselverhältnis zwischen unseren Vergewisserungspraktiken und unseren Überzeugungen, aber die „Autorität“, wie Herms sich ausdrückt, liegt in der Gewissheit der eigenen Erschlossenheit (Herms, Wahrheit, in: PG, 111; vgl. III.1.D.iii). Diese Qualifizierung der Verhältnisbestimmung ist bei Schleier­macher nicht zu erkennen. 362 Oder: „Die Productionsweise jedes Begriffs ist in der Vernunft gesetzt“ (Schleier­ macher, Dialektik, KGA II/10.2, 523 f.). 363  Schleier­macher, Ethik, 13, §65; vgl. Scholtz, Philosophie, 107. 364  U. Barth, Kontingenzmomente, 353. 365  Schmidt, Konstruktion, 266. 366  Andreas Arndt weist darauf hin, dass „trotz des ständigen Verweisens auf die Empirie“ faktisch vom Eingehen auf bestimmte empirische Gehalte dispensiert“ wird (ders., Vorgeschichte, 327). An anderer Stelle spricht er von der „inhaltliche[n] Entleerung der Dialektik“ (Arndt, Dialektik, 143). Harald Schnur nimmt diesen Gedankengang Arndts auf und vergleicht ihn mit der „Inhaltsleere“ der Hermeneutik. Hans-Georg Gadamer habe bereits 361 

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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Diskrepanz zu verstehen, ist es notwendig, den interpretatorischen Impuls der Theoriebildung Schleier­machers in der Entwicklung seines Vernunftbegriffs zu berücksichtigen. Denn Schleier­macher weiß um die komplexe Vermittlungsleistungen zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen, zwischen dem Besonderen und Allgemeinen, zwischen dem Bedingten und Absoluten. Anhand seiner Hermeneutik und Kritik sind diese Leistungen bereits hervorgehoben worden. Demnach impliziert das Verstehen divinatorische und kombinatorische wie auch psychologische und grammatische Aspekte. Ist die Divination als Anschauung der Eigentümlichkeit nicht allgemein vermittelbar, bietet die Komparation eine diskursive Kontrolle, deren Kritik auch auf die Divination zurückwirkt.367 Verdeutlicht die grammatische Interpretation, dass der Einzelne in seinem Denken durch die Sprache geprägt wird und „nur die Gedanken denken [kann], welche in seiner Sprache schon ihre Bezeichnung haben“, zeigt die psychologische Interpretation, dass die Rede ein „Lebensmoment des Redenden“ und die Sprache ein Mittel ist, „wodurch der einzelne Mensch seine Gedanken mitteilt“.368 Diese wenigen Hinweise dienen dem Nachweis, der selbstverständlich ausgebaut werden müsste, dass das Identische und Individuelle in der Wissensproduktion in einer Wechselbeziehung stehen. Für Herms liegt in diesem Sachverhalt ein Problem (wie gezeigt in III.2.A), denn das identische wird ihm zufolge bei Schleier­macher nicht hinreichend als abhängig vom individuellen Symbolisieren dargestellt.369 Aber eine solche asymmetrische Abhängigkeit ist nicht unproblematisch. Im Gegenteil, die Hervorhebung des individuellen Symbolisierens würde nach Schleier­macher die ohnehin prekäre Balance zwischen Allgemeinem und Besonderem, grammatischer und psychologischer Auslegung, Divination und Komparation, unbedingter und endlicher Vernunft gefährden. Schleier­macher ist also eher ein Denker der ‚Vermittlung‘,370 und diese Art zu denken wird auch an der grundlegenden Einordnung der Kommunikationstheorie in die Wissenschaft deutlich. ii. Intersubjektivität und Subjektivität – ein Zirkel von Identität und Differenz Inwiefern liegen in Schleier­machers Theorie Ansätze einer Kommunikationsund Intersubjektivitätstheorie vor, die Einsichten der linguistischen Wende im Allgemeinen und der Diskurstheorie von Jürgen Habermas im Besonderen vorwegnehmen? Zwei gegenläufige Antworten sind zunächst zu verzeichnen. Die Einen sprechen von der Dialektik als einer „Philosophie der Kommunidarauf hingewiesen, dass diese nicht mehr gegenstandsbezogen, sondern „abgelöst von aller inhaltlichen Besonderung“ und auf die „Einheit eines Verfahrens“ ausgerichtet sei (Schnur, Rationalität, 141 f., mit Verweis auf Gadamer). 367  Schleier­macher, Hermeneutik, 170–176; Schmidt, Konstruktion, 227 f. 368  Schleier­macher, Hermeneutik, 78 f. 369  Herms, Erbe, in: MW, 221. 370  Vgl. Dittmer, Wissenschaftslehre, 570 ff.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

kation“ (Udo Kliebisch, Gunther Wenz) und postulieren, dass Schleier­macher bereits die Erkenntnistheorie in den Ansatz diskursiver Vernunft transformiert (Andrew Bowie).371 Sie suchen Verbindungen zu Habermas und werfen diesem vor, Schleier­macher als Quelle für seine Sprachtheorie zu vernachlässigen.372 Und es wird verdeutlicht, wie eigenständig Schleier­macher die Kommunikation als fundierende Disziplin einführt – in Abgrenzung zu den Konzeptionen Hamanns und Herders, wie auch im Unterschied zu Kant, Fichte und Hegel (Jan Rohls).373 Andere lehnen vorschnelle Vergleiche dezidiert ab, da sie die Metaphysik der Dialektik missachten (Andreas Arndt)374 und die Verankerung in der Subjektivitätstheorie vorschnell preisgeben (Ulrich Barth). Bei näherem Hinsehen liegen die Positionen aber nicht unversöhnlich nebeneinander. Es ist wohl konsensfähig, dass eine Intersubjektivitäts- oder Diskurstheorie, wie Habermas sie entwirft, Schleier­macher nicht ohne Gewalt anzutragen ist.375 Aber was kann mit Schleier­macher gesagt werden? Für Schleier­macher, wie Shin-Hann Choi argumentiert, sind Intersubjek­ tivität und Subjektivität gleichursprünglich. 376 Um diese „Duplizität des Selbstbewusstseins“ zu explizieren, bedarf es einer „bi-konditionalen Theorie“, welche die Wechselwirkung zwischen dem Einzelnen und den Anderen im Wissenserwerb berücksichtigt (236–245).377 Damit verortet Choi die Philosophie Schleier­machers in einer Mittelstellung zwischen modernen Kommunikationstheorien und den sogenannten ‚Monologphilosophien‘. Während Schleier­macher den „Motor der Subjektivitätsphilosophie“ beibehält, nämlich das logische Denken im herkömmlichen Sinne, wird die Subjektivitäts- durch eine Gesprächstheorie ergänzt, in der die Einheit der mannigfaltigen Vorstellungen auch in der Praxis des Gesprächs als einer intersubjektiven Tätigkeit gesucht wird: „Die Einheit der Vorstellungen“ wird durch „reflexive Tätigkeit“ 371 

Kliebisch, Transzendentalphilosophie, 231; Bowie, ‚Schleier­macher‘, 225. Wenz, Subjektivität, 224 ff. 373  Jan Rohls weist darauf hin, dass die Dialektik von zeitgenössischen Entwürfen abgehoben werden muss. Im Gegensatz zu Kant, Fichte und Hegel ist in Schleier­machers Erläuterung der philosophischen Fundamentaldisziplin ein gewichtiger Unterschied zu verzeichnen, weil die Sprache eine zentrale Rolle bei ihm spielt. Bei Hamann, Herder und Humboldt steht zwar die Sprache im Zentrum des Interesses, aber sie wird nicht wie bei Schleier­macher in eine Fundamentaldisziplin eingebaut (Rohls, Wahrheit, 181–206). Auch die Bedeutung des Gesprächs grenzt ihn von idealistischen Konzeptionen ab (aaO. 182). 374  Arndt führt die Figur der wahren Dialektik als Dialog auf Ludwig Feuerbach zurück, der die wahre Dialektik nicht als Monolog einsamer Denker ansieht, sondern als Dialog zwischen Subjekten (ders., Dialektik, 244). 375  So selbst Kliebisch, Transzendentalphilosophie, 110 f. 376  Choi, Selbstbewusstsein, 235– 258. Seitenzahlen im Folgenden im Text. 377  „In dem Selbstbewusstsein ist nur zweierlei zusammen, das eine Element drückt aus das Sein des Subjektes für sich, das andere sein Zusammensein mit anderen.“ (Schleier­macher, Glaube, in: Redeker, 24) 372 

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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des Denkens wie auch durch „intersubjektive Sprachhandlung“ erbracht. (245) Weder eine „Monologik“ noch eine „Dialogik“ sind demnach bei Schleier­ macher der Aufgabe einer theoretischen Fundierung gewachsen, Choi betont vielmehr deren notwendige „Wechselseitigkeit“ (247). Die Philosophie des Gesprächs ersetzt nicht die Bewusstseinsphilosophie, sondern jene ist das Resultat einer ausgesprochenen Sensibilität für die Beziehungen, in der das Subjekt immer schon steht. Dieses erkennt, dass das Andere in ihm selbst bereits mitgesetzt ist und dass es in unabweisbarer Form auf dieses Andere bezogen ist. Deshalb ist in der Dialektik die Gesprächstheorie für die Wissenskonstitution von zentraler Bedeutung. Für Schleier­macher ist der Zusammenhang allen Wissens nur aus „dem relativen Anfangspunkt des realen Gesprächs“ abzuleiten (254). Der Streit um die differenten Ausgangspositionen erzeugt durch sich selbst eine neue Situation – die Möglichkeit eines Konsenses. Ergibt sich somit ein circulus vitiosus, fragt nun Choi? Er bestimmt die Beziehung zwischen dem identischen Wissen und den Differenzen der Einzelnen „prozessual“ in der Form eines „offene[n] Zirkel[s]“, in dem der Streit um Differenzen zum identischen Denken überführt wird (257). Es ist ein Zirkel, der von einer faktischen, realen Gemeinschaft der Streitenden zur qualifizierten Gemeinschaftlichkeit führt. Kein Machtspruch oder äußere Autorität kann den Streit beenden, sondern nur der Vollzug des Gesprächs kann einen Konsens herbeiführen. Die Gesprächsführung im Alltag wird zur Bedingung neuer Gemeinschaftlichkeit und zum „entscheidenden Movens der Wissenskonstruktion“ (258). Die Arbeit von Choi regt an, eine tiefere Auseinandersetzung mit Schleier­macher zu suchen, denn die Überlegungen müssten verstärkt anhand dessen Gesamtwerk überprüft werden. Dies gilt auch für die assoziativen Bezüge zwischen Habermas, Richard Rorty und Schleier­macher, die Andrew Bowie herstellt. Bowie möchte Verbindungen, die er zwischen Schleier­macher und Habermas feststellt, als Grundlage für eine Antwort auf gegenwärtige Debatten ins Gespräch bringen und argumentiert, dass Schleier­macher einige der grundlegenden Bedenken von Habermas gegenüber dem metaphysischen Denken der idealistischen Entwürfe vorwegnimmt.378 „For Habermas it is above all the link between language and action which characterises post-metaphysical thinking. […] Schleier­macher, of course, already helps inaugurate such a conception.“379 Ob Schleier­ macher aber der Identitätsphilosophie und Transzendentaltheorie in vergleichbar kritischer Weise begegnet, ist angesichts bisheriger Überlegungen mehr als fraglich. Worauf Bowie zu Recht hinweist, ist, dass Schleier­macher und Habermas (dieser allerdings erst in jüngster Zeit seit Wahrheit und Rechtfertigung) konsenstheoretische Überlegungen mit korrespondenztheoretischen Fragestellungen verschränken.

378  Bowie, Schleier­macher, 216–234. Er spricht von „striking similarities“ bei beiden Denkern (aaO. 216). 379  AaO. 217.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Will man den Hinweisen von Shin-Hann Choi, Andrew Bowie, Ulrich Barth, Jan Rohls, Udo Kliebisch und Gunther Wenz in detaillierter Weise nachgehen, müssten folgende Fragen im Mittelpunkt stehen: Wie verbindet Schleier­macher kommunikations- und bewusstseinstheoretische Aussagen im Gesamtwerk? In welchem Verhältnis stehen sie zu seinem ‚Realismus‘, also zum Anspruch, dass Realität im unmittelbaren Selbstbewusstsein ‚vorgegeben‘ ist? Ist dieser Anspruch auf eine korrespondenztheoretische Verifikation oder letztlich auf konsens- und kohärenztheoretische Vergewisserung angewiesen? Trotz dieser offenen Fragen sind einige Ergebnisse des vorliegenden kurzen Durchganges durch Schleier­machers Wissens- und Wahrheitstheorie bereits hier als wegweisend festzuhalten. Mit dem diachronen Interpretationsschema von Habermas, der eine philosophiegeschichtliche Abfolge von ‚ontologischen‘, bewusstseinstheoretischen und sprachphilosophischen Paradigmata in evolutionistischer Absicht bestimmt (vgl. II.2.B.i), lässt sich Schleier­machers Ansatz nicht verbinden. Dieser verdeutlicht vielmehr eine ausgesprochene Sensibilität für die synchrone Verschränkung aller drei Fragestellungen. Bei Schleier­macher ist nämlich das Interesse an der bewusstseinsprägenden Kraft der Sprache nicht mit dem Desinteresse an den einheitsstiftenden, erkenntnistheoretischen Leistungen des Subjekts verbunden.380 Zugleich sind diese wissenskonstituierenden Leistungen des Subjekts in seiner jeweiligen Sprachgemeinschaft nicht unabhängig von dem gemeinsamen Bezug aller Diskutanten auf die ‚eine Realität‘ zu denken.381 Schleier­macher sucht die obersten Prinzipien des Wissens und den systematischen Zusammenhang des Wissens im Horizont einer Intersubjektivitäts- und Subjektivitätstheorie zu bestimmen – mit einem Sinn für deren notwendigen Realitätsbezug. Ich fasse zusammen: Eilert Herms legt in seiner Interpretation des schleiermacherschen Erbes den Fokus auf den fundamentalontologischen Zugang zum Gesamtwerk. Aus diesem Zugang ist die Konstruktion einer ‚Systemformel‘ als Interpretationsmittel zwar plausibel, mit der die ‚Kritik‘ im Prozess der Wissenskonstitution maßgeblich orientiert wird. Diesen einheitlichen Ansatz habe ich aber aus verschiedenen Gründen in Frage gestellt: Schleier­macher kann die Generierung und Überprüfung von Wissen aus unterschiedlichen Warten betrachten. Dazu gehört das Gespräch ebenso wie die interpretative Leistung des einzelnen Subjekts; dazu gehören das identische ebenso wie das individuelle Symbolisieren. Steht bei Herms der individuelle Bezug des unmittelbaren Selbstbewusstseins im Mittelpunkt der Verständigung, ist in der Dialektik solch eine Vorordnung nicht zu erkennen. Vielmehr werden die Sprachgemeinschaften auf gemeinsame Rationalitätspotenziale verwiesen. Es folgt daraus für 380  Der irritierende Reduktionismus der linguistischen Wende, mit dem Fragen nach dem Bewusstsein und dem Subjekt gezielt als irrelevant abgetan wurden, wird zu Recht kritisiert, vgl. Frank, Selbstbewusstsein. 381  Vgl. Frank, Auswege, 7–27.

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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Schleier­macher ein optimistischer Blick auf die Möglichkeiten der Streitschlichtung – trotz der weitreichenden Differenzen. Das diskursive Denken, die neugierige Offenheit für die Andersdenkenden und die kritik-ermöglichende Vernunft für die Suche nach kulturübergreifendem Wissen erhalten einen zentralen Stellenwert in seinem Werk.

III.2.D. Wie ist die ‚Ethik der Menschheit‘ bei Schleier­macher zu verstehen? Diese Frage betrifft die Ausformulierung des prägnanten aber weit gefassten Leitbegriffs der ‚Menschheit‘382 bei Schleier­macher und dessen Interpretation durch Herms. Für Herms zeichnet sich Schleier­macher mit seiner Menschheitskonzeption dadurch aus, dass er die Allgemeinheit der Humanität aus der Differenz der religiösen Standpunkte betrachtet.383 Dabei treten umstrittene und umfangreiche Fragen der Ethik384 in den Mittelpunkt – vor allem das Verhältnis von Religion, Handeln und Gesellschaft. Die Weite dieser Thematik zwingt wiederum dazu, den bisherigen Fokus beizubehalten, nämlich auf das fundierende Verhältnis des individuellen für das identische Symbolisieren (und Organisieren) – wie es Herms bestimmt. Vor allem die Bedeutung der Religion (i), die Beziehung zur kantischen Moraltheorie (ii) und der interkulturelle Horizont sollen im Folgenden dabei bedacht werden (iii). Um diese Fragestellung einordnen zu können, ist ein Einblick in die Gedankenführung der Ethik-Einleitung (vornehmlich von 1812/13) angebracht.385 Es fällt sofort auf, wie anspruchsvoll diese Konzeption ist: Anders als die eudämonistische Ethik versteht Schleier­macher die theoretische Aufgabe nicht bloß als „Exposition der Neigung“ (6, §8), sondern es werden Tugenden, Ziele und Pflichten korreliert; anders als die kantische Moraltheorie, die letztlich nur Handlungen „berichtigen oder vollenden“ kann, muss eine umfangreiche ethische Theorie das „Sein“ berücksichtigen (6, §9). Schleier­ macher ist überzeugt, dass der Gegensatz zwischen den beiden genannten Ethikmodellen, also der Gegensatz zwischen der Orientierung an der Glückseligkeit und der Vernunftmäßigkeit, aufgehoben werden kann, wenn die Aufgabe der Ethik recht verstanden und ein Begriff des menschlichen Handelns als Gesamtheit entwickelt wird (6, §10–13). Um diese Aufgabe für die Wissenschaft nachvollziehbar durchzuführen, orientiert Schleier­macher sich an der Idee des Absoluten (7, §19 ff.). Allerdings ist das Absolute nicht „einfach“ gegeben (11, §53) und die Vernunft nicht in reiner Form (13, 382 Die ‚Menschheit‘ spielt vor allem in den Monologen Schleier­machers eine hervorgehobene Rolle; sie bleibt aber auch in der Ethik und in der Reifegestalt seiner Tugendlehre ein orientierender Begriff, vgl. ders., Monologen; zur Diskussion U. Barth, Individualitätskonzept, 291–328. 383  Herms, Humanität, 672; ders., Erbe, in: MW, 224. 384 Mit ‚Ethik‘ ist im Folgenden vor allem die Philosophische Ethik im Blick, aber auch die einschlägigen Akademieabhandlungen müssen miteinbezogen werden, vgl. Fn. 1078. 385  Schleier­macher, Ethik, 1–132 (Einleitung, 1812/13); 181–226 (Einleitung, 1816/17). Im Folgenden Abschnitt, Seiten- und Paragrafenzahlen im Text.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

§65) erkennbar, sondern diese wird durch die Natur bedingt und es ist dieses Bedingungsverhältnis, welches die Parameter der Ethik absteckt. „Die Ethik ist also Darstellung des endlichen Seins unter der Potenz der Vernunft“ (8, §28). Ziel ist es, die Einwirkung des Realen auf Ideales (Physik) und von Idealem auf Reales (Ethik) zu verstehen. Überraschend ist wiederum die weite Fassung des Vernunftbegriffs: Vernunft wird gegenüber der Gesinnungstheorie als metaphysisches Prinzip gefasst, das eben nicht nur im menschlichen Einzelwesen aufzufinden ist, sondern die Einzelwesen „sind nur als die ursprünglichen Organe und Symbole der Vernunft zu sezen“, also das Ganze der Vernunft in ihrem Verhältnis zum Ganzen der Natur (15, §78). Der Blick für ‚das Ganze‘ ist entscheidend für Schleier­macher, denn „das Leben der Einzelwesen ist kein Leben für sie selbst, sondern für die Totalität der Vernunft und die Totalität der Natur“ (ebd.). Zugleich ist der Blick für ‚das Ganze‘ nur in und durch Eigentümliches möglich. Der Gegensatz von ‚Universalem‘ und ‚Partikularem‘ oder von Identischem und Eigentümlichem durchzieht die Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre, denn dessen Grund liegt in der Form des endlichen Seins (21, §17). Identität und Eigentümlichkeit sind in der Realität immer mehr oder weniger verschränkt (22, §23). Charakteristisch für die Gedankenführung Schleier­machers ist hier eine starke Spannung: Einerseits ist das „wahre Erkennen“ durch den Bezug des Einzelnen zur Totalität gekennzeichnet (24, §11), andererseits ist die Totalität der Personen nur mit Blick auf die „Unübertragbarkeit“ von einer Person auf die andere zu verstehen (25, §17). Entsprechend kann und muss eine Ethik auch nicht alle Zustände des Werdens abbilden, sondern nur das „Princip der Mannigfaltigkeit“ geltend machen (34, §76). Nun beleuchtet Schleier­macher diese Aufgaben unter den drei verschiedenen, aber untrennbaren Aspekten der Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre. In der Einleitung zur Gestaltung der Sittenlehre (1816/17) stellt er die These auf, dass wenn „die Sittenlehre sich als Güterlehre oder als die Lehre vom höchsten Gut vollständig entfaltet so ist sie auch der vollständige Ausdruck der gesammten Einheit der Vernunft und Natur“ (220, §113). Dabei ist das höchste Gut nicht eines unter vielen Gütern, sondern der Gesamtzusammenhang. Ebenso wie die vollständige Güterlehre stellen auch eine vollständige Tugend- und Pflichtenlehre die gesamte Sittenlehre dar. Der Blick auf das Ganze wird in jedem Teilaspekt der Ethik bereits vorausgesetzt. In diesem Sinne kennzeichnet die Güterlehre das Ineinander von Eigentum, Wissen, Gemeinschaft und Erregtheit. Es gibt demnach keine „Gemeinschaft schlechthin“ oder ein „Eigenthum schlechthin usw.“, „sondern ein gemeinschaftliches Eigenthum und eine eigenthümliche Gemeinschaft, ein eigenthümliches Wissen und eine identische Erregtheit und Eigenthümlichkeit der Erregung“ (31, §54). Entsprechend fasst Schleier­ macher in einem zentralen Paragrafen der Güterlehre zusammen,386 dass jedweder Besitz auf die Gemeinschaft bezogen ist und die Geselligkeit Eigentum erzeugt, wie auch das Erkennen sich in der Sprache ausbildet und die Sprache Erkenntnisse ermöglicht und schließlich die Gefühlswelt sich darstellen will und die Darstellungen Emotionen hervorrufen (31, §55). Wenn Schleier­macher im Folgenden Staat, Wissenschaft, Geselligkeit und Kirche als Organisationsformen trennt, sind diese auf dem Hintergrund des Ineinanders mit den jeweils anderen Funktionssphären zu verstehen (33, §74). Die Familie ist die Mikroebene dieser ausbalancierten Funktionssysteme, die einzelne Gesellschaft die Mesoebene, in der Ausdifferenzierungsprozesse zu Tage treten, 386 

Auf diesen wird immer wieder zurückverwiesen, vgl. Schleier­macher, Ethik, 32, §60; 33, §67 ff.

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die Makroebene ist schließlich gleichsam der intergesellschaftliche Zusammenhang: „Die einzelnen Staaten, Sprachen usw. sind wieder Personen im höhern Sinne und also nur durch Gemeinschaft derselben ist die Totalität der Vernunft darzustellen.“ (33, §72) Diese Gemeinschaft, so Schleier­macher weiter, lässt sich unter dem Begriff „der menschlichen Gattung“ fassen, die wiederum als Totalität nur unter Berücksichtigung der „Pluralität der Weltkörper“ verstanden werden kann (33, §73). Mit Blick auf die leitende Absicht dieser Arbeit, eine ‚Topik interkulturellen Denkens‘ (I.4) zu entwickeln, bietet diese Ethik eigenständige Impulse, indem sie als Kulturtheorie Aspekte theoretischer, praktischer und ästhetischer Vernunft bündelt.

i. Die Bedeutung der Religion für die Ethik Bereits in den Reden über die Religion wird das wesentliche Prinzip der Ethik, nämlich die Mannigfaltigkeit (34, §76), vorbereitet. Dort wird herausgearbeitet, dass die Religion auf ein zentrales Moment des Menschseins verweist, nämlich auf die emotive Erfassung der Wirklichkeit (‚des Universums‘), die wiederum „wie eine heilige Musik“ voluntative und kognitive Prozesse begleitet.387 Dieses Moment liegt in dem individuellen Bezogensein auf Ganzheit. Wie auch immer die spätere Entwicklung der Theoriegestalt bei Schleier­macher verstanden wird – ob mit Barth eher von der Rationalität der Dialektik oder mit Herms von dem Selbstgefühl der Psychologie her –, die anfängliche Betonung der Religion bleibt für den individuellen Zugriff auf das Ganze und für das daraus folgende Verständnis notwendiger Vielfalt maßgeblich. Andreas Krebs unterstreicht diesen Zugang zur Religionsthematik in seiner Analyse zu Schleier­ machers Beitrag zur interkulturellen Philosophie zu Recht.388 Er zeigt, dass für Schleier­macher die vielfältigen Wirklichkeitsverständnisse keinen aufhebbaren Zustand darstellen, sondern mit der personalen Konstitution des Menschen verbunden sind. Religion ist sowohl innerhalb bestimmter Konfessionsgrenzen als auch außerhalb dieser durch Perspektivität und Pluralität gekennzeichnet. Stellt diese Einsicht die Grundlage für den Umgang mit Theorie und Praxis dar, so ist von vornherein ein Respekt für verschiedene Perspektiven und differente Zugänge zum Absoluten gesetzt. Insofern ist ‚die Religion‘ für das Verständnis von philosophischer Ethik im Allgemeinen sehr bedeutsam. Wie wird aber das Religionsthema im Konkreten aufgenommen? In einem Vortrag an der Universität Göttingen zum 150. Todestag von Schleier­macher führt Herms den innovativen Versuch einer Verhältnisbestimmung von christlicher und philosophischer Ethik, von Inhalt und Form in Schleier­machers Werk unter dem Titel „Reich Gottes und menschliches Handeln“ durch.389 Er argumentiert, dass die spekulative, rein begriffliche Beschrei387 

Schleier­macher, Religion, 219, Z. 17–18. ‚Schleier­macher‘, 70–101. 389  Herms, Reich Gottes, in: MW, 101–124. Seitenzahlen im Folgenden im Text. Er bezieht sich auf Schleier­machers Akademieabhandlungen von 1819, 1824, 1825, 1826, 1827 und 1830 (SW III/2 oder KGA I/11) sowie auf die Ethik (1812/13). Vgl. Herms, Beseelung, in: MW, 49–100. 388 Krebs,

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bung des ethischen Lebens in der Philosophischen Ethik durchgeführt wird, die empirische Beschreibung gehört dagegen in die Geschichtskunde (die allerdings ein Randgebiet geblieben ist). Die „Durchdringung“ dieser zwei Ebenen, der empirischen und spekulativen Gehalte, erfolgt in der Christlichen Sitte – da Schleier­macher selbst in der christlichen Tradition beheimatet ist (121). Die allgemeine Form bekommt Herms zufolge ihre inhaltliche Bestimmung in und durch die Sittenlehre. Zwar ist nach dieser Lesart der spekulative Begriff des allgemeinen, ethischen Lebens dem materialen Begriff christlicher Sittlichkeit „der Form nach – also logisch – übergeordnet“; allerdings „der Sache nach“ ist die spekulative Theorie lediglich die Abstraktion der von Schleier­macher verstandenen und erlebten christlichen Frömmigkeit, „deren Anschauung also das der Sache nach Frühere und Grundlegende ist“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Insofern arbeitet die philosophische Theorie der Ethik lediglich die beharrlichen Aspekte heraus, die aus einem bestimmten empirischen Wissen und aus der Anschauung einer geschichtlich bestimmten Gestalt des ethischen Lebens abgeleitet werden. Die Argumentationslinie verläuft so, dass Herms zunächst die beharrlichen Züge des ethischen Lebens – die Pflichten-, Tugend- und Güterlehre – aus der Philosophischen Ethik in den Blick fasst, daraufhin die Beschreibung der christlichen Sitte ausführt, um schließlich aus der Verhältnisbestimmung beider Schriften das Argument vorzutragen, dass sich für Schleier­macher die „positiv sittliche Gestalt des ethischen Lebens im Begriff des Reiches Gottes“ zusammenfassen lässt (103). Da der ethische Prozess von vorethischen Ursprungsbedingungen getragen wird – dem Eintritt der Intelligenz in den Prozess der Natur –, richtet sich auch die Vollendung des ethischen Lebens auf einen Zielpunkt aus, der nicht mehr in die Ethik selbst hineinfällt. Das ist ein Zustand, in dem alles realisiert ist – das ewige Leben im Reich Gottes (115). Nun ist es auffällig, dass der Ursprung und die Vollendung des ethischen Lebens in der Philosophischen Ethik ausgeklammert werden, weil nach Schleier­macher deren Begrifflichkeit unanschaulich ist. Herms gibt zu, dass beide Aspekte nicht angeschaut werden können, aber er argumentiert, dass der ethische Prozess auf den End- und Anfangspunkt verweist. Deshalb bezweifelt er, dass die Ethik dazu keine Aussage machen kann, und er plädiert dafür, die Fragen nach Ursprung und Ziel nicht der Christlichen Sittenlehre zu überlassen, sondern als Konstitutions- und Realisierungsprinzipien in die philosophische Ethik mit einfließen zu lassen. „Der Sache nach kann es sich dabei [bei Ursprung und Ziel der Ethik] aber nicht um eine Dimension handeln, die dem ethischen Prozeß lediglich unter den Bedingungen seiner Christlichkeit zukommt. Vielmehr liegen die Dinge so, dass es sich hierbei um eine Dimension des ethischen Prozesses im ganzen handelt, die allerdings erst unter der Bedingung seiner Christlichkeit nicht mehr übersehen und verschwiegen werden kann.“390 390  Und

weiter: „Macht man nun damit ernst, daß auch Schleier­machers philosophische

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Die Intuition, die diesem Zusammenhang zu Grunde liegt, ist durchaus plausibel. Ist Schleier­macher als christlicher Theologe von einem schöpferischen Ursprung und einem bestimmten Endziel der Welt überzeugt, wird kaum zu erwarten sein, dass diese Überzeugung keine Auswirkungen auf die Form der spekulativen Ethik hat. Dennoch ist diese Lesart umstritten. Michael Moxter weist den hermsschen Versuch der Verschränkung von Ethik und Sittenlehre entschieden zurück.391 Er liest die philosophische Ethik so, als ob es keine „Christliche Sitte“ neben ihr gibt.392 Auch Hans-Richard Reuter versteht die Beziehung zwischen diesen Texten als kantisch inspirierte Differenzierung zwischen den Perspektiven des Theologen und Philosophen: Die philosophische Ethik ist für ihn ein theoretisches Unternehmen des Wissens, welches die Bestimmung von Allgemeinbegriffen leistet, während die christliche Sittenlehre den partikularen Blick auf das höchste Gut aus dem religiös-individuellen Selbstbewusstsein gewinnt.393 Bemerkenswert ist jedenfalls, dass Schleier­macher selbst keinen Versuch unternimmt, die philosophische Ethik mit der Christlichen Sittenlehre in einer Konzeption zusammenzuführen.394 Ein anderer Zugang zu der Frage nach der Bedeutung ‚der Religion‘ für die philosophische Ethik lässt sich aus der Bestimmung der Funktion der Religion für die Gesellschaft in der Güterlehre gewinnen. Dabei wird der Religion eine auffällig gleichwertige Rolle mit den anderen Funktionssystemen der Wissenschaft, Geselligkeit und Politik zugeteilt.395 Für Herms aber besteht ein asymmetrischer Zusammenhang zwischen der ethischen Bildung durch die Kirche und den anderen Sphären; die Asymmetrie ergibt sich aus der Einsicht, dass die religiöse Gewissheit orientierend ist für alle anderen Bereiche des Sozialen. Einerseits geht für Schleier­macher das individuelle dem identischen Symbolisieren insofern voraus, als der sprachliche Diskurs das unmittelbare Selbstgefühl zum Ausdruck bringt.396 Dieses Gefühl ist also die Grundlage aller Kommunikation. Wie Herms zu Recht sieht, wird das Grundgefühl der Einzelnen

Ethik selber unter dieser Bedingung der Christlichkeit (eben des Lebens ihres Autors) entwickelt worden ist, so wird man diese Ursprungs- und Vollendungsdimension des ethischen Lebens im ganzen auch in die Beschreibung von Schleier­machers Sicht der beharrlichen Züge des ethischen Lebens im allgemeinen mit aufnehmen dürfen, ja müssen.“ (Herms, Reich Gottes, in: MW, 115 Fn. 27) 391  Moxter, Güterbegriff, 14, mit Verweis auf Herms, Reich Gottes. 392  Moxter, Güterbegriff, 15. 393  Reuter, Gute, 28 f. 394  Es ist keine Frage, dass Schleier­macher vielfältige indirekte Beziehungen zwischen der ‚Ethik‘ und der ‚Sittenlehre‘ voraussetzt (vgl. z.B., ders., Ethik, 147, Randschrift; von Scheliha, Religion, 329 ff.), die brisante Frage ist, ob bei Schleier­macher das identische Symbolisieren vollends durch das individuelle bestimmt wird. 395  Vgl. vor allem den dritten Teil der Güterlehre von 1812/13, „Von den vollkommenen ethischen Formen“, 80–132; zur Kirche 119–126. 396  Schleier­macher, Ethik, 117 f., §192.

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von Schleier­macher als „Offenbarung“ bezeichnet – welche prägend ist für das identische Wissen und Handeln.397 Andererseits ist damit nur ein Aspekt der Wissenskonstitution beschrieben. Der individuelle Ausdruck wird ebenso vom identischen Symbolisieren geprägt wie umgekehrt. Das beginnt bereits damit, dass der Gefühlsausdruck einem kulturübergreifenden Schema entspringt, sodass der individuelle Ausdruck nur deshalb verstanden wird, weil die „Identität des Gefühls“ vorausgesetzt werden kann.398 Wichtiger noch ist, dass die Ethik unmissverständlich deutlich macht, dass das individuelle ausschließlich in der Wechselbeziehung mit dem identischen Symbolisieren zu verstehen ist – nämlich als konstantes „Ineinander von Einerleiheit und Verschiedenheit“; Gedanke und Gefühl sind gleichursprünglich und letztlich nicht zu trennen.399 „Kein einzelnes Gefühl ist eben wegen seiner Unübertragbarkeit ohne den zusammenhaltenden Gedanken des Ich, der in allen völlig derselbe ist und auf dieselbe Weise vollzogen [wird]“.400 Insofern ist es irreführend, wenn individuelles und identisches Symbolisieren von Herms als asymmetrischer Zusammenhang gegenübergestellt werden. Darüber hinaus schließt Schleier­macher aus der Güterethik nicht, dass die Kirchen in der Gesellschaft die handlungsleitende Bildungsfunktion innehaben, vielmehr teilt er diese Funktion auf. Für Schleier­macher lässt sich alles identische Wissen auf die Sprache beziehen, alles subjektive Erkennen (produziert in der Religion und der freien Geselligkeit) lässt sich auf die Kunst reduzieren. Dabei ist die Korrelation von Kunst und Religion zu beachten: „Die höchste Tendenz der Kirche ist die Bildung eines Kunstschazes, an welchem sich das Gefühl eines jeden bildet, und in welchem jeder seine ausgezeichneten Gefühle niederlegt“.401 Bei Herms fehlt m. W. die Auseinandersetzung mit diesen güterethischen Überlegungen Schleier­machers; er greift vielmehr die Rolle der Religion noch einmal aus der tugendethischen Perspektive auf.

ii. Das Verhältnis zur Moralphilosophie Kants Eine besondere Spitze der Ethik Schleier­machers liegt in dessen Auseinandersetzung mit der Moralphilosophie Kants.402 Bereits der Ausgangspunkt der Ethik beinhaltet eine entsprechende Kritik: Der ethische Prozess wird von Bedingungen getragen, die vorethisch sind. Damit meint Schleier­macher die erwähnte Bedingtheit der Ethik durch das Eingebundensein in die Natur als Eintritt der Intelligenz in die lebendige Entwicklung der Erde. Damit soll „keinesweges irgend eine kosmologische oder metaphysische Prämisse über das Ver397 

AaO. 266–269, §61–62; vgl. Herms, Ethik, in: MW, 43 ff. für weitere Belege. AaO. 118, §193. 399  Schleier­macher, Ethik, 260, §54. 400  Ebd. (meine Hervorhebung). Vgl. den gesamten Abschnitt aaO. 240–274. Herms umgeht scheinbar diese Stellen zum identischen Wissen und Handeln in seiner Ethik-Interpretation. 401  Schleier­macher, Ethik, 122, §213; vgl. zu dieser Stelle Großhans, Gefühl, 560 f. 402  Auf das Verhältnis zur Moraltheorie Fichtes kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden – eine solche Untersuchung bleibt ein dringendes Desiderat. 398 

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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hältniß des sittlichen zu den lediglich natürlichen, oder des geistigen zu dem lediglich leiblichen erschlichen werden“.403 Vielmehr gilt es zu verstehen, dass der ethische Prozess immer schon die Vernunft und die Natur in ihrer wechselseitigen Bezogenheit voraussetzt. Herms macht darauf aufmerksam, dass Schleier­macher die komplexe Aufgabe der Verbindung vielfältiger einzelner Handlungsentwürfe mit einer Grund­entschlossenheit der Gesinnung am Modell des künstlerischen Handelns verdeutlicht.404 So wie der Künstler durch die Wahl all derjenigen Einzelhandlungen seine Pflicht erfüllt, die der Verwirklichung seines ursprünglichen Werksentwurfs dienen, so besteht die ethische Pflichterfüllung generell in der Wahl derjenigen Einzelhandlungen, die sich aus dem ursprünglichen Willens­ entschluss ergeben (106405).406 Für Herms ist es zu Recht entscheidend, dass Schleier­macher diese drei Züge des ethischen Lebens als gleichursprüngliche Elemente eines Zusammenhangs sieht. Wird im Tugendbegriff die ethische Grundentschlossenheit benannt, die „wirksam“ ist und deshalb inhärent die „realisierende Akte der Pflichterfüllung“ und „deren Realisate als Beiträge zum Höchsten Gut“ mit einbezieht (107), erfasst der Begriff der Pflichterfüllung die Realisierung von Willensentschlüssen, die sich aus einer leitenden Grundentschlossenheit speisen und sich in Resultaten bemerkbar machen. Schließlich wird im Begriff des Höchsten Gutes als Inbegriff aller Realisate des ethischen Lebens ein Sachverhalt ausgezeichnet, der von der Grundentschlossenheit und von der das Wollen realisierenden Pflichterfüllung abhängig ist. Herms spitzt nun die Differenz zu Kant zu:407 Dessen Gesinnungs- und Pflichtenethik seien in ihrer reinen Innerlichkeit theoretisch abstrakt und praktisch verheerend.408 Die Leistungsfähigkeit der schleiermacherschen Güterethik wird dagegen im Kontrast zur isolierten Behandlung der Gesinnungstreue und Pflichterfüllung emphatisch409 hervorgehoben: erstens gegen die Formalität 403 

Schleier­macher, Begriff des höchsten Gutes II, KGA I/11 662. „Pflicht ist die Intention und Realisierung einer doppelten Balance: Erstens der Balance zwischen Herstellung von Gemeinschaft und Behauptung von Eigenständigkeit und zugleich zweitens der Balance zwischen dem unübertragbar eigentümlichen und dem für alle identischen und insofern übertragbaren Charakter der Handlungen.“ (Herms, Reich Gottes, in: MW, 106) 405  Seitenzahlen im Text folgen weiterhin dem hermsschen Aufsatz (aaO.). 406  Alle Einzelpflichten sind „technische Imperative“ (Schleier­macher, Unterschied, KGA I/11 442). 407  Schleier­ machers Kritik an Kant steht hier ganz anders im Zentrum als dies in der Bestimmung der grundlegenden Systematik und Methodik der Fall war (vgl. aaO. 429–452). 408  „Schleier­macher, nicht Max Weber ist also der maßgebliche Fundamentalkritiker der Gesinnungsethik Kants.“ (Herms, Reich Gottes, in: MW, 107 Fn.13) 409  Herms emotionalisiert seine Ausführung: Wenn die Gesamtaufgabe der Ethik nicht wahrgenommen wird und auf ihre faktische Folgeträchtigkeit verzichtet wird, so ist dies für ihn auf einen „dummen […] Stolz“ zurückzuführen; er kann sich keinen Theologen vorstellen, der die ideologiekritische Pointe dieser Ethik versteht „und dann noch unverschämt 404 

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einer reinen Gesinnungsethik, zweitens deren Missachtung des sozialen Zusammenhangs, drittens deren Ignoranz für die folgenhafte Wirkung jedweder Handlung. Diese Lücken bearbeitet die schleiermachersche Ethik, wie die folgenden Argumentationsschritte deutlich machen. Zunächst zeigt Herms, wie der Übergang von der Unsittlichkeit zur Sittlichkeit bei Schleier­macher anhand des Problems der sittlichen Ambivalenz eingeführt wird, die sich am ethischen Prozeß „als solchem“ zeigt: „Es ist für ihn [Schleier­macher] wesentlich, daß sich am Guten das Böse zeigt, neben die Tugend das Laster tritt, neben die Pflichterfüllung die Pflichtwidrigkeit, neben das Gut das Übel, und d.h.: neben die Erreichung des ethischen Telos seine Verfehlung“ (110; Hervorhebung im Original). Die Gründe für diese Ambivalenz entstehen aus der Einsicht Schleier­machers, dass die Realisierung des höchsten Gutes – also des ethischen Prozesses insgesamt – von der willentlichen Interaktion aller Einzelnen abhängig ist. Wie aber, so fragt nun Herms, kommt Sittlichkeit laut Schleier­macher zu Stande? Hier wird für Schleier­macher „die ethische Funktion des religiösen Bewußtseins“, die Frömmigkeit, sichtbar (111; Hervorhebung im Original).410 Anhand der Tugendlehre argumentiert Herms, dass die Differenz zwischen dem höheren und niederen Selbstbewusstsein auf dem Hintergrund der Religiosität des Individuums zu verstehen ist; denn diese ist nichts anderes als die Bestimmtheit des höheren Selbstbewusstseins. In der Religion entscheidet sich der Inhalt der Gesinnung, indem die Überzeugung über Grund und Gestalt der Welt geformt und der Grad der Herrschaft des höheren über das niedere Bewusstsein bestimmt wird. Entscheidend, so Herms weiter, ist die Einsicht Schleier­ machers, dass diese grundlegende Formung und Bestimmung nicht durch die Einzelperson bewirkt werden kann, sondern dass „alle Forderungen der Vernunft überhaupt nur unter der Bedingung erkannt werden, daß sie bereits das grundlegende Wollen inhaltlich bestimmen“ (113). Insofern wird das kategorische ‚Sollen‘ der Vernunft vom grundlegenden ‚Wollen‘ und der damit verbundenen Orientierung bestimmt. Diesen Punkt betont Herms deshalb so stark, weil er aufzeigen will, dass der freie Vernunftgebrauch die Sittlichkeit nicht herbeiführen kann. Problematisch an dieser Darstellung ist aber, dass die zentrale Stellung der Vernunft aufgelöst zu werden droht:411 Das Wollen eines Menschen genug ist, auch die theologische Reflexion auf die Folgeträchtigkeit des christlichen und kirchlichen Handelns als Ausdruck eines inhumanen Machbarkeitswahnes oder eines banausischen Versessenseins auf den Erfolg verächtlich zu machen“ (ders., Reich Gottes, in: MW, 109; Hervorhebung im Original). 410  Herms bemerkt hier eine „Akzentverschiebung“ vom Früh- zum Spätwerk Schleier­ machers, als Beleg wird allerdings lediglich die Tugendlehre in KGA I/11 benannt (ders., Ethik des Wissens, in: MW, 111). 411  Vgl. U. Barth, Schleier­macher-Literatur, 430, der Schleier­machers Kulturtheorie gegenüber derjenigen Max Webers und derjenigen der Analytischen Philosophie hervorhebt, da bei diesen die Vernunfttheorie auf der Handlungstheorie aufbaut, während bei Schleier­

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ist nämlich bei Schleier­macher sittlich, wenn dieses Wollen „ein allgemeiner Act der menschlichen Vernunft“ ist.412 Dagegen wird bei Herms das alle Wesen umschließende „Band des Bewußtseins der Vernunft“ (114), die Anteilhabe am gemeinsamen ‚Logos‘, als für die ethische Reflexion nachrangig erklärt. Herms will mit dieser Relativierung der Vernunft seiner spezifischen, fundamentalontologischen Interpretation mehr Gewicht verleihen – eine Strategie, die sich auch an der Sein/Sollen Problematik verdeutlicht. Diese Thematik greift Herms eigens in einem Vergleich zwischen Hume, Kant und Schleier­macher auf.413 Er setzt mit der Behauptung ein, dass klassische Positionen das Verhältnis zwischen Sein und Sollen zwar als logisches Problem auffassen, es sich aber in der Durchführung tatsächlich als eine von ‚ontologischen‘ Annahmen abhängige Frage aufweisen lässt. Obwohl Hume und Kant die Frage unterschiedlich in Angriff nehmen, gehen beide davon aus, dass Sollensaussagen einen gänzlich anderen Gegenstandsbezug haben als Seinsaussagen. Anders als Hume bezieht Kant Seinsaussagen auf das phänomenale Geschehen, das vom Naturgesetz bestimmt wird, und Sollensaussagen auf das noumenale Geschehen, das dem Sittengesetz unterliegt. Dieser Dualismus baut laut Herms auf einer Fundamentalaporie auf, die darin besteht, dass kein einheitlicher Gegenstandsbezug hergestellt wird, auf den alle Aussagen einer dualistischen Theorie ausgerichtet sind und der die Wahrheitsfähigkeit der Theorie aufweisen könnte. Bei Schleier­macher ist dieser einheitliche Gegenstandsbezug für die getrennt zu betrachtenden Sphären von Sein und Sollen, von Natur und Kultur das unmittelbare Selbstbewusstsein. In diesem eröffnet sich die Gesamtsphäre des erkennbar Seiendem als ein Gefüge von unterschiedlichen „Weisen des Werdens“ – in denen das Wollen und das Sollen jeweils eine dieser Weisen ausmachen.414 Demnach wird das Sollen aus der Natur des menschlichen Wollens im Sinne von hypothetischen Imperativen abgeleitet, die Herms so zusammenfasst: „Wenn Du sein willst, was Du bist, ein endliches Vernunftwesen, ein menschlich Wollender, dann handle so.“415 In dem Bezug des Sollens (welches das Wollen ausdrückt) auf das unmittelbare Selbstbewusstsein zeigt sich dabei für Herms, dass nicht die Beziehung zur Umwelt, sondern die zum Ursprung maßgeblich ist: Aus der Bestimmung ihrer Ursprungsrelation wird die Wirklichkeit, Achtung und somit Wirksamkeit der menschlichen Vernunft geschöpft.416 macher letztere den Vernunftbezug „bereits im Ansatz konstitutionstheoretisch enthält (Handeln der Vernunft auf die Natur)“. 412  Schleier­macher, Unterschied, KGA I/11, 439. 413  Herms, Sein, in: MW, 298–319. 414  AaO. 316. 415  AaO. 319. Wie bei Kant ist der Pflichtbegriff bei Schleier­macher formal, aber anders als bei Kant steht er hier im Bezug auf die konkrete, nicht die abstrakte Natur des Menschen (Schleier­macher, Versuch, KGA I/11, 425–428). 416  Herms, Sein, in: MW, 314.

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Herms kann zeigen, wie es Schleier­macher gelingt, die drei wesentlichen Aspekte der Ethik (Tugenden, Pflichten, Güter) in einem Konzept zu integrieren. Die berechtigte Kritik an der kantischen Ethik wird in der hermsschen Ausführung überdeutlich. Wenn das Sollen vom Sein völlig losgelöst gedacht wird, sind die Realisierungsbedingungen nicht erkennbar; wenn die Maxime des Handelns nur in ihrer formalen Verallgemeinerbarkeit Berechtigung besitzt, bleibt eine Orientierungslosigkeit hinsichtlich der Ziele und der Umsetzung solcher Maximen bestehen. Aber, so kann nun umgekehrt gefragt werden, wird in der schleiermacherschen Sicht des Verhältnisses von Pflichten und Gütern die Leistungskraft des deontologischen Arguments eingeholt? Diese besteht darin, eine systematische Ebene zu identifizieren, in denen verschiedene Güterethiken verbunden und vermittelt werden können – um die Idee des kulturübergreifenden Gemeinwohls zu entwickeln. Michael Moxter wendet ein, dass der schleiermachersche Pflichtbegriff verglichen mit Kants „Neubau der Ethik“ unterbestimmt bleibt.417 Er fragt mit Schleier­macher, was in seiner Konzeption von der Sollensethik „übrigbleibt“, und antwortet mit ihm, dass „das Soll nichts anders aussagt als die Allgemeinheit der sittlichen Bestimmung“.418 Schleier­macher bringt das im kategorischen Imperativ bedachte Moment der Allgemeinheit als Begleitung eines Willensaktes „ganz einfach“ unter, „ohne daß eine Probe der Verallgemeinerbarkeit subjektiver Maximen benötigt würde“.419 Zugleich verschwindet bei Schleier­macher der Unterschied zwischen der (rechtspositivistisch zu deutenden) Gleichheitsannahme „des bürgerlichen Gebotes“ und dem Begriff von Normativität, für den „die in allen identische (allgemeine) Vernunft erst noch aufkommen muss“.420 Wenn Schleier­macher das Sollen von einer „anmutenden Autorität“ ableitet, ist die kantische Absicht der Autonomie des Willens nicht mehr erkennbar: „Was bei Schleier­machers Versuch, das Sittengesetz aus der gebietenden Anrede zu gewinnen, als Bedeutung des Sollens ‚übrigbleibt‘, erscheint daher, gemessen an Kants Neubau der Ethik, als geradezu ruinös.“421

Im weiteren Verlauf seiner Argumentation macht Moxter darauf aufmerksam, dass Schleier­macher in der Entwicklung der Pflichtenlehre eine Lösung des Problems anvisiert: Das Sittliche samt dessen Zwang durch die Autorität des Vorgegebenen wird durch die vom Subjekt vorgenommene, bewusste Integration und Übernahme neu konstituiert, wodurch sich eine kontinuierliche Neu417 

Moxter, Güterbegriff, 64–107. AaO. 72, mit Zitat von Schleier­macher, Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz. 419 Ebd. 420 Ebd. 421  AaO. 73. 418 

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

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bestimmung des Bestandes gegenwärtiger Sittlichkeit ergibt.422 Das bedeutet, dass der fortwährende Bestand des Sittlichen mit der Autonomie des Subjekts begrifflich zusammengeführt wird.423 Um die Abgrenzung gegenüber der kantischen Konzeption der praktischen Vernunft einen Schritt weiter zu führen, sei auf eine weitere Differenz hingewiesen. Diese liegt in dem Entwurf einer Kulturtheorie. Gunter Scholtz argumentiert zu Recht, dass Schleier­machers Ethik die Entwürfe von Kant und Hegel korrigiert: Kant rückt die Gesellschaft allein unter die Perspektive des Rechts, Schleier­macher ordnet dagegen das Recht und den Staat als „Teilbereich der Kultur“, als „Gut unter Gütern“ ein.424 Mit seiner Güterethik steht Schleier­ macher in der Nähe Hegels, denn sie steht dessen Rechtsphilosophie, die als Kultur- und Gesellschaftssphäre gedacht wird, am nächsten, aber sie hebt sich „zugleich inhaltlich stark“ von ihr ab:425 Schleier­macher begreift Gesellschaft nämlich weder als homogen noch als heterogen, weder von der Moral noch von den Interessen dominiert, sondern als ein System selbstständiger, sich wechselseitig ergänzender Sphären. „Schleier­macher hat in diesem Sinne das Prinzip der Gewaltenteilung auch in der Kultur zur Geltung gebracht und damit die Bedingungen eines urbanen Lebens gezeigt.“426 Diese Kulturtheorie gilt es nun zu analysieren. Dabei muss gefragt werden, ob Schleier­macher wie Kant einen Blick für die Ordnung der Geschicke der Menschheit besitzt. Immerhin verfasst Kant mit seiner Schrift Zum Ewigen Frieden im Jahre 1795 einen „Klassiker“ der politischen Theorie.427 Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Höffe und Habermas diese Schrift als epochal einordnen und ihre Konzeptionen eng an sie anknüpfen, denn die Praxis des Friedens wird durch Kant zum ersten Mal theoretisch mit einem einheitlichen Blick für die Menschheit abgesichert.428 iii. Ansätze einer Kulturtheorie429 der Menschheit Arnulf von Scheliha zeichnet Schleier­macher dafür aus, eine Theorie der internationalen Beziehungen vorzulegen, die „zwischen“ der kantischen Idee des interstaatlichen Friedens und der hegelschen Orientierung am Machtstaat einzu422 

AaO. 133–136. Ergebnis widerspricht nur tendenziell der hermsschen Einschätzung. Für Herms ist sicherlich die Freiheit stärker an das ‚Vorgegebene‘ gebunden, als Moxter dies für Schleier­macher beansprucht, aber auch Herms impliziert die Fähigkeit, sich kritisch zur Tradition zu verhalten (vgl. III.3.B.ii). 424  Scholtz, Ethik, 11. 425 Ebd. 426  AaO. 11 f. 427 Dicke, ‚Kant‘, 384. 428  Vgl. II.1.B; II.3; und Dicke, ‚Kant‘, 382 mit Verweis auf Volker Gerhardt. 429  Der Begriff der Kultur ist hier weiter gefasst als im übrigen Teil der Arbeit. Hier steht Kultur formal der Natur gegenüber, während ich sonst versuche die Differenz menschlicher Sinnhorizonte zu erfassen. 423 Dieses

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ordnen ist; denn Schleier­macher erkennt die bestimmende Kraft der nationalen und kulturellen Interessen ebenso wie die zivilen Möglichkeiten der Völkerverständigung an.430 Dieser politischen Differenziertheit geht eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Menschheit voraus, die in den Monologen beginnt. Das Bemerkenswerte an dieser Schrift ist nicht nur, dass sie ein „Manifest einer Ethik der Individualität“ ist,431 sondern dass diese Individualität nur auf dem Hintergrund des Bewusstseins der Menschheit im Allgemeinen sich entwickeln kann. „Mein ganzes Wesen kann ich nicht […] vernehmen, ohne die Menschheit anzuschauen, und meinen Ort und Stand in ihrem Reich mir zu bestimmen.“432 Jeder Mensch stellt auf seine Art die Menschheit dar; in jeder Handlung ist die Menschheit Norm und Kraftquelle. Ihre ausgereifte Form erhält diese Idee in der Ethik und den Akademie-Vorlesungen. Schleier­macher zeigt sich dabei sensibel für das Ineinander von Seinsordnung und gesellschaftlicher Ordnung. Wie erarbeitet worden ist, macht seine Ethik die Zusammenführung dieser Polarität unter der Leitperspektive der Mannigfaltigkeit zur Aufgabe – ausgerichtet auf die Makroebene der Gemeinschaft der Sprachen, Völker, Nationen und Religionen. In den Abhandlungen Über den Begriff des höchsten Gutes führt er aus: Die Geburtsstunde der Vergesellschaftung fällt mit der Vernunftannahme zusammen, und da es Vernunft nicht nur in einem Menschen gibt, ist ein vollständiges Verständnis der Vernunft von einem Begriff der Gattung abhängig.433 Wenn also Ethik und Kulturtheorie begrifflich ausgearbeitet werden, darf nicht von der Frage ausgegangen werden, „was das höchste Gut für den einzelnen Menschen sei, […] sondern vollständig geschaut kann das höchste Gut nur werden in der Gesammtheit des menschlichen Geschlechts“.434 Was von Gott gilt, dass seine Vollkommenheit in seiner Ganzheit liegt, charakterisiert nun das höchste Gut. Ein Bild wechselseitiger Ergänzung wird entwickelt, in der jedes Glied sich in einen Leib einfügt, jedes Einzelwesen in eine Familie und jedes einzelne Volk in die gesamte Menschheit – es ist die „Wirkungsgemeinschaft“ der gesamten menschlichen Gattung.435 Diese Sicht hat nun verschiedene Pointen: Erstens: Schleier­macher verfolgt eine Theorie der Gattung, die sich nicht lediglich an den Lebenden orientiert. Herms macht darauf aufmerksam, dass für Schleier­macher der Interaktionsprozess der Menschheit „seine Fülle nur in auf einander [sic] folgenden Lagerungen vergänglicher Individuen“ entwickeln

430 

Von Scheliha, Beziehungen, 14; Hervorhebung im Original. Birkner, Einleitung, VII. 432  Schleier­macher, Monologen, 24 (ursprüngliche Paginierung). 433  Schleier­macher, Begriff des höchsten Gutes I, KGA I/11, 549. 434  AaO. II, KGA I/11, 660. 435  AaO. 662 (meine Hervorhebung). 431 

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

257

kann.436 Der ethische Prozess ist auf eine Interaktion der Generationen und ihre Tradierungsleistungen angewiesen. Nur insofern diese Traditionsprozesse gelingen, so Herms nun interpretierend, kann eine generationenübergreifende Zielstrebigkeit erreicht werden. Angesichts der derzeitigen Bedeutung von nachhaltigen, ökologischen Initiativen, ist der Blick auf das, was vorherige Generationen bewirkt haben und auf die Auswirkung eigener Handlungen für die Kinder und Kindeskinder notwendiger denn je.437 Zweitens: Mit dem Begriff der ‚Wirkungsgemeinschaft der menschlichen Gattung‘ wird die ausdifferenzierte Gesellschaftstheorie von Schleier­macher vorausgesetzt. Die verschiedenen Funktionssysteme der Gesellschaft (Politik, Geselligkeit, Wissenschaft, Religion/Kunst) werden unter dem Gesichtspunkt der kontinuierlichen Ausbalancierung ihrer Kräfte und Interessen betrachtet – eine Balance mit deskriptivem und normativem Sinn. Hier greift der Kontrast zu Hegels Auffassung des Staates. Weil nach Hegel die bürgerliche Gesellschaft nicht in der Lage ist, Spannungen des Zusammenlebens aus sich heraus zu lösen, wird der Staat normativ und gestalterisch als „eine Art Superstruktur“ eingeführt.438 Religion und Moral werden diesem Anspruch untergeordnet. Schleier­ macher wendet sich gegen diese Ansicht mit einer eindeutigen Alternative. Die Institutionen werden als gleichberechtigte Akteure eingeführt, die sich wechselseitig relativieren. Keine der vier Systeme lässt sich auf ein anderes reduzieren, ohne eine massive Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Dynamik zu bewirken. Diese Ausbalancierung der Gegensätze entspricht, wie Ulrich Barth zu Recht hervorhebt, dem „methodische[n] Grundmuster seines Denkens“.439 Barth stellt die unbeantwortete, aber rhetorisch wirkende Frage, ob solch ein Modell der Gleichgewichte „dem spezifischen Machtpathos des Staates mit seiner letztinstanzlichen Regulierungskompetenz tatsächlich hinreichend Rechnung“ trägt.440 Interessant ist, dass derzeit eben diese Kompetenz des Staates als ergänzungsbedürftig angesehen wird (vgl. II.3.C). Ob auf der nationalen Ebene der Gesellschaftsanalyse oder auf der internationalen Ebene der politischen Mehr-Ebenen-Systeme wird zunehmend eingesehen, dass der Staat und die Ökonomie mit den Kräften der Zivilgesellschaft und der diskursiven Öffentlichkeit ausbalanciert werden müssen.441 Drittens ist die pluralistische Verfassung dieser Kulturtheorie zu beachten. Dass Schleier­macher sich in besonderer Weise dem weltanschaulichen Pluralis-

436  Herms, Reich Gottes, in: MW, 109 f. mit Bezug auf Schleier­macher, Begriff des höchsten Gutes I, KGA I/11, 550, Z. 16 f. 437  Vgl. die Einschätzung von Nussbaum in ihrem neuen Werk Frontiers of Justice. 438  U. Barth, Kongreßeröffnung, 16. 439 Ebd. 440 Ebd. 441  Vgl. z.B. Lepenies, Neuerfindung; die Diskussion unter III.3.A.ii.b.

258

III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

mus zuwendet, ist bereits festgestellt worden:442 „Jeder muß sich bewußt sein, daß die seinige nur ein Theil des Ganzen ist, daß es über dieselben Gegenstände, die ihn religiös affizieren, Ansichten giebt, die eben so fromm sind und doch von den seinigen gänzlich verschieden.“443 Wie er aber trotz der Relativierung Allgemeingültigkeit beansprucht, ist umstritten. In seinem Theorievergleich zwischen den Güterlehren von Charles Taylor und Schleier­macher stellt HansRichard Reuter die These auf, dass dieser im Gegensatz zu jenem nicht dem Relativismus verfällt. Während Taylor, so argumentiert Reuter im Anschluss an Hartmut Rosa, auf der metaethischen Ebene nicht über einen „interkulturellen Relativismus“ hinaus gelangt, bleibt bei Schleier­macher die Güterlehre immer „auf die Idee einer menschheitlich universalen Praxisgemeinschaft“ und somit auf eine Verbindung aller einzelnen Handlungen auf das Regulativ des höchsten Gutes „als idealisierter Einheit von Fürsichsein und Füreinandersein“ verwiesen.444 Hier zieht Reuter eine Verbindung zu Schleier­machers Sprachverständnis als das ‚individuelle Allgemeine‘: Während in der Hermeneutik Schleier­macher die Sprachäußerungen unter dem Gesichtspunkt des Individuellen betrachtet, ist die Dialektik darauf ausgerichtet, den individuellen Verstehenswunsch in eine universale Geltungsperspektive des Wissens und Wollens einzubeziehen. Bezogen auf diese reziproke Abhängigkeit von Dialektik und Hermeneutik, wie sie Schleier­macher selbst formuliert, ist die Ethik so zu verstehen, dass sie trotz der historischen und kontextuellen Einordnung einen universalen Anspruch aufweist. So sei Pluralismus denkbar ohne „prinzipiellen Relativismus“.445 Schließlich ist eine tendenzielle Entgrenzung der Funktionssysteme über die Nationalstaaten hinaus zu beobachten: „In der Wissenschaft zur Menschheit, in der Migration zum Weltbürgertum und in der Religion zum Individuum“.446 Vor allem an den Sphären des Staates und der Religion wird dies deutlich. Am Anfang aller Staatlichkeit steht aus seiner Sicht das „Bewußtseyn“ für „eine räumliche und zeitliche Gemeinschaft“ – nicht die Gewalt, der Vertrag oder das göttliche Naturrecht.447 Mit dem Bewusstsein für die Genese von Staatlichkeit 442  Vgl. z.B. Nowak, Schleier­macher, 103: „So viele anschauende Individuen es gab, so verschiedenartig waren die Arten der unmittelbaren Wahrnehmung, d.h. sie waren im Prinzip unendlich. Schleier­macher multiplizierte das ‚Anschauen‘ in die Fülle der menschlichen Individuen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auf diese Weise gewann die Religion als individuelle Artikulation des Unendlichen unbegrenzte Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten. Jeder Mensch trug eine religiöse Welt in sich, und keine glich der anderen.“ 443  Schleier­macher, Reden, KGA I/2, 216 f., §62. „Mit diesem Blik und diesem Gefühl des Unendlichen sieht sie aber auch das an was außer ihrem eigenen Gebiete liegt, und enthält in sich die Anlage zur unbeschränktesten Vielseitigkeit im Urtheil und in der Betrachtung, welche in der That anderswoher nicht zu nehmen ist.“ (AaO. §65) 444  Reuter, Gute, 40 f. 445  Ebd. mit Bezug auf Schleier­macher, Dialektik, KGA II/10.1, 191. 446  Von Scheliha, Religion, 333. 447  Schleier­macher, Staat, KGA II/8, 386 f. [Nachschrift Goetsch]: „Die Zusammenge-

III.2. Friedrich Schleier­macher als interkultureller Denker

259

ist zugleich die ganze Erdgemeinschaft im Blick, denn sie dient als Einheitsbegriff für die Abgrenzung des nationalen Teilbereichs. Matthias Wolfes macht (gegenüber der Interpretation von Walter Jaeschke) diesen Richtungssinn geltend. Schleier­macher habe je länger er sich mit der politischen Thematik befasste, desto mehr die Idee eines Staatenbundes bedacht.448 Die Staatenbildung ist nämlich ein Teil des kulturellen Gesamtprozesses, welcher eine universalistische Fluchtlinie beinhaltet. Eine hinreichende Gestalt findet die Vernunftbildung nur, wenn es ihr gelingt, nationale und kulturelle Differenzierungen zu überwinden und in eine multiethnische, plurale und föderale Weltrepublik zu überführen.449 Dieser Aspekt ist in der Tat unverzichtbar, will man den interkulturellen Ansatzpunkt der schleiermacherschen politischen Theorie nicht verfehlen.450 Auch die Religion ist nicht auf die nationale Gesellschaft beschränkt, sondern trägt in sich das Bewusstsein der Gemeinschaft aller Menschen.451 Dies betrifft vornehmlich die christliche Religion, welche die gesellige Natur des Menschen nicht mit Blick auf dessen Stellung in einer bestimmten Konfession oder Gesellschaft, sondern aus dem „Gefühl der wärmsten allgemeinen Menschenliebe“ heraus versteht.452 Diese Liebe widerspricht Bemühungen, die nur partikularistisch ausgerichtet sind, denn, wie Schleier­macher es formuliert, „je näher wir uns […] mit einer größeren oder kleineren Anzahl unsers gleichen verbinden, desto fremder werden uns die übrigen, […] mit denen wir in keinem besondern Verhältniß stehn“.453 Das durch das christliche Bewusstsein initiierte „Gefühl […] des ausgebreitesten Wohlwollens gegen Alle“ ermöglicht vielmehr einen Sinn für die Zusammengehörigkeit aller Menschen.454 Christliche Religion ermöglicht es, kosmopolitisch zu denken und sich dennoch an eine Tradition zu binden. hörigkeit einer MenschenMasse [sic] vor dem Staat ist immer ein Bewußtloses. […] Also der Unterschied des vorbürgerlichen Zustandes mit dem Staat ist, daß die Bewußtlosigkeit zum Bewußtseyn übergeht.“ Überhaupt wird Staatstheorie „um unsers eignen Bewusstseins willen“ betrieben, um das rechte „Verhältniß“ zwischen aktivistischer Selbstüberschätzung in der Veränderung sozialer Verhältnisse und passivisch ausgerichteter, politische Zustände wahrender Skepsis bestimmen zu können (aaO. 953 f.). 448  Wolfes, Sichtweisen, 390, kritisiert Walter Jaeschke, denn als Herausgeber von KGA II/8 habe er eine alte Interpretation durchgehalten, nämlich die des Schleier­macher-Bildes eines vaterländischen Predigers und patriotischen Denkers, die alle progressiven Motive bei Schleier­macher verdecke (374). Schleier­macher habe aber letztlich das begrenzende nationalstaatliche Denken überwunden, vgl. Schleier­macher, Staat, KGA II/8, 555. 449  AaO. 390. 450  AaO. 389 Fn. 34. Allerdings darf die nationale politische Theorie Schleier­ machers nicht gegenüber der Gattungseinheit ausgespielt werden. 451  Schleier­macher, Ethik, 117 f., §192. 452  Schleier­macher, Theilnahme, in: SW II/7, 118. 453  Ebd. 119; vgl. von Scheliha, Religion, 331 f. 454  Schleier­macher, Theilnahme, in: SW II/7, 118.

260

III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

III.2.E. Schlussfolgerungen Ich bin von zwei grundlegend unterschiedlichen Schleier­macher-In­ter­pre­ta­tio­ nen hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Religion, Vernunft, Kultur und Gesellschaft ausgegangen – nämlich denjenigen von Eilert Herms und Ulrich Barth. Das hermssche Schleier­macher-Verständnis lässt sich nur als Gesamtgefüge verstehen; es wird vom Begriff eines ‚höheren Realismus‘ im Anschluss an F.H. Jacobi geleitet und wird insgesamt als Kant-Kritik ausgeführt. Seine Interpretation macht auf eine wesentliche Einsicht Schleier­machers aufmerksam, dass im Gefühl ein Einheitsmerkmal und Übergangsvermögen zwischen dem Denken und dem Wollen besteht, welches zugleich den Realitätskontakt gewährleistet. Ulrich Barth stellt dieses Übergangsvermögen dagegen als ein Strukturprinzip menschlicher Subjektivität dar, welches als Zustandsbewusstsein mentaler Agilität vorgestellt wird und welches eben nicht als bestimmtes oder passiv-verfasstes Selbstverhältnis zu verstehen ist. Für Barth steht die aktive Deutungsleistung im Mittelpunkt, die letztlich für das Gefühl religiöser Unmittelbarkeit bestimmend ist. Gegenüber beiden Interpretationen ist insofern Widerspruch einzulegen, als bei Schleier­macher Passivität und Konstruktivität, gefühlte Bestimmtheit und gedachte Allgemeinheit zusammengehalten werden. Einerseits ist die Bedeutung des unmittelbaren Selbstbewusstseins für das gemeinsame Denken und Handeln unverkennbar. Das individuelle Symbolisieren, welches auf ‚Offenbarungen‘ zurückzuführen ist, wird deshalb für das identische Wissen als wirkmächtig beschrieben. Andererseits ist auch die Wirkung des identischen Wissens auf die individuelle Symbolisierungsleistung zu beachten. Schleier­macher hat ein ‚Ineinander‘ von Allgemeinem und Individuellem im Blick, welches es ihm aber dennoch ermöglicht, die beiden Aspekte so zu entflechten, dass das Problem der Religion unabhängig von der philosophischen Analyse betrachtet werden kann: „Der Philosoph braucht also die Religion nicht für sein Geschäft, aber als Mensch, und der Religiöse braucht die Philosophie an und für sich nicht, sondern nur in der Mittheilung. An ein Primat ist nicht zu denken.“455

Insgesamt ist das Bild des ‚Zirkels‘ dienlich, mit dem Shin-Hann Choi das Verhältnis des identischen und des individuellen Wissens bestimmt. Die Kommunikation als Streit zwischen verschiedenen Deutungsleistungen mit dem Ziel der Einigung und in Bezug auf die gemeinsam vorgegebene Wirklichkeit bietet die einzige Vermittlungsmöglichkeit zwischen ‚Einerleiheit und Verschiedenheit‘. Für die Grundlegung einer Sozialtheorie ist dies von weitreichender Konsequenz, weil Schleier­macher die Spannung zwischen Individuellem und

455 

Schleier­macher, Dialektik, in: KGA II/10.2, 242.

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

261

Identischem, zwischen Empirischem und Spekulativem nicht auflöst, sondern produktiv zu nutzen weiß. Seine Gesellschaftstheorie orientiert sich dabei wie diejenige Kants an der Idee der Menschheit; anders als bei dieser stehen für Schleier­macher die Ausbalancierung verschiedener Funktionssysteme und Interessenlagen im Mittelpunkt. Dass diesem Konstrukt das Potenzial einer weitreichenden, regulativen Idee innewohnt, ist bereits ausgeführt worden; dass es besonders aktuell ist, verdeutlicht Herms im nächsten Kapitel.

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs um den globalen Wandel „Das Thema [Globalisierung] klingt modisch und kann daher Unbehagen wecken. Tatsächlich ist es – um das Mindeste zu sagen – ‚hoch anschlußfähig‘ an gegenwärtige Feuilletondebatten. Unbeschadet dessen ist jedoch festzuhalten, daß der Ausdruck ‚Globalisierung‘ ein genuines und unverzichtbares Sachthema des christlichen Glaubens und christlicher Theologie bezeichnet.“456

Dass die Problematik interkulturellen Zusammenlebens entscheidend für das Denken von Herms gilt, ist bereits verschiedentlich als Argument eingeführt worden. Meine durchgehende Hypothese ist es, dass Herms eine eigenständige, ernst zu nehmende Interpretation der kulturellen Konflikte liefert: Er sensibilisiert für die weltanschaulichen Hintergrundannahmen sozialphilosophischer Beschreibungen des weltweiten sozialen Wandels und lenkt die Aufmerksamkeit auf die notwendige Beachtung des gesamten Güterspektrums des intergesellschaftlichen Zusammenlebens. Ökonomische, politische und technisch-wissenschaftliche Funktionssysteme generieren nicht die ethischen Überzeugungen über die Ziele der Koexistenz, sondern diese entstehen aus dem handlungsorientierenden Lebensgefühl der Menschen. An der Ausbildung dieses Daseinsverständnisses entscheidet sich für Herms, ob die Interaktion der Menschen aus den verschiedensten Gesellschaften und Kulturen friedlich und egalitär gestaltet werden kann. Im Anschluss an Schleier­macher und in merklicher Differenz zu Habermas steht die Ausbalancierung der Funktionssysteme (gerade in Anbetracht der werdenden Weltgesellschaft) bei Herms im Fokus. Zugleich bleibt die Balance für ihn „asymmetrisch“, wie er in der Handlungs-, Wissens- und Sozialtheorie wiederholt argumentiert,457 denn Handeln und Wissen werden durch Selbst-, Welt- und Ursprungsgewissheiten orientiert. Im Rahmen der Schleier­macher456 

Herms, Globalisierung als Herausforderung, in: David, Theologie, 295. Herms, Bedeutung der Religion, in: Korff, Wirtschaftsethik, 681; ders., Theologie als Phänomenologie, in: PG, 112; ders., in: PRP, 281 u.v.a. Belegen. 457 

262

III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Interpretation des letzten Kapitels ist nun dagegen auf den umgekehrten Einfluss des identischen Handlungsbegriffs (aus der Ethik) und der entsprechenden Wissenskonzeption (aus der Dialektik) auf das individuelle Symbolisieren und Organisieren aufmerksam gemacht worden. Was dieses Ergebnis impliziert, kann nun in diesem Kapitel näher betrachtet werden; denn mein Bestreben geht weiterhin dahin, Eigenschaften und Rolle der humanen, alle Kulturen verbindenden ‚Vernunft‘ deutlicher erfassen zu können. Neben interkulturellen Ethosbeständen verweisen gesellschaftsübergreifende Lernprozesse (z.B. im Menschen- und Völkerrecht) auf das menschliche Vermögen, Übersetzungen in kommunikativer Absicht leisten zu können, die weitreichende normative Implikationen in sich bergen – denn sie ermöglichen Verständigung. Dieser Leistungskraft der kommunikativen, ‚transversalen‘ Vernunft gilt es mit Blick auf die Ausgestaltung der Institutionen sozusagen auf der Spur zu bleiben. Der Ansatz von Herms wird in der gegenwärtigen Diskurslage der sozialund politiktheoretischen Modellbildungen zur globalen Vernetzung nur bedingt rezipiert.458 Derweil vertritt er die Ansicht, dass diese Diskussionen entscheidende Lücken aufweisen, und er beklagt die Sprachlosigkeit in den Politikund Sozialwissenschaften hinsichtlich der Klärung derjenigen Bedingungen gesellschaftlicher Ordnung, welche es der aufgeklärten Bürgergesellschaft ermöglichen, sich im „globalen Maßstab entwickeln und verwirklichen“ zu können.459 Für ihn liegen diese Bedingungen aus reformatorischen Einsichten in die conditio humana auf der Hand:460 Aus der christlichen Sicht des Menschen – nämlich der Freiheit eines Christenmenschen – lässt sich nach Herms der kategoriale Rahmen abstecken, der die Bedingungen der Möglichkeit weltweiten, friedlichen Zusammenlebens bestimmt. Wie sieht seine Sicht einer gerechten Ordnung aus und wie fügt sie sich in die Modelle globalen Wandels auf dem Spektrum zwischen Weltsystem und Kampf der Kulturen?461 Sein Theoriegefüge wird mit diesen bereits eingeführten (I.2) und diskutierten (II.3) interdisziplinären Theorien im Folgenden verglichen und analysiert. Dabei stehen zunächst die äußeren (III.3.A) und daraufhin die inneren Bedingungen (III.3.B) friedlicher intergesellschaftlicher Ordnung im Zentrum.462 458  In der deutschsprachigen Diskussion um die Wirtschaftsethik wird seine Theorie als wesentlicher Beitrag wahrgenommen, vgl. den Artikel von Jochen Gerlach, ‚Herms‘, im Handbuch für Wirtschaftsethik, im Rahmen der Frage nach dem Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik. Darüber hinaus ist m. W. in der Sozialphilosophie keine Diskussion um seinen Beitrag zu erkennen. 459  Herms, Vorwort, in: OG, XXVI (meine Hervorhebung). 460  AaO. XXVII. 461  Zur Erinnerung: Habermas stellt seine kosmopolitische Theorie zwischen kulturalistischen und systemtheoretischen Alternativen als eine dritte, vermittelnde Position auf (II.3.B). 462  Die Unterscheidung zwischen äußeren und inneren Bedingungen, zwischen dem ‚Gerüst‘ (A) und dem ‚Gewebe‘ (B) entlehne ich Schleier­macher: „Wie die Naturwissenschaft

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

263

Das Ziel dieses letzten Kapitels liegt nicht darin, eine umfassende Diskussion der vielfältigen Beiträge der hermsschen Theorie zu leisten. Dies ist angesichts der hochkomplexen Diskussionen (z.B. allein um den Kulturbegriff oder um die Fragen nach der Ordnung der Wirtschaft und des Staates) weder möglich noch notwendig. Vielmehr gilt es, den hermsschen Beitrag zum ersten Mal im Horizont dieser Diskurslage zu präsentieren und somit dessen eigenständiges Profil zu reflektieren.

III.3.A. Zum ‚Gerüst‘. Kategoriale Bearbeitung der Globalisierungsthematik Reflexionen des Globalisierungsthemas legt Herms 1986,463 1991464, 1998465 und 2006466 vor. Während die ersten beiden Veröffentlichungen eine Antwort auf die weltwirtschaftlichen Herausforderungen in den Mittelpunkt stellen, bieten der dritte und vierte Text einen Zugriff auf das Gesamtphänomen. Um den bereits vertrauten Duktus von Herms nicht wieder aufzunehmen – er wiederholt im Aufbau seiner Texte die grundbegrifflichen Unterscheidungen, z.B. der kategorialen und angewandten Ethik,467 die III.1.C.ii. diskutiert worden sind – gehe ich in umgekehrter Reihenfolge vor: Aus dem Blickwinkel zweier systematischer Fragen erörtere ich die Kategorien: Wie kann der global-soziale Wandel adäquat beschrieben (i) und bewertet (ii) werden? i. Beschreibung: Einheit und Vielfalt der Weltkulturen „Globalisierung ist der Vorgang, daß Organisationen ausdifferenzierter Funktionsbe­ reiche einer Gesellschaft auch in anderen Gesellschaften nach den Leistungsprinzipien ihrer Herkunftsgesellschaft tätig werden und damit Ansätze einer intergesellschaftlichen, tendenziell einer globalen Ordnung schaffen.“468

Herms setzt für diese Definition sein gesellschaftstheoretisches Vierer-Schema voraus (vgl. III.1.C.ii.a), welches die Ausdifferenzierung einer ursprünglich um familiale Strukturen kreisenden Alltagswelt in Funktionssysteme vorsowol die festen Formen als die fließenden Functionen der Natur begreiflich macht, und beide auf einander reduciert, so erklärt auch die Ethik sowol die festen Formen des sittlichen Daseins, Familie, Staat usw., als auch die fließenden Functionen oder die sittlichen Vermögen und reduciert beide aufeinander.“ (ders., Ethik, 11, §52) 463  Vgl. Herms/May, Aspekte. 464  Vortrag abgedruckt in: Herms, Weltwirtschaftsordnung, in: WM, 233–252. 465  Vortrag abgedruckt in: Herms, Globalisierung, in: WM, 253–283. 466  Herms, Globalisierung als Herausforderung, in: David, Theologie, 295–324. 467  Erstere ist die Struktur des menschlichen Interagierens, also deren ‚Möglichkeitsraum‘; letztere befasst sich mit Einzelfällen und erfüllt sowohl eine deskriptive wie auch eine normative Funktion. 468  Herms, Globalisierung, in: WM, 268. Auch Herms verweist darauf, dass dieser Vorgang zwar alt, aber gegenwärtig eine unvergleichbare Beschleunigung und Intensivierung zu verzeichnen ist.

264

III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

sieht, die die vier Grundaufgaben des menschlichen Daseins lösen: Haushaltung (Wirtschaft), Rechts- und Friedenserhaltung (Politik/Recht), Generierung und Weitergabe von empirischem (Wissenschaft) und ethischem Wissen (Religion). Bereits auf der einzelgesellschaftlichen Ebene wird die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme durch Medien, gemeinsame Regeln und kulturelle Überzeugungen in reintegrativer Absicht ausbalanciert.469 Wie verändert sich dieses Schema, wenn sich eine Gesellschaft mit anderen verbindet, indem die Funktionssysteme auch dort tätig werden? Herms bildet den globalen Wandel als Vervielfältigung des Vierer-Schemas ab, bei der nun die verschiedenen Funktionsbereiche in den verschiedenen Gesellschaften miteinander verbunden werden.470 Er bezeichnet dieses globale Gefüge als gegenwärtig schon präsente „Weltgesellschaft“, aber eben als „eine Gesellschaft von Gesellschaften“, nicht als Weltsystem, nicht als „eine einzige Gesellschaft“.471 Demnach setzt er ein einigermaßen einheitliches Gesellschaftsbild voraus und betrachtet den globalen Wandel als Intensivierung der Interdependenzen. a. Der Kulturbegriff: Zwischen Homogenität und Hybridisierung Die Verwendung des Begriffs ‚Kultur‘ ist insgesamt diffizil: Kultur kann als Gegensatz zur Barbarei und somit als Inbegriff der Humanität verwendet, oder er kann formal im Gegensatz zur Natur eingesetzt werden.472 Kultur kann zudem ein Teilsystem der Gesellschaft bezeichnen, manchmal nur Kunst und Literatur, oder als Beschreibung der Ausrichtung einer Gesellschaft als Ganzes dienen. Trotz dieser Probleme mit dem Kulturbegriff scheint es zu diesem bisher noch keine adäquaten Alternativen zu geben: Ich werde ihn als Gesamtkomplex von Denkformen, Werten, Handlungsmustern und Empfindungsweisen eines Kollektivs bezeichnen, welche sich in Symbolsystemen, Artefakten und Institutionen zeigen und durch die sich eine Gesellschaft von anderen unterscheidet. Diese Kollektive sind niemals in sich einheitlich oder einfach voneinander abzugrenzen. Dennoch sind Grundlinien zu erkennen, anhand derer sich Menschen in einer Gesellschaft, in einem Land oder in einer Region von anderen unterscheiden.473 Das soll nun vertieft werden: Harald Müller weist darauf hin, dass im anglo-französischen Raum das Konzept der ‚Zivilisation‘ bevorzugt wird, um die gesamte intersubjektive Praxis der Lebensgestaltung, einschließlich der wesentlichen Funktionssysteme, zu

469 

AaO. 266. AaO. 280. 471  „Diese Weltgesellschaft ist da.“ (Herms, Weltwirtschaftsordnung, in: WM, 238; Hervorhebung im Original) 472  Vgl. Moxter, Kultur, 1–12, vor allem 8 ff. 473  Dabei verschränke ich im Verlauf der Arbeit handlungstheoretische und semantische Kulturbegriffe, und ein Desiderat bleibt die genaue Abgrenzung zwischen Gesellschaft und Kultur. Vgl. den Überblick bei Knoblauch, Kultur, 21–33. 470 

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

265

beschreiben.474 In Deutschland wurde dagegen der Begriff der ‚Kultur‘ bevorzugt, der allerdings auf die „Sinnsysteme“ der Gesellschaft in Abgrenzung zu den übrigen Funktionssystemen begrenzt wurde.475 Herms nimmt diese Diskussion auf, unterscheidet dabei aber zwischen zwei Auffassungssträngen von ‚Kultur‘ in ihrem jeweiligen Verhältnis zur ‚Natur‘. Die erste Variante dieser Kulturauffassungen grenzt sich wie der frühere deutsche Begriff von der ‚Zivilisation‘ ab. In dieser Definition werden ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ als selbstständige, sich gegenüberstehende Größen erachtet. So wird die ‚Natur‘ als materielle Dimension des Lebens betrachtet, in der es um die Befriedigung sekundärer Bedürfnisse geht, während die ‚Kultur‘ als geistige Dimension mit dementsprechenden höherwertigen Bedürfnissen bestimmt wird.476 Auf der zweiten Interpretationslinie werden die beiden Größen nicht als Gegensätze aufgefasst, sondern ‚Natur‘ wird als Grund von ‚Kultur‘ gedacht. Hier zeichnet Herms eine Linie von Schleier­machers Güterlehre über Wilhelm Dilthey bis in die Gegenwart, auf der ‚Kultur‘ als „Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, insbes. der Wert-Einstellungen“ verstanden wird.477 Zwar kann ‚Kultur‘ dann auch sektoral bestimmte Teilgebiete qualifizieren (z.B. eine Unternehmenskultur), aber grundlegender ist der Verweis auf ein umfassendes Daseinsverständnis, und somit wird der Begriff synonym mit ‚Ethos‘ verwendet. Jedenfalls ist laut Herms ‚Kultur‘ dann missverstanden, wenn mit ihr ein „nebengeordnetes Segment“ der Gesellschaft bestimmt wird.478 Besteht in einer Bevölkerung ein relativ homogener Überzeugungsbestand, sind ‚Gesellschaft‘, ‚Kultur‘ und ‚Ethos‘ „umfangsgleich“; sind dagegen mehrere Ethosgestalten vorzufinden, spricht Herms von einer „multikulturellen“ Gesellschaft.479 Für die Weltgesellschaft ist diese multikulturelle Definition selbstverständlich und der Prozess der Globalisierung bietet somit nach Herms ein essenziell kulturelles und ethisches Problem. Diese Betonung entspricht den Ergebnissen aus den vorherigen Kapiteln, in denen Herms zwar für strukturelle und systemische Fragen wachsam ist, diese 474  H. Müller, Kampf, 561.Vgl. die Literatur unter I.2.A, vor allem Moebius, Quadflieg, Kulturtheorien. 475  H. Müller argumentiert ferner, dass das deutsche Bildungsbürgertum den Kulturbegriff gegenüber der materialistischen Konzeption von Zivilisation abgrenzte, um die eigenen Komplexe gegenüber den erfolgreichen Nachbarländern zu kompensieren (Kampf, 561). 476  Herms rechnet dieser Linie den „Kantianischen Dualismus huldigende“ Neukantianismus von Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert zu (ders. Kultur, in: RGG, 1827–9). Vgl. dagegen die Dreiteilung in Krech, Kultur, 1829 f. 477  Herms, Kultur, in: RGG, 1828. 478  Herms, Verantwortung, in: ZWW, 230. Kultur wird nicht „additiv“ zu den anderen Funktionsbereichen, sondern „integral“ zu diesen verwendet (aaO. 226). 479  Ebd. Herms verwendet diesen Kulturbegriff, um die Kulturwissenschaft entschieden auf ihre weltanschaulichen Überzeugungen zu hinterfragen, weil „jede kulturwissenschaftliche Aktivität an irgendeinem Wirklichkeitsverständnis orientiert ist“ (ders., Theologie als Kulturwissenschaft, in: PG, 449).

266

III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

aber durchweg an weltanschauliche Bezugspunkte zurückbindet. Entsprechend dezidiert fällt sein Engagement z.B. gegen ökonomisierende Deutungen der Globalisierungsprozesse aus: „Weit entfernt“ von der These, dass die globale wirtschaftliche Interdependenz eine „einheitliche Weltkultur heraufführen wird, ist vielmehr umgekehrt zu erwarten, daß die Chancen globalen Wirtschaftens instrumentalisiert werden zur Verfolgung der von den verschiedenen Gesellschaften kraft ihrer Kultur verfolgten unterschiedlichen Eigenzielen“.480 Soll dieser Kulturbegriff im unscharfen Theoriespektrum der Kulturwissenschaften eingeordnet werden, bietet sich zunächst Herms’ positive Inanspruchnahme von Samuel Huntingtons Thesen zum Kampf der Kulturen an.481 Ein gutes Jahrzehnt nach dem Erscheinen von dessen Arbeit im Jahre 1996 ist Herms zufolge Huntington durch die Entwicklung „auf ganzer Linie“ bestätigt worden, denn ein „neuer polyzentrische[r] Machtantagonismus“ tritt ein, den Herms wie Huntington entlang von „Kulturgrenzen“ verlaufen sieht.482 Die westliche Kultur wird demnach mit ihrer spezifisch liberalen Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionssysteme keineswegs in andere Kulturen übertragen – und eine Weltkultur ist keinesfalls im Blick. Einerseits bietet diese Position eine kritikwürdige Simplifizierung und Zuspitzung der derzeitigen Ausgangslage mit ihren nicht zu überschauenden komplexen Übergängen zwischen den Kulturen; andererseits stellt die Position von Herms die Basis einer Kritikmöglichkeit an neueren kulturtheoretischen Positionen, in denen die Homogenisierungskräfte der Kulturen zunehmend bestritten werden. Diese zwei Seiten erläutere ich im Folgenden. Als Grundlage einer Kritik an dem hermsschen Kulturverständnis bieten sich die umfangreichen Studien an, die von Shmuel N. Eisenstadt und einigen an ihm orientierten Forschern vorgelegt worden sind (vgl. I.2.A). Diese vermitteln Tiefenschärfe, weil sie nicht von einem eurozentrischen Modernisierungstheorem ausgehen, sondern einen komparativen, empirische Forschungen miteinbeziehenden Ansatz verfolgen, der in den Zivilisationen der Welt eigenständige Entwicklungen beobachtet, aber ihre jeweiligen Ausdifferenzierungsprozesse zu weitreichenden Vergleichen heranzieht. Anders als in der Rede von einem „Weltsystem“ (Luhmann, Stichweh) setzt die Theorie der „multiple modernities“ keine selbstläufige Dynamik oder emergente Weltsystemebene voraus.483 In einer spezifischen Fassung der jasperschen Achsenzeitthesen postuliert Eisenstadt eine Typologie der Auflösung der Spannungen zwischen dem Mun480  Herms, Globalisierung als Herausforderung, in: David, Theologie, 310 (Hervorhebung im Original). 481  Vgl. zu Huntington auch die einführenden Bemerkungen unter I.2.A; Moebius/Quadflieg, Kulturtheorien. 482  Herms, Globalisierung als Herausforderung, in: David, Theologie, 311. 483  Jedoch wird in beiden Ansätzen eine Konzeption von etwas Weltumspannendem entwickelt; in der Weltsystemtheorie sind es ‚Strukturen‘, für Eisenstadt ist es ‚Kultur‘.

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

267

danen und dem Transzendenten in allen Weltkulturen – von religiösen (z.B. in den monotheistischen, hinduistischen, buddhistischen Schulen) bis zu säkularen (z.B. im Konfuzianismus und z.T. im antiken Griechenland) Prozessen.484 Entscheidend für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist nicht die umfangreiche Diskussion um die Einzelergebnisse dieses Ansatzes, sondern die Stoßrichtung der Forschung: die Suche nach kulturübergreifenden Entwicklungsfaktoren, die nicht einer evolutionistischen Logik folgen und die religiöse Ausdifferenzierungsprozesse beachten. So stellt Eisenstadt fest, dass Modernisierungsprozesse in allen Weltkulturen stattfinden, die sich vor allem an der parallelen Ausdifferenzierung der Funktionssyteme mit entsprechenden Bürokratien und Infrastrukturen erkennbar machen.485 Derweil entstehen Anschlussuntersuchungen, die Eisenstadts Ansatz präzisieren. So wird bei Johann Arnason deutlicher auf exogene, nicht nur endogene Faktoren der Zivilisationsentwicklung geachtet und bei Björn Wittrock werden „dünne“ transzivilisatorische Strukturen aufgedeckt: die selbstreflexive Wahrnehmung des jeweiligen institutionellen und kulturellen Kontexts, die Konstituierung von Makroin­ stitutionen und die institutionalisierte Wissenssuche.486 Eine ausführliche sozialethische Auseinandersetzung mit diesem Forschungszweig steht m.W. noch aus; aber die bisherigen Ergebnisse weisen daraufhin, dass die Analyse eines unabweisbaren Konflikts der Kulturen empirisch betrachtet unvollständig bleibt, solange die parallelen Entwicklungen und historisch gewachsenen Übergänge zwischen Kulturen nicht berücksichtigt werden. Neben diesen interkulturellen müssen intrakulturelle Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die den von Herms postulierten Widerstreit der Weltanschauungen relativieren. Auf die Forschungsergebnisse von Martin Riesebrodt ist bereits hingewiesen worden, der auf die erheblichen Spannungen und fundamentalen Gegensätze innerhalb der großen Kulturen aufmerksam macht (vgl. II.3.C.ii).487 Harald Müller spezifiziert diese Diversifizierung mit Blick auf das Phänomen des Terrorismus im Islam.488 So operierte z.B. Al Quaida mit einer politischen Theologie, die den funktional ausdifferenzierten Staat ablehnt und bekämpft, weil er die Gesetzgebungskompetenz nicht unmittelbar mit der religiösen Tradition, sei es dem Koran oder der Scharia, identifiziert. Demnach gelten Regime der islamischen Welt ebenso als Ziel ihres Kampfes gegen die Ab484 

9–31.

485 

Vgl. Eisenstadt, Revolution; Joas/Knöbl, Sozialtheorie, 455 f.; Spohn, Globalisierung,

Vgl. zur Diskussion unter II.3.B&C. Bei Wittrock/Arnason, Transformations, ist zu beachten, dass keine oberflächlichen, globalen Phänomene erfasst werden, sondern dass auf tiefsitzende kulturelle Kristallisationspunkte verwiesen wird, die in allen Teilen der Erde zu Modernisierungsprozessen führen. 487  In diesem Sinne ist es auch bemerkenswert, dass es z.T. größere Gemeinsamkeiten zwischen liberalen Bestrebungen in Islam und Christentum gibt, als innerhalb der jeweiligen Religionen festzustellen ist. 488  H. Müller, Kampf, 563–573. 486 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

trünnigen wie die abendländischen, säkularen Gesellschaften.489 Müller zeigt, wie sich die Terrorattacken auf die Kernsymbole dieser Staatlichkeit in den islamischen Ländern richten und demnach diese Staaten mit entsprechender repressiver Konsequenz reagieren. Die daraus folgende innerislamische Auseinandersetzung ist kein Zufall, sondern das Ergebnis eines Kampfes um die rechte Sozialethik und um die Deutungshoheit mit Blick auf die Traditionen im Islam. „Denn der Islam ist selbst eine pluralistische Religion.“490 In diesem Sinne ist es präzisierungsbedürftig, wenn von einem Kampf der Kulturen oder einem Widerstreit der Weltanschauungen für die deskriptive Analyse und normative Begründung globaler Ordnung ausgegangen wird. Zumindest muss beachtet werden, dass ein tief greifender Dissens innerhalb der jeweiligen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen zu beobachten ist, der eindeutige ‚Verwerfungslinien‘ verwischt. Dagegen werden anderweitig diese Beobachtungen überbewertet. Bestimmte Forschungsinitiativen aus den Kultur- und Sozialwissenschaften beabsichtigen nämlich, die Überlagerung und Vermischung von Kulturen auf eine Weise herauszustreichen, dass der Kulturbegriff selbst konturlos wird – mit dem Ergebnis schillernder Wortschöpfungen, von der „Transkulturalität“, über die „Hybridität“ (metaphorisch für „Kreolisierung“) bis zur „Transdifferenz“.491 Gemein ist ihnen die Kritik an der Vorstellung der Homogenität von Kulturen wie auch die Problematisierung des ihr zu Grunde liegenden Differenzansatzes. In diesem Sinne argumentiert Wolfgang Welsch, dass die Konzepte der Interkulturalität und Multikulturalität von Prämissen ausgehen, die von Kulturen als homogene, abgeschlossene, gleichsam inselartige Sphären ausgehen.492 Demgegenüber hebt er fließende Übergänge zwischen Kulturen hervor: Sind auf der Makroebene Kulturen durch weitreichende Differenzierungsprozesse längst nicht mehr homogen, so bilden auf der Mikroebene Personen, die aus verschiedenen Kulturen stammen, neue kulturelle Synthesen innerhalb ihrer Identität.493 Betont wird, dass transkulturelle Identität die kulturellen Differen489  Insofern bildet sich eine transkulturelle Allianz der staatlichen Institutionen heraus, die sich gemeinsam gegen den islamistischen Terror ausrichten – vom islamischen Indonesien bis zum säkularen Frankreich. 490  AaO. 571. Das islamistische Potenzial wird H. Müller zufolge auf einen Durchschnitt von 15 % geschätzt, der Anteil der Gewaltbereiten auf 3 %, deren „Entzauberung“ aber in der islamischen Welt durchaus zu beobachten ist (ebd.) – ob allerdings die Welle des Islamismus ihren Höhepunkt erreicht hat, wie Müller meint, ist meines Erachtens kaum abzuschätzen. 491  Allolio-Näcke/Kalscheuer/Manzeschke, Einleitung, 1–14, stellen das Konzept der Transdifferenz als neue Kategorie vor, mit dem kulturelle „Mehrfachzugehörigkeit“ erfasst werden soll, „ohne orientierungsstiftende Kraft von Differenzen zu vernachlässigen“. 492  Welsch, Transculturality, 194–213. 493  In einer Mischung aus Nietzsche-Zitaten und einem Rekurs auf Wittgenstein, wird eine pragmatische Herangehensweise an Kultur beschworen, die „dem Fremden“ offener gegenüberstehen soll: „Henceforward there is no longer anything absolutely foreign“ (aaO. 198, vgl. 202).

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zierungen pluralisiert. Dementsprechend lobt Welsch diese Betrachtungsweise für ihre intellektuelle ‚Weite‘, da sie Kultur sowohl als lokal und partikular als auch global und kosmopolitisch auffassen könne. Diese Begrifflichkeit erscheint gezielt konturarm und dennoch lohnt sich die Auseinandersetzung mit dieser neuen Kulturforschung. So wird den Mischformen sozialer Identitätsstrukturen (in Ländern wie Brasilien und Mexiko) oder personalen Identitäten (wenn Menschen Einflüsse aus verschiedenen Kulturen vereinbaren) Aufmerksamkeit geschenkt. Hierzu wird der Begriff der Hybridisierung verwendet und die Möglichkeit der prozessualen Neubildung von kultureller Identität durch Aushandlung postuliert.494 Insofern Grenzziehungen als überflüssige Bemächtigungen identifiziert werden, wirken postmoderne Theorieeinflüsse nach. Insofern aber empirische Erfahrungen mit Migranten und „cross-cultural“ Phänomenen mit einbezogen werden, sind ernst zu nehmende Überlegungen über tief greifende Veränderungen wahrzunehmen, in denen die Gestalt der Religionen und Kulturen nachhaltig verändert werden.495 Einige Beispiele müssen reichen: Das atemberaubende Wachstum der Pfingstbewegung, der Einfluss des Zen-Buddhismus auf die Eliten in Brasilien, die Anpassung der Baha’i Religion an die Globalisierung und die rasante ethnische Transformation des Christentums496 insgesamt zeigen jeweils auf ihre Weise, wie stark sich soziale Strukturen durch Religion und Religionen durch neue soziale Impulse verändern. Selbstverständlich sind diese Prozesse nicht neu – die Weltreligionen sind oftmals das Resultat synkretistischer, und in diesem Sinne transkultureller Prozesse und im Christentum steht die Identitätsfrage im Mittelpunkt ihrer frühesten Auseinandersetzungen –, aber sie nehmen an Intensität und Geschwindigkeit zu. Allerdings scheint es problematisch, die Hybridität als Normalfall hinzustellen und die Homogenisierungsprozesse einer Kultur, das ‚Wir-Gefühl‘ einer Ethosgemeinschaft zu pathologisieren.

Darüber hinaus (der Hybridisierung zwar nicht widersprechend, aber mit entschieden anderem Richtungssinn) wird auf Homogenisierungstendenzen der Weltkultur verwiesen. So übernehmen Frank J. Lechner und John Boli Theo­ rieaspekte von John Meyer und seinen Überlegungen zum Weltsystem wie auch der Globalisierungsbewertung von Roland Robertson, um „world culture as a global, distinct, complex, and dynamic phenomenon“ zu definieren.497 Sie 494 

Vgl. z.B. die Werke von Bhabha, Verortung; Pieterse, Globalization. „How do we come to terms with phenomena such as Thai boxing by Moroccan girls in Amsterdam, Asian rap in London, Irish bagels, Chinese tacos, and Mardi Gras Indians in the United States, or ‚Mexican schoolgirls‘ dressed in Greek togas dancing in the style of Isadora Duncan?“, so fragt Pieterse – und antwortet, die Phänomene ließen sich nur als globale, kulturelle „Mélange“ deuten (ders., Globalization, 75). 496  Paul Freston stellt fest, dass im Jahre 1900 81 % der Christen Weiße waren, im Jahre 2000 nur 40 %, zur Einführung mit entsprechenden Verweisen zu diesen Phänomenen, Altglas, Introduction, 1–22. 497  Lechner/Boli, World Culture, 25. Vgl. oben die I.2.A. 495 

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postulieren, dass die Weltkultur – stärker als bisherige Ansätze dies angenommen haben – eine kohärente Dimension darstellt, die verstärkter Aufmerksamkeit bedarf.498 Von Meyer und Robertson übernehmen sie die zentrale Bedeutung der Kultur für die systemtheoretische bzw. globalisierungstheoretische Deskription ihrer Analysen. Insgesamt leidet die Studie allerdings an der Entscheidung der Autoren, großflächige Phänomene zu untersuchen. Insofern wirkt die Synthese kultureller Beobachtungen von den Treffen in den Vereinten Nationen (als globale ‚Riten‘) über weltweite, technologische Standards (als globale ‚Normen‘) bis hin zur Pfingstbewegung (als weltweite Bewegung) hochgradig assoziativ.499 Überhaupt dürfen die transnationalen Vergesellschaftungsprozesse nicht überbewertet werden.500 Von einer weltweiten „Zivilisa­ tions­öku­mene“ (Hermann Lübbe) kann kaum die Rede sein. Dennoch sensibilisiert der integrative Zugang in exemplarischer Weise für den sozialen Wandel, in denen Evidenzen und Referenzsysteme einen intergesellschaftlichen Rahmen erhalten und weltweite Wirkkraft entfalten.501 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Kulturbegriff insgesamt anfällig ist für Missverständnisse.502 Herms verwendet ihn bedeutungsgleich mit den Begriffen des ‚Ethos‘ und der ‚Religion‘. Diese Vereinheitlichung 498  Sie grenzen sich ab von: Tomlinsion, Globalization, der Weltkultur zwar als einen gemeinsamen Kontext ansieht, aber jegliche weitere Auflösung von Diversität skeptisch betrachtet; von Berger, Globalizations, der von verschiedenen globalen Subkulturen ausgeht; von Breidenbach/Zukrigl, Tanz der Kulturen, die ein globales Referenzsystem entstehen sehen, das aber ihnen zufolge Diversität fördert und nicht einebnet. 499  Vgl. Lechner/Boli, World Culture, Kap. 4, 5 und 8. Zur Kritik vgl. auch Holzer, Spielräume, 259–280, der argumentiert, dass in vielen Regionen der Welt noch informale Strukturen existieren, die weitgehend von formalen Ausdifferenzierungsprozessen abgekoppelt sind. Martell meint, dass ‚die Globalisierung‘ sowohl kulturelle Homogenisierungs- wie auch Hybridisierungstendenzen aufweist: „But hybridization should be seen within the context of processes of homogenization and Western power, rather than as overturning perspectives which emphasize these.“ (Ders., Globalization, 103) 500  „Die große Öffnung des Blicks auf Phänomene transnationaler Vergesellschaftungen kann allerdings zu trügerischen Befunden der grundsätzlichen Zugänglichkeit aller Welt für alle Welt führen, wenn die großen Schließungen unberücksichtigt bleiben: Die asymmetrische Verteilung von Mobilitätschancen, die divergierenden Wertungen verschiedener Formen von Migration und insbesondere die immer massiveren und zunehmend elaborierten Versuche, internationale Migration politisch zu managen, zu kontrollieren und für den unerwünschten Großteil der potenziellen Migranten zu verhindern.“ (so Inhetveen, Himmelsrichtungen, zutreffenderweise in der Inhaltsbeschreibung ihres Vortrages vor der Deutschen Gesellschaft der Soziologie im Oktober 2010 zum Thema „Transnationale Vergesellschaftungen“) 501  So haben die Institutionalisierung von Menschenrechten und die sich weltweit vernetzenden und vernetzten Öffentlichkeiten einen Rückkopplungseffekt auf die Bildungsgeschichten und Ethosgestalten einzelner Religionen, vgl. die überzeugende Analyse von Beyer, Privatization, 55–74. 502  Es ist dringend geboten (innerhalb der Theologie wie auch interdisziplinär), die Problematik von lokaler, nationaler, regionaler und globaler Identitätsbildung stärker zu bedenken. Für die Differenz und den Zusammenhang von individueller, sozialer und religiöser Identität vgl. Stock, Religion, 347–366.

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bietet die Möglichkeit, die Komplexität der Diskurslage zu reduzieren. Allerdings läuft der Kulturbegriff von Herms Gefahr, kulturalistisch503 interpretiert zu werden – zumal Herms die Kampfessemantik von Samuel Huntington bewusst aufnimmt. Für Herms wie für Huntington sind die kulturellen und religiösen Differenzen die entscheidenden ‚Identitätsmarker‘. Demgegenüber ist hier hervorgehoben worden, dass bereits weitreichende Verbindungen zwischen den jeweiligen Funktionssystemen der verschiedenen Gesellschaften bestehen, auf die Shmuel Eisenstadt und die ihm nachfolgenden Forscher mit der Theorie ‚multipler Modernen‘ aufmerksam machen. Zudem bestehen erhebliche Zweifel daran, einen solchen „Kampf der Kulturen“ angesichts intrakultureller Spaltungen und Differenzierungen bestimmen zu können; denn entscheidende Bruchlinien der gegenwärtigen weltanschaulichen Auseinandersetzungen, wie z.B. der religiös motivierte politische Fundamentalismus, verlaufen mitten durch die sogenannten Weltreligionen. Zugleich dürfen diese berechtigten Anfragen an den ‚Clash of Civilizations‘ nicht überbewertet werden. Von einer ‚Hybridisierung‘ der Kulturen zu sprechen ist ebenso problematisch wie von ihrer ‚Homogenisierung‘ (und zwar sowohl im Sinne einer Weltkultur als auch mit Blick auf einzelne Kulturen). Vielmehr ist der Begriff der ‚Interkultur‘ für die Erfassung der Übergänge zwischen differenten Weltanschauungen weiterhin maßgeblich. Dieser kurze Einblick in die Kulturtheorie verdeutlicht wiederum, wie anspruchsvoll allein die Beschreibungsebene mit Blick auf die Vielfalt auf der Erde ist und wie stark bereits wertende Aussagen einfließen. Letztere gilt es näher zu erörtern. b. Interkulturelle Werte: Weltethos, Menschenrechte und Humanismus Zur Beschreibung des globalen Zusammenlebens gehört die Bestandsaufnahme des ethischen Pluralismus. Der Grund dafür, dass Herms die Auseinandersetzung der Kulturen betont, liegt in der Anerkennung der unbeschränkten Pluralisierung der Lebensanschauungen, die durch unverfügbare Überzeugungen orientiert werden. Dementsprechend wird bei ihm die kulturübergreifende ethische Aufgabe als Abgleich divergenter Grundüberzeugungen bestimmt. Bedeutend anders gelagert ist der Ansatz von Hans Küng, der einen traditionsübergreifenden Dialog über ein bereits in allen Kulturen verankertes Weltethos veranlasst und reflektiert.504 Der Grundwert der Wechselseitigkeit findet sich in allen bedeutenden Weltkulturen wieder und Küng zeichnet das gemeinsame Ethos anhand der Entwicklung in diesen Traditionen nach. Vereinfacht ausgedrückt, die Bedeutung der Goldenen Regel wird von Zarathustra über Konfuzius, Jesus und die Humanisten für das Zusammenleben herausgearbeitet. So bewirken, als Beispiel genannt, fast zur selben Zeit wie im antiken Griechenland gesellschaftliche Brüche und Krisen in China eine intensive Reflexion über eine 503  In der sozialwissenschaftlichen Verwendungsweise des Begriffs ‚Kulturalismus‘ steht die Überwertung kultureller gegenüber anderen gesellschaftlichen Faktoren im Mittelpunkt. 504  Küng, Weltethos, 172–190.

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gerechte politische Ordnung, in denen Konfuzius, Mo Ti und Mencius (Jünger des Konfuzius) eine kritische Haltung gegenüber Autoritäten entwickeln. Dabei betont Konfuzius die Tugend des Fürsten und der Regierten505 unter dem Gesichtspunkt der Reziprozität: „Dse-gung fragte: Gibt es ein Wort, das für das ganze Leben als Richtschnur dienen könnte? Der Meister sprach: Wie wäre es mit gegenseitigem Verstehen? Was dir selbst unerwünscht ist, füge auch keinem anderen zu!“506

Diese Wechselseitigkeit wird dann im Buddhismus in einen kosmischen Zusammenhang eingeordnet507 – und kann für die aktuellen ökologischen Herausforderungen als wegweisend geltend gemacht werden.508 Auch der Hinduismus kennt die Elemente dieses Grundethos: Gewaltlosigkeit (a-himsa), Wahrhaftigkeit (satya), nicht stehlen (a-setya), Keuschheit, reiner Lebenswandel (bahmacharya), Begierdelosigkeit, Besitzlosigkeit (a-parigraha).509 Werden gemeinsame Grundlagen oder Grundempfindungen mit Blick auf die Entwicklung dieser Traditionen entdeckt, lassen sich diese z.T. in empirischen Studien über den gegenwärtigen Werteaufbau in den verschiedenen Kulturen wiederfinden. Vor allem die Studie von Norris und Inglehart findet bemerkenswerte – und unerwartete – gemeinsame Überzeugungen zwischen dem sogenannten ‚Westen‘ und großen Teilen der islamischen Welt hinsichtlich de505  „Der Meister sprach: Der Fürst, der sein Land regiert mit Tugend, gleicht dem Polarstern. Selbst ruhend, wird von allen Sternen er umkreist“ (Konfuzius, in: Becher, Ordnung, II.1, 46). Und die Frage nach der wahren Menschlichkeit wird beantwortet mit der Anweisung, im Staate und in der Familie recht zu handeln (XII.2, 50). Dabei ist der Gerechtigkeitsbegriff noch stark an die familiären Strukturen gebunden, an die Liebe zu den Eltern und den Respekt vor den Älteren, vgl. Mencius, Mind, 6.42. 506  Konfuzius, in: Becher, Ordnung, XV.23, 52. 507  Vgl. zur Einordnung Litsch, Buddhismus, 52–79. Die Lehre von paticca samuppada, vom „wechselseitig bedingten Entstehen aller Phänomene“, ist grundlegend für das Verständnis der Überzeugungen des historischen Buddha wie auch aller nachfolgenden Schulen des Buddhismus: „Wenn das besteht, so entsteht jenes. Durch das Entstehen von jenem wird dies hervorgebracht. Wenn jenes nicht ist, so entsteht auch dies nicht. Durch das Aufhören von jenem wird dieses beendet.“ (Pali Kanon, in: Litsch, Buddhismus, 52). Litsch fährt fort: „In dieser Einfachheit und Kürze beschreiben die buddhistischen Grundtexte des Pali-Kanon die Quintessenz der Erkenntnis Shakyamuni Buddhas über sich selbst und die Wirklichkeit … Sie ist in den Schriften an zahlreichen Stellen, in ähnlichen Worten und in unterschiedlichen Zusammenhängen zu finden“ (ebd.). Damit ist eine Reziprozität für die Menschen und die Natur gegeben, die der 14. Dalai-Lama in den Mittelpunkt seiner Botschaft und Lebenspraxis als eine „universale Verantwortlichkeit“ stellt (ders., Politik). Das Satipatthana Samyutta Sutta (Nr. 19) fasst dies in schlichter Klarheit in dem Satz zusammen: „Auf mich selbst achtend, achte ich auf den anderen, auf den anderen achtend, achte ich auf mich selbst“ (in: Litsch, Buddhismus, 52). 508  Aber es entsteht auch ein spannungsvolles Verhältnis zum neuzeitlichen Individualismus, da ein abgegrenztes Subjekt-Objekt-Verhältnis im Buddhismus als dualistisch angesehen wird und zu einem Bewusstsein führt, das die Kontinuitäten der Wirklichkeit nicht ausreichend wahrnimmt (aaO. 58 ff.). 509  Vgl. Küng, Weltethos, 172–190; ders., Spurensuche.

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mokratischer Ideale vor.510 Diese Ergebnisse werden insofern als zukunftsweisend hervorgehoben, als sie vorschnelle Abgrenzungen hinterfragen. Jörn Rüsen plädiert in diesem Sinne für einen interkulturellen Humanismus.511 Er fragt zunächst nach einer wertträchtigen Orientierungsgröße, die allen Kulturen gemeinsam ist und zugleich kulturelle Differenz begründen kann, um „aus dieser Differenzbegründung Perspektiven einer Zähmung und Zivilisierung des kulturellen Selbstbehauptungswillens“ zu eröffnen (15). Diese Größe wird als das „Menschsein des Menschen“ bestimmt, denn es gibt Rüsen zufolge keine Kultur, die das Menschsein nicht vor allen anderen Lebewesen qualitativ hervorhebt: „Von dieser anthropologischen Basis aus haben sich dann in den verschiedenen Kulturen – langfristig und unter besonderen Bedingungen – unterschiedliche humanistische Traditionen herausgebildet.“ (Ebd.) An diese Traditionen ist nach Rüsen anzuknüpfen, um eine interkulturelle Wertbasis zu finden und verständlich zu machen. Mit „Anknüpfen“ ist keine Fortschreibung der einzelnen Traditionen gemeint, sondern eine kritische Interaktion, in der Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden sollen, sodass ein für alle akzeptabler Begriff der Menschenwürde entwickelt wird: Von diesem Begriff aus sollen dann die kulturellen Unterschiede „auf neue, auf friedliche Weise“ bewertet und zur Geltung gebracht werden (16). Ziel ist es, „das Anderssein des Anderen als Manifestation meines eigenen Menschseins“ zu verstehen und das „Nebeneinander und Gegeneinander“ in ein „Ineinander“ der Kulturen zu überführen – „also ein lebendiges, dynamisches, inneres Verhältnis zueinander“ herzustellen (18 f.). Unklar ist, welchen inhaltlichen Anspruch dieser Humanismus erheben soll. Einerseits betont Rüsen, dass es nicht um eine „fixierte Weltanschauung“ geht (20), andererseits hat er eine neue „Leitkultur der Gegenwart“ vor Augen (21). Darüber hinaus ist es bemerkenswert, dass er hinsichtlich der Realisierungsmöglichkeit optimistisch ist. Denn auf der politischen Ebene zeigt sich Rüsen zufolge eine wachsende Zustimmung zu Menschenrechten im Rahmen einer internationalen rechtlichen Anerkennung des Menschseins des Menschen: „‚Menschlichkeit‘ ist zu einem Rechtsbegriff in der internationalen Politik geworden.“ (19) Mag man an dem Konstrukt eines solchen Humanismus als Leitkultur berechtigte Zweifel anmelden wollen, so ist die zentrale Stellung der ‚Menschlichkeit‘ in der Tat eine bemerkenswerte Entwicklung im kultur­ über­greifen­den Rechtsdiskurs. Diese hat ihre Gründe. Denn Parallelen in den 510  Ich wiederhole aus II.3.C.ii: Norris/Inglehart zeigen: „when political attitudes are compared (including evaluations of how well democracy works in practice, support for democratic ideals, and disapproval of strong leaders), far from a clash of values, there is minimal difference between the Muslim world and the West.“ (Dies., Sacred, 154) Allerdings ist es bemerkenswert, dass es hinsichtlich dieser Grundempfindungen Unterschiede gibt zu osteuropäischen Ländern. Hinzu kommen bedeutende Differenzen – auch zwischen dem Westen und den islamischen Ländern – in der Befürwortung religiöser Autoritäten und vor allem in der Bewertung der Geschlechtergleichheit und der sexuellen Freiheiten. 511  Vgl. Rüsen, Einheitszwang, 8–23. Seitenzahlen im Folgenden im Text.

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Gerechtigkeitsbegriffen und -prinzipien sind seit vielen Jahrhunderten zwischen den Rechtstraditionen zu bemerken. Otfried Höffe nennt die Gemeinsamkeiten den kulturübergreifenden „Kern der Gerechtigkeit als gemeinsames Erbe der Menschheit“.512 Im Wesentlichen werden demnach in allen Kulturen „allgemein-menschliche Rechtsgüter“ geschützt: Leib und Leben einschließlich der sexuellen Integrität, Eigentum und Ehre (‚gute Name‘), zudem wird gegen Brandstiftung, Maß-, Gewichts- wie auch Urkundenfälschung vorgegangen.513 Dazu kommen nach Höffe universal anerkannte Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit wie zum Beispiel, dass die andere Seite in Rechtsstreitigkeiten gehört wird, dass man nicht Richter in eigener Sache sein kann, wie auch die Unschuldsvermutung und das Willkürverbot.514 In diesem Sinne bestimmt Höffe die Menschenrechte als „universal gültige[n] Anteil des Rechts“, das in allen Kulturen einen Anhaltspunkt hat.515 Deshalb steht bei ihm die Absicht im Vordergrund, Behauptungen, dass Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte nur aus dem Erbe der europäischen Denktraditionen verstanden werden könnten,516 zu widerlegen. In der Tat, liberale Prinzipien der abendländischen Gesellschaft lassen sich auch in anderen Traditionen finden.517 Aber haben diese denselben Stellenwert und Bedeutungsgehalt? Herms reagiert auf den Menschenrechtsdiskurs (eine Auseinandersetzung mit dem Weltethos ist mir nicht bekannt, wäre aber vermutlich ähnlich ausgerichtet) mit dem Hinweis, dass er „unzulänglich“ ist, solange nicht die Bedeutung und das Verständnis „von Sinn und Bestimmung des Menschseins“ mitbedacht werden.518 Diese hermeneutische und güterethische Betrachtungs512 

Höffe, Modernisierung, 154. Es sind rechtliche Formen und Deutungen der Goldenen Regel. 513  Ebd. Allerdings ist nicht ganz klar, auf welche Quellen er sich bezieht. Zunächst nämlich bezieht er sich auf den Kodex Hammurabi und altes indisches oder gar chinesisches Strafrecht, dann aber heißt es, man finde diese Prinzipien „so gut wie überall“ (ebd.). 514  AaO. 154. 515  Höffe, Wirtschaftsbürger, 176 f. Skeptikern der Menschenrechtsidee werden Belege aus dem Konfuzianismus, der afrikanischen Kultur und dem Islam entgegengehalten, die die Kompatibilität bestätigen. Elemente und Ideen, die dem Menschenrechtsgedanken widersprechen, werden dagegen heruntergespielt (aaO. 176–8). 516  Paul Tillich schließt zum Beispiel aus einem Gespräch mit einem buddhistischen Priester, dass bei den Buddhisten die „geistigen Grundlagen“ für die Nachahmung des demokratischen Denkens fehlen; ein Unterschied, der „für alle Völker in der nicht-christlichen Welt“ gilt (ders., Frage, 88). Eine gewagte Schlussfolgerung. 517  Wird der Menschenrechtsgedanke in vielen Kulturen reflektiert, kann er zur „Schnittstelle“ interkultureller und interreligiöser Dialoge werden, soweit sie Gestaltungsfragen der politischen und sozialen Ordnung betreffen (so Hoppe, Menschenrechte; vgl. Huber, Gerechtigkeit, 375–379). Allerdings darf diese Schnittstelle nicht an die Stelle einer ethischen Auseinandersetzung treten. Habermas und Herms machen deutlich, dass Recht und Moral kategorial zu unterscheiden sind. 518  Herms, Elite, in: ZWW, 183 als Beleg u.v.a.; vgl. zur Diskussion, Menke/Pollmann, Philosophie, 88 ff.

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weise ist in ihrer Kritik berechtigt: Es muss nämlich bedacht werden, dass geteilte Überzeugungen und Prinzipien ganz unterschiedlichen Erfahrungen, Geschichten und Perspektiven entstammen, die den Rechtsgütern unterschiedliche Wertungen und Prioritäten einräumen (können). Kulturübergreifende Gerechtigkeitsempfindungen sollten jedenfalls nicht vorschnell über unterschiedliche Deutungsrahmen in den Kulturen hinwegtäuschen.519 Diese divergenten Rahmen werden auch in verschiedenen Reflexionsgraden deutlich: Im Buddhismus und Islam zum Beispiel ist eher ein implizit-intuitiver Umgang mit der politischen Gerechtigkeit erkennbar.520 Der berechtigte Hinweis auf die partikularen Interpretationen darf allerdings nicht überzogen, also nicht zu Lasten der ethischen Gemeinsamkeiten betont werden. Die Bestandsaufnahmen von Küng, Norris, Inglehart, Rüsen und Höffe (bei allen Unterschieden im Einzelnen) verweisen auf gemeinsame Ausdifferenzierungsprozesse in verschiedenen Kulturen. Deren Blick auf parallele Entwicklungsschritte in Moral und Recht ist komplementär zu den Forschungsergebnissen (von Eisenstadt, Arnason und Wittrock) über ‚multiple modernities‘ und kulturübergreifenden Institutionen zu verstehen. Es ist demnach auf Beides zu achten, auf die kulturübergreifenden Gemeinwerte wie auch auf deren differente Interpretation. Michael Walzer findet für diese Komplementarität schlichte, aber zutreffende Begriffe: Einerseits macht auch er die Beobachtung universal wiederkehrender moralischer Überzeugungen – er nennt sie „eine gewöhnliche Feld-, Wald- und Wiesengerechtigkeit“.521 Andererseits sind diese Überzeugungen bedeutungslos, wenn sie nicht in den dichten moralischen Beschreibungen der jeweiligen Kultur und dem persönlichen Kontext bewertet und ausgelegt werden. Walzer sensibilisiert für einen fließenden Übergang zwischen den wiederholt aufleuchtenden universalen Überzeugungen der ein519  Auch menschenrechtliche, demokratische und rechtsstaatliche Grundlagen im Abendland sind das Produkt einer kontingenten Genese, sie sind historische Konstrukte (vgl. Dalferth, Wirklichkeit, 252 Fn. 110). 520  Dies gilt vor allem für den Buddhismus (vgl. Dehn, Menschenwürde, 483–492), aber auch die islamische Wissenschaft hat bisher keine eigenständige politische Philosophie entwickelt (Khan, Primacy, 63). Damit sollen diese Traditionen nicht einfach als entwicklungstheoretisch defizitär eingestuft werden. Gerade die islamische Tradition unterliegt nicht einer homogenen oder simplen Entwicklung. Es gibt schon früh komplexe, ausführliche Abhandlungen zur Ethik, aber sie führen nicht zur expliziten Trennung zwischen Ethik und Religion, vgl. Nasr, Islam, 461.   Es bestehen zudem erhebliche hermeneutische Fragen zum Gerechtigkeitsbegriff innerhalb der islamischen Tradition, denn es gibt einen kategorialen Unterschied zwischen z.B. der konservativen Haltung von Sayyid Qutb (vgl. Shepard, Qutb) und der liberalen Haltung, verdeutlicht durch Khaled Abou El Fadl (ders., Islam). Ferner zeigt Andreas Meier auf, wie vielschichtig die Entwicklung des Islam gewesen ist (ders., Auftrag). Eine besonders kritische – und zwar für die Belange des Islam wie für die der Menschenrechte – Problembearbeitung bietet Bassiouni, Menschenrechtsdiskurse, 177–218. 521  Walzer, Kritik, 14.

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heitlichen Wirklichkeit des Menschseins und den weitreichenden Differenzen in der Deutung, die der Einheit ihren jeweils differenten Sinn verleihen. Ziel ist es, die Blickrichtung für beide Anliegen zu erhalten: für die Qualifizierung von Interaktionsordnungen durch das Lebensinteresse der Interaktionspartner auf der einen Seite und für die sich entwickelnden ethischen und rechtlichen Gemeinsamkeiten auf der anderen. Neben dem Blick auf die Differenz in der Daseinsorientierung ist die Aufmerksamkeit für den ‚Gemeingeist‘ in der Menschheitsentwicklung jedenfalls unabdingbar. Somit wird eine gewisse Fluidität zwischen Identität und Differenz konstatiert. Diese erhält ihre Form durch den Prozess der wechselseitigen Perspektivenübernahme – also der kommunikativen Vernunft. Die Überlegungen, ob bestimmte Gerechtigkeitsüberzeugungen faktisch interkulturell kompatibel sind, setzen nämlich eine rationale Verständigung über gemeinsame Überzeugungen voraus. In der Diskursethik gilt diese Verständigung als Bedingung dafür, überhaupt materiale Gerechtigkeitsüberzeugungen thematisieren und vergleichen zu können – wie Walzer mit dem Prozeduralitätsprinzip betont: „Die umfassendste Forderung der Moral, das Kernprinzip eines jeden Universalismus, muß darum lauten: Wir müssen einen Weg finden, diese streitbare Tätigkeit auszuüben und zugleich mit den anderen Akteuren in Frieden zu leben.“522

Es muss demnach auf die Verfahren, Diskurse und Institutionen geachtet werden, die prozeduralistisch (d.h. offen für Kritik und Entwicklung) und pluralistisch (d.h. Berücksichtigung der Vielfalt von Überzeugungen) sind, in denen sowohl gemeinsame als auch verschiedene Gerechtigkeitsüberzeugungen herausgearbeitet werden können. Ein „methodisches Bewußtsein“ ist notwendig, um zu klären, „über was, wie und mit welchem Wahrheits- und Geltungsanspruch kommuniziert“ wird.523 ii. Qualifizierung: Annäherung an eine Bewertung globaler Ordnung „Im Horizont des christlichen Menschenverständnisses gilt das menschliche Zusammenleben dann als ‚wohlgeordnet‘, wenn es die interaktionelle Erhaltung der Gattung im Naturzusammenhang so ordnet, daß dabei – die ursprüngliche Würde jedes Menschen geachtet, – seiner Bildungsbedürftigkeit Rechnung getragen, – sein Recht gewahrt, – seine sittliche Selbstbestimmung ermöglicht und gefördert, – seinem Leistungswillen Raum gegeben und – in dem allen seine gerechte Anteilhabe an den Lebensmöglichkeiten der Gesellschaft sichergestellt wird.“524 522 

AaO. 168. Fahrenbach, Vernunft, 167. 524  Herms, Globalisierung, in: WM, 258 f. Im Folgenden steht dieser Text im Mittelpunkt. 523 

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Mit dieser These zeigt Herms die Kriterien der gesellschaftlichen Wohlordnung auf, anhand derer er die ‚Globalisierungsfragen‘ bearbeitet. Das Menschenverständnis dient als kategoriale Grundlage für die Bearbeitung der Frage nach der normativen Ordnung des Zusammenlebens aller Menschen. Aufbauend auf dem „methodischen Individualismus“ wird die Gattungsordnung betrachtet,525 sodass das ‚Ganze‘ am ‚Einzelnen‘ gemessen und ‚das Einzelne‘ auf ‚die Ganzheit‘ verwiesen wird. Zentrales Qualitätsmerkmal des globalen Zusammenlebens ist allerdings die Art der Integration der einzelnen Funktionssphären im Ganzen des weltgesellschaftlichen Gefüges. Die werdende Weltgesellschaft kann wie ihre Teilgesellschaften lediglich dann als gerecht qualifiziert werden, wenn sie als Gesamtgefüge betrachtet wird, genauer: in der Anwendung der sozialethischen Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität auf die Ausbalancierung der Funktionssysteme. Herms bezieht diese Prinzipien auf das äußere Verhältnis der Teilgesellschaften zur globalen Ordnung und auf die innere Gestaltung der jeweiligen Teilgesellschaften.526 Für beide Relationen gilt, dass die Leistungen der Funktionsbereiche sich wechselseitig so bedingen und ergänzen, dass sie ihre jeweilige Selbstständigkeit beachten müssen, d.h., „die Organisationen und Sachwalter jedes Grundfunktionsbereichs beschränken sich auf die Erfüllung ihrer Funktion unter Wahrung der selbständigen Erledigung der anderen Grundfunktionen durch die Organisationen und Sachwalter jener Bereiche“.527 Zwar ist diese funktionale Anwendung der Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität grundsätzlich nicht neu, aber betont wird in der Regel das Verhältnis der Bürger zum Staat.528 Das Subsidiaritätsprinzip erfasst in der herkömmlichen Lesart die Eigenständigkeit der Bürger, bzw. den normativen Vorrang der kleineren vor der größeren Einheit (z.B. lokale Verwaltungsglieder wie Stadt, Gemeinde und Kommune gegenüber übergeordneten Entscheidungsträgern). Herms will aber diese „antizentralistische Pointe“ in eine „antihegemoniale Spitze“ erweitern: Jedwedes Abhängigkeits- oder Dominanzverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Systemen muss durch deren Selbstbeschränkung zu Gunsten der Selbstständigkeit der anderen aufgelöst werden.529 Durch diese Autonomie der Funktionsbereiche entstehen die größtmöglichen, wechselseitigen Initiativ- und Ergänzungsspielräume. Auch das Solidaritätsprinzip wird vom individuellen Verhalten auf die 525 

Herms, Grundzüge, in: WM, 57 f. In der ersten Beziehung spricht Herms von der „Rezeptionsautonomie“ der Teilgesellschaften, ohne zu verdeutlichen, worin diese Autonomie genau besteht (ders., Globalisierung, in: WM, 279). 527  AaO. 280. 528  Die implizit bis auf Thomas von Aquin und Johannes Althusius zurückzuverfolgende Idee der Subsidiarität wird in der katholischen Soziallehre meist auf das Verhältnis von Individuum und Staat angewendet – allerdings ist sie weiterhin umstritten, vgl. dazu Herzog, Subsidiarität, 3564–3571. 529  Herms, Globalisierung, in: WM, 266 f. 526 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Gesamtordnung übertragen, sodass in der Selbstbeschränkung der Funktionssysteme die Verantwortung für das Ganze wahrgenommen wird, „in der Absicht, die Bedingungen für die Funktion der anderen Systeme zu verbessern“.530 Herms greift mit dieser Überlegung in den Gerechtigkeitsdiskurs um die globale Ordnung mit einer eigenständigen Positionierung ein (vgl. die Diskussion bereits unter II.3.A). ‚Gerecht‘ kann demnach überhaupt nur als Prädikat eines solchen ganzheitlichen Zugangs zu einer Gesellschaftsordnung verwendet werden – im Gegensatz zu jedweder Einzeldiagnose über Symptome der Ungerechtigkeit in sozialen Ordnungen.531 Diesem Gerechtigkeitsbegriff unterliegen voraussetzungsreiche Entscheidungen, die er in der Abgrenzung von anderen Theorien entwickelt. Erstens: Herms kritisiert die ihm „bekannten Gerechtigkeitsbegriffe“ für die Missachtung der Fragen nach der Umsetzung:532 Zur Umsetzung gehören, neben den klassischen tugendethischen Aspekten im Einzelnen, der Zusammenhang von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ mit Blick auf die Bedingungen von Freiheit und Verantwortung im Allgemeinen. Richtig an dieser Einschätzung ist, dass die von Herms exemplarisch angeführte Theorie von John Rawls diese Dimensionen bewusst ausgrenzt und dass die Theorien politischer Gerechtigkeit in der Moderne Fragen nach den Bürgertugenden nicht in prominenter Weise gestellt haben. Auch der in Cambridge lehrende Raymond Geuss hinterfragt die wirkmächtige Idealisierung der Gesellschaftskonzeption bei Rawls, der nicht nach den tatsächlichen Motivlagen und Fähigkeiten der politisch Handelnden fragt.533 Dagegen setzt Geuss – wie Herms – bei den realen Ethosbeständen und Interessenlagen der Gesellschaftsteilnehmer an und betont diesen Ausgangspunkt als unabdingbare Grundlage jedweder politischen Theorie.534 Problematisch ist dagegen die hermssche These, dass die Fragen der Güterund Tugendethik derzeit nicht diskutiert werden; kennzeichnend für die Theorielage der letzten Jahre ist geradezu deren Strittigkeit – das ist immerhin der Kern der Liberalismus-Kommunitarismusdebatte.535 Vielleicht ist der Einwand 530  AaO.

267. Das heißt nicht, dass Gesellschaften den Ausdifferenzierungszustand moderner westlicher Gesellschaften aufweisen müssen, vielmehr ist auch ein Stamm eine Gesellschaft, insofern alle Funktionsleistungen erbracht werden; ein Unternehmen, eine Universität oder eine Kirche hingegen nicht, vgl. Herms, Schule, in: EK, 184. 532  AaO. 185. 533  Vgl. Geuss, Philosophy; ders., Realismus, 419–429; und die bemerkenswerte Würdigung von Axel Honneth in der Schwerpunktsetzung zu dem Theorieentwurf von Geuss in DZfPh 58 (3/2010), der die Anfrage von Geuss als Kritik an den Grundfesten der Zunft würdigt, als ob es solche Erkenntnisse bisher nicht gegeben hätte (ders., Schwerpunkt, 417 f.). 534  Das heißt nicht, dass Geuss die weltanschauliche Begründung dieser Interessen mit Herms teilt. Im Gegenteil, Geuss hebt die komplexe, fluktuierende Struktur dieser Interessen hervor (Philosophy, 4 f.). Weiterführend wäre ein Vergleich der Handlungstheorien der beiden Autoren. 535  Vgl. II.2.B; Scarano, Einführung, 335 ff.; Höffe, Wirtschaftsbürger. 531 

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

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von Herms auch so zu verstehen, dass es kaum wesentliche theologische Beiträge zu diesem Diskurs gibt. Jedenfalls verbindet er personalistische, kosmische, christologische und politische Gerechtigkeitsaspekte innerhalb eines Gedankenganges: Globale Gerechtigkeit wird im Horizont des Heilswillens Gottes als eine Wohlordnung bestimmt, die „für alle Partizipanten – Glaubende und Nichtglaubende – heilsam ist (das heißt, ihnen die jeweils bestmöglichen Bedingungen bietet, ihrer Bestimmung zu leben)“.536 Bemerkenswert ist, dass sein Begründungsgang wenig Problembewusstsein für die Plurivalenz des Gerechtigkeitsbegriffs537 erkennen lässt – obwohl dies vom Anspruch her eines seiner Kernanliegen ist. Zweitens richtet sich Herms mit seiner Gerechtigkeitskonzeption gegen kirchliche, sozialistische und ökologische Kritiken an den Globalisierungsprozessen, denn diese Auseinandersetzungen bleiben ihm zufolge an den ökonomischen Problemstellungen haften. Die gesamtgesellschaftliche Dominanz der Ökonomie, die Herms (wie im weiteren Verlauf zu zeigen sein wird) dezidiert problematisiert, ist mittlerweile „so selbstverständlich, daß sie sogar noch die vorherrschenden Formen der Sozialkritik in ihren Bann schlägt“.538 Als Antwort werden von den Kritikern entweder das ökologische Gleichgewicht oder Umverteilungsmaßnahmen eingefordert, ohne den „tatsächlich wirksamen dysfunktionalen Systemzusammenhängen“ auf den Grund zu gehen.539 Dieses Problem ist Herms zufolge auch in Jörg Hübners Behandlung des Themas in seiner Studie, Globalisierung – Herausforderung für Kirche und Theologie, erkennbar, denn diese ist auf die Beurteilung der Menschengerechtigkeit der Weltwirtschaft begrenzt. Wenn Hübner den „globalen Märkten“ gleichsam eine Therapie aus Sozialstandards für Unternehmen und regulierten Finanzmärkten verschreibt und der Kirche Empfehlungen zu ‚Fairem Handel‘, ethischem Investment und Nachhaltigkeitsbildung auf den Weg gibt, bleibt in der Tat unklar, wo die Grenzen zwischen den Institutionen der Kirche, des Staates, der Unternehmen und der Wissensvermittlung zu bestimmen sind.540 Hübner zeichnet darüber hinaus die Beteiligung protestantischer Theologen und Kirchenvertreter an der Entwicklung verschiedenster Konzepte globaler Solidarität nach: von der Mitarbeit am ersten Weltethos-Konzept im Weltparlament der Religionen 1893 über die ökumenischen Impulse zwischen den Weltkriegen und der Verbreitung der Menschenrechtsidee nach den Kriegen bis hin zur scharfen Kritik an der globalisierten, die Armen ausschließenden Wirtschaft und dem darauf folgenden Konzept des „Fairen 536 

Herms, Weltwirtschaftsordnung, in: WM, 238–241, hier 240. Vgl. Frey, Einführung, 7–19; Solomon/Murphy, Justice, 4–11; Forst, Kontexte; Hägglund, Gerechtigkeit, 440–443. 538  Herms, Weltwirtschaftsordnung, in: WM, 251. 539 Ebd. 540  AaO. 209–288 (Regulierung der globalen Märkte), 289–316 (Kirche in der Globalisierung). 537 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Handels“.541 Dieser beeindruckende Überblick über kirchliche Initiativen, Reaktionen und Mitarbeit an einer internationalen Ordnung verdeutlicht, wie intensiv sich die Kirchen (verschiedenster Konfessionen) mit Fragen der Globalisierung in der Öffentlichkeit auseinandersetzen. Zugleich zeigt der Durchgang durch die Stationen der kirchlichen Betätigung, dass es nicht zielführend ist, wenn die Kirchen sich auf eine moralisierende Haltung gegenüber der Wirtschaft beschränken und die produktive Kraft der ökonomischen Eigeninitiative außer Acht lassen. Hübner selbst setzt insgesamt als Antwort auf Stärken und Schwächen der kirchlichen Mitwirkung auf das Konzept der ‚verantwortlichen Gesellschaft‘.

Jedenfalls plädiert Herms für eine präzisere Verhältnisbestimmung der verschiedenen Funktionssysteme. Diese lässt sich als Entwicklungsschritt auf dem Hintergrund seiner Verschränkung von Handlungs-, System- und Gesellschaftstheorie verstehen (III.1.C.i), der nun noch einmal nachzugehen ist. Herms ist weder fundamentaler Globalisierungs- noch Ökonomiekritiker. In seiner Wirtschaftsethik arbeitet er an zwei ‚Fronten‘: Er hinterfragt Sozial­ ethik-Konzeptionen, die eine grundlegende Wirtschaftskritik verfolgen und den lebenserhaltenden Sinn des Wirtschaftens nicht würdigen und er kritisiert zugleich die von ihm als „ökonomistisch“ bezeichneten Traditionen, welche die Gesamtgesellschaft rein wirtschaftlich betrachten.542 Dementsprechend ist seine Einschätzung der gegenwärtigen ökonomischen Globalisierungsprozesse differenziert. Zum einen liegt ihm daran, die positive Wirkung der Öffnung der Weltmärkte für den freien Austausch von Gütern und Produktionsfaktoren hervorzuheben, denn diese „kann zum Auslöser“ einer vertieften, arbeitsteiligen und innovationsfördernden Kooperation werden.543 Sicherlich ist sie die notwendige Bedingung für den langfristigen Wohlstandszuwachs der armen Länder – aber eben nicht die hinreichende Bedingung für die bereits aufgezeigte Ausbalancierung der Funktionssysteme. Herms bezweifelt aus geschichtlichen544 und kategorialen545 Gründen, dass die globalisierte Wirtschaft (ebenso wie Wissenschaft und Technik) die von ihm umrissene gerechte Ordnung allein herbeiführen kann. Deshalb stimmt er den Globalisierungskritikern in einer Hinsicht zu: Wissenschaft, Technik und Wirtschaft müssen in ein soziales Verpflichtetsein innerhalb einer globalen Rechtsordnung eingebunden sein – mit Restriktionen des Wettbewerbs.546 541 

Hübner, Globalisierung, 109–132. Herms, Vorwort, in: WM, VII–XXIII. 543  Herms, Globalisierung, in: WM, 271 (Hervorhebung im Original). 544  Historisch sei erwiesen, dass diese Funktionssysteme beliebig eingesetzt worden sind, eben auch zu menschenverachtenden Ordnungen. Zudem habe „effektives Wirtschaften“ auch unter guten Bedingungen nicht von sich aus die Chancen- und Teilhabegerechtigkeit herbeigeführt (ebd.). 545  Die speziellen Leistungen der Wissens- und Traditionsweitergabe und der Rechts- und Ordnungsgewährleistung können nicht aus wirtschaftlichen Kräften allein erbracht werden. 546  AaO. 273. 542 

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

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Aber der Grund dieser Verpflichtung liegt nicht in Appellen, vielmehr muss „die massenhafte Anziehungskraft eines entsprechenden Güterspektrums“ berücksichtigt werden.547 Hier kommt die Pointe der hermsschen Anthropologie gleichsam kraftvoll zum Zug. Er denkt nicht nur an eine „politische Vormacht“, welche die sozialen Verpflichtungen „fordern“ und „durchsetzen“ kann, denn „politische Forderungen oder Oktrois“ sind mit dieser Aufgabe überfordert: „Sie müssen von den Völkern und ihren Repräsentanten selbst gewollt werden. Das aber ist seinerseits nicht eine Frage des moralischen Heroismus, sondern des tatsächlich handlungsleitenden Lebensgefühls der Menschen“.548

Entscheidend sind die grundlegendsten Sozialisationsleistungen einer Gesellschaft, in denen ‚Herz‘ und Lebensgefühl geformt werden. Nicht moralisierende oder autoritäre Kräfte, sondern Bildungsprozesse sind für die „Qualität der Ergebnisse des Globalisierungsprozesses“ ausschlaggebend.549 Der Gewinn und Verlust dieser Einschätzung ist nun in gebotener Kürze in verschiedenen Sphären zu bedenken. a. Konturen der Wirtschaftsordnung550 Herms greift kritisch in die gegenwärtige wirtschaftsethische Diskussion ein: Während sich in der Öffentlichkeit Globalisierungskritiker551 und -befürworter552 streiten, stellt sich im Hintergrund die weitreichende Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ökonomik. Herms nimmt diese Debatte mit Karl Homann auf, der die wirkungsvolle These aufstellt, dass die Ökonomik die Ethik mit anderen Mitteln fortsetzt.553 Dementsprechend wird eine Ordnungsethik 547 

Herms, Globalisierung, in: WM, 272. „Was Menschen wirklich wollen, hängt ab von den Gütern, die sie als wirklich attraktiv erleben, und das wiederum hängt ab von dem, was ihnen als der Sinn des Lebens gefühlsmäßig gewiß ist. Ob und wie sie durch ‚Anreize‘ beeinflußbar sind, hängt ab von diesem inneren Milieu ihrer Gewißheiten, Neigungen und Abneigungen, ihrer ‚Appetite‘, ihres Geschmacks. Dies alles wächst durch die Lebenssinnkommunikation ihres Heimatlandes, in der sie hineinwachsen und die sie dann selbst aufnehmen und fortsetzen.“ (AaO. 274; Hervorhebung im Original) 549  Ebd. (Meine Hervorhebung). 550  Vgl. Munzinger, Deutungshoheit, zur Vertiefung der hier zu besprechenden Problematik der Wirtschaft; Herms, Ethik und Ökonomik, in: WM, 63 ff. für die Bestimmung der Begriffe ‚Wirtschaft‘, ‚Ökonomie‘, und ‚Ökonomik‘. 551  Vgl. Martin/Schumann, Globalisierungsfalle und Mander/Goldsmith, Schwarzbuch. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Josef Stiglitz betont (bis heute), dass weltweit „immer mehr Reichtum“ versprochen wird, aber „immer mehr Armut“ eintritt (in: Mander, Schwarzbuch, 474). 552  Vgl. Pies, Globalisierung, 1007: „Der wirksamste Beitrag zur demokratischen wie wirtschaftlichen Entwicklung [der ärmsten] Länder besteht darin, sie in den Weltmarkt zu integrieren.“ Insofern stellt die Globalisierung nach Pies die eigentliche Antwort auf die Forderung der Option für die Armen dar. 553  Herms, Normetablierung, in: WM, 198–232, in Auseinandersetzung mit Karl Homann. 548 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

entwickelt, in der die normativen Grundlagen durch die Rahmenbedingungen moderner Gesellschaften gesetzt und die traditionelle, an personalen Fähigkeiten orientierte Ethik ersetzt werden soll. So stehen nicht die persönlichen Motivationslagen, Überzeugungen und Tugenden einzelner Bürger im Mittelpunkt, sondern eine kulturübergreifende, an alle Traditionen anschlussfähige Ethik des geregelten Eigeninteresses.554 Dagegen macht Herms die Sicht geltend, dass die Ökonomik einen Teil der Ethik bildet. Zwar wird von Vertretern der Ökonomik zu Recht festgestellt, dass in allen Funktionssystemen eine Vorteilsmaximierung im Horizont knapper Güter handlungsleitend ist; aber ihre entscheidende Verkürzung liegt in der Verkennung der Differenziertheit der Güter in den jeweiligen Funktionssphären. Die Nutzenorientierung „ist wirtschaftsunspezifisch.“555 Entsprechend muss zwischen lebensdienlichen Ressourcen556 und den anderen Gütern wie Wissen, Herrschaft, Recht und Bildung unterschieden und nach Knappheit, Nutzen und Maximierung des jeweiligen Gutes gefragt werden. In diesem Sinne sieht Herms es als undifferenziert an, wenn Wirtschaft „letztlich“ als die Verringerung des Spannungsverhältnisses „zwischen Bedürfnissen und knappen Mitteln“ verstanden wird,557 weil in dieser Definition nicht deutlich wird, dass Wirtschaft nur bestimmte Verringerungsleistungen erbringt, die abhängig sind von politischen Rahmenordnungen, technischem Wissen sowie Überzeugungen und Zielen, die jeden Prozess der Nutzenmaximierung orientieren. Die Gegenüberstellung von Ethik und Ökonomik ist insofern unsachgemäß, als der Nutzen der wirtschaftlichen Güter nur im Zusammenhang mit den anderen Leistungen einer Gesellschaft deutlich wird. Dazu gehören die nun zu betrachtenden Güter der Rechts-, Friedens- und Freiheitsordnung. b. Konturen der Friedens- und Rechtsordnung Herms vertritt eine rechtliche Ordnung der Globalisierungsprozesse, die nicht auf eine Weltrepublik (oder ein Weltbundesstaatenmodell) hinausläuft, sondern auf eine Vertragsordnung zwischen souveränen Paktanten, die in zwei Schritten etabliert werden soll: Zunächst muss eine Weltwirtschaftsordnung dahin gehend gesamtgesellschaftlicher Regulierung unterworfen werden, dass der ei554  Vgl. Homann, Globalisierung; Lütge, Gesellschaft. Das Eigeninteresse sollte nicht beklagt, sondern als Chance gesehen werden, „ohne Heuchelei, ohne Engstirnigkeiten und ohne moralistische Brillen, die den Blick für tatsächliche Problemzusammenhänge verstellen“, den Eingang in eine globalisierte Welt zu finden, die gleichsam mit unsichtbarer Hand ihre Regelungen findet (aaO. 261). 555  Herms, Globalisierung, in: WM, 254. 556  Nach Herms sind Wirtschaftsgüter diejenige, die „für die Gewährleistung des Lebens und Überlebens der Gattung“ wie auch des „guten Lebens“ erforderlich sind, also Rohstoffe, Dienstleistungen, Tauschmittel, Produktionsverfahren und -mittel sowie schließlich die handelbaren Güter, „die durch den Einsatz von all dem produziert werden“ (ders., Ethik und Ökonomik, in: WM, 67; Hervorhebung im Original). 557  Bartling/Luzius, Volkswirtschaftslehre, 5.

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

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genständige Handlungsspielraum des Staates gegenüber der Ökonomie intragesellschaftlich wie auch intergesellschaftlich gewährleistet ist. Daraufhin muss regions- und kultursensibel die Zusammenarbeit zwischen den Funktionssystemen zuverlässig vertieft werden, indem sie vertraglich synchronisiert wird. Solch eine vertragstheoretische Perspektive auf die globale Ordnung ist nicht besonders innovativ, denn sie wird längst von anderen Theoretikern differenziert erörtert – wie exemplarisch bei Habermas zu erkennen ist (II.3.B). Der weiterführende Beitrag von Herms liegt in der bereits eingeführten These einer bestimmten, nämlich subsidiarischen und solidarischen Integration der verschiedenen Teilsysteme in dieser Vertragsordnung. Diese Kategorienbildung macht sich an dem Unterschied zwischen dem Staats- und dem Politikbegriff fest. So kritisiert Herms einerseits die derzeitige Erosion des Staates.558 In seinem detailreichen RGG Artikel zum Staat zeichnet er eine Entwicklung in vier Phasen nach, die auf das 12. Jahrhundert zurückgeht.559 Die erste Entwicklungsphase bezeichnet er als den Absolutismus, die zweite als den demokratischen Verfassungsstaat und die dritte als Ausdifferenzierung in eine offene Gesellschaft. Die vierte Phase schließlich wird in dem gegenwärtigen Eintritt in die globale Machtordnung erkennbar, die durch unterschiedliche Formen der Koexistenz gekennzeichnet ist: als Ordnung zwischen dominanten und abhängigen Staaten, als Vertragsordnung, als Konkurrenz im Standortwettbewerb und als Verbundenheit in der Bewältigung globaler Sicherheits- und Umweltaufgaben. Es stellt sich aus dieser Zeitdiagnose für Herms die Frage, wie und ob der Staat seine spezifischen Leistungen überhaupt noch erbringen kann, und er fragt mit Recht, ob in der neuen Konstellation und dem veränderten Kräftespiel der Mächte überhaupt noch von einer demokratischen Legitimation gesprochen werden kann. Die demokratischen Verfassungsorgane bestehen zwar weiter, so argumentiert er, sie verlieren aber ihren ursprünglichen Funktionssinn, indem die ökonomische Sphäre die anderen Systeme überlagert (vgl. II.3.C.i–ii). Der Politikbegriff sollte andererseits nach Herms nicht auf das Herrschaftssystem begrenzt, vielmehr auf „alle Vorgänge kollektiver Willensbildung und Entscheidungen“ ausgedehnt werden – also auf alle Funktionsbereiche, deren Organisationen und Institutionen.560 Die in Europa und vor allem in der deutschen Tradition vertretene Identifizierung von Politik und staatlicher Steuerung 558  „Die Ausübung von Herrschaft hat sich zu beschränken auf die Herstellung von Erwartungssicherheit durch Aufbau eines zuverlässigen Rechtssystems auf dem Wege einer übersichtlichen Institutionalisierung von Gewaltandrohung und -ausübung, bestenfalls also vermittelst der Erreichung und Erhaltung eines Gewaltmonopols, dessen Verwaltung sich an selbstgesetzte Regeln bindet.“ (Herms, Kirche in der Zeit, in: KW, 309) 559  Herms, Staat, in: RGG, 1632–1641. Die Entwicklung findet statt seit der Auflösung des Lehnsystems, dem Aufkommen der Städte und den Unabhängigkeitsbestrebungen verschiedener Herrscher nach ‚außen‘ gegenüber Papst und Kaiser wie auch nach ‚innen‘ gegenüber den Ständen. 560  Herms, Politik , in: RGG, 1449.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

der Gesamtgesellschaft ist ein aus einer vormodernen Familientradition stammende Überlegung, in der eine „integrale Bedürfnisbefriedigung“ durch staatliches Handeln erbracht werden soll.561 Erst nach 1945 entwickelt sich ein erweitertes Verständnis der Politik,562 zunächst in den Sozialwissenschaften und später auch in der praktischen Wirtschaftspolitik der BRD. „Obsessive Komplexitätssteigerungen“ der globalisierten Wirtschaft und des weltanschaulichen Pluralismus schaffen schließlich das Bewusstsein, „daß der Staat zwar Gewalt monopolisieren soll, jedoch P[olitik] nicht monopolisieren kann, sondern von der P[olitik] in allen anderen konstitutiven gesellschaftlichen Funktionsbereichen abhängig ist und bleibt“.563 Entscheidend für Herms ist es, dass infolge dieser Beschränkung staatlichen Handelns das Ethos kollektiver Entscheidungsfindungen (in allen Funktionssystemen) nicht staatlich generiert werden kann. Im Gegensatz zur Festlegung der Grenzen zwischen Staat und Wirtschaft ist die gleiche Anerkennung für die „Grenzsicherung“ zwischen dem Staat und den Institutionen noch nicht erkennbar, in welchen der „Lebenssinn“ ausgebildet wird.564 Der Staat kann diese Leistung der Ethosgestaltung nicht übernehmen. Weltanschauliche Neutralität des Staates gilt somit für Herms in eingeschränkter Weise:565 Staatliches und rechtliches Handeln ist nicht unabhängig von weltanschaulichen Überzeugungen, im Sinne „ethischer Ungebundenheit“, sondern die Gebundenheit muss „kompatibel“ mit dem Neutralitätsanspruch des Staates sein; eine Verpflichtung also, welche die Trennung (oder besser: Freisetzung) von Staat und Religion begründet.566 Das Funktionssystem des Staates muss sich nach Herms gegenüber den Aufgaben, die nur die Weltanschauungen leisten können, selbst begrenzen – „eine Selbstbegrenzung, die es in solcher Konsequenz seit der Reformation in Mittel561  Ebd. Herms führt eine Tradition von A.H. Müller, G.W.F. Hegel über K. Marx bis R. Smend an. 562  „Es gilt heute als herrschende, wenn nicht gar allgemeine Meinung, daß die Trennung von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ im Zeichen der modernen Demokratie und der Entwicklung zum Sozialstaat praktisch überholt sei und theoretisch ihre Rechtfertigung verloren habe.“ (Böckenförde, Bedeutung, 209) Diese Einschätzung Böckenfördes aus dem Jahr 1972 zeigt, wie umstritten die Entwicklung war. Auch Böckenförde plädiert für die Beachtung „der öffentliche[n] Aufgaben, die zu staatlichen Aufgaben erklärt werden können, aber keineswegs müssen, die daher auch als staatliche und gesellschaftliche Aufgaben nebeneinander wahrgenommen werden können (z.B. Schule und Bildung)“ (aaO. 232 f.). 563  Herms, Politik , in: RGG, 1450. 564  Herms, Vorwort, in: PRP, XII. 565  Herms, Neutralität, in: PRP, 170–194; vgl. zur Diskussion Polke, Religion, 118 ff.; und III.1.B.ii. 566  Herms, Neutralität, in: PRP, 176. Er unterscheidet das Neutralitätsgebot von Staat und Recht auf zweifache Weise: Zum einen kann es die Gleichbehandlung von Religionen bestimmen, zum anderen das menschliche Handeln in Politik und Recht beschreiben. Im letzteren Fall gilt, dass eine uneingeschränkte Neutralität nicht möglich ist, wenn sie als Aperspektivismus des staatlichen Handelns oder als Verdrängung der Religionen aus dem öffentlichen Raum verstanden wird.

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

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europa noch nicht gegeben hat“.567 Zugleich müssen die Religionen und Weltanschauungen die Grenzen der eigenen Funktionen anerkennen – mit Bezug auf ihr Verhältnis zu den anderen Weltanschauungen und im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Gewaltmonopol des Staates. Auf diese Weise werden die an der Gesellschaft beteiligten Weltanschauungen „in einen politisch völlig gleichberechtigten“ und „gleich verantwortlichen“ Status versetzt.568 Sie müssen aus intrinsischen Motiven ihr Verhältnis zu anderen Religionen begründen und gestalten. In der Konsequenz wird die errichtete Ordnung nicht als fremdbestimmt oder aufgezwungen wahrgenommen, weil jede Weltanschauung diese Ordnung als „ihre eigene“ respektiert.569 Indem sich die jeweils betroffenen Weltanschauungen in den Dialog über die Ziele des Gemeinwesens einbringen und beteiligen, wird die Unterscheidung zwischen denjenigen, die pluralismustauglich sind und denjenigen, die ihrer Tendenz nach totalitär sind, möglich. Wie lässt sich dieses – durchaus wünschenswerte egalitäre und zugleich integrale – Leitbild praktisch und theoretisch bewerten? Die Praxis problematisiert Herms selbst und fragt: Welche Weltanschauungen sind gegenwärtig in einen pluralismustauglichen Diskurs miteinzubeziehen? In einem Vortrag im Jahre 2008 meldet er Zweifel an, ob der Islam, der Hinduismus und „wissenschaftliche Weltanschauungen“ wie der „Empirismus“ pluralismusfähig sind, da sie ihre Positionalität nicht anerkennen.570 Diese Schwierigkeit manifestiert sich im sogenannten Verhältnis von ‚Staat‘ und ‚Kirche‘.571 Selbst im Abendland – wo das Verhältnis durch Religionsfreiheit und die funktional-strukturierte Trennung der Systeme gekennzeichnet ist – kann nicht von gleichartigen institutionellen Modellen ausgegangen werden. Wird die internationale Ebene miteinbezogen, ist eine weit gefasste Heterogenität festzustellen. Winfried Brugger stellt sechs Modelle des Verhältnisses von ‚Staat‘ und ‚Kirche‘ vor, die von Feindschaft über Anerkennung bis zur Identifikation reichen:572 Im ersten Modell wird eine offene Gegnerschaft zwischen Staat und Kirche rechtlich positiviert. So nennt er Beispiele aus kommunistischen Ländern wie auch Formen des Antiklerikalismus. Das zweite Modell sieht eine strikte Trennung in der Theorie sowie in der Praxis vor. Als Beispiel nennt er Auslegungen der amerikanischen Verfassung, die allerdings dort umstritten sind. Insofern können die USA auch als Beispiel für das dritte Modell genannt werden, das Brugger als eine strikte Trennung in der Theorie, aber 567 

Herms, Vorwort, in: PRP, XXf.

568 Ebd. 569 

Ebd. (Hervorhebung im Original) Herms, Bedeutung der Weltanschauungen, in: Nüssel, Ethik, 49–74. 571  Allein der Mangel eines formalen Begriffs für die religiöse Institution/Organisation ‚Kirche‘, der allen Kulturen entspricht, verdeutlicht die Tragweite der hier zu bedenkenden Problematik. Deshalb verwende ich mit Brugger, Feindschaft, vorerst die Begriffe ‚Staat‘ und ‚Kirche‘. 572  Brugger, Feindschaft, 253–283. 570 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

mit der politischen Rücksichtnahme für Religionen in der Praxis darstellt.573 Das vierte Modell der Scheidung und Kooperation wird am Beispiel des Verhältnisses der Kirchen zum Staat in Deutschland eingeführt. Im fünften Modell besteht eine formelle Einheit von Kirche und Staat, aber keine inhaltliche (z.B. Großbritannien), und schließlich im sechsten Modell wird eine formelle und materielle Einheit von ‚Kirche‘ und Staat beabsichtigt (z.B. Pakistan574). Brugger folgert daraus, dass jeglicher Konsens sowohl hinsichtlich der grundsätzlichen Scheidung von ‚Staat‘ und ‚Kirche‘ als auch hinsichtlich der Absage an Zwang und Diskriminierung „schnell schwindet und heftigen Auseinandersetzungen weicht, wenn es um konkrete Fragen geht“.575 Diese Diversität stellt nur die organisierten Konfessionen in ihrem Verhältnis zum Staat dar. Zu Recht macht Herms darauf aufmerksam, dass die Fragen nach den ethischen Zielen der Gesellschaft nicht nur von diesen beantwortet werden können, sondern dass die Weltanschauungen aller Gesellschaftsteilnehmer gefragt sind. Es wird deutlich, wie entscheidend überhaupt die Thematisierung der kategorialen Problematik hinsichtlich der empirischen Vielfalt ist. Auf der theoretischen Ebene stellt sich dennoch eine Vielfalt von Fragen. Zunächst: Nach welchem Kriterium wird die Pluralismustauglichkeit (oder eben der Totalitarismusverdacht) erfasst und bestimmt? Ist das Kriterium allgemein nachvollziehbar oder selbst weltanschaulich bedingt?576 Im Anschluss: Muss der Diskurs der Weltanschauungen rechtlich und legitimatorisch abgesichert werden? In welchem Verhältnis stehen Übereinkommen der Weltanschauungen zu geltendem Recht; wie ist deren institutioneller Status im Allgemeinen zu bestimmen?577 Schließlich stellt sich die Frage an Herms, wie das von ihm be573  Bemerkenswert ist der sogenannte „Lemon-Test“ in den USA, der die Verfassungskonformität bestimmt. So ist z.B. eine Regelung verfassungswidrig, wenn ihr exklusives Ziel in der Förderung von Religion liegt, sie ist aber verfassungsgemäß, wenn ihr Ziel eine Religion in sekundärer Hinsicht fördert (aaO. 263 f.). 574  Brugger zitiert einen pakistanischen Verfassungsspruch aus dem Jahr 1993, in dem festgestellt wird: „In einem Staat mit einer muslimischen Mehrheit braucht kein Schutz bereitgestellt zu werden für Glaubensansichten und Praktiken, die mit der Mehrheitsansicht nicht in Einklang stehen und diese beleidigen“. Und „die Vorschriften der internationalen Menschenrechte sind den Verlautbarungen des islamischen Rechts untergeordnet und deshalb irrelevant in Bezug auf Fragen, die sich auf die Freiheit der Religion in einem muslimischen Staat beziehen.“ (AaO. 270) 575  AaO. 282 f. Er plädiert ferner dafür, den Dissens als „Ausdruck der Ambivalenz und Komplexität der einschlägigen rechtlichen Regelungen“ zu betrachten und ihn als Aufforderung „zur Besinnung, Stärkung und vielleicht auch partiell zu einer Neujustierung unserer Staat-Kirche-Religion-Reflexion […] und nicht von vornherein als Kampf der Kulturen“ anzusehen (ebd.). 576  Herms greift auf seine fundamentalanthropologische Überzeugung zurück, dass die Anerkennung der Unverfügbarkeit von Gewissheitsbildung das wesentliche Moment des sogenannten Naturrechts und somit ein Kriterium für den gesellschaftlichen Konsens liefert (vgl. die Diskussion unter III.3.B.ii). 577  Vgl. zur Diskussion auch Grotefeld, Überzeugungen, 157 f.

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

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nannte Funktionssystem der Religionen im Verhältnis zu den anderen Sphären der Gesellschaft steht. Auf der nationalen Ebene ist diese Problematik bereits diskutiert worden (vgl. III.1.C.i), auf der internationalen Ebene verschärfen sich die Anfragen. Greifen ethische und weltanschauliche Überzeugungen in allen Funktionssystemen auf einheitliche Weise? Inwiefern folgen diese einer Eigenlogik, die für die religiösen Organisationen längst nicht mehr fassbar sind?578 Welchen institutionellen Ort sollen solche Diskurse im Gefüge einer Weltordnung haben? Trotz dieser Fragen ist der Richtungssinn der hermsschen Hervorhebung der gesamtgesellschaftlichen Ordnung als Indikator eines Gerechtigkeitsdiskurses zu unterstützen. Seine Arbeit passt nämlich zur gegenwärtigen wissenschaftlichen Entwicklung, in der die Kulturen und Religionen für die Erforschung Internationaler Beziehungen an Brisanz gewinnen. Ulrich Willems und Michael Minkenberg bereiten die Forschungsfragen am Beginn des 21. Jahrhunderts dementsprechend auf. Sie bemerken die Rückkehr religiöser Ansprüche in der Öffentlichkeit im Horizont einer anderen Entwicklung, die sich mit jener Renaissance kaum verträgt: Die Autoren problematisieren eine „Fundamentalpolitisierung moderner Gesellschaften“, sodass jedweder gesellschaftliche Sachverhalt zum Gegenstand staatlicher Regulierung oder einer solchen Forderung wird. Sie bemerken die Konzentration und Zentralisierung politischer Macht, die sich „wegen der gewachsenen Komplexität und Interdependenz gesellschaftlicher Sachverhalte sowie der Entgrenzung gesellschaftlichen Handelns […] auf immer höhere Entscheidungsebenen verlagert“.579 Sie sind bedacht, dieser Entwicklung zu widersprechen und auf die Kräfte der Zivilgesellschaft zu setzen. Mit Herms ist zu präzisieren, dass diese wiederum keine homogene Größe bildet, sondern dass es die Zivilgesellschaft nur in Anerkennung des radikalen Pluralismus gibt: „Alles Handeln in Politik und Recht bewegt sich nicht oberhalb des Kräftefeldes des weltanschaulich-ethischen Pluralismus, sondern in diesem Kräftefeld. Nicht oberhalb seiner, sondern in ihm – den Spannungen und Konflikten des Pluralismus uneingeschränkt ausgesetzt – müssen Politik und Recht nach einer zuverlässig friedensdienlichen Ordnung des Zusammenlebens suchen.“580

c. Bildung. Kernaufgabe der Kirchen Um den Widerstreit der Weltkulturen friedlich gestalten zu können, bedarf es der Bildung – und zwar nach Herms vor allem der weltanschaulichen Bildung. Das Argument beruht auf seiner gewissheitstheoretisch fundierten Anthropo578  Vgl. Haus, Ort, 50; Gerhardt, Christentum, 32 ff., der auf die Eigenlogik der Politik hinweist. 579  Willems/Minkenberg, Politik, 16; vgl. Deitelhof, Grenzen, 187–219, mit Literatur­ überblick. 580 Herms, Vorwort, in: PRP, XIX.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

logie und zielt darauf ab, die Qualität und Zukunftsfähigkeit des Zusammenlebens unter dem Gesichtspunkt derjenigen Bildungsprozesse erörtern zu wollen, in denen ‚Herz‘ und Lebenssinn geformt werden. Um diese Theoriefigur zu verstehen, sei auf die Bedeutung der Bildung als Hauptaufgabe der Kirche aus hermsscher Sicht hingewiesen: Als „Zentrum der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung der Kirchen“ wird „mit großer Eindeutigkeit“ die Bildungsarbeit festgehalten – und zwar von der Kindheit über die Jugend bis hin zum privaten und öffentlichen Leben der Erwachsenen.581 Und zwar liegt der „Schwerpunkt und das undelegierbare Proprium der kirchlichen Verantwortung für die Gesamtgesellschaft in ihrem Dienst am ‚inneren Menschen‘“.582 Das heißt, setzen die Kirchen andere Schwerpunkte, greifen sie in fremde Funktionssysteme ein und vernachlässigen ihre ureigenste Aufgabe. In diesem Sinne kritisiert Herms die bereits erwähnte Studie von Jörg Hübner, der die Kirche unmittelbar an den Veränderungsprozessen der Globalisierung beteiligen will, indem konkrete Aufgaben, beispielsweise die Befürwortung von ‚Fair Trade‘, übernommen werden. Aber darin liegt ein Missverständnis vor, denn die Kirche „ist nicht selbst ein Wirtschaftsunternehmen, nicht selbst eine politische Partei, nicht selbst eine NGO und sie verfügt auch nicht selbst über wirtschaftliche oder politische Wirkungsmacht“.583 Die Kirche trägt nicht „direkt“, sondern nur „indirekt“ zur Weltgestaltung bei, nämlich darin, dass alle Glieder des christlichen Gesamtlebens sich selbst verantwortlich in den verschiedenen Subsystemen betätigen können.584 Diese Aufgabe kann sie nur leisten, wenn sie sich auf ihre Kernaufgabe besinnt: Das „Ensemble von Bildungsinstitutionen“ muss für die Kirche zurückgewonnen werden, das für die Tradition des Evangeliums notwendig ist, nämlich das allgemeinbildende Schulwesen.585 (Der heutige Religionsunterricht ist dabei nach Herms kein dauerhafter Ersatz.) Weil schulische Curricula und alle Vollzüge des Lernens eine weltanschauliche Dimension aufweisen, muss sich laut Herms der Staat auf „die Entwicklung einer Rahmengesetzgebung“ beschränken, innerhalb derer „grundsätzlich die Bildungsverantwortung freier Träger zum Zuge kommen soll“.586 Herms spitzt diese These weiter zu: Bildungsprozesse dürfen weder vereinheitlicht noch verstaatlicht werden: „Statt dessen ist Bildungspolitik so zu betreiben, daß – ihrer natürlichen Bedeutung entsprechend – das Engagement und die Leistung nichtstaatlicher Träger gestärkt und statt auf Einheitlichkeit lediglich auf Kompatibilität und Verständigungsfähigkeit der Programme und Resultate geachtet werden.“587 581 

Herms, Kirche in der Zeit, in: KW, 311.

582 Ebd. 583 

Herms, Globalisierung als Herausforderung, in: David, Theologie, 314. Ebd. (Hervorhebung im Original) 585  Herms, Kirche in der Zeit, in: KW, 314. 586  AaO. 314. 587  Herms, Globalisierung, in: WM, 279 (Hervorhebung im Original). 584 

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

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Wichtige Fragen schließen sich an diese pointierte Stellungnahme an. Wie ist das Konzept aus pädagogischer und ekklesiologischer Sicht zu beurteilen? Wie würden Kirche und Schule in der Praxis aussehen, wenn diese Idee umgesetzt würde?588 Einerseits mutet Herms den Kirchen Verzicht hinsichtlich ihrer öffentlichen Aufgabenstellung zu, andererseits will er alle Bereiche des Lernens als weltanschaulich bestimmt aufweisen und den Kirchen eine weit gefasste bildungspolitische Zuständigkeit zuteilen: Beachtlich ist diese Position demnach hinsichtlich der Selbstständigkeit ‚der Religion‘ und der damit verbundenen Kirchenkritik an der Übernahme fremder Funktionsaufgaben. Aber trotz dieser Sensibilität für die Begrenzung religiöser Funktionen erteilt Herms der Religionssphäre die zentrale Aufgabe der Gesellschaft: das gesamte Spektrum ethischer Bildung. Hier muss auf Grund der bisher erarbeiteten Differenzierungen zwischen dem individuellen Deutungsrahmen der Weltanschauungen und den wachsenden identischen, kulturübergreifenden Wissensbeständen widersprochen werden. Einige wenige Überlegungen sollen diese Differenzierung und den Widerspruch erläutern: Die Besinnung auf die Aufgaben der Schule angesichts globalisierter Funktionssysteme macht derzeit Pädagogen darauf aufmerksam, dass in bisherigen Bildungskonzeptionen die weltanschaulichen Bezüge des Lernens nicht hinreichend beachtet worden sind – so z.B. das Ergebnis von Gregor Lang-Wojtasik in seiner Studie zur Schule in der Weltgesellschaft. Ist die Schultheorie in weiten Teilen bisher von einer „Deckungsgleichheit“ zwischen Kultur und Gesellschaft ausgegangen,589 muss sie sich nun mit der Entgrenzung des Referenzrahmens auseinandersetzen und in neuer Weise die Kontingenz (und somit die Komplexität) des Wissens wie auch die Individualisierung (und somit die Pluralisierung) der Lebenswelten berücksichtigen.590 Ähnlich stellt Gerd Scobel die These auf, dass das „Verstehen von Komplexität“ als zentrales Thema der Wissenschaften in den nächsten 20–30 Jahren hervortreten wird.591 Dabei interessiert ihn nicht vornehmlich die Art von Komplexität, die mit direkten Kausalitäten erfasst wird, sondern diejenige, die es mit Erwartungen, Idealen und anthropologischen Leitbildern zu tun hat, mit denen z.B. ‚Menschheit‘ gedacht und der ‚Geschichte‘ Sinn verliehen wird. Diese Leitbilder sind Grundlage unserer Identität und werden in einer globalisierten Welt von zunehmender Bedeutung sein, weil sie trotz ihrer Umstrittenheit der Identität Rahmen, Halt und Fundament bieten.592 Herms macht deshalb mit einigem Recht darauf aufmerksam, dass die derzeitige Aufmerksamkeit für die ‚Globalisierungstrei588 

Vgl. z.B. Rieger, Kirche, 450 ff. zur Vertiefung. Lang-Woytasik, Schule, 198. 590  Der Autor ist auf den Ausbau transkultureller Wissensbestände bedacht, weniger auf den Austausch partikularer, kultureller Positionen (aaO. 72). 591  Scobel, Bildung, 127. 592  „Nicht jeder kommt mit dem seltsamen Schwebezustand, den die Vermischung der 589 

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ber‘ der Wissenschaft, Technik und Wirtschaft einseitig ist. Auch internationale Verordnungen, Regulierungen und völkerrechtliche Bestimmungen haben keine die Identität stärkende oder den Lebenssinn orientierende Auswirkung. Beachtung finden müssen die Güterpräferenzen, die „für die jeweilige Bevölkerung aufgrund ihres Lebensgefühls effektiv anziehungskräftig“ sind – und diese Anziehungskraft ist in erster Linie von den „örtlichen öffentlichen Bildungsinstitutionen“ abhängig, die sich nicht primär durch Wissensvermittlung, sondern durch kulturelle Kompetenzen und Werte auszeichnen.593 Hier wird derzeit ein erheblicher Forschungsbedarf erkannt. Im Horizont der Debatten im Herbst 2010, ausgelöst um Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab, stellen die Entwicklungspsychologen Heiner Rindermann und Detlef Rost fest, wie entscheidend die kulturellen Faktoren sind, die zu den Verwandtenheiraten in muslimischen Familien führen, „aber noch entscheidender ist die Wertschätzung des Denkens“: Es sei zwar schwierig, „die Wirkung von Weltanschauungen auf die Erziehung“ zu bestimmen, aber für herkömmliche Strömungen des Islams“ seien „die Traditionen autoritären Auswendiglernens, mangelnde Orientierung zum Selberdenken und autoritäre Erziehung in Familien“ wie auch „die geringe Bildung von Frauen und damit der Mütter, ein generell geringes Bildungsniveau der Eltern“ problematisch. Dazu kommen „im Arabischen noch Sprach- und Schriftprobleme“.594 Allerdings gibt es Veränderungshinweise: „In vielen muslimischen Ländern ist eine Verbesserung der Bildungssituation beobachtbar: So hat die Türkei die Schulpflicht von fünf auf acht Jahre hochgesetzt. Im Iran gibt es seit jeher eine aktive Intellektuellen- und Universitätsszene. In den Golfstaaten werden Universitäten gegründet, welche aber hauptsächlich als Ausbildungsschulen, kaum als lebendige Zentren für geistige Auseinandersetzung und Forschung konzipiert sind. Es gibt also in vielen muslimisch geprägten Staaten erste, noch nicht ausreichende Reformen zur Verbesserung von Schule und Unterricht.“595

Zugleich ist mit Otfried Höffe darauf aufmerksam zu machen, dass interkulturelle Lernprozesse bereits stattfinden, in denen diejenigen Strukturen, Rechte, Empfindungen und Ethosbestände vermittelt werden, die vielen Völkern gemein sind (vgl. oben III.3.A.i). Höffe verweist auf erfolgreiche Solidargemeinschaften, Koexistenzbemühungen und kulturübergreifende Ordnungen,596 die ihn dazu veranlassen, von Menschheitsaufgaben und nicht allein von Kulturaufgaben im Zusammenhang von Bildungsprozessen zu sprechen. Er verteidigt mit Pathos und Argument das Erlernen globalisierter Werte. Darin liegt ein notwendiges Gegenmoment zur hermsschen Hervorhebung partikularer Wertbildung und es konkretisiert sich an dem pädagogischen und rechtlichen KonLebensstile, Kulturen und Religionen mit sich bringt, gut zu Recht. Es bedarf kultureller Techniken, um sich in der Vielfalt einzuüben, ohne die eigene Mitte zu verlieren.“ (AaO. 136) 593  Herms, Globalisierung, in: WM, 276. 594  Rindermann/Rost, Intelligenz, 3 f. 595  AaO. 4. 596  Er verwendet Beispiele vom Alten Ägypten und von der Pax Romana über den Irokesenbund bis hin zu den neueren Errungenschaften der friedlichen Ordnungssuche (vgl. Höffe, Wirtschaftsbürger, 136 ff., 156 ff.). Seitenzahlen im Folgenden im Text.

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zept des Weltbürgers,597 der nicht von lokalen Gemeinschaften abgehoben wird, sondern komplementär zu diesen gedacht wird: „Der Welt-Staatsbürger richtet seine Bürgertugenden, den Rechts-, Gerechtigkeits- und Gemeinsinn, zunächst auf das eigene Gemeinwesen. Gegen die großregionale und am Ende globale Persepektive aufgeschlossen, weitet er aber sein Engagement über den eigenen Staat beispielsweise auf Europa und schließlich auf die Weltordnung aus […].“598

Es macht Sinn, den Begriff der weltbürgerlichen Bildungsperspektive komplementär zur weltanschaulichen Tradierung anzusehen. Jene zeichnet sich durch die „Lesekompetenz“599 anderer Kulturen aus, durch ethnologische und völkerrechtliche Kenntnisse, durch das Erlernen des Perspektivenwechsels in ethischen Konfliktfällen, durch diskurstheoretische und -praktische Fertigkeiten. Das Problem ist allerdings, dass bei Höffe die weltbürgerliche Bildung als akulturell oder aperspektivisch bestimmt wird: Wie bereits angemerkt worden ist, stehen die Arbeiten von Höffe für eine kantianisch inspirierte Lesart der normativen Ordnung des Zusammenlebens. Dem formalen Universalismus verpflichtet, stellt er diesen als maßgeblich für seine Konzeption der Ausbildung globaler Werte dar.600 Höffe bettet seine Überlegungen zur Bildung in den Rahmen seiner Diskussion der drei Dimensionen ein, in denen jeder Bürger sich gegenwärtig bewegt: Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger.601 Dieses erweiterte Blickfeld der Bürgertugenden versteht Höffe als Kritik an der derzeitigen politischen Philosophie, die sich auf den Staatsbürger konzentriert. Wesentlich für sein Verständnis der Bildung im Gegensatz zu Herms ist das überpartikulare Ethos des Weltbürgers. Dieser Gegensatz wird vor allem daran deutlich, dass Höffe den ‚Kulturbürger‘, erst recht den ‚Religionsbürger‘ gänzlich vernachlässigt. So kann er behaupten, die universalen Institutionen und elementaren Rechtsverbindlichkeiten seien „ge597  Auch Höffe weiß, dass es sich genauer um einen Erden- und nicht einen Weltbürger handelt (aaO. 152). 598  Ebd. Als Weltbürger bezeichnet Höffe neben den Menschen auch Staaten, global operierende Nichtregierungsorganisationen und transnationale Unternehmen, die zwar alle bestimmten Zielen verpflichtet sind, die aber einen komplementären Blick für die Erde und Menschheit entwickeln (ebd.). 599  Ich entleihe diesen Begriff Bernhard Dressler, der das PISA-Konzept der ‚Lesekompetenz‘ als Kulturtechnik im engeren Sinne auf die Fähigkeit erweitert, „die Welt in den unterschiedlichen Perspektiven der schulischen Fächer verstehen zu können“ (ders., Religion, 20). Analog ist ein Verstehen ‚der Menschheit‘ hinsichtlich ihrer Differenzen wie auch ihrer Einheitsmerkmale in der Bildung dringend erforderlich. 600  Anders als Habermas rückt Höffe nicht nur den formalen Universalismus in den Vordergrund, sondern macht auch vielschichtige materiale Überzeugungen und Institutionen als Beleg für den Universalismus geltend (ders., Wirtschaftsbürger, 141–144, 153–155). 601  Während er in Demokratie im Zeitalter der Globalisierung die Institutionen betont, stehen hier die Bürgertugenden im Vordergrund (Wirtschaftsbürger, 9–18). Zugleich rückt er den Bereich der Wissenschaften und der Forschung in den Blick, der „das (dreidimensionale) Bürgersein anerkennt und zugleich übersteigt“ (aaO. 15).

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gen Glaubens- und Heilsfragen indifferent“.602 Dieser Einschätzung ist zu widersprechen: Höffe verkennt die hermeneutische Bedeutung kultureller und religiöser Sinnvermittlung auch mit Blick auf elementare Regeln des Zusammenlebens. Dennoch macht Höffe auf eine entscheidende, ergänzende Perspektive aufmerksam, nämlich auf die Ausbildung von Kompetenzen für die intellektuellen Übergänge und ethischen Übersetzungsmöglichkeiten zwischen Kulturen – deren hermeneutischer Status ist im Folgenden noch einmal zu bedenken (III.3.B.ii). iii. Zwischenresümee Herms provoziert Kritik: Die Provokation liegt in der umfassenden Beanstandung politik-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Forschungsleistungen für ihre Missachtung des selbstständigen Funktionssinns der Religion im Ordnungsgefüge der werdenden Weltgesellschaft. Diese in Teilen plakative Darstellungsweise wird der neueren Forschung kaum gerecht. Dennoch sensibilisiert Herms zu Recht für die Problematik von Grenzüberschreitungen zwischen den verschiedenen Funktionsbereichen, ganz gleich ob sie aus der Wirtschaft, den staatlichen Institutionen oder den religiösen Organisationen stammen.603 Das Prädikat ‚gerecht‘ verwendet Herms dabei für die Ausbalancierung der Funktionen- und Aufgabenteilung in der Gesellschaft insgesamt – also nicht für die Bewertung einzelner Sphären. In diesem Sinne kann seine Sozialphilosophie als Plädoyer für einen neuen Gesellschaftsvertrag gelesen werden, in dem die Funktionssysteme subsidiarisch und solidarisch aufeinander abgestimmt sind – also gleichsam als eine Gewaltenteilung der gesellschaftlichen Sphären. Die weltanschauliche Bildung soll dabei als Gravitationspunkt gesamtgesellschaftlicher Orientierung anerkannt werden. Herms befürchtet nämlich, dass die soziale (Welt-)Ordnung nicht friedlich gestaltet und geregelt werden kann, wenn die Partikularität der Lebenssinnkommunikation verkannt und der ethische Pluralismus durch universalistische ‚Moralmonopole‘ unterdrückt wird. Dieses Anliegen ist unbedingt ernst zu nehmen. Zugleich sind die kulturübergreifenden Lernprozesse und die wachsenden Gemeinsamkeiten der Menschheit geltend zu machen, seien sie vergleichbare ethische Grundanliegen der Weltreligionen (Küng), parallele Institutionen und Strukturen der Hochkulturen (Eisenstadt) oder analoge Gerechtigkeitsüberzeugungen in beinahe allen Ländern der Erde (Höffe). Es ist entscheidend, dass die weltanschaulichen Differenzen, die Herms betont, nicht zu Lasten dieser interkulturellen Gemeinbestände profiliert werden. 602 

Höffe, Wirtschaftsbürger, 173 (meine Hervorhebung). Herms ist die Politisierung und die Ökonomisierung der Gesellschaft auf einer Ebene anzusiedeln wie Fundamentalismen in den Religionen: Sie bezeichnen durchweg Versuche, aus einem Funktionssystem alle anderen beherrschen zu wollen und entstammen alle der Verkennung verschiedener eigenständiger Aufgaben der jeweils anderen Sphären. 603  Für

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

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III.3.B. Zum ‚Gewebe‘.604 Vermögen interkultureller Verständigung Für Habermas stellen die gesellschaftlichen Verfahren das notwendige Instrumentarium bereit, mit dem das Zusammenleben gestaltet werden kann. Sie sind die „in abstracto festgehaltenen Strukturen gegenseitiger Anerkennung“, die „wie eine Haut um die Gesellschaft im ganzen“ gespannt sind;605 sie stehen den personalen Tugenden insofern gegenüber, als sie die Bürger im Umgang miteinander entlasten sollen. Dagegen werden in der derzeitigen interkulturellen Forschungslandschaft die notwendigen Vermögen der Verständigung analysiert, die unter dem Begriff „interkultureller Kompetenz“ psychologische, soziologische und philosophische Beiträge sammelt.606 Dazu zählen Kommunikations- und Sprachfähigkeit, Hermeneutik, Urteilskraft607 und, beachtlicher Weise, Vertrauen608. Angesichts der Fülle dieser Aspekte gehe ich im Folgenden vor allem auf die hermeneutische Problematik ein (i). Zu dieser gehört zunächst die Notwendigkeit kultureller und konfessioneller Selbstverortung, die auch Herms kürzlich vorgenommen hat. Daraufhin stellt sich die Frage nach der einheitlichen Grundlage des wechselseitigen Verstehens; diese führt zum Kern des Problems des Zusammenlebens zurück: Wie ist die menschenwürdige Koexistenz zu begründen? Transzendiert diese Begründung kulturelle Grenzen? (ii) i. Die Problemlage interkultureller Hermeneutik a. Selbstverortung: Der hermssche Blick auf andere Religionen Das Verständnis der eigenen Position, Geschichte, Tradition und Überzeugungsstruktur ist für Herms der unhintergehbare Ausgangspunkt für gelungene Kommunikation mit Anderen. Dazu gehört die kategoriale Bestimmung der Grundbegriffe, wie sie in Kapitel III.1 erarbeitet worden ist. Fragt man nach dem angemessenen Umgang der christlichen Kirchen (und ihrer Theologien) mit anderen Religionen und Kulturen angesichts dieser kategorialen Vorarbeit, schlägt Herms eine dreigeteilte Aufgabe vor.609 Zunächst fordert Herms, dass die „Kirchen und ihre Theologie“ die Grundlagen der ‚westlichen‘ Kultur reflektieren und diese nach außen im Diskurs mit anderen Kulturen verteidigen und vertreten (315). Gilt die ‚westliche‘ Kultur für Herms als vom Christentum geprägt,610 verpflichten ihre etablierten Grund604 

Zur Differenzierung von ‚Gerüst‘ und ‚Gewebe‘ vgl. III.3 Fn. 462. Habermas, FG, 493. 606  Vgl. den einführenden Beitrag von Straub, Kompetenz, 300–332. 607  Vgl. zur Einordnung Bickmann, Wege. 608  Vgl. die Studien von Thomas, Vertrauen; Jammal (Hg.), Vertrauen und dort Literatur. 609  Herms, Globalisierung als Herausforderung, in: David, Theologie, 315–324. Seitenzahlen im Folgenden im Text. 610  Interessant ist hier die Formulierung, dass die „westliche“ Einsicht in die „Entgött­ lichung der Welt und ihre Hinnahme als die geschaffene Welt des Menschen“ zum christlichen Wirklichkeitsverständnis gehört. Mit „Entgöttlichung“ meint Herms jedenfalls keine 605 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

prinzipien der Freiheit, Solidarität und Gleichheit die Christen wiederum, diesen Kulturkreis als „ihre Sache“ anzusehen (317; Hervorhebung im Original). Die Leistungskraft dieses Kulturkreises besteht in der Akzeptanz der Spannung des weltanschaulichen Pluralismus: Das Christentum verteidigt das Recht, öffentliche Ansprüche geltend machen zu können und erkennt zugleich die Notwendigkeit der eigenen Selbstbegrenzung gegenüber anderen Sichtweisen an. Sodann weist Herms auf die Bedeutung der ökumenischen Einheit zwischen den Kirchen in Ost und West hin, eine Einheit die auf der unabweisbaren Vielfalt der Zugänge zum christlichen Glauben aufbaut. Insofern ist eine Ordnung zu suchen, in der die Unterschiede nicht relativiert werden, aber in der Einheit – auch in institutioneller Form – gestaltet wird. Bemerkenswert ist, dass Herms die ökumenische Aufgabe begrenzt wahrnimmt; die traditionellen Kirchen in Afrika, Asien oder Lateinamerika wie auch die massiv wachsende Pfingstbewegung oder die global agierenden evangelikalen Gemeinschaften werden nicht erwähnt. Hier wird insofern eine entscheidende Lücke bemerkbar, als diese Bewegungen sich an der interkulturell brisanten Front bewegen – dort, wo tagtäglich die Religionen ‚zusammenprallen‘.611 Diese interkulturelle oder interreligiöse Front nimmt Herms schließlich lediglich nur auszugsweise in den Blick. Für ihn gilt es, das Missverständnis gegenüber anderen Kulturen aufzulösen, dass die ‚westliche Kultur‘ überhaupt nicht von orientierenden Lebenssinnpositionen geleitet wird, sondern nur als Ansammlung von Märkten oder als szientistisch durchregierte Gesellschaftsform besteht. Dagegen will Herms aufzeigen, dass die „westliche Kultur“ vom Universalismus des christlichen Menschenbildes geprägt ist, welches auf die Einheit der Menschheit und des Lebens ausgerichtet ist, alle Unterschiede auf diese Einheit hin relativiert „und daher unerschrocken und entschlossen auf alles Andere und Fremde zugeht und danach strebt, diese ganze Mannigfaltigkeit innerhalb jenes einen Horizontes des christlichen Wirklichkeitsverständnisses zur friedlichen konstruktiven Konvivenz und Kooperation zu bringen“ (320). Herms weiß um die problematischen, imperialen Folgen des abendländischen Universalismus, welche in kolonialer Herrschaft und Ausbeutung erkennbar wurden (321). Es kommt ihm deshalb auf die Unterscheidung innerhalb der Universalismus-Konzeptionen an: Ist der recht verstandene Universalismus geprägt von der Anerkennung, dem Respekt und der Würdigung partikularer Erfahrung der einen humanen Wirklichkeit, so ignoriert der imperiale Universalismus die materialen und inhaltlichen Besonderheiten der Kulturen. Dieser wird als der „Universalismus der menschlichen Vernunftnatur und ihrer forForm der „Privatisierung“ der Religion, sondern die menschliche Aufgabe der Gestaltung der Welt (aaO. 316). 611  Gemeint ist die durch Gewalt gekennzeichnete Nahtstelle zwischen Islam und Christentum, die von Westafrika bis Indonesien reicht, mit Schwerpunkten z.B. in Nigeria oder Indien; vgl. die Hinweise auf Arbeiten von Hans Kippenberg und David Martin unter II.3.C.ii.

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malen Uniformität“ (322) bezeichnet und es wird von Herms dazu auf die Stoa, den Rationalismus des 17.- bis 20. Jahrhunderts und exemplarisch auf Intentionen von Otfried Höffe verwiesen.612 Mit diesen Bemerkungen verstärkt Herms die von ihm bekannte Absicht, eine möglichst präzise Rechenschaft seiner Sichtweise im Gespräch mit anderen zu explizieren – für gelingende Verständigung ist diese Rechenschaft auch ein unverzichtbares Fundament. Aber ein Begriff gemeinsamen Denkens, also des Austauschs von Gründen und Geltungsansprüchen, ist weniger in Sicht. Wie könnte dieser aussehen? Bevor Herms auf diese Problematik weiter befragt wird, ist der derzeitige Forschungskontext zu beachten. In der evangelischen und katholischen Theologie manifestiert sich das hermeneutische Problem im Rahmen religionstheologischer Fragestellungen. War die Diskussion vorerst vom Ringen um die korrekte Fassung des Absolutheitsanspruches des Christentums geprägt, wurde sie zunehmend von inklusivistischen Überlegungen (z.B. bei Karl Rahner oder Paul Tillich) und pluralistischen Neukonzipierungen (z.B. bei John Hick oder Perry Schmidt-Leukel) herausgefordert. In der Reflexion dieser Kategorienbildung (Exklusivismus, Inklusivismus, Pluralismus) wird zunehmend erkennbar, dass mit ihnen das Verstehen des jeweils Anderen nicht hinreichend problematisiert wird. Theo Sundermeier beklagt den hermeneutischen Umgang mit dem Fremden in diesen Kategorisierungen als eine Art Verfügungsgewalt und plädiert dezidiert für eine stärkere Offenheit gegenüber anderen Traditionen.613 Seine Ablehnung der „alten“ Hermeneutik, die Sundermeier zufolge auf idealistischen Subjektivitätstheorien aufbaut, wird allerdings zu Recht als undifferenziert gegenüber diesen Theorien bestimmt – ist doch schon bei Schleier­macher eine Sensibilität für die Problematik des Idealismus ausgeprägt.614 Nichtsdestotrotz werden die Impulse Sundermeiers „Differenzhermeneutik“, die Suche nach einer theoriefähigen Achtsamkeit für die Andersheit des Anderen, programmatisch verfolgt und vertieft.615 Als bisheriges Ergebnis dieser Reflexion ist die Selbstreferenzialität als unhintergehbarer Ausgangspunkt einer Religionstheologie aus protestantischer Sicht festgehalten worden.616 In ähnlicher Weise wird in der sogenannten ‚Interkulturellen Philosophie‘ die hermeneutische Fragestellung in den Mittelpunkt gerückt. Für sie treten z.B. Franz Wimmer, Heinz Kimmerle und der in Deutschland lehrende indi612  Unklar an dem Duktus des Textes ist, ob dieser formale Universalismus mit den imperialen, kolonialisierenden Zügen des Westens in Verbindung zu bringen ist oder gar verantwortlich gemacht werden soll. Diese Lesart wäre eine gewaltsame Umdeutung der Absichten von Habermas und Höffe. 613  Sundermeier, Begegnung, 13–21. 614 Vgl. Danz, Einführung, 223–227, mit Hinweisen auf die Kritik von Andreas Grünschloß. 615  Grünschloß, Glaube, 303–314. 616  Danz, Einführung, 228–232.

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

sche Philosoph Ram Adhar Mall ein. Mall wendet sich gegen die oftmals versteckten Absolutheitsansprüche von philosophischen Totalitätsideen – vor allem der europäischen Philosophie gegenüber asiatischen Lehren.617 Die interkulturelle Hermeneutik wird in diesem Sinne von zwei anderen Modellen der Hermeneutik abgegrenzt: der Identität und der Differenz. Das Identitätsmodell überspitzt die phänomenologische Einsicht, dass das Unbekannte im Modus des Bekannten verstanden werden muss und geht somit von der „Fiktion einer totalen Kommensurabilität“ aus; die Hermeneutik der totalen Differenz dagegen „verabsolutiert die Unterschiede und hängt der Fiktion einer völligen Inkommensurabilität an“ (3). Im Gegensatz zu diesen Engführungen setzt Mall auf die sogenannte „analogische Hermeneutik“, denn sie geht von Überschneidungen und Überlappungen zwischen den Kulturen aus, die vom Ätiologischen bis zum Politischen reichen (ebd.).618 Ziel ist es, Standpunktbedingtheit mit Offenheit für die Differenz anderer Kulturen zu verbinden, indem die Einheit im Konflikt gesucht wird – ein Konflikt, in dem die „Ignoranz“ und „Arroganz“ der wechselseitigen Missverständnisse thematisiert werden (5); eine Einheit, die das regulative Eine mit vielen verschiedenen Namen sucht.619 Die Arbeit von Mall hat vielfältige Forschungsbeiträge ausgelöst,620 und sie ist in ihrer Sensibilität für den Vergleich europäischer Denkweisen mit der Logik, Phänomenologie und Ethik der indischen Philosophie wegweisend.621 Es bleibt aber ungeklärt, welchen metaphysischen und weltanschaulichen Status die analogische Hermeneutik beansprucht, die auf das ‚Eine‘ rekurriert, ohne 617  Mall, Sicht, 1–18, Seitenzahlen im Folgenden im Text; vgl. ausführlicher Mall, Philosophy. 618  Mall zitiert Dilthey: „Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts fremd wäre.“ (AaO. 4) 619  Gemeint ist „das eine Omnipräsente der philosophia perennis in vielen Rassen, Kulturen und Sprachen“; eine nähere Bestimmung fehlt hier allerdings (aaO. 6). 620  Vgl. die Publikationshinweise der Mitglieder der Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie (http://www.int-gip.de/publikationen.html) und die Reihe der Interkulturellen Bibliothek (http://www.bautz.de/interkulturell.shtml, beide vom 20.09.2010). 621  Mall demonstriert, wie sich die von ihm postulierte Einheit in der Differenz hinsichtlich der Logik und der Ethik auswirkt. Zum Beispiel zeigt er auf, wie die unterschiedlichen logischen Denkmuster in der indischen, chinesischen oder der klassischen griechischen Philosophie wirken, ohne allerdings die formale Logik – so seine These – insgesamt zu unterlaufen. Aber die Beispiele führen auch die Herausforderung vor Augen, eine kommensurable Ebene zwischen den Kulturen finden zu können. Weiterführend ist das Beispiel des Sinologen Granet, „warum den Chinesen der Sinn für einen formalen Syllogismus fehlt: ‚Welchen Wert könnte denn auch eine syllogistische Ableitung für ein Denken haben, das sich weigert, dem Raum und der Zeit ihre konkrete Beschaffenheit zu nehmen? Wie könnte man behaupten, daß Sokrates, da er ein Mensch ist, sterblich sei? Ist es denn sicher, daß in künftigen Zeiten und in anderen Räumen die Menschen sterben werden? Behaupten läßt sich hingegen: Konfuzius ist gestorben, folglich werde auch ich sterben, denn es besteht wenig Aussicht, daß jemand ein längeres Leben verdient als der größte aller Weisen‘.“ (AaO. 13, mit Zitat von M. Granet)

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das ‚Andere‘ vereinnahmen zu wollen. Diese Frage ist grundsätzlicher, erkenntnistheoretischer Natur und stellt sich auch an den hermsschen Entwurf. b. Öffnung zu Anderen: Das Problem geschlossener Rationalitätsformen Im Werk von Herms werden vor allem zwei Formen des Pluralismus erkennbar: Zum einen ist dies der Pluralismus der Weltanschauungen, zum anderen derjenige der gesellschaftlichen Funktionsbereiche.622 Beide werden mit dem Begriff der Rationalitätsvielfalt beschrieben. Letztere werden an den Güterarten, erstere an den Daseinsgewissheiten festgemacht. Für Herms ist es entscheidend, dass diese Rationalitäten in ihrer Differenz betrachtet werden.623 Ob physische oder soziale Güter, ob wirtschaftlicher oder politischer Funktionsbereich, ob christliche oder islamische Weltanschauung, sie werden in der hermsschen Argumentation als mit eigenständiger Rationalität ausgestattet beschrieben. Bei dieser Vielfalt der Rationalitäten stellt sich mit Nachdruck die Frage nach ihrem Einheitsmoment und ihren Übergangsmomenten – also nach der Geschlossenheit systemischer und kultureller Rationalitätsformen.624 Dass Herms einen Begriff der Einheit der Vernunft voraussetzt, ist mehrfach belegt worden; dass ihm eine geringere Bedeutung zu Gunsten der perspektivierten und somit geschlossenen Rationalitätsformen zugeschrieben wird, ist wiederholt problematisiert worden (vgl. III.1.D.iii). Für ihn bleibt die Vernunft an die jeweilige Selbsterschlossenheit gebunden. Steht Herms mit dieser Skepsis gegenüber der Leistungskraft der Vernunft und der Betonung pluraler Rationalitäten postmodernen Relativierungen nahe? Die in den letzten Jahrzehnten einsetzende Kritik an der Vernunft hat keinen Vorwurf ausgelassen; diese wird als „herrscherlich, unterdrückend und zerstörerisch oder als schlicht eurozentrisch oder bloß belanglos kritisiert“.625 Zugleich werden die vielschichtigen Rationalitäten hervorgehoben, die sich an den ausdifferenzierten, sich zum Teil ausschließenden und zum Teil ergänzenden wissenschaftlichen Paradigmata anheften. Aber passt die hermssche Konzeption tatsächlich in diese Theorielandschaft? Bei näherem Hinsehen sind entscheidende Differenzen zu erkennen. So ist Herms nach wie vor auf eine einheitliche Wirklichkeit bezogen, deren Ganzheitsbezug er für Theorie und Praxis dezidiert einfordert.626 Dennoch stellt sich an seine Position dieselbe Rückfrage, 622 

Herms, Globalisierung als Herausforderung, in: David, Theologie, 297 f. Herms, Rationalitätskonzept, in: WM, 52. 624  Vgl. den bereits erwähnten, hervorragenden Aufsatz von Knoblauch, Kultur, 21–42, zum Problem der geschlossenen Rationalitätsformen. Er versteht den systemischen Zugang zu Fremden weniger als ein Problem der ‚Alterität‘ und mehr als eines der ‚Alienität‘, weil der Fremde in der Verschlossenheit seiner Rationalität als nicht-verstehbar angesehen wird. Bei Herms ist solch eine Tendenz zu erkennen. 625  Welsch, Vernunft und Übergang, 139. 626  Insofern lässt er sich nicht unter postmoderner, relativistischer oder skeptizistischer Kritik subsumieren (so breit gefächert diese auch sein mag), noch ist seine Betonung der aus623 

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wie sie Wolfgang Welsch, Herbert Schnädelbach, Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas an Vernunft-Skeptiker gestellt haben: Wie lassen sich verschiedene Rationalitäten bestimmen, wenn nicht ein Ganzheitskriterium besteht, wenn kein Begriff ihrer Kompossibilität herausgearbeitet wird?627 Das Konzept der transversalen Vernunft von Wolfgang Welsch liefert einen aufschlussreichen Impuls: Im Anschluss an die Debatten um die Postmoderne (erschienen ist das Werk 1996) setzt Welsch sich intensiv mit der zeitgenössischen Vernunftkritik auseinander.628 Weiterführend ist diese Theorie vor allem angesichts ihres Versuchs, plurale Rationalitäten mit einer einheitlichen formalen Basis in Einklang zu bringen. Zunächst stellt Welsch fest, dass das „Feld“ der Rationalitäten „von seiner Mikro- bis zu einer Makrostruktur zu einer hochkomplexen Unordentlichkeit geworden“ ist.629 Vernunft aber sei anders als Rationalität nicht auf Gegenstände bezogen, sondern auf die Formen der Rationalität:630 „Reason cannot take on rationality‘s responsibility to make assertions about objects and to constitute domains. Conversely, rationality cannot fulfil the responsibility of reason to clarify the relations between rationalities.“631 Wie also bestimmt Welsch die Leistung, die Potenz der Vernunft? Sie besteht in der Fähigkeit, Übergänge zu bilden; das ist ihre „zentrale Tätigkeit“ und „Domäne“ – deshalb eine „transversale Vernunft“.632 Entscheidend für ihn ist, dass diese Vernunft weder eine Meta-Ordnung erlassen kann, selbst keinen archimedischen Punkt besitzt und keine Rolle der ‚Hyper-Rationalität‘ einnimmt. Einerseits ist die Klärung zu begrüßen, die Welsch in der Bestimmung der Übergänge zwischen Rationalitäten als Aufgabe der Vernunft herausarbeitet: Ihre „Tätigkeiten vollziehen sich in Übergängen“;633 sie ist keine statische Größe, sondern dynamisch; sie stellt sich der Vielfalt, versucht diese nicht aufdifferenzierten Rationalitäten eine Angleichung an systemtheoretische Positionen, vgl. die Auseinandersetzung in III.1.C.i. 627  Vgl. Apel, Vernunftfunktion, 17–42; Kettner, Einleitung, 7–16; Schnädelbach, Vernunft. 628  Welsch, Vernunft, beginnt im ersten von zwei Hauptteilen kurz mit Hegel (54–60), Husserl (61–70) und Ritter (71–73), setzt sich dann ausführlich mit der „Dialektik der Aufklärung“ (74–98), Habermas (99–140), Heidegger (141–164), Foucault (165–187), Glucksmann (188–193), Vattimo (194–210), Rorty (211–244), Derrida (245–302), Lyotard (303–354), Deleuze (355–371), Goodman (372–395) und Wittgenstein (396–426) auseinander. Im zweiten Teil wird im Argumentationsverlauf im Wesentlichen auf Kant, Nietzsche und Wittgenstein Bezug genommen. 629  Welsch, Vernunft und Übergang, 146. 630  Welsch bezieht sich, wie bereits gezeigt (II.2.C), auf Kant: „Die Vernunft bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand“ (KrV A 643, in: aaO. 147). 631  Welsch, Rationality, 21. 632  Welsch, Vernunft, 761. 633  Welsch, Vernunft und Übergang, 153.

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zulösen oder endgültige, universale Lösungen zu bestimmen. Vernunft wird deshalb in allen Transaktionen von einer Rationalität in die andere in Anspruch genommen. Welsch ist somit zuzustimmen, wenn er konstatiert: Werden Vergleiche angestellt oder Übergänge vollzogen, wird nichts anderes als das Vermögen der Vernunft in Anspruch genommen.634 Andererseits ist für Welsch entscheidend, dass die Vernunft durch ihre Reinheit (als „zentrales Prädikat“) charakterisiert wird, um als Vermögen Eigentümlichkeit, Inhaltlichkeit und Partikularität zu überschreiten.635 Aber mit dieser Definition besteht das Missverständnis, dass die Vernunft ein neutrales Urteilsvermögen über alle partikulare Bindungen hinweg ermöglicht. Jedenfalls ist die reine, neutrale Vernunft aus der Theorieperspektive, die sich an Schleier­ macher anschließt, ein problematisches Konstrukt. Vielmehr wird sich die Vernunft durch Übergänge zwischen Partikularem und Allgemeinem, zwischen Einzeleinsichten und Ganzheitsansprüchen auszeichnen müssen. Ein anderer Kritikpunkt, der an Welsch zu richten ist, betrifft den metaphysischen Status der Vernunft. Woher bezieht die Vernunft ihre Übergangsfähigkeit? Woraus begründet sie ihren Anspruch auf Einheit? Diese Fragen bleiben letztlich bei ihm unbeantwortet.636 Seiner Spur, nämlich der Beachtung der Übergänge zwischen den Rationalitäten, gilt es dennoch zu folgen, indem nach den hermeneutischen Übergängen zu fragen ist. In dieser Arbeit sind zwei Gebrauchsweisen der Vernunft als Übergangsmöglichkeiten im Blick: die bei Habermas ausgearbeitete ‚kommunikative Vernunft‘ und nun die ‚interpretative Vernunft‘.637 ii. Einheit in der Vielfalt. Die interpretative Vernunft Um die hermssche Position zu der Frage nach der Möglichkeit gemeinsamen Verstehens und somit nach der Einheit der Vernunft noch einmal aufzugreifen, ist der Rückgriff auf einen seiner neueren Texte, Die Begründung des Naturrechts, hilfreich.638 Die Frage nach dem natürlichen Recht fällt zusammen mit dem Problem der Verstehensmöglichkeiten eines solchen Rechts – Hermeneutik, Erkenntnistheorie und Ethik greifen ineinander. Herms beginnt mit der Klarstellung, dass er das Thema aus theologischer Sicht bearbeitet. Dieser Ausgangspunkt ist für ihn deshalb entscheidend, weil damit nicht nur verdeutlicht wird, dass er als Theologe das Thema perspektivisch betrachtet und begründet, sondern auch, dass dies gleichermaßen für andere wissenschaftliche Zugänge gilt – es gibt keinen voraussetzungslosen Blick auf die Phänomene. Dennoch haben es alle Wissenschaftler, in diesem Fall Juristen und 634 

Welsch, Rationality, 30. Welsch, Vernunft und Übergang, 151. 636  Vgl. Meder, Vernunft, 215; U. Barth, Vernunft II, 762. 637 Die eine Vernunft hat verschiedene Verwendungsweisen, für diese Einsicht vgl. aaO. 760 ff. 638  Herms, Begründung, in: Härle, Rechte, 262–321. Seitenzahlen im Folgenden im Text. 635 

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III. Eilert Herms. Widerstreit der Weltanschauungen

Theologen, mit derselben Wirklichkeit zu tun, nämlich der „Wirklichkeit des Menschseins selbst“ (267). Daraufhin fragt Herms, wie die christliche Perspektive beschaffen ist. Der christliche Glaube versteht sich selbst als kontingent und unverfügbar gegeben und rechnet deshalb damit, dass es viele andere Perspektiven gibt, die durch divergente Erfahrungen geprägt und geformt worden sind. Koexistenz kann demzufolge nur gelingen, wenn die Einheit der Wirklichkeit, die Differenz der Perspektiven und das unverfügbare Zustandekommen der verschiedenen Perspektiven auf die eine Wirklichkeit anerkannt werden.639 Im nächsten Schritt wird das Phänomen des Rechts auf dem Hintergrund dieser Prämissen gelingender Koexistenz eingeführt. ‚Recht‘ stellt die Funktionen der Erwartungssicherheit und der Gewaltminimierung im äußeren Umgang aller Gesellschaftsmitglieder durch ein Institutionengefüge sicher, dessen Kompetenzen von der Setzung bis zur Exekution des Rechts aufgeteilt sind. Herms argumentiert, dass das Recht von Christen nicht nur als Ordnung der vorchristlichen Menschheit erduldet werden muss, sondern dass eine gemeinsame Ordnung aller Menschen gepflegt werden muss, die für alle äußere Sicherheit gewährleistet (279). Neben diesem Funktionssinn ist das grundlegende Problem der Rechtsordnung zu thematisieren: Das Recht kann nur durch einen Gewaltmonopolisten mit überlegenen Zwangsmitteln durchgesetzt werden, aber zugleich muss sich dieser Monopolist in Freiheit an die Regel binden, dass er die Zwangsmittel nur zur Unterhaltung der „allgemeinen Rechtsordnung für alle und zu deren Gunsten“ verwendet (281). Woran orientiert sich diese Ordnung, um nicht willkürlich und/oder totalitär zu sein? Das Ordnungskriterium kann nach Herms nicht aus einer bestimmten Ethosgestalt stammen, weil es dann nicht zu „einer gleichberechtigten Koexistenz unterschiedlicher Ethosgestalten führen würde“ (284; Hervorhebung im Original). Wenn eine materiale Grundauffassung einer Weltanschauung die Rechtsordnung aller bestimmt, ist kein egalitäres Zusammenleben möglich. Herms führt an, dass aus dieser „Schwierigkeit“ nur ein Weg heraus führt (285). Alle Weltanschauungen müssten eine Grundeinsicht anerkennen: Sie besteht in der Differenz zwischen einer perspektivisch erschlossenen Lebens­ orientierung auf der einen und der Einheit der Wirklichkeit auf der anderen Seite. Eine Rechtsordnung ist nach Herms „genau und nur dann nicht totalitär“, wenn diese Unterscheidung als Fundament aller Weltanschauungen anerkannt wird (ebd.). Diese universale Einsicht sei möglich, weil sie einen Sachverhalt betreffe, der allen Verständnissen der Welt vorgegeben sei. In diesen Zusammen639  Entscheidend ist, dass das Zusammenleben aus „Motiven, die jeweils im Inhalt der eigenen unverkürzten Daseinsüberzeugung verankert sind“, begründet wird und nicht „lediglich von außen, durch aktuell unüberwindliche Hindernisse zum gewaltfreien Umgang mit einander veranlasst [wird]“ (aaO, 273).

III.3. Der hermssche Beitrag zum sozialphilosophischen Diskurs

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hang loziert Herms einen weiteren Begriff, nämlich den der Menschenwürde. Die Anerkennung des vorgegebenen Charakters der Einheit der Wirklichkeit ist nämlich zugleich die Anerkennung der dem Menschsein „eigenen Würde“, die von Herms synonym verwendet wird mit dem für den Menschen verpflichtenden Anspruch, angemessen verstanden zu werden. Es wird kaum überraschen, dass Herms ein formales Prinzip, welches universale Reichweite beansprucht, aus inhaltlichen Überzeugungen entwickelt. Wie bereits diskutiert (III.1.C.ii), liegt im hermsschen Duktus hier eine Spannung vor, die seine gesamte Arbeit durchzieht: Formale Prinzipien können demnach nur aus den eigenen Grundüberzeugungen entwickelt werden.640 Die Spannung dieser Position wird nun überaus deutlich. Im hier dargelegten Argumentationsgang sieht er zwar ein, dass das formale Kriterium der Rechtmäßigkeit gemeinsamer Ordnung nicht aus einer materialen Tradition, sondern von allen beteiligten Ethosgestalten entwickelt werden muss. Aber seine Theorie bietet ihm keine andere Möglichkeit, als seine christliche Einsicht in die Wirklichkeit allen anderen Kulturen zuzumuten – auch wenn diese eine alternative Auffassung der Wirklichkeit besitzen (285). Herms lehnt zwar grundsätzlich eine deontologische Argumentation ab, führt sie aber hier implizit ein, indem er nun eine systematische Ebene eröffnet, in der verschiedene Perspektiven und Ansprüche vereinbar sein sollen. „Eine Rechtsordnung ist nur dann nicht totalitär, wenn sie als das Kriterium der inhaltlichen Bestimmung ihrer Regeln dasjenige anerkennt, was in allen möglichen Erschlossenheitslagen erschlossen und