De Gruyter Book Archive (1933-1945) This title from the De Gruyter Book Archive has been digitized in order to make it
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German Pages 381 [384] Year 1943
Table of contents :
Vorwort
INHALT
I. Einführung
II. Siegeszug der deutschen Pädagogik
A. Große Pädagogen
B. Auslandseinfluss des deutschen Schulwesens
III. Ausblick
IV. Anmerkungen
FRIEDRICH S C H N E I D E R G E L T U N G U N D E I N F L U S S DER D E U T S C H E N PÄDAGOGIK IM AUSLAND
GELTUNG UND EINFLUSS DER DEUTSCHEN PÄDAGOGIK IM AUSLAND VON
FRIEDRICH S C H N E I D E R
MÜNCHEN UND BERLIN 1943
VERLAG VON R. OLDENBOURG
Diese Sdirift wurde veröffentlicht mit Unterstützung des Goethe-Instituts der Deutschen Akademie
Copr. 1943 R. Oldenbourg, München-Berlin Druck und Einband R. Oldenbourg, Mönchen Printed in Germany
"Meiner lieben
7rau
VORWORT Nach einer Zeit des Niederganges im Jahrhundert des Dreißigjährigen Krieges und den ihr folgenden Jahrzehnten der Überfremdung nahm die deutsche Kultur einen gewaltigen Aufschwung, der sie zunächst den Vorsprung anderer Nationen einholen und dann diese auf vielen Gebieten überflügeln ließ. Deutsche Philosophie und Dichtung, deutsche Wissenschaft und Kunst, deutsch^ Technik und Industrie, deutsches Soldatentum und deutsches Bildungsdenken und Schulwesen erwarben allmählich ein hohes Ansehen nicht nur in Europa, sondern auch in den anderen Erdteilen, wirkten befruchtend auf die kulturelle Entwicklung vieler Länder und boten häufig das Vorbild für ausländisches kulturelles Schaffen. Der Deutsche selbst, mit dem für ihn charakteristischen Drang in die Fremde und einer gegen sich selbst nicht selten ungerechten und allzu großen Bereitwilligkeit, das Gute des Auslandes anzuerkennen und seine eigene Kultur zu unterschätzen, kam erst spät und oft nur unvollkommen zur Erkenntnis dieses seines kulturellen Vorranges. Das gilt insbesondere für den pädagogischen Bezirk. Während das Ausland Deutschland schon längst als das klassische Land der Schulen erkannt hatte und seine Pädagogen in großer Zahl zum Studium des Erziehungswesens dorthin pilgerten und als begeisterte Herolde deutscher Pädagogik in ihr Vaterland zurückkehrten, während die fremden Regierungen und die ausländischen Erzieher und Lehrer sich die deutschen Schulen und Universitäten bei der äußeren und inneren Gestaltung ihres Schulwesens zum Muster und Vorbild nahmen und die deutsche pädagogische Literatur sich die Welt eroberte, war der Deutsche sich dieser Hegemonie seines Erziehungsdenkens und seiner Erziehungswirklichkeit und der von beiden über die Grenzen seines Vaterlandes strahlenden Kräfte nicht oder nur ungenügend bewußt. Das gilt nicht nur für den pädagogischen Laien, sondern auch für den Fachmann. Die erziehungswissenschaftliche Forschung beschäftigte sich in Deutschland viel mehr mit den ausländischen Einflüssen auf die Entwicklung der deutschen Pädagogik, als mit dem deutschen Anteil an der Gestalt des pädagogischen Denkens und des Schulwesens anderer Völker. Um dies bestätigt zu finden, braucht man nur Einblick in die großen Darstellungen der Geschichte der Pädagogik von deutschen Autoren zu nehmen.
VII
Das vorliegende Buch will den Anfang mit der Ausfüllung dieser Lücke machen. Auf der Grundlage eines in einer Reihe von Jahren erarbeiteten reichen Quellenmaterials will es zeigen, wie die Klassiker der deutschen Pädagogik und das deutsche Schulwesen auf die pädagogische Entwicklung des Auslandes so stark eingewirkt haben, daß es keine Übertreibung ist, wenn man von einer deutschen Führung und dem „Siegeszug der deutschen Pädagogik durch die ganze Kulturwelt" spricht. Außer dieser wissenschaftlichen hat das Budi aber auch eine erzieherische Zielsetzung. Es will in seinen deutschen Lesern dadurch, daß es sie zur anschaulichen Erkenntnis dieser Weltgeltung der deutschen Pädagogik und zum Bewußtsein der bedeutsamen Mitarbeit der Deutschen am Erziehungsdenken der Menschheit führt, das pädagogische und das nationale Selbstbewußtsein, das Vertrauen zur deutschen Pädagogik und die Liebe zum deutschen Volkstum stärken. Der Verfasser hofft, daß sein Buch die Anregung zu weiteren Untersuchungen des gleichen Problems geben wird. An Aufgaben dafür mangelt es nidit. Denn im folgenden ist nur die Auslandswirkung einiger Klassiker der deutschen Pädagogik und der wichtigsten Schularten, begrenzt auf einige wenige Kulturstaaten, dargestellt. Es kann nicht nur die vorliegende Untersuchung vertieft und durch Einbeziehung hier nicht berücksichtigter Länder erweitert werden, sondern es kann auch noch die Auslandswirkung anderer deutscher Pädagogen und anderer Schulen und Bildungseinrichtungen bis zur unmittelbaren Gegenwart hin erforscht werden. Auch kann das diesem Buche zugrunde liegende Problem statt, wie es hier geschehen, von Deutschland, von anderen Ländern aus gesehen in Angriff genommen ¿nd monographisch dargestellt werden, wie es z. B. Franz Kemeny für Ungarn getan hat. Köln, den 1. V. 1943. P r o f e s s o r Dr. F r i e d r i c h S c h n e i d e r .
VIII
INHALT Seite
I. E i n f ü h r u n g
1-18
Vorbemerkung 1 — Wirkungen des Studiums der Auslandspädagogik: Kenntnis der Pädagogik des Auslandes, vertiefte Einsicht in das Erziehungsdenken und die Erziehungswirklidikeit des Vaterlandes, die Erkenntnis, daß die Pädagogik jedes Landes ihr eigenes Gesicht hat 1, 2 — Kurze Veranschaulichung der nationalen Eigenart der Pädagogik in Beispielen, Nationale Unterschiede: in der pädagogischen Literatur der Völker 2 — in der Auffassung vom Wissenschaftscharakter der Pädagogik (in USA., in Deutschland, in Frankreich und der Schweiz) 2, 3 — in den Erziehungs- und Bildungsidealen 3 — in den pädagogischen Arbeitsgebieten und den bevorzugten Arbeitsmethoden 3 — in der Lösung gleicher pädagogischer Probleme (Carleton Washburne, Remakers of Mankind) 4, 5 — in der historischen Entwicklung der Volks- und der Höheren Schule 6 — im Aufbau der Schulorganisation (Zentralisation und Dezentralisation der Schulverwaltung) 7, 8 — in vielen anderen Einzelheiten des pädagogischen Bezirks 8 — in der Charaktererziehung 8, 9 — in den verschiedenen Lehrerarten 9 — prozentualer Anteil der beiden Geschlechter an der Gesamtheit der Lehrkräfte 9 — in der Lehrerbildung in Deutschland, Frankreich, USA. 9 — Die Pädagogik der Völker als eigenartig strukturiertes Ganzes 9, 10 — Neben den Unterschieden auch Ubereinstimmungen 10 — Deren Ursachen: das Wesen der Erziehung, das gemeinmenschliche Wesen und gegenseitige Angleichung 11 — Ursachen der völkischen Eigenart der Pädagogik 11, 12 — Der Auslandseinfluß der Pädagogik 12 — dessen drei Arten nach dem formalen Ablauf 12 — Das Problem der kulturellen Autarkie im allgemeinen und der pädagogischen im besonderen 13, 14 — Das Beispiel Chinas 15 — Periodische Versuche des Abschlusses gegen ausländische Kultureinflüsse und ihre Ursachen 15 — Die Stärke des Auslandseinflusses der Pädagogik 15, 16 — besonders in der Nachkriegszeit (neueuropäische und Welterziehungsbewegung) 16 — Art seiner Veranschaulichung 16 — Siegeszug der deutschen Pädagogik durch die Welt 17 — seine Geschichte 17 — Der Ausdrude „Deutsche Pädagogik" ist doppelsinnig 17, 18.
II. S i e g e s z u g der d e u t s c h e n P ä d a g o g i k A. Große Pädagogen 1. R a t i c h i u s u n d C o m e n i u s Der pädagogische Realismus ein Teil einer europäischen Geistesbewegung mit England als Ausgangsland 19 — Sein Hervorgehen aus pädagogischem Qnellbezirk in Deutschland 19, 20 — Ratichius und seine
19—323 19—167 19—42
IX
Seite Auslandswirkung 20 — Seine Bedeutung. Begründer der Didaktik 20, 21 — Reformator des Sprachunterrichts und Anwalt der Muttersprache 21 — Nationale Begründung der Reform des Sprachunterrichts 22 — Forderung der deutschen Schule 22 — Die Begrenztheit der Wirkung der Ratichianischen Pädagogik in Deutschland 22, 23 — und ihre Ursachen: die geringe literarische Fruchtbarkeit des Ratichius, die Unausgeglichenheit seines Charakters 23 — Auslandseinfluß des Ratichins: sein erster praktischer Versuch 23, 24 — Einfluß in Holland und Dänemark 24 — seine sogenannten Collaboranten 24 — der ausländische Widerhall seiner Pädagogik von Ratichius begrüßt und begünstigt 24 — Ratichius und Gustav Adolf von Schweden und Oxenstierna 24 — Reise nach Holland 25 — Seine angebliche Reise nach England 25 — Seine Reise nach der Schweiz 25, 26 — Auslandsverbreitung seiner Werke in der Originalsprache oder in Übersetzungen 26 — Abhängigkeit des Comenius von Ratichius 26, 27 — Warum gehört der Tscheche Comenius der deutschen Pädagogik an? 27, 28 — Er wuchs im deutschen Kulturraum heran; Deutsche (Alstedius, Piscator, Parcus) waren seine Lehrer 28, 29 — Er war abhängig von deutschen Pädagogen (Elias Bodinus und Johann Valentin Andreae) 30 — Sein Verhältnis zur deutschen Sprache und Literatur 31 — Auslandswirkung durch seine Werke und ihre Obersetzungen: die Didaktik 31 — die Janua 31, 32 — den Orbis pictus 32 — Verbreitung seiner Ideen durch Reisen: nach England 32, 33, 34 — Die Einwirkung comenianischer Ideen auf Hartlib, John Dury, William Petty, Charles Hoole und John Milton 34, 35 — Deutsche als Vermittler comenianischer Pädagogik nach England (Georg Ritschel, Cyprian Kinner) 35, 36 — Uber England nach der Schweiz (J. F. Stockar, St. Spleiß, Pell und Dury) 36, 37 — und nach Frankreich (Mersenna, Hübner) 36, 37 — Comenius in Schweden 37 — und in Ungarn (Gründung der Schule in Patak) und Herausgabe neuer pädagogischer Schriften 38 — Begrenztheit der Wirkung des Comenius und ihre Ursachen 38, 39 — Comenius-Renaissance in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts 39 — Anregende Wirkung der Jahrhundertgedenkfeiern (Comeniusstiftung und Comeniusgesellschaft) 39 — Neue Comenius-Literatur in Deutschland (Krause, von Raumer, Kvacala) 39, 40 — in England 40 — in USA. 40, 41 — in Frankreich 41 — und in einigen kleineren Staaten 41 — Durch Comenius wurde Deutschland ein Glied im internationalen pädagogischen Kreislauf (Veranschaulichung an der Forderung der Naturgemäßheit) 42. 2. D e r P i e t i s m u s u n d A u g u s t H e r m a n n F r a n c k e . . . 43—5J Begründung und Wesen des Pietismus 43 — Die Herrnhuter 43 — Francke, der Begründer der pietistischen Pädagogik 44 — Die Frandceschen Stiftungen 44 — Der Realismus des Pietismus 44 — Die Vermittler des Auslandseinflusses 44 — Die Bibelbewegung (Schriftlesung, fremdsprachige Übersetzung der Hl. Schrift, die Gansteinsdie Bibelanstalt) 44, 45 — Das Denkmal Franckes 45 — Die Missionsbewegung 45 — Das dänische Missionsfeld 45 — Englische Freunde der Missionsbewegung 46 — Die Pietas Hallensis 46, 47 — Englische Unterstützung (Böhme, das Englische Haus, der Englische Tisch) 47, 48 — Einfluß auf das englische Schul- und Bildungswesen (Academies, das Nützlichkeitsprinzip, Lehrerbildung) 48 — Lenkung des Missionsinteresses nach Osten (Novissima Sinica, China und Rußland) 48 —
Pädagogische Ausweitung der Missionsbewegung nadi USA. (Cotton Mather, Franckes Schüler als Lehrer) 49, 50 — Reise nadi Holland 50 — Ausländer in Halle (Salomon Negri, Seminarium Nationum) 51 — Vermittlertätigkeit der Schüler, Tätigkeit der Informatores Schaarsdunidt, Schräder, Adler 51, 52 — Mannigfaltigkeit des pietistischen Einflusses in Skandinavien, Rußland (Kapitän C. Fr. von Wreck) und Schweden (dortige Kritik und Gegnerschaft) 52, 53.
Seite
3» B a s e d o w u n d der P h i l a n t h r o p i n i s m u s 54—70 Die Aufklärung, ihr kosmopolitischer Charakter und ihre nationale Eigenart 54 — Repräsentanten der Aufklärungspädagogik: John Locke und David Williams, Jean Jacques Rousseau, Joh. Bernhard Basedow 54 — Des Letzteren Abhängigkeit von Rousseau und La Chalotais 55 — Der kosmopolitische Zug der Pädagogik Basedows 56 — Kanäle seines Auslandseinflusses: Reisen 56 — Briefe 56, 57 — Übersetzungen seiner Werke 57 — Das Dessauer Philanthropin 57 — Einwirkung von Übersetzungen auf Frankreich und ihre Kritik 58 — Der Philanthropinismus im französischen Elsaß (das Philanthropin in Markirch, die ficole militaire in Colmar, Joh. Friedrich Oberlin) 59 — Philanthropinistische Reformen im Elsaß (neue Schulbücher, methode directe, Lautiermethode, erstes französisches Lehrerseminar) 59, 60 — Lateinische Übersetzungen 60 — Einwirkung auf die Schweiz (Isaak Iselin und Lavaters Eintreten für Basedow) 60, 61 — Basedow und Dänemark 62 — Basedow und Rußland (Interesse Katharina II., Basedows Einfluß auf Petersburger Schulen) 63 — Einwirkung auf Holland und Österreich 63, 64 — Basedows Mitarbeiter Christian Heinrich Wolke 64 — Dessen Werbereise nach Skandinavien und Rußland 64, 65 — Salzmanns Auslandseinfluß und der seiner Lehrer Jakob Glatz, Andreas Solka und Friedrich Jakob 65, 66 — Auslandswirkung von Campe und Gutsmuths (des letzteren Bedeutung für den Grographie- und den Turnunterricht und die Übersetzung seiner Schriften) 66, 67 — Christian Ludwig Lenz und sein Reisebericht 68 — Gutsmuths Bibliothek der pädagogischen Literatur 69 — Auslandsverbreitung der Grundgedanken des Philanthropinismus 70. 4. F r i e d r i c h E b e r h a r d von Rochow
71—77
Rochow, der preußische Pestalozzi 71 — Sein Verhältnis zur Aufklärung und Pestalozzi 71 — Wege seiner Auslandswirkung 71 — Ausländische Besucher seiner Schulen 71 — Rochow und Dänemark 72 — Seine Bedeutung für die preußische und dänische Lehrerbildung 73 — Rochow und Holland 73 — Rochow und Frankreich (Pajou de Moncets, Mirabeau) 73, 74 — Der Kinderfrund (Inhalt, Bedeutung und Verbreitung) 75 — in Frankreich und Elsaß 76 — Die polnische und dänische Ausgabe 76 — Bedeutung der deutschen Ausgabe für Österreich und Ungarn 76 — Kurze Zusammenfassung von Rochows Auslandswirkung 76, 77. 5. J o h a n n H e i n r i c h P e s t a l o z z i 78—104 Pestalozzi und Rousseau 78 — Übereinstimmungen und Unterschiede 79 — Pestalozzi und Frankreich (französische Übersetzung von Lienhard und Gertrud) 79 — Verleihung des französischen Bürgerrechts und ihre Wirkung 80 — Pestalozzi besucht Paris,- Enttäuschung seiner
XI
Seite Erwartungen 81 — Einzelne Herolde Pestalozzis in Frankreich und ihre Bemühungen: Joseph Neef 81 — Maine de Biran 81 — Barraud, Stapfer 81 — Maine de Biran u n d Jullien als Besucher Pestalozzis 82 — Charles de Villers und Frau von Staël 82, 83 — Wirkungen dieser Hinweise auf Pestalozzi; weitere französische Besucher Pestalozzis 83, 84 — Madame Necker de Saussure und Madame Pape-Carpentier 84 — Französische Pestalozzi-Literatur (J. Guillaume, Dan. Alex. Chavannes, G. M . Raymond, J. Paroz, Roger de Guimps, Rapet, Augustin Cochin, J. P. Pompée, Comélie Chavannes, Rud. Rey, F. Hérisson, D e Hovre, Albert Malch, Jules Laurent) 84, 85, 86 — Pestalozzi-Bibliothek im Musée de Pédagogie in Paris 86 — Der Historiker Midielet huldigt Pestalozzi 86 — Einfluß der Persönlichkeit Pestalozzis 86 — Pestalozzis Einfluß auf die französische Familienerziehung 86 — und auf die französische Volksschule und die französische Lehrerbildung 87 — P e s t a l o z z i u n d E n g l a n d 8 7 f f . — Englische Besucher bei Pestalozzi: Richard Lovell, Andrew Bell, der Ire Synge, ferner Brougham, Robert Owen, Sir James Kay-Shuttleworth, Charles Mayo, James Pierpoint Greaves 87 — Geringer Erfolg der W e r b u n g dieser Männer f ü r Pestalozzi 88 — Dessen Ursachen 88 — Pestalozzis Einwirkung auf die englische pädagogische Praxis 88, 89 — S. Wilderspins Abhängigkeit von Pestalozzi 89 — Vier Übereinstimmungen zwischen beiden 89 — Nachweis der Abhängigkeit Wilderspins 89 — Herbert Spencer und Pestalozzi 90 — P e s t a l o z z i u n d U S A . 90ff. — Vermittler der Pestalozzi-Pädagogik nach USA.: Frau von Staël, Greaves, Joseph Neef, William Maclure 90 — Neefs Darstellung der Pädagogik Pestalozzis 91 — Seine Pestalozzi-Schule in Philadelphia und ihre Geschichte 91, 92 — Maclures Arbeit für Pestalozzi in Spanien und USA. 92 — Neef als sein Mitarbeiter 92 — Geringer Erfolg seiner W e r b u n g und dessen Ursachen 92 — Verbreitung der PestalozziPädagogik in Neuengland (William Russell, James Carter, Charles Brooks, Will Woodbridge) 93 — A. Bronson Aleott, Lovell Mason (Musikpädagoge) und Henry Bamard als Vertreter der PestalozziPädagogik ' 94 — Zwei amerikanische Zentren der PestalozziPädagogik: 1. Oswego (Oswegobewegung: Edward A. Sheldon, Hauptprihzipien, M a r g . Jones und Hermann Krüsi jr.) 95, 96 — Praktische Verwirklichung pestalozzianischer Ideen 96 — 2. St. Louis (Will Harris) 97 — Jahresberichte als Kanäle der deutschen Pädagogik 97 — P e s t a l o z z i s P ä d a g o g i k i n H o l l a n d (Van Dapperen, Petrus de Raadt, P. J. Prinsen, R. G. Rijkens und Inspektor Visser treten f ü r Pestalozzi ein 98 — Pestalozzi in Holland Eideshelfer gegen religionsfeindliche Strömungen 98, 99 — Werbende W i r k u n g der PestalozziGedenkfeiern 99 — P e s t a l o z z i u n d I t a l i e n 9 9 f . — M u r a t und der Großherzog von Toskana als Gönner Pestalozzis 99 — Franz Georg Hoffmann und seine Pestalozzi-Schule in Neapel 100 — Begünstigende Momente und Hindernisse f ü r die Pestalozzi-Pädagogik in Italien 100 — Der Geist Pestalozzis findet langsam Eingang in die Volksschule 101 — P e s t a l o z z i - P ä d a g o g i k i n S p a n i e n (Schule in Tarragona, Lehrerseminar in Santander, Anstalt in Madrid) 101 — Symptome des hohen Ansehens der Pestalozzi-Pädagogik in Spanien 101, 102 — P e s t a l o z z i u n d U n g a r n (Stephan Ludwig Roth, der sächsische Pestalozzi, und Gräfin Maria Theresia Brunsvidc als Ver-
Seite mittler Pestalozzis) 102, 103 — P e s t a l o z z i u n d J u g o s l a w i e n 103 —, D ä n e m a r k (Strom und Torlitz) 103 — und J a p a n (Pestalozzirenaissance ab 1920) 104 — Erklärung der japanischen Pestalozzi-Begeisterung durch Osaka, Antwort von H. Stettbacher 104. 6. A u g u s t
Wilhelm
Friedrich
Fröbel
und
der
Kinder-
garten 105—Hl Wesen und Stärke von Fröbels Auslandsbedeutung 105 — Der deutsche Charakter seiner Pädagogik (sein Nachweis durch Jos. Voß und Peter Petersen) 105, 106, 107 — Entsprach die Auslandsverbreitung seiner Pädagogik Fröbels Wunsch und Willen? 106, 107 — Gegenstimmen und ihre Widerlegung 107 — Die Notwendigkeit von Änderungen beim Export pädagogischer Ideen 107, 108 — Fälschung der reinen Fröbellehre durch ihre Vermittlerin Baronin .von MarenholtzBülow 108, 109 — Fröbels Beziehung zu Pestalozzi HO, 111 — und Rousseau 111 — F r ö b e l s E i n f l u ß a u f d i e S c h w e i z . Gründung einer Erziehungsanstalt in Wartensee 112 — Fröbels Burgdorfer Zeit 113 — Rüdekehr nach Deutschland. Aufrechterhaltung der Verbindung mit seinen Schweizer Freunden 113 — Bereitwillige Aufnahme des Kindergartens in der Schweiz 113 — Seine Vermittler: Elisabeth von Calcar, Frau von Marenholtz-Bülow, Fräulein Breymann, Adele von Portugal 113, 114 — Zeugnis der Freunde Fröbels über die Schweizer Erfolge 114 — E i n g a n g d e r F r ö b e l - P ä d a g o g i k i n H o l l a n d , Tätigkeit E. von Calcars dortselbst 114, 115 — Widerstände und Vorurteile 115 — E i n g a n g i n B e l g i e n , Werbearbeit der Madame Guillaume, der Baronin und Henriette Breymanns 115 — Entstehung von Kindergärten, seine belgischen Förderer 115, 116 — D i e B a r o n i n w i r b t i n F r a n k r e i c h 116 — Rousseau, Fourier, der Pfarrer Oberlin und Luise Scheppeler als Wegbahner Fröbels in Frankreich 116, 117 — Französische Förderer, darunter der Historiker Midielet 117, 118 — Erfolge in Frankreich: Gründung von Kindergärten und der Union Froebélienne; französische Literatur 118 — D i e F r ö b e l - P ä d a g o g i k i n E n g l a n d 119 — Ihre Wegbahner: William Petty, Robert Owen, Samuel Wilderspin 119 — Wilderspin auch Wegbahner für Fröbel in Deutschland 119, 120 — Der Baronin Werbung in England 120 — Didcens tritt für Fröbel ein 120 — Erklärung der Erfolge der Baronin im Ausland 121 — Eleonore Heerwart, Adele von Portugal und Henriette Schrader-Breymann als Werberinnen für die Fröbel-Pädagogik in England 121 — Gründung der Fröbel-Society und von Ausbildungsstätten für Kindergärtnerinnen 121 — Die Fröbel-Lehre in der englischen Elementarschulerziehung 121 — Das Landeserziehungsheim in Watzum und das Berliner Pestalozzi-Fröbel-Haus und England 122 — D i e K i n d e r g a r t e n i d e e i n U S A . 122 — Erklärung ihres dortigen Erfolges 122 — Die sogenannten Achtundvierziger als Vermittler 122 — Apostel Fröbels in U S A . : Frau Schurz, Johann Kraus, Elisabeth Palmer-Peabody, Mathilde R. Kriege und deren Tochter Alme, Maria Boelte 122 — Geschichtliche Entwicklung der amerikanischen Kindergärten (private, Charity- und Puplic Kindergärten) 123, 124 — Amerikanische Fröbel-Literatur (Edward Wiebe, Hailmann, des Verlegers Steiger jun., Käthe Douglas Wiggin, Jeanette R. Gregory 125, 125 — Fröbel-Vereinigungen und Felix Adler 125 — Soziale und sittliche Bedeutung der Fröbel-Lehre für U S A . 125 —
XIII
Seite Übernahme von Fröbel-Ideen in die Volksschulpädagogik 125 — Kindergarten und Erhaltung des Deutschtums 125 — D i e F r ö b e l P ä d a g o g i k i n I t a l i e n , ihre ersten Vertreter, spätere Werbung durch die Baronin und ihre Schülerinnen Greef und Petermann 125, 126 A. von Portugal, H. Schrader-Breymann 126 — Frau von Salis-Schwabe, der amerikanische Gesandte Mrs. Marsh 126 — Rüdegang der FröbelPädagogik in Italien nach dem Weltkrieg 127 — J a p a n u n d F r ö b e l 127 — G e g e n w a r t s b e d e u t u n g d e r F r ö b e l - P ä d a g o g i k i n D ä n e m a r k (Sofus Vagger und Frau, die dänische Kindergärtnerin, Unterstützung durch die deutsche Fröbel-Bewegung) 128 — F r ö b e l i n S c h w e d e n 128 — u n d i n F i n n l a n d (Uno Cygnaeus, Ankusti Salo) 129 — Zusammenfassende Wertung von Fröbels Auslandswirkung 129 — Umstände und kritische Bedenken, die der Auslandswirkung der Fröbel-Lehre hinderlich waren 129, 130, 131. 7. H e r b a r t u n d d i e H e r b a r t i a n e r 132—153 Herbart-Pestalozzi-Fröbel 132 — Herbarts persönliche Beziehungen zu Pestalozzi 132 — Erklärung des Ansehens, das Herbart trotz der zeitlichen Nachbarschaft Pestalozzis gewann 132, 133 — Langsame Verbreitung der Pädagogik Herbarts 133 — Die drei Gruppen der Herbartianer 133, 134 — Vermittler nach dem Ausland: die Professoren Tuiskon Ziller, v. Strümpell, E. v. Sallwürk, W . Rein 134 — Auslandswirkung der pädagogischen Universitätsseminare in Leipzig und Jena 124, 125 — Die Publikationen der beiden Zentralen Herbartischer Pädagogik 135, 136 — Auslandsreisen und Übersetzungen als Werbemittel 136 — F r a n k r e i c h u n d H e r b a r t (Herbarts Pädagogik in der Westschweiz, dem kulturellen Vorland Frankreichs) 136, 137 — Sich widersprechende Ansichten über die Einwirkung der Herbart-Pädagogik auf Frankreich 137 — Die Philosophie Herbarts in Frankreich 137 — Französische Literatur über die Herbart-Pädagogik (Edouard Roehridi, A. Pinloche, Marcel Mauxion, Compayré, Eugène Blum, M . Deureux, Louis Godder) 137, 138, 139, 140 — Roehrichs „Philosophie de l'éducation" 140 — Geringe praktische Auswirkung der Pädagogik Herbarts in Frankreich 141 — Häufige Unmöglichkeit ihres exakten Nachweises 141 — E i n f l u ß H e r b a r t s a u f d i e e n g l i s c h e P ä d a g o g i k 141 — Wodurch begünstigt? 141, 142 — Die englischen Vermitder Henry M. und Emmy Felkin 142 — Pilgrimages to Jena 142 — Findley, Darroch, John Adams und H. Hayward 142, 143 — Einfluß auf die englische Schulpraxis, die Unterrichtsmethoden und die Schulerziehung 143 — Traditionelle Erziehungsmittel in England 143 — Erzieherischer Wert der Unterrichtsfächer 143 — Bedeutung des Unterrichts für die sittlidie Erziehung (Hayward, Sophie Bryant, Adams und Findley) 144 — Das gleichschwebende und vielseitige Interesse 144 — Herbarts Einfluß auf die wissenschaftliche Entwicklung der Pädagogik 144, 145 — Vereinzelte nachteilige Wirkungen der Pädagogik Herbarts 145 — U S A . u n d H e r b a r t 145 — Zwei für den amerikanischen Herbartianismus charakteristische Sachverhalte und ihre Erklärung 145, 146 — Ursachen der kurzen Herrsdiaft der Herbartschen Pädagogik in USA. 146, 147 — Die von Herbart unverändert oder modifiziert übernommenen Ideen 147, 148 — Entwicklung der amerikanischen Erziehungswissenschaft und Psychologie unter Herbartischem Einfluß 148, 149 — Vermitder: Charles de Garmo, Charles Mc Murry und Frank M c Murry 149 —
XIV
Seite
Amerikanische Herbart-Literatur 149 — H e r b a r t u n d I t a l i e n 149 f. — Italienische Herbartianer: G. Galo, L. Credaro 150 — Der Herbartianismus und der italienische Idealismus 150 — Italienische Übersetzungen Herbarts 150 — H e r b a r t in G r i e c h e n l a n d 150 — in S e r b i e n 151 — in d e n r u s s i s c h e n O s t s e e p r o v i n z e n 151 — in F i n n l a n d 151, 152 — in S i e b e n b ü r g e n 152 — u n d i n J a p a n 153. 8. G e o r g K e r s c h e n s t e i n e r 154—167 Auslandspädagogische Interessiertheit und nationale Gesinnung 154 — Kerscheinsteiner vereint beides 154 — Die Bedeutung des Studiums der Pädagogik anderer Völker, nach Kerschensteiner 154, 155 — Kersdiensteiners auslandspädagogische Aktivität 155 — Kersdiensteiners pädagogische Entwicklung 155 — Die Mündiener Schulreform 155, 156 — München wird zum pädagogischen Mekka 156 — Vortragsreisen ins Ausland 156 — Obersetzungen seiner Werke 156, 157 — Erklärung der begeisterten Aufnahme der Pädagogik Kersdiensteiners im Ausland (ihr praktischer Einschlag, ihr Humor, ihr aktueller Charakter) 158 — M ü n c h e n e r A u s s t r a h l u n g nach E n g l a n d u n d S c h o t t l a n d . Englische Kersdiensteiner-Literatur (C. T. Horsfall, Rudolf Tintner, R. H. Best, C. K. Oyden, E. Waterfall) 159 — Kersdiensteiners Vorträge in Schottland und England 159 — Sein Einfluß auf das dortige Fortbildungswesen 159, 160 — Die Berichte von M. J. C. Smail und Robert Blair 160 — Das englische Schulgesetz von 1918 und seine Erweiterung 1921 161 — K e r s d i e n s t e i n e r s E i n f l u ß in U S A . (vorheriger Stand des dortigen Berufsschulwesens) 161 — Erste Nachricht über die Mündiener Reform (Prof. Hanus) 161 — Amerikanische Nachahmung der Mündiener Fortbildungsschule 161, 162 — Kersdiensteiners Einfluß auf das Gesamtgebiet der nordamerikanisdien Pädagogik (Bekämpfung des didaktischen Materialismus und des Enzyklopädismus) 162, 163 — Verbreitung seiner Arbeitssdiulthebrie 163 — Überwindung des Herbartsdien Formalismus 163 — und des extremen pädagogischen Individualismus 164 — Kersdiensteiners Einwirkung auf andere Länder (zeitbedingte Erschwerung ihres Nachweises) 164 — K e r s c h e n s t e i n e r u n d H o l l a n d (A. de Vletter, Übersetzungen, Biographie) 164, 165 — K e r s c h e n s t e i n e r i n d e r S c h w e i z 165 K e r s d i e n s t e i n e r s E i n f l u ß a u f C h i n a 165, 166 — und J a p a n . Einfluß auf die Reform des Gewerbesdiulunterrichts 1920 und der Veranstaltungen für. staatsbürgerliche Erziehung in Japan 166 — Verehrung Kersdiensteiners durch die Japaner 166 — Bedeutung Kersdiensteiners für Japan 166, 167 — G e g e n w a r t s - u n d Z u k u n f t s b e d e u t u n g K e r s d i e n s t e i n e r s f ü r I t a l i e n (Girolamo Gaspari) 167.
B. Auslandseinfluß des deutschen Sdiulwesens
168—325 1. D i e V o l k s s c h u l e u n d d i e L e h r e r b i l d u n g s a n s t a l t . . 168—220 Begünstigung des Auslandseinflusses durch kulturelles Gefälle 168 — Warum der Auslandseinfluß der preußischen Volksschule nicht im Pestalozzi-Kapitel behandelt? 168, 169 — Kurze Geschichte des preußischen Volksschulwesens bis Ende des 18. Jahrhunderts 169 — und der Lehrerbildungsanstalten 170, 171 — Rüdestand der schulischen Wirklichkeit hinter den Verordnungen 171 — Die Lage der Volks-
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schulen und der Lehrerbildung in Nordamerika 172, 173 — und in England 173, 174 — Zurückbleiben hinter Preußen und die Ursachen 174 — Günstigere Entwicklung in Schottland 174 — Lage in Frankreich (keine nennenswerte Sdiulgesetzgebung; Frères des écoles chrétiennes) 174, 175 — Frankreichs Schulwesen zu Beginn der Revolution 175 — Die preußische Schulentwicklung im 19. Jahrhundert 176 — Seine Mängel Ende des 18. Jahrhunderts 176 — Zwei entwicklungsfördernde Umstände: Pestalozzi und seine Lehre und die innere Wiedergeburt Preußens nach 1807 176, 177 — Verordnungen und Schulgesetze und die durch sie bewirkten Fortschritte im 19. Jahrhundert (1787, 1803 und 1810 Oberste Schulbehörde, Schuldeputation und -vorstand, Verstaatlichung der Lehrerbildung, der Süvernsche Schulgesetzentwurf, Regelung der 1. und 2. Lehrerprüfung, die Regulative vom 1., 2. und 3. X. 1854 und ihre Geschichte) 178, 179 — Günstige Folgen der siegreichen Feldzüge für die preußische Schulentwicklung 179, 180 — Entwicklung der Lehrerbildung um 1900 180 — A b h ä n g i g k e i t der f r a n z ö s i s c h e n Volksschule und Lehr e r b i l d u n g von deutscher A n r e g u n g und deutschem Vorb i l d 181 — Frankreichs pädagogische Situation nach der Revolution, zur Zeit des Konvents, des Konsulats und des Kaiserreichs 181, 182 — Die Lehrerbildung im Elsaß unter deutschem Einfluß 182, 183 — Alsace était notre Allemagne 183 — Das Dekret vom 14. II. 1830 und das Gesetz vom Jahre 1833 183 — Deutsche Untersuchungen des deutschen Einflusses der 30 er Jahre (Walter Kegel, Alfred Pokrandt, Hermann Joh. Ody) 184 — Vernachlässigung dieser Abhängigkeit durch die französische Forschung (Louis Reynaud und J. Simon) 184 — Pädagogische Studienreise von Cuvier und Cousin 185 — Cousins Auffassung des Süverschen Entwurfs 185 — Cousins Anteil an der Schulgesetzgebung von 1833 185, 186 — Deren Abweichungen von und Übereinstimmungen mit dem preußischen Gesetzentwurf 186 — Sdiulbau, Schulgründung, -Unterhaltung, -behörden, -gliederung, -fädier, bûcher, -examen, -zeugnis, Ferien 186, 187 — Lehrerbildung: Normalsdiulen statt Normalklassen, Seminaraufnahme- und -entlassungsprüfung und Lehrerprüfung, Lehrerfortbildung 187, 188 — Neben die utilité tritt die Idee der allgemeinen Menschenbildung 188 — Wohltätige Folge der Anlehnung an das preußische Vorbild 188, 189 — Aufnahme und Wirkung des Cousinschen Berichtes in Preußen 189 — Behinderung der Durchführung des französischen Gesetzes 189, 190 — Der zweite größere Einfluß Preußens (Théodore Fritz) 190 — Gesetzentwurf Carnot (1. VI. 1848) 190 — Eugène Rendu als Vermittler deutscher Pädagogik 190, 191 — Übersetzung der Schulkunde von Bormann 191 — Weitere französische Bücher über das deutsche Schulwesen 191 — Damaliger französischer Rückstand und seine Kritik durch Charles Robert und Jules Simon 191, 192 — Michel Bréal als Anwalt der Schulreform nach deutschem Muster 192 — Nationale Motivation 193 — Durchführung einzelner Reformen 1867, 1881, 1882 und Vermehrung der Seminare 193 — Zweifache deutsche Einwirkung 193 — Die Wald- und Freiluftschulen 193, 194 — E i n f l u ß d e r preußischen Volksschule und des preußischen Lehrers e m i n a r s a u f E n g l a n d 194 — Zwei grundlegende Tatsachen 194 — Tabelle der englischen und preußischen pädagogischen Entwicklung
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194, 195 — Zurückbleiben Englands 195, 196 — Vermittlung des deutschen Vorbildes: de Staël und Cousin 196 — Englische Besucher Deutschlands 196 — Das Weißenfelser Gästebuch 197, 198 — Besuch anderer Seminare 198 — Bedeutung der Besuche für England und die deutschen Schulen 198 — Verwertung der Erfahrungen pädagogischer Studienreisen in England 198, 199 — Das Helfersystem (Andrew Bell und John Lancaster) in England und in anderen Ländern 199, 200 — Bell und Lancasters Verhältnis zu Pestalozzi 200 — Gründung englischer Erziehungsgesellschaften 200 — Apostel deutscher pädagogischer Ideen: Coleridge, John Stuart, John Ruskin, James Philips Kay 200, 201 — Matthew Arnold unter deutschem Einfluß 202 — Seine Anforderungen an die englische pädagogische Reform 202, 203 — Englische Kritiker des preußischen Schulwesens (Samuel Laing) 203 — Entwicklung der englischen Schulen unter preußisch-deutschem Einfluß : M. E. Sadler „Englands Debt to German Education" 203, 204 — Hauptlehren, die Preußen England gab 204 — D e u t s c h e p ä d a g o g i s c h e E i n w i r k u n g auf N o r d a m e r i k a 204 — Anwälte deutscher Pädagogik (de Staël und Cousin) 204, 205 — Cousins Bericht Quelle von Vorträgen 205 — Studienreisen von Amerikanern durch Deutschland: John Griscorns, Henry Dwight, Alex. Dalles-Bache, Calvin E. Stowe, Benjamin M. Smith, Horace Mann, Henry Barnard 206, 207 — Henry Philip Tappan 207 — Eingehendere Betrachtung zweier Vermittler: Charles Brooks 208, 209 — und Horace Mann 209, 210, 211, 212 — L. Seely, The Common-School System of Germany and its lessons to America 212, 213, 214 — Der Vorbildwert der preußischen Schulen bei den andern Vermittlern 214, 215 — Die amerikanische pädagogische Bewegung von 1825 an 215 — Ihre preußischen Anstöße 215, 216 — Die pädagogische Belegung in Massachusetts 216 — Die Lehrerbildung in USA. 216, 217 — Einfluß der preußischen Erfahrungen 217 — Diskussion: Normalklassen oder Normalsdiulen?, Sieg des preußischen Vorbildes 217 — Preußische Anregung für manche Einzelheiten der amerikanischen Lehrerbildung 217, 218 — Der Name Normal Sdiool und Normalschule 218 — Die amerikanische Lehrerbildung von der preußischen und nicht von der französischen abhängig 218 — Aufnahme der „neuen" Lehrer 219 — Begünstigung einzelner Schulreformen durch die Deutschamerikaner (Gesang- und Turnunterricht) 219, 220— Gesamtwürdigung der deutschen Einwirkung 220. 2. D i e d e u t s c h e H ö h e r e Schule 221—260 Geringere Vorbildwirkung der deutschen Höheren Schule 221 — Erklärung dieses Tatbestandes für F r a n k r e i c h : Standard des französischen enseignement secondaire 221, 222 — und Eigenart des preußischen Gymnasiums 222 — Auslandswirkung der deutschen Höheren Schule im Reformationszeitalter 222 — bei den Slowenen und Kroaten 222, 223 — Das Beispiel des Straßburger Rektors Joh. Sturm (Pierre de la Ramée) 223, 224 — Vorbildwirkung der deutschen Höheren Schule in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts (Geßner, Heyne, Friedrich August Wolf, Ernesti, Gedike) 224 — Ausstrahlung nach Ungarn 225 — Leben, Werk und Auslandsbedeutung von Christian Gottlieb Heyne 225, 226 — Beschränkte Auslandswirkung in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts und ihre Ursachen 226 — Anregungen des preußischen Gymnasiums durch Vermittlung von Cousin in bezug auf Schulgliederung, S c h n e i d e r , Pädagogik.
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Lehrplan, Anzahl der Schulen, Baccalauréat, Stellung des Direktors, Einschätzung und Organisation der privaten Höheren Schule 226, 227, 228 — Ausbildung ihrer Lehrer 228 — Verwirklichte Forderungen 228, 229 — Größerer Einfluß der deutschen Bürgerschule 229 — Anregungen der deutschen Unterrichtsmethoden (Théodore Fritz) 229, 230 — Berechtigung des Hinweises auf Deutschland 230 — Die wichtigsten dieser Hinweise 230 — Greifbare praktische Auswirkung erst nadi 1870/71 — Kritik der preußischen Höheren Schule 231, 232 — Wandel in der Organisation der deutschen Höheren Schule 232 — Deltours Bericht über die deutsche Höhere Schule 232 — Sein Vergleich des preußischen Gymnasiums mit dem französischen Lysée 232 — Anregungen durch die deutsche fremdsprachliche Unterrichtsmethode 233 — Hinweis auf weitere Vorzüge des deutschen höheren Unterrichts 234 — der äußeren Schulorganisation 234 — und des Examens (Abitur hat Vorzüge vor dem Baccalauréat) 235 — Durchgeführte Reformversuche 1872 236 — Die Enquête von 1899 236 — Die unentwickelte pädagogische Theorie als Ursache der Reformbedürftigkeit 236 — Näheres über die Enquête: Anerkennung des deutschen pädagogischen Vorranges 236 — Bericht der Enquête 236, 237 — Abwechselnde Perioden deutschen und englischen Einflusses 237 — Die bedeutendsten Berufungen auf das deutsche Vorbild durch Gréard, Fouillé, Blondel, Pinloche, 237 — Das Beispiel des Frankfurter Reformgymnasiums 237, 238 — Der Mangel an Real- und Technischen Schulen 238 — Die berufliche Ausbildung der Lehrer an Höheren Schulen 238, 239 — Andere Vorzüge des Oberlehrers (bessere Sprachkenntnisse, seltener Stellenwechsel, größere pädagogische Tüchtigkeit) 239 — Lob der deutschen Direktoren 239, 240 — Reform des Baccalauréat nach dem Muster des Abiturientenexamens 240 — Kritik dieser Forderung 240 — Weiter nachahmenswert: Klassen- bzw. Schulausflüge; Höchstzahl der Intematszöglinge, Intematsdisziplin, staatliche Aufsicht über die Höhere Schule 240, 241 — Ubereinstimmung herrscht in der Forderung der Schulform 241, 242 — Die Resolution der Enquetekommission (nach Ribots Buch) 242 — Die Reform vom 31. V. 1902 242 — Englische Anregungen für die französische Höhere Schule (Landerziehungsheime) 242, 243 — Ergebnis der Reform 243 — Die neue Schulform Ähnlichkeit mit dem Frankfurter Reformgymnasium 243 — Anregende Wirkung der deutschen Schulreform 243 — Ursachen der Krise der humanistischen Bildung in Frankreich 243, 244 — Hinweis auf sie durch Langlois und Blondel 244 — Französische Kritik an der deutschen Höheren Schule (Pinloche) 244, 245 — Der enseignement secondaire nach dem Weltkrieg 245 — D e u t s c h e E i n w i r k u n g a u f d i e e n g l i s c h e H ö h e r e S c h u l e 245 — Seine Anerkennung auf der Frankfurter Philologenversammlung 1912 durdi Sadler 245, 246 — Einzelheiten dieses Einflusses 246 — Seine anscheinende Schwäche und deren Ursadien 246, 247 — die Reorganisation der englischen Höheren Schulen 1861 und 1864 247 — Die Königliche und die Sdiools Inquiry Commission 247 — Deutscher Einfluß in ihr 247, 248 — M. Arnolds Bericht über seine pädagogische Studienreise 248 — Seine wesentlichen Hinweise auf die deutsche Höhere Schule 248 — Das V. Kapitel seines Buches (Geschichdiche Entwiddung der Berufsausbildung der Oberlehrer) 248, 249 — Be-
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Seite deutung des Universitätsseminars f ü r die berufliche Ausbildung 249 — Ausbildung des Nachwuchses durch erfahrene Lehrer 250 — Forderungen in den beiden letzten Kapiteln des Buches von Arnold 250 — Der Bericht der Sdiool Inquiry Commission, Ableitung einiger Leitsätze für die englische Schulreform unter Berufung auf das preußische Beispiel 250, 251 — Kritik der Bewunderer der deutschen Höheren Schule 251 — Die 3. Schulkommission vom 2. III. 1894 u n d ihre Arbeitsweise 252 — Das preußische Vorbild in der Zeit von 1864—1894 252 — Charles Bird, Higher Education in Germany and England 252 — Sechs Vorzüge der deutschen Höheren Schule 253 — Birds Forderungen f ü r die englische Schulreform, abgeleitet vom deutschen Vorbild 253, 254 — Der Bericht der 3. Kommission (vom 23. VIII. 1895) — In ihm enthaltene Bezugnahmen auf das deutsche Vorbild 254, 255 — Direktoren englischer Höherer Schulen als Vermittler deutschen Einflusses (Cecil Reddie und William Rouse) 255 — Einwirkung des deutschen Beispiels auf die englische Schulwirklichkeit 255, 256 — Zusammenfassende Würdigung des deutschen Einflusses auf die englische Höhere Schule 256 — D i e d e u t s d i e H ö h e r e S c h u l e u n d U S A . Bestreitung eines Einflusses 256 — Historische Entwicklung der Höheren Schule von Nordamerika und die ausländische Abhängigkeit 256 — Ihre drei Perioden nach Brown 257 — Unglaubwürdigkeit der Behauptung der Unabhängigkeit vom deutschen Beispiel 258 — Fehlen einer wissenschaftlichen Erforschung dieses Problems 258 — Einzelne Hinweise auf deutschen Einfluß bei Hollister und Brown 258, 259 — Niedriger Standard der amerikanischen Höheren Schule und ihre Ursachen 259 — Bedeutung der deutschen Höheren Schule für andere Nationen 260. 3. D i e d e u t s c h e U n i v e r s i t ä t 261— 32Ä Hohes ausländisches Ansehen der deutschen Universität in der 2. H ä l f t e des 18. und im 19. Jahrhundert 261 — Deutsche und ausländische Literatur über den Auslandseinfluß der deutschen Universitäten 261, 262 — Inhaltsangabe der nachfolgenden Ausführungen 262 — Die Pariser Universität die M u t t e r der übrigen europäischen Universitäten 262, 263 — Später Beginn der Auslandswirkung der deutschen Universitäten und seine Ursachen (Charakter der mittelalterlichen Universität) 263, 264 — Begrenztheit der wechselseitigen Beinflussung 264 — Die Auslandswirkung der deutschen Universität während der Reformation u n d Gegenreformation 264, 265 — Ihr Ende in der Zeit des 30 jährigen Krieges 265 — Wesenswandel der deutschen Universität seit 1750 265 — Entwicklung des neuen Wissenschaftsbegriffes 265, 266 — Die Universitäten Halle, Göttingen, Jena und ihre moderne Entwicklung 266 — W a r u m machten die englischen u n d französischen Universitäten diese Entwicklung nicht mit? Primäre u n d sekundäre Ursachen ihres Zurückbleibens 266, 267 — Verbindung von Forschung u n d Lehre in Deutschland 267 — Aufnahme der neuen -Universitätsideologie auch durch die anderen deutschen Universitäten (Berlin, Bonn, Breslau) 268. E i n f l u ß d e r d e u t s c h e n U n i v e r s i t ä t a u f F r a n k r e i c h . . 268—300 Kurze Übersicht über die historische Entwicklang der französischen Universitäten 268, 269 —Ausstrahlung der Straßburger Universität 269 — Charakter der übrigen französischen Universitäten 269 — Ihr Gegensatz
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zur geistigen Bewegung der Zeit, besonders zur Aufklärung 270 — Allmählicher Untergang der französischen Universitäten (Abschluß der Vernichtung durch Dekret vom 25.1.1795) 270 — Eine günstige Folge der Revolution für die Entwicklung der Universitäten 270 — Condorcets neuer Universitätsplan 270, 271 — Ersatz der Universitäten durch isolierte Spezialhodisdiulen unter Napoleon 271 — Herrschaft des Nützlichkeitsprinzips 271 — Der enseignement supérieur zur Zeit der Restauration 272 — Beginnender Einfluß der deutschen Universitäten 272 — Geschichte der allgemeinen wechselseitigen kulturellen deutschfranzösisdien Beziehungen 272 — De Staël Hinweis auf die deutschen Universitäten 273 — Drei Diskussionswogen über das Universitätsproblem 273 — Ausgang der ersten: Bericht Cousins 273 — Damalige Stellung und Leistung der Sorbonne (Kritik) 273, 274 — Cousins drei Reisen nach Deutschland 274 — Sein Hinweis auf die deutschen Universitäten 274, 275 — Anschließende Kritik des enseignement supérieur 275 — Inhalt seines dritten Briefes an Montalivet 276 — Cousin nach seiner pädagogischen Studienreise 276 — Cousin als Unterrichtsminister 276 — Schnelle Herausgabe von Reformverfügungen 276 — Hemmnisse der Universitätsreform 276 — Keine kritiklose Empfehlung der deutschen Universitäten 277 — Französische Anerkennung der notwendigen Verbindung von Forschung und Lehre 277 — Noch keine Zusammenfassung der isolierten Fakultäten 277 — Reform der Lehrstuhlbesetzung 277 — Einrichtung der Agrégation 278 — Einige kleinere Reformen unter deutschem Einfluß 278 — Die zweite Diskussionswoge, Kritik durch Viktor Duruy 278 — Zwei Enqueten zur Universitätsreform 279 — Duruys Reformarbeit 279 — Gründung der École pratique des Hautes Études 279 — Gründung weiterer Hochschulen 280 — An der Diskussion beteiligten sich: 1. K. Hillebrand, sein Buch De la réforme de l'enseignement supérieur 280 — Seine Hochachtung der deutschen Universität 280 — übertragbarkeit der deutschen Universitäten oder ihres Geistes nach Frankreich? 281 Französische Wertung der reinen Wissenschaft 281 — Die bestehenden französischen Hochschulen Vorbild der Provinzfakultäten 281 — Hörerkreis für die Fakultät des sciences et des lettres 282 — Hillebrands geheime Sehnsucht nach Angleichung an die deutschen Universitäten 282 — Sein Buch zeigt den Wert der v e r g l e i c h e n d e n Betrachtung 282, 283 — 2. Ernest Lavisse und sein Buch Questions d'enseignement national 283 — Kritik der Ansichten des Père Didon 283 — Was rühmt Didon an den deutschen Universitäten: 284 — Einwände von Lavisse: In Deutschland folgte auf das Zeitalter des Geistes und der Theorie eines der Aktion und der Praxis 284 — Rückführung der Eigenheiten des deutschen Studentenlebens auf den Volkscharakter 284 — Schattenseiten dieses Studentenlebens 285 — Berechtigung dieser Einwände? 285 — Forderungen von Lavisse mit Berufung auf das deutsche Vorbild 285 — Verschiedene Ziele der Höheren und der Hochschule in Frankreich und Deutschland 286 — Der bauliche Zustand der Universitäten 286 — Der Militärdienst der Studenten 286, 287 — Auslandspropaganda der Wissenschaft und der Universitäten in beiden Ländern 287 — Patriotische Motive der- französischen Reformforderungen 287 — Universitätsreformen nach 1870/71 287 — Drei Gruppen französischer Literatur zum Uni-
versitätsproblem 288, Ferdinand Lot, L'enseignement supérieur en France 288 — Anerkennung und Erklärung der deutschen Superiorität 288 — Vier unterscheidende Züge zwischen der deutschen und der französischen Universität 288, 2 8 9 — Charakterisierung der Forderungen Lots 289 — Praktische Auswirkung der Reformforderungen: Zunehmende Zusammenlegung der Universitäten 289 — Frankreichs Rückstand sogar in der romanischen Philologie, speziell im Altfranzösischen 289, 290 — und in der Germanistik 290 — Lot verteidigt seine häufigen Hinweise auf das deutsche Vorbild 290 — Empfehlung der deutschen Semestereinteilung, der Erhöhung der Zahl der Lehrstühle und der Professorengehälter 290, 291 — Böse internationale Folgen der Unterlassung der Universitätsreform 291 — Abschluß der Universitätsreform durch das Gesetz vom 15. VII. 1896 291 — Ursachen des verhältnismäßig schwachen Anschlusses an die deutsche Form nach Bernhard 291, 292 — Durchführung der Reform durch Liard 292 — Vergleich der neuen französischen und der deutschen Universitäten in der äußeren und inneren Organisation 292, 293, 294 — Zusammenfassende Würdigung der Bedeutung des deutschen Einflusses auf die französische Universitätsreform 294, 295 — Ihre Anerkennung durch Franzosen 295 — z. B. durch Adolphe Wurtz in seinem Vergleich der französischen und deutschen Laboratorien 295, 296 — Deutscher Einfluß nach dem Weltkrieg : H. Maillart, L'enseignement supérieur, Paris 1925 296 — Ausgangspunkt dieses Buches 2 % — Anerkennung des deutschen Vorranges 296 — Wachsende Zahl ausländischer Besucher der deutschen Universitäten 296, 2 9 7 — Internationale Folgen dieses Sachverhaltes 297 — Die gebildeten Deutschen im Ausland als Boten deutscher Kultur 297 — W i e erklärt sich ihr begeistertes Eintreten für die deutsche Kultur und Universität? 297 — Entgegengesetzte Lage in Frankreich und ihre Erklärung 297, 298 Fehlende französische Einsicht in deren Rückstand 298 — Erklärung der deutschen Vorbildwirkung nadi dem Weltkrieg 2 9 8 — Französische Kritik der Herolde der deutschen Universitäten 298 — Pierre Lasserre zieht die Grenzen und warnt vor der Fälschung des nationalen Charakters der französischen Hochschulen 2 9 9 — Kurze Darstellung dessen, was die Franzosen im 19. und 20. Jahrhundert an den deutschen Universitäten nachahmenswert fanden 299, 300. Der E i n f l u ß der deutschen U n i v e r s i t ä t s d i u l e n t w i d c l u n g in G r o ß b r i t a n n i e n .
auf
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die Hodi. . . . 300—310
Die schottischen Universitäten unter starker deutscher Vorbildwirkung. Erklärung dieses Tatbestandes 300 — Kanäle des Einflusses der deutschen Universitäten nadi England 300 — Die Universität Göttingen in dem zu Großbritannien gehörenden Hannover 300 — Cousins Bericht 300 — Reiseberichte von Charles Edward Dodd und John Russell 301 — Walter E. Perry: German University Education, 1845 302 — und Matthew Arnold, Higher Schools and Universities in Germany 302, 303 — Weitere Befürworter der Reform der alten Universitäten Oxford und Cambridge nach deutschem Muster 303 — Zwei Hauptziele der Reform 303 — Ursachen der Zustandsbeharrung der alten Universitäten (der englische Konservatismus, der Nepotismus in den Lehrkörpern, die von der deutschen abweichende Auffassung vom Ziel der Universitätsbildung) 303, 304 — Gründung der neuen Uni-
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yersitäten in London und Manchester nach deutschem Muster 304 — Andauer der Kritik und Forderung der Universitätsreform (Marc Pattison, Lord Curzon und Haidane) 304, 305 — Einfluß der deutschbürtigen englischen Professoren 305 — Was wurde als vorbildhaft und nachahmenswert betrachtet? Die deutsche Liebe zur reinen Wissenschaft, die hohe soziale Stellung der Professoren, das wissenschaftliche Leben der Universitäten, das Universitätsseminar, die Verbindung von Forschung und Lehre, die Lehr- und Lernfreiheit 305, 306, 307 — Die Privatdozentur 307, 308 — Die Organisation der Fakultäten, der philosophische Doktor, die Breite des Wirkungsbereiches der Universitäten (Studenten aus allen sozialen Schichten) 308 — Ungenügende Verwirklichung der Reformforderungen 308 — Erklärung der geringen und langsamen Wirkung des deutschen Vorbildes aus: dem Volkscharakter, der Verschmähung staatlicher Machtmittel, der geringen Verbreitung der Kenntnis der deutschen Sprache, der lange Zeit geringen Neigung, von den Deutschen zu lernen, der Opposition (auch literarisch), dem Verteidigen des Alten, dem Fehlen eines dem Gymnasium ebenbürtigen Unterbaus der englischen Universität 309, 310 — Gesamtwertung der deutschen Anregung für die englische Universitätsentwidklung 309. D e r E i n f l u ß der deutschen U n i v e r s i t ä t e n auf d a s Hochschulwesen von USA 310—3% Die häufig anerkannte deutsche Einwirkung auf die amerikanische Hochschulentwiddung stärker als auf die englische 310, 311 — Amerikanische einschlägige Literatur 311 — Entstehung des Harvardund Yale College nach englischem Muster 311, 312 — Späterer französischer Einfluß 312 — Deutsche Vorbildwirkung 312 — Die ersten amerikanischen Studenten in Deutschland 312, 313 — Cousins Bericht 313 — Amerikanische Studenten in Deutschland zwischen 1835 und 1850 313 — Vorzüge der deutschen vor der französischen Universität 313 — Namenlisten amerikanischer Studenten 313 — Anziehungskraft deutscher Hochschullehrer 313 — George Ticknor, Edward Everett, Georg Bancroft und Jos. Green Cogswell als deutsche Studenten und Herolde der deutschen Universitätsidee 314 — Deutsche Bibliotheken nach USA. 314 — Professoren mit deutscher Ausbildung an der JohnHopkins-Universität 314 — Welche Gründe veranlaßten die Amerikaner zum Studium in Deutschland? 314, 315 — Wirkungen dieses Studienaufenthaltes 315 — Auftauchen des deutschen Universitätsplanes in USA. 315, 316 — Deutsche Akademiker in USA. (Charles Folien, Francis Lieber) 316, 317 — Weitere Entwicklung der deutschen Universitätsidee in Nordamerika 317 — H. Tappan als Vermittler deutscher Methoden 317 — Seine Kritik englischen Einflusses, John Hopkins Universität nach deutschem Muster 318 — Daniel Coit Gilman als Vermittler deutscher Universitätsideologie (seine 12 Grundsätze) 318 — Entwicklung von John Hopkins Universität (Annahme deutscher Züge) 318, 319 — Einführung und spätere Preisgabe der Methode der Vorlesung 319 — Gründe für diese Preisgabe 319 — Einführung des deutschen Universitätsseminars 319 — Das deutsche Vorbild bei Begründung von Studentenkorporationen, bei der Einschätzung und Einrichtung von Universitätsbibliotheken und Laboratorien, bei Zahl und Art der Fakultäten 320 — Deutsche Einwir-
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kling auf die theologische und medizinische Wissenschaft und die entsprechenden Fakultäten 320 — Die reine Wissenschaft und Forschung in USA. 322 — Fünf Ursachen ihres Zurückbleibens 322 — Rückgang des deutschen .Einflusses im 20. Jahrhundert 322 — Momente, die den Einfluß begünstigten, und solche, die ihn hemmten 322 — Ersatz der deutschen Einwirkung durch wechselseitige Befruchtung (Austauschprofessuren) 323 — Auch andere amerikanische Hochschulen (z. B. Forsthochschulen) nach deutschem Muster 323.
III. Ausblick
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324, 325
Die Erkenntnis des deutschen Vorranges in der Pädagogik der letzten beiden Jahrhunderte und ihre Aufnahme 324 — Wie ist diese Superiorität zu erklären? 324 — Aus der Begabung des deutschen Volkes (Hypolite Taine) 324 — aus der Dynamik seines Bildungsstrebens 325 — aus dessen Jugend und Frisdie 325 — aus der zentralen Lage Deutschlands 325 — ZukunftshofFnung 325.
IV. Anmerkungen •
326—35®
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I. E I N F Ü H R U N G
Die nationale Eigenart der pädagogischen Theorie und Wirklichkeit und ihre Ursachen Das Hauptthema dieses Buches, das ihm auch den Titel gegeben hat, gehört zum Forschungsgebiet der Vergleichenden Erziehungswissenschaft und fordert von dem, der es bearbeiten will, gründliche Beschäftigung mit der Auslandspädagogik. Damit der Leser es nicht isoliert, sondern im Zusammenhang eines größeren Forschungsganzen sieht, beginnen wir nicht sofort und unvermittelt mit seiner Darstellung, sondern beschäftigen uns zunächst mit einer zweifachen Wirkung des auslandspädagogisdien Studiums und werden dabei auf zwei Wegen an die Fragestellung des Buches herangeführt. Das nachfolgende erste Buchkapitel hat daher den Charakter einer Einführung und verfolgt das Ziel, die Behandlung des Hauptthemas vorzubereiten und zu unterbauen.
Das Studium der Auslandspädagogik führt zunächst zur Kenntnis des studierten Ausschnittes aus ihr, zur Bekanntschaft mit der Pädagogik eines oder mehrerer anderer Völker, darüber hinaus aber auch — und zwar handelt es sich um eine Auswirkung, die leicht übersehen werden kann — zum tieferen Verständnis der Pädagogik des eigenen Volkes. W i e der Einzelmensch sich seiner individuellen Eigenart nur im Verkehr und Vergleich mit anderen Menschen bewußt wird, so kommen auch die Völker nur dadurch zur Erkenntnis ihrer völkischen Eigenart und der ihrer einzelnen Kulturgebiete, daß sie mit anderen in lebendiger Beziehung stehen und deren Wesen, Geschichte und Kultur mit der eigenen vergleichen. Daher gewinnt derjenige, dessen Erfahrung und Studium auf das Bildungsdenken und die Bildungswirklichkeit seines eigenen Volkes beschränkt bleibt, gar keine oder eine sehr unvollkommene Einsicht in die völkischen Besonderheiten der theoretischen und praktischen Pädagogik seines Landes. W e r sich aber näher mit dem Schulund Bildungswesen anderer Länder beschäftigt, der erwirbt außer seinem auslandspädagogischen Wissen auch eine vertiefte Einsicht in das Erziehungsdenken und die Erziehungswirklichkeit seines Vaterlandes. Als zweites Nebenergebnis seiner auslandspädagogischen Studien ergibt sich ihm außerdem die Erkenntnis, daß die Pädagogik eines jeden Landes ihr eigenes Gesicht hat, daß man, wenn das auslandspädagogische Studium sich auf ein neues Land richtet, jedesmal trotz der kategorialen Übereinstimmungen in eine neue interessante Welt schaut, daß das Kulturgebiet der Pädagogik bei jedem Volk, trotz mancher übereinstim1
S c h n e i d e r , Pädagogik. ,
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mungen mit dem anderer Völker, ein mehr oder weniger charakteristisches, nationaltypisches Gepräge besitzt. Es existiert noch kein Werk, das das Schulwesen und die pädagogische Theorie aller oder wenigstens der großen Kulturvölker so nebeneinander stellt, daß ihre nationale Eigenart aufgedeckt wird, so daß sich der interessierte Leser also eine schnelle Übersicht über sie verschaffen könnte. Es würde aber den Rahmen dieses Buches sprengen und den Raum für die Behandlung seines eigentlichen Themas, der Darstellung des Siegeszuges der deutschen Pädagogik über die Grenzen ihres Ursprungslandes hinaus, ungebührlich verkleinern, wenn ich sie hier in extenso bieten wollte. Das, was zum Nachweis der nationalen Eigenart der verschiedenen Länderpädagogiken geschehen kann, soll aber im folgenden zur Grundlegung des Hauptproblems dieses Buches versucht werden: ein Herausarbeiten einzelner ihrer wesentlichen Unterschiede (1). Wer sich in die Pädagogik anderer Völker durch Studium ihres nationalen literarischen Niederschlages einzuarbeiten versucht, dem offenbart sich unmittelbar und eindringlich der Unterschied ihrer pädagogischen Produktion. Neben denen, die keine nennenswerte originale pädagogische Literatur besitzen und in der Hauptsache von Anleihen bei dem pädagogischen Schrifttum anderer Nationen leben, begegnen ihm andere mit einer großen oder sehr großen, jährlich noch durch mehr oder minder zahlreiche Neuerscheinungen wachsenden Zahl pädagogischer Werke. Während das eine Volk überhaupt keine oder nur eine spärliche eigenwüchsige systematische pädagogische Theorie aufweist (z. B. die Balkanstaaten), besitzt ein anderes eine reiche pädagogische Theorie mit philosophischer Grundlegung, systematischem Charakter und Bevorzugung abstrakter und spekulativer Problematik (z. B. Deutschland). Und ein drittes hat zwar eine reich ausgebaute Theorie, die aber fast ausschließlich Theorie der Praxis ist, die eigentlich philosophische pädagogische Spekulation vernachlässigt und sich um die Erforschung der pädagogischen Begriffe gar nicht oder wenig kümmert (England und USA.). Der Leser auslandspädagogischer Literatur hat in ihr auch die Unterlagen zur Bildung eines Urteils über den Stand der Erziehungswissenschaft in den einzelnen Ländern. Er wird bald erkennen, daß die Stellung der Völker zum Wissenschaftscharakter der Pädagogik verschieden ist. Wohl kaum bei einem Kulturvolk ist er völlig unbezweifelt und unangegriffen. Doch ist in den meisten Ländern eine Ansicht über den Wissenschaftscharakter der Pädagogik vorherrschend. So wird in USA. ihr Charakter als selbständige Wissenschaft wenigstens praktisch in der Organisation der Universitäten anerkannt durch eine verhältnismäßig große Zahl pädagogischer Lehrstühle und Lehraufträge auch spezieller Art und durch entsprechende Forschungsinstitute. In Deutschland wird der Pädagogik der Charakter einer selbständigen Wissenschaft durchweg abgesprochen und die Bearbeitung der theoretischen Erziehungs- und Bildungsproblematik auch in der Universitätsorganisation in der Regel in den Arbeitsbereich des Philosophen verwiesen. In Frankreich dagegen wurde der Pädagogik 2
bis in die jüngste Vergangenheit ein Platz unter den Universitätswissenschaften überhaupt verweigert. In andern Ländern bestanden noch im dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verschiedene, sich widersprechende Ansichten über den Wissenschaftscharakter der Pädagogik nebeneinander, ohne daß eine die anerkannte Hegemonie besaß. Dafür ist z. B. die Schweiz ein anschauliches Beispiel (2). Einzelne Schweizer Pädagogen betrachten sie als selbständige Wissenschaft, andere lassen sie nur als angewandte Wissenschaft (sciences de règles), die sich auf die Psychologie, Physiologie und Soziologie stützt und sich daher mit dem Fortschritt dieser Wissenschaften entwickelt, gelten oder beschränken den Charakter als Wissenschaft auf einen mehr oder minder großen Teil des Gesamtgebiets der Pädagogik. Die letzteren schließen entweder die pädagogische Ziellehre oder auch die ganze Erziehungslehre von der pädagogischen Wissenschaft aus. Der Ausschluß der Ziellehre wird damit begründet, daß die Aufstellung des Lebens- wie des Erziehungszieles überhaupt nicht- Aufgabe der Wissenschaft, sondern Ausfluß des Glaubens bzw. der Welt- und Lebensanschauung sei. Für die zweite Umfangsbeschränkung argumentiert man folgendermaßen: Das wissenschaftliche Verfahren ist nur beim Unterricht möglich, so daß nur für ihn Gesetze, die aber auch keine absolute Geltung haben, feststellbar sind. Eine Wissenschaft vom Unterricht ist also denkbar, nicht aber eine Wissenschaft von der Erziehung; denn bei der Erziehung kommt alles auf die Persönlichkeit des Erziehers, ihren Glauben, ihre Ideale, ihr Beispiel an, und die Erziehungsziele (les valeurs spirituelles) fallen überhaupt nicht in das Ressort der Wissenschaft. Die beiden letzten Auffassungen vertreten also zwar eine pädagogische Wissenschaft, aber diese umfaßt nicht das ganze Gebiet der Pädagogik. Endlich fehlt in der Schweiz auch nicht ganz die Auffassung des Erziehens und des Unterrichtens als Kunst (art délicat) und folgerichtig die Auffassung ihrer Theorie als Kunstlehre statt als Wissenschaft. Auch die nationaltypisch verschiedenen Erziehungs- und Bildungsideale der einzelnen Völker können bei der Lektüre ihrer pädagogischen Schriften erkannt werden. Denn diese werden, wenn sie anfangs auch nur triebhaft und unbewußt verfolgt werden, mit fortschreitender kultureller Entwicklung immer deutlicher bewußt, begrifflich durchdacht und schließlich auch literarisch festgelegt. So sieht der Leser der pädagogischen Schriften verschiedener Völker ihre voneinander abweichenden Erziehungsziele nebeneinander im gleichen Zeitabschnitt: z. B. citizenship in USA., das Gentlemanideal bei den Engländern, die culture générale bei den Franzosen und das Ideal der Allgemeinbildung bei den Deutschen. Das Studium auslandspädagogischer Literatur führt auch zur Erkenntnis der nationalen Verschiedenheit in Einzelheiten erziehungswissenschaftlicher Forschungsarbeit bis in die bei den einzelnen Völkern mit Vorliebe in Angriff genommenen Arbeitsgebiete und die bevorzugten Arbeitsmethoden. So beschäftigte sich z. B. die pädagogische Forschung in dem ersten Jahrzehnt nach dem 1*
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Weltkrieg 1914—18, als in Deutschland die Problematik der pädagogischen Grundbegriffe und die Arbeitsschulidee das pädagogische Denken in großem Umfang beschlagnahmte, in USA. besonders mit der praktischen Soziologie, der staatsbürgerlichen Erziehung und der Eignungsfeststellung und bevorzugte die experimentellen Methoden, während in Frankreich das Problem der Einheitsschule, der école unique, das Zentrum des pädagogischen Interesses bildete. Die nationale Eigenart reicht aber noch weiter. Die pädagogischen Begriffe einschließlich des Begriffs der Erziehung stimmen bei den verschiedenen Völkern nicht überein. Die gleichen pädagogischen Gegenstände finden bei ihnen verschiedene Bearbeitung, die gleichen Probleme voneinander abweichende Lösungen, die gleichen pädagogischen Fragen verschiedene, der geistigen Haltung der Länder entsprechende Beantwortung. Das wird beim Studium auslandspädagogischer Literatur klar. Ein in dieser Beziehung sehr aufschlußreiches Buch stammt von dem amerikanischen Pädagogen Carleton Washburne, dem Vater des sogenannten Winetka-Planes (3), in dem er über einen Versuch berichtet, den er 1930/31 anstellte. Er unternahm eine Reise durch Japan, China, Indien, Persien, die Türkei, Ägypten und durch die wichtigsten Staaten von Europa und legte in allen Ländern den auf die Entwicklung ihrer öffentlichen pädagogischen Meinung einflußreichsten Männern und Frauen (4) mehrere pädagogische Probleme in Form von Fragen zur Diskussion und zur Beantwortung vor. Das Ergebnis seiner pädagogischen Weltfahrt veröffentlichte er 1932 in seinem Buch „Remakers of Mankind" (5). Wenn gegen das Verfahren methodologisch auch große Bedenken bestehen, so kann man doch wohl als Ergebnis dieser Untersuchung den Nachweis der Abweichung des Denkens der verschiedenen Völker voneinander auch in pädagogischen Einzelfragen anerkennen. Das erste von Washburne vorgelegte Problem war das Verhältnis von Erziehung und Gesellschaft oder — anders formuliert — die Frage nach der sozialen Aufgabe der Erziehung. Sie fand eine dreifache Beantwortung. Die erste, die in der Mehrzahl der besuchten Länder gegeben wurde, war konservativ und sah die Aufgabe aller Erziehung darin, die Jugend zur Teilnahme an der im Lande bestehenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung, also zu guten Bürgern des bestehenden Staates zu erziehen. Die zweite, die damals in Rußland und Italien erfolgte, stellte der Erziehung die Aufgabe, die bestehende soziale Ordnung zu beseitigen und eine neue, vorher ausgedachte und bis in die Einzelheiten geplante zu verwirklichen. Die dritte Antwort, die Washburne damals in Deutschland aus den Kreisen der extremsten Reformpädagogen erhielt, bestritt der Erziehung sowohl die Aufgabe der Sicherung der bestehenden wie die Einführung einer neuen Gesellschaftsordnung mit der Begründung, daß die erziehende ältere Generation ja selbst die ideale Form der menschlichen Gesellschaft nicht kenne. Die Aufgabe der Erziehung sei daher, die Individualität des Kindes mit Hilfe einer reichen Auswahl der für sein Wachstum notwendigen und wertvollen Bildungsgüter so vollkommen als möglich zu entwickeln. Das so
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entwickelte Individuum werde dann später besser als seine Erzieher wissen, welche soziale Ordnung es aufbauen wolle. Der zweite Problemkreis, aus dem Washburne seine Fragen nahm, war durch die beiden Begriffe Nationalismus und Internationalismus gekennzeichnet. Er fragte z. B.: Soll die Jugend so erzogen werden, daß sie die Forderungen ihres Landes den Forderungen ihres persönlichen Gewissens voranstellt (right or wrong my countiy), oder so, daß sie sidi auch den nationalen Forderungen gegenüber an ihre persönliche Überzeugung von dem, was recht ist, gebunden fühlt? Eine weitere hierhergehörige Frage bezog sich auf den Geschichtsunterricht. Soll er objektiv oder so erteilt werden, daß er auf jeden Fall — sogar um den Preis geschichtlicher Genauigkeit und Wahrheit — für ein bestimmtes nationales Ziel erzieht und Liebe zum Vaterland und den nationalen Helden einflößt? Soll durch ihn in jedem Fall die Überzeugung vom Recht des eigenen Landes und der Glaube an die Fleckenlosigkeit der nationalen Helden geweckt werden, oder soll die Jugend auch ihre Fehler und Schwächen sehn? Die Fragen der dritten Gruppe waren mehr technischer Art und bezogen sich auf den Inhalt der Lehrpläne. Es wurde z. B. gefragt, ob der Lehrplan im voraus, getragen von der Einsicht in die Notwendigkeit eines bestimmten Maßes von Wissen und Können, das jedes Kind als Erwachsener braucht, aufgestellt werden solle. Oder ob er entsprechend dem kindlichen Wachstum verfaßt werden und nur das enthalten solle, was nötig sei für ein befriedigendes Wachstum des Kindes und zu seinem vollen Leben auf jeder Entwicklungsstufe. Mit anderen Worten: Soll der Lehrplan statisch (6) oder dynamisch (7) aufgebaut sein? Auch bei der Beantwortung dieser zweiten und dritten Fragengruppe zeigten sich, ohne daß das hier im einzelnen belegt werden soll, nationaltypische Verschiedenheiten, indem die Befragten des einen Volkes sich für die erste und die eines anderen sich für die zweite der sich widersprechenden Ansichten entschieden. Auch das Studium historisch-pädagogischer Literatur der verschiedenen Völker liefert dem Leser Belege für die Behauptung der nationaltypischen Eigenart. Er erkennt, daß die gestaltenden Faktoren des Erziehungs- und Bildungswesens der einzelnen Länder in dessen geschichtlicher Entwicklung entweder verschieden waren oder, wenn sie übereinstimmten, sich wenigstens in verschiedenem Grade auswirkten, und daß auch das Entwicklungstempo der Völker im pädagogischen Bezirk individuell verschieden war. Das eine nationale Erziehungssystem wurde in der Hauptsache durch behördliche Initiative nach vorheriger sorgfältiger Planung (Preußen, Deutschland), das andere unter nur langsamem und versuchsweisem Eingreifen der staatlichen Autorität auf der Basis der Erfahrung, nicht auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse (England), ein drittes endlich in der Hauptsache durch die spontane Tätigkeit von Einzelpersonen und Gruppen (board, committee) und in Rücksicht auf soziale Notwendigkeiten geschaffen (USA.). Die nationale Verschiedenheit erscheint auch deutlich in der Entwicklung
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der verschiedenen Schularten. Der Gedanke einer allgemeinen Volkserziehung z. B. erwachte in den einzelnen Ländern nicht zur gleichen Zeit, und die Begründung einer staatlichen Volksschule erfolgte in ihnen in ganz verschiedenen Zeitabschnitten. Die allgemeine Schulpflicht und die Schulgeldfreiheit wurden in ihnen, wie wir später im einzelnen sehen werden, in Abständen von Jahrzehnten oder sogar von einem Jahrhundert und mehr eingeführt. Auch in dem treibenden Motiv zur Begründung des Volksschulwesens finden sich in den einzelnen Ländern charakteristische Unterschiede. In dein einen Staat, z. B. in Preußen, war es die Idee der allgemeinen Menschenbildung, in einem anderen, z. B. in England, mehr das philanthropische Bemühen, den Armen, den bisher von der Bildung ausgeschlossenen, sozial benachteiligten Massen Anteil an ihr zu gewähren, und in einem dritten, z. B. in USA., die Erkenntnis, daß die demokratische Staatsform eine gewisse Allgemeinbildung und staatsbürgerliche Erziehung aller ihrer Glieder voraussetzt. Auch die Entwicklung des höheren Schulwesens (8) ist in den einzelnen Staaten ihre eigenen Wege gegangen, obwohl der Ausgangspunkt der gleiche war. Im Mittelalter war der höhere Unterricht ein Stück des Hochschulunterrichtes, der in den Universitäten in der sogenannten Artistenfakultät gegeben wurde und der Vorbereitung für die Spezialstudien in den drei anderen Fakultäten, der theologischen, der juristischen und medizinischen, diente. Nach und nach ist nun der höhere Unterricht von der Hochschule losgelöst und zu einer Schulform zwischen Elementar- und Hochschule geworden. Dieser Loslösungsprozeß ist nicht überall in demselben Tempo verlaufen und auch nicht überall mit derselben Strenge durchgeführt worden. Einzelne konservative Völker haben an dem mittelalterlichen Aufbau lange festgehalten, z. B. die Engländer und die Schotten, so daß bei ihnen und bei solchen Völkern, die sie bei der Organisierung ihres Schulwesens zum Vorbild nahmen, die Unterscheidung zwischen höherer Schule und Hochschule lange unbestimmt war und selbst heute noch ist. In Frankreich ist die Scheidung zwar deutlicher ausgesprochen, aber es bestehen noch Zusammenhänge, z. B. im Prüfungswesen und der Rekrutierung einer Gruppe der Hochschulprofessoren, während in Deutschland die Trennung organisatorisch reinlich durchgeführt ist. übrigens ist auch die Trennung der höheren Schule von der Volksschule bei den einzelnen Völkern in verschiedener Schärfe verwirklicht. Verhältnismäßig gering war die Kluft zwischen ihnen in einzelnen der kleinen europäischen Königreiche, wie Holland, Dänemark, Norwegen, Rumänien, und ebenso in USA., so daß dort der Übergang von der Volks- zur höheren Schule leicht und ohne viele Umstände möglich war, die letztere vielfach geradezu als die natürliche Fortsetzung der ersteren betrachtet werden konnte. Am schärfsten war die Trennung beider Schularten in Frankreich. Mit der école secondaire waren classes élémentaires verbunden, die der höheren Schule den Schülernachwuchs lieferten und es ihr unnötig machten, diesen aus der Volksschule, der école primaire, zu beziehen. Und um die Kluft noch vollständiger zu machen, wurde für
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den Volkssdiüler ein höherer Unterricht an die Volksschule angegliedert, der enseignement primaire supérieur. Eine ähnliche, wenn auch nicht so ausgesprochene und allgemeine Kluft bestand auch in Deutschland zwischen Volksund höherer Schule in der Zeit der nach dem Weltkrieg 1914—18 wieder abgeschafften sogenannten „Vorschule". Unmittelbarer und eindrucksvoller als der Pädagoge, der die Auslandspädagogik aus Büchern studiert, erlebt die charakteristische Eigenart der verschiedenen Landespädagogiken in der Regel derjenige, der sich im Ausland selbst durch Besuch der Sdiulen, der anderen Bildungseinrichtungen, der pädagogischen Forschungsinstitute und durch Verkehr mit Schulbehörden und Lehrern der verschiedenen Schularten um ihre Kenntnis bemüht; denn Vorstellungen und Begriffe sind immer blasser und unanschaulicher als die konkrete Wirklichkeit. So fällt ihm schon bald der Unterschied in dem Aufbau der Schulorganisation der verschiedenen Völker auf. So empfand der sich im Ausland aufhaltende Deutsche, der an das straff zentralisierte, aber äußerst vielgestaltige und nicht einheitliche, mit einer großen Zahl von Schultypen und verhältnismäßig wenigen privaten höheren Schulen ausgestattete Schulwesen seines Landes gewöhnt war, den fast chaotischen Zustand des englischen Schulwesens, das Fehlen staatlicher Schulen im deutschen Sinne und den Umstand, daß in England nahezu jeder eine Schule gründen und Lehrer sein konnte, als andersartig. Ebenso erschien ihm der eine einheitliche Schulaufbau vom Kindergarten bis zur Universität — das sogenannte one-ladder-System in USA. — und das Zweileitersystem Frankreichs, das aus einem staatlichen und einem freien (école libre), von Privaten oder Vereinigungen getragenen Schulsystem besteht, die beide alle Schularten von der Kleinkinderschule bis zur Universität umfaßten, als nationaltypisch. Er fand dabei Gelegenheit, die Vor- und Nachteile der Zentralisation und Dezentralisation in der Schulverwaltung der Länder zu beobachten. Bei der ersteren wird, wie z. B. in Preußen, Frankreich, Südafrika, das gesamte Schulwesen des Landes in größerem oder geringerem Maße von einer zentralen Stelle aus geleitet, bei der letzteren ist die Einflußnahme auf die Schulverwaltung, wie z. B. in England und Kanada, auf mehrere Behörden oder Selbstverwaltungskörperschaften verteilt. Vielleicht war er auf Grund theoretischer Überlegungen im Anfang der Meinung, daß Zentralisierung die Gefahr tödlicher Einerleiheit und mangelnder Anpassung an die landschaftlichen und örtlichen Verhältnisse und Bedürfnisse in sich schließe, während die dezentralisierte Schulverwaltung gesunde Mannigfaltigkeit und vielseitige Anpassungsfähigkeit an die örtlichen Verhältnisse begünstige. Aber wenn er seine Auslandstudien fortsetzte, erkannte er vielleicht bald, daß er vorschnell geurteilt hatte. Vielleicht kam er in ein Land mit zentralisierter Schulverwaltung, in dem das Schulwesen ebenso mannigfaltig und den lokalen Bedingungen angepaßt war, wie in Ländern mit dezentralisierter Unterrichtsverwaltung. Südafrika mit seiner in Pretoria zentralisierten Verwaltung steht z. B. in dieser Beziehung nicht hinter dem dezentralisierten Kanada 7
zurück. Und es ging ihm allmählich auf, daß Mannigfaltigkeit (diversity) und Anpassungsfähigkeit (flexibility) des Schulwesens außer von der Zentralisation bzw. Dezentralisation der Schulverwaltung von andern Faktoren abhängig ist, z. B. von dem Grade der Unabhängigkeit der Lehrkräfte von lokaler Eifersucht und lokalen Vorurteilen, von dem Umfang der Unterstützung, den sie bei ihrer beruflichen Tätigkeit von den einsichtigen und aufgeklärten Mitgliedern der Selbstverwaltungskörperschaften erhalten, und vor allem von den allgemeinen Grundsätzen, die dem ganzen Schulverwaltungssystem zugrunde liegen und in der Art der Schulaufsicht ihren Ausdruck finden. Die Eigenart des pädagogischen Bezirks zeigt sich dem Besucher fremder Länder außerdem in vielen anderen Beziehungen, z. B. in der Lage und der Architektur der Schulhäuser, in der Einrichtung der Schulzimmer und im inneren Leben der Sdiule, in ihren Aufgaben und Zielen, in den in ihr angewandten Unterrichts- und Erziehungsmitteln, in den vertretenen Unterrichtsfächern und den ihnen zugebilligten Wochenstunden, in den Lehrplänen und der Höhe ihrer Forderungen, den angewandten Unterrichtsmethoden, der Art der Schuldisziplin und den Mitteln ihrer Begründung, den Stundenplänen und Ferienordnungen und vielen andern Einzelheiten. Es steht mir hier nicht im entferntesten der Raum zur Verfügung,, um die nationale Eigenart in all diesen Beziehungen durch Beispiele zu belegen. Ich muß mich mit einigen wenigen, die aber zur Grundlegung des Nachfolgenden hinreichen, begnügen. Und ich kann das um so eher, weil auch in den späteren Kapiteln dieses Buches immer wieder Belege für die Eigenart der Pädagogik der verschiedenen Länder auftreten. Z . B. wird in den einzelnen Ländern die Charaktererziehung in ganz verschiedenem Umfang Unterricht und Lehrer zugeschrieben. Da, wo sie, wie z. B. in Frankreich, hauptsächlich von der Familie oder dem Internat erwartet oder wo sie, wie in Italien, im wesentlichen von den nationalen Jugendbünden gefordert wurde, trat die erzieherische Aufgabe der Schule mit Notwendigkeit zurück. Auch ihre bevorzugten Mittel sind nationaltypisch verschieden. Während in einzelnen Ländern die körperliche Züchtigung nicht zu den legalen Erziehungsmitteln gehört, spielt sie in den Schulen anderer Länder eine große Rolle. W ä h rend bei einem Volk der Appell an die ratio, das Vernünfteln und Räsonieren die hauptsächlichsten schulischen Erziehungsmittel sind, ist es bei einem andern die Einordnung in die Gruppe, die Unterordnung unter ihre Regeln und ihre Führer, bei einem dritten die frühe Gewährung der Selbständigkeit an die Schüler. Frankreich, wo schon der Kleine in der Kinderstube mit einem „Sois raisonable" (siehe dagegen das deutsche „Sei artig" und das englische „Be good") ( 9 ) „Sei vernünftig" ermahnt wird und sehr rationaler Moralunterricht der Erziehung dienen soll, England, wo die Sport- und Spielmannschaft (team) und ihr Captain wichtige Erziehungsfaktoren sind und die Unterordnung unter die Spielregeln ein Mittel des Charaktertrainings ist, und die Vereinigten Staaten, wo das „Selfgovemment", die Selbstregierung der Schüler, als wichtiges Erziehungsmittel betrachtet wird, sind die Repräsentanten dieser drei verschiedenen Metho-
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den der Jugenderziehung. — Vielleicht am deutlichsten tritt dem, der pädagogische Auslandsstudienreisen macht, der Unterschied der Länder und Völker an den Lehrern der verschiedenen Schularten entgegen, mit denen er in Berührung kommt. Ihre Allgemein- und ihre Berufsbildung, ihr Standesbewußtsein und ihr Berufsethos, ihre soziale Stellung, ihr Einkommen, die für sie geltende Disziplinarordnung, ihre politische Einstellung, ihr Charakter als staatlicher Funktionär, als lebenslänglich oder auf Zeit angestellter Beamter (Staats-, Kommunal- oder Privatbeamter), ihre Berufsorganisationen, ihre hervorstechendsten Standestugenden und -fehler sind fast von Land zu Land verschieden. In den einzelnen Ländern ist auch der prozentuale Anteil der beiden Geschlechter an der Gesamtheit der Lehrkräfte ungleich groß. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren in England und Amerika 5 8 % , in Österreich 55 und in Preußen nur 7 % aller Lehrkräfte weiblichen Geschlechts (10). In USA. wurden nach dem Weltkrieg 8 0 % der Lehrkräfte, auch an Knabenschulen, durch das weibliche Geschlecht gestellt. In den meisten europäischen Staaten haben heute die Knaben Lehrer und die Mädchen in der Hauptsache Lehrerinnen. In einzelnen orientalischen Staaten ist der Anteil des weiblichen Geschlechts am Lehrstand gering oder gleich Null. Auch in der Ausbildung der Lehrer zeigen sich bei den verschiedenen Völkern typische Züge. Während bei der einen Nation die ganze Lehrerbildung bereits einheitlich geordnet ist, gibt es bei einer andern verschiedene Ausbildungswege und bei einer dritten fehlt es noch völlig an eigenen Anstalten zur beruflichen Ausbildung der zukünftigen Lehrer. In der Zeit, während welcher in Deutschland die Volksschullehrer in eigenen Hochschulen — anfangs „Pädagogische Akademien", später „Hochschulen für Lehrerbildung" genannt—ausgebildet wurden, existierten in andern Ländern noch die nach dem Vorbild der preußischen Lehrerseminare gebildeten Anstalten, z. B. die écoles normales in Frankreich, und wirkten in USA. Volksschullehrer verschiedener Ausbildung nebeneinander, nämlich 1. solche, die nach der allgemeinbildenden Schule (high school) keine besondere Berusfausbildungsschule besucht hatten, 1. solche, die auf einer Universität oder auf einem mit einer Universität verbundenen Institut (z. B. im Teacher's College der Columbia University in New York) ausgebildet worden waren, 3. solche, die auf einer s e l b s t ä n d i g e n pädagogischen Hochschule (z. B. auf dem Peabody College in Nashville in Tennessee), und endlich 4. solche, die auf einem amerikanischen Lehrerseminar, einer normal school, für ihre Arbeit in der Schule vorbereitet worden waren. Wir haben im vorangehenden versucht, die Eigenart der pädagogischen Theorie und Wirklichkeit verschiedener Völker durch eine größere Zahl von Beispielen zu veranschaulichen. Wenn wir diese Einzelzüge, was leicht möglich wäre, vermehrten, so würde sich dadurch das Ergebnis unserer Darstellung nicht wesentlich ändern und unsere Einsicht in die nationaltypische Eigenart des pädagogischen Bezirks nicht vertiefen. Aber vielleicht ist noch ein anderer Weg ihres Nachweises, der diese Wirkung hat, denkbar. Wer die pädagogische
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Theorie und Praxis eines einzelnen Volkes gründlich kennengelernt hat, vor dessen innerem Auge steht schließlich, zumal wenn er etwas Abstand davon genommen hat, die ganze Pädagogik des betreffenden Volkes als ein e i g e n a r t i g s t r u k t u r i e r t e s G a n z e s , unverwechselbar mit dem pädagogischen Organismus anderer Völker. Worin diese deutlich empfundene Eigenart im Innersten besteht, welches das Grundgesetz dieses Strukturzusammenhanges ist, weiß er allerdings nicht, und auch die Erziehungswissenschaft kann ihm auf die Frage danach vorläufig noch keine Antwort geben. Vielleicht kommt sie mit fortschreitender Entwicklung auf dem Wege über die Entwicklungsfaktoren der Pädagogik der Völker eines Tages so weit. Der Pädagoge muß sich also damit begnügen, die nationalfe Pädagogik eines Volkes als Ganzes durch das Wort, den Namen, die Bezeichnung als amerikanische, japanische, italienische usw. Pädagogik festzuhalten. Die anschauliche und lebendige Erkenntnis, daß in der Regel jedes Volk seine ihm ur- und eigentümliche Pädagogik besitzt, die sich von der aller anderen Völker unterscheidet, führte infolge der Verfassung des forschenden Mensdiengeistes, der sich auf keinem Forschungsgebiet mit der Feststellung der Erscheinung, der bloßen Beschreibung (descriptio) begnügt, sondern immer nach den Ursachen, Motiven und Gestaltungsfaktoren der Entwicklung des Gewordenen fragt (explicatio), schon bald zu der Frage nach den Ursachen der völkischen Eigenart der Pädagogik. Bevor wir uns ihrer Beantwortung zuwenden, muß noch darauf hingewiesen werden, daß der Betrachter des Schulwesens und des pädagogischen Denkens der verschiedenen Völker nicht nur Unterschiede, sondern auch Übereinstimmungen zwischen ihnen feststellt. Wenn diese fehlten, wäre ja ihr Vergleich überhaupt nicht möglich. Es ist leicht, eine große Zahl solcher Gemeinsamkeiten aufzuzählen, und der Leser wird ihre nachfolgende kurze Reihe ohne große Mühe weiterführen können. Bei allen Kulturvölkern finden wir Schulen als Stätten der Erziehung und des Unterrichtes, und zwar in der Regel in einer Dreigliederung, die der deutschen in Volks-, Höhere und Hochschulen in irgendeiner Weise entspricht. Bei allen Völkern sind die reiferen Erwachsenen die Lehrer und Erzieher der Kinder und Jugendlichen, überall finden wir einen eigenen Berufsstand der Lehrer, der unterrichtet und erzieht und sich dabei gleicher oder verwandter Mittel bedient. Wie alles bewußte Tun, ist die berufliche Tätigkeit der Lehrer bei allen Nationen zielgerichtet. Die Ziele schweben ihnen mehr oder minder deutlich bewußt als Erziehungs- und Bildungsideale vor. Bei allen Kulturvölkern sucht man die Fragen, die sich beim Unterrichten und Erziehen ergeben, denkerisch zu bewältigen. So entwickelt sich bei allen eine — wenn auch nach Inhalt und Umfang verschiedene — theoretische Pädagogik. Bei diesen und ähnlichen Übereinstimmungen erhebt sich ähnlich wie bei ihrer nationalen Eigenart — die Frage nach ihren Ursachen, die aber leichter zu beantworten ist als die nach den Ursachen und Bedingungen der letzteren. Die Übereinstimmungen können begründet sein: 1. im Wesen der Erziehung und
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des Unterrichts bzw. des pädagogischen Tuns und 1. im allgemeinen menschlichen Wesen der dabei Beteiligten, des Zöglings und des Erziehers, des Schülers und des Lehrers. Z. B. gehört es zum Begriff der Erziehung im weiteren Sinne, daß der Erzieher den subjektiven und der Zögling den objektiven Pol darstellt, daß der erstere durch den Reifen und Erwachsenen, der letztere durch Kind oder Jugendlichen repräsentiert wird, daß der erstere dem letzteren von seinem Wissen vermittelt, ihn an bestimmte innere Haltungen und äußere Verhaltungsweisen gewöhnt oder dessen Selbsttätigkeit nach dieser Richtung hin durch Belehren, Gebieten und Verbieten, Ermahnen, Loben, Belohnen, Tadeln, Strafen und andere Mittel zu wecken, zu erhalten und zu steigern sucht. Die in Frage stehenden Übereinstimmungen liegen aber auch begründet im gemein-menschlichen Wesen. Die Schüler und Lehrer der verschiedenen Nationen sind als Menschen mit geistigen Fähigkeiten ausgestattet, für die, wenn sie auch völkische Eigenart besitzen, doch die gleichen großen Gesetze der Entwicklung und Betätigung gelten. Daher muß z. B. der Lehrer und Erzieher bei allen Völkern, wenn er Erfolg haben will, diesen Gesetzen bei seinem beruflichen Tun Rechnung tragen, sich — unbewußt oder bewußt — ihnen anpassen. Daher findet sich ja auch bei allen Kulturvölkern eine fortschreitende Psychologisierung des Unterrichts und der Erziehung. Der pädagogische Bezirk verschiedener Völker kann aber auch dadurch zu Ubereinstimmungen gelangen, daß ein Volk vom anderen pädagogische Anschauungen, Methoden und Einrichtungen in freiwilliger und bewußter Nachahmung oder in unbewußter Angleichung übernimmt, oder dadurch, daß ein Volk dem andern von seinem pädagogischen Besitz bewußt zuführt, vielleicht sogar aufzwingt. Damit sind wir bei dem Rahmenproblem dieses Buches „Der Einfluß der Pädagogik eines Volkes auf das Ausland" angelangt. Ehe wir mit seiner Behandlung beginnen, wollen wir noch auf einem zweiten Wege an es heranführen, und zwar auf dem Wege der Beantwortung der Frage nach den Ursachen der nationalen Eigenart der Pädagogik der Völker, unter denen ebenfalls der Auslandseinfluß erscheinen wird. „Jede, von Menschen vollzogene Erziehung resultiert aus mannigfachen Bedingungen." (11) An Versuchen, sie zu gruppieren, fehlt es nicht ganz. Schulze-Soelde unterscheidet ohne Anspruch auf Vollständigkeit natürliche, totalhistorische, epochalhistorische und individuell persönliche Voraussetzungen. Aber bei ihrer Darstellung und der Entwicklung von Gesetzmäßigkeiten greift er nicht auf die pädagogische Wirklichkeit verschiedener Völker zurück und beantwortet nomothetische und nicht idiographische Fragestellungen. Die Untersuchung und Darstellung der Bedingungen der nationalen pädagogischen Verschiedenheiten in concreto steckt noch in den Anfängen. Aber so viel darf man doch wohl sagen: Die Eigenart der theoretischen Pädagogik und des Schulwesens des einzelnen Volkes hängt von einer Reihe von Ursachen und Bedingungen ab, die in enger wechselseitiger Verflechtung unmittelbar oder mittelbar auf ihre Entwicklung gestaltend einwirkten. Die wichtigsten von ihnen sind der
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Charakter des betreffenden Volkes, die landschaftliche Eigenart des von ihm bewohnten geographischen Raumes, seine Kultur und Zivilisation, seine soziologische Aufteilung, sein Schicksal und sein geschichtliches Werden, die Politik, die dialektische Selbstentfaltung der pädagogischen Ideen und last not least der pädagogische Einfluß anderer Länder. Diese Abhängigkeitsbeziehungen sind bisher weder hinreichend erforscht noch dargestellt worden. Ja, sie sind selbst im Kreise der Fachleute, der praktischen Pädagogen und der Erziehungswissenschaftler, nicht einmal grundsätzlich allgemein bekannt bzw. als richtig anerkannt. Es kann nun nicht unsere Absicht sein, diese noch fehlende Bearbeitung hier nachzuholen. Das ist schon deshalb unmöglich, weil in einem der Behandlung der Weltgeltung der deutschen Pädagogik gewidmeten Buch eine eindringliche Behandlung dieser Problematik eine unberechtigte Verschiebung des Schwerpunktes des ganzen Werkes herbeiführen würde. Wir wollen uns hier nur mit der letzten der aufgezählten Bedingungen beschäftigen, weil sie der Grundlegung und wissenschaftlichen Einordnung des Hauptthemas dient, mit dem Einfluß der Pädagogik anderer Länder auf die Entwicklung der Pädagogik des einzelnen Volkes. In diesem Auslandseinfluß kann man nach seinem formalen Ablauf drei Arten unterscheiden: 1. die mechanische Übernahme oder bloße Nachahmung, die in der Regel ohne Rücksicht darauf erfolgt, ob die Struktur des übernommenen der eigenen Volksart angemessen ist; 1. die ekklektizistische Übernahme, bei der nach vorausgegangener kritischer Beurteilung des ausländischen Vorbildes vom eigennationalen Standpunkt aus nur das als wertvoll und geeignet Erkannte übernommen, dabei aber in der Regel entsprechend der Individuallage des eigenen Volkes abgeändert wird; 3. die produktive Übernahme, die darin besteht, daß durch die Berührung mit der ausländischen Erziehungswirklichkeit und Theorie die schöpferischen pädagogischen Kräfte des eigenen Volkes in Aktion gesetzt werden. Von diesen drei Wegen übernationaler pädagogischer Assimilation führt der erste zu vermehrter Übereinstimmung zwischen der Pädagogik der beiden in Frage kommenden Länder, der zweite und dritte in der Regel zur Bereicherung der Eigenart des beeinflußten Volkes. Dieser gestaltende Auslandseinfluß hat hie und da kritische Beurteiler, ja sogar grundsätzliche oder gelegentliche Absage und Kampfansage gefunden. Ist diese Haltung berechtigt? Die grundsätzliche Forderung der Autarkie für die Pädagogik eines Volkes ist ebensowenig berechtigt, wie die weitergehende der kulturellen Autarkie überhaupt. Es besteht eine gewisse Analogie zwischen der einzelmenschlichen und der Entwicklung der Völker. Gewiß entwickelt sich das Individuum zum Teil spontan aus eigener Kraft. Das in ihm liegende Aufbau- und Entwicklungsgesetz, seine Entelechie, trägt die Kraft der Auszeugung in sich. Aber die Pflege und 12
Erziehung durch andere Menschen muß hinzukommen. Von ihnen empfängt es Anregungen, Wissensbesitz und Ziele seines Strebens. O f t ist sogar der Widerstand, der ihm in ihnen begegnet, für das Individuum von Vorteil, weil es in seiner Bekämpfung erstarkt. Die Abhängigkeit der individuellen Entwicklung von dem Einfluß anderer Mensdien findet ihr Analogon in der Bedingtheit der Entwicklung der Völker durch die Berührung mit anderen. Jedes Volk hat, wie das Individuum, zwar seine Eigenart, die sich wie diese zum Teil aus eigener Kraft von innen her entfaltet. Aber zu seiner vollen Entwicklung bedarf es auch der Einwirkung anderer Völker. Die Kulturgeschichte lehrt an vielen Beispielen in anschaulicher Weise, daß sich aus der Berührung zweier Völker oft für eins von ihnen, mitunter aber auch für beide, kultureller Fortschritt ergab, am ehesten natürlich bei dem mit der geringeren Kulturhöhe. Große kulturelle Fortschritte sind bei manchen Völkern gerade in den Zeitabschnitten zu verzeichnen, in denen sie im lebhaften Verkehr mit dem Ausland standen. O b der letztere nun auf Krieg oder Handel zurückzuführen war oder in freundschaftlichem Besuch bestand, immer tauschten Sieger und Besiegte, Käufer und Verkäufer, Gast und Gastgeber Ideen und praktische Ratschläge aus, die Anlaß gaben zur Selbstprüfung, zum Studium der kulturellen Unterschiede und zur Einführung von Verbesserungen und Neuerungen. Auf diese Weise haben z. B. die Kreuzritter und manche andere Krieger und Eroberer neue Ideen in ihr Heimatland gebracht. Die aufeinanderfolgenden Handelszentren im Laufe der Jahrhunderte wurden auf diese Weise auch Zentren des Fortschritts und der Zivilisation. Und andererseits zeigt die Geschidite der Kultur, daß Völker, die infolge ihres Charakters oder der besonderen geographischen Lage ihres Landes gar nicht oder nicht genügend mit anderen Völkern in Berührung kamen — wie die Tibetaner hinter den Höhen des Himalaya und die alten Chinesen hinter der großen Mauer — in ihrer kulturellen Entwicklung stehenblieben oder nur langsame Fortschritte machten. Grundsätzlich wird die kulturelle Autarkie heute audi deshalb wohl kaum noch gefordert, weil die Möglichkeit ihrer Durchführung immer geringer wird. Die Entwicklung der Verbindungswege, erleichtertes Reisen, Bücherexport, Zeitungen und Radio überbrücken die die Völker trennenden Räume. Selbst unter Anwendung staatlicher Machtmittel könnte sich ein Volk nicht ganz von der kulturellen Verbindung mit anderen Völkern freimachen. Die Forderung der kulturellen Autarkie eines Volkes ist daher unberechtigt und undurchführbar. Das bedeutet aber keineswegs, daß sich die Völker völlig und unkritisch dem ausländischen Kultureinfluß öffnen dürfen; denn mit den guten fänden dann auch die schädlichen Kräfte ungehinderten Eingang. Viele primitive Völker empfingen durch die Verbindung mit der abendländischen Kultur wertvolle Gaben, wie das Christentum und manche kulturell oder zivilisatorisch wertvollen Dinge; aber gleichzeitig fanden der Alkohol, die europäischen Laster und Waffen und die venerischen Krankheiten Eingang. Rom importierte die griechische Kultur, aber gleichzeitig mit ihr auch orientalische Laster. 13
So wenig also die kulturelle Autarkie ein erstrebenswertes Ideal ist, ebensowenig das bedingungslose Geöffnetsein für das Einströmen ausländischer Kultur. Das Richtige besteht in der kritischen Regelung dieses Einflusses und der Zulassung nur des kulturell Wertvollen und zur Volkseigenart Passenden. Dann kann auch der zweite Nachteil, der mit der hemmungslosen Übernahme fremden Kulturgutes durch ein Volk verbunden ist, verhütet werden: die Überfremdung, die Schwächung der völkischen Eigenart. Die Kulturgeschichte — nicht zum wenigsten die des deutschen Volkes — zeigt, daß diese Gefahr nicht eine bloß erdachte ist, sondern wirklich besteht, wenn sie auch nicht so schnell wirklich wird, wie manche überängstliche Hüter der völkischen Eigenart meinen. Die Bedeutung der Berührung mit der Kultur anderer Völker für die Entwicklung des einzelnen Volkes wurde in den verschiedenen Ländern früher oder später erkannt und dann in der Regel nicht mehr nur dem Zufall überlassen, sondern absichtlich und planmäßig gesucht und rationalisiert. Davon entwirft Francis Bacon schon vor mehr als 300 Jahren in seiner Darstellung des Ideals einer fortgeschrittenen Gesellschaft, der N o v a Atlantis, ein anschauliches Bild. In ihr war eine gewisse nationale Isolierung durch die Tugend großer Zurückhaltung gesichert. Einwanderung war gesetzlich begrenzt, und Auslandsreisen waren verboten. Seit die Handelsleute, Seeleute und Soldaten im Lande gehalten wurden und nicht über die Grenzen hinaus kamen, entstanden keine internationalen Streitigkeiten mehr, und es gewannen auch keine körperlichen und geistigen Ansteckungen vom Ausland her Einfluß. Aber eine Form des internationalen Handels wurde beibehalten und sorgfältig organisiert, ein Handel, der nach den Worten Bacons den Vorteil hatte, das Gute, das aus dem Verkehr mit den Fremden kommt, zu schützen und das Schlechte zurückzuhalten. Der König des Idealstaates gab den Befehl, alle zwölf Jahre zwei Schiffe außer Landes zu schicken. In jedem der Schiffe sollten drei weise Männer sein, die die Aufgabe hatten, die Kenntnis der wichtigsten Ereignisse, der herrschenden Zustände, der Fortschritte der Wissenschaften und Künste, der Neuerungen in der Technik und der Erfindungen aus den anderen Ländern zu ihrem Volk zu bringen und außerdem Bücher, Instrumente und Muster jeder Art. Kaufleute des Lichts, „merchants of light", wurden diese Vermittler ausländischer Kultur genannt. Solche Vermittler der Kulturgüter über die Grenzen hat es bei allen Völkern und zu allen Zeiten gegeben, wenn auch von ungleicher Zahl und Wirkkraft. Infolgedessen hat — um nur einige Beispiele zu nennen — Mathematik eine bei allen Kulturvölkern verständliche Sprache. Die Zeichen der chemischen Elemente und die Formeln der Physik kennen keine nationalen Grenzen. Die in Deutschland erfundene Buchdruckerkunst eroberte sich die ganze Welt. Die Hl. Schrift, die Nachfolge Christi, Goethe, Schiller, Shakespeare und Dante werden in allen Erdteilen, sowohl in der Originalsprache wie in Übersetzungen gelesen. Die meisten Völker haben durch die eigene geschichtliche Erfahrung belehrt, Mittel und Wege gefunden, um der Überfremdung zu begegnen, um den
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Kontakt mit dem Ausland fruchtbar zu gestalten und die beiden extremen Einstellungen — kulturelle Absperrung gegen das Ausland und totales Geöffnetsein> für alle ausländischen Kultureinflüsse — zu vermeiden. Als eines der letzten fand China diesen Weg. Seine Entwicklung ist in dieser Beziehung besonders lehrreich. Im Anfang dieses Jahrhunderts noch unter der kaiserlich chinesischen Regierung wurde der Abschluß des Landes nach außen aufgehoben, und es setzte ein ungeleiteter Import ausländischer Kultur und Zivilisation ohne Rücksicht auf das geschichtlich Gewordene und Wesenseigene dieses Weltreiches von alter Kultur ein, und zwar nacheinander und zeitweise auch gleichzeitig aus Japan und Deutschland, aus Frankreich und aus der angloamerikanischen Welt. Aus der Unzufriedenheit mit dieser mechanischen Methode des bloßen und unrationalisierten Imports, aus der Erkenntnis der Schäden der überstürzten „westlichen Reform" und dem Drang des neuerwachten Jungchinas nach freier Entwicklung der eigenen Lebensgestaltung wehrte man sich gegen den Einfluß der Auslandskulturen und versuchte die Tür nach draußen wieder zu schließen. Von 1922 an beschritt dann China den dritten Weg. Unter gleichzeitiger Pflege des völkischen Selbstbewußtseins wählte es unter den europäischen und amerikanischen Kulturanregungen aus und suchte schöpferische Neugestaltung der Verhältnisse des eigenen Landes, suchte Bewahrung des wertvollen Alten und „die Politik der offenen T ü r " zu vereinigen. Außer der grundsätzlichen Ablehnung ausländischer Kultur gibt es bei den meisten Völkern periodische Versuche des Abschlusses gegen die Kultur des einen oder anderen Landes, die nicht dem Streben nach kultureller Autarkie überhaupt, sondern Ressentiment und Rivalitätsbewußtsein, Gegnerschaft gegen die Regierungsform des anderen Landes oder gegen die in ihm herrschenden politischen, sozialen oder philosophischen Anschauungen oder — besonders m Kriegs- und Nachkriegszeiten — der Abneigung gegen den jetzigen oder ehemaligen Gegner entspringen. Die vorangehenden Ausführungen über den Kultureinfluß der verschiedenen Völker aufeinander haben, da sie für die Gesamtkulturen zutreffen, auch mehr oder weniger Geltung für die sie konstituierenden Einzelbezirke, z. B. für die Wissenschaft und die Kunst, für die Wirtschaft und die Technik und natürlich auch für die Pädagogik. Alle diese Einzelbezirke stehen über die Ländergrenzen hinweg mit den gleichen Kulturgebieten anderer Völker in einem reziproken Wirkverhältnis. Das gilt in besonders starkem Maße von der Pädagogik. Denn ihr eigentliches Wesen besteht ja in der Einwirkung auf einzelne Menschen oder soziologische Gebilde, von der Familie bis zum Volk. Die Erziehungswissenschaft ist eine auf praktische Anwendung gerichtete Wissenschaft, und zum Wesen des Pädagogen gehört das angeborene oder erworbene Dauerstreben nach erzieherischer Beeinflussung der Menschen und ihrer Gemeinschaften, nach Weitergabe seines Wissens, seiner Erkenntnisse und seiner Erfahrungen. Die Pädagogen haben daher allezeit mehr als die Künstler, die Techniker, ja auch als der reine Gelehrte die Weitergabefunktion betätigt. Das mußte die Aus-
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Strahlung des pädagogischen Wissens und der pädagogischen Erfahrungen über die Landesgrenzen hinweg begünstigen. Völlig autochtone, von ausländischen Einflüssen gänzlich bewahrte nationale Pädagogik gibt es bei keinem Kulturvolk. Die Geschichte der Pädagogik der einzelnen Völker bietet daher einen großen Reichtum von Beispielen dafür, daß zwischen dem Bildungsdenken und der Bildungswirklichkeit des einen Volkes und dem pädagogischen Bezirk anderer Völker ein einseitiges oder wechselseitiges Geben und Nehmen stattfand, und zeigt an vielen Einzelfällen, wie die pädagogische Theorie und das Schul- und Bildungswesen des einen Landes von der Pädagogik anderer Länder beeinflußt wurde. Diese internationale Verflechtung war nach dem Weltkrieg 1914 bis 1918 so stark, daß man von einer neueuropäischen (12), ja von einer Welterziehungsbewegung (13) sprechen konnte. Diese Entwicklung war durch den Krieg begünstigt worden; denn er war „das erste Schicksal, das die ganze Menschheit gemeinsam erlebte" (14), und durch ihn drang der „planetarische Gesichtspunkt" auch in die Pädagogik der großen Kulturnationen ein. Für den Einfluß der Pädagogik der Völker auf die Entwicklung des pädagogischen Denkens und des Schul- und Bildungswesens anderer Länder könnte jetzt eine große Anzahl anschaulicher Beispiele aus Europa und den anderen Erdteilen beigebracht werden. Wenn sie entsprechend ausgewählt würden, wäre es möglich, an Hand dieses allerdings etwas buntscheckigen Materials die verschiedenen Formen, die Mittel und Wege, die Voraussetzungen und Hindernisse, den Umfang und die eventuellen Gesetzmäßigkeiten dieser Einwirkung und ihren Anteil an dem Werden der nationalen Eigenart der Pädagogik der einzelnen Völker abzulesen. Aber ich ziehe einen anderen systematischeren Weg vor und wähle die Beispiele für diese von der Auslandspädagogik ausgehenden gestaltenden Kräfte nicht von verschiedenen Nationen, sondern von einem einzigen Volk. Diese Art der Darstellung ermüdet weniger, befriedigt mehr das systematische Denken und ist eher geeignet, die historische Entwicklung und das außerordentlich Komplexe dieser Einwirkung aufzudecken als ein noch so reichlich besetztes Hors d'oeuvre von Einzelbeispielen verschiedener Länder. Die Wahl des Landes, das den Ausgangsort bilden soll, ist nicht schwer. Es kommt nur die deutsche Pädagogik in Frage. Und zwar nicht nur deshalb, weil der Verfasser dieses Buches ein Deutscher ist, sondern weil es kein anderes Volk auf der Erde gibt, das — zumal in den letzten beiden Jahrhunderten — eine so reiche und systematische pädagogische Literatur und ein so entwickeltes und hochstehendes Schulwesen besaß, das seine Lobredner unter den führenden Männern aller Nationen fand und von vielen Völkern als Vorbild bei der Organisation des eigenen Schulwesens gewählt wurde, wie das deutsche. Wer den nachfolgenden zweiten Teil dieses Buches durchgearbeitet hat, wird zugeben müssen, daß es keine Übertreibung ist, wenn wir ihm die Uberschrift geben: „ D e r Sieges z u g d e r d e u t s c h e n P ä d a g o g i k durch die W e l t . " Die nachfolgende Untersuchung wird nacheinander zwei verschiedene Wege beschreiten. Sie wird in einem ersten Teil den Einfluß der bedeutenden 16
deutschen Pädagogen auf die Pädagogik anderer Völker darstellen und in einem zweiten nachweisen, wie die einzelnen deutschen Sdiulformen vom Kindergarten bis zur Universität in vielen Ländern als Muster und Vorbild der Schaffung ähnlicher Einrichtungen dienten. Es wird nicht überall möglich sein, die beiden Wege säuberlich getrennt zu halten, weil sie sich auch in der historischen Wirklichkeit häufig überschneiden. Erschöpfende Vollständigkeit ist weder von Deutschland noch vom Ausland her gesehen beabsichtigt. Es war unmöglich, alle Völker, die je von deutschem pädagogischem Einfluß erfaßt wurden, ausführlich zu behandeln, sondern nur einige der großen Kultumationen, die besonders im Wirkbereich deutscher Pädagogik standen, nämlich Frankreich, England und USA. Andere Nationen, wie Italien, Spanien, Holland, Belgien, die Schweiz, China, Japan, die Nordstaaten, die Balkanstaaten u. a. m., werden nur gelegentlich herangezogen. Diese Beschränkung war notwendig, weil zu einer erschöpfenden Behandlung noch die erforderlichen Vorarbeiten fehlen und weil für sie auch der notwendige Raum hier nicht zur Verfügung stand. In bezug auf die zur Verfügung stehende beschränkte Bogenzahl erwies sich ein Umstand als günstig, der von Patrioten nicht selten beklagt wurde, an sich auch beklagenswert ist, daß nämlich die deutsche Kultur einschließlich der Pädagogik lange Zeit in ihrer Entwicklung hinter der französischen und englischen zurückstand und daher auch später die Aufmerksamkeit des Auslandes auf sich zog als jene (15). Die Reformation und der Dreißigjährige Krieg hatten das geistige Leben Deutschlands weithin zerstört oder zum Stillstand gebracht oder auf die Austragung religiöser Meinungsverschiedenheiten eingeengt. Die Franzosen und Engländer des 17. und sogar noch der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts dachten nur selten daran, ihren Blick auf die deutsche Kultur zu richten. Wesentlich anders wurde das erst in der Epoche der glanzvollen Entwicklung der deutschen Literatur, die begrenzt wurde durch die Jahre 1748 (Klopstocks Messias) und 1808 (Goethes Faust). Völlig in das europäische Blickfeld rückte die deutsche Kultur und mit ihr die deutsche Pädagogik, nachdem ihre Größe von einer französischen Frau, Madame de Stael, entdeckt und der staunenden Welt verkündet worden war (16). Daher ist der Rahmen unserer Untersuchung verhältnismäßig eng gezogen. Sie beschränkt sich, zwei Repräsentanten des 17. Jahrhunderts ausgenommen, auf das 18. und 19. und die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Vor Eintritt in diese Untersuchung ist es aus Gründen logischer Sauberkeit zweckmäßig, darauf aufmerksam zu machen, daß der Terminus „deutsche Pädagogik" doppelsinnig ist. Man kann darunter in einem weiteren, nicht prägnanten Sinne das pädagogische Denken und die pädagogische Wirklichkeit verstehen, die sich jeweils in Deutschland vorfinden, selbst wenn sie zum Teil ausländischen Import darstellen, nicht in allem original sind und keine bzw. nur geringe völkische Eigenart aufweisen. Man kann die Bezeichnung aber auch in einem engeren und prägnanten Sinne anwenden und damit nur die Pädagogik von deutschvölkischer Eigenart bezeichnen. In diesem Sinne kann das Attribut 2
Schneider,
Pädagogik.
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„deutsch" der in Deutschland in gewissen Zeitabschnitten herrschenden Pädagogik vorenthalten und von der letzteren behauptet werden, sie sei nicht „deutsch". Ich gebrauche im folgenden den Terminus „deutsche Pädagogik" im weiteren Sinne und befinde midi damit in Obereinstimmung mit dem Sprachgebrauch der pädagogischen Literatur. Den engeren und prägnanteren Begriff der nachfolgenden Untersuchung zugrunde zu legen, wäre auch deshalb unzweckmäßig, weil in Deutschland die Geburt einer völkischen Pädagogik, die allein die Bezeichnung „deutsdi" im engeren Sinne verdient, erst verhältnismäßig spät, später als z. B. bei den romanischen Völkern erfolgte (17). Und als um die Wende des 18. und später im 19. Jahrhundert durch die Romantik das Deutschtum sich auf sich selbst besann und der Volkstumsgedanke lebendig wurde, da wirkte sich das im deutschen pädagogischen Denken und im deutschen Schulwesen nur schwach aus. Im ersten Falle waren nicht so sehr die deutschen als die stammverwandten germanischen Völker, die Holländer, Schweizer und Engländer, die Nutznießer der „Tendenz zur eigenen Art". In der Zeit der Romantik geriet das höhere Schulwesen vielmehr unter neuhumanistischen Einfluß, wodurch eine größere schulpraktische Auswirkung der Volkstumsbewegung in der damaligen Zeit verhindert wurde.
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II. DER SIEGESZUG DER DEUTSCHEN PÄDAGOGIK A. GROSSE PÄDAGOGEN
1. Ratichius und Comenius Der Siegeszug der deutschen Pädagogik über die Grenzen Deutschlands hinaus begann im Anfang des 17. Jahrhunderts mit der Bewegung, die in den Lehrbüchern — wenn auch nur mit halber Berechtigung — gewöhnlich als pädagogischer Realismus bezeichnet wird, und dessen bedeutendste Vertreter Ratichius und Comenius sind. Zwar hat auch vorher schon das Ausland vereinzelt pädagogische Anregungen von Deutschland empfangen. Aber diese waren dann nicht reinpädagogischen Ursprungs, sondern zogen ihre Kraft aus anderen geistigen Bewegungen, wie wir an anderer Stelle noch sehen werden, z. B. aus der Reformation oder aus dem Humanismus. Beim pädagogischen Realismus aber handelt es sich um eine weitreichende, im Kerne pädagogische Bewegung. Das wird besonders deutlich, wenn man ihren deutschen Ursprüngen nachgeht. Dies wird gewöhnlich unterlassen. Man begnügt sich mit dem Hinweis darauf, daß sie vom Ausland, zumal von England und Frankreich her, angeregt und gespeist wurde. In England — so sieht man in der Regel diesen Zusammenhang — hatte Francis Bacon, durch die Begründung der Methode der Induktion als allein geeignet, ein sicheres Wissen zu begründen, eine völlige Umwandlung des wissenschaftlichen Verfahrens zunächst in den Naturwissenschaften und allmählich auch in den anderen Wissenschaften herbeigeführt und an Stelle des traditionellen ein selbsterworbenes, auf Erfahrung und Beobachtung gegründetes Wissen gefordert. Diese neuen Auffassungen machten sich jetzt auch in der Methodik des Unterrichtes in dem bekannten Grundsatz: Alles durch Erfahrung und stückliche Untersuchung" = Per inductionum et experimentum omnium certitudo geltend. So gesehen erscheint diese pädagogische Bewegung als Ausschnitt einer allgemeinen geistigen Bewegung. Ihr Wurzeln im eigenen Saft, ihr Hervorsprudeln aus pädagogischem Quellbezirk wird erst deutlich, wenn man die ihr in Deutschland vorangehende Zeit unter pädagogischem Gesichtswinkel betrachtet (1). Die in dieser Zeit führenden Pädagogen waren alle Praktiker, die ihr Bemühen darauf richteten, die ihnen vom Humanisums gestellte Aufgabe möglichst zu erfüllen und, wie alle Nurpraktiker, von der Gefahr bedroht, den Unterricht zu mechanisieren, zu veräußerlichen, im Formalismus zu ersticken und den Zusammenhang mit dem Leben zu verlieren. Dieser Gefahr waren Schule und 2*
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Unterricht in der dem pädagogischen Realismus unmittelbar vorangehenden Zeit in einem so hohen Maße erlegen, daß man ziemlich allgemein mit dem Zustand der Schulen höchst unzufrieden war und es nur eines Mannes bedurfte, der sich zum Dolmetsch dieser Unzufriedenheit machte und behauptete, eine Lehrkunst, eine Theorie des Unterrichts gefunden zu haben, um eine Reformbewegung großen Stils zu begründen. Und dieser Mann war der Holsteiner Wolfgang Ratke, latinisiert Ratichius. Das von ihm aufgestellte Banner des Kampfes gegen die alte Schule und für eine neue Methode wurde später von dem zwei Jahrzehnte jüngeren Comenius ergriffen und siegreich weitergetragen, auch über die deutschen Grenzen hinaus. Ratichius selbst gelang es nur in sehr geringem Umfang, seine pädagogischen Ideen auch im Ausland zu verbreiten. Deswegen verdient er es wohl kaum, daß wir mit ihm die Darstellung der Auslandswirkung der deutschen Pädagogik beginnen, obwohl das kaum zu umgehen ist, wenn man diesen Sachverhalt in chronologischer Reihenfolge behandelt. Aber aus anderen Gründen erscheint es auch innerlich gerechtfertigt. Ratichius ist der Begründer der Didaktik, einer Theorie des Unterrichts, die von seinen Schülern und Nachfolgern weitergeführt wird und dann anregend auch auf die pädagogische Entwicklung anderer Völker wirkte. Er hat manche Töne angeschlagen, die unter seinen Nachfolgern weiterklingen. Alle Theoretiker der Pädagogik der ihm nachfolgenden Zeit sind von ihm beeinflußt, und wenn ihre Wirkung sich im Ausland geltend macht, so sind sie dann gleichzeitig auch Vermittler ratichianischer Ideen, so daß man berechtigt ist, wenigstens von einer größeren mittelbaren Auslandswirkung des Ratichius zu sprechen. Er verdient weiter im Beginn unserer Untersuchung der Ausstrahlung deutscher Pädagogik über die deutschen Grenzen hinaus genannt zu werden, weil er die wesentliche Voraussetzung zur Entstehung einer deutschen Pädagogik dadurch schuf, daß er erfolgreich für die deutsche Sprache in Schule und Wissenschaft eintrat; er forderte die Pflege der Muttersprache, erhob das Deutsche zum Unterrichtsgegenstand und zur Unterrichtssprache, brach dadurch die Alleinherrschaft des Lateins und begründete die deutsche Sprachwissenschaft. An unmittelbarer Wirkung des Ratichius auf das Ausland fehlt es allerdings auch nicht ganz, wenn sie auch nicht so weitreichend und tiefgehend ist, wie man zeitweise angenommen hat. Ehe wir uns mit ihr befassen, wollen wir aber die Voraussetzungen des mittelbaren und des unmittelbaren Auslandseinflusses etwas eingehender darstellen: Ratichius Leistung auf pädagogischem und sprachlichem Gebiet. Ratichius war wohl der erste Deutsche, der sich die pädagogische Reform zur Lebensaufgabe machte, und zwar nicht eine Reform, die sich nur auf den einen oder anderen Ausschnitt des pädagogischen Bezirks richtete, sondern die auf eine totale Neueinrichtung des Unterrichtswesens abzielte. Durch ihn wurde zum erstenmal die Idee verbreitet, daß Lehren und Unterrichten eine Kunst sei, die nach psychologischen und methodischen Regeln verfahren müsse. Er, der sich selbst als „didacticus" bezeichnete, war der Begründer der Didaktik, die
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sich — wenn nicht allein durch ihn — so doch durch den Einfluß der sich daran anschließenden Diskussion in Deutschland einbürgerte. Sie umfaßte sowohl den formalen Verlauf wie auch den Inhalt des Unterrichts. Für den ersteren verlangte Ratichius die Beachtung mehrerer allgemeiner Prinzipien — alles nach Ordnung und Lauf der Natur; nicht mehr als einerlei auf einmal; eins oft wiederholen; alles zunächst in der Muttersprache; alles ohne Zwang; nidhts Unverstandenes auswendig lernen; Gleichförmigkeit in allen Dingen; erst ein Ding an ihm selbst, dann die Weise von dem Ding; alles durch Erfahrung und stückliche Untersuchung. Als Grundlegung des Unterrichtsinhaltes plante er die Sammlung des gesamten damaligen Wissens in Büchern (Enzyklopädien), die in ihrem formalen Aufbau möglichst einander angeglichen sein sollten, für die er Mitarbeiter in aller Welt suchte. Der wichtigste Teil des Unterrichts war, der damaligen Auffassung entsprechend, der Sprachunterricht. Ratichius teilte diese Ansicht und versuchte, sie tiefer als die vorangegangenen Pädagogen zu begründen (2). Er geht dabei von der Uberzeugung aus, daß das Endziel alles Unterrichtes die Erkenntnis Gottes sei, und daß Gott durch Stimme und Schrift sich den Menschen offenbart und sie selbst mit Gehör und Gesicht ausgestattet habe, damit sie ihn erkennen und preisen. Aus diesem Grundgedanken folgert er, daß die Kenntnis der Sprachen, zumal der alten, in denen den Menschen das Wort Gottes überliefert ist, die Hauptaufgabe aller Unterweisung sei. Ihre Erfüllung ist nach seiner Lehre nicht schwer, wenn man in dem Sprachunterricht die rechte Lehrweise anwendet. Für diese stellt er eine Reihe von Regeln auf: z. B.: aller Sprachunterricht hat mit der Muttersprache zu beginnen. Von ihr und durch sie ist zu den fremden Sprachen überzugehen. Die grammatikalischen Grundbegriffe müssen an der Muttersprache gewonnen werden. Die Forderung „Vom Konkreten zum Abstrakten" bedeutet, auf die Sprache angewandt: Prius ad autorem, deinde ad praecepta. Nicht die Grammatik soll den Anfang des Sprachunterrichts bilden, sondern die direkte Einführung in den Autor, auf Grund einer besonderen Methode zur Gewinnung seines Verständnisses. Das Fortschreiten geschehe besonnen und langsam vom Leichten zum Schweren und niemals eher, als bis das Vorhergehende vollständig verstanden ist. Eine der Forderungen, auf der „fümehmlich die Ratichianische Lehrkunst beruht" (3), ist: „Alles zuerst in der Muttersprache." Und zwar zunächst aus unterrichtlichen Gründen, „denn in der Muttersprache ist der Vorteil, daß der Lehrjünger nur auf die Sache zu gedenken hat, die er lernen soll, und darf sich nichts weiteres mit der Sprache bemühen". Zu dieser Betonung der Muttersprache kam er aber auch in Anwendung seines Grundsatzes: „Alles nach Ordnung und Lauf der Natur." In einer Erklärung zum Memorial weist er darauf hin, daß es „ d e r r e c h t e G e b r a u c h u n d L a u f d e r N a t u r sei, daß die liebe Jugend zum ersten ihre angeborene Muttersprache, welche bei uns die deutsche, recht und fertig lesen, schreiben und sprechen lerne, damit sie ihre Lehrer in anderen Sprachen künftig desto besser verstehen und begreifen können".
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Aber auch aus nationalen Gründen. Wie es überhaupt der Charakterzug der Ratidiianisdien Didaktik ist, daß er sie und ihre Einzelheiten unter größeren Aspekten sieht. Das tritt schon deutlich in dem „Memorial" in die Erscheinung, das er zu Anfang seines öffentlichen Auftretens, auf dem Reichstag zu Frankfurt, dem neugewählten Kaiser Matthias und den deutschen Fürsten überreichte, in dem er unter 3 versprach, durch seine Didaktik Anleitung zu geben, „wie im ganzen Reiche eine einträchtige Sprache, eine einträchtige Regierung und eine einträchtige Religion bequemlich einzuführen und friedlich zu erhalten sei", wodurch er seine Didaktik in die Nähe der Regimentskunst rückte und das besondere Interesse der Regierenden, der Fürsten und Fürstinnen, erregte. Die einträchtige Sprache ist in Deutschland dann verwirklicht, wenn Sachsen, Franken, Schwaben und Thüringer an die hochdeutsche Sprache gewöhnt wurden und sich ihrer dann auch bedienen. Um das zu erreichen, fordert er die d e u t s c h e Schule. Das war für seine Zeit eine kühne und unerhörte Forderung, die von den Gelehrten bekämpft und von vielen als undurchführbar angesehen wurde. Nach seiner Ansicht aber kann „eine vollkommene Schule in hochdeutscher Sprache sehr wohl eingerichtet werden", und zwar nicht etwa nur für den Anfangsunterricht, sondern auch für den Untertriebt im Trivium und Quadrivium, den sogenannten Künsten, und in den Fakultäten: der Philosophie, Jurisprudenz und Medizin; denn auch in deutscher Sprache kann nach der Meinung von Ratichius Recht gesprochen, ja sogar ein Corpus juris abgefaßt werden, wie auch der medicus „den Leib wohl auf gut deutsch kurieren und versorgen" kann (4). Damit dieses Ziel erreicht wird, verlangt er eine wirkliche Schule, wendet sich gegen das Einzelabhören des Auswendiggelemten und fordert die gemeinsame Unterweisung aller Schüler der ganzen Klasse durch den Lehrer, wodurch es erst zur rechten Verwirklichung der Idee der Schule kommt. Er gibt sich auch nicht damit zufrieden, daß — wie bisher — nur eine kleinere Zahl der Knaben diese Schule besucht, sondern er fordert die Ausdehnung der Schulbesuchspflicht auf alle Knaben und Mädchen. Und da er weiß, daß diese Forderung nur durchgeführt wird, wenn eine mächtige Autorität hinter ihr steht, ist er als Schulpolitiker Vertreter der Staatspädagogik: der Staat hat nach ihm alle Schulen einzurichten und zu erhalten, die Lehrpläne zu erlassen, die Schulen durch fachmännische Beamte zu beaufsichtigen und die Lehrer zu besolden. Zu den muttersprachlichen ratidiianisdien Forderungen, die schon bald in einem gewissen Umfange, nämlich in Elementarschulen in Hessen, Weimar und Kothen, verwirklicht wurden, gehörte, daß die deutsche Grammatik Unterriditsgegenstand wurde. Wenn Ratichius auch nicht in allen genannten Forderungen original ist, so knüpft sich doch unmittelbar und durch seine Anhänger und von ihm abhängige Nachfolger mittelbar an sie eine erste mächtige Bewegung zur Ausbildung der d e u t s c h e n Volksschule und des Unterrichts in der Muttersprache als Grund22
läge alles gelehrten Unterrichts. Allerdings blieb diese Bewegung zunächst noch beschränkt auf einige kleine mitteldeutsche Staaten. Die Begrenztheit der Auswirkung der Ratichianischen Pädagogik in Deutschland lag in mehreren Ursachen begründet. Ratichius selbst hat keine größeren Werke verfaßt, so daß wir seine Pädagogik in der Hauptsache aus den Gutachten kennengelernt haben, welche von zeitgenössischen Gelehrten über seine Didaktik verfaßt wurden, oder aus dem Wirken und den Schriften seiner Anhänger, wobei aber nicht immer reinlich zu scheiden ist, was ursprünglich ratichisch und was Zutat bzw. Weiterbildung der sogenannten Ratidiianer ist. Die geringe literarische Fruchtbarkeit des Ratichius hatte ihre Hauptursache in seinem Mißtrauen und der Angst vor Mißbrauch und falscher Anwendung seiner Methode. Deshalb war er auch nur selten und nach Unterfertigung eines Reverses, durch den man sich verpflichtete, nichts von dem Gehörten zu veröffentlichen oder anzuwenden, zu einer bruchstückweisen Mitteilung seiner Methode bereit. Eine zweite Ursache lag in der Unausgeglidhenheit seines Charakters, seiner Unbeherrschtheit und Unfähigkeit der Anpassung an Mensdhen und Verhältnisse, wodurdi es fast überall dazu kam, daß er sich mit seinen Mitarbeitern überwarf, seine Gönner verärgerte und seine eigenen, anfänglich erfolgreichen Versuche zur Anwendung seiner Methode und zur Verwirklichung seines Schulideals zum Scheitern brachte. Endlich war auch die Zeit, die Jahrzehnte des Dreißigjährigen Krieges, wie dem gesamten deutschen Kulturleben, so auch einer pädagogischen Reformbewegung nicht günstig. Die Werbung des Ratichius und der Ratidiianer für die deutsche Sprache konnte, so sollte man denken, auf ausländische Pädagogen kaum eine Wirkung ausüben. Aber der Didacticus und seine Anhänger waren ja nicht nur der Anwalt der deutschen Sprache, sondern der Muttersprache schlechthin. Es ist daher der Gedanke nicht abwegig, daß auch bei anderen Völkern die Befürworter der Landessprache als Unterrichtsgegenstand und Unterrichtssprache sich durch jene angeregt fühlten und sie gleichsam als Eideshelfer bzw. Bundesgenossen empfanden. Ratichius gewann bescheidenen Einfluß über die Grenzen Deutschlands hinaus durch seine Schüler, Freunde und Anhänger, insbesondere durch seine Collaboranten und durch persönliche Berührung mit Ausländern auf seinen Reisen oder in Deutschland selbst. Auch die auf seine Anregung und unter seiner Oberaufsicht entstandenen Lehrbücher fanden wohl in lateinischer oder in einer der modernen Sprachen den Weg in andere Länder und machten ihre Benutzer mit seiner Methode bekannt. Für alle diese Wege der Vermittlung des Auslandseinflusses der Methodik des Ratichius lassen sich einzelne Beispiele beibringen. Schon an dem ersten praktischen Versuch des neuen Sprachenunterrichts, den Ratichius mit Jungius bereits 1614 in Augsburg machte, nahmen ausländische Schüler teil, z. B. aus Holland (5), und es ist anzunehmen, daß sie die Kenntnis der neuen Methode in ihrer Heimat verbreiteten. Dasselbe werden die
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Ausländer, die neben deutschen Fürsten und Gelehrten zu seinen Anhängern zählten, getan haben. Von ihnen werden von seinen Biographen z. B. der Holländer Vernat und der dänische Staatsmann Rosenkrantz erwähnt. Ratichius muß der Meinung gewesen sein, daß seine Didaktik in Holland, wo er sich selbst in seiner Frühzeit eine Zeitlang aufgehalten hatte, und in Dänemark viele Freunde besaß und der Boden für ihre Anwendung hinreichend vorbereitet war; denn als er nach dem Scheitern seiner Schweizer Pläne 1618 (6), über Straßburg nach Frankfurt reiste, hatte er die Absicht (6), Deutschland gänzlich den Rücken zu kehren und sich nach den Niederlanden oder Dänemark zu begeben. Der Plan kam allerdings nicht zur Ausführung; denn in Frankfurt ließ er sich durch seine dortigen Freunde bewegen, der mehrfach an ihn ergangenen Einladung des Fürsten Ludwig zu Anhalt nach Kothen zu folgen. Auch unter den sogenannten Collaboranten des Ratichius waren einflußreiche Herolde seiner Ideen. Die Collaboranten sollten ihm bei der Verwirklichung seiner „Allunterweisung" helfen, indem sie für alle die Wissenschaften, in denen er nicht zuständig war, kompendiöse Lehrbücher streng nadi seinen Grundsätzen verfaßten. Zu ihnen gehörte z. B. der Schweizer Professor der orientalischen Sprachen Johannes Buxtorf (7), den er — wie wir noch hören werden — auch in Basel besuchte. Der ausländische Widerhall seiner Pädagogik war Ratichius nicht gleichgültig, sondern wurde von ihm begrüßt und begünstigt. Aufschlußreich ist in dieser Beziehung ein Brief (8), der an den Grafen Wilhelm von Nassau in Venedig gerichtet ist, in dem er diesen „undertheniglich" bittet, seiner früheren Zusage entsprechend in Venedig für seine Didaktik einzutreten und ihm, falls er Erfolg habe, zu gelegener Zeit Nachricht zu geben. Dieser sein Wunsch der Ausbreitung seiner Didaktik im Ausland wird ferner deutlich in seinem späteren Bemühen, Gustav Adolf, König von Schweden, und dessen Kanzler Oxenstierna für sie zu gewinnen (9). Die Möglichkeit bot sich, als sich Gustav Adolf während des Dreißigjährigen Krieges, im September des Jahres 1631, vier Tage in Erfurt aufhielt. Der Gönnerin des Ratichius, der Gräfin Anna Sophia, gelang es damals, den König für diesen und seine Didaktik zu interessieren. Es wäre ohne Zweifel zu einer Zusammenkunft zwischen beiden gekommen, wenn der erstere seinen dann durch die Kriegsereignisse vereitelten Plan, mit seiner Gemahlin den Winter in Erfurt zuzubringen, ausgeführt hätte. Dagegen lud Oxenstierna den Pädagogen Anfang Januar 1631 in Erfurt zu einer Unterredung zu sich. Zur Ergänzung seiner wegen der Kürze der Zeit nicht hinreichenden mündlichen Erklärung seiner Reformgedanken hinterließ Ratichius ihm einen Quartband, der verlorengegangen ist. Doch wissen wir aus einer Mitteilung, die Oxenstierna später in Stockholm dem Comenius machte, daß in ihm die Schäden des damaligen Schulwesens treffend aufgedeckt waren und gute, aber nach Oxenstiernas Meinung nicht ausreichende Vorschläge zu ihrer Beseitigung gemacht wurden. Wegen der fortdauernden Kriegszüge kam der König trotz der wiederholten Anregungen der Gräfin Anna Sophia auch
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später nicht dazu, sein Interesse für die neue Didaktik Ratichius gegenüber zu betätigen. So blieb dessen Hoffnung, einen König als Förderer seiner Bestrebungen zu gewinnen, sowie auch die spätere, an das Hoflager der Königin berufen zu werden und an der Erziehung deren einziger Tochter Christine beteiligt zu werden, unerfüllt. Wohl erreichte es seine gräfliche Gönnerin nach dem Tode des Königs, daß Oxenstierna Ratichius noch einmal sein Interesse zuwandte und die beiden Erfurter Ratsherren Brückner und Ziegler und den Professor Meyfarth mit der Prüfung seiner Pädagogik und der Abfassung eines Gutachtens betraute, das ihm unter dem 10. März 1639 als „Unterthänige Relation von der Lehrart Herrn Wolfgangi Ratichii" überreicht wurde. O b von dieser irgendwelche praktische Einwirkungen auf die schwedische theoretische und praktische Pädagogik ausgingen, wissen wir nicht. Bei dem Wunsche des Ratichius, mit seiner Didaktik auch in anderen Ländern Fuß zu fassen, ist die Annahme berechtigt, daß er selbst auf seinen Auslandsreisen für sie warb. Auf seine Hollandreise wurde bereits hingewiesen. Nach den älteren Darstellungen vom Leben und Wirken des Ratichius, wie sie zuerst von H. A. Niemeyer in den Jahrgängen 1840 und 1846 des Programms des Pädagogiums in Halle und durch von Raumer in seiner Geschichte der Pädagogik gegeben und von da durch mehrere in- und ausländische Autoren übernommen wurden, hat Ratichius in seiner Frühzeit auch eine Reise nach England gemacht, wo er mit den Schriften Bacons bekannt wurde und von ihm in seinen pädagogischen Anschauungen stark beeindruckt wurde. Auf Bacon ist es nach dieser Darstellung zurückzuführen, daß er das Studium der Muttersprache und der Naturwissenschaften befürwortete, psychologische Grundsätze auf die Unterrichtsmethoden anwandte, den Unterricht in den Fremdsprachen reformierte, kurz: seine neue Didaktik begründete, durch die er nun auch anregend auf die englische Pädagogik zurückwirkte. John William Adamson aber hat in seinem Buch „Pioneers of Modem Education 1600—1700" den legendären Charakter dieser Darstellung nachgewiesen. Nach ihm ist kein Anhalt dafür vorhanden, daß Ratke je England besuchte, wohl aber gibt es Wahrscheinlichkeitsbeweise, daß er es nicht tat. Ebenso findet sich unter den unbezweifelbar von ihm vertretenen Ideen keine, für die eine Kenntnis der Schriften Bacons notwendige Voraussetzung wäre. Auch bestreitet Adamson, daß die Hauptforderungen des Ratichius, für den Lateinunterricht die Muttersprache und standardisierte Lehrbücher zu benutzen, auf die englische Pädagogik nachweisbaren Einfluß gehabt hätten. Dagegen steht es fest, daß Ratichius 1617 von Frankfurt aus, als der Magistrat der alten Reichsstadt seinen Antrag auf Verlängerung seines Aufenthaltes in der Stadt ablehnte, über Straßburg nach Basel reiste (10), wo er Unterstützung bei dem schon erwähnten Buxtorf und dem Professor der Aristotelischen Philosophie Ludwig Lucius und schon bald Gelegenheit fand, in einem Privatkursus im Hebräischen und Lateinischen, an dem außer den beiden Genannten noch mehrere Studenten und jüngere Gelehrte teilnahmen, seine Methode an-
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zuwenden. Durch die Erfolge dieser Kurse verbreitete sich der Ruf seiner Didaktik durch die Schweiz, und die Stadt Basel trag sich mit dem Gedanken, sie amtlich zu unterstützen. Aber auch hier kam es infolge seines Privatlebens wie bei all seinen innerdeutschen praktischen Versuchen zum Rückschlag. Er sollte in dem Wirtshaus der badischen Stadt Lörrach beleidigende Äußerungen über die Calvinisten und den Rat sowie den Bürgermeister der Stadt Basel getan haben. Die darauf im September 1617 erhobene Strafanzeige der Akademie und die sich lange hinziehende, allerdings nicht zur Verurteilung führende Gerichtsverhandlung schadeten seinem Ruf und der von ihm vertretenen Sache und bewirkten, daß sich seine Anhänger, einschließlich des Johannes Buxtorf, von ihm zurückzogen. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß der Weg, auf dem die pädagogischen Ideen der späteren großen deutschen Erzieher hauptsächlich ihren Weg auch über die Landesgrenzen hinaus fanden — nämlich durch ihre eigenen Werke in der Originalsprache oder in Übersetzungen —, bei Ratichius keine Rolle spielt, da er keine größeren Werke herausgab. Als er, der Einladung des Fürsten Ludwig folgend, 1619 seine praktische Wirksamkeit in Cöthen begann, da sollte auch die Herausgabe aller erforderlichen Lehrbücher einsetzen, indem sie von Ratichius selbst oder von seinen Mitarbeitern unter seiner Oberaufsicht verfaßt und in der vom Fürsten neu eingerichteten Buchdruckerei hergestellt wurden. Infolge des Scheitems auch des Cöthener Versuchs kam man aber auch mit diesen beabsichtigten Publikationen nicht über einen Anfang hinaus. Es erschienen nur die Encyclopaedie : Pro didactica Ratichii, Cothenis Anhaltinorum 1619, gleichzeitig auch in deutscher Übersetzung als „Allunterweisung. Nach der Lehrart Ratichii, zu Cöthen im Fürstenthumb Anhalt 1619" und als zweites Lehrbuch die einflußreiche Grammatica universalis und allgemeine Sprachlehre, die gleichzeitig in französischer (La Grammaire universelle Pour la Didactique de Ratichius à Cothen. En la Principauté d1Anhalt. En l'an 1619) und in italienischer Übersetzung (La Grammatica universale. Per la Didattice de Ratichio, a Coten nel Principato d'Anald. L'anno 1619) herauskam. Diese beiden Bücher hätten in ihrer lateinischen Fassung, und das letztere auch in seiner •neusprachigen Übersetzung, im Ausland leicht Leser finden und den Samen ratichianischer Pädagogik ausstreuen können. Aber das kann doch nur in höchst begrenztem Maße geschehen sein, weil nur eine geringe Zahl von Exemplaren dieser Cöthener Lehrbücher unter das Publikum kam, so daß sie jetzt „zu den größten Seltenheiten" (11) gehören. Neben dieser verhältnismäßig geringen unmittelbaren Auslandswirkung des Ratichius gibt es eine mittelbare durch das Medium der auf seinen Schultern stehenden Pädagogen. Der bedeutendste unter ihnen ist Johann Arnos Comenius, dessen Pädagogik bis in die Neuzeit hinein befruchtend auf das Bildungsdenken der außerdeutschen Welt einwirkte. Comenius ist in hohem Maße von Ratichius abhängig. Die erste Bekanntschaft mit seinen Ideen machte er schon verhältnismäßig früh. Schon der Denk-
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Schrift, die Ratidiius dem Frankfurter Reichstag vorlegte, dem berühmten Memorial, wird Comenius Interesse entgegengebracht haben, denn sie bezog sich auf drei Fragen, die ihm nach der Darstellung Kvacalas (12) auf Grund seiner Herkunft und seiner Bildung nahelagen. Die erste, die Erleichterung des Sprachunterrichts zumal in den alten Sprachen, lag Comenius infolge eigener Erfahrungen am Herzen. Die zweite, die sich auf die Einrichtung „von Schulen in der Muttersprache für die weitesten und wichtigsten Lebensgebiete" bezog, entsprach einer Forderung, die in der pädagogischen Praxis der Böhmischen Brüder in beschränktem Umfange bereits verwirklicht war. Und die dritte Frage nach dem Wege der Herstellung der Einheit in Staat und Religion mußte der Anteilnahme des Comenius seiner ganzen Natur nach und auch als Schüler des Heidelberger Professors und Irenikers David Parcus sicher sein. Es ist anzunehmen, daß er das Frankfurter Memorial und auch das Gutachten, das die beiden Professoren Helwig (Helvicus) und Jung Qungius) über die Bestrebungen des Ratidiius abstatteten, sowie auch den Jenenser Bericht kennenlernte. Ebenso den Nachbericht, den die beiden Gießener Professoren in der von ihnen herausgegebenen Schrift Luthers „Vermahnungen an die Bürgermeister und Ratsherren aller Städte" angefügt hatten und der sich für die Ratidiianische Reform einsetzte. Dieser ist dadurch von besonderer Bedeutung geworden, „daß Arnos Comenius, der damals in Herborn lebte, nach seiner eigenen Bekundung durch ihn zuerst auf den Gedanken kam, sich nach dem hier entworfenen Bilde des Unterrichtswesens anzunehmen" (13). Ihm hat ferner der „Methodus quadruplex" des Rhenius, der als eine Hauptquelle der Ratichianischen Pädagogik gilt, vorgelegen. Comenius hat selbst mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß er Ratidiius viel verdankt, indem er ihn sowohl im Präludium der Pansophie (14) wie in dem Vorwort zur Großen Unterriditslehre (15) als ersten seiner pädagogischen Vorgänger nennt, deren Schriften er gelesen habe. Infolgedessen ist Comenius in vielen seiner pädagogischen Ideen von Ratidiius abhängig. Während die älteren Herausgeber seiner Didactica magna sich — worauf A. Israel hinweist — fast alle bemüht haben, den Einfluß Ratkes auf Comenius als geringfügig darzustellen, hat dieser nachgewiesen, daß die Einwirkung der Ratkesdhen Ideen auf die Didactica des Comenius, der „bei seiner rastlosen Produktivität auf Selbständigkeit keinen Wert legte und oft fremde Ideen und Lehren gab, zuweilen ohne die Quelle zu nennen (Kvacalä S. 37), ziemlich weitgehend gewesen ist (16). Er stellt die mehr oder weniger gleichlautenden Vorschriften der Didactica magna mit der Lehrart des Ratichius zusammen, 29 an der Zahl. Heute ist es die Überzeugung der Historiker (17) der Pädagogik, daß der tiefere und solidere Geist des Comenius das fortgesetzt hat, was Ratke anregte, mit dem Unterschied, daß Ratichius sein Hauptaugenmerk einseitig der Methodik zuwandte, während der weiter angelegte Geist des Comenius die allgemeine Erziehung im Auge hatte. Comenius reicht also die Fackel, die Ratichius entzündet hatte, weiter — sowohl im Innern Deutschlands als auch im Ausland. Comenius vertrat trotz 27
seiner tschechischen Volkszugehörigkeit im Grunde nur deutsche Pädagogik, soweit damals überhaupt von deutscher Pädagogik gesprochen werden kann, und gewann mit ihr und in der Weiterbildung, die er ihr gab, große internationale Bedeutung. Denn er hatte nicht nur von Ratichius gelernt, sondern fast alle Lehrer des Comenius waren Deutsche. Er wuchs im deutschen Kulturraum heran, trat zur deutschen Sprache und Literatur in enge Beziehung, erwarb sich sogar gewisse für den Deutschen charakteristische Züge. So ist es erklärlich, daß die deutsche Pädagogik ihn als einen der Ihrigen betrachtete, daß es hauptsächlich deutsche Pädagogen waren, die seine Ideen noch während seines Lebens ins Ausland brachten, die sein Andenken nach fast hundertjähriger Vergessenheit wieder wachriefen, die die bedeutende Comeniusforschung trugen und bis in das 20. Jahrhundert den Mann und sein Werk im Ausland bekannt machten. Diese Behauptungen sollen nun im einzelnen historisch belegt werden. Die elterliche Familie des Comenius gehörte zur Sekte der Böhmischen Brüder. In dieser war lange darüber gestritten worden, ob die künftigen Prediger und Seelsorger höhere Schulbildung empfangen sollten oder nicht, ein Streit, der mit dem Sieg der Bildungsfreunde endete. Nachdem dann andere Ursachen bewirkt hatten, daß die Anlehnung der Böhmischen Brüder an die Reformierten unterblieb, waren es, da sie selbst keine eigenen hohen Schulen besaßen, besonders die süddeutschen und schweizerischen reformierten Schulen, welche ihre späteren Theologen besuchten. So kam es, daß Comenius, der für den Predigerberuf bestimmt war, „mit den wissenschaftlichen Strömungen seiner Zeit durch deutsche Vermittler in Berührung" (18) kam. Comenius studierte in Herbom und in Heidelberg, wo Johann Heinrich Aisted, latinisiert Alstedius, Piscator, Pilatus und David Parcus seine Lehrer waren. Daß er diesen deutschen Gelehrten und Pädagogen viel verdankte, hat er selbst gelegentlich bezeugt. Seine geistige Abhängigkeit von ihnen wird auch von tschechischen Geschichtsschreibern der Pädagogik, z. B. von O . Kadner, in seiner Geschichte der Pädagogik ( 1 9 ) , hervorgehoben. Der Professor der Philosophie Alstedius war, als Comenius in Herborn studierte, erst 11 Jahre alt, also nur vier Jahre älter als Comenius. Dadurch schon stand er seinen Schülern seelisch nahe, und er bezeugte ihnen auch, wie seine ihren Dissertationen beigegebenen Gedichte beweisen, „warme liebevolle Teilnahme". So liegt die Annahme nahe, daß er, der zahlreiche seiner ersten Arbeiten didaktischen Fragen gewidmet hatte, die pädagogischen Ansichten des Comenius beeinflußte. Besonders wird dies dyrch seine philosophische Enzyklopädie (Cursus philosophici Encyklopaedia libri XXVII) geschehen sein. Das wird sehr wahrscheinlich, wenn man den Inhalt des XVI. Buches, in dem Alstedius seine Ethik und Pädagogik darlegt, und das Buch XIX, in dem er die öffentliche Schule unter dem Titel „Scholastica" behandelt, mit den später von Comenius vertretenen pädagogischen Anschauungen vergleicht. Bei beiden findet man die gleiche religiöse Grundlegung und den gleichen Begriff der Erziehung, dieselbe Auffassung des Verhältnisses von Lehrer und Schüler, die Bestimmung
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des Menschen als Mikrokosmos, die Idee der Mutterschule, den Gebrauch von Bildern im Unterricht und die Vorliebe für systematische Einteilungen (20). Wie von Alstedius hat man auch Nachwirkungen der Lehren und des Hauptwerkes seines Heidelberger Lehrers David Parcus im Leben und Schaffen des Comenius bis zu seinem Ende wahrscheinlich gemacht. Aber mit dem Hinweis auf die Lehrer des Comenius ist der Nachweis seiner Abhängigkeit von deutscher Kultur und deutschem Bildungsdenken noch nicht erschöpft. Er verdankt außer Ratichius auch einzelnen anderen zeitgenössischen deutschen Pädagogen, die nicht seine Lehrer im eigentlichen Sinne waren, vor allem Elias Bodinus und Johann Valentin Andreae, viel, wie wir im nachfolgenden sehen werden. Der Hamburger Didaktiker Elias Bodinus (21) beeinflußte ihn zumal durch seine Didaktik, die im Jahre 1621 (die Vorrede trägt das Datum: 28. Juni 1621) in Hamburg im Selbstverlag erschien unter dem Titel: „Bericht von der Natur ond vernunfftmessigen Didactica oder Lehrkunst: nebenst hellen und sonnenklaren Beweiß wie heutiges Tages der studierenden Jugend die rechten Fundamente verrückt ond entzogen werden." Durch Christian Martinus aus Prag, der bei Bodinus in Hamburg gewesen war, kam diese Didaktik auch nach Böhmen. Wir wissen, daß Comenius anläßlich seines Besuches der berühmten Bibliothek des Herrn Silverus auf der Burg Wilcity auf sie stieß, die eben aus Deutschland gekommen war, und durch ihre Lesung angetrieben wurde, eine ähnliche Schrift in tschechischer Sprache zu verfassen. Toischer behauptet auf Grund seiner Untersuchungen, „daß Comenius zur Abfassung seiner Didactica (magna) durch die Didaktik des Bodinus angeregt wurde und daß er sie deshalb (zuerst) tschechisch geschrieben hat, weil die des Bodinus deutsch abgefaßt war". Er behauptet ferner, daß Bodinus, der der Zeit seines Auftretens nach zwischen Ratichius, mit dem er in Leben und Schicksal manches gemeinsam hatte, und Comenius steht, auf diesen „den bedeutsamsten Einfluß" (22) gehabt habe, und weist dies an vielen Einzelheiten nach. Natürlich erklärt er nicht alle Übereinstimmungen für Abhängigkeiten. Bodinus' Didaktik hat z. B. auf der Titelseite das Motto: Omnia faciliora facit Ratio, Ordo et Modus, und er nennt seine Lehre eine „Natur ond vernunfftmeßige". Und Comenius bezeichnet in den zwei ersten Kapiteln seiner Didaktik die Ordnung als das fundamentum und die Natur als die Führerin. Aber darin braucht nicht unbedingt ein Einfluß des Bodinus wirksam zu sein; denn auch in der Ratichianischen Pädagogik finden wir den Grundsatz: Ratio vicit, vetustas cessit — Juxta Methodum Naturae omnia". Es handelt sich also hier wohl um eine allgemeine Forderung der Zeit, die übrigens nicht einmal neu war. Comenius konnte für sie sogar mehrfach Cicero (Naturam ducem si sequemur nunquam aberribimus — ) als Eideshelfer anführen (23). Ebenso findet sich die Forderung nach Berücksichtigung der Muttersprache bei Bodinus, Comenius und Ratichius. Wahrscheinlicher" ist der Einfluß des Hamburger Didaktikers bei anderen Übereinstimmungen zwischen ihm und Comenius. Bodinus ist ein scharfer Gegner des Verbalismus („Aber
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zuerst die Sachen, mit den Sachen die Worte! Nach den Worten aus den Beispielen die Regeln") (24), und verwendet vielfach Bilder im Unterricht. Das muß aber etwas Neues und Hervorstechendes in seiner Methode gewesen sein; denn es wird ihm von seinen Gegnern zum Vorwurf gemacht, daß er durch „images" lehre. Bei Comenius kehrt die Forderung: „Erst die Sache und dann die Worte" mehrfach wieder, und im Orbis pictus macht er systematisch von Bildern Gebrauch. Comenius hat auch gewissermaßen den Gedanken des Bodinus, eine Komödie zur Einübung der Worte und des Usus verborum zu verfassen, ausgeführt, indem er in der „Schola ludus" den Stoff der Janua dramatisierte (25). Noch ein anderer deutscher Pädagoge, Johann Valentin Andreae, der vor allem in Süddeutschland für die Reform des Schul- und Bildungswesens eintrat, hat durch seine Ansichten, die hauptsächlich in seiner schon 1622 verfaßten und 1649 erschienenen Schrift „Theophilus oder Ratschlag über die sorgfätigere Pflege der Religion, die bessere Einrichtung des Lebens und die vernünftigere Gestaltung des Unterrichts" niedergelegt sind, Comenius maßgeblich beeinflußt. Und dieser gesteht es selbst zu wiederholten Malen, daß er von jeher von J. V. Andreae viel gelernt habe, und zwar auch in pädagogischen Fragen (26). Auf diese Abhängigkeit des Comenius hat zunächst H. F. von Criegem in seiner Schrift „Johann Arnos Comenius als Theolog", Leipzig und Heidelberg 1881, aufmerksam gemacht. Er versucht den Nachweis, daß sich seine pansophischen und didaktischen Grundgedanken bereits bei Andreae finden und daß Comenius diesen vielfach ohne Quellenangabe, namentlich in seinem „Labyrinth der Welt", wörtlich wiedergibt. So ergeben sich nicht nur einzelne Berührungspunkte zwischen beiden, „sondern eine durchgreifende Übereinstimmung ihrer ganzen Anschauung" (27). Eine Abhandlung, die sich mit Johann Valentin Andreae und Comenius beschäftigt und in dem schon mehrfach genannten Bd. I der Monatshefte der Comeniusgesellschaft steht, beginnt mit dem Satz: „Die Geschichte wie die Schriften Andreaes sind für die geistige Entwicklung des Comenius von so großer Bedeutung geworden, daß unsere Gesellschaft allen Grund hat, in ihren Veröffentlichungen Andreae eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen." Aber auch wenn man von den im vorangehenden geschilderten persönlichen Beziehungen des Comenius zu deutschen Pädagogen absieht, bleiben noch andere Belege dafür, daß er im deutschen Kulturraum verwurzelt ist. Er kannte die deutsche Sprache. Es wurde schon angegeben, wie es zu erklären ist, daß er die erste Fassung der Didaktik in Tschechisch und nicht in Deutsch schrieb. Nicht etwa Unkenntnis des Deutschen war die Ursache. Mit den bedeutendsten Vertretern der deutschen Poesie des 17. Jahrhunderts, z. B. mit Opitz, Harsdörfer, Rist, Zesen, Seybold, Titze, verbanden ihn persönliche Beziehungen und wahrscheinlich auch mit den deutschen Sprachgesellschaften; denn er betätigte sich in ihrem Sinne, indem er bei der deutschen Ubersetzung der Kirchenordnung der Böhmischen Brüder einige der von ihnen vertretenen Puris-
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men (Verdeutschungen) vorschlägt. In seiner Schrift Methodus linguarum novissima 1648 findet sich (Opp. did. I 1 2 7 7 ) ein günstiges Urteil über sie, das um so mehr auffällt, als sie damals durch die Gelehrten, Universitäten und Kirchen, „die das Streben, alle Wissenschaften in den Volkssprachen zu behandeln, als ungeheure Neuerung betrachteten", bekämpft wurden (28). Daß Comenius überhaupt durch die deutsche Denk- und Arbeitsweise beeinflußt wurde, fiel sogar ausländischen Beurteilern auf, z. B. Laude, der im Vorwort 9eines Comeniusbuches (29) ausdrücklich sagt: „ . . . he had in great force the systematising impulse of the German mind, though not himself a German." Aus den vorangehenden Ausführungen ergibt sich die Berechtigung dafür, den Tschechen Comenius als Vertreter deutscher Pädagogik anzusehen. Unsere nächste Aufgabe wird nun sein, zu zeigen, daß, in welchem Umfang und auf welchen Wegen seine Ideen Verbreitung auch jenseits der deutschen Grenzen fanden. In dem Zusammenhang wird sich auch die Richtigkeit der früheren Behauptung ergeben, daß deutsche Pädagogen die hauptsächlichsten Vermittler der comenianischen Ideen nach dem Ausland hin und überhaupt Bewahrer seines Andenkens und Träger der Comeniusforschung waren. Die Auslandswirkung des Comenius erfolgte auf mancherlei Wegen, in erster Linie durch die Originalausgaben oder die Übersetzungen seiner Schriften. Die schon erwähnte Didaktik konnte wegen ihrer Abfassung in böhmischer Sprache zunächst keine breite Wirkung entfalten. 1638 oder 1639 wurde sie in England teilweise, 1657 in Amsterdam vollständig ins Lateinische übertragen. Jetzt war ihre Wirkung an keine Grenzen mehr gebunden, da die abendländischen Gelehrten der damaligen Zeit noch Latein konnten, und erst seit dieser Zeit wurden die Lehren des Comenius Gemeingut (30). Aber während der Zeit, da die „große Didaktik" noch an einer allgemeinen Verbreitung behindert war, gab Comenius (im Jahre 1631) ein Werk heraus, das sehr schnell auch im Ausland bekannt wurde und seinen Weltruf begründete, die „Janua linguarum reserata" = Die aufgeschlossene Sprachenpforte. Mit diesem Werk tritt Comenius äußerst erfolgreich in die von Ratichius eingesetzte Bewegung, die darauf abzielt, die Erlernung des Latein und jeder andern Sprache zu erleichtern und sie mit dem Studium aller Künste und Wissenschaften zu vereinen, also Sprach- und Sachunterricht verbunden zu geben. Die Janua ist allerdings kein völlig originales Werk, sondern die Nachahmung einer zwanzig Jahre vorher erschienenen Janua linguarum eines in Salamanka lebenden irischen Jesuiten, Wilhelm Batheus (31). Comenius bezieht sich auf sie im Vorwort. Wie sie nach Deutschland kam, berichtet er im 8. Kapitel seines Buches „Novissima Linguarum Methodus" (Amsterdam 1657 p. 82). Comenius lag wahrscheinlich die Ausgabe von 1617 vor, die er durch einen von ihm nicht benannten Freund erhielt. Wie schnell die Verbreitung der Janua in Europa vor sich ging, belegen folgende Einzelangaben. Das Vorwort der Originalausgabe ist datiert vom 4. März 1631. Schnell
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wurde sie in Norwegen, Schweden und Dänemark bekannt. Die Popularität des Buches in diesen Ländern zog die Aufmerksamkeit von Anchoran auf sich. Er gab eine erste Übersetzung in englischer Sprache heraus, die noch in demselben Jahre herauskam (32). Weitere Ausgaben folgten 1633 (Andiorans Porta Linguarum Trilinguis (i. e. Latein, Englisch und Französisch) reserata, The Gate of Tongues Unlocked), 1637, 1639 und 1643. Die drei letzteren Ausgaben sind durch ein alphabetisches Wörterverzeichnis von William Salstonstall bereichert (33). Es existieren aber auch noch spätere Ausgaben. Quick z. B. zitiert nach einer Ausgabe von 1656 (34). Für Comenius selbst war der große und schnelle Erfolg überraschend. Er brachte es später selbst einmal zum Ausdruck, daß er sich vorher nicht hätte vorstellen können, daß puerile istud opusculum mit Beifall von der ganzen gelehrten Welt begrüßt werden sollte. Aus allen Teilen der Welt wurde er zu diesem seinem Werk beglückwünscht. Es wurde in schneller Aufeinanderfolge ins Griechische, Polnische, Böhmische, Schwedische, Belgische, Französische, Spanische, Italienische, Ungarische, ja sogar ins Türkische, Arabische, Persische und Mongolische übertragen, so daß es fast auf dem ganzen Erdball den Sprachunterricht beeinflussen konnte. Der große und schnelle Erfolg des Buches war wohl zum Teil daraus zu erklären, daß der Boden für seine Aufnahme in aller Welt geistig durch die Ideen Bacons vorbereitet war. Die von dem „Baconian spirit" ergriffenen Gebildeten „hailed the appearance of a book which called the youth from the study of old philosophical ideas to observe the facts around them (35). Noch verbreiteter als die Janua war des Comenius „Orbis sensualium pictus" (1. Teil 1654 in Patuk, 2. Teil 1657 in Nürnberg erschienen), eine Art verbesserte Ausgabe der Janua, in der den lateinischen und deutschen Sätzen 300 Holzschnitte beigegeben waren, und so der Anfang damit gemacht wurde, Bilder zu Unterrichtszwecken zu benutzen und Kinderbilderbücher zu beschaffen. Auch dieses Buch wurde in alle Welt verbreitet und selbst — wie wir an anderer Stelle hören werden — von denen begeistert begrüßt, die der Janua kritisch gegenübergestanden hatten, und blieb, wohl infolge der Bebilderung, viel länger als die Janua, bis in die neueste Zeit in Gebrauch. Wir wollen hier davon absehen, die europäische Verbreitung dieser „Welt des Sichtbaren in Bildern" im einzelnen zu belegen und uns damit begnügen, das Urteil Lauries anzufügen, daß „for some time it was the most popular Schoolbook in Europe and deservedly so" (36). Außer durch seine Schriften verbreitete Comenius seine Ideen im Ausland durch sein unruhiges, zum Teil durch die Zeitumstände bedingtes Wanderleben, das ihn nach England, Schweden, Ungarn und Holland führte. Der unmittelbare Veranlasser seiner Reise nach England und seines mehrmonatlichen Aufenthaltes in London war der Pädagoge Samuel Hartlib, den Milton einmal als eine Persönlichkeit charakterisiert „sent hither by some good providence from a far country to be the occasion and the incitement of great good to this land" (37). Hartlib war im Jahre 1600 in Elbing als Sohn eines
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polnischen Vaters und einer englischen Mutter geboren und lebte seit 1628 als angesehene Persönlichkeit in London. Comenius und Hartlib sollen sich zwischen 1625 und 1628 in Deutschland persönlich kennengelernt haben. Literarisch werden ihre Namen zum erstenmal in einem Brief aus dem März 1636 in Verbindung gebracht, der später in der Amsterdamer Ausgabe der didaktischen Schriften des Comenius (I, S. 318) der Öffentlichkeit vorgelegt Wurde. In ihm wird Hartlib als der erste von vier Mitarbeitern des Verfassers der Janua genannt. Aber es war nicht der Ruf des Comenius als Verfasser dieses Buches, das im Grunde ein Schulbuch war, der ihm die Einladung nach England eintrug. Im Kreise der Böhmischen Brüder stand Comenius höher im Ansehen wegen seiner sogenannten pansophischen Bestrebungen, deren Ziel „die Schaffung einer alle Wissenschaften umfassenden Enzyklopädie war, in der die christliche Lehre den einheitlichen Faden bilden sollte" ( 3 8 ) . Einzelne Böhmische Brüder, die nach England gegangen waren, sprachen dort begeistert von diesen Bestrebungen und steckten befreundete Engländer mit ihrer Begeisterung an. Darunter auch Samuel Hartlib. Auf seine Bitte teilte ihm Comenius in der Form eines Vorwortes zu einem geplanten Buche das Wesentliche seiner pansophischen Bestrebungen mit. Ohne daß Comenius gefragt wurde, gab Hartlib diese Darlegungen in der University Preß of Oxford unter dem Titel „Conatus Comenanorum Praeludia" 1637, und 1639 unter einem neuen Titel, „Prodromus Pansophiae", in London heraus. Hartlibs Absicht bei diesen Veröffentlichungen war gut. Er wollte diese Bestrebungen des Comenius in der englischen Gelehrtenwelt bekannt machen und deren Interesse dafür gewinnen. Die Wirkung dieser Veröffentlichung aber war zwiespältig, teils scharfe Kritik, teils begeisterte Zustimmung. Seine Verteidigung gegen die erstere übernahm Comenius selbst in der Schrift „Conatus Pansophicorum Dilucidatio", die Hartlib, mit dem Prodromus in einem Buch vereint, herausgab. Unter den neu gewonnenen englischen Freunden der pansophischen Bestrebungen tauchte bald der Plan auf, Comenius mit Mitarbeitern zu versehen und ein pansophisches Kolleg zu begründen, weil diese Aufgabe die Kraft eines Mannes übersteige. Daher forderte Hartlib Comenius im Jahre 1641 auf, nach London zu kommen. D a ß Comenius gern bereit war, dieser Einladung zu folgen, erklärt sich wohl auch daraus, daß England die Heimat seines großen Lehrers Bacon war. Daß Comenius von Bacon von Verulam Anregungen empfing, ist offensichtlicher und nachweisbarer als Bacons Einfluß auf Ratichius. Comenius selbst erwähnt ihn neben Ratke und Campanella (Opera Omnia Didactica, Amsterdam 1657, I, col. 4 4 2 ) , und in seinen Werken, zumal in der großen Unterrichtslehre, gibt es viele, auch von Adamson herausgehobene Stellen, die den Einfluß Bacons nahelegen. Comenius selbst berichtet, daß er am Tage des Herbstäquinoktiums in London anlangte. Er blieb dort den Winter über. Die Englandreise des Comenius ist eingehend erforscht worden ( 3 9 ) , und es steht fest, daß und warum keine der hochgespannten Erwartungen des Vaters der Pansophie in Erfüllung 3
S c h n e i d e r , Pädagogik.
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gingen. Es erübrigt sich für uns ein Eingehen auf die Einzelheiten, und es genügt in diesem Zusammenhang die Feststellung, daß Comenius im Frühjahr des folgenden Jahres bei den deutlichen Anzeichen eines blutigen Krieges in England das Land verließ, indem er einer Einladung Ludwig van Geers, der damals in Norköping wohnte, nach Schweden folgte. Obwohl Comenius in England der Verwirklichung seiner pansophischen Absichten keinen Schritt nähergekommen war und auch niemals mehr nach England zurückkehrte, war sein Englandaufenthalt für die Verbreitung seiner Pädagogik von großer Bedeutung. Im persönlichen Verkehr muß er auf Hartlib und andere englische Pädagogen stark gewirkt haben. Diese Wirkung wurde auch dadurch unterstützt, daß er mit ihnen noch mehrere Jahre lang in brieflicher Verbindung geblieben ist ( 4 0 ) . So ist es nicht verwunderlich, daß sie sich in vielen ihrer pädagogischen Anschauungen von Comenius abhängig erwiesen. Das verrät sich z. B. bei Hartlib in seinen späteren Schriften über Waisenerziehung, über Haushaltunterricht (Essay for Advancement of Husbandry Learning") und über Universal Learning. Aus der letzteren (A Memorial for Advancement of Universal Learning) ist auch ersichtlich, daß er immer noch auf die Errichtung eines pansophischen Institutes comenianisdien Charakters hoffte. Es sollte den Namen „Atlantis" führen und durch eine öffentliche Subskription ermöglicht werden. Außer sich selbst benannte er John Dury als Vertrauensmann zum Empfang finanzieller Zuwendungen zu diesem Zweck (41). John Dury, auch Duräus genannt ( 1 5 9 9 — 1 6 8 0 ) , war längere Zeit in verschiedenen Teilen Deutschlands, unter anderem Geistlicher der englischen Gemeinde in Elbing gewesen, wo er „sicherlich oft mit Comenius verkehrt hatte". Der Einfluß des Comenius zeigt sich in einem kleinen, 1651 erschienenen Büchlein „The Reformed School", das er auf die Anregung seines Freundes Hartlib herausgab, in der Ablehnung des Lernens von Wörtern und Regeln ohne Sachvorstellung und in seiner Forderung: „No General Rules are to be given into any, tili Sense, Imagination and Memory have received their impression conceming that what where unto the Rule is appleged." (42) Duiy führte als erster in die englische Pädagogik, ebenfalls in Abhängigkeit von Comenius, die Idee der Kleinkindererziehung (Infant teaching) ein, indem er im Anschluß an des Comenius „Muttersdiule" (Schola materni greniu) den Plan einer Kleinkinderschule entwarf (43). Um die Ausbreitung comenianischer Ideen bemühen sich weiterhin William Petty, Charles Hoole und John Milton. Der einzig praktisch tätige Schulmeister unter den Dreien war Hoole, der Headmaster der Grammar School in Rotherham und Lothbury, der 1659 den Orbis pictus übersetzte, obwohl er ihn, wie aus seinem Vorwort hervorging, kritisch beurteilte. Er findet ihn nur für ältere Personen nützlich und vorteilhaft, die bereits eine oberflächliche Kenntnis des Lateinischen besitzen, weil er ihnen hilft, hier und da gehörte, aber nicht gelernte Worte zu behalten. Für Kinder aber, die die meisten Sachen und Worte noch nicht kennen, erweist sich nach seiner Ansicht der Orbis pictus mehr hinderlich als förderlich, „rather a mere toil and bürden than a delight
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and furtherance" (44). Nach seiner Meinung würde die Janua nur eine kurzlebige Popularität unter den Lehrern und eine noch kürzere unter den Schülern gehabt haben, wenn Comenius nicht seine Forderung, der Unterricht müsse sich an die Sinne wenden, mit Hilfe des Künstlers im Orbis pictus befolgt habe. Am Beispiele Hooles wird auch deutlich, wie weit oft der Weg von der Theorie zur Praxis ist, und daß mit der Übernahme theoretischer Anschauungen aus dem Ausland noch lange nicht eine dieser Theorie entsprechende pädagogische Wirklichkeit gesichert ist. Dreßler weist nämlich auf die überraschende Tatsache hin, daß Hoole in dem Vorwort zum Orbis pictus zwar gefordert habe, daß die Dinge vor den Begriffen und Worten zu lehren seien und daß jedes Fortschreiten im Lehrstoff abhängig vom Fortschritt der Fähigkeiten des Kindes sein müsse, daß überhaupt „jedes Wort in diesem Vorwort Comenius 5 Geist geatmet" habe, daß Hoole aber in der Praxis an der altenglischen Erziehungsüberlieferung so festgehalten habe, daß er trotz seiner Orbis-pictus-übersetzung nicht zu den damaligen pädagogischen Reformern zu rechnen sei (45). Der erste der obengenannten Verbreiter comenianischer Gedanken, William Petty, war nicht Schulmeister, sondern Mechaniker und Schneidermeister. Durch Hartlib und Comenius angeregt, legte er seine pädagogischen Ansichten 1647 in einer nur 20 Seiten umfassenden Schrift „Advice of W . P." auseinander, deretwegen man ihn „als den radikalsten Erziehungsidealisten Englands" bezeichnet hat. Bei ihm findet sich der religiös fundierte Realismus comenianischer Prägung. In dem Bildungsideal des Comenius spielten neben den klassischen Sprachen auch die übrigen Wissenschaften eine Rolle. Nach seiner Ansicht tragen auch sie Keime des Göttlichen in sich und die Beschäftigung mit ihnen bildet daher einen Weg zu Gott. Diese metaphysische Begründung einer Erweiterung der Wissensgegenstände und Bildungsfächer des Comenius findet sich auch bei W . Petty, gewann überhaupt im Laufe des 17. Jahrhunderts an Boden und war eine der Ursachen der Verbreiterung der in die Lehrpläne aufzunehmenden Bildungsgegenstände. Der letzte als Vertreter comenianischer Ideen genannte Freund Hartlibs ist J. Milton (46). Er schrieb an Hartlib, der ihn auch an dem projektierten pansophischen College beteiligen wollte, seinen bekannten Brief über Erziehung, in dem sich comenianische Gedanken wiederfinden (47). O b er Comenius selbst gelesen hat, ist umstritten. Er scheint sogar geleugnet zu haben, daß er irgend etwas von Comenius lernte. Aber das darf jedenfalls gesagt werden, daß der Baconsche Empirismus und die Pansophie des Comenius die eigentliche Grundlage seiner Bildungsidee darstellen. Auch Quick weist, obwohl er Milton für den „perhaps most notable man who ever kept school or published a Schoolbook" hält und weiß, daß dieser eine Abhängigkeit von Comenius sogar bestritten zu haben scheint, „auf die Ubereinstimmung Miltons mit den Grundüberzeugungen des Comenius" hin. Nach England kamen pädagogische Ideen des Comenius auch durch Deutsche, die in loserer oder engerer Beziehung zu ihm gestanden hatten. So 3*
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ist z. B. anzunehmen, daß Georg Ritschel (1616—1683), ein Theologe der Unität und später anglikanischer Geistlicher, in seiner neuen Wahlheimat auf den Bischof der Unität und großen Pädagogen aufmerksam machte. Von einem anderen, einem Sdilesier namens Cyprian Kinner, können wir es mit Einzelheiten belegen, daß er sich als Herold comenianischer Pädagogik in England betätigte (48). Einen Teil seiner Lebensgeschichte kennen wir aus dem Vorwort zu einem Schriftchen von ihm, das Hartlib schrieb: A Continuation of Mr. John Arnos Comenius School Endeavours Or a Sumrnaiy Delineation of Dr. Cyprian Kinner, Silesian, his thoughts concerning Education". Aus diesem Vorwort erfahren wir unter anderem, daß Kinner nach dem Einmarsch der Kaiserlichen Schlesien unter Preisgabe seines Eigentums hatte verlassen müssen, sich dann einige Zeit in Transylvanien und Ungarn aufgehalten und dort den früher erwähnten Alstedius kennengelernt hatte, und daß es ihm schließlich durch seinen beständigen Eifer für die Reform des Unterrichts gelungen war, die Aufmerksamkeit des Comenius auf sich zu lenken, so daß dieser ihn zu sich einlud, damit sie ihre Bemühungen vereinigen konnten. Kinner folgte der Einladung und blieb mit Comenius in gemeinsamer Arbeit zusammen bis zu dessen Abberufung durch die Böhmischen Brüder. Es ist daher nicht verwunderlich, daß er in den Bann der Ideen des ihn geistig weit überragenden Comenius geriet. Das zeigt sich dann auch in seiner obenerwähnten Schrift, die nach seiner Trennung von Comenius entstand, und die er am 5. August 1648 von Danzig aus an Hartlib sandte, von dem sie dann bevorwortet und herausgegeben wurde. Der darin entwickelte Unterrichtsplan ist offensichtlich von Comenius abhängig. Adamson behauptet sogar: „Obviously, Kinner is but repeating his master Comenius, we have here only echoes from the Great Didactic". In der Betonung der Bedeutung der Sinnesorgane für den Anfangsunterricht, des Sachunterrichtes und der Muttersprache, ja sogar im Gebrauch mancher Analogien und in der Übernahme einiger comenianischer Trivialitäten zeigt sich diese Abhängigkeit deutlich (49). In der Geschichte der Beziehungen der Pädagogik des Comenius zu England stoßen wir zum erstenmal auf Beispiele dafür, daß deutsche pädagogische Ideen nicht nur unmittelbar aus Deutschland bei einem anderen Volke Eingang finden, sondern erst nach einem Umweg über eine andere — oder sogar mehrere fremde Nationen, wofür uns im Verlaufe unserer Darstellung noch mehrere andere Beispiele begegnen werden. Die Reformideen des Comenius fanden z. B. über London ihren Weg in die Schweiz. Ihr Hauptvermittler war der frühere Landvogt und Schulmeister J. F. Stoekar, der im Auftrage der Eidgenossenschaft zur Vermittlung zwischen den sich befehdenden reformierten Ländern Holland und England eine Reise nach London unternahm, dort Hartlib und Duiy kennenlernte und von ihnen auf die Janua des Comenius aufmerksam gemacht wurde. Nach seiner Rüdekehr in seine Heimat nach SdhafFhausen übergab er die Aufgabe, das Buch in der Schweiz bekanntzumachen, dem Lehrer St. Spleiß, der sich ihrer bereitwillig unterzog (50). Mitte der
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fünfziger Jahre kamen auch Pell und Dury in die Schweiz und wirkten für die Einbürgerung der Methoden des Comenius. Wie weit das gelang, ist daraus zu ersehen, daß sowohl die Schaffhausener wie die Berner eine Januaausgabe veranstalteten und daß Comenius bereits 1655 mit den Zürichern in brieflicher Verbindung stand, während allerdings die Schaffhausener in der Vorrede zur Janua bekannten, daß sie nicht wüßten, wo Comenius sich aufhalte (51). Von London kamen comenianische Ideen auch nach Frankreich. Während seines Aufenthaltes in England hatte Comenius eine Einladung nach Frankreich erhalten, die er allerdings nicht annahm. Sie war vielleicht zurückzuführen auf den gelehrten, selbst von Descartes hochgeachteten Franziskaner Mersenna, mit dem Comenius in Briefwechsel stand. Quick bezeichnet es als ein Symptom der damaligen pädagogischen Interessenrichtung und als einen Hinweis auf die Ursache des Ansehens des Comenius im Ausland, daß Mersenna Comenius von einem gewissen Le Maire Mitteilung machte, der durch seine Methoden einem sechsjährigen Knaben in neun Monaten eine vollkommene Kenntnis dreier Sprachen „beigebracht" habe (52). Der wichtigste Vermittler der Ideen des Comenius von England nach Frankreich aber war ein Mitarbeiter Hartlibs mit Namen Hübner, der, nachdem seine Stellung in London unhaltbar geworden war, nach Frankreich ging. Dort hörte er — nach Kvacala — „nicht auf, sich für Comenius zu interessieren und ihm Freunde zu werben" (53). Der persönliche Aufenthalt des Comenius war nicht nur für England, sondern auch für Schweden und Ungarn ein Weg der Verbreitung seiner pädagogischen Gedanken. Wir hörten schon, daß er nach Schweden kam auf Grund einer Einladung des Großkaufmanns Ludwig van Geer, den Comenius einmal den „Großalmosenier Europas" nannte. Dieser stellte ihn dann nach seiner Ankunft dem Kanzler Oxenstierna vor, der ihn drei Tage über seine pansophischen und pädagogischen Pläne ausfragte und die letzteren billigte. Von 1642—1648 hielt sich Comenius auf Geheiß des Kanzlers in Elbing auf, wo neue Bearbeitungen seiner pädagogischen Schriften und Schulbücher entstanden und er auch selbst Unterricht gab. Natürlich mußte für Comenius, der sich vorher kurz vor der Gründung einer pansophischen Universität in London gewähnt hatte und sich jetzt mit der Abfassung von Schulbüchern beschäftigt sah, dieser Umschwung eine große Enttäuschung bedeuten. Aber für die Ausbreitung seiner pädagogischen Forderungen nach dem europäischen Norden waren die Elbinger Jahre doch von großer Bedeutung. Dasselbe gilt in bezug auf seine Pataker Jahre auch für den Süden. Während seines Aufenthaltes in Elbing wollte der Fürst Georg I. Räköczi Comenius die Leitung des Schulwesens in Siebenbürgen anvertrauen. Damals schlug er wegen seiner Elbinger Arbeiten dieses Anerbieten aus. Einige Jahre später erfolgte eine zweite Einladung nach Ungarn, da der Rektor der reformierten Schule in Säros-Patak, Johannes Tolnaj, den Besitzern der Herrschaft Säros-Patak seine Berufung dringend anempfohlen hatte und diese der Anregung stattgaben. Anfang Mai 1650 kam Comenius dort zur Beratung an. Einer Aufforderung folgend, legte er den 37
Plan zu einer pansophisdhen Schule, in der „alles Wissenswürdige" theoretisch und praktisch in sieben Klassen oder Kursen gelehrt und die Schüler zur Selbsttätigkeit angehalten werden sollten, vor. Dieser Plan machte großen Eindruck. Am 8. Februar 1651 wurde die geplante Schule mit drei Klassen eröffnet; bei diesen blieb es, die projektierten sieben wurden nicht verwirklicht. Aber auch dieser Torso hatte, für die Verbreitung seiner Forderungen Bedeutung. Als eine spätere Zeit dieses sein Schulprojekt beurteilte, wurde gesagt: Was er zuwege gebracht haben könnte, war „eine Art von Realgymnasium, eine für jene Zeit jedenfalls sehr bemerkenswerte Leistung, wodurch ein wesentlicher Fortschritt in dem Schulwesen angebahnt worden wäre" (54). Während seines ungarischen Aufenthaltes verfaßte Comenius „Vorschriften über das sittliche Verhalten der Schüler" (Praecepta morum in usum Iuventutis [1653]), „Gesetze einer wohleingerichteten Schule" (Leges scholae bene ordinatae) und eine Schrift über die Vertreibung der Faulheit aus den Schülern (Fortius Redivivus) und, um spielend lernen zu lassen, wurde die Janua dramatisiert und die erwähnte „Schule als Spiel" = Schola ludus 1654 herausgegeben. Alle diese Schriften halfen mit zur Verbreitung der Pädagogik des Comenius in Ungarn. Die wichtigste Frucht seines dortigen Aufenthaltes aber war der Orbis pictus, der allerdings vollständig erst 1658 in Nürnberg erschien, also nicht schon während seines Aufenthaltes dort zur vollen Auswirkung kommen konnte. Als Mittel und Wege zur Ausbreitung der Pädagogik des Comenius im Ausland haben wir bis jetzt erkannt: 1. seine pädagogischen Schriften in der Originalfassung oder in Übersetzungen und seine Briefe, 1. seine Auslandsreisen, 3. die Werbearbeit seiner Freunde und Anhänger. Natürlich ist anzunehmen, daß auch von jeder Schule, die seinen Reformforderungen Rechnung trug, seine Ideen weitergetragen wurden, da sie für andere als Vorbild wirkte. Das letztere mußte sich natürlich am stärksten in Deutschland auswirken. Professor Hessenthaler, der Historiograph des Herzogs von Württemberg, teilte 1668 Comenius mit, daß mehr als 250 Lateinschulen seine Methode angenommen hätten (55). Und doch, alles in allem war die Wirkung der pädagogischen Ideen des Comenius während seines Lebens sehr begrenzt und entsprach nicht ihrer Fruchtbarkeit und Tiefe und der Größe seiner Persönlichkeit. Es ist die Vermutung geäußert worden (56), daß die Ideen des Comenius, besonders die von ihm vertretene realistische Erziehung, sich besser durchgesetzt haben würde, wenn er ein Jahrhundert früher gelebt hätte. Jetzt hatte sich nämlich durch den Einfluß Melanchthons, des Schulmeisters der Reformation, die humanistische Erziehung, wenn auch mit gewissen Reformen, erneut festgesetzt. Und auch als Comenius in einem kleinen Orte Hollands, wo er eine letzte Zuflucht gefunden hatte, starb, war das kein Anlaß für die pädagogische Mitwelt, sich auf seine Erziehungsideen zu besinnen, während gewöhnlich doch der Tod eines großen Mannes die Veranlassung ist, sich sein Wirken und sein geistiges Schaffen zu
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vergegenwärtigen und seine Ideen für die Gegenwart lebendig zu machen. Im Gegenteil wurde der Name des Comenius trotz seiner Berühmtheit während seines Lebens nach seinem Tode fast ganz vergessen; seine Werke waren für mehr als ein Jahrhundert unbekannt. Die Forschung hat versucht, die Ursachen seiner Vernachlässigung und des Vergessenwerdens nach seinem Tode herauszustellen. Als solche sind genannt worden: sein Aufenthalt im Exil, seine Zugehörigkeit zu einer kleinen, bitter verfolgten Sekte, die Tatsache, daß er mit gewissen prophetischen Voraussagungen, die dann nicht in Erfüllung gingen, in Verbindung gebracht werden konnte (57), und die Gleichgültigkeit der meisten Schulmeister seiner Zeit, die durch einen Mann mit neuen Ideen, wie Comenius einer war, nicht beunruhigt werden wollten. Aber dennoch war seine Wirkung mit seinem Tode nicht zu Ende. Anna Heyberger stellte einige Grundsätze heraus, die für Europa fruchtbar geworden seien: die staatsbürgerliche Erziehung des jungen Bürgers, der Unterricht zu den Sachen und an den Dingen, die Bedeutung der hygienischen Vorschriften, die Handarbeit, die Entwicklung des ästhetischen Gefühls, die Berufsberatung u. a. m. In größerem Umfang erwachte das Interesse für Comenius wieder in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und führte dann zur steigenden Beschäftigung mit ihm im In- und Ausland im 19. Jahrhundert. Einen Anstoß dazu gab Herders Brief „über den menschenfreundlichen Comenius", der 1795 in den Briefen zur Förderung der Humanität erschien (58), durch den die Anteilnahme der philosophisch und pädagogisch Interessierten für den 'Mann und sein Werk erneut geweckt wurde. Nicholas Murray Butler (59) vergleicht ihn daher mit einem Strom, der in einer dürren Wüste versickert, um dann an anderer Stelle mit gesammelter Kraft wieder zu erscheinen und seine befruchtende Kraft der ihn jetzt umgebenden Landschaft zu leihen. Nun begann eine zweite Periode der Beschäftigung mit Comenius und der Auswirkungen seiner Ideen in In- und Ausland. Starke Antriebe zu beiden gingen von den Gedenkfeiern des 19. Jahrhunderts aus, dem zweihundertjährigen Todestag (1870) und dem dreihundertjährigen Geburtstag (1892), die allerdings in der Hauptsache in Deutschland begangen wurden, aber ihre Wellen bis ins Ausland schlugen, bis in die Neue Welt. Im Zusammenhang mit ihnen wurde 1871 in Leipzig die Comeniusstiftung (Bücherei) begründet und 1891 die Comenius-Gesellschaft, deren Hauptziel die Ausbreitung des Einflusses des Geistes des Comenius und ihm verwandten Reformer war. Die Mitglieder dieser Gesellschaft, welche zwei Zeitschriften herausgab (60), waren zwar in der Mehrzahl Deutsche, aber es fanden sich unter ihnen auch Pädagogen aus Ungarn, Holland, Großbritannien, USA., Rußland, Schweden, Norwegen, Italien, der Schweiz, Frankreich, Griechenland, Belgien und Dänemark. Der literarische Ausdrude der Comenius-Renaissance in Deutschland im 19. Jahrhundert waren zahlreiche Bearbeitungen von Leben und Werk des großen Pädagogen von deutschen Autoren, die auch im Ausland wirkten. Zu den Initiatoren der Bewegung gehörten der Philosoph Krause, der 1828 eine Untersuchung über das Werk des
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Comenius (61) herausgab, und Karl von Raumer, der ihn in seiner Geschichte der Pädagogik behandelte. Von da an reißen die Untersuchungen des Lebens und des Werkes des Comenius in deutscher Sprache nicht ab, bis sie im 20. Jahrhundert gipfeln in dem mehrfach zitierten, zweibändigen Standardwerk von Kvacala. Durch die Darstellung Karl von Raumers wurde auch das angelsächsische Interesse für Comenius aufs neue geweckt. Zwar nicht durch seine Originaluntersuchung, sondern durch die englische Übersetzung der Darstellung von Raumers, die Henry Barnard in der Juninummer des „American Journal of Education" (62) veröffentlichte, und die bis zum Erscheinen des bereits erwähnten Buches von Professor Laurie*) im Jahre 1884 die einzige englische Behandlung unseres Pädagogen blieb. Das erwachte Interesse für Comenius im 19. Jahrhundert verriet sich ferner darin, daß im Laufe desselben mehrere englische Übersetzungen von Schriften des Comenius als Erstausgaben oder Neuauflagen erschienen. So die „School of infancy" 1858 durch Daniel Benham (63) und durch Will S. Monroe 1896 und 1897 (64), der „Orbis pictus" 1887 (65) und „The great didactic" durch M. W . Keatinge 1896 (66). Die angelsächsische Beschäftigung mit Comenius entsprang übrigens nicht nur rein pädagogischem Interesse. Der Orbis pictus z. B. wurde auch als ein „picture of the life and manners of the seventh century" (67) geschätzt, das von kulturhistorischem Wert war. Dann schmeichelte es auch dem englischen Selbstbewußtsein, daß Comenius durch Francis Bacon inspiriert worden war, daß er vor Ausbruch des „civil war" als eingeladener Gast mehrere Monate in London zugebracht hatte und daß er der Freund und in gewissem Umfang auch der Lehrer derjenigen gewesen war, die seine Einladung nach London veranlaßten oder ihn dort begrüßten (68). Und so war man immer wieder bereit, ihm und seinen Schriften Interesse zu bezeugen. Die großen Säkularfeiern führten audi in der nordamerikanischen Welt zu Vorträgen und Aufsätzen, die sich mit Comenius beschäftigten. So war die Märznummer 1892 der Educational Review eine Comeniusnummer. Sie wurde von Nicholas Murray Butler in New York im Verlag der Educational Review Publishing Co. herausgegeben und enthielt Beiträge vom Herausgeber, von S. S. Laurie, C. W . Bardeen und Professor Hanus. Von ihnen verdient in unserem Zusammenhang besonders der Aufsatz von Hanus „The permanent influence of Comenius" Erwähnung. In den „Proceedings of the National Educational Association for 1892" wurden Reden, die am dreihundertjährigen Geburtstag des Comenius von führenden Pädagogen (69) gehalten worden waren, veröffentlicht. Eine Übersicht über die Reformen des Comenius und der anderen Realisten gab James Phinney Monroe 1895 in „The educational ideal: an outline of its growth in modern times (70). Alles in allem: Comenius gehört heute auch bei den Angelsachsen zu den Klassikern der Pädagogik, mit dem sich jeder Pädagogik Beflissene beschäftigt und der auch heute noch an die *) The Educational Life and Writings of John Amos Comenius. 1. Edition Cambridge 1884. — 2. Ed. Cambridge 1885. — 3. Ed. Cambridge 1887.
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Erzieher Forderungen stellt. „The dead hand of spiritual ancestry lays no more sacred duty on posterity than that of realizing under happier circumstances ideas which the stress of age or the shortness of life has deprived of this accomplishment." So Monroe in seinem mehrfach zitierten Comenius-Werk (71). W. T . Harris, Commissioner of Education in USA., richtete am 18. Dezember 1891 an den Vorsitzenden der deutschen Comeniusgesellschaft einen Brief (abgedruckt S. 162 f. Bd. I der Monatshefte der Comeniusgesellsdhaft), in dem er mitteilt, „daß die Bestrebungen zur Belebung des Studiums der Schriften und Grundsätze des Comenius dortzulande ,unerwartete und höchst erfreuliche Erfolge' gehabt hätten", und belegt das mit Einzèlangaben. Auch in Frankreich, dessen Schullehrpläne nach dem Urteil einer Comeniusspezialistin sind „dans une très large mesure inspirés de son esprit" (72), zeigten sich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts die Auswirkungen der Comeniusrenaissance. Die 300-Iahr-Feier der Geburt des Comenius führte in Frankreich zu Vorbereitungen zur Begründung einer Société Comenius (73). Und die theoretische Pädagogik beschäftigte sich mit Leben und Werk des großen Pädagogen. Das berühmte „Dictionnaire de pédagogie et d'instruction primaire" von Ferdinand Buisson (74) aus dem Jahre 1887 enthielt drei Artikel über Comenius, und zwar von C. Progier über sein Leben, vom Herausgeber selbst über seine Schriften und von A. Daguet über seinen fortdauernden Einfluß. Auch die übrigen Enzyklopädien wie das Dictionnaire encyclopédique von Larousse, das Dictionnaire philosophique von Franck, die bei Lamirault et Cie. erschienene Grande encyclopédie und die Encyclopédie des Sciences religieuses enthielten alle einen vom Herausgeber selbst oder einem bedeutenden Pädagogen verfaßten Comenius-Artikel. Die französische Comeniusliteratur gipfelte in dem 1928 erschienenen Werk „Jean Amos Comenius. Sa vie et son oeuvre d'éducateur" von Anna Heyberger. Als Motive für ihre Beschäftigung mit Comenius gibt die Verfasserin, die übrigens geborene Tschechin ist, an: Ihr Interesse für den „innovateur des méthodes modernes d'enseignement et, en particulier, de l'enseignement des langues" und ihr Interesse für das 17. Jahrhundert, dessen Probleme in der Zeit nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges ihr mit denen der Zeit nach 1918 verwandt erschienen. Die Comenius-Renaissance führte aber außer in den genannten großen Kulturstaaten auch in manchen anderen kleinen Ländern zu einer erhöhten Beschäftigung mit dem großen Pädagogen des 17. Jahrhunderts. Es ist unmöglich, das hier auch im einzelnen nachzuweisen*). Es müssen vereinzelte literarische Hinweise genügen. So erschien z. B. 1874 in Dänemark von Jean Pio übersetzt die Mutterschule des Comenius (75) und 1912 ein Werk über das pädagogische System des Comenius (76). In Italien wurden 1911 die kleineren Schriften des Comenius (77) herausgebracht. * ) In dem mehrfach erwähnten 1. Bd. der Monatshefte der Comenius-Gesellsdiaft (Leipzig 1892) findet sich eine Arbeit „Die Comeniusliteratur seit 50 Jahren" (S. 77 ff.), die auch die einschlägigen Publikationen einiger kleiner Staaten (Holland, Schweden und Ungarn) enthält.
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Unsere Betrachtung des Comenius hat deutlich gemacht, daß er im Laufe der Zeiten für die Pädagogik der ganzen Kulturwelt von Bedeutung wurde ünd daß es berechtigt ist, ihn in die Reihe der Pädagogen aufzunehmen, die deutsche Pädagogik über Deutschlands Grenzen hinaustrugen. Erinnern wir uns hier noch einmal der von mir gemachten Unterscheidung von „deutscher Pädagogik" im weiteren und im engen prägnanten Sinne. Im Zeitalter des Comenius existierte in Deutschland noch keine deutsche Pädagogik im prägnanten Sinne. Die pädagogischen Ideen waren oder wurden damals mehr oder minder Gemeingut aller Kulturvölker, wenn natürlich auch bei den verschiedenen Völkern mit einer gewissen nationalen Färbung. In irgendeinem Land, in England oder Frankreich oder Deutschland geboren, wanderten sie von Land zu Land weiter. In diesem grandiosen pädagogischen Kreislauf wurde Deutschland durch Comenius ein wichtiges Glied. Die Vermittlerfunktion wurde z. B. deutlich an der von England stammenden realistischen Haltung und noch auffallender an der Forderung der naturgemäßen Erziehung. Ratidiius hat ihre Durchführung zum erstenmal deutlich und bestimmt verlangt: „Omnia juxta methodum naturae" — Alles nach Ordnung und Lauf der Natur, und er wußte sich damit in scharfem Gegensatz zur traditionellen Erziehung; denn er sagte: „Ratio vicit, vetustas cessit." Von ihm ausgehend bildet die naturgemäße Pädagogik eine fortschreitende kontinuierliche Bewegung. Und zwar ist diese Kontinuität — wie Barth in seiner Geschichte der Pädagogik (78) nachweist, nicht bloß eine innerliche, durch folgerichtigen Fortschritt der Ideen, sondern sogar eine äußere, durch tatsächliche Einwirkung des Vorgängers auf den Nachfolger. Und in dieser Kette ist Comenius ein wichtiges Glied. Er empfing die Idee von Ratichius und überträgt sie auf Samuel Hartlib; von diesem empfängt sie durch den gemeinsamen Freund Robert Boyle John Locke. „Daß Locke wiederum für Rousseau in der Pädagogik wie in der Politik mannigfach bestimmend wurde, ist allbekannt, desgleichen, daß Rousseau für Pestalozzi und für die Philanthropen, für diese auch John Lodce wegweisend wurden."
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1. Der Pietismus und August Hermann Francke Stärker und vielseitiger als im 17. zeigt sich der Auslandseinfluß deutscher Pädagogik im 18. Jahrhundert, das auch für Deutschland den Beinamen des „pädagogischen" Jahrhunderts verdient. Gegen Ende des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war besonders die pietistische Pädagogik der Ausgangspunkt starker, die Grenzen des deutschen Sprachgebiets überschreitender Kräfte. Der Pietismus war ein deutsches Gewächs, und auch seine Anwendung auf das Bildungsdenken und die Bildungswirklichkeit geschah zunächst durch einen Deutschen. Der Begründer des Pietismus war Philipp Spener aus Rappoltsweiler im Elsaß (1635—1705), der nach"Studien in Basel, Tübingen, Freiburg, Genf und Lyon als Senior der Geistlichkeit zu Frankfurt am Main, von 1686 als Oberhofprediger in Dresden und seit 1691 als Propst der Nicolaikirche in Berlin wirkte, wo er 1705 starb. Die Grundidee des Pietismus, der bekanntlich seinen Namen von den Collegia pietatis, d. h. den Versammlungen zur religiösen Belehrung und Erbauung, die Spener bereits in Frankfurt in seinem Hause abhielt, erhielt, war: „Daß das Christentum sich nicht im Wissen, sondern in der Ausübung zeige, und daß daher die Christen fleißig angeleitet werden müssen zu Werken uneigennütziger Liebe, zur Bezähmung ihres Unwillens über erlittene Beleidigungen, zur Enthaltung von aller Rache, zu einer wohlwollenden Gesinnung, welche auch dem Feinde Gutes tut, zur Liebe und Duldung auf theologischem Gebiete." (1) In der Erziehung drang Spener daher besonders auf Weltflucht und Erziehung zur Gottseligkeit. Auch trug er viel zur Belebung des katechetischen Unterrichts bei, besonders durch die Veröffentlichung seiner Katechismusvorträge „Einfältige Erklärung der christlichen Lehre nach der Ordnung des kleinen Katechismus Luthers" und durch seine katechetischen Tabellen. Auf dem von Spener gelegten Grunde baute Nikolaus, Ludwig Graf von Zinzendorf (1700—1760), der Stifter der Herrnhuter, fort. Die Herrnhuter gründeten Ortsschulen für Knaben und Mädchen bis zum 13. und 14. Lebensjahr und Unitäts-Erziehungsanstalten für die Kinder der Missionare und anderer Diener der Unität. Für die höhere Bildung diente zuerst das Pädagogium in Barby, dann das zu Niesky und für die Ausbildung der Geistlichen das theologische Seminar in Gnadenfeld. Als Ziel der Erziehung galt den Herrnhutern mit ihrer durchgängig asketischen Weltanschauung: in der
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Jugend möglichst früh „Die Liebe Gottes in Christo zu wecken und zu beleben sowie bei jeder Gelegenheit ans Herz zu legen, daß sich ein Christenkind als Eigentum des Herrn . . . betrachten und als brauchbares Glied der bürgerlichen Gesellschaft in frommer Demut einzig und allein zu Gottes Ehre leben müsse." So haben Spener und Zinzendorf den Pietismus nicht nur begründet, sondern auch schon versucht, die Erziehung nach seinem Geiste zu gestalten. Aber der eigentliche Begründer der pietistischen Pädagogik, der erste, mit dem der Pietismus in größerem Umfang reformatorisch in den pädagogischen Bezirk eingriff, war August Hermann Francke ( 1 6 6 3 — 1 7 2 7 ) , der Begründer der nach ihm benannten Franckeschen Stiftungen in Halle (2). Diese waren zunächst für das pädagogische Denken und die pädagogische Wirklichkeit im übrigen Deutschland, besonders in Preußen, von gestaltendem Einfluß. Nach ihrem Muster wurden zahlreiche andere Anstalten errichtet. Von ihnen lernte man, den gelehrten Unterricht mit der Unterweisung in praktisch technischen Dingen zu verbinden. Auch die preußischen Monarchen erkannten die Bedeutung Franckes und seines Werkes an, sowohl Friedrich Wilhelm I., dessen für das preußische Schulwesen grundlegende „Principia regulativa" Franckeschen Geist atmen, als auch Friedrich der Große, der einen Anhänger der Halleschen Richtung, J . J . Hecker, mit der Abfassung des für die Entwicklung des preußischen Volksschulwesens so bedeutungsvollen Landschulreglements vom Jahre 1763 betraute. Hecker ist auch der Begründer der Berliner Realschule, die sich im Prinzip wie in der Einrichtung an die Franckeschen Stiftungen in Halle anlehnte. Der von Francke und seinen Mitarbeitern vertretene Realismus war tiefer als der spätere flache Realismus der Philanthropen, so sehr er auch die Pflege der wirtschaftlichen Kenntniszweige betonte. Otto Willmann beleuchtet das durch einen Ausspruch von J . Fr. Hähn, Heckers Mitarbeiter: „Die wahre Realität muß in den Dingen gesucht werden, welche zur Beruhigung des Gewissens dienen." (3) Aber der unmittelbare und mittelbare Einfluß Franckes beschränkte sich nicht auf Deutschland, sondern erstredete sich auch auf andere Staaten Europas und sogar auf außereuropäische Länder. Die wichtigsten Vermittler dieses Auslandseinflusses waren zwei von Halle ausgehende Bewegungen, die Bibel- und die Missionsbewegung, ferner Franckes persönliche Beziehungen, Schriften und Briefe, seine Schüler und die ausländischen Besucher seiner Anstalten. Diese Vermittler lassen sich allerdings nur theoretisch isolieren, in der Wirklichkeit fallen sie oft zusammen. 1. Die Bibelbewegung: Eifrige Bibellesung war ein wesentliches Mittel religiöser Erziehung in der pietistischen Pädagogik. Francke trat lebhaft für sie ein und gab in seinem Unterricht und für diejenigen, die er mit seinem Wort nicht erreichte, auch literarisch Anleitung zur Bibellesung, z. B. in der „einfältige Unterricht, wie man die Hl. Schrift zu seiner wahren Erbauung lesen sollte" (4). Dadurch wurde auch außerhalb Deutschlands die Einführung von Bibelstunden nach
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Halleschem Vorbild veranlaßt. Das bezeugt z. B. für die Schweiz das Zeugnis des Graubündner Pfarrers Andreas Gilardou (5). Die Bibelpraxis und die Bibeltheologie Franckes zog junge Theologen nicht nur aus dem Reich, sondern auch aus dem Ausland an. Auf einer siebenbürgischen Synode des Jahres 1726 fiel der kennzeichnende Ausspruch: „Wer in Deutschland gewesen sei und nicht in Halle gelebt habe, der scheine in Rom gewesen zu sein, ohne den Papst gesehen zu haben." (6) So kamen viele Theologen auch von jenseits der deutschen Grenzen für kürzere oder längere Zeit als seine Schüler nach Halle und nahmen dann später Franckes Bibelbegeisterung und seine Methoden der Schriftlesung mit in ihre Heimat und sicherlich oft gleichzeitig auch die Ideen, die er als pädagogischer Denker entwickelt hatte. Die Voraussetzung für den Erfolg der Bibelbewegung war, daß Übersetzungen der Hl. Schrift in den verschiedenen Landessprachen vorlagen. Francke arbeitete an der Befriedigung dieses Bedürfnisses. 1702 und 1708 erschienen in der neuen Buchhandlung des Waisenhauses in Halle neue deutsche Ausgaben der lutherischen Bibel, 1709 das Neue Testament in tschechischer Sprache zur Verbreitung in den evangelischen Gemeinden Böhmens (7) und 1710 die von Francke selbst veranstaltete und eingeleitete Ausgabe des Neuen Testamentes in griechischem Grundtext und neugriechischer Übersetzung, der eine griechische Übersetzung des Alten Testaments und ein griechisch-deutsches Wörterbuch zum Neuen Testament vorangegangen waren. Die sich aus diesen Anfängen entwickelnde Cansteinsche Bibelanstalt setzte diese Arbeit fort, begann z. B. 1726 den Druck einer Bibel in polnischer Sprache und wirkte daran mit, daß 1739 in Reval eine Bibel in estnischer Sprache gedruckt werden konnte (8). Ein schönes Symbol für Francke als den Organisator der Arbeit an der Bibel und der Bibelverbreitung ist das von Meisterhand geschaffene Hallenser Denkmal Franckes, das ihn darstellt mit einem Knaben neben sich, der die Bibel an seine Brust drückt und gleichzeitig nach oben schaut, wohin Francke mit dem Finger weist (9). 2. Die Missionsbewegung: Neben der Bibel- war es die damit eng verbundene Missionsbewegung, für die übrigens Francke erst den Pietismus gewann, von der ebenfalls Franckes Erziehungsdenken ins Ausland getragen wurde (10). Sie erstredete sich nach verschiedenen Missionsfeldern, zunächst und besonders in das dänische. Im Jahre 1705 faßte der König Friedrich IV. von Dänemark den Beschluß, zur Bekehrung seiner heidnischen Untertanen, die er in den dänischen Kolonien hatte, Missionare auszusenden. Er erteilte daher dem 1704 aus Berlin, wo er Propst in St. Petri gewesen war, nach Kopenhagen gekommenen Hofprediger Lütkens den Auftrag, für den Missionsdienst geeignete Männer auszusuchen. Da dessen Bemühen, Missionare zu finden, in Dänemark selbst ohne Erfolg war, wandte er sich an seinen Freund, den Berliner Rektor Joachim Lange, der ihm die beiden Kandidaten Bartholomäus Ziegenbalg und Heinrich Plütschau
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gewann (11). Beide waren Schüler Franckes, die auch jetzt nodi seinem Rat in allen Dingen folgten und ihn als ihr Vorbild betrachteten. Mit ihnen begann dann 1706 die Missionstätigkeit auf der seit 1620 bestehenden dänischen Niederlassung Trankebar auf der Coromandel in Ostindien. Während des ganzen 18. Jahrhunderts blieb Halle für diese Mission sowie für die von dort aus in Madras auf britischem Gebiet neu begründeten Stationen das Hauptkraftzentrum. Fast alle dorthin entsandten Missionare hatten in Halle ihre Ausbildung erhalten, viele hatten an den Stiftungen vorher als Lehrer gewirkt (12). Zu Lebzeiten Franckes wurden zehn Missionare nach Trankebar geschickt, von denen neun deutscher und einer dänischer Herkunft waren. Unter den nach Franckes Tode von seinen Nachfolgern ausgesandten Missionaren war auch die Mehrzahl, nämlich 40, deutscher Nationalität (13). Seit 1710 erschienen in vieljähriger Reihenfolge in Halle die Berichte der in Ostindien tätigen Missionare. Diese bilden die erste und für lange Zeit die einzige Missionszeitschrift. Da Francke sie herausgab, erscheint er viel mehr als der Mittelpunkt der Mission, als er es tatsächlich war (14). Die Missionsbewegung sollte nach Franckes Auffassung übernationalen Charakter haben. Daher war es nur konsequent, daß er für die ursprünglich dänische Mission in England Freunde zu gewinnen suchte. Sein Mittelsmann dabei war der damalige Prediger an der königlichen Kapelle, sein früherer Schüler Anton Wilhelm Böhme (1673—1721), welcher die ersten Briefe der Missionare ins Englische übersetzte. Diese fanden in England eine sehr günstige Aufnahme, vor allem bei der 1698 begründeten „Society for propagating Christian knowledge", zu deren korrespondierenden Mitgliedern Francke, Ziegenbalg und Plütschau ernannt wurden (15). Auch nach dem Tode Franckes blieben die Stiftungen und die Society dadurch in enger Verbindung, daß die Direktoren der Halleschen Stiftungen stets auch Mitglieder der Society waren (16). Böhme war nicht nur Förderer der von Halle ausgehenden Missionsbewegung, sondern auch der Franckeschen Pädagogik überhaupt, so daß es berechtigt ist, sich an dieser Stelle eingehender mit ihm zu beschäftigen. Er war im Herbst 1701 nach London gekommen, wo sich bereits zwei andere aus Halle stammende Kandidaten befanden, welche eine Schule für Deutsche eingerichtet hatten. Mit einer Schule, die er selbst kurz nach seiner Ankunft errichtete, hatte er keinen besonderen Erfolg. Später wurde er Hofprediger bei dem Gemahl der Königin Anna, dem Prinzen Georg von Dänemark. Das blieb er auch nach dem Tode des Prinzen, ja sogar noch nach dem Tode der Königin Anna unter Georg I. bis zu dessen Tode, und zwar mit wachsendem persönlichem Einfluß, den er oft für seines Lehrers Ziele, Arbeit und Ideen einsetzte. Von besonderer Bedeutung für die Vertiefung und Verbreitung des Franckeschen Einflusses in England war die von ihm herausgegebene „ P i e t a s H a l l e n s i s or a public Demonstration of the Footsteps of a divine Being yet in the World in an historical Narration of the Orphan-House and other charitable Institutions at Glaucha near Halle". Diese 1705 erschienene Schrift war die
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englische Übersetzung einer 1701 in Halle veröffentlichten Schrift mit einem langatmigen Titel, meistens kurz „Die Fußstapfen" benannt (17). Der Übersetzung war als Vorwort eine unter Böhmes Anleitung von einem Engländer geschriebene Geschichte des Pietismus vorausgeschickt. Mit diesem Vorwort, das für die Einwirkung der Franckeschen Pädagogik sehr aufschlußreich ist, müssen wir uns etwas eingehender beschäftigen. Zunächst wird der englische Leser darauf aufmerksam gemacht, daß einige Jahre vorher in apologetischer und missionarischer Absicht zwei Bücher erschienen seien, welche die römischkatholische Frömmigkeit und Liebestätigkeit darstellten, nämlich die in Oxford gedruckte „Pietas Romana" und die in Paris gedruckte „Pietas Parisiensis". Die „Pietas Hallensis" sollte dazu das protestantische Gegenstück sein, ü b e r die Franckeschen Stiftungen spricht sich das Vorwort in den höchsten Superlativen aus. Sie werden als „one of the greatest Transactions at this day in the world" erklärt, und es wird der Meinung Ausdruck gegeben, daß sie in einigen Jahren einen größeren Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten Europas ausüben werden als alle Kriege und Schlachten, von denen die Zeitungen voll sind. Das Vorwort findet übrigens auch sehr warme Worte zur Kennzeichnung Deutschlands, des Ursprungslandes der „Pietas Hallensis", „from whom we derive both our pedigree and Religion together with many of our ancient laws and political Establishments". Um den Leser für den Inhalt der Schrift recht aufgeschlossen zu machen, weist das Vorwort auch darauf hin, daß die in den Franckeschen Stiftungen in Halle gültige Pädagogik ihren Weg bereits ins Ausland, vor allem nach Holland und England, gefunden habe. Mißstände in Schulen, Waisen- und Krankenhäusern seien auf Grund der von Halle ausgehenden Anregungen verhütet bzw. beseitigt (18) worden. Die „Pietas Hallensis" fand in England und in Neuengland weite Verbreitung. 1706 erschien in 4000 Exemplaren ein von Böhme im Auftrage der „Society for propagating Christian knowledge" verfaßter und mit einer Vorrede des angesehenen Geistlichen D. Woodward versehener Auszug der Schrift, der ihren wesentlichen Inhalt umfaßte. Er wurde vielfach gratis verteilt. Die „Pietas Hallensis" erlebte mehrere Neuauflagen, die erste bereits nach einem Jahr, und auch zwei Fortsetzungen. Eine große Einflußmöglichkeit der „Pietas Hallensis" entwickelte sich dadurch, daß sie in den vom Puritanismsus errichteten CharitySchools, in denen die religiöse Erziehung als Hauptaufgabe betrachtet wurde, neben dem englischen Katechismus „The whole Duty of Man" als Lehrbuch benutzt wurde (19). Böhme übersetzte auch noch andere Schriften (20) Franckes, die ebenfalls in England großen Eindruck machten. Er berichtete über diesen Erfolg in seinen Briefen (21). Es gibt mancherlei Symptome ihrer bedeutenden Wirkung. So konnte Böhme eine Geldspende von 5000 Talern, die aller Wahrscheinlichkeit nach vom Prinzen Georg und der Königin Anna stammten, nach Halle schicken. Und eine andere Frucht war, daß mehrere englische Familien sich entschlossen, ihre Söhne in den Stiftungen erziehen zu lassen. Ihre Zahl wuchs,
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und eins der 1710 errichteten neuen Gebäude, in dem sie wohnten, wurde nach ihnen „das englische Haus" genannt. 1710 wurde in Halle für zwölf Studenten ein Freitisch, der sogenannte englische Tisch, eingerichtet. Die dafür erforderlichen Geldmittel hatte auf eine Anregung Böhmes die Königin Anna gestiftet. Die Teilnehmer dieses Freitisches waren verpflichtet, „täglich zwei Stunden auf die englische Sprache zu wenden". Der Endzweck der ganzen Einrichtung aber war, „damit durch diesen Weg das Gute, so Gott zu dieser Zeit zu England und in Deutschland wirket, eine reziproke nähere Verbindung gewinne und beide Nationen von einander größeren Nutzen als bishero haben mögen" (22). Der Einfluß Franckes und des Pietismus auf das englische Schul- und Bildungswesen läßt sich an mehreren Stellen wahrscheinlich machen. In einzelnen Fällen erklärt er sich, wenigstens zum Teil, daraus, daß in England damals eine dem Pietismus verwandte religiöse Strömung existierte, der Methodismus. Dessen Organisator, John Wesley, suchte im Jahre 1738 die mährischen Brüder in Herrnhut auf. Die Methodisten nahmen sich in England, wie die Pietisten in Deutschland, besonders der christlichen Erziehung der unteren Volksschichten an und gründeten viele Armen-, aber auch vereinzelte höhere Schulen. Selbst englische Autoren führen das auf Franckes Einfluß zurück (23). Auf diesen ging vielleicht auch die zunehmende Betonung der Realfächer im höheren Schulunterricht Englands zurück, die in dieser Zeit zur Begründung der sogenannten „Academies", des Gegenstücks der deutschen Realschule, führte. Auch darin, daß das Nützlichkeitsprinzip im Unterricht größere Geltung errang und daß eine neuere Sprache in den Lehrplan der Schulen Eingang fand, hat man eine Folge des Einflusses der pietistischen Pädagogik gesehen (24). Auch der Gedanke der Lehrerbildung bekam in England durch Francke Anstöße. Frandce hatte bekanntlich in Halle durch ein eigenes Seminarium praeceptorum den Grund zu einer planmäßigen Vorbildung der Lehrer gelegt und mit der Anschauung praktisch gebrochen, daß der Theologe auch schon Schullehrer sei und die theologische Ausbildung die pädagogische einschließe. Das Beispiel Franckes wirkte anregend auf England, allerdings ohne daß es zu greifbaren Resultaten kam. In der mehrfach erwähnten Society wurde um 1700 ein Plan zur Errichtung von Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten nach Halleschem Vorbild (Training schools for masters and mistresses) erwogen. Robert Nelson rief 1715 zur Gründung von Seminaren auf; später behauptete Mrs. Trimmers ihre Notwendigkeit. Doch blieben alle diese Pläne in der damaligen Zeit unverwirklicht (25). Das missionarische Interesse Franckes blieb nicht auf die dänischen Kolonien beschränkt. Durch das kleine, 1697 erschienene Buch von Leibniz „Novissima Sinica" war es auf China gelenkt worden. Dieses Buch „Allerneuestes aus China" enthielt Berichte jesuitischer Missionare in lateinischer Sprache und eine später berühmt gewordene Vorrede von Leibniz über die außerordentliche Wichtigkeit Chinas als Missionsgebiet und über die von ihm vertretenen missionsmethodischen Grundsätze. Francke wandte sich nach der
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Lesung des Büchleins brieflich mit warmer Zustimmung an den Herausgeber. In Verfolgung seiner Missionspläne hatte Leibniz die 1701 in Berlin erriditete Sozietät der Wissenschaft auch zum Träger evangelischer Missionsbestrebungen machen wollen. Er erreichte wenigstens, daß die Förderung der Mission unter die Aufgaben der Akademie in ihrem Stiftungsbrief Aufnahme fand. Da Francke in dieser Richtung bereits arbeitete, wurde er auf dem Vorschlag von Leibniz durch die Ernennung zum auswärtigen Mitglied der Akademie geehrt (26). Das Interesse Franckes wurde erneut ostwärts gerichtet, als sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1713 in Rußland kriegsgefangene Schweden aus Tobolsk um ihres Seelenheils willen mit ihm in Verbindung setzten (27). Leibniz billigte dieses neuerwachte Interesse Franckes für Rußland, da dieses Land in seinen Augen „eine Etappe auf dem Wege nach China" war (28). Bei den schwedischen Gefangenen handelte es sich um Soldaten, vor allem um Offiziere, die in dem Krieg zwischen Karl XII. von Schweden und Peter dem Großen und seinen Verbündeten, besonders nach der für den letzteren siegreichen Schlacht von Pultawa, von den Russen gefangengenommen worden waren. Francke sandte ihnen Briefe und Gaben, besonders religiöse Lektüre. Im Elend der Kriegsgefangenschaft und unter der Einwirkung dieser Lektüre, der Heiligen Schrift und pietistischer Schriften, vor allem, der Predigten und Traktate Speners und Franckes, kamen zumal die Offiziere zur inneren Einkehr. Eine anschauliche Schilderung der Lage dieser Kriegsgefangenen gab der Kapitän Curt Friedrich von Wreck 1725 nach seiner Rückkehr nach Deutschland unter dem Titel „Wahrhaffte und umständliche Historie von denen Schwedischen Gefangenen in Rußland und Sibirien" (29), auf dessen pädagogischen Teil wir noch an anderer Stelle zurückkommen. Bei der bis jetzt geschilderten Missionsbewegung handelt es sich in erster Linie um eine religiöse Bewegung, aber doch gleichzeitig um ein Bemühen um religiöse Erziehung, so daß mit der pietistischen Religiosität auch die Grundgedanken und die methodischen Einsichten pietistischer Pädagogik außerhalb der deutschen Grenzen verbreitet wurden. Neben dem religiösen trat der pädagogische Charakter der Missionsbewegung deutlich hervor, als sie sich auch auf die englischen und deutschen Ansiedlungen in Nordamerika ausdehnte. Neben den in Halle ausgebildeten Prediger trat jetzt auch der in Halle ausgebildete Schullehrer. D a ß Francke sich mit den protestantischen amerikanischen Volksgenossen in Verbindung setzte, hat ihm eine spätere Zeit besonders zum Ruhme angerechnet. Er war damit der erste, der von Deutschland aus die kirchliche Versorgung ausländischer Volksgenossen in Angriff nahm (30). Das erste Beispiel eines persönlichen geistigen Austausches zwischen Francke und Nordamerika fällt in das Jahr 1709. Der Pietismus hatte allerdings schon vorher seinen Weg dorthin gefunden. Der erste für die dortige lutherische Kirche 1703 ordinierte Geistliche war ein Schüler Franckes mit Namen Falkner (31). 1709 sandte ein Bostoner Theologe mit Namen Cotton Mather (32), in dessen Hände die „Pietas Hallensis" gekommen war, an Francke eine Samm4
Schneider,
Pädagogik.
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lung von 160 Büchern und Traktaten über den Pietismus und verschiedene für die Halleschen Stiftungen gesammelte Geldbeträge. Franckes Antwort auf diese Sendungen bestand in einem 69 Seiten langen lateinischen Brief, in dem er eine eingehende Beschreibung der Hallesdien Stiftungen gab. Cotton Mather veröffentlichte daraufhin einen anerkennenden Beridit über Franckes Lebenswerk und äußerte die Absicht ähnlicher Anstaltsgründungen. Die Söhne Cotton Mathers und Franckes setzten den von den Vätern begonnenen Briefwechsel fort. Eine Folge der einmal aufgenommenen persönlichen Verbindung zwischen Francke und Nordamerika war, daß in der Folgezeit manche in Halle vorgebildeten Lehrer auf Anforderung von drüben nach Nordamerika gingen, und daß die Halleschen Einrichtungen dort Muster und Vorbild bei ähnlichen Gründungen wurden. So kamen seit 1733 Schullehrer nach Ebenezer in Georgien, einer Salzburgischen Kolonie, und seit 1744 nach Philadelphia, Germantown, New Providence und New Hannover in Pennsylvanien, ebenso nach New York und Lancaster (33). Ein Beispiel der Nachahmung des Halleschen Vorbildes liegt vor in der Einrichtung des Bethesda-College zu Savannah in Georgien: Sein Gründer Georg Whitefield hatte bei dieser Gründung ausgesprochenermaßen die Franckesche Anstalt im Auge. „Gott kann uns in Georgien ebensogut helfen, schreibt er 1742, wie er Professor Francke in Deutschland geholfen hat" (34). Die Weiterverbreitung der Ideen Franckes wurde erleichtert durch den Zauber seiner Persönlichkeit, der viele für ihn und sein Werk und seine Ideen gewann, die mit ihm in Berührung kamen. Von Ausländem waren es hauptsächlich die außerdeutschen Besucher seiner Anstalten, die für die pietistische Pädagogik im Ausland wirkten. Er selbst hat nur einmal eine Reise gemacht, die ihn auch ins Ausland brachte. Es war eine auf Anraten der Ärzte im Frühjahr 1705 unternommene Erholungsreise, die ihn über Hannover, Wesel, Cleve nach Holland führte, wo er hauptsächlich Utrecht, Rotterdam, Haag und Amsterdam besuchte (35). Francke hat zwar kein Reisejoumal geführt, wohl aber nach seiner Ende des Jahres erfolgten Rückkehr „in der Halleschen Korrespondenz einen allgemeinen, aber eingehenden Bericht über seine Reise abgestattet, der von seiner Hand geschrieben vorliegt" (36). Darin äußert er sich über das Leben in Holland, die Frömmigkeit seiner Bewohner, die Predigt und die Methoden der Prediger, unter denen er einen reformierten Schulmeister in Leyden, namens Jakob Brill, hervorhebt, und über seine eigenen Predigten, nicht aber über eigentlich pädagogische Sachverhalte. Die Reise hatte eine zweifache Wirkung, von denen die zweite auch die Ausbreitung des pietistischen Erziehungsdenkens begünstigte. Er kam erholt und gekräftigt nach Halle zurück, und der gute Eindruck, den er überall gemacht hatte, kam der Förderung seiner Anstalten zugute (37). Einmal geknüpfte Bekanntschaften verstand Francke auch durch seine Briefe zu erhalten, wie er auch — wofür wir ja schon mehrere Beispiele anführten — auf brieflichem Wege Freunde und Anhänger zu gewinnen wußte. Mahling charakterisiert ihn daher einmal als den „Mann der
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Beziehungen", ausgerüstet mit einem „ungewöhnlichen Geschick, sie zu pflegen" (38). Die Ausländer kamen entweder zur Mitarbeit, zum Studium, zur Besichtigung der Anstalten oder aus mehreren dieser Motive nach Halle, lernten die äußere und innere Organisation der „Stiftungen", die Ideen und die pädagogische Praxis Franckes kennen und nahmen sicherlich mancherlei Anregungen mit in ihre Heimat, die im einzelnen nicht feststellbar und deren Auswirkungen nur geahnt werden können. Unter ihnen war 1702 der Araber Salomon Negri, der deshalb besondere Erwähnung verdient, weil seine zeitweilige Beschäftigung bei Francke die Anregung zur Gründung eines „Semiinarium Orientale theologicum" gab, in dem die beiden biblischen Hauptsprachen und andere orientalische Sprachen im weitesten Umfang betrieben werden sollten (39). Während dieses Institut nur kurzen Bestand hatte, blieb ein anderes, das Francke in einer dem König Friedrich Wilhelm I. am 13. Oktober 1711 eingereichten Denkschrift „Was noch aufs Künftige projektiert ist" erwähnt, überhaupt Projekt. Es handelte sich um ein „Seminarium Nationum oder ein Seminaire für mancherlei fremde Nationen, in welchem Kinder aus verschiedenen und entlegenen Nationen erzogen wie auch die Sprachen von unterschiedenen fremden Nationen cultiviert, und endlich Leute für fremde bisher ungläubige Nationen praepariert werden" (40) sollten. Dieses Institut würde, wenn es verwirklicht worden wäre, obwohl es in erster Linie missionarischer Zielsetzung entsprang, zur Verbreitung pädagogischer Ideen in der nichtdeutschen Welt beigetragen haben. Die S. 44 aufgeführten Wege der Vermittlung pietistischer Pädagogik ins Ausland sind im Vorausgehenden geschildert bis auf die Vermittlertätigkeit der Schüler Franckes, die nur gelegentlich erwähnt wurde, so daß ein besonderes Verweilen bei ihr gerechtfertigt ist. Seit Francke in Halle war, wurde das Gesuch um Lehrer von den verschiedensten Orten immer häufiger. In dem Schreibkalender von 1698 benennt Francke nach der Notiz-. „Informatores werden verlangt" ein Dutzend deutscher Städtenamen. Aber auch nach fremden Ländern werden Informatoren von ihm erbeten. Als Muster einer solchen Bitte gibt Weiske (41) einen derartigen Brief von P. Ruperti in London, in dem er um Lehrer bittet. Spener erwähnt in einem Schreiben 1702, daß in Rußland, speziell in Moskau, bereits sieben Franckeschüler wirkten; von dreien, die in London auch als Lehrer tätig waren, haben wir schon früher gehört. Sogar nach Konstantinopel kamen sie. überall „ertheilten sie" — nach der Darstellung Kramers, „Unterricht zunächst den Kindern der Familien, die sie berufen, denen sich aber mehr oder weniger bald andere anschlössen. Außerdem aber pflegten sie Hausandachten zu halten, die sie dann zu Collegia pietatis gestalteten" (42). Für die anschauliche Erkenntnis des inneren und äußeren Lebens und des Wirkens solcher Informatores gibt es besonders für Rußland aufschlußreiche Quellen. So ist z. B. die Wirksamkeit dreier solcher Franckeschüler in Rußland nach handschriftlichen Quellen von J. Horkel in einer Darstellung der Anfänge des Königl. Friedrichs-Collegiums geschildert (43). Unter den 4*
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dreien, Schaarschmidt, Schräder und Adler, ragt der erste, Justus Samuel Schaarschmidt, von dem übrigens auch eine, allerdings in ermüdender Breite geschriebene Selbstbiographie in der Bibliothek des Waisenhauses existiert, hervor „durch sein Vordringen in die fernsten Gegenden, ohne sich durch eine Schwierigkeit abschrecken zu lassen" (44). Francke hatte ihn bereits 1713 in einem Briefe als „Elfteritus inter barbaros" bezeichnet (45). Er wirkte als Lehrer und Prediger in Moskau und Umgebung sowie an den äußersten Grenzen in Archangel und Astrachan bis zum Jahre 1717. Großes Aufsehen erregte in Halle ein Kalmückenknabe, den Schaarschmidt aus der Sklaverei freigekauft und dann zur Erziehung durch Francke nach Halle geschickt hatte. Eine andere Quelle für die Kenntnis der Wirksamkeit der Franckeschüler in Rußland sind die Briefe und das Reisetagebuch eines Samuel Neuhaus, die von A. Weiske in seiner bereits angeführten Schrift (46) verarbeitet wurden. Auf eine von Livland an ihn ergangene Einladung hin begab dieser sich am 28. Juni 1728 nach Reval, wo er zwei im Franckeschen Geiste wirkende Pfarrer und ein Waisenhaus fand, das mit den Anfängen der Halleschen Stiftungen viele Ähnlichkeit hatte. Neuhaus schildert Abschied und Reise, die Ankunft in Reval und seine Tätigkeit als Informator der vier Kinder des Freiherrn Lagemann von Tiesenhausen. Weiske faßt auf Grund dieses Quellenmaterials sein Urteil über die Wirksamkeit der Franckeschüler im Ausland wie folgt zusammen: „Was die Franckeschen Sendboten auf dem Gebiet des Unterrichts, der Erziehung, des religiösen Lebens im einzelnen geleistet haben, entzieht sich unserer Kenntnis, aber sicherlich haben sie nicht nur das deutschevangelische Bewußtsein im Ausland gestärkt, sondern wie der Pietismus überhaupt eine Vertiefung und Verinnerlichung der Volksseele herbeigeführt (47). Ich habe schon früher darauf hingewiesen, daß sich die einzelnen Wege der Auslandsvermittlung der Franckeschen Pädagogik nur schwer trennen lassen, da sie häufig zusammenfallen. Der Leser wird diese Behauptung bei der Lektüre des Franckekapitels mehrfach bestätigt gefunden haben. In London wirkten z. B., wie wir sahen, die Missionsbewegung, die Schriften Franckes und er selbst sowie seine Schüler und englische Besucher der Halleschen Stiftungen gleichzeitig oder nacheinander als Vermittler der Franckeschen Pädagogik. Ein anderes Beispiel des Hallensischen Einflusses und der Mannigfalt der Wege, die er nahm, bietet der Norden. Nach Dänemark gelangten Franckes Ideen, wie wir bereits an anderer Stelle sahen, durch seine Schüler und im Zusammenhang mit der Missionsbewegung. Aber auch Franckes Schriften und sein persönlicher Einfluß machten sich hier geltend. Seine „Kurze Anleitung zum Christentum" z. B. wurde ins Schwedische übersetzt und zweimal in Schweden gedruckt, später auch in Halle nachgedruckt. Der Nachweis, wie diese oder andere Schriften das pädagogische Denken und Tun des Lesers im Ausland beeinflussen, ist nur selten exakt zu führen. Das ist mit Sicherheit und konkret eigentlich nur dann möglich, wenn der Leser selbst diese Wirkung beschreibt. Dieser seltene Fall liegt z. B. vor in der S. 49 angeführten Historie des Kapitäns 52
C. Fr. von Wreck. Dieser war in Rußland als Hauslehrer und später als Leiter einer von ihm begründeten Schule tätig gewesen. Von der letzteren schreibt von Wreck: „Unsere Schule hatte inmittelst ihren gesegneten Fortgang, obgleich meines Theils immer besorget war, wie doch die Methode der Information am besten einzurichten wäre. Gott der Herr kam mir aber bei dem Beschluß des Jahres (1713) hierinnen merklich zu Hülfe. Er ließ mir nämlich Herrn Professor Franckes Buch vom Werk, Wort und Dienst Gottes in Händen kommen, worinnen ich die Schulordnung in Halle nebst dem Unterricht von der Erziehung der Jugend, wie auch die Art zu examinieren fand, und sehr begierig und genau durchlas und erwog, auch herzlich erquidket und gestärket wurde, als ich sah, wie ichs mit meiner bisherigen Methode doch noch hier und da getroffen". Die ganze spätere Entwicklung der Schule des Kapitäns hat mit der von Francke in dem vorgenannten Buch beschriebenen große Ähnlichkeit, so daß die Annahme berechtigt ist, daß er sich diese zum Vorbild genommen hat (48). Mag die Wirkung der Franckesdien Schriften im Ausland auch nicht immer so stark gewesen sein wie hier, wo ein starkes Bedürfnis nach pädagogischer Belehrung vorhanden war und die Zugehörigkeit des Lehrers zu dem Volke, dem der Verfasser angehörte, seine Aufnahmebereitschaft erhöhte; ganz ohne Einfluß auf das pädagogische Denken und Tun des ausländischen Lesers wird sie selten geblieben sein. Das gilt auch von der obengenannten schwedischen Übersetzung, obwohl sie von einer Seite in Schweden ablehnende Kritik erfuhr, gegen die Francke sich verteidigte. Aber gerade durch diese Diskussion und ihre Begleitumstände kann das schwedische Interesse für Francke erhöht worden sein. Die Kritik erfolgte im Jahre 1706 durch eine Gegenschrift des Generalsuperintendenten des damals schwedischen Vorpommerns mit Namen Mayer, und zwar zur Zeit, als Karl XII. in Sachsen eingefallen war und für eine Reihe von Monaten in Alt-Ranstedt bei Halle im Quartier lag. Die Folge dieser Kritik war zunächst das Verbot des Besuchs der Universität Halle, an der Francke als Theologieprofessor wirkte, für schwedische Studenten. Francke aber erreichte durch einen Besuch im schwedischen Hauptquartier, den er in einem schnell niedergeschriebenen Reisebericht „Relation von der Reise nach Leipzig und ins Schwedische Hauptquartier" beschrieb, nicht nur die Aufhebung des Verbotes, sondern auch die Nichtbilligung jener Schmähschrift, eine positive Stellungnahme des Hofpredigers ihm gegenüber und den Besuch des Beichtvaters des Königs, D. Malenberg, der die Halleschen Stiftungen gründlich besichtigte (49). Alles das wird der Ausbreitung der Franckesdien Ideen im Norden, besonders in Schweden, günstig gewesen sein.
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3. Basedow und der Philanthropinismus Der Philanthropinismus war ein Kind der Aufklärung. Diese ist wie der Realismus eine europäische Bewegung. Sie hatte ihren Ursprung in England und nahm von dort ihren W e g nach Frankreich'und Deutschland und schließlich durch den ganzen europäischen Kulturkreis. Aber trotz ihres kosmopolitischen Charakters zeigte sich in den verschiedenen Ländern ihre nationale Eigenart. Für die englische Aufklärung war charakteristisch, daß sie sich vorzugsweise auf theologischem Gebiete bewegte, die orthodoxe Kirchenlehre bekämpfte, nur wenig über die gelehrten Kreise hinausdrang und auf die pädagogische Praxis und die Gestalt des Schulwesens nur wenig einwirkte. In Frankreich dagegen ergriff sie die gebildeten Kreise überhaupt, dehnte ihr gefälliges, aber frivoles Raisonnement auf das politische und soziale Gebiet aus ( 1 ) , zog durch Rousseau, wenn auch nur vorübergehend, auch das Problem der Erziehung in die Debatte und erwies sich als Schrittmacher der französischen Revolution. Die deutsche Aufklärung dagegen wirkte auf fast alle Gesellschaftsklassen, verriet ihre Abhängigkeit von der englischen Aufklärung durch ihren theologischen Charakter und ihren Zusammenhang mit der französischen Aufklärung durch die starke Tendenz nach Verbreitung von Einsichten und Kenntnissen. Im Unterschied von England und auch nachhaltiger als in Frankreich wirkte sich die Aufklärung in Deutschland auch im pädagogischen Bezirk aus. Es erwuchs nicht nur eine pädagogische Literatur aus ihr, sondern außer den Fachleuten beschäftigten sich jetzt auch Dichter und Philosophen, Gelehrte und Staatsmänner mit Erziehungsfragen. Eine gewisse, der französischen Aufklärung fremde Mäßigung kam in die deutsche Schwesterbewegung durch die gleichzeitige Nachblüte der Renaissance und die Belebung des nationalen Bewußtseins. Der Repräsentant der englischen Aufklärung ist John Locke, der unmittelbar und mittelbar auch nach Frankreich und Deutschland wirkte. Der auf seiner Gedankenwelt fußende pädagogische Reformplan von David Williams fand bei den Deutschen mehr Anklang als in England selbst. Dessen Schrift „Abhandlung über die Erziehung, worin die durchgängige Methode der öffentlichen Anstalten, insbesondere in England, die Methoden Miltons, Lockes, Rousseaus, Helvetius erwogen und eine ausführbare und nützlichere vorgeschlagen wird", wurde von dem ersten deutschen Universitätsprofessor für das Fach der Pädagogik, Trapp, ins Deutsche übersetzt (2). Der Repräsentant der französischen Aufklärung ist Jean Jaques Rousseau. Ihren pädagogischen Niederschlag fand
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sie außer in dessen Sdiriften auch in dem Versuch einer Nationalerziehung von L a Chalotais (3). Der Hauptvertreter der deutschen Aufklärungspädagogik ist Johann Bernhard Basedow ( 1 7 2 4 — 1 7 9 0 ) , der Begründer des Philanthropinismus. Er war sowohl von Rousseau wie von L a Chalotais abhängig (4). Jean Paul nennt ihn einmal „L'éditeur et le traducteur intellectuel de l'Emile en Allemagne". Die Abhängigkeit Basedows von Rousseau hat die deutsche erziehungswissenschaftliche Forschung stark beschäftigt. Es liegen allein drei Doktorarbeiten vor, die dieser Frage nachgehen. Die erste, von Hahn (5) spricht Basedow gegenüber Rousseau ziemliche Selbständigkeit zu, weist dafür aber auf seine Abhängigkeit von Locke und La Chalotais hin. Die zweite, von Gößgen (6), versucht dagegen, vor allem auf Grund einer genauen Untersuchung der ersten und zweiten Auflage von Basedows „Praktischer Philosophie" (1758 und 1774), eine große Abhängigkeit von Rousseau nachzuweisen. Fischer (7) aber behauptet in der dritten hierhergehörigen Dissertation, daß Gößgen im Widerspruch mit seiner Absicht beweise, daß Basedow schon vor Erscheinen von Rousseau's Emile (1762) in der ersten Auflage seiner „Praktischen Philosophie" (1758) die Mehrzahl seiner pädagogischen Gedanken vertreten habe, und vertritt die These, daß nur die vielen späteren Arbeiten Basedows von Rousseau beeinflußt seien, z. B. die Philalethie (1764), was ja auph Basedow selbst zugebe, indem er im Vorwort Rousseau unter seinen Vorbildern nenne (8). Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, durch Nachprüfung und Rückgriff auf die Quellen den Umfang und die Art der Abhängigkeit Basedows von Rousseau festzustellen. Es kann uns hier genügen, daß alle drei Untersuchungen die Ansicht vertreten, daß Rousseau auf die pädagogischen Ideen Basedows von Einfluß war, und daß sie nur in der Feststellung des Umfangs dieses Einflusses voneinander abweichen. D a wir im Verlauf der nachfolgenden Untersuchung auch die Einwirkung der Basedowschen Pädagogik auf Frankreich herausstellen werden, stoßen wir hier wieder auf die schon früher erwähnte Wechselwirkung der Beziehungen der Pädagogik verschiedener Länder. Eine ähnliche Meinungsverschiedenheit der Forscher findet sich in der Untersuchung des Grades der Abhängigkeit Basedows von La Chalotais, wenn sie auch von keinem völlig bestritten wird. In La Chalotais „Essai d'éducation nationale ou plan d'études pour la jeunesse", 1761 et 1762 (9) finden sich einige bedeutungsvolle Grundsätze, wie das Prinzip der Erziehung nur durch den Staat, en dehors de toute Église, und der Plan eines Conseil supérieur tout puissant, die sich auch bei Basedow wiederfinden. Auch Hahn (10) nimmt Anregungen des letzteren durch La Chalotais an, und Pinloche versucht den Nachweis, daß Basedows Ansicht über das Ziel der Geschichte, die Methode des Geschichtsunterrichtes, ja sogar die Idee des Elementarwerkes auf L a Chatolais zurückgehen (11). Bei anderen Autoren werden diese oder andere Einzelheiten zwar bestritten, aber keineswegs jeder Einfluß von Chalotais auf Basedow in Abrede gestellt (12).
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So wie Basedow vom Ausland her ideelich beeinflußt wurde, erwies er sich als der Ausgangspunkt von Kräften, die das pädagogische Denken und die pädagogische Wirklichkeit jenseits der deutschen Grenzen gestaltend beeinflußten. Und zwar geschah das bei ihm viel bewußter als etwa bei Francke. Basedow gehörte zu den Pädagogen, die von vornherein nicht nur auf ihre Volksgenossen, sondern auch auf andere Völker, ja auf die ganze Menschheit wirken wollen. So schreibt er einmal: „Ich beschäftige mich jetzund mit einem A n l i e g e n d e r M e n s c h h e i t ! Der Schulstaub liegt seit Jahrhunderten. Jung und alt, was darinnen wandeln und atmen muß, wird krank im Gehirn. . . . " (13). Den freien Auszug seiner „Praktischen" Philosophie kennzeichnet er mit den Worten: „Für C o s m o p o l i t e n Etwas zu lesen, zu denken und zu tun", (14) und seine erfolgreichste Schrift, die in ihrer weitreichenden Wirkung nur mit Luthers „Sendschreiben" verglichen werden kann, wünscht er „für m e h r N a t i o n e n wenigstens des folgenden Jahrhunderts geschrieben zu haben". Auch im Leben und den schulischen Schöpfungen unseres Pädagogen zeigt sidi ein starker kosmopolitischer Zug. Er selbst unternimmt eine Reise ins Ausland zur Werbung für seine pädagogischen Anliegen und plant andere, die dann doch unterbleiben. So durchreist er Holstein und kommt nach Kopenhagen, wo er die Billigung seiner Ideen durch Männer wie Klopstock, Cramer, Resewitz, Schlegel, Gerstenberg und den Minister Graf Bemstorff, um den diese Männer sich scharten, erhielt. 1769 beabsichtigte er allen Ernstes, „mit seiner ganzen Familie auf einige Jahre in die Schweiz überzusiedeln und sich da der Arbeit am Elementarwerk zu widmen (15). 1770 erging eine Einladung an ihn nach Rußland (16). Er hat dann zwar, da er damals in dänischen Diensten stand, beim König von Dänemark Urlaub für diese Reise beantragt und erhalten, auch die Reise im Vorlesungsverzeichnis der Anstalt, an der er wirkte, als bevorstehend angezeigt, sie aber dann aus unbekannten Gründen doch nicht ausgeführt. Auch der umfangreiche Briefwechsel, den Basedow zur Werbung für seine pädagogischen Ideen, das Elementarwerk und die Dessauer Anstalt, führte, erstreckte sich auf ausländische Persönlichkeiten. Einer seiner Nachkommen, A. Basedow, gibt im Anhang seiner „Neuen Beiträge, Ergänzungen und Berichtigungen" zur Lebensgeschichte seines berühmten Vorfahren ein Verzeichnis der Adressaten der bekanntgewordenen und noch vorhandenen Briefe Basedows, unter denen eine Reihe Ausländer ist. Später schränkt Basedow seine Korrespondenz sehr ein mit der nachfolgenden Begründung: „Dieses Opfer wird nicht nur wegen eines großen Umfanges meiner Arbeiten notwendig, sondern auch wegen der Einschränkung meines Geistes, dem der Übergang von einer Denkart zur andern, und besonders von der Correspondenz zur Arbeit, und von dieser zu jener, auf eine ganz sonderbare Art beschwerlich ist." (17) Um aber die Verbindung mit den Interessenten seiner Pädagogik aufrechtzuerhalten und der Werbekraft der brieflichen Verbindung nicht ganz verlustig zu gehen, beginnt er nun (im September 1768) mit der Herausgabe
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„Vierteljährlicher Unterhaltungen mit Menschenfreunden über moralische und dennoch unkirchliche Verbesserungen der Erziehung und Studien", die ihren Weg dann auch ins Ausland fanden. Audi die „freundschaftlichen Kommissionäre", die Basedow dafür gewann, daß sie in den verschiedenen Städten Geld für die Herausgabe seines Hauptwerkes sammelten und die Verbindung zwischen ihm und seinen Gönnern vermittelten, fanden sich nicht nur in Deutschland, sondern auch hier und da im Ausland (18). Seine Werke wurden zur Erleichterung ihrer Verbreitung in andere moderne Sprachen oder ins Lateinische übersetzt. Und zwar wurde diese Übersetzung in der Regel nicht dem Zufall überlassen, wie das viele andere Pädagogen taten, die warteten, bis etwa irgendein enthusiastischer Auslandsleser spontan sich zur Übersetzung anbot, sondern in der Regel von Basedow selbst planmäßig und überlegt veranlaßt. Basedows Dessauer Anstalt, das Philanthropin, hatte einen internationalen Charakter. Das zeigte sich in der Zusammensetzung der Lehrer- und vor allem der Schülerschaft, die „vom Tajo oder Neva, von Livland, Kurland, Preußen, Polen, Teutschland, Dänemark, Holland und Frankreich" (19) stammte. Der internationale Charakter der Anstalt war so ausgeprägt, daß der Fürst von Dessau, Leopold Friedrich Franz, seine zeitweise Absicht, sie in ein Landesgymnasium zu verwandeln, deswegen aufgab (20). Dieses Philanthropin erhielt viele Besucher zur Besichtigung der Anstalt aus dem In- und Ausland. Aber auch das überließ Basedow nicht nur dem Zufall und der Wirkung des von selbst in die Ferne dringenden Ruhmes seiner Schule, sondern er machte für den Besuch auch im Ausland eine mitunter sogar etwas marktschreierische Reklame. ü b e r den Einfluß des Dessauer Philanthropins schrieb C. H. Wolke in der „Beylage" zur Gothaischen gelehrten Zeitung vom 3. März 1784: „ . . .unzählige Freunde der Jugend aus allen Ländern Europens sind zum Besuche bey uns gewesen, um die Früchte unserer Bemühungen an unsem glücklichen Zöglingen zu sehen, und mit den Einrichtungen und Methoden unserer Anstalt sich bekannt zu machen. Durch diese Personen und ihre Verbindungen, und durch unsere weit umher verbreiteten pädagogischen Schriften ist eine Gährung und Revolution in den Köpfen der Menschen und eine Verbesserungsbegierde im Erziehungs- und Schulwesen entstanden, wovon schon jetzt in der Nähe und Ferne viele sehr wichtige Wirkungen dem aufmerksamen Menschenfreunde sichtbar sind." Aus all diesem ergab sich, daß Basedows Ideen auch über die Grenzen gelangten, daß seine Bücher im Ausland gelesen wurden und daß das Philanthropin auch bei Schulgründungen in anderen Ländern als Muster und Vorbild wirkte. So wurde auch Basedow ein Beleg für die Behauptung der Wechselseitigkeit der deutsch-französischen kulturellen Beziehungen, indem er die empfangenen französischen Anregungen durch Anstöße, die er der französischen Pädagogik gab, vergalt. Diese lassen sich zwar nicht immer exakt nachweisen, aber doch zumindest wahrscheinlich machen. So sind sicherlich Einwirkungen
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auf sie ausgegangen von den französischen Übersetzungen seiner Werke. Zur französischen Übersetzung seines Elementarwerkes hatte sich zunächst die typographische Gesellschaft in Neuchâtel erboten. Später verhandelte Basedow wegen der Übersetzung mit dem Prediger der französischen reformierten Gemeinde in Berlin, Sonnier, und endlich mit dem Lektor Huber in Leipzig, der dann nicht nur die Ubersetzung des Elementarwerkes, sondern auch die des Elementarbuches und des Methodenbuches ausführte (21). Das Elementarbuch erschien 1771 unter dem Titel „Nouvelle méthode d'éducation". Das Elementarwerk 1774 unter dem Titel „Manuel Élémentaire d'Éducation. Ouvrage Utile à Tout Ordre De Lecteurs, en particulier Aux Parens et Aux Maîtres, pour l'éducation des Enfans et des Adolescens et qui renferme une suite de toutes les connaissances nécessaires. A Berlin et à Dessau 1774. Die Auflage war 1500 Exemplare stark. Die Bibliothek des Musée pédagogique in Paris besitzt noch ein Exemplar dieses Werkes. Die Wirkung des Buches auf Franzosen ist sicherlich durch die wenig gute Ubersetzung beeinträchtigt worden. Pinloche gibt einige Proben der Ubersetzung und meint dann mit leichtem Spott, sie genügten wohl „pour montrer.. . quel français on apprenait au Philanthropinum", und tadelt dann auch die Prüderie, welche die Ubersetzung in Anpassung an die französische Sprache und einen irrtümlich angenommenen französischen Geschmack glaubt zeigen zu müssen, indem sie z. B. den Ausdruck „groß"schwanger vermied oder Abkürzungen gebrauchte wie „L'enfant est sorti du v . . . de sa mère" (22). In französischer Sprache erschien auch die 1783 in Leipzig bei Crusius herausgegebene Beschreibung der zum Elementarwerk gehörigen und von D. Chodowiecki (bis auf 18) gezeichneten 100 Kupfertafeln, enthaltend die Methoden, durch welche der Jugend auf eine leichte und angenehme Weise Kenntnisse der Sachen können mitgeteilt werden unter dem Titel „Méthode naturelle d'instruction. Méthode propre à accélérer sans traduction l'intelligence des mots de chaque langue étrangère etc. Explication des 53 planches du premier recueil, traduite par Olivier et Wolke, revue par Mr. Huber, Leipzig". Es ist anzunehmen, daß diese französischen Übersetzungen auch von Franzosen gelesen wurden und auf deren pädagogische Urteilsbildung von Einfluß waren, übrigens existierte in Frankreich auch eine Nachahmung des Elementarwerkes „Portefeuille des Enfants", über die Fourcroy und Barbé-Marbois 1794 dem Nationalkonvent berichteten. Besonders deutlich und anschaulich läßt sich die gestaltende Einwirkung nachweisen, die von der Anstalt Basedows, dem Philanthropin, auf das Schulwesen des Elsaß (23) ausging, das damals zu Frankreich gehörte. Von dort schlugen vereinzelte Wellen der philanthropinistischen Bewegung dann auch nach dem Inneren Frankreichs. Im Elsaß entstanden mehrere Schulen nach dem Vorbild des Dessauer Philanthropins; dazu gehörte z. B. das Philanthropin in Markirch, das, anscheinend um 1770 gegründet, von einem Direktor Eichhorn geleitet und im Gegensatz zu den anderen Philanthropinen von Kindern des Mittelstandes besucht wurde (24). Unter die Philanthropine wird von den
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meisten Autoren auch die 1773 gegründete École militaire des G. K. Pfeffel in Colmar eingereiht. Obwohl sie nicht unmittelbar dem Dessauer Philanthropin, sondern dem des Ulysses von Salis in Marschlins nachgebildet war, steht sie doch mittelbar unter Basedowschem Einfluß, da von Salis bei seiner Schulgründung das Dessauer Philanthropin, das er aus persönlichem Besuch kannte, als Muster vorgeschwebt hatte. Von dem Geiste des Philanthropinismus war auch die neue Schule für Mädchen („für protestantische Frauenzimmer") erfüllt, die von zwei früheren Lehrern des Dessauer Philanthropins, den Schweizern Schweighäuser und Simon, in Straßburg eröffnet wurde. Diese beiden Vermittler Basedowscher Pädagogik nach Frankreich besuchten die École militaire Pfeffels in Colmar, und dieser hinwiederum besuchte ihre Schule in Straßburg. So mußte sich ein Hin und Her philanthropinistischer Ideen und Beeinflussungen von selbst ergeben. Wie eng diese gegenseitige Verbindung war, wird dadurch beleuchtet, daß sogar eine Zeitlang die Absicht bestand, die Straßburger Schule mit der Colmarer zu vereinigen (25). Pfeffels Philanthropin wurde ein Zentrum für die Verbreitung der pädagogischen Gedankenwelt des Philanthropinismus, vielleicht schon durch seine ausländischen Schüler (unter den 290 in ihm erzogenen Schülern waren z. B. 20 Franzosen), sicher aber durch die vielen ausländischen Besucher. Stehle hat festgestellt, daß unter den 2198 im Fremdenbuch der Schule aufgeführten Gästen 338 aus Frankreich, 52 aus Rußland mit den Ostseeprovinzen, 52 aus Großbritannien, 35 aus den vereinigten Niederlanden, 21 aus Dänemark mit Schleswig-Holstein, 13 aus Schweden, 12 aus Belgien, 10 aus Italien, 9 aus Polen, 2 aus Amerika und einer aus Norwegen waren (26). Simon und Schweighäuser waren auch Verkünder des Philanthropinismus im Elsaß durch mehrere literarische Publikationen in deutscher Sprache, von denen eine auch in französischer Übersetzung erschien (27), und J. F. Simon außerdem durch seine Schrift in französischer Sprache: „Sur l'organisation des premiers dégrés de l'instruction publique, Paris 1801." Außer den bisher genannten Pädagogen war auch der Pfarrer Johann Friedrich Oberlin aus dem Steintal, dessen Andenken im 20. Jahrhundert auch außerhalb der engeren Fachkreise durch den Roman von Friedrich Lienhard „Oberlin. Roman aus der Revolutionszeit im Elsaß" lebendig wurde, ein Apostel Basedows. Er verfolgte, wie aus seinem Briefwechsel mit Simon hervorgeht, „mit der ganzen Inbrunst seines glühenden Herzens die freigeistigen philanthropischen Bestrebungen der neuen Schule in Dessau" und erklärte es als „seine angelegentlichste Sorge", Basedows Elementarwerk zu verbreiten. Die Basedowsche Methode war in Frankreich, zunächst in der Unterrichtskommission, auch durch einen Preußen bekanntgemacht worden, durch den Hauptmann von Archenholtz mittelst seines „Mémoire sur l'éducation en Allemagne" (28). Die eingedrungenen philanthropinistischen Reformforderungen fanden in Frankreich bzw. im Elsaß, wie Stehle im einzelnen nachgewiesen hat (29), auch praktische Verwirklichung. So wurden nach dem Beispiel Basedows durch
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Schweighäuser neue, anschauliche Schulbücher geschaffen; es wurden verbesserte Methoden, die den Unterricht für die Schüler leicht und angenehm machen sollten, eingeführt, die Zeitung im Unterricht verwertet, die bisher vielfach vernachlässigte physische Erziehung betont, im Sprachunterricht die Méthode directe angewandt. 1780 gab Schweighäuser eine neue Fibel heraus, die den Leseunterricht ohne vorheriges Buchstabieren versuchte, wodurch er also ein Vorläufer Stephanis, des Vaters der Lautiermethode, wurde; auch die Begründung des ersten französischen Lehrerseminars geht mit auf den Einfluß des Philanthropinismus zurück. Am Schluß der Vorrede der deutschen Ausgabe des Elementarwerkes hatten die beiden ehemaligen Dessauer ausgerufen: „Ihr Weisen, Ihr Mächtigen unter dem Volke! Stiftet Lehrerseminare, gebt ihnen verständige, erfahrene Schulmänner zu Vorstehern." Diese Lehrerseminare wurden dann in den sogenannten Cahiers von 1789 mehrfach verlangt. 1801 hat Simon in seiner Schrift über die „organisation des premiers dégrés d'instruction" die Forderung von Lehrerseminaren wiederholt (30). Im Jahre 1810 verwirklichte der bekannte Präfekt Lezai-Marnesia, der Wohltäter des Unterelsaß, Simons Wunsch, indem er zunächst, wie an anderer Stelle dieses Buches eingehend geschildert wird (S. 60 und 182), mit dem Straßburger Lyzeum eine Normalklasse verband und im folgenden Jahre eine Lehrerbildungsanstalt, die erste auf französischem Boden, begründete (31). Der Einfluß der Basedowschen pädagogischen Ideen beschränkte sich aber nicht auf Frankreich. Da damals die lateinische Sprache trotz des langsamen Vordringens der Nationalsprachen noch als Weltsprache der Gelehrten galt, wurde die Verbreitung der Pädagogik Basedows im Ausland auch wohl dadurch begünstigt, daß er mehrere seiner Schriften ins Lateinische übersetzen ließ. So erschien 1774 das Methodenbuch, von dem Magister Carl Ehregott Mangelsdorf, dem damaligen Vorleser an der Universität in Halle und späteren Lehrer am Philanthropin, übersetzt in lateinischer Sprache mit dem Titel: Ad Bibliothecam Elementarum. Liber Methodicus scriptus patribus et matribus familiarum gentium a Joh. Bemh. Baseclovio. Vielleicht wurde die Wirkung der lateinischen Ausgabe — wie seinerzeit auch die der französischen — durch Mängel der Übertragung behindert. Mangelsdorf selbst sah seine Übersetzung nicht als ein Meisterwerk an, und Basedow bereute sie später als voreilig (32). Aber es ist anzunehmen, daß sie trotzdem zu einer weiteren Verbreitung seiner Pädagogik beigetragen hat. In gleicher Weise wohl auch die ebenfalls 1774 erschienene lateinische Ausgabe des Elementarwerkes von dem gleichen Ubersetzer (33). Z u den Ländern, in denen die Pädagogik Basedows besonderen Anklang fand, gehören außer Frankreich besonders die Schweiz, Rußland, Österreich und Dänemark. In der Schweiz war es zunächst der deutsche Teil, in dem, sie Boden faßte. Aber es ist mehr als wahrscheinlich, daß die philanthropinistischen Ideen von da aus in den italienischen und französischen Kulturraum der Schweiz übersprangen. Die bedeutendsten Herolde Basedowscher Pädagogik für die Schweiz
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waren Isaak Iselin ( 3 4 ) und Lavater. Der Baseler Ratsschreiber Iselin war pädagogisch stark interessiert und beschäftigte sich längere Zeit mit der pädagogischen Reform vor allem seiner Vaterstadt. Auf seine Anregung hin wurde im Jahre 1 7 6 2 durch den Rat von Basel eine Kommission zur Vorbereitung der Reform des Baseler Schulwesens begründet und Iselin dann als Mitglied in sie gewählt. 1768 fiel ihm Basedows „Vorstellung an Menschenfreunde" in die Hände. Von ihr wurde er so stark beeindruckt, daß sie seiner Tätigkeit für die nächsten zehn Jahre die Richtung wies ( 3 5 ) . Iselin trat dann bald mit Basedow auch in persönliche Beziehung und wurde zusammen mit Lavater sein pädagogischer und geschäftlicher Ratgeber und Mitarbeiter. Die „universale und kosmopolitische Tendenz der Aufklärung hatte es nämlich bewirkt, daß auch Lavater und Basedow in einen nahen Briefwechsel und Verkehr traten". Lavater, der „mit seinem edlen und reinen Herzen alle Bestrebungen, die zum Wohle der Menschen unternommen wurden" ( 3 6 ) , unterstützte, trat auch lebhaft für Basedows Pädagogik und Unternehmungen ein. Die beiden Freunde Iselin und Lavater gaben einen „Briefwechsel zum Besten des Elementarwerkes in Absicht auf Basedow, das Vaterland, die Lehrer, das W e r k , die Eltern usw." heraus. Darin schrieb z. B. Iselin: „Ich schätze meine Kinder glücklich, daß die Zeit ihrer Erziehung eben in die Zeit der Erscheinung des Elementarwerkes einfällt, und ich wünsche für das Beste meines Vaterlandes nichts so sehnlich, als daß recht viele Familien sich diese vortrefflichen Mittel, ihre Kinder zu nützlichen und glücklichen Menschen zu machen, zunutze machen mögen . . . Ich gerate bisweilen in eine Art einer enthusiastischen Entzückung, wenn ich mir eine Stadt vorstelle, darin hundert Familien in dem Geiste des Elementarwerkes erzogen, Kinder nach denselben zu einer hohen Vollkommenheit gebrachten Grundsätzen erziehen würden." Es ist klar, daß ein von solcher Begeisterung erfüllter Mann eine große werbende Kraft für Basedow, den er einmal in übertreibender Weise „den größten Wohltäter des ganzen Menschengeschlechtes" nannte, entfalten mußte. Lavater, der andere Apostel Basedows, berichtet in einem Briefe vom Erfolg seiner Werbung: „Schon könne er in seiner Vaterstadt gegen vierzig Lehrer und Väter nennen, die das Basedowsche W e r k von Grund aus studieren und sich zu eigen machen." An gleicher Stelle hebt er hervor, daß auch die Geistlichen seiner Gegend anfangen einzusehen, „daß ihnen das W e r k vortrefflich zustatten kommt, Licht in den Verstand und Wärme in das Herz ihrer Gemeindeangehörigen im Umgang hineinzubringen" ( 3 7 ) . Bei einer solchen Unterstützung ist es erklärlich, daß die Liste der Beförderer des Elementarwerkes ( 3 8 ) allein siebzig Schweizer Persönlichkeiten enthält, übrigens bestand die Hilfe Iselins und Lavaters für Basedow nicht nur in der Werbung für sein W e r k , sondern auch darin, daß sie „ihn auch noch in seiner eigenen Arbeit aufmuntern und trösten mußten" ( 3 9 ) . Es ist mehr als wahrscheinlich, daß Basedow durch Iselin und Lavater — les représentants et les propagateurs des nouvelles doctrines — auf den Vater der Volksschule, Johann Heinrich Pestalozzi, eingewirkt hat; denn dieser hat mit jenen — nach den Worten Pin-
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loches — „collaboré un certain temps et de toute son âme". Nach Pinlodies Darstellung sind folgende Ansichten Pestalozzis vom Philanthropinismus nicht unabhängig: Le principe fondamental de la méthode qui a pour base la leçon des choses; l'emploi des images pour donner à l'enfant des conaissances intuitives ; l'idée même du Livre des m è r e s . . . ; enfin la place importante donnée dans les études aux travaux manuels et à la gymnastique." (fto) Der exakte Nachweis dieser Abhängigkeit ist allerdings nicht erbracht. Selbst wenn sie aber auch besteht, so gehört der Einfluß Basedows auf Pestalozzi nur deshalb zu unserem Thema „Auslandseinfluß deutscher Pädagogik", weil Basedow dann durch Pestalozzi, der auf das pädagogische Denken der g a n z e n Kulturwelt wirkte, mittelbar auf andere Länder gewirkt hat. Pestalozzi, der ganz im deutschen Kulturraum steht, ist trotz seiner Schweizer Staatsangehörigkeit — ein deutscher Pädagoge*). Zur Einflußsphäre Basedowscher Pädagogik gehört außer der Schweiz vor allem auch Dänemark. Das ist für den Kenner der Zeit seines öffentlichen Wirkens nicht weiter verwunderlich, weil Dänemark damals stark unter dem Einfluß der deutschen Kultur, namentlich der deutschen Literatur, stand und die Bevölkerung, vor allem der höhere Adel und das Bürgertum der Landeshauptstadt, von Deutschen durchsetzt war. Es hatten in jener Zeit viele Deutsche in Dänemark Stellen als Beamte, Prediger oder Gelehrte inne. Unter ihnen waren später auch direkte Basedowianer, z. B. der ehemalige Mitarbeiter am Philanthropin Sander, der am philologisch-pädagogischen Seminar in Kopenhagen eine Professur für Methodik bekleidete. Auch Basedow selbst hatte in jüngeren Jahren (1753) auf Empfehlung eines Herrn von Qualen aus dem dänischen Holstein, in dessen Hause er 1748 eine Hauslehrerstelle angenommen hatte, und auf Empfehlung des damals am dänischen Hofe lebenden und hoch angesehenen Klopstock eine solche Stelle in Dänemark erhalten, und zwar eine Professur für Moral und schöne Wissenschaften an der Ritterakademie zu Soröe auf Seeland. Hier und ebenso in Altona, wohin er 1761 wegen des Verdachtes, daß er die Kirchenlehre bestreite, als Gymnasiallehrer versetzt worden war, beschäftigte er sich allerdings hauptsächlich mit philosophischen und religiösen Fragen. Erst mit Erscheinen seiner schon erwähnten „Vorstellung an Menschenfreunde" beginnt der Lebensabschnitt Basedows, der fast nur Schulund Erziehungsfragen gewidmet ist. Die starke Beschäftigung mit diesen war ihm aber im Anfang nur möglich, weil die dänische Regierung ihn in dieser Zeit von seinen beruflichen Pflichten am Altonaer Gymnasium dispensierte, ihm aber sein Gehalt von 800 Talern weiterzahlte, übrigens auch noch nach seiner Übersiedlung nach Dessau (41). Aus alledem ist wahrscheinlich, daß seine pädagogischen Ideen in Dänemark Verbreitung fanden, wenn sie auch von der Orthodoxie bekämpft wurden. D a s Verzeichnis der Beförderer seines Element'arwerkes enthält denn auch die Namen von fünfzig Persönlichkeiten und Gesellschaften aus den königlichen dänischen Landen (42). * ) Siehe Fußnote S. 78.
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Einen größeren Beitrag zur Reform des Schulwesens schien die Basedowsche Pädagogik in Rußland leisten zu sollen, da sich die Kaiserin Katharina II. auf Grund eines Urteils der Petersburger Akademie lebhaft für das Dessauer Philanthropin interessierte. In diesem Urteil hatte es geheißen: „Plan und Unterrichtsmethoden erscheinen in mehreren Beziehungen den bisher befolgten vorzuziehen ; komme er zur Ausführung und finde er in anderen Anstalten Nachahmung, so sei ein wirklicher Vorteil für das Allgemeine zu erwarten." (43) Die Kaiserin beauftragte daraufhin den Baron Melchior von Grimm mit einer Beurteilung des Dessauer Institutes. Als dann der Baron nach dem Besuch in Dessau auf ihre mehrfache Mahnung hin sein Urteil abgibt, ist sie einigermaßen enttäuscht und findet das Urteil „wenig tröstlich". Er bezeichnet nämlich den Plan des Institutes als „zu vage, zu umfassend und chimärisch konzipiert", fügt dann allerdings etwas abschwächend hinzu, daß die Ausführung des Planes, „so unvollkommen sie sein mag, einige vorteilhafte Veränderungen in der allgemeinen Erziehung hervorbringen muß". Eine allgemeine Auswirkung Basedowscher Ideen in Rußland fand daher nicht statt; doch finden sich kleinere Spuren ihres Einflusses, z. B. in der Privatschule nach der Basedowschen Methode von A. Wizmann in Petersburg (1776), ferner in der von Wolke 1785 gegründeten Privatschule, auf die wir später bei der Untersuchung des Einflusses der übrigen Philantropinisten auf Rußland zurückkommen, und vor allem in der deutschen Hauptschule St. Petri in Petersburg. Nach dem Lehrplan des Pastors Herola von 1777 wird der Lateinunterricht in der letzteren so getrieben, „daß der Schüler die besten Autores verstehen lernt, ohne mit grammatikalischen Kleinigkeiten gequält zu werden, es wird nach dem Modell der neueren Sprachen behandelt." Audi werden in diesem Unterricht die Basedowschen Tafeln benutzt. Auch von der rhythmisch verallgemeinernden Methode, die der Direktor der Schule, G. H. von Schubert, später einführte, ist — allerdings ohne überzeugenden Nachweis — behauptet worden, daß sie auf Basedow beruhe. Von großer Wahrscheinlichkeit dagegen ist, daß die durch von Schubert gestiftete Schulprämie, bestehend in dem St. Petriringe mit einem Kreuz oder zwei Petrischlüsseln im Schilde und der Inschrift „diligentiae et probitati", auf Anregungen des in der philanthropinistischen Pädagogik üblichen Prämienwesens zurückging. Ein Symptom der Bekanntschaft mit der Basedowschen Pädagogik in Rußland besteht endlich noch darin, daß unter den Beförderern des Elementarwerkes sich allein 70 Persönlichkeiten und Institute aus den kaiserlich russischen Ländern befinden. Auch nach anderen Ländern fehlte es nicht ganz an Vermittlern Basedowscher Pädagogik. Nach Holland z. B. war gerichtet das „Sendschreiben eines Niedersachsen an einen sich anjetzt in Holland aufhaltenden guten Freund über das von dem Herrn Johann Bernhard Basedow zu Dessau im Fürstenthum Anhalt zu errichtende und durch den Druck angekündigte sogenannte Philanthropin" (44), das zwar voller Kritik der Persönlichkeit Basedows, seiner
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Werbemethoden, seiner religiösen Anschauungen, seiner Schriften und der von ihm vertretenen Methode war, aber trotzdem wohl mitgeholfen hat, die Kenntnis seiner pädagogischen Ideen und Reformforderungen zu verbreiten. Audi in Österreich blieb Basedow nicht unbekannt. Kaiser Joseph II., dem er sein Werk gesandt hatte, schenkte ihm eine Medaille mit seinem Bilde, begleitet von einem Danksdireiben „dont les termes — nach dem Eindruck, den Pinl'oche von ihm erhielt — faisant déjà pressentir l'esprit de tolérance qui devait présider aux actes du gouvernement de ce prince". Außer Basedow trug sein langjähriger Dessauer Mitarbeiter Christian Hinrich Wolke (45) zur Auslandsverbreitung der philanthropinistischen Pädagogik bei, wie er auch ihr Ansehen wesentlich mitbegründet hatte. Wegen seiner mathematischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse und seiner zeichnerischen Fähigkeiten hatte ihm Basedow die Ausarbeitung der entsprechenden Abschnitte des Elementarwerkes übertragen können. Das Buch der Naturgeschichte und der Künste und die Zeichnungen zu den Kupfertafeln 21 (Nr. 234) und 90/93 stammen von ihm. Auch in den Geschäften finanzieller und wirtschaftlicher Art hatte Basedow an ihm eine wertvolle Hilfe. W a s ihn aber für Basedow besonders wertvoll machte, war seine große pädagogische Begabung, sein hervorragendes Lehrgeschick. „Er verstand es, Basedows Ideen an dessen Kindern Emilie und Friedrich und anderen Privatschülern, dann an den Zöglingen der um 1773 errichteten kleinen Lehr- und Erziehungsanstalt praktisch zu benutzen und damit gute Erfolge zu erzielen." (46) Die durch ihn erreichte sprachliche Schulung der vierjährigen Eimilie erregte das Erstaunen aller Besucher, überhaupt war das, was im Philanthropin in Dessau wirklich praktisch erreicht wurde, mehr Wolkes als Basedows Leistung. Wolke machte mehrere Reisen ins Ausland. 1780 nach Holland, teils zur Erholung, „theils um einen Erziehling aus Lissabon in Empfang zu nehmen" (47). Später unternahm er mit Genehmigung seines Fürsten zur Herstellung seiner durch Arbeit, Sorge und Ärger über viele durch Basedow erlittene Kränkungen geschwächte Gesundheit und auch mit der Absicht der Werbung für das Philanthropin eine Reise nach dem Norden und Rußland, ü b e r die letztere Absicht spricht sich Wolke selbst in der „Beylage zum 96sten Stück der Gothaischen gelehrten Zeitung" vom 1. Dezember 1784 aus. Diese Zeitung hatte in ihrer Nummer 23 (S. 192) eine Nachricht aus Riga vom 4. Februar 1784 veröffentlicht, die geeignet war, das Ansehen des Dessauer Philanthropins im In- und Ausland zu untergraben. Sie lautete: „Der Credit der neuen Erziehungsanstalten in Deutschland fällt in hiesiger Gegend sehr, und es holen Väter ihre Söhne zurück oder bringen sie auf ältere bereits bewährte Institute . . . " Auf diese Mitteilung nimmt Wolke in seiner Einsendung für die Zeitung Bezug, indem er beginnt: „Ich habe mich in der Seele der deutschen Erziehungsanstalten gekränkt gefunden über die Nachricht aus Riga, die Sie in Ihre beliebte Gothaische Zeitung eingerückt haben, als wenn die Ausländer, besonders die aus Liefland, gegen sie auf einmal gegründete Ursachen der Unzufriedenheit und des Mißtrauens,
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oder bey sich itzund so vorzügliche Einrichtungen im Schul- und Erziehungswesen bekommen hätten, daß sie deswegen ihre Kinder anderswo unterbringen oder zurücknehmen müßten. Ich versichere Sie, daß diese Nachricht einer der Beweggründe ward, warum ich mich zu einer so weiten Reise entschloß. Ich wollte doch selbst sehen, ob nicht vielleicht in Dänemark, Schweden, Curland, Liefland zur Mittheilung körperlicher Geschicklichkeit und fremder Sprachen, zur Aufklärung des Verstandes und Bildung des Herzens der Jugend Institute vorhanden wären, die vor denen in Deutschland so große Vorzüge hätten, daß sie als Muster gekannt und empfohlen zu werden verdienten. Nun weiß ich aus Vergleich, daß dies noch nicht der Fall ist, und daß die deutschen Erziehungsanstalten und besonders die Dessauische nicht die Geringschätzung der Deutschen, nicht die Verachtung der Ausländer verdient." (48) Diese Reise führte Wolke über Dänemark, Schweden, die Ostsee, Libau, Mitau nach Riga. Von dort folgte er einer Einladung über Dorpat nach Petersburg. Der Ruf seiner Methode zur schnelleren Erlernung fremder Sprachen war schon vorher nach Petersburg gedrungen. Schon 1773 hatte der griechische General Melissino, Chef des Kaiserlichen Artillerie-Kadettenkorps zu Petersburg, den Studiendirektor Böber nach Dessau gesandt, damit er Basedows gerühmte Lehrweise kennenlerne. Nach dessen Rückkehr war dann die Wolkesche Methode auch in Rußland mit Erfolg angewandt worden. Melissino trat daher nach der Ankunft Wolkes in Petersburg mit ihm persönlich in Verbindung. Nachdem der Versuch, zwölf junge Kadetten, „die noch kein Wort Teutsch verstanden", in einem Monat zu einem gewissen Gebrauch der deutschen Sprache zu erziehen, nach Ausweis einer öffentlichen Prüfung erfolgreich gewesen war, erhielt Wolke von allen Seiten Privatschüler aus den ersten Kreisen und legte daher 1786 den Grund zu einer Privaterziehungsanstalt, die bald zu hohem Ansehen gelangte. Ein zweites Zentrum der Auslandswirkung philanthropinistischer Pädagogik war das durch einen Mitarbeiter Basedows, C. G. Salzmann, begründete Philanthropin in Schnepfenthal (49), das bis in die Gegenwart hinein existiert, vor allem, außer durch Salzmann selbst, durch mehrere Anstaltslehrer, die später im Ausland pädagogisch einflußreiche Stellen bekleideten, in denen sie sich als Vertreter philanthropinistischer Pädagogik betätigten. Zu ihnen gehörten Jakob Glatz, Andreas Solka und Friedrich Graf. Jakob Glatz, ein 1776 geborenes Zipser Kind, wurde für die philanthropinistische Pädagogik durch die Lektüre der Schriften Basedows, Salzmanns und Campes gewonnen. Nach einem sich anschließenden Briefwechsel mit Salzmann faßte er den Plan, einst in Ungarn ein Erziehungsinstitut nach dem Vorbilde Schnepfenthals zu gründen (50). Auf den Rat Salzmanns studierte er in Jena und machte sich in den Ferien mit dem geistigen Leben Deutschlands bekannt. Von 1797 an war er sieben Jahre lang Lehrer in Schnepfenthal. Müller charakterisiert ihn als einen der beliebtesten Schriftsteller, „den man an der Themse und an der Loire, am Tiber und an der Donau begeistert las" und der „viel dazu beigetragen hat, die breite öffentlich5
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keit von der Heiligkeit des Erziehungsgeschäftes zu überzeugen" (51). Glatz wurde 1804 erster Lehrer an der evangelischen Schulanstalt und 1815 Prediger der evangelischen Gemeinde in Wien. Auf seine Anregung hin ist wohl der zweite der obengenannten Mitarbeiter Salzmanns, Andreas Solka, nach Schnepfenthal gekommen. Er studierte von dort aus ein Jahr lang (1798—1799) in Göttingen und war dann zunächst als Erzieher an der Teschedikschen Anstalt, später als Rektor in Mezo-Bereny und seit 1811 als Prediger in Verbas, alle drei Wirkungsstätten in Ungarn, tätig (52). Gleichzeitig mit ihm war auch der dritte der Genannten, Friedrich Graf, Lehrer in Schnepfenthal. Nach einigen Hauslehrerjahren wurde dieser, wahrscheinlich durch Vermittlung seines früheren Schnepfenthaler Kollegen Solka, als Gymnasialdirektor nach Ungarn berufen. Alle drei werden das, was sie in Schnepfenthal pädagogisch gelernt hatten, in ihrer Praxis angewandt und sich auch als Anwalt philanthropinistischer Reformforderungen betätigt haben (53). Außer den genannten aus dem Ausland stammenden Lehrern Schnepfenthals haben die vielen Ausländer, die einige Zeit zur Information in Schnepfenthal weilten, die Pädagogik Schnepfenthals über die Landesgrenzen getragen, wenn auch „nie im ganzen Umfange festzustellen sein" wird, „wie starke Anregungen von diesen Besuchen in die häusliche und öffentliche Erziehung getragen worden sind". Unter diesen Besuchern finden sich verhältnismäßig selten Franzosen, Spanier und Italiener, häufiger Engländer, noch zahlreicher Schweden, Dänen und Norweger und am zahlreichsten Ungarn und Siebenbürger (54). Diese Besucher waren natürlich von Beruf in der überwiegenden Mehrzahl Pädagogen, von denen manche im Auftrage ihrer Regierung reisten, der sie über ihre Studien und Beobachtungen Bericht erstatten mußten. So bestand eine breite Einflußmöglichkeit Salzmannscher Pädagogik. Vermittler philanthropischer Gedanken und noch mehr philanthropischer Praxis konnten, wenn auch in bescheidenerem Umfang als die Vorangehenden, auch die ausländischen Schüler Schnepfenthals sein. Das „Verzeichnis der sämtlichen Schnepfenthaler Zöglinge von 1784—1934" weist, wenn auch die Mehrzahl der Schüler aus Deutschland stammte, auch solche aus Frankreich, England, der Schweiz, Portugal, Polen, Ungarn, Böhmen, Rußland, Dänemark, Belgien, Holland, Nord- und Südamerika auf. Auch unter den d e u t s c h e n Mitarbeitern Salzmanns in Schnepfenthal gab es mehrere, die von Einfluß auf die außerdeutsche Pädagogik waren. Dahin gehörten Campe, dessen „Theophron und Väterlicher Rat" von einem jungen Gelehrten in Lidköping ins Schwedische übersetzt und dessen Robinson, in 12—14 Sprachen übertragen, in der ganzen Welt gelesen wurde, und außerdem Johann Christoph Friedrich Guts-Muths, „der letzte der Philanthropen". Sein erstes Verdienst bestand darin, daß er die Geographie, „die bisher nur Topographie und untergeordneter Teil der Geschichte gewesen war, zum Range eines selbständigen Faches von hohem Bildungswert erhob". Sein Schüler, der große Geograph Karl Ritter, hat diese Entwicklung in außerordentlicher Weise weitergeführt. Dazu kommt noch ein zweites Verdienst. Wenn man Jahn den
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Vater der deutschen Turnkunst nennt, so verdient Guts-Muths den Namen ihres „Groß- und Erzvaters" (55). Er hat „dem Begriff Schule wieder die Idee der Körperbildung zugefügt", die trotz Rousseau, Locke und Basedow damals noch auf die Privaterziehung und die eine oder andere fortschrittliche Familie beschränkt geblieben war. 1793 erschien sein berühmtes epochemachendes Werk „Gymnastik für die Jugend", das dem Kronprinzen von Dänemark, „dem Verteidiger der Menschenrechte am Belt und Senegal", und dem Herzog Ernst von Sachsen-Gotha und Altenburg gewidmet war. Die Überschrift des ersten Abschnitts lautete: „Wir sind schwächlich, weil es uns nicht einfällt, daß wir stark sein könnten, wenn wir wollten." In dem Buch empfiehlt er „die durch hohes Altertum und unverdiente Vergessenheit wieder neu gewordene Gymnastik", deren leuchtendes Beispiel die Römer und besonders die Griechen sind, nämlich Springen, Laufen, Werfen, Ringen, Klettern, Balancieren, Tanzen, Baden, Schwimmen. Er findet es „unverzeihlich", daß die Gymnastik nicht zum Lehrplan der Schulen gehört. Guts-Muths und sein Werk wurde über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, vor allem durch Auszüge oder Plagiate seiner Schriften (56) in dänischer, englischer und französischer Sprache (57). Die „Gymnastik" wurde nicht allein in fremde Sprachen übersetzt, sondern man begann auch in anderen Ländern mit der Verwirklichung ihrer Forderungen, besonders in Dänemark. Schon im Herbst 1799 wurde in Kopenhagen durch Nachtegall unter Begünstigung durch die dänische Regierung ein öffentliches gymnastisches Institut errichtet. Nacheinander fand die Gymnastik dort Eingang in die Land- und Seekadettenakademien, in öffentliche und private Unterrichts- und Erziehungsanstalten, in die Schullehrerseminare und endlich auch in die Volksschulen. Schließlich verfügte die Regierung, daß bei jeder Landschule ein Platz von 1200 Geviertellen für die Leibesübungen bereitgestellt werden sollte. Das dänische Beispiel bewirkte, daß man auch in Schweden mit der Pflege der Gymnastik begann (58). Auch in Ungarn wurden Guts-Muths Werke bekannt. In den 1799 in Deutschland ohne Verfassemamen erschienenen „Freymüthigen Bemerkungen eines Ungars über sein Vaterland" wird die 1793 in Schnepfenthal erschienene „Gymnastik" sehr eindringlich dem empfohlen, der „sich durch eigenes Nachdenken von der Notwendigkeit und den Vortheilen körperlicher Übungen noch nicht ganz überzeugen kann und etwas Ausführliches über die Anstellung derselben lesen will": Der anonyme Verfasser preist an gleichem Ort die „Gymnastik" als „ein selbst nach des berühmten Hufelands Urtheil klassisches Werk, das der deutschen Nation Ehre bringt, und dessen Verfasser ein erfahrner praktischer Erzieher ist, der die Güte seiner Vorschläge und Winke durch die Erfahrung bestätigt gefunden hat" (59). Das Verdienst Guts-Muths war so, daß in fast allen Kulturstaaten die Einsicht in den erzieherischen Wert der Leibesübungen langsam aufkeimte. Das bedeutete natürlich noch nicht, daß seine Forderungen auch überall praktisch verwirklicht wurden. Einer der Lehrer des
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Sdinepfenthaler Philanthropins, Christian Ludwig Lenz, der eine große pädagogische Studienreise durch Dänemark, Schweden und Frankreich unternahm und über sie in einem in zwei Teilen 1800 und 1801 erschienenen Buch (60) berichtete, beurteilt z. B. die Lage der Gymnastik in Frankreich folgendermaßen: „Und so viel man auch in der neuen Republik von Leibesübungen spricht: so wenig oder gar nichts geschieht doch für sie in den Schulen; und so wenig kennt man in Frankreich auch nur eine wahrhaft pädagogische Gymnastik." Und er schließt dann auch einen Vorschlag zur Besserung des Zustandes an: „In dieser Hinsicht müßte ein Pariser oder Straßburger Buchhändler unseres Guts-Muths Gymnastik (Schnepfenthal 1793), Körperliche Spiele (ebendaselbst 1796) und Schwimmkunst (Weimar, Bertuch 1798) abgekürzt zu einem einzigen Werke für Frankreich verarbeiten und aus Vieth's Enzyklopädie der Leibesübungen (Berlin, Hartmann 1792, 1 Bde.) vervollständigen lassen. Man erkennt in der Republik die Wichtigkeit der Gymnastik; weiß aber die Methode nicht recht, wie die Jugend dazu anzuleiten ist. Aus Guts-Muths Schriften würde man sie lernen." Der Stolz auf den hohen Standard der deutschen Pädagogik und das Bewußtsein, daß die neuen deutschen Schulen Muster und Vorbild für die pädagogische Reform im Ausland sein können, der hier deutlich zum Ausdrude gelangt, ist eine Wirkung der Entwicklung der deutschen Pädagogik in der Zeit der Aufklärung und des Philanthropinismus. Der Deutsche fängt jetzt an, es als selbstverständlich zu betrachten, daß die dazu bereiten Ausländer vom pädagogischen Denken und von der pädagogischen Wirklichkeit Deutschlands viel lernen können, und fordert sie daher auf, zu dem Zwecke sein Land zu besuchen. Und der ausländische Pädagoge beginnt bald diesem Ruf in stärkerem Maße Folge zu leisten, so daß Deutschland im 19. Jahrhundert wirklich zum pädagogischen Lehrmeister der Welt wird. Der schon angeführte Reisebericht von Lenz illustriert das Gesagte auch sonst noch in mehrfacher Weise. So wie er die Franzosen wegen ihres Rückstandes in den Leibesübungen auf das deutsche Beispiel und die Deutsche Literatur verwies, so rät er ihnen, auch für ihre unentwickelte Lehrerbildung und Unterrichtsmethodik vom deutschen Beispiel zu lernen (61). Er tadelt die Franzosen, daß sie noch immer „nicht ernstlich genug" Lehrerseminare einrichten, und empfiehlt die Lehrerbildner — „etwa Elsässer, die das Teutsche vollkommen verstehen" „erst mehrere Jahre hindurch auf Kosten der Republik die besten Schulen, Erziehungsanstalten und Lehrerseminare Deutschlands, Dänemarks und Böhmens besuchen zu lassen", „um erst selbst Methodik lernen zu lassen, die in Frankreich noch in der Kinderwiege schlummert". Ferner empfiehlt er, „des wackeren Theschedik zu Szavas in Ungarn treffliches praktisch-ökonomisches Industrial-Institut" (61) zu besuchen. Daß sie dort dann auch, wenigstens mittelbar, vom deutschen Beispiel lernen, ist für den klar, der weiß, daß der hervorragende ungarische Volkswirtschaftler und Erzieher Samuel Teschedik die Franckeschen Stiftungen in Halle und später das Philanthropin
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Salzmanns in Schnepfenthal besuchte, und daß einer seiner Mitarbeiter Professor Skolka war, von dem wir bereits hörten, daß er ein Jahr lang in Schnepfenthal lebte. Lenz macht den Franzosen auch direkte Vorschläge für die Besetzung verantwortlicher Stellen im französischen Schulwesen, besonders der Direktor- und Lehrerstellen an den Lehrerseminaren. Er benennt dafür „den aus Frankreich abstammenden, mit Recht berühmten Erziehungsschriftsteller Villaume, der jetzt zu Brahe-Trolleburg'auf der dänischen Insel Fünen lebt und an dem dasigen musterhaften Dorfschul-Seminarium mitwirkt", seinen Kollegen le Roux-Laserre zu Schnepfenthal, „der aus der französischen Republik gebürtig und bereits elf Jahre Mitarbeiter an Salzmanns Erziehungsanstalt ist", femer den Mainzer Matthiä, die Straßburger Oberlin und Schweighäuser (Vater und Sohn), „vielleicht auch Caillard, vormals Gesandter in Berlin, „als würdige mit den Fortschritten und Methoden der Teutschen bekannte" Männer ( 6 3 ) . Die Anregung, von der deutschen Pädagogik zu lernen, gibt Lenz aber nicht nur den Franzosen, sondern auch den Schweden. Auch ihnen rät er, „fähige und der deutschen Sprache vollkommen kundige" Männer „zur Untersuchung und Benutzung der besten Seminarien, Gymnasien, Bürger-, Bauern-Schulen, öffentlichen Pädagogien und privaten Erziehungsanstalten nach Dänemark, Teutschland und Böhmen abzusenden, um nach der Zurückgekehrten Berichten und Vorschlägen, oder vielmehr durch diese Männer selbst, Sdiul-Seminarien einzurichten und eine Totalreform der gesamten öffentlichen Jugendbildung durch alle Stände hindurch auszuführen" ( 6 4 ) . Um seiner Mahnung Nachdruck zu geben, weist er auf das Beispiel der weisen und väterlichen dänischen Regierung hin, die in den Jahren 1786 und 1787 „einen sachkundigen Mann, den noch jetzt im Dorfschul-Seminar bey Kopenhagen angestellten Professor Sevel, auf ihre Kosten eine große pädagogische Reise durch Teutschland und weiter machen und dessen Berichte und Beobachtungen zu Einrichtungen besserer Seminarien und Schulanstalten benutzen" ließ; und ebenso auf den Fürsten von Dessau, der den verstorbenen Professor Neuendorf auf seine Kosten auf eine Schulreise durch Teutschland und die Schweiz schickte und schließt mit der Aufforderung: „Schweden unternehme ein gleiches." ( 6 5 ) In den Rahmen dieser Bemühungen der Philanthropen zur Herstellung eines Kontakts zwischen der deutschen und der ausländischen Pädagogik paßt es, daß einer der Ihrigen, nämlich Guts-Muths, eine Zeitschrift schuf, die nicht nur über die neue Pädagogik Deutschlands, sondern auch über die fremder Länder zu unterrichten versuchte: Guts-Muths-Bibliothek der pädagogischen Literatur, verbunden mit einem pädagogischen Correspondenzblatte und Anzeiger, Gotha, bey Justus Perthes, 1801. In ihr haben wir den Ahnen aller späteren deutschen Periodika über In- und Auslandspädagogik, einschließlich der 1 9 3 0 ins Dasein getretenen „Internationalen Zeitschrift für Erziehungswissenschaft". Lenz empfiehlt sie allen, auch den Ausländern, die „die neuesten Fortschritte des Schul- und Erziehungswesens, vorzüglich in Teutschland, gleichsam
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mit einem Blicke übersehen wollen", und fordert die ausländischen Pädagogen zur Mitarbeit auf. Namentlich bittet er seine „verehrten Bekannten in Schweden, Dänemark und der Französischen Republik um die neuesten Schulnachrichten aus ihren Gegenden für diese Bibliothek, deren jetziger Jahrgang (1801) der zweyte" ist. Gleichzeitig mit der gekennzeichneten Ausbreitung der philanthropinistischen Pädagogik und der Nachahmung ihrer Praxis gewannen auch ihre ideologischen Grundlagen im Ausland Raum oder Bestärkung: Der Glaube an die Güte der nodi unverdorbenen jugendlichen Natur, die Hochschätzung des Erziehens und Unterriditens als einer Kunst, die humane Auffassung von dem Verhältnis des Lehrers als eines liebevollen Vaters und wohlwollenden Freundes der Schüler, die Förderung der Ausbildung des Denkvermögens gegenüber dem Einprägen toten Gedächtniskrames, die Gewöhnung des Kindesauges zur Aufmerksamkeit auf die Umgebung und zur Naturbeobachtung und die Betonung des für das Leben Nützlichen und Brauchbaren und der körperlichen Ertüchtigung (66).
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4. Friedrich Eberhard von Rochow Friedrich Eberhard von Rochow, oft der preußische Pestalozzi genannt, steht zeitlich und auch nach seinen Anschauungen zwischen den im vorangehenden behandelten Philanthropen und dem im nachfolgenden Kapitel auf seinen europäischen Einfluß untersuchten Johann Heinrich Pestalozzi. Von den ersteren und der Aufklärung überhaupt empfing er die Anregungen zu seiner Volksbildungsarbeit. Diese betrieb er aus der Gesinnung eines echten und wahren Menschenfreundes und der Überzeugung der Aufklärungsphilosophie, daß das Schlechte nur aus der Unkenntnis des Guten entstehe und daß man die Menschen nur klüger zu machen brauche, damit sie auch besser würden. In die Nähe von J. H. Pestalozzi rüdct von Rochow mit der Idee des „elementarischen" Unterrichts und der „Elementarschule" und dadurch, daß er mit der Begründung eines guten, die Fassungskraft des Landkindes nicht übersteigenden Landschulwesens einsetzt. Von Pestalozzis Idee des „reinen Menschentums" aber bleibt er noch weit entfernt. Leicht erklärlich bei dem märkischen Edelmann, der noch in ständischem Denken befangen ist. Wirkungen auf das Ausland gingen aus von den Schulen, die von Rochow auf seinen märkischen Gütern einrichtete und an denen er oft auch selbst als Lehrer tätig war, und von seinem „Kinderfreund", der in viele Fremdsprachen übersetzt wurde. Die Liste der Besucher, welche von 1772—1805 für kürzere oder längere Zeit seine Schule in Redeahn besuchten, ist erhalten (1). In der Mehrzahl waren es natürlich Deutsche, unter denen alle Stände vom Handwerker bis zum Minister und regierenden Fürsten vertreten waren, auch viele Offiziere, vor allem aber Theologen und Lehrer bzw. Lehreranwärter. Die letzteren blieben mitunter längere Zeit als Hospitanten oder, wie man damals sagte, als Auskultanten. Die Zahl der ausländischen Besucher war zwar verhältnismäßig klein, aber doch nicht bedeutungslos. Aus Ungarn kamen die Herren Korabinski, Baron von Holasty, die Studenten der Theologie Heinotzi, Lumohsky und Mayer sowie der Magister Stephan Agosten. Dänemark sandte den Prediger Jakob Friedrich Feddersen, den schon an anderer Stelle erwähnten Professor Sevel aus Kopenhagen, den Kandidaten Hager, ebenfalls aus Kopenhagen, und den Kandidaten Riber vom Schullehrerseminar daselbst. Aus Polen kam der Medicus des Fürsten Poniatowsky, Dr. Luft, aus Frankreich der Prediger L. E. von Pajou de Moncets, der spätere Konsistorialrat und Inspektor des Berliner französischen Gymnasiums, aus der Schweiz- Herr von Rongemont 71
aus Neuchâtel und Dr. med. Ustery aus Zürich, aus Holland der Baron von Hogendorp. Weitere Besucher stammten aus Kurland, Livland, Schweden und Siebenbürgen. Wie stark Rochows Persönlichkeit und Werk auf die einzelnen ausländischen Besucher einwirkte und ob ihre in Reckahn empfangenen Anregungen für ihre Heimat fruchtbar wurden, läßt sich bei den meisten nur vermuten, bei einigen aber auch auf Grund konkreter Unterlagen feststellen. So gab Jakob Friedrich Feddersen, der spätere dänische Konsistorialrat in Altona, 1778 in Halle „Nachrichten aus dem Leben und Ende gutgesinnter Menschen mit praktischen Anmerkungen" (2) heraus, in denen er auch von den Schulen berichtet, „welche der Domherr von Rochow auf seinen Rittergütern Reckahn und Gettin angelegt hat". Er bemüht sich „eine kurze Summe alles des Guten, des Gemeinnnützigen und Nachahmungswürdigen, welches er in Reckahn und besonders in den Schulen gesehen, gehört und empfunden" hat (3), darzustellen. Dadurch hat er sicherlich Rochow und sein Werk in Dänemark weiter bekanntgemacht. Jedenfalls hat ein Ludwig von Reventlow im Jahre 1784 auf der Insel Fünen drei Schulen nach dem Muster der Rochowschen errichtet (4). Näheres über diese Schulen erfahren wir aus zwei Briefen, die der Freiherr von Buchwald von Schloß Odensee am 9. Dezember 1789 an Rochow schrieb (5). Der Schreiber der beiden Briefe war zur Zeit ihrer Absendung, wie wir im ersten erfahren, Stiftsamtmann eines dänischen Gebietes, das neun Städte umfaßte. Er scheint pädagogisch stark interessiert gewesen zu sein; denn „die bessere Einrichtung der Schulen" sei, so schreibt er — „der Lieblingsgegenstand seiner Beschäftigung". Bei diesem Bemühen wurde er nach seinen eigenen Worten unterstützt von „einem herrlichen jungen Mann", dem Grafen Reventlow auf Brahetrolleburg". Er bezeichnet ihn als Schüler Rochows („Élève von Ew.) und erklärt seine v i e r (Pinloche spricht nur von dreien) Schulen, deren Lehrer auf dem Kieler Lehrerseminar ausgebildet wurden, nächst den Reckahnschen als die besten, die er kenne. In ihnen werden, wie er im ersten Brief behauptet, alle Schulschriften Rochows in dänischer Übersetzung gebraucht. Im zweiten Brief wird Rochow dann auch mitgeteilt, daß Graf Reventlow beabsichtige, ihn im Sommer 1790 mit seinen drei Schullehrem in Redeahn zu besuchen (6). Diese Schulen fanden die höchste Anerkennung des dänischen Kronprinzen, der sie im Sommer 1789 zusammen mit dem Freiherrn von Buchwald besuchte, welch letzterer im August 1791 die Lehrer im Auftrage dés Kronprinzen durch goldene und silberne Medaillen ehrte. In den Briefen wird auch mit Anerkennung von den dänischen Lehrerseminaren in Kiel und Kopenhagen gesprochen. Zur Unterhaltung des letzteren trug der von Freiherr von Buchwald geleitete Bezirk durch jährliche Zahlung von 500 Rthlr. bei, wofür er das Recht hatte, zehn Seminaristen zur Ausbildung dort zu haben. Der zweite Brief schließt mit dem zukunftsfrohen Satz : „Wenn einige Jahre werden verflossen und einige dieser jungen Lehrer angesetzt sind, hoffe ich doch die Morgendämmerung der guten Sache, ehe ich sterbe, zu sehen." Diese Lehrerseminare interessieren uns in diesem Zusammen72
hang, weil Rochow auf die dänische Lehrerbildung, wenigstens indirekt, von gestaltendem Einfluß war. Er hatte schon früh erkannt, daß die Voraussetzung guter Schulen tüchtige Lehrer seien und hielt — im Gegensatz zu Basedow — die Schaffung eines gut gebildeten Lehrerstandes für wichtiger als die von Lehrbüchern. Invaliden lehnte er im Gegensatz zu Friedrich dem Großen als Lehrer ab, ebenso Handwerker. Auch die Theologen sollten nach seiner Auffassung nicht „durch den W e g der Volksschulen ins Predigtamt gehen". Vielmehr forderte er für die Kurmark ein Lehrerseminar für 12 Kandidaten, die dann nach Beendigung ihrer Ausbildung als Lehrer einen kleinen Bezirk mit der neuen Lehrart durchsäuern sollten. Auf seine Anregung geht die Gründung des Lehrerseminars in Halberstadt zurück, das zwar nicht das erste in Deutschland oder Preußen, wohl aber das erste in Sachsen war und wodurch „eine für Deutschland und die nordischen Länder bedeutsame Bewegung in Fluß kam" ( 7 ) . Den Anteil Rochows an der Gründung dieses Seminars hat C. Kehr, der seine Geschichte erforschte und darstellte, folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „Ist E. von Rochow es doch gewesen, der die Mitglieder des Domkapitels, z. B. den Domdechanten Freiherrn von Spiegel zum Desenberg, den Domherrn Graf von Stolberg und von Busch u. a. m. für seine Ideen über Ausbildung und Erziehung des Landvolkes gewann und das Domkapitel zu dem Beschlüsse veranlaßte, ein Landschul-Seminar in Halberstadt zu gründen. Hat er doch den Rektor Struensee in einer Weise für die Sache begeistert, daß dieser endlich Hand ans W e r k legte und die Rochowschen Pläne zur Ausführung brachte. Haben wir also doch in E. von Rochow, diesem Manne der Liebe, den eigentlichen Gründer unserer Anstalt zu verehren." ( 8 ) Das Halberstadter Seminar aber gab den Anstoß und war das Vorbild für die Errichtung der dänischen Lehrerbildungsanstalten. Außer von Feddersen wissen wir es von dem holländischen Besucher, dem Baron Gijshart Karl von Hogendorp, daß er in Reckahn stark beeindruckt wurde, und zwar aus zwei Briefen, von denen er den ersten am 12. Juni 1781 schon aus Reckahn und den zweiten am 14. Juni aus Dessau an den Kapellmeister Reichard richtete, in denen er seine positiven Reckahner Erfahrungen mitteilte und auch Rochows Mitarbeiter Bruns, Rudolph, Schliephake und Sdiäfer günstig beurteilte ( 9 ) . Der französische Besucher Pajou de Moncets wurde zu einem Herold Rochowscher Pädagogik zumal dadurch, daß er Rochows „Kinderfreund" ins Französische übertrug, wie er vorher Basedow übersetzt hatte und später Pestalozzis „Lienhard und Gertrud" übersetzen sollte. Später wurde die Aufmerksamkeit der Franzosen erneut auf Rochow gelenkt durch den Comte de Mirabeau, und zwar im ersten Bande seines Werkes „De la monarchie prussienne sous Frédéric le grand avec un appendix contenant des Recherches sur la situation actuelle des principales Contrées de l'Allemagne" ( 1 0 ) . Seine kurzen Ausführungen über Rochow sind so charakteristisch, daß wir sie wörtlich folgen lassen. Mirabeau schreibt: „Ne perdons pas cette occasion de nommer
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ici un homme bien recommandable, un M. de Rochow, seigneur de la terre de Rekan, qui a fait de l'instruction de ces vassaiex son occupation favorite. Il a enseigner lui-même à ses maîtres d'école la manière d'instruire. Il a écrit sut cet interessant sujet un excellent livre élémentaire. Les soins ont eu une digne et douce récompense. Les paysans sont des modèles de sens, d'industrie, de sage conduite et de bonnes moeurs. Nous n'avons pas cru le nom d'un s impfe particulier, qui a donné un si respectable exemple, indigne de figurer auprès de celui d'un trés-grand homne. Si l'espèce humaine doit l'admiration à ses héros, qu'elle montre du moins une tendre vénération à ses bienfaiteurs." (11) Rochow erwies sich Mirabeau für diese seine lobende Erwähnung dankbar, indem er 1792 des „Herrn Mirabeau des älteren Diskurs über die Nationalerziehung 1791" in Berlin und Stettin bei Friedrich Nicolai in deutscher Übersetzung herausbrachte. Aus dem Vorbericht der Deutsdhen Ausgabe ersehen wir, daß Rochow Mirabeau weder gesehen noch mit ihm in Briefwedisel gestanden hat. Mit Berufung auf seine achtungsvolle Erwähnung in der Histoire de la Prasse wünscht Rochow: „Möchte durch diese meine Übersetzung seiner gleichfalls mit mehrer Achtung auch unter denen von unsern Landesleuten, die der französischen Sprache nicht mächtig genug sind, gedacht werden." Mit Pajou de Moncets haben wir auch den zweiten Weg der Verbreitung Rochowscher Ideen im Ausland bereits berührt, den der Übersetzung seiner pädagogischen Schriften. Am weitesten wurde auf diese Weise im Ausland verbreitet das von v. Rochow verfaßte und herausgegebene Lesebudi, erst „Bauemfreund", später „Kinderfreund" genannt, ein Buch, das die Lücke zwischen Fibel und Bibel ausfüllen sollte, das erste deutsche Lesebuch und die Mutter unzähliger Nachkommen (12), ein Buch, „mit welchem das Volksschulwesen des deutschen Reiches in eine neue Entwicklungsperiode eintrat" (13). Die in dem „Kinderfreund" steckende Leistung muß höher eingeschätzt werden als die der späteren Lesebuchherausgeber, weil Rochow bei seiner Arbeit an ihm jedes Vorbild fehlte und er sich den größten Teil des Lesebuchstoffes erst selbst schaffen mußte. Eine Absicht, die Rochow mit dem Buch verband, war, die Bauernkinder „im Gebiet ihres Lebens heimisch" zu machen und gleichzeitig ihren geistigen Horizont zu erweitern. Daher finden sich in ihm neben moralischen Erzählungen, Beispielen und Anekdoten auch Lesestücke über Globus, Magnet, Brennglas und andere gemeinnützige Belehrungen von den Pflichten der Untertanen bis zu den Vorgängen der Stallfütterung. Der Inhalt und die natürliche und volkstümliche Darstellungsweise, die von den Zeitgenossen allgemein anerkannt wurde, begünstigten eine schnelle und weite Verbreitung. In verhältnismäßig kurzer Zeit wurden 100000 Eremplare des 112 Seiten starken Büchleins „für zween Groschen in gutem Gelde" verkauft. Der Kinderfreund wurde vom Kultusminister von Zedlitz zwar „aufs Höchlichste gelobt", aber seine Einführung in alle preußischen Volksschulen konnte Rochow weder beim Besuche seiner Schulen durch den Minister noch bei dem Könige Friedrich Wilhelm III. erreichen. Das Verbreitungsgebiet des Kinderfreundes wurde
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später dadurch vergrößert, daß der Prior Horgen, der Vikar Peter Andreas Clemens und der Kaplan Andreas Winter ihn für katholische Schulen bearbeiteten. Der Kinderfreund wurde ins Französische, Schwedische, Dänische und Polnische übersetzt. In Berlin erschien ohne Jahreszahl eine von Hauchcorne und Catel durchgeführte Ubersetzung ins Französische unter dem Titel „L'ami des enfants à l'usage des écoles" (14). Band II erschien 1785 im gleichen Verlag. Eine weitere französische Übersetzung wurde 1792 bei Lagard in Berlin herausgegeben (15). Wie zahlreich die französischen Ausgaben nach Frankreich kamen und dort benutzt wurden, ist schwer feststellbar. Auffallend ist, daß das Musée Pédagogique in Paris, das im allgemeinen auch die französischen Übersetzungen deutscher pädagogischer Werke in seinen Bibliotheksbeständen hat, nur die deutschen, aber keine französischen Ausgaben Rochowscher Schriften im Besitz hat, wie mir auf meine Anfrage hin am 14. Juni 1939 mitgeteilt wurde. Vielleicht war „L'ami des enfants" in der Hauptsache für die in Deutschland lebenden Franzosen und die Französisch lernenden Deutschen bestimmt. So erschien ja auch für die französische Kolonie in Berlin eine Fortführung der von Rochow eingeleiteten Lesebuchbewegung unter Berücksichtigung der Ideen von Hecker und Hahn und der Forderungen des Landschulreglements unter dem Titel „Abrégé de toutes les sciences à l'usage des enfants de six ans jusqu'à douze". Wie unsicher aber ein solcher Schluß ist, ergibt sich aus folgendem Sachverhalt. Wie sich aus den hinterlassenen, an anderer Stelle bereits erwähnten Briefen Rochows ergibt, begann er ungefähr 20 Jahre nach dem Kinderfreund damit, ein neues Volksschullesebuch zu schreiben. Hier haben wir den umgekehrten Fall wie beim L'ami des enfants. Es gelang selbst dem deutschen Historiographen des Lesebuches, Ferdinand Bünger (16), nicht, ein deutsches Exemplar dieses Buches aufzutreiben. Dagegen kennen wir mehrere französische Übertragungen desselben, z. B. eine, die 1796 bei André Frédéric Leich in Brandenburg erschien und den Titel hatte: „L'ami des enfants, ouvrage destiné à exercer les enfants à la lecture et à les rendre attentifs à ce qu'ils lisent" (17); eine zweite durchgesehene und verbesserte Auflage, die unter dem gleichen Titel in Brandenburg in der librairie de Hessenland erschien (18) und eine letzte von François Bode, pasteur de l'église française de Brandenb u r g im Jahre 1826 in der librairie de Wiesike. Rochows Kinderfreund befand sich auch unter den Lesebüchern, die im Elsaß während seiner französischen Zeit in den Schulen gebraucht wurden. Sorgius*) weist darauf hin, daß 1779 bei Jonas Lorenz in Straßburg eine besondere deutsche Ausgabe erschien, in deren Vorwort gesagt wurde, daß das Büchlein für Landschulen bestimmt sei, daß es aber auch in Städten gebraucht werden könne, wenn es dafür auch weniger zweckmäßig sei. In derselben Druckerei erschien auch eine Übersetzung unter dem Titel „L'ami des enfants à l'usage des écoles de campagne", das sich auch unter den Büchern befand, *) M. Sorgius, Die Volksschulen im Elsaß von 1789—1870. Straßburg 1902, S. 32.
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die Oberlin seinen Pfarrkindörn als Bibliothekbücher empfahl. Die Übersetzung, in deren Vorwort der Verdienste Rodhows um die Förderung des Schulwesens gedacht wurde, war veranlaßt worden von einer „Société morale qui cherche in silence les moyens de se rendre utile", und verfolgte einen doppelten Zweck: „Einmal soll das Büchlein als Grundlage eines fruchtbringenden Unterrichts dienen, dann soll es aber Franzosen und Deutschen beim übersetzen Dienste leisten, um die beim übertragen gemachten Fehler s e l b s t , ohne Lehrer, verbessern zu können." Bei dieser zweiten Zwecksetzung ist es erklärlich, daß in der Übersetzung die poetischen Stücke weggelassen und die Prosastücke ziemilch wortgetreu wiedergegeben sind. Eine erste polnische Übersetzung des Kinderfreundes erschien 1778 (19), zwei weitere, von denen die Königsberger Universitätsbibliothek je ein Exemplar besitzt, kamen 1795 und 1826 in Königsberg heraus. Die dänische Ausgabe wurde erst 1810 in Kopenhagen herausgebracht: Barnevennen en Laesebog til Brug i Landsbjscofer. Gyldendalsche Verlag (20). Auch ins Schwedische wurde der Kinderfreund, dessen Verfasser Mitglied der Königlich Schwedischen Gesellschaft für Erziehung zu Stockholm war, übersetzt (21). Der Rochowsche Kinderfreund konnte aber auch unmittelbar oder mittelbar auf die Lesebuchentwicklung und den Schulunterricht solcher Länder von Einfluß sein, in deren Sprache er nicht übersetzt wurde. Das trifft z. B. bei Ungarn zu. Ignaz von Felbiger hatte in seine Lesebücher für österreichische Volksschulen zahlreiche Lesestücke aus dem Kinderfreund übernommen, die von da in ungarischer Übersetzung in die ungarischen Lesebücher Eingang fanden. Friedrich Philipp Wilmsen ( 1 7 7 0 — 1 8 3 1 ) , ein protestantischer Pfarrer in Berlin, verfaßte, durch Rochows Kinderfreund angeregt und in dessen Nachahmung, einen „Deutschen Kinderfreund" (22), der viele Auflagen erlebte, 1879, also mehr als vierzig Jahre nach des Verfassers Tod, die 224. Dieses Lesebuch enthielt außer den gewöhnlichen Erzählungs- und Belehrungsstoffen auch die ersten Grundlinien einer einfachen Psychologie und Anthropologie (23) und eine Anzahl Kirchenlieder. 1829 erschien es bei Landerer in Pest unter einem langatmigen Titel in ungarischer Sprache. In deutscher Übersetzung lautet der Titel: Der Freund der ungarischen Kinder oder ein erlebtes nützliches Lesebuch für die in Haus und Schule lernenden Kinder, aus welchen sie die notwendigsten und nützlichen Wissenschaften ihrem schwachen Verstände gemäß begreifen können, nach dem durch Herrn Ph. Wilmsen in deutscher Sprache nach der 100. Ausgabe mit zahlreichen Ergänzungen und wo es notwendig erschien mit neueren Konstruktionen für die Nutzbarmachung der im christlichen Glauben lernenden Kinder angewandt und in vaterländischer Sprache durch Itvein (Stephan) Langky herausgegeben (24). Die vorangehenden Ausführungen haben also gezeigt oder wenigstens wahrscheinlich gemacht, daß die Persönlichkeit und das Werk des märkischen Edelmannes, sein Kinderfreund, die von ihm bewirkte Gründung des Halber-
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Städter Lehrerseminars, seine Schule, deren Lehrer und die in ihr angewandte Methode auch jenseits der deutschen Grenzen rühmlichst bekannt wurden, anregend wirkten, zur Nachahmung aufforderten und Nachahmung fanden. Der pädagogische Fachmann wird vor allem die Vorbildwirkung der Rochowschen Schulen nicht unterschätzen, weil er ihren fortschrittlichen Charakter kennt. Manches für sie Charakteristische war den anderen Schulen der Zeit noch unbekannt, dahin gehört z. B. außer der Benutzung des Kinderfreundes als Schulbuch das Bemühen um die Bildung der Sprache durch korrektes Sprechen und um eine stramme Zucht des Denkens und die Einführung des sogenannten Anschauungsunterrichtes.
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5. Johann Heinrich Pestalozzi* Johann Heinrich Pestalozzi (1) (1746—1827), der „Vater der Volksschule", der die in den beiden letzten Kapiteln betrachteten Pädagogen durch seine Persönlichkeit und sein Werk in den Hintergrund drängte, war auf das Erziehungsdenken und die Erziehungswirklichkeit der ganzen damaligen Kulturwelt von anregendem und gestaltendem Einfluß. Allerdings hat das Ausland auch auf ihn eingewirkt. Besonders von Jean Jacques Rousseau ist er in mancher Beziehung abhängig. Das ist nicht verwunderlich; denn Pestalozzi hat, piit seinen Freunden aus dem Patriotenbund, die Schriften Rousseaus, besonders den „Contrat social" und den „Emile", gleich nach ihrem Erscheinen mit Begeisterung gelesen, und so zeigen denn auch schon seine ersten schriftstellerischen Versuche, die in diese Zeit fallen, den Einfluß Rousseauischer Ideen. So forderte er in den „Wünschen", die er in dem vom Patriotenbund herausgegebenen „Erinnerer" veröffentlichte, unter anderem eine einfache Erziehung für Bürger und Bauern. In dem Tagebuch, das Pestalozzi vom 17. Januar bis 19. Februar 1774 über seinen dreieinhalbjährigen Sohn Jacques Qacqueli) führte, verraten manche der Gedanken und Forderungen starke Verwandtschaft mit Anschauungen Rousseaus. Und auch in späteren Schriften, z. B. in den „Nachforschungen", verrät sich Rousseauscher Einfluß. Herder, der sie sehr anerkennend besprach, hebt ausdrücklich hervor, „daß die Grundlage dieser Gesichtskreise in Rousseau liege . . . , mit dem er auch in seiner männlichen Beredsamkeit und Liebe zur Wahrheit innere Ähnlichkeit habe". Aber Pestalozzi bewahrt auch Rousseau gegenüber, wie Heubaum nachdrücklich hervorhebt, seine Selbständigkeit. So hält sein Wirklichkeitssinn ihn trotz der vernichtenden Kritik der sozialen Verhältnisse davon ab, deren geschichtliche Bedeutung zu verkennen. Die Selbständigkeit Pestalozzis in der Verarbeitung der Rousseauschen Anregungen zeigt sich auch „in der starken und klar bewußten Hervorhebung des gesellschaftlichen, ,sozietätischen' Lebens, für das er seinen Sohn erziehen will, nämlich zum brauchbaren Bürger" (2). Er jagt auch nicht, wie *) Pestalozzi gehört, weil er ein Deutsdh-Schweizer ist, unbestreitbar der deutschen Pädagogik an, wie ja auch Rousseau, obwohl von Geburt ein Schweizer, von der französischen Pädagogik als einer der Ihrigen betrachtet wird. Pestalozzi hat vor der Lateinschule eine deutsche Schule besucht, lebte in der Hauptsache im deutschen Kulturraum und hat seine Werke in deutscher Sprache geschrieben. Die deutsche Pädagogik hat ihn von jeher als zu ihr gehörig betrachtet, und auch das Ausland hat in ihm stets einen deutschen Pädagogen gesehen.
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Rousseau, der Utopie der Hofmeistererziehung nach, sondern preist in beredter Weise die Familienerziehung und will es durch seinen Versuch der Vereinfachung des Unterrichts dahin bringen, daß die Erziehung des Kindes zum größten Teil in die Hände der Mutter und der Familie gelegt werden kann (3). Gabriel Compayré (4), der in-Rousseau den großen Anreger Pestalozzis sah, hat bereits in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts herausgestellt, worin der letztere mit dem ersteren übereinstimmt und worin er sich von jenem unterscheidet. An Ubereinstimmungen hebt er besonders hervor: Pestalozzi glaubt wie Rousseau an die ursprüngliche Güte des Mensdien, insbesondere des kleinen Kindes („que l'enfant est bon") (5) ; er lehnt, wie jener, allen dogmatischen Religionsunterricht ab, fordert die Verbindung von Handarbeit und Studium in der Jugenderziehung und verachtet das bloße Lernen aus Büchern 0éducation livresque). Aber in manchen anderen Punkten steht er in Gegensatz zu Rousseau: So lehnt er Rousseaus Streben, das Wissen durch Fragen aus den Schülern herauszuholen, ab. Und als Tobler eines Tages vor ihm diese Methode lobt und sich für sie auf das Beispiel des Sokrates beruft, erwidert ihm Pestalozzi nach Compayré: „Socrate interrogeait des gens qui déjà possédaient abondamment de quoi répondre..." (6). Auch erkannte er nicht die Unterschiede an, die der Verfasser des Émile zwischen den verschiedenen Lebensabschnitten des Kindes "behauptete, vor allem nicht, daß für jeden derselben ein spezifischer Willensbeweger (Motiv) wirksam sei, sondern appellierte beim Kinde jedes Alters „à son coeur, à sa raison, à son âme" (7). Der wesentlichste, auch von den Franzosen (8) gesehene Unterschied zwischen Pestalozzi und Rousseau aber besteht darin, daß er nicht wie dieser in der Theorie steckenbleibt, daß er nicht irgendwelche Ideen vertritt, ohne gleichzeitig ihre Anwendungsmöglichkeit zu prüfen, daß er sich nicht wie Rousseau mit einer platonischen Menschenfreundlichkeit zufrieden gibt, die sich nur in schönen Worten offenbart, sondern ein Mann der Tat ist. Wegen dieser Selbständigkeit Pestalozzis wird man auch da, wo seine Ideen mit denen Rousseaus übereinstimmen, nicht ohne weiteres und mit Sicherheit seine Abhängigkeit von diesem behaupten dürfen. Wohl aber wird man sagen dürfen, daß infolge der Verwandtschaft mancher ihrer Ideen das mit Rousseaus Gedankengängen vertraute Frankreich auch für die Aufnahme pestalozzischer Anschauungen vorbereitet war. Diese gelangten auf verschiedenen Wegen dorthin. Einmal durch seine Schriften. So wurde z. B. Lienhard und Gertrud zum erstenmal im Jahre 1783 und zum zweitenmal 1826 ins Französische übersetzt (9). Guillaume allerdings kritisiert beide Übersetzungen, nicht etwa wegen mangelnder Befähigung der Übersetzer für ihre Aufgabe, „mais parce qu'elle entreprenait une tâche impossible: Léonard et Gertrud est un livre intraduisible" (10). Zu den Lesem der ersten Übersetzung gehörte möglicherweise auch der französische Dichter Maria Joseph Chenier, der am 24. August 1792, von mehreren Schriftstellern begleitet, in der französischen Nationalversammlung dafür eintrat, eine Reihe
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von Ausländern, „die die Fundamente der Tyrannei untergraben und der Freiheit den Weg geebnet hätten, als Verbündete des französischen Volkes zu erklären und ihnen das Bürgerrecht zu schenken, damit sie bei den bevorstehenden Wahlen in den Konvent kandidieren könnten". Unter den von Chenier genannten Namen befand sich neben Priestley, Bentham, J . H. Campe, Washington, Klopstock, Kosciusko und Schiller auch der Pestalozzis, „dieses Landmannes, der der schweizerischen Aristokratie getrotzt und in seinen Werken die mißachteten Rechte des helvetischen Volkes gefordert" (11) hatte. Die Anregung fiel auf fruchtbaren Boden, und zwei Tage später, am 26. August, faßte die Legislative den Beschluß, der achtzehn Ausländern, darunter auch Pestalozzi, das französische Bürgerrecht verlieh. Wer die näheren Umstände dieser Verleihung des Bürgerrechts an Pestalozzi nicht kennt, ist versucht anzunehmen, daß Pestalozzi in Frankreich damals schon weithin bekannt gewesen sei, daß die Ehrung ihm als Pädagogen gegolten und Unterstützung und freudigen Widerhall bei zahlreichen französischen Anhängern gefunden habe. In Wirklichkeit trifft aber keine dieser Annahmen zu. Die Ehrung galt Pestalozzi nicht als Pädagogen, sondern als Politiker. Die hinter ihr stehende treibende Kraft waren nicht französische Pestalozzianer, sondern wahrscheinlich eine einzelne Persönlichkeit, ein Jugendgenosse Pestalozzis mit Namen Johann Kaspar Schweizer, der 1785 Zürich verlassen, Paris zu seinem Wohnsitz gemacht und nach Ausbruch der Revolution sofort lebhaft für sie Partei ergriffen hatte. Aber sicherlich lenkte diese Auszeichnung die Aufmerksamkeit der breiten französischen Öffentlichkeit auf Pestalozzi und gab hier und da auch wohl Veranlassung, sich mit ihm zu beschäftigen und den Pädagogen zu entdecken. Dazu kam noch eine zweite, von Guillaume gekennzeichnete Wirkung: „Le résultat de la distinction dont Pestalozzi avait été Tobjet de la part de f Assemblée nationale fut de diriger son attention vers la France" (12). Frankreich wurde jetzt gleichsam des großen Pädagogen zweites Vaterland, und er versuchte nun dort audi mit seiner Pädagogik Wurzeln zu schlagen (13). Und als er später Paris besuchte, tat er es in der Hoffnung, dort für die Aufnahme seiner Pädagogik erfolgreich eintreten zu können. Diese Hoffnung hatte einige Berechtigung, da er damals in Paris einzelne gute Freunde hatte, z. B. den schweizerischen Gesandten Stapfer (14). Dieser hatte bereits den französischen Innenminister Chaptal auf Pestalozzi hingewiesen und ihn dafür zu gewinnen gesucht, daß er junge Franzosen zum Studium der Methode zu Pestalozzi sandte. Da Pestalozzi von der Antwort Chaptals: „Laßt drucken und wir werden prüfen" gehört hatte, sandte er an Stapfer eine Darlegung der Grundzüge seiner Methode und verfaßte für seine Pariser Freunde eine Schrift über „Wesen und Zweck der Methode", von der Heubaum (15) sagt, daß sie seine Ansichten, „trotz der Eile und Unruhe", in der sie niedergeschrieben wurde, „in schöner und durchsichtiger, alle wichtigen Punkte klar heraushebender Form darlegte, wie es vorher nicht geschehen war". Als aber Pestalozzi als Mitglied der im November
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1802 gewählten Schweizer Delegation nach Paris kam, ging seine Hoffnung nicht in Erfüllung. Als er versuchte, bei dem ersten Konsul eine Audienz zu erhalten, soll dieser mit den Worten: „qu'il ne pouvait s'occuper de l ' A B C " abgelehnt haben (16). Ja, das Journal de Paris behandelte ihn als eine Art Charlatan, so daß Pestalozzi ziemlich entmutigt von Paris nach Burgdorf zurückkehrte. Mehr Erfolg in der Werbung für die Methode Pestalozzis in Frankreich hatten einzelne Herolde pestalozzianischer Praxis. Einer der ersten war der 1770 geborene Elsässer Joseph Neef (17), der durch seine Verwundung gezwungen worden war, die Soldatenlaufbahn aufzugeben und sich aus dem Heer. Napoleons zurückzuziehen. Er, der ursprünglich Geistlicher hatte werden wollen, wandte sich jetzt der Pädagogik zu. Er war bald so von Pestalozzis Ideen begeistert, daß er ein Jahr nach der Gründung der Schule in Burgdorf dort als Lehrer für Musik, Französisch und Leibesübungen eintrat. Während seiner Tätigkeit erwarb er sich trotz einer gewissen äußeren Rauheit durch seine Güte die Herzen seiner Schüler. Pestalozzi sandte ihn später, da er mit der französischen Sprache vertraut war, zur Leitung eines Waisenhauses nach Paris. Aber die Franzosen brachten der Anstalt mit der neuen Methodik wenig Interesse entgegen. Napoleon allerdings, der die Schule einmal besuchte, war von ihrem System und ihren Resultaten sehr befriedigt. Neef, der uns übrigens später noch einmal als Vermittler des Pestalozzianismus nach USA. begegnen wird, wies auch literarisch auf Pestalozzi hin (18). Ein weiterer Versuch, die Methode Pestalozzis in Frankreich einzubürgern, wurde 1808 durch den Philosophen Maine de Biran gemacht (19). Am 1. August 1807 sandte dieser Philosoph, den Victor Cousin einmal „le plus grand des métaphysiciens français depuis Malebranche" nannte, als Sous-préfet de Bergerac einen Brief an den bereits erwähnten Stapfer, dessen Bekanntschaft er in Paris gemacht hatte, in dem er ihm mitteilt, daß er in seinem Departement eine neue Schule (un nouvel établissement d'instruction) begründen wolle, für die er Pestalozzi um einen Lehrer aus seinen Schülern gebeten habe, der zugleich den Auftrag übernehmen sollte, andere Lehrer auszubilden, die er ihm nach und nach aus den verschiedenen Gemeinden des von ihm verwalteten Bezirks zuschicken werde. Stapfer antwortete bereits am 20. August 1807. Unter anderm schreibt er (20) : „Je vous dois comme Suisse et ami de M. Pestalozzi des remerciements particuliers pour le suffrage et l'appui, que vous voulez bien accorder à sa méthode. L a F r a n c e a u j o u r d ' h u i e s t le s e u l p a y s c i v i l i s é q u i n ' a v a i t p a s e n c o r e tâché de se l ' a p p r o p r i e r , et l'exempl e d'un h o m m e a u s s i d i s t i n g u é q u e v o u s p a r s e s l u m i è r e s et s o n m é r i t e a i d e r a p u i s s a m m e n t à l'y f a i r e a d o p t e r e n f i n . " Nach mehrmaligem Briefwechsel zwischen Maine de Biran und Pestalozzi erschien dann ein Schüler des letzteren mit Namen Barraud, unter dessen Leitung eine école pestalozzienne eröffnet wurde (21). Barraud nahm sich bei der Einrichtung dieser Schule die Anstalt in Burgdorf zum Muster. Da er aber, wie Pestalozzi selbst einmal ausgesprochen hat, wenig 6
S c h n e i d e r , Pädagogik.
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Erfahrung in der neuen Methode hatte, unterschied sich seine Schule bald nicht wesentlich von den anderen französischen Sdiulen. So ist es audi zu erklären, daß sie, obwohl sie bis 1881 bestand, ohne Einfluß auf die französische pädagogische Entwicklung geblieben ist. Stapfer sprach sich Pestalozzi gegenüber schon 1809 brieflich über den Fehlschlag dieses Versuches aus und äußerte sich überhaupt ziemlich hoffnungslos über die Möglichkeit der Einbürgerung seiner Methode in den französischen Schulen. „Aussi pour le moment, ne vois-je aucune possibilité, pas même l'ombre d'une probabilité d'acclimater la méthode en France" (22). Später ist es zwischen Maine de Biran und unserem Pädagogen auch zu einer persönlichen Berührung gekommen. Auf einer Schweizer Reise, die der erstere im August und September 1822 unternahm, besuchte er zunächst Fellenberg und darauf Pestalozzi in Yverdun; aber leider hatte sich dort die Lage seit 1807 wesentlich geändert. Man war in der Periode, die M. de Guimps unter der melancholischen Überschrift „l'agonie de l'institut d'Yverdon" beschrieb. Aber auch die unguten Eindrücke, die der französische Philosoph in der Anstalt empfing, konnten den Eindruck, den er von der Persönlichkeit Pestalozzis erhielt, nicht beeinträchtigen. Er brachte das auch zum Ausdruck: „On ne pouvait être entré en rapports avec ce noble vieillard sans conserver pour lui des sentiments d'amour et de respect." Naville hat übrigens die Anziehung, welche die Ansichten Pestalozzis auf Maine de Biran ausübte, zu erklären versucht durch Hinweis auf die Verwandtschaft zwischen der Grundlage der pestalozzischen Methode, dem inspirierenden Prinzip all seiner Unternehmungen, und dem wesentlichen Charakterzug der Philosophie Maine de Birans (23). Es ist daher berechtigt anzunehmen, daß Maine de Biran trotz des mißglückten Versuches, eine école pestalozzienne auf französischem Boden zu begründen, in seinem engen und weiteren Verkehrskreise auf Pestalozzi und sein Werk öfter hingewiesen hat. In gleicher Richtung wirkte Jullien, ein höherer französischer Offizier, der im Jahre 1810 auf dem Wege nach Italien Pestalozzi in Yverdun im1 Auftrage des französischen Innenministers de Montalivet besuchte und sich zwei Monate bei ihm aufhielt. Seine dortigen Erfahrungen verarbeitete er in Italien zu einem Buche (24), das er in französischer Sprache in Mailand herausgab und das sicherlich auch in Frankreich gelesen wurde. „Auf die glückliche Methode des berühmten, biederen und geistreichen Pestalozzi" wurden die Franzosen auch durch Charles de Villers in seinem Buch „Uber die Universitäten und öffentlichen Unterrichtsanstalten im protestantischen Deutschland, insbesondere im Königreich Westfalen" (24b) aufmerksam gemacht. De Villers war früher französischer Offizier und später Göttinger Universitätsprofessor in französisch-westfälischen Diensten und kannte Deutschland und sein Schulwesen aus seinem langjährigen Aufenthalt daselbst. Erneut auf Pestalozzi hingewiesen wurden die Franzosen durch Frau von Staëls Buch über Deutschland (De l'Allemagne). Dieses Buch, dessen erste 1810 erfolgte Ausgabe auf Befehl Napoleons eingestampft wurde und das 1813 in London und 1814 in Paris neu erschien, öffnete den französischen Geist wie für
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die deutsche Dichtung und Philosophie so auch für die deutsche Pädagogik. Im neunzehnten Kapitel macht die Verfasserin ihre Landsleuté eindringlich auf Pestalozzi und gegen Ende des Kapitels auch auf Fellenberg aufmerksam. Sie bezeichnet die Schule Pestalozzis als „une des meilleures institutions de notre siècle" und sieht in ihr das vielleicht erste Beispiel dafür, „qu'une école de cent cinquante enfants va sans le ressort de l'émulation et de la crainte" (25). Auch sie hebt einen wesentlichen Unterschied zwischen Rousseau und Pestalozzi hervor: „Rousseau a dit que Ton fatiguait la tête des enfants par les études que l'on exigeait d'eux; Pestalozzi les conduit toujours par une route si facile et si positive, qui'il ne leur en coûte pas plus de s'initier dans les sciences les plus abstraites, que dans les occüpations les plus simples" (26). Trotzdem hält sie sich frei von einer Überschätzung der pestalozzischen Methode. W i e alles wahrhaft Gute, so erklärt sie, ist auch sie keine ganz neue Entdeckung, wohl aber eine erleuchtete und beharrliche Anwendung bereits bekannter Wahrheiten (27). Nach ihrer Ansicht haben ihre Landsleute Unrecht und unterschätzen Pestalozzi, wenn sie glauben, von ihm nichts anderes lernen zu können, „que sa méthode rapide pour apprendre à calculer" (28). Sie hebt auch ausdrücklich hervor, daß man das Institut Pestalozzis nicht dadurch nachahmen könne, daß man bloß seine Unterrichtsmethode nach Frankreich übertrüge. Sondern man müsse mit ihr verbinden „la persévérance dans les maîtres, la simplicité dans les écoliers, la régularité dans le genre de vie, enfin surtout les sentiments réligieux qui animent cette école". Besonders lobend hebt sie hervor, daß Pestalozzi die Musik in seine Schule eingeführt hat (29). Frau von Staël hat auch das Wesentliche der Pestalozzischen Methoden richtig erkannt und hervorgehoben, nämlich daß seine Methode die Kinder alles selbst finden läßt und das unterrichtliche Fortschreiten der kindlichen Entwicklung anpaßt, so daß die durch sie vermittelte Bildung jedem Menschen, welchem Stande er auch angehört, eine Grundlage gibt, auf die er dann nach Belieben eine armselige Hütte oder einen königlichen Palast aufbauen könne (29b). Die Wirkungen dieses weithin sichtbaren Hinweises auf Pestalozzi blieben nicht aus. Der Minister Carnot veranlaßte einen Besuch von Cuvier in Yverdun, der darüber einen Bericht veröffentlichte. Maine de Biran besuchte, wie wir bereits hörten, Pestalozzi ebenfalls in Yverdun, wo er zu finden glaubte, daß Pestalozzi von einem seiner Lehrer, Schmid, übertroffen wurde. Nach der Auflösung der Schule in Yverdun wurde dieser Schmid 1830 mit fünf anderen Lehrern an das Institut Morin de Paris berufen. 1822 hatte Professor Boniface, der in Yverdun 15 Jahre in französischer Sprache unterrichtet hatte, bereits eine Pestalozzischule in Paris begründet. Von jetzt an riß das Interesse für Pestalozzi in Frankreich nie mehr ganz ab, und seine Ideen fanden, wenn auch bescheidenen, praktischen Niederschlag, bis in das französische Volksschulwesen hinein. So ist die Fächerauswahl für die Volksschule im Statut vom 25. April 1834 nicht wie in den Zeiten der großen 6*
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Revolution mit Rücksicht auf den späteren Beruf, sondern auf die allgemeine Menschenbildung, diesen pestalozzianischen Grundgedanken, erfolgt. Das zeigt, worauf Pokrandt (30) aufmerksam macht, deutlich die Begründung des Gesetzes: „Sie spricht nicht von den praktischen Bedürfnissen des Berufes, sondern davon, daß die Kinder durch den Unterricht geistig und sittlich gebildet werden sollten. Es ist hier der einzige Punkt, wo etwas von dem Geiste Pestalozzis, wenn auch nicht unmittelbar von Pestalozzi aus der Schweiz, sondern auf dem Umweg über den preußischen Schulgesetzentwurf, der durch Cousin in Frankreich bekannt geworden war, in die französischen Primärschulen gedrungen ist." Etwas vom Geiste Pestalozzis gelangte auch in die französische Pädagogik durch zwei Pädagoginnen des 19. Jahrhunderts, durch Madame Necker de Saussure (1765—1841) und Madame Pape-Carpentier ( 1 8 1 5 — 1 8 7 8 ) . Die erstere war nur theoretische Pädagogin, stammte, wie Rousseau, aus Genf und ist in der französischen Pädagogik wohl als „en quelque sorte un Rousseau chrétien" bezeichnet worden. Sie war eine Verehrerin der Madame de Staël und ihres Werkes über Deutschland (31) und hat aus ihm manche Anregungen empfangen und weitergegeben, auch die Hochschätzung Pestalozzis (32). Madame Pape-Carpentier war eine praktische Pädagogin, die 27 Jahre lang ihre Methode anwandte an der in Paris 1847 von ihr begründeten Ecole maternelle normale, die im Jahre 1848 unter dem Minister Carnot ein établissement public wurde und 1852 unter dem Minister Fortoul die endgültige Bezeichnung „Cours pratique des salles d'asile" erhielt. Nach einer kurzen Zeit der Ungnade wurde Madame Pape-Carpentier später sogar zur „Inspectrice générale des salles d'asile" ernannt. Durch die von ihr seit 1846 publizierten „Conseils sur la direction des salles d'asile" und durch über 1500 von ihr ausgebildete Schüler verbreitete sie ihre pädagogischen Ideen, die von Pestalozzi und Fröbel beeinflußt waren. Madame Pape-Carpentier „peut être considérée — sagt J . Compayré — comme une élève de Pestalozzi et de Froebel" (33). Compayré sieht die französische Pädagogik des ganzen 19. Jahrhunderts unter dem Namen Pestalozzi, weil dieser mit dem Ende seines Lebenslaufes und „surtout par la gloire posthume de son nom" diesem Jahrhundert angehört und weil zwei andere in Frankreich einflußreiche Pädagogen, Fröbel und Girard, l'un et l'autre, à des dégrès divers et avec des tendences personnelles, continuent l'oeuvre de Pestalozzi" (34). Eine eindringende Beschäftigung mit Pestalozzis Schriften war aber in Frankreich trotz der Anerkennung seiner pädagogischen Bedeutung nicht allzu häufig. Man wird an die bekannten Verse Lessings über Klopstock, den alle loben, aber doch nur wenige lesen, erinnert, wenn man bei Compayré (35) von Pestalozzi liest, „qu'il est plus vanté que connu, plus célébré qu'étudié, dans notre pays au moins", obwohl ziemlich viele französische Aufsätze und auch einzelne Bücher über den großen Pädagogen erschienen. J . Guillaume konnte im Vorwort seiner 1890 herausgegebenen Biographie (36) noch schreiben: „Pestalozzi tient le premier rang parmi ceux qui ont con-
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tribué à fonder la pédagogie moderne. Des livres nombreux ont été publiés, dans toutes les langues, mais surtout en allemand et en français, sur sa personne et sa doctrine." Und die von ihm im Anhang des Buches gegebene Bibliographie (S. 437—453) beweist die Richtigkeit seiner Behauptung. Der Reichtum französischer Literatur über Pestalozzi erklärt sich zum Teil wohl aus der geographischen Nachbarschaft des Heimatlandes Pestalozzis und auch daraus, daß die Schweiz selbst einen französischen Teil hat. Charakteristisch für die Anstalt Pestalozzis in Ifferten war daher, daß darin — was die Läge des Ortes mit sich brachte — das französische Element stark vertreten war und daß der Unterricht sowohl in deutscher wie in französischer Sprache erteilt wurde (37). Charakteristisch ist in dieser Beziehung ferner, daß der Bericht der auf Antrag Pestalozzis nach Ifferten gesandten Prüfungskommission (die im November 1809 sechs Tage in Ifferten weilte), und der im Mai 1810 der Tagsatzung überreicht wurde, in französischer Sprache abgefaßt war, dem allerdings eine deutsche Ubersetzung beigegeben wurde. Um diesen Bericht weiteren, für das Erziehungswesen interessierten Kreisen zugänglich zu machen, wurde er gleich in französischer und in deutscher Sprache gedruckt (38). Durch das ganze 19. und ebenso in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erschienen Arbeiten über Pestalozzi aus französischen Federn. Zu den wichtigsten gehören außer den im Text bereits herangezogenen Schriften: Dan. Alex. Chavannes, Exposé de la Méthode élémentaire de Hemy Pestalozzi, suivi d'une Notice sur les travaux de cet Homme célèbre, son Institut et ses principaux Collaborateurs. Paris 1805. Eine Neuausgabe erschien in Paris und Genf 1809. G. M. Raymond, Lettres sur rétablissement d'éducation d'Yverdun, fondé et dirigé par M. Pestalozzi, 1814 (ohne Angabe des Erscheinungsortes) . J. Paroz, Pestalozzi, sa vie, sa méthode et ses principes. Bern 1837. Roger de Guimps (der Sohn der Übersetzerin von „Lienhard und Gertrud", und alter Schüler des Instituts von Yverdun) veröffentlichte im „Journal d'Yverdon" „Notice sur la vie de Pestalozzi". Die Abhandlung kam auch als Sonderdruck in der Druckerei von Trachsel in Yverdon und später unter Verwertung der weiteren Ergebnisse der Pestalozziforschung unter dem Titel: „Histoire de Pestalozzi, de sa pensée et de son oeuvre" in Lausanne heraus. Im Jahre 1847 erließ die Académie des sciences morales et politiques in Paris ein Preisausschreiben (le prix Felix de Beaujour) über die Aufgabe: „ L'examen critique du système d'instruction et d'éducation de Pestalozzi, considéré principalement dans ses rapports avec le bien-être et la moralité des classes pauvres". Das Ergebnis waren drei Arbeiten. Die Verfasser der beiden ersten mußten sich in den Preis teilen, der Verfasser der dritten erfuhr eine ehrenvolle Erwähnung. Die erste Arbeit, die aus der Feder von Rapet stammte, wurde nicht veröffentlicht. Ihr Manuskript wird im Musée pédagogique in Paris aufbewahrt.
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Der Verfasser der zweiten Arbeit war Augustin Cochin. Sie ersdiien 1848 in der imprimerie Bailly, Divry et Cie in Paris unter dem Titel „Essai sur la vie, les méthodes d'instruction et d'éducation et les établissements d'Henry Pestalozzi" in erster und 1880 in zweiter Auflage. Die dritte Arbeit stammte von J. P. Pompée. Sie erschien mit dem Titel „Etudes sur la vie et les travaux de J. H. Pestalozzi" 1850 bei Perrotin in Paris in erster und 1878 durch Léon Chateau, den Schwiegersohn von Pompée, besorgt, in zweiter Auflage. 1853 gab Mlle Cornélie Chavannes, die Tochter des bereits erwähnten Dàn. Alex. Chavannes, allerdings ohne Namennennung, in Lausanne bei Georges Bridel eine, „Biographie de Henry Pestalozzi" heraus. 1874 veröffentlichte Rud. Rey in der Bibliothèque universelle et Revue Suisse in Lausanne: Pestalozzi, sa pensée et son oeuvre". 1886 ersdiien in Paris „Pestalozzi, élève de J. J. Rousseau" von F. Hérisson, 1919 in Louvain in Belgien „Pestalozzi et Herbart" von De Hovre, 1927 in Paris „Vie de Pestalozzi" von Albert Maldi, in demselben Jahr und am gleichen Verlagsort „Le grand coeur maternel de Pestalozzi. Suivi d'extraits de lettres, inédites en français, de Jean Henri Pestalozzi aux jeunes mères", 1928 in Paris „Pestalozzi. Sa vie et sa méthode" von Codiin, Denis und 1930 in Lausanne „Henry Pestalozzi. Un grand ami du peuple" von Jules Laurent. Für die Stärke des französischen Interesses an Pestalozzi spricht auch der Umstand, daß das Musée de Pédagogie in Paris eine der ersten europäischen Pestalozzibibliotheken enthält. Dieses Interesse, das durch die Jahrhundertfeier des Todes von Pestalozzi im Jahre 1927 neu auflebte, hat seinen Gegenstand im Laufe der Zeiten etwas gewandelt. In den ersten Jahrzehnten war es in der Hauptsache auf die Methode, später mehr auf die Persönlichkeit Pestalozzis gerichtet. Erst gegen Ende des Jahrhunderts erkennt man in Frankreich die ganze Größe der Persönlichkeit Pestalozzis, der der französische Geschichtsschreiber Michelet begeistert huldigt. Jetzt konnte die Gestalt Pestalozzis auch als Vorbild für den Berufserzieher empfunden werden, und von ihr konnten Anstöße zu einer idealen Auffassung und Ausfüllung des Lehrer- und Erzieherberufes ausgehen, die allerdings im einzelnen nicht nachweisbar sind. Gleichfalls nicht exakt nachweisbar, aber doch wahrscheinlich, ist eine Einflußnahme Pestalozzis über den Rahmen der Schule hinaus auf die Familie. Pestalozzi hat, wie kaum ein Pädagoge vor ihm, die Bedeutung der Familienerziehung, den Anteil der Mutter an ihr und die Macht der Erziehungsmittel der Wohnstube hervorgehoben. Nun ist die Erziehung in Frankreich mehr als in irgendeinem anderen europäischen Lande Familienerziehung (39). Die Rolle der Mutter ist dort wichtiger als die der Schule. Gewiß macht sich in diesem Sachverhalt die Nachwirkung der patriarchalisch-römischen Auffassung des 17. Jahrhunderts geltend. Aber es ist anzunehmen, daß Pestalozzis Einfluß half, diese französische Einstellung zu erhalten und zu kräftigen.
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Audi die Einrichtung des französischen Volksschulwesens und der französischen Lehrerbildung steht wenigstens mittelbar unter der Einwirkung der von Pestalozzi ausgehenden Kräfte; denn sie geschah, wie wir später noch sehen werden, nach dem Vorbild der preußischen Schulverhältnisse, und diese waren weithin abhängig von der pestalozzischen Ideenwelt. Von Frankreich gingen auch nach anderen Ländern Anregungen zur Beschäftigung mit der Pestalozzischen Pädagogik aus, z. B. nach England. Dort zeigte sich gerade in dieser Zeit, im Anfang des 19. Jahrhunderts, ein stärkeres Interesse für die Frage der Volkserziehung, und es ist daher anzunehmen, daß man infolgedessen auch besonders zugänglich für ausländische pädagogische Anregungen gewesen ist. Dieses erhöhte pädagogische Interesse in England war in der Hauptsache von Andrew Bell (1753—1832) und John Lancaster (1778—1838), den Erfindern des Monitorensystems, angefacht worden, von denen der erste audi einen flüchtigen Besuch in Pestalozzis Institut gemacht hatte, allerdings ohne dabei tiefer beeindruckt zu werden. Vor ihm war schon ein anderer bekannter englischer Erzieher mit Pestalozzi zusammengetroffen, nämlich Richard Lovell, und zwar 1803 in Paris. Wie wenig er ihn aber erfaßte, beweisen spätere Äußerungen über ihn (40). Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, zumal nach dem Abschluß des Wiener Kongresses, unternahmen manche englischen Erzieher eine kontinentale pädagogische Studienreise, auf der sie Pestalozzi und Fellenberg aufsuchten (41). Unter den ersten scheint der Ire Synge von Glanmore Castle Wiclow gewesen zu sein, der dann audi zwei Schriften (42) über Pestalozzi veröffentlichte, die zur Verbreiterung des Interesses für den deutschen Pädagogen beitrugen. Es folgten Brougham, der ebenfalls Hofwyl und Ifferten aufsuchte (43) und darüber 1818 einen Bericht vor einem Komitee des Unterhauses abstattete, Robert Owen und Sir James Kay-Shuttleworth, die 1819 längere Zeit in Ifferten weilten, ferner der englische Geistliche und Vorsteher einer Grammar School Charles Mayo, der durch Synge von Pestalozzi gehört hatte. Er kam 1819 mit einigen Schülern nach Ifferten und blieb drei Jahre als englischer Kaplan dort. Nach seiner Rückkehr nach England 1822 setzte er sich für die Einführung der Pestalozzipädagogik in sein Vaterland ein, indem er in Epsom eine für die Kinder höherer Klassen bestimmte Schule im pestalozzischen Geiste begründete, die später nach Cheam (Surrey) verlegt wurde, und femer dadurch, daß er in mehreren Schriften (44) für Pestalozzi eintrat (45). Unter den englischen Besuchern befand sich auch James Pierpoint Greaves (46). Dieser war ursprünglich Kaufmann gewesen und hatte sich erst nach dem Zusammenbruch seiner bürgerlichen und kaufmännischen Existenz mit sozialen und pädagogischen Fragen beschäftigt. Dabei war er mit Pestalozzis Ideenwelt bekannt geworden. Das wurde für ihn Veranlassung, ihn im Jahre 1817 als Mann von vierzig Jahren zu besuchen. Obwohl Pestalozzi nicht englisch und er nicht deutsch sprach, verkehrte er täglich mit ihm und begeisterte sich so für Pestalozzis Persönlichkeit und Werk, daß er den englischen Unterricht der Zöglinge Pestalozzis
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übernahm. Wie eng das Verhältnis zwischen beiden geworden war, zeigt sich darin, daß Pestalozzi an Greaves vom 1. Oktober 1818 bis zum 12. Mai 1819 in kurzen Abständen Briefe schrieb, in denen er seine pädagogischen Grundsätze in möglichster Vollständigkeit auseinandersetzte (47). Da Greaves kein Deutsch verstand, wurden sie, damit er sie lesen konnte, von einem Deutschen namens Worms ins Englische übersetzt und mit einer nach Heubaums Urteil etwas inhaltsleeren und auch von Irrtümern nicht freien Vorrede von 38 Seiten über Pestalozzis Schicksal unter dem Titel „Letters on early education" 1827 in London veröffentlicht. 1829 erschienen die Briefe auch im „American Journal of Education", 1830 in Buchform. Eine neue Auflage, von C. W . Bardeen besorgt, erschien in Syracuse N. Y. noch im Jahre 1898. Durch diese Briefe von Greaves wurde auch Nordamerika zuerst mit den Ideen Pestalozzis näher bekannt. Aber trotz der Bemühungen aller dieser Männer fanden die pestallozianischen Ideen in das englische pädagogische Denken wenig, in die Praxis fast gar keinen Eingang. Das ist erklärlich. Sie waren unbestreitbar stark vom Gefühl getragen. Der Engländer aber zeigt mehr Aufnahmebereitschaft und Empfänglichkeit für pädagogische Ideen, die an den Verstand appellieren. Auch der damalige starke Einfluß von Bell und Lancaster verhinderte die Auswirkung der Anschauungen Pestalozzis. Diese sahen als Hauptaufgabe der.Erziehung, wie ihre Vorgänger, noch immer das übertragen des äußeren Kulturgutes auf die wie Wachs formbare kindliche Seele an. Damit war natürlich der pestalozzische Gedanke der kindlichen Eigenentwicklung unvereinbar. Die Bemühungen des Pestalozzianers Adeermann, Bell und Lancaster nach 1815 für Pestalozzis Ideen zu interessieren, hatten keinen Erfolg (48). Man darf bei Abschätzung der Wirkung Pestalozzis auf die englische Pädagogik auch nicht aus den Augen lassen, daß es nur einige wenige englische Pädagogen waren, die mit Pestalozzi in persönliche Berührung kamen, und daß auch die Zahl derjenigen, die die Originalschriften Pestalozzis in deutscher Sprache oder in englischer Übersetzung studierten, klein gewesen sein wird. Zahlreicher werden die Leser englischer Literatur über Pestalozzi gewesen sein, die im zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erschien (49). Aber auch ihre Zahl darf bei den damaligen hohen Preisen für pädagogische Bücher nicht auf Grund heutiger Erfahrungen geschätzt werden. Audi sie war beschränkt. Am größten wird die Zahl der englischen Erzieher gewesen sein, denen Pestalozzi nur mündlich und daher lückenhaft, persönlich gefärbt und unter Bevorzugung des unmittelbar praktisch Verwertbaren nahegebracht wurde. Der letzte Umstand wurde noch dadurch verstärkt, daß die Pestalozzischen Ideen besonders für die Kleinkinderschulen „von Männern aufgenommen wurden, die Laien im pädagogischen Sinne waren und deren praktisches Interesse größer war als ihr theoretisches (50). Dreßler bringt in seiner Geschichte der englischen Erziehung einige Beispiele dafür, daß Pestalozzi auf englische praktische Pädagogen eingewirkt und seine Ideen sich in ihren Schulen ausgewirkt haben.. So führt
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er z. B. die starke Betonung der Selbsttätigkeit der Schüler in der Hazel-woodSchool der Gebrüder Rowland und Matthew Hills auf Pestalozzis Einflüsse zurück (51), und ebenso wesentliche methodische Grundsätze des „founder of English populär education", des schon genannten Sir James Kay-Shuttleworth (52). Audi die damals unter den englischen Pädagogen wachsende Einsidht in die Notwendigkeit einer besonderen Lehrerbildung führt Dreßler auf Pestalozzi und Fellenberg zurück. In einer gewissen Abhängigkeit von Pestalozzi steht auch der schon mehrfach erwähnte Samuel Wilderspin, den zuerst John Leitdi Holman als den englischen Pestalozzi bezeichnete. A. Paterson läßt diese Charakterisierung gelten, wenn man mehr an die der Pestalozzischen ähnliche Hingabe Wilderspins im Dienst unterdrückter Kinder als an die Ähnlichkeit der Ideen denkt, aber erklärt die Bezeichnung als ungerechtfertigt, wenn man damit andeuten will, daß Wilderspin seinem Vaterland in ähnlicher Weise große pädagogische Gesichtspunkte gegeben habe, wie Pestalozzi Deutschland, ja der ganzen pädagogischen Welt. Paterson hebt folgende vier Übereinstimmungen zwischen der Pädagogik Wilderspins und der Pestalozzis hervor, bei denen sie Einfluß Pestalozzis annehmen zu müssen glaubt: 1. Die Betonung der Notwendigkeit einer dreifachen Erziehung (einer moralisch-religiösen, einer geistigen und einer körperlichen) und die Forderung einer Entwicklung aller Fähigkeiten oder geistigen Kräfte. 1. Der Versuch, den Unterricht auf Anschauung zu gründen, also durch Naturgegenstände zu unterrichten*). 3. Die Einführung der Wortlehre, der Sprechübungen und der Formenlehre, allerdings nicht im pestalozzischen Zusammenhang, sondern als neue Lehrfächer, ohne Zusammenhang mit den anderen. 4. Die analytische Unterrichtsmethode, die im Zergliedern des Unterrichtsstoffes durch Frage und Antwort besteht. Alice Paterson weiß natürlich, daß Übereinstimmung der Ansichten zweier Pädagogen noch nicht ohne weiteres Abhängigkeit des Jüngeren vom Älteren bedeutet. Aber Wilderspin stand in enger Verbindung mit Männern, die Yverdun besucht hatten, mit Brougham, Owen, Mayo und vor allem mit Greaves, so daß er von Pestalozzis Ideen gar nicht unberührt bleiben konnte und die an Greaves gerichteten Briefe Pestalozzis gekannt haben muß. Und wenn sich daher in seinem Werk „Early discipline" (London 1932) Stellen finden, die im Ausdruck an die Briefe erinnern, oder wenn eine andere seiner Schriften (Hints to Mothers) fast wie ein Auszug aus einigen Briefen erscheint, und wenn sich außerdem eine Übereinstimmung in grundlegenden Gedanken findet, dann ist doch die Annahme der Abhängigkeit natürlich und naheliegend, während die Behauptung der Selbständigkeit und Originalität allzu gewagt erscheint (53). *) Diese Methode wurde durch Mayo von Pestalozzis Anstalt nach England importiert.
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Audi der englische Philosoph und Pädagoge Herbert Spencer (1820 bis 1903), dessen 1861 veröffentlichte und bis 1890 dreiundzwanzigmal wieder aufgelegte Abhandlung über die Erziehung eine offensichtliche Verehrung der pestalozzisdhen Unterrichtsmethode zeigte, wird nicht ohne Einfluß auf die Einstellung der englischen pädagogischen Öffentlichkeit geblieben sein. Dreßler ist allerdings der Ansicht,. daß die von Spencer ausgehende Werbung für Pestalozzi von geringer Kraft gewesen und von den Ausländern, die in der Regel nicht wußten, daß Spencers Gedanken „mit wenigen Ausnahmen von der englischen Lehrerwelt abgelehnt" (54) wurden, überschätzt worden sei. Nadi seiner Ansicht blieb für die Organisation des englischen Elementarunterrichts Pestalozzis Pädagogik ohne Bedeutung und für die Masse der englischen Lehrer der große Pädagoge nur ein „idealistic dreamer" (55). W i r haben bereits zwei Wege kennengelernt, auf denen Pestalozzis Pädagogik nach USA. kam, die englische Ubersetzung des Deutschlandsbuches der Frau von Staël und die an Greaves gerichteten Briefe Pestalozzis. Ein weiterer Vermittler des Geistes, der Ideen und der Methode Pestalozzis nach USA. war der schon genannte Joseph Neef (56). Als Napoleon dessen Pariser Schule besuchte, befand sich in seiner Begleitung der amerikanische Gesandte Tallyrand, von dem ein eben in Paris anwesender amerikanischer Privatmann, William Maclure aus Pennsylvania, der Napoleon gern einmal sehen wollte, die Erlaubnis erhalten hatte, der Schulbesichtigung beizuwohnen. Dieser Maclure sollte einer der bedeutendsten Herolde Pestalozzis in den Vereinigten Staaten werden (57). Maclure war bei dem Schulbesuch ganz in den Anblick Napoleons versunken gewesen und hatte daher für die in der Schule gehandhabte Methode zunächst gar keine Augen gehabt. Er wurde erst aufmerksam bei den letzten Worten, die Tallyrand an Napoleon richtete: „Es ist zu viel für uns." Er ging daher allein zur Schule zurück und ließ sich von Neef den Zweck des Napoleonischen Besuches und den Charakter der Schule erklären. Nun waren bei Maclure alle Vorbedingungen für das Erwachen eines tieferen Interesses für Neef und seine Pariser Schule gegeben. Maclure war in Schottland 1763 geboren und in England erzogen worden. Er war zunächst Kaufmann und kam als solcher zweimal nach USA., wo es ihm so gut gefiel, daß er 1803 dahin übersiedelte mit dem Ziel, sein weiteres Leben dem öffentlichen Wohl zu widmen. Als Mitglied einer sozialen Kommission reiste er zum Studium der Volkserziehungssysteme nach Europa und besuchte dort auch Ifferten und Hofwyl, wo Fellenbergs landwirtschaftliche Schule sein besonderes Interesse erregte. Doch vermißte er in ihr die demokratische Atmosphäre, die ihm für ein System der Volkserziehung wichtig schien und die er bei Pestalozzi in Ifferten fand. Auf der Rückreise von der Schweiz lernte er nun Neef und seine Schule kennen, und da er ein Interesse daran hatte, die Lebensbedingungen der ärmeren Volksklassen seines Vaterlandes besser zu gestalten, und ihm Pestalozzis System dazu als ein geeignetes Mittel erschien, machte er Neef das Anerbieten, nach drüben zu kommen, um
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ein Institut im Geiste Pestalozzis zu begründen. Neef studierte daraufhin zunächst drei Jahre die englische Sprache und gab in ihr auch eine Darstellung seiner pädagogischen Idee heraus. Sie erschien unter dem Titel: „Sketch of a Plan and Method of Education founded on the Analysis of the Human Faculties and Natural Reason, suitable for the offspring of a Free People and for all Rational Beings", Philadelphia, Printed for the Author 1808. Im Vorwort gibt Neef eine begeisterte Würdigung Pestalozzis und seines Strebens, schildert, wie er mit ihm bekannt und sein Schüler und Mitarbeiter wurde und wie er nach USA. kam, diskutiert das Ziel der Erziehung, behandelt anschließend in 16 Kapiteln die einzelnen Unterrichtsfächer und schildert zum Schluß, wie er sich die ideale Schule denkt. Der Gegenstand des 5. Kapitels, der Lese- und Schreibunterricht, wird von ihm noch einmal ausführlich in einem Buch behandelt, das 1813 in Philadelphia unter dem Titel „The Method of Instruction Children Rationally in the Arts of Writing and Reading" herauskam. In Philadelphia gründete er auch 1808 die erste amerikanische Pestalozzischule. Mit dem gesprochenen Wort beginnt dort die Unterweisung des Schülers. Gegenstand der Rede werden die Dinge, die im Gesichtskreis des Kindes liegen. Die Beobachtung ist Ausgangspunkt des Unterrichtes. Büdier sollen die letzte Quelle des Wissens sein. Audi Mathematik soll auf Grund der Anschauung gelernt werden. Neefs Schüler sollten etwas für wahr halten, nicht weil er, sondern weil ihre eigenen Sinne es ihnen sagten. Die Fremdsprache soll das Kind lernen, indem es sie braucht. Die Grammatik soll es dem lebendigen Erlebnis der Sprache selbst abgewinnen. Ein bedeutendes Schulfach ist für Neef die Naturkunde, für die es keine Lehrbücher gibt. Studiert wird sie im Anschluß an die Natur. Besonders der Schulgarten bietet eine Fülle von Anschauungsmaterial. Weiter legt Neef großen Wert auf die körperliche Ertüchtigung. Neefs Erziehungsbuch erlebte keine hohe Auflage; die Ideen waren für USA. vielfach zu neu, und das Unerprobte wurde mit Skepsis betrachtet. Die Schule in Philadelphia wurde von über 100 Knaben, die in der Mehrzahl aus den besseren Kreisen stammten, besucht. Die meisten Schüler wohnten im Internat der Schule (waren sogenannte „borders"). Auch das Leben außerhalb der Schule war neuartig. Die Neef-boys trugen nie Hüte; viele gingen barfuß; sie waren gute Schwimmer, Schlittschuhläufer, Wanderer und Turner. Bei schönem Wetter badeten sie zweimal täglich in den Wasserfällen des Schuylkill. Der etwas militärische Anstrich der Erziehung (Neef war ja selbst alter Soldat) rief bei den Zeitgenossen oft genug Entrüstung hervor. Aber dadurch ließ Neef sich nicht beirren. Dagegen wirkte sich die Verlegung der Schule nach Village Green in Delavare, wo er mehr Anschauungsmaterial für den Unterricht zu finden hoffte, ungünstig aus. Die Schülerzahl nahm erheblich ab. Ursache war auch die unberechtigte Beschuldigung des Atheismus, die damals gegen ihn erhoben wurde. Als er auf den Rat seiner Freunde die Schule noch einmal, und zwar nach Louisville, verlegte, begleiteten ihn nur wenige Schüler. Infolgedessen verlor er Lust und Liebe zu seinem Werk. Er kaufte sich
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in der Nähe von Louisville eine Farm, auf der er zurückgezogen lebte, bis ihn eine neue pädagogische Aufgabe rief. Maclure hatte unterdessen weiter im Geiste Pestalozzis gearbeitet. So hatte er versucht, in Spanien, das ihm der rechte Boden für eine landwirtschaftliche Schule im Sinne Pestalozzis und Fellenbergs zu sein sdiien, sich eine solche einzurichten. Aber bevor alle Gebäude auf einem von der Regierung enteigneten kirchlichen Grundstück fertiggestellt waren, wurde die Regierung gestürzt, und Maclure mußte weichen. 1824 kehrte er daher nach USA. zurück, um eine ähnliche Schule in New Harmony in Indiana zu gründen. Die New Harmony Community war eine große soziale Genossenschaft, hauptsächlich zugunsten der arbeitenden Schichten von Robert Owen 1825 gegründet. Die erzieherische Seite des Unternehmens war Maclure anvertraut worden, der Neef als Leiter an die neugegründete Pestalozzischule berief. Aber die New Harmony Gemeinschaft wurde 1828 aufgehoben, und Neef ging nach Cincinnati und später nach Steubenville im Staate Ohio, wo er wieder, wenn auch für kurze Zeit, eine Schule leitete. 1834 zog er sich nach New Harmony zurüdc und verbrachte dort den Rest seines Lebens. Maclure hat sich 35 Jahre bemüht, die Ideen Pestalozzis in USA. zu verbreiten, auch durch eine größere Zahl von Aufsätzen, die er in amerikanischen Zeitschriften veröffentlichte. Auch half er Pestalozzi in seinen Unternehmungen in Ifferten mit Geldspenden. Pestalozzi konnte später nicht von ihm sprechen, ohne sehr bewegt zu sein. Maclure starb 1840 im Alter von 77 Jahren. Obgleidi Neef ein großer praktischer Pädagoge war und auch seine Bücher Anklang fanden, ist sein Einfluß und daher auch die Verbreitung des Pestalozzianismus durch ihn in USA. nicht besonders groß gewesen. Will S. Monroe erklärt diesen Sachverhalt damit, daß der Kreis seiner Schüler verhältnismäßig klein war und aus gehobeneren Schichten stammte. Die Folge davon war, daß sie daher nicht den Erziehungsberuf ergriffen und daher Neefs bzw. Pestalozzis Ideen nicht in die Lehrerwelt hineintrugen. Eine zweite Ursache sah er in dem Ortswechsel, den Neef mit seiner Schule vornahm. Monroe ist der Ansicht, daß sein Name schneller bekanntgeworden und in den Annalen der amerikanischen Erziehung unvergessen geblieben wäre, wenn Neef in Philadelphia, der Stadt seines ersten und größten amerikanischen Schulerfolges, verblieben wäre. Ein anderer amerikanischer Zeitgenosse erklärt die Tatsache, daß die New Harmony Schule, obwohl sie viel Anerkennung und Unterstützung fand, keinen nachhaltigen Einfluß auf die amerikanische Erziehungsweise ausübte, mit dem Umstand, daß Neef sich zu wenig bemüht habe, das pestalozzische System dem amerikanischen Charakter anzupassen. Audi habe er zu wenig für die Ausbildung eines zur Ausbreitung seiner Ideen geeigneten Lehremachwuchses gesorgt. Die Haupterklärung für die Begrenztheit seiner Wirkung aber liegt wohl darin, daß es in seiner Epoche nur wenige, für die Verbesserung des amerikanischen Schulwesens tiefer interessierte Männer gab. Diese finden wir in größerer Zahl erst ein Vierteljahrhundert später,
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am Anfang der großen Schulbewegung, welche die Public school verwirklichte. Und diese waren es denn auch, die das Erbe Pestalozzis für USA. fruchtbar machten. Am meisten Verbreitung fand die Pädagogik Pestalozzis in Neuengland, d. h. im nordöstlichen Teil der Union, zu dem die Staaten Maine, New Hampshire, Vermont, Massachusetts, Rhode Island und Connecticut gehörten, die hauptsächlich von den Nachkommen der seit Anfang des 17. Jahrhunderts eingewanderten englischen Puritaner und Schotten bewohnt wurden. Besonders in Massachusetts und Connecticut und zumal in den dortigen Lehrerbildungsanstalten (normal schools) fand die pestalozzische Pädagogik Anerkennung. Die Hauptverehrer des Pestalozzianismus waren dort: William Russell (1798—1873), ein Schotte nach Geburt und Erziehung, von 1826—1830 der Herausgeber der ersten wertvollen pädagogischen Monatsschrift der Vereinigten Staaten, des American Journal of Education, in dem — wie schon erwähnt — die an Greaves gerichteten Briefe Pestalozzis veröffentlicht wurden. Russell beschäftigte sich viel mit der höheren Frauenbildung, für die er 1829 in Philadelphia ein entsprechendes Institut gründete, und mit der Lehrerbildung, für welche er 1849 eine private Anstalt in New Hampshire errichtete, die später nach Lancaster verlegt wurde, beide im Geiste Pestalozzis. An letzterer wirkte auch der Sohn eines der Mitarbeiter Pestalozzis, Hermann Krüsi junior. Später machte sich die Konkurrenz der neuen staatlichen Lehrerbildungsanstalten bemerkbar, so daß Russell seine Anstalt 1857 schließen mußte. James Carter, der in seiner eigenen Privatschule Lehrkräfte im Sinne Pestalozzis ausbildete, da es ihm weder im Staate Massachusetts noch in Lancaster, wo er als Lehrer wirkte, gelang, die Öffentlichkeit für die Errichtung von Lehrerbildungsanstalten zu gewinnen. Auch als führendes Mitglied der ältesten amerikanischen pädagogischen Gesellschaft, als pädagogischer Redner und als Mitglied der gesetzgebenden Gesellschaft (legislature) des Staates Massachusetts, in die er 1855 gewählt wurde, fand er Möglichkeiten, für die Ausbreitung seiner pädagogischen Ideen zu-wirken. Charles Brooks (1795—1872), der Pestalozzis System in Deutschland kennengelernt hatte und nach seiner Rückkehr nach Massachusetts in vielen öffentlichen Versammlungen für Pestalozzis Ideen und für den Ausbau von Lehrerbildungsanstalten warb. Von den infolge seiner Werbung begründeten Lehrerbildungsanstalten bezeugten die Zeitgenossen, daß in ihnen Pestalozzis Geist herrsche. Die Westfield-Schule zeigte zum ersten Male, daß der von Pestalozzi geforderte Anschauungsunterricht sich in allen Fächern durchführen ließ. In einer angegliederten Schule fanden die Lehrerstudenten Gelegenheit, sich darin praktisch zu üben. Will Woodbridge (1794—1845), der auf einer pädagogischen Studienreise nach Europa Pestalozzi und sein Werk in Yverdon kennenlernte und davon stark beeindruckt wurde, setzte sich nach seiner Rückkehr in die Heimat
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besonders für die Reform des Schulgeographie- und Musikunterrichtes ein und führte den Gesangunterricht nach der Methode Pestalozzis ein. Nach einem zweiten Besuch Deutschlands (1825), auf dem er sich drei Monate bei Pestalozzi und Fellenberg aufhielt, übernahm er von Russell das „American Journal of Education", das er jetzt „American Annais of Education" nannte. Zu den amerikanischen Pestalozzianem zählt man auch A. Bronson Aleott. Will S. Monroe bezeichnet ihn sogar als den amerikanischen Pestalozzi. Und trotzdem ist nur wenig Anlaß für uns, sich in unserem Zusammenhang mit seinen pädagogischen Ideen und seinen Schriften (58) zu beschäftigen, wenn es richtig ist, was z. B. auch Monroe behauptet, daß Aleott selbständig zu seinen pädagogischen Anschauungen gekommen sei und Pestalozzis System gar nicht gekannt habe. Aber es besteht doch die Möglichkeit, daß Aleott, der erst zehn Jahre als kaufmännischer Reisender tätig war und dann 1823 seine pädagogische Tätigkeit begann, von Pestalozzis Ideen, die damals doch in USA. nicht mehr ganz unbekannt waren, berührt wurde. Mit mehr Berechtigung als Herold Pestalozzis ist der Musikpädagoge Lovell Mason (1792—1872) zu benennen, der durch Woodbridge mit Pestalozzi bekanntgemacht wurde und nach dessen Methode in vielen Schulen und Akademien Musik- und besonders Gesangunterricht erteilte. Seine darin erzielten Erfolge bewirkten in Boston eine Eingabe der Bevölkerung um Einführung des Gesangunterrichtes in den Stadtschulen. Als der Senat zögerte, diesem Antrage stattzugeben, bot sich Mason an, den Unterricht ein Jahr lang ohne Vergütung zu erteilen. Seine großen Erfolge bewirkten es dann, daß 1838 dem Antrage stattgegeben und der Musikunterricht — unter gleichzeitiger Ernennung Masons zum Musikdirektor — eingeführt wurde. Zur Verbreitung der pestalozzischen Methode trug besonders bei, daß Mason bis 1846 auch an den Lehrerbildungsanstalten unterrichtete und daß er ein Buch „Pestalozian Music teacher" veröffentlichte. Der bedeutendste unter den späteren Pestalozzianem in USA. ist vielleicht Henry Barnard (1811 —1900), der schon in jungen Jahren von Pestalozzi gehört hatte und von dessen Leben und Werk beeindruckt worden war. Nach seinem Lehrerexamen besuchte er als Vierundzwanzigjähriger auf einer Europareise die Wirkungsstätten Pestalozzis und außerdem Hofwyl (das Urbild der Pädagogischen Provinz in Wilhelm Meister), wurde durch Unterhaltung mit Freunden und Schülern Pestalozzis mit dessen pädagogischer Praxis bekannt und lernte die pestalozzischen Ideen mehr und mehr als geeignete Grundlage für eine moderne Elementarerziehung schätzen. In einer mehrjährigen Tätigkeit in Lehrerfortbildungskursen, an Lehrerbildungsanstalten und Universitäten setzte er sich für die Pestalozzimethode ein. Sein Einfluß stieg noch, als er das Amt des ersten USA.-Commissioner of Education übernahm. Auch durch das geschriebene Wort warb er für die Ideen Pestalozzis. Und daß dies etwas bedeutete, ist selbstverständlich bei einem Manne, der länger als ein Vierteljahrhundert, von 1856—1881, das „American Journal of Edu-
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cation" herausgab, nachdem er schon für die Zeit von 1838—1842 der Herausgeber des „Connecticut Common School Journal" gewesen war, und der als der „most comprehensive editor of educational literature in the United States" charakterisiert worden ist. In dem American Journal veröffentlichte er auch eine Übersetzung des Kapitels, das Karl von Raumer in seiner „Geschichte der Pädagogik vom Wiederaufblühen klassischer Studien bis auf unsere Zeit" (59) Pestalozzi gewidmet hatte. Unter Verwertung dieser Arbeit gab er 1859 in New York ein Buch über Pestalozzi unter dem Titel „Pestalozzi and Pestalozzianism. Life, Educational Principles and Methods of John Henry Pestalozzi with biographical sketches of several of his assistants and Disciples" heraus. Die Darstellung des Einflusses der pestalozzischen Pädagogik in USA. würde fragmentarisch sein, wenn man nicht noch zwei amerikanische Zentren der Pestalozzipädagogik eingehend betrachtete: Oswego im Staate New York und St. Louis. Edward A. Sheldon war der Begründer der von Oswego ausgehenden pädagogischen Bewegung. Wie bei vielen großen Pädagogen, erwuchs auch bei Sheldon, der aus Gesundheitsgründen das Studium der Rechte aufgegeben hatte, seine pädagogische Tätigkeit aus sozialem Mitgefühl mit den ärmeren Schichten, deren Elend und Unwissenheit er in Oswego kennengelernt hatte. Um beidem zu steuern, begründeten Sheldon und einige einflußreiche Freunde eine „Orphan and free School Association" mit dem Ziel, Waisen und armen Kindern aus Oswego kostenlosen Schulunterricht zu sichern. Nach Gewinnung geeigneter Räume übernahm Sheldon, da sich kein Lehrer für die Ragged School (etwa = Lumpenschule) meldete, selbst den Unterricht. Und wenn es ihm gelang, 120 ziemlich verwahrloste Kinder und Jugendliche von 5—21 Jahren an Zucht und Arbeit zu gewöhnen, so war das, nach dem Urteil seiner Tochter, auf seine große Liebe zu seinen Zöglingen und auf deren Gegenliebe zurückzuführen. Seine Sorge für seine Zöglinge ging über den Schulraum hinaus. Einmal in der Woche besuchte er ihre elterliche Familie und half dort, soweit er es vermochte, in aller Not. Er war wirklich vom Geiste Pestalozzis erfüllt. Später wurde Sheldon oberster Leiter der Schulen in Syracuse. Nachdem er vor allem bei einem Besuch in Toronto den pestalozzischen Anschauungsunterricht studiert hatte, machte er ein Jahr lang Versuche mit dieser Methode und richtete darauf in Oswego eine Übungsschule ein, für die er sich von London eine mit der pestalozzischen Methode vertraute Lehrkraft erbat. So kam Margaret Jones 1861 nach Oswego und arbeitete an der Ausbildung junger Lehrkräfte im Geiste Pestalozzis. Die Hauptprinzipien der so entstehenden geistigen Bewegung (Oswego-Bewegung) waren: 1. Alle Erziehung muß der natürlichen Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten weitgehend Rechnung tragen. 2. Alles Wissen ist in erster Linie auf Anschauung begründet; deshalb soll aller Unterricht von wirklichen Gegenständen und Ereignissen ausgehen. 95
3. Die Aufgabe der Grundausbildung ist nicht die Vermittlung mechanischen Wissens, sondern harmonische Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Für den Kenner Pestalozzis ist es offensichtlich, daß diese Ideen auf Pestalozzi zurückgehen. Da Sheldon anfänglich mit seiner neuen Methode auf Widerstand stieß, lud er eine Reihe von Fachleuten zu ihrer Prüfung in seine Schule ein. Nach dreitägigem Aufenthalt erklärten sie, daß die Methode philosophisch gesund, im Einklang mit der Natur des Menschen und — was das Wichtigste war — nachahmenswert sei. Die Oswego-Schulen erhielten von da an (1863) einen jährlichen staatlichen Zuschuß von 3000 Dollars, und 1866 wurde die Anstalt in Oswego als staatliche Normalschule anerkannt, von der aus Pestalozzis Ideen ihren Weg weit ins Land fanden. Als Marg. Jones 1862 ihre Tätigkeit beendete, trat Hermann Krüsi jr., der, wie wir schon hörten, vorher in Massachusetts mit Russell zusammen gearbeitet hatte, an ihre Stelle, die er 25 Jahre als Ausbilder von Lehrern im pestalozzischen Geiste innehatte. Auch literarisch setzte sich Krüsi für die Pädagogik Pestalozzis ein. 1853 hatte er bereits mit einer Arbeit über Pestalozzis Leben und Werke den akademischen Grad eines masters of arts erworben. In Oswego schrieb er dann sein größeres Werk über Pestalozzi, das — X und 248 Seiten stark — im Jahre 1875 unter dem Titel „Pestalozzi: his life, work and influence" in New York herauskam. Im 5. Kapitel machte er auch schon den Versuch, die Anwendung der Pestalozzischen Methode in verschiedenen Landern (Deutschland, Schweiz, Frankreich, Spanien, Rußland, England und Nordamerika) darzustellen. Von Oswego aus erstreckte sich der pestalozzische Einfluß auch bis in die Universität. Sheldons Tochter, Mary Sheldon Barnes, erhielt 1876 die Professur für Geschichte am Vellesley College und kam später als erster weiblicher Professor an die Stanford Universität. Ihr methodischer Hauptgrundsatz — damals für Amerika etwas unerhört Neues — war das Ausgehen von Quellen. Sie war die erste, die — ganz im Geiste Pestalozzis geschult — die amerikanischen Studenten in lebendige Beziehung mit der historischen Wirklichkeit brachte. Ein guter Kenner des amerikanischen Schul- und Bildungswesens und seiner historischen Entwicklung, E. Hylla, sagte von der Oswegobewegung, daß sie nichts anderes darstelle und sein wolle „als die Auswertung der Gedanken und der Arbeit Pestalozzis für das amerikanische Bildungswesen" und daß sie die Anregerin zu einer weitreichenden Verwirklichung pestalozzianisdier Ideen gewesen sei: des Anschauungsunterrichts (object lessons oder visual instruction), des mündlichen Lehrverfahrens (oral teaching) im Gegensatz zum Lernen aus Büchern und Aufsagen des mehr oder minder auswendig Gelernten (book learning and reciting), des Ausbaus des bisherigen grammatischen Sprachunterrichts durch Einführung von mündlichem Englisch (oral language) als eigener Lehrgegenstand mit besonderen stundenplanmäßigen Unterrichtsstunden, der Einführung der Naturgeschichte und der Anfangsgründe der Naturlehre (ele-
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mentary science), des mündlichen neben dem bisher allein betriebenen schriftlichen Rechnens, des Schreib-, Zeichen- und Musikunterrichts und der Umwandlung des bisherigen Geographieunterrichts, der in bloßem Namenlernen bestanden hatte, in eine auf Anschauung beruhende geographische Heimatkunde. Ein zweites Zentrum des amerikanischen Pestalozzianismus waren, vor allem für die Zeit von 1868—1880, die public schools von St. Louis. Diese unterstanden damals Will Harris, der in Theorie und Praxis für die Pestalozzimethode eintrat. Er gab eine Anleitung zur Erteilung des naturwissenschaftlichen Unterrichts im Geiste Pestalozzis heraus („How to teach natural science in public schools") und wirkte werbend durch Aufsätze über Pestalozzis Methode und seine eigenen schulpraktischen Erfahrungen mit ihr, die er in den Jahresberichten der Schulen von St. Louis veröffentlichte. Dabei zeigte er, daß es ihm nicht an Einsicht in die Schwächen und Gefahrenpunkte des Pestalozzischen Systems fehlte. So warnte er vor der Uberschätzung der Anschauung und der Sinneseindrücke und betonte die Notwendigkeit der abstrahierenden und unsinnlichen Funktionen des Geistes. Wir hören hier zum erstenmal von Jahresberichten, Educational oder Annual Reports genannt, als Kanälen für die Verbreitung deutscher Pädagogik in USA. Der älteste solcher städtischer Berichte ist der von Boston, der besonders wertvoll in den Jahren war, da Dr. Philbrick als Herausgeber zeichnete. Als ausgezeichnet erwähnt Boone (60) noch die Jahresberichte von Chikago, San Franzisko, Cincinnati, Providence und besonders die oben bereits zitierten, die Harris als Superintendent der Schulen von St. Louis in den Jahren 1867—1879 herausgab. Boone gibt eine Inhaltsangabe ihrer einzelnen Jahrgänge, aus der ihre Bedeutung für die Verbreitung deutscher Pädagogik unter den nordamerikanischen Pädagogen deutlich wird. Der Jahrgang 1867—1868 enthielt „Discussions of Pestalozzianism and object-lessons" (Anschauungsunterricht), die Jahrgänge 1869—1870, 1871—1872, 1876—1877 beschäftigten sich mit deutsch-englischem Sprachunterricht, der Jahrgang 1875—1876 mit der Philosophie des Kindergartens und der Jahrgang 1878—1879 mit der Geschichte, der Philosophie und der Praxis der St.-Louis-Kindergärten. Außer von Städten wurden solche Jahresberichte auch von einzelnen amerikanischen Staaten herausgegeben. Unter diesen ist der von Horace Mann im Staate Massachusetts herausgegebene für die Auslandswirkung der deutschen Pädagogik am bedeutendsten, besonders der VII. in der Reihe, von dem wir noch an anderer Stelle hören werden, in dem der Herausgeber über seine kontinentale pädagogische Studienreise berichtet. Außer nach Frankreich und England drangen Pestalozzis Ideen auch noch in andere westeuropäische Länder ein. Im Gegensatz zu Napoleon Bonaparte, der das ABC Pestalozzis gering schätzte, hat der König von Holland, Louis Bonaparte, 1807 in den Schulen seines Landes die Methode Pestalozzis einzuführen versucht. Im Sommer des Jahres 1808 sandte seine Regierung zwei Lehrer nach Ifferten. Van Dapperen, einer der beiden, schrieb über Absicht 7
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und Ausgang dieser Reise: „Die Absicht dieser Entsendung war, das Institut des Herrn Pestalozzi kennen zu lernen und seine Methode zu studieren, damit idi das, was darin wichtig und für unseren Unterricht verwendbar und förderlich sei, auf die Schulen der Niederlande übertragen könne. Aber die Einverleibung der Niederlande in Frankreich machte dem Aufenthalt ein frühes Ende, sodaß die Reise fast ohne praktische Folgen blieb." 1819 kam Petrus de Raadt, der Gründer eines berühmt gewordenen „Hauses des Unterrichts und der Erziehung" in der Nähe von Haag, auf einer pädagogischen Studienreise durch Deutschland, die Schweiz, Frankreich und England auch zu Pestalozzi nach Ifferten. Seine deutsch geschriebenen Aufzeichnungen darüber erschienen 1863 als Beilage zu seiner Biographie von J . H. Kramers (61). De Raadt war ein Sdiüler Niemeyers, dessen Urteil über Pestalozzi schon nicht günstig gewesen war (62). So ist erklärlich, daß er dem Pestalozzischen System gleichfalls kritisch gegenüberstand, so groß auch seine Aditung vor Pestalozzis Persönlichkeit war. So ist verständlich, daß durch ihn Pestalozzis Ideen in Holland keine Verbreitung fanden. Dagegen ist für die Verbreitung P. J . Prinsen von großer Bedeutung gewesen. Unter seiner Aufsicht wurde eine niederländische Gesamtausgabe der Werke Pestalozzis bearbeitet, die 1826—1831 in acht Bänden erschien. Prinsen hat auch — nach van Ecks Darstellung — versucht, die Methode Pestalozzis „ihrer Ubersteigerungen zu entkleiden und der Unterrichtspraxis anzugleichen". Dadurch hat er zur Verbreitung von Pestalozzis Elementarlehre nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in England beigetragen. James Phillips Kay empfahl in seinem 1839 in London erschienenen Buch „The Training of pauper children" diese von Prinsen für die Praxis bearbeitete Pestalozzimethode auch den englischen Pädagogen (63). Prinsen beschäftigte sich vorzüglich mit Pestalozzis Elementarlehre des Rechnens. Sein einschlägiges Buch „Pestalozzis Methode zur Zahlenkenntnis" (1809) erschien in mehreren Auflagen (die 3. Auflage 1847) und auch in französischer Ubersetzung (64). Die von ihm vertretene Rechenmethode fand Anhänger und Gegner. Zu den letzteren gehörte der Pädagoge R. G. Rijkens, der in seiner „Praktischen Anleitung zum schriftlichen Rechnen und Kopfrechnen" 1834 die Pestalozzische Rechenmethode als in Widerspruch zum Charakter der niederländischen Schulen, zur Art und Weise der niederländischen Erziehung, überhaupt zum Geiste der Nation und daher für sie als unbrauchbar erklärte (65). Die Formenlehre Pestalozzis wurde 1817 auf Anregung des Inspektors Visser von einer Gruppe friesischer Lehrer übersetzt und durch ein eigenes Werk „Übungen mit dem Kubus nach Pestalozzi" begleitet. Die Aufnahme der Formenlehre in den Niederlanden war günstiger, als die der Zahlenlehre. Interessant ist, daß Pestalozzi, gegen den in Deutschland mehrfach von kirchlicher Seite Einwände und Bedenken wegen seiner religiösen Haltung erhoben wurden, im Auslande gelegentlich als Eideshelfer gegen religionsfeindliche Strömungen innerhalb des Schul- und Bildungswesens benutzt wurde. Ein
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Beispiel dafür bietet Holland. 1848 gab dort der bekannte Schulmann D. Buddingh Pestalozzis „Abendstunden eines Einsiedlers" mit dem Untertitel „Worte zur Erwägung in dieser Zeit religiöser und politischer Unruhe nebst einem Vorwort über die Freiheit des Unterrichts" heraus. In diesem tritt er für die erzieherische Bedeutung der Religion ein und fordert seine Kollegen auf, sich zu Pestalozzi zu flüchten, „dessen Geist bisher unter seiner Methode vergraben lag" und bei ihm sich „neue Kraft und neuen Mut für den Kampf gegen die zu holen, die das Lesen der Bibel und das Singen christlicher Choräle in den niederländischen Schulen verbieten möchten" (66). Die Pestalozzikenntnis und -Verehrung erhielt in Holland wie in mehreren anderen Kulturländern neuen Auftrieb durdi die Pestalozzi-Gedenkfeiern des 19. Jahrhunderts. Die des hundertjährigen Geburtstages, begangen von zwei Ortsgruppen des niederländischen Lehrervereins, blieben in ihrer Wirkung auf die engen Fachkreise beschränkt. Dagegen ergriff die Feier der hundertjährigen Wiederkehr des Todes des großen Pädagogen — ähnlich wie in Deutschland — viele Schichten der Nation. In dieser Richtung wirkte auch eine Anzahl Publikationen (67). L. van Eck meint, dabei habe sich gezeigt, „daß Pestalozzis Geist heute in dár niederländischen Erziehung wieder lebendig ist, ja daß er niemals ganz aus ihr geschwunden war" (68). Aus der Schulpraxis allerdings ist Pestalozzi im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durch Herbart verdrängt worden. Es ist nicht mehr seine Methode, sondern seine Persönlichkeit, die aneifemd auf die niederländischen Lehrer und Erzieher wirkt. Wie Louis Napoleon Pestalozzi im Gegensatz zu Napoleon Bonaparte für Holland begünstigte, so tat Murat das gleiche in Neapel. Daß überhaupt Pestalozzis Pädagogik auch in Italien Eingang fand, lag aus mehreren anderen Gründen nahe. Pestalozzi, der, wenn er sich mit einem Problem, etwa dem der elementaren Berufsbildung, beschäftigte, davon wie besessen war und dann dafür auch „alle Welt, Männer und Frauen, Ausländer und Einheimische zu interessieren" (69) suchte, hatte sich schon 1787 an Leopold, den Großherzog von Toskana, den Bruder des Kaisers Joseph II., gewandt, der wegen seiner wissenschaftlichen Liebhabereien der „Doktor" genannt wurde und für Bildungsbestrebungen Summen verwandte, „wie sie damals kein Herrscher solchen Zwecken widmete" (70). Der Großherzog nahm den ihm zugesandten Erziehungsroman Pestalozzis gnädig auf und interessierte sich für Pestalozzis Darlegungen „über die Gegenstände der Volksbildung und alles dessen, was er sonst zur Beförderung des Wohlstandes und der Aufklärung möglich und tunlich" ansah. Pestalozzi erhielt sogar die Erlaubnis, unmittelbar an den Großherzog zu schreiben. Er sandte ihm daher ein Memorial,worin er die in „Lienhard und Gertrud" niedergelegten Gedanken über die Organisation der bürgerlichen Bildung kurz und bündig (71) zusammengefaßt hatte. Kurz darauf wurde Leopold Nachfolger seines Bruders auf dem Kaiserthron, und damit war für Pestalozzi — er berichtet darüber in seinem Schwanengesang — diese Verbindung mit Italien unterbrochen. 7*
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Pestalozzis Pädagogik fand in Italien sehr langsam Eingang. Dieser Behauptung scheint die Existenz einer Pestalozzischen Anstalt, die Franz Georg Hoffmann, ein Mitarbeiter Pestalozzis, einer Einladung der Gemahlin Murats, Carolina Bonaparte, folgend, bereits 1811 in Neapel (72) begründete und mehrere Jahre, von einigen Schülern Pestalozzis unterstützt, mit großem Erfolg leitete, zu widersprechen. Aber diese Anstalt bestand nur wenige Jahre. Schon bald nach der Flucht Murats und der Vertreibung der Franzosen trat audi Hoffmann zurück, und die Regierung suchte möglichst schnell jede Spur Pestalozzischer Methode auszurotten, über den inneren und äußeren Aufbau der Schule berichtete Hoff mann in einer größeren Schrift „Idee generali suireducazione per servire di base airorganizzazione dell'Instituto" und in einer kleineren „Stato scientiflco e morale delHnstituto di G. F. Hoffmann" (73). Es gab zwar einige Umstände, die ein frühzeitiges und fortschreitendes Eindringen der Pestalozzimethode in Italien hätten begünstigen können. Aber es bestanden auch hemmende Momente, die sich stärker bemerkbar machten. Zu den ersteren gehörte der italienische Name unseres Pädagogen und die Tatsache, daß seine Vorfahren am Corner See zu Hause waren. So konnten die italienischen Pädagogen dazu kommen, Pestalozzi beinahe als einen der Ihrigen zu betrachten und seine Pädagogik mit größerem Eifer zu studieren. Dieser Vermutung gibt auch Emil Eidenburg Ausdruck, und eine einzelne italienische pädagogische Zeitschrift wagte sogar von der Italianität Pestalozzis zu sprechen. Eidenburg hat übrigens zur Untersuchung des italienischen Einschlages in Pestalozzis Blut die Ahnentafel seines Vaters aufgestellt (74) und so die Deutschheit Pestalozzis, dessen Vorfahren schon sieben Generationen in den Mauern Zürichs wohnten, nachgewiesen. Das Uberströmen pestalozzisdier Ideen nach Italien hätte auch dadurch begünstigt werden können, daß die Schweiz in ihrem südlichen Teil von italienischer Bevölkerung besiedelt war. Vor allem die hier etwa erscheinende Pestalozziliteratur (75) mußte verhältnismäßig leicht den Weg nach Italien finden. Aber derartige Literatur erschien erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Groß waren die Hindernisse der Übernahme der Pestalozzipädagogik nach Italien. Hemmend bemerkbar machte sich die lange politische Zerrissenheit des Landes und für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts die Vorherrschaft der französischen Geistigkeit des Revolutionszeitalters. Und als nach 1848 die Periode des Germanismus — eines gesteigerten deutschen Einflusses — einsetzte, da war es nicht mehr der Geist eines Pestalozzi, der damit in Italien Eingang fand, sondern eine Art von Positivismus. Später drang in den italienischen pädagogischen Bezirk der Herbartianismus ein und verhinderte durch seine Monopolstellung die Einwirkung der Pestalozzimethode. Für ihre Anwendung in der schulischen Praxis fehlte auch lange die wichtigste Voraussetzung. Man darf nicht außer acht lassen, daß erst 1877 die offizielle Einführung der dreijährigen Volksschulpflicht erfolgte, daß 1868 noch 7 8 % und
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1871 noch 71% der Bevölkerung Analphabeten waren und daß es in Sizilien sogar 1911 immer noch 73,8% gab, die des Lesens und Schreibens unkundig waren (76). So ist es erklärlich, daß Pestalozzi in den ersten sechs Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts — abgesehen von der bereits erwähnten kurzlebigen Pestalozzischen Anstalt in Neapel — nur auf einzelne Philosophen, Pädagogen, Politiker, Theologen und Philantropen Einfluß gewann, auf Vinoeno Cuoco, Deifico, Gino Capponi, Antonio Benci, Peitl, Racheli, Aporti, Romagnosi, Lambruschini und Enrico Mayer, wie Heinz Mödder (77) im einzelnen dargestellt hat. In die Volksschule fand der Geist Pestalozzis erst — wenn auch langsam und allmählich — Eingang nach der nationalen Einigung des Landes, also nach 1870, als man daran ging, die Grundlagen zu einer nationalen Schule zu legen. Die Hauptbefürworter der Pestalozzimethode in dieser Zeit waren Gerolamo Nisio und Aristide Gabeiii (78). Die am 25. September 1888 erlassenen Volksschullehrpläne (79) verraten den Einfluß Pestalozzis. Das Interesse der Italiener für Pestalozzi hielt auch im 20. Jahrhundert an. Es erschienen jetzt auch Spezialuntersuchungen über Pestalozzis Einfluß auf Italien. Die Verwirklichung Pestalozzischer Forderungen in der italienischen Pädagogik machte weitere Fortschritte. Der wirkliche Durchbruch des pestalozzischen Geistes aber kam nach dem Urteil sachkundiger Beurteiler erst mit dem Reformwerk von LombardoRadice vom Jahre 1923 (80). Das Pestalozzi-Gedächtnisjahr 1927 wurde in Wort und Schrift in ganz Italien gefeiert. Die große Fülle der „neuen italienischen Pestalozziliteratur" (81), die zahlreichen Übersetzungen und die 1927 begonnene Gesamtausgabe seiner Werke beweisen, daß es nicht unberechtigt ist, für diese Zeit von einer italienischen Pestalozzi-Renaissance zu sprechen. Es gibt kaum ein Land in Europa, in dem die von Ifferten ausgehende Bewegung fremd geblieben wäre. Es ist aber als merkwürdig empfunden worden, daß gerade das in pädagogischen Dingen am wenigsten fortschrittliche Land, Spanien, eines der ersten Länder war, das die neue Methode einführte, und zwar zuerst in einer Schule für arme Soldatenkinder in Tarragona, dann in einem Lehrerseminar in Santander, wo man die Lehrer nach der neuen Methode auszubilden suchte, und schließlich in Madrid selbst, das eine nach Pestalozzi benannte Schule besaß. Begründet wurde die Schule in Tarragona durch einen Schweizer Hauptmann namens Voitel (82), der die Pestalozzimethode 1801 und 1802 zu Burgdorf studiert und nun in ihrer praktischen Anwendung großen Erfolg hatte. Später (83) errichtete Voitel eine Erziehungsanstalt nach Pestalozzischer (84) Manier in Madrid, die bald 100 Zöglinge, Söhne aus den ersten Familien des Landes, umfaßte, deren Fortschritte allgemeine Bewunderung erregten, so daß der König die Anstalt unter seinen Schutz nahm. Welches Ansehen Pestalozzi und seine Methode in Spanien genoß, wird durch nachfolgende Sachverhalte augenscheinlich: 1. Uber die Pestalozzisdhe Methode durfte erst dann eine Arbeit veröffentlicht werden, wenn sich das Königliche Pestalozzische Militärinstitut über das Manuskript gutachtlich geäußert und die Publikation gebilligt hatte. 2. Der König schenkte Pestalozzi sein Bild, das er von Goya 101
eigens für ihn hatte malen lassen. 3. Angesehenen Personen wurde die Erlaubnis erteilt, sich im Madrider Militärinstitut über die Pestalozzische Methode zu unterrichten (85). Gabriel Compayre macht im Schlußteil seines Buches, in dem er über die Pestalozzibewegung in verschiedenen europäischen Ländern unterrichtet, darauf aufmerksam, daß der Ruf des neuen Erziehungssystems in Spanien so gut war, daß man nicht nur — wie Pestalozzi es ja audi getan hatte — die Kinder der Armen darnach unterrichtete, sondern sogar spanische Prinzen nach ihm erzog und so der Erfüllung des Wunsches von Pestalozzi nahekam, der wollte, daß die Elementarerziehung für alle die gleiche würde. Aber die Weiterentwicklung der Pestalozzischen Pädagogik in Spanien entsprach nicht diesen günstigen Anfängen. Sie wurde durch die politische Entwicklung verhindert. Das Madrider Pestalozziiristitut wurde bereits im Jahre 1888 geschlossen. Auch in andere südeuropäische Länder fanden die pestalozzianischen Ideen Eingang, z. B. in Ungarn und Serbien. Einer ihrer ungarischen Apostel war der Gymnasialdirektor Dr. Stephan Ludwig Roth (1796—1848), der in der ungarischen Literatur als der „sächsische Pestalozzi" bezeichnet wurde. Er hatte (86) in Tübingen protestantische Theologie studiert, im September 1818 Fellenberg in Hofwyl und einen Monat später Pestalozzi in Ifferten besucht und war bei diesem bis zum Frühjahr 1820 als Lehrer tätig gewesen. Auf Drängen seines Vaters kehrte er nach Tübingen zurück und schloß seine Studien mit dem Erwerb der Magisterwürde ab. Das Thema seiner Dissertation lautete: „Das Wesen des Staates als eine Erziehungsanstalt für die Bestimmung des Menschen." Nach seiner Rüdekehr in die Heimat veröffentlichte er 1821 ohne Angabe des Druckers und des Verlegers die Broschüre: „An den Edelsinn und die Menschenfreundlichkeit der sächsischen Nation in Siebenbürgen, eine Bitte und ein Vorschlag für die Errichtung einer Anstalt zur Erziehung und Bildung armer Kinder für den Beruf eines Schullehrers auf dem Lande." Schon die Wahl des Themas seiner Dissertation und auch die von ihm veröffentlichte Broschüre zeigen ihn als Schüler Pestalozzis. Noch deutlicher trat das in seiner Tätigkeit als Lehrer (ab 1822) und Rektor (ab 1831) am Gymnasium zu Mediasch in Erscheinung. Er wirkte dort im Geiste Pestalozzis. Die Einführung des Turnunterrichtes ging auf ihn zurück. Sein Aridenken blieb lange lebendig, auch wegen seines tragischen Endes. 1834 war er Pfarrer geworden und hatte sich von da an am politischen Leben beteiligt. Am 11. Mai 1849 wurde er wegen politischer Umtriebe von einem ungarischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt und drei Stunden darauf erschossen. Bedeutender noch als die Rothsche Vermittlertätigkeit der Pestalozzischen Pädagogik für Ungarn war die der Gräfin Maria Theresia Brunsvick (87), der unsterblichen Geliebten Beethovens, die Salzmann in Schnepfenthal und Pestalozzi in Ifferten besuchte und dann für ihre ungarische Heimat die „Priesterin und Verkünderin Pestalozzischer Lehren" wurde. „Unter dem Einfluß des persönlichen Zaubers von Pestalozzi beschließt sie, sich im Wege der Er-
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Ziehung der armen Kleinkinder der sittlichen Hebung des Volkes zu widmen." (88) Ihre erste Schöpfung ist ein Heim für kleine Kinder, dem sie den Namen „Engelsgarten" gibt. Sie wurde nach der Charakterisierung Kem£nys „zur Bahnbrecherin der modernen Sozialerziehung, zur Begründerin des Kleinkindbewahrsystems" in Ungarn. Für die westlichen Nachbarn Ungarns, die Bewohner des späteren Jugoslawiens, war der Spiritual des Seminars in Klagenfurt und spätere Bischof von Marburg, Anton M . Slomsek (1800—1862), ein Herold pestalozzianisdier Pädagogik. Seine für die Schulen geschriebenen Lehrbücher sowie seine in der Sammlung „Drobtinice" veröffentlichten Abhandlungen stehen alle unter dem unmittelbaren Einfluß Pestalozzis (89). überraschend würde es sein, wenn das Land nördlich von Deutschland, das sich aufnahmebereit für die deutsche Kultur im allgemeinen und für die deutsche Pädagogik im besonderen erwiesen hatte, Dänemark, sich vor dem Pestalozzianismus verschlossen hätte. Das war aber keineswegs der Fall. Die dänische Regierung (90) schickte bereits im Jahre 1803 zwei Lehrer, Strom und Torlitz, nach Burgdorf, damit sie an Ort und Stelle die Pädagogik Pestalozzis studierten. In ihre Heimat zurückgekerht, eröffneten sie eine Pestalozzischule in Rosenhagen (91). Strom veröffentlichte auch (1804) eine Darstellung der Pestalozzischen Methode (den Pestalozziske Elementarundervisninge Hovedpunktes). Es erschien in Dänemark auch noch einige andere Pestalozziliteratur im Laufe des 19. Jahrhunderts. So zur ersten Jahrhundertfeier von Rugaard D. E. „Skole-Reformatoren Joh. Heinr. Pestalozzis Hundredaare Mindefest i Dänemark" 1846. Kjobenhavn 1846. 1876 gab H. Trier Heinrich Pestalozzi. Et Liosbillede fra Schweiz. Efter Morf, Kjobenhavn", heraus. Daß sich die Wirkungen der Pestalozzischen Pädagogik auch bis nach Asien hinein erstreckten, dafür ist Japan (92) ein schlagender Beweis. Von einem frühen Einfluß deutscher Pädagogik kann dort natürlich nicht die Rede sein, weil Japan sich bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts sowohl in der allgemeinen Kulturentfaltung wie auch in der pädagogischen Entwicklung europäischen Einflüssen verschloß. Es kann sich in Japan also nur um posthume Einflüsse Pestalozzis handeln. — Nach der Darstellung Osadas beginnt die japanische Pestalozzirenaissance erst im Jahre 1920. Als ihre Symptome gibt Osaka in dem angezogenen Aufsatz an: Man beginnt mit einer japanischen Übersetzung von Pestalozzis sämtlichen Werken. Vom ersten Band waren bereits 1927 4000 Exemplare verkauft. Gewiß ein bedeutender Erfolg. Von der durch A. Buchenau, Ed. Spranger und H. Stettbacher besorgten deutschen Ausgabe von Pestalozzis sämtlichen Werken waren um die gleiche Zeit in Deutschland erst 1500 Exemplare abgesetzt. Die Japaner, die nach Europa kommen, besuchen in großer Zahl das Pestalozzianum in Zürich und das Grab und die Stätten der Wirksamkeit Pestalozzis. Die Kopie des von K. Grob gemalten Pestalozzibildes („Pestalozzi in Stans"), das Osaka von der öffentlichen Kunst-
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Sammlung in Zürich mitgebracht und in Tokio hatte kopieren lassen, war im Jahre 1930 bereits in 12000 Exemplaren verkauft. Pestalozzis Lebensbild steht in dem Lesebuch der japanischen Volksschulen, und daher wird es kaum einen Japaner geben, der Pestalozzi nicht kennt. Viele japanische Lehrerseminare feiern alljährlich am 17. Februar, dem Todestag Pestalozzis, ein Pestalozzifest mit Vorträgen, Ausstellungen usw. Im Jahre 1930 hat man in einer japanisdien höheren Mädchenschule Pestalozzis Hauptwerk „Lienhard und Gertrud" dramatisiert und es unter dem Titel „Der Einfluß des Hauses: Das Geheimnis der sozialen Reform" von den Schülern aufführen lassen. Osaka faßt z u s a m m e n „ E s ist also keine Übertreibung, wenn ich behaupte, daß Pestalozzi jetzt in Japan lebendig ist" (93). Osaka sucht auch zu erklären, wie es kommt, daß Japan sich für den Geist Pestalozzis (nicht für die Einzelheiten seiner Unterrichtsmethode) so aufnahmebereit gezeigt hat. Für ihn liegt die Erklärung darin, daß die pestalozzische Pädagogik wesentlich keine europäische, sondern eine orientalische Pädagogik ist. Denn die von ihr geforderte Wohnstubenerziehung, deren Kraft die Mutterliebe bildet, sei im Osten noch lebendige Wirklichkeit. Das Grundprinzip der pestalozzianisdhen Persönlichkeitspädagogik sei die Gemeinschaft. Von ihr aber behauptet Osaka im Anschluß an Max Scheler, sie sei orientalisch und die „Gesellschaft" sei europäisch. Daher kommt es auch/daß eine wirkliche Gemeinschaftsschule in der vom individualistischen Wollen geführten rationalistischen Welt Europas nur sehr schwer, leicht aber in der vom Gesamtwillen geführten, durchgängig irrationalistischen, ja bisweilen mystischen Welt des Orients sich entfalten könne. Daher, meint er, seien auch die auf dem Gemeinschaftsbegriff beruhenden Erziehungsgedanken Pestalozzis jetzt in Japan lebendiger als in Europa und in Amerika. Daher möchte er es geradezu als einen „Fehler Gottes" erklären, „daß Pestalozzi in solch einer individualistischen und rationalistischen Heimat, wie Europa, geboren wurde". H. Stettbacher läßt in einem Aufsatz des gleichen Heftes der „Internationalen Zeitschrift für Erziehungswissenschaft" „Pestalozzi, Japan und die Mütter" das letztere nicht gelten, erweist vielmehr Pestalozzis Erscheinen dort in doppelter Hinsicht als Notwendigkeit. Aber die Behauptung, daß die Japaner zu den eifrigsten Besuchern der Pestalozzistätten in der Schweiz gehören, bestätigt er aus seiner eigenen Erfahrung. Ihm ist dabei aufgefallen, „daß es nicht nur Pädagogen sind, die diese tiefe Verehrung für Pestalozzi zeigen, sondern Japaner aus den verschiedensten Berufen" (94). Auch die Art, wie sie sich in die Pestalozzierinnerungen versenken, beeindruckte ihn stark. „Es ist, als wollten sie all die Schwingungen in sich aufnehmen, die von jenen Dingen ausgehen, welche einst Pestalozzi umgaben."
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6. August Wilhelm Friedrich Fröbel und der Kindergarten Wohl bei keinem anderen deutschen Pädagogen liegt der Auslandseinfluß, ja, die Weltbedeutung so schleierlos offen und ist daher so leicht erkennbar, wie bei F r ö b e l . In fast allen Kulturländern finden wir den von ihm begründeten Kindergarten, vielfach unter Beibehaltung seines deutschen Namens oder in der anglisierten Form „Kindergarden". Man sollte annehmen, daß mit ihm auch die gesamte Fröbelsche Ideenwelt um die Erde gewandert sei. Das ist aber leider nidit geschehen. Der N a m e Fröbel hängte sich zu eng an die von ihm geschaffene Einrichtung, so daß diese oft zum Grabe seiner Ideen wurde. Sogar in Deutschland selbst erlag Fröbel auf Jahrzehnte bei der breiten Menge der Pädagogen diesem Schicksal. Sie sahen in ihm in einseitiger Enge nur den Begründer einer Erziehungsstätte für die Kleinsten, bis eine spätere Forschung und ein „Neulesen" seiner Schriften im 20. Jahrhundert und die daraus namentlich nadi dem Weltkrieg 1914—1918 einsetzende Fröbel-Renaissance die Erkenntnis verbreitete, daß Fröbel, der Verfasser der „Erziehung des Menschengeschlechtes", für die Gesamterziehung, also weit über den Rahmen einer Kleinkindpädagogik hinaus, reiche Anregungen ausgestreut hatte. Auslandsbedeutung Fröbels und Ausbreitung des Kindergartens über die deutschen Grenzen hinaus fallen also, wenigstens für die ersten Jahrzehnte, so sehr zusammen, daß die erstere nicht ohne die letztere dargestellt werden kann. Hier ist also ein Beispiel für die von mir S. 17 angekündigte Überschneidung des Einflusses eines deutschen Pädagogen und einer deutschen Schulart, so daß hier die von mir angestrebte und im allgemeinen auch durchgeführte getrennte Behandlung von Pädagoge und Schulart unmöglich ist. Fröbel ist ein deutscher Pädagoge im prägnanten Wortsinne. Auch die Kindergartenidee ist urtümlich deutsch. Mit der glücklichen Bezeichnung, die sich so schnell die Welt eroberte, hatte Fröbel sagen wollen, daß die Tätigkeit des Erziehers mit der des Gärtners verwandt sei, daß jener das Kind betreuen müsse, wie der Gärtner die Pflanze: als organisches, ganzheitliches Wesen. Es ist darauf hingewiesen worden (1), daß Fröbel damit genau in der Linie der biologisch-organisch ausgerichteten Auffassung der Bildung steht, die von den beiden Klassikern des Volkes der Dichter und Denker gewonnen wurde, die Schiller in dem Distichon „Das Höchste", in dem er nur einem Gedanken Goethes die Form gab, ausdrückte: „Suchst Du das Höchste, das Beste: die Pflanze kann es dich lehren. W a s sie willenlos ist, sei du es wollend. D a s ist's."
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Deutsch ist ferner eine andere Zentralidee der Fröbellehre: der Mythos der Mutterschaft; deutsch auch die Tiefe, ja mitunter mystische Dunkelheit seiner Sprache. Die Deutschheit der Fröbelschen Pädagogik wurde in den letzten Jahren vor allem von Joseph Voß (2) eindringlich betont. Nach seiner Ansicht ist die Fröbellehre nicht nur ideelich, sondern auch historisch an das Deutschtum gebunden, da sie ein Ergebnis des Kriegserlebnisses von 1813/14 und des Neuplatonismus deutsch-idealistischer Prägung ist, zu dem Fröbel über Schelling gelangte. Nach der Behauptung von Voß liegt ihr auch ein politisches Ideal zugrunde, das im heutigen Deutschland Geltung gewonnen hat: „Jeder Deutsche ist ein Glied seines Volkes und hat unbedingten Gehorsam unter die Forderungen des Ganzen zu leisten." Außer Voß hat der Jenenser Professor Peter Petersen in seiner erst 1942 im Engelhard-Reyher-Verlag in Gotha erschienenen Sdirift „Friedrich Fröbel, Deutschlands größter Erzieher" die bewußte Deutschheit Fröbels nachdrücklich herausgestellt. Das verrate sich schon, so führt er aus, im Thema seines Strebens, das im Grunde stets dasselbe geblieben sei und sich bereits im Titel seines ersten, 1821 veröffentlichten Schriftchens ausgesprochen habe, „Durchgreifende, dem deutschen Charakter erschöpfend genügende Erziehung", ferner darin, daß er sein Werk immer mit der deutschen Sache verbunden sah, indem er z. B. die „Gründung" des Kindergartens mit dem Gutenbergfest und außerdem mit dem Johannisfest am 28. Juni 1840 verband. Nach Petersen ist Fröbels pädagogisches Schaffen so eigengewachsen deutsch, daß fremde Ausflüsse, die sich sonst in der deutschen Pädagogik seiner Zeit auswirkten, wie der Neuhumanismus, dieser erneute Rückgriff auf die Antike, und Ideen der französischen Aufklärung und Revolution und der englischen Philosophie in ihm niemals anklingen. Bei diesem ausgesprochenen deutschen Charakter seiner Pädagogik könnte man auf die Vermutung kommen, daß Fröbel selbst ihre Verbreitung über die deutschen Grenzen hinaus gar nicht gewünscht und auch nicht angestrebt habe, und daß ihr etwaiger Export nur unter Verfälschung ihres Wesens möglich gewesen sei. Wenn man die Frage entscheiden will, ob die Verbreitung seiner Ideen im Ausland Fröbels Wunsch und Absicht entsprach, so könnte man darauf hinweisen, daß er — wie wir im einzelnen noch sehen werden — selbst ins Ausland, nämlich in die Schweiz, ging, als ihm dort ein Wirken (3) in seinem Sinne möglich wurde. Und 1836 gab er eine Schrift heraus, um Freunde dafür zu gewinnen, daß sie nach Nordamerika auswanderten, um dort seine Erziehungsideen zu verwirklichen. Man hat angenommen, daß er damals kurze Zeit auch daran gedacht hat, selbst nach Nordamerika überzusiedeln, um seine Ideen „dort auf einem ungekünstelteren Boden", der ihm nach seiner Erfahrung Deutschland nicht zu sein schien, ins Leben treten zu lassen (4). Und wir wissen ferner (5), daß er sich später, als der Kindergarten in Deutschland verboten war und die von ihm mehrmals erbetene Prüfung seiner Bestrebungen nicht ausgeführt wurde, ernstlich mit dem Gedanken trug, trotz seines Alters
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noch nach Amerika auszuwandern, daß er sich deshalb mit einem Bruder seiner zweiten Frau, der in Philadelphia wohnte, in Verbindung setzte, aber vor Empfang einer Antwort bereits starb. Aber in der Schweiz war er zwar jenseits der politischen Grenzen Deutschlands, blieb aber dodi im deutschen Kulturraum, und auch in Amerika gedachte er unter den Deutschen zu wirken, dort — wie Hansdimann es formuliert — „das Deutschtum als Wesen eines Urund Stammvolkes zur Geltung zu bringen" (6). Aber es fehlt doch nicht an Hinweisen darauf, daß er seine Ideen auch für Ausländer fruchtbar gemacht sehen wollte. Der Amerikaner Boone (7) führt als Meinung Fröbels, der er häufig Ausdruck gegeben habe, an, daß seine Kindererziehung „could only have its füll development in America, where the national principle is selfgovernment in perfect freedom, but according to law" (8). Von Beschränkung auf die Deutschen in Nordamerika ist da keine Rede. Und auch der langjährige Mitarbeiter Fröbels, Middendorff, bezeugt den Wunsch Fröbels, daß seine Ideen ins Ausland getragen würden. Bald nach dem Tode Fröbels sagte er auf einem Spaziergang zu Frau von Marenholtz-Bülow: „Sie, Frau von Marenholtz, müssen die Verbreitung im Auslande übernehmen, wir anderen kommen nicht dahin, und Sie wissen, auch F r ö b e l h a t d i e s i m m e r g e w ü n s c h t / ' (8) Es fehlt nicht an Stimmen, die diese Beweisführung nicht anerkennen, die z. B. behaupten, die von Frau von Marenholtz-Bülow betriebene Internationalisierung seiner Lehre habe nicht im Sinne Fröbels gelegen, und seine Äußerungen von einer beabsichtigten Wirkung jenseits der deutschen Grenzen seien falsch verstanden worden; sie halten daran fest, daß Fröbel auch im Ausland nur als Deutscher für Deutsche habe wirken und nicht deutsches Geistesgut dem Ausland habe anpassen wollen (9). Gleichzeitig — und damit sind wir bei der zweiten der obengenannten Fragen — wird positiv behauptet, die r e i n e Fröbellehre habe auch gar nicht den Weg über die deutschen Grenzen gefunden bzw. finden können, sondern sie habe vor ihrem Export zunächst Veränderungen erfahren bzw. auch erfahren müssen. Zu dieser, zumal von Voß aufgestellten These ist kritisch zu sagen, daß das, was hier von Fröbels Lehre und ihrer Auslandswirkung behauptet wird, auch von vielen anderen deutschen Pädagogen und der Wirkung ihrer Pädagogik auf andere Länder gesagt werden kann. Auch die Pädagogik Pestalozzis, Herbarts und Kerschensteiners verrät ihren Ursprung aus deutschem Kulturboden. Und da, wo wir von ihrem fruchtbaren Einfluß auf das pädagogische Denken und die pädagogische Wirklichkeit anderer Völker sprechen, handelt es sich in der Regel nicht um eine vollständige Übernahme ihrer unveränderten Theorie oder um eine sklavische Nachahmung ihres Vorbildes, sondern um eine eklektizistische und modifizierte Übernahme, häufig nur um Anstöße zu eigener pädagogischer Produktivität. Das fremde Volk übernimmt von dem deutschen Pädagogen das, was zu seiner völkischen Eigenart einigermaßen paßt und von der Stunde gefordert wird. Dabei erleidet dann das deutsche pädagogische Gedankengut in der Anpassung an die von der deutschen abweichende nationale Struktur mit Notwendigkeit Veränderungen. 107
Diese mögen bei dem Export der Fröbelschen Pädagogik mitunter sehr groß gewesen sein. Voß (10) zeigt das z. B. an der französischen Übertragung der Fröbelschen Spiellieder, die, wie er ironisch bemerkt, dort „faktisch eine Anleitung zur Gymnastik für den Kinderdaumen" geworden sind. Und er behauptet, aus der Fröbelschen Plastik des Wahren, Schönen und Guten seien „formes mathématiques, artistiques et formes d'objets usuels", aus platonischem deutschem Mythos sei positivistische Methodik geworden (11). Aber Modifikationen, wenn auch nicht immer so weitgehende wie die eben behaupteten, erleidet fast jede nationale pädagogische Theorie oder Idee bei der Übernahme durch ein anderes Volk. Einfache, unveränderte Übertragung einer pädagogischen Theorie oder einer pädagogischen Einrichtung eines Volkes in ein anderes, die sich, zumal bei starkem kulturellem Gefälle, mitunter findet, bleibt sogar meistens im tieferen Sinne unfruchtbar und schädigt bzw.- vergewaltigt die nationale Eigenart des letzteren. Die wahrhaft produktive Beziehung der Pädagogik eines Volkes zu der eines anderen besteht darin, daß jene durch diese angeregt und vielleicht auch geleitet, unter Verwertung ihrer Ideen zur selbständigen Lösung eigener pädagogischer Probleme gelangt. So war es aber auch beim Export der Fröbellehre. Durch sie empfingen die einzelnen Länder nach der Darstellung von Voß, was ein jedes zum öffentlichen Wohle nötig hatte: „Fröbel gab den Engländern eine neue Form der Spielschulen, den Franzosen und Belgiern ,1a méthode' und neues Material für rhetorische Meisterstückchen, den Holländern einen neuen Typus von Industrieschulen und den Schweizern ein neues nützliches' Erziehungsmittel, besonders befürwortet durch die Gesellschaft für den allgemeinen Nutzen." (12) übrigens liegt die Ursache der bei der Übernahme einer ausländischen Pädagogik vorkommenden Änderungen nicht immer unmittelbar an den Empfängern, sondern nicht selten auch an den „Exporteuren". Vielleicht haben sie das Tiefste im Wesen und in den Ideen des Pädagogen, dessen Obermittler in das Ausland sie sein wollen, selbst nicht begriffen, vielleicht haben sie ihn in Einzelheiten falsch verstanden oder schlecht interpretiert; dann muß deshalb schon das Bild des Pädagogen, das das Ausland durch sie empfängt, verzerrt oder falsch sein. Vielleicht haben sie aber auch gar nicht die Absicht gehabt, die ganze Ideenwelt des betreffenden Pädagogen zu exportieren, sondern sie haben sich bewußt mit einer Auswahl des nach ihrer Meinung Wesentlichen oder dessen, wovon sie glaubten, daß es den Bedürfnissen oder Interessen des fremden Volkes entgegenkäme, begnügt, so daß dieses nur zu einem stückweisen, vielleicht unzusammenhängenden Wissen von Wesen und Lehre des ihm bisher fremden Pädagogen kam. Einzelnes von dem trifft auf die Ausfuhr der Fröbellehre zu. Der von der erfolgreichsten Vermittlerin, der Baronin von Marenholtz-Bülow, dem Ausland gezeigte Fröbel konnte gar nicht der echte deutsche Fröbel sein, weil sie ihn selbst gar nicht besessen hat. Nach Voß (13) hat sie sich „niemals abgequält, die Fröbelsche Lehre und Weisheit" zu erringen. Nach M. Müller (14) handelt es sich bei ihr nie, obwohl Fröbel oft er-
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wähnt und zitiert wird, um quellenmäßige Bearbeitung: in den meisten Gedanken sei Fröbel zwar wieder zu erkennen, aber die Baronin habe sie selbständig durchdacht, erweitert oder umschrieben. In keinem ihrer Werke reiche sie an die metaphysische Tiefe Fröbelscher Denkweise heran und sie sei nidit frei von utilitaristischen Zugeständnissen an die soziale Lage ihrer Zeit (15). Dieser kritischen Einstellung späterer Fröbelkenner gegenüber Frau von Marenholtz-Bülow als Missionarin Fröbelscher Pädagogik scheint die hohe Wertung, die Fröbel ihr als seiner Jüngerin entgegenbrachte, zu widersprechen und ebenso die Tatsache, daß er sie zu seiner Universalerbin gemacht hat. Er hat sie dadurch doch — so sollte man annehmen — als kompetente Vertreterin seiner Ideen bestätigt. M. Müller setzt sich mit diesem Einwand auseinander und benennt einige Umstände, die ihm seine Kraft nehmen: Fröbel war bereits 67 Jahre alt und durch manche Enttäuschungen verbittert, als er Frau von Marenholtz kennenlernte. Man kann sich vorstellen, wie es auf ihn wirken mußte, als er nun endlich einen Menschen — eine Frau —, „die den erwünschten Lebensraum und das Vermögen hatte, sich für ihn einzusetzen", fand. Fröbel ließ sich überdies „hinreißen von der Klarheit ihrer Formulierungen. Er hörte anders, als gesprochen wurde" (16). Daß die Baronin der Welt ein in mancher Beziehung unrichtiges Bild der Pädagogik Fröbels vermittelte, ist übrigens nicht nur die Ansicht heutiger Fröbelkenner, sondern es war auch schon die Auffassung einzelner Zeitgenossen, z. B. seiner Witwe Luise Fröbel und seiner Apostelin Henriette SdiraderBreymann (17). In einem Brief, den die letztere im Dezember 1874 an Luise Fröbel schrieb, berichtet sie von ihrem Studium Pestalozzis und von der ihr dabei aufgegangenen Erkenntnis, daß Pestalozzi „in der ersten Hälfte seines Wirkens so ganz eins war mit Fröbels Grundgedanken der Erziehung, aber später zu sehr auf die Schulmeisterei verfiel und nun mit seiner Praxis geradezu seinen Prinzipien entgegenhandelte, indem er die Mutter nicht mehr Mutter sein ließ, sondern sie zur Schulmeisterin stempelte" (18). Fröbel dagegen, so führt sie weiter aus, sei — eingehend auf die Grundideen Pestalozzis — viel glücklicher in der Wahl der Mittel gewesen, nur hätten die Menschen sie von seinen Grundprinzipien losgerissen und Schulapparate aus dem gemacht, „was nur Benutzung fürs Leben sein soll". In dem gleichen Brief fordert Henriette Schräder Frau Fröbel auf, in der Aufzeichnung ihrer Lebenserinnerungen fortzufahren und deren Herausgabe zu versuchen. Und an dieser Stelle heißt es dann wörtlich: „Dann kommen wir auch an die Zeit, wo Fröbel in dein Leben tritt, und da kannst du nur gewisse Zeiten erfassen und darstellen u n d auch v i e l e s in F r a u v o n M a r e n h o l t z ' D a r s t e l l u n g b e r i c h t i g e n , ohne damit als Polemik herauszutreten." (19) Ehe wir nun zur Betrachtung der Auslandswirkungen Fröbelscher Pädagogik übergehen, wollen wir auch am Beispiel Fröbels den Wechselbezug der Pädagogik verschiedener Länder aufzeigen. Es ist durchaus berechtigt, nach der Auslandswirkung Pestalozzis die
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Friedrich Fröbels zu betrachten, da er von jenem die stärksten Anregungen empfing und in mehr als einer Beziehung sein Fortsetzer war. Compayre bezeichnet ihn geradezu als „le continuateur de Pestalozzi" (20). Fröbel war schon während seiner ersten pädagogischen Tätigkeit als Lehrer an der Frankfurter Musterschule durch seinen Direktor Gottlieb Anton Gruner, der selbst drei Monate bei Pestalozzi gearbeitet hatte, auf dessen Schriften aufmerksam gemacht und durch ihre Lesung so von Begeisterung für Pestalozzi erfüllt worden, daß er im August 1805 zu kurzem Besuch nach liierten reiste. Die Wirkung dieses kurzen Besuches war für Fröbel „erweckend und betäubend". Pestalozzi wurde für ihn „der vielgeliebte alternde Vater", und dessen Stammbuchverse wurden für ihn ewig gültige und nie vergessene Mahnung: „Der Mensch bahnt sich mit der Flamme des Denkens und mit dem Funken des Redens den Weg zu seinem Ziel. Aber er vollbringt diesen Weg und vollendet sich selber nur durch Schweigen und Tun." (21) Wie stark diese erste persönliche Berührung mit Pestalozzi auf Fröbel gewirkt hat, ergibt sich daraus, daß er schon während der Frankfurter Zeit seinem Bruder den heimlichen Plan eröffnete, „dereinst ganz im Geiste Pestalozzis ,handelnd, bildend' das darzustellen, was seine Seele erfüllte, nämlich in Deutschland auf dem Lande eine Anstalt zu begründen". Für einen pestalozzibegeisterten Menschen war damals Frankfurt am Main, das eine große Pestalozzigemeinde besaß, der richtige Boden. Das Haus, in dem Fröbel als Hauslehrer wirkte, das der Familie von Holzhausen, war einer der Brennpunkte des Frankfurter Pestalozziinteresses. Frau von Holzhausen hatte Fröbel schon die erste Reise nach Ifferten ermöglicht und sich von ihm — in leider nicht erhaltenen Briefen — über seine Beobachtungen berichten lassen. Der Oheim seiner Zöglinge, Friedrich von Holzhausen, hatte Pestalozzi schon vor Fröbel besucht und war dann im Jahre 1807 zum zweiten Male in Pestalozzis Anstalt. Von ihm empfing dann auch der Vater der Zöglinge Fröbels die Anregung, im September 1808 seine drei Söhne mit ihrem Hofmeister nach Ifferten zu schicken. Für Fröbel war die Möglichkeit, während dieses Aufenthaltes Pestalozzis Methode an Ort und Stelle eingehend zu studieren, deshalb besonders groß, weil seine Zöglinge in Pestalozzis Institut unterrichtet wurden und er nur außerhalb des Institutes mit ihnen zusammenwohnte und es ihm daher an Zeit und Gelegenheit zum Pestalozzistudium nicht fehlte. Wie sehr er für Pestalozzi und seine Pädagogik begeistert wurde, ergibt sich aus seinen damaligen Briefen (22). Fröbel blieb allerdings nicht so lange in Ifferten, wie ursprünglich geplant war. Im Herbst 1809 fand die bekannte fünftägige amtliche Revision der Anstalt statt, die kein günstiges Ergebnis hatte. Die Meinungen der Mitglieder des Lehrkörpers, wie die zutage getretenen Obelstände arti besten beseitigt werden könnten, waren geteilt. Auf der einen Seite standen Pestalozzi und Niederer, auf der anderen vor allem Schmid, zu dem auch Fröbel hielt. Pestalozzi versuchte erfolglos Fröbel zu einer vermittelnden Haltung zu bewegen. Auf den im Mai 1810 erfolgten Bericht Fröbels an den Vater seiner Zöglinge über die an der Anstalt entstandenen Parteiungen
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berief dieser den Lehrer mit seinen Schülern nach Hause zurück. Trotz der Parteinahme Fröbels und seines vorzeitigen Abschiedes von Ifferten wurde sein Verhältnis zu Pestalozzi anscheinend nicht dauernd getrübt. Zwischen dem pädagogischen Denken Pestalozzis und den Fröbelsdien Ideen bestanden manche Übereinstimmungen auch schon in dieser Frühzeit Fröbels, z. B. in der Forderung dur freien Selbsttätigkeit, der hohen Wertung der persönlichen Erfahrung als Anlaß geistigen Wachstums, im Grundsatz des naturgemäßen Unterrichts und der Psychologisierung des Unterrichts, in der Betonung der Familienerziehung und der Wohnstubenpädagogik u. a. m. Es wäre durchaus nicht verwunderlich, wenn Fröbel, der begeisterte Schüler, diese Ideen von Pestalozzi, dem verehrten Meister, übernommen hätte. Aber nachweisen läßt sich das mit Sicherheit im einzelnen nicht. Eins mahnt hier zur Vorsicht im Urteil: Fröbel stand Pestalozzi auch in der Zeit seiner größten Begeisterung für ihn nicht völlig kritiklos gegenüber. Schon während seines ersten Aufenthalts findet er zwar viel Lobenswürdiges, aber auch Anlaß zu Kritik. Er tadelt vor allem das überhandnehmen der Analyse und das Auseinanderreißen des organisch Zusammengehörigen bei den Pestalozzianern. In dem1 einen oder anderen Punkt könnte die Übereinstimmung zwischen Fröbel und Pestalozzi ja auch dadurch zustande gekommen sein, daß sein eignes selbständiges Denken zum gleichen Resultat geführt hätte. Andere Übereinstimmungen sind vielleicht auch daraus zu erklären, daß beide, wenn auch verschieden stark, unter dem Einfluß Rousseau's standen. Mit der Abhängigkeit Fröbels von Rousseau beschäftigt sich Gabriel Compayré und macht dazu einige, die anscheinend vorhandenen Gegensätze ausgleichende Bemerkungen. So meint er, Rousseau würde, wenn er die von Fröbel begründeten Kindergärten hätte besuchen können (in Wirklichkeit starb er in Fröbels Geburtsjahr), von ihnen befriedigt gewesen sein. Vielleicht hätte ihn im ersten Moment das Spiel- und Arbeitsmaterial in den Händen der Kinder chokiert, ihn, „qui ne permettait à Émile aucun instrument, aucune machine, pas même un hochet". Aber er würde sich mit ihm versöhnt haben, wenn er Fröbels Erklärungen dazu gehört und erfahren hätte, daß sie der Sinnesübung dienen sollten, da er dieser gleichfalls große Bedeutung zumaß. Auch die Rundtänze und die Lieder und die mit beiden beabsichtigten Wirkungen : Schulung des Gehörs und mimische und pantomimische Übung würde er gebilligt haben. Und noch mehr würde er damit einverstanden gewesen sein, daß Fröbel die Zöglinge an die Dinge selbst heranführen wollte, denn auch sein Prinzip war ja „remplacer les livres par les choses" (23). Wenn wir jetzt dazu übergehen, Fröbels Einfluß auf das Ausland im einzelnen zu schildern, liegt es nahe, mit der Schweiz zu beginnen, da wir gerade seine Beziehungen zu Pestalozzi erörterten und von seinen beiden ersten Aufenthalten in der Schweiz hörten. Zwanzig Jahre nach seinem zweiten Besuch der Anstalt in Ifferten, also lange Zeit nach dem Tode Pestalozzis, kam Fröbel zum drittenmal in die Schweiz zur Verwirklichung seiner pädagogischen Ideen in einer von ihm belli
gründeten Erziehungsanstalt. Bei dieser Übersiedlung haben die Erinnerung an Pestalozzi, an seine eigenen Schweizer Lehrjahre, an die Schönheit des Landes und nicht zuletzt das Zusammentreffen mit Xaver Schnyder von Wartensee zusammengewirkt (24). Mit diesem Künstler und bekannten Komponisten populärer Lieder, der Lehrer bei Pestalozzi gewesen und ein Freund Jean Pauls, des Verfassers der Levana, und des angesehenen Gesangsmethodikers Hans Georg Nägeli war, führte ihn ein gütiges Geschick in Frankfurt gerade in der Zeit zusammen, da er sich bei der Verwirklichung seiner pädagogischen Ideen in seiner thüringischen Heimat nicht nur nicht unterstützt, sondern mehrfach gehemmt fühlte. Ihm schüttete er sein Herz aus und erzählte ihm gleichzeitig von seinen pädagogischen Zielen und Methoden. Schnyder wurde durch Fröbels Bericht stark beeindruckt. Ihm als Künstler leuchtete der hohe Wert eines Erziehungsplanes ein, der jedem Zögling die Bewahrung und Entwicklung seiner individuellen Eigenart ermöglichen sollte. Er bot daher Fröbel zur Verwirklichung seiner Ideen und zur Errichtung einer Erziehungsanstalt sein Schloß Wartensee im Kanton Luzern an. Fröbel nahm den Vorschlag dankbar an, reiste mit seinem Neffen Ferdinand, dem ältesten Sohne seines Bruders Christian, nach Wartensee und gründete dort eine Filialstiftung seiner Erziehungsanstalt in Keilhau. Die Wartenseer Anstalt wollte „eine Ausbildung für das einfache, bürgerliche Gewerbe, für das höhere Gesellschaftsleben und für die eigentliche Kunst und Wissenschaft durch Erziehung und Ausbildung des Menschen in der dreifachen Richtung seines Wesens, seiner Tatkraft sowie seines Empfindens und Denkens" vermitteln. Zugelassen waren Angehörige aller Nationen, besonders diejenigen, die Deutsch, Französisch, Englisch oder Italienisch sprachen. Fröbel trat also hier, wie man gesagt hat, da ihm das „Deutsche" in Keilhau anscheinend keinen Erfolg gebracht hatte, zu dem Allgemeinmenschlichen über, wie es der Philosoph Krause schon vorher verlangt hatte und wie es auch den Grundlagen seiner Mensdienerziehung entsprach. Eine gewisse Betonung des Deutschtums kann höchstens noch darin gesehen werden, daß als Grundlage der wissenschaftlichen Spracherlernung und des eigentlichen Sprachstudiums das Deutsche diente, und zwar wegen seiner anerkannten durchgreifenden Gesetzmäßigkeit und seines Reichtums. Nach einem kurzen Aufenthalt in Keilhau eröffnete Fröbel im Frühjahr 1832 in Willisau seine zweite Schweizer Filiale. Schon in demselben Jahre sandte die Berner Regierung nach Eingang eines günstigen Revisionsberichtes fünf junge Männer zu einer \XA.j ährigen Ausbildung dorthin. Bald darauf hielt Fröbel in Burgdorf einen Ausbildungskurs für angehende Lehrer. Im Sommer 1835 siedelte er ganz nach Burgdorf über und übernahm dort im Auftrage der Regierung die Leitung einer Erziehungsanstalt. Als Direktor der Anstalt hatte er auch den Wiederholungskurs für Lehrer zu leiten, wobei ihm die Möglichkeit gegeben war, ihnen seine Lehre nahezubringen. Während der Burgdorfer Zeit entwickelte Fröbel auch seine Theorie weiter. Er beschäftigte sich damit, „eine vollständige Entwicklung des Kindes von innen heraus" theoretisch zu begründen, und sann den Mitteln 112
nach, „welche angewandt werden müßten, um das Denken, Fühlen und Wollen der Kleinen zu entwickeln". Auch erforschte er die Reihenfolge, in welcher „die Spielmittel dem Kinde zu reichen waren" ( 2 5 ) . Das Ergebnis seines Nachdenkens war seine Abhandlung „Erneuerung des Lebens fordert das Jahr 1 8 3 6 " , die er in den ersten Tagen des Jahres 1836 in Burgdorf niederschrieb. Als dann Fröbel den Schweizer Wirkungskreis aufgab und nach Deutschland zurückkehrte, hielt er die Verbindung mit seinen Schweizer Freunden aufrecht, und sein Geist blieb dort, zumal im Kanton Bern, wirksam. Für seine Pädagogik traten an der Anstalt in Willisau außer dem schon genannten Ferdinand Fröbel sein Jünger und Mitarbeiter Mittendorp ein. Und als 1839 jüngere Schweizer Pädagogen die Leitung der Anstalt übernahmen, da blieb Fröbels Geist trotzdem in ihr lebendig, weil diese ihn bereits in sich aufgenommen hatten. Während Middendorp nach Keilhau zurückkehrte, trat Ferdinand Fröbel in Burgdorf ein und übernahm später zuerst teilweise und von 1841 an ganz die Anstaltsleitung. Durch alle diese Fröbelianer „wurde der Gedankenkreis der Fröbelschen Erziehung in dem Erziehungswesen des Kantons Bern außerordentlich zur Geltung gebracht" ( 2 6 ) . So war der Schweizer Boden für den späteren Fröbel und seinen Kindergarten durch Pestalozzi, den jüngeren Fröbel und die genannten Fröbelianer glücklich vorbereitet. So ist auch erklärlich, daß der Kindergarten später verhältnismäßig schnell in der Schweiz Eingang fand und die Kindergartenpädagogik unter den Schweizer Pädagogen großem Interesse begegnete. Elisabeth von Calcar belegt das letztere in ihrem Buch durch ein sehr illustratives Beispiel. Sie hat sich gerade beklagt, daß ihre holländische Heimat noch weit von einer richtigen Einschätzung Fröbels entfernt sei, daß es dort noch zu viele gebe, „für welche Fröbel nicht mehr als ein Pendant der guten alten Kinderwärterin ist, welche Sprüche erzählen kann". Anschließend weist sie dann auf die Schweiz hin, in der sie selbst als Fröbelapostel gewirkt hatte, und behauptet, dort sei die Einstellung zu Fröbel eine viel günstigere. „Ich sah dort einmal" — so schreibt sie — „in einem schweizerischen Kindergarten drei Professoren zugleich, welche mit Aufmerksamkeit diese Spielchen in Augenschein nahmen. Es war Signor Cammarotta, Professor der Weltweisheit in Neapel, der von seiner Regierung zur Besichtigung der Kindergärten geschickt worden war, ferner Professor Callier aus Genf und Professor Raoux aus Lausanne, von denen der letztere in seinem eigenen Garten und Gartenhaus einen Kindergarten eingerichtet hatte" ( 2 7 ) . In der Schweiz war also der Kindergarten, diese Schule der Kleinsten, ein Gegenstand des Interesses sogar für gelehrte Professoren geworden. Als Werberin für Fröbel trat in der Schweiz, wie auch in mehreren anderen Ländern, besonders Frau von Marenholtz-Bülow hervor. 1 8 5 6 bereits wirkte sie für ihn in Zürich; 1 8 6 0 ist sie wieder in der Schweiz und hält Vorträge in Lausanne, Genf, Neuchätel und Bern und begründet mehrere Anstalten. Unter ihrem Einfluß entstanden zwei Zentren Fröbelscher Pädagogik: Lausanne und Genf. In Lausanne war ihr Hauptträger der schon erwähnte Professor Raoux, 8
Schneider,
Pädagogik.
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den Berta von Marenholtz-Bülow dauernd für die Sache Fröbels gewonnen hatte. Dieser trat literarisch mit großem Erfolg für die Errichtung von Kindergärten und die Begründung von Fröbelvereinen ein. In Genf wurde der Kindergarten durch Vorträge von Fräulein Breymann und vor allem durch die Leistungen der Frau von Portugal eingeführt (28). Frau von Portugal selbst war in Berlin nach dem Tode ihres Gatten durch Frau von Marenholtz-Bülow für Fröbel gewonnen worden. Nachdem sie sich zunächst bei dieser in Berlin und darauf in dem Kindergärtnerinnenseminar Köhlers in Gotha in Theorie und Praxis des Fröbelschen Kindergartens eingearbeitet hatte, war sie zwei Jahre in Manchester als Fröbelpädagogin tätig, wirkte dann eine Zeitlang in Mülhausen im Elsaß und reiste daraufhin zur Unterstützung der Baronin in die Schweiz, wo sie gemeinsam einen Kursus für Lehrer und Lehrerinnen abhielten und Damen der Aristokratie in Fröbels Geist einführten (29). Für das Ansehen, dessen sich beide Frauen in der Schweiz erfreuten, gibt es. unzweideutige Beweise. Frau von Marenholtz hielt im Jahre 1865 auf dem Kongreß des Internationalen Vereins für soziale Wissenschaften in Bem auf Einladung hin einen Vortrag über die Kindergartenmethode und erhielt daraufhin von mehreren der anwesenden Vertreter das Versprechen, an ihrem Ort für den Fröbelschen Kindergarten einzutreten (30). Adele von Portugal wurde 1875 zur Inspektorin des Kindergartenwesens berufen — was für die damalige Zeit nach M . Müllers (31) Meinung einzig dastehend war — und führte als solche die Aufsicht über 75 Kindergärten des Genfer Landes. Dafür, daß Fröbel sich über die Ausbreitung seiner Lehre in der Schweiz freute, ist uns seine ausdrückliche Bestätigung überliefert, die auch dort hätte angeführt werden können, wo wir die Frage zu beantworten suchten, ob die Auslandswirkung seiner Pädagogik Fröbels Wunsch und Willen entsprochen habe. — Auf einer Reise, die Fröbel als Werber für seine Ideen durch Deutschland unternahm und die er selbst als „Missionsreise" bezeichnete, fiel ihm in Wittenberg die ihm bis dahin völlig unbekannte Schrift „Christlicher Kindergarten, die eigentlichen Primärschulen der christlichen Republik", in die Hände, die von dem Pfarrer Rudolf Stooß von Roche im Münstertal verfaßt und 1845 in Bern bei Chr. Fischer erschienen war (32). Fröbel freute sich über die Schrift, weil sie im Auslande, in der Schweiz, und von einem ihm unbekannten Manne an einem ihm unbekannten Ort' geschrieben war, und besonders, weil sie „den Gegenstand einer großen Gesellschaft eines ganzen Landes — der Schweiz — der Beachtung" vorlegte. Außer in der Schweiz fand die Fröbelpädagogik in zwei anderen kleinen, Deutschland benachbarten Ländern Eingang, nämlich in Holland und Belgien. In beiden war Fröbel selbst nie. Hierher wurden seine Ideen in der Hauptsache durch Schülerinnen, Mitarbeiterinnen und Verehrerinnen von ihm gebracht. In Holland wirkte vor allem die schon genannte Elisabeth von Calcar als Herold Fröbelscher Pädagogik. Ähnlich wie Frau von Portugal war auch sie durch die Baronin bei einer Begegnung mit ihr in Holland für Fröbel gewonnen worden
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(33). Sie hatte dann selbst in Sommelsdyk einen Kindergarten begründet und darin die neuen Ideen erprobt. Dann erst trat sie publizistisch für den Kindergarten ein, behandelte die ersten sechs Spielgaben in „Onze Ontwikkeling of de macht der eerste indrukken" (34), die fünf Arten des Mosaik, die Zahl-, Lage- und Falzstäbchen, die Flechtlatten, das Ring-, Zirkel- und Erbsenspiel sowie die Bewegungsspiele in „Hoop der tockomst" (35), das Falzen, Flechten, Pressen, Aufkleben, Ausstechen und Kartonarbeiten in fünf kleineren Schriften „die kleinen Papparbeiter" und die ganze Fröbelmethode, auch im Hinblick auf den niederen Unterricht, in dem Werk „Fröbels Methode, harmonische Entwicklung des Körpers und des Geistes" (36). Im Jahre 1866 wurde Frau von Calcar vom Minister Thorbecke mit einer „Inspektionsreise betreffend den Zustand der Kleinkinderschulen in Holland" betraut. Trotz ihrer unermüdlichen Arbeit bürgerte sich der Kleinkindergarten nur langsam gegen mancherlei Widerstände und Vorurteile, die an anderer Stelle im Zusammenhang behandelt werden, in Holland ein. Das bezeugt Elise von Calcar selbst im Vorwort ihres mehrfach angeführten Buches, indem sie beklagt, daß Fröbels Streben und Zweck in Holland noch viel zu wenig bekannt sei, „ obschon in den Niederlanden bereits seit zwanzig Jahren durch mich und viele andere anhaltend gearbeitet wurde, um diese Erziehungsideen bekanntzumachen und in Anregung zu bringen" (37). Auch in Belgien waren es Frauen, die für Fröbel warben. 1857 begründete eine Hamburger Kindergärtnerin, Madame Guillaume, einen Kindergarten. Im Dezember desselben Jahres kam die Baronin von Marenholtz-Bülow auf Einladung des belgischen Ministers Rogier, der sie auf dem internationalen Wohltätigkeitskongreß in Frankfurt am Main, auf dem sie zwei Vorträge hielt, kennengelernt hatte, nach Brüssel und gewann hier in kurzer Zeit Gelehrte, Politiker, Lehrer, Lehrerinnen und Schulaufsichtsbeamte für die von ihr vertretene Pädagogik, z. B. den Oberschulinspektor Jakobs, der neben mehreren anderen Fröbelianern an dem Fröbelhandbuch mitarbeitete, das die Baronin in Brüssel herausgab, unter dem Titel „Manuel pratique des Jardins d'enfants de Frédéric Froebel, à l'usage des institutrices et des mères de famille; composé sur les documents allemands par J. F. Jacobs, ancien élève de l'école normale de l'Etat à Lierre, directeur des écoles communales de S. Josset ten Noode. Avec une introduction de Madame la Baronne de Marenholtz, 1859". Ein Buch, das in neuer Auflage noch benutzt wird und nach dem Urteil von Marie Müller ein Gegenstück zu dem deutschen Handbuch von Goldammer ist (38). An diesem Manuel arbeiteten ferner mit: Die Vorsteherin eines Kindergartens in Orléans, Fräulein Chevalier, die zur Abhaltung eines halbjährigen Kursus für Nonnen nach Brüssel gekommen war, Madame Ruelens, die vor allem zu dem dichterischen und musikalischen Teil des Manuels beisteuerte, und Henriette Breymann, die spätere Schräder, eine Großnichte Fröbels, die, von der Baronin gerufen, Mitte April 1858 nach Brüssel kam und in der Vorstadt Josset ten Noode einen Kindergärtnerinnenkursus für die Lehrkräfte der Bewahranstalten 8*
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gab und so sehr das Vertrauen des Ministeriums und auch der pädagogischen Kreise gewann, daß sie für die gleichen Vorträge in das Brüsseler Lehrerinnenseminar gebeten wurde (39). Wenn aber der Nachwuchs der Lehrerschaft für einen pädagogischen Ideenkreis gewonnen wird, dann bedeutet das sehr viel für seine Einführung in den betreffenden Bezirk. Am wirkungsvollsten aber war auch in Belgien die Werbearbeit der Baronin selbst. Während ihres Aufenthaltes entstanden in Belgien unter der Beteiligung von Fräulein Masson, der Verfasserin einer Broschüre über den Kindergarten, Kindergärten in Brüssel, Gent, Antwerpen, Namur, Messines, Nivelles und Courtray, die sich der Gunst der Bevölkerung erfreuten. Durch ihre Vorträge und im persönlichen Verkehr gewann sie eine Anzahl der führenden belgischen Pädagogen für die Sache Fröbels, z. B. J. Coune, den Präfekten des Athenäums in Antwerpen, Ch. Hofmann, den Direktor der Erziehungsanstalt zu Gent, den Vorsteher der staatlichen Erziehungsanstalt in Nivelles, sowie die Professoren C. Callier und Tiberghien, die Vertreter der Krauseschen Philosophie in Belgien. Der Verwaltungsrat der Crèche École Gardienne einer Brüsseler Vorstadt (S. Josset ten Noode) ehrte sie im Februar 1858 durch ein Anerkennungsschreiben (40). Die Baronin war auch die wichtigste Vermittlerin der Pädagogik Fröbels nach Frankreich hin. Von Januar 1855 bis in das Jahr 1857, also noch vor ihrer belgischen Werbetätigkeit, hielt sie dort, meist im kleineren Kreise, nicht selten in ihrer Wohnung, über 100 Vorträge zur Umgestaltung der Asyles d'enfants im Fröbelschen Sinne und zur Neubegründung von Kindergärten. Der Boden war dort zur Aufnahme der neuen Ideen in gewisser Weise vorbereitet. Einmal unmittelbar und mittelbar durch Rousseau ; mittelbar dadurch, daß Fröbel durch Rousseau beeinflußt war und seine pädagogischen Ideen mit Rousseaus Lehre einige Übereinstimmungen aufwiesen. „Mais ce ne sont pas seulement les chimères et les utopies de Rousseau qui ont fait leur chemin en Allemagne. Les réformateurs de l'éducation, Basedow, Pestalozzi, F r ö b e l s'y sont inspirés du meilleur de son esprit: l'amour de l'humanité, la haine des conventions et des préjugés, le respect de la liberté et de la dignité de l'enfant, le goût des méthodes naturelles." (41) Zu den Wegbahnern Fröbels in Frankreich gehörte ferner der Philosoph und Nationalökonom Fourier, der sich auch mit der Erziehung des frühen Kindesalters beschäftigt hatte. Es bestanden zwar wesentliche Unterschiede in den Anschauungen der beiden Männer, die von den Fröbelianern in Frankreich auch gesehen und gelegentlich herausgestellt wurden. So stellte z. B. die Baronin dem Utilitarismus Fouriers, der schon in das frühe Kindesalter Arbeit hineintragen will, die kinderkundige Spieltheorie Fröbels gegenüber, die sich mit der Theorie Schillers berührt. Trotz dieser Einsicht in eine gewisse Gegensätzlichkeit von Fröbel und Fourier blieb Frau von Marenholtz aber von Fourier nicht unbeeinflußt. M. Müller weist darauf hin, daß z. B. die zentrale Stellung, die sie der Arbeit als Mittel zur Hebung der sozialen Not einräumt, die betonte Wertschätzung der kindlichen Triebe, die Anregung, in die Volkskinder-
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gärten nützliche Beschäftigungen hineinzuziehen, „zum mindesten Anklänge an Fourier" seien (42). In Elsaß-Lothringen war der Boden für die Aufnahme der Fröbelschen Pädagogik in gewisser Form vorbereitet durch die Arbeit des bereits erwähnten Pfarrers Oberlin in Steendal bei Straßburg und seiner Haushälterin Luise Scheppeler, welche die kleinen unbeaufsichtigten Kinder der Pfarre, deren Eltern in Feld, Wald oder Fabrik arbeiteten, im Garten des Pfarrhauses versammelte und mit den damals bekannten Mitteln zu beschäftigen suchte. Ihre Absicht war dabei, die Kinder vor den Gefahren, die sie, wenn sie ohne Aufsicht waren, bedrohten, zu bewahren und sie gleichzeitig zu Gehorsam und Ordnungsliebe zu erziehen. Oberlin, der Luise Scheppeler bei ihren Bemühungen unterstützte, wollte sie gleichzeitig in die Religion einführen und mit der Natur verbinden. Er ließ daher z. B. jedes der Kinder ein Fruchtbäumchen pflanzen und übergab es ihm dann als Eigentum (43). So war das Interesse für die Schule der Kleinen in Elsaß geweckt. Daher wurde die Baronin auch mit Aufmerksamkeit gehört, als sie 1857 in Mülhausen im Elsaß die Fröbellehre vertrat. 1859 war sie wieder dort und begründete mit Madame André Köchlin, die in Hamburg vorgebildet und jetzt an der Kinderbewahranstalt tätig war, einen Verein zur Begründung von Kindergärten. Auch im übrigen Frankreich gelang es der Baronin, ähnlich wie später in Belgien, eine große Zahl einflußreicher Persönlichkeiten für die Fröbelpädagogik zu gewinnen, z. B. den bekannten Philantropen Jules Mallet in Paris, den Redakteur der „Vie humaine", den sie zur Gründung eines Journals zur Diskussion der Fröbelschen Ideen mit dem Titel „La science des Mères" bewog, den Kardinal von Tours und späteren Erzbischof von Paris, Morlot, den Präsidenten des Comité de patronage des Salles d'Asyle, Marbeau, den berühmten Begründer der Säuglingsbewahranstalten, der sogenannten Crèches, den protestantischen Konsistorialrat Martin Pachoud, den Schriftsteller Guépun, den Philosophen Comte und den großen französischen Historiker Michelet (44). Wie hoch z. B. der letztere die Fröbelsche Pädagogik einschätzte, geht aus seiner eigenen Darstellung in „La Femme" (S. 385) hervor, wo er schreibt: „Es genügt nicht, auf den Trieb zur Tätigkeit zu rechnen, wie wir dies bei Rousseau, Pestalozzi, Jacotot, Fourier, Coignet, Issurat finden. Man muß der Natur zu Hilfe kommen und die Spur entdecken, in welcher sie gleichzeitig forteilen kann. Dies hat Fröbels Genie getan. Als am 1. Januar seine liebenswürdige Schülerin, Frau von Marenholtz, mir seine Lehre erklärte, erkannte ich augenblicklich, daß dies die Erziehung für unsere Zeit sein müsse, und daß sie die wahre ist. Rousseau erzog einen einzigen, einen Robinson. Fourier will vom Instinkt des Nachahmens Gebrauch machen und macht das Kind zu einem Nachäffer. Jacotot entwickelt nur ein Disputiermännchen, das über alles spricht. Fröbel macht dem Geplapper ein Ende und verbannt zugleich die Nachäfferei. Seine Erziehung ist keine äußere Bildung, sondern inneres Leben." Bekannt ist auch sein Urteil „Durch einen genialen Gedanken (par un coup de génie) hat Fröbel das gefunden, was die 117
Weisen aller Zeit vergeblich gesucht: die Lösung des Problems der Menschenerziehung." (45) Man sollte annehmen, daß die unermüdliche Werbetätigkeit der Baronin, die die mehr oder minder begeisterte Zustimmung führender Geister fand, zu einer dauernden Beheimatung der Fröbelpädagogik in Frankreich geführt hätte. Es sah auch zeitweise so aus. Als die französische Kaiserin sich als Präsidentin des Comité centrale des Salles d'Asyle für den Kindergarten interessierte und den Unterrichtsminister beauftragte, sich der Sache anzunehmen, kam es bald zum ersten Versuche in der Ecole normale der Madame Pape-Carpentier, dieser Frau „de coeur et d'esprit qui a le plus contribué à introduire dans notre pays les parties vraiement utiles et fécondes de la pédagogie allemande" (46). Die schon erwähnte Madame André Köchlin ließ schon 1856 in der Rue de la Pépinière einen Salle d'Asyle zur Anwendung der Fröbelschen Methode bauen, und die Fröbelmethode wurde in die Ecole protestante, rue neuve St. Geneviève, und sogar in einer Reihe katholischer Asyle (47) eingeführt. Trotzdem schlug die Fröbelpädagogik in Frankreich „keine tiefen und gesunden Wurzeln, denn es begann alles nach einer kurzen Blütezeit zu verschwinden, um mit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 ganz zugrunde zu gehen" (48). Später ist Fröbel aber dann dodi in Frankreich wieder etwas zur Geltung gekommen (49). 1911 wurde eine Union froebélienne gegründet. Es erschien Literatur, die Fröbel unter den französischen Pädagogen erneut bekannt und seine Ideen in gewissem Umfang fruchtbar zu machen suchte, wie Garcin, L'éducation des petits enfants par l'a méthode froebélienne, Paris 1912, und Compayré, Froebel et les Jardins d'Enfants, Paris (o. J.). Direkte Anwendung des pädagogischen Systems von Fröbel, wie in den vorher bereits betrachteten oder den angelsächsischen Ländern findet man in Frankreich aber nicht. Noch einer der neueren französischen Pädagogen, Octave Gréard (50), warnt ausdrücklich vor übertriebener Anwendung der Fröbelschen Methode, besonders vor dem Gebrauch der geometrischen Formen als Unterrichts- bzw. Erziehungsmittel, da die Folge ein abstrakter Wortschatz sei. Kindergärten im streng Fröbelschen Sinne gibt es nicht. Die in den Ecoles maternelles oder Classes enfantines angewandten Methoden sind zwar oft Fröbel oder auch der italienischen Pädagogin M. Montessori entlehnt, aber dann doch in beiden Fällen „französisiert". Daß also ein gewisser Einfluß Fröbels auf die französische Pädagogik vorhanden ist, ist unbezweifelbar und wird auch von französischer Seite anerkannt. Daß am Eingang des Musée pédagogique in Paris seine Büste steht, ist dafür ein symbolhafter Ausdrude. Diese Einwirkung verrät sich allerdings mehr in bestimmten Richtungen, Haltungen und Einstellungen, als in kleinen methodischen Einzelheiten oder der Übernahme der ganzen Fröbellehre. Compayré hat den Einfluß Fröbels auf die französische Pädagogik untersucht und sieht ihn vor allem in der heutigen Berücksichtigung der Kinderpsycholögie in Frankreich, in der freien Betätigung der Kinder, in der Begünstigung der Schülerselbstregierung, in der Entfernung des Verbalismus und unangebrachten Intellektualis118
mus aus der Kleinkinderschule, in der Berücksichtigung der Kindlichkeit im Spiel und in der Erziehung zur Gemeinschaft ( 5 1 ) . Audi über den Kanal nach England fanden die Ideen Fröbels ihren Weg. Audi dort war der Boden zu ihrer Aufnahme vorbereitet. Der erste Wegbereiter Fröbels war der bereits im Comeniuskapitel genannte William Petty, indem er dem Tätigkeitstrieb der Kinder weitgehend Rechnung trug. Er forderte z. B., daß die Kinder „sich alle Lehrmittel selbst anfertigen, malen, schnitzen, modellieren, schlossern, präparieren sollten" (52). Z u den englischen Vorläufern Fröbels gehört auch der Arbeiterfreund Robert Owen, der nicht umsonst bei Pestalozzi in Ifferten und bei Fellenberg in Hofwyl gewesen war und in seinen Schulen in N e w Lanark durch anschauliche Lehrmethoden und Betonung der Selbsttätigkeit das Interesse der Kinder zu erwecken suchte. Vor allem aber war es ein Vorläufer Fröbels in England, Samuel Wilderspin, der Vater der englischen Kinderschulen, des sogenannten Infant teaching, der auf Anregung Robert Owens 1824 in London die Infant Society ins Leben rief. Nach der Charakteristik von Dreßler kommt Wilderspin unter allen englischen Erziehern einem Pestalozzi oder Fröbel am nächsten, vor allem dadurch, daß sein Wirken durch hohe Ideale und eine große Liebe zu den Kindern geleitet wurde. Aber auch dadurch, daß er den englischen Kinderschulen einen solchen Inhalt und eine solche Einrichtung gab, daß sie in manchen Einzelheiten, z. B. dem gründlichen Anschauungsunterricht, der Berücksichtigung der Individualität, der Hochschätzung der körperlichen und der Beschäftigungsspiele mit dem Fröbelschen Kindergarten übereinstimmten. Nach dieser Vorbereitung ist es erklärlich, daß Fröbels Kindergartenidee, die Wilderspins und Owens Gedanken einer rechten Kindererziehung in einzigartiger Weise vertiefte und erweiterte, in England bereitwillig aufgenommen wurde und daß der Kindergarten nach der Gründung des ersten durch Miß Praetorius in London (1854) sich mit großer Schnelligkeit durch ganz England ausbreitete. In keinem Lande Europas, nicht einmal in Deutschland, hat Fröbel so freudige und bereitwillgie Aufnahme gefunden, wie in England (53). Paradox erscheint im ersten Augenblick die Behauptung, daß der englische Pädagoge S. Wilderspin dem deutschen Fröbel auch in Deutschland Wegbereiter gewesen sei. Und doch entbehrt sie nicht einer gewissen Berechtigung. Wir haben hier ein recht auffallendes Beispiel der Wechselseitigkeit der Auslandswirkung der Pädagogik verschiedener Länder. 1826 erschien nämlich Samuel Wilderspins Buch „Ort the Importance of Educating the Infant Children of the Poor", London 1823, von Jos. Wertheimer übersetzt in deutscher Sprache unter dem Titel „ ü b e r die frühzeitige Erziehung der Kinder in den englischen Kinderschulen, oder Bemerkungen über die Wichtigkeit, die kleinen Kinder der Armen im Alter von anderthalb bis sieben Jahren zu erziehen, nebst einer Darstellung der Spitalfielder Kinderschulen und des daselbst eingeführten Erziehungssystems" (54). Dieses Buch fand große Beachtung beim Preußischen Königlichen Ministerium für geistliche Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, das in einem Rundschreiben vom 24. Juni 1827 sämtliche Regierungen auf das
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Buch aufmerksam machte und anregte, „Menschenfreunde, Kommunalbehörden, Schulinspektoren möchten in ihren Orten ähnliche Kleinkinderschulen anlegen und dadurch dem Übel der Verwilderung der Kinder der Armen im Ursprung begegnen" (55). Die Anregung des Wilderspinschen Buches führte dann auch zur Gründung von Kleinkinderschulen, die Vorläufer des Kindergartens waren. Am 5. November 1830 wurde die erste, im folgenden Jahre in Berlin durch Frau Gemberg die zweite Kleinkinderschule begründet (56). Auch für England erwies sich Berta von Marenholtz-Bülow als Missionarin Fröbelscher Ideen. Nach dem Tode ihres Sohnes im Jahre 1853, dessen Pflege sie vorher zum Teil in Anspruch genommen hatte, widmete sie ihre ganzen Kräfte der Propaganda Fröbelscher Ideen. 1854 kam sie nach London, wo sie den Grund zu mehreren Kindergärten legte und eine kleine Schrift „The Infant-Gardens" herausgab (57). Wesentlich unterstützt wurde sie durch Charles Dickens (58). Dickens, den die Welt im allgemeinen nur als Dichter kennt, war auch Sozialreformer, der die damalige reformbedürftige englische Kindererziehung nicht nur aus eigener Erfahrung, sondern auch aus gelegentlichem und aus systematischem Studium englischer Schulen kannte, und außerdem ein feiner Kenner der Kindesnatur. In einer Anzahl seiner Erzählungen finden sich Schilderungen guter und schlechter Schulen mit ausgesprochen schulreformatorischer Einstellung. In der Mitte des Jahres 1855 veröffentlichte er in Household Works einen Artikel, der die Aufmerksamkeit der Leser auf Fröbels System und das Bestreben der Baronin, es in England einzuführen, lenken sollte. Der Artikel beginnt mit einem Bericht über Fröbels Leben und Wirken und der Aufforderung, sein System auch in England aufzunehmen. Zur eigenen Information rät er seinen Lesern, M. und Mme. Rongés Sdhule am Tavistock Place in London zu besuchen und ihr Buch „A Practical Guide to the English Kindergarden" zu lesen. Weiter gibt er eine eingehende Beschreibung der Gaben, Spiele und Beschäftigungen des Fröbelsystems (59) und macht manche feine Bemerkung, die ihn als Anhänger und Kenner Fröbels kennzeichnet. So warnt er davor, Fröbels System zur bloßen Routine ausarten zu lassen; nach seiner Ansicht setzt sich Kindererziehung mehr als zur Hälfte aus spontanen Handlungen zusammen. Den Kern der Fröbellehre sieht er in der Forderung, daß die ganze Natur des Kindes geübt und entwickelt werden muß. Weiter empfiehlt er, daß die heranwachsenden jungen Mädchen, anstatt unnütze Dinge, wie sie oft in Mädchenschulen gelehrt werden, zu lernen, einige Zeit in einem Kindergarten, der einer jeden Mädchenschule angeschlossen sein könnte, arbeiten sollten. „Laßt sie dort an der Hand Fröbels die Bedürfnisse eines Kindes kennenlernen und sich so am besten vorbereiten auf die wichtigste Aufgabe ihrer Zukunft", ruft er aus (60). Dickens erkennt auch bereits die Bedeutung der Persönlichkeit der Kindergärtnerin für den Erfolg des Kindergartens. Sie muß nach seiner Ansicht ein Herz für die Kinder haben und innerlich zum Kinde werden können. „Nur eine wahrhaft feinfühlige und heitere Frau besitzt die Eigenschaften, die dem Kindergartenlehrer nottun" (61), schreibt er.
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Man hat die Frage gestellt, wie es zu erklären sei, daß Berta von Marenholtz in England und in anderen Ländern, in denen sie wirkte, — wie wir noch sehen werden, auch in Italien — in der Gewinnung von Freunden für die Fröbelpädagogik so erfolgreich war. Mit ihr beschäftigt sich auch M. Müller. Ihr kommt es bei der Darstellung der Auslandsarbeit der Baronin auf den Nachweis an, „welche Kraft und Glut in der Werbearbeit einer Frau liegen kann, wenn sie von einer Idee ergriffen ist" (62). Als weitere Ursachen des „glänzenden Siegeszuges" der Baronin im Ausland bezeichnet M. Müller ihre vornehme Herkunft, ihre Schönheit, ihre bezaubernde Liebenswürdigkeit und Bescheidenheit, ihre umfassende Bildung, ihre Sprachkenntnisse, ihre Kenntnis der Fröbelpädagogik und ihr Sendungsbewußtsein, überdies habe damals eine Frau in die Kreise der ausländischen Intelligenz leichter Aufnahme gefunden als in Deutschland. Das habe ihren Erfolg begünstigt. Die Arbeit der Baronin in England wurde fortgesetzt durch Eleonore Heerwart (63), Adele von Portugal (64) und durch Frau Henriette Schrader-Breymann, die auch nach USA. hin durch Aufsätze werbend für Fröbel wirkte, die sie im Chikagoer „Kindergarten Magazine" veröffentlichte (65). Sie war mehrmals eingeladen worden, nach London zu kommen und die dortigen Kindergärtnerinnen zu prüfen, hatte aber diesen Einladungen nicht Folge leisten können, weil es ihr Mann nicht erlaubte. Dem Einfluß der Kaiserin Friedrich (66), zu der Henriette Schräder in nähere Beziehung getreten war, ist es wohl zuzuschreiben, daß sie schließlich doch noch gemeinsam mit ihrem Gatten zu einer Englandreise kam. Aus ihren Briefen und Tagebuchblättern, die sie während ihres Londoner Aufenthaltes von Juli bis Oktober 1883 sdirieb, geht hervor, wie stark sie sich dort für die Fröbellehre einsetzte. 1874 war in London bereits eine Fröbel Society begründet worden, die in Verbindung mit der Junior School Association dafür sorgte, daß Fröbels Gedanken unter den englischen Lehrkräften nicht vergessen wurden, sondern lebendig blieben. Diesem Ziel diente auch die von ihr herausgegebene Zeitschrift „The Child Life". Es wurden im Laufe der Zeit auch mehrere Ausbildungsstätten für Kindergärtnerinnen geschaffen, z. B. das „Froebel Educational Institute London" (67), das „Bedford College" und das „Maria-Grey-College", oder es wurden besondere Abteilungen zur Ausbildung von Kindergärtnerinnen an bereits bestehenden Schulen eingerichtet, z. B. 1884 an der Exeter High School und 1885 am Cheltenham College. Als besondere Prüfungsbehörde für das Kindergartenwesen wurde die National Froebel Union in London bestimmt (68). Die Fröbellehre wirkte sich übrigens nicht nur in der englischen Kleinkindpädagogik, sondern auch in der englischen Elementarschulerziehung aus. So wird z. B. in den 1893 veröffentlichten „Instructions of Infants" mit Hinweis auf die Fröbelgaben auch für die unteren Elementarklassen stärkere Selbsttätigkeit der Schüler gefordert. Die schon erwähnte Henriette Schrader-Breymann wirkte auch durch ihre Arbeit in Deutschland selbst, wenigstens indirekt, an der Ausbreitung der Fröbel121
sehen Ideen in England, überhaupt im Auslande, mit, sowohl durch das Landerziehungsheim in Watzum als auch, und zwar in besonderem Maße, durch das Berliner Pestalozzi-Fröbelhaus. In beiden hatte sie viele Schülerinnen aus dem Ausland, in Watzum besonders aus England, aber audi in Berlin fehlten die Engländerinnen nicht (69). Eine ihrer englischen Schülerinnen war ihre spätere Biographin Maria J . Lyschinska, die als Achtjährige von Edinburgh nach Watzum kam. Das Pestalozzi-Fröbelhaus hatte einen ausgezeichneten internationalen Ruf. Bekannt ist das günstige Urteil, das Compayré über das Institut abgibt: „Peut-être dans le monde n'y-a-t-il pas de meilleur installation pour un kindergarten que celle, qui est établie dans les Faubourgs de Berlin, avec ses vastes terrains, ses plates bandes de fleurs, une pour chaque écolier, ses viviers de prison et où aussi les occupations et les dons ont été réduits au minimum, et même abandonnés, pour faire place à de meilleurs méthodes." (70) Dieses Pestalozzi-Fröbelhaus wurde Vorbild für ähnliche Anstalten in England, allerdings auch in Finnland, Schweden und Nordamerika. — Nirgendwo in der Welt hat die Kindergartenidee so festen Fuß gefaßt wie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Eine ihrer Heroldinnen, Miß Peabody, versucht eine Erklärung dieses Erfolges der amerikanischen Kindergartenbewegung zu geben durch Hinweis auf die politische Situation des Landes: „The spirit of the american nationality was the only one in the world with which his creative method was in complete harmony, and to which the legitimate institutions would present no barriers." (71) Die Nachricht von Fröbel und seiner Pädagogik kam schon verhältnismäßig früh in die Neue Welt. Im Jahre 1845 hatte der Amerikaner Wilhelm Schmöle Fröbel auf einer Deutschlandreise besucht und nach seiner Rückkehr in amerikanischen Zeitschriften „die natürlichen Grundlagen, die große Helle, Einfachheit und Ausführbarkeit von Fröbels System" (72) anerkannt. Die allgemeine Einführung des Kindergartens aber steht in unmittelbarem Zusammenhang mit deutschen Achtundvierzigern. Diese aus politischen Gründen in Deutschland verfolgten Vertreter demokratisch-republikanischer Gedanken wanderten nach 1848 in großer Zahl nach USA. aus, „wo sie dank ihrer Tatkraft und ihrer Bildung als wertvolles Element in das amerikanische Volkstum eingingen" (73). Sie setzten sich oft für fortschrittliche Ideen, so auch für die Fröbelpädagogik, ein. Natürlich konnte ihr Einfluß erst etwa von den sechziger Jahren an deutlich in die Erscheinung treten. So wurde der erste Kindergarten in USA., und zwar in Watertown, Wisconsin, durch Frau Schurz, die Gattin des Achtundvierzigers Karl Schurz, des späteren berühmten deutsch-amerikanischen Staatsmannes, begründet. Dieser kam 1852, im Todesjahr Fröbels, nach U S A . und ließ sich in Watertown nieder, wo seine Frau „herseif an adept in the theory, and expert in practice, by attending con amore Fröbels own lectures and kindergarten in Hamburg" (74) unter den Deutschen einen Kindergarten gründete. Doch blieb die Kindergartenbewegung zunächst auf die deutsch-amerikanischen Kreise beschränkt. Der erste, der durch Vorträge und Zeitungsartikel auch die nicht-
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deutsche nordamerikanische Öffentlichkeit überhaupt eingehender mit Fröbel bekannt machte, war dessen persönlicher Schüler Johannes Kraus (75). Henry Barnard, der erste United States Commissioner of Education, war in London auf der Internationalen pädagogischen Ausstellung (76) und durch einen Besuch des bereits erwähnten Kindergartens der Frau Rongé am Tavistock Place für die Fröbelpädagogik tiefer interessiert worden (77). Auf seine Einladung hin kam Kraus nach USA., weil ihm hier Gelegenheit geboten wurde, für den Kindergarten on a national scale einzutreten. Die erste Gründung eines englischen Kindergartens in USA., der bald auch die Eröffnung von Kindergärtnerinnenseminaren in verschiedenen Teilen des Landes folgte, geschah 1860 durch Elisabeth Palmer-Peabody in Boston. Sie hatte zum ersten Male durch Frau Schurz, die sie im Hause eines gemeinsamen Freundes in Roxburg (heute ein Teil von Boston) kennengelernt hatte, von Fröbel und dem Kindergarten gehört und an deren Tochter die erfreulichen Früchte der Kindergartenerziehung studieren können. Später hatte sie dann auch den Teil der „Menschenerziehung", den Frau Schurz ihr schenkte, durchstudiert. Als ihr während der Arbeit in ihrem ersten Bostoner Kindergarten klar wurde, daß ihr für sie noch manches fehle (78), ging sie 1867 nach Deutschland, um die Kindergartenmethode an der Quelle in ihrem Ursprungsland zu studieren. Nach ihrer Heimkehr widmete sie ihr ganzes weiteres Leben dem Kindergarten, indem sie in ihm unterrichtete und über ihn redete und schrieb (79). Sie hat nach dem Urteil von Walz „mehr als irgendeine andere Person das Verdienst, die amerikanische Öffentlichkeit vom Werte der Kindergartenmethode überzeugt" (80) zu haben. Während der Abwesenheit von E. Peabody lud Frau Horace Mann eine deutsche Kindergärtnerin, nämlich Frau Mathilde R. Kriege und deren Tochter Alme, als ihre Vertreterin an E. Peabodys Kindergarten ein. Diese war, wie übrigens auch ihre Tochter, eine Schülerin der Baronin und hatte vorher in N e w York einen mit einer deutschen Schule verbundenen Kindergarten geführt. 1868 eröffneten Mutter und Tochter die erste Trainingschool für Kindergärtnerinnen in Boston. 1872 gab Frau Kriege eine den amerikanischen Verhältnissen angepaßte Übertragung des Buches der Baronin unter dem Titel „The Child, its nature and relations" in New York heraus. Zu den deutschen Frauen, die als Apostel Fröbelscher Pädagogik in U S A . wirkten, gehörte endlich noch die Mecklenburgerin Maria Boelte (81). Sie war durch ihr Studium der Fröbelpädagogik bei Fröbels Witwe in Hamburg und durch praktische Kindergärtnerinnentätigkeit in Deutschland und England für ihre Mission als Fröbelapostel in USA. gut vorbereitet. 1873 vermählte sie sich mit dem bereits erwähnten Johann Kraus und widmete nun mit diesem gemeinsam ihr Leben dem Dienste der Kindergartenidee in den Vereinigten Staaten. Sie verfaßten Kindergartenliteratur und richteten eine Ausbildungsanstalt für Kindergärtnerinnen ein, die nach dem Urteil von Walz „lange Jahre die leitende Anstalt dieser Art in U S A . war" (82). Die ersten Kindergärten (83) waren private Anstalten für Kinder wirt-
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schaftlich gesicherter Kreise, die durch Stiftungen und das Schulgeld finanziert wurden; zeitlich die zweiten waren die sogenannten Charity-Kindergärten, die für arme und verwahrloste Kinder bestimmt und durch wohltätige Bürger oder Organisationen, Kirchen usw. unterhalten wurden. Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des Kindergartens war die Einrichtung von Kindergärten innerhalb des Rahmens des öffentlichen Schulwesens, der sogenannten public Kindergardens. Zum ersten Male geschah das schon 1 8 7 0 in Boston, aber nur für wenige Jahre, weil dann die Stadt die erforderlichen Geldmittel nicht mehr weiter bewilligte. Von Dauer dagegen war die Einrichtung des öffentlichen Kindergartens durch die städtische Schulbehörde 1873 in St. Louis. Die Anregung dazu war ausgegangen von einer Schülerin der Mrs. Kraus-Boelte, M i ß Susan E. Blow aus St. Louis. 1873 bot sich M i ß Blow an, unentgeltlich die Ausbildung eines von der Schulbehörde bestimmten Lehrers in der Fröbelmethode zu übernehmen und den danach zu gründenden Kindergarten zu führen und zu überwachen, wenn der städtische School-Board den bezahlten Lehrer und die nötigen Räumlichkeiten stellen würde. Das Angebot wurde angenommen. Der Erfolg blieb nicht aus, und so wurde der Kindergarten zur stehenden städtischen Einrichtung, zu einem dauernden Bestandteil des öffentlichen Schulwesens der Stadt St. Louis. So waren die Anfänge in Boston, N e w York und St. Louis gemacht. Und von diesen „Initiative centers" schritt dann die Gründung von Kindergärten weiter auf andere große Städte. Allein in den fünf Jahren von 1 8 7 4 — 1 8 7 8 wurden 139 neue Kindergärten eröffnet ( 8 4 ) . Außer der schon im T e x t erwähnten Literatur sind aus den Anfängen der amerikanischen Fröbelbewegung noch zu nennen: Edward Wiebe, T h e Paradise of Childhood, Springfield 1869, eine gute Darstellung des Fröbelschen Systems; der frühere Schriftleiter der deutsch-amerikanischen Schulzeitung Hailmann gab in seinem Werkchen „Kindergarten Culture", Cincinnati 1875, eine gedrängte Darstellung des Wesens und Zweckes der neuen Erziehung und warb für sie durch die Herausgabe einer englischen Monatsschrift für den Kindergarten ( 8 5 ) . Der unternehmende Verleger Steiger jun. in New York ließ mehrere populär geschriebene Broschüren über Fröbels Kindergarten in großer Anzahl gratis verteilen und half so mit zur Verbreitung der Fröbellehre und der Beseitigung entgegenstehender Vorurteile. In den ersten Jahrzehnten der amerikanischen Fröbelbewegung traten fast alle Kindergärtnerinnen, wenigstens in gelegentlichen Vorträgen oder Zeitschriften- bzw. Zeitungsaufsätzen, auch öffentlich für die Fröbelmethodik ein. Käthe Douglas Wiggin gab 1893 in New York in „The Distaff Series" unter dem Titel „The Kindergarten" eine Zusammenstellung aller Reden und Abhandlungen über das Fröbelsche System heraus, die von New Yorker Kindergärtnerinnen stammten. In demselben Jahr erschien in St. Louis das stattliche, mit vielen Illustrationen versehene, rein auf die Praxis gerichtete Buch „Practical Suggestions for Kindergartners, Primary Teachers and Mothers" von Jeannette R. Gregoiy ( 8 6 ) , in den folgenden Jahren die beiden Bücher von Pauline A. Shaw, 1 8 9 4
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„Symbolic education", 1 8 9 6 „Letters to a mother". Neben den Einzelpersönlidikeiten, die als Apostel der Fröbelpädagogik in USA. wirkten, gab es auch Vereinigungen, die für den Kindergarten eintraten, in der Frühzeit z. B. T h e Sub-Primary-School-Society in Philadelphia, die Free Kindergarten Association of Chikago, die Childrens Charitable Union in New York u. a. m., später auch die Society of Ethical Culture von Felir Adler. Der auf Adlers Anregung in der 17. Straße von New York begründete Kindergarten wurde nach Boone „a historic confirmation of the regeneration power of cleanliness and innocent play". Die Verbreitung der Fröbellehre und die Einrichtung von Kindergärten in U S A . war für das Land von großer Bedeutung, die auch von Amerikanern selbst dankbar anerkannt wurde. Frau Elisabeth Thompson machte schon 1882 in ihrem in New York erschienenen W e r k „Kindergarten Homes" darauf aufmerksam, daß der Kindergarten vielen Kindern die fehlende Heimat ersetzt und so der drohenden Uberfüllung der amerikanischen Armenhäuser und Gefängnisse entgegengewirkt habe, deren Insassen meistens schon in den frühen Kinderjahren die Heimat entbehrten. Auf den W e r t der Kindergärten für die moralische Erziehung der jungen Generation wiesen schon E. Peabody und Frau Horace Mann in ihrem gemeinsam herausgegebenen Buch „Moral Culture of Infancy and Kindergarten Guide" eindringlich hin, das 1869 in New York erschien und in einem Jahr vier Auflagen erlebte. Der Kindergarten brachte aber auch eine gedankliche Bereicherung durch die Aufnahme der Ideen Fröbels für die unteren Stufen der Elementarschule, ja für die gesamte amerikanische Pädagogik. „Daß der Gesichtspunkt der Erziehung durch die Gemeinschaft und für die Gemeinschaft, durch das kindliche Spiel und die Ubergangsformen zwischen Spiel und Arbeit, ja der Gedanke der Erziehung vom Kinde aus in der amerikanischen Theorie und Praxis eine so große Bedeutung erlangte, ist zu einem großen Teil dem Einfluß Fröbels und des Kindergartens zu verdanken." ( 8 7 ) Der deutsche Kindergarten war außerdem in USA., neben der deutschbewußten Familie, ein wichtiger Faktor für die Erhaltung des Deutschtums, besonders für die Erhaltung und Pflege der deutschen Sprache, zumal bei den Kindern, deren Elternhaus ihre sprachliche Erziehung aus irgendeinem Grunde vernachlässigte oder ihr nicht gewachsen war. Diesen Dienst erwies der Kindergarten der deutschen Sprache übrigens nicht nur in USA., sondern auch im sonstigen Ausland
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W i r haben uns bei der detaillierten Schilderung des Auslandseinflusses deutscher Pädagogik bisher in der Hauptsache mit Frankreich, England und USA. beschäftigt. Bei der Darstellung der internationalen Wirkung der Fröbelpädagogik müssen wir aber auch noch ein anderes europäisches Land mitheranziehen, nämlich Italien, vor allem auch deshalb, weil sonst das Bild der Werbearbeit des einflußreichsten Apostels Fröbels, der Baronin von MarenholtzBülow, zu unvollständig wäre. Die Fröbelpädagogik gewann dort in der Hauptsache durch ihre Schriften ( 1 8 6 8 ) und durch ihr persönliches Wirken in den
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Jahren 1870 und 1871 dauernden Boden. Es entstanden Kindergärten und Ausbildungsstätten für Kindergärtnerinnen, und es entwickelte sich auch eine eigene italienische Kindergartenliteratur (89). Zwar gab es schon vor Beginn ihrer Werbearbeit einzelne Vertreter derFröbelpädagogik, wie Adolf o Piek mit seinem dem Kindergarten gewidmeten Journal „Ueducazione Moderna" in Venedig, sowie Frau Deila Vida Levi, die in der gleichen Stadt den ersten Kindergarten einrichtete, in dem dann auch Kindergärtnerinnen ausgebildet wurden, und den Professor Edoardo Fusco, der sich in Neapel für die Fröbelpädagogik einsetzte. Der in der gleichen Stadt tagende Congresso Pedagogico des Jahres 1871 trat schon für sie ein und beantragte beim Ministerium in Rom die Einrichtung von Normalschulen für Kindergärtnerinnen (90). Die Werbearbeit der Baronin vollzog sich in der Hauptsache in drei anderen Städten Italiens, Verona, Florenz, Rom, und zwar in der Form von Teeabenden in ihrer Wohnung, die Montags für Gelehrte und Damen gebildeter Stände, Freitags für Lehrer und Lehrerinnen stattfanden und auf denen sie Vorträge über Fröbel hielt. Die Wirkung war hier die gleiche, wie in den anderen bereits betrachteten Ländern. Es gelang ihr, eine Reihe führender Persönlichkeiten für die von ihr vertretene Sache zu gewinnen, „bekannte Autoritäten in der Philosophie und Pädagogik von der Wahrheit des auf das allgemeine Natur- und Geistesgesetz (Psychologie) gegründeten Princips und Systems Fröbels" (91) zu überzeugen und auch die Gründung von Kindergärten und Kindergärtnerinnenseminaren anzuregen bzw. zu veranlassen. In Florenz stellte die Stadtverwaltung die Räume zur Verfügung, in denen ein Kindergarten unter Leitung von Fräulein Verdusche eröffnet wurde. Auch bildete sich dort ein Komitee zur Verbreitung der Fröbelschen Ideen und Einrichtungen. In Rom bewirkte sie durch ihre Vorträge zunächst die Einführung der Fröbelmethode in einer Armenschule, die den dortigen Amerikanern gehörte. Außer der Baronin waren zwei ihrer Schülerinnen, Fräqlein Greef und Fräulein Petermann, und später Adele von Portugal als Anwälte der Fröbelpädagogik in Italien tätig. Die beiden ersteren gehörten zu den Lehrkräften des selbständigen Istituto Fröbeliano in Neapel, das sich unter dem Protektorat der Frau von Salis-Schwabe aus London gebildet hatte. Diese Engländerin war durch Hamburger Verwandte mit dem Fröbelkreis in Berührung gekommen und später — besonders durch Gespräche mit Malvida von Meysenburg während deren Englandaufenthalts — tiefer in die Fröbellehre eingeführt worden. Sie war vermögend und finanzierte bereitwillig auch Einrichtungen Fröbelscher Pädagogik (92). Noch eine andere Ausländerin warb und wirkte in Italien für die Fröbelpädagogik, die amerikanische Gesandte Mrs. Marsh in Florenz. Diese sowie eine italienische Anhängerin Fröbels, die Marchesa Guerrieri, setzten sich später mit Henriette Schrader-Breymann in Verbindung, erbaten eine ihrer Schülerinnen (93) und luden sie auch selbst ein, nach Italien zu kommen und für Fröbel zu wirken. So haben die meisten der führenden Frauen des deutschen Fröbelkreises unmittelbar oder mittelbar an der Einbürgerung des Kindergartens in Italien mitgeholfen. Die Zahl der Kindergärten hat sich in der Folgezeit noch
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vermehrt. Ungünstig wurden die Existenzbedingungen für sie nach dem Weltkrieg 1914—1918. Jetzt war der Kindergarten eine Einfuhr aus feindlichem Lande, auf die man glaubte, um so eher verzichten zu können, da unterdessen eine Pädagogin der eigenen Nation eine Kleinkindpädagogik aufgebaut hatte, Marie Montessori. Bei Würdigung ihrer Leistung darf aber nicht übersehen werden, daß sie auf den Schultern Fröbels steht. Die Bezeichnung der von ihr geschaffenen Kleinkinderschulen als M o n t e s s o r i - K i n d er g ä r t e n gibt diesem Sachverhalt übrigens symbolisch Ausdruck. Aber auch mit dieser kurzen Betrachtung der Einführung der Fröbelpädagogik in Italien ist ihr Auslandseinfluß noch nicht in seiner Gesamtheit aufgedeckt. Es gibt kaum ein größeres, europäischem Kultureinfluß geöffnetes Land, in das Fröbels Kindergartenpädagogik nicht in irgendeiner Form hineingewirkt hat. Das gilt z. B. für die britischen Dominions, für Japan und Südamerika und mehr oder weniger für alle bisher nicht genannten europäischen Staaten. Hanschmann zählt in seinem mehrfach zitierten Werk ohne Absicht der Vollzähligkeit eine große Zahl von Städten und Ortschaften auf (94), in denen Kindergärten begründet wurden; unter ihnen befinden sich auch Ortsnamen aus Rußland, Polen, Böhmen und Mähren. Es ist interessant, daß die Japaner, die — wie wir sahen — so begeistert Pestalozzi anhängen und seine Schweizer Erinnerungsstätten mit Ehrfurcht besuchen, auch Fröbel verehren und seine Pädagogik übernehmen; Professor Kurohoshi war nach dem Weltkriege in Blankenburg, dem Ort des ersten Kindergartens, und in Schweina, wo er auf dem Grabe Fröbels unter Beachtung des japanischen Ritus eine japanische Blume pflanzte. Professor Eduard Spranger hat über das, was er in bezug auf Fröbel in Japan beobachtete, einen Brief an den langjährigen und verdienten Vorsitzenden des Thüringer Fröbelvereins, Regierungsrat Dr. Döpel, Weimar, geschrieben, der im Mitteilungsblatt dieses Vereins (Jahrgang 1937, 3/4, S. 6 f.) zum Abdruck gelangte. In T o k y o fand er ein Fröbelhaus (Fröbelkan), in dem alle Fröbelschen Gaben und Beschäftigungsmittel zu haben waren. Auch begegnete er Fröbelspezialisten, z. B. Professor Takaichi, dem Generaldirektor dieses von seinem Vater vor 30 Jahren begründeten Fröbelkans, der über die Fröbelpädagogik ein Buch, teils in englischer, teils in japanischer Sprache schrieb, und dem schon genannten Professor Kurohashi, der die Mutter- und Koselieder übersetzte und zusammen mit dem Originaltext und den Originalbildern in einem angesehenen Verlag herausgab, nachdem sie früher schon einmal, mit japanischen Szenen statt der deutschen Originalbilder illustriert, herausgekommen waren. Ein Symptom der Achtung, die Fröbel genießt, kann wohl darin gesehen werden, daß sich im Fröbelhaus jeden Morgen um 8 Uhr die weiblichen Angestellten im Geschäft vor dem Bilde Fröbels versammeln und dort nach Landessitte eine Minute in Andacht verweilen. Auch den nordischen Staaten blieb Fröbel nicht unbekannt. An ihnen läßt sich besonders gut nachweisen, daß wir nicht nur von Vergangenem handeln,
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wenn wir den Auslandseinfluß Fröbelscher Pädagogik darstellen, sondern auch von der unmittelbaren Gegenwart. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied gegenüber den meisten der anderen bereits betrachteten großen Pädagogen. Wenn wir der Auslandswirkung der pädagogisdien Ideen von Ratichius und Comenius, von Francke und Basedow und dem Freiherrn von Rochow nachgehen, dann wissen wir, daß wir es da mit Sachverhalten von historischer, nicht aber von aktueller Bedeutung zu tun haben. Dies trifft — wie die Ausführungen des nachfolgenden Kapitels zeigen werden — mit leichten Einschränkungen sogar auf Herbart und seine Psychologie und Pädagogik zu. Anders ist es mit Fröbel, obwohl schon die Hundertjahrfeier des Kindergartens begangen werden konnte. Fröbel und sein W e r k haben auch in der Gegenwart noch Bedeutung für das Ausland. Und gerade an den Nordstaaten und Finnland läßt sich das mit einigen Sätzen zeigen*). In Dänemark war der bedeutendste Fröbelapostel der vor einigen Jahren als über Neunzigjähriger verstorbene Sofus Vagger und seine Frau. Sofus Vagger, von Haus aus Lehrer, war später Vorsteher des ältesten Kopenhagener Kindergartenseminars und des mit diesem verbundenen Volkskindergartens. Besonders trat er für die Errichtung von Vermittlungsklassen zwischen Kindergarten und Schule ein (siehe „Soziale Arbeit", 15. Jg. Nr. 8, Berlin 12. III. 1938, S. 3 1 ) . U m diese Kopenhagener Anstalt sammelte sich bis in unsere Tage eine lebendige Fröbelgemeinde. Die dänische Kindergärtnerin trägt wie ihre schwedischen Kameradinnen die Brosche, auf der die Fröbelschen Spielgaben, Kugel, Würfel und Walze, abgebildet sind. In Dänemark ist es auch zu einem Ringen zwischen der Montessori- und der Fröbelpädagogik gekommen. Die deutsche Fröbelgemeinde ist darin ihren dänischen Gesinnungsgenossen zu Hilfe gekommen, indem sie dänische — übrigens auch schwedische, norwegische und finnische — Kindergärtnerinnen zur Vertiefung ihrer Einsicht in Fröbels Pädagogik und zur Stärkung und Verlebendigung ihrer Haltung nach Deutschland (vor allem zum Besuch der Fröbelstätten) einlud und deutsche Kenner Fröbels und der Kindergartenpädagogik als Vortragende in die Nordstaaten schickte. Der Mittelpunkt der schwedischen Fröbelianer ist das Fröbelinstitut in Norrköping. Die schwedischen Kindergärtnerinnen nennen sich mit voller Bewußtheit „Fröbelmenschen", und zwar um damit zum Ausdruck zu bringen, daß sie nicht nur ihre Methode der Kindergartenführung, sondern ihre ganze Lebenshaltung auf Fröbel zurückführen. Der sogenannte Fröbelsong, der zur Eröffnung eines neuen Kindergartens 1932 in Norrköping gesungen wurde, ist weit über den Kreis der Kindergärtnerinnen gedrungen und überhaupt zum Feierlied für Menschen geworden, die in der Erziehungs- und Fürsorgearbeit stehen. * ) Die Einzelangaben entnahm ich Zeitschriften und brieflichem Material, das mir Regierungsrat Dr. Döpel-Weimar zur Verfügung stellte. Gerade der Thüringisdie Fröbelverein hat um die Erweckung dieses nordischen Gegenwartsinteresses für Fröbel und sein W e r k großes Verdienst.
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Audi in Finnland haben die Ideen Fröbels praktische Auswirkung gehabt, und es gibt dort seit den sechziger Jahren Kindergärten und auch bis in die Gegenwart hinein eine Fröbelgemeinde. Ein Kenner des finnischen Schulwesens behauptet, daß nicht nur die bestehenden Kindergärten, sondern auch die sogenannte untere Volksschule (die Schuljahre I und II) von den Grundsätzen der Fröbelpädagogik durchdrungen sind. Vielleicht ist dies aus dem Umstand mit zu erklären, daß der Gründer der finnischen Volksschule, Uno Cygnaeus, Anhänger Fröbels war. Er hat in den Jahren 1858 und 1859 eine pädagogische Studienreise nach Deutschland unternommen, in Hamburg die Witwe Fröbels kennengelernt, die Kindergartenpädagogik an mehreren ihrer Zentren studiert und mit Henriette Breymann in Briefwechsel gestanden. Nach seiner Rückkehr in seine Heimat veröffentlichte er einen Entwurf der Volksschule und der Lehrerbildung. Er hatte die Absicht, als Unterbau der Volksschule ganz allgemein den Kindergarten einzuführen, kam aber — vor allem wegen des Widerstandes kirchlicher Kreise — nicht dazu, diese Absicht auszuführen. Er begründete aber eine Versuchsanstalt. Der finnische Pädagoge AnkustiSalo arbeitet an einer Biographie des Cygnaeus. In ihr will er auch den Einfluß Fröbels auf Cygnaeus eingehend darstellen. Wenn diese Untersuchung vorliegt, wird man sehen, wie weit die oben geäußerte Vermutung zu Recht besteht. Zusammenfassend läßt sich also sagen: Fröbel gehört zu den Pädagogen, die sich die ganze Welt eroberten. Insbesondere hat er zur allgemeinen Anerkennung gebracht, daß die Erziehung der vorschulpflichtigen Jugend ein wesentlicher Teil der Gesamterziehung ist, und daß die gesamte Jugend, „soweit Haus und Familie dazu nicht imstande sind, eine wohlorganisierte Erziehung in öffentlichen Kinderschulen erhalte" (P. Petersen). Ebenso führte er überall da, wo er Eingang fand, zu einer besseren Kenntnis des kindlichen Seelenlebens und der Anpassung der erzieherischen Maßnahmen an seine Gesetze und seine Eigenart. Der Leipziger Psychologe Hans Volkelt hat 1932 nachgewiesen, daß in Fröbels Schriften bereits psychologische Erkenntnisse enthalten sind, die von der modernen Entwiddungs-, Struktur- und Kinderpsychologie erst Jahrzehnte später ausgesprochen wurden. Die dargestellte weltweite Wirkung Fröbels ist deshalb so eindrucksvoll, weil es nicht an Umständen fehlt, die der Verbreitung seiner Ideen hinderlich waren. Dazu gehörten — wie schon früher bemerkt — die Tiefe mancher Ideen Fröbels und das nicht seltene Dunkel seiner sprachlichen Formulierungen, ferner seine Wortspielereien und seine merkwürdigen Einfälle. Auch der tatsächliche oder fälschlicherweise angenommene weltanschauliche Hintergrund seiner Pädagogik erwies sich mehrfach als Hindernis der Verbreitung seiner Lehre. So begegnet den Herolden Fröbelscher Pädagogik im Ausland häufig der Vorwurf, der auch in Deutschland oft gegen sie erhoben wurde und sogar einer der Gründe des staatlichen Verbots des Kindergartens wurde: Fröbels Pädagogik sei antichristlich oder sogar antireligiös. Bei der Darstellung des Fröbeleinflusses aüf Holland hörten wir, daß Frau von Calcar im Auftrage des Ministeriums die 9
S c h n e i d e r , Pädagogik.
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Kleinkindersdiulen inspizierte. Dabei kam sie auch in eine von katholischen Ordensleuten geführte Anstalt. Als sie nun dort auch für die Fröbelmethodik eintrat, lehnte der geistliche Direktor sie für seine Anstalt mit der Begründung ab, Fröbel wolle die Kinder nur zu Freiheit und Selbständigkeit, die Kirche aber wolle sie zu Gehorsam und Unterwerfung erziehen (95). Frau von Calcar bemühte sich darauf, dem Pädagogen zu zeigen, daß er eine falsche Auffassung von Fröbels Freiheitsbegriff habe, daß die Freiheit Fröbels „keineswegs die Freiheit der Wildnis sei, wo die Pflanze ohne Beschneiden und Besorgen zu einem undurchdringlichen Dickicht zusammenwachse und sehr mit Unrecht ein mächtiger Wald genannt werde". Sie ähnele mehr der Pflanze auf don Hofe zum Unterschied der Pflanze in der Wildnis und der im Treibhaus. Dem Vorwurf, die Pädagogik Fröbels sei antichristlich — antireligiös war sie keineswegs —, suchten ausländische Vermittler durch die Taktik ihrer Propaganda zuvorzukommen. In der Diskussion vertraten sie die Vereinbarkeit der Fröbelmethodik mit den Kindergärten bzw. Schulen j e d e r Konfession und suchten bei der Gründung von Kindergärten und anderer Organisationen der Fröbelpädagogik, wo es möglich war, die Anhänger verschiedener Konfessionen zu beteiligen. So waren z. B. bei der Einweihung der zur Anwendung der Fröbelschen Methode durch Madame André Köchlin 1836 in der Rue de la Pépinière in Paris begründeten Salle d'Asyle sowohl der katholische wie auch der protestantische Pfarrer zugegen, und die Anstalt war von vornherein für Kinder jedes Glaubens geöffnet (96). Viel Gegnerschaft erwuchs der Pädagogik Fröbels aus der verbreiteten Überschätzung des frühen Beginns des Unterrichts und der Unterschätzung der pädagogischen Bedeutung des Spiels. Besonders die Angelsachsen konnten sich mit der Zurückstellung des Unterrichtsbeginns in Lesen, Schreiben und Rechnen zugunsten des pädagogischen Spiels nicht abfinden. In einemSpottgedicht, das Hayward (97) anführt, wird darüber in humoristischer Weise geklagt: „Sie lehrten Bertie, wie man säumt und wie man singt und wie ein Korb aus farb'gem Band gelingt, wie man Papier kann falten, ohn sich zu blessieren, sie lehrten viel ihn, doch er konnte nicht a d d i e r e n . Sie lehrten ihn, den Kopf des Herkules in Ton bereiten, wie von dem Specht man könnt die Elster unterscheiden, und wie man Pferdchen malt in kleine Bilderrahmen, doch eins vergaßen sie: er könnt nicht schreiben seinen N a m e n . " In Holland arbeiteten die Fröbelgegner mit dem gleichen Argument : „Was gibt das Gefröbel — es ist Zeitverlust — die Kinder müssen jetzt viel zuviel lernen und dürfen nicht mit Spielen aufgehalten werden. Ich sehe die Notwendigkeit dieser Dinge nicht ein." (98) Diesem Einwand suchten die Fröbelfreunde durch den Hinweis zu begegnen, daß, wenn wirklich der Unterricht etwas später beginne, die Kinder, deren Fähigkeiten durch die Fröbelschen Spiele und Übungen
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unterdessen entwickelt worden seien, dann leichter begriffen und schneller fortschritten, so daß der Zeitverlust wieder eingeholt werde. Es gab noch mancherlei Einwände gegen die Fröbelpädagogik, denen ihre Apostel auch im Auslande begegneten. Man sagte, sie sei in großen Klassen nicht durchführbar, das in der Fröbelschule gebrauchte Material sei kostspielig, teurer als die üblichen Schuleinrichtungen, und die Fröbelmethode mache die Schule zu einer Zeit zu Fabriken, da wir kaum angefangen hätten, die kleinen Kinder von der Fabrikarbeit zu befreien. Gegenüber dem ersten Einwand mußte der Hinweis auf die Praxis, die das Gegenteil längst bewiesen habe, genügen; die Richtigkeit des zweiten Einwandes konnte nicht bestritten werden. Er verfing übrigens nicht in wirtschaftlich gutgestellten Kreisen und auch nicht bei Gemeinden und Eltern, die bereit waren, für die Erziehung der jungen Generation finanzielle Opfer zu bringen. Diejenigen, auf die dieser Einwand Eindruck machte, wurden von den Fröbelianern darauf aufmerksam gemacht, daß das Fröbelmaterial wegen seines höheren Preises dauerhafter sei als manche der bisher verwandten Lehr- und Lernmittel, und daß die Sitzplätze geräumiger und die Tische größer seien, und daß davon die Schüler ihren Vorteil hätten. Den letzten der Einwände behandelte Elise von Calcar auf dem Pariser Kongreß des Jahres 1878. Sie erklärte den Vorwurf als unberechtigt und wies zur Begründung auf den wesentlichen Unterschied zwischen Fabrik- und Fröbelarbeit hin. „Die Fabrik verlangt allein viele und gute Arbeit. Das Produkt ist alles, der Arbeiter nichts. Bei der Fröbelarbeit wird zu allererst auf den Arbeiter geachtet; das Kind arbeitet nicht, um abzuliefern, sondern um sein Lebenskapital zu vergrößern, seine Kräfte zu entwickeln und zu stärken" (99). So waren auch die von den Gegnern der Fröbelpädagogik vorgebrachten Bedenken nicht stark genug, ihren Siegeszug durch die Welt aufzuhalten. Er wurde auch begünstigt durch den am 3. und 4. Juni 1873 in Berlin im Einverständnis mit dem Weimar-Gothaischen Allgemeinen Fröbelverein begründeten „Allgemeinen Erziehungsverein", der die gesamte Fröbelbewegung des In- und Auslandes zusammenzufassen suchte. Er diente der Verbreitung der Fröbelschen Erziehungsweisheit in allen Ländern der Erde (100).
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7. Herbart und die Herbartianer Wenn wir Herbarts Auslandseinfluß nach dem Fröbels und Pestalozzis behandeln, so entsprechen wir damit der Einstellung der ausländischen Pädagogen, die gewohnt sind, diese drei großen Pädagogen im Zusammenhang zu sehen, in einem Atemzug zu nennen und ihre Synthese zu versuchen, wie es auch eine Reihe ausländischer Autoren, z. B. J. A. Welton (la), Percival Richard Cole (lb), Richard David Chalke (lc), Mac Vannel, John Angus (2), H. Hayward (3), De Hovre (4) in ihren Büchern tun, in denen sie Herbart neben Fröbel oder neben Fröbel und Pestalozzi darstellen und daher im Titel nennen. Diese Zuordnung ist aber auch sachlich berechtigt. Pestalozzi ist geistig für Herbart der Vater, wie er es auch für Fröbel war, und Herbart und Fröbel sind daher geistig Brüder, die in Leben und Lehre in manchem übereinstimmen. Schon in der Art und Weise, in der Herbart mit Pestalozzi in Berührung kam, finden sich Parallelen zum Verhältnis Fröbel—Pestalozzi. Auch Herbart machte—wie Fröbel — Pestalozzis Bekanntschaft während einer Hauslehrertätigkeit in der Schweiz. 1797 nahm der Zwanzigjährige eine Hauslehrerstelle bei Herrn von Steiger in Bern an. In dieser Schweizer Zeit kam er mit Pestalozzi in Berührung, der einen bedeutenden Eindruck auf ihn machte. 1799 besuchte er ihn in Burgdorf, wo er gerade seine ersten Versuche mit der psychologischen Methode des Unterrichts machte. Wie tief Herbart damals in Pestalozzis Pädagogik eindrang, zeigen seine Publikationen der nächsten Jahre, 1802 die Darlegung von Pestalozzis Ideen in seinem Aufsatz „über Pestalozzis neueste Schrift: Wie Gertrud ihre Kinder lehrt", die Schrift „Pestalozzis Idee eines ABC der Anschauung untersucht und wissenschaftlich ausgeführt", die im Herbst des gleichen Jahres gleichzeitig mit seiner Göttinger Habilitation für Philosophie erschien; und außerdem sein 1804 erschienener Aufsatz: „Uber den Standpunkt der Beurteilung der Pestalozzisdien Unterrichtsmethode". Daß Herbart trotz der Nachbarschaft Pestalozzis eine so überaus große Auslandsbedeutung errang, lag zum Teil daran, daß er über ihn hinausschritt. Pestalozzis Pädagogik litt, wie die der Humanisten und Philanthropen, noch an einem bedeutenden Mangel. Er stellte zwar, wie jene, die edle Menschlichkeit, den vollkommenen Menschen als Erziehungsideal hin, sagte aber nicht, worin beides besteht. Diese Frage: „Worin besteht das Wesen der edlen Menschlichkeit und des vollkommenen Menschen?" hat Herbart schon früh beschäftigt, und schon in seinen ersten Werken hat er sie zu beantworten gesucht. Die edle 132
vollkommene Menschlichkeit sieht er in der sittlichen Charakterstärke. Einziger Zweck der Erziehung ist daher die Tugend oder, wie er es auch formuliert, „Charakterstärke der Sittlichkeit". In dieser Klärung des Erziehungszieles haben die Erziehungswissenschaftler eines seiner Hauptverdienste gesehen. Zu diesen rechnen sie weiterhin, daß er den Vorstellungsmechanismus erforscht und als Prinzip alles Lehrens und Lernens, als psychologische Grundlage alles Unterrichtens dargestellt, daß er die Bedeutung des Unterrichts für die sittliche Erziehung oder — in seiner Terminologie — das Verhältnis von Unterricht und Zucht erkannt und die Pädagogik zum Range einer Wissenschaft erhoben hat. Der Schatten des großen Vorgängers hat zwar nicht verhindern können, daß Herbarts Lehre über die Grenzen Deutschlands wanderte, aber vielleicht ist er eine der Ursachen dafür, daß das Ausland sich verhältnismäßig erst spät, meist erst Jahrzehnte nach seinem Tode eingehender mit ihm beschäftigte. Der Professor der Pädagogik an der Universität Manchester, Dr. J . Findlay, behauptet, daß vor dem Jahre 1891 keiner in England Herbart als Pädagogen überhaupt irgendwelche Aufmerksamkeit geschenkt habe, „obgleich seine Verdienste um die Philosophie und Psychologie natürlich bekannt waren". Die einzige Erwähnung Herbarts als Pädagoge in der einschlägigen englischen Literatur vor 1890, die J . Findlay auffinden konnte, sind einige Zeilen über ihn in Oskar Brownings Buch „Pädagogische Theorien" (5). Daß es in anderen Ländern oft nicht viel anders war, zeigen uns die Erscheinungsjahre der ausländischen Herbart-Literatur. Der Weltruf Pestalozzis war aber nicht der einzige Sachverhalt, der die Auslandsverbreitung der Herbartschen Theorie im Ausland erschwerte und verzögerte. In der gleichen Richtung wirkte der wissenschaftliche Charakter seiner Schriften, dem viele praktische Pädagogen nicht gewachsen waren, und seine Terminologie, die ein Hindernis seiner Auslandsverbreitung war, ähnlich wie Kants Terminologie eine schnelle Ausbreitung seiner Philosophie über die deutschen Grenzen hinaus erschwert bzw. verhindert hatte. Übrigens dauerte es ja auch in Deutschland lange, bis sich die Geister dem Herbartschen System zuwandten. Eine Herbartische Schule bildete sich erst, „nachdem in Deutschland die Hegeische Springflut in der Philosophie sich verlaufen hatte und die philosophische Ebbe des Materialismus" eingetreten war, etwa um 1850. Die Mitglieder dieser Schule, die sogenannten Herbartianer, hat man wohl in drei Gruppen eingeteilt: die Angehörigen der ersten Gruppe, z. B. Franz Theodor Waitz, Hermann Kern und Karl Volkmar Stoy, suchten „die vielverschlungenen Gedankenreihen des Meisters in zwar wissenschaftliche, aber dem allgemeinen Verständnis faßlichere Formen" umzugießen und erleichterten dadurch auch den ausländischen Pädagogen den Zugang zu ihm. Die zweite Gruppe bemühte sich mehr um die Gestaltung der Unterrichtspraxis nach der Herbartschen Theorie. Die zu ihr gehörigen Pädagogen, z. B. Friedrich Wilhelm Dörpfeld, Otto Willmann, Otto Frick u. a. m., interessierten mehr als vorher die praktischen Pädagogen für Herbart und erleichterten dessen Aufnahme bei Völkern, die für die reine pädagogische Theorie keine oder nur ge-
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ringe, für die Theorie der Praxis aber starke Aufnahmebereitschaft zeigten. Die dritte Gruppe arbeitete am Ausbau und der Fortentwicklung der Herbartisdien Pädagogik. Zu ihr gehörten z. B. Tuiskon Ziller, Ad. Heinrich Ludwig von Strümpell, Ernst von Sallwürk, Wilhelm Rein. Für die Vermittlung der Herbartischen Pädagogik nach dem Ausland waren besonders bedeutungsvoll die vier Universitätsprofessoren für Pädagogik Karl Volkmar Stoy, Tuiskon Ziller, Ludwig von Strümpell und Wilhelm Rein. Der erste wirkte in Jena zunächst als Honorarprofessor, war dann eine Reihe von Jahren in Heidelberg und dann bis zu seinem Tode (1885) ordentlicher Professor in Jena. Dort begründete er ein mit einer Übungsschule verbundenes pädagogisches Seminar. 1844 übernahm er die Knabenerziehungsanstalt des plötzlich verstorbenen Dr. Heimburg, die als Stoysches Institut auch für die Auslandsverbreitung der in ihr vertretenen Herbartischen Pädagogik Bedeutung gewann, da es auch von Ausländern besucht wurde. Das geschah in einem solchen Umfang, daß Stoy es für nötig hielt, den deutschen Charakter seines Institutes zu betonen: „Mein Haus ist ein deutsches Haus, und an diesem Standpunkt lasse ich nichts verwischen" (6). Stoy ist auch selbst im Ausland als Herbartianer aufgetreten, z. B. 1880 in Brüssel und 1884 in London. Während er ein strenger, wenn audi selbständiger Herbartschüler war, hat Tuiskon Ziller (1817—1882) die Pädagogik Herbarts weiter-, wenn nicht umgebildet und auf die Unterrichtspraxis angewandt. Von ihm stammt die Erhebung des Gesinnungsstoffes zum Konzentrationsstoff alles Unterrichtes, die Kulturstufentheorie und der Aufbau der Unterrichtsstunden nach den fünf Formalstufen Analyse, Synthese, Assoziation, System und Methode. 1862 gründete auch er ein pädagogisches Seminar mit einer Ubungsschule und 1868 den „Verein für wissenschaftliche Pädagogik". Wie in Deutschland, so hat man erst recht im Ausland die neuen Ideen Zillers ohne weiteres als herbartisch betrachtet und Herbart-Ziller-Stoy rühmend oder tadelnd in einem Atem genannt, auch wenn es sich um Ideen handelte, die sich noch nicht bei Herbart finden und auch von Stoy gering geschätzt oder abgelehnt wurden, also eigentlich nur zu Ziller gehörten. Auch hier findet sich eine Parallele zwischen Herbart und Fröbel. Wie das Ausland vielfach nicht die reine Fröbelsche Pädagogik, sondern eine durch Frau von Marenholtz-Bülow bearbeitete und veränderte Fröbellehre kennenlernte, so wurden auch viele ausländische Pädagogen nicht an die wirkliche pädagogische Theorie Herbarts, sondern an die durdh seine Schüler und Anhänger, besonders durch Ziller, weiter- und umgebildete Herbartische Pädagogik herangeführt. Gehen wir noch etwas näher auf die Auslandswirkung der beiden genannten pädagogischen Universitätsseminare ein, die übrigens die einzigen pädagogischen Seminare an deutschen Universitäten geblieben sind, wenn man, wie Stoy und Ziller es vertraten und es im Wesen der Sache auch begründet ist, die Übungsschule als zum Begriff des P. S. gehörig betrachtet. Zillers Seminar bestand 22 Jahre. Ein Jahr nach Zillers Tode (20. April 1882), Ostern 1883, mußte es aufgelöst werden (7). Das Zillersche Seminar hatte wegen der Ver134
einigung von Theorie und Praxis große Anziehungskraft auf in- und ausländische Pädagogen. Unter den letzteren befanden sich nidit wenige, „die sich zu pädagogischen Führern ihrer Nation erhoben, wie z. B. Dr. Kaiman, Professor der Pädagogik an der Universität in Budapest, dessen Einfluß in der Gestaltung des ungarischen Schulwesens deutlich zu bemerken ist" (8). Von viel größerer Bedeutung als das Leipziger war das Jenaer Universitätsseminar für die Auslandsgeltung deutscher Pädagogik schon deshalb, weil es länger als jenes — mit allerdings veränderter geistiger Einstellung bis auf den heutigen Tag — bestanden hat bzw. besteht. Es hat zunächst von seiner Begründung im Jahre 1844 an, mit achtjähriger Unterbrechung während der Heidelberger Tätigkeit Stoys, bis zu dessen Tode am 23. Januar 1885 bestanden. Am 3. November 1886 wurde es von dem früheren Eisenacher Seminardirektor und damaligen Nachfolger Stoys als Universitätslehrer, Professor W. Rein, neu eröffnet und errang bald Weltruf. In dem 1911 herausgegebenen Rückblick auf die Geschichte dieses pädagogischen Seminars wird darauf hingewiesen (9), daß fast die ganze Welt unter den Seminarmitgliedern in der langen Semesterreihe vertreten ist, und daß sich fast in allen Ländern ehemalige Jenenser im Sinne der dort vertretenen Pädagogik befinden. Nach diesem Bericht wirkten damals in Griechenland über 30, in Bulgarien einige 70, in Rumänien wohl 20, in Serbien über 30, in der Schweiz wohl 30 und in England wohl 50 Altmitglieder des Seminars. Auch Japan, Australien, Südafrika, Chile, Mexiko, Rußland, Armenien, Finnland, Schweden, Österreich-Ungarn und vor allem die Vereinigten Staaten von Nordamerika stellten Mitglieder des Seminars. Manche von ihnen promovierten bei Professor Rein mit einer pädagogischen Dissertation. Auch die Volksdeutschen des Auslandes stellten Seminarmitglieder. So waren von den deutschen Pfarrern, Mittelschul- und Volksschullehrem in Siebenbürgen in der Zeit von 1886 bis 1911 weit über 100 durch das Reinsche Seminar gegangen. Ein Tor in die Welt für die Herbartische Pädagogik bildeten auch die von Rein in Jena im Sommer veranstalteten pädagogischen Ferienkurse, die außerordentlich zahlreich — auch aus dem Ausland — besucht wurden. Die Ferienkursteilnehmer besichtigten in der Regel auch das Seminar und studierten seine Einrichtungen. Das Jenenser pädagogische Universitätsseminar bestand auch unter seinem Nachfolger auf dem Lehrstuhl der Philosophie und Pädagogik, Professor Dr. Peter Petersen, weiter, allerdings ohne jetzt noch Herbartische Pädagogik zu vertreten. Die ausländischen Mitglieder des Seminars und die ausländischen Teilnehmer der Ferienkurse nahmen den Eindruck des Jenenser Seminars mit in ihre Heimat. Dort gab dieser dann oft den Anstoß zur Schaffung einer ähnlichen Einrichtung und diente dabei als Vorbild. Die Gründung der pädagogischen Seminare an einer Anzahl nordamerikanischer Universitäten und Colleges, an der Universität in Manchester in England, in Bukarest, Jassy, Belgrad und Athen erfolgte nach dem Jenaer Muster (10). Auch die Publikationen der beiden Zentralen Herbartischer Pädagogik streuten ihren Samen ins Ausland. Ziller gründete im Jahre 1868 zur Pflege der 135
Herbartischen Pädagogik den Verein für wissenschaftliche Pädagogik, den er bis 1882, Professor Th. Vogt in Wien von 1882—1896 und Professor Rein von 1896 an leitete. Die Arbeiten des Vereins wurden in Jahrbüchern veröffentlidit und auf den Jahresversammlungen besprochen. Die Verhandlungen selbst erschienen als „Erläuterungen" zum Jahrbuch. Professor Rein gab „Pädagogische Studien" heraus, die in einem gewissen Gegensatz zu Ziller standen, ferner eine zehnbändige Pädagogische Enzyklopädie und mit Pickel und Schell zusammen die „Acht Schuljahre", die in Einzelbänden die Anwendung der Herbartischen Methodik auf den Unterricht der einzelnen Volksschuljahre zeigten. Diese und einzelne andere Publikationen der deutschen Herbartianer fanden in der deutschen Originalausgabe oder auch in der Übersetzung den Weg ins Ausland. Der Werbung für die Herbartische Pädagogik dienten ferner die vielen Auslandsreisen, die Professor Rein wohl in der Hauptsache unternahm, „um sich Material für sein Kolleg über „Ausländisches Schulwesen" zu beschaffen. Er besuchte z. B. mehrmals England, außerdem Schweden, Dänemark, die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Ungarn und Italien (11). Wie wir bei der Untersuchung des Einflusses der Herbartischen Pädagogik in den verschiedenen Ländern im einzelnen noch sehen werden, wurden im Laufe der Zeit auch die pädagogischen Schriften Herbarts und mancher Herbartianer in die Sprachen verschiedener Länder übersetzt, und ausländische Federn schrieben Bücher und Aufsätze über Herbart und die Herbartianer, zeigten die Anwendung der Herbartschen Methodik auf den Schulunterricht ihres Landes und verfaßten in ihrem Geist Lehrbücher. Auf diesen verschiedenen Wegen kam es dazu, daß Herbart in vielen Ländern nicht nur theoretisch bekannt wurde, sondern auch gestaltend auf die pädagogische Wirklichkeit, auf Unterricht und Erziehung in einem Maße einwirkte, daß man geradezu von einer Herbartischen Ära in der Pädagogik einzelner Länder sprechen kann. Frankreich gehört allerdings nicht zu ihnen. Das ist überraschend, weil die Pädagogik der französischen Westsdiweiz, die man oft als kulturelles Vorland Frankreichs betrachtet hat, — wenn auch erst einige Jahrzehnte nach Herbarts Tod — stark unter dessen Einfluß geriet. A. Daguet gab schon in den achtziger Jahren in dem von ihm verfaßten Manuel de pédagogie eine kurze Darlegung der Herbartischen Pädagogik (Neuchâtel 1886), und in dem Journal pédagogique et littéraire, das unter dem Namen l'École in Lausanne herauskam, wurden Aufsätze über die Herbartische Theorie veröffentlicht. Mehrere führende Pädagogen der Schweiz waren Vertreter Herbartischer Pädagogik, so der Erziehungsdirektor des Kantons Genf, William Rosier, der die Herbartischen Grundsätze besonders auf den Geographieunterricht anwandte, der Sekretär des Erziehungsdepartements in Genf, M. Maldi, der im Wintersemester 1910/11 an der Genfer Universität eine Vorlesung über Herbart und seine Methode hielt, der Pädagoge Raphael Horner in Fribourg, der in seinen Vorschriften über die Konzentration und über das Lehrverfahren unbestreitbar von Herbart abhängig war, und vor allem Franz Guex, der Direktor des Lehrer136
seminars und Professor der Pädagogik an der Universität Lausanne (12). Dieser war drei Jahre Mitglied des Jenaer Seminars unter Stoy und hielt sogar in den Jenaer Ferienkursen von 1908 eine Reihe von Vorlesungen über die Schweizer Schulen. Den Einfluß der Herbartischen Pädagogik verraten seine "Veröffentlichungen, vor allem „De l'Éducation professionelle des candidats à l'enseignement secondaire", Lausanne 1892, „Herbart et son école", Lausanne 1903, und seine „Histoire de l'instruction et de l'éducation", Lausanne 1905 (13). Nach eigener Aussage vertrat Guex in seinen Vorlesungen und Veröffentlichungen die Ideen Herbarts über die Weckung des Interesses, die Ordnung desVorstellungslebens, die Konzentration, das Lehrverfahren und Regierung und Zucht der Kinder. Er baute seine Übungsschule nach dem Muster der Jenenser auf. Als Herbartianer erwies sich Professor Guex auch in der seit 1899 von ihm geleiteten pädagogischen Wochenschrift „L'Éducateur" und dem von ihm herausgegebenen „Annuaire de l'instruction publique en Suisse". Man sollte nun annehmen, die schweizerische Herbartbewegung habe ihre Wellen auch nach Frankreich geschlagen und dort auch Einfluß auf die pädagogische Praxis gewonnen, besonders, da der „Éducateur" wie das „Annuaire" von der französischen pädagogischen Presse aufmerksam verfolgt wurden. Das ist bestritten worden. Jules Steeg konnte noch im Jahrgang 1885 in der Revue pédagogique schreiben: „Der Name Herbart ist in Frankreich so ziemlich unbekannt." (14) A. Pinloche hat auf eine diesbezügliche Anfrage von Devaud die Antwort gegeben, ein Einfluß Herbarts auf die französische Pädagogik bestände nicht, er sei überhaupt nur einigen wenigen Eingeweihten bekannt, und diejenigen, die sich mit ihm beschäftigten, studierten ihn nur in bezug auf seinen historischen Wert und nicht in der Absicht, die Erziehungswissenschaft damit aufzufrischen. L. Devaud hält diese Aussage allerdings für eine Übertreibung und bringt mancherlei Material herbei, das zum mindesten beweist, daß es französische Pädagogen gab, die sidh für die Herbartische Pädagogik interessierten. Die philosophischen Ideen Herbarts waren in Frankreich lange vor den pädagogischen, schon zu Lebzeiten Herbarts bekannt geworden. Der Inspekteur an der Akademie Straßburg, J. Wilm, veröffentlichte 1846—1849 in Paris eine „Histoire de la philosophie allemande", in der sich auch eine Darstellung der Herbartischen Philosophie findet (S.509—591, 639—646), die von Gockler alseine der besten Darstellungen dieses Gegenstandes betrachtet wird. Vorher hatte er schon je einen Artikel über Leben und Werk Herbarts in der „Encyclopédie des Gens du Monde" und in dem „Dictionnaire des sciensses philosophiques" veröffentlicht. Außer Wilms haben August Ott, J. E. Filadion und J. Tissot sich publizistisch mit Herbarts Philosophie beschäftigt, dabei aber seine Pädagogik ignoriert. Das erste Buch, das in französischer Sprache sich mit der Pädagogik Herbarts beschäftigte, war die durch Redolfi vorgenommene Übersetzung der „Ge137
schichte der Pädagogik" seines deutschen Gegners Dittes „l'Histoire de la Pédagogie", erschienen 1880 in Paris und Genf*). An Boden gewann Herbart in Frankreich seit der Jahrhundertfeier des Philtísophen und Pädagogen, besonders Anfang der achtziger Jahre. Zu den französischen Vermittlern Herbartisdier Pädagogik gehörten, die im nachfolgenden zusammengestellten Pädagogen: Edouard Roehrich veröffentlichte die erste französische Arbeit, die sich nur mit den pädagogischen Ideen Herbarts beschäftigte. Die 1884 in Paris erschienene kleine Schrift „Théorie de l'Éducation d'après les principes de Herbart" war der Versuch, die Pädagogik Herbarts dem französischen Lehrerpublikum und den französischen Verhältnissen anzupassen. Sie erschien übrigens unter dem Titel „Teoria de la educación según los principios de Herbart", Paris 1904, auch in spanischer Sprache. A. Pinloche übersetzte sehr beträchtliche Stücke aus der „Allgemeinen Pädagogik" Herbarts und aus dessen „Umriß pädagogischer Vorlesungen" und gab sie 1894 in Paris unter dem Titel „Principales Oeuvres pédagogiques" heraus. Pinloche besitzt ein großes Wissen, eine gründliche Kenntnis der deutschen Pädagogik und beherrscht auch die deutsche Sprache vollkommen. Trotzdem ist seine Herbartübertragung abgelehnt worden, in der Hauptsache weil er — dans l'intérêt du lecteur, wie er selbst im Vorwort sagt — rein philosophische Darlegungen weggelassen hat. Infolgedessen fehlen hier und da die Grundlagen für das Verständnis der Ausführungen. Marcel Mauxion, der „L'Éducation par l'Instruction et les théories pédagogiques de Herbart" verfaßte. Diese 1901 in Paris erschienene Schrift, 1927 in Madrid in spanischer Übersetzung unter dem Titel „La educación por la instrucción y las teorías pedagógicas de Herbart", stellt die Erziehungslehre Herbarts an Hand der vorstehend erwähnten Übersetzung von Pinloche dar. Der Verfasser hat nach der Ansicht Devauds (15) nur die Absicht gehabt, die Herbartsche Erziehungslehre der französischen Öffentlichkeit bekanntzumachen, nicht aber, sie in die Schulen seines Landes einzuführen. Das Buch, das vom Publikum verhältnismäßig gut aufgenommen wurde und 1906 eine zweite Auflage erlebte, kann aber doch auf die französische Unterrichtspraxis eingewirkt haben, z. B. durch die Darlegung der Lehre vom Interesse, der Konzentration und anderer Herbartscher Grundgedanken. Der Erfolg, den Mauxion mit seinem Buch hatte, ermutigte-nach der Darstellung Gocklers Compayré, den Rektor der Akademie von Lyon, eine Popularisierung der Ideen Herbarts zu versuchen. In der Sammlung „Grands Éducateurs" gab er ein kleines Buch unter dem Titel „Herbart et l'éducation par instruction" heraus, das aber nicht die reine Herbartische Theorie vertritt, sondern die Herbartische Pädagogik in Zillerscher Prägung. Von Bedeutung für die Verbreitung der Kenntnis der Herbartsdien *) Siehe im Anhang von L. Gockler, La Pédagogie de Herbart den Abschnitt „Herbart en France", S. 388—396.
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Pädagogik in Frankreich war seit 1890 auch die Revue pédagogique, in der der schon erwähnte damalige Direktor des Musée pédagogique ziemlich regelmäßig über die deutsche pädagogische Bewegung und dabei dann auch über die Veröffentlichungen der Herbartischen Schule in Deutschland berichtete (16), sowie die Revue philosophique, in der Eugène Blum seit 1897 unter der Uberschrift „Le mouvement pédologique et pédagogique" Berichte veröffentlichte, die viel Sympathie für die Doctrine Herbartienne zeigten. In ihr veröffentlichte z. B. M . Deureux (1890—1891) acht Artikel über die bei der Erziehung angewandte Psychologie nach Herbart, wobei er als Quelle allerdings nicht Herbarts Originalschriften, sondern Hartensteins „Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik" benutzte. Die Aufsätze, die Devaud „unverständlich, streng und ungerecht" (17) nennt, können kaum werbend für Herbart und seine Lehre gewirkt haben. Eine eingehendere Betrachtung verdient auch noch Louis Gockler, „La Pédagogie de Herbart", Exposé et discussion, Paris 1905, Thèse pour le Doctorat de l'Université présentée à la Faculté des Lettres de Paris". Gockler ist der Ansicht, für die er sich auch auf eine ganze Reihe französischer Pädagogen berufen kann, daß der Pädagoge Herbart in Frankreich nicht die Beachtung gefunden hat, die er verdient. Abhilfe versucht er mit dem stattlichen Band von 402 Seiten. Im ersten Teil schildert er Herbart und seine Zeit, im zweiten stellt er das pädagogische System Herbarts dar und unterzieht es im dritten Teil der Kritik. Besonders interessant für uns im Zusammenhang unseres Themas ist das letzte Kapitel des dritten Teiles, in dem Gockler unter dem Titel Conclusion (S. 367—381) die Frage zu beantworten sucht: ; ,Doit-on s'opposer à la diffusion de ces idées, ou peut-on, et dans quelle mesure, en faire profiter la pédagogie française? (S. 367.) Er beantwortet die zweite Frage in bejahendem Sinne und zeigt dann im einzelnen, wie und was der französische Pädagoge von Herbart lernen kann. Lehrreich sind für ihn schon die Irrtümer Herbarts, denen man nach seiner Ansicht überall da begegnet, wo Herbart metaphysische Begriffe benutzt, um davon seine Deduktionen abzuleiten. Aber überall da, wo sich in dem Philosophen der Praktiker zeigt, finden sich sorgfältige Beobachtungen, richtige Anmerkungen und wertvolle Ratschläge. Diese sind es dann auch — und nicht die negativen Lektionen — welche die Theorie Herbarts empfehlen. Sie lehren z.B. den Lehrer, die Schüler und die Unterrichtsgegenstände in einer ganz neuen Weise betrachten und ihre gegenseitigen Beziehungen studieren. Der Pädagoge, der sich zu Herbart bekennt, hat sich bei seiner erzieherischen Tätigkeit zu fragen : Kenne ich die besonderen Fähigkeiten meines Schülers? Welches ist seine Erziehbarkeit, seine Bildungsfähigkeit, welches sind seine Schwächen und welches seine starken Seiten? Welches sind seine familialen und sozialen Verhältnisse, die ich berücksichtigen muß? Vor Beginn des Unterrichts muß der Lehrer sich fragen : Was weiß der Schüler, sei es aus eigener Erfahrung, sei es aus früheren Unterrichtsstunden, bereits von dem neuen Unterrichtsgegenstand? Und wie weit kann er sich selbst sagen, was er
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jetzt lernen soll? Wofür hat er jetzt besonderes Interesse? Ist der neue Unterrichtsstoff daher gut gewählt? Entspricht er der augenblicklichen Fassungskraft des Schülers, dën äußeren Umständen, dem Lehrplan und dem gesteckten Ziel? Ist die Anordnung des Unterrichtsstoffes exakt, entspricht sie den psychischen Bewegungen, den formalen Stufen (aux degrés formels) ? Und nach der Unterrichtsstunde fragt sich der Lehrer: Gelang es mir, die Aufmerksamkeit der Schüler zu fesseln, apperzeptive Vorstellungen bereitzustellen, dauerhafte Assoziationen zu bilden und klare und bestimmte Abstraktionen vorzunehmen? Habe ich die Anwendung gut vorbereitet? Welche Charaktermängel hat der Schüler? Was muß idi tun, um sie zu beseitigen? Zu diesen und ähnlichen Fragen führt das Herbartische System, „et c'est certainement le premier secret de son succès" (S. 373). Unter den Prinzipien, die in den Augen Gocklers vor allem die Größe des Herbartischen Systems ausmachen, sind das Interesse, die formalen Stufen und die Konzentration die wichtigsten. Den Wert der formalen Stufen sieht er darin, daß sie die Jugend schützen vor dem Dilettantismus im Unterrichten und vor dem nicht weniger gefährlichen Vorurteil, daß jeder Lehrer seine eigene Unterrichtsmethode, sa méthode personelle de renseignement, haben müsse (S. 376). Herbart hat die Frage gestellt: Ist der Vorgang des Lernens ein psychischer Prozeß oder nicht? Wenn nicht, dann ist gar kein planmäßiger Unterricht möglich. Wenn ja, so gelten für diesen Prozeß Gesetze, die kein Lehrer ändern kann. Ohne diese Gesetze zu kennen und sich ihnen anzupassen, gibt es keinen planmäßigen und erfolgreichen Unterricht. Das war schon Pestalozzis Meinung. Herbart „élargit cette pensée et l'applique à toüs les degrés de l'enseignement". Aus dieser Auffassung des Herbartischen Systems heraus wünscht Gockler die Ausbreitung der „idées Herbartiennes" in Frankreich (S. 377). Am Schluß dieser Reihe müssen wir noch einmal Edouard Roehrich erwähnen (18), der 1911 eine größere Arbeit über Herbart erscheinen ließ, die er in der im Vorangegangenen erwähnten Schrift bereits versprochen hatte: „Philosophie de l'Éducation. Essai de pédagogie général", Paris (Alcan). Diese ist zwar nach dem Urteil Dêvauds außer von Herbart auch von Rousseau, Rabelais und dem französischen Philosophen Coumot abhängig. Aber doch vorzüglich von dem ersteren, indem der Verfasser wie Herbart die Erziehungswissenschaft auf der Grundlage der Ethik und der Psychologie aufbaut und dessen Lehre vom Interesse, von der Aufmerksamkeit und den vier formalen Stufen u. a. m. vertritt. Devaud weist darauf hin, daß in diesem Werke Roehrichs zum ersten Male in französischer Sprache versucht worden sei, „auf eine Konzentration der Lehrstoffe, auf die geordnete Bildung der Fächer und einen Gesinnungsstoff" nach den Zillerschen Grundsätzen hinzuarbeiten. Dieses Buch Roehrichs wurde von der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften durch den Preis Crouzeit ausgezeichnet, was nach dem Urteil Compayrés (19) gleichzeitig eine Preiskrönung Herbarts bedeutete. Durch die angegebenen Autoren wurde zwar erreicht, daß der Name Her-
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barts unter den Pädagogen Frankreichs bekannt und in vielen französischen pädagogischen Schriften genannt wurde. Aber von einer praktischen Auswirkung in den französischen Schulen finden sich keine nachweisbaren Spuren. Selbst nicht von der Herbartschen Forderung der Konzentration, obwohl diese einem Bedürfnis des damaligen französischen Unterrichts entgegenkam und auch von Pädagogen des Landes, z. B. noch 1925 von Paul Bernard in seinem Buch „L'École Attentive", Paris, wiederholt wurde. Auch die deutschen Werke über die französische Pädagogik von Otto Völcker, P. Frieden u. a. m. führen keinen Beleg für den Einfluß der Herbartschen Pädagogik auf den Unterricht und die Erziehung in Frankreich an. Und Devaud sagt in dem mehrfach angeführten Aufsatz ausdrücklich, daß man keine Spur von Herbart in der Schulpraxis finde (20). Aber die Unmöglichkeit des exakten Nachweises solcher Spuren ist nicht gleichbedeutend mit dem Nachweis, daß Herbart das Denken und T u n der französischen Pädagogen nicht beeinflußt habe. Im Gegenteil muß man sich sagen, daß die Ideen, die, wie wir sahen, durch eine ganze Reihe von Büchern und Aufsätzen in Frankreich verbreitet wurden, unmöglich völlig wirkungslos geblieben sein können. Das gilt erst recht da, wo die Pädagogik Herbarts durch mündlichen Vortrag nahegebracht wurde, z. B. bei den boursiers français, die in Jena studierten, und den Hörern von Dürkheim an der Sorbonne, von Mauxion an der Universität von Poitiers und von Chabot an der Universität von Lyon, da diese Professoren Bewunderer Herbarts waren und über ihn lasen. Ganz anders steht es mit dem Einfluß Herbarts auf die englische Pädagogik. Nach der Darstellung des deutschen Geschichtsschreibers der englischen Erziehung, Bruno D r e ß l e r ( l l ) , war Herbart derjenige deutsche Erzieher, „der die Methode der englischen Schulen am stärksten beeinflußt hat". Dafür gibt es verschiedene Erklärungsversuche. Vielleicht ist diese größere englische Bereitschaft zur Aufnahme deutscher pädagogischer Ideen mitbedingt durch die rassische Verwandtschaft der beiden Völker. Begünstigt wurde die Aufnahme der Herbartschen Pädagogik auch dadurch, daß die Engländer gerade in den letzten beiden Jahrzehnten des XIX. und dem ersten des XX. Jahrhunderts interessiert auf die deutsche pädagogische Entwicklung und das deutsche Schulund Bildungswesen schauten. Einmal, weil auch in England der Ausspruch „Der deutsche Schulmeister hat die Schlacht von Sadowa gewonnen" bekanntgeworden war und Glauben gefunden hatte, d. h. also die Überzeugung, daß die deutschen Schulen ausgezeichnet sein mußten, da sie die Generation erzogen hatten, die in mehreren aufeinanderfolgenden Kriegen den Sieg an die deutschen Fahnen zu heften vermochte. Dazu kam, daß gerade in diesen Jahrzehnten das Bewußtsein der Reformbedürftigkeit ihrer Schulen unter den Engländern besonders lebendig und stärker war als ihr Hang, beim einmal Bestehenden zu bleiben. Der Lehrplan der Schulen wurde damals durch die Aufnahme neuer Fächer bereichert, und bei der Vielheit der Fächer empfanden auch die eng141
ltsdien Pädagogen die Konzentration, wie Herbart sie forderte, als notwendig, überhaupt war dessen verstandesmäßige Einstellung ihrer völkischen Eigenart gemäßer, als die vom Gefühl getragenen Ideen Pestalozzis (22) für ihre Vorfahren gewesen waren. Diesen war dazu das Verständnis der oft dunklen und mehrdeutigen Sprache Pestalozzis schwer oder unmöglich gewesen. Die Herbartsche Lehre vom Vorstellungsmechanismus aber erleichterte den englischen Pädagogen, auch den englischen Elementarlehrern, das Eindringen in die Methodik Herbart-Ziller-Stoy. Die erste Einführung der Lehre Herbarts nach England geschah in der Hauptsache durch die Geschwister Henry M. und Emmy Felkin, die im Jahre 1892 Herbarts „Allgemeine Pädagogik" unter dem Titel „Herbart's Science of Education" herausgaben. Vielleicht war auch sdion die in drei Heften des Jahrganges 1891 der „Educational Review" veröffentlichte Darstellung der Herbartschen Pädagogik (23) in England bekanntgeworden. Der allgemeinen Pädagogik folgte, ebenfalls von den Felkins übersetzt, „The Aesthetic Revelation of the World", eine nach dem Urteil Lechtenbergs (24) sehr gute Übersetzung von Herbarts Schrift „Die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung". 1895 erschien dann eine Einführung in die Pädagogik Herbarts und seiner Schule (Introduction to Herbart's Science and practice of Education) mit einem Vorwort von Browning, die den englischen Pädagogen das Eindringen in das System Herbarts und seiner Schüler erleichterte und viel zu seiner Einbürgerung durch mehrere Auflagen beitrug, von denen die fünfte noch im Jahre 1921 erschien, als in Deutschland die Herbartsche Unterrichtsmethode längst von einer neuen, der Arbeitsschulmethode, verdrängt worden war. Mit der Ausbreitung und Kenntnis der Herbartschen Pädagogik in England erwachte in vielen englischen Pädagogen der Wunsch, sie an Ort und Stelle zu studieren, und es begann daher der Zustrom englischer Studierender zu dem Schildhalter Herbartscher Pädagogik in Deutschland, zu Professor Rein in Jena.„Pilgrimages to Jena" wurden nach den W o r ten Dreßlers jetzt „fast Pflicht aller strebsamen Pädagogen Ertglands" (25). Der schon erwähnte Findlay war allerdings schon 1891 in Jena gewesen, aber mehr zufällig und nicht, weil er in England von dem Wirken Reins gehört hatte. Er war nach Deutschland gereist, um zu sehen, wie die Lehrer der höheren Schulen, die in England völlig ohne pädagogische Vorbildung blieben, für ihre berufliche Tätigkeit geschult wurden, hörte dann, nach seinen eigenen Worten (26), in Deutschland durch Zufall von Rein in Jena, ging hin und wurde Mitglied seines pädagogischen Seminars. „Was ich jedoch im Seminar fand" — so schreibt er zwanzig Jahre später — „übertraf meine Erwartungen derart, daß ich meine Erlebnisse mit denen jenes israelitischen Prinzen vergleichen könnte, der ausging, seines Vaters Esel zu suchen, der aber ein Königreich fand" (27). Die obenerwähnten „Pilgerfahrten nach Jena" begannen erst, nachdem die englische pädagogische Öffentlichkeit durch die Felkins und ihre Nachfolger mit Herbart und den Herbartianem bekanntgeworden waren. Zu diesen Nachfolgern, welche die Bemühungen der Felkins fortführten, gehören
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Darroch, Herbart and the Herbartian theoiy of Education, London 1903, John Adams, The Herbartian Psychologie applied to Education, London 1898, und vor allem H. Hayward mit seinen, von 1902—1907 erschienenen Werken über die Herbartsdie Pädagogik (28), die allerdings bereits die kritische Auseinandersetzung mit ihr begannen. Aber auch die in Jena bei Rein gewesenen englischen Erzieher sehen es als ihre Aufgabe an, über ihre dort gemachten Erfahrungen zu berichten. Es ergießt sich nach den Worten Dreßlers über England eine Unmenge oft recht unbedeutender Broschüren, die sich mit der neuen Pädagogik beschäftigen und zumindest das Interesse für sie in England verbreiten. Die Wirkung dieser Beschäftigung der englischen Pädagogen mit Herbart zeigte sich bald auch in der pädagogischen Praxis bis in die Gestaltung des; Unterrichts und der Schulerziehung hinein. Die Methodiken aller Unterrichtsfächer, die in den Jahren um die Jahrhundertwende in England erscheinen, stehen deutlich sichtbar unter ihrem Einfluß. Die formalen Stufen werden vielfach den Unterrichtslektionen zugrunde gelegt. Als der Geschichtsunterricht 1902, wohl auch mit unter dem Einfluß der neuen pädagogischen Bewegung, als Pflichtfach an den englischen höheren Schulen Eingang findet, wird er nach Herbarts historisch-geographischer Methode erteilt (29). Auch auf die englische Auffassung über die eigentliche Erziehung der Jugend blieb der Herbartianismus nicht ohne Einfluß (30). Als erste Aufgabe der englischen Schulen war von jeher die Erziehung der Jugend betrachtet worden, nicht ihre Wissensbildung. Als Faktoren dieser Erziehung aber galten nur die Lehrerpersönlichkeit, der freie Verkehr zwischen Schüler und Lehrer, Sport und Gruppenspiel, besonders der Einfluß der Spiel- oder Sportgruppe (team) und ihres Führers (captain), ferner der Schulton, der Geist der Schule, der wesentlich durch die älteren Schüler, die oberste Klasse, die „sixth Form", gestaltet wurde, nicht aber der Unterricht. Daß Kenntnisse Hilfsmittel der Erziehung sind, daß der Unterricht ein Faktor der Erziehung ist, war eine damals dem Durchschnittsengländer wie der Mehrzahl der englischen Pädagogen unbekannte oder von ihnen bestrittene Tatsache. „Virtue cannot be taught" war die Überzeugung der Mehrheit. Erst die englischen Herbartianer haben diese Überzeugung bei manchen Pädagogen doch erschüttert. Zwar finden sich vorher schon bei einzelnen pädagogischen Schriftstellern Bemerkungen über den erzieherischen Wert des einen oder anderen profanen Unterrichtsfachs, und die religiöse Unterweisung gilt allgemein als Erziehungsmittel. Aber wo ein Autor Urteile über den erzieherischen Wert einzelner Unterrichtsfächer ausspricht, zielt er nicht darauf ab, den Schulunterricht mehr als bisher der Charaktererziehung dienstbar zu machen, sondern darauf, das wegen seiner erzieherischen Wirkung gelobte Fach in den Lehiplan der Schule einzuführen oder gegen Widerstände darin festzuhalten. „So behaupteten die Förderer der klassischen Sprachen, daß deren Studium dazu diene, Genauigkeit, Ausdauer und männlichen Entschluß hervorzubringen, und den Schüler lehre, sich nicht vor unangenehmen Aufgaben zu fürchten." Aber hiei* 14a
wie auch, wenn ein Anhänger des naturwissenschaftlichen Unterridites diesen preist, weil die Schüler durch ihn zur Ehrfurcht, Ausdauer und Wahrhaftigkeit erzogen würden, ist der Gegenstand des Interesses, der audht diese Äußerungen veranlaßt, nicht die Charakterbildung, sondern das Unterrichtsfach. Erst unter den Angehörigen der englischen Herbartisdien Schule tritt ein Wandel ein und wird die Bedeutung eines entsprechend gestalteten Unterrichts für die sittliche Erziehung der Jugend erkannt, überhaupt der Gedanke einer planmäßigen Charaktererziehung der Schüler lebendig, z. B. außer in den bereits erwähnten Schriften von H. Hayward, in den Publikationen von Mrs. Sophie Bryant (31), Professor Adams und Professor Findlay. Am enthusiastischsten tritt Hayward für die neue Anschauung ein. Er interpretiert die in der englischen pädagogischen Öffentlichkeit falsch verstandene Behauptung, daß Tugend nicht gelehrt werden könne, folgendermaßen: „What is meant — is that ideas apart from feelings, ,head' apart from, ,heart', will not constitute a virtuous person. Admitted, but nevertheless if vice springs largely from ignorance, the virtue can within limits be taught by the removal of this ignorance". Und er setzt sich dafür ein, daß England diese Lehre annimmt, indem er ausruft: „Wenn sonst nichts in Herbarts System verdiente, übernommen zu werden, so doch seine Lehre, daß das Handeln dem Denken entspricht (springs out of the circle of thought) (32). Es fehlt dann auch nicht an Versuchen, Herbarts Principien des erziehenden Unterrichts auf englische Verhältnisse anzuwenden. Auch Herbarts Forderung, daß das wichtigste Ziel des Unterrichts nicht die Erkenntnisvermittlung, sondern die Weckung eines gleidischwebenden und vielseitigen Interesses sei, wird von den englischen Reformern jener Zeit übernommen. In der Begründung dieser ihrer Forderung kehren dieselben Motive wieder, die auch für die deutschen Herbartianer wirksam sind. So beklagt Armstrong (33) den Mangel an Interesse bei den englischen Schülern seiner Zeit und behauptet: „Die heutige Schule langweilt die Mehrzahl der Schüler so, daß sie bei ihrer Schulentlassung weder die Begierde noch die Fähigkeit, weiterzulemen, besitzen." Und Hayward (34) kleidet den gleichen Vorwurf in die Worte: „Die Schüler treten mit 6 Jahren voll von Wißbegierde (inquisitiviness) in die Schule, sie verlassen sie voller Gleichgültigkeit (apathy)." Und er erklärt es als Folgeerscheinung dieses Sachverhaltes, daß unter zehn Arbeitern kaum einer irgendwelches Vergnügen an Büchern findet. Daraus ergibt sich dann für ihn die Forderung, daß die Hälfte aller Wissenschaften, die bisher in der Schule gelehrt wurden, aus dieser verbannt, dafür aber das Interesse geweckt werden sollte. Außer dem Interesse wurde die Herbartsche Idee der Konzentration von manchen englischen Pädagogen, die das unzusammenhängende Vielerlei der englischen Elementarfächer mit Besorgnis sehen, begrüßt (35). Mit der Einwirkung auf die englische S c h u l p r a x i s ist aber der Einfluß der Herbartschen Pädagogik nicht erschöpft. Sie macht sich vielmehr auch in der wissenschaftlichen Entwicklung der pädagogischen Theorie und im Lehrund Lernbetrieb der Erziehungswissenschaft geltend. Bei der englischen Stam-
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mesabneigung gegen alle reine und systematische Theorie ist es erklärlich, daß es vor der englischen Herbartischen Schule gar keine wissenschaftlich wertvolle pädagogische Literatur gab. Erst mit ihr begann sie. Erst durch sie wurden die Pädagogen auch an die psychologische Unterbauung der Pädagogik gewöhnt und die fortschreitende'seelische Begründung und Vertiefung des pädagogischen Tuns vorbereitet. So wurde z. B. die spätere „discoveiy of psycho-physical complexes forschadowed, though somewhat vaguely, by Herbart in his enumeration of what he terms „apperception masses" (36). Von dem Jenaer und Leipziger Seminar lernte man die systematische Einrichtung des pädagogischen Studiums, die rechte Vereinigung von Theorie und Praxis, die Suche nach pädagogischen Grundsätzen u. a, m. (37). Es soll nicht verschwiegen werden, daß sich auch einige nachteilige Wirkungen der Herbartischen Pädagogik in England bemerkbar machten, wie infolge der Betonung der erzieherischen Wirkung des Unterrichts eine neue Uberschätzung des Wissens, die auch schon durch die „payments by result"*) begünstigt wurden. Auch ein gewisser Unterrichtsformalismus und Schematismus hat sich wohl hier und da durch die Herbartsche Methodik, insbesondere durch die Praxis der Formalstufen begünstigt, breitgemacht. Charakteristisch für die englische Pädagogik ist, daß sich in ihr das Herbartische System noch erhielt, als es in Deutschland schon mehr oder minder überwunden war. Das ist erklärlich, weil der Herbartianismus in England später Fuß faßte, als in seinem Ursprungsland, und weil sich auch hier der typisch-englische Konservativismus im Festhalten des einmal Erworbenen betätigen konnte. Noch in den Jahren nach dem Weltkrieg erschienen englische pädagogische Schriften in Herbartischer Terminologie und „largely Herbartian in spirit". Auch in USA. fand die Herbartsche Pädagogik Eingang, und zwar in einem Umfang, daß man sich berechtigt glaubte, das Land als die zweite Heimat Herbarts und — wenigstens für die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts — neben Deutschland als den „zweiten Brennpunkt des Herbartschen Einflusses in der Welt" zu bezeichnen (38). Zwei Umstände sind für den amerikanischen Herbartianismus charakteristisch : 1. Es war in der Regel nicht die reine Lehre Herbarts, die Eingang in USA. fand, sondern in der Hauptsache der Herbartianismus, wie er von Ziller, Stoy, Rein, Frick und anderen Herbartianern vertreten wurde, und 1. sein Einfluß bestand u n g e s c h w ä c h t verhältnismäßig kurze Zeit. Die ganze herbartianische Epoche in der nordamerikanischen Pädagogik, von Georgi Basil Randeis in ihrer Entwicklung gegen Ende der Periode (in seiner Dissertation „The doctrines of Herbart in the United States") geschildert, dauerte nur zwei Jahrzehnte, von 1890 bis 1910. * ) D e r S t a a t beteiligte sidi nur dann an der T r a g u n g der Sdiullasten, wenn gewissen Anforderungen entsprechende Unterrriditsresultate festgestellt worden waren. 10
S c h n e i d e r , Pädogogik.
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Für beide Sachverhalte gibt es einleuchtende Erklärungen. Die Herbartsche Pädagogik wurde in erster Linie durch amerikanische Studenten, die in Deutschland bei Rein in Jena oder bei Ziller in Leipzig studiert hatten, in ihre Heimat gebracht, natürlich in der Form, wie sie von diesen ihren Lehrern vertreten worden war. Deren Schriften und die anderer Herbartianer wurden in USA. schneller und weiter bekannt als manche Originalschriften Herbarts, die schwieriger zu verstehen waren und zum Teil später in englischer Ubersetzung vorlagen als die mancher Herbartschüler. Und auch diejenigen, denen Herbarts Werke selbst zugänglich waren, griffen trotzdem noch zu den Schriften der deutschen und amerikanischen Herbartianer, weil diese die Idee Herbarts bereits auf die Praxis angewandt, modernisiert oder amerikanischen Verhältnissen angepaßt hatten. Eine gewisse Entherbartisierung — wenn man diesen Ausdruck wagen darf — kam in der neuen Pädagogik auch wohl dadurch zustande, daß man hier und da ihre Literatur in Anpassung an die Vorbildung der Lehrkräfte, die man sich als ihre Leser wünschte, durch Einschränkung der Herbartischen Fachausdrücke populär zu gestalten suchte. In dieser Weise wurde z. B. die Lehre von der Apperzeption durch Roark (Pot of Green Fathers) und Patherson-Du Bois (Point of Contact in Teaching) dargestellt. Auch die verhältnismäßig k u r z e Herrschaft der Herbartschen Pädagogik in USA. ist erklärlich. Einer der amerikanischen Herbartianer charakterisiert seine Landsleute als ruhelos, veränderungssüchtig, als Vertreter eines experimentierenden Individualismus und als ausgestattet mit einem ausgesprochenen Selbstbewußtsein, zumal in praktischen Dingen. Diese nationaltypische Eigenart hat nach seiner Ansicht dazu geführt, daß die Nordamerikaner auch im pädagogischen Bezirk „mehr experimentiert, mehr Irrfahrten gemacht und schneller gewechselt haben als irgendein anderes Volk in der gleichen Zeit" (39). Es entsprach also durchaus der völkischen Eigenart der Nordamerikaner, daß sie sich der Herbartschen Pädagogik ebensowenig, wie einem anderen pädagogischen System, auf längere Dauer verschrieben. Symptomatisch ist in dieser Beziehung, daß die 1892 gegründete amerikanische Herbart-Gesellschaft bereits zehn Jahre später ihren Namen wechselte und sich seit 1901 „National Society for the Study of Education" nennt, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß sie nicht mehr nur der Werbung der Herbartschen Methodik dienen wollte. Die verhältnismäßig schnelle Uberwindung der vor der Jahrhundertwende beinahe monopolartigen Stellung der Herbartpädagogik in USA. hatte aber auch noch andere Ursachen. Die amerikanischen Pädagogen, die die pädagogischen Probleme nicht so sehr, wie etwa die deutschen, durch theoretische Diskussionen, sondern in erster Linie durch praktische Erprobung zu lösen suchten, erkannten bald, was von der neuen Methodik in ihrer politischen und kulturellen Umwelt unrealisierbar war. So entstand ihr gegenüber schon bald eine gewisse kritische Haltung, die eine Kräftigung durch die natürliche Reaktion auf den an manchen Stellen übertriebenen Herbartkult im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts und außerdem durch solche Herbartliteratur erfuhr, die zwar
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in England erschien, aber ihren Weg leicht nach Nordamerika fand, wie Catherine Isabel Dodd „Introduction to the Herbartian Principles of Teaching" und Frank Herbert Hayward „The Students Herbart", „The Secret of Herbart" „The Meaning of Education as interpreted by Herbart", die die kritische Auseinandersetzung mit Herbart bereits einleiteten. Die inneramerikanische Kritik an der neuen Pädagogik wirkte da am nachhaltigsten, wo sie auf dem Studium der Originalwerke Herbarts und der Kenntnis nicht nur seiner pädagogischen, sondern — was verhältnismäßig selten war — auch seiner philosophischen Anschauungen beruhte. Das letztere trifft besonders bei William T. Harris zu, der schon in der Zeit der amerikanischen Hochblüte des Herbartianismus sowohl Herbart in grundlegenden philosophischen Anschauungen entgegentrat, wie auch pädagogischen Einzelforderungen seiner Schüler. In seinem berühmt gewordenen, in Band 16 Jg. 1895, S. 176—181, der pädagogischen Zeitschrift „Education" veröffentlichten Aufsatz „Herbart's Unmoral Education" nimmt er Stellung gegen Herbarts Willenslehre und dessen Auffassung von Wesen und Einflußnahme des Intellekts. Auch ist er z. B. Gegner der Herbartianischen Konzentration, die e i n e n Lehrgegenstand zum Zentrum des gesamten Unterrichts zu machen sucht, und bestreitet besonders die Eignung des Robinson als Konzentrationsstoff für den Unterricht eines ganzen Jahres, weil er zu einseitig sei und nur eine Seite des angelsächsischen Charakters, die Sucht nach Abenteuern, zeige (40). Auch die außerordentliche Entwicklung der Soziologie und einer auf ihr aufbauenden Pädagogik wirkte jeder mehr oder minder stark das Individuum berücksichtigenden Erziehungstheorie, also auch der Herbartianischen, entgegen. Und nicht weniger die Uberzeugung vieler amerikanischer Pädagogen, daß es nicht die eigentliche Aufgabe der Schule sei, dem Schüler Vorstellungen zu vermitteln, sondern seine Selbsttätigkeit zu entwickeln und ihn zum Selbsterwerb des Wissens zu erziehen, so daß das Lehrbuch für ihn wichtiger wurde als der Lehrer. Die Wirkung all dieser Umstände war, daß die Werbung der amerikanischen und der englischen Herbartianer nicht zu einer en-block-Annahme der Herbartischen Methodik, sondern nur zu ihrer eklektischen Übernahme einschließlich mancher Modifikationen führte, und weiterhin, daß nach der Jahrhundertwende die Reserve ihr gegenüber zunahm und die Zahl der literarischen Bearbeitungen der Herbartischen pädagogischen Probleme allmählich geringer wurde. Dennoch hat die Herbartische Pädagogik auf das Erziehungsdenken und die Erziehungswirklichkeit von USA. eine große Wirkung gehabt, die nach Ansicht der Kenner der amerikanischen Pädagogik noch größer ist, als im einzelnen nachgewiesen werden kann. Eine Folge war die Diskussion der Grundbegriffe der neuen Methodik, die dann zur unveränderten oder modifizierten Annahme oder ihrer Ablehnung durch die Praxis oder auch zu Neuschöpfungen führte. Die diskutierten Ideen waren hauptsächlich die Theorie der formalen Stufen, die Konzentration, die 10»
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Kulturstufentheorie und der Gesinnungsunterricht, der erziehende Unterricht, das Problem der formalen Bildung, das Interesse usw. Am stärksten Eingang in die pädagogische Praxis fanden die formalen Stufen. Sie sind zwar gelegentlich theoretisch, z. B. mit dem Hinweis darauf, daß sie die individuelle Freiheit der Lehrenden zu sehr einschränken, bekämpft worden, bestimmten aber doch auf Jahre hinaus die Methode des Klassenunterrichtes in allen fortschrittlichen Schulen. Ihre Anwendung wurde so allgemein, daß manche der Pädagogen, die sie ihrem Unterricht zugrunde legten, schließlich gar nicht mehr an ihren deutschen Ursprung dachten. Von einzelnen amerikanischen Herbartianern wurde die Theorie der formalen Stufen modifiziert bzw. amerikanisiert, z. B. von Charles de Garmo, indem er bei ihrer Darstellung die Theorie der Logik der Sinneswahrnehmung von Harris als psychologische Grundlage benutzte, und von C. A. Mc. Murry, indem er eine Verbindung der Herbartschen Unterrichtseinheit und der formalen Stufen in dem sogenannten Typusbegriff schuf. Mit „Typus" bezeichnete er eine Art von Stoff einheitlichen Charakters, der nicht allein fähig ist, für sich selbst zu stehen, sondern auch als Vertreter seiner Klasse zu dienen. Dieser Begriff erwies sich als ein Hilfsmittel zur Stoffauswahl in den verschiedenen Unterrichtsfächern und zur Verhütung der Stoffüberfülle und der Bekämpfung des Enzyklopädismus. Zu den diskutierten Begriffen gehörte auch der der formalen Bildung. Seine Untersuchung führte auch in USA. zu dem Ergebnis, daß die durch ein bestimmtes Unterrichtsfach erzielte formale Schulung nicht ohne weiteres die durch ein anderes Fach zu bewirkende einschließe oder ersetze. Diese Befreiung vom Zwang der Idee einer allgemeinen formalen Bildung hat zu einer schnellen Bereicherung und Ausgestaltung der amerikanischen Studienpläne geführt. So wurden z. B. unter dem Einfluß der Herbartbewegung der Literaturunterricht und die Anfänge des Geschichtsunterrichtes in die Elementarschulen eingeführt. Unter dem Einfluß des Herbartianismus entwickelte sich auch in USA., wie in Deutschland und in manchen anderen Ländern, der Wissenschaftscharakter der Pädagogik. Die Entwicklung der Psychologie unter Beibehaltung der von Herbart eingeschlagenen Marschroute wurde durch ihn begünstigt, die Psychologie der Frühkindheit (Perez, The first three years of childhood) bearbeitet. Leidecker führte einzelne pädagogische Anschauungen an, die in USA. besonders starke Resonanz fanden. So gewann z. B. der Herbartsche Lehrsatz, daß Handarbeit jeder Art, sei es in bäuerlicher Umgebung, sei es in der Werkstatt, der Charakterbildung förderlich sei, unter den amerikanischen Pädagogen, besonders denen des Berufs- und Fortbildungsschulwesens, starken Anklang und Anwendung in der Praxis. Femer wurden Herbarts Ansichten über die Beschaffenheit des Verstehens, über den Unterschied zwischen Regierung und Zucht und sein Rat, in der Erziehung so wenig als möglich zu kommandieren, von der amerikanischen Lehrerschaft anerkannt, weil sie — wie Leidecker hervorhebt — ganz auf der Linie ihres demokratischen Denkens und Fühlens lagen. 148
Der Herbartsche Einfluß war in Nordamerika zeitweise so stark, daß niemand und nichts innerhalb des pädagogischen Bezirks sich seiner Einwirkung entzog. Das zeigt sich selbst bei solchen amerikanischen Pädagogen, die nicht zu den Herbartianern gezählt werden dürfen, vielmehr der Herbartbewegung kritisch und mit Reserve oder sogar gegnerisch gegenüberstanden, wie z. B. bei Harris (41), dessen Lehre von den fünf Fenstern der Seele man auf Herbart zurückzuführen versucht hat. Der Herbartianismus ist auch von Einfluß auf die Entwicklung der amerikanischen Universitäten gewesen. Es glückte jetzt, wie van Liew hervorhebt, besonders mit den Jenenser Idealen vor den Augen, an ihnen pädagogische Fakultäten einzurichten, unter deren Mitgliedern sich auch einzelne Herbartianer befanden, z. B. F. M. Mc Murry an der Columbia-University in New York City und Charles de Garmo und John Hall in Cincinnati. Auf die Frage der Vermittlung, auf die wir bei einzelnen anderen Pädagogen gleich im Anfang des ihnen gewidmeten Kapitels eine ausführliche Antwort gaben, sind wir bei der amerikanischen Herbartbewegung bis -jetzt nicht näher eingegangen. Wir haben nur erwähnt, daß die amerikanischen Pädagogen, die in Deutschland an den Zentren Herbartscher Pädagogik studierten, ihre Herolde waren. Damit ist allerdings das Wichtigste über die Vermittlung des Herbartianismus nach USA. bereits gesagt. Zu ihnen gehören der schon mehrfach genannte Charles de Carmo, der Verfasser von „Essentials of Method", Boston 1889, und von „Herbart and the Herbartians", New York 1896, und Ubersetzer von Gustav Adolf Lindner, „Empirische Psychologie", und Charles Mc Murry, der Verfasser von „The elements of général method based on the principles of Herbart", Bloomington 1891, und dessen Bruder Frank M. Mc. Murry. Die Kenntnis Herbarts wurde in USA. auch vermittelt durch die Ubersetzung Herbarts durch die Geschwister Felkin, auf die bei Betrachtung des englischen Herbartianismus bereits hingewiesen wurde, und durch die von ihnen verfaßte Einführung in Herbart (Introduction to Herbarts Science and Practice of Education 1899). Aus England kam in einer eigenen amerikanischen Ausgabe auch John Adams „The Herbartian Psydiology applied to Education" herüber. Auch das Herbartwerk von Compayré „Herbart et l'éducation par l'instruction" erschien, durch Maria E. Findlay übersetzt, im Jahre 1907 in New York. Außer dem bereits genannten Buch von Lindner wurden noch manche andere Schriften deutscher Herbartianer in englischer Ubersetzung in USA. herausgebracht, z. B. Christian Ufer, „Vorschule der Pädagogik Herbarts" (übersetzt von J. C. Zinser), Karl Lange, „Apperzeption" (übersetzt vom Herbartklub) und „Wilhelm Reins Pädagogik im Grundriß" (übersetzt von C. C. und Ida J. van Liew). Auch die von der Herbartgesellschaft herausgebrachten Jahrbücher erwiesen sich als Kanäle zur Verbreitung des Herbartianismus in den Vereinigten Staaten. Die Herbartische Pädagogik fand femer in Italien — wenn auch spät und ohne das ganze italienische pädagogische Denken zu erfassen — Eingang. Bereits
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in den achtziger Jahren erschienen zwèi italienische Bücher über Herbart, Nicola Tornelli, La Pedagogia secondo Herbart e la scuola, Roma 1886, und 1887 von dem gleichen Verfasser II fondamento morale de la pedagogia seconde Herbart e la sua scuola. E. Formiggini Santa Maria, Rom, konstatierte noch im Jahre 1932 in ihrem Aufsatz „La Pédagogie contemporaine Italienne" (42) unter den fünf Richtungen der zeitgenössischen italienischen Pädagogik neben der positivistischen, idealistischen, neukantischen und psychoenergetischen die N e u H e r b a r t i s c h e . Sie benennt als Vertreter der Neuherbartianer G. Calo, der mit Herbart in mehreren seiner philosophischen Anschauungen übereinstimmt. Vorher hatte sich der Philosoph L. Credaro, obwohl Positivist, als Herold Herbarts in Italien betätigt, und zwar literarisch durch sein Buch „La pedagogia di Herbart", Paravia-Turin 1915, in der von ihm begründeten pädagogischen Revue, die aber allen Richtungen offenstand, und durch seinen Einfluß auf die Gestaltung des italienischen Schulwesens als Mitglied der Deputiertenkammer, als Unterrichtsminister und später als Senator. Der Herbartianismus konnte sich aber gegenüber dem italienischen Idealismus nicht behaupten. Daß aber in Fachkreisen bis ins dritte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Interesse für Herbart bestand, also noch in einer Zeit, da Herbart in Deutschland längst aus dem Interessenkreis der Pädagogen verdrängt war, läßt sich auf Grund der Veröffentlichung italienischer Übersetzungen der Werke Herbarts und sonstiger Herbartliteratur um diese Zeit vermuten. Idea Piceo zählt in seinem Aufsatz „Herbart in Italien" in der Internationalen Zeitschrift für Erziehung, 10. Ig. (1941), S. 223, auf: „J. F. Herbart, Disegno di lezione di pedagogia (1835—1841), traduzione e appendice critica di G. TarozziSandron, Palermo 1915; J. F. Herbart, Pedagogia generale detotta dal fine dell'educazione 1806, traduzione e note di G. Marpillero-Sandron, Palermo 1925, J. F. Herbart, Scritti pedagogici vari, trad. a cura di G. MarpilleroSandron, Palermo 1928, A. Saloni, J. F. Herbart, La vita, lo evolgimento della dottrina pedagogica, Bd. 2, Florenz 1937. Die Herbartische Pädagogik fand nicht nur in den betrachteten großen Kulturländern, sondern auch in vielen kleineren europäischen Staaten Eingang, z. B. in Griechenland, Serbien, den russischen Ostseeprovinzen, Rumänien, Dänemark, Finnland u. a. m. In dem schon mehrfach zitierten Band XIV. der Mitteilungen des Jenenser pädagogischen Universitätsseminars vom Jahre 1911 finden sich kurze Darstellungen aus den Federn von Pädagogen aus diesen Staaten, die das im einzelnen belegen. Wenn man das Wesentliche ihrer Darstellung kurz zusammenfaßt, ergibt sich folgendes Bild : In Griechenland ist die Geschichte des Herbartianismus identisch mit der neugriechischen Pädagogik: die führenden Pädagogen vor und nach der Jahrhundertwende sind Herbartianer. Die meisten Direktoren der Lehrerseminare haben in Deutschland bei Stoy, Ziller oder Rein studiert und pädagogische Literatur verfaßt, die von Herbartischem Geist erfüllt war, oder auch deutsche Herbartische Literatur ins Neugriechische übersetzt (43). Da es auch an der Universität (44) und im
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Lehrkörper des Athener Seminars (45) zur Ausbildung der zukünftigen Lehrer mittlerer und höherer Schulen Herbartianer gab, fand die Herbartische Methode auch in mittleren und höheren Sdiulen Eingang (46). Theodor Wilhelm faßt in seinem Aufsatz „Herbart in Griechenland", Internationale Zeitschrift für Erziehung, X. Jg. 1941, S. 217—222, die Wirkung der Herbartpädagogik in drei Feststellungen zusammen: Absage an den pädagogischen Dilettantismus; der Mensch als Maßstab der Erziehung; die Anfänge einer neugriechischen Nationalerziehung. In Serbien (47) beginnt die langsame Entwicklung einer systematischen theoretischen Pädagogik mit dem Eindringen des Herbartianismus. Auch hier sind die in derselben Zeit führenden Pädagogen Herbartianer (48), oft Schüler von Rein. Sie begründen — allerdings meist kurzlebige — Zeitschriften (49) als Organe der von ihnen vertretenen Pädagogik, machen Werke Herbarts oder deutscher Herbartianer (50) durch Übersetzung den serbischen Lehrern zugänglich oder verfassen selbst pädagogische Werke auf der Grundlage der Herbartianischen Ideenwelt. Die Folgen zeigten sich allmählich auch in den Schulen, in denen die Formalstufenmethodik Eingang fand und der Unterricht die Tendenz zeigte, zum erziehenden Unterricht Herbartischer Observanz zu werden. In den russischen Ostseeprovinzen (51) wurden die ersten Keime Herbartischer Pädagogik durch einen der bedeutendsten deutschen Herbartianer, Ludwig von Strümpell, gelegt. Dieser richtete an der Dorparter Universität, zu deren Lehrkörper er gehörte, die ersten pädagogischen Kurse in Rußland ein, mit denen praktische Übungen am Dorparter Gymnasium verbunden waren. Diese Auswirkung Herbartischer Pädagogik ging aber nicht in die Breite, weil die Kurse, die übrigens nur kleine Teilnehmerzahlen aufwiesen, nicht lange bestanden. Auch kamen diese Keime nicht zur Entfaltung. Vielleicht wäre das wohl geschehen, wenn das erste deutsche Lehrerseminar in Dorpat im Jahre 1889 nicht nach 61 jährigem Bestände aufgehoben worden wäre. In stärkerem Maße fanden die Herbartischen Ideen in Finnland (52) Eingang, das von jeher die pädagogischen Bewegungen der großen Kulturländer, besonders Deutschlands, mit Interesse verfolgte. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienen Darstellungen der Herbartischen Pädagogik, wie z. B. J. F. Perander, „Herbartianismen Pädagogiken" (Der Herbartianismus in der Pädagogik), Helsingfors 1883, denen nach 1900 andere, auch systematische Werke folgten. Einzelne Schriften deutscher Herbartianer, z. B. Lange „ ü b e r Apperzeption" und Dörpfeld „Denken und Gedächtnis", wurden übersetzt. Auch an der Universität war die Herbartische Pädagogik vertreten, zunächst durch den Professor Waldemar Ruin, den Verfasser von „Karaktärsbildningen didaktiska hjälpmedel" („Die didaktischen Hilfsmittel der Charakterbildung"), Helsingfors 1887, und später durch den Professor Mikael JohnssonSoininen, dessen Hauptwerk „Kasvatus ja Opetusoppi", eine in mehreren Auflägen erschienene dreiteilige Erziehungs- und Unterrichtslehre, herbartianisch ist. In Finnland fand die Herbartische Pädagogik auch ihren Weg in die Lehrer151
bildung und in die Schulpraxis. Für sie setzten sich vor allem die finnischen Pädagogen ein, die, unterstützt durch mehrere Staatsstipendien, Studienreisen nach Deutschland unternahmen und dann mit Vorliebe Jena aufsuchten, unter Rein an den pädagogischen Ferienkursen teilnahmen und das pädagogische Universitätsseminar kennenlernten. Zu den Ländern Südeuropas, in denen die Ideen Herbartischer Pädagogik gestaltende Kraft gewannen, gehört Siebenbürgen, das in der Hauptsache von Deutschen bewohnt, fast zu allen Zeiten mit der deutschen Kultur überhaupt und mit der deutschen Pädagogik im besonderen in Verbindung gestanden hatte. Der Einfluß der Herbartschen Pädagogik war hier so groß, daß sich schließlich „die gesamte Siebenbürgisch-Sächsische Volksschullehrerschaft (die Zahl der Ausnahmen dürfte gering sein) auf den Boden der Herbart-Zillerschen Methodik stellte" (53). Der Ausgangspunkt des Siebenbürgischen Herbartianismus war das Zillersche Seminar in Leipzig. Mehrere seiner Mitglieder, J. G. Meyndt, Joh. Anner, J. F. Graef traten nach 1870 in Siebenbürgen für die Herbartsche Methodik ein, ebenso einige Jahre später, 1874 und 1875, Ed. Morres und Jos. Capesius. Nachdem sie im Lande einmal Fuß gefaßt hatte, geschah ihre weitere Verbreitung hauptsächlich durch die Volksschullehrerseminare in Kronstadt und Hermannstadt. 1887 kam es zur Gründung einer Herbartgesellschaft in Kronstadt, die aber bereits 1892 ihre Ziele und ihren Namen änderte. Sie hieß fortan „Pädagogisches Kränzchen". Versuche, die höhere Lehrerschaft für die Pädagogik Herbarts zu gewinnen, waren erfolglos. Dagegen blieb das Interesse der Volksschullehrerschaft für sie bis zum Weltkrieg 1914—18 lebendig, besonders durch den Einfluß von Professor Rein und sein Jenenser Seminar, in das alljährlich einige Siebenbürger Akademiker und Volksschullehrer als Mitglieder eintraten. In dem Siebenbürgischen Schulunterricht kamen vor allem die Formalstufentheorie und die Idee der Konzentration zur Einwirkung. Siebenbürger Pädagogen lieferten Beiträge zur deutschsprachigen Herbartschen Literatur (Capesius und Morres waren Mitarbeiter an Reins Enzyklopädie), veröffentlichten Aufsätze im „Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik" oder gaben auch selbständige Schriften zur Vertretung Herbartscher Pädagogik heraus, so z. B. K. H. Himesch als Nr. 81 des pädagogischen Seminars „Willensbildung", im Verlag Wunderlich „Der Gesinnungsunterricht" und „Die Robinsonerzählung als Unterrichtsstoff", und im Verlag Hermann Beyer und Söhne „Präparationen für den Rechenunterricht" und „Zur Reform des Unterrichts in der deutschen Sprachlehre". Von Siebenbügen schlugen Wellen der Herbartschen Bewegung auch in das übrige Ungarn und nach Rumänien. Der rumänische Pädagoge Peter Spahn wurde — nach seiner eigenen Darstellung — durch den Professor Johann Popescu am Griechisch-Orientalischen Seminar von Hermannstadt in Siebenbürgen in die Herbartsche Pädagogik eingeführt. Weiter heimisch in ihr wurde er durch die Vorlesungen von Professor Theodor Vogt in Wien und Professor W . Rein in Jena. Der letztere wirkte insbesondere auf ihn durch seine Vor152
lesungen über spezielle Didaktik, in der er auch die Anregung zur Schaffung einer rumänischen Fibel erhielt. Diese Noul abecedar (Neue Fibel), die schnell großen Absatz fand, ist den kulturhistorischen Stufen und den Forderungen der Konzentration gemäß aufgebaut und versetzt die Schüler, die sie benutzten, zuerst in die Märchenwelt. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß die Herbartsche Pädagogik ähnlich wie die Pestalozzis einen Siegeszug durch Europa und Nordamerika machte, so daß in der Pädagogik vieler Länder von einer Herbartschen Epoche gesprochen werden kann. Ähnlich wie die Pestalozzisdien Ideen fanden auch die Herbarts im fernen Japan Eingang. A. Osada sagt in seinem Aufsatz über „Die Hauptströmungen der Pädagogik im modernen Japan" (54), daß in der Erziehung des modernen Japan Herbart ein „Schutzgott" gewesen sei und daß es keinen japanischen Erzieher gegeben habe, der nicht mit seinen Hauptgedanken, wie z. B. seinem „Erziehenden Unterricht" oder seinem „Vielseitigen Interesse" bekannt gewesen wäre.
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8. Georg Kerschensteiner Es gibt bei den verschiedenen Völkern Beispiele (1) dafür, daß die Pädagogen, die sich außer mit der Pädagogik ihres Landes im größeren Umfang mit der anderer Länder beschäftigten, von dort Anregungen bereitwillig aufnahmen und versuchten, auf deren Bildungsdenken und Bildungswirklichkeit gestaltend einzuwirken, von ihren Landsleuten angegriffen wurden, daß man sie eines Mangels an Vaterlandsliebe verdächtigte oder gar eines entwurzelten Internationalismus beschuldigte. Diese Vorwürfe wurden aber oft zu Unrecht erhoben; denn auslandspädagogisches Interesse und Wissen sind ebensowohl mit national bewußter wie mit national gleichgültiger Haltung vereinbar. Zwischen der intensiven Beschäftigung mit der Auslandspädagogik und dem Internationalismus als Gesinnung besteht kein notwendiger Zusammenhang. Wer da noch anderer Meinung sein sollte, den könnte man auf den erst vor einigen Jahren verstorbenen Münchener Pädagogen Georg Kerschensteiner hinweisen, der nicht nur persönlich das Studium der Auslandspädagogik nicht vernachlässigte, sondern auch seine Schüler mit ihr vertraut zu machen suchte, der sich nicht nur den von anderen Völkern ausgehenden pädagogischen Anregungen geöffnet zeigte, sondern auch ihre pädagogische. Theorie und Praxis mitformte und trotzdem ein Pädagoge von deutschnationaler Prägung und ausgesprochen vaterländischer Gesinnung war, für den der gute Staatsbürger das Ziel aller Erziehung bildete. Und diese positive Einstellung zum Studium der Pädagogik anderer Völker war bei Kerschensteiner nicht eine zufällige Haltung, sondern entsprang grundsätzlichen Erwägungen. Nach seinen eigenen Worten (2) ist es geradezu bedenklich, das eigene nationale Bildungswesen immer nur aus der eigenen historisch gewordenen Erziehung- und Organisationsweisheit heraus zu pflegen. Als Folge einer solchen ausschließlichen Selbstbefruchtung befürchtete er dessen Verknöcherung. Diese könne — so meint er — nur dadurch vermieden werden, daß die pädagogische Welt der verschiedenen Völker sich gegenseitig befruchte. Das sei überhaupt wohl die einzige Möglichkeit, das Bildungswesen des einzelnen Volkes plastisch zu erhalten. Auch die geschichtliche Entwicklung der Pädagogik der verschiedenen Völker führt er zur Begründung dieser seiner Ansicht an. Kein Erziehungssystem besitze alle pädagogische Weisheit. Wenn es einmal in einem bestimmten Zeitpunkt die übrigen Systeme an innerem Werte überragt, so kommt gewiß die Stunde, wo die ausschließliche Selbstbefruchtung nur mehr zu einer mechanischen Entwicklung in alten Gleisen hinreicht. Wenn 154
dann ein solcher Staat aus seiner Schuleitelkeit erwacht, sieht er sich unter Umständen Bildungssystemen gegenüber, die sein eigenes weit überflügelt haben. Es gilt also auch hier, sich vor dem Fremden nicht zu verschließen. Aus dieser Einsicht ergab sich die eben gekennzeichnete Haltung Kerschensteiners gegenüber der Pädagogik des Auslandes (3). Prantl hat nachgewiesen, daß seine pädagogische Theorie in einigen Einzelheiten abhängig von den pädagogischen Ideen des führenden nordamerikanischen Pädagogen John Dewey war. Und seine vielen Hinweise auf pädagogische Ideen, Schulen und Unterrichtsmethoden anderer Völker, zumal in seinen letzten großen systematischen Werken, beweisen sein starkes auslandspädagogisches Interesse und Wissen. In den Jahren seiner akademischen Lehrtätigkeit in München hielt Kerschensteiner Vorlesungen, in denen er das Bildungswesen von England, Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika einer kritischen vergleichenden Betrachtung unterzog, und er begrüßte freudig die von mir im Jahre 1930 begründete Internationale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft und schrieb für das Eröffnungsheft ein Geleitwort, dem die vorangehenden grundsätzlichen Erwägungen entnommen sind. Aber mehr noch wie Empfangender war Kerschensteiner Gebender für die Pädagogik anderer Länder; vielleicht am stärksten durch sein schulorganisatorisches Wirken als Münchener Stadtschulrat. Kerschensteiner, der zunächst nach dem Besuch der Lehrerbildungsanstalt in Freising kürzere Zeit Volksschullehrer war, sich dann aber nochmals auf die Schulbank zurückbegab, in die Prima des Augsburger Benediktiner-Gymnasiums eintrat, nach bestandener Maturität Mathematik studierte und nach abgelegtem Staatsexamen in mehreren bayrischen Städten als Gymnasiallehrer für Mathematik und Naturwissenschaften tätig war, wurde 1895 Schulrat von München, seiner Vaterstadt, und damit der „allmächtige Leiter des gesamten Münchener Volksschulwesens". Hier wurde dann der Mathematiker — wie Max Zollinger es einmal formulierte — gleichsam über Nacht „zum energischen Organisator des Münchener Volksschulwesens, vor allem derjenigen Schulgattung, die ihm eigentlich am fernsten lag" (4), der Fortbildungsschulen. Diese, die bisher recht bescheiden gewesen waren und mit ihrer Buchweisheit die Lernbegierde der Lehrlinge, deren Interesse immer darauf ausgeht, beruflich gefördert zu werden, nicht hatte wecken können, versah er mit gut eingerichteten Werkstätten und wandelte sie in Schulen um, „die dem Streben nach beruflicher Förderung entgegenkamen", und die „Gelegenheit gaben, sich ein solides praktisches Können zu erwerben, und dadurch Berufs- und Arbeitsfreude weckten". Obgleich sie so den Charakter einer reinen Fachschule erhielten, lag ihnen doch eine tiefe pädagogische Idee zugrunde. Die Fortbildungsschulen Kerschensteiners waren Erziehungsstätten im tiefsten Sinne des Wortes: sie erzogen nicht nur zu gewerblicher Tüchtigkeit, und zwar in technischer und kaufmännisch wirtschaftlicher Hinsicht, sondern standen auch in unaufdringlicher Weise, ohne daß das den Jugendlichen bewußt wurde, im Dienste der Allgemeinbildung und der Er155
Ziehung zum guten Staatsbürger. Dieselbe pädagogische Idee lag auch der Reform der Volksschulen zugrunde, die er von 1910/1914 in Versuchsschulklassen zeigte, der aber durch den Ausbruch des Weltkrieges ein plötzliches Ende bereitet wurde. Die Münchener Schulreform zog die Aufmerksamkeit nicht nur der deutschen, sondern auch der ausländischen Pädagogen auf sich. Durch sie wurde München, wie es im Glückwunschschreiben der Züricher Erziehungsdirektion zu Kerschensteiners siebzigstem Geburtstag heißt, „zum Wallfahrtsort auf den Gebieten geistig durchwirkter, lebenskräftig aufgebauter Schuleinrichtungen", zu einem pädagogischen Mekka. Aus fast allen Kulturländern kamen Lehrer, Schulaufsichts- und Verwaltungsbeamte nach München, besuchten die neuen Schulen und kehrten mit reichen Anregungen für die Organisation des Schulwesens ihres Landes in ihre Heimat zurück. Diejenigen, die gleichzeitig mit dem Schöpfer der neuen Fortbildungsschulen in persönliche Berührung kamen, wurden nicht nur durch das Werk, sondern auch von dem Zauber seiner Persönlichkeit gefangen und entwickelten sich nicht selten zu begeisterten Vertretern seiner pädagogischen Ideen, für die sie sich dann unter den Pädagogen ihres Landes in W o r t und Schrift einsetzten. Einzelne von ihnen bewirkten, daß Kerschensteiner in ihr Land zu Vorträgen über seine Schulreform eingeladen wurde, die ihm dann dort neue Freunde gewannen. Zu den prominentesten der Besucher gehörte z. B. der englische Unterrichtsminister Mr. Pease; der Industrielle R. U . Best aus Birmingham, der für die fachliche Ausbildung seiner Arbeiter in München Anregungen suchte; der Gelehrte C. K. Oyden aus Cambridge, der Pädagoge T . C. Horsfall aus Manchester u. a. m. 1908 forderte ihn die Regierung des Kantons Zürich auf, am Todestage Pestalozzis über seine pädagogischen Ideen zu sprechen ( 5 ) ; 1909 erfolgte die zweite Einladung nach England zur Teilnahme an der Tagung der „British Association", die sich von da ab bis zum Beginn des Krieges alljährlich wiederholte. 1910 bringt die Einladung der Stadt Budapest, der schwedischen Regierung und der „National Society for promotion of industrial training" der Vereinigten Staaten und ihrer Universitäten. Uberall fand er eine für seine Ideen aufnahmebereite Hörerschaft; denn die meisten dieser Einladungen waren schon „aus der Absicht erfolgt, die gleichen Einrichtungen, wie sie in München geschaffen worden waren, in den betreffenden Staaten durchzusetzen". Außer durch seine Münchener Schulreform gewann Kerschensteiner durch seine Bücher Einfluß auf die pädagogische Weltöffentlichkeit; sie wurden fast alle, wie die nachstehende Tabelle*) und Hinweise im T e x t ergeben, in mehrere Fremdsprachen übersetzt. 1. E n g l i Sch: Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung, Verlag: George G. Harrap & Co., London, 1. Auflage 1910, 2. Auflagle 1912. *) Die vom Verlag der meisten Bücher Kerschensteiners, Teubner-Leipzig, zusammengestellt und mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde.
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Begriff der Arbeitssdiule, Verlag: The Macmillan Company, New York, 1913. Grundfragen der Schulorganisation, Verlag: Macmillan & Co., Ltd., London 1914. 2. S p a n i s c h : Begriff der Arbeitssdiule, Verlag: La Lectura, Madrid 1923. Die Seele des Erziehers und das Problem der Lehrerbildung, Verlag: Editorial Labor, Barcelona-Buenos Aires 1930. Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts, Verlag: Editorial Labor, Barcelona-Buenos Aires 1934. Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung, Verlag: Editorial Labor, Barcelona-BuenosAires 1934. 3. P o l n i s c h : Die Seele des Erziehers..., Verlag: Verein polnischer Lehrerschaft, Warsdiau. Erscheinungsjahr läßt sidi nicht mit Bestimmtheit feststellen, da keine Belege vorhanden. Etwa 1933. Charakterbegriff und Charaktererziehung, Verlag und Erscheinungsjahr unbekannt, da Korrespondenz seitens des Autors geführt wurde. Etwa 1927. Begriff der Arbeitsschule, Verlag: Ksiaznica-Atlas, Warsdiau, 1. Auflage 1922, 1. Auflage 1934. 4. F i n n i s c h : Begriff der Arbeitssdiule, Verlag: Werner Söderström, Helsinski 1938. 5. I t a l i e n i s c h : Begriff der Arbeitssdiule, Verlag: Bemporad und figlio, Florenz 1935. 6. B u l g a r i s c h : Die Seele des Erziehers, Verlag: Sloga-Verlag, Sofia 1931. 7. T ü r k i s c h : Die Seele des Erziehers, Verlag: Köy Hocasi, Ankara 1931. 8. C h i n e s i s c h : Die Seele des Erziehers, Verlag: Can. Preß, Schanghai. Erscheinungsjahr nicht mit Bestimmtheit festzustellen, da die Übersetzung ohne Genehmigung des Verlags herauskam. Etwa 1930. 9. J a p a n i s c h : Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung, Verlag: Monas, Tokio. Erscheinungsjahr nicht bekannt, da die Obersetzung ohne Genehmigung des Verlags erfolgte. D i e begeisterte A u f n a h m e der Kerschensteinerschen Ideen i m Ausland u n d insbesondere in der angelsächsischen W e l t erklärt sich 1. aus ihrem eigentümlichen Charakter und 1. aus d e m U m s t a n d , daß sie L ö s u n g e n für Probleme b o t , die gerade bei vielen V ö l k e r n brennend waren. Bekanntlich fanden viele ausländische, zumal englische u n d amerikanische, P ä d a g o g e n z u einem großen T e i l der deutschen pädagogischen T h e o r i e w e g e n ihres philosophischen, abstrakten u n d mitunter lebensfremden Charakters nur schwer oder überhaupt keinen Z u g a n g . Sie m a ß e n der pädagogischen T h e o r i e überhaupt nicht die Bedeutung für die Praxis bei, die viele der deutschen Pädagogen ihr zuerkannten. Ihre eigene pädagogische T h e o r i e , s o w e i t v o n einer sol-
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chen überhaupt die Rede sein konnte, war in der Hauptsache Theorie der Praxis. Dieser ihrer Eigenart kam der Charakter der von Kerschensteiner vertretenen Pädagogik sehr entgegen. Er stieß nämlich zur Theorie nur auf dem Wege über die Praxis vor. Durch die Mathematik an exaktes Denken gewöhnt, fühlte er sich gedrängt, durch und über die Erfordernisse der praktischen Schulorganisation zu grundsätzlichen Erkenntnissen vorzudringen. Theorie und Praxis waren für ihn allezeit nicht feindlich geschiedene Welten, sondern standen in steter Wechselwirkung, wodurch erstere jene bestimmte Richtung auf das konkrete Leben erhielt, welche viele Ausländer, zumal die englischen und amerikanischen Pädagogen, stark anzog. Eine gewisse Verwandtschaft zwischen Kerschensteiner und der anglo-amerikanischen Haltung bestand darin, daß auch er frei war von jeder Überschätzung des praktischen Wertes der pädagogischen Theorie. In seinem Buch „Die Seele des Erziehers" (6) sagt er sogar einmal, daß der Lehrer, der die allgemeinen Regeln der Pädagogik und die Gesetze der Psychologie kenne, aber nicht das Entscheidende, die pädagogische Liebe, besitze, mehr Fehler mache als der Erzieher, der von ihr erfüllt sei, aber von jener Theorie nichts wisse. Noch ein zweiter Zug seines Wesens und seiner Pädagogik machte ihn und seine Schriften vielen Ausländern besonders sympathisch: der Humor, den er ja auch als eine notwendige Eigenschaft des idealen Lehrers erklärte (7). In der Ausmalung dieser Seite Kerschensteiners weist Zollinger darauf hin, daß „auch die schwierigsten Partien seiner Bücher einen Schuß von jenem urgesunden bajuwarischen Humor mitbekommen" hätten, der jeder persönlichen Begegnung mit ihm die besondere Würze gab. Pädagogik sei — so sagt er — für ihn zwar keine leichte, keine billige, aber dennoch eine fröhliche Wissenschaft gewesen. In dem stärker als Deutschland industrialisierten England und Nordamerika erhob sich wie bei uns die ganze damit verbundene Problematik. So wurde von einzelnen weitsichtigen Männern die Frage der technischen und der Berufsausbildung als brennend empfunden und die Antwort, die Kerschensteiner darauf gab, mit aufnahmebereitem Interesse begrüßt. Auch das Hauptziel seines pädagogischen Bemühens, die staatsbürgerliche Erziehung der Jugend, wurde von den englischen und mehr noch von den nordamerikanischen Pädagogen als eine dringende nationale Aufgabe gesehen. In den Vereinigten Staaten zumal war wegen der Zusammensetzung der Bevölkerung aus Einwanderern verschiedener Völker die Erziehung zu amerikanischem National- und Staatsbewußtsein, education for citizenship, eine dringliche Aufgabe, deren Erfüllung bisher auf verschiedenen Wegen versucht worden war. Wie Kerschensteiner von dem nordamerikanischen staatsbürgerlichen Unterricht, den dort gehandhabten Methoden staatsbürgerlicher Erziehung und der einschlägigen Literatur Anregungen empfing, so hat hinwiederum die nordamerikanische staatsbürgerliche Erziehung von ihm gelernt. Gehen wir jetzt dazu über, die Münchener Ausstrahlung in einzelne Länder eingehender zu betrachten. In England wurde sein Münchener Werk und
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seine pädagogische Ideenwelt durch die Engländer, die es an Ort und Stelle studiert hatten, bekanntgemacht, z. B. durch C. T . Horsfall von Manchester. Er übersetzte Kerschensteiners „Staatsbürgerliche Erziehung" und gab sie als „Education for citizenship" 1910 in erster und 1912 in zweiter Auflage heraus. Rudolf Tintner veröffentlichte 1913 unter dem Titel „The Idea of the lndustrial School" Kerschensteiners „Begriff der Arbeitsschule". Um dieselbe Zeit brachten die schon erwähnten R. H. Best und C. K. Oyden eine Programmschrift „The Problem of the Continuation School and its successful Solution in Germany. An consecutive policy" mit einer aus der Feder Kerschensteiners stammenden Einleitung heraus. 1914 erschien in London auch die von C. K. Oyden stammende Übersetzung von Kerschensteiners „Grundfragen der Schulorganisation" unter dem Titel „The Schools and the Nation" mit einer Vorrede des großen Deutschlandfreundes Lord Haidane. Sadler hatte bereits 1907 in seinem Buch „Continuation Schools in England and elsewhere", das in Manchester erschien und ein umfangreiches Kapitel der Münchener Schulreform widmete, breitere Kreise auf Kerschensteiner hingewiesen. Und noch 1923 wurde die englische pädagogische Leserschaft erneut auf ihn aufmerksam gemacht durch E. Waterfall in seinem in London herausgekommenen Buch „The Continuation School in England". Aber nicht nur die Anhänger Kerschensteiners warben in England für seine Ideen, sondern auch er selbst fand schon verhältnismäßig früh Gelegenheit, in dem Lande persönlich für sie einzutreten. Schon 1908 erhielt er eine Einladung nach Schottland mit dem Ersuchen, in den großen Städten Glasgow, Edinburgh, Dundee und Aberdeen Vorträge über die Organisation des fachlichen Fortibldungswesens zu halten. Diese wurden später von dem Schoolboard von Aberdeen unter dem Titel „The Compulsory Continuation Schools of Munich" herausgegeben. 1909 erfolgte die zweite Einladung, und zwar dieses Mal zur Teilnahme an der Tagung der British Association, die — wie schon erwähnt — in jedem der folgenden Jahre bis zum Kriegsausbruch wiederholt wurde. So ist es erklärlich, daß Kerschensteiners Ideen und Werk in der englischen Fachwelt bekannt wurden und auf die englische Schulentwicklung von Einfluß waren, besonders auf das englische Fortbildungsschulwesen. Lechtenberg meint sogar, die jüngste englische Schulart, die „Continuation School", sei d e r l e h r reichste Fall der A b h ä n g i g k e i t von d e u t s c h e n I d e e n u n d Beispielen". Der deutsche Einfluß auf das englische Fortbildungsschulwesen begann allerdings nicht erst mit Kerschensteiner. Daß in England überhaupt der Gedanke der Notwendigkeit der Beschulung der jugendlichen Erwerbstätigen erwachte, ist nach Sadler (8) außer auf die wirtschaftliche Entwicklung auf das Beispiel Deutschlands zurückzuführen. Dr. Arnold Rugby, der vor Kerschensteiner mit der Einrichtung von Schulen für die arbeitenden Klassen begann, kannte und bewunderte die deutschen Fortbildungsschulen. Und auch die gro-
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ßen Vermittler deutschen Erziehungsdenkens, Thomas Carlyle, John Ruskin und Herbert Spencer, waren bereits für sie eingetreten. So war der Boden für die Einwirkung des Münchener Beispiels in etwa vorbereitet. Schottland war das erste nichtdeutsche Land, das diesem zu folgen suchte. Sein Parlament nahm im Jahre 1908 einen Gesetzesvorschlag (Scotland Education Act) an, der den schottischen Schulbehörden die Einrichtung von Fortbildungsschulen nach Münchener Muster ermöglichte. Dieses Gesetz veranlaßte das englische Unterrichtsministerium, eine Kommission einzusetzen, die seine Anwendbarkeit auf englische Verhältnisse prüfen sollte. Diese kam zu einem positiven Ergebnis, das in einem Bericht (Report of the Consultative Committee on attendance, compulsory or otherwise, at Continuation Schools") niedergelegt wurde. Aber zu einem entsprechenden Gesetz kam es doch nicht sofort, sondern erst am 16. Juli 1918, obwohl ein radikales Mitglied des Parlaments, Mr. Chiozza-Money, alljährlich eine Bill zur Einführung einer Fortbildungsschule, die weitgehend mit der Münchener übereinstimmte, einreichte, die aber vor 1918 keine Mehrheit fand. Sehr energisch wurde das deutsche Vorbild den Interessenten und Fachleuten in der Zwischenzeit noch einmal vor Augen geführt durch zwei Berichte, von denen M. J. C. Smail den ersten nach einer im behördlichen Auftrag unternommenen Studienreise nach Paris, München, Leipzig und Berlin im März 1914 dem Londoner County Conneil abstattete (9), während der zweite im gleichen Jahr, von Sir Robert Blair eingeleitet, unter dem Titel „Trade and Technical Education in France and Germany", erschien. Dieser Report faßt die charakteristischen Züge des damaligen deutschen Fortbildungsschulwesens in acht Sätzen zusammen, die für den englischen Leser nach den Worten Romans „a rieh domain for reflection" bildeten. In der Einleitung des Buches hebt Robert Blair zunächst einen Vorzug hervor, den er dem deutschen vor dem französischen Fortbildungsschulwesen zuerkennt. In Paris werden nur die „foremen" (Vorarbeiter) in den Schulen ausgebildet, und diese haben dann hinterher die Aufgabe der Erziehung der Lehrlinge, während in Deutschland auch die letzteren die Fortbildungsschulen besuchen und dort sowohl für ihren Beruf wie zur Erfüllung ihrer staatsbürgerlichen Pflichten erzogen werden. Weiter weist Blair an der gleichen Stelle auf eine Rückständigkeit des englischen gegenüber dem deutschen Fortbildungsschulwesen hin: In der gleichen Zeit, in welcher der Londoner Fortbildungsschüler 50 Unterrichtsstunden hat, bekommt der deutsche 240. Dazu kommt, daß der letztere die Schule drei bis vier Jahre, der junge Engländer aber nur solange besucht, wie es ihm gefällt, und das heißt für 7 5 % der Jugendlichen nicht mehr als ein Jahr. Mit dem Schulbesuch in Zusammenhang steht ein Vorteil des deutschen gegenüber dem englischen Fortbildungsschullehrer. Während der erstere seine ganze Kraft auf den Unterricht verwenden kann, wird ein großer Teil der Kraft des zweiten dadurch verbraucht, daß er die
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Jugendlichen, an die Schule fesseln und zum regelmäßigen und andauernden Schulbesuch bringen muß. Das erwähnte englische Schulgesetz von 1918 wurde im Jahre 1921 erweitert. Seine Folge war nach der Darstellung Lechtenbergs eine Regelung des Fortbildungsschulwesens nach deutschem Muster durch Schaffung eines geordneten Schulsystems mit obligatorischem Besuch, der gleichen Zahl von Unterrichtsstunden wie in Deutschland und einer ähnlichen Zielsetzung. Aber zür allgemeinen Durchführung des Gesetzes kam es nicht. Gaspari ( 1 0 ) behauptete, daß man noch lange das System der fakultativen Fortbildungsschulen in Verbindung mit einem neunten Elementarschuljahr vorgezogen habe. Praktisch wirksamer als in England machte sich Kerschensteiners Einfluß in den USA. geltend. Dort gab es allerdings, schon ehe das Münchener Beispiel bekannt wurde, viele Berufsschulen für die einzelnen Industriezweige, die aber nicht sonderlich beliebt waren, da ihr Besuch keine Berechtigungen verlieh, und außerdem landwirtschaftliche Berufsschulen und die — französischen Schuleinrichtungen ähnlichen — „Manual Training Schools" und „Manual Training High Schools" und außerdem auch Fortbildungsmöglichkeiten für die Absolventen der Elementary Schools in Form von Abendkursen, brieflichem Fernunterricht und von Schulen, die von der Young Men's Christian Association eingerichtet waren. Die Neugestaltung des Münchener Fortbildungsschulwesens wurde zuerst durch eine weit verbreitete kleine Schrift von Professor Hanus von der Harvard Universität in USA. bekannt und machte dort nach Kerschensteiners eigenen Worten „den größten Eindruck". Dieser wurde verbreitert und vertieft durch ihn selbst, der 1910 einer Einladung der „National Society for promotion of industrial training" und der Universitäten folgte und seine Ideen breiteren Hörerkreisen vorlegen konnte. Sehr bald begann man nun auch damit, die Kerschensteinerschen Fortbildungsschulen mit ihrem obligatorischen und berufsgebundenen Charakter nachzuahmen, zuerst in Cincinnati, Boston und Philadelphia. Der größte Anstoß nach dieser Richtung ging vom Staate Wisconsin aus. Ein Abgeordneter dieses Staates hatte sich ein Semester läng in München aufgehalten und die neuen Schulen unter den verschiedensten Gesichtspunkten geprüft. 1923 wurden die Städte des Staates Wisconsin durch das „Wisconsin Law relating to Vöcational Education" veranlaßt, Berufsschulen einzurichten. Nach der Darstellung Gasparis handelte es sich bei dieser Wisconsin law um ein „permissive law" (d. h. nach englischem Brauch um eine Sanktionierung örtlicher Statuten), das die Entwicklung der neuen Schulen so weit fördern sollte, bis die Zeit für ein „mandatory law", d. h. für ein Gesetz, das die Berufsschule obligatorisch machte, gekommen war. Das genannte Gesetz enthielt Bestimmungen, die ihre Abhängigkeit vom deutschen Vorbild deutlich erkennen lassen. Es heißt z. B. darin: „Sobald eine tägliche Berufsschule (im Anschluß an eine achtklassige Elementarschule) in einer Schulgemeinde, einem Dorf oder einer Stadt gegrün11
Schneider,
Pädagogik.
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det worden ist, hat jeder Jugendliche, der in dieser Gemeinde wohnt oder dort beschäftigt ist, und der nach den acht Elementarklassen noch keine vier Jahre lang ein Handwerk ausgeübt hat, und der auch nicht in der Lage ist, den Besuch einer anderen öffentlichen oder privaten Schule nachzuweisen, diese Berufsschule an mindestens sechs Halbtagen pro Woche zu besuchen bis zum Ende des Semesters, in dem er sechzehn Jahre alt wird. Nach zweijährigem Besuch dieser täglichen Berufsschule muß er zwei Jahre lang, bis zum Ende des Semesters, in dem er achtzehn Jahre alt wird, acht Wochenstunden an dem Unterricht der Oberkurse dieser Schule teilnehmen". Und ferner: „Jeder Arbeitgeber muß den in Frage kommenden Jugendlichen eine entsprechende Verminderung der Arbeitsstunden gewähren." Der Aufforderung dieses neuen Gesetzes kam eine Reihe von Städten sehr schnell nach, vor allem Chikago und Milwaukee. Allmählich wurde die obligatorische Berufsschule fast allgemein eingeführt. Der Einfluß Kerschensteiners auf die USA. zeigt sich aber nicht nur in der Begründung und Weiterentwicklung der Continuation Schools, sondern er erstreckte sich weiter, auf das Gesamtgebiet der Pädagogik. Manche Mängel, Einseitigkeiten und Übertreibungen des Bildungs- und Erziehungsdenkens hatten mit der europäischen Pädagogik Eingang in die USA. gefunden und sich dort üppig entwickelt. Das Unkraut gedeiht oft besser und schneller als die Nutzpflanze. Vielleicht waren jene Mängel in den Vereinigten Staaten an manchen Stellen auch aus ähnlichen Bedingungen wie in Europa aus eigener Kraft erwachsen. Zu diesen Flecken im pädagogischen Bilde Nordamerikas gehörten z. B. ein gewisser Enzyklopädismus und ein formalistischer Unterrichtsbetrieb Herbartischer Observanz und ein extremer Individualismus. Bei jungen Kulturvölkern herrscht in der Regel ein materialer Bildüngsbegriff. Als gebildet gilt bei ihnen, wer einen gewissen Wissensbesitz sein eigen nennt. Und je größer dieser ist, um so höher wird die erreichte Bildungsstufe eingeschätzt. Die Aufgabe des Bildungsprozesses wird infolgedessen in der Vermittlung dieses Wissens gesehen. Der Unterricht wird in der Hauptsache zum Stofflieferanten für das Gedächtnis. Die Lehrpläne sind meistens überfüllt. Die Unterrichtsmethode hat in der Regel einen sehr mechanischen Charakter, besteht in der Hauptsache in der Darbietung des Neuen durch Vorlesen bzw. Lesen des betreffenden Abschnittes aus dem Lehr- oder Lernbuch oder durch Lehrervortrag einerseits und dem anschließenden Auswendiglernen durch die Schüler. Diese Bildungsauffassung mit der Vergötzung des Bildungsstoffes machte sich auch bei dem jungen amerikanischen Volke breit. Die quantitative Auffassung der Schulbildungsarbeit wurde bei ihm noch dadurch begünstigt, daß man von der Schule, zumal von der Höheren, aber auch von der Volksschule erwartete, daß sie allen Anforderungen des Lebens Rechnung trage, wodurch in den Lehrplänen ein zusammenhangloses Vielerlei und Zuviel, ein gewisser Enzyklopädismus begünstigt wurde. Gegen diesen entwickelten sich zwar im Lande selbst Gegenkräfte. Aber auch den Büchern und Vorträgen Kerschensteiners und der 162
Vorbildwirkung seiner Münchener Schulen entströmten Energien zu seiner Bekämpfung. Kerschensteiner hat sich von jeher gegen den Enzyklopädismus gewandt. Von ihm stammt der leidenschaftliche Ausruf: „Schlagt den Drachen des Enzyklopädismus tot!" Er verspottete die Lehrpläne der unter dessen Herrschaft stehenden Schulen als „Fleckerlteppiche" und diese Schulen selbst als den Typus „ Mops-Pudel-Dachs-Pinscher" repräsentierend. In derselben Richtung wirkte er durch die Verbesserung der Unterrichtsmethoden und die Verlebendigung der ganzen Unterrichtsarbeit durch die von ihm theoretisch vertretene und praktisch verwirklichte Idee der Arbeitsschule. Kerschensteiner hat es zwar zurückgewiesen, wenn man ihn als Vater der Arbeitsschule bezeichnete, weil er wußte, daß ihre Idee schon von vielen großen Pädagogen der Vergangenheit propagiert worden war. Aber es lag doch eine gewisse Berechtigung darin, ihn so zu benennen, weil er dem lange sehr verschwommenen und unklaren Begriff der Arbeitsschule eine pädagogisch fruchtbare und gehaltvolle Fassung gab und weil manche Auslandspädagogen sie erst in der von ihm vertretenen Form kennenlernten. Durch ihn hat der Arbeitsschulgedanke erst seine große pädagogische Bedeutung erhalten. Er bekämpfte die weit verbreitete oberflächliche Auffassung der Arbeitsschule als einer Art Spielsdiule mit manueller Tätigkeit und ließ nur die Handarbeit als pädagogisch wertvoll gelten, die Ausfluß einer geistigen Vorarbeit war. Das tiefste Wesen der Arbeitsschule sah er darin, daß in ihr die als Bildungsstoff dienenden Kulturgüter von den Schülern erlebt bzw. erarbeitet wurden, weil nur so sich in ihnen intellektuelle und ethische Gewohnheiten entwickeln konnten. So stellte Kersdiensteiner die Arbeitsschule in den Dienst der Bildung und Erziehung, zumal der staatsbürgerlichen. Diese Auffassung von Wesen und Ziel der Arbeitsschule fand Verbreitung auch über die Grenzen Deutschlands, auch nach USA. Zwar hatten sich dort bereits einzelne einheimische Kräfte, unter ihnen der bedeutendste nordamerikanische Pädagoge, John Dewey, gegen eine ähnliche Veräußerlichung des Arbeitsschulgedankens gewandt. Und auch, daß die Schule im Dienste der staatsbürgerlichen Erziehung stehen sollte, war schon vor Kerschensteiner vielfach vertretene Uberzeugung. Kerschensteiner aber trug durch seine Sdiriften und seine Vorträge zu ihrer weiteren Verbreitung und tieferen Begründung bei. Durch seine Arbeitsschulidee half Kerschensteiner endlich auch in Deutschland wie im Ausland und nicht zum wenigsten in USA. mit an der Uberwindung des starren Formalismus der Herbartianer. Kerschensteiner hat in seiner Selbstdarstellung in anschaulicher Weise geschildert, wie die Herbartianer von Anfang an seine Münchener Reformarbeit und ihre tragenden Ideen bekämpften. Sie hatten eben sofort bemerkt, daß der von ihnen bisher praktizierte methodische Formalismus mit seiner pädagogischen Theorie unvereinbar sei. Der Kampf endete in Deutschland mit dem Siege Kerschensteiners. Und auch im Ausland, einschließlich USA., halfen die von ihm ausgehenden geistigen Energien bei der Uberwindung der Zwingherrschaft des Formalismus der Herbartianer. 11*
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Eine andere pädagogische Einseitigkeit, die sich nach und nach in alle Kulturstaaten Eingang verschaffte und sich besonders in der nordamerikanischen Schul- und Familienerziehung auswirkte, war ein extremer Individualismus, der nach seinem Dogma „Alles vom Kinde aus" dieses zum alleinigen Maßstab in Unterricht und Erziehung zu machen suchte. Sein bedeutsamster Uberwmder sowohl für das In- wie für das Ausland war Kerschensteiner. Er vertrat zwar, wie sein Meister Pestalozzi, die Anschauung, daß aller Unterricht psychologisiert werden müsse, daß also alle seine Grundsätze „aus der unmittelbaren Urform der menschlichen Geistesentwicklung" abgeleitet werden müßten. Aber über der Bedeutung der Schülerindividualität übersah er nicht die des Kulturgutes, weil für ihn Bildung in dem „durch Kulturgüter geweckten, individuell organisierten Wertsinn" bestand. Ähnlich, wie auf England und USA., war und ist zum Teil auch jetzt noch die Pädagogik des großen Münchener Pädagogen auf viele andere europäische und Uberseestaaten von gestaltendem Einfluß: das gilt z. B. von der Schweiz, von Ungarn, Finnland, den Nordstaaten, von Holland, sogar von China und Japan. Es fehlt bisher an literarischen Bearbeitungen seiner Bedeutung für diese Länder. Sicherlich wäre Material zu gewinnen, wenn man sich mit entsprechenden Anfragen an die in Frage kommenden Regierungen und Stadtverwaltungen wendete. Aber dieses Verfahren ist während des Krieges entweder sehr erschwert oder unmöglich. Durch Vermittlung der Witwe des verstorbenen Pädagogen, Frau Maria Kerschensteiner, gelang mir die Herstellung einer Verbindung mit einigen seiner ausländischen Freunde. Auf ihren brieflichen Mitteilungen beruhen in der Hauptsache die nachfolgenden Ausführungen über Holland, China und Japan. Der Vermittler Kerschensteinerscher Pädagogik zu unserem holländischen Nachbarvolk war sein Freund A. de Vletter, der Kerschensteiner mehrere Male in München besuchte und seine Schulreform an Ort und Stelle studierte. Auf seine Veranlassung ist Kerschensteiner zweimal zu Vorträgen an den Universitäten Leiden, Amsterdam, Groningen und in pädagogischen Vereinen in Rotterdam und im Haag in Holland gewesen. Nach dem Kriege 1914—18 haben Kerschensteiner und Frau eine Zeitlang bei ihren Freunden in Bloemendaal zur Erholung geweilt. De Vletter hat mehrere Aufsätze über Kerschensteiner veröffentlicht, z. B. in der im Verlag B. Wolters, Groningen erschienenen Pädagogischen Encyklopädie und in der im gleichen Verlag herausgegebenen Zeitschrift „Pädagogische Studien", und er hat außerdem dessen Buch „Die Grundlagen der Schulorganisation" ins Holländische übersetzt. Das Buch, das unter dem Titel „De Körnende School" erschien, erlebte zwei Auflagen, und über die dritte wurde gerade verhandelt, als der Krieg auch Holland erfaßte. Die Folge dieser Werbung für die Münchener Reformpädagogik war, daß sich alle fortschrittlichen holländischen Pädagogen mit ihr beschäftigten, und daß auch andere Autoren über sie publizierten. So brachte O . Gunning im Verlag
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Thieme in Zutfen eine Übersetzung von Kerschensteiners „Autorität und Freiheit" heraus, und das Verhältnis von Dewey und Kerschensteiner wurde Gegenstand einer holländischen Dissertation. A. de Vletter hat in den letzten Jahren auch die wertvolle Biographie Kerschensteiners, die von dessen Gattin verfaßt wurde und unter dem Titel „Georg Kerschensteiner" im Verlag OldenbourgMünchen erschien, übersetzt. Es wäre zu wünschen, daß sie, die infolge der allgemeinen Lage bisher nicht gedruckt werden konnte, in absehbarer Zeit in einem holländischen Verlag herausgebracht werden könnte. Sie würde sicherlich der P e i n l i c h k e i t und dem Werk Kerschensteiners und darüber hinaus der deutschen Pädagogik neue Freunde gewinnen und die alten in ihrer Haltung bestärken. Es ist unbezweifelbar, daß die Persönlichkeit des großen Pädagogen und seine Ideenwelt, deren Kenntnis durch diese und andere Kanäle in Holland Eingang fand, das pädagogische Denken und Handeln vieler, die damit in Berührung kamen, beeinflußte. Ein exakter Nachweis ist aber vorläufig wegen mangelnder Unterlagen nicht möglich. Besonders enge Beziehungen verbanden Kerschensteiner mit der Schweiz, zumal mit ihrem deutschen Teil, und hier besonders mit der Stadt Zürich. 1908 hielt er auf ihrer Pestalozzi-Feier von der Kanzel der St.-Peters-Kirche seine berühmt gewordene Rede über „Die Schule der Zukunft im Geiste Pestalozzis", die man als Keimzelle seiner Theorie der Arbeitsschule charakterisiert hat. Auf Einladung der Pestalozzi-Gesellschaft sprach er nach dem Weltkrieg 1914—18 dort in einer Reihe von Vorträgen über die Problematik der Charaktererziehung. Die Schweizer Pädagogen betrachteten ihn fast als einen der Ihrigen und als einen Fortsetzer ihres großen Landsmannes Johann Heinrich Pestalozzi, zu dem Kerschensteiner sich an der Hundertjahrfeier von dessen Todestag in der Kirche zu Brugg „in meisterhaft knapper Rede als zu seinem größten Lehrer" bekannte. Bei der Vertrautheit der Schweizer Pädagogen mit Kerschensteiners Theorie war es unausbleiblich, daß die letztere auf das pädagogische Denken und das Schulwesen der Schweiz von Einfluß war und bleiben wird. Zu seinem 70. Geburtstag schrieb Willibald Klinke in einem Festartikel: „Für die weitere Umgestaltung und Entwicklung der niederen und höheren Schulen dürften seine Gedanken auch bei uns richtungsgebend bleiben." Was Kerschensteiner in den Augen der Schweizer für ihr eigenes Schulwesen bedeutete, kommt zum Ausdruck in dem Glückwunschschreiben, das die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich und der Schulvorstand der Stadt dem großen Pädagogen zum 70. Geburtstag schickten, an dessen Schluß es heißt: „Wir sprechen Ihnen gleichzeitig unseren Dank für die Anregungen aus, die wir für unser Unterrichtswesen aus den Ergebnissen Ihres Wirkens und Ihrer Bestrebungen schöpfen durften." Selbst bis nach Ostasien drang die Ideenwelt Kerschensteiners, nach China und vor allem nach Japan. Ihr chinesischer Vermittler war Professor Dr. Gynn Liu, der in München Schüler Kerschensteiners gewesen war und später an die Universität Peking berufen und mit der Untersuchung des Schulwesens in den
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chinesischen Nordprovinzen und seiner Reorganisation beauftragt wurde. „Daß diese im Kersdiensteinerschen Sinne durchgeführt worden ist", erklärt Dr. Y L i , Gräfelfing bei München, dessen brieflicher Mitteilung ich diese und die nachfolgenden Angaben über Japan verdanke, „steht außer jedem Zweifel". Leider wurde dieser chinesischen Reformbewegung durch den mandschurisch-japanischen Konflikt ein vorzeitiges Ende bereitet. Nach der Aussage von Dr. Gynn Liu sind sowohl Kerschensteiners „Der Begriff der Arbeitsschule" wie „Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung" ins Chinesische übertragen worden. Nach ihm gehört Georg Kerschensteiner neben Hans Driesch zu den von den chinesischen Pädagogen am höchsten geschätzten deutschen Gelehrten. Von größerer Tiefenwirkung und Dauer war der gestaltende Einfluß Kerschensteiners auf Japan. Das ist erklärlich, wenn man hört, daß die eben genannten beiden Werke auch ins Japanische übersetzt wurden, der „Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung" sogar zweimal und dazu, wenn auch unter Auslassung einzelner Teile, die „Theorie der Bildung", und daß über diese und alle anderen Veröffentlichungen Kerschensteiners und seine Münchener Reformarbeit in japanischen Büchern und Zeitschriften mehr oder minder eingehend referiert wurde. Dr. Y Li gibt die Zahl der Bücher, die ganz oder zum Teil Werk und Persönlichkeit Kerschensteiners gewidmet sind, mit 39 und die Zahl einschlägiger Abhandlungen in japanischen pädagogischen Zeitschriften mit 6 2 an. Die größte pädagogische Zeitschrift Japans „Kyoikugaku-Gynkyn" brachte ihre Mai-Nummer 1932 als Kerschensteiner-Heft heraus. Die Folge dieser intensiven japanischen Beschäftigung mit der Pädagogik Kerschensteiners war, daß ihre tragenden Gedanken — die Ideen der Berufsbildung, der Arbeitsschule und der staatsbürgerlichen Erziehung — auch die Grundlagen der japanischen Schulreform der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts bildeten. Bei der ersten Reform des Unterrichts der Gewerbeschulen im Jahre 1920, bei der Berufung einer Kommission für staatsbürgerliche Erziehung im Jahre 1922 und bei der Begründung der „Gesellschaft der staatsbürgerlichen Erziehung" und der Zeitschrift „Staatsbürgerliche Erziehung" waren die von ihm ausgehenden Kraftströme mit wirksam. Mit welcher Verehrung die japanische Pädagogenwelt zu Kerschensteiner aufschaute, ergab sich u. a. daraus, daß diejenigen unter ihnen, die nach Europa kamen, nicht versäumten, ihn zu besuchen, die meisten nicht, um gedankliche Anregungen von ihm zu empfangen, was bei der Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit der sprachlichen Verständigung in der Regel unmöglich gewesen wäre, sondern nur, um dem großen Pädagogen und Forscher ihre Ehrerbietung zu bezeugen. Wie hoch die Bedeutung Kerschensteiners für die Entwicklung ihrer Pädagogik von den Japanern selbst eingeschätzt wird, geht aus einer Rede des namhaften Pädagogen Umene hervor. In ihr behauptet er, auf das japanische Schulwesen der neueren Zeit hätten zwar viele ausländische Pädagogen eingewirkt. Wesentlich sei aber nur die von drei Deutschen ausgehende Einwirkung ge-
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wesen, die Pestalozzis vor 1892, die Herbarts von 1892—1905 und endlich die Kerschensteiners von 1910 bis zur Gegenwart. So wie Kersdiensteiner Japan in der Gegenwart nocti etwas zu geben hat, so auch anderen Völkern. Ein interessanter Beleg für seine Gegenwarts- und wohl auch Zukunftswirkung ist das erst 1940 in Firenze erschienene Werk von Girolamo Gaspari, Educazione E Lavoro, in Kersdiensteiner La Scuola Tedesca Neil Ultimo Cinquantennio, das auch ein von mir benutztes Kapitel über die Auslandswirkung Kerschensteiners (Influença esercitata dal sistema Kersdiensteineriano nei varistati, S. 132—136) enthält. Aufschlußreich ist für uns hier in diesem Zusammenhang das Vorwort Gasparis, worin er ausführt, daß die Notwendigkeit der Neuorganisation des italienischen Schulwesens und die Gefahr, die darin liegt, sich hier auf die bloße Empirie zu verlassen, dazu geführt hat, nach einer geeigneten theoretischen Grundlegung für sie auszuschauen. Sie zu geben, sei das Ziel seines Buches. Auf Veranlassung des großen italienischen Pädagogen Lombardo-Radice, der Kerschensteiner persönlich kennengelernt und mit ihm 1929 seine pädagogischen Ansichten diskutiert hat, übernahm Gaspari dessen Abfassung. Die Unterlagen dazu verschaffte er sich durch das Studium der Schriften Kerschensteiners, auch der weniger bekannten, durch den Besuch der Münchener Schulen und die Beachtung ihrer Methoden der beruflichen und staatsbürgerlichen Erziehung. Aus der vorangehenden Darstellung des Auslandseinflusses Kerschensteiners, die aus dem angegebenen Grunde mit Notwendigkeit lückenhaft und unvollkommen sein mußte, ergibt sich aber doch schon, daß seine einmal von seinem Freunde, dem Züricher Universitätsprofessor Dr. Max Zollinger, vorgenommene Charakterisierung als „der repräsentativste Vertreter der deutschen Pädagogik" nicht nur vom Standpunkt der deutschen, sondern auch von dem der ausländischen Pädagogik gesehen, recht hat, und daß er in einer Darstellung der Weltgeltung der deutschen Pädagogik nicht fehlen durfte.
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B. AUSLANDSEINFLUSS DES D E U T S C H E N S C H U L W E S E N S
1. Die Volksschule und die Lehrerbildungsanstalt Wie das Individuum am ehesten geneigt ist, von dem Mitmenschen etwas für seine Selbstgestaltung zu übernehmen, der es überragt, der älter und reifer ist als es selbst, so zeigt sich auch ein Volk der kulturellen Beeinflussung durch ein anderes in der Regel dann besonders geöffnet, wenn es in der kulturellen Entwicklung hinter diesem zurücksteht, wenn also von diesem zu ihm „kulturelles Gefälle" besteht. Dies gilt nicht nur in bezug auf die Gesamtkultur, sondern auch für deren Teilbezirke, also auch für den pädagogischen Bereich. Nun gibt es keinen Ausschnitt des deutschen Schul- und Bildungswesens, der von anderen Völkern so als Anreiz und Vorbild bei dem Aufbau der eigenen nationalen Einrichtungen empfunden und so stark nachgeahmt wurde, als das Volksschulwesen und die Lehrerbildung. Daher liegt auch schon für den Leser, der in der historischen Pädagogik nicht zu Hause ist, die Vermutung nahe, daß die deutsche Volksschule und das deutsche Lehrerseminar in der Zeit, da sie von gestaltendem Einfluß auf das Schulwesen anderer Länder waren, auf einer höheren Stufe der Entwicklung standen, als in diesen. Ehe wir die Berechtigung dieser Annahme durch eine kurze Darstellung der Geschichte der Volksschule und des Lehrerseminars in Deutschland unter gleichzeitiger Bezugnahme auf dessen Stand im Ausland dartun, soll zunächst ein Wort der Begründung dafür gesagt werden, daß Volksschule und Lehrerbildungsanstalt nicht wie Universität und Höhere Schule monographisch, sondern in einem Abschnitt gemeinsam behandelt werden. Gleichzeitig soll auch die Frage beantwortet werden, warum der ausländische Einfluß der Volksschule nicht mit Pestalozzi, der bereits auf seinem Grabdenkmal in Birr als Begründer der Volksschule bezeichnet und in der Geschichte der Pädagogik stets als solcher betrachtet wurde, zusammen behandelt wurde wie der Kindergarten im Fröbelkapitel. „In Hessen wie in Preußen, in Hannover wie in Sachsen geht im Elementarunterricht — so sagt Eugène Rendu in seinem Werk über die Volkserziehung in Norddeutschland (1) — alles vom Seminar aus, kehrt alles dahin zurück." Und in der Tat steht die Entwicklung von Volksschule und Seminar in einem engen wechselseitigen Zusammenhang, der bewirkt, daß es gar nicht möglich ist,
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eines dieser beiden ohne jede Rücksicht auf das andere zu betrachten ( 2 ) . W e n n man daher Wiederholungen vermeiden will, bleibt nichts anderes übrig, als die Auslandswirkung von Volksschule und Seminar im Zusammenhang darzustellen. Auch daß die Auslandswirkung der deutschen Volksschule nicht im Pestalozzikapitel mitbehandelt wurde, hat seine Berechtigung; denn wenn Pestalozzi auch nicht mit Unrecht als der Vater der deutschen, zumal der preußischen Volksschule charakterisiert wird, so ist ihre Abhängigkeit von ihm doch keineswegs so vollständig und allseitig wie die des Kindergartens von Fröbel. Es gab auch schon vor Pestalozzi ein deutsches Volksschul- und Lehrerbildungswesen. Zumal seit dem Zeitalter der Reformation hatten einzelne deutsche Fürsten, besonders auch die Hohenzollern in Brandenburg, vielfache Anstrengungen zur Gründung der Volksschule gemacht, die allerdings wegen der Armut der Bürger, der Gleichgültigkeit der höheren Stände und der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges nur geringe Erfolge hatten. Aber vom Beginn des 18. Jahrhunderts an gewann die Volksschule in den meisten deutschen Ländern doch allmählich Gestalt, und die großen pädagogischen Strömungen, vor allem Pietismus ( 3 ) und Philanthropinismus ( 4 ) , blieben nicht ohne Einwirkung auf sie. Friedrich Wilhelm I. legte schon den Grund zur heutigen preußischen Volksschule durch eine Verordnung vom 28. November 1717, die eine Art allgemeiner Schulpflicht einführte. Derselbe König erließ dann auch das erste preußische Schulgesetz, einen Schulgründungsplan, die sogenannten principia regulativa vom 1. August 1736, und sein Nachfolger, Friedrich der Große, am 12. August 1763 das von Hecker ( 5 ) unter starker Benutzung der Mindener Schulordnung ausgearbeitete Generallandschulreglement, das erste und einzige Gesetz in Preußen, das alle Seiten des Schulwesens regelte. Gleichzeitig mit den steigenden Anforderungen an die Aufgabe der Volksschule, ihre Lehrpläne, die Unterrichtsmethode und den Schulbesuch erhöhten sich auch die Ansprüche an den Volksschullehrer. Zur Zeit der Principia regulativa dachte man sich als Lehrer — wenigstens für das Land — nur den Handwerker oder gar nur den Tagelöhner; denn in jenen heißt es im § 1 0 : „Ist der Schulmeister ein Handwerker, kann er sich schon ernähren; ist er keiner, wird ihm erlaubt, in der Ernte sechs Wochen auf Tagelohn zu gehen" ( 6 ) . In dem § 14 des noch nicht drei Jahrzehnte späteren Generallandschulreglements aber wird schon ganz allgemein verboten, auf dem Lande Küster und Schulmeister einzustellen, „ehe und bevor sie von den Inspectoribus examiniret, im Examine tüchtig befunden und ihnen ein Zeugnis der Tüchtigkeit mitgegeben wird" ( 7 ) . Für die Landschulen bei den Amtsstädten und Amtsdörfern ist an derselben Stelle eine schon früher erlassene Bestimmung in dem Reglement erneuert worden, daß nur solche Männer als Schulmeister und Küster angenommen werden dürfen, die vorher „in dem Chur-Märkischen Küster- und SchulSeminario zu Berlin eine Zeitlang gewesen und darinnen den Seidenbau sowohl als die vorteilhafte in der teutschen Schulen der Dreyftaltigkeitskirche eingeführte Methode des Schulhaltens gefasset haben".
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Wenn auch diese Verordnungen wegen des mangelnden guten Willens der Patrone, Gutsherrschaften und Magistrate und des größeren Teils der Geistlichkeit, wegen des elenden Einkommens der meisten Schulstellen und vor allein, weil ihre Erfüllung den Gemeinden große Lasten auferlegte, von denen der Staat keinen Teil übernahm, nur verhältnismäßig selten befolgt wurden, sie waren einmal ausgesprochen, und das allein und ihre Erfüllung wenn auch nur an einzelnen Orten wirkte auf die Dauer doch auf die geistige Einstellung aller für die Gestaltung der Schule Verantwortlichen, versetzte mandlen von ihnen, der den Verordnungen nicht gerecht wurde, in den Zustand des schlechten Gewissens und weckte Pioniere, die ihnen im Umkreis ihrer Verantwortlichkeit gerecht zu werden suchten. Deren Beispiel wirkte dann wieder ansteckend auf andere. Die Verwirklichung der Verordnungen litt auch unter dem Mangel an Lehrerbildungsanstalten und an ausgebildeten Lehrern. An den ersteren fehlte es in Deutschland jener Zeit allerdings nicht ganz. Schon im 17. Jahrhundert war die Gründung einiger Lehrerbildungsanstalten versucht worden. Z. B. wurde 1679 eine in Verbindung mit dem Waisenhaus in Braunschweig errichtet, die aber nur kurzen Bestand hatte. 1698 wurden unter Herzog Friedrich II. von Gotha an zehn Orten Seminaria scholastica begründet, in denen geeignete Geistliche und Lehrer andere bei sich versammeln und in der Lehrkunst unterweisen sollten. Lehrgegenstände waren Predigtnachschreiben, Schön- und Rechtschreiben, Rechenkunst und Musik. Aber auch dieser Anfang der Lehrerseminare in Deutschland nahm aus Geldmangel bald wieder ein Ende. Größere Lebenskraft bewiesen die Lehrerbildungsanstalten, die im 18. Jahrhundert unter dem Einfluß des Pietismus und des Philanthropinismus ins Leben gerufen wurden. Diese fanden bald auch schon die Anerkennung und Unterstützung der Landesherren. Hierher gehören die 1732 durch einen Schüler Franckes namens Steinmeyer am Waisenhaus in Stettin und die durch den evangelischen Abt Steinmetz zu Klosterberge bei Magdeburg geschaffenen Einrichtungen zur Ausbildung von Lehrern und das von einem anderen Schüler Franckes, Hecker, 1748 in Berlin gegründete Seminar zur Ausbildung von Lehrern für die Schulen an der Dreifaltigkeitskirche. Die Könige von Preußen erkannten verhältnismäßig schnell die Bedeutung dieser Gründungen. Das beweist z. B. dieKabinettsordre, die Friedrich Wilhelm I. am 5. Dezember 1736 an den Abt Steinmetz richtete, in der er in Gnaden befiehlt „allen Ernstes bemüht zu sein, daß bei Euch jederzeit ein seminarium von jungen Leuten angetroffen werde, aus welchem man geschickte Schulmänner nehmen könnte" (8). Das gleiche Interesse bezeugt Friedrich der Große durch seine Ordres an die Neumärkische Kammer und die Konsistorien zu Stettin und Cöslin, in denen er anordnete, daß die offen werdenden Schulmeisterstellen in den königlichen Amtsdörfem mit Leuten aus dem Heckersdien Seminar, das später vom Staat übernommen wurde und damit das erste preußische Schullehrerseminar darstellte, besetzt werden sollten (9). Aus dem Lehrplan dieses Seminars ergibt sich, daß seine Schüler nidit nur in dem erforder170
liehen Sachwissen unterrichtet, sondern auch methodisch geschult wurden. Bei den Lehrgegenständen befindet sidi unter II. die Forderung: „Lesen, theils zu eigener Vervollkommnung, t h e i l s u m d i e b r a u c h b a r s t e M e t h o d e z u z e i g e n , K i n d e r l e s e n z u l e h r e n " ; unter IX. Praktische Anweisungen. Diese bezogen sich darauf, „den ganz kleinen Kindern die Buchstabenkenntnis, das Syllabieren und Lesen beizubringen und sich mit ihnen auf eine nützliche Art zu unterhalten und mit erwachsenen Kindern zu katechisieren"; unter X. Pädagogik und Methodologie (10). Die Gründung von Lehrerbildungsanstalten nahm unter den Philanthropinisten ihren Fortgang. Unter ihrem Einfluß entstanden die Seminare in Halberstadt 1778, Gotha 1780, Kassel und Detmold 1781. In sie fanden die sogenannten realen Wissenschaften Eingang. Kentnisse in der Erd- und Naturkunde wurden von den Lehrern verlangt, „um ihr Ansehn zu vergrößern, das sie bei den Bauern haben müßten". Auch eine Art von Übungsschule wurde zur beruflichen Ausbildung der Volksschullehrer bereits als notwendig erkannt. In der Zwischenzeit fand die Forderung, daß fortan kein ungeprüfter Lehrer mehr angestellt werden dürfe, noch mehrfach gesetzlichen Ausdruck, z. B. in der Instruktion für das Oberschulkollegium vom 22. Februar 1787 (11), in den Katholischen Schulreglements für Schlesien von 1765 (12) und 1801 (13) und im Allgemeinen Landrecht (14). Das letztere, das vom 1. Juli 1794 an Gültigheit hatte und an die Stelle der allgemeinen Landesgesetze trat, schuf nichts Neues, sondern legte nur die bestehenden Verhältnisse fest, sprach aufs neue den Schulzwang und für die Gemeinden die Schulunterhaltungspflicht aus. Die schulische Wirklichkeit blieb allerdings auch im ganzen 18. Jahrhundert an vielen Stellen, zumal auf dem Lande, mehr oder minder weit hinter diesen gesetzlichen Forderungen zurück. Noch um die Wende des 18. Jahrhunderts wurden vielfach Vorschläge zur Behebung dieses Rückstandes und zur Bekämpfung der wesentlichen Mängel des Schulwesens gemacht. Unter diesen wurden damals vor allem genannt: die schlechte Bezahlung und armselige wirtschaftliche Lage sehr vieler Schullehrer und ihre nicht seltene Untauglidikeit und Unwissenheit, die schlechte und unzweckmäßige Beschaffenheit der Schulhäuser und der mangelhafte Schulbesuch. Die bis zu diesem Zeitpunkt, der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, summarisch dargestellte Entwicklung des deutschen bzw. preußischen Volksschulwesens und der Lehrerbildung erfolgte vor Pestalozzi, bzw. ehe seine Pädagogik und sein Beispiel in Preußen Einfluß gewannen. Erst ihre außerordentliche Weiterentfaltung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fand im Namen Pestalozzis und in der Kraft seiner Ideen und seines Vorbildes statt. Daraus schon ergibt sich, daß wir nicht berechtigt gewesen wären, die Auslandswirkung der preußischen Volksschule im Pestalozzikapitel, im Rahmen der Darstellung seines Auslandseinflusses, zu behandeln. Dazu kommt ferner, daß die neue preußische Volksschule des 19. Jahrhunderts, wenn ihr Anfang auch auf Pestalozzi beruhte, in ihrem weiteren Ausbau bald über ihn hinausschritt. 171
, Ehe wir die Entwicklung im 19. Jahrhundert weiter verfolgen, wollen wir zunächst einen kurzen Blick auf die Lage der Volksschule und der Lehrerbildung in einigen anderen Ländern Europas und in Nordamerika werfen. Ganz allgemein kann da gesagt werden: Keines dieser Länder war im 18. Jahrhundert in der theoretischen Vertretung der Idee der Volksschule und der Volksschullehrerbildung und ihrer praktischen Verwirklichung auch nur annähernd so weit wie Preußen-Deutschland. Es war bei ihren Regierungen weder die Einsicht in Wert und Bedeutung einer allgemeinen Volksbildung, in die Notwendigkeit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht und einer beruflichen Vorbildung der Volksschullehrer erwacht, noch existierte eine entsprechende Gesetzgebung. Höchstens waren einzelne dahingehende Versuche von den Kirchen, religiösen Genossenschaften und einzelnen oder Gruppen von Privatpersonen unternommen worden. Dieser Rückstand gegenüber Preußen ist nicht erstaunlich bei Nordamerika, das bis 1775 in seiner „kolonialen Periode" ( 1 5 ) lebte, in der seine aufbauwilligen und -fähigen Kräfte noch durch die Aufgaben der Kolonisation und durch das Bemühen um eine erste Konsolidierung des staatlichen Lebens beansprucht waren. Einige Einzelhinweise mögen beweisen, wie weit Volksschul- und Lehrerbildungswesen im Nordamerika des 18. Jahrhunderts hinter dem gleichzeitigen Deutschlands zurückstanden. Die erste literarische Vertretung der Forderung von für ihren Beruf besonders vorgebildeten Schullehrern findet sich nach der Feststellung eines Historikers der amerikanischen Lehrerbildung, J . P. Gordy ( 1 6 ) , erst gegen Ende des Jahrhunderts, im Jahre 1789, und zwar in einem Aufsatz des Massachusetts M a gazine. Zur Gründung von Lehrerbildungsanstalten kam es im 18. Jahrhundert überhaupt nicht. Wohl kannte jene Zeit bereits Schulen für die breiteren Massen. Diese erwuchsen aber nicht aus der Idee einer allgemeinen Volksbildung, sondern aus religiösem Bedürfnis, waren als Pfarrschulen kirchliche und nur kirchliche Einrichtungen. Bei der Errichtung dieser Schulen schwebte den Ansiedlern natürlich entweder die Schule ihres Mutterlandes als Vorbild vor, oder sie standen wenigstens unter dem Einfluß von Ideen, die sie von dort mitgebracht hatten. In den vorwiegend deutsch besiedelten Gebieten, z. B. in Pennsylvanien, Michigan, Wisconsin, machte sich auf diese Weise der gestaltende Einfluß des deutschen Erziehungsgedankens und des deutschen Schulwesens geltend. Dieser Kanal für das Eindringen pädagogischer Kräfte aus Deutschland blieb von da an bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts geöffnet. W i e stark diese Vermittlertätigkeit deutscher Einwanderer gewesen ist, wird an mehreren Stellen dieses Buches deutlich. So gründeten z. B. in der Mitte des 19. Jahrhunderts Dr. Franklin und andere in Philadelphia, gedrängt durch den Einfluß der starken deutschen Bevölkerung, unterstützt durch „contributions from Europe" (gemeint ist selbstverständlich Deutschland) die „German Society", deren Zweck es war, „to found and maintain schools für the numerous children of German settlers". Diese deutsche Gesellschaft hat nach der Darstellung Boones eine erfolgreiche
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Wirksamkeit entfaltet, zu Zeiten über tausend Kinder unterrichtet und einen mächtigen Einfluß auf die Kolonie ausgeübt (17). Zu den bedeutungsvollsten der oben erwähnten „contributions from Europe" gehörte, daß deutsche Lehrer, als freiwillige Auswanderer oder auch von drüben gerufen und von Deutschland entsandt, sich in die Volkbildungsarbeit der deutschen Ansiedler einschalteten. Im Franckekapitel (S. 50) haben wir Belege dafür aus der Zeit des deutschen Pietismus gebracht. Diese und ähnliche Bemühungen und Schulgründungen deutscher Einwanderer, von denen sich noch einzelne andere Beispiele aus dem 18. Jahrhundert beibringen ließen (18), gaben vielleicht anderen nichtdeutschen Einwanderungsgruppen Anregung und Vorbild zu ähnlicher Volkserziehungsarbeit und waren damit von Einfluß auf die gesamtamerikanische pädagogische Entwicklung. überraschender und weniger leicht erklärlich als in Nordamerika ist dagegen der Rückstand im Volksschul- und Lehrerbildungswesen gegenüber Deutschland in alten Kulturländern, z. B. im England und Frankreich des 18. Jahrhunderts. In England ist er zu einem wesentlichen Teile auf den schon früh sich äußernden englischen Individualismus und das typische englische Freiheitsbewußtsein, das mit einem tief eingewurzelten Mißtrauen gegen jeden staatlichen Eingriff in die Gebiete Kirche, S c h u l e und öffentliche Wohlfahrt verbunden war, zu erklären. William Godwin behauptete noch im Jahre 1793 in seiner Schrift „Enquiry concerning Political Justice", die staatliche Einmischung in das Schulwesen würde „ein ungeheures Unglück für England" (19) sein. Und die vereinzelten Stimmen, die sich für ein staatliches Eingreifen aussprachen, wie z. B. die von Adam Smith und Malthus, forderten von der Regierung nur die Finanzierung des Schulwesens, lehnten aber seine Organisation durch die staatliche Obrigkeit ab, wünschten nach einem von Dreßler angeführten sehr kennzeichnenden Ausspruch, daß der Staat nur die Musikanten bezahle, aber nicht, daß er auch die Melodien bestimme. Noch ein anderer Umstand, auf den Petersilie (20) aufmerksam macht, wirkte der Entwicklung eines allgemeinen Volksschulwesens in England entgegen. Da die Großmachtstellung Englands und eine durch alle Schichten der Bevölkerung hindurchgehende praktische Tüchtigkeit durchaus ohne Volkserziehung und ohne Volksunterricht errungen worden war, konnten beide leicht als überflüssig hingestellt werden, und die englische Regierung sah sich, im Gegensatz zu den Regierungen des Kontinents, gar nicht veranlaßt, eine so unpopuläre Maßregel, wie den Schulzwang, einzuführen. Die erste Entwicklung eines Volksschulwesens war daher auch in England völlig abhängig vom Bemühen der Kirche bzw. der Sekten und von der Privatinitiative. Da eine Darstellung der Entwicklung des englischen Elementarschulwesens außerhalb des Rahmens dieses Buches fällt, brauchen wir darauf hier nicht im einzelnen einzugehen, wir brauchen also auch nicht die Schulgründungen der Puritaner und der „Society for Promoting Christian Knowledge" und der Methodisten zu schildern, noch die volksbildnerischen Bemühungen einzelner Personen, wie Robert Raikes und 173
Thomas Stock, die 1781 in Glouster die erste Sonntagsschule erridhteten und 1785 die „Sunday School Union" gründeten, zu schildern und uns ebensowenig mit den englischen Frauengestalten Sarah Trimmer, E. Denward und Hannah More zu beschäftigen, welche im 18. Jahrhundert die später so berüchtigt gewordenen Industrieschulen begründeten oder reformierten. Nur auf zwei für alle diese Versuche eines englischen Elementarschulwesens gültige Umstände muß hingewiesen werden: 1. Sie entspringen nicht einem allgemein pädagogisch orientierten Verantwortungsgefühl, wie vielfach im gleichzeitigen PreußenDeutschland, sondern entweder religiösem Bedürfnis oder dem Mitleid mit der sozialen Lage der unteren Volksschichten. 2. Die Mehrzahl der begründeten Schulen hatte einen unglaublich tiefen Standard. Das bezeugt noch für das Ende des Jahrhunderts Charles Dickens (21) durch die anschaulichen Bilder, die er von ihnen in seinen Erzählungen entwirft. Das konnte ja auch gar nicht anders sein, weil es an für ihren Beruf vorgebildeten Schullehrem damals und noch für lange Jahrzehnte völlig fehlte. Es entsprach dem extremen englischen Individualismus, daß jeder, der wollte, eine Schule gründen und Lehrer sein konnte. Allerdings tauchten damals schon, wie wir bereits an anderer Stelle gesehen haben, vereinzelt Pläne einer beruflichen Vorbildung der Lehrer auf. Aber sie blieben unverwirklicht. Schneider, Schuster und Leineweber waren die ihrer Aufgabe nicht gewachsenen Lehrer der Kinder. Wieviel weiter war man da im gleichzeitigen Deutschland sowohl in der theoretischen Einsicht in die Notwendigkeit einer beruflichen Vorbildung der Schullehrer als auch in ihrer praktischen Inangriffnahme. Günstiger als im eigentlichen England war die Entwicklung des Volksschulwesens in Schottland. Dort war schon im Zeitalter der Reformation mehr für die Volkserziehung geschehen als in England, wo Heinrich VIII. dafür kein Geld übrig hatte, obwohl die reichen Klostergüter nach der Säkularisation zu Bildungszwecken hätten verwendet werden sollen (22). John Knox, der schottische Reformator, drang auf die Gründung von Volksschulen. 1690 ordnete ein Gesetz die Errichtung von Gemeindeschulen in allen Pfarrgemeinden an. Zu ihnen kamen gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch die sogenannten Ragged Schools, deren erste für die Armen Edinburghs von dem verkrüppelten Schuhmacher John Pounds in Verbindung mit dem Prediger Thomas Guthrie errichtet wurde. In dieser günstigeren Entwicklung eines Schulwesens für die breiteren Volksschichten, wie übrigens auch der schottischen Universität, worauf an anderer Stelle eingegangen wird, macht sich der Zusammenhang mit der Reformation in Deutschland und das Beispiel des deutschen protestantischen Schulwesens geltend. In Frankreich, das, begünstigt durch seine geographische Lage, schon früh zur staatlichen Einheit gelangte und zentral regiert wurde, wäre die Durchführung einer Schulgesetzgebung, theoretisch gesprochen, leichter gewesen, als in manchen anderen, politisch nicht geeinten Ländern. Aber das 18. Jahrhundert sah in Frankreich keine nennenswerte Schulgesetzgebung. Im Gegensatz zu den 174
preußischen Hohenzollern kümmerte sich der französische Absolutismus nicht um den Unterricht seiner Untertanen. Wohl hatte Ludwig XIV. 1698 im Kampfe gegen den Protestantismus verordnet (23), daß in jeder Pfarrei ein Lehrer oder eine Lehrerin mit festem Gehalt angestellt werde, die den Kindern die Wahrheiten der christlichen Religion und auf Wunsch auch das Lesen und „selbst das Schreiben" beibringen sollte, aber diese Verordnung, die 1734 erneuert wurde, wurde nicht befolgt. Daß Frankreich aber trotzdem im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert nicht ganz ohne Schulen für die unteren Volksschichten blieb, verdankt es nicht dem Staat, sondern der Kirche, insbesondere der durch Johann Baptist de la Salle 1684 begründeten Genossenschaft der „Frères des écoles chrétiennes" (24), der Brüder der christlichen Schulen. Da La Salle in die Regeln der Genossenschaft die Bestimmung aufnahm, daß kéin Priester in die Genossenschaft eintreten und kein Bruder die lateinische Sprache lernen dürfe, verhütete er, daß sie sich allmählich von der Volksschule ab und dem höheren Unterricht zuwandte, wie es z. B. die von Joseph von Calasanza 1614 in Italien begründete Genossenschaft der Piaristen, die aus Priestern bestand, tat. Die Schulbrüder gründeten in vielen französischen Orten Freischulen und unterrichteten darin die Kinder der Armen in Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen und Zeichnen, mitunter auch in Geometrie und Handarbeiten. Von 1699 bis 1710 kamen sie nacheinander in eine größere Zahl französischer Städte. Natürlich erfaßten die von der Genossenschaft geführten Schulen nur einen kleinen Bruchteil der französischen Kinder. Im letzten Viertel des Jahrhunderts „kurz vor der Revolution wurden etwa 30000 Kinder in ihren Schulen unterrichtet" (25). Auch für die berufliche Vorbildung der Schulbrüder traf La Salle Vorsorge durch die Errichtung von Lehrerseminaren in Reims 1684 und in Paris 1700. Die Genossenschaft de La Salles erhielt zwar im September 1724 die staatliche Anerkennung durch Ludwig XV. Aber trotzdem fehlte es ihr nicht an Gegnern. Zu ihnen gehörten außer der Indolenz und Bildungsgleichgültigkeit der unteren Volksschichten, die Jansenisten und sogar manche klerikale Kreise, die nicht damit einverstanden waren, daß sie den Unterricht mit Lesen und Schreiben in der Muttersprache begannen, und endlich die Revolution, die mit der Verwirklichung der Laïcité, der Weltlichkeit des Unterrichts, ihrem Wirken ein Ende setzte. So stand Frankreich zu Beginn der Revolution im Bezirk der Volksbildung sozusagen vor einem Nichts und vor der Aufgabe der völligen Neubegründung von Schulen für die unteren Volksschichten und von Lehrerbildungsanstalten. Da das deutsche und insbesondere das preußische Volksschul- und Lehrerbildungswesen aber in den ersten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts über das bereits Bestehende hinaus einen außerordentlichen Aufschwung nahm, ist es doppelt erklärlich, daß Frankreich im folgenden Jahrhundert von dort Anregung für ihre Gestaltung empfing und dort Muster und Vorbild fand. Wenn man diesen Einfluß des preußischen Volksschulwesens und der preußischen Lehrerbildung des 19. Jahrhunderts auf Frankreich und andere 175
Länder darstellen will, so geht das nicht ohne Bezugnahme auf manche Einzelheiten der preußischen Entwicklung. Ihre Darstellung wird aber nur dem verständlich, der wenigstens ein ungefähres Bild dieser Entwicklung besitzt. Schon deshalb ist es zweckmäßig, sie in großen Zügen zu schildern. Das ist aber audi aus einem zweiten Grunde ratsam. Die deutsche pädagogische Entwicklung im Anfang des 19. Jahrhunderts stand ganz im Zeichen der Ideenwelt Pestalozzis, und es ist daher berechtigt zu sagen: ihr Einfluß auf das Ausland war im Grunde, wenn auch nur mittelbar, Auslandswirkung Pestalozzis. Auch um diesen Sachverhalt deutlich werden zu lassen, müssen wir etwas näher auf die preußische pädagogische Entwicklung eingehen. Und wenn wir dann anschließend zeigen, welche gestaltenden Kräfte von ihr auf andere Völker ausgehen, dann ist der Leser in der Lage, diese unsere Darlegungen als das aufzufassen, was sie in mancher Beziehung sind: eine Ergänzung und Erweiterung des Pestalozzikapitels. Trotz der schon gekennzeichneten Bemühungen der Hohenzollern boten Schule und Lehrerbildung in Preußen am Ende des 18. Jahrhunderts an vielen Orten noch ein sehr unerfreuliches Bild. Es fehlt dafür nicht an dokumentarischen Belegen. Häufiger zitiert wurden zur Veranschaulichung ihres reformbedürftigen Zustandes der Brief des Superintendenten Oldekop aus Salzwedel an den bekannten Pädagogen Zerenner in Magdeburg (26) und die Schilderung über den damaligen Verlauf der Unterrichtslektionen durch einen Augenzeugen (27), die deutlich zeigen, daß Vorbildung, Einkommen und soziale Stellung der Lehrer, Schulbesuch der Kinder, Schulhaus und Schulzimmer sowie der innere Lehrbetrieb an vielen Orten weit hinter dem zurückstanden, was bereits die Pädagogen des 18. Jahrhunderts verlangt hatten und in Preußen durch Verordnungen und Gesetze vorgeschrieben war. Zwei Umstände wirkten nun zusammen dahin, daß diese Mängel in einigen Jahrzehnten in starkem Maße beseitigt wurden, daß Volksschule und Lehrerseminar in verhältnismäßig kurzer Zeit eine Gestalt erhielten, auf die das Ausland mit Bewunderung und auch wohl mit Neid schaute. Diese beiden Umstände waren einmal die Wirkung der Persönlichkeit und der pädagogischen Ideen Pestalozzis und zweitens ein außerordentlicher Reformwille und damit verbunden eine große Bereitschaft zur Aufnahme der Pestalozzimethode im damaligen Preußen. Es ist oft geschildert worden, wie sich diese letztere Haltung Preußens aus der geschichtlichen Situation ergab. Als man nach dem Frieden von Tilsit die innere Wiedergeburt des preußischen Volkes begann, sprach der König das bekannte Wort: „Zwar haben wir an Flächenraum verloren, zwar ist der Staat an äußerer Macht und äußerem Glänze gesunken, aber wir wollen und müssen dafür sorgen, daß wir an innerer Macht und innerem Glänze gewinnen. U n d d e s h a l b i s t e s m e i n e r n s t l i c h e r W i l l e , d a ß d e m V o l k s u n t e r r i c h t d i e g r ö ß t e S o r g f a l t g e w i d m e t w i r d . " Und Minister vom Stein schrieb am 24. November 1808, am meisten sei für die Wiedergeburt
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des Volkes „ v o n d e r E r z i e h u n g u n d d e m U n t e r r i c h t d e r J u g e n d z u erwarten". Es war begreiflich, daß die verantwortlichen Männer Preußens sich in dieser Situation dem Manne zuwandten, der es als sein Lebensziel betrachtete, dem verwahrlosten Volke und namentlich der verkümmerten Jugend in leiblicher und geistiger Hinsicht zu helfen, und der als das beste Mittel zur Erreichung dieses Zieles die allgemeine Menschenbildung hinstellte, zu Pestalozzi also, der in Preußen zumal durch „Lienhard und Gertrud" viele Freunde gewonnen hatte. So wies Fichte schon als Professor in Jena und später in Berlin auf Pestalozzi, „den Mann der Lehre und der Liebe", hin und forderte in seinen berühmten „Reden an die deutsche Nation" im Winter 1807/08, daß sich die neue Erziehung in Preußen an Pestalozzi anschließen solle. Der Staatsrat im Ministerium des Innern, Nicolovius, in dessen Hand damals die Hebung der Volksbildung lag, und sein Hauptmitarbeiter, Professor Süvern, waren begeisterte Anhänger Pestalozzis und arbeiteten in seinem Geiste. Die Regierung sandte eine Anzahl junger Männer zu Pestalozzi, damit sie sich mit seinem Geiste erfüllten und sich gründlich in seine Methodik einarbeiteten. Diese erwiesen sich später in mehr oder minder einflußreichen Ämtern als Vermittler Pestalozzischer Pädagogik und als eifrige Förderer des Auf- und Ausbaues der preußischen Volksschule und des preußischen Lehrerseminars. Mehrere von ihnen waren später als Seminardirektoren tätig, z. B. Preuß in Königsberg, Kawerau in Bunzlau, Braun in Neuwied, und übertrugen Pestalozzis Ideen auf ihre Schüler, die zukünftigen Volksschullehrer, und schulten sie in seiner Unterrichtsweise. Noch ehe diese Männer aus der Schweiz zurückgekehrt waren, berief die preußische Regierung den Pädagogen Karl August Zeller (1774 bis 1840), der bereits 1803 in Bürgdorf gewesen war, um die Lehrart Pestalozzis unter dessen persönlicher Anleitung kennenzulernen, als Regierungs- und Schulrat mit dem Auftrag nach Königsberg, dort das Waisenhaus als Musterschule und Normalinstitut nach den Grundsätzen Pestalozzis einzurichten, für die Lehrer methodische Kurse zu halten und an der Reform des preußischen Schulwesens mitzuarbeiten. Zeller gründete später noch zwei neue Seminare, ein evangelisches in Karalene und ein katholisches in Braunsberg. So wurde die Pädagogik Pestalozzis bald geistiges Eigentum weitester Kreise der Lehrerschaft und der für den schulischen Aufbau Verantwortlichen. Dadurch, daß man Pestalozzis Idee der allgemeinen Menschenbildung, die auch die Erziehung der ärmsten und elendsten Kinder verlangte, femer seine Auffassung von der Weckung der Selbsttätigkeit als ihrem wesentlichen Mittel, seine Forderung, daß der Unterricht der psychischen Entwicklung des Kindes gemäß erteilt werden sollte, und seine Lehre, daß die Anschauung das absolute Fundament aller Erkenntnis sei, dem Aufbau der Volksschule zugrunde legte, wurde Pestalozzi in der Tat der Vater der neuen preußischen Volksschule (28). Um den Auslandseinfluß des preußischen Volksschulwesens zu erkennen, ist es nicht erforderlich, seine Entwicklung durch das ganze 19. Jahrhundert 12
S c h n e i d e r , Pädagogik.
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hindurch im einzelnen zu verfolgen. Es mag genügen, die wichtigsten der in dieser Zeit erlassenen Verordnungen und Gesetze und die durch sie erstrebten bzw. bewirkten Fortschritte aufzuzählen. Die Erkenntnis des Wertes einer obersten zentralen Schulbehörde hatte bereits 1787 zur Begründung eines Obersdiulkollegiums in Berlin geführt. 1808 und 1810 wurden die Sdiulangelegenheiten einer eigenen Abteilung im Ministerium des Inneren, der Abt. III für „Kultus und öffentlidien Unterricht" übertragen. 1817 wurde ein eigenes Ministerium für Kultus und Unterricht begründet. Um das Interesse und die Opferfreudigkeit der Gemeinden für die Sdiulangelegenheiten zu wecken oder zu vermehren, wurde durch die neue Städteordnung vom Jahre 1808 neben Magistrat und Stadtverordneten eine besondere Körperschaft, die Schuldeputation, eingeführt, die als Lokalbehörde die Sdiulangelegenheiten der Gemeinde zu verwalten hatte, deren Zusammensetzung und Geschäftsführung durch die Instruktion vom 26. Juni 1811 geordnet wurde. Bei der Verwaltung der Landschulen übernahm der Schulvorstand diese Aufgabe. Jetzt wurden auch die Lehrerbildungsanstalten in Preußen staatlich und dadurch wesentlicher Teil des Schulwesens eines der großen Staaten Europas. Die Folge davon war „that they naturally attracted the attention of education all over the world" (Gordy S. 18). Die Zahl der Lehrerseminare wurde vermehrt, so daß der 'Minister von Altenstein 1826 in einer Verfügung darauf hinweisen konnte, daß „nunmehr in allen Provinzen der Monarachie für die Ausbildung guter Schullehrer durch eine Anzahl von Seminaren . . . hinreichend gesorgt war" (29). Im Jahre 1846 besaß Preußen 46 Seminare mit 2721 Seminaristen (30). 1817 wurde in einer durdi den Minister von Altenstein im Auftrag des Königs eingesetzten Kommission ein allgemeines Schulgesetz beraten. Das Ergebnis war ein von dem Referenten der Kommission, Staatsrat Süvem, verfaßter „Entwurf eines allgemeinen Gesetzes über die Verfassung des Schulwesens im preußischen Staate" (31). Dieser Entwurf hat, wie wir noch sehen werden, auf die pädagogische Entwicklung des Auslandes außerordentlich eingewirkt, obwohl er keine Gesetzeskraft erhielt, sondern durch den Minister von Altenstein wegen des großen Widerspruches, den er fand, nach dem Tode Süverns zurückgezogen wurde. Am 1. Juni 1826 erfolgte die für die Planmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Lehrervorbildung und die Zielstrebigkeit der Lehrerfortbildung so wichtige Regelung der ersten und zweiten Lehrerprüfung und am 4. Dezember 1827 die erste Regelung des Militärdienstes der Lehrer. Die Bemühungen um die Durchführung der Schulpflicht wurden fortgesetzt mit dem Ergebnis, daß bereits 1824 der Schulbesuch in Preußen bedeutend besser war als in Frankreich, England, Österreich und Holland. Im Jahre 1837 besuchten in Preußen von je 10000 schulpflichtigen Kindern 8066 die Volksschule, also über 80% (32). Man ist daher berechtigt zu sagen, daß in der 43 jährigen Regierungszeit Friedrich Wil178
heims III. (1797—1840) die neue preußische Volksschule wirklich begründet wurde. In den ersten Regierungsjahren seines Nachfolgers Friedrich Wilhelm IV. wurden in Elementarschule und Lehrerbildungsanstalt einige neue Fächer eingeführt. Das war noch ein gewisser Fortschritt. Das Zirkularreskript vom 7. Februar 1844 ordnete die Errichtung von Turnanstalten auch an Lehrerseminaren an. Am 3. Dezember 1845 wurde der Turnunterricht in die niederen Stadtschulen und am 26. Mai 1860 in sämtlichen Elementarschulen eingeführt. Im Jahre 1842 fand Gartenbauunterricht in die Lehrerseminare und drei Jahre später Handarbeitsunterricht in die Mädchenvolksschulen Aufnahme. Einen Rückschlag aber erlitt die preußische Volksschule und Lehrerbildung durch die drei Regulative vom 1., 2. und 3. Oktober 1854. Es hatte nicht an Stimmen gefehlt, welche für die revolutionären Ereignisse der vierziger Jahre die Volksschule mit ihrem Rationalismus, ihren von den Gegnern vielfach als „übertrieben" beurteilten Ansprüchen und der durch sie vermittelten „Afterbildung" mitverantwortlich zu machen suchten. Die behaupteten Mißstände sollten nicht durch ein Gesetz, sondern auf dem Verordnungswege beseitigt werden. Diesem Ziel dienten die drei Regulative, von denen das erste die Seminarbildung auf das beschränkte, was der Lehrer zur Erteilung eines „einfachen und fruchtbringenden Unterrichtes" in den Gegenständen der Elementarschule brauchte. Das zweite Regulativ lehnte grundsätzlich die Einrichtung von geschlossenen Präparandenanstalten ab und erwartete die zweckmäßige Vorbildung der späteren Seminarzöglinge von der freiwilligen Tätigkeit der Geistlichen und der Lehrer. Das dritte entwickelte die Grundzüge betreffend Einrichtung und Unterricht der evangelischen einklassigen Elementarschule unter Betonung und Vermehrung des religiösen Memorierstoffes und Begrenzung des Unterrichtsstoffes in den anderen Fächern. Gleich nach ihrem Erlaß begann ein heftiger Kampf gegen die Regulative, deren Rechtsgültigkeit man übrigens bestritt und deren Inhalt man als Abfall von Pestalozzi und als ein Hemmnis für die Tätigkeit und die Entwicklung der Seminare und der Volksschule bezeichnete. Ergänzende Verfügungen zu den Regulativen aus den Jahren 1859 und 1861 trugen den Beanstandungen in einem gewissen Umfang Rechnung, indem sie für die Volksschule den religiösen Memorierstoff verringerten und die Ziele des Rechen- und Naturkundeunterrichtes erweiterten, und im Seminarunterricht den Rechen- und Raumlehre- und Zeichenunterricht günstiger gestalteten und den durch die Regulative bewirkten Ausschluß der klassischen Literatur aus den Seminarlehrplänen ausdrücklich aufhoben. Die völlige Beseitigung der Regulative geschah aber erst nach den beiden siegreichen Kriegen 1866 und 1870/71 durch die „Allgemeinen Bestimmungen" vom 15. Oktober 1872, die eine zeitgemäße Erweiterung, besonders in den sogenannten Realien, und eine gründlichere Durchdringung der Unterrichtsfächer der Volksschule forderten und nach der Ansicht mancher kompetenter Beurteiler wieder an die Pestalozzische Bewegung, an die glückliche Zeit der preußischen 12*
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Volksschule in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts, anknüpften. Das zeigte sich auch in den Abschnitten III und IV betr. Lehrerbildung, die unter anderem forderten, daß die Präparanden — was vor der Regulativzeit bereits vereinzelt versucht worden war — in besonderen Anstalten vorbereitet werden sollten. Die Ziele einzelner Unterrichtsfächer der Lehrerseminare wurden, zumal im Deutschen, in der Matehmatik und in den Realien, erhöht, so daß die Lehrerbildung von da an gründlicher und umfassender war als vorher. Für die der Volksschule und der Lehrerschaft günstigere Haltung der Regierung wie der öffentlichen Meinung war der siegreiche Ausgang der beiden Feldzüge von 1866 und 1870/71 eine der Ursachen. So wie man nach den Freiheitskriegen der Ansicht gewesen war, daß in ihnen der Pestalozzische Geist in den Männern der Schule die Feuerprobe bestanden habe, so war man jetzt der Uberzeugung, daß die Volksschule und ihre Lehrer die Kriegstüchtigkeit und Tapferkeit der siegreichen Soldaten durch ihre Erziehungsarbeit mitbegründet hätten. Der Ausspruch, der preußische Schulmeister habe die Schlacht von Sadowa (Königgrätz) gewonnen, wurde beinahe zum geflügelten Wort. Diese hohe Einschätzung des Volksschullehrers und seiner beruflichen Tätigkeit bildete eine günstige Atmosphäre für die Weiterentwickelung der Volksschule und der Lehrerbildung in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. In ihnen wurde die Schulpflicht für die Kinder vom 6. bis 14. Lebensjahr im ganzen Lande durchgeführt. Am 17. Februar 1881 (33) berief sich der Kultusminister von Goßler in einer Rede zur Eröffnung des sechsten deutschen Seminarlehrertages in Berlin auf den Anspruch eines bekannten Schulmannes, daß er stets das Gefühl habe, er sei für jedes Kind, welches nicht lesen und nicht schreiben könne, Gott verantwortlich, um dann fortzufahren: „Ich habe voll die Wahrheit dieses Ausspruches in mich aufgenommen und muß auch von meinem Standpunkte bekennen, daß, solange noch Kinder aus irgendeinem Grunde des geordneten Unterrichts ermangeln . . ., dies einen Vorwurf und eine Mahnung für die Unterrichtsverwaltung bildet." Bei einer derartigen Gesinnung des für das Schulwesen verantwortlichen Ministers ist es nicht verwunderlich, daß das Ziel erreicht wurde. In derselben Zeit wurde eine durchgreifende Gehaltsregulierung der Volksschullehrer und der Seminarlehrer vorgenommen, der spätere Gehaltsaufbesserungen folgten. Der Etat für Volksschulen wurde immer weiter bedacht, stieg z. B. von 1426000 Taler im Jahr 1871 auf 6473 979 Taler im Jahre 1877 (34). Der Neubau von Volksschulen und die Errichtung von Lehrerseminaren wurden fortgesetzt. 1870 bestanden in Preußen 79 Seminare (einschließlich dreier Lehrerinnenseminare); 1879 waren es bereits 110, wovon acht der Ausbildung von Lehrerinnen dienten, und daneben existierten eine große Zahl von Parallel- und Hilfskursen zur Lehrerausbildung (35). Ende des Jahrhunderts, als sich aus verschiedenen Ursachen wieder Lehrermangel bemerkbar machte, wurde das Tempo der Seminargründungen beschleunigt. Zur Zeit des Ministers Studt wurden 35 Seminare und 40 Präparandenanstalten neu be-
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gründet und außerdem an vielen Seminaren Nebenkurse eingerichtet. Durch Verfügung vom 16. September 1896 erhielten die Seminare die Berechtigung, Zeugnisse über die wissenschaftliche Befähigung zum einjährigen Militärdienst auszustellen, wodurch den Besitzern die Möglichkeit gegeben wurde, Reserveoffizier zu werden. Der letzte Abschnitt der Entwicklung der Lehrerseminare wurde durch die neuen Lehrpläne und Prüfungsordnungen für die Lehrerbildung vom 1. Juli 1901 eingeleitet. Die wichtigsten durch sie bewirkten Fortschritte waren: die Präparandenanstalt umfaßte drei Klassen mit je einjährigem Kursus. Die Lehrpläne von Präparandie und Seminar bildeten ein organisches Ganzes; die Lehraufgaben wurden in fast allen Fächern, auch durch Einführung einer obligatorischen Fremdsprache, erweitert. Die methodischen Anweisungen für die Erteilung des Seminarunterrichtes stimmten in mancher Beziehung mit den kurz vorher, am 20. Mai 1901, erlassenen „Lehrplänen und Lehraufgaben für höhere Schulen in Preußen" überein. Auch der Seminarunterricht sollte von jetzt an wissenschaftlich erteilt werden. Gehen wir nun dazu über, die Abhängigkeit des Volksschulwesens und der Lehrerbildung in verschiedenen Ländern von der deutschen Anregung und dem deutschen Vorbild aufzuzeigen, und beginnen mit Frankreich. Wir nehmen das Ergebnis unserer Untersuchung vorweg, wenn wir sagen: die bedeutendsten Fortschritte in der Entwicklung des französischen Volksschulwesens nach der Julirevolution und nach dem Deutsch-Französischen Kriege und die im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts beginnende Gründung von französischen Lehrerbildungsanstalten stehen so stark unter deutschem Einfluß, daß es nicht anmaßend und chauvinistisch ist, sich auszudenken, auf welch niedrigem Niveau wahrscheinlich beide noch am Ende des Jahrhunderts gestanden hätten, wenn nicht die deutsche und besonders die preußische Volksschule und das deutsche bzw. das preußische Lehrerseminar der Stachel gewesen wären, der die französischen Patrioten zur Forderung pädagogischer Reformen im eigenen Lande angetrieben hätte, und wenn ihnen nicht deutsche und preußische Einrichtungen bei ihrer Reformarbeit als Muster und Vorbild vorgeschwebt hätten. Um den Grad dieser Abhängigkeit zu erkennen, nehmen wir die Beschreibung der französischen pädagogischen Situation da wieder auf, wo wir sie S. 175 unterbrochen haben. Wir wiesen dort bereits darauf hin, daß Frankreich nach der Aufhebung der von religiösen Genossenschaften unterhaltenen Schulen auf dem Gebiet der Volksschule sozusagen dem Nichts gegenüberstand. Der Mangel (la pénurie) war hier — nach einem mehrfach zitierten Wort von Jules Simon — vollständig. Er wurde auch von den Franzosen selbst anerkannt. Von jetzt an faßte wohl jede der häufig schnell wieder abtretenden Regierungen die Begründung der Volksschule oder die Reform der bestehenden ins Auge. Die Schulfrage wurde eine Frage de la haute politique (36). Aber weder in der Revolutionszeit noch in der napoleonischen Ära gelang etwas Durchschlagendes. Zeitweise gab man sogar die Ideale, welche die Revolution für die Volksschule proklamiert hatte: universalité (Allgemeinheit), laïcité
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(Weltlichkeit) und Obligation (Schulzwang) wieder preis. 1793 hatte der Konvent zwar — zum ersten Male in der französischen Schulgeschidite — die Prinzipien des Sdiülzwanges und der Schulgeldfreiheit, die in Preußen — wie wir sahen — damals schon mehrere Jahrzehnte in Geltung waren, angenommen. Aber zur wirklichen Durchführung kamen sie jetzt nicht. Der Schulzwang, die Obligation absolue, galt trotz der Befürwortung durch führende französische Pädagogen in der überwiegenden öffentlichen Meinung als mit der Freiheit der Familien im freien Staat unvereinbar. Gegen die Schuldgeldfreiheit wurde immer wieder das Bedenken geltend gemacht: das, was nichts koste, werde von der breiten Masse der Bevölkerung auch nicht geschätzt. Schulzwang und Schulgeldfreiheit konnten sich daher auf Jahrzehnte hinaus nicht durchsetzen. Auch die Versuche der Begründung einer französischen staatlichen Lehrerbildung durch Einrichtung von Normalschulen bzw. Normalklassen durch den Konvent in der Zeit des Konsulates und des Kaiserreichs (37) sowie einer der Lehrerbildung dienenden Versuchsschule während der hundert Tage führten zu keinem dauernden Ergebnis. Die erste wirkliche Normalschule entstand, wie wir bereits bei der Darstellung der Auslandswirkung des Philanthropinismus (S. 60) sahen, im Jahre 1811 im deutschen Elsaß in Straßburg unter der Wirkung des deutschen Vorbildes. Sie diente zunächst nur zur Ausbildung von Lehrern für Niederelsaß, später sandte auch Oberelsaß seine Zöglinge dorthin. Alfred Pokrandt (38) bezeichnet als Beweis dafür, wie weit man damals die deutsche Überlegenheit in der Lehrerbildung anerkannte, den Umstand, daß man bald nach der Gründung sieben Zöglinge des Kursus zur deutschen Lehrerbildungsanstalt nach Rastatt gesandt habe, damit sie dort unter der Leitung des bekannten Seminardirektors Anton Ignaz Demeter (1773—1842) in den beiden letzten Monaten des Schuljahres sich in Pädagogik und Methodik vervollkommneten. Im darauffolgenden Jahre wurden die beiden tüchtigsten Schüler dorthin gesandt, um den ganzen zweijährigen Lehrgang mitzumachen und nachher als Lehrer der Pädagogik — und zwar der d e u t s c h e n pädagogischen Theorie, denn eine französische gab es ebensowenig wie ein französisches Lehrbuch der Pädagogik — am Seminar in Straßburg tätig zu sein. Und so finden wir denn auch in Straßburg und Metz in dem Unterrichtsplan der Seminare, ähnlich wie in Deutschland, mehrere Wochenstunden für Pädagogik zu einer Zeit angesetzt, da sie den Seminaren im übrigen Frankreich noch fremd waren. Im Osten Frankreichs war eben die Verbindung mit dem deutschen Nachbarn auch auf pädagogischem Gebiet enger und die Aufforderung, die vom deutschen Beispiel ausging, stärker als in den anderen Teilen Frankreichs. Das zeigt sich auch im Verhalten der Direktoren des Straßburger Seminars, z. B. des Direktors Meyer, der preußische und württembergische Volksschulen besucht, und dem des Direktors Charles Vivien, der die deutsche Sprache erlernte, um die „deutsche Pädagogik aus den Werken ihrer besten Meister kennenzulernen"; von ihm wissen wir ferner, daß er Grundgedanken der damaligen deutschen Pädagogik auch in seinem Amt vertrat (39).
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Das Straßburger Vorbild wirkte weiter. Am 1.Oktober 1822 wurde in dem Schlosse Nolfedingen bei Falkenberg von der Akademie Metz ein zweijähriges Seminar, in dessen Studiengang schon deutlich Kenntniserwerb (1. Jahr) und Einführung in die Kunst des Unterrichtes (2. Jahr) unterschieden wurden, errichtet. Dem dortigen Pädagogikunterricht wurde wegen des erwähnten Mangels an französischen pädagogischen Lehrbüchern das „Manuel de pédagogie et de méthodique générale ou Guide de l'instituteur primaire", die Obersetzung von Bernhard Overbergs „Anweisung zum zweckmäßigen Schulunterricht", Münster i. W . 1793, zugrunde gelegt. Wir haben in den vorangehenden Ausführungen ein Beispiel für die Vermittlertätigkeit, die das Elsaß für die deutsche Kultur nach Frankreich hin ausgeübt hat. Man hat nicht mit Unrecht gesagt, daß das Elsaß ungefähr zwei Jahrhunderte lang eine unmittelbare körperliche und geistige Vertretung Deutschlands und seines Einflusses in Frankreich gewesen sei, und hat sich, um zu zeigen, daß es auch Franzosen gab, die das erkannten, auf die folgenden Verse eines Franzosen der siebziger Jahre berufen: „La Provence est notre Italie, Le Béam est notre Espagne, La Normandie est notre Angleterre, l'Alsace était notre Allemagne." Nicht nur von Overberg, sondern auch von anderen deutschen Pädagogen, z. B. von Niemeyer (40) und Zerenner, wurden Bücher übersetzt, und es ist die Vermutung geäußert, aber bis jetzt noch nicht exakt auf ihre Stichhaltigkeit geprüft worden, daß sich auch die in der damaligen Zeit erscheinenden französischen methodischen Bücher, die manuels und guides, in weitgehendem Maße an deutsche Bücher anlehnten. Nach dem Vorbild Straßburgs entstanden auch die Normalschulen in Barle-Duc, Rouen, Dijon und Versailles (41). So ist es erklärlich, daß auch von französischer Seite die Bedeutung des deutschen Einflusses auf die französische Lehrerbildung dieser Zeit anerkannt wurde. So erhielt Demeter wegen seiner Mitwirkung an der Organisation der Straßburger Normalschule später — von Louis Philippe — das Kommandeurkreuz der Ehrenlegion. Ein wirklicher Anfang in der Verbesserung des französischen Volksschulwesens mit einer Verdreifachung des Etats und der Errichtung weiterer Lehrerbildungsanstalten wurde erst vom Minister Guernon-Ranville durch das Dekret vom 14. Februar 1830 gemacht, der aber durch die Julirevolution unterbrochen wurde. Dieser Anfang war aber auch sehr nötig, denn in Frankreich zählte man damals noch 13 984 Gemeinden ohne Schulen, und von seinen 30 Millionen Einwohnern waren damals, nach einer Feststellung des Temps vom 9. November 1829, die Völcker (42) zitiert, noch 20 Millionen Analphabeten. Die Reform wurde dann weiter geführt durch das Gesetz vom Jahre 1833. Von ihm sagt Völcker am gleichen Orte, daß es vollständig nach dem Muster der preußischen Volksschule aufgestellt worden sei. Zur Prüfung der Berechtigung dieses Urteils
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wollen wir uns mit der Entstehung und den wichtigsten Einzelheiten dieses Gesetzes näher beschäftigen. ü b e r den deutschen Einfluß auf die französische Schulreform der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts gibt es mehrere Untersuchungen. Walter Kegel hat ihn in seiner nur handgeschrieben vorliegenden Leipziger Dissertation „ D a s französische Volksschulgesetz von 1833 unter besonderer Berücksichtigung deutscher Einflüsse" und Alfred Pokrandt in seiner ungedruckten Kölner Dissertation „Der deutsche, insbesondere preußische Einfluß auf die Reform des französischen Primärschul- und Lehrerbildungswesens unter dem Julikönigtum" 1923 und in seinem 1925 erschienenen Buch „Deutsche Kultureinflüsse im Frankreich des 19. Jahrhunderts" behandelt. Hermann Josef O d y veröffentlichte 1933 in den Mainzer Abhandlungen zur Philosophie und Pädagogik „Studien zur Geschichte des französischen Bildungswesens und seiner Beziehungen zu Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" in 2 Bänden unter dem Obertitel „Victor Cousin" (Verlag Braun in Karlsruhe). Französische Forscher hat die Untersuchung dieses Abhängigkeitsverhältnisses bisher kaum beschäftigt. Louis Reynaud weiß z. B. in seinem 1930 in Paris erschienenen Werk „Français et Allemands. Histoire de leurs relations intellectuelles et sentimentales" nichts von dem deutschen Einfluß auf das französische Schulwesen. Bei seiner Besprechung des Buches der Frau von Staël über Deutschland berührt er ihren begeisterten Hinweis auf das deutsche Schulwesen überhaupt nicht. In Victor Cousin, dem bedeutenden und erfolgreichen Herold deutscher Pädagogik, sieht er nur den Vermittler deutscher Philosophie. Im VII. Kapitel seines Buches „Le règne de la Science allemande" finden sich keine Ausführungen über die Einwirkung der deutschen theoretischen Pädagogik in dieser Zeit. Dieses übersehen des deutschen pädagogischen Einflusses ist einigermaßen auffallend, da sich Reynaud zu der periodischen Begeisterung seiner Landsleute für die deutsche Kultur kritisch einstellt, sie als „Germanolatrie" (so lautet die Uberschrift des VIII. Kapitels seines Buches) bezeichnet. So hätte er also alle Belege für die französische Abhängigkeit von der deutschen Kultur begierig suchen und verwerten müssen. Sollte dieses übersehen eines doch historischen Tatbestandes darauf zurückzuführen sein, daß sich die Pädagogik in Frankreich keiner sonderlichen Achtung erfreute und noch keine Aufnahme in den Kreis der Universitätswissenschaften gefunden hatte? Vielleicht hat aber auch der empfindliche Nationalstolz des Franzosen hier wie in anderen Fällen die Beschäftigung mit der starken Abhängigkeit der französischen Schulreform im 4. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts von deutschen Anregungen erschwert bzw. verhindert. Daraus ist es auch wohl zu erklären, daß auch andere französische Autoren die Abhängigkeit von deutscher Vorlage gar nicht sehen und sie auch dort bestreiten, wo sie eigentlich unbestreitbar ist. So behauptet z. B. Simon von dem französischen Gesetz von 1833, mit dessen starker Abhängigkeit von PreußenDeutschland wir uns im Nachfolgenden eingehend beschäftigen werden: „ O n peut dire qu'il (Guizot) le (das Gesetz) tira du néant."
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Die französische Schulreform der dreißiger Jahre wurde durch den Minister Guizot in Angriff genommen und von ihm auch, begünstigt durgh seine für französische Verhältnisse lange Ministerschaft (von Oktober 1832 bis April 1837 mit zwei kurzen Unterbrechungen), zum Teil durchgeführt. Ihr waren sorgfältige Vorbereitungen vorausgegangen. Um ausländische Erfahrungen nutzen zu können, waren zwei Mitglieder des Conseil, Cuvier und Cousin, auf eine pädagogische. Studienreise nach Holland und Deutschland geschickt worden, über die beide in Rapports berichteten. Cousin hatte auf seiner Reise auch Volksschulen und Lehrerseminare (Potsdam und Weißenfels) besucht und sich mit den für sie geltenden Gesetzen und Verordnungen beschäftigt. Besonders der bereits erwähnte Süvernsche Schulgesetzentwurf hatte ihn stark beeindruckt. Er bezeichnet ihn zwar, als er zum ersten Mal von ihm spricht, als „projet d'une loi", tut aber später so, als beruhe auf ihm das ganze preußische Schulwesen. Es ist nicht klar, ob er übersehen hat, daß dieser Entwurf nicht Gesetz wurde, oder ob er annahm, daß er, obwohl er bloßer Entwurf blieb, der preußischen Schulverwaltung in weitem Umfange als Richtschnur diente, was nach Pokrandt nicht unrichtig gewesen wäre. Im ersteren Falle hätte Cousin sich getäuscht und gleichzeitig seine Leser. In der amerikanischen Ausgabe seines Reports heißt es auf S. 25 „the legislative project of 1819, whidi has the force of law,and regulatesthepresent order of things throughout the country". Und es wird so oft von dem „law of 1819" gesprochen, daß der amerikanische Leser keinen Augenblick daran zweifeln konnte, daß es sich hier um ein Gesetz handelte, das in Kraft war. Der amerikanische Pädagoge war daher sehr überrascht, wenn er auf einer späteren Studienreise das Gegenteil feststellte. Aber diese Täuschung Cousins war für ihn und die pädagogische Entwicklung seines Vaterlandes im höchsten Grade produktiv. Denn er bezieht sich bei den Vorschlägen seines Berichtes immer wieder auf das vermeintliche Gesetz. Auch in der Diskussion des späteren französischen Schulgesetzes, das Guizot der Deputiertenkammer am 2. Januar 1833 vorlegte, beraft man sich sowohl auf das preußische Schulwesen wie den Süvernschen Entwurf, und das französische Gesetz lehnt sich inhaltlich und mitunter sogar im Wortlaut an den letzteren an. Das ist nicht verwunderlich; denn der eigentliche Urheber des französischen Gesetzes war nicht der Minister Guizot, sondern — wie wir aus vertrauten Briefen Cousins z. B. an den deutschen Philosophen Schelling wissen — Cousin selbst, obwohl er natürlich die Autorschaft des von seinem vorgesetzten Minister vorgelegten Gesetzes öffentlich nicht in Anspruch nahm (43). Cousin war aber auch auf pädagogischem Gebiet, ebenso wie in der Philosophie, kein schöpferischer Denker, sondern ein ausgesprochener Eklektiker, der das deutsche Schulwesen und die deutsche Schulgesetzgebung nur unter dem Gesichtspunkt studierte, was sich davon zum Import nach Frankreich eignete. Bei dieser Haltung ist die weitgehende Ubereinstimmung zwischen dem von Cousin jenseits des Rheins Erfahrenen und seinen späteren Forderungen nicht verwunderlich. Der Einfluß dieser seiner preußischen Erfahrungen
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"beschränkte sich übrigens nidit auf den französischen Gesetzentwurf, der im Juni 1833 Gesetz wurde, sondern war audi in den nachfolgenden Jahren in den Dekreten wirksam, die zur Ausfüllung des im Gesetz gegebenen Umrisses erlassen wurden. Pokrandt (44) stellt die Gründe dafür zusammen, daß Cousin auch für diese fortführende Gesetzgebung unter den wechselnden Ministern von gestaltendem Einfluß blieb. Cousin war Mitglied des siebenköpfigen, fast unumschränkten Königlichen Rates für den öffentlichen Unterricht und in ihm als dessen Sekretär und wegen seiner Kenntnis des deutschen Schulwesens von überragendem Einfluß, den er unter den sich ablösenden Ministern, die oft durch andere politische Sorgen in Anspruch genommen wurden und denen meistens die zum persönlichen Eingreifen erforderlichen schultechnischen Kenntnisse fehlten, behauptete. Natürlich ist das französische Gesetz von 1833 nicht eine bloße Übertragung des preußischen Entwurfes. Es finden sich nur weitgehende Übereinstimmungen im kleinen wie im großen. An einigen Stellen weicht es allerdings auffallend von seinem Vorbild ab. Aber diese Abweichungen sind leicht zu erklären. So wurde in ihm die Schulpflicht, weil man in ihr — wie wir schon darlegten— einen Angriff auf die Freiheit der Staatsbürger sah, nicht ausgesprochen, obwohl Cousin und eine Minderheit mit Berufung auf das preußische Vorbild dafür eingetreten waren. Pokrandt (45) weist übrigens darauf hin, daß auch bei den späteren Forderungen der Einführung des Schulzwanges in den Jahren 1835, 1836, 1837 und 1845 „die Wirkung des deutschen Vorbildes klar zu erkennen" ist. Ein anderer wesentlicher Unterschied zwischen dem preußischen Vorbild und der französischen Gesetzgebung zeigt sich im Lehrplan der Seminare, in dem in Frankreich der in Preußen angesetzte Unterricht in Pädagogik fehlte, ja fehlen mußte, weil es in Frankreich an Lehrern und Lehrbüchern für diesen Unterricht mangelte. Aber was besagen diese Unterschiede gegenüber den vielen Gemeinsamkeiten, die wir im folgenden im Anschluß an die Untersuchungsergebnisse von Kegel und Pokrandt nur summarisch darstellen können. Diese Gemeinsamkeiten zeigen sich sowohl in der äußeren wie der inneren Organisation der Volksschule und des Lehrerseminars. Bei ihrer Entstehung ist auf französischer Seite meistens das deutsche Vorbild auch dann wirksam gewesen, wenn die betreffenden Einzelzüge in der Geschichte des französischen Schulwesens mitbegründet liegen. Beginnen wir mit dem Äußeren: Um den Bau von Schulhäusern von der Unerfahrenheit und der unangebrachten Sparsamkeit der Gemeinden unabhängig zu machen, werden bei den Departementsbehörden Plane für ländliche Schulen in ländlichen Gemeinden mit Kostenanschlägen niedergelegt, wie es auch § 46 des Süvernschen Entwurfes vorsah und wie es in Preußen seit 1821 gehandhabt wurde (46). Die Gründung von Schulen durch die Städte und auf dem Lande durch eine Gemeinde oder mehrere gemeinsam ist im preußischen Entwurf und im französischen Gesetz ausgesprodien. Die Art der Aufbringung der Schulunterhal-
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tungsmittel ist in beiden fast dieselbe (47). Diese Übereinstimmung ist nicht zufällig. Während der Beratung des Gesetzes gab Cousin noch die kleine Schrift „État de l'instruction primaire dans le Royaume de Prusse" heraus (48). Auch die in Frankreich damals neu errichteten Schulbehörden (zwei Komitees als Gemeinde- und Kreisschulvorstand) sind — wie sich aus ihrer Beratung ergibt — nach preußischem Vorbild geschaffen (49). Die Aufgaben des Kreisschulvorstandes entsprechen denen des Kreisschulinspektors und des Regierungsrates in Preußen (50). Auch die französischen Bestimmungen über das Schulgeld haben ihre Wurzeln im deutschen Norden (51). Die Gliederung der Schulen nach dem Alter der Schüler und den Lehrgegenständen in drei Abteilungen sowie die Auswahl der Lehrgegenstände wurden durch das preußisch-deutsche Vorbild mitbewirkt. Vollständig neu ist für Frankreich der Schulgesangunterricht. Und da Cousin, wie sein Bericht zeigt, gerade durch die Pflege der Musik in den deutschen Schulen so stark beeindruckt worden war, ist der Zusammenhang mit dem deutschen Vorbild offensichtlich. Auch die Bestimmungen über den Religionsunterricht in den französischen Schulen (im Statut vom 25. April 1834) entsprechen dem deutschen Vorbild. Die Vorschrift, daß von den Schülern einer Schulklasse die gleichen Schulbücher benutzt werden sollen, die für Frankreich, wo bisher auch in der Schule Einzel- und nicht Klassenunterricht erteilt wurde, neu war, wie auch die Forderung, daß die Lehr- und Lernbücher vor ihrer Einführung behördlicher Genehmigung bedürfen, fanden in Preußen ihr Gegenstück (52). Und mit den jetzt in Frankreich eingeführten allgemeinen Schulexamen (examens généraux) korrespondieren die im Süvernschen Entwurf vorgesehenen (§§ 14 und 21) Versetzungs- und jährlich einmal stattfindenden öffentlichen Prüfungen. Auch das für Frankreich neue Abgangszeugnis hatte in Preußen seine Vorlage, ebenso wie die vom Statut verlangte Führung einer täglichen Schulbesuchsliste (53). Die neue Verordnung über die Dauer der Ferien ist dem ähnlich, was das Regulativ vom 15. Mai 1821, das Cousin in seinen Bericht aufgenommen hatte, für die Schulen des Großherzogtums SachsenWeimar vorschrieb. Noch auffallender als bei der französischen Volksschule ist die gestaltende Einwirkung der deutschen Einrichtungen bei den französischen Lehrerbildungsanstalten. Das wird deutlich schon bei dem Reglement für die Volksschullehrerseminare vom 14. Juli 1832 und femer in dem Gesetz vom 28. Juni 1833, das den durch das Reglement geschaffenen Zustand als den normalen erklärte. Den Lehrerseminaren hatte Cousin auf seiner Deutschlandreise seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Einige (Potsdam und Weißenfels) hatte er besucht, sich über das dort Gesehene hochbefriedigt geäußert und in seinem Bericht für die Errichtung der französischen Seminare eingehende Vorschläge gemacht. Von jetzt an wurden Normalschulen, die sogenannten écoles normales primaires, statt der bisher üblichen N o r m a l k l a s s e n eingerichtet. Damals fiel aus französischem Munde das Wort: „En France, le système prussien est consacré par la loi." (54) Es handelte sich hier um einen Sieg des preußischen Systems mit
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seinen selbständigen Lehrerseminaren über das holländische, das Lehrerbildungsstätten nur als Anhängsel von Volks- oder Höheren Schulen kannte, und — personal gesehen — um einen Sieg Cousins über Cuvier, der ebenfalls Mitglied des Königlichen Rates für den öffentlichen Unterricht war und das System der Normalklassen in Holland kennengelernt, in seinem Bericht „Rapports sur l'établissement d'instruction publique des départements au delà des Alpes sur ceux de la Hollande et sur ceux de la basse Allemagne", Paris, beschrieben und für die Schulgesetzgebung von 1833 vertreten hatte. Aber die Übereinstimmung zwischen der neuen französischen Lehrerbildung und der preußischen reicht weiter, geht bis in viele Einzelheiten. So finden wir den deutschen ähnliche Bestimmungen über die Seminaraufnahme- und -entlassungsprüfung und die Lehrerprüfung in Frankreich. Auch stellte das neue Gesetz den französischen Seminaren nicht nur die Aufgabe der Lehrervorbildung, sondern auch die der Lehrerfortbildung, eine Doppelaufgabe, die auch in Preußen den Seminaren übertragen worden war. Die für die Lösung der zweiten Aufgabe in Preußen bestehenden Einrichtungen, Teilnahme der Lehrer des Seminarortes am Seminarunterricht während ihrer Ferien, Einberufung von Lehrern zur Teilnahme an durch das Seminar veranstalteten Kursen und Bezirkskonferenzen, hatten in Preußen den Beifall Cousins gefunden und fanden nun auch Eingang in die französischen Normalschulen. Besonders auffällig ist die Abhängigkeit der neugeschaffenen Seminarkonferenzen vom preußischen Muster. Abs. 1 des Art. 4 des französischen Reglements zeigt eine solche Übereinstimmung mit Abs. 1 des § 70 des Süvernschen Entwurfes, der sich mit dem Arbeitsprogramm der Konferenzen befaßt, „daß von einem Zufall nicht die Rede sein kann." (55) Die dargestellten Übereinstimmungen, deren Zahl sich noch vermehren ließe, mögen zum Nachweis dafür genügen, daß die französische Schulgesetzgebung der dreißiger Jahre stark von der deutschen bzw. preußischen beeinflußt war. übrigens erstreckt sich diese Einflußnahme nicht nur auf die einzelnen gesetzlichen Bestimmungen, sondern in bescheidenem Umfang auch auf die geistigen Grundlagen der Schulgesetzgebung. Statt der „utilité", in der im allgemeinen alle französischen Unterrichtsmaßnahmen ihre Begründung finden, taucht vereinzelt der Gedanke der allgemeinen Menschenbildung Pestalozzischer Herkunft auf, das Ideal harmonischer Entfaltung aller Kräfte und Fähigkeiten, die dem preußischen Schulwesen zugrunde liegen, besonders deutlich z. B. in der Begründung des Gesangunterrichtes. Diese starke Anlehnung an die preußische pädagogische Theorie und Wirklichkeit hatte eine wohltätige Folge für die französische Schulgesetzgebung jener Zeit, die besonders hervorgehoben zu werden verdient. Für die französische Schulgesetzgebung der vorangegangenen Jahrzehnte, namentlich der Revolutionsjahre, war charakteristisch, daß sie mitunter (z. B. in Art. 7 des Gesetzentwurfes vom 20. und 21. April 1792, in Art. 7 vom 20. Dezember und in Art. 4 vom 24. Dezember 1792) recht utopische Forderungen aufgestellt
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hatte, die dann hinterher natürlich auch unerfüllt blieben. Cousin kannte diese französische Schwäche und zitterte, wie Pokrandt bemerkt, „bei dem Gedanken, daß man wieder Hirngespinsten nachjagen und den Blick für das Mögliche verlieren werde" ( 5 6 ) . Durch den Anschluß an die reale preußische Gesetzgebung bzw. an die bereits bewährten deutschen pädagogischen Einrichtungen wurde das Utopische von vornherein vermieden, und wo trotzdem gegen eine Einzelheit ein dahingehender Vorwurf erhoben wurde, konnte er leicht durch den Hinweis auf die deutsche bzw. preußische Praxis entkräftet werden. In Preußen hatte man übrigens den Bericht mit Interesse gelesen und die von Cousin maßgeblich geleitete pädagogische Reformarbeit in Frankreich mit Aufmerksamkeit verfolgt*). Selbst der König interessierte sich dafür und ließ sich von Johannes Schulze, dem damaligen Oberregierungsrat und Vortragenden Rat im preußischen Kultusministerium, der Cousin bei seinen deutschen pädagogischen Studien unterstützt hatte und mit ihm von 1 8 3 2 bis 1840 in regem Briefwechsel stand, darüber Bericht erstatten. 1 8 3 2 wurde Cousin zum Dank für die objektive Wertung und hohe Würdigung des deutschen Schulwesens zum Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften gewählt. Interessant ist, daß der Rapport Cousins sogar auf den deutschen pädagogischen Raum nicht ohne Rückwirkung blieb. Es ist hier nicht nur und nicht in erster Linie daran gedacht, daß das von Cousin in seinem weit verbreiteten Bericht — gleichsam vor den Ohren Europas und Nordamerikas — gespendete Lob der deutschen und zumal der preußischen Schulgesetzgebung und der preußischen Volksschule und des Lehrerseminars die Behörden, vom Minister an, und die Leiter und Lehrer der von Cousin besuchten und gepriesenen Schulen in ihrer bisherigen Haltung bestärken und ermutigen mußte, auf dem bisherigen Wege weiterzuschreiten. Obwohl diese Wirkung zweifellos eingetreten ist, wenn sie vielleicht auch durch deutsche Stimmen, wie die des Pädagogen Diesterweg, die behaupteten, Cousin habe vorhandene Schwächen des preußischen Systems übersehen und dieses überhaupt zu günstig beurteilt, gehemmt worden sind. Hier ist vielmehr daran gedacht, daß Cousins einschlägige Bemerkungen bewirkten, daß der in Preußen bestehende Plan zur Errichtung eines Seminars zur Ausbildung von Lehrem für Mathematik, Physik und Chemie mit mehr Nachdruck betrieben wurde. Zu vollständiger praktischer Auswirkung kam die unter preußischem Einfluß stehende französische Schulgesetzgebung der dreißiger Jahre nicht. In den 1334 Jahren, welche die Juliregierung sich nach dem Rücktritt Guizots noch am Ruder hielt, wechselte das Unterrichtsministerium sehr oft. Und wenn auch unter seinen Inhabern einige berühmte und für die Schulreform tüchtige M ä n ner waren, wie Villemain, Salvandy und sogar Cousin selbst, so war ihre Amtsdauer zu kurz, als daß gegen die immer vorhandenen Widerstände größere * ) Johannes Schulze besprach den 1. Teil des Cousinschen Berichtes ausführlich in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik, S t u t t g a r t und Tübingen 1832, N r . 61 und 6 2 , und Diesterweg in den Rheinischen Blättern 6, 2 2 4 .
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Fortschritte erzielt werden konnten. „Die Volksschule blieb auf dem Standpunkt von 1833." (57) Zu einem zweiten größeren Einfluß Deutschlands auf das französische Volksschulwesen, der neben den gekennzeichneten der dreißiger Jahre gestellt zu werden verdient, kam es erst nach den für die Deutschen siegreichen Kriegen von 1866 und 1870/71, wenn auch die Einwirkungen von jenseits des Rheines in den dazwischenliegenden Jahrzehnten nicht ganz fehlen. Die fortschrittlichen französischen Pädagogen ließen in der ganzen Zeit das deutsche bzw. preußische Schulwesen nicht aus den Augen. Man braucht sich zum Beweise dessen nur das anfangs der vierziger Jahre erschienene Werk von Théodore Fritz „Esquisse d'un système complet d'instruction et d'éducation et de leur histoire" anzusehen, das so reich ist an Hinweisen auf das deutsche Vorbild und an deutschen Zitaten, daß der Verfasser deswegen Vorwürfe vàn seinen Landsleuten erwartet und sich dagegen durch Ausführungen im Vorwort zu schützen sucht. Und von welcher Hochachtung gegenüber dem pädagogischen Deutschland bzw. Preußen ist es erfüllt. Im III. Bande S. 659 schreibt der Verfasser: „De tous les pays de l'Europe l'Allemagne est sans contredit celui qui depuis des siècles, mais principalement de nos jours, se distingue le plus sous le rapport pédagogique, celui où les théoréticiens se trouvent en plus grand nombre; où tous les grands principes de pédagogie ont été examinés et débattus à fond; où en même temps, la partie pratique de l'ducation a reçu la plus grande extension, et obtenu les résultats les plus satisfaisants." Und einige Seiten weiter heißt es von Preußen: „De nos jours la Prusse est reconnue comme le pays classique de l'instruction publique, et elle mérite cet honneur sous plus d'un rapport, bien que ses institutions ne soient pas encore ce qu'elles pourraient être" (S. 6 6 8 ) . Wenn diese geistige Einstellung gegenüber dem pädagogischen Deutschland von weiteren Kreisen geteilt wurde, dann mußte es auch während dieser Zeit Kräfteströme von Deutschland nach Frankreich geben, wenn sie und ihre Wirkungen auch nicht immer deutlich nachweisbar sind. Aber an manchen Stellen lassen sie sich doch sehr wahrscheinlich machen. Am 1. Juni 1848 brachte z. B. Camot, der ein genauer Kenner und Bewunderer des deutschen Schulwesens war, einen Gesetzentwurf ein, nach dem der Volksschulunterricht unentgeltlich und für beide Geschlechter obligatorisch sein sollte, der aber wegen des großen Widerstandes, auf den er stieß, zurüdegezogen und nicht Gesetz wurde. In dem darauffolgenden Jahrzehnt war ein Vermittler deutscher Pädagogik nach Frankreich, der Generalinspektor des Unterrichtswesens Eugène Rendu, der eine viermonatige pädagogische Studienreise durch Norddeutschland unternahm, über deren Ergebnisse er in seiner 1855 erschienenen Schrift „De l'éducation populaire dans l'Allemagne du Nord et de ses rapports avec les doctrines philosophiques et religieuses" (58) berichtete. In ihr brachte der Verfasser unter anderem die drei preußischen Regulative vom 1., 1. und 3. Oktober 1854, einige darauf bezügliche Regierungsverfügungen sowie die Statuten einiger preu-
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ßischer Seminare zum Abdruck. Aber er begnügt sidi nidit mit bloßer Besdireibung des Schulwesens, nicht mit einer „statistique sèdie et morte", sondern bemüht sich, immer mit den tragenden Kräften der preußischen Schulentwicklung in Zusammenhang zu bleiben und den Anteil des Staates, der Kirche und der pädagogichen Wissenschaft, die es in Frankreich noch nicht gab, darzustellen. Im 4. Teil (S. 329—373) zieht er dann aus dem preußischen Beispiel, neben das er hier und da das ihm ebenfalls aus eigener Anschauung bekannte englische stellt, praktische Folgerungen für die französische Schulreform. So forderte er unter dem Einfluß des preußischen Vorbildes Vermehrung der Volksschulen, Einführung und wirkliche Durchführung des Schulzwangs und Reformen an den Lehrerbildungsanstalten, wie strenge Anforderungen bei der Zulassung zur école normale (330) und Erhöhung des Alters für die Zulassung zur Lehrerprüfung. Ferner verlangte er, daß in den französischen Lehrerbildungsanstalten wie in den preußischen (sous un nom très modeste — principes d'éducation, tenue de l'école) Pädagogik, Schulkunde gelehrt wurde. 1857 erschien das dafür erforderliche Buch : Manuel de renseignement primaire, eine Nachbildung der deutschen Schulkunde von Bormann. Ferner forderte Rendu, daß in die Seminarlehrpläne Unterricht in Acker- und Gartenbau (S. 341 f.), der in den preußischen Seminaren bereits seit 1842 erteilt wurde, Aufnahme finden sollte, und daß die Musik vom fakultativen zum obligatorischen Gegenstand erhöht werde (S. 342), was sie in Preußen war. Außerdem sollte die Kommission, welche die Lehrerprüfungen abhielt, statt wie bisher aus Gelehrten, die für die Bedürfnisse der Volksschule kein Verständnis besaßen, wie in Preußen aus Männern der Schulpraxis gebildet werden. Im siebten Jahrzehnt erschienen noch mehrere andere französische Bücher über das deutsche Schulwesen. Das des General Morin (Rapport sur l'organisation de l'enseignement professionel, Paris 1865) beschäftigte sich nicht mit der Volksschule, wohl aber die beiden Bücher von Baudouin (Rapport sur l'état actuel de l'enseignement spécial et de l'enseignement primaire en Belgique, en Allemagne et en Suisse, Paris 1865) und von Frédéric Mounier (L'instruction populaire en Allemagne, en Suisse, et dans les pays scandinaves, Paris 1866). Trotz dieser und ähnlicher Literatur und der durch sie genährten Bemühungen kam das französische Volksschulwesen in dieser Zeit nicht recht vorwärts und blieb hinter dem preußischen weit zurück. Dafür ist ein Symptom die immer noch hohe Zahl der Analphabeten. Nach statistischen Zusammenstellungen von 1866 betrug die Zahl der männlichen Analphabeten — das weibliche Geschlecht stand in dieser Beziehung noch viel schlechter — in 21 Departements bis 25%, in 45 Departements 25—50% und in 20 Departements 50—75% (59). Der damalige Zustand des Volksschulwesens wurde durch mehrere Publikationen den Verantwortlichen und dem weiteren Kreis der Gebildeten vor Augen geführt, z. B. durch Charles Robert, „De l'ignorance des populations ouvrières et rurales, Montbéliard, 1863 und durch seine Schrift „Plaintes et voeux", Paris 1864, die sich mit der Wohnungsnot der französischen Lehrer 191
beschäftigte. Hierher gehört auch Jules Simons berühmtes Buch „L'école", das die Absicht verfolgte, das ganze Volk für die Schulfrage zu begeistern und eine öffentliche Meinung zu bilden, welche die Einführung des Schulzwanges forderte und von den Gemeinden verlangte, daß sie auch den ärmeren Volksschichten den Schulbesuch ermöglichten. In der Begründung dieser Forderungen wurden auch nationale Motive angeschlagen. Bei Simon z. B. in seinem oft zitierten Ausspruch: „Das Volk, das die besten Schulen hat, ist das erste Volk; und wenn es dasselbe heute noch nicht ist, so wird es das morgen sein." In der Folgezeit, Ende des sechsten und Anfang des siebenten Jahrzehnts, gewann die nationale Begründung der pädagogischen Reformforderungen durch die zwei siegreichen Kriege der Deutschen von 1866 und 1870/71 gewaltig an Durchschlagskraft. Die bereits an anderer Stelle geschilderte Auffassung, daß die deutsche Schule und der deutsche Lehrer durch ihre erfolgreiche Erziehungsarbeit diese großen kriegerischen Erfolge erst möglich gemacht hätten, fand auch Eingang in die französische öffentliche Meinung. Von da, dem Gedanken der Abhängigkeit der Wehrhaftigkeit des Volkes von seiner Bildung, war es dann nicht mehr weit zu der Überzeugung, daß eine Revanche für die französische Niederlage von 1870/71 und die Wiedergewinnung der verlorenen Provinzen eine Erhöhung der französischen Volksbildung und als deren Voraussetzung eine Reform des französischen Volksschulwesens nach dem Vorbild des siegreichen Landes voraussetze. Als Anwalt französischer Schulreform nach preußischem Muster trat damals Michel Bréal mit seinem Buch „Quelques mots sur l'instruction publique en France", Paris 1872, hervor. Der Verfasser hat sich zwar nicht erst nach dem Kriege mit dem preußischen Schulwesen beschäftigt. Aber ohne den Krieg würde er mit den Ergebnissen seiner vergleichenden pädagogischen Studien wohl nicht an die Öffentlichkeit getreten sein. Aber jetzt nach der französischen Niederlage schien ihm dafür der richtige Zeitpunkt gekommen. Bréal tritt grundsätzlich für das Studium der Kultur, auch der Pädagogik, des Auslandes ein. „Ii est impossible, qu'un seul peuple ait par lui-même l'idée de tous les progrès qui se sont présentés à l'esprit des autres nations" (S. 16) „II faudrait nous mettre au courant des progrès réalisés à l'étranger" (S. 136). Daher regt er die Normalschuldirektoren an, in ihren Ferien vorbildliche schulische Einrichtungen jenseits der Grenze zu besichtigen (S. 137). Unter den Forderungen, die Bréal mit Berufung auf Preußen erhebt, sind außer den üblichen nach Einführung der Schulpflicht und der Schulgeldfreiheit auch einige seltener gehörte. So beruft er sich z. B. für die Methode des ersten Leseunterrichts auf die preußische Volksschule unter Hinweis auf die deutsche Fibel, deren methodische Behandlung er im Anschluß an Baudouins erwähnten Rapport (S. 82) beschreibt. Weiter forderte er, daß die Jugend durch entsprechende Schullektüre in die nationale Dichtung eingeführt werde, wie das in der deutschen Schule, in denen Gedichtsammlungen für die Hand der Schüler im Gebrauch waren, geschah. Zwar gab es damals auch schon in der französischen Schule „livres de lecture 192
courante", die aber nach seiner Ansicht weit hinter den meisten derartigen deutschen Büchern zurückstanden (S. 4 1 ) . Mit Bewunderung wies Bréal auch auf die deutschen pädagogischen Zeitschriften hin. Es gab zwar damals auch einige solche in Frankreich. „Mais — so sagt Bréal — nous sommes encore loin des journaux pédagogiques d'outre-Rhin." Er begründet das durch einen Ver-, gleich ihrer Inhalte. Auch beklagt er die in Frankreich bestehende Kluft zwischen l'école normale und Höherer Schule und weist auf Deutschland hin, wo Lehrer Höherer Schulen bereitwillig die Direktion eines Lehrerseminars übernähmen, während man in Frankreich einen solchen Übergang „comme une disgrâce ou une défaillance" betrachten würde (S. 4 1 ) . Er ist ferner der Ansicht, daß man von den Eltern kein Schulgeld fordern könne, wenn man sie im Interesse der Landesverteidigung zum Schulbesuch ihrer Kinder zwinge. Dieser Gedanke wird übrigens auch in der privaten Unterhaltung und in der Presse und in der Kammer geäußert ( 6 0 ) . Durch diese und ähnliche nationale Motivationen erhielten die Forderungen der gratuité und der obligation größere Kraft als je zuvor. So entwickelte sich in Frankreich nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Kriege von 1870/71 eine Art von Nationalbewegung für die Hebung der Volksbildung, wie sie in Preußen nach den Unglücksjahren von 1 8 0 6 / 0 7 entstanden war. In ihrem Zuge kam es endlich zur Durchführung einiger der lang geforderten Reformen. Nachdem das Gesetz vom 10. April 1867 in Artikel 8 festgelegt hatte, wie die Kosten für die Freischulen aufgebracht werden sollten, bestimmte das Gesetz vom 16. Juni 1881 die Schulgeldfreiheit für all'e öffentlichen Primärschulen, und am 28. März 1882 wurde der Schulzwang definitiv angeordnet. In der gleichen Zeit wurde die Zahl der Seminare vermehrt, ihr Etat vergrößert und ihr Ansehen durch die Bestimmung erhöht, daß nur ihre Absolventen an öffentlichen Volksschulen angestellt werden konnten. Wenn so die Dritte Republik endlich das verwirklichte, was die Erste und Zweite vergebens erstrebt hatten, so war Deutschland daran in zweifacher Beziehung mitbeteiligt : 1. durch sein für die Franzosen vorbildliches deutsches Schulwesen, in dem das von ihnen Erstrebte schon seit langem verwirklicht war, und 1. durch seine großen Siege auf den Schlachtfeldern. Damit können wir die Darstellung des deutschen Einflusses auf die Entwicklung des französischen Volkssdiul- und Lehrerbildungswesens abschließen. Nicht als ob ein solcher nachher gar nicht mehr bestanden hätte. In Einzelheiten trat er hin und wieder, sogar auch nodi nach 1900, deutlich in die Erscheinung, wie z. B. 1907, als die deutsche Waldschulbewegung in Frankreich eine ähnliche Bewegung hervorbrachte. Die erste école de plein air in Frankreich wurde auf den Vorschlag Herriots nach dem Muster der Charlottenburger Waldschule begründet ( 6 1 ) . Diese bildete dann den Anstoß und das Vorbild für eine Reihe weiterer Gründungen in verschiedenen Departements, die sich zur „Ligue française pour l'éducation en plein air" zusammenschlössen. Aber mit fortschreitender Zeit wurde der deutsche Einfluß doch geringer, und wo er bestand, blieb er apokryph. Das Beispiel Deutschlands wurde im pädagogischen Bezirk kaum 13
Schneider,
Pädagogik.
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noch zitiert. Das zunehmende französische Ressentiment gegen Deutschland machte den Willen, vom westlichen Nadibam,, von seiner pädagogischen Theorie und seinen Sdiulen zu lernen, schwer oder unmöglich. Bis dann der Weltkrieg von 1914—18 die kulturellen Fäden zwischen beiden Ländern vollkommen zerriß. Wenn wir nun dazu übergehen, den Einfluß der deutschen bzw. preußischen Volksschule und des preußischen Lehrerseminars auf England im 19. Jahrhundert darzustellen, so können wir hier mit der Hervorhebung zweier grundlegender Tatsachen beginnen, die wir auch schon bei der Untersuchung der Abhängigkeit des französischen vom deutschen Schulwesen feststellen konnten: 1. England bleibt während des ganzen Jahrhunderts in der Entwicklung seines Volksschul- und Lehrerbildungswesens hinter Deutschland zurück; 2. der deutsche Vorsprung war vielen Engländern bekannt und wirkte daher anregend auf die englische pädagogische Entwicklung. Der erste Sachverhalt kann in Kürze durch eine historische Tabelle veranschaulicht werden, welche die Jahreszahlen der wichtigsten Fortschritte im englischen Volksschul- und Lehrerbildungswesen enthält und ihnen die entsprechenden deutschen bzw. preußischen Daten gegenüberstellt. England 1833 Die erste Staatsbeihilfe seit 1649 in Höhe von 20000 S.;
1838 Errichtung der ersten obersten Schulbehörde, des Committee of the Privy Council of Education ; 1900 Errichtung eines Board of Education, eines Unterrichtsministeriums; 1840 erfolgt die Gründung des ersten Lehrerseminars durch Kay Shuttleworth als Privatseminar in Battersea bei London;
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Preußen 1737 Friedrich Wilhelm I. begründet den sog. mons pietatis von 50000 Talern für Schulzwecke; 1772 und Friedrich der Große gibt zur Deckung der Ausgaben für die neuen Schulen in Westpreußen ein Kapital von 600000 M . ; 1787 Begründung des Oberschulkollegiums in Berlin durch Instruktion vom 22. Februar; 1817 das „Ministerium der geistlichen U n t e r r i c h t s - und Medizinalangelegenheiten", das sog. Kultusministerium, wird begründet; 1742 errichtet Steinmetz zu Stettiri, 1748 Hecker in Berlin ein Lehrerseminar. Weiter entstanden Seminare: 1778 in Halberstadt,
England
1870 erließ der Minister William Forster ein Gesetz, das alle Gemeinden verpflichtete, Schulen in genügender Zahl zu unterhalten; 1870 wurde das erste Lehrerinnenseminar, das Maria Grey Training College, errichtet; 1876 indirekte Einführung der allgemeinen , Schulpflicht durch den Lord Sandon's Act, der die berufliche Beschäftigung unterzehnjähriger Kinder verbot und die der überzehnjährigen vom Vorzeigen eines Schulzeugnisses abhängig machte; 1880 wurde der Schulzwang durch Mundella's Act gesetzlich sanktioniert; 1891 wird das Schulgeld für die armen Kinder vom Staat übernommen.
Preußen 1780 in Gotha, 1781 in Kassel und Detmold; 1840 besaß Preußen bereits 46 Seminare mit 2721 Seminaristen; 1736 wurde das erste preußische Schulgesetz, ein Schulgründungsplan, genannt „principia regulativa", zur Sicherung der erforderlichen Schulen erlassen; 1832 wurden die ersten Lehrerinnenseminare in Münster und in Berlin errichtet; 1717 wurde die allgemeine Schulpflicht in Preußen durch Verordnung vom 28. September eingeführt.
1850 Die Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 enthält die Bestimmung: „In der öffentlichen Volksschule wird der Unterricht unentgeltlich erteilt", die allerdings nodi länger umstritten war. Dagegen wurde die Schulgeldfreiheit der ärmeren Kinder vor und nachher angeordnet und allmählich durchgeführt.
Der deutsche Leser wird die vorstehende historische Übersicht mit einem gewissen nationalen Stolz lesen. Ergibt sich aus ihr doch, daß Preußen in der Gesetzgebung für das Volksschulwesen und in der Lehrerbildung England um 50 Jahre, in manchen Einzelheiten um 100, ja 150 Jahre voraus war. Damit war natürlich auch in der Wirklichkeit ein Zurückbleiben der englischen Volks- und Lehrerbildung hinter der preußischen verbunden, das sich zwar im Laufe der Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts verringerte, aber trotzdem noch bis an das Ende unserer Berichtszeit, bis in das 3. Jahrzehnt des
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20. Jahrhunderts, leicht erkennbar war. Dibelius weist darauf hin, daß noch 1920 von den 134000 Lehrkräften an englischen Volksschulen 30000 keinerlei Prüfung bestanden hatten, und daß von den Geprüften ein erheblicher Teil nicht durch eine Lehrerbildungsanstalt gegangen war, sondern sich nur auf eine mehr oder weniger unsystematische Art, häufig nur durch brieflichen Fernunterricht, auf das Staatsexamen vorbereitet hatte, durch dessen Ablegung man vom Unterrichtsministerium das Lehrerzeugnis, das Teachers's Certificat, erlangte. In London und in Schottland waren zwar die ungeschulten Lehrkräfte fast verschwunden, aber in den Grafschaften und in den schlechter gestellten Kirchenschulen bildeten sie 1920 noch die Mehrheit. Das Monitorensystem lebte sogar noch weiter in der Gestalt der Pupilteacher (Schülerlehrer), und auch der beste Typus englischer Volksschullehrer hatte keine Bildung empfangen, die der des deutschen Volksschullehrers gleichwertig war. Und wie der Lehrer, so die Schule: die Lehrziele der Volksschule waren, zumal auf dem Lande, sehr bescheiden und hielten zu keiner Zeit einen Vergleich mit denen der deutschen Volksschule aus. Die Zahl der Analphabeten war verhältnismäßig groß. Der deutsche bzw. preußische Vorsprung im Volksschul- und Lehrerbildungswesen war in England das ganze Jahrhundert hindurch bekannt. Die Kenntnis der Lage des deutschen Schulwesens kam durch verschiedene Kanäle dorthin. Zweimal waren Franzosen auch für England die Herolde deutscher Pädagogik. Es waren Anne Louise Germaine de Stael und Victor Cousin. Madame de Staels Deutschlandbuch wurde, nachdem es 1810 vor seiner Ausgabe in Paris beschlagnahmt worden war, 1813 zuerst in London und erst ein Jahr später mit einer Vorrede von Villers in Paris herausgebracht. Sicherlich hat die Londoner Ausgabe manchen englischen Leser für das deutsche Schulwesen interessiert. Doch eindringlicher geschah dies durch Cousins Reisebericht. Die zweite verbesserte Auflage des Teils, der über Preußen handelte, wurde durch Sarah Austin, die Gattin eines englischen Juristen, 1834 in der Erwartung ins Englische übertragen, daß er für ihr Heimatland ebenso segensreich werde, wie er sich für Frankreich erwiesen hatte. Dieselbe Erwartung knüpften auch andere an das Erscheinen dieser Übersetzung. Wir wissen es z. B. von Sir William Hamilton, der seit 1829 in einem durch Frau Austin angebahnten Briefwechsel mit Cousin stand und dessen Report in der Edinburgh Review in der Hoffnung besprach, der deutsche Vorsprung auf pädagogischem Gebiet werde auf dem Umweg über Frankreich, durch den Rapport, von fördernder Einwirkung auf das englische Schulwesen sein. Und in der Tat nimmt nach 1833 das Interesse für die Schulgesetzgebung in England zu, und man hat dies dann auch als Wirkung des Cousinschen Buches betrachtet (62). Nachdem aber einmal dieser hohe Stand der Volksschule und des Lehrerseminars in England bekanntgeworden war, wurden manche pädagogischen Studienreisen nach Deutschland unternommen, zu deren Programm der Besuch von Volksschulen und Lehrerseminaren gehörte.
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Man kann diese vom Heimatland der Besucher aus verfolgen, kann aber auch einmal den umgekehrten Weg einschlagen und sie von einer vielbesuchten deutschen Anstalt aus, an der Hand eines Gästebuches oder eines Tagebuches des Anstaltsleiters, darstellen. Die genannten Unterlagen (63) existieren z. B. für das Schullehrerseminar in Weißenfels, das viele Besucher aus aller Welt erhielt, „theils darum, weil es an der wichtigsten Straße durch ganz Deutschland, von Leipzig nach Frankfurt a. M., lag, theils weil es sich besonderen Wohlwollens seiner Behörden zu erfreuen hat, und theils weil einige Schriften von ihm ausgegangen sind". Unter den Besuchern, die wir natürlich nicht alle namentlich anzuführen brauchen, waren in den Jahren 1825—1838 zunächst viele Schweizer und Livländer, außerdem Dänen, Schweden und Estländer, aber auch einige Franzosen. 1833 fand sich ein Mann ein, der durch seinen Geist und seinen lebendigen Eifer für alles, was Menschenbildung heißt, jedermann für sich einnahm. Es war der Candidat und Lehrer Berger aus Montbilliard in Frankreich. Er hielt sich sechs Tage in Weißenfels auf, und da er die deutsche Sprache kannte, waren diese T a g e für ihn besonders fruchtbar. Harnisch meint: „Wie Cousin, flüchtig reisend und mehr aus Akten als aus Anschauungen nehmend, das Äußere des deutschen Schulwesens seinen Landsleuten geschildert hat, so könnte Berger ihnen das Innere beschreiben" (64). Fünf Monate nach ihm weilte ein anderer Franzose, Professor Schor, ebenfalls aus Montbilliard, in der Anstalt, allerdings nur einen Tag. Bei den Eintragungen über die Jahre 1834—1836 bemerkt Harnisch: „In die Stelle der häufig sonst kommenden Liefländer scheinen jetzt die Schottländer und Nordamerikaner treten zu wollen." So finden sich im September 1835 Cunningham, der Vorsteher einer Erziehungsanstalt in Edinburgh, Ireland, Lehrer daselbst, und in ihrer Begleitung Miß Watson aus London ein (65), im März 1836 die Schotten Lamsden und Brenner, am 14. September des gleichen Jahres der Prediger Stearns aus Boston und Professor Stowe vom presbyterianisch-theologischen Seminar in Cincinnati, der im Auftrage der Regierung des Staates Ohio zum Studium besonders des Volksschulwesens nach Deutschland gekommen war. Am 21. September traf „der liebenswerte Seminardirektor M a c Crie" aus Glasgow in Schottland in Weißenfels ein und blieb dort bis zum 21. Oktober. Von ihm heißt es im Tagebuch des Direktors: „Er fand sich sehr wohl mit dem traulichen Leben, meinte aber, es würden Jahrzehnte dazu gehören, ehe er in Schottland in ein so trauliches Verhältnis zu den Seminaristen würde treten können, weil es dort noch viele steife Formen gebe." (66) Mit ihm kamen zwei Prediger aus dem nordamerikanischen Staat Virginia, die sich allerdings nur drei Tage in Weißenfels aufhielten. Unter den Besuchern des Jahres 1837 war für zwei Tage, den 16. und 17. Juni, Professor Smith vom Marietta College im Staate Ohio, und unter denen des folgenden Jahres der Präsident des Girard College, Professor Bache, der am 20. Januar bei starkem Schneegestöber in Weißenfels anlangte. Von den Besuchern anderer Nationalität verdient Dr. Philippos aus Athen besondere Erwähnung, der sich im Auftrage des
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griechischen Königs mit dem deutschen Volkssehul- und Lehrerbildungswesen bekannt zu machen suchte, sidi vom 11.—17. April 1837 in Weißenfels aufhielt und später großen Einfluß auf die griechische Schulentwicklung haben sollte. Ähnlich wie das Weißenfelser empfingen auch andere Lehrerseminare, z. B. die Anstalten in Bunzlau*), Potsdam, Breslau, Brühl, im 19. Jahrhundert ausländische Besucher, die dann mit einer bereicherten Kenntnis der Volksschulpädagogik und der Lehrerbildung in ihr Vaterland zurückkehrten und dort für die Errichtung ähnlicher Schulen und Anstalten oder die Reform bereits bestehender nach preußischem Vorbild eintraten. Das galt auch für die angelsächsischen Besucher. Nicht als ob diese einfach preußische Einrichtungen in ihre Heimat übertragen hätten. Daran hinderte sie eine gerade bei ihnen stark ausgebildete Art von biologischem Instinkt, den man wohl als ein Zeichen völkischer Vitalität und Gesundheit erklärt hat (67). Aber sie suchten das, was sie im deutschen Schulwesen Mustergültiges gesehen hatten, ihrem Volkscharakter und ihren nationalen Verhältnissen anzupassen, übrigens zeigt sich auch hier wieder die schon mehrfach hervorgehobene Gegenseitigkeit des Wirkungsverhäftnisses der Pädagogik verschiedener Völker. Nicht nur der ausländische Besucher empfing in den preußischen Schulen und Seminaren reiche Anregungen, sondern auch das innere Leben der einzelnen Anstalten wurde mitunter durch die ausländischen Besucher befruchtet. Das erkannte Harnisch bereits für Weißenfels an, wenn er schreibt: „Es m u ß anerkannt werden, daß solche Beziehungen zu nahen und entfernten Ländern, die vielleicht mit vielen Schreiben und also mit vielen Mühen verbunden sind, doch für eine Anstalt, wenn sie dadurch in der Demuth bleibt, recht fördersam sein können." (68) Ich habe selbst mehrere Jahre an einer Hochschule gewirkt, die neue Wege ging und zahlreiche Besucher auch aus dem Ausland erhielt, und weiß daher aus eigener Erfahrung, welche günstige Wirkung solche ausländischen Besucher auf Dozentenschaft und Studentenschaft, auf Lehrer und Schüler ausüben können: größere Bewußtheit der völkischen Eigenart und ihre höhere Wertung, Erhöhung des Arbeitseifers und Selbstbestärkung, Erweiterung des geistigen Horizonts. Auch vertiefte Einsicht in die pädagogische Problematik und kritische Betrachtung ihrer Lösungsversuche zeigen sich hier als Folgen, weil man in der besuchten Anstalt daran gewöhnt wird, all ihre Einrichtungen und das Leben in ihr nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit den Augen der ausländischen Besucher kritisch zu betrachten. Nach dieser kurzen Abschweifung kehren wir zu der Beantwortung der uns beschäftigenden Spezialfrage nach den Wegen, auf denen die Kenntnis der deutschen pädagogischen Wirklichkeit nach England gelangte, zurück. Auch *) Siehe „Fortgesetzte Nachrichten über den Zustand und Geist der Königlichen Waisen- und Schulanstalt und des Schullehrerseminars zu Bunzlau". 1852 bis 1873. Unter den darin erwähnten ausländischen Besuchern befanden sich auch die bereits an anderer Stelle herangezogenen Eugène Rendu, Paris (1852) und M. Pattison aus Oxford (1853).
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deutsche Pädagogen machten damals mit oder ohne behördlichen Auftrag solche pädagogische Studienreisen ins Ausland. Wenn sie dabei Anregungen für die äußere oder innere Organisation der deutschen Schulen empfingen, so war ihnen eine direkte Einführung von Neuerungen in Preußen, wo alles Neue auch im Schulleben von der Behörde angeordnet werden mußte, in der Regel nicht möglich; sie konnten nur durch einen an diese gerichteten Reisebericht oder durch Zeitschriftenaufsatz oder Buch für die von ihnen gewünschte Neuerung werben. Eine viel unmittelbarere Verwertung der im Ausland empfangenen Anregungen war von den einzelnen Pädagogen in England möglich, wo — wie wir gesehen haben — sich die Regierung der Eingriffe in die Schulentwicklung enthielt und diese in der Hauptsache durch die Initiative einzelner Männer oder von ihnen gegründeter privater Vereinigungen vorwärtsgetrieben wurde. Das gilt auch für die Entwicklung des englischen Volksschul- und Lehrerbildungswesens. So gehen die Anfänge der Volksschule in England auf zwei Männer, Andrew Bell (1753—1832) und John Lancaster (1778—1838) zurück. Sie waren die Begründer des sogenannten Monitorialsystems (Helfersystems), das darin bestand, daß der Lehrer, dem man sehr viele, bis zu mehreren hundert, Schüler anvertraute, zu seiner Unterstützung ältere Schüler heranzog, die mit einer ihnen übertragenen Gruppe von Schülern das bearbeiteten, abfragten und einübten, was der Lehrer mit der Gesamtheit vorher durchgenommen hatte. Es kann nicht geleugnet werden, daß dieses Verfahren, das dem Mangel an Lehrkräften ohne große Kosten abhalf, sich für die Helfer selbst, die dadurch früh zu einem verantwortungsvollen Tun aufgerufen wurden, günstig auswirken konnte, nicht aber für die Schüler. Andrew Bell hatte dieses Helfersystem zunächst in Indien angewandt und dann nach England importiert. Von dort fand es seinen Weg nach Nordamerika, Kapland, Indien, Australien und auf den europäischen Kontinent, besonders als „L'enseignement mutuel" nach Frankreich. Auch unter den deutschen Pädagogen fand das Helfersystem anfänglich einige Zustimmung. Dinter, Harnisch und Diesterweg standen ihm zunächst nicht ablehnend gegenüber. Natorp übersetzte sogar die 1810 erschienene Schrift von John Lancaster „The British System of Education" und gab sie unter dem Titel „Ein Schulmeister unter 1000 Kindern" heraus. Aber bald erkannte man hier doch, daß das Monitorial-System nur von den Pädagogen bejaht werden konnte, die im Unterrrichten ein bloßes übertragen der äußeren Kulturgüter auf das Kind sahen, und daß mit der Pestalozzischen Auffassung von Erziehung und Unterricht als Mittel zur Weckung der Selbsttätigkeit eine Methode unvereinbar war, deren ganze Art „mit dem Vor- und Nachmachen auf eine völlig äußerliche Abrichtung und einen mit wahrer Entwicklung unverträglichen Mechanismus" hinauslief. Diesterweg lehnte sie daher bald in den Rheinischen Blättern (Jg. 1838 Nr. 5) ab, und die sonstigen preußischen Pädagogen bekämpften sie nicht nur im In-, sondern mitunter auch im Auslande. In dem erwähnten Weißenfelser Tagebuch berichtet z. B. Harnisch im September 1827 von dem Pädagogen Knapp, der von einer Reise nach Dänemark zurückkehrte,
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die er unternommen hatte, um dort die Lancastersche Unterrichtseinrichtung genau kennenzulernen. Er hatte in Dänemark auch ; ,den für das Schulwesen so thätigen König gesprochen und auf dessen Frage, was er von dem wechselseitigen Unterricht hielte, ihm nicht verhehlt, daß ein solcher in religiöser und gemüthlicher Hinsicht seine großen Mängel habe" ( 6 9 ) . In ähnlicher Weise hemmend muß auch die deutsche Pädagogik, insbesondere die pädagogische Ideenwelt Pestalozzis, in England auf die Verbreitung des Monitorial-Systems gewirkt haben. Dadurch und infolge der dürftigen Ergebnisse des Mönitorialsystems ist es erklärlich, daß sich die Blicke der Freunde einer englischen Volksbildung mehr und mehr dem Kontinent, besonders Pestalozzi und PreußenDeutschland, zuwandten. In welchem Umfange und mit welcher Gründlichkeit in Preußen das Schulwesen studiert wurde, ergibt sich z. B. aus den Bänden des „Quarterly Journal of Education", die von der „Society for the Diffusion of Useful Knowledge" zwischen 1831 und 1835 veröffentlicht wurden. Die Diskussion des Monitorensystems bereitete aber auch den W e g zur Erkenntnis der Notwendigkeit einer beruflichen Ausbildung des Lehrers. Allerdings waren alle Bemühungen, Bell undLancaster selbst für Pestalozzis Ideen zu gewinnen, die insbesondere „der Lützower und Pestalozzianer Wilhelm Heinrich Ackermann" ( 7 0 ) auf sich nahm, erfolglos. Zwar erreichte Adeermann, daß der schon 6 2 jährige Bell die für seine Jahre und unter den damaligen Verkehrsverhältnissen nicht unbedeutende Reise nach Ifferten sich nicht bloß erneut vornahm, sondern alsbald auch ausführte. Aber Ackermanns Bemühungen, „den alten, enthusiastisch für seinen Mechanismus eingenommenen Dr. Bell von dem Gegensatz zwischen diesem und dem Pestalozzisdien selbsttätigen Entwickeln des jugendlichen Geistes und von der Richtigkeit der Pestalozzischen Grundsätze zu übereugen", waren, wie Adkermann in seinen Erinnerungen selbst sagt, „vergeblich". Durch Bell und Lancaster wurden auch die beiden ersten englischen Erziehungsgesellschaften gegründet, und zwar von Lancaster 1 8 1 0 die „Royal Lancasterian Association", die spätere „British and Foreign School Society", und von Bell im folgenden Jahre die „National Society for the Education of the Poor". Von diesen und einer Reihe von Einzelpersönlichkeiten gingen, da der Staat auf diesem Felde alles der privaten Initiative überließ, alle Anregungen zu den pädagogischen Fortschritten in Volksschule und Lehrerbildung aus. Und nur insoweit, als jene unter der Einwirkung preußischer Pädagogik standen, kann diese auf die englische Entwicklung eingewirkt haben. Das trifft aber auf eine Reihe von Engländern, die sich für die Entwicklung der Volksschulbildung einsetzten, zu, z. B. für Coleridge, Carlyle, John Stuart Mill, James Kay Shuttleworth, John Ruskin und Matthew Arnold. S. F. Coleridge (71) ( 1 7 7 2 — 1 8 3 4 ) hatte eine Studienreise nach Deutschland unternommen und war während seines neunmonatigen Aufenthaltes auch mit der deutschen Pädagogik bekannt geworden. Seine pädagogischen Ideen waren besonders von Fichte beeinflußt; von ihm übernahm er die Lehre von
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der Pflicht des Staates, für die Erziehung des Volkes zu sorgen, für die er auch in der englischen Öffentlichkeit eintrat. Ebenfalls im Banne der pädagogischen Ideen Fichtes stand Thomas Carlyle (1795—1881) (72). Er vertrat wie dieser die Notwendigkeit eines staatlichen Eingreifens in das Gebiet der Volkserziehung. Von Kennern der Entwicklung des englischen Schulwesens ist behauptet worden, daß er dazu den Anstoß gegeben habe, „daß man sich in England auf die Pflicht besann, in deutschem Sinne der Erziehung der Massen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden". Auch John Stuart Mill (1806—1837) stand unter deutschem Einfluß, besonders unter dem von Wilhelm von Humboldt. Wie dieser vertrat er die Meinung, daß die Erziehung — schon um gleichmäßiger Ergebnisse willen — „staatlicherseits kontrolliert werden müsse" (73). John Ruskin (1819—1900) (74) war ein Schüler Carlyles. Er ist wie dieser voller Vorliebe für Fichte und spricht mehrfach mit Bewunderung von der allgemeinen Volkserziehung in Deutschland. Wie Carlyle hält er es für die Pflicht des Staates, für das geistige und materielle Wohlbefinden der Bürger, also auch für ihre Erziehung Sorge zu tragen. „I hold it for indisputable that the first duty of a state is to see that every child born therein shall be well-housed, clothed, fed, and educated till it attain years of discretion. But in order to the effecting this, the Government must have an authority over the people of which we now do not so much as dream" (75). In dieser seiner Ansicht wurde er durch das Studium der sozialen und erzieherischen Reformen Friedrich des Großen bestärkt (76). In dem Vorwort seines Buches „Unto this Last", London 1862, gibt Ruskin ein klares Bild seines nationalen Erziehungsplanes, und da dieses Buch einen weiteren Einfluß ausübte als seine anderen, wurde die öffentliche Meinung in Richtung seines Erziehungsplanes und seiner pädagogischen Grundanschauungen geformt. Abhängig vom deutschen pädagogischen Denken war ferner Dr. James Philips Kay (1808—1877), der spätere Sir James Kay Shuttleworth, der vielfach der „founder of English popular education" genannt wird. Bevor er an die Spitze der 1839 gegründeten ersten obersten Schulbehörde kam, hatte er die Schulverhältnisse in Preußen und Sachsen studiert und Fellenbergs Anstalten besucht. Da der auf seine Anregung hin gemachte Vorschlag der Errichtung einer „National Normal School" infolge des Widerstandes der kirchlichen Partei scheiterte, gründete er — wie schon erwähnt — die Training School in Battersea, aus der später das bekannte „St. John's College BatterseaLondon" hervorging. Da die Anstalt in Battersea sich in ihrer Organisation an das preußische Lehrerseminar anschloß, nach dem Muster von Battersea aber eine Anzahl weiterer englischer Lehrerbildunganstalten gegründet wurde, waren bei allen Züge des deutschen Vorbildes erkennbar (77). Ihm gelang auch trotz starker Gegnerschaft die Einführung staatlicher Schulinspektoren und die Erhöhung der staatlichen Subventionen des englischen Schulwesens. Zu den großen Förderern des englischen Schulwesens, die unter deutschem 201
Einfluß stehen, gehört ferner Matthew Arnold (1822—1900). H. W . Paul sagt von ihm: „Mr. Arnold may fairly be said to have fallen in love with German system of education" (78). 1865 sandte ihn die Schools Enquiry Commission zum Studium des deutschen Schulwesens, besonders des Systems des Unterrichts der oberen und mittleren Klassen, auf den Kontinent. Sein Hauptinteresse aber erstreckt sich auf Frankreich und Deutschland. „For the Swiss system was almost identical with the German and in Italy at that time national education was in its infancy" (79). 1868 erschien sein Bericht von dieser Reise. Der Teil, der sich auf Deutschland bezog, wurde in zweiter und dritter Auflage 1874 und 1882 emeut herausgegeben unter dem Titel „Higher Schools and Universities in Germany". In den beiden Kapiteln, die sich mit dem Auslandseinfluß der deutschen Höheren Schulen und der deutschen Universität beschäftigen, werden wir mehrfach auf den Inhalt dieses Berichtes zurückkommen. Aber Matthew Arnold geht auch nicht ganz an der Volksschule vorbei und erhebt Forderungen, die für ihre Entwicklung bedeutungsvoll sind. Vor allem diskutiert er die drei Fragen der Schulpflicht, der konfessionellen und der weltlichen Erziehung (compulsory, denominational and secular education) an Hand seiner kontinentalen Erfahrungen. Die englischen Liberalen, die den Standpunkt vertraten, daß die öffentlichen Volksschulen nicht Konfessionsschulen sein dürfen, und die englischen Gegner der allgemeinen Schulpflicht weist er auf die europäischen Länder, insbesondere auf Preußen, hin, wo das Schulwesen konfessionell gegliedert und die allgemeine Schulpflicht eingeführt war. Für die letztere setzt er sich sehr entschieden ein; denn eine seiner europäischen Erfahrungen ist: „where popular education is most prosperous, there it is also compulsory". Der Schulzwang geht nach seiner Ansicht immer zusammen mit gesunder Schulentwicklung, obwohl man nicht sagen kann, der erstere verursache die letztere. Die Situation ist vielmehr die folgende: „Where the value for it is not ardent enough to make it, as it is in Prussia and Zürich, compulsory, it is not, for the most part, ardent enough to give it prosperity it has in Prussia and Zürich." Die englischen Anhänger des Schulzwanges, die ihn in der Regel nur für die Unterklassen der Bevölkerung forderten, für die Mittel- und Oberklassen aber ablehnten, macht er ebenfalls auf das Beispiel Deutschlands aufmerksam, wo er für alle Volksklassen eingeführt ist und die Schulversäumnis bestraft wird. „Only on these conditions of its equal and universal application is any law of compulsory education possible" (80), weil die arbeitenden Klassen einen nur für sie geltenden Schulzwang nicht billigen würden. Der Vergleich mit den europäischen, insbesondere den deutschen Verhältnissen, bringt ihn auch zur Erkenntnis des Sachverhaltes, welcher in England bis dahin der Verwirklichung der Forderung einer öffentlichen Volksschule entgegenstand. Die arbeitenden Klassen verlangen sie und nicht eine Schule, die der Geistliche, der Guts- oder Mühlenbesitzer, „meine Schule" nennt. In Deutschland, der Schweiz usw. beruhen die öffentlichen Schulen auf der Or-
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ganisation der Gemeinden, die in England, wo noch die feudale und kirchliche Organisation des Mittelalters und des vorrevolutionären Frankreichs in Geltung ist, fehlt. Sie müßte erst geschaffen werden. „The real preliminary to an effective system of popular education is, in fact, to provide the country with an effective municipal organisation" (81). Matthew Arnold schließt ferner aus der Notwendigkeit der öffentlichen Schulen auf die Notwendigkeit eines Erziehungsministers, nicht so sehr aus Verwaltungsrücksichten, als um „a center in which to fix responsibility" zu haben (82). In der Diskussion dieser Forderung, wie auch bei der Forderung einer Einrichtung ähnlich der der preußischen Provinzialschulkollegien beruft er sich mehrfach auf Preußen. Er weiß z. B., daß mit der Einrichtung eines Unterrichtsministers gewisse übelstände, wie er sie auch in Preußen, zumal unter dem Minister von Mühlen, fand, verbunden sein können. Aber er rühmt, daß die Schulangelegenheiten dort, gleich welcher politischen Richtung der Minister angehört, sachlich erledigt würden. Er sieht darin auch einen Vorzug Preußens vor Frankreich. Zur Erklärung dieser Haltung schreibt er: „The truth is, that when a nation has got the belief in culture which the Prussian nation has got, and when its schools are worthy of this belief, it will not suffer them to be sacrificed to any other interest; and however greatly political considerations may be paramount in other departments of administration, in this they are not. In France neither the national belief in culture nor the schools themselves are sufficiently developed to awaken this enthusiasm; and politics are too strong for the schools, and give them their own bias" (83). Neben den Bewunderern des preußischen Schulwesens gleich M. Arnold fehlte es ihm im Laufe des Jahrhunderts nicht ganz an kritischen englischen Beurteilern, die ein weniger erfreuliches Bild von ihm entwarfen und ihm den Vorbildcharakter abstritten. Dazu gehört z. B. der Reisebericht des Samuel Laing, eines Gegners der Einführung der Schulpflicht, der 1842 in London erschien und 1846 in Philadelphia neu aufgelegt wurde •. Notes of a Traveller on the Social and Political State of France, Prussia, Switzerland, Italy and other parts of Europe, during the Present Century." Die englischen Stimmen über den vorbildlichen Wert des preußischen Schulwesens, die im vorangegangenen zu Worte kamen, schufen in England, zusammen mit dem bereits an anderer Stelle behandelten Einfluß Pestalozzis, Fröbels und Herbarts, nicht nur allmählich eine der allgemeinen Volksschule und der Lehrerbildung günstige Stimmung (public opinion), sondern bewirkten auch, daß bei ihrer Entwicklung das preußische Vorbild von gestaltendem Einfluß war. Das hat noch ein führender englischer Pädagoge nicht lange vor dem Weltkrieg 1914—18 anerkannt. Am 28. Mai 1912 hielt der Vizekanzler und Professor der Universität Leeds, Mr. M. E. Sadler, auf der Tagung des Allgemeinen deutschen Philologenverbandes in Frankfurt am Main einen Vortrag über „England's Debt to German Education". In ihm beschäftigt er sich natürlich in der Hauptsache mit dem höheren Schulwesen, übersieht aber auch nicht das Volksschulwesen. „The German conception of the place of education
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in the modem State" — sagt er — „has been one of the distinct marks of English educational development during the last century, and especially during the last 20 Years. Every grade of English Education from the kindergarten to the University has been effected by German example and by German investigation." Besonders die Einführung des Schulzwangs in England ist nach seiner Darstellung „in a great measure the outcome of German precedent and experience". Er weist ferner darauf hin, daß auch die englische Schulgesundheitspflege sehr viel dem anregenden deutschen Beispiel verdanke, z. B. der Untersuchung der Sehkraft der Schüler in Breslau im Jahre 1886, der Ernennung eines Schularztes in Frankfurt a. M. im Jahre 1883 und der Einrichtung einer Schulzahnklinik in Straßburg im Jahre 1912. Am Schlüsse seines Vortrages zählt Sadler acht Hauptlektionen auf, die England vom deutschen Schulwesen empfangen habe bzw. noch empfange. Darunter sind mehrere — die ersten fünf —, die auch für das Volksschulwesen und die Lehrerbildung von Bedeutung waren : 1. The application of scientific method and of cooperative research to educational problems ; 2. the value of an organised teaching profession, supported by a system of pensions and of other provision for sickness or incapacity; 3. the value of an organised inspectorate, the members of which have been teachers and all of whom are closely connected with the central authority of the State; 4. the value of an inbred tradition of obligatory attendance at school, extended through the years of adolescence, and of a strong parental and public opinion in favour of education; 5. the importance of farseeing and prudently munificent expenditure of State and municipal funds upon the culture of the people (84). Viel stärker noch als auf England wirkte das deutsche Volksschul- und Lehrerbildungswesen im 19. Jahrhundert auf Nordamerika. Als dort nämlich der Gedanke der Volkserziehung lebendig wurde und man mit der Begründung von common schools begann, da gab es in England, wo man das erste Vorbild für die Höhere Schule und die Universität gefunden hatte, noch kein Volksschulwesen, ebensowenig in Frankreich, wohl aber in Deutschland. Wenn man also Vorbilder für die beabsichtigten Neugründungen suchte, so konnte man sie auch nur dort finden. Auf dieses Schulwesen Deutschlands wurden die Amerikaner schon im Anfang des Jahrhunderts eindringlich hingewiesen, und im Laufe der aufeinanderfolgenden Jahrzehnte wurde die Kenntnis der äußeren und inneren Organisation der deutschen bzw. preußischen Schulen vertieft und weiter verbreitet. Die erste Bekanntschaft mit dem deutschen Volksschulwesen vermittelten in bescheidenem Umfange die deutschen Auswanderer nach Nordamerika, im höheren Maße aber die beiden französischen Herolde der deutschen Pädagogik, Frau von Staël und Victor Cousin. Mit Frau von Staëls Buch über Deutschland, von dessen englischer Übersetzung 1814
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eine Neuausgabe in New York erschien, begann — wie J. Walz sagt — „the influence of German thought on American life and education" (85). Von Cousins Rapport war sicherlich schon die erste, von Sarah Austin vorgenommene englische Übersetzung des die preußische Volksschule behandelnden Teils (Report on the State of Public Instruction in Prussia) in Nordamerika bekanntgeworden. Später aber erschienen auch amerikanische Ausgaben des Reports: 1835 eine mit einem Vorwort des amerikanischen Pädagogen J. Orville Taylor in New York und 1836 eine durch Berichte über einige preußische Lehrerseminare erweiterte in Philadelphia. Wie hoch die Einwirkung dieses Cousinschen Berichtes von Amerikanern selbst eingeschätzt wird, dafür ist Burke A. Hinsdale in seiner „History of the University of Michigan, Ann Arbor 1906" ein Beispiel. Dort sagt er: „It is no exaggeration to say that a single copy of Mr. Cousins Report, which found its way into the oak openings of Michigan, produced results, direct and indirect, that far surpass in importance the results produced by any other educational volume in the whole history of the country." Der Cousinsche Bericht wurde aber in Nordamerika nicht nur gelesen, sondern sein Inhalt wurde auch zu Vorträgen verarbeitet, die weitere Hörerkreise für die Begründung eines Volksschul- und Lehrerbildungswesens gewinnen sollten. So hielt z. B. Mr. George S. Hilliard 1835 im amerikanischen „Institute of Instruction", einer Lehrervereinigung, einen Vortrag über „Public Instruction in Prussia", den Miß Eliza Robbins nach Cousins Bericht präpariert hatte und der später in Buchform unter dem Titel „Lecture on Public instruction in Prussia" veröffentlicht wurde. In ihm (S. 54) wird besonders die Übernahme von drei Elementen des preußischen Schulsystems empfohlen: „wise supervision, qualified teachers, and rational school-books". Abhängig von Cousin war auch der Vortrag, den Calvin E. Stowe, der Professor am Lane Theological Seminary und der Gemahl der bekannten Schriftstellerin Harriet Beedier Stowe, vor seiner Europareise in einer Lehrerversammlung in Columbia hielt und der bald darauf unter dem Titel „The Prussian System of Public Instruction and its Applicability to the United States" veröffentlicht wurde (86). Audi Charles Brooks (1795—1872), der erfolgreichste Anwalt einer amerikanischen Lehrerbildung nach preußischem Muster, gewann das Material für seine Propagandavorträge zum großen Teil aus dem Bericht des französischen Pädagogen, den er übrigens auch persönlich kennengelernt hatte. Aus diesen Beispielen ergibt sich, daß der Cousinsche Bericht seine Wirkung weit über die Kreise seiner Leser hinaus entfaltete. Schon bald nach Bekanntwerden des Deutschlandbuches der Frau von Staël, das man in seiner Wirkung auf Nordamerika als „discovery of a new continent of intellectual and spiritual ideas" charakterisiert hat, erwachte audi in Nordamerika, wie in Frankreich und England, in vielen Pädagogen der Wunsch, die gepriesene deutsche Volksschule und das berühmte deutsche Lehrerseminar an Ort und Stelle kennenzulernen. Viele von ihnen unternahmen 205
eine pädagogische Studienreise durch Deutschland und besonders durch Preußen und legten hinterher die Ergebnisse ihrer Beobachtungen und ihre Erfahrungen ihren Landsleuten in Reiseberichten vor. Es ist unmöglich, alle diese pädagogischen Entdeckungsreisen und ihre Reiseberichte auch nur aufzuzählen oder gar eingehend zu behandeln. Wir müssen uns damit begnügen, im Nachfolgenden die wichtigsten kurz tabellenmäßig zusammenzustellen und ihre Bedeutung für den Export preußischer Pädagogik nach Nordamerika summarisch darzustellen. Zu ihnen gehörten: John Griscoms, der auch Pestalozzi besuchte und 1818—19 seine europäischen Eindrücke und Beobachtungen in seinem Bericht „Ein Jahr in Europa" (Faust S. 198) veröffentlichte. Henry Dwight, der 1825—26 eine Reise durch Norddeutschland unternahm und darüber in einem 1829 in New York erschienenen Buch „Travels, in the north of Germany in 1825" berichtete, in dem er auch die preußischen. Lehrerseminare beschrieb und die Errichtung ähnlicher Anstalten in den USA. anregte. Alex Dalles Bache, der von Ende September 1836 bis Oktober 1838 das kontinentale, insbesondere das deutsche Schulwesen an Ort und Stelle studierte und 1839 den „Report on Education in Europe to the Trustees of the Girard College for Orphans", einen 666 Seiten starken Band, in Philadelphia herausgab, von dem mehr als ein Drittel den deutschen Schulen, gewidmet ist. Calvin E. Stowe, der im Auftrage des Staates Ohio auf einer europäischen Studienreise 1836 die Schulsysteme verschiedener Völker studierte und das Ergebnis seiner Studien in dem „Report on Elementary Public Instruction in Europe made to the Thirty-Sixth General Assembly of the State of Ohio" 1837 darbot. Der größte Teil des Berichtes beschäftigte sich mit den deutschen Volksschulen. 1838 und 1839 wurden in New York und Boston Neuausgaben des Berichtes herausgebracht. Von Stowe, der darin auch detaillierte Berichte über besuchte Unterrichtsstunden in deutschen Schulen gibt und besonders dadurch beeindruckt wurde, daß in allen Volksschulen Singen und Zeichnen eingeführt worden war, stammt der berühmt gewordene Ausspruch: „If it can be done in Prussia, it can be done in the United States; if it can be done in Prussia, I know it can be done in Ohio" (Walz S. 21). 1838 überreichte Benjamin M. Smith, einer der Führer in der Publicschool-Bewegung im Staate Virginia, der einige Zeit in Preußen zugebracht hatte, dem Gouverneur Davis Campbell auf dessen Anforderung hin einen Bericht, der sich auch mit dem preußischen Schulwesen beschäftigte: „Observations on the system of education pursued in some European countries which may be useful to the General-Assembly of our own State", dem als Supplement „Suggestions on the Application of this System of PrimarySchools to Virginia" folgte. 206
Horace Mann, der Sekretär der obersten Schulbehörde des Staates Massachusetts, gab im siebenten der zwölf von ihm während seiner von 1837—1848 währenden Amtsdauer herausgegebenen pädagogischen Jahresberidite (Seventh Annual Report) den Niederschlag einer fünfmonatigen pädagogischen Studienreise durch Europa, besonders durch Deutschland. 1851 veröffentlichte Henry Barnard, der damalige Superintendent der Volksschulen in Connecticut, in Hartford nach einem Aufenthalt in Deutschland und unter Benutzung der vorangegangenen amerikanischen Darstellungen des europäischen Schulwesens von Stowe, Bache, Horace Mann und des Engländers J. Kay: „The Social Condition and Education of the People in England and Europe, showing the Results of the Primary Schools and of the Division of Landed Property in Foreign Countries" (2 Bde., London 1 8 5 0 ) ; ferner das Buch „Normal Schools and other Institutions, Agencies and Means designed for the Professional Education of Teachers", und. 1854 ebenfalls in Hartford eine viel umfangreichere zweite Ausgabe unter dem Titel: „National Education in Europe; being an Account of the Organisation, Administration, Instruction and Statistics of Public Schools of different Grades in the Principal States". Audi der spätere lebenslängliche Präsident der Universität von Michigan, Herny Philip Tappan, hatte die deutsche Schulmethodik in Deutschland studiert und war ein Bewunderer des deutschen Schulsystems. Wenn der Hauptgegenstand seines pädagogischen Interesses auch die deutsche Universität war, so übersah er doch auch nicht die Volks- und die Höhere Schule und das Ganze der preußischen Schulpolitik. Das zeigt sich sowohl in seinem Reisebericht „A Step from the New World to the Old and Back Again" (87) wie in seinem ein Jahr früher erschienenen Buch über „University Education". Die meisten dieser pädagogischen Entdeckungsfahrten durch Deutschland wurden durch Amerikaner in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im Jahrzehnt nach ihm unternommen. Daß sie später seltener wurden oder wenigstens nicht mehr zu Resultaten führten, die in Nordamerika noch unbekannt waren, ist erklärlich. Das pädagogische Deutschland war jetzt keine terra incognita mehr. Ganz hörten sie, wie auch die anschließend an sie veröffentlichten Bücher über die deutsche Pädagogik, allerdings auch im letzten Viertel des Jahrhunderts nicht auf. Ein berühmtes Beispiel dafür ist L. Seely, der nach zwölfjährigem Studium und vierjährigem Aufenthalt in Deutschland 1896 ein Buch „The Common-School System of Germany and its lessons to America" (88) veröffentlichte. Und die Tendenz war hier noch, wie wir sehen werden, die gleiche wie in den Reiseberichten der ersten Jahrhunderthälfte: Schilderung des deutschen Volksschulwesens und Feststellung dessen, was die Nordamerikaner für die Entwicklung ihres eigenen Schulwesens lernen bzw. was sie in Anpassung an die Verhältnisse ihres Heimatlandes übernehmen konnten.
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Ehe wir uns der Heraushebung einiger allgemeineren Ergebnisse dieses Buches zuwenden, wollen wir uns vorher noch kurz mit den zwei charakteristischsten der obengenannten Vermittler deutscher Pädagogik beschäftigen, mit Charles Brooks und Horace Mann, um die individuelle Mannigfaltigkeit der Werbung für Volksschule und Lehrerbildung in den USA. unter dem Einfluß des deutschen und preußischen Vorbildes anschaulich zu machen. Charles Brooks (89) (1795—1872), Pastor in Hingham, hat das Verdienst, durch seine enthusiastischen Bemühungen die öffentliche Aufmerksamkeit in seinem Heimatstaat Massachusetts auf die preußischen Lehrerseminare hingelenkt und so für sie geworben zu haben, daß es dort schon bald zur Gründung einer Lehrerbildungsanstalt nach preußischem Muster, der ersten State Normal School von Nordamerika, kam. Brooks hat als Neunundsechzigjähriger seinen Werbefeldzug selbst geschildert, und zwar in einem Vortrag mit dem merkwürdigen und dem Leser zunächst unverständlichen Titel „History of Missionary Agency, in Massachusetts, of the State Normal Schools of Prussia, in 1835, 1836, 1837 and 1838". Brooks war für das preußische System durch Viktor Cousin, dessen Bekanntschaft er 1833 in Paris gemacht hatte, und durch Nikolaus Heinrich Julius (1783—1862), den er in London kennengelernt hatte, gewonnen worden. Julius war im Auftrage des preußischen Königs auf dem Wege nach Nordamerika, um dort das Schul-, Krankenhausund Gefängniswesen und andere soziale Einrichtungen zu studieren, als Brooks ihn kennenlernte. Die damals 41 Tage währende überfahrt über den Atlantischen Ozean, die sie zusammen machten, benutzte Julius, um seinen amerikanischen Reisegefährten gründlich über das preußische Volksschul- und Lehrerbildungswesen zu unterrichten. Brooks wurde von dem Bilde der preußischen Lehrerbildung, das er auf diese Weise gewann, derartig fasziniert, daß er schon während der überfahrt den Entschluß faßte, sich in seiner Heimat, dem Staate Massachusetts, mit aller Kraft für die Errichtung von Normal-Schools nach preußischem Muster einzusetzen. Nach seiner Landung widmete er zunächst noch sechs weitere Monate dem Studium des preußischen Systems und unternahm dann mit fast religiösem Ernst und Eifer einen großangelegten und sorgfältig vorbereiteten Werbefeldzug für die Einführung einer Lehrerbildung nach preußischem Vorbild. Er beginnt ihn mit einer Predigt (Thanksgiving Sermon) in seiner Kirche und sieht sich als Apostel der Lehrerbildung von Gott berufen, „called of God". Daher ist verständlich, daß er den Bericht über diese seine Werbetätigkeit als History of M i s s i o n a r y Agency bezeichnet. Brooks bereitete sich auf sie vor, indem er drei je zweistündige Vorträge ausarbeitete. In dem ersten beschrieb er das preußische Volksschulwesen bis in die Einzelheiten der äußeren und inneren Organisation. Im zweiten zeigte er, wie dieses Schulsystem nach Massachusetts übernommen werden könnte und welche Wirkung das auf den ganzen Staat, die einzelnen Städte, ja jede Familie haben würde. Im dritten Vortrag wies er nach, daß die Voraussetzung der erfolgreichen Einführung der Volksschule in Massachusetts tüchtige, in Lehrerseminaren aus-
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gebildete Lehrer seien, daß also die Schulreform mit der Begründung von amerikanischen Normal Sdiools nach preußischem Muster beginnen müsse. Das System der preußischen Lehrerbildung war — so behauptete er — geeignet „to make a new era in the public elementary education of the United States". Drei Jahre lang bearbeitete Brooks dann die öffentliche Meinung zugunsten der Normal-Schools durch diese Vorträge, die er ohne jede Entschädigung, sogar unter Verzicht auf Erstattung der Reisekosten, in allen Teilen des Staates hielt. Die erstrebte Wirkung blieb nicht aus. 1837 bereits erfolgte die Gründung einer obersten staatlichen Schulbehörde, eines State Board of education, der dann auch schon bald die Einrichtung der allgemeinen Volksschule und des Lehrerseminars in die Wege leitete. Diese Entwicklung verdankt Massachusetts, wie Brooks selbst am Schlüsse der erwähnten History ausspricht, „the Prussian System". Das Werk von Brooks wurde durch Horace Mann (90) fortgesetzt. Es wäre verlockend, sich hier eingehend mit seiner Persönlichkeit und seinem Werk zu beschäftigen, und es wäre auch nicht unberechtigt, weil gerade er für das Gebiet der amerikanischen Volksschule und Lehrerbildung der bedeutendste Vermittler deutscher Pädagogik gewesen ist. Aber um den Gang der Darstellung des deutschen Einflusses nicht allzu sehr zu unterbrechen, wollen wir aus seinem Leben nur das herausheben, was unmittelbar oder mittelbar mit seiner Vermittlertätigkeit zusammenhängt. Horace Mann, „America's foremost apostle of education", ein typischer amerikanischer Selfmademan, war in jungen Jahren eine Zeitlang Landschullehrer und später nach Vollendung seiner akademischen Studien für kurze Zeit auch Lehrer für Latein und Griechisch. Sein eigentliches Gebiet aber war die Juristerei. Er wurde Rechtsanwalt und erwarb als solcher einen großen Ruf. Es ergab sich von selbst, daß er in die Politik gezogen wurde. 1827 wurde er durch das Vertrauen der Wähler der Grafschaft Norfolk Abgeordneter, 1836 Senator, später sogar Senatspräsident (91). Für die Pädagogik schien er nun endgültig verloren. Aber er bezeugte das Andauern seines Interesses für das Schul- und Bildungswesen, indem er keine Gelegenheit vorübergehen ließ, ohne darauf hinzuweisen, daß sich ein demokratisches Staatswesen ohne wohlunterrichtete und wohlerzogene Bürger als ein Fehlschlag erweisen müsse. Da kam das Jahr 1837, das ihn ganz seiner bisherigen juristischen und politischen Laufbahn entführte und ihn vor große propagandistische, schulorganisatorische und unmittelbar erzieherische Aufgaben im Raum der amerikanischen Volkserziehung stellte. Am 20. April 1837 unterzeichnete Horace Mann als Präsident des Senats des Staates Massachusetts den Akt zur Gründung der im Voranstehenden erwähnten obersten staatlichen Schulbehörde, des Board of Education, dessen nächste Aufgabe darin bestehen sollte, die gegenwärtige Lage der Schulen zu erforschen und die besten Methoden für Verbesserungen 14
Schneider,
Pädagogik.
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ausfindig zu machen und anzuwenden. Einige Monate später, am 1. Juli 1837, nahm Horace Mann als Einundvierzigjähriger die auf ihn gefallene Wahl zum leitenden Sekretär dieses Board an und blieb es für die nächsten elf Jahre. Während der folgenden Jahre zog er, auch jetzt schon in Kenntnis des preußischen Vorbildes, als eine Art moderner Kreuzfahrer für bessere Volksschulen, ähnlich wie Charles Brooks, landauf, landab, forderte unermüdlich bessere Schulhäuser, für ihren Beruf in Lehrerbildungsanstalten hinreichend vorgebildete Lehrer, gute Schülerbibliotheken, angemessene Unterrichtsmethoden und Schulbücher, die der Eigenart und den Interessen der Schüler Rechnung trugen. Während seiner Sekretärtätigkeit gab er alljährlich einen pädagogischen Bericht heraus, von denen der siebente (Seventh Annual Report) die größte Bedeutung gewann, so daß er heute unter die: „nationalen Dokumente" von USA. gerechnet wird. Auch unter der preußischen Lehrerschaft wurde der Bericht bekannt. Ein Berliner Lehrer, Blumenthal, z. B. berichtete über Horace Mann und seinen Report ausführlich in Diesterwegs Rheinischen Blättern, März und April 1847 pp. 147 bis 161. In diesem Bericht hatte Horace Mann die Resultate einer 1843 auf eigene Kosten unternommenen fünfmonatigen pädagogischen Studienreise durch Europa, vor allem durch Schottland, Preußen und Sachsen, niedergelegt. Durch diesen Jahresbericht, in dem Horace Mann die Überzeugung vertritt, daß die preußischen Schulen mit ihrem gründlich ausgearbeiteten und folgerichtigen System allen anderen überlegen seien und den amerikanischen Schulreformen als Vorbild dienen müßten, wurde er ein bedeutungsvoller Herold deutschen Bildungsdenkens und deutscher Bildungswirklichkeit für USA. Auf seiner kontinentalen Studienreise' hatte er so viele deutsche Schulen besucht, daß er in seinem Bericht behaupten konnte, er kenne die Schulen Preußens und Sachsens etwa in dem Maße, in dem man die Schulen Massachuetts zu kennen behaupten dürfe, wenn man die ihrer wichtigsten Orte, etwa Boston, Newburgport, New Bedfort, Worcester, Northampton und Springfield besucht habe. Bei dem Besuch der Schulen hatte er sein Augenmerk auf die Lehrgegenstände und Lehrmethoden, auf die Schulzucht, die Lehrer und ihre Vorbildung gerichtet und das, was er dabei feststellte, mit seinen Erfahrungen daheim und in anderen Ländern verglichen. Dabei kam er zur Behauptung der Superiorität des preußischen Schulwesens und zu vielen geradezu enthusiatischen Urteilen über seine pädagogischen Einzelheiten, so daß er den Nationalstolz mancher amerikanischer Pädagogen verletzte, von denen er den Beinamen „the Prussian" (92) erhielt. Besonders überrascht war er, als er feststellte, daß die Erreichung des regelmäßigen Schulbesuches der schulpflichtigen Kinder in Deutschland kaum noch als Problem empfunden wurde. Die Erklärung, die ihm ein Darmstädter Schulleiter gab, daß in Deutschland die Kinder „are bom with the innate idea that they are to go to schools", verglich er mit der Situation in Nordamerika, wo die Schulversäumnislisten zeigten, daß den amerikanischen Kindern dieser Instinkt noch völlig fehlte. Am meisten be210
geistert ist er von den Eigenschaften, die er an den deutschen Lehrern zu entdecken glaubt: von ihrer Intelligenz, ihrer Würde, ihrer Zartheit und Liebe im Verkehr mit ihren Schülern und ihrem beständigen Pflichteifer, „If one could bring together all those whom I have visited in their schools, they would form one of the finest assemblages of men I have ever met". Auch von den Unterrichtsmethoden, die er in den preußischen Schulen beobachtete, vor allem von den Methoden des Lese-, Schreib- und Zeichenunterrichts, der Verbindung der Geographie mit der Geschichte, der Ausdehnung und der Art des naturkundlichen Unterrichtes, der Bedeutung, die man dem Gesangunterricht beimaß, und von der lebendigen Anteilnahme der Schüler am Unterricht war er stark beeindruckt. Aus der Kenntnis des preußischen Musters dehnte Horace Mann seine Kritik und seine Reformvorschläge aus auf den Unterricht in den amerikanischen Lehrerinstituten und auf die Lehrerprüfungen, auf die Schulgebäude, die Beschaffung der Schulfinanzen durch Steuern, die Schaffung einer richtigen öffentlichen Meinung in bezug auf Schulangelegenheiten, die Sorge für die verwahrloste Jugend, den Ersatz des Auswendiglernens von Lehrbüchern durch mündliche Behandlung des Unterrichtsgegenstandes und die Begründung von Schulbibliotheken sowie die Beschaffung von Schulapparaten. (In Nicholas Murray Butler, Education in the United States,Albany N. Y. 1900: William Harris Elementary Education S. 48. Mehr als manche andere Vermittler deutscher Pädagogik war Horace Mann infolge seiner Stellung in der Lage, den Anregungen Rechnung zu tragen, die er in Preußen empfing, und seine schulorganisatorische Arbeit nach dem preußischen Vorbild zu orientieren. Allerdings fehlt es auch ihm nach dieser Richtung hin nicht an Gegnern. Gegen ihn schlössen sich zunächst 31 Bostoner Lehrer zusammen, die schon damit unzufrieden gewesen waren, daß er, der Jurist und Politiker, statt eines eigentlichen Fachmannes zum Sekretär der obersten Erziehungsbehörde ernannt worden war. Und nun sollten sie audi noch ertragen, daß von ihm die amerikanischen Schulen, in denen sie wirkten, im Vergleich mit den preußischen Schulen so schlecht wegkamen: bezeichnete er jene doch als dormitories (Schlafsäle) und die Schüler als „hibernating animals und actual marmots" = Tiere im Winterschlaf und wirkliche Murmeltiere (93). Sie gaben „Remarks on the Seventh Annual Report of the Hon. Horace Mann, Secretary of the Massachusetts Board of Education" heraus, in denen sie Mann wegen seiner Kritik der amerikanischen Bildungseinrichtungen angriffen. Dieser Lehrergruppe schlössen sich amerikanische Lehrbuchfabrikanten an, die ihre geschäftlichen Interessen durch Horace Mann bedroht sahen. Dieser hatte sich, nicht ohne Einfluß seiner preußischen Erfahrungen, von der amerikanischen Uberschätzung der text books (Lehrbücher) frei gemacht und Beschränkung ihrer Zahl gewünscht. „There are at this moment 300 text-books in use where 70 or 30 would be sufficient." Eine große Zahl von Broschüren, 14*
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die für oder gegen Horace Mann Stellung nahmen, erschienen*). Auch Brooks beteiligte sich an dem Kampf und focht für Mann. Diese Auseinandersetzung rieb zwar die Kräfte Manns auf, hatte aber auch ihr Gutes. In allen Pädagogenkreisen wurden die preußischen Schulen und die „Prussian Modes" diskutiert. Aber Horace Mann blieb in dem Kampf, den diese beiden Gruppen vereint gegen ihn führten, Sieger und war in der Folge, wie wir noch sehen werden, von großem gestaltendem Einfluß auf die Entwicklung des amerikanischen Schulwesens, zunächst auf das des Staates von Massachusetts und, da dieses das Vorbild für die Schulreform in vielen anderen nordamerikanischen Staaten wurde, mittelbar auch auf diese. Und das, was er hier erreichte, ging zum großen Teil auf die Anregungen zurück, die er vom deutschen Schulwesen empfangen hatte. Horace Mann war nämlich kein eigentlich schöpferischer Pädagoge, war — wie ein Landsmann von ihm sagte — kein „originator", sondern ein „synthesiser". Er war auf Vorbilder in seinem Schaffen angewiesen. Seine Bedeutung für das amerikanische Volksschulwesen und die amerikanische Lehrerbildung haben sowohl seine Zeitgenossen, die ihm den Beinamen „Father of the common school" gaben, als auch die nachfolgenden Generationen, die mehrfach sein Gedenken feierten (z. B. 1897 seinen hundertjährigen Geburtstag), anerkannt. Besonders eindrucksvoll war die HoraceMann-Hundertjahrfeier im Jahre 1937 zur Erinnerung an die Übernahme des Sekretariats im School-Board durch Horace Mann am 1. Juli 1837 mit Feiern in allen 48 Staaten von Nordamerika, mit Festreden und Festspielen, mit Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätzen und Büchern über des großen Pädagogen Persönlichkeit und Werk, mit der Enthüllung eines Denkmals und der Verbreitung seines Bildes unter den amerikanischen Lehrern und Schülern. Wenden wir uns nun dem erwähnten Buche von L. Seely zu, das zeigt, daß das preußische Volksschulwesen auch im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts seine Vorbildwirkung nicht verloren hat. Mit diesem Buch will sein Verfasser eine Doppelaufgabe erfüllen: 1. ein genaues Bild des deutschen, speziell des preußischen Schulwesens geben und 2. daraus die Lehren ziehen, welche auf die amerikanischen Schulen zu ihrer Verbesserung angewandt werden können (94). Natürlich denkt er nicht daran, einfach das preußische Schulsystem als Ganzes auf amerikanischen Boden zu verpflanzen, er ist aber der Ansicht, daß es auch heute noch manches Gute aufweist, das auf die Verhältnisse seines Landes anwendbar ist. Das erste Kapitel des Buches beginnt mit der Behauptung der Superiorität des deutschen Schulwesens. Die deutschen Schulen, die schon lange Jahre wegen ihres Erfolges und ihrer Gründlichkeit gefeiert worden sind — so führt der Verfasser aus —, sind von den Tagen ihrer Gründung bis zur Gegenwart immer besser geworden. Und wenn auch andere Völker in dieser Zeit ihr Schulwesen verbessert haben, so muß nach der Ansicht Seelys doch zugegeben * ) Eine sorgfältige Beschreibung dieses Diskussionsstreites findet sich in B. A . Hinsdale, H o r a c e M a n n a n d the C o m m o n School Revival in the U n i t e d States, N e w York 1915.
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werden, daß Deutschland mit seinem Schulwesen immer noch an der Spitze aller marschiert („Germany, it is conceded, still continues in the lead"). Drei Lehren sind der Welt bisher schon durch das pädagogische Deutschland gegeben worden: 1. die Lehrer müssen eine spezielle Berufsausbildung empfangen und einen eigenen Stand bilden; 1. sie müssen auf Lebenszeit ernannt werden; 3. die Kinder, die das schulpflichtige Alter erreicht haben, müssen an jedem Schultag die Schule besuchen. Die Eltern sind dafür verantwortlich, daß ihre Kinder diese ihre Pflicht erfüllen. In Deutschland sind diese Forderungen verwirklicht und beinahe in gleichem Maße, nach dem deutschen Vorbild, in Norwegen, Schweden, Dänemark, Holland, Belgien und Österreich und in einigen anderen Ländern. Nicht aber in USA. Es hat zwar schon vieles von den deutschen Pädagogen und dem deutschen Schulwesen angenommen, aber es bleibt doch noch vieles von ihnen zu lernen. Insbesondere entbehrt das nordamerikanische Schulsystem noch der beruflich vorgebildeten und fest angestellten Lehrerschaft, und auch die Schulpflicht, gültig für jeden Schultag während wenigstens sieben Schuljahren, ist noch nicht durchgeführt. Mit diesen beiden grundlegenden Forderungen gibt sich Seely aber nicht zufrieden, sondern erhebt eine ganze Reihe weiterer. Vorher aber gibt er eine kurze geschichtliche Übersicht der Entwicklung des preußischen Schulwesens, weil der Leser dieses sonst nicht verstehen würde und weil die Amerikaner daraus lernen sollen, die in Preußen im Laufe der Schulentwicklung vertretenen Irrtümer zu vermeiden (95). In den weiteren Kapiteln behandelt Seely die preußische Schulverwaltung, die Schulpflicht, den Volksschullehrplan, die Unterrichtsmethoden, den Religionsunterricht, das Schulgebäude und schließt daran — entweder am Schlüsse des betreffenden Kapitels oder zusammenfassend in einem Sonderkapitel (96) — praktische Folgerungen für die Schulen von USA. an. Angeregt durch das preußische Schulsystem macht er z. B. folgende Vorschläge: i . Die behördliche Schulaufsicht soll, wie in Deutschland, auf alle Schulen, private und öffentliche, ausgedehnt werden. 1. Die Zahl der Examen soll möglichst klein sein, das Versetzungsexamen soll unterbleiben. Das Urteil über die Versetzungsreife seiner Schüler, das der Lehrer auf Grund ihrer Jahresklassenleistungen gewinnt, ist zuverlässiger als das Urteil, das auf ein Versetzungsexamen zurückgeht. 3. Alle Volksschulen eines Staates sollen nach einem für alle gültigen Plan gegliedert und wie die preußischen zumindest dreistufig sein. 4. Die Hauptaufgabe des Lehrers besteht nicht darin, Lektionen abzuhören, sondern zu unterrichten. Für jede Unterrichtsstunde empfiehlt er die Innehaltung der Herbartischen formalen Stufen (97). Wörtlich sagt er: „Herbarts Formal Steps of instruction give a key to all that the teacher should do in a period of instruction." (98)
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5. Die natürliche Entwicklung des Kindes wird am besten erreicht, wenn sich der Unterricht an Sachen anschließt. Besonders in den ersten Schuljahren ist die sachliche Veranschaulichung erforderlich. Noch in vielen anderen Detailforderungen in bezug auf Lehrerbildung, Lehrerbesoldung, -ernennung, -Pensionierung macht Seely Vorschläge, deren Abhängigkeit von den entsprechenden deutschen Verhältnissen augenscheinlich ist. So entwirft er eine 15 Punkte umfassende Dienstanweisung für Lehrer nach preußischem Muster, verlangt kleinere Normal Schools, in der Größe der preußischen Lehrerseminare, da die großen Anstalten mit mehreren hundert Studierenden eine ausreichende praktische Ausbildung unmöglich machen*), fordert lebenslängliche Anstellung der Volksschullehrer, wie sie in Deutschland selbstverständlich ist, die es in USA. noch nicht gibt: „the weakest point in our school system." (99) Nur wenn sie eingeführt worden ist, läßt sich der ungefähr jährliche Bedarf an Lehrern abschätzen und zu dessen Befriedigung Vorsorge treffen. Auch in den von ihm vorgeschlagenen Pensionsbestimmungen befinden sich auffallende Ubereinstimmungen mit den preußischen Lehrerpensionsvorschriften. So wie die besprochenen drei bedeutenden Herolde deutscher bzw. preußischer Pädagogik, haben auch die übrigen genannten mehr oder minder begeistert auf deren Vorbildwert hingewiesen. So preist z. B. Alexander Dallas Bache „the excellent system" der preußischen Schulen und sagt von der Volksschule: sie „struck me most favourably". Und während er in Frankreichs Schulsystem nichts findet „either for approval or imitation" (100), hebt er im preußischen Schulwesen manches hervor, was amerikanische Nachahmung verdient, etwa die preußischen Lehrerseminare, die auch von Holland, Frankreich und vor kurzem auch von England" being modified only so far as to adapt them to the circumstances of society and education in these several countries" (101) übernommen wurden, oder die preußischen Schulbücher, hinter denen die amerikanischen weit zurückstehen (102). In ähnlicher Weise ist Heniy P. Tappan von der preußischen pädagogischen Theorie und Wirklichkeit begeistert. Die preußischen Schulen stehen vor ihm „as models which we are contraint to admire, to approve and to copy" (103); ebenso schätzt er die deutsche theoretische Pädagogik, in welcher er „a department of literature cultivated to an extent almost equal to any other" sah. Mit Bewunderung weist er auf die große Zahl deutscher päd*) Die preußischen Lehrerseminare hatten nicht mehr als hundert Zöglinge und ein siebenköpfiges Lehrerkollegium einschließlich des Ordinarius der übungssdiule. Die Schülerzahl der amerikanischen Normal schools war größer, bei einigen kam sie bis an tausend, die von bis zu 50 Lehrern unterrichtet wurden. Aber man muß im Auge behalten, daß viele dieser Schüler gar nicht die Absicht hatten, später im Lehrerberuf tätig zu sein, also keine wirklichen Lehrerstudenten waren. Diese Normal Schools wurden auch sonst unter Hinweis auf die preußischen Verhältnisse von amerikanischen Pädagogen sdiarf kritisiert. Deshalb urteilt Hinsdale: „It is clear that we have not yet realised the pure normal school type as Germany, for example has done."
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agogischer Publikationen hin, die 1830 501, 1831 452 und 1832 526 Bücher und Zeitschriften umfaßte (104). In Berlin, wo er sich zum Studium der Schulen, auch der Volksschulen und der Lehrerbildungsanstalten, mehr als zwei Wochen aufhielt, versorgte er sich mit einer ganzen Kollektion pädagogischer Bücher und Schulprogramme. Und sein Endurteil nach dem Besuch vieler Schulen der verschiedenen Arten lautet: „The system of Brussia is one of the most perfect exemplifkations of this" (105). Wenn wir diesen leicht zu vermehrenden Chor der das preußische Schulwesen preisenden Stimmen zusammenfassend überschauen, wenn wir uns die vielen Kanäle,durch welche die deutsche Pädagogik nach USA. kam, vergegenwärtigen und uns auch nochmals ins Gedächtnis zurückrufen, daß und in welchem Umfange die Pädagogik Pestalozzis, Fröbels und Herbarts in USA. Eingang fand, dann halten wir es von vornherein zumindest für wahrscheinlich, daß sie auch die Entwicklung der amerikanischen Volksschule und Lehrerbildung gestaltend beeinflußte. Eine kurze Prüfung der historischen Entwicklung des nordamerikanischen Volkssdiul- und Lehrerbildungswesens bestätigt diese Vermutung. Im Anschluß an das allgemeine Aufblühen des pädagogischen Interesses unter den Denkern und Freunden der Humanität in den führenden europäischen Kulturstaaten, insbesondere in Preußen-Deutschland, entwickelte sich auch in Nordamerika — oder, wie die amerikanischen Berichterstatter sagten, „on this side the Atlantic" — eine lebhafte pädagogische Bewegung etwa von der Mitte des zweiten Jahrzehntes des 19. Jahrhunderts an. Sie wurde begünstigt durch die Entwicklung der politischen Verhältnisse im Lande selbst. Der Glaube an das Volk und an die demokratische Staatsform wuchs besonders vom Jahre 1812 an. Die demokratische Partei wurde damals praktisch für die nächsten achtzehn Jahre die einzige, sozusagen die nationale Partei. Und man begann jetzt, darüber nachzudenken, wie die Bildung der Massen gehoben und sie für die Teilnahme an der Regierung tüchtig gemacht werden können (106). Das begünstigte natürlich die Entstehung einer amerikanischen pädagogischen Bewegung; aber die entscheidenden Anstöße zu ihr kamen doch vom europäischen Kontinent, insbesondere von Preußen-Deutschland. Das läßt sich an vielen Einzelheiten nachweisen. In Amerika wie in Europa unterschied man zwei Hauptrichtungen innerhalb der pädagogischen Bewegung, von denen die eine auf philanthropischer Gesinnung beruhte und darauf gerichtet war, die Sphäre der Erziehung zu verbreitern und sie auf bisher vernachlässigte Schichten der Bevölkerung auszudehnen; und eine zweite mehr auf philosophischpädagogischer Grundlage beruhende, die darauf abzielte, die bestehenden Schulen zu verbessern und bessere Lehrerbildung, Einführung neuer Unterrichtsfächer und rationaler Unterrichts- und Erziehungsmethoden (107) zu bewirken. Die wichtigsten Symptome jener Zeit der amerikanischen pädagogischen Erweckung (Revivalof Education) hängen nachweisbar mit der preußischen pädagogischen Renaissance im Anfang des 19. Jahrhunderts zusammen.
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Es entstanden z. B. damals mehrere pädagogische Zeitschriften in Nordamerika, die immer wieder auf Preußen als das klassische Land der Volksschulen und Lehrerbildungsanstalten hinwiesen, wie „The American Journal of Education" (1826), „The Massachusetts Common School Journal" (1837), „The Common School Assistant" (1836), deren Begründer bzw. Herausgeber Kenner der deutschen Pädagogik und Bewunderer des preußischen Schulwesens waren. Es wurden pädagogische Gesellschaften begründet, deren Streben und Ziele von der deutschen Pädagogik befruchtet waren, wie die „Society fort the Improvement of Common Schools" in Hartford (1827) und eine ähnliche Gesellschaft in Pennsylvania (1828), das „American Institute of Instruction" in Boston (1820) und das „Western Academic Institute and Board of Education" in Cincinnati (1830). Es entstand eine lebhafte öffentliche Diskussion von Erziehungs- und Schulfragen in Presse und Parlament, die sich häufig mit dem preußischen Schulwesen beschäftigte, es als Vorbild pries, es allerdings ganz vereinzelt auch als ungeeignet oder als gefährlich für Amerika ablehnte. So ist es erklärlich, daß das öffentliche Schulwesen im Anschluß an das preußische Volksschulwesen begründet oder revidiert wurde, z. B. in Kentucky 1821—28, in Maine 1821, in Alabama 1823, in Maryland, Wiskonsin und Ohio 1828, in Connecticut, New Hampshire, Massachusetts, Vermont, Rhode Island, New York, Virginia, Delaware, South Carolina 1827 und 1828. Es wurden dann Lehrerseminare nach preußischem Vorbild gefordert und begründet. „In America, as in Europe, the demand for better teacher was a marked feature of the great democratic movement towards popular education, perhaps it may be called the feature of this movement" (108). Besonders stark entfaltete sich die pädagogische Bewegung in dem Staate, in dem Brooks und Horace Mann tätig waren, in Massachusetts. Hier wurden die ersten staatlichen Volksschulen und Lehrerseminare unter dem Eindruck des preußischen Vorbildes begründet. Massachusetts aber würde darin Vorbild für andere nordamerikanische Staaten, unter denen Massachusetts als einer der fortschrittlichsten galt. „Massachusetts First" (109) ist der Titel eines Aufsatzes, in dem gezeigt wird, daß viele amerikanische Fortschritte zuerst auf dem Boden dieses Staates gemacht wurden. Massachusetts hatte die erste staatliche Normal School in USA., die erste staatliche Schulbehörde, beides nach preußischem Muster, das erste Gesetz betr. Kinderarbeit, die erste staatliche Gesundheits- und die erste staatliche Wohlfahrtsbehörde, die erste staatliche Versicherung, die erste staatliche Festsetzung des Minimalarbeitslohnes für Frauen und Kinder u. a. m. Gordy hat sich Mühe gegeben nachzuweisen, daß der Gedanke einer beruflichen Vorbildung des späteren Lehrers in Amerika original entstanden und nicht vom Kontinent, etwa von Preußen, importiert worden sei. Wohl aber behauptet er, daß die preußische Lehrerbildung dazu gedient habe, „to strengthen and accelerate a movement, which had an independent origin" (110). Der kritische Leser wird aber durch seine Verteidigung der amerikanischen Originalität der Normalschulidee nicht überzeugt. Wenn audi die von ihm zitierten
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frühesten Forderer einer speziellen Lehrerbildung das preußische Beispiel nicht erwähnen, so ist doch durchaus nicht ausgeschlossen, daß sie von ihm gehört und daß ihnen die Forderungen einer beruflichen Lehrerbildung durch Deutsche und die dahingehenden Versuche bekannt waren. Wohl wurde die amerikanische Diskussion der Lehrerbildung außer durch das preußisch-deutsche Vorbild auch durch das Lancastersystem, was man zunächst gar nicht erwarten sollte, angeregt. Dessen Mängel, die beschränkte Wirkungsmöglichkeit der Monitoren, war eine der Ursachen dafür, daß man sorgfältiger als vorher über Fragen nachdachte wie: „What are the qualifications of a successful teacher?" und über die an deren Beantwortung sich weiter anschließende Frage: „How can they acquire these qualifications?" (111) Man kann sich vorstellen^ daß in einer Zeit, in der diese Fragen diskutiert wurden, die begeisterten Schilderungen der preußischen Lehrerbildung durch Viktor Cousin, Charles Brooks, Horace Mann und die anderen Herolde preußischer Pädagogik mit bereitwilligem Interesse aufgenommen wurden und die preußische Lehrerbildung sowohl bei der theoretischen Klärung der Lehrerbildungsfrage wie bei der praktischen Einrichtung von Lehrerbildungsanstalten von gestaltendem Einfluß war. Die preußische Erfahrung hatte gezeigt, daß nur eigens für ihren Beruf vorbereitete bzw. ausgebildete Lehrer an der Volksschule erfolgreich unterrichten können. Diese Ansicht gewann auch in USA. immer mehr an Boden. Die Prussian Maxim: „ „As is the master so is the school" wurde häufig mit Zustimmung zitiert. Und manche der damals kursierenden Aussprüche zugunsten einer speziellen Lehrerbildung, wie etwa „No stream flow higher than their fountain" oder „An ingenious and faithful workman is cheapest", waren Anklänge an deutsche Begründungen. In der amerikanischen Diskussion der Lehrerbildung waren anfänglich verschiedene, voneinander abweichende Meinungen vertreten. Die eine Gruppe verlangte, daß die späteren Lehrer wie die Vertreter anderer Berufe durch eine allgemeinbildende Schule gehen sollten, durch die sogenannten academies; nur sollte für sie der Lehrplan noch durch ein besonderes Unterrichtsfach, „the principles of teaching", bereichert werden. Die zweite Gruppe dagegen forderte zur Ausbildung der zukünftigen Lehrer Sonderanstalten, seminaries bzw. normal schools. Daß die zweite Ansicht durchdrang, lag wesentlich mitbegründet an dem preußischen Vorbild, auf das sich die Angehörigen der zweiten Gruppe oft beriefen. So zog z. B. Horace Mann noch 1839 einen Vergleich zwischen beiden Ausbildungswegen, der mit Berufung auf das preußische Vorbild zugunsten der zweiten, der normal school, ausfiel. Und als nun die ersten staatlichen normal schools gegründet wurden, zeigte sich der gestaltende Einfluß der preußischen Lehrerseminare in vielen Einzelheiten. In bezug auf die Ausbildungsdauer war man der Ansicht „Less than three years — the time required by the Prussian seminaries — would be too short", und die ersten Normal Schools waren dreijährig organisiert. Auch der Course of Study (der Studienbzw. Lehrplan) der neuen Anstalten stand unter preußischem Einfluß. Der
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Lehrplan der preußischen Anstalten war— „as everybody knows", setzt Gordy hinzu — auf der Theorie aufgebaut, daß der Lehrer Sachkenntnisse in den einzelnen Unterrichtsfächern und außerdem Kenntnisse auf dem Gebiet, „what may be termed pédagogies", haben müsse. Dieselbe Auffassung liegt auch dem amerikanischen Studienplan zugrunde. Auch sollte jede amerikanische normal school für die pädagogisch-praktische Ausbildung ihrer Sdiüler, wie das preußische Lehrerseminar, eine Übungsschule, hier experimental oder model sdiool genannt, besitzen. Selbst bis in die Aufnahmebedingungen der ersten amerikanischen normal schools zeigt sich die Abhängigkeit vom preußischen Vorbild. Der junge Mann, der in die amerikanische Lehrerbildungsanstalt aufgenommen werden wollte, mußte — wie in Preußen der zukünftige Seminarist — 17 Jahre alt sein, eine Gesundheitsbescheinigung beibringen und eine Aufnahmeprüfung bestehen. Man könnte auf die Vermutung kommen, die amerikanische normal school habe sich mit dem französischen Namen (école normale) auch die Einrichtung der französischen Lehrerbildungsanstalt zum Muster genommen. Aber die Bezeichnung Normalschule für die Berufsbildungsanstalt der zukünftigen Lehrer (von lateinisch : norma = Regel) ist gar nicht ausschließlich in Frankreich üblich gewesen. Walz irrt, wenn er behauptet, der Ausdrude „Normalschule* „has never been used in Germany" (112). Auch in Deutschland war er zeitweise in Gebrauch. Freiherr von Fürstenberg, der Generalvikar des Bisdiofs von Münster, hatte z. B. in Münster eine solche zur Ausbildung von Lehrern begründet und später den bekannten Pädagogen Bernhard Overberg an sie berufen, der an ihr von 1783—1826 als Lehrerbildner tätig war und durch diese seine Tätigkeit und sein Schrifttum auch im Ausland bekannt wurde und damit wohl auch die Bezeichnung der von ihm geleiteten Anstalt als „Normalschule". Daß die ersten amerikanischen normal schools von der preußischen, nicht aber von der französischen Lehrerbildung abhängig waren, ergibt sich auch aus Ort und Zeit ihrer Gründung. Gleich nach der bereits erwähnten, auf preußische Anregung erfolgten Begründung einer Oberschulbehörde (Board of éducation) in Massachusetts begannen innerhalb derselben die Beratungen zur Verwirklichung der Idee der Lehrerbildung. Man beschloß schließlich, drei dreijährige normal schools, je eine im Nordosten, im Südosten und im Westen der Heimat von Brooks und Horace Mann durchzuführen. Sieben Städte boten sich zu ihrer Aufnahme unter Bereitstellung der Bauten und der inneren Einrichtung an. Aus ihnen wählte der Board am 28. Dezember 1838 als erste Lexington aus. Die Eröffnung der Anstalt erfolgte am 3. Juli 1839 in der Stadthalle in Lexington mit einem Lehrer und drei Studenten. In demselben Jahre wurde eine zweite normal sdiool in Barr und im darauffolgenden Jahre eine dritte in Bridgewater eröffnet (113). Natürlich fanden die neuen Lehrerbildungsanstalten und ihre Absolventen nicht überall in Massachusetts von Anfang an Billigung und Zustimmung. Sie 218
wurden im Gegenteil von manchen Pädagogen bekämpft. Den ersten auf ihnen vorgebildeten Lehrern begegnete man anfänglich fast überall mit Vorurteilen und Mißtrauen, mitunter sogar mit boshafter Opposition. Aber allmählich wurde dieser Widerstand doch abgebaut. Man sah, daß diese „neuen" Lehrer größeren Unterrichts- und Erziehungserfolg hatten, daß sie bessere Methoden anwandten und von pädagogischem Enthusiasmus erfüllt waren, mit dem sie nicht selten auch ihre beruflich nicht vorgebildeten Kollegen ansteckten. Infolgedessen wurde die Nachfrage nach solchen „neuen" Lehrern allmählich größer und damit auch der Antrieb zur Begründung weiterer normal schools stärker. 1854 wurde im Staate Massachusetts eine vierte in Salem, zwanzig Jahre später eine in Worcester begründet. Und 1894 wurden vier weitere bewilligt (114). Das Beispiel, das Massachusetts hierdurch gab, wirkte weiter auf andere amerikanische Staaten. Butler führt den Ausspruch einer amerikanischen pädagogischen Autorität an, der lautete: „All normal school work in the countiy follows substantially on tradition and this traces back to the course laid down at Lexington." (115) Audi die Deutschamerikaner waren auf die Gestaltung des nordamerikanischen Volksschul- und Lehrerbildungswesens des 20. Jahrhunderts im preußischen Sinne von Einfluß. Man darf allerdings diesen Einfluß nicht, was leicht geschieht, zu hoch veranschlagen. Das bringt A. B. Faust im V. Kapitel seines mehrfach erwähnten Buches mit den Worten zum Ausdruck: „ obschon die Deutschamerikaner an der fortschrittlichen Entwicklung des Unterrichts im 19. Jahrhundert tätigen Anteil genommen haben, gebührt das Hauptverdienst, deutsche Lehr- und Lernmethoden eingeführt zu haben, den Amerikanern selbst" (116). Noch entschiedener wird dieser Sachverhalt von Bosse im XII. Kapitel seines bekannten Buches (117) herausgestellt, wenn er sagt: „Wie die deutsche Literatur und Wissenschaft, so hat der Amerikaner auch das deutsche Erziehungswesen unabhängig von den Deutschen in Amerika entdeckt, wenn auch rühmend festgestellt werden darf, daß einzelne deutschamerikanische Pädagogen auf die Entwicklung der amerikanischen Volksschule einwirkten." Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daß einzelne Schulreformen durch die Deutschamerikaner begünstigt wurden. Dazu gehört z. B., daß dem Gesangunterricht in dem öffentlichen Schulwesen mehr Aufmerksamkeit zugewandt wurde. „Die meisten und beliebtesten Melodien, welche die amerikanischen Schulkinder singen, sind deutschen Ursprungs." (118) Auch die Einführung des physical training in die amerikanischen Schulen ist zum Teil der Wirkung der Deutschamerikaner, vor allem der deutschamerikanischen Turnvereine, zu verdanken. Um den Ideen und Grundsätzen deutscher Erziehungslehre mehr Geltung zu verschaffen, schlössen sich die deutschamerikanischen Lehrer 1870 zu einem Lehrerbund zusammen, dessen Verbandsorgan die „Pädagogischen Monatshefte" waren. Dem gleichen Ziele diente auch die Errichtung eines Nationalen deutschamerikanischen Lehrerseminars in Milwaukee im Jahre 219
1878, mit dem und dessen Übungsschule auch ein Tumlehrerseminar in Verbindung stand (119). Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich also, daß die Entwicklung der amerikanischen common und normal schools unter dem gestaltenden Einfluß der preußischen Volksschule und des preußischen Lehrerseminars gestanden hat. Damit ist aber noch nicht ihre ganze Entwicklungsabhängigkeit von der deutschen Pädagogik dargestellt. Um diese ganz zu sehen, müßten wir hier audi den direkten Einfluß der deutschen pädagogischen Theorie mitheranziehen, also z. B. mitberücksichtigen, was wir über die Ausstrahlung pestalozzianischec, fröbelianischer und herbartianischer Ideen nach Nordamerika in den einschlägigen Kapiteln dargestellt haben. Die Einwirkung der deutschen pädagogischen Gedankenwelt auch auf das innere Leben der amerikanischen Volksschulen und Lehrerbildungsanstalten mußte natürlich in dem Maße zunehmen, in dem die Werke deutscher Pädagogen in Nordamerika erschienen oder führende Pädagogen fähig wurden, deutsche Pädagogen im Original zu lesen. Calvin E. Stowt hatte schon 1839 in seiner Abhandlung „Normal schools and teadiers seminaries" (120) den Pädagogen das Studium der deutschen Sprache empfohlen, damit sie dazu in der Lage wären. Und es fehlte nidit an Lehrern, die diesen Rat befolgten.
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2. Die deutsche Höhere Schule Um das gleich vorwegzunehmen: die deutsche Höhere Schule des 19. Jahrhunderts hat für die ausländische Schulentwicklung bei weitem nicht die gleiche Bedeutung gehabt wie der Kindergarten, die Volksschule und das Lehrerseminar dieser Zeit. Und auch hinter der im nächsten Kapitel geschilderten Einwirkung der modernen deutschen Universität steht sie an Bedeutung weit zurück. So ist es auch nicht verwunderlich, daß es an Spezialliteratur, wie sie für den Auslandseinfluß der anderen Schularten nachweisbar ist und von uns benannt wurde, für die Höhere Schule fehlt. Wegen dieses Mangels an einschlägigen Vorarbeiten machte daher auch die Beschaffung des Materials zu dieser Darstellung größere Schwierigkeiten. Es liegt nahe, zu fragen, wie es zu erklären ist, daß die internationale Bedeutung der deutschen Höheren Schule geringer ist als die der anderen Schularten. Wir werden die Antwort auf diese Frage nicht im voraus im allgemeinen, sondern für jede der zu behandelnden Nationen gesondert geben. Beginnen wir unsere Darstellung mit Frankreich. In Frankreich ist die Höhere Schule nicht nur älter als die Volksschule, sondern sie war auch stets der Mittelpunkt des französischen Schulwesens, ja bis 1885 allein maßgebend (1). Sie war auch in besserem Zustand als die Volksschule, die Lehrerbildung und das Hochschulwesen. Daher kam es auch, daß der Franzose im allgemeinen mit ihr zufrieden, ja stolz auf sie war, während die anderen Schularten viel weniger hoch eingeschätzt und viel häufiger, offener und uneingeschränkter als reformbedürftig empfunden und erklärt wurden. Es ist nicht schwer, in der französisen pädagogischen Literatur günstige Urteile über den enseignement secondaire als Ganzes sowie über die Tüchtigkeit der Professoren und die Leistungen der Schüler aus dem Munde anerkannter Fachleute zu finden, während ähnliche etwa für die französische Lehrerbildung nicht nachgewiesen werden können. So sagt z. B. Boissier, nachdem er vorher noch darauf hingewiesen hat, daß er die Höheren Schulen Englands und Italiens und das deutsche Gymnasium ein wenig kenne: „Je suis convaincu, je le répète, que notre enseignement secondaire, pris dans son ensemble, égale au moins, s'il ne le dépasse pas, celui des autres nations." (2) Und von den Professoren der écoles secondaires behauptet er, sie seien „excellent" und verstünden ihr métier. Er glaube nicht, daß es in irgendeinem Lande bessere gebe (3). Auch mit den Leistungen der Absolventen der écoles secondaires ist man, wenn man sie mit 221
denen der anderen Völker vergleicht, zufrieden. Fouillée behauptet sogar, mit Berufung auf Halévy : „Nos bacheliers savent, en moyenne, plus de littérature, d'histoire, de sciences et de géographie que les élèves allemands." (4) Nun sind die Franzosen zwar in der Mehrzahl immer wenig bereit gewesen, von ihren deutschen Nachbarn zu lernen. Das haben hellsichtige Franzosen selbst erkannt und auch ausgesprochen, wie z.B.Blondel, der auch die gewöhnliche Begründung für diese ablehnende französische Haltung kritisiert. „ Nous nous sommes bornés depuis cent ans, toutes les fois qu'on nous citait l'exemple de nos voisins et de nos rivaux, à répéter: ce n'est pas dans le caractère français. Vous n'êtes pas sans avoir remarqué à quel point cette réponse est usuelle en France." (5) Aber erst recht wird diese französische Eigenart sich auswirken, wenn der Glaube an die Gleichwertigkeit oder gar Überlegenheit der französischen Einrichtungen über die entsprechenden deutschen hinzukommt, wie es bei den Höheren Schulen wenigstens während einzelner Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts der Fall war. Die Ursache der geringen internationalen Bedeutung der deutschen Höheren Schulen lag aber auch, vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, an ihnen selbst. Um das nachweisen zu können, ist es zweckmäßig, vorher einige weiter zurückliegende Zeitabschnitte anzuführen, in denen das deutsche Gymnasium mit seiner äußeren und inneren Organisation für andere Völker Anstoß und Muster für Einrichtung oder Reform des eigenen höheren Schulwesens wurde. Zwei können da besonders hervorgehoben werden: das Reformationszeitalter und die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Zeit des beginnenden Neuhumanismus. Die Reformation fand von Deutschland aus direkt ihren Weg auch ins Ausland, besonders in die europäischen Nordstaaten und nach Süden in die Schweiz und zu den Südslawen, und mit ihr gleichzeitig auch ihre pädagogischen Ideen. In den Teilen Deutschlands, in denen die Reformation siegreich war, wurde der Wiederaufbau zusammengebrochener und die Reform der erhaltengebliebenen Höheren Schulen notwendig. Ihr erster Reorganisator war Philipp Melanchthon, dessen Einfluß über die deutschen Grenzen hinaus wirkte. In seinem Beisein wurde 1524 die aus drei mehrjährigen Klassen bestehende Höhere Schule in Magdeburg begründet. Auch die zur ersten Ordnung des Schulwesens von den Reformatoren 1528 herausgebrachte kursächsische Schulordnung „Unterricht der Visitatoren im Kurfürstentum zu Sachsen" ging auf ihn zurück. Sie sah nach Melanchthons Plan dreiklassige Lateinschulen mit Ausschluß des Griechischen vor und wurde bei der Einrichtung der Wittenberger Lateinschule 1555 zugrunde gelegt. Nach ihrem Muster wurden andere deutsche und ausländische Schulordnungen verfaßt, z. B. durch Bugenhagen außer den Schulordnungen für Braunschweig, Hamburg, Lübeck, Bremen auch die von Kopenhagen im Jahre 1536. Mit der Reformation fanden deren pädagogische Anregungen auch Eingang bei anderen Völkern, z. B. bei den Slowenen und Kroaten (6). Vermittler 222
waren vielfach Männer, die damals an protestantischen Universitäten, z. B. in Wittenberg oder auch in Tübingen studierten. Die geistigen Führer der südslawischen protestantischen Bewegung, wie Trubar und Baron Ungnad, waren in dauernder Verbindung mit dem deutschen Protestantismus und arbeiteten zum Teil überhaupt von Deutschland aus. Auf die Reformation ist in diesem Gebiet außer einer allgemeinen Hebung des Kultumiveaus, der Schaffung einer Literatursprache und einer nationalen Literatur (7) auch die Weckung des Verständnisses für die Wichtigkeit des Schulwesens und der Bildung in der Muttersprache zurückzuführen, sowie ein stärkerer Ausbau des Schulwesens einschließlich Höherer Schulen. Ein ins einzelne gehender Nachweis dieses pädagogischen Einflusses auf die Südslawen setzt speziell historisch-pädagogische Vorarbeiten voraus, die noch fehlen. Das letztere ist erklärlich, da hier die Forschung mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Für die deutschen Erziehungswissenschaftler liegen sie zunächst im Sprachlichen. Die Kenntnis der in Frage kommenden slawischen Sprachen ist unter ihnen kaum vorhanden. Unter Befolgung des Grundsatzes „Slavica non leguntur" kann aber die Forschung nicht wesentlich weitergeführt werden. Auf slawischer Seite selbst aber stand der Erforschung dieses Problemkreises meistens politische Gegenstimmung im Wege. Eine weitere Schwierigkeit für sie aber lag begründet in der Mannigfaltigkeit und Vielverflochtenheit der ausländischen Einflüsse auf die Südslawen. Das von ihnen bewohnte Gebiet ist ausgesprochene Übergangszone zwischen Europa und Asien, auf die sowohl balkanisch-byzantinisch-orientalischer wie auch romanischer und germanisch-österreichisch-mitteleuropäischer Einfluß wirksam war, so daß die Herausarbeitung der Folgen eines einzelnen, z. B. des deutschen Einflusses nicht leicht sein kann. Erschwerend wirkt außerdem noch der Umstand, daß der deutsche Einfluß, wenigstens vom 16. Jahrhundert bis zum Josephinismus, in zwei Kraftlinien verlief, deren Ausgangspunkte das katholische Österreich und die protestantischen Gegenden Deutschlands waren. Der berühmteste aller Schulmänner im Reformationszeitalter nach Melanchthon ist der Straßburger Rektor Johannes Sturm (1507—1589), der durch den in seiner 1538 herausgegebenen Schrift „De litterarum ludis recte aperiendis liber" in allen Einzelheiten veröffentlichten Schul- und Lehrplan und durch das neunklassige Gymnasium in Straßburg, das deutsche und außerdeutsche Schüler hatte und in- und ausländische Besucher empfing, auf das deutsche und das außerdeutsche höhere Schulwesen von Einfluß war. Besonders in Frankreich, wo Sturm außerdem 1529—1536 in Paris philologischphilosophische Vorlesungen hielt, war sein Einfluß wirksam. Viele der Humanistenschulen Frankreichs folgten dem Sturmschen Vorbild, wie wir es bestimmt z. B. von der Schola Aquitania in Bordeaux wissen. Außer dieser unmittelbaren besteht eine mittelbare Einwirkung Sturms auf die Entwicklung des höheren französischen Schulwesens durch seinen Schüler Pierre de la Ramée (1515—1572), der für die ebenfalls dreiklassige Organisation des französischen höheren Schulwesens und die Vereinfachung und Vervollkommnung des Lehr-
Verfahrens der französischen Gelehrtenschulen für ein ganzes Jahrhundert wichtig geworden ist (8). Auch nach England kamen die Sturmschen Ideen, wenn man sich dort auch aus dem nationaltypischen Konservativismus heraus nicht zu größeren Reformen im Sturmschen Sinne bewegen ließ. A. Zimmermann behauptet (8a): „Wohl nirgends haben die Grundsätze Sturms, der in der Aneignung der klassischen Sprachen an sich, ganz besonders des Lateins, das Heil für die Jugend erblickte, so nachhaltigen Einfluß ausgeübt." Der zweite Zeitabschnitt, in dem das ausländische höhere Schulwesen gestaltende Kräfte von Deutschland empfing, war die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, in dem sich in Deutschland „aus den Bedürfnissen der Zeit und im Gegensatz zur Zeit" ein Neuhumanismus entwickelte, der sich nicht wie der erste Humanismus mit der Imitation der antiken Schriftsteller begnügte, sondern das Griechische und Lateinische als Werkzeuge zur Entfaltung der Geisteskraft, als Mittel zur Verwirklichung des Bildungsideals der „vollkommenen Menschlichkeit" ansah. Diese neue Auffassung vom Ziel und den Mitteln der Erziehung führte dann auch zu einer Reform der Gymnasien. Daß diese sich verhältnismäßig schnell durchsetzte, ist leicht erklärlich. Denn die Begründer und führenden Köpfe dieser neuen Bewegung waren entweder selbst Schulmänner oder hatten auf deren Ausbildung großen Einfluß. Dies gilt vom Begründer dieses Humanismus, Johann Matthias Gesner (1691 —1761), der zuerst Konrektor am Gymnasium in Weimar, darauf Rektor in Ansbach und 1730 Rektor der Thomasschule in Leipzig war. In diesen Stellungen führte er selbst die von ihm geforderte neue Betrachtung des Altertums und die neue Art der Lektüre der alten Schriftsteller in die Schulen ein. Auf die Höhe seines Wirkens aber gelangte er als Professor eloquentiae an der Göttinger Universität; auch als solcher blieb er von Einfluß auf die Entwicklung des Gymnasiums, weil hier eine große Zahl späterer deutscher und auch einige spätere ausländische Gymnasialprofessoren seine Schüler und Mitglieder des dort von ihm errichteten und zwanzig Jahre geleiteten seminarium philologicum zur Ausbildung tüchtiger Gymnasiallehrer waren. Auch die anderen führenden Neuhumanisten waren von Einfluß auf die Reform der Höheren Schulen. Zu ihnen gehörten z. B. Christian Gottlob Heyne (1729—1812), der Inspektor der Landesschule in Ilfeld und von 1763 an der Nachfolger Gesners in Göttingen, wo er der eigentliche Schöpfer der Realphilologie in wissenschaftlicher Form wurde, und außerdem Wolf, Voß, die beiden Schlegel und Wilhelm von Humboldt zu Schülern hatte. Von diesen wurde Friedrich August Wolf der energischste und erfolgreichste Vertreter des Neuhumanismus und Begründer der Altertumswissenschaft, der 1783—1807 an der Hallenser Universität lehrte. Zu nennen sind außerdem noch Johann August Emesti als Gesners Nachfolger an der Thomasschule, seit 1742 Professor an der Leipziger Universität, und Friedrich Gedike als Rektor zuerst am Friedrich-Werder-Gymnasium und später am Grauen Kloster in Berlin ; alle diese Männer wirkten mehr oder weniger auf die Entwicklung des deutschen und auch des ausländischen höheren Schulwesens ein. Für die Einfluß224
nähme über die Grenzen lassen sich mehrere Beispiele anführen. Zu den von ihnen beeinflußten Ländern gehörte z. B. Ungarn (9). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zu Anfang des 19. Jahrhunderts studierte eine Anzahl ungarischer Studenten auf deutschen Universitäten, zumal in Göttingen und Jena, und diese kehrten dann als Vertreter der neuhumanistischen Schulreform in ihre Heimat zurück. Unter ihnen war eine Reihe späterer ungarischer Professoren, wie Johannes Ris, Christian Genserich, Ludwig Schedius u. a. m., die meist stark von dem erwähnten Philologen Heyne abhängig waren. Einzelne führende ungarische Pädagogen gingen aus dem pädagogischen Seminar der Hallenser Universität hervor und folgten in ihrer Tätigkeit den Lehren und dem Beispiel des genannten Professors Friedrich August Wolf in Halle. Um sich ein einigermaßen vollständiges Bild von den Kräften zu verschaffen, die von dem deutschen Humanismus auf die Höheren Schulen anderer Länder ausstrahlten, müßte man sich eingehend mit Leben und Werk der genannten deutschen Gelehrten und Schulmänner befassen. Das ist hier aber schon aus Raumgründen unmöglich. Einige Angaben über einen von ihnen mögen die internationale Bedeutung des Neuhumanismus weiter veranschaulichen, und zwar über den schon genannten Göttinger Universitätslehrer Christian Gottlieb Heyne, die der von Arn. Herrn. Lud. Herren 1813 in Göttingen herausgebrachten Biographie entnommen wurden. Heyne besaß auf der Höhe seines Schaffens Weltruf. Begünstigt wurde das durch den Umstand, daß Hannover damals zu England gehörte. Seine Schriften waren in England nicht weniger geachtet und gebraucht als in Deutschland. Von England verbreitete sich sein Ruf nach Amerika; aber auch in Polen, Spanien, der Schweiz war er rühmlichst bekannt. Aus manchen Ländern erhielt er selbst überraschende Beweise der Hochachtung. Sein Ruhm wurde auch verbreitet durch seine Schüler. Unter den Mitgliedern seines Philologischen Seminariums waren viele Ausländer. Heyne betrachtete dieses als eines seiner wichtigsten Arbeitsfelder. Hier wirkte er auf die künftigen Lehrer in- und ausländischer Höherer Schulen, indem er ihnen nicht nur sein Wissen und die Ergebnisse seiner Forschungen übermittelte, sondern ihnen gleichzeitig auch seine neue Weise der Erklärung der lateinischen und griechischen Dichter und Schriftsteller praktisch zeigte. Heyne stand mit vielen ausländischen Gelehrten in brieflichem Verkehr. Als Leiter der berühmten Göttinger Universitätsbibliothek verfolgte er die wichtigsten literarischen Neuerscheinungen des Auslandes und knüpfte Verbindungen an mit ihren Verfassern und Verlegern. Von ausländischen Fachgenossen und Schulmännern wurde er häufig zitiert. Wissenschaftliche Gesellschaften in England, Frankreich, Italien, Dänemark, Norwegen, Schweden und aus anderen Ländern erklärten ihn zum auswärtigen korrespondierenden Mitglied oder zum Ehrenmitglied. Oskar Benda (10) hat darauf hingewiesen, daß in diesen Jahrzehnten in Deutschland die starre Typenform der aus dem 16. und 17. Jahrhundert überkommenen Gelehrtenschule gelockert wurde, so daß am Ende des Jahrhunderts 15
S c h n e i d e r , Pädagogik.
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in einzelnen Fällen fast die sogenannte Freiarbeitsschule, welche volle Beschäftigungsfreiheit der Schüler unter Verzicht auf Stundentafel, Lehrplan und Klassengliederung gewährt, erreicht wurde, überall aber die allgemein^ Entwicklung auf eine Gabelung der Höheren Schule drängte, wie sie z. B. von Gedike am Grauen Kloster und von Gurlitt in Hamburg durchgeführt wurde. Infolgedessen konnten die damaligen Höheren Sdiulen der naturgemäßen individuellen Entwicklung ihrer Schüler weitgehend Rechnung tragen: den Begabungen und Neigungen ihrer Zöglinge weiten Spielraum gewähren, die Anforderungen an ihre Leistungsfähigkeit differenzieren, den Pflichtunterricht zugunsten der freien Beschäftigung einschränken und überdurchschnittlichen Begabungen ein rascheres Durchlaufen ihrer Bildungsbahn gestatten, als dem Durschnitt (11). Diese Entwicklung aber wurde durch das allmähliche Vordringen des Ideals der allgemeinen Bildung und die Einführung des Schulzeschen neunldassigen Gymnasiums als „unbestrittene Normalform" aufgehoben. Wir sind es gewöhnt, die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts als die Glanzzeit unseres höheren Schulwesens zu betrachten, in der sich das neunklassige Schulzesche Gymnasium in Preußen entfaltete und bald sowohl in der inländischen wie auch in der ausländischen Einschätzung hohes Ansehen erlangte. Aber die von ihm auf die Entwicklung des ausländischen höheren Schulwesens ausgehenden gestaltenden Kräfte waren doch nicht so stark, als daß man diese Jahrzehnte zu den Zeitabschnitten mit bedeutender Auslandswirkung der deutschen Höheren Schule rechnen dürfte. Worin liegt das begründet? Weil die meisten anderen Kulturnationen die gelockerte Organisationsform ihrer Höheren Schulen auch im 19. Jahrhundert nicht preisgaben und darin nicht in dem Maße erstarrten wie Deutschland. Das gilt, worauf Benda hinweist, besonders für England und Amerika, die beide „den organischen Zusammenhang mit dem Organisationsgedanken des 18. Jahrhunderts nie zerrissen haben", und außerdem von Frankreich, wo sich im Gegensatz zu Deutschland die Gabelung schon 1802 durchsetzt und trotz gelegentlicher Rückschläge als dominierende Schulform dauernd behauptet. Hinzu kommt, daß sich an dem Gymnasium allmählich einzelne charakteristische Züge zeigten, welche die Kritik manches ausländischen Beobachters wachrufen konnten und seine Bereitwilligkeit, vom deutschen Gymnasium lernen zu wollen, vermindern mußten. Dazu gehörten: die abgöttische Wertschätzung des altsprachlichen Unterrichtsgutes, der Bildungshochmut der humanistischen Gebildeten, die durch diese Stoffvergötterung begünstigte Lebensentfremdung, die überbürdung der Schüler, deren tägliche Unterrichtszeit am preußischen Gymnasium bis auf 7 Stunden stieg und denen „durch pflichtmäßige Präparationen und Privatlektüre überdies noch eine häusliche Arbeit von täglich fünf Stunden auferlegt" (12) wurde. Trotzdem fehlt es auch in dieser Zeit nicht ganz an Einwirkungen des preußischen Gymnasiums auf die französischen Höheren Schulen, wenn nicht in bezug auf die äußere Organisation, so doch in bezug auf die Unterrichtsmethoden.
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Victor Cousin hat auf seiner deutschen pädagogischen Studienreise auch Gymnasien besucht. Als er in Magdeburg, dieser „ville de guerre et de commerce", zwei Gymnasien findet, ruft er aus: „Quelle leçon pour la France!" und vergleicht es mit Lyon, das, obwohl es sechsmal größer als Magdeburg und die zweite Stadt des Staates ist, nur ein Gymnasium hat, obwohl ein kaiserliches Dekret die Errichtung eines zweiten befohlen hatte (13). Was Cousin am preußischen Gymnasium für nachahmenswert hält, wird ersichtlich aus seiner 1838 in Paris erschienenen Schrift „État de l'instruction secondaire dans le royaume de Prusse pendant l'année 1831". Die wichtigsten der in ihr gemachten Vorschläge sind: Im preußischen Gymnasium unterscheidet man Unter- und Oberklassen. In den ersteren wird ein Unterricht erteilt, der zwar auf die oberen vorbereitet, der aber zugleich in gewissem Grade von ihm unabhängig ist und für sich ein Ganzes bildet. Was die Schüler in den vier ersten Klassen lernen, hat Wert für sie, auch wenn sie nicht in die oberen Klassen kommen. Auch die französischen Höheren Schulen kennen die Gliederung in untere und obere Klassen. Aber in Frankreich muß der Schüler auf den ersteren vieles lernen, was für ihn unnütz ist, wenn er die obern Klassen nicht besucht. Mit Berufung auf das preußische Vorbild stellt Cousin daher einige Lehrplanforderungen auf. Für die Unterklassen fordert er eine größere Mannigfaltigkeit der Lehrgegenstände. Das Griechische soll erst in der vierten Klasse beginnen „comme dans les bons gymnases de la Prusse" (S. 33). Der Geschichtsunterricht soll einen Kursus in allgemeiner und einen Spezialkursus in französischer Geschichte umfassen und der Geographieunterricht allgemeine Geographie und Geographie Frankreichs behandeln. Für den Übergang von den unteren zu den oberen Klassen verlangt er wie in Preußen die Handhabung eines „examen sérieux" (S. 38). Auch die Zahl der Gymnasien, die Zahl der Schüler und ihre Verteilung auf die unteren und oberen Klassen, die finanzielle Unterhaltung der Anstalten und die Stellung der Privatanstalten in Preußen stellt er für den französischen enseignement secondaire als vorbildlich hin. In Preußen gibt es eine große Zahl von Städten mit 30000 bis 70000 Einwohnern, welche mehrere Gymnasien haben, z. B. außer dem schon erwähnten Magdeburg, Königsberg, Halle, Glogau, Köln, Breslau u. a. m. (Siehe die Tabelle der Städte und der Zahl ihrer Höheren Schulen im Anhang der Schrift.) Preußen besaß 1831 110 Gymnasien mit 23767 Schülern, von denen 17478 in den unteren und 6289 in den oberen Klassen waren, ein zahlenmäßiges Verhältnis, das Cousin ausgezeichnet findet. Für die Gesamtheit dieser Schulen wurden 1831 830990 Reichstaler = 3 116200 Francs aufgewandt. Davon trug der Staat, der damals 13 Millionen Einwohner besaß, mehr als die Hälfte, nämlich 447774 Reichstaler oder 1680000 Francs, während der französische Staat mit 32 Millionen Einwohnern für den ganzen enseignement secondaire einschließlich der école normale damals bedeutend weniger als Preußen, nämlich nur 1 522 000 Francs, ausgab. Wenn Frankreich verhältnismäßig eben so reich an Höheren Schulen sein will 15*
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wie Preußen, muß es 275 Collèges haben. Cousin fordert daher für jedes Departement ein Collège wie für jede Gemeinde eine école primaire, für jedes Arrondissement eine école primaire supérieux und für jede région de la France die fünf Fakultäten (S. 65). Auch für das Baccalauréat äußert er, angeregt durdi das preußische Abiturientenexamen, Wünsche. Im Examen sollen die Zensuren très bien, bien und médiocre gegeben werden „comme en Prasse" (S. 40). Bei der Stellenbesetzung der Direktorate der Höheren Schulen soll der Grundsatz beachtet werden, den man in Preußen auf Grund langer Erfahrung befolgt. Dort wird niemals jemand zum Direktor gewählt, der nicht vorher mehr oder weniger lang Professor war. Besonders eindringlich kritisiert Cousin die Monopolstellung der öffentlichen Höheren Schulen, deren Absolventen allein zum Baccalauréat zugelassen werden, und verlangt seine Beseitigung. „Ii n'existe pas en Prusse." Dort haben auch die Absolventen der Privatanstalten das gleiche Recht. Damit auch in Frankreich den privaten Höheren Schulen in dieser Beziehung die gleiche Berechtigung gewährt werden könne wie den staatlichen und kommunalen Anstalten, fordert er die vorherige Durchführung einiger Sicherungsmaßnahmen : 1. Wer eine private Höhere Schule gründen will, muß ein moralisches Führungs- und ein Fähigkeitszeugnis beibringen. 1. Die private Anstalt muß der gleichen behördlichen Aufsicht unterliegen wie die öffentliche. 3. Die Lehrer an den privaten Höheren Schulen müssen in ihren Stellen ebenso gesichert sein wie die an den écoles secondaires publiques. Die so organisierten privaten Höheren Schulen werden dann wie in Preußen nicht nur keine Gefahr für die Gesellschaft bilden, sondern auch anregend auf die öffentlichen Höheren Schulen einwirken. Am Schlüsse seiner Reformforderungen weist Cousin noch einmal zusammenfassend auf das preußische Vorbild hin, indem er hervorhebt, er habe nichts vorgeschlagen, was nicht seine Probe bereits bestanden habe „chez la nation de la terre où fleurit le plus l'instruction publique" (S. 60). Keine Besserungsvorschläge macht Cousin in dieser Schrift für die Ausbildung der Lehrer an den französischen Höheren Schulen. Das liegt nicht etwa daran, daß er ihre Bedeutung übersieht, er schreibt vielmehr: „Autant vaut le maître autant vaut l'école, est un principe fondamental aussi bien dans l'instruction secondaire que dans l'instruction primaire", sondern dahingehende Forderungen unterbleiben, weil er die école normale supérieure, die Ausbildungsstätte der Lehrer an Höheren Schulen, sehr hoch einschätzt und meint, die Franzosen brauchten das Ausland um seine einschlägigen Einrichtungen nicht zu beneiden, auch Preußen nicht um sein Seminarium für gelehrte Schulen, das er während seines Berliner Aufenthaltes näher kennengelernt hatte. — Einzelne der Cousinschen Forderungen sind im Laufe der Zeit verwirklicht worden, wobei sich aber nicht immer feststellen läßt, ob und wie weit das preußische Vorbild wirksam war. Sicher steht dieser Einfluß bei ein-
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zelnen Reformen, die Cousin selbst als Minister durchführte. Dahin gehören z. B. einige Maßnahmen zur Hebung des baccalauréat, wie die schriftliche Prüfung, die lateinische Übersetzung (une épreuve écrite, la version latine) (14) und „nach Schulzes Vorbild die Konzentration der Höheren Schulen auf das Lateinische, die allerdings nur einige Jahre bestand, da bereits 1847 Salvandy ihre frühere Gabelung in eine klassische und eine realistische Abteilung, von denen allerdings nur die erstere zum Baccalauréat führte (15), wiederherstellte. Einen größeren Einfluß als das deutsche Gymnasium übte in dieser Zeit die deutsche Bürgerschule auf Frankreich aus. Es entstand nämlich nach ihrem durch Cousin und Saint-Marc-Girardin vermittelten Vorbild eine neue Schulart, die zwischen den bisher in diesem Lande allein bekannten Schulen — Volksschule und Höhere Schule — eingeschoben wurde, l'instruction primaire supérieure. Auf die hier im französischen Schulwesen bestehende Lücke hatte Renouard bereits 1824 in einer Schrift (16) hingewiesen. Saint-Marc-Girardin hatte nach seiner deutschen Studienreise berichtet, wie in Deutschland diese Lücke ausgefüllt war, und zwar in der in zwei Teilen 1835 und 1839 erschienenen Schrift „De l'instruction intermédiaire et de son état dans le midi de l'Allemagne". Cousin hatte auf seiner Deutschlandreise den deutschen Bürgerschulen neben den Lehrerseminaren seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, sie in mehreren Städten, z. B. in Frankfurt am Main, Weimar und Leipzig, besucht, die Empfehlung ihrer Nachahmung ausführlich begründet und dem Minister auch eine Anzahl Schriften, die sich mit ihnen beschäftigten^ zugesandt. Daß bei der Einrichtung des französischen höheren Elementarunterrichts das Vorbild der deutschen Bürgerschulen wirksam war, geht auch daraus hervor, daß bei Beratung dieser Schulen in der 2. Kammer durch Renouard auf Cousins Ausführungen hingewiesen wurde. Diese neuen französischen Schulen sind allerdings nicht in dem vorgesehenen Umfang durchgeführt worden. Pokrandt (17) weist darauf hin, daß nur ein Teil der Gemeinden, die dazu verpflichtet waren, die Schulen einrichtete, daß die meisten von ihnen es nur zu einer Klasse brachten, daß ein Lehrplan für sie überhaupt nicht erschien, ja daß eine größere Anzahl von Städten an Stelle der neuen Schulart einen ihr entsprechenden Lehrgang mit ihren Höheren Schulen verband, also Gymnasialklassen, denen die klassischen Sprachen fehlten, einrichtete. Damit war — wie Pokrandt hervorhebt — der Beginn der allmählichen Entwicklung von den deutschen Realschulen ähnlichen Sekundärschulen gegeben, „die eine allgemeine Bildung auf wissenschaftlicher Grundlage ohne die alten Sprachen unter besonderer Betonung der Mathematik, der mathematischen Naturwissenschaften und des Zeichnens vermitteln". Wie sehr man um diese Zeit, in den vierzigerJahren des 19. Jahrhunderts, auch in bezug auf die Methode des Unterrichts der Höheren Schulen auf die deutschen Gymnasien schaute, dafür mag das Anfang der vierziger Jahre erschienene dreibändige Werk von Théodore Fritz „Esquisse d'un système complet d'instruction et d'éducation et de leur histoire avec une indication des prin-
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cipaux ouvrages qui ont paru sur les différentes brandies de la pédagogie, surtout en Allemagne" (18) als Beleg herangezogen werden. Im Kapitel 19 des dritten Bandes wirft der Verfasser einen Blick auf die Pädagogik des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Aber auch in den übrigen Teilen seines Werkes nimmt er oft auf die deutsche Pädagogik Bezug. In den reichen Literaturangaben sind neben französischen vor allem deutsche pädagogische Bücher angegeben. Die einzelnen Kapitel haben meistens einen deutschen Vorspruch. Im Text und in der Form von Fußnoten finden sich so zahlreiche Zitate aus deutscher pädagogischer Literatur, daß der Verfasser deshalb einen Vorwurf von seinen Lesern erwartet. Diesem sucht er mit folgenden bemerkenswerten Sätzen im Vorwort zuvorzukommen: „Quant aux citations allemandes, il pense qu'à une époque où MM. Cousin, Saint-Marc-Girardin et Dubois ont été chargés de la mission d'étudier le nord, le midi et le centre de l'Allemagne sous le rapport pédagogique; où l'enseignement de la langue allemande se fait dans tous nos collèges et dans presque toutes les écoles industrielles; où les oeuvres de Schiller, Goethe, Tieck et d'autres classiques allemands ont placé sur les rayons des bibliothèques les plus élégantes comme sur la table des savants, qu'à une pareille époque le temps ne paraît pas éloigné où l'allemand sera presque généralement lu ; et alors pourquoi traduire en français ce qui était bien dit en allemand." (19) Noch deutlicher kommt die Verehrung, die er der deutschen Pädagogik zollt, an anderen Stellen seines Buches zum Ausdruck, so z. B. im III. Band, wenn er sagt: „De tous les pays de l'Europe Allemagne est sans contredit celui qui depuis des siècles, mais principalement de nos jours, se distingue le plus sous le rapport pédagogique, celui où les théoréticiens se trouvent en plus grand nombre; où tous les grands principes de pédagogie ont été examinés et débattus à fond; où, en même temps, la partie pratique de l'éducation a reçu la plus grande extension, et obtenu les résultats les plus satisfaisants." (20) Oder an anderer Stelle des gleichen Bandes, wo er Preußen als „le pays classique de l'instruction publique" bezeichnet (21). Er bezieht sich gelegentlich auch auf die beiden bekanntesten französischen Herolde deutscher Pädagogik in Frankreich: Frau von Staël (22) und Victor Cousin (23). Bei der Erörterung der verschiedensten pädagogischen Probleme gibt er zustimmend die deutsche oder preußische Lösung wieder, z. B. bei der Schilderung der Lehrerbildung und der Erörterung des Pädagogikstudiums an den Universitäten (24), bei der Behandlung der écoles industrielles (25), wobei er die dreiklassigen Industrieschulen von Chemnitz, Nürnberg und Braunschweig heranzieht, bei der Diskussion der Koedukation (26), der Behandlung der Zahl der Unterrichtsstunden und ihrer Verteilung (27), bei der Entscheidung der Frage (28), ob man den Schülern die Heilige Schrift ganz oder im Auszug in die Hand geben soll, und, was uns hier besonders interessiert, auch bei der Beschäftigung mit der Methodik des höheren Unterrichts zitiert er das deutsche Beispiel. So beruft er sich bei der Beurteilung des Bildungswertes der alten Sprachen auf Deutschland, 230
wo nur der Mann Anspruch auf den „Titre d'homme cultivé" habe, der Latein und Griechisch könne (29). Für die Auswahl der klassischen Autoren, die im Unterricht gelesen werden sollen, stellt er die deutsche Auswahl als vorbildlich hin und empfiehlt die Schrift von Schelle: „Welche klassischen Autoren, in welcher Folge und Verbindung mit anderen Studien soll man sie auf den Schulen lesen?" Leipzig 1804 (30). Bei der Besprechung der methodischen Frage, ob die lateinischen Autoren in der Muttersprache oder in lateinischer Sprache interpretiert werden sollen, beruft er sich auf die Methode, die der bereits erwähnte Gymnasialpädagoge Gedike anwendet (31). Für die Methode des Geschichtsund Geographieunterrichtes nimmt er auf deutsche pädagogische Autoren Bezug (32), und zur Verteilung der Unterrichtsstunden gibt er Anregung durch die Wiedergabe der Stundenverteilung im Plan des preußischen und des Stuttgarter Gymnasiums (33). Aber eine greifbare Auswirkung des deutschen Beispiels auf den französischen enseignement secondaire ist für diese Zeit doch nicht nachweisbar. Das wird erst möglich nach der französischen Niederlage im Jahre 1870/71. Dies ist aus zwei Ursachen erklärlich. Sowohl auf französischer wie auf deutscher Seite vollzog sich in dieser Zeit ein Wandel. Die schon in dem vorangehenden Kapitel geschilderte Rückwirkung des deutschen Sieges und der französischen Niederlage auf die Beurteilung des deutschen und des eigenen Schulwesens in Frankreich machte sich auch gegenüber dem höheren Schulwesen geltend und erhielt eine besondere Note, weil sich nach dem Zusammenbruch im Jahre 1870 der Zorn des französischen Volkes über die im Kriege zutage getretenen Bildungsmängel der französischen führenden Schichten regte (34). Diese psychologische Situation war der Kritik am französischen höheren Schulwesen und der Empfehlung des deutschen Vorbildes besonders günstig. Ein anschauliches Beispiel für diesen Tatbestand ist das bereits im vorangehenden Kapitel herangezogene Buch des französischen Pädagogen Michel Bréal: „Quelques mots sur l'instruction publique en France", das im Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1872) erschien. Es ist wohl das bedeutendste der Bücher, die in der durch die nationale Reaktion nach 1870 hervorgerufenen pädagogischen Diskussion erschienen (35). In dieser ergriffen übrigens auch Nichtpädagogen das Wort, wie Ernst Renan in seiner Sammlung „La Réforme intellectuelle et morale de la France", Paris 1878, und Hippolyte Taine in seinem großangelegten Werk „Les origines de la France contemporaine", dessen letzter Band sich mit dem französischen Erziehungsproblem beschäftigt. Zwar hielt man auch im letzten Viertel des Jahrhunderts den enseignement secondaire noch für „la meilleure partie" (36) des französischen Unterrichtswesens. Und es fehlte damals auch nicht an Stimmen, welche in das Lob der deutschen höheren Schulen nicht mit einstimmten und die Betonung ihres Vorbildcharakters nicht unbezweifelt ließen. So berief sich Matthieu z. B. auf einen General, der den so oft wiederholten Ausspruch: „Wir sind durch den deutschen Schulmeister geschlagen worden" als töricht ablehnte: „Si nous avions 231
eu 200000 hommes de plus, les Prussiens nous auraient découvert toutes les belles qualités que nous admirons chez eux, et l'on dirait que l'Allemagne a été vaincue par les maîtres d'école de M. Duruy." (37) Aber es handelt sich hier doch um eine vereinzelte Stimme. Im allgemeinen empfand man das deutsche höhere Schulwesen doch als vorbildlich. Außer dem französischen Gesinnungswandel gegenüber Deutschland war ein Wandel in Deutschland eingetreten, der die Einwirkung des deutschen höheren Schulwesens auf den französischen enseignement secondaire begünstigte. Gedacht ist hier nicht an einen Gesinnungswandel, sondern an den Wandel in der Organisation des deutschen höheren Schulwesens, der die Monopolstellung des Gymnasiums allmählich beseitigte, mehrere Typen der Höheren Schule nebeneinander entstehen ließ, die Bewegungsfreiheit innerhalb der Schulformen vergrößerte und in zunehmendem Maße die Berücksichtigung der Schülerindividualität ermöglichte. Da Frankreich, die nordischen Staaten und die Angelsachsen schon lange ein aufgelockertes höheres Schulwesen besaßen, ist die Frage erhoben, aber noch nicht durch exakte Untersuchungen beantwortet worden, ob die ersten Versuche der Auflockerung in Deutschland nicht auch durch das Beispiel des ausländischen Schulwesens angeregt worden seien. Wahrscheinlich ist dies aber nicht der Fall, sondern es handelt sich um Parallelerscheinungen, die durch gleiche oder ähnliche Ursachen auf dem Boden verschiedener Völker veranlaßt wurden. Aber erklärlich ist; daß das gegen früher jetzt allmählich reicher organisierte und aufgelockerte deutsche höhere Schulwesen leichter auf die Organisation des französischen enseignement secondaire einwirken konnte als der starre Typus des grundständigen neunklassigen Gymnasiums. Bei dem letzteren war es vor allem der Unterricht in den alten Sprachen, der Anregung auch zu dem Nachbar strahlte. Dies war auch noch 1870 der Fall. In einer Sitzung des Conseil acedémique im Juni 1871 berichtete der erste Präsident Gilardin in der Diskussion über seine Erfahrungen bei den Besuchen deutscher Gymnasien. Der Vize-Rektor wurde dadurch stark beeindruckt und erkannte, daß derartige vergleichende Studien für die Verbesserung des klassischen Unterrichts in Frankreich von Wert sein könnten. So wurde dann der Pädagoge F. Deltour mit „une étude spéciale sur le gymnase allemand rapproché du lycée français" beauftragt. Die fertige Untersuchung wurde in einer Sitzung des Conseil académique im Jahre 1872 vorgelesen. Im Drude erschien sie allerdings durch Verkettung einer Reihe von Umständen erst im Jahre 1880 unter dem Titel: „De l'enseignement secondaire classique en Allemagne et en France. Mémoire lu au conseil académique de Paris le 27 novembre 1870", Paris 1880 (38). In diesem Buch vergleicht der Verfasser das deutsche Gymnasium und das französische Lycée in den wesentlichsten Zügen und zieht daraus praktische Folgerungen, aus denen sichtbar wird, welche Wirkungen von dem Vorbild des deutschen Gymnasiums damals ausgingen. Deltour behandelt z. B. die Lehrpläne. Ihr Vergleich ist aber nur in bestimmtem Umfang möglich; denn die französischen höheren Schulen bildeten damals ein 232
vollständiges Ganzes, genügten in sich. Ihr Absolvent suchte nur im Ausnahmefall noch irgend anderswo eine Vervollständigung seiner allgemeinen literarischen, philosophischen oder wissenschaftlichen Bildung. Das war anders in Deutschland und auch in Österreich und der Schweiz. In nichts galt der deutsche Abiturient für fertig. Ihn erwartete die Universität. Das Gymnasium war die Vorbereitung für die Universität. Bei der anschließenden Aufzählung der Unterrichtsfächer weist Deltour nachdrücklich auf Gesang und Turnen hin, Fächer, denen die Deutschen Bedeutung beilegen und welche die Franzosen bisher vernachlässigt haben (39). Beim Vergleich der Studiendauer und des Entlaßalters macht der Verfasser auf folgendes Paradoxon aufmerksam: Während auf dem deutschen Gymnasium die besten Schüler mitunter ihre Schulzeit abkürzen und diese für die faulen und schwachen verlängert wird, weil sie sitzenbleiben, also eine Klasse wiederholen müssen, verlängern in Frankreich oft gerade die ausgezeichneten Schüler ihre Studienzeit, um nur ja bei dem Concours gut abzuschneiden (40). Auch beim Vergleich der Stundenzahl und ihrer Verteilung findet Deltour auf der Seite des Gymnasiums Vorzüge. Im Lycée umfaßt jede Unterrichtseinheit zwei Stunden, im Gymnasium nur eine. Das letztere erscheint ihm pädagogisch wertvoller (41). Einen Vorzug des deutschen Schülers gegenüber dem französischen sieht er im folgenden: Der deutsche Gymnasiast hat zwar mehr tägliche Unterrichtsstunden als die Schüler der Lyzéen, aber weniger Hausarbeit und ist daher mehr mit wertvolleren mündlichen Übungen statt mit schriftlichen beschäftigt (42). Als besonders vorbildhaft wird bei der weiteren Durchführung des Vergleichs die in Deutschland übliche Methode des fremdsprachlichen Unterrichts, besonders des Unterrichts in der Grammatik, empfunden. Im fremdsprachlichen Unterricht des Gymnasiums wird die Regel aus dem Text entwickelt, vom Bekannten zum Unbekannten fortgeschritten und zunächst der Verstand und erst in zweiter Linie das Gedächtnis in Anspruch genommen. In den französischen Schulen dagegen wird nach der Darstellung Deltours seit 70 Jahren die entgegengesetzte Methode angewandt, das meiste vom Gedächtnis verlangt und der geistigen Initiative der Schüler kein Betätigungsfeld gegeben. Von der in Deutschland gehandhabten Unterrichtsweise behauptet Deltour allerdings, sie sei ursprünglich auch bei den Franzosen üblich gewesen. Es sei die alte Methode der Pariser Universität, die Rollin in seinem „Traité des études" erneuert habe und die mit den methodischen Forderungen von Rabelais und Montaigne übereinstimme, aber seit dem Kaiserreich preisgegeben worden sei. Die Aufnahme dieser Methode durch die französischen höheren Schulen sei also in Wirklichkeit nur die Rückkehr zu den „véritables traditions françaises" (43). Auch bei manchen anderen Reformforderungen, die mit Berufung auf das deutsche Vorbild empfohlen werden, weist Deltour den Versuch, sie als eine Entleihung aus Deutschland zu diskreditieren, mit der Behauptung zurück, es handele sich bei ihnen um altes französisches Erbgut. „Nous retrouvons les méthodes et les usages de notre vieille France."
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Die im deutschen fremdsprachlichen Unterricht gebrauchten Grammatiken von Ploetz für das Französische, von Krüger für das Griechische, von Ellendt für das Lateinische hält er für besser als diejenigen, die in den französischen Lyzeen in Gebrauch sind, und zwar deshalb, weil ihr etymologischer Teil bedeutender ist und die Regeln mit zahlreichen Beispielen belegt sind und weil sie mehr Logik zeigen als die französischen Grammatiken, die ihre Benutzer in einen „Ozean von Unbestimmtheiten" stürzen (44). Deltour weist ferner empfehlend auf die Exercitia und Extemporalia, auf die zahlreichen mündlichen Übungen, auf die neben der statarischen reichlich betriebene cursorische Lektüre hin, deren Folge eine ausgebreitete Kenntnis der fremdsprachlichen Literatur ist, ferner auf die mannigfaltigen Übungen aus den Gebieten der Stilistik, der Poetik, der Geschichte der Sprachen und der Literatur und der Philosophie, die an die Lektüre der fremdsprachlichen Autoren angeschlossen werden, und auf die Sitte der sogenannten freien Schülervorträge, welche „trop souvent" in den französischen Schulen fehlen (45). Besonders findet seinen Beifall, daß in deutsdien Gymnasien verhältnismäßig wenig auswendig gelernt wird (d'accord avec les maîtres de Port-Royal), während das im französischen Lycée in einem Umfang geschieht, daß die Schüler, deren Gedächtnis nicht ausreicht, mit einer ununterbrochenen Fülle von Strafen belegt werden oder an ihrer Gesundheit Schaden leiden, weswegen Villemain, der selbst ein außerordentlich gutes Gedächtnis hatte, schon 1843 von einer „éducation homicide", einer mörderischen Erziehung, gesprochen hatte (46). Besonders vorbildlich ist für Deltour, daß das preußische Gymnasium im Gegensatz zum französischen Lycée nur wenige schriftliche Arbeiten anfertigen läßt, wöchentlich nur eine oder zwei, und daß es von seinen Schülern nicht verlangt, daß sie in den fremden Sprachen Verse machen. Auch die Ablehnung des Versemachens entspricht nach seiner Darstellung alter, leider vergessener französischer Tradition. Schon Amauld habe erklärt, daß die Zeit, die auf das Versemachen verwandt werde, verlorene Zeit sei, daß es dem dafür Begabten überlassen werden müsse; denn von 70 bis 80 Schülern erreichten immer nur 7wei oder drei etwas dabei (47). Auch in der äußeren Organisation des Gymnasiums findet Deltour mancherlei nachahmenswert, z. B. die angesehene Stellung des Direktors, der infolgedessen das harmonische Zusammenarbeiten der Mitglieder des Lehrkörpers zu sichern vermöge, die Einrichtung des Klassenordinariats (48), die Schaffung von Parallelklassen zur Herabsetzung der Schülerzahl der einzelnen Klassen und die feierlichen Semester- und Jahresprüfungen (49). Besonders eingehend beschäftigt er sich mit dem deutschen Abiturientenexamen im Vergleich mit dem französischen baccalauréat. Zuerst gibt er eine kurze, von ihm als „très intéressante" charakterisierte Geschichte der deutschen Reifeprüfung und vergleicht sie in der seit 1856 für Preußen und nach deren Vorbild später für ganz Deutschland gesetzlich festgelegten Form mit dem französischen 234
baccalauréat und stellt dabei in der Organisation des letzteren eine Reihe von Mängeln heraus (50). Die deutsche Prüfungskommission besteht an den einzelnen Gymnasien außer einem Vertreter der Schulaufsichtsbehörde aus dem Direktor und den Lehrern der oberen Gymnasienklassen. Der Prüfungskandidat hat also im Examen seine „juges naturels", die ihn aus mehrjährigem Unterricht kennen und deren Persönlichkeit und Frageweise ihm bekannt sind. Die Prüfungskommission für das baccalauréat aber steht neben dem Lycée und setzt sich aus Examinatoren zusammen, die den Examinanden unbekannt sind und die diese ihrerseits auch nicht kennen. Infolgedessen hängt der Ausgang des Examens viel stärker als in Deutschland von Zufälligkeiten ab. In Deutschland muß der Kandidat nachweisen, daß er wenigstens die letzten vier Jahre an einem Gymnasium studiert hat. In Frankreich gibt es keine derartige Bestimmung. Infolgedessen kann die Vorbereitung künstlich beschleunigt und eine für den Schüler gefährliche Verfrühung herbeigeführt werden. In Deutschland ist das mittlere Prüfungsalter 18 Jahre, in Frankreich sind die Examinanden oft erst 16 Jahre alt. Die Folge davon ist, daß oft Sechzehnjährige Studenten der Rechte oder der Medizin werden, ohne infolge ihrer Jugend die dazu erforderliche körperliche Entwicklung und geistige und sittliche Reife mitzubringen (51). In Deutschland kann das Examen nur einmal wiederholt werden. In Frankreich kann sich der durchgefallene Kandidat zum nächsten Termin immer wieder stellen in der Hoffnung, durch seine Ausdauer die Strenge seiner Examinatoren oder die Härte der Glücksgöttin zu erweichen. Das allgemeine Werturteil Deltours über die beiden Examen ging dahin: 1. In Deutschland hat man überlegt, wie in der Organisation des Abituriums alles vermieden werden könne, was den Zöglingen und dadurch der Allgemeinheit schaden kann. Die Prüfungsarbeiten sind zahlreich genug, um den Wissensstand auszuweisen, und sie überschreiten nicht den Lehrstoff des Gymnasiums. Die Autoren, aus denen eine Stelle erklärt werden soll, sind eher unter als über dem Primastoif. Die Fragen aus der Geschichte, Geographie, Mathematik und Religion gehen nicht über das „programme élémentaire des études des gymnases" hinaus. Der junge Mensch kennt vor den ihm bekannten Lehrerprüfern keine Furcht und Unruhe. Und endlich schützen ihn seine Schulzeugnisse und seine Arbeiten aus seinen letzten beiden Schuljahren vor einem unverdienten Reinfall. 1. In Frankreich dagegen scheint alles mit Überlegung herbeigeführt, was das Examen zu einer Art von Lotteriespiel macht: die Prüfungsarbeiten überschreiten nicht selten den Lehrplan des Lycée. Mitunter werden griechische Autoren geprüft, die einfach zu schwierig sind. Infolgedessen fühlen sich die Examinatoren zur Nachsicht gezwungen. Der Schüler zieht, wieDeltour sagt, sich aus der Affäre, indem er einige Worte stammelt. Kurz, in Frankreich scheint bei der Organisation dieses Examens alles überlegt herbeigeführt, was den „esprit d'aventure" begünstigt (52). Diese und den kritischen Beanstandungen und Forderangen Deltours ähn235
liehe Forderungen anderer Pädagogen führten in Frankreich in den Jahrzehnten nach dem Deutsch-Französischen Krieg zu manchen praktischen Maßnahmen und Reformversuchen im höheren Schulwesen. 1872 versuchte Jules Simon eine Neuordnung der klassischen Studien. Ein Ministerialerlaß vom 2. September 1872 kündigte eine Schulreform mit starken Einschränkungen der alten Sprachen und Begünstigung naturwissenschaftlichen Studiums an, deren Durchführung allerdings durch die Opposition konservativer Kreise hinausgeschoben wurde. 1885 wurde die Wochenstundenzahl des Unterrichts herabgesetzt. Die Anführer der sich bekämpfenden Fronten waren Alfred Fouillée als Hauptsprecher der Traditionalisten und Raoul Frary als Haupt der modernen Richtung. 1898 reihte sich Jules Lemaître in einem aufsehenerregenden Vortrag in die Reihe der Modernen ein (53). 1899 veranlaßte das Parlament eine bedeutsame nationale Enquête zur Reform der höheren Schule. Bevor wir uns eingehend mit ihr beschäftigen und im einzelnen die in ihr deutlich werdende Vorbildwirkung der deutschen Höheren Schule darstellen, wollen wir auf einen Umstand hinweisen, in dem manche der damaligen kritischen Beurteiler des enseignement secondaire eine der Ursachen seiner Reformbedürftigkeit sehen, nämlich auf die mangelhafte Entwicklung der französischen pädagogischen Theorie. Wir haben schon an mehreren Stellen dieses Buches das französische Eingeständnis gelesen, daß die französische pädagogische Forschung und Literatur weit hinter der deutschen zurückstand. Ähnliche Äußerungen und entsprechende Folgerungen vernehmen wir auch in den Jahrzehnten nach 1870. So gesteht Hippolyte Taine (54) : „ ü b e r den Zweck, die Mittel, die Methode, die Stufen, die Formen der geistigen und moralischen Bildung gibt es in Frankreich weder historische Untersuchungen noch fruchtbare Theorien, keine Lehren, die sich entwickeln und durchsetzen können, keine Kontroversen, keine speziellen Wörter- und Handbücher, keine gute und bedeutende Zeitschrift, keine öffentlichen Vorlesungen". Ähnlich äußerte sich mehr ins Detail gehend Bréal 1872, als er sagte, daß in Frankreich mehr Bücher über den Seidenbau als über die Leitung der Collèges erschienen, daß man sich in Frankreich auf diesem Gebiete mit den Règlements und einigen veralteten Werken begnüge (55). Diese Einsicht hat dann dazu geführt, daß mit Lebhaftigkeit und nicht ohne Wirkung der Pflege der wissenschaftlichen Pädagogik das Wort geredet wurde, z. B. durch G. Dumenil in „Pour la Pédagogie", Paris 1902, worin er auch eindringlich auf den Stand der deutschen Pädagogik hinweist. Die obenerwähnte Enquête tagte unter dem Vorsitz von Alexander Ribot mehrere Monate lang und behandelte den ganzen, mit dem höheren Schulwesen zusammenhängenden pädagogischen Fragenkreis. Die Verhandlungen erschienen noch in demselben Jahr in Druck unter dem Titel : „Enquête sur l'enseignement secondaire. Procès verbaux des dépositions." Tornei, Paris 1899, Nr.866 — Chambre des Députés. Septième Législature. Session de 1899. In den Ausführungen der einzelnen Sprecher wird häufig auf das ausländische Schulwesen Bezug genommen, am häufigsten auf das deutsche und das englische. Das fran-
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zösische Interesse für die englische Pädagogik war durch das kurz vorher erschienene Buch von Edmond Demolins „A quoi tient la supériorité des AngloS a x o n s ? " , das großes Aufsehen erregt hatte, begünstigt worden. In ihm hatte der Verfasser auf Grund eingehender Studien die Bildungsorganisation Deutschlands, Englands und Frankreichs miteinander verglichen und die englische an die erste Stelle gesetzt. Es ist charakteristisch für die französische Pädagogik, daß sie Perioden aufweist, in denen sie für das deutsche Vorbild schwärmt, und andere, in denen ihr die englische Bildungsorganisation als Muster vorschwebt. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg war die deutsche Pädagogik große Mode. Gegen Ende des Jahrhunderts dagegen konnte Boissier in der nationalen Enquête sagen: „Maintenant, la mode est à l'éducation anglaise". Aus diesem Tatbestand ergibt sich für Coubertin: „que l'éducation française oscille entre les deux pôles, sans savoir vers lequel se tourner" (56). Es liegt im Zusammenhang dieses Buches keine Veranlassung vor, den Bezugnahmen auf England nachzugehen. Wohl aber wollen wir die bedeutendsten Berufungen auf die deutsche Pädagogik zusammenstellen. Mit Beifall begrüßt .wird besonders die Mannigfaltigkeit des deutschen höheren Schulwesens, das Nebeneinander von verschiedenen Schultypen: Gymnasien, Realgymnasien und zwei verschiedenen Realschulen. Gréard bezeichnet diese Mannigfaltigkeit als „une richesse et une force, par cela seul qu'elle permet une adaptation plus exacte aux intérêts du développement intellectuel, économique et social de l'ensemble d'un pays" (57). Auch Fouillée zieht die deutsche Organisation des höheren Schulwesens mit mehreren nebeneinanderstehenden Schularten der französischen mit der Vermischung der klassischen, modernen und beruflichen Erziehung vor. „C'est là le secret du succès des Allemands" (58). Auch Blondel schätzt die deutsche Schulorganisation, verlangt allerdings für Frankreich nicht drei, sondern nur zwei Schultypen, weil er befürchtet, sonst würden sich die französischen Familien, „déjà si ignorantes en matière de questions d'enseignement", darin gar nicht mehr zurechtfinden. Besonders lebhaftem Interesse begegnet das Frankfurter Reformgymnasium; eingehender beschäftigt sich mit ihm Pinloche. Er unterrichtet die in der Enquête versammelten Fachleute über die Einzelheiten des genannten Systems. Es hatte bekanntlich einen für alle Schüler gemeinsamen lateinlosen Unterbau mit Französisch als alleiniger Fremdsprache. In der Tertia begann die Gabelung ; zum Französisch trat in dem einen Zug das Lateinische, im anderen das Englische. Nach der Vorbereitung durch das Französische machten die Schüler nach der Darstellung Pinloches — da dieses ja auch eine klassische Sprache ist — schnelle Fortschritte im Lateinischen. Zur Zeit des Berichtes gab es in Deutschland drei Anstalten dieses Typus in Frankfurt, das Goethe-, das Wöhler- und das Klinger-Gymnasium, und eine Anzahl weiterer in anderen Orten (Hannover, Ohrdruff, Schöneberg, Magdeburg, Danzig und Breslau). In Deutschland war damals diese Schulform noch umstritten. Für den Pädagogen von Sallwürck und den bayerischen Minister von Landmann, die ihre beson-
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deren Gegner waren, bedeutete ihre weitere Einführung den Tod der klassischen Studien. Die preußische Regierung, die anfangs die Durchführung der Reform nur erlaubt hatte, setzte später für fünf Jahre einen jährlichen Kredit von 15 000 Mark in den Etat, um Lehrer der Höheren Schule zu ihrem Studium nach Frankfurt, dem Zentrum der Reform, schidien zu können. Pinloche steht offenbar diesem Reformversuch günstig gegenüber, rät aber doch, die endgültige Beurteilung zu verschieben, bis man ein wirkliches Urteil über den Unterrichtserfolg dieser Schule abgeben könne, nämlich bis zum Jahre 1901, in welchem zum ersten Male Schüler dieser Reformschulen zur Reifeprüfung kommen würden. Erst dann dürfe man auch daran denken, eventuell diese Sdiulform in Frankreich zu verwirklichen (59). Besonders empfindlich wird im Vergleich mit Deutschland, aber auch mit Holland und Amerika, der Mangel an Real- und Technischen Schulen empfunden. In der Enquête beklagen ihn Péchenard und Pasquier. Péchenard gibt der Befürchtung Ausdrude, daß die Franzosen auch auf wirtschaftlichem Gebiet von den Deutschen geschlagen würden, wenn sie nicht derartige Schulen erhielten. „Autrement nous succomberons fatalement dans la lutte sur le terrain économique." (60) Außer der reichen Gliederung unseres höheren Schulwesens imponiert vielen französischen Pädagogen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die berufliche, insbesondere die pädagogische Ausbildung der Lehrer an den deutschen Höheren Schulen. Bei den Lehrern des französischen enseignement secondaire genießt die Pädagogik nur geringe Achtung. Lavisse sagte sogar: „Les mots mêmes pédagogie, pédagoque, semblent ridicules. Soit! À la place de pédagogie mettons science de l'éducation, et enseigner cette science" (61). Bréal beklagt (62) die schlechte pädagogische Ausbildung der französischen Oberlehrer. Besonders die Unterrichtsmethode sei ihre schwache Seite. Sie wüßten ihren Unterricht weder dem Alter nodi der Fassungskraft ihrer Schüler anzupassen. Dagegen lobt er, wie übrigens auch ein anderer Sprecher der Enquête, Monod, die berufspraktische Ausbildung der deutschen Oberlehrer. In Deutschland tritt der Kandidat nach bestandenem Examen in das sogenannte Probejahr (stage). In ihm führt er nicht selbständig eine Klasse, sondern hospitiert zunächst einige Monate dem Unterricht seiner älteren Kollegen in mehreren Klassen. Er lernt ihre Methoden vergleichen und ihre Fehler, aus denen man ebensoviel lernen kann wie aus ihren Vorzügen, vermeiden (63). Dann veranlaßt ihn sein Mentor-Professor, an seiner Stelle unter seiner Leitung, unterstützt von seinem Rat, zu unterrichten. Darauf läßt er ihn einige Zeit vollkommen frei unterrichten, und am Schlüsse des Jahres beurteilt er ihn und erklärt ihn für fähig oder unfähig. Während dieses Probejahres bezieht der Kandidat kein Gehalt! In manchen Großstädten, z. B. in München, hat man für das Probejahr der Kandidaten eine Anstalt mit besonders guten Lehrkräften ausgesucht. Monod verlangt, daß man fiuch in Frankreich für die futurs professeurs un stage efficace (64) einführe. Eine einfache Übertragung des deut238
sehen Ausbildungssystems auf Frankreich hält er allerdings für unmöglich, schon deshalb, weil man hier nie zugeben würde, daß die Professoren des Lycée Anteil an der Verleihung der Lehrbefähigung haben dürften. „On accepte cela en Allemagne; mais en France les moeurs sont trop différentes" (65). Boutroux (66) und Monod (67) heben noch einen anderen Vorzug der beruflichen Ausbildung der deutschen Oberlehrer hervor. Sie sind nicht so stark Spezialisten wie ihre französischen Kollegen. Letztere sind nur Lateiner, Mathematiker, Gräcisten oder Historiker und unterrichten daher nur in einem Fach, die deutschen in der Regel in mehreren. Boutroux behauptet sogar, in Deutschland einem Professor begegnet zu sein, der in der Kantschen Philosophie zu Hause war und an einer Höheren Mädchenschule naturwissenschaftlichen, Musik- und Tanzunterricht gegeben habe (Enquête S. 335). Aus dieser und ähnlicher Vielseitigkeit ergeben sich einige unmittelbare bzw. mittelbare Folgen: die Zahl der Wochenstunden, die der deutsche Oberlehrer erteilen muß, ist größer als die seines französischen Kollegen, mitunter bis zu dreißig. „Leur enseignement est vraiement leur vie même: aussi les élèves sont ils vraiement dans leur main." (68) Außer der Vorbildung werden in der Enquête noch einzelne andere Vorzüge der Mitglieder der Lehrerkollegien des deutschen Gymnasiums vor denen der Lyzeen hervorgehoben. So erwähnt Fouqué (69), daß die deutschen Professoren den französischen an Sprachkenntnissen überlegen seien. Ein von ihm befragter Professor hatte ihm als Ursache der französischen Unterlegenheit in den modernen Sprachen die Methode des Unterrichts in den französischen Schulen angegeben, die sich zu sehr mit der Grammatik beschäftige, so daß darüber die Lektüre und die Konversation zu kurz komme. Monod (70) hebt als Vorzüge hervor, daß die deutschen Professoren seltener ihre Stelle wechseln, viele Jahrzehnte, ja, oft bis zu ihrer Pensionierung in derselben Stellung bleiben. Darauf sei wohl zum Teil zurückzuführen, daß sie viel vertrauter mit ihren Schülern verkehrten und diese daher im Unterricht auch viel freier sprächen als die Schüler der französischen Höheren Schulen, was Bréal hervorhebt (71). Die höheren Schüler brächten diese Fähigkeit, so meint er, allerdings bereits aus der Volksschule mit; denn der deutsche Volksschullehrer verstehe bewundernswert, mit den Kindem zu sprechen. Alles das fehle in den französischen Schulen aus vielen Gründen. Der deutsche Professor sei „comme un délégué de la famille", der französische aber nicht. Darum sei die Übertragung eines derartigen Schüler-Lehrer-Verhältnisses in die französischen Schulen auch wohl unmöglich. Ähnlich wie schon bei Deltour empfängt auch hier der deutsche Gymnasialdirektor hohes Lob. Einer seiner Vorzüge besteht darin, daß er—im Gegensatz zu seinem französischen Kollegen — stets auch selbst Unterricht gibt. Er ist daher — nach Seignobos (72) — nicht so vom Lehrkörper getrennt wie der französische Direktor, sondern bleibt Mitglied desselben. Ein anderer Vorzug besteht in seiner größeren Autorität und Selbständigkeit. Unter anderm besitzt er einen starken Einfluß auf die Besetzung freiwerdender Stellen in seinem
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Kollegium und die Beförderung seiner Lehrer (73). Boutroux (74) bezeichnet ihn als die Seele seiner Schule. Ohne ihn werde nichts gemacht, er teile in allen Fällen die Verantwortung mit seinen Lehrern, er komme in jede Klasse, kenne jeden Schüler und überwache die Führung in und außer der Schule. Kurz, er sei, wenn er nach denen urteilen dürfe, die er kennenlernte, „un homme très capable et tout à sa fonction" (75). Außer den verschiedenen Schultypen und der Berufsausbildung des deutschen Oberlehrers stellen die Teilnehmer der Enquête, ähnlich wie früher schon Deltour (76), das deutsche Abiturientenexamen als vorbildlich hin. So fordert Beck eine Reform des baccalauréats und verlangt nach deutschem Muster die Verlegung des Examens in die Schule, auch für die écoles libres (77). Seignobos meint, das Baccalauréat sei wie das Abitur ein „examen de sortie (78), und und es sei kein Grund vorhanden, nicht das deutsche Verfahren zu übernehmen. Dort würde man es als absurd betrachten, das Schlußexamen des Gymnasiums vor Universitätsprofessoren ablegen zu lassen. Auch der Schüler des Lycée solle, wie der des Gymnasiums, zum Abschluß ein Zeugnis von denen erhalten, die ihn während seiner Schulzeit hätten arbeiten sehen. Bourgeois zitiert in der Enquete zustimmend eine Äußerung, die Cournot bereits 1864 getan hatte, in der es wörtlich hieß: „ je propose la suppression radicale du baccalauréat et son remplacement par un certificat du genre de ceux qui se délivrent dans les gymnases allemands à la fin des études." (79) Beck führt übrigens einen Tatbestand an, der zeigt, wie leicht diese Reform des Baccalauréats durchzuführen wäre und wie verträglich sie mit der Haltung der Franzosen sei. „C'est la seule réforme introduite par les Allemands en Alsace qui n'ait pas soulevé de résistance, qui ait été pleinement approuvée" (80). Es werden auch vereinzelte Stimmen laut, die in bezug auf die Reform des Baccalauréats nach dem Muster des deutschen Abiturs nicht so optimistisch urteilen. So zweifelt Bréal an der Möglichkeit ihrer Durchführung, weil die gegenwärtige innerpolitische Situation in Frankreich von der gänzlich verschieden sei, die sich in Preußen-Deutschland fand, als das Abiturientenexamen dort eingerichtet wurde (81). Und Batifoll befürchtet, daß das Examen, wenn man es nach deutschem Muster an Stelle des Baccalauréat einrichte, doch bald „baccalauréatisé (82) würde. Aber beide Einwände haben in ihrer Unbestimmtheit (Batifoll entschuldigt zwar den Gebrauch des Wortes „baccalauréatisé", sagt aber nicht, was er damit meint) und Unklarheit wenig Gewicht und treten hinter den Befürwortern des deutschen Vorbildes in den Hintergrund. Noch viele andere, an deutschen Höheren Schulen beobachtete Einzelheiten werden in der Enquête als nachahmenswert gepriesen. So wird z. B. gefordert, daß der enseignement moderne die Berechtigung zu allen Studien verleihe, und es wird das Vorurteil beklagt, das in Deutschland — übrigens auch in England — nicht herrscht, daß er weniger wertvoll sei als der enseignement classique, ein Vorurteil, das auf die Entwicklung des französischen enseignement moderne ungünstig wirke (83). 240
Boutroux (84) berichtet, daß die Schüler der deutschen Schulen mehrmals im Jahr mit ihrem Direktor oder ihren Professoren Ausflüge machen. Er wertet die pädagogische Bedeutung dieser Exkursionen hoch und wünsdit ihre Einführung in Frankreich. Weiter wird der Beseitigung bzw. Einschränkung oder der Reform der mit den französischen Höheren Schulen verbundenen Internate immer wieder das Wort geredet, und zwar ebenfalls mit Berufung auf die deutschen Verhältnisse. So bekämpft z. B. Séailles (85) die hohe Zahl der Zöglinge in den französischen Internaten und ebenso das Verbot, daß der Lehrer Schüler als Pensionäre in seine Familie aufnimmt. Das letztere ist in Deutschland häufig, und die Höchstzahl der Zöglinge in den wenigen Internaten, die es in Deutschland gibt, ist nach seiner Mitteilung 160. In Nachahmung der deutschen LehrerFamilienpension fordert er: „II faudrait créer des maîtres répétiteurs externes, mariés, ayant un groupe d'élèves, une petite famille." Seignobos (86), der deutsche Internate, z. B. das des Joachimsthaler Gymnasiums und das in Schulpforta in Sachsen besuchte, hat dort manches gesehen, dessen Nachahmung er empfiehlt. Dort gab es keine surveillants; die Aufsicht, die sich aber nicht so weit erstreckt wie in Frankreich, wird von den Lehrern selbst geführt. Statt 40 Schüler, wie es in den französischen Internaten geschieht, in einen Raum zu stecken, setzt man dort 5 oder 6 unter einem Senior, einem ernsten, für die Disziplin verantwortlichen Schüler, in einen Raum zusammen. Die Schüler dürfen, selbst in Berlin, allein aus- und eingehen. Dieses, sowie daß die Schülereltem dagegen keinen Einspruch erheben, ist für den Franzosen erstaunlich. Er gibt der humanen Disziplin in den deutschen Internaten den Vorzug vor der französischen Intematsstrenge. Dort haben die Schüler größere Bewegungsfreiheit, auch wird nicht so viel Stillschweigen von ihnen verlangt. Selbst im Speisesaal dürfen sie sprechen. Auch die Kritik an der staatlichen Aufsicht über die französischen Höheren Schulen begründet ihre Reformvorschläge mit dem Hinweis auf ihre Handhabung in Deutschland. So beklagt Sabatier (87), daß die Akademieinspektoren, denen sie obliegt, durch zu viel Bürotätigkeit und Verwaltungsarbeit so sehr in Anspruch genommen sind, daß sie im Jahr gar nicht oder sehr selten in die Schulklassen kommen und daß sie dann dort die Professoren, niemals aber ernsthaft die Schüler inspizieren. Dafür fehlt ihnen die Zeit. Und dann weist er auf Deutschland hin: „En Allemagne c'est tout le contraire", und besonders auf das ihm gut bekannte Elsaß. Wir wollen darauf verzichten, noch weitere Belege für die Wirkung der deutschen Höheren Schulen auf Frankreich aus den Verhandlungen der Enquete anzuführen, nur noch darauf hinweisen, daß trotz der entgegengesetzten Meinungen bei den verschiedenen pädagogischen Problemen ziemliche Übereinstimmung herrschte in bezug auf die Schulform. Die überwiegende Mehrzahl der Sprecher war für bifurcation oder trifurcation nach einheitlichem Unterbau. Wohl aber ist es angezeigt, noch kurz auf die Resolutionen der Enquête Kommission einzugehen. Die letztere sollte nicht nur den gesamten Fragen16
S c h n e i d e r , Pädagogik.
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komplex des enseignement secondaire beraten, sondern auch die Ergebnisse der Auseinandersetzungen in Resolutionen zusammenfassen. Ribot, der Vorsitzende der Enquêtekommission, hat in seinem Buch „La Réforme de renseignement secondaire", Paris (88), das zunächst die Darstellung des Geistes der vorgeschlagenen Reform enthält und in einem Anhang die Enquêteausfiihrungen einiger führender Kommissionsmitglieder wiedergibt, auch diese Resolutionen mitgeteilt, die an vielen Stellen zeigen, daß der Hinweis auf das deutsche Vorbild seine Wirkung getan hat. So wird z. B. unter 111,17° zur beruflichen Ausbildung der späteren LycéeProfessoren ein Probejahr (stage) gefordert, an dessen Ende der Probekandidat ein „certificat d'aptitude professionelle" erhalten solle, das eine Vorbedingung seiner Anstellung ist. Diese Ausbildungsvorschrift gilt nach 111,22° auch für die Lehrkräfte der p r i v a t e n Höheren Schulen. Unter IV, § 1, 27° wird außerdem verlangt, daß die Unterrichtseinheit — autant que possible — statt der bisher üblichen zwei nur eine Stunde umfassen soll. Weiter wird unter IV § 2,30° gewünscht, daß ein Professor die Schüler, soweit es möglich ist, drei Schuljahre hindurch begleiten soll. Eine Annäherung an das deutsche Vorbild besteht ferner in den Forderungen, daß der Unterricht in den lebenden Sprachen vorwiegend praktisch sein soll, daß also die erforderliche Zeit darauf verwendet wird, den Schüler die fremde Sprache lesen, schreiben und sprechen zu lehren (IV, § 4,37°), daß das Baccalauréat durch ein „diplôme d'études secondaire" ersetzt wird (V, 40°), daß das Aufsichtspersonal so verstärkt wird, daß alle höheren Anstalten wenigstens einmal im Jahr inspiziert werden können (VI,47°). Die im vorhergehenden eingehend besprochene Enquête ist das Leitbild der Reform des Ministers Georges Leygues vom 31. Mai 1902, die für die Oberklassen heute noch gilt. Wer ihren Inhalt, auf den wir nicht mit gleicher Ausführlichkeit wie auf die Vorberatungen eingehen können, wenn auch nur an Hand einer übersichtlichen Darstellung, etwa der von Otto Völcker (89) gegebenen, durchstudiert, wird sehen, daß einzelne der durch das deutsche Beispiel begünstigten Anregungen verwirklicht wurden. Für die Reform hatten außer den deutschen auch englische Anregungen den Boden vorbereitet. So begründete der schon genannte Publizist Edmond Demolins 1897 nach dem von ihm gepriesenen College des Dr. Reddie in Abbotsholme in England, unterstützt durch eine Gruppe von Persönlichkeiten, die sich um die von ihm dirigierte „Science sociale" gebildet hatte, ein französisches Landeserziehungsheim, die École des Roches. Ein anderer „imitateur de L'Angleterre" in der Nähe von Verneuil war Joseph Duhamel (90), der nach eigener Tätigkeit an der Harrowschool in der Nähe von Rouen das Collège de Normandie eröffnete. Von 1901—1903 erfolgte die Gründung weiterer Landeserziehungsheime nach englischem Muster, der l'École de l'Isle de France durch Engländer, der École de l'Esterel und der École du Sud-Est bei Lyon durch Franzosen. Später wirkte sich in dieser französischen Landeserziehungsheimbewegung aber auch deutscher Einfluß aas, z. B. in der 1905 gegründeten 242
Ecole d'Aquitanie, die wegen ihres geringeren Pensionspreises auch den Kindern weniger vermögender Eltern zugängig war und von einem Pädagogen gegründet wurde, der an deutschen Landeserziehungsheimen gewirkt hatte. Die Reform der Schulform von 1902 zeigte folgendes Gesicht (91): Auf vierjähriger Grundschule baut sich eine Höhere Schule auf, in der die Schüler die Wahl haben zwischen einer Lateinsektion A und einer lateinlosen Sektion B, die je drei Jahre umfaßt. Darauf erfolgt in der Abteilung A eine Dreiteilung in Latein, Griechisch, Latein-lebende Sprachen und Latein-Naturwissenschaften, während die lateinlose Abteilung (lebende Sprachen und Naturwissenschaften) weitergeführt wird. Alle vier Abteilungen führen zum baccalauréat de l'enseignement secondaire (92). Diese Organisation hat Ähnlichkeit mit dem Aufbau des Frankfurter Reformgymnasiums, und es ist die Annahme nicht unberechtigt, daß sein Vorbild bei der Schulorganisation von 1902 mitgewirkt hat, wenn vielleicht auch nur in der Weise, daß die aus den gegebenen Verhältnissen erwachsene französische Reformbewegung dadurch beeinflußt wurde und an Kraft gewann. Denn ähnlich wie Pinloche (93) in der Enquete eindringlich auf das Frankfurter Reformsystem aufmerksam machte, so war das auch von anderer Seite geschehen, z. B. durch Ch. V. Langlois in „La question de renseignement secondaire en France et à l'étranger, Paris 1900". Langlois weist in diesem seinem Buch nach einer Schilderung des Frankfurter Reformsystems auf die einschlägigen Schriften seines Begründers K. Reinhardt (Der Frankfurter Lehrplan, Frankfurt 1892, Vortrag über die Bedeutung des gemeinsamen Unterbaues für die Höheren Schulen in den Mitteilungen des Vereins für Schulreform in Bayern, April 1897, und die Festschrift zur Einweihung des Goethegymnasiums, Frankfurt 1897) hin, wiederholt die von diesem behaupteten Vorzüge des Frankfurter Reformgymnasiums und versucht den Nachweis, daß auch in Frankreich eine ähnliche Schulform schon vor Reinhardt gefordert worden sei, z. B. schon im Jahre 1880 durch Jules Ferry in der Schilderung einer Anstalt, „qui a des traits de ressemblance avec celui des ,Reformschulen' " (94). Nicht nur diese spezielle Frankfurter Reformanstalt, sondern überhaupt die allmähliche Beseitigung der Monopolstellung der klassischen Bildung in Deutschland durch Aufnahme der modernen Fremdsprachen und der Naturwissenschaften in ihren Lehrplan und die Begründung der Realschulen und des Realgymnasiums und die erlangte Gleichberechtigung mit dem Gymnasium ist auf die Schulentwicklung in Frankreich, übrigens auch in anderen Kulturstaaten, von Einfluß gewesen, indem dadurch in dem Kampf zwischen dem enseignement classique und dem enseignement moderne die Position der Vertreter des letzteren gestärkt wurde. Immer wieder berufen sie sich auf das deutsche Beispiel: Gréard (95) zählt Ambroise Rendu, Ch. Renouard, Guizot, Saint-MarcGirardin und Cournot als hierhergehörige Beispiele auf. Diese Berufung auf das deutsche Vorbild wurde auch gegen Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch fortgesetzt. Entstanden war die Krise der humanistischen Bildung in Frankreich und den 16*
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anderen Kulturländern hauptsächlich infolge der Anforderungen des sich wandelnden sozialen und wirtschaftlichen Lebens und der steigenden Berücksichtigung der verschiedenen Begabungsrichtungen der Schüler zwar von selbst, vielfach ohne ausländische Einwirkung. Aber weil Deutschland in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts sein höheres Schulwesen nach dieser Richtung hin zeitgemäß ausbaute und diese Neugestaltung mit deutscher Gründlichkeit theoretisch diskutierte, beriefen sich die französischen Reformer gern auf die deutschen Erfahrungen und holten sich aus seinem pädagogischen Arsenal die W a f fen zum Kampf gegen die Alleinherrschaft des enseignement classique. So beruft sich der schon erwähnte Langlois ( 9 6 ) in seinem Buch, das. zuerst als Abhandlung in der Januarnummer 1900 der Revue de Paris erschien, zum Nachweis dafür, daß die humanistische und die reale Bildung gleichwertig seien, auf die einschlägigen Äußerungen von Reinhardt und Ziegler, auf Aussagen vonTreitsdike und Uhlig und auf hervorragende Deutsche von großer Leistung, wie Moltke, Roon und Blumenthal, die keine klassische Ausbildung erhalten hatten und weder Latein noch Griechisch konnten. Auch von den Berichterstattern der Enquête wird hier das Beispiel Deutschlands zitiert, z. B. eindringlich von Blondel ( 9 7 ) , der das deutsche Realschulwesen aus mehrfachem Deutschlandaufenthalt kannte. Er ist allerdings der Ansicht, daß diese moderne Reform des höheren Schulwesens in Deutschland leichter durchführbar war als in Frankreich. Nach seiner Darstellung hat die deutsche Bourgeoisie, aus deren Nachwuchs sich die Schülerschaft der Höheren Schulen hauptsächlich rekrutiert, ihre Wurzeln zu einem großen Teil in der Welt der ' Industriellen, der Kaufleute und Krämer. Die Mütter aus diesen Kreisen treiben daher ihre Kinder weniger zum Lateinischen und Griechischen als die französischen. Die deutsche Reform des höheren Schulwesens ist nach seiner Ansicht auch für die Entwicklung der Naturwissenschaften und der Industrie in Deutschland von Vorteil gewesen. Weil Frankreich im enseignement moderne hinter Deutschland zurückblieb, wurde es von ihm auch wirtschaftlich überflügelt. Wörtlich ruft er aus: „En 1870, nous avons été vaincus par un ennemi qui, au point de vue militaire, était plus scientifiquement organisé que nous. Aujourd'hui, sur le terrain industriel et commercial, nous sommes également vaincus par un ennemi scientifiquement organisé." Aus der bisherigen Darstellung könnte der Leser den Eindruck gewinnen, daß die französischen Reformpädagogen die deutsche Höhere Schule allzu günstig beurteilten. Sie sind aber durchaus nicht blind für seine Mängel und heben diese auch gelegentlich hervor, in der richtigen Erkenntnis, daß man auch aus den Fehlern anderer Völker lernen könne. Ein Beleg dafür ist A. Pinloche, der sowohl in der Enquêtekommission wie in seinem Buch „L'Enseignement secondaire en Allemagne d'après les Documents offiziels" ( 9 8 ) mancherlei kritisch beanstandet. V o r allem wirft er dem höheren Unterricht Mechanisation, Uniformität ( 9 9 ) und Mangel an Geschmeidigkeit (souplesse) in den Lehrplänen und den geltenden Verordnungen vor. Er führt diese Mängel darauf zurück, daß
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man alles voraussehen, regeln, vorschreiben will bis auf den Stil der jährlichen Berichte der Direktoren und die Tinte, mit der sie geschrieben sein sollen. Infolgedessen bleibt den Direktoren und Professoren nach seiner Meinung zu wenig Freiheit und Raum zur Initiative. Die Kleinlichkeit der Verordnungen — Pinloche spricht hier (100) von einer „culture microscopique" — lastet schwer auf den Studien, schädigt die Originalität und ruft Proteste der Professoren hervor. Seinen Widerspruch findet auch, daß das système allemand sich in die Privatsphäre der Professoren mischt, indem sie verpflichtet werden, die Zahl ihrer Privatschüler und Pensionäre sowie den Preis der Privatstunden und der Pension (à un pfennig près) anzugeben. Als Mängel empfindet Pinloche auch die große Pflichtstundenzahl der Direktoren und Professoren, ferner die nach seiner Ansicht durch das Fehlen eines concours herbeigeführte Uberfüllung der Laufbahn der Professoren und die damit in Zusammenhang stehende Überalterung der Lehrkörper. Audi die Einrichtung des Examens in Untersekunda sowie die Bekämpfung des Sozialismus durch die Höhere Schule (à vouloir en faire un instrument politique) findet seine Kritik. Hier können wir unsere Übersicht über die gestaltende Einwirkung der deutschen Höheren Schule auf den französischen enseignement secondaire abschließen. Denn die französische Reform von 1902 ist, obwohl sie in den darauffolgenden Jahren in manchen Einzelheiten Änderungen erfuhr, im großen bestehen geblieben. Zwar hat die Reform, die Poincaré und der Unterrichtsminister Bérard am 3. Mai 1923 durchführten, die geschilderte Bifurcation der unteren Jahrgänge beseitigt und Latein durch vier und Griechisch durch zwei Jahre hindurch für alle Schüler obligatorisch gemacht, also die Reform von 1902 in wesentlichen Zügen rückgängig gemacht. Aber schon im folgenden Jahre wurden diese Bérardschen Anordnungen außer Kraft gesetzt und die Reform von 1902 in großen Linien wieder hergestellt. Dazu kommt, daß natürlich auf Seiten der Franzosen auch im ersten Jahrzehnt nach dem Weltkrieg wenig Bereitwilligkeit vorhanden war, von dem Feind von gestern zu lernen. Wir können daher jetzt den französischen enseignement secondaire verlassen und uns der Beantwortung der Frage nach der gestaltenden Einwirkung der deutschen Höheren Schule auf das höhere Schulwesen Englands zuwenden. Auf der Jahresversammlung des Allgemeinen deutschen Philologenverbandes in Frankfurt am Main hielt der führende englische Pädagoge M. E. Sadler, damals Vizekanzler der Universität von Leeds, 1912 einen schon an anderer Stelle erwähnten Vortrag über „Englands Debt to German Education", der einige Monate später in der Zeitschrift für den neusprachlichen Unterricht „Die neueren Sprachen" veröffentlicht wurde (101). Sadler gehört selbst zu den Schulmännern, „die im Sinne Arnolds aus dem Studium deutscher Schulverhältnisse wertvolle Anregungen für die englische Schule schöpften" (102). Daher hatte er wohl keine inneren Hemmungen, den Einfluß des deutschen höheren Schulwesens auf die englische secondary éducation unbefangen anzuerkennen.
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Dazu kam, daß Zeit und Umstände seines Vortrages eher eine zu starke Betonung dessen, was der englische höhere Unterricht dem deutschen verdankt, begünstigte als eine abschwächende Darstellung. Der Leser seines Vortrages ist daher überrascht, wie verhältnismäßig wenig er über diesen Gegenstand zu sagen hat, und daß dieses wenige überdies mehrfach nur in allgemeinen Behauptungen ohne konkrete Einzelangaben besteht. Das fällt um so mehr auf, als er die allgemeine Abhängigkeit des englischen Erziehungsdenkens und des englischen Schulwesens von der deutschen Pädagogik stark betont. Es finden sich in seinem Vortrag Sätze wie: „German thought and practice have had a formative and penetrating influence upon English methods of teaching and English educational ideals during the last Century", und „ the influence'of German science and of the German conception of the place of education in the modern State has been one of the distinct marks of English educational development during the last Century, and especially during the last twenty years. Every grade of English education from the Kindergarten to the University has been affected b y German example and by German investigation" (103). Die wenigen Angaben, die er über die deutsche gestaltende Einwirkung auf das englische höhere Schulwesen macht, sind die folgenden: Er beginnt, aus dem festlichen Anlaß seines Vortrages erklärlich, mit der Behauptung, es sei schwer, den W e r t der Dienste zu übertreiben, welche manche der Führer des deutschen Philologenverbandes der englischen Erziehung geleistet hätten. Viele Anregungen verdanke die Methode des englischen Unterrichtes in den modernen Sprachen deutschen Philologen, z. B. Professor Vietor in Marburg, Direktor Dörr, M a x Walter und Professor Emil Hausknecht. Reinhardts Frankfurter Realgymnasium habe einen beträchtlichen Einfluß auf die englische Auffassung klassischer Bildung und Erziehung ausgeübt. U n d das, was die englische Regierung im Augenblick für die Organisation der englischen Höheren Schulen leiste, sei in großem Umfange auf das deutsche Beispiel und den Einfluß deutscher Schulerfahrungen auf die englische Meinungsbildung zurückzuführen. Sadler versucht allerdings, die Linien deutscher Einwirkung auch weiter in die Vergangenheit und in die Zukunft zu verfolgen. In die Vergangenheit durch den Hinweis darauf, daß Stundenplan und Unterrichtsmethoden in englischen Schulen und Colleges den deutschen Gelehrten Grimm, Bopp, Wolf, Niebuhr und Liebig viel verdanken. In die Zukunft: durch die Forderung einer vollständigen Organisation des höheren Schulwesens mit niedrigem Schulgeld und hohem Niveau, entsprechend dem deutschen Vorbild, die sechste der bereits früher erwähnten acht Hauptlektionen, die England nach seiner Darstellung von Deutschland empfangen hat oder noch empfängt. Mehr sagt Sadler nicht über den deutschen Einfluß auf das englische höhere Schulwesen. U n d gerade dafür wären seine Zuhörer in erster Linie interessiert gewesen. W e n n er trotzdem nicht mehr darüber anführt, so ist anzunehmen, daß er nicht mehr zu sagen wußte, mit anderen Worten, daß der deutsche Einfluß nicht sehr groß und mitunter so versteckt ist, daß man ihn nicht konkret
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nachweisen kann. Beide Annahmen entsprechen den Tatsachen. Beginnen wir mit der letzteren. Alfred Andreesen (104) hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Engländer zwar „stets geneigt war, bedeutende Anregungen des Festlandes aufzunehmen", daß er dabei aber niemals die bisherige äußere Form zerschlug und das Neue völlig assimilierte. Das gilt auch für das Gebiet der Höheren Schule, und daher ist deutscher Einfluß in ihrer inneren und äußeren Organisation oft schwer oder gar nicht erkenn- und nachweisbar. Dazu kommt, daß es lange Zeit in England im Vergleich mit dem gleichzeitigen Deutschland nur wenige Höhere Schulen gab ; diese empfingen ihre Schüler hauptsächlich aus den konservativen oberen Bevölkerungsschichten. Das typisch englische Festhalten am Gewordenen konnte sich an der Höheren Schule auch deshalb stärker betätigen als etwa an der Volksschule, weil der Staat sich um sie viel weniger kümmerte. In einer Zeit, da er bereits die Verantwortung für die Bereitstellung der Volksschulen übernommen hatte, ihre Errichtung, wo es nötig war, erzwang, sie beaufsichtigte, sie finanziell unterstützte, hatte der Staat für die Höhere Schule noch gar keine Verantwortung übernommen. Noch 1884 konnte Charles Bird von ihm schreiben: „It neither founds, inspects, nor subsidizes, but only „reorganizes" (105). Die Reorganisation des englischen höheren Schulwesens begann im Jahre 1861. In ihm wurde unter dem Vorsitz von Lord Clarendon eine Königliche Kommission gebildet, die sich mit der Reorganisation der sogenannten Public schools befassen sollte. Nach Vorlage des Berichtes dieser Kommission wurde am 28. Dezember 1864 eine weitere Königliche Kommission, die „Schools Inquiry Commission", berufen. Der letzteren gehörten als assistant commissioners die großen englischen Pädagogen Matthew Arnold, Fearon und Fitch an. Die Methode der Untersuchungsarbeit dieser Kommission, die sehr gründlich zu Werk ging, war folgendermaßen: Sie schickte Fragebogen an die Höheren Schulen, holte Gutachten von Fachleuten und Schülereltern ein, veranlaßte das Studium Höherer Schulen im Ausland und wählte in England und Wales acht Bezirke aus, an deren Schulen man Organisationsversuche anstellte. Als Frucht dieser drei Jahre andauernden Arbeit wurde am 31. Juli 1868 ein neues Gesetz für die sieben großen Schulen (Eton, Westminster, Winchester, Charterhouse, Harrow, Rugby und Shrewsbury), die sogenannte „Public Schools Act", (106) erlassen. In der Arbeit dieser beiden Kommissionen war auch deutscher Einfluß wirksam. Die erstere forderte auf der Suche nach Vorbildern den preußischen Kultusminister Bethmann Hollweg zu einem Gutachten über die deutschen Höheren Schulen auf. Die Schools Enquiry Commission beauftragte im Jahre 1865 Matthew Arnold, der schon im Jahre 1859 eine kontinentale pädagogische Studienreise gemacht hatte, das System der Erziehung für die Mittel- und Oberklassen in Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz zu untersuchen. In Erledigung dieser Aufgabe war er fast sieben Monate auf dem Kontinent. Das Ergebnis seiner Studien veröffentlichte er in schon früher erwähnten Berichten,
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von denen der über die Höheren Schulen in Deutschland mehrere Auflagen erlebte und die englischen Fachleute nachdrücklich auf das deutsche Vorbild aufmerksam machte. Bird (107) behauptet, daß die meisten englischen Lehrer, die für ihren Beruf interessiert waren, dieses Buch gelesen hätten. In ihm spricht Arnold den Wunsch aus, daß seine Leser aus der englischen Mittel- und Oberschicht aus seinen kontinentalen Erfahrungen Anregungen für die Gestaltung des höheren Unterrichtes empfangen möchten. Auf drei Punkte weist er dabei besonders hin: 1. Auf dem Kontinent besuchen die Söhne der Familien aus der Mittel- und der Oberschicht dieselben Höheren Schulen, empfangen also die gleiche Ausbildung, während in England für die der Oberschicht bessere Schulen als für die der Mittelschicht bestehen, die ersten „on the first plan", die letzteren „on the second plan" erzogen werden. Die von der sozialen Lage der Eltern unabhängige Beschulung in Deutschland bedeutet nach seiner Ansicht „für das Staatsganze ungeheuer viel" (108). Eine Folge davon ist auch, daß in Preußen-Deutschland die Zahl der höheren Schüler prozentual viel größer als in England ist. 2. Das kontinentale Beispiel zeigt, daß manche Reformen des höheren Schulwesens, darunter auch solche, die in England seit langem gefordert werden, nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang einer Gesamterziehungsreform durchführbar sind. 3. Die kontinentalen Regierungen ziehen bei ihren pädagogischen Maßnahmen, mehr als die englische, the best education opinion of the country into their counsels (109). In den aufeinanderfolgenden Kapiteln seines Buches behandelt Arnold die Entwicklung des deutschen höheren Schulwesens, seine gegenwärtige Organisation, seine Verwaltung, das Abiturientenexamen, die Ausbildung, Prüfung, Ernennung und Bezahlung der höheren Lehrer und schildert eingehend die Schularbeit in einigen von ihm besuchten Anstalten, dem Friedrich-Wilhelm- und dem Joachimsthaler-Gymnasium und dem Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, der Fürstenschule in Schulpforta und dem Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Köln unter dem berühmten Direktor Oskar Jäger. In den Kapiteln 8 und 9 zieht er aus dem Dargestellten einige praktische Folgerungen. Um zu zeigen, in welcher Eindringlichkeit der Verfasser das deutsche höhere Schulwesen darstellt und seine Mustergültigkeit betont, genügt die eingehendere Betrachtung eines einzigen Kapitels und die Anführung der darin gezogenen praktischen Folgerungen. Zu diesem Zweck wählen wir Kapitel 5: „The Prussian schoolmaster, their training, examination, appointment, and payment." Es enthält eine eingehende Darstellung der Entwicklung und des augenblicklichen Zustandes der beruflichen Vorbildung der höheren Lehrer. Das Wichtigste daraus ist: Vor 1810 gab es für die Lehrer der Höheren Schulen noch kein Zeugnis über ihre Eignung zu ihrem Beruf. In diesem Jahr aber wurde für sie eine Prüfung eingeführt, die aus einem Examen und einer Lehrprobe (im
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Englischen „trial lesson") bestand. Gleichzeitig wurde es als ungesetzlich erklärt, nicht geprüfte Personen zu Lehrern zu ernennen. Im Laufe der Zeit wurde die Sicherheit, daß nur geeignete Persönlichkeiten als Lehrer an die Höheren Schulen kamen, dadurch erhöht, daß die bloße Probelektion durch ein sogenanntes Probejahr (im Englischen „trial year" oder „year of probation" genannt) ersetzt wurde. Die Bestimmungen für die Prüfung, durch deren Ablegung man die Lehrbefähigung, die facultas docendi, erhielt, stammten in der Hauptsache aus dem Jahre 1831. Sie wurde durch eine Kommission, die Königliche Wissenschaftliche Prüfungskommission, abgehalten. Von besonderer Bedeutung für die wissenschaftliche und berufliche Ausbildung der zukünftigen höheren Lehrer sind nach der Darstellung von M. Arnold die Universitätsseminare. Er geht in seiner Schilderung zurück bis auf das von Wolf in Halle gegründete Seminar zur Bildung von gelehrten Laienlehrern und schildert seine Arbeitsweise. Die Sitzungen dieses Seminars waren in der Hauptsache angefüllt durch Autoreninterpretationen und Diskussionen zwischen zweien oder mehreren Seminaristen über eine lange vorher aufgestellte und schriftlich bearbeitete oder über eine vom Seminarleiter unmittelbar vor der Diskussion gestellte These. Wolf befolgte in seinem Seminar die Methode aller großen Lehrer, indem er sich möglichst zurückhielt, das Gespräch nur in Gang brachte, leitete und am Schluß das Ergebnis zusammenfaßte und die Studenten die Hauptarbeit selbst erledigen ließ (110). Zur weiteren Vorbereitung auf ihre spätere berufliche Praxis gaben die fortgeschrittenen Studenten einige Stunden in der Lateinschule des Waisenhauses. Außer auf das Hallenser weist Arnold auch auf das Bonner Philologische Universitäts-Seminar hin und meint dann, dem englischen Studenten müsse, wenn er von der Tätigkeit der deutschen Universitätsseminare höre, „water the mouth", das Wasser im Munde zusammenlaufen. Außer dem philologischen behandelt Arnold auch das naturwissenschaftliche, das mathematische und das historische Seminar, die der Ausbildung von Fachlehrern dienen. Zum Schluß beschreibt er das spezielle pädagogische Seminar, wie es sich an den Universitäten in Berlin, Königsberg, Breslau, Stettin und Halle befand, das seine Aufgaben darin sieht, seine Mitglieder in die praktischen Anforderungen des Lehrerberufs einzuführen. Dieser Einführung geht die Fortsetzung der allgemeinen wissenschaftlichen Schulung parallel. Als Mitglied werden in diese pädagogischen Seminare im allgemeinen nur die zugelassen, die das Examen pro facultate docendi bereits abgelegt haben und nun statt eines Probejahres an einer Höheren Schule zwei oder drei Jahre in einem pädagogischen Seminar zubringen. Jeder Seminarist gibt auch eine gewisse Anzahl von Unterrichtsstunden (in Berlin z. B. wöchentlich sechs), nimmt an den Konferenzen der Schule, an der er unterrichtet, teil und lebt in enger persönlicher Verbindung mit einem ihrer Lehrer. Wegen der kleihen Zahl der pädagogischen Universitätsseminare und ihrer beschränkten Mitgliederzahl konnte der Bedarf an Lehrern der Höheren Schulen durch sie nicht gedeckt werden, und man mußte nach anderen Wegen ihrer Rekrutierung suchen. Da sich das eben erwähnte Zusammenleben
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mit einem erfahrenen Lehrer und der beruflidie Start unter dessen Augen für die Novizen als wertvoll erwiesen hatte, wurde vorgeschlagen, statt neue pädagogische Seminare zu gründen, eine gewisse Anzahl tüditiger Lehrer auszuwählen und ihnen ein bis drei Anfänger zu einem zweijährigen Ausbildungskurs anzuvertrauen. Es ist klar, daß diese Schilderung des preußischen Vorgehens in England, wo die Lehrer der Höheren Schulen bisher gar keine berufliche Ausbildung erhalten hatten und man diesen Zustand als Mangel empfand, auf die Pädagogen großen Eindruck machen und den Willen erwecken mußte, für die beruflidie Ausbildung der Lehrer der Höheren Schule Vorsorge zu treffen. Für die Stärke der Vorbildwirkung der preußischen Höheren Schulen sind auch die Forderungen, die Arnold in den beiden letzten Kapiteln seines Buches zieht, aufschlußreich, da sie mehrfach nichts anderes als die Nachahmung deutscher bzw. preußischer Einrichtungen verlangen. So fordert er, daß das englische höhere Schulwesen in staatliche Hände gelegt werde, wie es in Preußen seit 1809 (in Italien seit 1859) geschehen sei (111), daß den Mittelklassen, ähnlich wie in Deutschland, dieselben guten Schulen zugänglich sein sollten wie den Oberklassen, daß man der verschiedenen Begabungsrichtung der Schüler durch die Organisation der Höheren Schule, ähnlich wie in Deutschland, Rechnung trage, u. a. m. So wie der Bericht Arnolds verrät auch der von der Schools Inquiry Commission herausgegebene eine außerordentliche Hochschätzung der preußischen Höheren Schulen und bezieht sich bei seinen Reformforderungen mehrfach auf sie. Seine Gesamteinstellung wird schon deutlich aus der summarischen Beurteilung des preußischen Schulsystems im zweiten Kapitel des ersten Bandes (112): „When we view it as a whole, the Prussian system appears to be at once the most complete and the most perfectly adapted to its people, of all that now exist." Im weiteren Verlauf des Berichtes werden aus dem Vergleich der englischen mit ausländischen Höheren Schulen einige Leitsätze für die englische Schulreform abgeleitet. Dabei wird das Beispiel Preußens einige Male nachdrücklich hervorgehoben (113). So wird verlangt, daß die englische Höhere Schule wie die preußische den Bedürfnissen des Volkes Rechnung tragen sollte und daß daher das Volk bei der Gestaltung der Schulen einen gewissen Einfluß haben müsse. Weiter wird darauf aufmerksam gemacht, daß überall, wo die Höhere Schule erfolgreich war, z. B. in Deutschland, die klassischen Sprachen zwar die Grundlage bildeten, daß aber der klassische Unterricht so weit eingeschränkt wurde, daß sich Raum und Zeit für die Erfüllung anderer notwendiger Bildungsaufgaben ergab, wenn man nicht vorzog, neue Höhere Schulen neben dem alten klassischen Typus zu schaffen. Diese Reformen werden auch für-England als notwendig betrachtet, und zwar weil manche Schülerindividualitäten besser durch andere Stoffe, z.B. durch moderne Sprachen, Naturwissenschaften und Mathematik, als durch klassische 250
Sprachen in ihrer Entwicklung gefördert werden, und weil es manche Berufe gibt, für die das Studium der klassischen Sprachen nicht die entsprechende Vorbereitung darstellt. Schulen nach dem Muster der preußischen Realschule werden daher auch für England als notwendig erklärt (114). Stark beeindruckt sind die Berichterstatter durch die grundsätzliche Achtung der Gewissensfreiheit der Eltem in den deutschen Höheren Schulen, die sie auch für die Höheren Schulen ihres Landes verlangen. Auch die in dem Bericht zu Wort kommende Kritik der englischen höheren Lehrer ist wohl durch den Vergleich mit deutschen Verhältnissen begünstigt worden. Es wird ganz offen zugegeben, daß ein großer Teil der Lehrer an den Höheren Schulen Englands für die Lehrtätigkeit nicht hinreichend ausgebildet ist. Manchen fehle es an dem erforderlichen Wissen, anderen an der nötigen pädagogischen Schulung. Es wird ferner erklärt, daß die geringe Achtung, die der Stand der höheren Lehrer in England als Ganzes genießt, von schädlichem Einfluß auf dessen Leistung ist. Zur Besserung dieses Zustandes wird zunächst die Errichtung einer eigenen Anstalt zur Ausbildung dieser Lehrer, eine Art von école normale nach französischem Muster, empfohlen. Aber dann wird, diese Forderung einschränkend, auf das preußische Vorgehen hingewiesen: „But on the other hand, it cannot be said that such a school is a necessity; for the Prussians have no such training school, and yet their teachers are admirably qualified, and in many respects better adapted to succeed in English schools, than the French teachers would be" (115). Diese und ähnliche offene Eingeständnisse der eigenen Mängel und die Anerkennung des deutschen Vorbildes für die geforderten Reformen in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts blieben nicht ganz ohne Widerspruch. Z u den Opponenten gehört z. B. Robert Herbert Quidc In seinen 1868 in London erschienenen „Essays on Educationel Reformers" (116) betont er gegenüber den schrankenlosen Bewunderern des deutschen Vorbildes : „But in all such cases we must be very careful that the superiority of the thing to be introduced is clearly demonstrated; and in listening to the admirers of foreign systems we sometimes wish for an opportunity of following at the maxim audi alteram partem." Er trägt dann diesem Grundsatz dadurch Rechnung, daß er den von den englischen Pädagogen ausgesprochenen Urteilen über die englischen und die deutschen Höheren Schulen die Ansicht von Dr. Wiese, einem auch von den Engländern, z. B. von Matthew Arnold, als Autorität anerkannten deutschen Pädagogen, gegenüberstellt. In dessen berühmten Briefen über englische Erziehung, die 1854 auch in englischer Übersetzung erschienen (117), wird den englischen Höheren Schulen in einer Beziehung sogar der Vorzug vor den deutschen gegeben. Wiese sagt nämlich von ihnen, daß sie „know how to guard and to strengthen the germ of manhood", während die deutschen Höheren Schulen „have forgotten their business of education". Und das Endresultat seines Vergleiches lautet: „In knowledge, our higher schools are far in advance of the English ; but their education is more effective, because it imparts a better preparation for life" (118). 251
Die dritte der für die Entwicklung des englischen höheren Schulwesens bedeutungsvollen Kommissionen tagte ungefähr drei Jahrzehnte nadh der Schools Inquiry Commission unter dem Vorsitz des Staatsrates James Bryce. Sie wurde durch königlichen Erlaß vom 2. März 1894 aus 27 Personen, unter denen sich hohe Beamte, Gelehrte, Schulmänner und angesehene Privatpersonen befanden, gebildet. Als Aufgabe wurde ihr gestellt, den damaligen Zustand des höheren Schulwesens anzugeben und Vorschläge zur Beseitigung seiner Mängel zu machen. Zugleich sollte sie die staatlichen Stiftungs- und sonstigen Hilfsquellen feststellen, die zugunsten der Höheren Schulen zur Verfügung standen oder verfügbar gemacht werden konnten. Zur Durchführung dieser Aufgaben erhielt die Kommission die Ermächtigung, von der sie auch ausgiebig Gebrauch machte, alle Personen, Behörden und Akten, die ihnen bei ihrer Untersuchung dienlich sein konnten, nach ihrem Ermessen in Anspruch zu nehmen. Die Kommission hielt in 27 Monaten 105 Sitzungen ab und stellte dann in verhältnismäßig kurzer Zeit einen neunbändigen Bericht zusammen. Ehe wir uns mit der Stellung dieser Kommission zum deutschen höheren Schulwesen näher beschäftigen, muß noch darauf hingewiesen werden, daß auch in den Jahrzehnten, die zwischen den beiden Kommissionen (1864—1894) liegen, die Vorbildwirkung der deutschen Höheren Schule nicht aufgehoben war. Ein Beleg dafür ist die 1884 in London herausgebrachte und an anderer Stelle bereits zitierte Schrift von Charles Bird, Higher Education in Germany and England. Darin tadelt Bird lebhaft die Planlosigkeit in der räumlichen Verteilung der englischen Höheren Schulen. O b eine Ortschaft eine Höhere Schule hat oder nicht, hängt nach seiner Darstellung in der Regel von den Ereignissen des Reformationszeitalters in jener Gegend oder von dem Vorhandensein örtlicher Menschenfreunde ab. Daher sind die Höheren Schulen über das Land ohne Rücksicht auf die regionalen Bedürfnisse so verteilt, als wenn „they had been dropped from a pepper-box" (119). So ist es zu erklären, daß einzelne Städte eine, andere zwei, die Mehrzahl aber, und zwar besonders die modernen Großstädte, keine Höheren Schulen aufweisen. Viele Engländer fühlen zwar, daß diese Verteilung nicht richtig ist, aber nur wenige wissen, wie weit England auch hier hinter Deutschland zurücksteht, wo Lage und Zahl der Höheren Schulen dem örtlichen Bedürfnis angepaßt sind. Der Besuch Stuttgarts gab Bird den Gedanken ein, die Höheren Schulen dieser Stadt so eingehend zu beschreiben, daß die Darstellung für jeden englischen Schuldirektor von praktischem Nutzen sein konnte, der das, was er an ihnen hochschätzte, nachahmen wollte. Zugleich leitete ihn die Absicht, diejenigen englischen höheren Lehrer, die noch nicht die Rückständigkeit ihrer Schulen gegenüber den deutschen („how inferior we are to the Germans in education") (120) Schulen erkannt hatten, über diesen Tatbestand anschaulich aufzuklären. Zu den Vorzügen des deutschen höheren Schulwesens, die er aufzählt und denen er Reformforderungen anschließt, gehören: 252
1. Der prozentuale Anteil der Bevölkerung, der eine Höhere Schule besucht, ist in Deutschland bedeutend höher als in England. In Stuttgart beträgt er, Universität und technische Schulen außer acht gelassen, 5 2 pro Mille, in englischen Städten aber 10 bis höchstens 2 0 pro Mille ( 1 2 1 ) . 2 . In Deutschland ist das nationale Erziehungssystem einschließlich der Höheren Schulen bereits drei Generationen in Kraft. Die Folge davon ist ein solches Bildungsniveau der Bevölkerung, daß jeder Vater den W e r t einer höheren Bildung für seinen Sohn erkennt und fähig ist, die Schule für ihn auszuwählen ( 1 2 2 ) . 3. Die deutschen Schulbücher verdienen vor den englischen den Vorzug, denn sie sind umfangreicher und trotzdem billiger, methodischer aufgebaut und besser gegliedert ( 1 2 3 ) . 4. Die berufliche Vorbildung der Lehrer an den Höheren Schulen ist in Deutschland obligatorisch, in England fehlt sie. Bird beschreibt sie daher eingehend (124). 5. Hinter den deutschen Schulbauten stehen die englischen mit ihren dunklen zugigen Gängen und Treppenhäusern, den kleinen, schlecht beleuchteten Klassenräumen, den ungenügenden Heizungs- und Lüftungsanlagen, selbst wenn sie äußerlich hübsch anzusehen sind, weit zurück. Bird bringt daher in seinem Buch Pläne deutscher Schulen zum Abdruck und fordert auf, sie mit denen englischer Schulen zu vergleichen ( 1 2 5 ) .
6. Die äußere Organisation der deutschen Höheren Schulen ist der der englischen vorzuziehen. Bird entwirft dabei folgendes Bild: W e n n man in einer englischen Stadt zwei Höhere Schulen findet, dann ist in der Regel die eine first grade, d. h. humanistisch (classical), ziemlich kostspielig und für die obere Bevölkerungsschicht bestimmt, die es sich leisten kann, ihre Söhne bis zum 18. oder 19. Lebensjahr auf der Höheren Schule zu lassen und sie dann auf das College zu schicken. Die andere dagegen ist second grade, nicht so gut, ziemlich billig und für die Söhne der unteren Mittelklasse bestimmt, welche — wenn sie 16 Jahre alt sind — durch ihre Eltern von der Schule genommen werden. In Deutschland bestehen auch zwei Arten Höherer Schulen nebeneinander, Gymnasium und Realschule; beide aber behalten ihre Schüler bis zum 18. oder 19. Lebensjahr; beide verlangen ein gleich hohes, übrigens mäßiges Schulgeld, und beide werden sowohl von den Söhnen der oberen wie der unteren Mittelschicht besucht. Die W a h l der Schule hängt meistens davon ab, welchen Beruf der Schüler später ergreifen will. Diese Vergleiche zwischen den englischen und deutschen Höheren Schulen veranlassen Bird zur Forderung einiger Reformen nach deutschem Vorbild. Ihre Hauptpunkte sind: 1. Vermehrung der Zahl der Höheren Schulen und die Gewährung der Gleichberechtigung an die classical und modern schools;
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2. die Herabsetzung des Schulgeldes, die ermöglicht werden kann durch Verminderung der Verwaltungskosten, durch Gewährung von Staatszuschüssen und durch Heranziehung von Stiftungen; 3. die Verbesserung der Schulbauten nach genehmigten Plänen; 4. die Einrichtung von Pensionen, Internaten, in denen zumal die Jugend vom Lande während ihrer Schuljahre gegen Zahlung eines billigen Pensionspreises wohnen kann; 5. die Einführung einer pflichtmäßigen beruflichen Vorbildung für die Lehrer der Höheren Schule. Diese ist von entscheidender Bedeutung, wehn England es auf dem Gebiet der Höheren Schulen nur halb so weit bringen will wie Deutschland. Bird ist trotz seiner Hochschätzung der deutschen Höheren Schulen nicht blind für einzelne Mängel und fordert auf, sie bei der Nachahmung des deutschen Vorbildes zu vermeiden. An einer Stelle seines Buches (126) meint er: „We could however ,Germanize' our schools without slavishly copying the small defects of the German system." Kehren wir nach dieser Abschweifung zu der Arbeit der Royal Commission on Secondary Education vom Jahre 1894 zurück (127). Unter dem 23. August 1895 reichte sie ihren ersten Bericht ein, der unter dem Titel „Royal Commission on Secondary Education V. I. Report of the Commissioners. Presented to Parliament by Command of Her Majesty" veröffentlicht wurde. Vergleiche mit der deutschen Höheren Schule beziehungsweise Hinweise auf sie finden sich in den einzelnen Bänden des Berichts verhältnismäßig selten. Aber trotzdem wirkt die deutsche Pädagogik hinein, besonders das System Fröbels. Der 5. Band des Berichts enthält eine Arbeit von J. J. Findlay über die Vorbildung der Lehrer an den deutschen Höheren Schulen sowie die auf ein Zirkular der Kommission eingelaufenen Mitteilungen über die Höheren Schulen in einer Reihe von deutschen Staaten, wie Preußen, Bayern, Sachsen und einigen anderen. So hat die Kommission ohne Zweifel für ihre Reformvorschläge Anregungen von der deutschen Höheren Schule empfangen. Diese aber gingen nicht so weit, als daß sie sich auch in den von ihr geforderten Schulformen dem deutschen Vorbild angeschlossen hätte. Die hierher gehörigen Ausführungen des Kommissionsberichtes lauten (128): „Es wird gegenwärtig wohl allgemein anerkannt, daß neben der humanistischen Bildung, begründet auf den Sprachen des klassischen Altertums, deren unvergleichlichen Wert kein denkender Mensch bestreiten wird, doch auch in weitem Maße für eine realistische Bildung gesorgt werden muß, die womöglich mit Naturgeschichte und anderen Beobachtungswissenschaften beginnt und bis zur Chemie und Physik fortschreitet. Ferner wird anerkannt, daß die Mathematik, obgleich sie den Naturwissenschaften näher steht, doch auch in den humanistischen Unterricht gehört, daß die wichtigsten neueren Sprachen Europas nicht bloß als Mittel zur sprachlichen Ausbildung, sondern auch als der Schlüssel zu kostbaren Literaturschätzen anzusehen sind . . . " So weit geht die Übereinstimmung der englischen Kommissions-
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mitglieder mit den deutschen Reformpädagogen. Aber während diese hieraus: auf die Notwendigkeit von drei verschiedenen Bildungsanstalten schließen, kommt die Kommission zu einem davon abweichenden Ergebnis. „Diese drei Elemente, die wir als das literarische, das realistische und das technische bezeichnen, lassen sich zu einer großen Mannigfaltigkeit der Formen und Verhältnisse miteinander verbinden. Die Erfahning allein kann zeigen, welche Formen und welche Verhältnisse die besten sein werden, und zwar nicht nur als Musterform für allgemeine Bildung gedacht, sondern auch für die Bildungsbedürfnisse der verschiedensten gesellschaftlichen Verhältnisse und Berufsklassen." Außer den Kommissionen sind einzelne der Direktoren der englischen Höheren Schulen Vermittler deutschen Einflusses gewesen. Bei dem Fehlen staatlicher Regelung wurden die Fortschritte im höheren Unterricht hauptsächlich durch große Direktoren an ihren Anstalten herbeigeführt. Diese blieben allerdings meist auf ihre Anstalten beschränkt und fanden in der Regel, aus verschiedenen Gründen (129), keinen Eingang in andere Höhere Schulen. Wenn nun diese reformatorisch eingestellten Direktoren mit der deutschen Pädagogik, insbesondere mit dem deutschen höheren Unterricht bekannt waren, so wirkte sich in ihren pädagogischen Neuerungen nicht selten auch der Einfluß deutscher Anregungen aus. So war es z. B. bei Cecil Reddie, der in Jena studiert hatte und später in Abbotsholme bei Rocester ein Internat mit völlig neuen Grundsätzen gründete, bei dem auch manche der Ideen Salzmanns verwirklicht wurden. So war es auch bei William Rouse, der an der von ihm seit 1901 geleiteten altberühmten Perse School dem modernen deutschen Gedanken der Arbeitsschule und der direkten Methode des Sprachunterrichtes Rechnung trug. Auf diesen beiden und anderen Wegen fand allmählich doch manches Detail des höheren deutschen Unterrichts in die englische Secondaiy School Eingang und schaute den deutschen Besucher mit bekanntem Gesicht an. Davon legen einzelne der letzteren, z. B. Dr. Gallert vom Stralsunder Realgymnasium, der anfangs der neunziger Jahre eine pädagogische Studienreise durch England machte, Zeugnis ab. Er schreibt u. a. in seinem Reisebericht (130): „Die Methode des Unterrichts schien mir in Westminster College, wo midi der Direktor Rutherford namentlich in die unteren Klassen führte, nicht wesentlich von den unsrigen abzuweichen." Audi fand Gallert in England die beiden gleichen pädagogischen Strömungen im höhern Unterricht wie im gleichzeitigen Deutschland, von denen die eine „auf dem festen Boden klassischer Studien beruht und sich in den Public Schools auswirkt, während die andere in den modernen Wissenschaften die Bildungsgrundlage erblickt und sich vor allem in den Grammar Schools repräsentiert (131). Die letzteren mit ihrer klassischen und realistischen Abteilung entsprechen unseren Gymnasien und Realgymnasien. Sie unterscheiden sich allerdings von diesen wesentlich dadurch, daß sie nicht eine so große Zahl obligatorischer Gegenstände aufweisen, dem Schüler die Wahl einzelner Fächer ganz frei lassen und in anderen seiner Befähigung ge255
bührend Rechnung tragen" (132). Femer findet Gallert an den meisten englischen Höheren Schulen Turnhallen, „die ganz nach deutschem Muster eingerichtet sind", selbst an solchen Schulen, wo der Leiter „den erzieherischen Wert des systematischen Schulturnens an Geräten in Zweifel zieht und jedem beliebigen open air game den Vorzug gibt" (133). Im Geographie- und Geschichtsunterricht fand er zu seiner Freude ziemlich allgemein die deutschen Landkarten von Kiepert im Gebrauch, wenn auch der Unterricht selbst weit hinter dem Geschichts- und Geographieunterricht an den deutschen Schulen zurückstand. Es gab z. B. damals für beide Fächer an den englischen Höheren Schulen noch keine Fachlehrer. Sie wurden durch den Klassenlehrer erteilt. Die Einführung des Geschichtsunterrichts hatte in England lange mit Widerständen zu kämpfen gehabt, weil der Durchschnittsengländer der Meinung war, „daß der Jüngling gerade in diesem Fach leicht zu einer bestimmten politischen Meinung geleitet werden könne, die der Ansicht des Vaters und der Familie widerspräche" (134). Es ist sicherlich auf das Beispiel der Höheren Schulen Deutschlands mit zurückzuführen, daß die beiden Fächer schließlich doch in den Lehrplan der Höheren Schulen aufgenommen wurden. Die Bedeutung Deutschlands für die Höhere Schule in England reicht aber viel weiter, als man nach den vorangehenden spärlichen Einzelangaben erwarten sollte, und zwar deshalb, weil die deutsche Kultur Einfluß auf das gesamte englische Geistesleben hatte, das die Grundlage der höheren Bildung abgibt. Besonders ist hier der Einfluß der Reformation im 16. und des deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert zu erwähnen. Das Christentum wurde erst durch den Einfluß der d e u t s c h e n Reformation zu einer bewußten Kraft des englischen Lebens, und die religiös-ethische Tradition des 19. Jahrhunderts wurde vom deutschen Idealismus gespeist, indem „die großen Engländer des 19. Jahrhunderts, Coleridge und Carlyle voran, aber auch Ringsley, Matthew Arnold und George Elliot, die Rettung gesucht in einer neuen Welle deutschen Einflusses, die von Coleridges deutscher Reise (1798—1800) bis in die Generation Bismarcks hineinreicht" (135). Bei der Darstellung der gestaltenden Einwirkung der deutschen Höheren Schulen auf die amerikanischen, die wir jetzt anschließen, können wir uns kürzer fassen als in den beiden vorangehenden Abschnitten. Nach Auffassung mancher amerikanischer Fachleute hat eine solche Einwirkung überhaupt nicht stattgefunden. John A. Walz faßt am Schlüsse seines mehrfach zitierten Buches über den deutschen Einfluß auf amerikanische Erziehung und Kultur das Ergebnis mit den Worten zusammen: „German influence upon American education and culture during the nineteenth Century has been beneficial and profound. It extends to the Kindergarten, common schools, normal, schools, universities" (136). Die amerikanische Höhere Schule wird also von ihm unter den Einrichtungen, die unter dem deutschen Einfluß gestanden haben, überhaupt nicht genannt. Und so sucht man denn auch in der Darstellung von Walz vergebens nach einem noch so kleinen Hinweis darauf, daß von der deutschen Höheren Schule An-
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regungen für die Entwicklung des amerikanischen höheren Schulwesens ausgegangen seien, oder daß die erstere bei der Gründung oder Reform der amerikanischen High School als Muster und Vorbild gedient habe. Dem Leser des vorangehenden Kapitels, in dem die starke Abhängigkeit der amerikanischen Volksschule und Lehrerbildung vom deutschen bzw. preußischen Vorbild nachgewiesen wurde, erscheint die völlige Unabhängigkeit des amerikanischen vom deutschen höheren Unterricht ziemlich unglaubwürdig. Aber wenn er dann die übliche amerikanische Darstellung der historischen Entwicklung der Höheren Schule .liest, ist er vielleicht doch bereit, sie zu glauben (137). Man unterscheidet in ihr gewöhnlich drei Perioden: die koloniale Periode, die Periode von den Revolutionskriegen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und die nachfolgende Periode. In der ersten gab es in Nordamerika bereits vereinzelt Höhere Schulen, grammar schools und secondaiy schools, die aber nodh keine typisch amerikanischen Einrichtungen sein konnten, weil das bunt zusammengewürfelte Kolonialvolk damals noch keinen einheitlichen Nationalcharakter besaß. Damit fehlte aber zu einer originalen nationalen Lösung des Problems der Höheren Schule die wichtigste Vorausetzung. Da die Mehrzahl der Einwanderer aus England stammte, lag es nahe, sich bei der Einführung der Höheren Sdiule nach dem Beipiel der englischen grammar school zu richten. Der wachsende demokratische Geist und der Calvinismus bewirkten aber dann, daß sie allmählich doch ihr eigenes Gesicht erhielt. Für die zweite Periode ist eine andere Höhere Schule, die sogenannte „academy", charakteristisch. Auch sie ist zunächst bloße Nachahmung einer englischen Einrichtung, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts von den Dissenters auf eine Anregung Miltons hin ins Leben gerufenen Academy. Auch diese erhielt dann allerdings in Amerika nach und nach ein eigenes nationales Gepräge. In der dritten Periode machte sich neben dem englischen auch ein gewisser französicher Einfluß geltend, indem in inzelnen Staaten, zunächst in New York (1784), im folgenden Jahr in Georgia und 1817 in Michigan — in den beiden letzten nach dem Beispiel New Yorks — ein staatliches Schulwesen mit Obsorge für den höheren Unterricht nach dem Vorbild des damaligen französischen Schulsystems, der université, begründet wurde. Die im 19. Jahrhundert allmählich an die Stelle der grammar school und der academy tretende high school aber entstand wieder in Anlehnung an das Schulsystem von Großbritannien. Der Name High School, der zuerst in Boston gebraucht wurde, das mit der Hauptstadt von Schottland in engeren Beziehungen stand, scheint von Schottland übernommen worden zu sein, wenn sich auch die neue amerikanische Schule von der schottischen, deren Namen sie annahm, in Lehrplan und Methode dadurch unterschied, daß die alten Sprachen in ihr nicht gelehrt und das Monitorial (Helfer) -System nicht angewandt wurde. In dieser Weise wird die geschichtliche Entwicklung der amerikanischen Höheren Schule von Elmer Ellsworth Brown, der als „authority on the history of American secondaiy éducation" (138) anerkannt ist, dargestellt. 17
S c h n e i d e r , Pädagogik.
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Und doch ist eine derartige Darstellung, die gar nidits von einer gestaltenden deutschen Einwirkung auf das amerikanische Schulwesen weiß oder wissen will, falsch. Daß von ihr in dem Buche von Walz und dem Aufsatz von Elmer Ellsworth Brown und in manchen anderen Schriften über die amerikanische Höhere Schule nichts gesagt wird, kann daran liegen, daß diese Abhängigkeitsbeziehung schwächer ist als die zwischen den amerikanischen und deutschen Volksschulen, Lehrerbildungsanstalten und Universitäten und daher auch weniger Gegenstand der Forschung wurde. Und in der Tat wurde die Abhängigkeit der amerikanischen High School vom deutschen Vorbild bisher noch nicht gründlich erforscht, so daß hier noch eine der im Vorwort berührten zukünftigen Forschungsaufgaben steckt. Hollister nennt in seinem 1904 erschienenen Buch über die Höheren Schulen unter den noch zu erforschenden Problemen ebenfalls „The growth of schools in the free cities of mediaeval Europe and their influence on modern secondary schools". Aber auch ehe die Ergebnisse einer solchen Forderung vorliegen, ist die Anschauung berechtigt, daß die Entwicklung der amerikanischen Höheren Schule von deutschen Einflüssen berührt wurde. Denn es wäre gegen alle Logik, daß alle anderen Schularten von Deutschland her mitgestaltet wurden und nur die Höhere Schule nicht. Dies wäre höchstens nur dann möglich, wenn man die deutsche Höhere Schule nicht wie die anderen Schularten hochgewertet, sondern als minderwertig beurteilt hätte. Das ist aber keineswegs der Fall. Man braucht nur einige beliebige amerikanische Bücher, die sich mit Fragen des höheren Schulwesens beschäftigen, zu durchmustern, und man wird fast immer finden, daß ihre Verfasser die deutsche Höhere Schule aus der Literatur oder auch durch persönlichen Besuch kennen und sehr hoch einschätzen und sich bei Reformforderungen auf sie berufen. Man begegnet gelegentlich auch Autoren, die — im Gegensatz zu John Walz und Elmer Ellsworth Brown — ausdrücklich darauf hinweisen, daß außer England und Frankreich auch Deutschland das Werden der amerikanischen Höheren Schule mitbeeinflußte. Greifen wir zwei beliebige hierher gehörige Bücher zur Veranschaulichung dieses Sachverhaltes heraus, Horace A. Hollister, High School Administration, Boston 1909, und John Franklin Brown, The American, High School, New York 1910. Innerhalb einer kurzen Darstellung der Geschichte der Entwicklung des deutschen höheren Schulwesens sagt Hollister: „There is probably no system of secondary schools in the world that can compare with that of the German states in the thorough efficiency and soundness of its teaching" (139). Und bei der Besprechung des französischen enseignement secondaire erkennt er zwar seinen hohen Standard an, bemerkt aber ausdrücklich, daß er nicht an den der deutschen Höheren Schulen heranreicht. Aufschlußreich ist auch, daß in beiden Büchern die Länder, wenn von ihrem höheren Schulwesen die Rede ist, immer so aufgezählt werden, daß Germany — im Widerspruch mit der alphabetischen Reihenfolge — zuerst genannt wird (140). Daß dies kein Zufall, sondern Ausdrude einer Wertung ist, wird noch belegt durch den einzigen Fall der Ab258
weidiung von dieser Reihenfolge, der sich bei Hollister in der Kapitelüberschrift " „An investigation of English, German and French secondary school architecture" (141) findet. Die englische Bauweise hat der Amerikaner beim Bau seiner Höheren Schulen der deutschen im allgemeinen vorgezogen, darum nennt er sie auch in der Aufzählung zuerst. Hollister widerspricht auch der Behauptung, daß der amerikanische höhere Unterricht ausschließlich vom englischen Beispiel abhängig sei, und behauptet, daß die Typen der Höheren Schulen Deutschlands, Englands und Frankreichs „were early transferred to the American colonies" und daß, wenn auch der englische Einfluß vorherrschend gewesen sei, „evidences are not lacking of veiy distinct influence traceable to the French and German types". Derselbe Autor findet in der Boston English Classical School, der ersten amerikanischen High School, „the first school of the ,Realschule'type in America", sowie in der grammar school ein Gegenstüdc zum deutschen Gymnasium. Es ist also zumindest unwahrscheinlich, daß diese amerikanischen Schulen durch die den amerikanischen Pädagogen bekannten deutschen Parallelanstalten gar nicht berührt worden sind. Auch Brown muß der Ansicht sein, daß von den deutschen Realanstalten etwas zu lernen ist. Nur vom deutschen Realgymnasium, nicht aber von französischen und englischen Anstalten, führt er die Stundentafeln an (142). Und aus der Schilderung der deutschen Reformbewegung, die auf die Gleichberechtigung der verschiedenen höheren Schultypen und die Begründung höherer Mädchenbildungsanstalten abzielt, ergibt sich in der Schilderung von Hollister (143), daß sie gleiche Strömungen in USA. weckte bzw. stärkte. Übrigens beruft sich Brown sogar bei der Erörterung der ä u ß e r e n Organisation des amerikanischen höheren Schulwesens auf das deutsche Beispiel, und Hollister weist bei einigen Spezialeinrichtungen, z. B. bei der Durchführung der Schulhygiene und der Einführung von Elternabenden, auf die Abhängigkeit von deutschen Anregungen hin. Trotz aller europäischen und auch deutschen Anregungen blieb die amerikanische Höhere Schule auch im 20. Jahrhundert weit hinter der deutschen zurück. Das lag insbesondere begründet in der mangelhaften Ausbildung der Highschool-Lehrkräfte und an dem ungeheuren Anwachsen der Schülerzahlen in den letzten Jahrzehnten. „In the training of secondary teachers we are far inferior to continental Europe and scarcely on a par even with England" (144), erklärt Hollister offen. Und wenn man weiß, wie erstaunlich die Zahlen der höheren Schüler in 15 Jahren anstiegen (von 211 596 auf den public schools und 98400 auf den private schools im Jahre 1890 auf 697702 bzw. 107207) (145), kann man sich vorstellen, daß die Kräfte der Verantwortlichen einfach dadurch beschlagnahmt wurden, für diese herandrängenden Schülermassen die äußeren schulischen Bedingungen zu schaffen, und daß naturgemäß die Arbeit an der inneren Verbesserung des höheren Schulwesens liegenblieb. Die vorangehenden Ausführungen haben anschaulich gezeigt, daß die Höheren Schulen in Frankreich, England und USA. Deutschland viel verdan17*
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ken. Daß das deutsche höhere Sdiulwesen auch auf die meisten anderen kleineren Kulturstaaten formend einwirkte, kann hier nicht im einzelnen belegt werden. Dazu fehlen für viele Länder auch noch die entsprechenden Vorarbeiten. Da, wo sie vorliegen, wie etwa für Chile (146) und Finnland (147), wird deutlich, daß die Höhere Schule dieser Länder Deutschland für manche Anregung und Hilfe zu Dank verpflichtet ist.
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3. Die deutsche Universität Mehr noch als die bisher behandelten Schularten stand die deutsche Universität schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und erst recht während des 19. Jahrhunderts in der ganzen Kulturwelt in hohem Ansehen und war auch auf die Entwicklung des ausländischen Hochschulwesens von gestaltendem Einfluß. In vielèn Ländern war sowohl bei der Reform der bereits bestehenden Hochschulen wie bei der Neugründung von Universitäten die preußische bzw. die deutsche Universität Muster und Vorbild. Das gilt vor allem von Frankreich, wo die jahrzehntelange Diskussion der Reform des Enseignement supérieur sich immer wieder an dem Vorbild, der Université allemande, entzündete und aufrichtete, und außerdem für England und Nordamerika, wo die Reformer der Colleges und die Begründer der universities sich immer wieder auf die deutsche Universität (The German University, the German Type) bezogen und sich diese sowohl bei ihren theoretischen Forderungen wie bei ihrer praktischen Reformarbeit als Leitbild, als „model institution" nahmen. Aber auch im Norden und Süden Europas ist die deutsche Universität für die Entwicklung des Hochschulwesens der verschiedenen Länder von Bedeutung gewesen. Die deutsche Forschung hat sich bisher mit der Auslandswirkung der deutschen Universität verhältnismäßig wenig beschäftigt, und eine deutsche Gesamtbehandlung dieses Themas liegt noch nicht vor. Das ist einigermaßen erstaunlich. Einmal weil ein ganzer Schatz von Material für die Bearbeitung dieses Themas vorliegt, der unschwer gehoben werden könnte, und zum andern, weil die Darstellung der Geschichte dieses Einflusses, der Kanäle, durch die er seinen Weg nahm, der für ihn förderlichen und hemmenden Umstände und seines mitunter geradezu dramatischen Auf und Ab die Anteilnahme der geistig Interessierten über den engen Kreis der Fachleute hinaus erwarten ließe, und weil sie zur Stärkung des nationalen Selbstbewußtseins und des berechtigten Stolzes auf die erfolgreiche deutsche Kulturmission beigetragen hätte. Es finden sich wohl verstreut einzelne deutsche Beiträge zu unserem Thema in Gesamtdarstellungen des deutschen Kultureinflusses auf ein anderes Land (z. B. in Johannes Haller, Tausend Jahre deutsch-französischer Beziehungen, Stuttgart-Berlin 1930), in monographischen Darstellungen des Schulund Bildungswesens anderer Völker (siehe die einschlägigen Werke von Dreßler, Frieden, Hylla, Kartzke, Laue, Völcker u. a. m.), in deutscher Literatur 261
über Vermittler deutscher kultureller bzw. pädagogischer Auslandswirkung (z. B. in den beiden Bänden über Viktor Cousin von Hermann Joseph Ody) und endlich audi in Untersuchungen akademischer Einzelprobleme, z. B. in Ludwig Bernhard, Akademische Selbstverwaltung in Frankreich und Deutschland. Ein Beitrag zur Unversitätsreform. Berlin 1930. Merkwürdgerweise hat man im Ausland den Einfluß der deutschen Universität auf die eigene Hochschulentwicklung mitunter gründlicher erforscht, als wir es getan haben, obwohl man dabei zu Ergebnissen gelangte, die das nationale Selbstgefühl der Forscher und ihrer Landsleute verletzen konnten, da sie gezwungen waren, die deutsche Superiorität und die eigene Abhängigkeit vom deutschen Vorbild anzuerkennen. So finden sich in ihrer Literatur nicht nur viele Einzelbeiträge zur Erforschung unseres Problemkreises, sondern mitunter auch eine größere zusammenfassende Darstellung, wie z. B. in John A. Walz, German Influence in American Education and Culture. Philadelphia 1936, oder sogar der Versuch einer Gesamtdarstellung, wie etwa Charles Franklin Thwing, The American and the German University. One Hundred Years of History, New York 1928. Ich beabsichtige nicht, im folgenden den deutschen Einfluß auf die Hochschulen der ganzen Welt darzustellen. Ich werde mich unter Herausarbeitung des Wesentlichen auf Frankreich, Großbritannien und USA. beschränken und nur gelegentlich auf andere Länder Bezug nehmen. Und zwar beginne ich mit Frankreich, einmal weil es uns geographisch am nächsten liegt, in der Hauptsache aber, weil es zweimal in den schon mehrfach genannten großen Herolden des deutschen Bildungsdenkens und der deutschen Bildungswirklichkeit auch die Vermittler der deutschen Universitätsidee stellte, in Madame de Staël und Victor Cousin. Da der Auslandseinfluß der deutschen Universität erst verhältnismäßig spät begann, werde ich zur Erklärung dieses Tatbestandes und der Stärke der dann einsetzenden Auslandswirkung beginnen mit einer k u r z e n Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der deutschen Universität und der Schilderung ihres Zustandes in der Zeit, da das Ausland begann, ihr mehr Beachtung zu schenken. Zum besseren Verständnis dieser Auslandswirkung werde ich ferner am gegebenen Ort einen kurzen Blick auf die geschichtliche Entwicklung des Hochschulwesens des jeweilig behandelten Landes werfen und dessen Zustand in der Zeit schildern, da man anfing, die deutsche Universität als Vorbild zu betrachten. Die beiden ältesten europäischen Universitäten waren die von Bologna und Paris. Nach ihrem Muster, namentlich nach dem Vorbild der bereits 1150 begründeten Pariser Universität, wurden die anderen europäischen Universitäten, auch die ersten deutschen, gegründet. In der französischen Literatur wird gern und mit einem gewissen Stolz auf diesen Tatbestand aufmerksam gemacht. („La France a donné à l'Allemagne, au déclin du moyen âge, le modèle des grandes corporations universitaires" (1). Ja, er wird sogar heran262
gezogen, um die Bedeutung des späteren großen Einflusses des deutschen Hochschulwesens auf den französischen enseignement supérieur abzuschwächen. So meint Louis Liard (2), es sei weniger „Nachahmung", als ein „Wiedernehmen", wenn Frankreich später in der Universitätsreform auf den Bahnen Deutschlands wandle, da die Universität historisch auf dem Boden Frankreichs entstanden sei. Bei ihrer Universitätsreform handele es sich also eigentlich nur darum, den alten, jahrhundertelang entblätterten Baum wieder zum Grünen zu bringen. Schon Otto Völcker (3) hat auf die Unhaltbarkeit dieser Behauptung hingewiesen. Denn als Frankreich sich im 18. und namentlich im 19. Jahrhundert die deutsche Universität zum Vorbild nahm, da hatte diese sich unter wesentlich deutschen Einflüssen, zumal unter dem des deutschen Idealismus, der ganz verschieden von der westeuropäichen nationalen Aufklärung war, wesentlich weiter entwickelt. Daß der Auslandseinfluß der deutschen Universität sich erst so spät geltend machte, hatte seine Ursache in dem Charakter der mittelalterlichen Universitäten. Diese waren, ganz gleich, in welchem Lande sie sich befanden, keine eigentlichen Landesuniversitäten von nationaler Eigenart, sondern in allen Wesenszügen übereinstimmende, für die ganze Christenheit bestimmte Schöpfungen des christlichen Geistes. Daher schlössen die akademischen Grade, die an einer von ihnen erworben wurden, die Befugnis, an allen übrigen zu lehren, die facultas hic et ubique docendi, ein. Die damaligen Universitäten stimmten in ihrer äußeren und inneren Organisation überein: in ihrem Lehrgehalt, in den dem Unterricht zugrunde liegenden Lehrbüchern, in ihrer Unterrichtssprache (Latein) und in der Lehrmethode. In den Vorlesungen (praelectiones) wurden die Lehrbücher, die den anerkannten Wissensbestand enthielten, erklärt und in Repetitionen und Übungen eingeprägt. Die mittelalterlichen Universitäten waren also nicht Universitäten in unserem Sinne, sondern Schulen, die zunächst das Ziel verfolgten, ihren Studierenden religiöses und philosophisches Wissen zu vermitteln. Diesem Charakter der mittelalterlichen Universität als Schule zur Weitergabe eines feststehenden Wissens entsprach es, daß die Lehrenden Schulmeister (magistri) und die Lernenden Schüler (scholares) genannt wurden. Die Bezeichnungen Professoren und Studenten kommen erst später zur Herrschaft. Weitere Übereinstimmung zeigte sich in den mittelalterlichen Universitäten auch darin, daß ihre Fakultäten sich in Scholaren, Baccelaren und Magister gliederten, die bekleidet waren mit einem langen Rode aus einfarbigem Zeug, der bei den Scholaren durch eine Kapuze und bei den Magistern durch ein Barett ergänzt wurde. Es zeigte sich so zwischen den mittelalterlichen Universitäten eine über Rassengegensätze und nationale Verschiedenheiten hinreichende Übereinstimmung. Dadurch wurde ein persönliches Hin und Her zwischen ihnen begünstigt, indem Scholaren und Magister auch die Universitäten fremder Länder besuchten. Das geschah in so großem Maße, daß die Scholarenschaft sich schon in den ältesten Universitäten in nationale Gruppen gliedern konnte und daß einzelne Professoren im Laufe ihres Lehrerdaseins zum 263
Lehrkörper der Universitäten verschiedener Länder gehörten. So kam es natürlich audi zu gegenseitiger Beeinflussung über die Landesgrenzen hinweg. „The students of the University of Bologna influenced the masters of the University of Paris. Paris in turn, sent bade his English students to their native island, and thus helped in founding Oxford" (4). Eine stärkere wechselseitige Beeinflussung von Organisationen hat aber zur Voraussetzung, daß sie sidi wesentlich voneinander unterscheiden, daß also die eine etwas ihr eigen nennt, was die andere nicht besitzt und was nun in diese „einfließen" kann. Da die mittelalterlichen Universitäten aber, wie wir sahen, in ihrer äußeren und inneren Organisation übereinstimmten, konnte also eine stärkere gegenseitige formende Beeinflussung nicht stattfinden. Geringe Verschiedenheiten zeigten sich nur in der auf ihnen vertretenen Lehre und in der Dynamik des in ihnen herrschenden geistigen Lebens. In beiden Fällen ergaben sich kleinere Einwirkungsmöglichkeiten der einen Universität auf eine andere im Ausland. Vielleicht fand das Lehrsystem eines ihrer Magister den Weg zu einer Auslandsuniversität, und ihr stärkeres geistiges Leben, verursacht durch berühmte Lehrer, erleichtert durch die günstige Lage der Universität, dokumentiert durch große und wachsende Schülerzahlen, wirkte unter Umständen befruchtend auf das geistige Leben anderer Universitäten, audi jenseits der Landesgrenzen. In diesen Ring christlicher europäischer Universitäten trat Deutschland mit seinen „hohen" oder „gefreiten", d. h. mit Freiheiten = mit Privilegien versehenen Schulen, hundert Jahre später als Italien, Frankreich und England ein, weil die ersten deutschen Universitäten um so viel später entstanden als die jener Länder, so daß seine Söhne vorher im Ausland, zumal in Bologna, Padua und Paris studieren mußten. Von einem größeren Auslandseinfluß der dann entstehenden deutschen Universität konnte erst die Rede sein, nachdem sie sich abweichend von den übrigen europäischen Universitäten entwickelt hatte. Das geschah zum erstenmal im Zeitalter der Reformation und der Gegenreformation. Die Universitäten, die sich der Reformation anschlössen, änderten damit den Lehrgehalt der theologischen Fakultäten. Sie wurden zu protestantischen bzw. reformierten oder calvinistischen Universitäten. Die Aufgabe der philosophischen Fakultäten, wie sie in den reformierten Universitäten, z. B. von Melanchton, gesehen wurde, blieb zwar im wesentlichen dieselbe wie in der vorreformatorischen Zeit, nur daß der klassische Unterricht zu dem bisherigen philosophischen hinzukommt. Als Aufgabe der Universität betrachtete man jetzt einen Unterricht, der die Bildung, die mit dem grammatisch-rhetorischen Kursus auf den niederen Schulen begonnen hatte, durch einen literarischen Kurs vollendete. Uberall, wo in Europa die Reformation Eingang fand, nahm man die deutschen protestantischen Universitäten, neben Wittenberg auch Marburg, bei der Gestaltung der eigenen zum Muster und Vorbild. So wurden z. B. in Ungarn und Siebenbürgen von „Patrioten mit fürstlicher Denkweise und bescheidenen 264
Mitteln" ähnliche Universitäten eingerichtet. Das gleiche gilt für Holland (Utrecht und Leyden), die Schweiz (Basel) und Schottland (Edinburgh). Daß sidi so auch in Schottland „aus den gleichen Voraussetzungen heraus wie in Deutschland eine Art Universität" entwickelte, „die der deutschen ähnlich ist" (5), fällt stark auf, weil die englischen Universitäten damals von der Einwirkung der deutschen nicht erfaßt wurden. Aber dieser Einfluß der deutschen protestantischen Universitäten über die Landesgrenzen hinaus war nicht, wie man annehmen könnte, der Beginn ihrer kontinuierlichen Auslandswirkung. Zwar wurden in der anschließenden Zeit der Gegenreformation weiterhin deutsche Universitäten, und zwar jetzt katholische, das Vorbild für die Gründung einiger ausländischer katholischer Universitäten. So wurden z. B. die Grundlagen der heutigen Universität in Budapest im Jahre 1653 durch den Führer der Gegenreformation in Ungarn, den Kardinal Peter Pazmany, nach dem Muster der katholischen Universitäten in Wien, Prag, Graz (und Rom) gelegt, und die 1660 durch den Bischof Benedikt Risdy erfolgte Universitätsgründung in Kassa (Kaschau) war organisatorisch durch die katholischen Universitäten in Wien und Ingolstadt stark beeinflußt (6). Aber mit dem Niedergang des gesamten kulturellen Lebens in Deutschland während und nach dem Dreißigjährigen Krieg verlor auch die deutsche Universität ihre Bedeutung und damit zugleich ihr Ansehen und ihre Auswirkungsmöglichkeit im Ausland. Die letztere setzte erst wieder ein — und zwar in größerem Umfang als je vorher — mit dem Wesenswandel der deutschen Universität in der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jahrhundert. In dieser Zeit legte sie nämlich in Deutschland den Charakter als allgemein bildende Schule mehr und mehr ab und entwickelte sich zu einer Institution für wissenschaftlichen Fachunterricht. Am deutlichsten trat diese Veränderung in der philosophischen Fakultät in die Erscheinung. Die tiefere Ursache dieser Veränderung lag begründet in dem Wandel des Wissenschaftsbegriffes, der sich in jener Zeit durchsetzte. Bisher hatte man die Überzeugung vertreten, daß das Wissen im Altertum, hauptsächlich von Aristoteles, hervorgebracht worden, also im wesentlichen fertig, vollendet sei. Die Aufgabe der Universität konnte also nur darin bestehen, dieses fertige, überkommene Wissen an die junge Generation weiterzureichen, es zu tradieren, höchstens noch, es zu erklären und einzuprägen. Die Autorität des Aristoteles war aber im Laufe der Zeit durch die Forschungsergebnisse und Lehren des Kopernikus, Galilei, Kepler, Descartes, Bacon und Harvey mehr und mehr erschüttert worden und damit gleichzeitig der alte Wissenschaftsbegriff. Wissenschaft galt schließlich nicht mehr als Gegebenheit, sondern als Aufgabe, nicht mehr als vollendet vorhandene, sondern als durch die Arbeit der Gelehrten und Forscher hervorzubringen, „als etwas in unablässiger geistiger Produktion Werdendes" (7). Dieser neue Wissenschaftsbegriff eroberte sich dann bald auch die deutsche Universität, und zwar zunächst die neue Universität des aufstrebenden Brandenburg-preußischen Staates: Halle. In ihr kam die neue Ein-
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Stellung, das Prinzip der libertas philosophandi, zuerst zur Geltung. Damit änderte sich dann auch die Auffassung von der Aufgabe der Universität. Sie bestand nicht mehr in der Überlieferung der anerkannten Schulphilosophie, sondern in der Anleitung zum Selbstdenken und Forschen. Sie wurde Werkstatt und Pflanzschule wissenschaftlicher Forschung. Ein ähnlicher Wandel vollzog sich in Göttingen und Jena. So repräsentierten sich diese drei Universitäten, die Spranger als „Das freie Dreigestirn des 18. Jahrhunderts" bezeichnete, als Anstalten, in denen die Forschungs- und Lehrfreiheit herrschte, wie sie weder „im Mittelalter noch in der konfessionell und territorial gebundenen Universität des 16. und 17. Jahrhunderts bestand". Ihr verdankten diese drei Universitäten ein schnelles Aufblühen und ein wachsendes Ansehen. Beides wurde noch durch einige andere Umstände begünstigt. In Halle und Göttingen wurde die Entwicklung der Universitäten durch die Landesherren unterstützt. Göttingen genoß „eine Vorsorge ohne Beyspiel von ihrem Mäzenaten, dem König Georg II. von England"; und Halle von dem preußischen König. Es entwickelte sich in der Sorge für die Landesuniversitäten geradezu ein Wetteifer der Höfe. Sowohl in Preußen wie in Hannover erhielten die Ordinarien einen Rang, der höher war als der der Ratsmeister der Hauptstädte. Große Professoren wurden geadelt, und indem der Landesherr selbst nach dem Beispiel Preußens Rector Magniflcentissimus wurde, gab er den Universitäten eine unmittelbare Stellung (8). Es setzte damals auch das Bemühen der Universitäten ein, möglichst anerkannte und berühmte Lehrkräfte an sich zu ziehen. Infolgedessen waren die hervorragenden Professoren in Deutschland bald sehr umworben. In der Zusammensetzung seines Lehrkörpers war Jena besonders glücklich. „Fichte, Schelling, Hegel haben dort gelehrt. Die Naturwissenschaften und die Medizin hatten in Jena hervorragende Vertreter" (9). Diese Entwicklung hätte im Ausland wohl kaum großes Aufsehen erregt und nicht so viele ausländische Studenten zum Studium nach Deutschland gelockt, wenn dort gleichzeitig ein ähnlicher Wandel eingetreten wäre. Das war aber nicht der Fall. In England und Frankreich, im letzteren wenigstens bis zur großen Französischen Revolution, blieben die Universitäten ihrer alten Stellung, als Höhere Schulen für allgemeine Bildung, näher und machten die Entwicklung zur Forschungs- und fachwissenschaftlichen Lehranstalt nicht mit. Friedrich Paulsen hat primäre und sekundäre Ursachen für diese gegensätzliche Entwicklung herausgestellt (10) : In Frankreich änderte sich zwar auch der Wissenschaftsbegriff, und es entwickelte sich dort infolgedessen auch eine wissenschaftliche Forschung zu ihrer Pflege. Aber es entstanden in diesem zentralisierten Land große zentrale wissenschaftliche Institute in den Hauptstädten des Landes, wie das Collège de France, Institut de France, L'Académie u. a., so daß die Universitäten diese Aufgabe nicht mehr zu übernehmen brauchten. Auch in Deutschland entwickelten sich in dieser Zeit zwar einzelne wissenschaftliche Gesellschaften und Institute, die aber infolge der deutschen Zersplitterung „verhältnismäßig un-
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bedeutend" oder „von Anfang an nichts anderes als Annexe der Universitäten" waren. In Frankreich war der neuen Philosophie der Eingang in die Universität infolge ihrer inneren Organisation ziemlich versperrt. In ihr war nämlich die philosophische Fakultät mit den öffentlichen Vorlesungen fast ganz verschwunden; ihre Aufgabe hatten die meist mit Internaten verbundenen Kollegien übernommen, der sie in schulmäßiger Form gerecht zu werden suchten. In Deutschland dagegen waren die philosophischen Fakultäten mit ihrem öffentlichen Unterricht erhalten geblieben und die mittelalterlichen Kollegien eingegangen. Jene „erwiesen sich jetzt als die Organe, mit denen hier das wissenschaftlichphilosophische Leben aufgenommen wurde". Außer diesen primären deckte Paulsen noch einige sekundäre Ursachen der von der deutschen Universitätsentwicklung verschiedenen Beharrung der westeuropäischen Universitäten auf: In Deutschland hatte die alte Lateinschule in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie wir schon im voraufgehenden Kapitel sahen, ihren Charakter durch Erweiterung ihres Lehrplans geändert. Außer dem sprachlichliterarischen Unterricht empfingen ihre Schüler jetzt auch Unterricht in den Einzelwissenschaften, in Mathematik und Naturwissenschaft, in Geschichte und Geographie. Die Schulzeit wurde verlängert, so daß der Student nicht mehr wie früher etwa im 18., sondern mit dem 20. Lebensjahr zur Universität kam, allerdings mit größerer Allgmeinbildung als vorher und mehr fähig und bereit, sofort mit dem Studium der von ihm gewählten Fachwissenschaft zu beginnen. Auch diese Entwicklung hatte in jener Zeit im Ausland kein Gegenstück. Dieses neue Gymnasium forderte als Lehrer Fachleute der verschiedenen auf ihm gelehrten Disziplinen. Ausdruck dieses Sachverhalts war das im Juni 1810 in Preußen eingeführte Examen pro facúltate docendi. Die Vorbereitung auf dieses Examen oder, anders ausgedrückt, die Ausbildung von Fachgelehrten für den Unterricht an den Gymnasien wurde jetzt die eigentliche Aufgabe der philosophischen Fakultät. Diese veränderte Aufgabenstellung und das Eingliedern des wissenschaftlichen Geistes in die philosophische Fakultät hatten Ausstrahlungen auch auf die anderen Fakultäten, und zwar zunächst auf die medizinische, die „durch die Naturwissenschaften zu ihr immer in engster Beziehung gestanden, als Wissenschaft geradezu in ihr ihren Ort" gehabt hatte, und weiterhin auch auf die theologische und juristische Fakultät. In ihnen allen wurde allmählich neben der Lehrübermittlung die eigene Forschung sowie die Erziehung und Anleitung der Studierenden zu forschender Tätigkeit Aufgabe des akademischen Lehrers. Diese Verbindung von Forschung und Lehre bewirkte in Deutschland einen erstaunlichen Aufschwung der Wissenschaften und „die Kontinuität in der wissenschaftlichen Arbeit, der Deutschland einen großen Teil seines Erfolges verdankt", und gleichzeitig lenkte sie die Aufmerksamkeit der akademischen Kreise des Auslandes auf die deutsche Universität und zog magnetisch 267
die studierende Jugend anderer Völker an, deren eigene Universitäten nicht den Aufschwung der deutschen zeigten, weil bei ihnen die dafür erforderlichen Voraussetzungen fehlten. Die neue Ansicht von der Aufgabe und dem Zweck der Universität, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an einigen wenigen Universitäten Geltung gewonnen hatte, kam nun im 19. Jahrhundert in ganz Deutschland zum Durchbruch. Jetzt wurden die deutschen Universitäten ganz allgemein nicht mehr als bloße Unterrichtsanstalten angesehen, sondern als Stätten freien Forschens. Man erwartete von den Professoren, daß sie nicht bloß Gelehrte und Lehrer, sondern auch Forscher und Mehrer der Wissenschaft seien. Da neue Lehrstühle für alle Teile der Wissenschaften errichtet und durch hervorragende Fachgelehrte besetzt wurden, so entwickelten sich die Universitäten zu wirklichen Pflanzstätten der modernen Wissenschaften. Im Anfang des Jahrhunderts, zumal in den Jahren 1803 bis 1810, wurde das neue Universitätsideal besonders durch Schelling, Fichte, Schleiermacher, Steffens, Ch. de Villers und Wilhelm von Humboldt eifrig diskutiert. Diese Diskussion schon fand im Ausland Beachtung. Noch mehr aber die Gründung neuer Universitäten, zumal der sogenannten preußischen B's (11), Berlin, Bonn, Breslau. Berlin wurde 1809, zur Zeit, als sich der preußische Staat aus der tiefsten nationalen Not herausarbeitete, Bonn im Jahre 1818 nach der Angliederung der Rheinlande gegründet und Breslau 1811 zu einer vollen Universität ausgebaut. Alle drei versuchten, das neue Universitätsideal zu verwirklichen, fanden Anerkennung und Bewunderung auch jenseits der Landesgrenzen und gewannen Einfluß auf die ausländische Hochschulentwicklung, auch die unseres westlichen Nachbarn. Die Bedeutung der deutschen Universität für die französische Hochschulentwicklung ist bisher von deutscher Seite noch nicht erforscht und im Zusammenhang dargestellt worden. Das erscheint manchem Leser vielleicht überraschend, ist aber nicht erstaunlich für den pädagogischen Fachmann, der weiß, daß überhaupt die Geschichte der pädagogischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich aus deutscher Feder noch nicht im Zusammenhang dargestellt wurde, ja daß der erste Versuch, die a l l g e m e i n e n historischen deutsch-französischen Beziehungen zu behandeln, erst 1930 von Johannes Haller in seinem Werk „Tausend Jahre deutsch-französische Beziehungen" (Stuttgart und Berlin) gemacht wurde, während das gleiche in Frankreich vorher schon mehrmals geschehen war, z. B. von Albert Sorel in einem glänzenden Kapitel seines achtbändigen Hauptwerkes „L'Europe et la Révolution française". Um eine richtige Vorstellung des deutschen Einflusses auf die französische Universitätsentwicklung zu erhalten, muß man vorher wissen, in welchem Zustand sich der französische enseignement supérieur befand, als die deutsche Einwirkung stattfand. Diese Kenntnis wird uns durch eine kurze Ubersicht über die historische Entwicklung des französischen Hochschulwesens vermittelt:
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Frankreich besaß, worauf bereits hingewiesen wurde, seit 1150 in Paris eine unter dem Schutze der Kirche entstandene Universität. Die an ihr betriebenen Studien waren hauptsächlich Theologie und Philosophie. Die Wissenschaften, die heute in Deutschland in der philosophischen Fakultät vertreten, in Frankreich unter der Bezeichnung „Lettres et Sciences" zusammengefaßt werden, waren damals noch wenig entwickelt und Anhängsel der Philosophie. Die juristische und die medizinische Fakultät dienten ausschließlich der Berufsvorbereitung der späteren praktischen Ärzte und der Juristen. Diese Organisation behielt die französische Universität im großen und ganzen bei bis zur Französischen Revolution; denn der Einfluß der Jesuiten im 16. Jahrhundert bewirkte außer der Einführung einiger Schulwissenschaften, besonders des Latein, in ihren Lehrbetrieb keine weiteren Veränderungen, und die philosophische Bewegung des 17. und 18. Jahrhunderts von Descartes bis zu den Enzyklopädisten verlief ganz außerhalb der Universitäten. Daher fand auch der neue kritische Geist in sie keinen Eingang, wohl aber in einige andere Bildungseinrichtungen, wie in das von François I. 1530 begründete Collège de France und in das unter Ludwig XIII. geschaffene Museum (12). Während dieser ganzen Zeit hat von den deutschen Universitäten nur die Straßburger, in einer anonymen französischen Reisebeschreibung aus dem Jahre 1785 bezeichnet als „célébré dans toute l'Europe", auf die französischen eingewirkt. Diese Universität, die noch im 17. Jahrhundert neben der Heidelberger als führend, zumal für das Studium der Rechte und der Politik, galt, hat — auch nachdem Straßburg 1681 an Frankreich gekommen war — ihren deutsch-protestantischen Charakter bewahrt. Das wurde dadurch möglich, daß die Krone Frankreichs 1687 dem Magistrat der Stadt, der Patron der Universität war, das Versprechen gab: „daß die Universität samt allen ihren Doktoren, Professoren und Studenten, wes Standes und Kondition dieselben sein möchten, in statu quo sollte gelassen werden" (13). Straßburg hielt zwar die Verbindung mit den deutschen Universitäten bei und hatte in ihrem Lehrkörper in jener Zeit auch berühmte Professoren, wie Johann Daniel Schöpflin, den Verfasser der „Alsatia germanica gallica", ferner den Archäologen Oberlin, den Vater des Pädagogen und Philosophen Johann Friedrich Oberlin, und den Philologen Johann Schweighäuser. Trotzdem war die Einwirkung dieser protestantischen Universität auf die katholischen Frankreichs nur sehr gering. Neben der Pariser Universität hatten sich im Laufe der Zeit in Frankreich zwanzig weitere Universitäten entwickelt. Diese waren aber alle in Geist und Aufbau scholastische Anstalten, hatten keine philosophischen Fakultäten, wohl aber eine Faculté des arts, die dem Unterricht der Knaben vom 9. Lebensjahr an diente und die Vorbildung für den Universitätsbesuch gewährte. Infolge ihrer Zustandsbeharrung gerieten alle diese französischen Universitäten im 18. Jahrhundert in einen großen Gegensatz zu der gewaltigen geistigen Bewegung der Zeit, der Aufklärungsbewegung; ihr literarischer Mittelpunkt war die Enzyklopädie, deren I. Band 1751 erschien, ihr organisatorisches 269
Zentrum die Akademie unter d'Alemberts Leitung. Es ist daher erklärlich, daß diese neue Bewegung sich mehr und mehr kritisch zu den Universitäten des Landes einstellte. Unter diesen Umständen ist es femer begreiflich, daß die Enzyklopädisten über die Grenze auf die deutschen Universitäten schauten, die, wie wir sahen, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen gewaltigen Aufschwung nahmen. Dieses Interesse zeigte sich besonders bei den Spezialisten für das Universitätsproblem aus der Reihe der Enzyklopädisten, bei Diderot und bei Condorcet. Bei dem ersteren in einem 1774 für die Kaiserin von Rußland verfaßten „Plan d'une Université" in deutschem Sinne, zu dem er überdies der Kaiserin als Sachverständigen einen Deutschen, den Professor Ernesti (1707—1781) von der Leipziger Universität, den früheren Rektor der Thomasschule, einen führenden Pädagogen seiner Zeit, vorschlug. Bei dem zweiten in einem 1792 an die Machthaber der Revolution gerichteten „Plan sur l'organisation générale de l'instruction publique", der wie der Diderotsche auf Grundsätzen beruhte, die in den deutschen protestantischen Universitäten verwirklicht waren. Als dieser Plan vorgelegt wurde, waren allerdings die bestehenden 22 Universitäten Frankreichs, einschließlich der Straßburger, im Untergehen. Die große Revolution beseitigte zunächst von 1789 an allmählich ihre Privilegien: am 21. September 1789 ihre eigene Gerichtsbarkeit, am 22. Dezember 1789 ihre Selbständigkeit durch Unterstellung unter die örtliche Verwaltung und Ernennung der Departements-Direktorien zur vorgesetzten Behörde, am 24. Mai 1792 durch Aufhebung des Rechtes der Rektorwahl und Übertragung der Ernennung des Rektors an das Directoire du Département. Von 1793 an wurden die Universitäten zum größten Teil t a t s ä c h l i c h unter Einziehung ihrer Vermögen geschlossen. Den Abschluß des Vernichtungswerkes bildete das Dekret vom 25. Februar 1795. Aber neben dieser zerstörenden ging von der Revolution doch auch eine für die Universitäten nicht ungünstige Wirkung aus, indem sie die Idee befestigte, „daß der öffentliche Unterricht aller Grade eine der wesentlichen Aufgaben des Staates ist" (14). Am 20. April 1792 reichte Condorcet, dem auch die akademischen Verhältnisse in Deutschland bekannt waren, der Assemblée nationale den schon erwähnten Universitätsplan ein, der manche Anklänge an die Ideen aufwies, die der späteren Reorganisation der preußischen Universitäten zugrunde lagen, wie sie sich auch in Wilhelm von Humboldts berühmter unvollendeter Denkschrift, die er als Chef der preußischen Unterrichtsverwaltung im Winter 1909—1910 schrieb, finden. Übereinstimmungen fanden sich sowohl in der Zielsetzung der Universitäten wie in der Gewährung einer gewissen studentischen Freiheit und in der vorgeschlagenen Organisation: „Alle Zweige der Wissenschaft seien durch die Gesamtorganisation in Berührung zu bringen, daß eine Wissenschaft die andere befruchten könne. Keine Zerstückelung, keine Spezialschulen, sondern vier Fakultäten, die miteinander in enger Verbindung stehen", wurden ge270
fordert (15). Sogar bei der Begründung der von ihm geforderten Anzahl von Universitäten (neun) berief Condorcet sich auf Deutschland, allerdings auch auf England; die von ihm geforderte Zahl entspräche, so heißt es bei ihm, dem Zahlenverhältnis, „in welchem die Anzahl der großen Universitäten Englands und Deutschlands zur Bevölkerungszahl stehen" (16). Napoleons Entscheidung aber fiel nicht zugunsten dieses Universitätsplanes, sondern für denjenigen, der von Charles Maurice Talleyrand de Perigord bereits am 10. September 1791 der Assemblée nationale unterbreitet worden war, der sich von jenem grundsätzlich dadurch unterschied, daß er an Stelle der „Universitas litterarum" eine Reihe staatlicher Fachhochschulen, écoles spéciales = sozusagen isolierte Fakultäten, setzte und diese einer staatlichen Zentralverwaltung unterstellte. Diese Fakultäten wurden am Sitz der Akademien errichtet. Da Napoleon nur solchen Fakultäten Wert beimaß, die unmittelbar der beruflichen Vorbildung dienten, war ihre Zahl auch sehr ungleich. Sie blieb übrigens im Laufe der Zeit nicht stetig, sondern wurde mehrfach vermehrt. Napoleons Universitätsgesetz ließ die theologischen, juristischen und medizinischen Fakultäten als isolierte Spezialschulen, die philosophischen Fakultäten nur als Anhängsel der höheren Knabenschulen bestehen und unterstellte das gesamte Unterrichtswesen einer mächtigen Verwaltungseinheit, die jetzt, statt der Hochschulen, den Namen „Université"*) erhielt. Dieses damit im französischen Hochschulwesen zur Herrschaft gekommene Nützlichkeitsprinzip ist nach dem Urteil eines Kenners der französischen Entwicklung vielleicht die Hauptursache dafür, daß die französische Universität, obwohl es ihr nicht an glänzenden Lehrern gefehlt hat, weit hinter der deutschen zurückblieb. Es mangelte ihr dadurch „das ganze Jahrhundert hindurch der in Bildungsfragen einzig fruchtbare Geist großzügigen Strebens und Forschens". Dazu kam, daß der Staat es an Verständnis, Geld und Ermutigung fehlen ließ (17). Als die von Napoleon befohlene Sammlung der Unterrichtsgesetze „Recueil des lois et règlements concernant l'instruction publique" im Jahre 1814 erschien, war Napoleon gerade nach Elba verbannt und Ludwig XVIII. in Paris eingezogen (18). Es hätte nun im Bereich der Möglichkeit gelegen, daß die folgende, nur von der hunderttägigen Herrschaft Napoleons unterbrochene Zeit der Restauration, entsprechend ihrem Namen, die Neuerungen beseitigt und die alten Universitäten, wenn auch in modernisierter Form, wiederhergestellt hätte. Bernhard hat gezeigt, daß die damaligen leitenden Männer der französischen Unterrichtsverwaltung offenbar auch damit rechneten, daß aber die keineswegs fest im: Sattel sitzenden Könige von Gnaden der hl. Alliance die zentralistische Ver*) Diese Namengebung schloß sich an den mittelalterlichen Gebrauch des Wortes universitas als Bezeichnung für jede Körperschaft öffentlichen Rechts an.
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waltung einschließlich des Universitätsgesetzes zunächst „provisoirement" und dann auf die Dauer bestehen ließen (19). Wenn sich nun im Laufe der Jahrzehnte in steigendem Maße die Kritik am Universitätswesen in Frankreich regte, Reformvorschläge verschiedener Art diskutiert und schließlich — wenn auch erst gegen Ende des Jahrhunderts — eine durchgreifende Reform erfolgte, so geschah das alles zu einem großen Teil unter dem Einfluß des Vorbildes, das die deutsche Universität des 19. Jahrhunderts abgab. Dieser deutsche pädagogische Einfluß war nicht isoliert, sondern eingebettet in den allgemeineren der deutschen Kultur überhaupt. Ein solcher allgemeiner Kultureinfluß war, obwohl die Deutschen Nachbarn der Franzosen waren, nicht selbstverständlich. Johannes Haller (20) hat auf die häufige Erscheinung im Leben der Völker, die fast die Regel sei, hingewiesen, „daß Nachbarn nicht Freunde sind", und daß auch nahe Blutsverwandtschaft nichts daran zu ändern pflegt, daß man aber da, wo „zwei Völker von verschiedener Herkunft und Wesensart ohne scharfe natürliche Scheidelinie aneinander grenzen", wie Deutsche und Polen, Deutsche und Magyaren, Polen und Litauer in der Neuzeit, und Perser, Syrer und Griechen im frühen Altertum, darauf gefaßt sein muß, sie auf der Bühne der Weltgeschichte als ständige Gegenspieler ihre Rollen durchführen zu sehen. Zwischen Deutschland und Frankreich bestanden zwar seit altersher Beziehungen, die sich zeitweise zur Wechselwirkung steigerten; aber — von dem Reformationszeitalter abgesehen — war doch in der Hauptsache Frankreich der Gebende und Deutschland der Empfangende. Das wurde erst anders in der zweiten Hälfte des 18. und im 19. Jahrhundert. Es entwickelte sich im Zeitalter der deutschen Klassik und Romantik eine nationale Dichtung und Wissenschaft in Deutschland unter bewußter Abkehr vom französischen Vorbild und Hinwendung zu England und Griechenland und zur deutschen Vergangenheit. Dieser geistigen Befreiung folgte dann der politische Sieg mit der Abschüttelung der französischen Zwangsherrschaft. „Beides vereint gab dem deutschen Volk ein Selbstgefühl, das es seit Menschengedenken nicht gekannt hatte" (21). Damit war aber erst die eine Vorbedingung der deutschen Einflußnahme auf Frankreich gegeben. Die andere, die Hinwendung des französischen Interesses auf Deutschland und die Bereitwilligkeit, von ihm zu lernen, erwachte in weiteren Kreisen, als Frau von Staël das Volk der Denker und Dichter ihren Landsleuten vorgestellt hatte. Die Kenntnis des deutschen kulturellen Aufschwunges im 18. Jahrhundert war vor ihr nur in kleine französische aristokratische Kreise gedrungen. Im allgemeinen war die Unkenntnis des deutschen Nachbarlandes in Frankreich so vollständig, „daß sie naturgemäß schien" (22). Eine Folge der französischen Revolution, das Emigrantentum, bewirkte zwar für ein etwas breiteres, aber immer noch zahlenmäßig beschränktes Publikum eine gewisse Kenntnis des kulturellen Deutschlands. Die in Hamburg von Emigranten von 1797 bis 1804 herausgegebene Wochenschrift „Le spectateur du Nord" wie 212
auch die „Décade philosophique, littéraire et politique" hatten als Ziel: „im Sinne systematischer Information die französische Öffentlichkeit über Deutschland aufzuklären" (23). Man hätte denken können, daß Frankreich sich nach 1815 mit dem Haß oder dem Ressentiment des Besiegten gegen jede Anerkennung des deutschen kulturellen Fortschritts gesträubt hätte. Aber in Wirklichkeit hat es Deutschland die Niederlagen von 1813—1815 nicht nachgetragen. „Nicht Deutschland war für Frankreich der Feind, der es besiegt hatte, sondern England" (Haller, S. 103). Nur war Deutschland, dessen Entwicklung der Majorität entgangen war, bisher der Beachtung nicht wert gewesen. So war der Boden in Frankreich für die Aufnahme des Buches der Madame de Staël über Deutschland weithin vorbereitet. Und dieses Buch, „der Ausdruck schwingenden Glaubens und eines unerschütterlichen Idealismus", weckte und vertiefte durch seinen „Inhalt, seine große und stolze Schauart, die Schönheit seiner Form" (24) das französische Interesse auch für das deutsche Schulwesen, auch für seine Krone, die Universität (25). Im XVIII. Abschnitt dieses Buches findet sich der berühmt gewordene Hinweis: „Tout le nord de l'Allemagne est rempli d'universités les plus savantes de l'Europe. Dans aucun pays, pas même en Angleterre, .il n'y a autant de moyens de s'instruire et de perfectionner ses facultés." Im gleichen Kapitel hebt die Verfasserin auch den ihr wesentlich erscheinenden Vorzug der deutschen Universität hervor: „Dans chaque université allemande plusieurs professeurs étaient en concurrence pour chaque branche d'en9eignement; ainsi les maîtres avaient eux-mêmes de l'émulation, intéressés qu'ils étaient à l'emporter les uns sur les autres, en attirant un plus grand nombre d'écoliers" (S. 116). Von den Jahren nach Erscheinen dieses Buches an riß das Studium der deutschen Universitätsverhältnisse und daran anschließend die Diskussion des eigenen enseignement supérieur nicht mehr ab (26), wenn die Forschung auch drei Diskussionswogen, die sich an Berichte über die deutsche Universitätsorganisation anschlössen, besonders hervorhebt (27). Der Ausgangspunkt der ersten war der bereits mehrfach angezogene Bericht von Victor Cousin, der das französische pädagogische Denken in den Jahren nach der Julirevolution auch in bezug auf das Unversitätsproblem anregte. Cousin war Professor an der Pariser Sorbonne, zu einer Zeit, wo sie im breiten gebildeten Publikum hohes Ansehen genoß, ohne daß diese Scheinblüte die Tieferstehenden befriedigte und die Stimmen der Reformer hätte verstummen lassen. Durch einen glücklichen Zufall fanden sich dort in der Faculté des lettres an der Sorbonne zufällig drei junge begabte liberale Professoren zusammen, von denen jeder, in seiner Weise allerdings, rednerisch begabt war: Guizot, Cousin, Villemain (28). Zu ihren Vorlesungen strömten die Hörer zusammen wie im Mittelalter zu denen Abälards. Sie wurden gesammelt publiziert und nahmen ihren Weg durch ganz Europa. In Weimar z. B. wurden sie von 18
S c h n e i d e r , Pädagogik.
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Goethe allwöchentlich wie ein Ereignis erwartet. Aber der kritische Beobachter sah doch durch den äußeren Glanz die Schwächen dieses Erfolges. Die Professoren wandten sich an das große Publikum, weil ihnen die eigentlichen Schüler und Studenten („Sans étudiants, sans apprentis") fehlten, und popularisierten die Wissenschaften, anstatt, was eigentlich ihre Aufgabe gewesen wäre, wirkliche Studenten in die Wissenchaft und ihre Methode einzuführen. Die aus dem Julisturm hervorgegangene Regierung wollte das französische Schul- und Bildungswesen wirklich fördern. Die II. Hälfte des Jahres 1830 hatte bereits vier Kultusminister gesehen, und März 1831 folgte ihnen Graf Montalivet, der bald darauf Victor Cousin den Auftrag gab, „authentische und vollständige Dokumente über die verschiedenen Teile des öffentlichen Unterrichts in dem Königreich Preußen zu sammeln" (29). Cousin war für diese Aufgabe besser als jeder andere vorbereitet, und zwar durch sein Studium der deutschen Philosophie und einen zweimaligen Aufenthalt in Deutschland. Auf einer seiner Reisen 1817 hatte er als Vierundzwanzigjähriger aus wissenschaftlichen Gründen einen „cours rapide", eine viermonatige (von Juli bis November dauernde) „promenade philosophique" durch Deutschland unternommen, auf der der junge Professor, der kurz vorher in Frankreich mit Vorlesungen über deutsche Philosophie begonnen hatte, von den deutschen Philosophen freundlich aufgenommen wurde, weil jeder hoffte, ihn „zu seinem Schüler machen zu können, der seinen Ansichten in Frankreich Verbreitung verschaffen würde" (30). „In Heidelberg knüpfte er die Bande der Freundschaft und des Geistes mit Hegel an." In Marburg traf er mit dem Professor für Geschichte der Philosophie Tennemann zusammen; in Göttingen fesselte ihn die Universität und erregte ihn die Bibliothek wegen ihrer vorzüglichen Ordnung (31). In Berlin ziehen ihn Ancillon, Schleiermacher und von Witte an (32). 1824—1825 kam er zum zweiten Male nach Deutschland, und zwar als Reisebegleiter des ältesten Sohnes des Marschalls Lannes. Cousin war aus politischen Gründen um diese Zeit, von 1822—1828, seiner Ämter entsetzt, und die französische Polizei hatte ihre Hand mit im Spiel, als er auf dieser Reise in Dresden verhaftet, nach Preußen ausgeliefert und, demagogischer Umtriebe bezichtigt, im Berliner Gefängnis in Haft gehalten wurde. Dort „empfing er den Besuch Hegels, der sich der Regierung gegenüber für seine Unschuld verbürgte und dadurch seine Freilassung bewirkte" (33). Auf seiner dritten Studienreise besuchte er einige Universitäten und wurde über sie informiert von Johannes Schulze, dem damaligen Ministerialdirektor im Preußischen Kultusministerium. Wie stark die deutsche Universität auf ihn wirkte, zeigt der häufig zitierte Satz seines Berichtes (34) : „Wir haben einige zwanzig elende über Frankreich hingestreute Fakultäten .Beeilen wir uns, Herr Minister, an Stelle dieser armen Provinzfakultäten, die kraftlos dahinsiechen, große Zentren der Wissenschaft zu setzen — einige vollständige Universitäten w i e in D e u t s c h l a n d . " 274
Dieser Bericht, der von uns in den vorangehenden Kapiteln mehrfach benutzt wurde, erstreckte sich auf das gesamte von ihm studierte Schulwesen, so daß die Universität nur einen Teil desselben ausmachte. Eingehend beschreibt er die Statuten der Universitäten Leipzig und Jena und ergänzt seine Beschreibung durch Übersendung der Vorlesungsverzeichnisse und der Anschläge am Schwarzen Brett. Als Haupttriebräder „im Mechanismus der deutschen Universität" sieht er die Bezahlung der Vorlesungen durch die Studenten und die Unterscheidung der Professoren in drei Klassen, in ordentliche und außerordentliche Professoren und Privatdozenten oder doctores legentes an. Eingehend legt er die Vorteile beider Einrichtungen auseinander. Er glaubt, „daß die Studenten mit mehr Eifer und Ausdauer an den Vorlesungen teilnehmen, welche sie bezahlen". Und fügt den Satz hinzu: „Erlauben Sie mir, Herr Minister, es auszusprechen, was bei uns in dieser Hinsicht geschieht, ist ganz das Widerspiel von dem, was die anderen Nationen Europas tun, und gegen alle gesunde Vernunft" (35). Daß in Frankreich an Stelle der Privatdozentur als Weg zum Universitätslehrstuhl der Concours (Wettbewerb) gilt, bezeichnet er als eine abgeschmackte (absurde) Einrichtung. Er schreibt darüber an den Minister: „Denken Sie sich die Ernennung eines wirklichen Professors durch den Weg der Bewerbung von einigen Wochen, unter ihnen junge Leute, welche oft nicht zwei Zeilen geschrieben, kaum ein Jahr gelehrt haben und nun nach einigen abgelegten Proben, oft im 25. Jahre, unveräußerliche Titel erhielten und bis zum 70. Jahre behalten, ohne etwas zu tun, welche vom ersten Tage ihrer Ernennung bis zum Ende ihres Lebens dasselbe Gehalt beziehen, sie mögen nun viele oder wenige Zuhörer haben, sich auszeichnen oder nicht, sie mögen in ihrer Unwissenheit dahin leben oder berühmte Männer werden. Und doch, in einem zivilisierten Lande, ganz nahe an Deutschland, herrscht eine ähnliche Einrichtung . . . " (36). Am meisten aber preist er die Vereinigung der verschiedenen Fakultäten zu einer Einheit in der deutschen Universität, während sie in Frankreich zerstreut in verschiedenen Städten liegen. Diese kritische Haltung ist zwar für Frankreich nicht neu. Schon Guizot trug sich mit der Absicht, statt der vielen isolierten Fakultäten einige wenige, aber ausgebaute Bildungsstätten zu schaffen. Er findet heftige Worte gegen diese Organisation des enseignement supérieur in isolierten Fakultäten. „Wahrlich, wenn man Barbaren machen, wenn man dem Geiste eine einseitige und falsche Richtung geben, wenn man Gelehrte ohne allgemeine Einsichten, Schöngeister, welche dem Fortgange und der Entwicklung der Wissenschaften fremd bleiben, bilden, Prokuratoren und Advokaten statt der Rechtsgelehrten, Seminaristen und Abbés statt Theologen haben will: so kann ich, um zu diesem herrlichen Resultate zu gelangen, kein anderes Mittel angeben als die Zerstreuung und Isolierung der Fakultäten" (37). 18*
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Im 3. Briefe an Montalivet vom 1. Juni schlägt er daher die Errichtung wirklicher Universitäten nach deutschem Muster, die ihre Dekane und Rektoren selbst wählen, vor. Audi in den Jahren nach seiner Deutschlandreise unterrichtet sich Cousin weiter über die deutschen Universitäten und bleibt mit Johannes Schulze in Verbindung. Dieser schickt ihm z. B. am 30. Juli 1835 die Statuten der Bonner Universität und am 1. Juli 1838 die der Berliner Fakultäten und empfiehlt ihm die Statuten aller anderen preußischen Universitäten (38). Den theologischen Fakultäten wendet Cousin bereits 1831 seine Aufmerksamkeit zu. In Preußen waren sie Bestandteil der Universitäten; die Theologen machten ihre Studien mit den Hörem der anderen Fakultäten an derselben Alma mater, während sie in Frankreich in isolierten theologischen Fakultäten die wissenschaftliche Ausbildung für ihren späteren Beruf erwarben. 1840 wird Cousin als Unterrichtsminister in das Ministerium Thiers berufen. Und nun geht er schnell entschlossen an die Durchführung mancher Reformen, zu denen ihn das deutsche Vorbild angeregt und die er nach seiner pädagogischen Studienreise schon den verschiedenen Ministern vorgeschlagen hatte. Zur Erklärung der schnellen Herausgabe von neuen Verfügungen schreibt er selbst: „Ich bin nach langem Studium der Erziehungsfragen zum Ministerium gekommen mit wohlbekannten Plänen, die ich in meinen beiden Werken über den öffentlichen Unterricht in Deutschland und Holland niedergelegt habe." „Ich habe keineswegs neue Theorien auszudenken, sondern die nur auszuführen, die ich in den genannten Werken niedergelegt habe" (39). Allerdings waren die von ihm im Hochschulwesen wirklich durchgeführten Reformen nicht besonders weitgehend. Die neue Organisation des enseignement supérieur hatte sich unterdessen schon verfestigt, und gegen alle weitergehende Reformep erhoben sich gegnerische Kräfte. Zu ihnen gehörte nach der Darstellung Bernhards das mächtige zentralisierte französische Beamtentum, für welches die „Autonomie universitaire" eine abgetane mittelalterliche Einrichtung war, und die den Universitätsprofessoren keine privilegierte Sonderstellung gönnten, sondern verlangten, daß sie sich wie alle übrigen Beamten den „cadres des fonctionnaires" eingliedern sollten; aber auch die Ministerien, denen das Hochschulwesen unterstellt war, anfangs das Ministerium des Innern, später das des Unterrichts, die mit straff geleiteten Spezialschulen statt der Universitäten einverstanden waren, bekämpften jede der geforderten Reformen. Die Professoren der Höheren Schulen aber waren gegen jede Umorganisation des Hochschulwesens, die sie davon trennte, während bisher der Ubergang aus dem Lehrkörper der Höheren Schule in das Professorenkollegium der an die Höhere Schule sich anschließenden philosophischen Fakultät verhältnismäßig einfach war. Übrigens ging das Streben Cousins ja auch nicht darauf hinaus, das preußisch-deutsche Vorbild einfach zu imitieren. Sondern er beobachtete kritisch 276
und empfahl nur die Übernahme dessen, was ihm wertvoll und für französische Verhältnisse passend erschien. Dafür ein Beispiel: Die Zusammenfassung der Geisteswissenschaften und der Naturwissenschaften in einer Fakultät, wie es in der philosophischen Fakultät der preußischen Universität der Fall war, beanstandete er mit dem Hinweis auf die Fortschritte in beiden Wissenschaftsgebieten. Er meinte, es sei zwar „der Bemühungen des Philosophen würdig, beide Wissenschaften in seinen Studien zu umfassen". Aber man dürfte diesen „Anspruch nicht dadurch offiziell machen, daß man den Namen Philosophie einer Vereinigung von zwei Ordnungen von Kenntnissen gebe, die untereinander mehr Verschiedenheiten als Ähnlichkeiten aufweisen" (40). Nicht zum wenigsten unter dem Einfluß Cousins setzte sich damals die preußische Auffassung von der Notwendigkeit der Verbindung von Forschung und Lehre langsam auch im französischen Hochschulwesen durch. „Im Pflichtenkreis der Professoren soll — nach seiner Auffassung — zunächst die Wissenschaft, aber nicht der Student stehen. Das sei die Maxime eines wahren Professors, wodurch die Universität wesentlich vom Kolleg getrennt werde. Die Professoren sollen Träger des wissenschaftlichen Lebens sein; die materielle Prosperität einer Fakultät sei bei weitem kein Zeichen der wahren Stärke, diese bestehe ganz in den Arbeiten der Professoren" (41). Ody weist darauf hin, daß es sich bei dieser Cousinschen Schilderung um dasselbe Ideal handele, das Fichte und Schleiermacher erstrebten: „Die Universitäten wollen nicht bloß Anstalten für die Tradition des vorhandenen Wissens, sondern vor allem Werkstätten und Pflanzschulen der wissenschaftlichen Forschung sein, oder mit Fichtes Ausdruck „Kunstschulen des wissenschaftlichen Denkens". Zur Zusammenfassung der isolierten Fakultäten zu Gesamthochschulen nach dem Muster der deutschen Universitäten kam es damals trotz des Eintretens Cousin für sie noch nicht, sondern erst Jahrzehnte später. Dagegen gelangen ihm in der Besetzung der Lehrstühle und der Regelung der Nachwuchsfrage Reformen nach deutschem Muster. Die Besetzung der Lehrstühle geschah in Frankreich mit mehreren zeitlichen Unterbrechungen — wie wir schon hörten — im Wege des Wettbewerbs. 1830 wurde dieser nach vorangegangener zeitweiser Beseitigung wieder eingeführt. Cousin war, wie wir sahen, Gegner dieses Modus. Schon in seinem Bericht hatte er die Ernennung der preußischen Professoren, „die durch den Minister auf Grund längerer Erfolge, des anerkannten Talentes und eines fertigen Rufes erfolge", ausführlich besprochen und sich gegen den Wettbewerb, „der in England, Schottland, Italien und Deutschland unbekannt" (42) sei, gewandt. 1840 gelang es ihm, wenigstens an den medizinischen Fakultäten und den pharmazeutischen Lehranstalten die Berufung der Professoren nach preußischem Muster einzuführen. Die Ernennung der Professoren erfolgte dort jetzt durch den Minister auf Vorschlag des Senats. „Die Abschaffung des Wettbewerbs für die Professoren der medizinischen Fakultäten bezeichnet Cousin als den größten Erfolg seines parlamentarischen Lebens" (43).
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Deutschem Vorbild folgt Cousin auch — Jules Simon spricht von einer „Importation der deutschen Privatdozenten" — bei der Einrichtung der Agrégation : der agrégés de faculté. Seit 1823 vertreten agrégés in der medizinischen Fakultät zu Paris die erkrankten Professoren; sie besitzen auch das Recht, in den Räumen der Fakultät Vorlesungen zu halten. „Entsprechend regt Cousin die Verwendung von Agrégés in der juristischen Fakultät an. " Ein Gesetz habe er, schreibt Cousin später, nicht vorlegen können, bevor die Agrégation die verdiente Popularität gefunden habe. Er ordnet auch an, in den facultés des lettres den agrégés nach bestandenem Concours Vorlesungen über Philosophie, alte und moderne Literatur, Geschichte und Erdkunde zu übertragen. Auch in einigen kleinen, von Cousin durchgeführten Einzelreformen verrät sich deutscher Einfluß. So ordnet er z. B. zur Orientierung der Studenten im Labyrinth der Jurisprudenz „unter Hinweis auf Deutschland, wo an jeder juristischen Fakultät über die Methodologie gelesen werde", Vorlesungen unter dem Namen „Allgemeine Einführung in das Rechtsstudium" an. Weiterhin bestimmt er, ebenfalls „unter Hinweis auf Deutschland, wo die reiche Literatur über römisches Recht in deutscher Sprache geschrieben und der Rechtskandidat im römischen Recht in deutscher Sprache geprüft werde", daß in den juristischen Prüfungen Frankreichs, die bisher in lateinischer Sprache stattfanden, Französisch Prüfungssprache sei (44). Ferner veranlassen ihn die deutsche (und übrigens auch die holländische) Praxis sowie das Beispiel einzelner französischer juristischer Fakultäten, die Preise für alle Rechtsfakultäten einheitlich zu regeln (45). "Deutscher Einfluß macht sich durch Cousin auch in der 1832 neu begründeten Académie des sciences morales et politiques geltend. In ihrer Abteilung für Philosophie ist Cousin der einflußreichste Lehrer, der maître, wie einer ihrer Beurteiler es ausdrüdct. „Unter dem Einfluß der deutschen Arbeiten über die antike Philosophie wird die griechische unter der Leitung Cousins zu einem weiten Feld geschichtlicher Forschungen, nachdem man sie dort lange verachtet hatte" (46). Die zweite der Seite 273 genannten Diskussionswogen erhob sich zur Zeit Napoleons III. und seines Ministers, des großen Historikers und Philologen Victor Duruy (47), dem Emest Lavisse auf dem Gebiet der Universitätsreform "l'honneur de l'initiative" zuerkannte. Auch Duruy erkannte die Reformbedürftigkeit der französischen Universitäten. Er faßte sein Urteil über das französische Fakultätswesen in die Worte: „un état lamentable" (48). Am 25. November 1865 schrieb er an Napoleon, „die französische Wissenschaft befinde sich der Wissenschaft des Auslandes gegenüber in der Lage, in der sich Eure Majestät befinden würden, wenn Sie nur die Holzschiffe Ludwigs XIV. hätten, um gegen die Panzergeschwader Englands zu kämpfen" (49). 1868 richtete er einen Bericht an den Kaiser über „l'état misérable" des wissenschaft-
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lidhen Apparates der Laboratorien der Sorbonne und der école de médecine, wo sich weder Platz für die Arbeiter nodi für die Übungen der Schüler fände. Duruy leitete das Ministerium seit 1863. Zur Gewinnung von Unterlagen für die Universitätsreform veranlaßte er Enqueten. Die Ergebnisse zweier „Das Unterrichtswesen in Frankreich" und „Das Unterrichtswesen im Ausland" lagen bereits 1865 vor. Die eine stammte vom französischen Vizekonsul aus Königsberg und enthielt außer der Beantwortung der Fragen der Enquête eine bis ins kleinste gehende Schilderung der Universität Königsberg und als Anhang eine Übersetzung theoretischer Äußerungen hervorragender deutscher Pädagogen und Philosophen über Hochschulerziehung. Auf Lavisse muß diese Denkschrift einen außerordentlichen Eindruck gemacht haben; er las sie nach eigener Aussage wohl zehnmal und begriff bei ihrer Lektüre zum ersten Male, „daß Schulen unbesiegbare Kräfte schaffen können". Deutschland fing jetzt an, ihm Furcht einzuflößen (50). Duruy kam es vor allem darauf an, auf der Hochschule den Unterricht in der Methode zu entwickeln, was nach der Darstellung von Otto Völcker (51) zum mindesten für die mathematisch-naturwissenschaftlichen und philosophisch-historischen Fakultäten eine Umwälzung bedeutete, weil man bisher den Studenten wohl Forschungsergebnisse, nicht aber die Forschungsmethoden gelehrt hatte. Hierin und in anderen Forderungen zeigte sieb auch bei Duruy der deutsche Einfluß. So wünschte er z. B. dringend die Schaffung von Privatdozenturen nach deutschem Muster, da die Zahl der Lehrstühle an den französischen Fakultäten nicht ausreichte. Der deutsche Einfluß zeigte sich auch in der von ihm geschaffenen (durch kaiserliches Dekret vom 31. Juli 1868) École pratique des Hautes Études mit ihren fünf Abteilungen (Mathematik, Physik, Naturwissenschaften, historische und philosophische und Wirtschaftswissenschaften), die sich von den anderen französischen Hochschulen wesentlich durch ihre größere Freiheit unterschied. In ihr trug er seiner Auffassung Rechnung: „Eine gute akademische Verwaltung ist nur diejenige, die Lehrern und Schülern persönlichen Spielraum läßt und die eine Kontrolle dieser Freiheit dem geschlossenen Kreise lehrender Gelehrter anvertraut" (52). „Aus deutschen Anregungen hervorgegangen, hat dieses Institut — nach dem Urteil Bernhards — wie kein anderes zum Fortschritt der wissenschaftlichen Methode in Frankreich beigetragen" (53). Seine Gründung geschah nach Bernhard auf folgende Weise. Victor Duruy versammelte eine Reihe befähigter junger Gelehrter, stellte ihnen Laboratorien, Bibliotheken und Auditorien für Forschung und Unterricht zur Verfügung und schrieb ihnen kein anderes Programm vor als : „Arbeiten Sie, wie es Ihnen beliebt." Und von diesem Zauberwort: „Travaillez comme il vous plaira" ist nach Bernhards Ansicht „im tiefsten Grunde die Renaissance der französischen Universitäten ausgegangen" (54). Einige Jahre nach der Eröffnung der École pratique des Hautes Etudes wurde wegen des vielfachen Versagens der französischen Fakultäten eine
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weitere Reihe von Hochschulen gegründet. So stellte z. B. unter Führung des Zeitungsverlegers Émile de Girardin eine Gruppe interessierter Persönlichkeiten unmittelbar nach dem Zusammenbruch von 1870/71 Geldmittel zur Verfügung, um Émile Boutroux zur Verwirklichung seines Planes einer privaten, vom Staate unabhängigen Hochschule für Staatswissenschaften zu befähigen, die 1871 unter dem Namen „École libre des sciences politiques" zustande kam. Natürlich bedeutete die Eröffnung dieser freien Hochschulen keineswegs, worauf Bernhard hinweist (55), die Lösung der akademischen Frage in Frankreich, aber sie „zwang den Staat, endlich eine Lösung zu finden". Und so trat die staatliche Universitätsreform jetzt in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion (56). Zu den Männern, die in ihr besonders hervortraten, gehören K. Hillebrand, Ernest Lavisse, Jules Ferry, Ferdinand Lot, ferner große Gelehrte wie Pasteur, Claude Bernard, St. Claire Deville u. a. m. Von Hillebrand waren bereits in den Nummern der „Revue moderne" vom 10. März, 10. Juni und 10. Juli 1868 Aufsätze über die Reform des französischen Hochschulwesens erschienen, von denen eine Zusammenfassung im gleichen Jahre in Buchform veröffentlicht wurde. Dieses dem Hallenser Professor M. H. Dernburg als „Souvenir amical" gewidmete Buch „De la réforme de renseignement supérieur" umfaßt nach einer langen Einleitung drei Teile, die sich mit der deutschen Universitätsorganisation, der Organisation des französischen enseignement supérieur und mit der geforderten Reform der französischen Fakultäten beschäftigten. Audi Hillebrand ist von der größten Hochachtung für die deutsche Universität erfüllt. Es finden sich über sie in seinem Buch Urteile hoher Anerkennung (57). Aber trotzdem ist er kritisch gegenüber der oft gehörten französischen Forderung, Frankreich müsse die deutschen Einrichtungen übernehmen, um ein dem deutschen gleichwertiges wissenschaftliches Leben zu begründen. Die deutschen Universitäten tragen, so führt er aus, wie alle historischen Gebilde, den Bedürfnissen und dem Genie des Volkes Rechnung, in dem sie sich entwickelt haben, und sie besitzen dort auch eine außerordentliche Autorität, aus der sich für sie die absolute Freiheit in der Betätigung ergibt. Wenn sie in andere Länder, in welchen sie andere Lebensbedingungen, andere Sitten und einen anderen Volkscharakter vorfinden, übertragen werden, so können sie dort unmöglich die gleiche Stellung innehaben. Hillebrand möchte daher, daß man nicht mehr „si souvent et si étourdiment" sage, man müsse von den Deutschen ihre Universitäten für Frankreich entleihen, wenn man dort ein dem deutschen ähnliches wissenschaftliches Leben erwecken wolle. Es sei mit der Organisation des Schul- und Unterrichtswesens wie mit der politischen Verfassung. Eine bereits verwirklichte Verfassung, vorausgesetzt, daß sie langsam den jeweiligen zeitlichen Anforderungen entsprechend reformiert werden könne, sei, selbst wenn sie viele Mängel besitze, immer noch besser, als eine vollkommenere, die noch erst eingeführt werden müsse. Wenn daher das französische Hochschul-
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wesen auch noch so unvollkommen sei und dringend der Reform bedürfe, so wäre es trotzdem verkehrt, aus Deutschland die neuen Formen zu übernehmen, „qui n'auraient aucune racine dans l'histore, aucun élément d'existence dans les moeurs et le genre de France" (58). übrigens hält Hillebrand die Forderung der Begründung französischer Universitäten nach dem Muster der deutschen auch für völlig utopisch, da die Französische Revolution die letzten Spuren der alten glorreichen und verehrungswürdigen französischen Universität ausgetilgt habe, nachdem der vorangegangene politische und religiöse Absolutismus sie schon vorher virtuell getötet hatte. Eine völlige Revolution des augenblicklich Bestehenden sei nötig, wenn man jetzt eine wirkliche, der deutschen ähnliche Universität wieder herstellen wolle. Und er zählt alle die Änderungen — auch solche schwerwiegender Art — des Bestehenden auf, die dafür erforderlich wären (59). Hillebrand erörtert dann auch die Frage, ob man nicht, wenn die Obertragung der deutschen Universität utopisch ist, wenigstens ihren Geist übernehmen könne (60). Er beantwortet sie mit einem „Oui et non" und begründet diese seine Stellungnahme mit folgenden Erwägungen: Der Geist der deutschen Universität wächst heraus aus dem nationalen Genie des deutschen Volkes, das man nicht als „contrebande" über die französische Grenze kommen lassen wird, und aus der großen Freiheit, die sie in Deutschland besitzt, die man ihr in Frankreich in diesem Ausmaß nie gewähren wird. In Frankreich habe man zur Zeit nur Verständnis für eine säuberliche Trennung des beruflichen Wissens und der reinen Wissenschaft (61). Ihre Vereinigung erscheine dem Franzosen als eine Art unlogischer Konfusion, und jedermann wisse, wie empfindlich er gegenüber jeder Verletzung seiner „chère logique" sei. Die Franzosen würden es nie anerkennen, daß der spätere praktische Arzt auf der Höhe der letzten Fortschritte der Physiologie sein müsse, der künftige Rechtsanwalt gründlich das Römische Recht studiert und der künftige Lehrer der Höheren Sdiule alte Texte verglichen und wiederhergestellt haben müsse. Die reine Wissenschaft werde in Frankreich immer nur die Angelegenheit einer sehr kleinen Zahl von Menschen bleiben. Für diese habe die Regierung genug getan, wenn sie die Institute, die ihrer Pflege dienen, z. B. das Institut de France, das Collège de France, die École des Chartes und die des langues orientales, die Bibliothèques und das Muséum reichlich dotiere. Es gehe aber zu weit, wenn man die Umwandlung der französischen Fakultäten in wissenschaftliche Zentren ähnlich den deutschen Universitäten fordere. Alles, was man hier mit einigem Erfolg tun könne und auch tun solle, sei, die bestehenden Provinz-Fakultäten insbesondere durch Vermehrung ihrer bisherigen bescheidenen Hilfsmittel als Anstalten beruflicher Ausbildung zu vervollkommnen, so daß sie in ihrer Art so nützlich und vollkommen würden, wie die Forstschule in Nancy (L'école forestière) und die Bergbauschule (L'école des mines) in Paris. Die zahlreichen französischen Rechtsfakultäten und die nicht so zahl-
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reichen medizinischen Fakultäten nahem sich — nach seiner Darstellung — bereits diesem nützlichen und bescheidenen Ziel, indem sie mehr und mehr auf die abstrakte Wissenschaft verzichten. Weit von diesem Ziel entfernt sind noch die Fakultäten des sciences et des lettres. Sie haben bisher — ein Verdienst, das stark angezweifelt und auch von Hillebrand kritisch beleuchtet wird — einem müßigen Publikum durch ihre Vorlesungen eine edle und geistige Zerstreuung geboten. Eine ernstere Aufgabe werden sie erst haben, wenn es gelungen ist, für sie einen bestimmten Hörerkreis (un auditoire spécial) zu schaffen. Zur Erreichung dieses Zieles rät Hillebrand, das Vorgehen der Deutschen zu studieren, „qui ont réussi à faire passer, sans porter la moindre atteinte à leur liberté, tous les candidats à des fonctions publiques par le haut enseignement universitaire, et qui ont organisé un admirable et vaste système de bourses et de crédit" (62). Wenn also Hillebrand auch nicht will, daß die Verpflanzung der deutschen Universität nach Frankreich versucht wird, wenn er für die erforderliche Reform der Provinzfakultäten die großen französischen Berufshodischulen als Leitbild hinstellt, so erkennt er aber trotzdem an, daß von den deutschen Einrichtungen Anregungen für die französische Hochschulreform ausgehen. Ja mitunter hat man beinahe den Eindruck, daß er im tiefsten Innern, trotz der äußeren Protesthaltung, sich selbst uneingestanden den Wunsch hegt, es möchte sich in Frankreich doch etwas der deutschen Universität Analoges entwickeln, nur nicht auf dem Wege einer plötzlichen Revolution, sondern in allmählicher fortschreitender Reform. So z. B. wenn er fordert, daß man in den Etat eine bescheidene Summe einsetzen möge, welche es erlaube, alle Jahre ein Dutzend junger agrégés nach Heidelberg und Leipzig, nach Berlin und Göttingen zu schicken, damit diese nach ihrer Rückkehr von Deutschland ein wenig von deutschem wissenschaftlichem Geist und deutschen wissenschaftlichen Methoden einführen. Vielleicht werde dann doch einmal der Tag kommen, où la science se ferait une part aussi large dans cet enseignement que le métier" (63). Auch sein ausführlicher Hinweis auf die Reform des Hochschulwesens in Österreich und der Schweiz, die in geistigem Austausch mit der deutschen Universität durch allmähliche Angleichung (64) erfolgte, unterstützt die oben geäußerte Vermutung. Hillebrands Buch ist übrigens ein illustratives Beispiel für den Wert der vergleichenden Betrachtung, der éducation comparée, bei der Diskussion pädagogisch praktischer Aufgaben. An vielen Stellen seiner Ausführungen nimmt der Verfasser — wie wir gesehen haben — Bezug auf Deutschland, aber auch gelegentlich auf Österreich und die Schweiz. Ganz systematisch vergleichend beginnt er seine Untersuchung zur Gewinnung seines grundsätzlichen Standpunktes. Sein Gedankengang ist dabei der folgende: Das Hochschulwesen verfolgt stets ein doppeltes Ziel: die Vorbereitung auf die höheren Berufe und die Erweiterung des menschlichen Wissens, oder anders formuliert: die Wissenschaft um der Berufsertüchtigung oder um der Wissenschaft willen. Das
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Problem ist die Vereinigung der beiden Aufgaben. Seine Lösung wurde, wie die Lösung aller großen Probleme der zivilisierten Gesellschaft, versucht: „par la voie historique et par la méthode rationelle" (65). England und Holland haben sie auf dem ersten Wege, im Banne der Tradition, versudit. Die Folge davon war, daß dort die Hochschulen sich nicht genügend entwickelten und den Forderungen der Gegenwart nidit hinreichend Rechnung trugen, so daß das Leben begann, sich aus ihnen zurückzuziehen. Die Franzosen, die Freunde der Abstraktion und des Absoluten, haben den zweiten Weg eingeschlagen und haben das neue Hochschulwesen nach Zertrümmerung des alten nach einem uniformen rationellen Plan, parallel mit den übrigen öffentlichen Bildungsgestalten von neuem aufgebaut. Zwisdhen diesen beiden Extremen stehen Deutschland, Belgien und die Schweiz, wo man versucht hat, der Tradition u n d den neuen Anforderungen Rechnung zu tragen (66). Bei diesem Bemühen haben die Belgier und Schweizer das ideale Ziel über der Berufsvorbereitung fast vergessen, während die Deutschen das Interesse der reinen Wissenschaft, die Erforschung der Wahrheit um ihrer selbst willen vorangestellt haben. Trotz dieser Schwächen erfüllen die d e u t s c h e n Universitäten ihre Doppelaufgabe am besten. An zweiter Stelle nannten wir unter den Universitätsreformern Ernest Lavisse, den Ministerialdirektor im Ministerium Duruy (vor und nach 1870). Audi er zeigte sich bei seiner Tätigkeit unter deutschem Einfluß, wenn er dem deutschen Vorbild auch durchaus nicht unkritisch gegenüberstand. Zum Nachweis seiner Abhängigkeit vom deutschen Vorbild greifen wir auf sein Buch „Questions d'enseignement national" zurück. Dieses ist zwar erst im Jahre 1885 in Paris erschienen. Aber bereits 1876 hatte er sich in einem Aufsatz in der Revue des Deux Mondes „Fondation de l'Université de Berlin" und 1878 In seinem Buch „L'enseignement supérieur en France" mit dem gleichen Fragenkreis beschäftigt. In allen diesen Veröffentlichungen erweist er sich als Vorkämpfer für eine Reform der französischen Fakultäten. In den „Questions", von denen 20 Auflagen erschienen, nimmt er Bezug auf zwei ein Jahr früher (1884) herausgekommene Bücher, die sich mit den deutschen Universitäten beschäftigen, auf „Les Allemands" par le père Didon und „Les Universités" par le docteur Blanchard. Seine kritische Stellungnahme entwickelt er hauptsächlich im Anschluß an Didon, dem er vorwirft, er habe bei seinen Ausführungen die früher erschienene französische Literatur über die deutschen Universitäten übersehen und daher geglaubt, „découvrir l'Amérique le jour il est entré à l'Université de Berlin". Es sei daher notwendig zu prüfen, ob er die deutschen Verhältnisse richtig gesehen habe, und ob nicht manches an ihnen „indigènes" sei und von den Franzosen überhaupt nicht nadigeahmt werden könne. Lavisse prüft zunächst, ob nicht einzelne Züge in der deutschen Universität zwar bewundernswert, aber auch „purement germaniques" sind(67.) Er gießt dann auch dadurch Wasser in den Wein der Begeisterung von Didon,
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daß er die Schattenseiten an manchen, von diesem rückhaltlos gepriesenen deutschen Einrichtungen aufdedkt. Aber trotzdem sieht auch er noch genug des Vorbildlichen an ihnen. Didon hatte an ihnen zweierlei gerühmt: 1. ihren allumfassenden Charakter auch in ihrem Ziel: die Pflege der Forschung und einer allgemeinen nationalen Bildung (culture générale et nationale), die zur Erledigung der verschiedenen Lebensaufgaben tüchtig macht, und 1. (68) die Vereinigung von Freiheit und Organisation (69). Aber bei dieser Beurteilung habe Didon sich, so sagt Lavisse, täuschen lassen und den Widerspruch, der zwischen der deutschen Universitätstheorie und -Wirklichkeit bestünde, übersehen. Sogar deutsche Kritiker—Lavisse zitiert z. B. den Abgeordneten Lasker — hätten an ihr das vermißt, was Didon ihnen zuerkannte. Zwar hätten die deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert einen gewaltigen Aufschwung genommen. Das sei auch erklärlich. Denn die moderne deutsche Universität sei in einer günstigen Zeit entstanden, in der „période héroique" Deutschlands, kurz nachdem Kant die Herzen veredelt hatte und Mozart und Schiller gestorben waren, in einer Zeit, da Beethoven noch lebte, Goethe auf der Höhe seines Ruhmes stand und Hegel und Schelling ihren Schülern den Kosmos erklärten, in einer Zeit, da die deutschen Souveräne durch ihre falsche Politik die großen politischen Hoffnungen ihrer Völker enttäuscht hatten und der Nationalgeist sich dem Spekulativen zuwandte und sich dort ein Reich eroberte, während die Deutschen das Meer den Engländern und die Erde den Franzosen überließen. Aber seit der Zeit der Begründung der modernen Universität sei in Deutschland ein Wandel eingetreten. Auf das Zeitalter des Geistes und der Theorie sei das der Aktion und der Praxis, auf Humboldt und den Freiherm vom Stein sei Bismarck gefolgt. Der Philosoph und der Liebhaber der reinen Wissenschaft seien seltene Ausnahmeerscheinungen geworden, und infolgedessen habe sich auch die Universität geändert. Die Pflege der Allgemeinbildung sei mehr und mehr vergessen worden, und eine zu weitgehende Spezialisierung sei eingetreten. Aber auch nach einer anderen Richtung läßt Lavisse die Begeisterung Didons nicht gelten. Dieser war durch das Leben der deutschen Studenten, ihre Verbindungen, ihre Aufzüge, ihre Feste und manches andere, was er bei der studentischen Jugend seines Landes vermißte, beeindruckt worden. Lavisse versucht zunächst den Nachweis, daß alle diese studentischen Eigenheiten im deutschen Volkscharakter begründet seien und daher ihre Verpflanzung auf französischen Boden nicht wünschenswert sei. Der Deutsche sei nicht in der Weise sozial veranlagt wie der Franzose, der jedem mit seinem Lächeln und seinem Wort entgegenkomme. Er sei im Grunde individualistisch, verschlossen und die Einsamkeit liebend, und zum Ausgleich dieser charakteristischen Züge müsse er mehr als der Franzose in Gruppen leben. „II vient au monde membre futur d'une corporation." So weit man in seiner Geschichte
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zurückblicke, sehe man ihn leben in „groupes et en troupes". Das reiche bis in seine religiösen Vorstellungen hinein. Schon der heidnische Germane habe seinen Himmel (Walhalla) mit einem Gewimmel von Göttern und Helden bevölkert. Im christlichen Deutschland hätte es kaum Einsiedler gegeben, aber die deutsche Phantasie habe sich gern mit Gestalten wie der hl. Ursula und den 9ie begleitenden 1 1 0 0 0 Jungfrauen beschäftigt. Auch im politischen und sozialen Leben der Deutschen habe die Gruppe und der Bund eine große Rolle gespielt. Die deutsche Geschichte sei im Grunde die Geschichte der Bünde der Städte, der Ritter und der Fürsten. Deutschland sei das Land, in dem man es liebe, in Gemeinschaft mit anderen zu leben, in dem man sich am wohlsten im Kreise seiner Genossen (d. h. des compagnons, qui lui sont associés dans le même genre d'existence") (S. 224) fühle. Auf die gleiche völkische Eigenart seien auch der Biertisch der Deutschen und das häufige gemeinsame Singen zurückzuführen und — worauf es ihm hier ankommt — ebenso das studentische Leben mit seinen Sitten und Gebräuchen. Daß die Begeisterung Didons für das Leben der deutschen Studenten unberechtigt sei, sucht Lavisse weiterhin darzutun durch Hinweis auf dessen Schattenseiten, z. B. die Trinksitten, insbesondere den studentischen Frühschoppen, und das Duell. Er beruft sich dabei auf Auslassungen von Windhorst, Virdiow und des preußischen Kultusministers Goßler. Der deutsche Leser hat nicht den Eindruck, daß die kritischen Beanstandungen, die Lavisse macht, völlig berechtigt sind. Völcker (70) weist mit Recht daraufhin, daß der französische Kritiker bei seinem Vorwurf gegen den Lehrbetrieb der Universität übersehen habe, daß diese das Heilmittel gegen die von ihm hervorgehobenen Mängel schon gefunden hatte, indem sie z. B. stärker zur Verbindung von Philosophie und Forschung drängte. Und die Tatsache, daß Lavisse sich bei seinen Angriffen auf das studentische Leben auf deutsche Kritiker stützen konnte, hätte ihm schon zeigen können, daß man in Deutschland bereits auf dem Wege seiner Reform war. Der deutsche Leser wird übrigens doch schnell wieder .mit der Haltung von Lavisse gegenüber der deutschen Universität versöhnt durch den Umstand, daß er objektiv genug bleibt, um trotzdem vieles an ihr auch für Frankreich als vorbildhaft zu erkennen. So zieht er sie nicht nur als Ganzes den französischen isolierten Fakultäten vor, sondern stützt sich auch bei vielen einzelnen Reformforderungen auf das deutsche Vorbild. So z. B. wenn er 1. eine Änderung der Zielsetzung des Enseignement supérieur, 2. eine bessere Vorbereitung auf das Hochschulstudium durch die Höheren Schulen, 3. bessere Einrichtungen und Hilfsmittel für das naturwissenschaftliche Studium, für die facultés des sciences, 4. entsprechende bauliche Unterbringung der Hochschulen, 5. die Abschaffung der mehrjährigen militärischen Dienstzeit der Akademiker, 6. stärkere Berücksichtigung des Auslandes in der Hochschulpolitik u. a. m. fordert. Gehen wir kurz auf die Begründung dieser Forderungen durch die Bezugnahme auf die deutschen Verhältnisse ein.
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Ad 1 u. 2 : Die französischen Studenten suchen und finden auf der Universität nur die Kenntnisse, die sie für ihren späteren Beruf brauchen. Der deutsche Student sucht und findet mehr als das, nämlich außerdem Erweiterung seiner Allgemeinbildung und eine gewisse formale Schulung: die Fähigkeit, selbständig zu urteilen und eigene, schöpferische .Gedanken zu haben. Diese verschiedene Einstellung der Studenten beim Beginn des Hochschulstudiums geht zurück auf den verschiedenen Charakter der Höheren und der Hochschulen in beiden Ländern. In Frankreich dient nur die Höhere Schule der Allgemeinbildung. Das Examen, das nach ihrer Absolvierung abgelegt wird, hat man mit so viel Feierlichkeit umgeben und seinem Diplom solche Berechtigung zuerkannt, daß der Bakkalaureus sich einbilden kann, jetzt sei das Ende seines allgemeinen Bildungsstrebens gekommen und er solle fortan nur noch Berufsstudien betreiben. Lavisse beklagt diese geistige Haltung des französischen Studenten und weist auf das preußische Gymnasium hin, das in seinen Schülern nicht diese Einstellung erzeuge, sondern das Streben nach Erweiterung der allgemeinen Bildung auch für die Zeit nach dem Abiturium grundlege. Ad 3 : Nach Lavisse müssen die meisten der französischen Facultés des sciences vor Scham erröten, wenn sie die eigenen ungenügenden Laboratorien mit den bewundernswerten der deutschen Universitäten vergleichen. Er beruft sich auch auf Berthelot als Zeugen dieses französischen Versagens. Dieser hatte in seinem Aufsatz „L'enseignement supérieur et son outillage" im V. Band der „Revue internationale de l'enseignement" (S. 383 f.) darauf hingewiesen, daß Frankreich aus der Erfindung der chemischen Farbstoffe lange nicht den gleichen wirtschaftlichen Vorteil gehabt habe wie der deutsche Nachbar, und zwar deshalb nicht, weil die französischen Laboratorien zu klein und zu schlecht ausgerüstet wären und daher für die Ausbildung der erforderlichen Anzahl tüchtiger Ingenieure nicht ausgereicht hätten, während Deutschland diese gehabt habe. Daher sei es nicht überraschend, daß Deutschland für 50—60 Millionen Francs Farbstoffe erzeuge, während Frankreichs Produktion auf ein Zehntel dieses Betrages gefallen sei. So werde die öffentliche Gleichgültigkeit gegenüber dem Zustand der Hochschullaboratorien grausam bestraft „par la ruine d'une de nos industries le plus fructueuses" (71). Ad. 4: Auch der schlechte bauliche Zustand der französischen Universitäten wird augenscheinlich, wenn man ihn mit dem der deutschen vergleicht, etwa die Universität von Nancy mit der des benachbarten Straßburg, die in einem Palast untergebracht ist, eine 500 000 Bände starke Bibliothek besitzt und einen Etat von 11 Millionen Mark (72) aufweist. Ad. 5: Auch bei der Bekämpfung der mehrjährigen militärischen Dienstzeit, die man in Frankreich auch den Studenten zum Nachteil ihrer wissenschaftlichen Ausbildung auferlegt, weist er auf Deutschland hin, das „protège avec un soin libéral sa culture scientifique", indem es von den Studenten nur die Ableistung eines einjährigen Militärdienstes verlangt und während die286
ses Jahres ihm sogar oft noch die Möglichkeit gibt, an der Universität Vorlesungen zu hören (73). j Ad. 6 : Um zu zeigen, wie ernst man es in Deutschland mit der ausländischen Kulturpropaganda nimmt, weist er zunächst auf einen Vorschlag, den kurz vorher Virchow bei der Beratung des Etats des preußischen Unterrichtsministers gemacht hatte, hin: darauf zu verzichten, in den Schuleh die deutsche Schrift zu lehren und sich mit Rücksicht auf das Ausland auf idie lateinische Schrift zu beschränken. Sodann zieht er eine zweite Forderung Virchows heran : Deutschland müsse sich bemühen, immer so viele Gelehrte hervorzubringen, daß es sowohl an benachbarte Völker wie nach Amerika und Australien deutsche Kräfte zur Besetzung von Lehrstühlen abgeben könne. Lavisse wünscht, daß auch Frankreich einmal zu einer derartigen Politik fähig sein möge. Davon sei es im Augenblick noch weit entfernt; denn es fehlten in Frankreich selbst noch viele Lehrstühle und andere seien schlecht besetzt (74). Als eine Ursache des Erfolges dieser deutschen Auslandspropaganda scheint Lavisse den deutschen Stolz auf die nationale Wissenschaft anzusehen. Die deutschen Gelehrten, sagt er, „ont une façon particulière de prononcer les mots ,deutsche Wissenschaft'. Ils disent: la science allemande comme on dit: mon pays, mon domaine, ma propriété" (75). Um diese Einstellung beneidet er die deutschen Gelehrten und wünscht sie ihren französischen Kollegen. In den voraufgehend dargestellten Erwägungen zeigt sich eine Eigentümlichkeit, die sich auch sonst in der französischen Reformliteratur nachweisen läßt: Wenn mit Berufung auf die deutsche Universität Kritik am eigenen enseignement supérieur geübt wird und Reformvorschläge gemacht werden, so liegt das durchaus nicht immer in reiner Liebe zur Wissenschaft und ihren Fortschritten begründet, sondern auch in Motiven, die nur mittelbar mit der Wissenschaft an sich zu tun haben, in wirtschaftlichen Interessen oder — und das besonders oft — in verletztem Nationalstolz, der es nicht ertragen kann, in irgendeiner Beziehung hinter dem Nachbarn zurückzustehen. So begründet auch Lavisse manche seiner Forderungen mit dem Gedanken: „qui lui permette de rivaliser avec l'étranger" (76). Und l'étranger ist für ihn in erster Linie L'Allemagne. — Eine solche patriotische Begründung der Universitätsreform regte sich in Frankreich besonders nach dem verlorenen Kriege 1870/71. Die Generation, die diese harte Prüfung erfahren hatte, war, wie wir auch schon bei Behandlung des enseignement primaire et secondaire gesehen haben, in einer fast mystischen Weise von dem Gedanken erfüllt, daß Deutschland weniger durch die Überlegenheit der Waffen als durch die Entwicklung seiner Schulen, einschließlich seiner Universitäten, gesiegt habe. Damit verband sich dann der Gedanke, Rache für Sadowa könne Frankreich nur durch seine Schulen nehmen. So war es erklärlich, daß man sich unmittelbar nach Proklamation der Republik mit Zuversicht ans Werk begab. Während der beiden folgenden Jahrzehnte unter den Ministern Jules Ferry, René Goblet und Berthelot entfalteten Staat und Stadt geradezu einen gewissen Wetteifer in der
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Errichtung neuer Fakultäten. In Paris entstanden unter Aufwendung von nahezu 100 Millionen la nouvelle Sorbonne, la nouvelle École de Pharmacie, la nouvelle Faculté de Droit, la nouvelle Faculté de Médecine. In der Diskussion der Universitätsreform nahm die Beschäftigung mit Deutschland einen ganz außerordentlichen Umfang an. Bernhard weist darauf hin, daß die französische Regierung in diesen beiden Jahrzehnten in anderen Ländern, besonders aber in Deutschland, viele Untersuchungen des Universitätswesens vornehmen ließ. Er gliedert die eingelaufenen Berichte, von denen manche im Archiv des französischen Ministeriums begraben sind, während eine Anzahl auch publiziert wurde, in drei Gruppen : 1. Allgemeine Berichte über das deutsche Universitätswesen (77), 2. Sonderberichte über einzelne Universitäten (Heidelberg) (78), Göttingen (79), Bonn, Berlin (80), und 3. Detailschilderungen (81), insbesondere der historischen, philologischen und philosophischen Methoden. Für die Gründlichkeit dieser Berichte kann man anführen, daß man damals „von einer mikroskopischen Analyse der deutschen Universitäten" sprach, und ebenso das Urteil Bernhards: „Bei der Durchsicht der französischen Berichte kann man daher über deutsche Universitäten manches erfahren, worüber es deutsche Schriften nicht gibt" (82). Die vierte der Seite 280 von mir genannten, an der Universitätsreformbewegung aktiv beteiligten Persönlichkeiten ist Ferdinand Lot. Er veröffentlichte 1892 einen systematischen Vergleich der deutschen Universitäten und der französischen Fakultäten unter dem Titel „L'enseignement supérieur en France. Ce qu'il est — Ce qu'il devrait être". Das Hauptergebnis seiner vergleichenden Studien ist „la certitude désolante de notre faiblesse et de l'écrasante supériorité de l'Allemagne". Besonders augenscheinlich ist die deutsche Superiorität auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, die Lot als Gegenstück zu der Superiorität Englands im Handel und der Schiffahrt erscheint (83). Lot lehnt es ab, diese deutsche Hegemonie irgendwie geheimnisvoll zu finden oder sie auf Eigentümlichkeiten der deutschen Rasse zurückzuführen. Ihre Ursache beruht nach seiner Meinung in „L'organisation de ses Universités" (84). In dieser hebt er vor allem vier sie von dem französischen l'enseignement supérieur unterscheidende Züge hervor: 1. Die deutsche Universität hat nichts mit der Zulassungsprüfung zur Universität zu tun ; diese wird vielmehr von den Gymnasiallehrern vorgenommen. Die französischen Universitätsprofessoren aber müssen die Schüler der Höheren Schulen vor ihrer Zulassung prüfen, ihnen das Baccalauréat geben oder versagen, und sie verlieren damit viel Zeit. Preußen hat zwar seit dem Jahre 1812 eine ähnliche Einrichtung gekannt, sie aber wegen der Nachteile dieses Verfahrens 1834 wieder abgeschafft und die dem Baccalauréat entsprechende Prüfung in der Form des Abituriums völlig dem Gymnasium überlassen. 2. Die deutsche Universität verleiht keine Grade, keine Berechtigungen, die Zugang zu öffentlichen Ämtern geben. Daher kann die deutsche Universität
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einen rein wissenschaftlichen Unterricht geben und ist nicht durch Rücksicht auf spätere studentische Examen oder den späteren Beruf der Studenten in irgendeiner Weise gebunden. Der Doktor ist bloßer Ehrentitel. 3. Das dritte unterscheidende Merkmal ist Folge des zweiten: die Universität ist nicht der Einmischung des Staates in ihren Lehrplan unterworfen. Der deutsche Professor entscheidet vollkommen frei, was er innerhalb seines Fachgebietes lehrt. Eine Folge davon ist, daß kein Wissenszweig an der deutschen Universität unbeachtet bleibt. „Toutes les branches du savoir humain y trouvent des adeptes". 4. Der deutsche Hochschullehrkörper rekrutiert sich selbst auf dem Wege über die Privatdozentur, den Extraordinarius und den Ordinarius. Diese Ordnung wünscht Lot mit Berufung auf das berühmte Wort Cousins, der diese Einrichtung als „le ressort le plus essentiel du mécanisme d'une université allemande" bezeichnete, auch der Universität seines Landes (85). Man sieht, Lot hat keine neuen Entdeckungen gemacht, und auch seine Reformvorschläge enthalten nichts Originales. Er weiß selbst, daß Cousin und später Laboulage, Renan, Michel Bréal, G. Monod, Lavisse und viele andere die gleichen Reformforderungen und andere mehr erhoben haben, ohne daß sie verwirklicht wurden (86). Eine von diesen alten Forderungen, nämlich die nach Zusammenlegung der auf die Städte verteilten isolierten Fakultäten, wurde auch in Angriff genommen. 1892 gab es 15 solcher Zusammenfassungen, nach Lot aber sind das, verglichen mit Deutschland, das 21 Universitäten hat, oder mit Italien, das 22 aufweist, zu wenige (87). Lot erstreckt den Vergleich des französischen und deutschen Universitätswesens nicht nur auf seine äußere und innere Organisation, sondern dehnt ihn auch auf die Lehrfächer aus. Auch da stößt er auf eine von ihm beklagte Vormachtstellung Deutschlands. Am auffallendsten ist sie in der romanischen Philologie einschließlich des Altfranzösischen, bei dem man doch von vornherein die Superiorität der französischen Hochschulen erwarten sollte. Dem widerspricht aber das von ihm entworfene Bild (88) : Deutschland zählt sechs der romanischen Philologie gewidmete Zeitschriften und 50 Professoren. Seine mittlere Jahresproduktion an Doktorarbeiten aus diesem Gebiet beträgt ein Dutzend. Frankreich dagegen hat nur zwei derartige Zeitschriften und 12—15 Professoren für dieses Fach und nur eine einschlägige Doktorarbeit im Jahre aufzuweisen. Man lehrt Altfranzösisch an allen deutschen Universitäten, während es an der Hälfte der französischen Facultés des lettres nicht vertreten ist. Das ist auch erklärlich; denn von den französischen agrégés und licenciés wird die Kenntnis der Geschichte ihrer Sprache in ihren Examen nicht verlangt. Daher vermeiden die französischen Studenten sogar dort die entsprechenden Kurse, wo sie stattfinden. Während an der Bonner Universität der Romanist Förster ein Auditorium von 40, Tobler in Berlin sogar eines von 100 Hörern hat, „ist ihr Pariser Kollege von der Sorbonne, einer der 19
S c h n e i d e r , Pädagogik.
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ausgezeichnetsten Romanisten Europas, glücklich, wenn er in seiner Vorlesung vier oder fünf Studenten hat". An den Kursen für romanische Philologie am Collège de France und der École des Hautes Études nehmen in der Hauptsache Ausländer, allen voran Deutsche, teil. Die Folge der geschilderten Lage ist, daß Deutschland selbst in der romanischen Philologie einschließlich des Altfranzösischen führend ist. So ergibt sich die paradoxe Lage, daß der Franzose, der die Geschichte der französischen Literatur vor dem 17. Jahrhundert studieren will, Deutsch können muß, da die übergroße Mehrheit der entsprechenden Literatur in deutscher Sprache erschienen ist (89). Ferdinand Lot hätte sich mit diesem beklagenswerten Zustand sicherlich leichter abgefunden, wenn auf dem Felde der germanischen Philologie die Lage ebenso paradox gewesen, diese also in Frankreich stärker betrieben worden wäre als in Deutschland. Aber das war keineswegs der Fall. Im Gegenteil existierte die Philologie germanique in Frankreich überhaupt nicht. Es gab sechs Fakultätsprofessoren, welche zwar nicht gotisdi und angelsächsisch, wohl aber das Deutsche und Englische des 18. Jahrhunderts hinreichend verstanden und interpretieren konnten. Die einzige französische Vorlesung über Gotisdi und Althochdeutsch wurde an der École des Hautes Études gehalten, und diese war nur wenig besucht (90). übrigens war die Situation Frankreichs in bezug auf orientalische Sprachen gegenüber Deutschland noch ungünstiger. „Ici la supériorité de f Allemagne n'est pas seulement incontestable, elle est écrasante" (91). Lot vermutet, daß seine fortwährenden Vergleiche des französischen enseignement supérieur mit dem deutschen Universitätswesen den patriotischen Leser verletzen und aufregen. Abér er bemerkt, er könne es nicht ändern. „Le vrai patriotisme c'est de regarder en face le danger sans en être épouvanté et avec la ferme résolution de le combattre. A l'heure actuelle nous sommes au point de vue scientifique inférieurs en tout à l'Allemagne. Il serait puéril de le nier. Il me semble préférable d'étudier froidement notre ennemi, de chercher les raisons de sa supériorité et de tenter de le battre avec ses propres armes." Er erneut seine Forderung, die Organisation der deutschen Universitäten, soweit es den Franzosen möglich ist, nachzuahmen. Den Einwand, das widerspreche ihrem nationalen Temperament, läßt er nicht gelten. Er meint ironisch, das behauptete nationale Temperament ändere sich 2—3 mal in einem Jahrhundert. Ironisch sagt er: „Wenn die deutsche Universitätsorganisation unserem Temperament von 1891 nicht entspricht, wird sie ihm conform sein im Jahre 1900 oder 1920. Die militärische Dienstpflicht wurde zunächst auch als dem französischen nationalen Temperament widersprechend angesehen. Wir mußten sie doch unter dem Kaiserreich annehmen. „Attendons-nous pour réformer notre haut enseignement que la science française ait en elle aussi son Sédan" (92). Lot empfiehlt unter anderm eindringlich die Übernahme der deutschen Semestereinteilung in das französische Hochschulwesen. Als ihre vorteilhafte Folge habe sich ergeben, so behauptet er, daß der Professor gezwungen sei,
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seine Vorlesungen zusammenzudrängen (de condenser son enseignement (93) und daß die Studenten sich während des Semesters zusammenraffen müssen (ramasser leur travail). Auch gebe die Semestereinteilung den letzteren die kostbare Möglichkeit, in einem Studienjahr zwei Universitäten zu besuchen, z. B. nachdem sie das Wintersemester an einer der Großstadtuniversitäten (z. B. in Berlin oder München) studiert haben, das nachfolgende Semester an einer „université d'été" (z. B. Bonn oder Heidelberg) zu verbringen. Auch bei der Forderung der Erhöhung der Zahl der Lehrstühle bzw. Professoren und angemessener Professorengehälter weist Lot unter Beigabe zweier übersichtlicher Tabellen (S. 111 und 112) auf Deutschland als vorbildlich hin. Er stützt endlich seine Reformforderungen noch mit dem Hinweis auf die internationalen Wirkungen, die sich ergeben, wenn sie unterblieben. „Le monde entier se détourne de la France et va à l'Allemagne; non pas seulement le monde politique et commercial, mais, ce qui est peut-être plus grave, le monde scientifique" (94). Der Leser, der der bisherigen Schilderung der „an deutschen Einrichtungen orientierten Studien, Kämpfe und Reformforderungen" gefolgt ist, muß annehmen, daß — als schließlich die große französische Universitätsreform einsetzte — etwas dem deutsdien Vorbild Entsprechendes herauskommen wird. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall. Das Ende der bis jetzt charakterisierten Bemühungen war wohl der Zusammenschluß der verschiedenen Wissenschaften, die vorher in isolierten Fakultäten gelehrt worden waren, zu großen universellen Hochschulen. Damit war im wesentlichen die französische Universität begründet oder, wie Liard sagt: „Virtuellement, les universités étaient faites". Aber es fehlten ihnen (95) doch noch drei wesentliche Dinge: 1. der wahre und einzig mögliche Name, den diese Universal-Hochschulen in allen anderen Kulturländern tragen; 2. die Disziplinargewalt über die Mitglieder ihrer Lehrkörper und ihre Studenten und 3. eine feste, regelmäßige und hinreichende Finanzierung. Alles das wurde nun durch das Gesetz vom 15. Juli 1896 gewährt. Die vereinigten Fakultäten erhielten den Namen Universität, die conseils des universités die Disziplinargewalt über Professoren und Studenten, und die Einnahme der Universitäten aus den Einschreibegebühren, aus den Abgaben für die Bibliotheksbenutzung und für praktische Arbeiten verblieben von jetzt an den Universitäten für den eigenen Gebrauch. Aber auch jetzt noch war die so entstandene Universität alles andere als eine Übertragung der deutschen nach Frankreich. Bernhard beschäftigt sich (96) mit den Ursachen des verhältnismäßig schwachen Anschlusses an die deutsche Form und nennt zunächst zwei, die uns auch schon früher als Hemmnisse einer französischen Universitätsreform nach deutschem Muster begegnet sind: der Widerstand des mächtigen Beamtentums der zentralen Staatsverwaltung, der sich in der Stunde der Entscheidung besonders energisch geltend machte, und die Sorge der Oberlehrerschaft (Professeurs 19*
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de lycée), „durch eine Nachahmung der deutsdien Form den Zusammenhang mit der Universitätslaufbahn zu verlieren". Er nennt aber außerdem den Einfluß von Berichten über die Organisation der amerikanischen Universität und über die englische Universitätsausdehnungsbewegung (die „University extension movement"), die man nachahmenswert fand und von der man wohl annahm, daß sie sich in die deutsche Organisationsform nicht einbauen ließe (97). Audi wirkte erneut die Behauptung hemmend, daß bei der Forderung der Universitätsreform nach deutschem Vorbild nicht genügend Rücksicht auf die französische Seele genommen werde (98). Die Durchführung der französischen Universitätsreform geschah durch den früheren Professor der Philosophie, Louis Liard, der als Ministerialdirektor (Directeur de l'Enseignement supérieur) in das Unterrichtsministerium berufen worden war. Von ihm wurde auch eine Geschichte des französischen Universitätswesens für die Zeit von der französischen Revolution bis zur Zeit der von ihm durchgeführten Reform geschrieben (99). Es ist verständlich, daß er darin das deutsche Vorbild, das sich ja auch in der Reform nicht durchsetzte, vernachlässigte. Wie groß trotz der häufigen Empfehlungen des deutschen Vorbildes die Unabhängigkeit der französischen Universitätsreform vom deutschen Beispiel ist, zeigt ein k u r z e r Vergleich der deutsdien und der französischen Universität. Darin, daß die Einzelfakultäten zu Gesamthochschulen zusammengelegt wurden und die neuen Hochschulen den alten Namen „Université" zurückerhielten, zeigt sich Annäherung an die deutsche Form. In vielen anderen wesentlichen Punkten aber unterscheidet sich diese Université von der Universität (100). Während in Deutschland die Universität unmittelbar dem Ministerium unterstellt ist, tritt zwischen die neue französische Université und das Ministerium die für das ganze Staatsgebiet zuständige S e c t i o n p e r m a n e n t e du Conseil supérieur de l'instruction publique, der auch alle von den Universitäten eingereichten Präsentationslisten für ordentliche Professuren vorgelegt werden müssen. Während an der Spitze der deutschen Universität der vom Senat auf ein Jahr gewählte Rektor und an der Spitze der Fakultät der von der engeren Fakultät gewählte Dekan steht, werden beide Stellen in Frankreich vom Minister für drei Jahre auf Grund von Listen, welche die Namen von zwei Ordinarien enthalten und vom Senat bzw. von der weiteren Fakultät eingereicht werden, ernannt, so daß von einer akademischen Selbstverwaltung in deutschem Sinne bei den französischen Universitäten nicht gesprochen werden kann. Während Rektor und Senat in Deutschland für die Fakultät nicht die höhere Instanz sind (Bernhard bezeichnet diese Situation als „instanzlose, lockere Kollegialverfassung"), repräsentieren sie in Frankreich die höhere Instanz, deren Aufgabe ynter anderm ist, die Fakultäten untereinander zu verknüpfen.
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Am auffallendsten ist, daß trotz der häufigen Empfehlung der Habilitation durch die französischen Sachverständigen im Laufe des Jahrhunderts der Zugang zur Universitätslaufbahn in Frankreich nicht nach deutschem Vorbild geregelt wurde. Während in Deutschland dieser Zugang durch die Habilitation erfolgt, über welche die Fakultät allein und grundsätzlich unabhängig vom Unterrichtsbedürfnis entscheidet und durch welche der Habilitand die venia legendi erhält und zum Privatdozenten wird, wird die Lehrbefugnis in Frankreich durch die Agrégation erworben (101). Bei ihr handelt es sich um eine Bewerbung um ein Staatsamt. Diese setzt freie Agrégé-Stellen voraus. Zu ihrer Besetzung fordert der Minister im „Journal officiel" zu einem Wettbewerb (concours) vor einem Prüfungsausschuß, der in Paris sitzt, auf, der auf Grund einer Klausur, mehrerer Vorträge und früherer Arbeiten entschieden wird. In die Lehrkörper der facultés des lettres (philosophisch-historische) und der facultés des sciences (mathematisdi-naturwissenschaftliche Fakultät) führt der Weg übrigens nicht durch die Hochschulagregation, sondern nach wie vor durch die Lehrkörper der Höheren Schulen, also über Universitätsstudien (Sciences), die Agrégation d'enseignement secondaire — (unser philologisches Staats/ examen), mindestens zweijährige Lehrtätigkeit, Fertigstellung einer Doktorarbeit und Bewerbung, meistens um eine Assistentenstelle. In einer einzigen Beziehung hatte die neugegründete französische Universität größere Freiheit als die deutsche. Während diese bis in die kleinsten Einzelausgaben an einen staatlich festgelegten Haushaltplan wirtschaftlich gebunden war, erhielten die französischen Universitäten das Recht der eigenen Finanzgebarung (102), die lediglich der ministeriellen Genehmigung bedurfte. Diese wirtschaftliche Selbständigkeit schloß das Recht ein, Legate, Schenkungen und Stiftungen anzunehmen und zur Einrichtung neuer Lehrstühle und zum Bau wissenschaftlicher Institute zu verwenden. Mit der dadurch umfangreicher und verantwortungsvoller werdenden Geschäftsführung wurde der permanente Rektor und die dreijährige Amtsdauer der Dekane sowie der ebenfalls drei Jahre amtierende „Assesseur" zur Unterstützung des Dekans und die dreijährige Amtsdauer des Senats (Conseil de l'Université), „der außer dem permanenten Rektor und den Dreijahr-Dekanen aus je zwei Delegierten der Fakultäten, die ebenfalls auf drei Jahre erwählt sind), besteht (103), begründet. Auch in anderer Beziehung besaß die neue Universität Freiheit, z. B. in der Aufstellung der Lehrprogramme ; die Fakultäten bestimmen die Einzelheiten ihres Unterrichtes selbst; die Universitätslehrer setzen im Rahmen ihres Faches den Jahres- oder Semesterstoff eigenmächtig fest. Endlich herrscht die unbeschränkteste Freiheit in bezug auf den Geist des Unterrichtes. „Nichts, was auch nur im entferntesten einer Staatsdoktrin oder einer autoritativen Kontrolle der Lehre ähnelte". Nirgendwo, sagt ein Beurteiler (104), ist „die akademische Freiheit unbegrenzter als auf den französischen Universitäten".
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Ein weiterer Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Universität blieb darin bestehen, daß von der letzteren die Kolleggelder, die in Frankreich durch die Verwaltung des absoluten Staates abgeschafft worden waren, auch durch die Universitätsreform nicht wieder eingeführt wurden, obwohl man ihre positiven Wirkungen im deutschen Universitätswesen erkannt und im französischen Reformschrifttum oft zum Ausdruck gebracht hatte. In diesem Fehlen des Kolleggeldes sehen die Franzosen ein Symptom des demokratischen Charakters der Universitäten, ebenso im Fehlen des Kastengeistes und der Corps und Burschenschaften. Auch die Stufenleiter der Dozenten der französischen Universitäten stimmte nicht mit der deutschen überein. Der deutschen Reihenfolge: ordentlicher Professor, persönlicher Ordinarius, emeritierter Ordinarius, ordentlicher Honorarprofessor, beamteter außerordentlicher Professor, nichtbeamteter außerordentlicher Professor, Privatdozent mit oder ohne Lehrauftrag und mit der Abhaltung von Vorlesungen Beauftragte stehen auf französischer Seite gegenüber: Professeurs titulaires, Professeurs titulaires sans chairs, die zwischen dem persönlichen Ordinarius und dem beamteten Extraordinarius in Deutschland stehen, Professeurs honoraires, Chargés de cours und Maîtres de conférence. Die beiden letzten sind Hilfslehrer der Ordinarien, die nach deren Weisungen entweder ihre Hauptvorlesungen durch cours complémentaires ergänzen, wovon sie ihren Namen Chargés de cours haben, oder den Vorlesungsstoff in Conférences repetieren, weshalb sie Maîtres de conférence heißen. Ihnen folgen in der Rangreihe: die Maîtres de conférence honoraires und die Stagiaires, d. h. auf eine Probezeit von wenigstens drei und höchstens fünf Jahren angestellten Dozenten, die die deutsche Stufenleiter nicht kennt, femer die Agrégés en activité, die auf Grund des Agrégationsconcours zugelassenen Dozenten an Stelle der deutschen Privatdozenten, und endlich die Agrégés libres, welche wegen Ablauf ihrer Anstellungsdauer nicht mehr aktiv sind, aber den Titel „agrégés", mit dem allerdings keinerlei Rechte mehr verbunden sind, behalten haben. Ein deutsches Gegenstück zu ihnen gibt es nicht. Wir sehen also, daß das Ergebnis der französischen Universitätsreform trotz der mannigfachen starken Anregungen, die vom deutschen Hochschulwesen ausgehen, sich deutlich von der deutschen Universität unterscheidet. Dieser Umstand darf aber nicht dazu verführen, den deutschen Einfluß zu unterschätzen. Das Zustandekommen der französischen Universitätsreform, wenn sie auch schließlich von der deutschen Universitätsorganisation abweichende Wege einschlug, ist wesentlich vom deutschen Vorbild abhängig gewesen. Es verhinderte, daß man sich in Frankreich mit dem Zustand des enseignement supérieur, wie er sich nun einmal entwickelt hatte, zufrieden gab, weckte den französischen Nationalstolz, es auf diesem Gebiete Deutschland gleichzutun, entzündete und befruchtete die Diskussion, bewirkte die Bereitstellung größerer Mittel und verhalf der Richtung zum Siege, die an Stelle der ausschließlich der beruflichen Ausbildung dienenden isolierten facultés mit 294
dem Charakter höherer Berufs- bzw. Fachschulen die Verwirklichung der Universitätsidee erstrebte, die die verschiedenen Fakultäten zu einer Einheit zusammenfaßte und gleichzeitig der Forschung und der Lehre diente. Diese positive Einwirkung der Kenntnis der deutschen Universitätsverhältnisse ist auch von französischen Sachverständigen mehr als einmal anerkannt worden. Eine Beispiel für viele : Unter Napoleon III. wurde Adolphe Wurtz (durch ministerielles Schreiben vom 5. Juni 1868) mit dem Studium der Laboratorien, wissenschaftlichen Sammlungen, Kliniken und Institute der bedeutendsten deutschen Universitäten und einem detaillierten Bericht über das Ergebnis seiner Studien beauftragt. Im Jahre 1870 erschien der gewünschte Bericht im Drude (105), dem ein Brief des Berichterstatters an den Minister vorausging. In ihm bringt Wurtz deutlich zum Ausdruck, daß Frankreich hinter dem, was er auf seiner Studienreise in Deutschland sah, weit zurücksteht. „Dans ces dernières années, la science a été moins cultivée chez nous que chez nos voisins, et, si Ton pouvait mesurer la valeur scientifique d'un pays par le nombre des publications, le nôtre ne serait pas le premier. Ce n'est pas le génie, ce ne sont pas les hommes, qui lui ont manqué, ce sont les ressources matérielles et les instruments de travail. Sous ce dernier rapport, l'Allemagne a été plus favorisée" (106). Energisch forderte er eine Änderung dieses Zustandes, weil eine „teile situation ne saurait se prolonger sans danger" (107). Der Bericht beschäftigt sich in drei Abschnitten mit den chemischen Laboratorien der Universitäten Bonn, Berlin, Leipzig und Wien, mit den physiologischen Laboratorien der Universitäten Heidelberg, BiHin, Göttingen, Wien, München und Leipzig und ' den pathologischen Instituten von Berlin und Wien. Der zweite Teil des Berichts enthält Frontansichten, Aufrisse und Grundrisse der besprochenen Institute, die auf den französischen Leser starken Eindruck machen mußten, da die bauliche Verfassung der französischen Universitätsinstitute, soweit überhaupt solche vorhanden waren, weit hinter dem, was ihnen hier gezeigt wurde, zurückstand. Mehr als zehn Jahre später erschien vom gleichen Verfasser nach einer abermaligen, in ministeriellem Auftrag unternommenen Studienreise durch Deutschland ein zweiter Bericht (108), aus dem sich die oben gekennzeichnete Wirkung des deutschen Vorbildes deutlich • ergibt. In einem den Band einleitenden Brief an den Minister spricht sich der Verfasser über die Wirkung seines ersten Berichtes folgendermaßen aus: „Elle a contribué à faire connaître nos besoins et à créer, en faveur des progrès à accomplir dans l'installation matérielle de nos facultés et de nos écoles, une agitation, q u i a é t é f é c o n d e e t q u i d u r e e n c o r e " (109). Unter der Mitwirkung seiner ersten Veröffentlichung war es erreicht worden, daß man jetzt auch in Frankeich die Notwendigkeit der Laboratorien, Museen, Bibliotheken, überhaupt bedeutender materieller Hilfsmittel nicht mehr bestritt; aber es war auch jetzt noch nötig, immer 295
wieder auf ihren Wert hinzuweisen und von den deutschen Erfahrungen zu profitieren. Das war die Aufgabe dieses zweiten Buches, das sich auch mit der inneren Organisation der Laboratorien und Institute beschäftigte. Besonders eindringlich macht Wurtz den Minister darauf aufmerksam, daß die deutschen Laboratorien „sont à la fois laboratoires de recherches et laboratoires d'enseignement", während in Frankreich noch diese Aufgaben auf zwei verschiedene Arten von Laboratorien verteilt seien (110). In einem Punkt äußert er sich zu dem Gesehenen kritisch. Er tadelt den „Luxus" an den deutschen Monumentalbauten, nicht nur an den Fassaden, sondern auch an der inneren Einrichtung und fordert für die französischen Einrichtungen in dieser Beziehung größere Sparsamkeit. Der Einfluß der deutschen Universität blieb übrigens auch nach der Durchführung der französischen Universitätsreform bis in das Jahrzehnt nach dem Weltkrieg in Frankreich lebendig. Sehr deutlich tritt dies in die Erscheinung in einer „Enquête sur la Situation de l'enseignement supérieur scientifique de l'enseignement supérieur technique", die Henri Maillart 1925 in Paris unter dem Titel „L'Enseignement Supérieur" herausgab. In einem von den Deutschen im besetzten französischen Gebiet herausgebrachten Propagandaorgan, der „Gazette des Ardennes illustrés", hatte ein Artikel mit der Uberschrift: „Quel est le peuple le plus civilisé de l'Europe?" gestanden. Diese Frage wurde in dem Artikel durch drei Hinweise beantwortet: 1. Der Etat für das Schul- und Bildungswesen beträgt in Frankreich 326, in Deutschland 1097 Millionen. 2. In Frankreich gibt es unter 10000 Soldaten 320 Analphabeten, in Deutschland nur 2. 3. Die Zahl der französischen Nobelpreisträger beträgt 3, die der deutschen 14. Von diesem Aufsatz geht Maillart aus. Er erkennt die Richtigkeit der Hinweise an und beklagt, daß viele seiner Landsleute sie nicht wahrhaben wollen und, von einem falschen Patriotismus erfüllt, den wahren Zustand ihres Landes auf kulturellem Gebiet nicht sehen, ihm sogar den Titel „de champion du monde pour les Lettres, pour les Sciences et pour les Arts" zuerkennen, was für die Vergangenheit zwar richtig gewesen sei, nicht aber für die Gegenwart zutreffe. Wer das heute noch behauptet, so meint er, der kann das nur unter Ignorierung des Fortschritts der Deutschen in den letzten 50 Jahren tun (111). Der enseignement supérieur stehe hinter der deutschen Universität noch immer zurück. Das zeige sich deutlich darin, daß die Elite aller Länder, Rumänen und Serben ausgenommen, nach Deutschland gehe, statt nach Paris, um an seinen Hohen Schulen ihre Ausbildung zu vollenden: die Nord- und Südamerikaner, die Japaner, Engländer, Spanier und Italiener, die Österreicher, die Dänen, Schweden und Norweger, ja sogar viele der im Ausland studierenden Russen und Polen. Für die Österreicher und Nordländer überrascht ihn das weiter nicht, weil sie sich als „dans leur propre milieu au sein d'une université allemande" (112) betrachten. Aber erstaunlich ist es für ihn, daß auch die Südamerikaner 296
und die Spanier und Italiener, die doch den Franzosen nach Volkstum und Sprache näherstehen als den Deutschen, die deutschen Universitäten vor den französischen bevorzugen. Auch die nordamerikanischen Naturwissenschaftler und Mediziner, Juristen und Philosophen gehen nach Deutschland, zumal nach Berlin und Leipzig, nicht aber nach Paris. Dorthin kommen höchstens die nordamerikanischen Künstler, die eine zwar bedeutende, aber doch sehr spezielle Kolonie bilden. Bei Rußland und Polen ist die Lage so: ihre Intelligenz, ihre späteren Professoren, Gelehrten, Mediziner und Juristen studieren in Deutschland, während nach Frankreich nur die russischen und polnischen Juden gehen, d. h. also die Elemente, die im Grunde international sind, von denen es durchaus nicht feststeht, ob sie in ihr Ursprungsland zurückkehren und etwas von Frankreich aus dorthin tragen, was den Einfluß der französischen Ideenwelt vergrößern könnte. Die Folge davon ist, daß sich der deutsche Geist — Maillart sagt „le génie des pays de langue germanique" — allmählich auf die ganze Welt ausbreitet. Wenn der Krieg nicht gekommen wäre, so prophezeit er, würden die Deutschen in der nächsten Generation die Welt erobert und uns überall ausgestochen haben (113). übrigens sah Maillart diesen modernen kulturellen Einfluß nicht nur durch die Ausländer, die in Deutschland studierten, sondern auch durch die gebildeten Deutschen, zumal die Techniker, die im Ausland arbeiteten, begründet (114). Und Maillart stellt sich die Frage, wie es zu erklären sei, daß diese Boten der deutschen Kultur im Ausland mit solcher Aufopferung für diese einträten. Er sieht das vor allem in der Tatsache begründet, daß Deutschland seinen Professoren, Gelehrten und Künstlern eine entsprechende finanzielle und moralische Position gibt. Sie genießen ein hohes Ansehen. Man überschüttet sie mit Titeln, gewährt ihnen ehrenvolle Auszeichnungen und stellt ihnen Laboratorien, Forschungsinstrumente und Arbeitsmaterial reichlich zur Verfügung. Maillart weist beonders auf Kaiser Wilhelm II. hin, der gern die Laboratorien besuche und sich in der Gesellschaft von Gelehrten aufhalte und einzelne mit dem Titel Exzellenz auszeichnete. Und als das Wesentliche an diesem Verhalten des Kaisers bezeichnet er, daß es vom deutschen Volke gebilligt werde, „qu'il était en pleine communion de pensée avec tout le peuple allemand" (115). In Frankreich aber sei alles anders. Die Gelehrten seien nicht so angesehen und würden nicht so geehrt, bezahlt und unterstützt wie in Deutschland. Wann hätte man in Frankreich jemals gesehen, daß sich ein französischer Präsident, wie der deutsche Kaiser, für die Gelehrten und Laboratorien seines Landes interessiert habe. Wenn einmal ein französischer Gelehrter wirklich die Auszeichnung der Ehrenlegion erhalte, dann doch erst 10, 15 bis 20 Jahre nach der Zeit, da er sie verdiente. Die französischen Gelehrten seien Generale, die man wie Hauptleute behandele. Diese oft geringschätzige Behandlung der Gelehrten und Professoren könnten die Behörden sich erlauben, weil auch 297
unter der breiten Masse des Volkes die Hochachtung vor ihnen und der Wissenschaft fehle. Diese Einstellung der breiten Massen müsse zunächst geändert weiden; das sei nicht leidit und gelinge nicht von heute auf morgen. Maillart glaubt übrigens einen Grund für die verschiedene Einstellung der deutschen und französischen Öffentlichkeit gegenüber den Professoren gefunden zu haben, der für die deutschen Gelehrten nicht wenig ehrenvoll ist. Der deutsche Gelehrte und Künstler, überhaupt die „L'élite intellectuelle allemande", fühlt sidh nach seiner Ansicht als im Dienst ihres Landes stehend, ist „ardemment patriote" (116), während dies für die Franzosen nicht zutreffe. Sie seien nicht Verteidiger des geistigen Erbes ihrer Nation, sondern dessen Zerstörer. Maillart weiß, daß diese von ihm ausgesprochenen Erkenntnisse unter den Franzosen selbst noch nicht lebendig sind. Auf dem Lehrerkongreß des Jahres 1912 hatte einer der Redner noch unter der Zustimmung der ganzen Hörerschaft sagen können, daß Deutschland, England und Amerika 100 Jahre hinter Frankreich zurück seien, während er das entschieden bestreitet und die Franzosen auffordert, zu arbeiten, um die N a c h b a r n e i n z u h o l e n . Er behandelt daher in seinem Buch sämtliche Fragen des Hochschulwesens unter dem Gesichtspunkt der Rivalität mit Deutschland und schließt daran als Folgerung die Forderung, die Gehälter der Professoren zu erhöhen, sie mit entsprechenden Laboratorien und dem erforderlichen wissenschaftlichen Apparat zu versehen, die Lehrpläne der Hochschule zu revidieren und alles zu tun, um die Lehrkörper der Universitäten mit (117) den Grundsätzen und einer ähnlichen Hingabe an ihre Aufgabe und die Wissenschaft zu erfüllen, wie die deutschen Gelehrten sie zeigen (118). So ist Maillart ein illustratives Beispiel dafür, daß das deutsche Vorbild im Bereich des enseignement supérieur auch nach dem Weltkrieg 1914—18 noch lebendig ist. Das ist zum Teil erklärlich aus den Erfahrungen des Krieges. Während desselben wurde es den Franzosen deutlich, daß „Deutschland nicht zum geringsten seine ungeheure Widerstandskraft der unablässigen Forschungsarbeit und glänzenden Organisation der Naturwissenschaft verdankte" (119). Sogar in der französischen Deputiertenkammer wurde diese Erkenntnis wiederholt zum Ausdruck gebracht, z. B. von Maurice Barrés in seiner Rede vom 11. Juli 1920, durch Herriot u. a. Der häufige Hinweis auf die deutsche Universität als Beispiel und die mehr oder minder strenge Forderung, die Reform der französischen Universiät nach ihrem Vorbild durchzuführen, blieben in den verschiedenen Jahrzehnten des 19. und auch im 20. Jahrhundert nicht ohne ablehnende Kritik. Wir haben schon an einzelnen Fällen auf solche hingewiesen, möchten aber zur Abrundung noch auf ein Beispiel einer solchen „patriotischen" Opposition hinweisen, die dem 20. Jahrhundert angehört.
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In seinem 1913 in Paris erschienenen Werk „La doctrine officielle de l'Université. Critique du Haut Enseignement de l'État défense et Théorie des Humanités classiques" hat Pierre Lasserre versucht, theoretisch die Grenzen für den Einfluß der deutschen Wissenschaft und der deutschen Hochschulen zu ziehen. François Albert hatte im Jahrgang 1909 der Zeitschrift „L'opinion" in einem Artikel von der „Sorbonne allemande" und der „Sorbonne germanisée" gesprochen. Davon geht Lasserre aus und untersucht, inwiefern der in den Attributen „allemande" und „germanisée" bei dem Namen der Pariser Hochschule steckende Vorwurf berechtigt sei. In seinen Ausführungen gibt der Verfasser ganz offen zu, daß der deutsche Beitrag zu den meisten Wissenschaften groß sei, so groß, daß die Nichtkenntnis der deutschen Sprache für die Vertreter der meisten Wissenschaftsgebiete einen großen Nachteil bedeute. Denn es sei erforderlich, daß die französischen Vertreter der verschiedenen Wissenschaften fähig seien, „sich aller Informationen und Theorien, die in deutscher Sprache erschienen sind, zu bemächtigen" und alles zu nützen, was von Deutschen „dem Wissen an neuer Kenntnis oder Hypothesen" hinzugefügt wurde. Dagegen warnt er davor, mit dem Inhalt und unter dem Einfluß der deutschen Sprache auch deutschen Geist und deutsche Methoden mit zu übernehmen. Dieser Gefahr sei die Sorbonne, das ergebe sich aus ihrem oeuvre intellectuelle, unterlegen, und daher sei das Attribut „germanisée" nicht unberechtigt. Lasserre mahnt daher die französischen Gelehrten, dafür zu sorgen, daß die deutsche Sprache sie nicht zu sehr beeinflusse, „ne leur entre pas trop intimement dans l'esprit", und daß das Leben der Deutschen sich in ihrem Kopfe nicht allzu sehr vermische mit dem französischen Leben, das auf diese Weise verdorben werde. W a s er an der Sorbonne vor allem „germanique" nennt, ist die Gelehrsamkeit ohne große Ideen, ist der wissenschaftliche Materialismus und die Übereinstimmung mit einer Philosophie, die ein spezifisch deutsches Produkt ist, der Philosophie Hegels, von der übrigens die Sorbonne nur die Plattheiten bewahrt habe (120). Werfen wir nun einen Blick zurück und fassen in Kürze zusammen, was den Franzosen an der deutschen Universität im 19. und 20. Jahrhundert besonders gefiel und was sie nachahmenswert fanden: 1. daß sie nicht nur Lehranstalt, höhere Berufs- und Fachschule, sondern außerdem wissenschaftliches Zentrum und Stätte wissenschaftlichen Forschens darstellt, die Professoren also nicht nur wissenschaftliche Fachlehrer, sondern auch Forscher waren, die Studenten auf ihnen nicht nur die fachliche Ausbildung für ihren späteren Beruf, sondern auch Vertiefung und Erweiterung ihrer Allgemeinbildung und wissenschaftliche methodische Schulung erhielten ; 2. daß die Universitäten mit weitgehender akademischer Selbstverwaltung ausgestattet waren (Wahl der Dekane, des Rektors und des Senats) und den Nachwuchs ihrer Lehrkörper auf dem Wege über die Privatdozentur selbst gewannen ;
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3. daß sich die Professoren der Lehrfreiheit und die Studenten der Freiheit in ihren Studien und in der Gestaltung ihres akademischen Lebens (akademische Freiheit) erfreuten. Zu den Ländern, die schon früh unter deutschem Universitätseinfluß standen, gehört auch Großbritannien (121), und zwar Schottland mehr und früher als das eigentliche England. Es ist überhaupt eine auffallende Erscheinung, daß die Schotten sich als befähigter erwiesen, deutsches Wesen zu verstehen als der eigentliche Engländer. Die großbritannischen Deutschfreunde Walter Scott, Carlyle, der sich für Deutschland kräftig einsetzte, Matthew Arnold, der Herold des deutschen Schul- und Bildungswesens in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, und endlich ein Schüler Lotzes, der Right Honorable R. B. Haidane, mehrjähriger englischer Kriegsminister, der in Göttingen studierte und gern in den Ferien in den Thüringer Bergen seine Erholung suchte, waren Schotten und gleichzeitig Bewunderer der deutschen Universität. Diese größere Fähigkeit der Schotten, dem Deutschen und seiner Kultur gerecht zu werden, hat man aus ihrer Geschichte, ihrem Dialekt und ihrer Sitte zu erklären versucht (122). Vielleicht ist sie auch mitverursacht durch den Charakter der schottischen Universität, die — wie wir bereits an anderer Stelle sahen — in der Reformationszeit früh und nachhaltig von den deutschen protestantischen Universitäten beeinflußt wurde (123). Seit den „Universities Scotland Acts" von 1858—1889 ist auch die schottische Universitätsverwaltung „wesentlich im deutschen Sinne geregelt. Nur steht an der Spitze des akademischen Senats ein auf Lebenszeit ernannter principal, der nicht aus dem Stande der Professoren herausgegangen zu sein braucht" (124). Es gab verschiedene Kanäle, durch welche die Kenntnis der inneren und äußeren Organisation der modernen deutschen Universität im 18. und 19. Jahrhundert auch nach England kam. Hannover gehörte damals zu England, und dort war unter George II. durch seinen Minister Mündihausen 1735 in Göttingen eine Universität gegründet worden, die, worauf wir bereits im vorigen Kapitel hinwiesen, von den englischen Souveränen und ihren hannoveranischen Vizeregenten stark gefördert wurde (the pride and boast of Germany, the first of Continental Universities" (125). Sie wurde auch von englischen Studenten besucht, und die Berichte über ihr Leben und ihre Entwicklung fanden daher leichter den Weg nach London als die über andere Universitäten auf dem Kontinent. Auch der Bericht von Victor Cousin wurde — ins Englische übersetzt — dort von Interessenten gelesen. Es kamen auch das ganze Jahrhundert hindurch Engländer zum Studium der deutschen Erziehung nach Deutschland und legten dann hinterher ihre Beobachtungen und Erfahrungen ihren englischen Landsleuten vor. Es kann nicht meine Absicht sein, alle diese Reiseberichte hier zu behandeln oder auch nur aufzuzählen. Ich will midi mit einigen wenigen aus 300
den verschiedenen Jahrzehnten als Repräsentanten dieser Art von Vermittlung deutscher Universitätspädagogik begnügen. Im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts unternahm Charles Edward Dodd eine Herbstreise, über die er in 32 Briefen, die ohne Autorbezeichnung 1818 in London in Buchform herausgegeben wurden unter dem Titel „An Autumn near the Rhine or Sketches of Courts, society, scenery etc. in some of the German States bordering on the Rhine", berichtete. Die deutsche Universität hatte seine besondere Aufmerksamkeit erregt, weil sie so ganz anders war als die englische. „Nothing can be imagined more striking than the contrast between an English and a German University" (126). Im 21. Brief beschäftigt er sich eingehend mit der Heidelberger Universität und ihrer Studentenschaft: ihrer „deutschen" Kleidung, ihrem Benehmen, ihrem Tageslauf, ihren Sitten und Gebräuchen, ihrer Gerichtsbarkeit, ihrer politischen Einstellung und mit dem bekannten Fest auf der Wartburg im Jahre 1817. Ein deutscher Student, der von Würzburg zum Besuche eines Freundes nach Bensheim wanderte, gehörte eine Zeitlang zu der Reisegesellschaft, der auch er angehörte, und gab ihm Gelegenheit zu aufschlußreichen Gesprächen und zu mancherlei Beobachtungen. Im Anfang des dritten Jahrzehnts machte John Russell eine große Studienreise durch Deutschland und berichtete darüber in seinem in Edinburgh erschienenen zweibändigen Werk „Tour in Germany, and some of the southern provinces of the austrian Empire in the years 1820, 1821, 1822". Mir hat die zweite Auflage'von 1825 vorgelegen. Russell schildert in amüsanter Weise seine Reise von Frankfurt über Straßburg, Karlsruhe, Mannheim, Heidelberg, Darmstadt, Frankfurt, Weimar, Jena, Leipzig, Dresden, Kassel, Göttingen nach Hannover. Sehr ausführlich (127) behandelt er im ersten Band die Universität Jena und ihre Verfassung, die Art des Universitätsunterrichtes, besonders das Studentenleben (die Lieder und Trinkgelage, die Landsmannschaften und Burschenschaften, die akademische Freiheit und Gerichtsbarkeit) und den Niedergang der Universität und deren Ursachen. Auch ihm fällt die bereits erwähnte Übereinstimmung ihrer Lehrweise mit der der schottischen Universitäten auf. „The mode of teaching is almost entirely the same as in the Scottish Universities" (128). S. 348—373 beschäftigt auch er sich mit der Universität Göttingen. Besonders lobt er ihre Sammlungen und ihre Bibliothek. Die ersteren sind nicht bloße Schaustellungen, sondern zum Gebrauch bestimmt. In ihnen findet der •Student alles, was er in seiner Wissenschaft sehen und handhaben möchte. Von der Bibliothek hebt er hervor, daß sie zwar nicht reich an Manuskripten und typographischen Seltenheiten sei, wohl aber an wirklich für die Studenten nutzbaren Büchern. Als Heyne 1763 die Bibliothek übernahm, habe sie 60000 Bände enthalten. Er stellte einen vernünftigen Plan zu ihrer Erweiterung auf, in dessen Verfolgung sie es jetzt auf nahezu 200 000 Exemplare gebracht hat, so daß sie heute eine „great recommendation of a Göttingen chair" (129) ist.
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Im zweiten Band berichtet Russell über die Berliner Universität, erzählt, wie Freiherr vom Stein durch den berühmten Philologen Wolf für den Plan ihrer Gründung gewonnen wurde, und charakterisiert einzelne ihrer führenden Lehrer. 1845 gab Walter C. Periy, der als Student in Deutschland gewesen und in persönliche Berührung mit manchen deutschen Professoren gekommen war, sein Büch über „German University Education or The Professors and Students of Germany" in Bonn bei Adolphus Marcus und in London bei Longman and Co., heraus. Er rechtfertigt sein Buch mit dem steigenden englischen Interesse für das geistige Deutschland, das er mit der Verwandtschaft der Völker und ihrer Sprachen und mit der Tatsache zu erklären sucht, daß ein „German Prince is the Father of his future Monarchs", und mit der Notwendigkeit, seine Landsleute besser über die deutschen Universitäten zu informieren, da die Deutschen mit den englischen Universitäten besonders durch Hubers Buch gut bekannt seien, nicht aber die Engländer mitv den deutschen. Auch erkennt er „the importance and desirableness of a reform" der englischen Universitäten und weiß, daß dafür viel von den deutschen Universitäten zu lernen ist. Das Buch behandelt in den Kapiteln II bis VIII die charakteristischen Züge, den Ursprung und die gegenwärtige Verfassung der deutschen Universitäten, schildert die Universitätslehrer und ihre Lehrtätigkeit in den verschiedenen Fakultäten und die Studenten und gibt eine Statistik der deutschen Universitäten. In zwei Beziehungen unterscheiden sich nach seiner Darstellung die letzteren vor allem von den englischen: ihre Professoren wetteifern miteinander unter Ansetzung all ihrer Kräfte, und sie stehen allen Studenten ohne Rüdksicht auf die Unterschiede des Glaubens und der Nationalität offen. Ebenso wird von ihm die Freiheit und überlegene soziale Stellung des Universitätsprofessors hoch gewertet, die er auf zwei Ursachen zurückführt: the natural scarcity of great men — and the active rivalry which exists among the Universities of the different German States" (130). Kritisch hebt er an den deutschen Universitätsstudenten „the want of a taste for manly games" (131) hervor. Der bedeutendste Herold deutschen Schulwesens einschließlich der Universität in England nach dem Deutsch-Französischen Krieg war der im vorangehenden Artikel bereits herangezogene Matthew Arnold (1822—1888) (132). 1868 erschien sein Bericht über seine pädagogische Studienreise „Report upon Schools and Universities on the Continent". Ich habe die Ausgabe von 1874: „Higher Schools and Universities in Germany", London, Macmillan and Co., benutzt, die um ein Vorwort von 70 Seiten Umfang bereichert wurde. Das VII. Kapitel dieses Buches handelt von der „Superior or University Instruction in Prussia". Es ist erfüllt von Hochachtung für die deutsche Universität; bei dem Vergleich der deutschen mit der französischen und der englischen Universität erhält sie den Preis. Ihre äußere und innere Organisation erklärt er in manchem nachahmenswert (133) und hebt auf dem Hintergrund' des deutschen Universitätswesens die Mängel des englischen hervor. Die Lon302
doner Universität erscheint ihm dabei nur als ein „Board of examiners". Auch beldagt er, daß England mit 10 Mill. Einwohnern 1865 nur 3500 immatrikulierte „Studenten", Preußen mit 18,5 Mill. Einwohnern dagegen 6362 eingeschriebene Studenten aufweist. Und er sieht auch schon zwei üble Folgen des Fehlens einer wirklichen Universität im kontinentalen Sinne: „a want of scientific intellect in all departments" und die Schwächung oder sogar das Fehlen des „sense of the value and importance of human knowledge" im englischen Volk (134). So entwickelt er in den Schlußfolgerungen des VIII. Kapitels aus dem deutschen Beispiel manche Anregungen für die englische Universitätsreform. Vor ihm hatten sich auch noch andere Stimmen als die genannten für eine Reform der alten Universitäten Oxford und Cambridge nach dem Muster der modernen deutschen Universität erhoben. Zu ihnen gehörte z. B. der Dichter Thomas Campbell, der die Bonner Universität zwei Jahre nach ihrer Gründung kennengelernt hatte und für die Reform der alten englischen Universitäten nach ihrem Muster eintrat. Da er mit diesen seinen Bemühungen keinen Erfolg hatte, warb er für die Gründung einer neuen Universität in London. In einem berühmt gewordenen Brief an die „Times" vom 9. Februar 1825 schlug er ihre Einrichtung nach deutschem Muster vor (135). Für eine Universitätsreform nach deutschem Muster war vor Matthew Arnold auch schon Richard Hamilton (The Edinburgh Review 1836) eingetreten. Die für die alten englischen Universitäten im 19. Jahrhundert geforderten Reformen hatten zwei Hauptziele. Sie zielten ab 1. auf die Beseitigung ihres ausschließlich anglikanischen und aristokratischen Charakters, wofür sich vor allem die Vertreter des nonkonformistischen englischen Mittelstandes einsetzten, und 2. auf die Beseitigung ihres wissenschaftlichen Versagens, das von einer kleinen Minderheit von geistigen Führern Englands, wie Stuart Mill, Matthew Arnold, dem Astronomen Herschel, dem Anatomen Huxley, dem (Geologen Sedgwick u. a. m. erstrebt wurde. Beide Strömungen fanden Anregungen und Vorbild vom deutschen Universitätswesen. Aber die beharrenden Kräfte in den alten Universitäten waren zu stark und fanden Unterstützung in dem ausgesprochenen Konservatismus des englischen Volkscharakters. Im gleichen Sinne der Beharrung wirkte sich der in den Lehrkörpern der englischen Universitäten herrschende Nepotismus aus. Daß der Sohn dem Vater auf dessen Lehrstuhl folgte, war keine seltene Erscheinung (136). Am Kings College waren zwischen 1634 und 1811 acht Mitglieder der Familie Gordon Professoren; 95 Jahre hielten sie den Lehrstuhl für Hebräisch, 157 Jahre ohne Unterbrechung den in arts (137). Die Familie Gregory stellte 14 Professoren für britische Universitäten. Die alten englischen Universitäten sahen ja überhaupt nicht die Entwicklung der Wissenschaft und die wissenschaftliche Ausbildung der Studenten als ihre Aufgaben, sondern deren Erziehung zum Gentleman. Zu dessen Wesen aber gehörte Religiosität und Achtung vor den kirchlichen Mächten. Schon deshalb wurde das deutsche Ideal der rein weltlichen Universität von ihnen ab-
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gelehnt. Dazu kam, daß schon im Anfang des 19. Jahrhunderts Oxford und Cambridge eigentlich gar keine Universitäten mehr darstellten, sondern nur eine zusammenhanglose Gruppe von Colleges waren. Unter diesen Umständen konnten sich Reformen nach deutschem Muster nur nach heißen Kämpfen und langsam und nur in geringem Umfang durchsetzen, so daß die Gründung neuer Universitäten leichter erscheinen mußte als die Reform der alten. So erfolgte denn auch die Gründung der Londoner Universität nach dem Vorbild der Berliner und die von Manchester nach dem Beispiel der Heidelberger. Eine Anzahl Liberaler (138), unter denen sich der Jurist Lord Brougham ( t 1868), der Erziehungsreformer George Birkbeek ( t 1841), der liberale Abgeordnete Joseph Hume ( t 1855), der Philosoph James Mjll (+ 1836) und der Historiker George Grote (+ 1871) befanden, begründete deshalb 1827 als Stätte wissenschaftlicher Bildung für die Dissenters in London aus eigenen Mitteln das University College, das später Ausgangspunkt der großen Physiologenschule von Camlridge wurde, aus dem sich allmählich die Londoner Universität entwidcelte. Dem „gottlosen" University College setzten kirchliche Kreise 1830 das Kings College als Wettbewerber zur Seite, das nur anglikanische. Professoren anstellte und auch sonst den kirchlichen Einfluß zur Geltung brachte. Um das University College weiter zu schädigen, wird es 1836 mit King's College zur Universität London vereinigt. — So ist im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ein überaus seltsames Universitätsgebilde entstanden (139). Und da man bei der Begründung weiterer moderner englischer Universitäten auf London als Vorbild schaute, machte sich dabei deutscher Einfluß wenigstens mittelbar geltend. Die Begründung der Universität in Manchester (140) geschah durch den Professor Henry Roscoe am Owens College in Manchester, den Schüler und Freund Robert Bunsens, der die Anregungen und die Grundgedanken zur Umwandlung des College in eine Universität in Heidelberg empfangen hatte. Da die wissenschaftlichen Hilfsmittel Manchesters zur Begründung einer Universität nicht ausreichten, kam zunächst eine Art von Drillingsuniversität zustande, indem sidi das College von Manchester mit denen der beiden benachbarten Städte Liverpool und Leeds zu einer Gesamtuniversität, der VictoriaUniversity, vereinigte. Später fand eine Teilung und Verselbständigung der drei Universitäten statt. Die Kritik an den englischen Universitäten verstummte während des ganzen 19. Jahrhunderts nicht. Sie entsprang sehr oft aus deren Vergleich mit der deutschen Universität. Es kann nicht meine Absicht sein, alle diese kritischen Vorstöße darzustellen. Einige wenige Beispiele außer den schon vorher benannten müssen zur Veranschaulichung dieses Tatbestandes genügen. So legte Marc Pattison, der in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Rektor des Lincoln College in Oxford war, auf Anregung einiger 304
Mitglieder der Convocation seine Reformanregungen in einer Schrift „Suggestions on Academical Organisation with special reference to Oxford" nieder, die ähnlich wie Sir William Hamiltons „Discussions" den Einfluß des deutschen Vorbildes zeigen. Er sieht nur ein mögliches Leitbild der Reform: the German type, the German University, wenn er auch nicht deren sklavische Nachahmung empfiehlt, sondern manche ihrer Einzelheiten ablehnt (141). Das deutsche Ideal macht sich auch noch geltend in Lord Curzons Buch „Principles and Methods of University Reform" 1909, in Haldanes Buch „Education and Empire" 1902 und sogar noch in der 1932 in Berlin erschienenen vergleichend kritischen Untersuchung von Abraham Flexner „Die Universitäten in Amerika, England, Deutschland". Nicht ganz ohne Einfluß auf die Methode des englischen Hochschulunterrichtes werden auch die Deutschen geblieben sein, die nach Studien an deutschen Universitäten nach England kamen und Mitglied des Lehrkörpers einer alten oder einer neuen englischen Universität wurden. An deutschbürtigen englischen Universitätsprofessoren hat es in England seit dem Mittelalter nicht gefehlt. Der vermutete Einfluß auf das innere Universitätsleben wird sich am ehesten seit dem Aufblühen der deutschen und insbesondere der preußischen Universitäten bemerkbar gemacht haben, wenn er sich auch nur in seltenen Ausnahmefällen im einzelnen nachweisen läßt wie bei dem Oxforder Professor für vergleichende Philologie Max Müller, dem Sohn des Dichters Max Müller und Enkel Basedows, der maßgebend beteiligt war bei der Einrichtung der Oxford und Cambridge Local Examinations. Einige wenige andere seien als Repräsentanten der vielen, die nicht alle aufgeführt werden können, genannt: An der Oxforder Universität im 18. Jahrhundert der Professor des deutschen Rechts Jos. Hager und der Professor für Geschichte Johann Anton Cramer, im 19. Jahrhundert außer dem schon erwähnten Max Müller an den neuen Universitäten der Sanskritforscher Theodor Goldstecker aus Königsberg an der Londoner Universität, der Professor der keltischen Sprachen Kuno Meyer in Liverpool, der Professor der Medizin Ludwig Borchardt in Manchester. Die vielen Deutschen, welche an den englischen Universitäten die Germanistik vertraten (142), müssen ungenannt bleiben. Interessanter und auch wesentlicher als die Herausstellung der Männer, welche eine englische Universitätsreform nach deutschem Muster forderten oder audi bewirkten, ist die Darstellung dessen, was sie an der deutschen Universität als vorbildhaft erkennen und für die englische Universität fordern. Dem englischen Besucher und Beurteiler deutscher Universitäten erscheinen diese als wahre Stätten der Wissenschaft, an denen die studierende Jugend mit Liebe zur reinen Wissenschaft und mit wissenschaftlicher Geisteshaltung erfüllt wird (143), die sich im gesamten kulturellen Leben Deutschlands dadurch auswirkt, daß alle kulturellen Probleme bis in die Industrie, die militärische Organisation und die Politik hinein wissenschaftlich angefaßt werden (144). Eine Auswirkung der Universität sieht er ferner darin, daß die Deutschen bis in die 20
S c h n e i d e r , Pädagogik.
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breitesten Volksschichten von größter Achtung vor der Wissenschaft und von Bewunderung für ihre Fortschritte und ihre praktische Bedeutung erfüllt sind. Daher genießen auch die Universitätslehrer, obwohl ihr Einkommen nach englischer Berechnung nicht groß ist, ein so hohes soziales Ansehen („a position of great dignity"). Alles das vermissen die Kritiker an den englischen Universitäten, wenn sie ihre Beurteilungsmaßstäbe an deutschen Universitäten gewinnen. Da erscheinen ihnen ihre alten Universitäten als bloße Höhere Schulen, als Hauts Lycées. Das Examen, mit dem der Grad des Bakkalaureus erworben wird (The examination for the degree of 'bachelor of arts), das nach dreijährigem Studium, also in England in der Regel am Ende der akademischen Studien abgelegt wird, ist in ihren Augen nichts mehr als das deutsche Abiturientenexamen, das in Deutschland vor dem Beginn der Universitätsstudien bestanden sein muß (145). Im Vergleich mit der deutschen Universität wird ihnen auch klar, daß die Wissenschaften in England keine große Rolle spielen, daß die englischen Universitäten überhaupt nicht als Einrichtung zur Förderung der Wissenschaft und zur wissenschaftlichen Ausbildung des Studierenden, sondern als Stätten der Erziehung, als Institute zur Verwirklichung des Gentlemanideals angesehen werden müssen. Gerade große Gelehrte gehörten in England oft keinem Universitätslehrkörper an. Im englischen Volk genießen die Wissenschaft und ihre Vertreter nicht das Ansehen wie in Deutschland, und die Aufgaben des nationalen Lebens werden in der Regel nicht „scientifically", nicht mit wissenschaftlichen (146) Methoden in Angriff genommen. Der Mangel an wissenschaftlichem Leben innerhalb des Rahmens der englischen Universität wird lebhaft beklagt und Abhilfe gefordert. „The want of the idea of science, of systematic knowledge is, as I have said again and again, the capital want, at this moment, of English education and English life; it is the university, or the superior school, which ought to foster this i d e a . . . Our great universities, Oxford and Cambridge, do next to nothing towards this end" (147). Häufig haben die Kritiker der Universitäten und die Vertreter ihrer Reform in Deutschland studiert und wissen aus eigener Erfahrung, welche Bedeutung für ihre wissenschaftliche Ausbildung die Arbeit unter der Führung eines tüchtigen Hochschullehrers und das deutsche Universitätsseminar hatte. Und es war naheliegend, daß sie es beklagten, daß die gleiche Ausbildung nicht auch in England erworben werden konnte, daß der junge begabte Engländer, der sie zu erwerben wünschte, gezwungen war, ins 'Ausland zu gehen, etwa nach Heidelberg oder Berlin, „because England cannot give him what he wants" (148). Um die englische Universität für diese Aufgabe zu befähigen, werden mit Berufung auf das deutsche Vorbild einige Forderungen immer wieder und eindringlich erhoben. Das Wichtigste ist in ihren Augen, daß die englische Universität den Charakter einer bloßen Erziehungsanstalt aufgibt und sich, wie die deutsche, mit dem Geiste der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Forschung erfüllt.
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Die Universität „must first be made a seat of science and learning" (149). Um das zu erreichen, muß der Universitätslehrer Forscher und Lehrer (a leamer and teadier) zugleich sein. „No teacher who is teacher only, and not himself a daily Student" (150). Die Idee von dem notwendigen Zusammenhang, von dem Aufeinanderangewiesensein von Forschung und Lehre, die in der deutschen Universitätsideologie des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle spielt, wird langsam übernommen. Statt der Erziehung werden jetzt andere Funktionen der Universität betont, die durch die drei Begriffe Teaching, learning und research bezeichnet werden (151). Die Universität soll Wissen übermitteln (teaching), soll Möglichkeiten bieten, Wissen selbständig zu erwerben (learning) und die Grenzen des Wissens erweitern, das bereits vorhandene Wissen durch neue Ergebnisse bereichem (research). Die Frage nach der Rangordnung dieser Aufgaben wird von den Reformern verschieden beantwortet, gefordert werden sie aber von allen. Matthew Arnold war der erste, der die Ermutigung der Forschung mit Berufung auf das deutsche Vorbild forderte; er war der Pionier dieser Forderung, wie sie dann auch von Lord Curzon und Pattison und Jowett vertreten und allmählich verwirklicht wurde, indem instruction u n d research, Lehre u n d Forschung als die Aufgaben der Universität angesehen wurden (152). Daher wurde immer wieder eine dem deutschen Universitätsseminar ähnliche Einrichtung für die englischen Universitäten verlangt. Es fehlte auch nicht an Versuchen ihrer Einführung. Aber noch 1923 sagte ein Kenner englischer Universitätsverhältnisse „keine von den englischen Universitäten, am wenigsten London und die Universitäten der Provinz, haben sich soweit entwickelt, daß sie diese wichtige Wahrheit (Notwendigkeit von Universitätsseminaren) voll und ganz einsehen" (153). Das deutsche Beispiel hatte den Reformern gezeigt, daß die fruchtbare Verbindung von Forschung und Lehre auf die Dauer nur gedeiht im Räume der Freiheit, und wenn ein Weg gefunden wird, der den wissenschaftlichen Nachwuchs sichert. Auf die Lehr- und Lernfreiheit der deutschen Universität wird zwar von den Reformern mehrfach hingewiesen, aber sie ist weniger Gegenstand ihrer Forderung als die wissenschaftliche Forschung. Matthew Arnold vergleicht in diesen beiden Beziehungen die englischen, französischen und deutschen Universitäten. Er behauptet, die französischen Universitäten mit ihren ministeriellen Anforderungen an jeden Universitätslehrer und seinen Unterricht würden stark beeindruckt durch die Freiheit der deutschen Universitäten, und es wäre notwendig, daß sie davon auch etwas entlehnten. Den englischen Universitäten seien ministerielle Anforderungen an den Universitätslehrer und ministerielle Vorschriften für ihre Lehrtätigkeit unbekannt. Sie würden am meisten durch die Geltung der Wissenschaft und der Forschung an der deutschen Universität beeindruckt und hätten davon zu lernen. „The French University has no liberty, and the English universities have no science; the German universities have both" (154). Die wissenschaftliche Nachwuchsfrage scheint den Reformern an den deut20*
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¿dhen Universitäten insbesondere durdi die Einrichtung der Privatdozentur in vorbildlicher Weise gesichert. Die Lehrkörper der englischen Universitäten haben zwar in den füll professors und in den professors extraordinary, wie die französischen in den professeurs titulaires und den professeurs suppléants, das Gegenstück zu dem ordentlichen und außerordentlichen Professor der deutschen Universität. Aber der Privatdozent ist eine deutsche Besonderheit und nach den Worten von Matthew Arnold „the great source of vigour and rénovation to her superior instruction" (155). Die Reformer traten daher häufig für die Schaffung einer ähnlichen Einrichtung an den englischen Universitäten ein. Auch bei anderen Reformvorschlägen betreffend die äußere und innere Organisation der englischen Universitäten ist das Vorbild der deutschen Universitäten v6n Einfluß gewesen, wenn auch vielleicht erst auf dem Wege über USA., z. B. bei dem Vorschlag zur Bildung von Fakultäten mit dem Recht des Vorschlags neuer Professuren und einem Dekan an der Spitze; bei der Forderung, daß die Studenten sich bei der Universität und nicht im College immatrikulieren und auch wirklich oder mehr, als es bisher Sitte war, Vorlesungen hören sollten; bei der Anempfehlung der Einführung des philosophischen Doktors. Auch bei den Anregungen zur Verbreiterung des Wirkungsbereiches der alten Universitäten berief man sich auf Deutschland mit seiner großen Zahl von Studenten aus allen Bevölkerungsschichten, während die Studenten der alten Universitäten in England fast ausschließlich aus den höheren sozialen Schichten kamen und ihre Zahl verhältnismäßig gering war. 1865 hatte z. B. England 20 Millionen Einwohner und etwa 3500 immatrikulierte Studenten. Preußen dagegen bei 18500000 Einwohnern 6362 (156). Das wirkliche Übergewicht des damaligen Preußen war aber noch viel größer, als in diesen Zahlen ausgedrückt wird, weil die große Majorität der 3500 englischen Studenten weit hinter dem Standard der deutschen zurückstand, mehr den deutschen Primanern als den deutschen Universitätsstudenten glich. Alle diese und noch manche andere hier nicht berührte Reformforderungen wurden nur ganz allmählich verwirklicht oder entbehren sogar heute noch der Verwirklichung, so daß das deutsche Vorbild praktisch lange nicht so wirksam wurde, als man nach seiner theoretischen Bewertung hätte annehmen können. Oxford und Cambridge sind nicht „Pflanzschulen des freien Denkens und Forschungsstätten geworden, sondern Bollwerke des englischen Kulturgeistes geblieben" (157). Erst gegen Ende des 19. und im 20. Jahrhundert wurden zuerst in Cambridge, später auch in Oxford „naturwissenschaftliche Laboratorien und Lehrstühle gegründet, die den Vergleich mit deutschen Leistungen durchaus vertragen" (158). Während des Krieges (1914—18), als sich die Möglichkeit ergab, Ausländer an englische Universitäten zu ziehen, die bisher nach Deutschland zu gehen pflegten, hat man auch den philosophischen Doktorgrad eingeführt, um Arbeit dieser Art zu belohnen (159). Aber noch 1923 beurteilt Dibelius das Erreichte verhältnismäßig ungünstig, wenn er erklärt, „daß der Durchschnitt wissenschaftlicher Arbeit bis308
her noch viel zu elementar und schulmäßig ist, daß die Ansätze zu neuem wissenschaftlichem Leben zwar überall da, aber bisher nur unvollkommen ausgebildet sind. Es fehlt das Seminar, das eine Tradition entwickelt mit seiner Spezialbibliothek" (160). Wie erklärt sich diese verhältnismäßig geringe und langsame Wirkung des so oft beschworenen Beispiels der deutschen Universität, obwohl der Engländer der Kritik, die im lebendigen Vorbild liegt, noch eher bereit ist Rechnung zu tragen als theoretischen Beanstandungen-. (161) Sie erklärt sich 1. zum Teil aus der Eigenart des englischen Volkscharakters, aus seinem Konservatismus, der, wie Dibelius einmal sagt, die Reform einer Einrichtung erst zuläßt, wenn „das Alte zu einem völligen Chaos geworden sei" (162). 1. Ferner aus der Neigung des Engländers zum Handgreiflichen und Praktischen, seiner geringen Beachtung der Theorie und aus seinen schwachen wissenschaftlichen Interessen. Deutsche wissenschaftliche Bücher hatten von jeher viel mehr Aussicht, ins Französische als ins Englische übersetzt zu werden (163). 3. Ungünstig für die Durchführung von Reformen war auch, daß der Engländer dazu keine staatlichen Machtmittel in Anspruch nahm. Das hätte dem englischen Individualismus und Freiheitsbewußtsein widersprochen. Pädagogische Reformen suchte man ausschließlich oder wenigstens in erster Linie durdi Privatinitiative durchzuführen. In der gleidien Zeit, da in England „die Nichteinmischung höchstes Ziel der Staatsweisheit" ist, greift in Deutschland die Regierung immer schärfer in die Universitätsentwicklung ein, gründet Lehrstühle und „schafft schließlich besondere Lehrgänge und Staatsprüfungen für Mediziner, Theologen, Juristen und Philologen. Alle diese Dinge haben in England gar kein Gegenstück" (164). 4. Dazu kommt, daß die deutsche Sprache auch in der englischen Bildungsschicht wenig gekonnt war und daher deutsche pädagogische Literatur, also auch Schriften über die deutsche Universitätsideologie, in England kaum gelesen werden konnten. Aber auch die einschlägige Literatur in englischer Sprache wurde anscheinend wenig beachtet, wie sich aus den Klagen der Reformer gelegentlich ergibt. 1839 noch schreibt A. Huber bei seiner Darstellung der englischen Universitäten (165): „Bis die Engländer etwas mehr Deutsch lernen, bis ihnen wenigstens die sprachliche Möglichkeit eröffnet ist, zu erkennen, was deutsche Wissenschaft ist und bedeutet" ermangeln sie „aller und jeder Competenz zu einem vergleichenden und übersichtlichen Urtheile und der daraus zu schöpfenden Selbsterkenntnis". 5. übrigens waren die Engländer im allgemeinen überhaupt wenig geneigt, etwas von den Deutschen zu übernehmen, von ihnen zu lernen. Noch im 18. Jahrhundert hatte man dort mit Bonhours zweifelnd die Frage erörtert, ob ein Deutscher überhaupt Geist haben könne. Es gelang zwar schottischen und englischen Freunden der deutschen Literatur, unter den englischen Gebildeten einiges Interesse für die deutschen Klassiker zu wecken; „aber schon 1798 ging von London eine Reaktion aus, die alle deutsche Poesie entweder für müßige
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diablerie oder für gefährliches Jakobinertum erklärte, und die englischen Dichter, die sich trotzdem unserem Einfluß ergaben, Byron und Shelley, hatten ins Exil zu wandern". Huber hebt an der obengenannten Stelle hervor, daß die Engländer damals sogar in „Ausdrücken roher Geringschätzung" über die deutschen Universitäten und die deutsche Wissenschaft gesprochen und den Deutschen wegen ihres Fleißes, dem sie neben ihrer Liebe zur Sache ihre Erfolge verdankten, den verächtlichen Ehrentitel „the plodding German" gegeben hätten. Unsere Flüchtlinge von 1848 gewannen uns zwar für einige Zeit Sympathien, aber Sympathien eines Mitleids, das wehe tat; erst auf den Aufschwung von 1870 folgten alsbald die Sympathien der Achtung (166). In den Zeiten der gegensätzlichen Einstellung griff man auch wohl den Reformer, der auf deutsche Vorbilder hinwies, an und erklärte ihn für „in alles Deutsche verliebt". 6. Erschwert bzw. verhindert wurde die breitere Aufnahme der Reformvorschläge ferner dadurch, daß auch die Verteidiger des Alten sich hin und wieder publizisti