Geistliches Erzählen: Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters 3110400421, 9783110400427, 9783110400816

Die Untersuchung befasst sich mit dem bisher in der Forschung wenig beachteten Texttyp der geistlichen Verserzählungen.

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Geistliches Erzählen: Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters
 3110400421, 9783110400427, 9783110400816

Table of contents :
Vorwort v
Einleitung 1
I. Methodische Grundlagen 5
1. Kleinepikforschung 5
2. Texttypologie 12
II. Der Texttyp im literarischen Umfeld 34
1. Geistliche Thematik 34
2. Narration 69
3. Metrische Form 81
4. Umfang 84
III. Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 88
1. Der literarische und kulturelle Referenzrahmen 88
2. Geistliche Erzählstoffe in lateinischen Exempelsammlungen und volkssprachigen Verserzählungen 94
3. Frühe Formen geistlichen Erzählens in der Volkssprache 131
4. Geistliches Erzählen zur Zeit der Etablierung des Texttyps: Konzeptionelle und ästhetische Integrationsmodelle 139
IV. Konsolidierung des Texttyps in der Überlieferung und diachroner Wandel im 14./15. Jahrhundert 193
1. Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp für die Überlieferung geistlicher Verserzählungen 195
2. Stoffverwandte Erzählungen als Indikatoren für den diachronen Wandel des Texttyps 228
3. Zusammenfassung 264
V. Überlieferungskontexte 1: Das Beispiel des 'Königs im Bad' 267
1. 'Der König im Bad' in seinem literarischen Referenzrahmen 268
2. Die Überlieferung eines 'Bestsellers' 280
3. Ein Vergleichsbeispiel: Schondochs 'Königin von Frankreich' 333
4. Zusammenfassung 341
VI. Überlieferungskontexte 2: Das Beispiel des 'Zwölfjährigen Mönchleins' 343
1. Das 'Zwölfjährige Mönchlein' in seinem literarischen Referenzrahmen 344
2. Ein Vergleichsbeispiel: 'Die Sultanstochter im Blumengarten' 370
3. Ein weiteres Vergleichsbeispiel: 'Der Ritter in der Kapelle' 382
4. Zusammenfassung 403
VII. Überlieferungskontexte 3: Das Beispiel der 'Zwei Sankt Johannsen' Heinzelins von Konstanz 404
1. Heinzelins 'Zwei Sankt Johannsen' in ihrem literarischen und kulturellen Referenzrahmen 405
2. Vergleichsbeispiele: 'Die Vorauer Novelle' und 'Der Zweifler' 427
3. Geistliche Erzählungen im Umfeld von juristischen Texten 437
4. Geistliches Erzählen in einem klerikal-gelehrten Umfeld im 15. Jahrhundert 446
5. Zusammenfassung 455
VIII. Späte Ausläufer des Texttyps (15./16. Jahrhundert) 457
1. 'Ritter Gottfried' als typischer Vertreter der späten Phase 457
2. Ein Vergleichsbeispiel: Hans Folz' 'Der Pfarrer im Ätna' 470
3. Ein weiteres Vergleichsbeispiel: 'Bruder Rausch' 476
4. Zusammenfassung 481
IX. Peripherie des Texttyps: Alternative Formen 483
1. Geistliches Erzählen in Prosa 484
2. Geistliches Erzählen in Meisterliedern 520
3. Geistliches Erzählen im Drama 528
4. Einbettung in Großtexte 529
5. Zwischen Text und Bild 539
6. Zusammenfassung 548
Schluss 550
Literaturverzeichnis und editorische Hinweise 558
Register 603
Abbildungen 621

Citation preview

Nicole Eichenberger Geistliches Erzählen

Hermaea

Germanistische Forschungen Neue Folge Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller

Band 136

Nicole Eichenberger

Geistliches Erzählen Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters

DE GRUYTER

Veröffentlicht mit Unterstützung des Mediävistischen Instituts und des Forschungsfonds der Universität Freiburg Schweiz sowie des Hochschulrates Freiburg Schweiz.

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 4.0 License. For details go to http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/.

ISBN 978-3-11-040042-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040081-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040085-4 ISSN 0440-7164 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: Pagina GmbH, Tübingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im September 2012 von der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) angenommen und mit dem Joseph Vigener-Preis 2013 ausgezeichnet wurde. 2014 wurde ihr der Zeno Karl Schindler-Preis für deutsche Literaturwissenschaft zugesprochen. Während der Entstehung dieser Arbeit habe ich von vielen Seiten wertvolle Anregungen und Hilfe erfahren, für die ich mich hier bedanken möchte. An erster Stelle gilt der Dank meinem Doktorvater, Eckart Conrad Lutz, der nicht nur meine Begeisterung für die Mediävistik im Allgemeinen und für geistliche Verserzählungen im Besonderen geweckt und diese Arbeit angeregt, sondern auch die Entstehung der Dissertation mit viel Engagement, Geduld und fachkundiger Unterstützung begleitet hat. Für Hinweise zur Konzeption und zu zahlreichen weiteren Aspekten der Arbeit danke ich außerdem meinem Zweitbetreuer und -gutachter, Nigel F. Palmer (Oxford). Der Austausch mit Franz-Josef Holznagel (Rostock), der mir seine Habilitationsschrift im Manuskript zugänglich machte und mir Gelegenheit gab, in Rostock die Konzeption meiner Dissertation vorzustellen und zu diskutieren, hat ebenfalls viel zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Wiederholt konnte ich Zwischenergebnisse bei den Internationalen Graduiertentreffen der Universitäten Oxford – Freiburg i.Br. – Freiburg Schweiz – Genf präsentieren und zur Diskussion stellen. Für das interessierte Zuhören und die konstruktive Kritik bin ich allen Teilnehmer/innen dieser Treffen dankbar. Besonders wertvolles Feedback auf einzelne Kapitel meiner Arbeit erhielt ich von Almut Suerbaum (Oxford) und Monika Studer (jetzt Basel). Die ersten drei Jahre meiner Promotionszeit verbrachte ich an der Universität Freiburg, zunächst als Mitarbeiterin im Teilprojekt B.2 »Texte und Bilder – Bildung und Gespräch. Mediale Bedingungen und funktionale Interferenzen« des Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) »Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven« (Universität Zürich), dann als Assistentin am Lehrstuhl von Eckart Conrad Lutz. Die Verbindung von Freiräumen für die Arbeit an der Dissertation und der Gelegenheit, in der akademischen Lehre tätig zu sein, war in jeder Hinsicht motivierend und förderlich für das Fortschreiten der Arbeit, nicht zuletzt auch aufgrund des wissenschaftlichen und freundschaftlichen Austauschs mit meinen Freiburger Kollegen und Kolleginnen, besonders Armin Brülhart, der in den Anfängen meiner Arbeit immer ein offenes Ohr für meine Fragen und Probleme hatte, und Vera Jerjen, die Teile der Dissertation Korrektur gelesen hat. In den Jahren 2010/2011 konnte ich meine Arbeit mit einem Stipendium für angehende Forschende des Schweizerischen Nationalfonds am Handschriften-

VI | Vorwort zentrum der Universitätsbibliothek Leipzig fortsetzen. Für die freundliche Aufnahme, die Bereitschaft, sich mit meinem Thema auseinanderzusetzen und für interessante Gespräche über einzelne Texte und Handschriften danke ich dem Leiter des Handschriftenzentrums, Christoph Mackert, sowie den Mitarbeiter/innen Almuth Märker, Matthias Eifler und Werner Hoffmann. Ein dreimonatiger Forschungsaufenthalt an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Anfang 2012 ermöglichte mir sowohl die intensive Auseinandersetzung mit Handschriften aus ihren Beständen als auch die konzentrierte Arbeit an der Fertigstellung der Dissertation. Der Dr. Günther Findel-Stiftung bin ich für die Gewährung des Doktorandenstipendiums, Christian Heitzmann und Jill Bepler für die Betreuung während meines Aufenthaltes zu Dank verpflichtet. Ein besonderer Dank gebührt auch den Handschriftenabteilungen und Sondersammlungen der Bibliotheken, die mir auf verschiedenen kürzeren Handschriftenreisen ihre Bestände zugänglich gemacht haben: der Universitätsbibliothek Augsburg, der Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Burgerbibliothek Bern, der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, der Bayerischen Staatsbibliothek München, dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, der Stadtbibliothek Schaffhausen, der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar und der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Zahlreichen weiteren Bibliotheken in Deutschland, England, Frankreich, Italien, Österreich, der Schweiz, Tschechien und Ungarn verdanke ich die Bereitstellung von Reproduktionen und Auskünfte. Die in der Untersuchung enthaltenen Übersetzungen lateinischer Texte stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir. Bei schwierigen Übersetzungsfragen konnte ich auf die Hilfe von Almuth Märker, Matthias Eifler (beide Leipzig) und Simon Kistler (Bern) zurückgreifen. Schließlich möchte ich meiner Familie und meinen Freunden für ihre Anteilnahme am Entstehen der Arbeit danken, besonders meinem Mann Marcus Eichenberger-Liwicki, der nicht nur die Lektüre der Arbeit und endlose kontroverse Diskussionen auf sich genommen, sondern mich auch in den strapaziöseren Arbeitsphasen immer geduldig und ermunternd begleitet hat. Ihm sei dieses Buch gewidmet. Für die Aufnahme in die Reihe ›Hermaea‹ danke ich deren Herausgebern Stephan Müller und Christine Lubkoll. Finanzielle Beihilfe zur Publikation habe ich dem Mediävistischen Institut, dem Forschungsfonds sowie dem Hochschulrat der Universität Freiburg Schweiz zu verdanken. Freiburg, am 6. November 2014

Nicole Eichenberger

Inhalt Vorwort | V Einleitung | 1

I

Methodische Grundlagen | 5

1 1.1 1.2

Kleinepikforschung | 5 Überblick | 5 Behandlung der geistlichen Kleinepik in der Forschung | 8

2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3

Texttypologie | 12 Allgemeine Gattungstheorie | 12 Gattungstheoretische Diskussion zur Kleinepik | 14 Fischers ›Studien zur deutschen Märendichtung‹ | 14 Reaktionen auf Fischer und alternative Modelle | 19 Entwurf eines Beschreibungsmodells für den Texttyp der geistlichen Verserzählung | 23 Texttypologische Konzeption | 23 Skizze des Beschreibungsmodells | 28

2.3.1 2.3.2

II

Der Texttyp im literarischen Umfeld | 34

1.5 1.6

Geistliche Thematik | 34 Erzählen von transzendenten Figuren | 38 Erzählen von allegorischen Figuren | 47 Geistliche Deutung ex post | 48 Diskursive Vermittlung religiöser Inhalte in narrativem Rahmen | 52 Parodistischer Umgang mit religiösen Inhalten | 54 Marginale religiöse Elemente | 67

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Narration | 69 Verserzählungen | 71 Bispel und zweiteilige Gleichnisreden | 75 Allegorien | 76 Reden und Dialoggedichte | 79

1 1.1 1.2 1.3 1.4

VIII | Inhalt 3

Metrische Form | 81

4

Umfang | 84

III

Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 | 88

1 1.1 1.2

Der literarische und kulturelle Referenzrahmen | 88 Textinterne Aussagen über Entstehungssituationen | 89 Tradierung von Erzählstoffen | 92

2

Geistliche Erzählstoffe in lateinischen Exempelsammlungen und volkssprachigen Verserzählungen | 94 Lateinische Exempelsammlungen in monastischen und laikalen Lebenswelten | 94 Das klösterliche Leben als Orientierungsrahmen: Zisterziensische Sammlungen des 12./13. Jahrhunderts | 94 Die Laiendidaxe als Aufgabe: Predigtexempel-Sammlungen des 13.–15. Jahrhunderts | 96 Konzeptionelle und ästhetische Unterschiede zwischen lateinischen Exempla und volkssprachigen Verserzählungen | 97 Zwischen Reminiszenz und Quelle: Stoffverwandte lateinische und volkssprachige Erzählungen | 98 Direkte Bezugnahme und selektive Übertragung: ›Der einfältige Pfarrer‹ | 99 Enge Verwandtschaft ohne direkte Bezugnahme: Siegfrieds des Dörfers ›Frauentrost‹ | 103 Verschiedene Ausformungen eines Erzählstoffs: ›Marien Rosenkranz‹ | 109 Kombinationen verschiedener Erzählstoffe: ›Der verlorene Sohn‹ und ›Zeno‹ | 112 Zusammenwirken von Bild- und Texttradition: ›Der Welt Lohn‹ | 125 Exkurs: Weltliche Verserzählungen und lateinische Literatur | 129

2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.4 3 3.1 3.2

Frühe Formen geistlichen Erzählens in der Volkssprache | 131 Biblische Figuren als Helden: ›Die altdeutsche Genesis‹ | 132 Zwischen Kriegerideal und heilsgeschichtlicher Rolle: Holofernes als problematischer Held in der ›Älteren Judith‹ und der ›Jüngeren Judith‹ | 133

Inhalt

3.3 3.4 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4

IV

1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4

| IX

Der Heilige und die Weltkinder: Veldekes ›Servatius‹ und der ›Oberdeutsche Servatius‹ | 135 Die Kaiserin Crescentia als Idealfigur | 137 Geistliches Erzählen zur Zeit der Etablierung des Texttyps: Konzeptionelle und ästhetische Integrationsmodelle | 139 Harmonisierung von weltlicher und religiöser Sphäre | 141 Konrad von Fußesbrunnen und Konrad von Heimesfurt | 141 Hartmann von Aue: ›Der arme Heinrich‹ und ›Gregorius‹ | 149 ›Vorauer Novelle‹ | 157 Das ›Jüdel‹ | 162 Bewältigung der Unvereinbarkeit von religiöser und weltlicher Sphäre durch ideale Lebensentwürfe und göttliche Gnade | 166 Rudolf von Ems: ›Der gute Gerhard‹ | 166 Reinbot von Durne: ›Der heilige Georg‹ | 167 ›Bonus‹ und die Münchner Marienmirakel-Fragmente | 169 Das ›Passional‹ | 176 Bewältigung der Unvereinbarkeit von religiöser und weltlicher Sphäre durch Klugheit: Der Stricker | 178 Bewältigung der Unvereinbarkeit von religiöser und weltlicher Sphäre durch Rückzug aus der Welt | 184 ›Die gute Frau‹ | 184 Rudolf von Ems: ›Barlaam und Josaphat‹ | 186 Hermann von Veldenz: ›Jolande von Vianden‹ | 188 Konrad von Würzburg: ›Der Welt Lohn‹ | 190

Konsolidierung des Texttyps in der Überlieferung und diachroner Wandel im 14./15. Jahrhundert | 193 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp für die Überlieferung geistlicher Verserzählungen | 195 Zum Stellenwert geistlicher Verserzählungen in den erhaltenen Kleinepiksammlungen | 195 Die Handschrift A: Die älteste erhaltene Kleinepiksammlung | 195 Die Handschriften HKk: Repräsentative Kompendien | 196 Die Handschriften MV: Kleinepiksammlungen als Andachtsbücher? | 201 Die Handschriften WC: Rudolfs ›Barlaam‹ und eine geistliche Stricker-Sammlung | 203

X | Inhalt 1.1.5 1.1.6 1.1.7 1.1.8 1.1.9 1.1.10 1.1.11 1.1.12 1.1.13 1.1.14 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2

2.3

3

Die Handschriften RaaQ: Kleinepik als Mitüberlieferung von Rudolfs ›Barlaam‹ | 204 Die Handschrift N: Eine geistliche Stricker-Sammlung | 205 Die ›Würzburger Kleinepiksammlung‹ | 205 Die Handschrift p: Minneerzählungen und Marienmirakel | 206 Die Handschrift E: Kleinepik im Rahmen des Hausbuchs Michaels de Leone | 206 Die Handschriften BI und D: Kleinepiksammlungen mit weltlichem Profil | 207 Die Handschrift a: Geistliche Erzählungen als Nachtrag zu großepischen Texten | 208 Die verschollene Klosterneuburger Handschrift: Geistliche Allegorie und Narration | 209 Die Handschrift c: Eine Kleinepiksammlung des 15. Jahrhunderts mit weltlichem Profil | 214 Die Handschriften Lh: Kleinepiksammlungen mit Reden-Schwerpunkt | 216 Sammelinteressen, Ausstattungsprofile, Rezeptionskontexte | 217 Textverbünde und Sammelinteressen | 217 Sammelinteressen als Indizien für Rezeptionskontexte | 219 Ausstattungsprofile als Indizien für Rezeptionskontexte | 222 Stoffverwandte Erzählungen als Indikatoren für den diachronen Wandel des Texttyps | 228 Jüngere (Kurz-)Fassungen älterer Erzählungen | 228 ›Mönch Felix‹ | 228 ›Thomas von Kandelberg‹ | 231 ›Der Teufel als Kämmerer‹ | 233 Unabhängige Bearbeitungen eines Stoffes aus verschiedenen Jahrhunderten: ›Unser Frauen Ritter‹ und ›Von dem armen Ritter‹ | 234 Die Geschichte vom Teufelsbündler als Paradigma für die Komplexität des literarischen Referenzrahmens | 240 Zusammenfassung | 264

Inhalt

V

1 1.1

1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.2 2.2.1 2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.6

2.6.1

| XI

Überlieferungskontexte 1: Das Beispiel des ›Königs im Bad‹ | 267 ›Der König im Bad‹ in seinem literarischen Referenzrahmen | 268 Moraldidaktisches Exempel und geistliches Erzählen als Minnedienst: Die beiden Verserzählungen ›Der König im Bad‹ und Herrands von Wildonie ›Der nackte Kaiser‹ | 268 Rezeptionszeugnisse: Spätere Bearbeitungen des ›Königs im Bad‹ | 273 Hans Rosenplüts ›König im Bad‹ | 273 ›König im Bad‹-Meisterlied | 275 Deutsche Prosafassungen des Erzählstoffs | 276 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹ | 280 Kleinepiksammlungen | 280 Handschriften des 14. Jahrhunderts | 280 Fragmente | 282 Handschriften des späten 14. und 15. Jahrhunderts | 283 Autorzentrierte Sammlungen | 285 Indirekt bezeugte Handschriften | 286 Literarische Sammelhandschriften | 287 Die Handschrift h: Artusroman und Historie | 287 Die Handschrift o: Reiseliteratur und Herrscherdidaxe | 291 Exkurs: Geistliche Verserzählungen in niederdeutschen literarischen Sammelhandschriften | 294 ›Der verlorene Sohn‹ in der Stockholmer Sammlung | 295 ›Zeno‹ in der Wolfenbütteler Sammlung | 299 Hausbuch: Literarische und lokalhistorische Interessen in Ulrich Mostls Handschrift | 300 Handschriften mit geistlichem Profil | 306 Die Handschrift i: Exemplarisches Erzählen in Prosa und Versen | 307 Die Handschriften pa: Funktionalisierung narrativer Texte im Kontext von Traktatliteratur | 308 Die Handschriften rs: Erbauliche Kompendien | 312 Exkurs: Die gereimte oberrheinische Erbauungsbuch-Kompilation als besondere Ausprägung des Handschriftentyps ›Erbauungsbuch‹ | 317 Texte und Textzeugen | 318

XII | Inhalt 2.6.2

2.7 3

Geistliche Verserzählungen in der ›Oberrheinischen Erbauungsbuchkompilation‹ zwischen Selbständigkeit und Integration | 324 Drucke des ›Königs im Bad‹ | 330

3.3

Ein Vergleichsbeispiel: Schondochs ›Königin von Frankreich‹ | 333 Das Idealbild einer demütigen und standhaften Ehefrau | 333 Geistliche Überlieferungskontexte der ›Königin von Frankreich‹ | 334 Bildzeugnisse zur ›Königin von Frankreich‹ | 340

4

Zusammenfassung | 341

3.1 3.2

VI

1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2

Überlieferungskontexte 2: Das Beispiel des ›Zwölfjährigen Mönchleins‹ | 343 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ in seinem literarischen Referenzrahmen | 344 Monastische und laikale Lebenswelten im ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ | 344 Ausformungen des Motivs von der Erscheinung des Jesuskindes | 347 Literarische Zeugnisse | 347 Bildende Kunst und Frömmigkeitspraxis | 354 Exkurs: Naivität als Ideal | 355 Nachtrag und Tischlektüre: Überlieferungskontexte des ›Mönchleins‹ | 359 Die Handschrift S | 359 Die Handschrift F | 360 Ein Vergleichsbeispiel: ›Die Sultanstochter im Blumengarten‹ | 370 Von der Heidin zur vorbildlichen Äbtissin | 370 Ausformungen des Erzählstoffs von der bekehrten Heidin | 374 Überlieferungskontexte der ›Sultanstochter‹ | 375 Die Handschrift B | 375 Die Handschrift E | 379

Inhalt

3 3.1

|

XIII

3.2.1 3.2.2 3.2.3

Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹ | 382 Der Erzählstoff vom Bußunwilligen und die Frage nach der angemessenen Buße | 382 Textgeschichte und Überlieferungskontexte des ›Ritters in der Kapelle‹ | 392 Zum Verhältnis der Textzeugen | 392 Handschriften mit Rosenplüt-Überlieferung | 393 Handschriften mit geistlichem Profil | 396

4

Zusammenfassung | 403

3.2

VII

1 1.1 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 1.4.1 1.4.2 2 2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3

Überlieferungskontexte 3: Das Beispiel der ›Zwei Sankt Johannsen‹ Heinzelins von Konstanz | 404 Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹ in ihrem literarischen und kulturellen Referenzrahmen | 405 Diskurs und Narration in Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹ | 405 Entstehungsumfeld: Der Hof Albrechts von Hohenberg | 407 Ausformungen des Erzählstoffs vom Streit um den Vorrang eines Heiligen | 409 Lateinische Exempelliteratur und historische Nachrichten | 409 Francos von Meschede ›Altercatio de utroque Iohanne Baptista et Evangelista‹ | 411 Die ›Zwei Sankt Johannsen‹ in Handschriften mit gelehrtem Anspruch | 417 Die Handschriften Michaels de Leone | 417 Die Berner Handschrift | 421 Vergleichsbeispiele: ›Die Vorauer Novelle‹ und ›Der Zweifler‹ | 427 Die ›Vorauer Novelle‹ als Mitüberlieferung zisterziensischer Predigten | 427 Der ›Zweifler‹ als Leseanweisung für den Psalter? | 430 Geistliche Erzählungen im Umfeld von juristischen Texten | 437 Eine didaktische Kleinepiksammlung als Anhang zum ›Sachsenspiegel‹ | 438 Das Verhältnis der Handschrift zu den Kleinepiksammlungen HK | 440 Ein gelehrter Rezipient der Handschrift | 443

XIV | Inhalt 4

4.2.1 4.2.2 4.2.3

Geistliches Erzählen in einem klerikal-gelehrten Umfeld im 15. Jahrhundert | 446 Die Handschrift des Augustinerchorherrn Johannes Grundemann | 446 Volkssprachige geistliche Erzählungen in Grundemanns Handschrift | 448 ›Von der werlde ythelkeyt‹ und ›Visio Philiberti‹ | 448 ›Crescentia‹ | 450 ›Hildegund von Schönau‹ | 452

5

Zusammenfassung | 455

4.1 4.2

VIII

Späte Ausläufer des Texttyps (15./16. Jahrhundert) | 457

1 1.1 1.2

›Ritter Gottfried‹ als typischer Vertreter der späten Phase | 457 ›Ritter Gottfried‹ in seinem literarischen Referenzrahmen | 457 Überlieferung im Druck | 466

2 2.1 2.2 2.3

Ein Vergleichsbeispiel: Hans Folz’ ›Der Pfarrer im Ätna‹ | 470 Die Jenseitsreise eines aufmüpfigen Pfarrers | 470 Hans Folz als Drucker und Verleger der eigenen Werke | 472 Drucke des ›Pfarrers im Ätna‹ | 474

3 3.1 3.2

Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Bruder Rausch‹ | 476 Der Erzählstoff vom Teufel im Kloster zwischen Didaxe und Parodie | 476 Überlieferung im Druck | 479

4

Zusammenfassung | 481

IX 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3

Peripherie des Texttyps: Alternative Formen | 483 Geistliches Erzählen in Prosa | 484 Aufkommen und Verbreitung geistlicher Prosaerzählungen | 484 Unterschiedliche Akzentsetzungen in stoffverwandten Vers- und Prosaerzählungen | 486 ›Maria im Turnier‹ | 492 ›Jesuskind als Geisel‹ | 495 ›Der Teufel als Kämmerer‹ | 500

Inhalt

1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4

|

XV

Prosaauflösungen geistlicher Verserzählungen | 504 Die Verserzählung ›Engel und Waldbruder‹ | 505 Überlieferungskontext der Verserzählung: Eine illustrierte Sammlung geistlicher Verstexte | 507 Die Prosaauflösung von ›Engel und Waldbruder‹ | 512 Überlieferungskontext der Prosaerzählung: Ein Konvolut von handschriftlichen und gedruckten Faszikeln | 517

2 2.1 2.2

Geistliches Erzählen in Meisterliedern | 520 Der Erzählstoff vom Marienbild als Bürge/Pfand | 521 Der Erzählstoff von der unschuldig verfolgten Ehefrau | 523

3

Geistliches Erzählen im Drama | 528

4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3

Einbettung in Großtexte | 529 ›Adams Klage‹ | 531 Selbständige Fassung | 531 Interpolierte Fassung | 533 Status des interpolierten Textes innerhalb des Großtextes | 536

5 5.1 5.2 5.3

Zwischen Text und Bild | 539 Verserzählungen von der Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten | 540 Dialoggedicht-Version der ›Begegnung‹ | 543 Bild-Text-Ensembles der ›Begegnung‹ | 546

6

Zusammenfassung | 548

Schluss | 550 Literaturverzeichnis und editorische Hinweise | 558 Editorische Hinweise | 558 Abkürzungen | 558 Textausgaben und Forschungsliteratur | 560 Register | 603 Autoren, Werke und historische Personen | 603 Handschriften | 614 Drucke | 618 Abbildungen | 621

Einleitung Naivetät. Bey Ingolstadt nahm man einer armen Frau ihren einzigen Sohn zum Soldaten, und all ihr Flehen war vergebens. Endlich gieng sie alle Tage in eine gewisse Kirche zu Ingolstadt, und bat die Muter Gottes beständig um die Befreyung ihres Sohnes. Als dieß aber auch nicht half, nahm sie dem Marienbilde das Kind aus den Armen, stellte es in einen Winkel und sagte. »Nun kanst du fühlen, wie es thut, wenn man kein Kind mehr hat.« Dieß machte so viel Aufsehens, daß sie ihren Sohn wieder erhielte. ›Frauen Zimmer Calender‹ (1789)1 Die Jungfrau als Ritter Die Jungfrau Maria, welche ja als Zendelwald neben ihr saß, las dies Gebet in ihrem Herzen und war so erfreut über die fromme Dankbarkeit ihres Schützlings, daß sie Bertraden zärtlich umfing und einen Kuß auf ihre Lippen drückte, der begreiflicher Weise das holde Weib mit himmlischer Seligkeit erfüllte; denn wenn die Himmlischen einmal Zuckerzeug backen, so gerät es zur Süße. Gottfried Keller: ›Sieben Legenden‹ (1872)2

Bei diesen Texten handelt es sich gewissermaßen um späte Ausläufer geistlicher Erzähltraditionen des Mittelalters: Erbauliche Geschichten wie diejenigen vom Jesuskind als Geisel oder von Maria im Turnier waren vom späten 12. bis zum frühen 16. Jahrhundert fester Bestandteil sowohl der lateinischen Exempelliteratur als auch der volkssprachigen Kleinepik – davon zeugen die weit über hundert mittelhochdeutschen geistlichen Verserzählungen, die in diesem Zeitraum entstanden sind. Die Geschichte vom entführten Jesuskind wird in einer Verserzählung aus dem späten 13. Jahrhundert3 etwa folgendermaßen erzählt: Eine Witwe, deren einziger Sohn in Gefangenschaft gerät, bittet Maria vergebens um Hilfe und nimmt aus Verzweiflung das Jesuskind einer Marienstatue als Geisel nach Hause, bis Maria selbst den Sohn der Witwe aus dem Kerker befreit und ihr Kind zurückfordert. Die Frau gibt das Jesuskind zurück, Mutter und Sohn dienen fortan eifrig der Gottesmutter. In der Adaptation aus dem 18. Jahrhundert, die im ›Frauen Zimmer Calender‹ innerhalb einer Sammlung alphabetisch geordneter Anekdoten zu gesellschaftlichen Erscheinungen und menschlichen Charakterei-

1 Frauen Zimmer Calender auf das Jahr 1789. Zürich: bei Johann Hofmeister an der Rosengasse 1789, S. 171 f. 2 Gottfried Keller: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe (HKKA). Hrsg. von Walter Morgenthaler. Bd. 7: Das Sinngedicht. Sieben Legenden. Zürich 1998, S. 373 f. 3 ›Passional‹-Marienmirakel 5, Ausgabe: Marienlegenden aus dem Alten Passional. Hrsg. von Hans Georg Richert (ATB 64). Tübingen 1965, S. 30–35.

2 | Einleitung genschaften unter dem bezeichnenden Stichwort »Naivetät« erscheint, erfolgt die Befreiung des Sohnes auf ›natürlichem‹ Weg: Das Verhalten der Mutter ist so auffällig, dass die weltlichen Autoritäten den Sohn wieder aus dem Militärdienst entlassen. Dieser aufgeklärte Blick auf die Geschichte lässt die Handlung der Protagonistin als Einfalt erscheinen, ein Eingreifen der transzendenten Figur ist in dieser Perspektive weder denkbar noch erzählbar. Die Verserzählung von ›Maria im Turnier‹ (spätes 13. Jahrhundert)4 berichtet von einem frommen Ritter, der Maria besonders verehrt. Auf dem Weg zum Turnier tritt er in eine Kirche ein und hört eine Messe nach der andern, bis das Turnier vorüber ist – als er in die Stadt reitet, wird er zu seinem Erstaunen als Turniersieger gefeiert, denn Maria ist an seiner statt zum Turnier geritten und hat ihm den Preis errungen. Gottfried Keller hat in seiner stoffverwandten Legende daraus ein Turnier gemacht, dessen Sieger die schöne Burgherrin Bertrade heiraten soll. Maria vertritt den braven, aber etwas unentschlossenen Ritter Zendelwald, für den sie seine Nebenbuhler, Guhl den Geschwinden und Maus den Zahllosen, aus dem Sattel hebt. Bis zur Ankunft des richtigen Zendelwald erweist Maria sich nicht nur als tapferer Turnierkämpfer, sondern auch als zärtlicher Liebhaber. Aus dieser Konstellation und ihrer stilistischen Umsetzung ist bereits leicht ersichtlich, dass Keller von der Ernsthaftigkeit, die der mittelalterlichen Fassung der Mirakelgeschichte eigen ist, nicht viel übrig gelassen hat.5 Kellers ironische Brechung des Erzählstoffes kann als konsequente Fortführung einer Rationalisierungs- und Säkularisierungstendenz gesehen werden, die schon in der Kalender-Anekdote anklingt. Anhand der neuzeitlichen Adaptionen wird ex negativo das thematische und strukturelle Zentrum der mittelalterlichen Ausformungen deutlich: Sie machen die Präsenz transzendenter Figuren und ihr Eingreifen in die immanente Lebenswelt menschlicher Figuren im narrativen Raum für die Rezipienten erfahrbar und

4 ›Passional‹-Marienmirakel 4, Ausgabe: Marienlegenden (Richert), S. 26–29. 5 So schrieb Keller in einem Brief an Freiligrath am 22.4.1860: »In diesen Novellen sind unter anderem 7 christliche Legenden eingeflochten. Ich fand nämlich eine Legendensammlung v. Kosegarten in einem läppisch frömmelnden u einfältiglichen Style erzählt (von einem norddeutschen Protestanten doppelt lächerlich) in Prosa u Versen. Ich nahm 7 oder 8 Stück aus dem vergessenen Schmöcker, fing sie mit den süßlichen u heiligen Worten Kosegärtchens an und machte dann eine erotisch-weltliche Historie daraus, in welcher die Jungfrau Maria die Schutzpatronin der Heirathslustigen ist.« Keller, Sämtliche Werke. Bd. 23.2.: Sieben Legenden (Apparat 2 zu Bd. 7). Zürich 1998, S. 12 f. Zu Kellers Quellen vgl.: Die Quellen zu Gottfried Kellers Legenden nebst einem kritischen Text der ›Sieben Legenden‹ und einem Anhang. Hrsg. von Albert Leitzmann (Quellenschriften zur neueren deutschen Literatur 8). Halle/Saale 1919. Kosegarten, dessen Legenden Keller als Vorlage dienten, benutzte seinerseits hauptsächlich die lateinischen Fassungen aus der ›Legenda aurea‹ Jacobs de Voragine (um 1260), vgl. Leitzmann: Quellen, S. XIX.

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nachvollziehbar, wobei die menschlichen Figuren als Projektionsflächen für die Identifikation dienen können. Damit ermöglichen die Texte indirekt ein Erlebnis, das nach mittelalterlicher Auffassung realiter nur wenigen Auserwählten vergönnt und nach modern-aufgeklärter Auffassung überhaupt unmöglich ist, das Erlebnis der Begegnung mit der Transzendenz.6 Texte mit dieser unerhörten Konstellation und den ihr inhärenten emotionalen und didaktischen Potentialen reagieren gewiss auf eine historisch spezifische Erwartungshaltung, sind aber keineswegs bloße Dokumente naiver Heilsversicherung,7 die für einen modernen Leser erst interessant werden, wenn man sie parodiert. Bei näherer Betrachtung gewähren sie einen differenzierten Einblick nicht nur in religiöse Diskurse und Vorstellungen ihrer Entstehungszeit, sondern vor allem auch in die Möglichkeiten, diese Vorstellungen narrativ umzusetzen in einem konzeptionellen Umfeld und in ästhetischen Traditionen, die von weltlich-höfischer Literatur geprägt sind.8 Die Vermittlung religiöser Inhalte in der Volkssprache ist seit den Anfängen ein problematisches Unterfangen, dessen Status in verschiedener Hinsicht prekär ist: Auf der einen Seite muss sich diese literarische Form gegenüber einer grundsätzlichen klerikalen Skepsis rechtfertigen,9 auf der anderen Seite muss sie sich innerhalb der volkssprachigen Literatur neben älteren, genuin volkssprachigen weltlichen Erzähltraditionen etablieren. Im Gegensatz zur weltlichen Epik ist die Hybridität10 geistlicher Verserzählungen nicht erst ein Phänomen des Spät-

6 Zu diesem Begriff und seiner Geschichte vgl. Hans Vorländer: Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen: Eine Einführung in systematischer Absicht. In: Transzendenz und die Konstitution von Ordnungen. Hrsg. von Hans Vorländer. Berlin/Boston 2013, S. 1–42. 7 Diese Interpretationstendenz ist in manchen Untersuchungen zu französischen Marienmirakeln anzutreffen, etwa bei Peter-Michael Spangenberg: Maria ist immer und überall. Alltagswelten des spätmittelalterlichen Mirakels. Frankfurt a.M. 1987, bes. S. 16–24, 261–269. 8 Der Begriff ›konzeptionell‹ meint hier und im Folgenden die Gesamtheit der kulturellen und literarischen Diskurse, die die Vorstellungs- und Lebenswelt der Literaturrezipienten prägen; der Begriff ›ästhetisch‹ bezeichnet die äußere Gestalt und literarische Verfasstheit eines Textes/ Texttyps (metrische Form, Stilistik, Erzähltechnik). 9 Dies reflektieren etwa die Rechtfertigungen der Autoren in den Prologen zu geistlichen Erzählwerken, z.B. die Konrads von Heimesfurt, s. Kap. III.4.1.1. 10 Zum Begriff des Hybriden vgl. Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik. ›Willehalm von Orlens‹, ›Partonopier und Meliur‹, ›Wilhelm von Österreich‹, ›Die schöne Magelone‹ (Philologische Studien und Quellen 161). Berlin 2000. Für geistliche Erzählungen wurde der Begriff etwa in folgenden Arbeiten nutzbar gemacht: Jane Dewhurst: Generic Hybridity in Hartmann von Aue’s ›Der arme Heinrich‹. Arthurian literature 20 (2003), S. 43–84; Rainer Warning: Narrative Hybriden. Mittelalterliches Erzählen im Spannungsfeld von Mythos und Kerygma (Der arme Heinrich/Parzival). In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich/Bruno Quast (Trends in Medieval Philology 2). Berlin 2004, S. 19–34;

4 | Einleitung mittelalters,11 sondern eine inhärente Konstante dieser literarischen Form. Wie die Verfasser geistlicher Verserzählungen mit der problematischen Stellung geistlichen Erzählens zwischen dem Wahrheitsanspruch der religiösen Thematik einerseits und dem ästhetischen Anspruch der literarischen Form andererseits umgegangen sind,12 welche konzeptionellen und ästhetischen Strategien sie entwickelt haben, um Geistliches zu erzählen, variiert von Text zu Text sehr stark und muss im Einzelnen detailliert untersucht werden. In jedem Fall handelt es sich dabei aber um – mehr oder weniger gelungene – Integrationsversuche,13 die religiöse und weltliche Sphäre in Bezug zueinander setzen und dem Rezipienten erlauben, im narrativen Raum seine immanente Lebenswelt zu transgredieren und an transzendenten Vorgängen teilzuhaben. In der mittelhochdeutschen Literatur haben sich verschiedene Formen geistlichen Erzählens herausgebildet: Vers- und Prosatexte, Groß- und Kleinformen, selbständige Texte, Episoden in Sammlungen, Anekdoten innerhalb größerer Texte. In der vorliegenden Studie soll es um die geistliche Kurzerzählung in Versen gehen. Diese Form ist von unterschiedlichen Faktoren bestimmt. Inhaltlich steht sie in der Tradition lateinischer Exempeldichtung – die meist auf Episoden beschränkten Erzählstoffe geben die relative Kürze bereits vor; formal-ästhetisch steht sie im Kontext volkssprachiger Kleinepik in Reimpaarversen, die im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung gewinnt und schließlich in den umfangreichen Kleinepiksammlungen des 13. und 14. Jahrhunderts ihre Konsolidierung erfährt. Die hier behandelte Form geistlichen Erzählens wird in der germanistischen Forschung zwar als Bestandteil der mittelhochdeutschen Kleinepik am Rande wahrgenommen, wurde aber bisher kaum als Texttyp in ihrer literarischen Spezifik untersucht.

Armin Schulz: Hybride Epistemik. Episches Einander-Erkennen im Spannungsfeld höfischer und religiöser Identitätskonstruktionen. Die gute Frau, Mai und Beaflor, Wilhelm von Wenden. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. von Peter Strohschneider. Berlin 2009, S. 658–688. 11 Vgl. Schulz: Hybride Epistemik, S. 658–661. 12 Diese Problematik hat Susanne Köbele für den Texttyp der Legende in differenzierter Weise dargelegt, vgl. Susanne Köbele: Die Illusion der ›einfachen Form‹. Über das religiöse und ästhetische Risiko der Legende. PBB 134 (2012), S. 365–404. 13 Zur Thematik der Integration von religiöser und weltlicher Sphäre vgl. zuletzt Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters. Hrsg. von Andreas Hammer u.a. (GRM-Beiheft 42). Heidelberg 2010; Regine Weber: Die ›Heiligen‹ Barlaam und Josaphat, Alexander, Georg und Karl der Große als Integrationsfiguren im monastischen, dynastischen und städtischen Europa. In: Europäisches Erbe des Mittelalters. Kulturelle Integration und Sinnvermittlung einst und jetzt. Hrsg. von Ina Karg. Göttingen 2011, S. 31–49; Stephanie Seidl: Blendendes Erzählen. Narrative Entwürfe von Ritterheiligkeit in deutschsprachigen Georgslegenden des Hoch- und Spätmittelalters (MTU 141). Berlin/Boston 2012. Weitere Literatur dazu in Kap. I.1.2.

I Methodische Grundlagen 1 Kleinepikforschung 1.1 Überblick Seit dem späten 18. Jahrhundert beschäftigt sich die Forschung mit mittelhochdeutscher Kleinepik. Zahlreiche Editionen von Einzeltexten,1 von Sammelhandschriften wie Joseph von Laßbergs ›Liedersaal‹2 oder von künstlich geschaffenen Sammlungen wie Friedrich Heinrich von der Hagens ›Gesammtabenteuer‹3 machten die Texte für die Forschung verfügbar, die sich zunächst hauptsächlich motivgeschichtlichen und volkskundlich-kulturhistorischen Fragestellungen widmete. Viele Editionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts werden bis heute als Arbeitsgrundlage benutzt, obwohl manche davon unzulänglich sind. Eine Neuedition der Kleinepik des 13. und 14. Jahrhunderts nach modernen Editionskriterien wird momentan in einem DFG-Projekt vorbereitet.4 Da zur neueren Kleinepikforschung (deren Schwerpunkt auf weltlichen Verserzählungen liegt) aktuelle und ausführliche Berichte vorliegen,5 beschränke ich mich in diesem Forschungsüberblick auf eine kurze Skizze. Während sich die Kleinepikforschung in den 1970er und 1980er Jahren vor allem mit texttypologischen Fragen beschäftigte, rückten in den letzten Jahr-

1 Frühe Beispiele sind die Ausgaben der geistlichen Verserzählungen ›Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten‹ durch Friedrich David Gräter in seiner Zeitschrift Bragur 1 (1791), S. 362–378, und ›Der Württemberger‹ durch Karl Philipp Conz im Stuttgarter Morgenblatt für gebildete Stände (18. Feb. 1818), Nr. 42–47. 2 Lieder-Saal. Das ist: Sammlung altteutscher Gedichte. Hrsg. von Joseph von Laßberg. Bd. 1–3. o. O. 1820–1825 (Nachdruck Darmstadt 1968). 3 Gesammtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen. Hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen. 3 Bde. Stuttgart/Tübingen 1850 (Nachdruck Darmstadt 1961). 4 Unter der Leitung von Klaus Ridder (Tübingen), Paul Sappler (Tübingen; † 2010) und HansJoachim Ziegeler (Köln) läuft seit März 2009 das Projekt »Edition und Kommentierung der deutschen Versnovellistik des 13. und 14. Jahrhunderts«, vgl. die Homepage des Projekts: http://www.versnovellistik.uni-koeln.de (abgerufen am 23.7.2014). 5 Vgl. Timo Reuvekamp-Felber: Einleitung: Mittelalterliche Novellistik im kulturwissenschaftlichen Kontext. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Marc Chinca/Timo Reuvekamp-Felber/Christopher Young (Beihefte zur ZfdPh 13). Berlin 2006, S. X–XXXI; Franz-Josef Holznagel: Handschrift – Texttypologie – Literaturgeschichte. Die kleineren mittelhochdeutschen Reimpaardichtungen des 13. Jahrhunderts und der Wiener Stricker-Codex 2705 (Hermaea N.F. 124) (in Druckvorbereitung), Kap. I.3.1.2. Franz-Josef Holznagel hat mir freundlicherweise das Manuskript zur Verfügung gestellt. Dafür sei ihm herzlich gedankt.

6 | I Methodische Grundlagen zehnten auch andere Fragestellungen ins Zentrum des Interesses.6 Neben narratologischen Analysen7 wird in kulturwissenschaftlicher Perspektive auch vermehrt nach den Funktionszusammenhängen gefragt, in denen die mittelhochdeutsche Kleinepik steht. Der Blick wird dabei nicht nur auf die Texte, sondern auch auf ihr Umfeld gerichtet, beispielsweise auf handschriftliche Sammlungen und auf die Funktionalisierung der Texte in bestimmten sozialen und kulturellen Kontexten,8 allerdings nicht mehr – wie in der früheren volkskundlichen Forschung – mit dem Ziel, über die Texte zu einer historischen Wirklichkeit vorzudringen,9 sondern vielmehr mit einem Interesse an der Inszenierung kultureller Vorstellungen im Text, die in einem für moderne Betrachter nicht mehr eruierbaren Verhältnis zu den tatsächlichen historischen Gegebenheiten stehen. In komparatistischen Studien wird außerdem nach den Beziehungen zwischen Texten in unterschiedlichen Sprachen gefragt. Dabei geht es um das Verhältnis von lateinischer und volkssprachiger Literatur ebenso wie um die Beziehungen der verschiedenen Volkssprachen untereinander, aber auch um die kulturellen Eigenheiten der verschiedenen mittelalterlichen Literaturlandschaften.10 Auch

6 Vgl. Reuvekamp-Felber: Einleitung, S. XV–XXX. 7 Vgl. z.B. Dorothea Klein: Warum man nicht lügen soll, und warum man es dennoch tut. Zur Pragmatik der Lüge im Märe. In: Neuere Aspekte germanistischer Spätmittelalterforschung. Hrsg. von Freimut Löser u.a. (Imagines medii aevi 29). Wiesbaden 2012, S. 91–106; Friedrich Michael Dimpel: Das Häslein ist kein Sperber. Multiperspektivisches Erzählen im Märe. ZfdPh 132 (2013), S. 29–48. 8 Vgl. z.B. Romy Günthart: Mären als Exempla. Zum Kontext der sogenannten Strickermären. Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 37 (1993), S. 113–129; Ralph Tanner: Sex, Sünde, Seelenheil. Die Figur des Pfaffen in der Märenliteratur und ihr historischer Hintergrund (1200–1600). Würzburg 2005; Andrea Schallenberg: Gabe, Geld und Gender. Ein Beitrag zur Poetik der Geschlechterdifferenz in der mittelhochdeutschen Verserzählung. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext, S. 76–107; Bettina Bildhauer: If you prick us do we not bleed? Making the body in Mären. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext, S. 148–169. 9 Während es in der deutschsprachigen Forschung kaum mehr Versuche gibt, von den Texten auf die mittelalterliche Lebenswirklichkeit zu schließen, sondern meist auf den Status des Textes als inszenierter, artifizieller, autonomer Text hingewiesen wird, ist es besonders in der französischen Forschung zum religiösen Exempel noch üblich, auf den volkskundlichen Gehalt dieser Texte Wert zu legen, d.h. sie als Zeichen einer naiven Volksfrömmigkeit zu interpretieren, vgl. Jacques Le Goff: Introduction. In: Les Exempla me´die´vaux. Nouvelles perspectives. Hrsg. von Jacques Berlioz/Marie Anne Polo de Beaulieu (Nouvelle bibliothe`que du moyen aˆge 47). Paris/ Genf 1998, S. 11–17, hier bes. S. 17. Eine ähnliche Tendenz bestimmt auch den Sammelband L’Exemplum. Hrsg. von Claude Bremond/Jacques Le Goff/Jean-Claude Schmitt. 2. erweiterte Aufl. (Typologie des sources du moyen aˆge occidental). Turnhout 1996. 10 Vgl. Klaus Grubmüller: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Die komparatistische Perspektive. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext, S. 1–23; Klaus

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die Untersuchung des materiellen Kontexts der Texte, der handschriftlichen Überlieferung, ist ein wichtiger Zugang, der durch die kontroversen Diskussionen um die Theorien der ›New Philology‹ neue Impulse erhielt,11 zumal gerade kleinepische Texte teilweise sehr variant überliefert sind und dadurch die Fragen der Textherstellung und der Bedeutung einzelner Überlieferungsträger bei Editionen besonders virulent sind. Beiträge zur Untersuchung der Überlieferung von Kleinepik wurden nach der grundlegenden Studie von Arend Mihm12 u. a. von Hans-Joachim Ziegeler13 und Franz-Josef Holznagel14 geleistet. Die Beschäftigung mit den Überlieferungskontexten ermöglicht nicht nur Erkenntnisse hinsichtlich der Texte, sondern auch hinsichtlich ihrer Rezeptionsgeschichte und -kontexte.15

Grubmüller: Prinzipien einer Geschichte des Märe (der europäischen Novellistik). In: La novella europea. Origine, sviluppo, teoria (Atti del convegno internazionale Urbino 2007). Hrsg. von Michael Dallapiazza (Aracne 10, Scienze dell’antichita`, filologico-letterarie e storico-artistiche 443). Rom 2009, S. 9–24. Das Verhältnis von französischer und deutscher Kleinepik wird auch untersucht in: Germania Litteraria Mediaevalis Francigena. Bd. VI: Kleinepik, Tierepik, Allegorie und Wissensliteratur. Hrsg. von Fritz Peter Knapp. Berlin/Boston 2013. 11 Vgl. z.B. Rüdiger Schnell: Was ist neu an der ›New Philology‹? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik. In: Alte und neue Philologie. Hrsg. von Martin-Dietrich Gleßgen/ Franz Lebsanft. Tübingen 1997, S. 61–95; Werner Williams-Krapp: Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000), S. 1–21; Franz-Josef Holznagel: Autor – Werk – Handschrift. Plädoyer für einen Perspektivenwechsel in der Literaturgeschichte kleinerer mittelhochdeutscher Reimpaardichtungen des 13. Jahrhunderts. Jahrbuch für internationale Germanistik 34/2 (2002), S. 127–146; Jürgen Schulz-Grobert: Alte Mären im neuen Medium. Typographische Kultur und Versnovellistik um 1500. In: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext, S. 207–223. 12 Arend Mihm: Überlieferung und Verbreitung der Märendichtung im Spätmittelalter (Germanische Bibliothek, 3. Reihe). Heidelberg 1967. 13 Hans-Joachim Ziegeler: Beobachtungen zum Wiener Codex 2705 und zu seiner Stellung in der Überlieferung früher kleiner Reimpaardichtung. In: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von Volker Honemann/Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 469–526; Hans-Joachim Ziegeler: Der literarhistorische Ort der Mariendichtungen im Heidelberger Cpg 341 und in verwandten Sammelhandschriften. In: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Internationales Symposium Roscrea 1994. Hrsg. von Timothy R. Jackson/Nigel F. Palmer/Almut Suerbaum. Tübingen 1996, S. 55–77. 14 Franz-Josef Holznagel: Wiener Kleinepikhandschrift cod. 2705. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1018–1024; Wolfgang Achnitz/Franz-Josef Holznagel: Der werlt lauff vnd ir posait. Die Sammlung ›Die Welt‹ und ihre Rezeption. In: Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters. Hrsg. von Horst Brunner (Imagines Medii Aevi 17). Wiesbaden 2004, S. 283–312; Holznagel: Handschrift. 15 Jürgen Wolf: Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert (Hermaea N.F. 115). Tübingen 2008.

8 | I Methodische Grundlagen 1.2 Behandlung der geistlichen Kleinepik in der Forschung Bei diesen unterschiedlich ausgerichteten Forschungen standen die geistlichen Verserzählungen als Untersuchungsgegenstand meist im Schatten der weltlichen Kleinepik,16 blieben aber nicht völlig unbeachtet. Gerade die Editionstätigkeit und die motivgeschichtlichen Untersuchungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren oft einzelnen geistlichen Erzählungen gewidmet.17 Auch in der jüngeren Forschung gibt es Untersuchungen zu geistlichen Erzählungen, so die Arbeiten von Heike Burmeister,18 Marianne Derron,19 Maryvonne Hagby,20 Sylvia Kohushölter,21 Lena Oetjens,22 Gunhild Roth/Volker Honemann,23 Thomas

16 Vgl. Reuvekamp-Felber: Einleitung, S. XXX; Holznagel: Handschrift, Kap. I.1. 17 Als Beispiele seien genannt: Das zwölfjährige Mönchlein. Ein Gedicht des vierzehnten Jahrhunderts zum ersten Male herausgegeben und mit einer Übertragung in’s Neudeutsche begleitet von Johann H. Maurer-von Constant. Schaffhausen 1842; Anton E. Schönbach: Mitteilungen aus altdeutschen Handschriften VII. Die Legende vom Engel und Waldbruder (Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der kaiserl. Akademie der Wissenschaften. Bd. 143. XII. Abhandlung). Wien 1901; Erich Mai: Das mittelhochdeutsche Gedicht vom Mönch Felix. Auf textkritischer Grundlage philologisch untersucht und erklärt (Acta Germanica N.R. 4). Berlin 1912; Richard Scholl: Thomas von Kandelberg. Eine mittelhochdeutsche Marienlegende (Form und Geist 7). Leipzig 1928. Im Zusammenhang mit motivgeschichtlichen Interessen sind auch umfangreiche Motivindizes zu nennen, in denen zahlreiche geistliche Erzählungen ausgewertet wurden: Adolf Mussafia: Studien zu den mittelalterlichen Marienlegenden. In: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse, 113/2, 115/1, 119/9, 123/8. Wien 1887–1891; Frederic C. Tubach: Index exemplorum. A handbook of medieval religious tales (FF Communications 204). Helsinki 1969. 18 Heike Annette Burmeister: Der ›Judenknabe‹. Studien und Texte zu einem mittelalterlichen Marienmirakel in deutscher Überlieferung (GAG 654). Göppingen 1998. 19 Marianne Derron: Des Strickers ›Ernsthafter König‹. Ein poetischer Lachtraktat des Mittelalters. Eine motivgeschichtliche Studie zur ersten Barlaam-Parabel (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 19). Frankfurt a.M. u.a. 2008. 20 Maryvonne Hagby: Man hat uns fur die warheit ... geseit. Die Strickersche Kurzerzählung im Kontext mittellateinischer »narrationes« des 12. und 13. Jahrhunderts (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 2). Münster 2001; Maryvonne Hagby: Parturiunt montes, et exit ridiculus mus? Beobachtungen zur Entstehung der Strickerschen Kurzerzählungen. ZfdA 132 (2003), S. 35–61. Zu Hagbys Arbeiten vgl. auch Kap. III.2.2. und III.2.4. 21 Sylvia Kohushölter: Die lateinische und deutsche Rezeption von Hartmanns von Aue ›Gregorius‹ im Mittelalter. Untersuchungen und Edition (Hermaea N.F. 111). Tübingen 2006. 22 Lena Oetjens: Amicus und Amelius im europäischen Mittelalter: Erzählen von Freundschaft im Kontext der Roland-Tradition. Dissertation Erlangen 2012 (in Druckvorbereitung). 23 Jammerrufe der Toten. Untersuchung und Edition einer lateinisch-mittelhochdeutschen Textgruppe. Hrsg. von Gunhild Roth/Volker Honemann (ZfdA. Beiheft 6). Stuttgart 2006.

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Rubel,24 Alwine Slenczka,25 Helmut Tervooren/Johannes Spicker26 und Silke Winst.27 Meist beschränken sich diese Untersuchungen allerdings auf einzelne Texte, Erzählstoffe oder kleinere Gruppen von Texten. In Beiträgen, die über den Einzeltext hinausgehende thematische oder literaturgeschichtlich-systematische Fragen adressieren, liegt der Fokus weiterhin auf der weltlichen (narrativen) Kleinepik – selbst bei geistlich orientierten Fragestellungen.28 Diese aus literaturhistorischer Perspektive unzulässige Verkürzung29 ist auf verschiedene forschungsgeschichtliche Problematiken zurückzuführen. Zum einen handelt es sich bei der Unterscheidung von geistlichen und weltlichen Texten (hier: Verserzählungen) um eine Kategorisierung, mit der zwar in der Forschungspraxis in fast allen Bereichen der Literaturwissenschaft explizit oder implizit gearbeitet wird,30 die auf einer theoretischen Ebene aber keines-

24 Thomas Rubel: Der Sünder als Stilmodell. Schullektüre im 13. Jahrhundert am Beispiel des Militarius. Mit kritischer Edition und Untersuchungen zur Stoffgeschichte (Studium litterarum 18). Berlin 2009. 25 Alwine Slenczka: Mittelhochdeutsche Verserzählungen mit Gästen aus Himmel und Hölle (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 5). Münster 2004. 26 Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten. Eine Edition nach der maasländischen und ripuarischen Überlieferung. Hrsg. von Helmut Tervooren/Johannes Spicker (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 47). Berlin 2011. 27 Silke Winst: Amicus und Amelius. Kriegerfreundschaft und Gewalt in mittelalterlicher Erzähltradition (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 57/291). Berlin 2009. 28 So werden in neueren Sammelbänden oft weitaus mehr weltliche als geistliche Erzählungen behandelt, vgl. etwa die Studien in: Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Im Sammelband: Literarische und religiöse Kommunikation werden zwar verschiedene geistliche Texttypen behandelt, aus dem Bereich der Kleinepik sind jedoch nur Schwänke vertreten – typische geistliche Erzählungen fehlen. Als weiteres Beispiel sei die Arbeit von Silvan Wagner genannt: Gottesbilder in höfischen Mären des Hochmittelalters. Höfische Paradoxie und religiöse Kontingenzbewältigung durch die Grammatik des christlichen Glaubens (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft 31). Frankfurt a.M. 2009; weiteres dazu s. unten. 29 Vgl. Holznagel: Handschrift, Kap. I.1. und II.2.1. 30 Vgl. dazu auch die zahlreichen Forschungsbeiträge, die sich mit Interferenzphänomenen zwischen geistlich und weltlich geprägten literarischen Traditionen befassen, u.a. Wolfgang Haubrichs: ›Labor sanctorum‹ und ›labor heroum‹. Zur konsolatorischen Funktion von Legende und Heldenlied. In: Die Funktion außer- und innerliterarischer Faktoren für die Entstehung deutscher Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Christa Baufeld (GAG 603). Göppingen 1994, S. 27–49; Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber/Burghart Wachinger/Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 2000; Peter Strohschneider: Textheiligung. Geltungsstrategien legendarischen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Konrads von Würzburg »Alexius«. In: Geltungsgeschichten. Über die Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnungen. Hrsg. von Gert Melville/ Hans Vor-

10 | I Methodische Grundlagen wegs unumstritten ist.31 Es gibt sowohl Voten für die grundsätzliche Nützlichkeit dieser Kategorien32 (sofern sie nicht als Dichotomie, sondern als Endpunkte einer Skala angesehen werden, zwischen denen fließende Übergänge möglich sind)33 als auch die prinzipielle Ablehnung dieser Art der Kategorisierung34 und ihre Ersetzung beispielsweise durch kommunikationstheoretische Perspektiven.35 Oft wird die Frage jedoch auch nicht ausreichend reflektiert. So beschäftigt sich etwa Silvan Wagner ausgehend von Luhmanns Religionsbegriff mit den »Gottesbilder[n] in höfischen Mären des Hochmittelalters«.36 Obwohl Wagner »keine gattungsrelevante Unterscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Literatur«37

länder. Köln/Weimar/Wien 2002, S. 109–147; Bernd Bastert: Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum (Bibliotheca Germanica 54). Tübingen/ Basel 2010; Helden und Heilige; Susanne Knaeble: Höfisches Erzählen von Gott. Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs Parzival (Trends in Medieval Philology 23). Berlin/New York 2011; Seidl: Blendendes Erzählen; Sabine Griese: Heilige Helden in Konrads von Würzburg Legenden. In: Geistliche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (FS Rudolf Suntrup). Hrsg. von Volker Honemann/Nine Miedema (Medieval to Early Modern Culture/Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 14). Frankfurt a.M. 2013, S. 55–67. 31 Vgl. etwa die Problematisierung der Kategorien bereits bei Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters. GRLMA 1 (1972), S. 107–138, hier S. 132–134. 32 So z.B. Burghart Wachinger: Einleitung. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur, S. 1–15; Fritz Peter Knapp: Mittelalterliche Erzählgattungen im Lichte scholastischer Poetik. In: Exempel und Exempelsammlungen. Hrsg. von Walter Haug/Burghart Wachinger (Fortuna vitrea 2). Tübingen 1991, S. 1–22 (zit.); wieder in: Knapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte). Heidelberg 1997, S. 75–99; Stephan Müller: Der Codex als Text. Über geistlichweltliche Überlieferungssymbiosen um 1200. In: Literarische und religiöse Kommunikation, S. 411–426, hier S. 415. 33 Diese Sichtweise findet ihre Rechtfertigung nicht zuletzt darin, dass die grundsätzliche Unterscheidung zwischen ›geistlich‹ und ›weltlich‹ auch von mittelalterlichen Autoren, Schreibern und Handschriftenredaktoren gemacht wurde, vgl. Gert Melville: Einleitung zur Sektion III: Kommunikative Instanzen und Institutionalisierungen. In: Literarische und religiöse Kommunikation, S. 517–525. 34 So etwa Peter Strohschneider: Vorbericht. In: Literarische und religiöse Kommunikation, S. IX–XIX. 35 Strohschneider: Vorbericht, S. XI–XIV. Einen systemtheoretischen Ansatz hat Strohschneider bereits früher in einem Aufsatz zu Hartmanns von Aue ›Gregorius‹ angewandt, vgl. Peter Strohschneider: Inzest-Heiligkeit. Krise und Aufhebung der Unterschiede in Hartmanns Gregorius. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur, S. 105–133. 36 Die systemtheoretische Perspektive rückt interessante neue Aspekte ins Licht; allerdings scheint der theoretische Zugang den Blick auf zentrale Probleme manchmal auch zu verstellen. So bleiben Grundbegriffe wie Hof und höfisch (S. 72–74) auf unbefriedigende Weise diffus, weil sie nur unzureichend geklärt und kaum historisch eingebettet werden und letztlich unklar bleibt, was Wagner unter einem »höfischen Märe« versteht. 37 Wagner: Gottesbilder, S. 36.

1 Kleinepikforschung

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annimmt und stattdessen eine »Trennung nach immanentem oder transzendentem Schwerpunkt«38 vorschlägt, findet sich unter seinen zehn Fallbeispielen nur ein einziger Text mit geistlichem Schwerpunkt, nämlich Herrands von Wildonie ›Nackter Kaiser‹. Gerade im Hinblick auf die in den Texten präsentierten Gottesbilder wäre die Einbeziehung mehrerer geistlich geprägter Texte jedenfalls gewinnbringend gewesen; der (bewusste?) Verzicht darauf bedürfte zumindest einer Begründung. Der Widerspruch zwischen Wagners theoretischer Position und seinem praktischen Vorgehen hängt mit der zweiten forschungsgeschichtlichen Problematik zusammen, die maßgeblich zur Vernachlässigung geistlicher Kleinepik beigetragen hat. Sie hat ihren Ursprung in Hanns Fischers Standardwerk ›Studien zur deutschen Märendichtung‹. Denn obwohl ein weitgehender Konsens über die grundlegenden Defizite von Fischers Gattungsdefinition der weltlichen Verserzählung (des Märe) besteht, dient das auf der Basis dieser Definition zusammengestellte Textcorpus noch immer als Ausgangspunkt vieler Untersuchungen, die sich mit Kleinepik befassen.39 Da Fischer aber von einer klaren Abgrenzbarkeit von geistlichen und weltlichen Texten ausging und geistliche Erzählungen somit aus seinem Corpus völlig ausgeschlossen hat, werden diese Texte auch in jüngeren Arbeiten, die auf einer theoretischen Ebene die dichotomische Unterscheidung ablehnen, selbst dann kaum beachtet, wenn die Fragestellungen auf geistliche Elemente zielen. Dieser verzerrten Perspektive auf die mittelhochdeutsche Kleinepik kann nur dadurch begegnet werden, dass auch die geistlichen Verserzählungen in ihrer literaturhistorischen Bedeutung stärker ins Bewusstsein gerückt werden.40 Die Beschreibung der geistlichen Verserzählungen als Texttyp, wie sie in der vorliegenden Arbeit unternommen wird, muss in differenzierter Auseinandersetzung mit texttypologischen Diskussionen erfolgen, die gerade im Bereich der Kleinepikforschung besonders virulent waren und sind.

38 Wagner: Gottesbilder, S. 69. 39 Wagner geht von Fischers ›Studien‹ aus, weicht Fischers harte Grenzziehungen jedoch auf, indem er Fischers systematischen Zugang mit Grubmüllers diachronem Konzept der Textreihe kombiniert. Bei der Auswahl der Fallbeispiele stützt Wagner sich aber fast nur auf Fischers Corpus (S. 75). 40 Eine derartige Erschließungsleistung hat Holznagel für die ebenfalls wenig beachteten geistlichen Reden erbracht, vgl. Holznagel: Handschrift, Teil III.

12 | I Methodische Grundlagen

2 Texttypologie 2.1 Allgemeine Gattungstheorie Während die ältere Forschung hauptsächlich von normativen Gattungskonzepten bestimmt war41 und von einer apriorischen, realen Existenz der Gattungen ausging,42 wurden in den gattungstheoretischen Diskussionen seit den 1970er Jahren zunehmend differenzierte, deskriptive Konzepte entwickelt.43 So unterscheidet etwa Klaus Hempfer44 zwischen systematischen und historischen Gattungskonzepten, den transhistorischen Invarianten (»Schreibweisen«) und historischen Variablen (historische Textgruppen), die auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen angesiedelt sind. Die transhistorischen Invarianten lassen sich dabei als Strukturen beschreiben, während für die historischen Gattungen anstelle einer traditionellen Klassifizierung der Wittgensteinsche Begriff der Familienähnlichkeit herangezogen und der normative durch einen deskriptiven Zugang abgelöst wird.45 Auch Hans Robert Jauß fordert in seinem programmatischen Aufsatz von 197246 die Ersetzung des klassischen Gattungsbegriffs durch ein Verständnis der literarischen Gattungen als »Gruppen oder historische Familien«, die man nicht definieren, sondern nur »synchronisch beschreiben und historisch untersuchen«47 kann. Eine literarische Gattung ist nach Jauß dadurch bestimmbar, »daß sie Texte selbständig zu konstituieren vermag, wobei diese Konstitution sowohl synchronisch in einer Struktur nicht ersetzbarer Elemente als auch diachronisch in einer kontinuitätsbildenden Potenz faßbar sein muß«.48 Bei der Analyse von

41 Vgl. Klaus Hempfer: Art. Gattung. In: RLW 1, S. 651–655, hier S. 654. 42 Vgl. Hempfer: Gattung, S. 652; Dieter Lamping: Art. Gattungstheorie. In: RLW 1, S. 658–661, hier S. 659. Daneben gibt es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Gegenposition der sog. Nominalisten, die eine gänzliche Inexistenz von Gattungen postulierten. 43 Grundlegend dazu: Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003; Frank Zipfel: Art. Gattungstheorie im 20. Jahrhundert. In: Handbuch Gattungstheorie. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Stuttgart 2010, S. 213–216, und Thomas Borgstedt: Art. Gattungstheorie im 21. Jahrhundert. In: Handbuch Gattungstheorie. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Stuttgart 2010, S. 217–219. 44 Hempfer: Gattung, S. 653. Vgl. auch Klaus Hempfer: Gattungstheorie. Information und Synthese (Uni-Taschenbücher 133). München 1973. 45 Hempfer: Gattung, S. 653 f. 46 Jauß: Theorie der Gattungen. 47 Jauß: Theorie der Gattungen, S. 110. 48 Jauß: Theorie der Gattungen, S. 112.

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Gattungen spielt für Jauß außerdem der sozialgeschichtliche Aspekt der Texte, ihr ›Sitz im Leben‹, eine wichtige Rolle.49 In eine ähnliche Richtung geht Wilhelm Voßkamps Konzept der Gattungen als literarisch-soziale Institutionen.50 Er begreift literarische Gattungen als »historisch bedingte Kommunikations- und Vermittlungsformen«51 im Sinne von Luhmanns Systemtheorie,52 an die man mit »sozial- und funktionsgeschichtliche[n] Fragestellungen«53 herantreten muss. Die diachrone Entwicklung von Gattungen erscheint in dieser Perspektive als »Folge eines Auskristallisierens, Stabilisierens und institutionellen Festwerdens von dominanten Strukturen […], die durch besondere Merkmale geprägt sind.«54 Die Geschichte der Gattung ergibt sich dabei aus der Bestimmung durch »normbildende Werke (Prototypen)« einerseits und der Prägung durch die »wechselseitige Komplementarität von Gattungserwartungen und Werkantworten«55 andererseits. Die Konzepte Voßkamps (der sich hauptsächlich mit deutscher Literatur des 18./19. Jahrhunderts befasst) wurden verschiedentlich auch in der germanistischen Mediävistik rezipiert und angewandt, etwa von Klaus Grubmüller und Michael Waltenberger.56 Seit den 1990er Jahren wurden vermehrt auch Ansätze aus den Kognitionswissenschaften und der Linguistik, die sich mit allgemeinen Phänomenen der Kategorisierung befassen, auf texttypologische Probleme übertragen.57 Wichtige Ausgangspunkte waren dabei Ansätze, in denen der klassischen, auf Aus-

49 Vgl. Jauß: Theorie der Gattungen, S. 121–125, 129–131. 50 Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Hrsg. von Walter Hinck (medium literatur 4). Heidelberg 1977, S. 27–44. 51 Voßkamp: Gattungen, S. 27. 52 Vgl. Voßkamp: Gattungen, S. 29. 53 Voßkamp: Gattungen, S. 27. 54 Voßkamp: Gattungen, S. 30. 55 Voßkamp: Gattungen, S. 30. 56 Klaus Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Hrsg. von Nigel F. Palmer/Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999, S. 193–210, hier S. 194, 209; Michael Waltenberger: Situation und Sinn. Überlegungen zur pragmatischen Dimension märenhaften Erzählens. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Elizabeth Andersen/Manfred Eikelmann/ Anne Simon (Trends in Medieval Philology 7). Berlin/New York 2005, S. 287–308; Klaus Grubmüller: Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau – Märe – Novelle. Tübingen 2006, S. 16. 57 Vgl. Rüdiger Zymner: Art. Biopoetische/Kognitionswissenschaftliche Gattungstheorie. In: Handbuch Gattungstheorie. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Stuttgart 2010, S. 162–164. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Anwendung kognitionswissenschaftlicher Ansätze bietet Rüdiger Zymner: Texttypen und Schreibweisen. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Hrsg. von Thomas Anz. Band 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2007, S. 25–80, hier S. 30–34.

14 | I Methodische Grundlagen schlusskriterien hin orientierten Kategorienbildung das Konzept prototypentheoretisch fundierter, ›natürlicher‹ Kategorisierung gegenübergestellt wurde. Im Bereich der germanistischen Mediävistik wurde dieses Modell vor allem in den Arbeiten von Doris Tophinke aufgegriffen.58 In den letzten zwanzig Jahren sind außerdem zahlreiche Sammelbände erschienen, die sich mit Problemen der Gattungstheorie, oft auch speziell im Bereich der mittelalterlichen (deutschen) Literatur befassen und dabei die Ergebnisse der allgemeinen gattungstheoretischen Diskussionen der vorangegangenen Jahrzehnte einbeziehen.59

2.2 Gattungstheoretische Diskussion zur Kleinepik Neben den gattungstheoretischen Diskussionen mit systematischem und (teilweise) epochenübergreifendem Anspruch gibt es im spezifischen Bereich der mediävistischen Kleinepikforschung eine langanhaltende gattungstheoretische Kontroverse, deren Ausgangspunkt Hanns Fischers Standardwerk zur deutschen Märendichtung war, und deren Positionen hier kurz skizziert werden sollen. 2.2.1 Fischers ›Studien zur deutschen Märendichtung‹ Durch Hanns Fischers 1968 posthum erschienene ›Studien zur deutschen Märendichtung‹ wurde die weltliche narrative Kleinepik als Gattung ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt. Fischer definiert das »Märe«60 als »eine in paarweise gereimten Viertaktern versifizierte, selbständige und eigenzweckliche

58 Doris Tophinke: Zum Problem der Gattungsgrenze – Möglichkeiten einer prototypentheoretischen Lösung. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Hrsg. von Barbara Frank/Thomas Haye/Doris Tophinke (ScriptOralia 99). Tübingen 1997, S. 161–182; Doris Tophinke: Handelstexte. Zu Textualität und Typik kaufmännischer Rechnungsbücher im Hanseraum des 14. und 15. Jahrhunderts (ScriptOralia 114). Tübingen 1999. Dazu ausführlicher unten, Kap. I.2.3.1. Grubmüller nimmt wiederholt auf Tophinkes Position Bezug: Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 200 und 209; Grubmüller: Ordnung, S. 16. 59 Zu nennen sind u.a. die Sammelbände: Texte – Konstitution, Verarbeitung, Typik. Hrsg. von Susanne Michaelis/Doris Tophinke (Edition Linguistik 13). München/Newcastle 1996; Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit; Texttyp und Textproduktion; Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Hartmut Bleumer/ Caroline Emmelius (Trends in Medieval Philology 16). Berlin/New York 2011; Textsortentypologien und Textallianzen des 13. und 14. Jahrhunderts. Hrsg. von Mechthild Habermann (Berliner Sprachwissenschaftliche Studien 22). Berlin 2011. 60 Zur Herleitung dieser Bezeichnung aus dem mhd. Begriff mære vgl. Hanns Fischer: Studien zur deutschen Märendichtung. 2., durchgesehene und erweiterte Aufl. Hrsg. von Johannes Janota. Tübingen 1983, S. 79–88.

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Erzählung mittleren (d.h. durch die Verszahlen 150 und 2000 ungefähr umgrenzten) Umfangs, deren Gegenstand fiktive, diesseitig-profane und unter weltlichem Aspekt betrachtete, mit ausschließlich (oder vorwiegend) menschlichem Personal vorgestellte Vorgänge sind«.61 Er unterteilt die Gattung in drei Grundtypen, die durch Thematik und »poetische Zielsetzung« voneinander abgrenzbar sind: das »schwankhafte Märe«, das »höfisch-galante Märe« und das »moralischexemplarische Märe«.62 Diese Typen gliedert er wiederum in zwölf Themenkreise, die das Inventar verfügbarer Stoffe der Märendichtung umreißen sollen.63 Fischers Überlegungen sind für die Kleinepikforschung bis heute von großer Bedeutung. Es besteht jedoch auch ein weitgehender Konsens darüber, dass die Definition einer Gattung »Märe«, wie Fischer sie vorgeschlagen hat, in mancherlei Hinsicht problematisch ist.64 So suggerieren die Kriterien der Definition eine klare Abgrenzbarkeit des Märe gegenüber anderen Formen der Kleinepik, die in vielen konkreten Fällen unangemessen oder willkürlich erscheinen muss. Die Setzung des mhd. Begriffs mære als Gattungsbezeichnung wiederum erweckt den falschen Eindruck eines expliziten mittelalterlichen Gattungsbewusstseins für spezifische Formen kleinepischer Literatur. Die thematische Binnendifferenzierung schließlich birgt die Gefahr der allzu einseitigen Klassifizierung von Texten und täuscht darüber hinweg, dass ein Text unter Umständen an mehreren Themenkreisen teilhaben kann. Fischer hat in seiner Typologie eine strikte Trennung zwischen weltlichen und geistlichen Erzählungen vorgenommen. Sein Interesse gilt der weltlichen Kleinepik, er widmet den geistlichen Erzählungen aber dennoch eine kurze Ausführung, in der er eine Binnendifferenzierung in »vier selbständige Genera«65 vornimmt: Legende, Mirakelerzählung, Teufelserzählung und fromme Welterzählung. Auch bei dieser Einteilung wird – wie bei den Themenkreisen der Mären – die Problematik einer thematischen Klassifizierung deutlich: Viele geistliche Erzählungen lassen sich nicht eindeutig in diese Kategorien einordnen, da sie Merkmale verschiedener Gruppen aufweisen. Was ist beispielsweise mit einem Text zu tun, in dem erzählt wird, dass Maria und der Teufel sich um eine Seele streiten, wie im ›Ertrunkenen Glöckner‹ ? Handelt es sich dabei um ein (Marien-) Mirakel oder eine Teufelserzählung? Die Frage, welche Figur in einem solchen Text zentraler sei, ist oft schwer zu entscheiden. So scheint ›Der Teufel als Kämmerer‹ zunächst eine Teufelserzählung zu sein, doch der Text steht in einer

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Fischer: Studien, S. 62 f. Fischer: Studien, S. 101. Vgl. Fischer: Studien, S. 94–100. Fischer war sich problematischer Punkte durchaus bewusst, vgl. Fischer: Studien, S. 63. Fischer: Studien, S. 50. Zu diesen Genera: S. 50–53.

16 | I Methodische Grundlagen Sammlung von Marienmirakeln; zwar tritt Maria in der Erzählung nicht selbst auf, aber der Protagonist, ein Ritter, wird nur deshalb vor dem Teufel gerettet, weil er täglich sein Mariengebet gesprochen hat. Diese Beispiele zeigen, dass Mirakel- und Teufelserzählungen keineswegs »selbständige«, also klar voneinander abgrenzbare Genera sind, auch wenn es einzelne Texte geben mag, die man problemlos als Mirakel- oder Teufelserzählung klassifizieren kann (etwa Fischers Beispiele: Siegfrieds des Dörfers ›Frauentrost‹ und des Strickers ›Richter und Teufel‹). Gemeinsam ist den unter Mirakel- und Teufelserzählung subsumierten Texten das Eingreifen einer transzendenten Figur in die Handlung, das als typisch für geistliche Erzählungen angesehen werden kann. Aber nicht in allen Texten spielt das Eingreifen der transzendenten Figur eine ähnlich zentrale Rolle. Dieses Problem hat Fischer mit der Kategorie der frommen Welterzählung zu lösen versucht. Als fromme Welterzählungen bezeichnete er »jene maßgeblich von einem religiösen Aspekt bestimmten Erzählungen, die thematisch auf Vorgänge irdisch-natürlichen Charakters beschränkt bleiben oder doch auf solche, in denen das Mirakulöse nicht mehr als eine ephemere Rolle spielt beziehungsweise überhaupt nur als menschliche Interpretation post festum erscheint«.66 Doch wann ist das Eingreifen einer transzendenten Figur noch zentral, wann schon marginal? In Hartmanns von Aue ›Armem Heinrich‹ ist die wundersame Heilung Heinrichs durch Gottes Wirken zwar erzählerisch marginalisiert, da mehr Wert auf die Beschreibung der menschlichen Figuren und ihrer Affekte gelegt wird; aber es handelt sich letztlich eben doch um ein mirakulöses Ereignis. Der »schon an die hundert Jahre währende unfruchtbare Streit um die Gattungsqualität des prominentesten Beispiels dieses Typs, des ›Armen Heinrich‹«67 ist mit der Einführung der Kategorie der frommen Welterzählung m.E. gerade nicht gelöst, weil dadurch die Möglichkeit einer klaren Trennung zwischen Mirakelerzählungen und frommen Welterzählungen suggeriert wird, die es bei einem differenzierten Blick auf die Texte nicht gibt – es handelt sich vielmehr um graduelle Abstufungen. Im Fall von Fischers vierter Kategorie, der Legende, scheint eine Unterscheidung von anderen Formen geistlichen Erzählens noch am ehesten möglich zu sein, denn bei aller Vielfalt sind Legenden doch stärker als andere Texte durch inhaltliche Vorgaben und narrative Strukturen bestimmt, die eine Gruppenbildung erleichtern.68 Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass

66 Fischer: Studien, S. 52 f. 67 Fischer: Studien, S. 53. 68 Zu strukturellen Mustern legendarischer Texte s. Edith Feistner: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation (Wissensliteratur im Mittelalter 20). Wiesbaden 1995. Legendarischen Texten wurde in

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mittelhochdeutsche Verslegenden und geistliche Verserzählungen oft an den gleichen literarischen und stilistischen Traditionen partizipieren; so sind etwa Mirakelerzählungen, die auf eine Heiligenvita folgen, den selbständigen Mirakelerzählungen ähnlich – sie können aus dem Legendenkontext herausgelöst und selbständig tradiert werden. Die Abgrenzung ist also auch hier nicht so unproblematisch, wie Fischers Modell es nahelegt. Fischer hat erwogen, noch ein weiteres Genus der geistlichen Erzählung einzuführen, die »Biblische Kleinerzählung«, sah aber davon ab, da es nach dem

der Forschung bereits große Aufmerksamkeit zuteil, vgl. u.a. Ulrich Wyss: Theorie der mittelhochdeutschen Legendenepik (Erlanger Studien 1). Erlangen 1973; Siegfried Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quellen und Studien (MTU 72). München 1980; Werner Williams-Krapp: Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte (Texte und Textgeschichte 20). Tübingen 1986; Margreth Egidi: Verborgene Heiligkeit. Legendarisches Erzählen in der Alexiuslegende. In: Literarische und religiöse Kommunikation, S. 607–657; Hartmut Bleumer: ›Historische Narratologie‹? Metalegendarisches Erzählen im ›Silvester‹ Konrads von Würzburg. In: Historische Narratologie, mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland/Matthias Meyer (Trends in Medieval Philology 19). Berlin 2010, S. 231–262; Köbele: Die Illusion der ›einfachen Form‹; Maryvonne Hagby: Überlegungen zu Literarisierung und Instrumentalisierung der Heiligenlegende in der Epik des Mittelalters. Ulrichs von Etzenbach ›Wilhelm von Wenden‹. In: Geistliche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (FS Rudolf Suntrup). Hrsg. von Volker Honemann/Nine Miedema (Medieval to Early Modern Culture / Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit 14). Frankfurt a.M. 2013, S. 69–86. Texte, die zwischen legendarischem und bibelepischem Erzählen stehen, behandeln z.B. Bettina Mattig-Krampe: Das Pilatusbild in der deutschen Bibel- und Legendenepik des Mittelalters (Germanistische Bibliothek 9). Heidelberg 2001; Andreas Scheidgen: Die Gestalt des Pontius Pilatus in Legende, Bibelauslegung und Geschichtsdichtung vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit. Literaturgeschichte einer umstrittenen Figur (Mikrokosmos 68). Frankfurt a.M. 2002; Henrike Lähnemann: »Hystoria Judith«. Deutsche Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert (Scrinium Friburgense 20). Berlin 2006. Ein Text, der zwar legendarische Strukturen aufweist, aber keine kanonische Heilige oder biblische Figur zur Protagonistin hat, ist die ›Crescentia‹, vgl. dazu Frauke Stiller: Die unschuldig verfolgte und später rehabilitierte Ehefrau. Untersuchung zur Frau im 15. Jahrhundert am Beispiel der Crescentia- und Sibillen-Erzählungen. Berlin 2004; zu diesen Stoff und weiteren Erzählstoffen, die geistliche und genealogische Sinnmuster verbinden, vgl. Christian Kiening: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens (Philologie der Kultur 1). Würzburg 2009 (zur unschuldig verfolgten Frau: S. 87–104). Erzählstoffe, die zwischen legendarischem und weltlichem Erzählen stehen, werden untersucht u.a. in: Werner Röcke: Das Alte im Neuen. Paradoxe Entwürfe von Konversion und Askese in Legende und Roman des Mittelalters (Eustachius-Typus). In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke (Transformationen der Antike 14). Berlin 2010, S. 157–172; Bastert: Helden als Heilige; Helden und Heilige; Seidl: Blendendes Erzählen; Rabea Kohnen: Die Braut des Königs. Zur interreligiösen Dynamik der mittelhochdeutschen Brautwerbungserzählungen (Hermaea N.F. 133). Berlin/Boston 2013.

18 | I Methodische Grundlagen 12. Jahrhundert kaum mehr Beispiele dafür gebe.69 Rechnet man zur Bibelepik jedoch auch Erzählungen, die apokryphe Stoffe oder größere Abschnitte der Heilsgeschichte behandeln, trifft diese Einschätzung nicht zu. Die Werke Konrads von Heimesfurt sind hier ebenso zu nennen wie ›Der Streit der Töchter Gottes‹, Friedrichs von Saarburg ›Der Antichrist‹, ›Adams Klage‹ oder Versbearbeitungen der Kreuzesholzlegende, beispielsweise die Heinrich von Freiberg und Helwig (von Waldirstet) zugeschriebenen Fassungen.70 Eine Abgrenzung gegenüber anderen geistlichen Verserzählungen ist hier aber ebenfalls problematisch. Thematische Binnendifferenzierungen im Bereich der Kleinepik schaffen also eher künstliche Zuordnungsprobleme, als dass sie das literarische Phänomen sinnvoll zu strukturieren vermögen. Gerade aus der historischen Distanz sind solche Differenzierungen zudem schwierig, da sie Interpretationen voraussetzen, die die Texte auf eine inhaltliche Stoßrichtung festlegen, während in ihnen oft ein breiteres Spektrum möglicher Bedeutungen angelegt ist, die je nach Rezeptionssituation und -kontext unterschiedlich stark aktualisiert und funktionalisiert werden konnten. Bei den mittelalterlichen thematischen Einteilungen von Erzählstoffen, wie sie sich etwa in lateinischen Exempelsammlungen finden,71 findet natürlich auch eine Festlegung auf eine Bedeutung statt. Dabei handelt es sich jedoch um konkrete Rezeptionszeugnisse, die eine spezifische Funktionalisierung dokumentieren, und nicht um absolut zu setzende Klassifizierungen – dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass die gleichen Erzählstoffe in verschiedenen Sammlungen in unterschiedliche thematische Bereiche eingeordnet wurden. Diese Varianz historischer Klassifizierungen macht deutlich, dass eine thematische Differenzierung aus moderner Forschungsperspektive den vielseitigen Funktionalisierungsmöglichkeiten der Texte nicht gerecht werden kann, sondern eine mehr oder weniger willkürliche Setzung darstellen muss. Für

69 Fischer: Studien, S. 52, Anm. 103. Zu bibelepischen Texten im Allgemeinen vgl. Achim Masser: Bibel- und Legendenepik des deutschen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 19). Berlin 1976. 70 Vgl. Werner Williams-Krapp: Kreuzesholzlegende. In: 2VL 5 (1985), Sp. 371 f. und 2VL 11 (2004), Sp. 894; Martin Bazˇil: Zu der Heinrich von Freiberg zugeschriebenen Kreuzholzlegende. In: Deutsche Literatur des Mittelalters in Böhmen und über Böhmen. Hrsg. von Dominique Fliegler/Va´clav Bok. Wien 2001, S. 47–61; Petra Hörner: Anselms Satisfaktionslehre in der Kreuzesholzlegende, im Streit der vier Töchter und in der Rezeption des ›Compendium Anticlaudiani‹. Theologie und Philosophie 83 (2008), S. 32–55; Erika Langbroek: Die Kreuzholzlegende im ›Hartebok‹ und ihre Verwandten. Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 66 (2010), S. 205–248. 71 Ein Beispiel dafür ist der ›Dialogus miraculorum‹ des Zisterziensers Caesarius von Heisterbach. Caesarius gliedert sein Werk in zwölf Bücher, die verschiedenen Themen gewidmet sind, etwa De conversione [Von der Bekehrung] (I), De tentatione [Von der Versuchung] (IV), De miraculis [Von den Wundern] (X).

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bestimmte Erkenntnisinteressen, wie beispielsweise historisch ausgerichtete Untersuchungen einzelner Erzählstoffe oder Themenkomplexe, mag eine solche Setzung nützlich sein; für die Untersuchung des gesamten Texttyps erscheint mir diese Perspektive aber nicht sinnvoll. In den Debatten, die Fischers ›Studien‹ in den folgenden Jahrzehnten auslösten, wurden unterschiedliche Positionen von völliger Ablehnung bis hin zu differenzierten Modifizierungen vertreten. 2.2.2 Reaktionen auf Fischer und alternative Modelle Joachim Heinzle72 lehnt Fischers Märenbegriff ab als ahistorische Setzung, die dem für die mittelalterliche Literatur charakteristischen Prozess der »fortwährende[n] Traditionsstiftung, Traditionserfüllung und Traditionsveränderung«73 nicht gerecht werde. Er plädiert dafür, auf eine texttypologische Binnendifferenzierung der Kleinepik ganz zu verzichten. Noch einen Schritt weiter geht Walter Haug,74 der die Position vertritt, das Fehlen einer »gattungsmäßige[n] Identität«75 der mittelalterlichen Kurzerzählung beruhe darauf, dass in diesem Feld sämtliche Unterscheidungen, auch diejenige zwischen profan und geistlich, wegfallen würden. In diesem »gattungsfreien Raum«, in welchem sich die Kurzerzählung nach Haugs Meinung situieren lässt, gebe es keine »prägnanten Sinnvorgaben« (S. 7), sondern es biete sich dadurch gerade die Möglichkeit – im Gegensatz zu anderen mittelalterlichen Erzählsituationen – das Sinnlose zu erzählen. Dieser pauschale Ansatz wurde von Rüdiger Schnell kritisiert.76 Man wird Schnell

72 Joachim Heinzle: Märenbegriff und Novellentheorie. Überlegungen zur Gattungsbestimmung der mittelhochdeutschen Kleinepik. ZfdA 107 (1978), S. 121–138; Joachim Heinzle: Kleine Anleitung zum Gebrauch des Märenbegriffs. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter (Paderborner Colloquium 1987). Hrsg. von Klaus Grubmüller u.a. (Schriften der Universität-Gesamthochschule Paderborn. Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft 10). München 1988, S. 45–48; Joachim Heinzle: Altes und Neues zum Märenbegriff. ZfdA 117 (1988), S. 277–296. 73 Heinzle: Märenbegriff, S. 123. 74 Walter Haug: Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Walter Haug/Burghart Wachinger (Fortuna vitrea 8). Tübingen 1993, S. 1–36 (zit.). Wieder in: Haug, Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen 1995, S. 427–454. 75 Haug: Entwurf, S. 6. 76 Rüdiger Schnell: Erzählstrategie, Intertextualität und »Erfahrungswissen«. Zu Sinn und Sinnlosigkeit spätmittelalterlicher Mären. In: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs (Wolfram-Studien 18). Berlin 2004, S. 367–404. Haug hat seine Position allerdings bereits 2001 etwas abgeschwächt, vgl. Walter Haug: Das Böse und die Moral. Erzählen unter dem Aspekt einer narrativen Ethik. In: Interdisziplinäre Ethik. Grundlagen, Methoden, Bereiche (FS Dietmar Mieth). Hrsg. von Adrian Holderegger/Jean-Pierre Wils (Studien zur theologischen Ethik 89). Freiburg Schweiz/Freiburg i.

20 | I Methodische Grundlagen zustimmen können, dass Haugs Theorie angesichts der ausgeprägten Diversität mittelhochdeutscher Kurzerzählungen höchstens für einen Teil der Kleinepik einen gewinnbringenden Erklärungsansatz bietet, nämlich für Texte mit schwankhaften Zügen.77 Neben diesen Reaktionen sind auch Arbeiten zu verzeichnen, die Fischers Modell nicht grundsätzlich ablehnen, sondern modifizieren und differenzieren. So hat Hans-Joachim Ziegeler78 unter Beibehaltung der Grundannahmen Fischers versucht, dessen Gattungsdefinition aus ihrer allzu starren Gestalt zu lösen, indem er die weltlichen Erzählungen in ihrem literarischen Umfeld zwischen Minnereden, Bispeln und Romanen verortet. Zur Unterscheidung dieser verschiedenen »Erzählformen« bedient er sich sehr detaillierter Analysen der in den verschiedenen Texten zur Anwendung kommenden Erzählstrategien (z.B. der Überzeugung des Rezipienten entweder durch Identifikationsmöglichkeiten oder durch Beweise). Ziegelers Vorgehen resultiert in wertvollen Erkenntnissen zu den Einzeltexten, lässt aufgrund seiner Komplexität jedoch kaum griffige texttypologische Binnendifferenzierungen innerhalb der Kleinepik zu. Franz-Josef Holznagel bedient sich in seinen Arbeiten79 dagegen grundlegender erzähltechnischer Eigenheiten wie des Tempusgebrauchs und verschiedener Techniken der Bezugnahme zwischen narrativen und diskursiven Partien eines Textes, um kleinepische Texttypen voneinander zu unterscheiden. Er differenziert zwischen Reden, zweiteiligen Gleichnisreden, Bispeln und Erzählungen.80

Brsg. 2001, S. 243–268. Anhand verschiedener Beispiele zeigt Haug in diesem Aufsatz, welche Möglichkeiten ethischer Erkenntnis jenseits des von ihm als zu naiv empfundenen systemkonformen moralischen Erzählens im Bereich von Exempelgeschichten vorhanden sind: erkenntniskritische Erfahrungen durch Thematisierung der Unverbindlichkeit exemplarischen Erzählens, Infragestellung des Systems durch Aufzeigen von Unmoral im Moralischen, Lachen als Bejahung und Aufhebung des Ordnungsumsturzes bei Schwänken, indirekte Moralität durch Forcierung des Amoralischen (›Schneekind‹), Hervorrufen eines inneren Widerstandes durch Forcierung der Moral (Wernher der Gärtner: ›Helmbrecht‹), Aufhebung der Gegensätze von Gut und Böse (›Warmes Almosen‹, Heinrich Kaufringer: ›Die unschuldige Mörderin‹) und absolutes Ethos jenseits des moralischen Systems (›Frauentreue‹, Gottfried von Straßburg: ›Tristan‹). 77 Allerdings gibt es auch gegenläufige Tendenzen: So eruiert etwa Hans Jürgen Scheuer selbst in schwankhaften Erzählungen einen religiösen Subtext, vgl. Hans Jürgen Scheuer: Schwankende Formen. Zur Beobachtung religiöser Kommunikation in mittelalterlichen Schwänken. In: Literarische und religiöse Kommunikation, S. 733–770. Vgl. dazu auch Kap. II.1.5. 78 Hans-Joachim Ziegeler: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (MTU 87). München 1985. 79 Franz-Josef Holznagel: Verserzählung – Rede – Bıˆspel. Zur Typologie kleinerer Reimpaardichtungen des 13. Jahrhunderts. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridger Symposium 2001. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst/Christopher J. Young. Tübingen 2003, S. 291–306; Holznagel: Handschrift. 80 Weiteres dazu s. Kap. II.2.

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Einen anderen Zugang zur texttypologischen Frage wählt Fritz Peter Knapp, der anhand lateinischer Poetiken ein mittelalterliches Gattungssystem skizziert, das auch auf volkssprachige Texte angewandt werden kann.81 Bei mittelalterlichen Poetiken handelt es sich – ähnlich wie bei thematischen Einteilungen von Erzählstoffen in mittelalterlichen Exempelsammlungen – immer um spezifische, historisch verortete Kategoriebildungen und Artikulationen eines Gattungsbewusstseins. Diese können keinen allgemeinen oder für eine längere Zeitspanne gültigen Anspruch erheben.82 Deshalb erscheint mir dieser an sich sehr interessante Zugang für mein Erkenntnisinteresse – das die Untersuchung des Texttyps auch in seinem diachronen Wandel einschließt – nicht als geeigneter Ausgangspunkt, da es die Perspektive auf das literarische Phänomen zu stark einengen würde. Klaus Grubmüller83 sieht den Grund für das Scheitern der früheren Versuche, eine Gattungssystematik zu erstellen, darin, dass diese Versuche die diachrone, literaturhistorische Dimension zu wenig in Betracht gezogen hätten. Grubmüller schlägt deshalb die Ersetzung »klassifikatorische[r] Systeme« durch »konsequent literarische Reihen« vor, in denen »die Kriterien, die für den Anfang galten, am Ende nicht mehr unbedingt« erwartet werden müssen.84 Ein Text kann zugleich in mehreren literarischen Reihen stehen. Die Zuordnungsprobleme wären dadurch gelöst, denn »die literarische ›Reihe‹ stellt sich dann eher als ein ›Band‹ mit offenen Rändern dar. Das Ende kann denkbar weit entfernt sein von den Anfängen und dennoch kontinuierlich auf diese zurückgeführt werden.«85 Dieser Zugang findet nach Grubmüller seine Berechtigung auch darin, dass das Mittelalter insgesamt eher zur Traditionsbildung als zur Systematik neige.86 Grubmüller grenzt sein Modell der literarischen Reihe von anderen »Beobachtungsfeldern« zur Beschreibung mittelalterlicher Texttypen ab, die er für weniger adäquat hält, nämlich von der systematischen Terminologie (wie bei Fischer) sowie von einem sich in Überlieferungsverbünden spiegelnden Gattungsbewusstsein, das er als nicht aussagekräftig genug bezeichnet.87 Auch Grubmüllers Modell stieß in der

81 Knapp: Erzählgattungen; Fritz Peter Knapp: Fabulae – parabolae – historiae. Die mittelalterliche Gattungstheorie und die Kleinepik von Jean Bodel bis Boccaccio. Mittellateinisches Jahrbuch 44 (2009), S. 97–117. 82 So auch Knapp: Erzählgattungen, S. 18. 83 Grubmüller: Gattungskonstitution; Klaus Grubmüller: Werkstatt-Typ, Gattungsregeln und die Konventionalität der Schrift. Eine Skizze. In: Texttyp und Textproduktion, S. 31–40; Grubmüller: Ordnung, bes. S. 11–23; Grubmüller: Prinzipien. 84 Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 201. 85 Grubmüller: Ordnung, S. 14 f. 86 Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 208 f. 87 Vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 209.

22 | I Methodische Grundlagen Forschung teilweise auf Ablehnung. So moniert etwa Joachim Heinzle in seiner Rezension zu Grubmüllers Monographie ›Die Ordnung, der Witz und das Chaos‹ die Inkongruenz zwischen dem Konzept der literarischen Reihe und Grubmüllers tatsächlichem textanalytischen Vorgehen, indem er feststellt, Grubmüllers Beschreibungsmodelle seien über weite Strecken trotz seiner Ablehnung eines systematischen Zugangs noch immer dem Märenbegriff Fischers verpflichtet.88 Neben der Vermischung von Beschreibung und Klassifikation sieht Heinzle ein weiteres Problem des Textreihen-Modells in der unsicheren Datierung vieler kleinepischer Texte, die die Beschreibung von Bezügen zwischen den Texten erschwere.89 Als Ausweg schlägt er den Rückgriff auf die Überlieferungsgeschichte vor, denn »es greift zu kurz, wenn man die Geschichte einer Gattung wie der mhd. Verserzählung allein in produktionsästhetischer Perspektive schreiben will. Von der Sache wie von unseren Erkenntnismöglichkeiten her ist es geboten, bei der Überlieferung anzusetzen, bei den Handschriften, ihrem Sammlungsprogramm, ihrer Entstehungszeit, ihrem Entstehungsort, ihrem sozialen Umfeld«.90 Die Bedeutung der Überlieferungsgeschichte für die Beschreibung kleinepischer Texttypen wird auch von Franz-Josef Holznagel betont, der sich allerdings nicht auf eine überlieferungsgeschichtliche Perspektive beschränkt, sondern diese um eine auf narratologischer Analyse basierende systematische Typologie ergänzt (s. oben),91 wodurch ein differenziertes Bild kleinepischer Texttypen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt (2. Hälfte des 13. Jahrhunderts) und in einem bestimmten Überlieferungstyp (Kleinepiksammlung) entsteht. Michael Waltenberger versucht die Spezifik märenhaften Erzählens durch die Fokussierung auf pragmatische und funktionale Dimensionen zu fassen.92 Er sieht in der »spezifisch erzählerische[n] Möglichkeit, situative Bedingungen für die Geltung von Normen erfahrbar zu machen«,93 ein Charakteristikum märenhaften Erzählens, das teilweise auch durch Überlieferungsverbünde bestimmter Textgruppen reflektiert werde. Die Mären unterschieden sich durch diese pragmatisch-funktionale Besonderheit einerseits von anderen kleinepischen Formen wie etwa dem situationsabstrakten bispelhaften Erzählen,94 andererseits werde darin auch ihre historische Spezifik »vor dem Hintergrund mittelalterlicher ›Präsenzkultur‹«95 deutlich.

88 89 90 91 92 93 94 95

Joachim Heinzle: Rezension zu Grubmüller: Ordnung. ZfdPh 128 (2009), S. 133–138. Heinzle: Rezension, S. 135. Heinzle: Rezension, S. 136. Holznagel: Handschrift, bes. Kap. I.2. Waltenberger: Situation und Sinn. Waltenberger: Situation und Sinn, S. 303. Vgl. Waltenberger: Situation und Sinn, S. 293. Waltenberger: Situation und Sinn, S. 308.

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2.3 Entwurf eines Beschreibungsmodells für den Texttyp der geistlichen Verserzählung Angesichts dieser kontroversen Forschungslage für die Kleinepik an sich ist die Frage nach dem methodischen Vorgehen bei der Untersuchung geistlicher Verserzählungen als Texttyp besonders komplex. Zunächst muss geklärt werden, welche texttypologische Konzeption der Untersuchung zugrunde gelegt und welches Beschreibungsmodell angewandt werden soll. Die Untersuchung hat dabei nicht den Anspruch, eine systematische Texttypologie zu entwickeln, die auch auf andere Bereiche der mhd. Literatur übertragbar ist,96 sondern fokussiert ganz auf die Textgruppe der geistlichen Verserzählungen und fragt danach, wie die in der Forschung vorgeschlagenen Modelle und Perspektiven modifiziert und kombiniert werden können, um ein möglichst vielseitiges Bild des Texttyps zu zeichnen. 2.3.1 Texttypologische Konzeption Das von Grubmüller festgestellte Paradox, dass die mittelalterliche Literatur auf den ersten Blick zwar »gattungsmäßig organisiert« zu sein scheint, sich einer strikten Klassifizierung nach Gattungen aber verweigert,97 lässt darauf schließen, dass für mittelalterliche Texttypen die klassische, auf Ausschlusskriterien basie-

96 Wie etwa Hugo Kuhn es unternommen hat: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen 1980. Die Begriffe ›Literatursystem, -systematisch‹ werden hier und im Folgenden bei der Beschreibung des Texttyps verwendet, um eine systematische Perspektive auf die Gesamtheit der überlieferten Texte zu benennen. Die Begriffe implizieren weder einen systemtheoretischen Ansatz im Sinne Luhmanns noch die Annahme eines autonomen, in sich geschlossenen Systems ›Literatur‹; letzteres wäre angesichts der mittelalterlichen Literatursituation problematisch; vgl. Stephan Müller: Erzählen und Erlösen. Wege ins Heil und die Produktion von Präsenz im Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg (I,1,1–50). In: Narration und Ethik. Hrsg. von Claudia Öhlschläger (Ethik – Text – Kultur 1). München 2009, S. 183–199, hier S. 183; Ludger Lieb/Stephan Müller: Einleitung. In: Situationen des Erzählens. Aspekte narrativer Praxis im Mittelalter. Hrsg. von Ludger Lieb/Stephan Müller (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 20/254). Berlin 2002, S. 1–18, hier S. 10 f. Die vorliegende Arbeit geht vielmehr vom Gedanken aus, dass mittelalterliche Literatur immer in lebensweltliche und kulturelle Kontexte eingebunden ist, die bis zu einem gewissen Grad rekonstruierbar sind und bei der Interpretation der Texte berücksichtigt werden müssen (vgl. Kap. III.1.); dennoch erfordert das texttypologische Erkenntnisinteresse zuweilen eine abstraktere, systematische Perspektive auf den Gegenstand. 97 Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 200; erneut in Grubmüller: Ordnung, S. 13: »Andererseits erscheint die mittelalterliche Literatur dem unbefangenen Blick durchaus gattungsmäßig organisiert. Ganz ohne Zweifel gibt es Werkreihen, deren Gattungscharakter nicht in Frage steht: in der deutschen Literatur z.B. den Artusroman, das Heldenepos, das Minnelied, den Sangspruch, das Fastnachtsspiel, das Osterspiel, den Prosaroman und viele andere; Paralleles ließe sich für die französische Literatur, Vergleichbares für die lateinische anführen. Woran liegt es

24 | I Methodische Grundlagen rende Kategorienbildung nicht geeignet ist.98 Dem literarischen Phänomen angemessener scheint eine offenere Konzeption von Kategorien zu sein, wie sie in der Kognitionswissenschaft und der Linguistik unter dem Begriff der »natürlichen«99 Kategorien verbreitet ist. Diese sind nicht durch dichotomische Kriterien auf die Grenzen hin, sondern durch besonders gute Beispiele auf das Zentrum hin orientiert. Diese Art von prototypentheoretisch fundierter Kategorisierung wurde ausgehend von den Arbeiten Eleanor Roschs100 und George Lakoffs101 in den letzten Jahrzehnten auch auf den Bereich der Texttypologie übertragen.102 So hat etwa Doris Tophinke das Konzept auf den Texttyp mittelalterlicher kaufmännischer Handels- und Rechnungsbücher angewandt.103 Sie fokussiert auf die Soziogenese von Texttypen, ihre Funktionalität und kulturelle Form,104 wobei sie Texttypen im Sinne Lakoffs als »kognitive Einheiten«105 versteht, die in idealisierte kognitive Modelle (ICMs)106 eingebunden sind. Daraus ergeben sich zwei Perspektiven auf die Texttypen. Sie sind einerseits Teil komplexer »Szenario-ICMs«,

aber, dass diese Evidenzen sich auflösen, sobald man sie in eine Gattungssystematik zu fassen sucht oder Gattungsgrenzen bestimmen will, dass also alle diese Bemühungen in einer Sackgasse enden? Es muss an der Art der Systematik liegen, also an der Art des gewählten Zuganges.« 98 Vgl. Grubmüller: Gattungskonstitution, S. 201. 99 Zum Konzept der natürlichen Kategorie s. Eleanor Rosch: Natural Categories. Cognitive Psychology 4 (1973), S. 328–350; George Lakoff: Women, Fire, and Dangerous Things. What Categories Reveal about the Mind. Chicago/London 1987, S. 5–154. Grubmüller nimmt auf die prototypentheoretische Forschung durch die Nennung der Arbeiten von Voßkamp und Tophinke (s.u.) Bezug, vgl. Grubmüller: Ordnung, S. 16. 100 Cognition and Categorization. Hrsg. von Eleanor Rosch/Barbara B. Lloyd. Hillsdale (N.J.) 1978; The embodied mind. Cognitive science and human experience. Hrsg. von Francisco J. Varela/Evan Thompson/Eleanor Rosch. Cambridge (Mass.) 1999. 101 Lakoff: Women; George Lakoff: Categories and Cognitive Models (Cognitive Science Report 2). Berkeley 1982. 102 Vgl. Kap. I.2.1. 103 Tophinke: Gattungsgrenze; Tophinke: Handelstexte. Tophinkes Modell wurde auch in neueren literaturwissenschaftlichen Arbeiten im Rahmen von texttypologischen Überlegungen aufgenommen und diskutiert, vgl. beispielsweise Carmen Cardelle de Hartmann: Lateinische Dialoge 1200–1400. Literaturhistorische Studie und Repertorium (Mittellateinische Studien und Texte 37). Leiden 2007, S. 23–26; Ekkehard Borries: Schwesternspiegel im 15. Jahrhundert. Gattungskonstitution, Editionen, Untersuchungen. Berlin/New York 2008, S. 404–407; Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte (Frühe Neuzeit 138). Tübingen 2009, S. 105 f. 104 Tophinke: Handelstexte, S. 11, 27, 41–56. 105 Tophinke: Handelstexte, S. 56–68. 106 Zum Konzept des ICM s. Lakoff: Women, S. 68.

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d.h. »typische[r] situative[r] (Handlungs-)Zusammenhänge«,107 in denen sie auftreten, bilden andererseits aber auch selbst »›Texttyp-ICMs‹, die in der Fülle an formalen Einzelheiten einen bestimmten Typ in seiner Gestalt erkennen lassen.«108 Tophinke geht also davon aus, dass es zahlreiche Merkmale gibt, die die Texttypik tragen,109 wobei gemäß der Unterscheidung von Szenario-ICMs und Texttyp-ICMs textexterne, situativ-pragmatische Merkmale (Ort, Personen, Geltungsanspruch) und textinterne (Beschreibstoff, Layout, Sprache, Satzbaumuster) zu unterscheiden sind. Dabei handelt es sich um (idealisierte) typische Merkmale, die nicht vollständig und nicht in genau dieser Form in jedem konkreten Textexemplar gegeben sein müssen – sie sind also nicht als zwingende Voraussetzungen im Sinne klassischer Kategorienbildung zu verstehen. Tophinkes offene, prototypentheoretisch fundierte Texttypenkonzeption ist prinzipiell auf die gesamte mittelalterliche Schriftkultur übertragbar; die starke Betonung textexterner Faktoren (»Szenario-ICMs«) bietet sich jedoch besonders für den Bereich der pragmatischen Schriftlichkeit an, in dem Tophinkes Untersuchungsgegenstand situiert ist. Für literarische Texte, die sich meist nicht so präzise historischsituativ verorten lassen wie etwa Handelsbücher oder Urkunden, müsste Tophinkes Modell an einigen Stellen modifiziert werden. Ein anderes Beispiel der Anwendung prototypentheoretischer Kategorisierungskonzepte auf texttypologische Fragestellungen ist Hans Ruefs Untersuchung zu schweizerdeutschen Sprichwörtern.110 Es handelt sich hier zwar nicht um einen historischen Texttyp; im Gegensatz zu den bei Tophinke behandelten Handelsbüchern sind Sprichwörter aber weniger stark situativ eingebunden. Bei den Sprichwörtern ist man – wie auch bei mittelalterlichen kleinepischen Texttypen – mit dem Phänomen konfrontiert, dass es zwar viele gute Beispiele gibt, die eindeutig zur Gruppe dazugehören, die Formulierung einer Definition mit klaren Abgrenzungskriterien aber unmöglich ist.111 Nach Ruef wird »im konkreten Fall ein bestimmter ›Kandidat‹ nach bestimmten Prinzipien über seine Kategorienzugehörigkeit beurteilt«,112 indem »auf der Ebene von konkreten Erfahrungen«113 Typen von Ähnlichkeiten festgestellt werden. Mit Typen von Ähnlichkeiten meint Ruef nicht »Eigenschaften [...], die jedem Sprichwort zukommen oder die wenigstens jedem Sprichwort in einem bestimmten Grade zugesprochen

107 Tophinke: Handelstexte, S. 62. 108 Tophinke: Handelstexte, S. 63. 109 Tophinke: Handesltexte, S. 69–76. 110 Hans Ruef: Sprichwort und Sprache. Am Beispiel des Sprichworts im Schweizerdeutschen (Studia Linguistica Germanica 36). Berlin/New York 1995, bes. S. 28 f. 111 Vgl. Ruef: Sprichwort, S. 25–28. 112 Ruef: Sprichwort, S. 29. 113 Ruef: Sprichwort, S. 35.

26 | I Methodische Grundlagen werden können. Es sind Vergleichsprinzipien (die freilich in Eigenschaften festgemacht werden können), die offensichtlich spezifisch zur Konstitution der Kategorie des Sprichworts herangezogen werden«.114 Für die Kategorie des Sprichworts schlägt Ruef folgende Vergleichsprinzipien vor: bestimmte syntaktische Strukturen,115 der paradoxale Zug und die Bedeutungsmotivation.116 Bei der Frage nach der Kategorienzugehörigkeit und den Vergleichsprinzipien wird der größte methodisch bedeutsame Unterschied zwischen Ruefs Untersuchungsgegenstand und mittelalterlichen Texttypen deutlich: Ruef behandelt Sprichwörter, die im aktuellen Sprachgebrauch verwendet werden, also Texte, die von zeitgenössischen Sprechern intuitiv – aufgrund ihrer sprachlichen Erfahrung – als gute oder weniger gute Beispiele beurteilt werden können.117 Im Gegensatz dazu sind mittelalterliche Texte aufgrund der historischen Distanz des modernen Betrachters diesem direkten, erfahrungsbezogenen Zugriff nicht zugänglich.118 Es ist nicht sicher festzustellen, in welchem Verhältnis die intuitive Beurteilung des modernen Betrachters zu der intuitiven Beurteilung mittelalterlicher Rezipienten steht, zu deren lebensweltlicher Erfahrung der Umgang mit geistlichen Verserzählungen gehörte. Aus diesem Grund ist auch die Entscheidung des modernen Betrachters, welche Vergleichsprinzipien für die Konstitution des Texttyps spezifisch sind, bis zu einem gewissen Grad problematisch, da sich über die Frage, ob diese Vergleichsprinzipien auch von mittelalterlichen Rezipienten bei ihren intuitiven, erfahrungsbezogenen (und möglicherweise nicht explizit gemachten) Entscheidungen über die Texttypenzugehörigkeit und die Güte einzelner Beispiele herangezogen wurden, nur Vermutungen anstellen lassen. So zeigt etwa die Analyse von Textzusammenstellungen in Kleinepiksammlungen, dass in manchen Fällen bevorzugt Texte mit geistlicher Thematik, in anderen Fällen bevorzugt Texte mit diskursiver Struktur in die Sammlungen aufgenommen wurden. Diese Präferenzen können als Reflexe eines impliziten Texttypenbewusstseins gewertet werden – allerdings handelt es sich dabei immer nur um einzelne Rezeptionszeugnisse, die in ihrer jeweiligen historischen Situiertheit zu betrachten sind und keine allgemeinen Aussagen über das Texttypenbewusstsein mittelalterlicher Rezipienten zulassen. Außerdem können diese Sammelschwer-

114 Ruef: Sprichwort, S. 35 f. 115 Ruef: Sprichwort, S. 37–44. 116 Ruef: Sprichwort, S. 45–52. 117 Vgl. Ruef: Sprichwort, S. 29: »Beste Beispiele für eine natürliche Kategorie sind solche, die sich in der Erfahrung am stärksten manifestieren, die auffälligsten, herausragenden, eingängigen. Diese erfahrungsbezogene Bestimmung [...] impliziert keine Aussage über irgendwelche Gleichheit von Eigenschaften unter ihnen.« 118 Zur Problematik der Anwendung des Konzepts der natürlichen Kategorie auf historische Gegenstände s. auch Tophinke: Gattungsgrenze, S. 179; Tophinke: Handelstexte, S. 10 f.

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punkte nicht ohne weiteres als bewusste Entscheidungen der Handschriftenredaktoren angesprochen werden, da auch die Bedeutung vorlagenbedingter Sammeltraditionen mit zu bedenken ist. Aufgrund der Unmöglichkeit eines unmittelbar-intuitiven Zugangs muss der moderne Betrachter Fokussierungen und Setzungen vornehmen, die sich bei der Betrachtung zeitgenössischer Phänomene aus der empirischen Befragung von Testpersonen ergeben würden. Trotz dieses methodischen Problems scheint mir das Konzept der natürlichen Kategorie der inhärenten Organisationsform mittelalterlicher kleinepischer Texttypen angemessener und für die Analyse gewinnbringender zu sein als eine klassische, auf Ausschlusskriterien aufbauende Kategorisierung. Es wird denjenigen Texten gerecht, die zweifellos als geistliche Verserzählungen bezeichnet werden können (also Fällen von klarer Zugehörigkeit), erlaubt aber auch die Einbeziehung von Texten, deren Kategorienzugehörigkeit nicht eindeutig ist, ohne sie gleich als problematische Grenzfälle abzuwerten. Gerade die Tatsache, dass dieses Konzept auf einer allgemeinen, kognitionstheoretischen Basis steht,119 lässt es für mittelalterliche Texttypen als besonders geeignet erscheinen, da für diese Texttypen keine explizite Gattungsreflexion und keine normativen Gattungsdiskurse, aber dennoch Kategorisierungsvorgänge bezeugt sind. Wie genau diese Kategorisierung stattgefunden hat (bewusst? reflektiert?), entzieht sich der Kenntnis des modernen Betrachters, aber die Sammelschwerpunkte etwa der Kleinepiksammlungen zeigen, dass dabei Vergleichsprinzipien wie geistliche/ weltliche Thematik, narrative/diskursive Form, Metrik und Umfang eine Rolle gespielt haben – dass die Auswahl nie ganz einheitlich ist, macht zugleich deutlich, dass es sich nicht um eine strikte, auf Ausschlusskriterien beruhende Kategorisierung handelte. Daher lege ich dieser Untersuchung eine texttypologische Konzeption zugrunde, die auf der Vorstellung eines Texttyps ›geistliche Verserzählung‹ als natürlicher, auf gute Beispiele hin orientierter Kategorie basiert. Aufgrund dieser Konzeption ist weder eine klare Grenzziehung gegenüber anderen Texttypen noch die Zusammenstellung eines geschlossenen Corpus ›aller‹ geistlichen Verserzählungen beabsichtigt, denn solche Verfahren setzen Ausschlusskriterien voraus, die in meinem texttypologischen Konzept gerade nicht gegeben sind. Die Konzeption des Texttyps als natürliche Kategorie erfordert stattdessen eine immer wieder neu ansetzende Annäherung an das literarische Phänomen, die, ausgehend von Fällen klarer Zugehörigkeit, die Spannbreite des Texttyps auslotet und zugleich seine Spezifik gegenüber anderen literarischen Formen zu erfassen sucht.

119 Dies wird von manchen Gattungstheoretikern allerdings als Manko an Spezifik wahrgenommen, vgl. Zymner: Texttypen und Schreibweisen.

28 | I Methodische Grundlagen 2.3.2 Skizze des Beschreibungsmodells Nach diesen grundsätzlichen konzeptionellen Entscheidungen stellt sich die Frage, wie bei der Analyse des so verstandenen Texttyps methodisch vorgegangen werden soll, d.h. welches Beschreibungsmodell es erlaubt, das historische literarische Phänomen in seiner Komplexität zu erfassen. Ein Blick auf die gattungstheoretische Debatte zur Kleinepik zeigt, dass die Unzulänglichkeit der vorgeschlagenen Beschreibungsmodelle oft darin begründet ist, dass die gewählten Perspektiven absolut gesetzt und gegeneinander ausgespielt werden, obwohl sie je andere Teilaspekte beleuchten, die sich nicht ausschließen müssen, sondern sich ergänzen können.120 Ein multiperspektivisches Beschreibungsmodell scheint mir daher dem Gegenstand am angemessensten zu sein. Das Potential der Verbindung verschiedener Perspektiven zeigt sich etwa in Holznagels Monographie ›Handschrift – Texttypologie – Literaturgeschichte. Die kleineren mittelhochdeutschen Reimpaardichtungen des 13. Jahrhunderts und der Wiener Stricker-Codex 2705‹, in der ein überlieferungsgeschichtlicher mit einem narratologisch-systematischen Ansatz verknüpft wird. Holznagel geht dabei von einem konkreten Überlieferungszeugen aus, anhand dessen sich die Spezifik kleinepischer Texttypen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt fassen lässt. Mein Erkenntnisinteresse ist allerdings etwas anders gelagert, da ich von einem Texttyp ausgehe und dessen literaturhistorische Situation nicht nur zu einem Zeitpunkt, sondern über die ganze Dauer seiner Existenz hinweg betrachten will. Die Verbindung von systematischer und diachroner Perspektive, die dafür erforderlich ist, findet sich bereits in der ›Theorie der Gattungen‹ von Jauß, auf dessen Überlegungen ich hier zurückgreife. Auch in diesem Fall gibt es Abweichungen bezüglich des Erkenntnisinteresses: Jauß versucht, eine Gattungstypologie für die gesamte romanische Literatur des Mittelalters zu entwerfen, während es mir nur um einen Texttyp geht. Unterschiede sind auch im Gattungsverständnis an sich zu finden. Jauß bedient sich zwar des Wittgensteinschen Konzepts der Familienähnlichkeit,121 seine Gattungskonzeption ist aber doch stärker auf die Grenzen hin ausgerichtet als mein auf jüngeren kognitionstheoretischen Überlegungen basierender Ansatz.122

120 Vgl. Holznagel: Handschrift, Vorwort. 121 Dieser Zugang weist Ähnlichkeiten mit dem Konzept der natürlichen Kategorie auf, vgl. Lakoff: Women, S. 16. 122 Jauß sieht die Charakteristik einer Gattung in »einem Ensemble von formalen wie inhaltlichen Merkmalen«, welche »auf ihre Funktion im Regelzusammenhang untersucht werden [müssen], bevor ihre systemprägende Dominante erkannt und damit die Abgrenzung zu anderen Gattungen vorgenommen werden kann«, vgl. Jauß: Theorie der Gattungen, S. 112 f.

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Jauß bestimmt literarische Gattungen dadurch, »daß sie Texte selbständig zu konstituieren verm[ögen], wobei diese Konstitution sowohl synchronisch in einer Struktur nicht ersetzbarer Elemente als auch diachronisch in einer kontinuitätsbildenden Potenz faßbar sein muß.«123 Diese Sichtweisen auf das literarische Phänomen bilden die ersten beiden Perspektiven meines Beschreibungsmodells: eine synchrone und eine diachrone Perspektive. Die synchrone Perspektive ist der klassische Zugang zu einem Texttyp, wie er sich etwa in Fischers ›Studien‹ zeigt. Die von Heinzle und Grubmüller festgestellten Defizite dieses Zugangs liegen m.E. allerdings nicht vorrangig in der mangelnden Historizität dieser Perspektive, sondern in Fischers gattungstheoretischer Konzeption. Dass eine synchrone Perspektive bei einer offeneren Texttypenkonzeption gewinnbringend sein kann, zeigen für den Bereich der Kleinepikforschung die Arbeiten von Ziegeler und Holznagel. In der synchronen Perspektive meines Beschreibungsmodells kommen – in Anlehnung an das Modell von Ruef – Vergleichsprinzipien124 zum Einsatz, anhand derer verschiedene Vertreter des Texttyps aufeinander bezogen werden können: die geistliche Thematik, die narrative Struktur, die metrische Form und der geringe Umfang. Diese Eigenschaften werden aber – wie im Modell Tophinkes125 – nicht als Abgrenzungskriterien aufgefasst, sondern als idealisierte typische Merkmale. Während das Vergleichsprinzip der metrischen Form eine klare Entscheidung zulässt (Vers vs. Prosa, Reimpaarverse vs. strophische Formen), sind die anderen Vergleichsprinzipien (geistliche Thematik, narrative Struktur, Umfang) durch graduelle Abstufungen bestimmt:126 Sie erlauben keine ja/nein-Entscheidungen, sondern sind an Eigenschaften gebunden, die einem Text in mehr oder weniger hohem Maß zukommen. Die differenzierte Analyse sowohl guter als auch weniger guter Beispiele geistlicher Verserzählungen dient dazu, die Frage nach der spezifischen Leistung geistlichen Erzählens (gegenüber weltlichen Inhalten, diskursiven Textformen) zu klären. Diese vergleichenden Untersuchungen ermöglichen es auch, die Stellung geistlicher Verserzählungen im literarischen System und ihr Verhältnis zu anderen, verwandten Texttypen zu umreißen. Die synchrone Perspektive ermöglicht somit zwar wichtige Erkenntnisse über den Texttyp, kann ihn jedoch nicht in seiner Komplexität erfassen, da die literarischen Ausformungen eines historischen Texttyps und sein literatursyste-

123 Jauß: Theorie der Gattungen, S. 112. 124 S. o., Kap. I.2.3.1. 125 S. o., Kap. I.2.3.1. 126 Zu verschiedenen Organisationsformen von natürlichen Kategorien s. Lakoff: Women, S. 56 f.

30 | I Methodische Grundlagen matischer Status diachronem Wandel unterworfen sind.127 Diese Dimension greift Jauß bei seiner Betrachtung literarischer Gattungen »in diachronischer Sicht« auf, in der vom »Verhältnis des einzelnen Textes zur gattungsbildenden Textreihe auszugehen« sei,128 das sich »als ein Prozeß fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung« darstelle.129 An diesem Punkt setzen auch die Arbeiten von Voßkamp und Grubmüller an, die die diachrone Perspektive bei ihren gattungstheoretischen Überlegungen ins Zentrum stellen. Voßkamp geht davon aus, dass am Anfang einer literarischen Reihe oft ein prototypisches Werk stehe, z.B. Boccaccios ›Decamerone‹ für die Gattung der neuzeitlichen Novellen oder Daniel Defoes ›Robinson Crusoe‹ für die Gattung der Robinsonaden.130 Dieses Konzept übernimmt Grubmüller, der an den Anfang der literarischen Reihe der weltlichen Kurzerzählungen die Stricker-Mären stellt.131 Diese Setzung ist wegen der unsicheren Verfasserschaft vieler sog. Stricker-Mären problematisch132 und setzt zudem einen Rückgriff auf ein (synchron angelegtes) Merkmal-Set voraus, was Grubmüllers eigener methodischen Ablehnung einer synchronen Perspektive zuwiderläuft.133 Diese sich aus der praktischen Arbeit mit den Texten ergebende Problematik zeigt, dass eine diachrone Texttypenbeschreibung letztlich nicht ohne eine synchrone Ebene (oder einen impliziten Rückgriff darauf) auskommt. Außerdem scheint es mir angesichts der meist anonymen und nicht sehr breiten Überlieferung kleinepischer Texte fraglich, ob man in diesem Bereich einen konkreten überlieferten Text (oder eine Gruppe von Texten) als normbildende Prototypen annehmen kann. Es ist wohl eher davon auszugehen, dass sich allmählich mit Bezug auf und in Absetzung von verschiedene(n) bereits vorhandene(n) literarische(n) Traditionen ein Texttyp herausgebildet hat, dessen Anfänge aus der historischen Distanz nur noch bedingt rekonstruierbar sind und sich nicht in einem einzigen normbildenden Text oder Œuvre fassen lassen. In meinem Beschreibungsmodell für geistliche Verserzählungen geht es in einer zweiten, diachronen Perspektive folglich darum, die historische Entwicklung des Texttyps über die Jahrhunderte hinweg nachzuzeichnen. Der Texttyp ist aus verschiedenen literarischen Traditionen heraus entstanden, wurde von ihnen geprägt und nimmt auf sie Bezug; besonders die frühmhd. Tradition geist-

127 Vgl. Jauß: Theorie der Gattungen, S. 118: »Eine historische Systematik der literarischen Gattungen [erfordert] weitere Schnitte durch die literarische Produktion im Vorher und Nachher der Diachronie«. 128 Jauß: Theorie der Gattungen, S. 118. 129 Jauß: Theorie der Gattungen, S. 119. 130 Voßkamp: Gattungen, S. 30, 33. 131 Vgl. Grubmüller: Ordnung, S. 79–94. 132 Vgl. Holznagel: Handschrift, Kap. I.3.1.2. 133 S. o., Kap. I.2.2.2.

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lichen Erzählens in der Volkssprache und die (lateinische) Tradition exemplarischen Erzählens spielen als Grundlage und Referenzrahmen für geistliche Verserzählungen, wie sie ab dem 12. Jahrhundert entstehen, eine bedeutende Rolle. Auch nach der Etablierung des Texttyps im 13. Jahrhundert bleibt er einem diachronen Wandel unterworfen, der zu konzeptionellen und ästhetischen Differenzen zwischen älteren und jüngeren Texten führt, wobei es sich allerdings aufgrund der unsicheren Datierung immer nur um das Feststellen von Tendenzen handeln kann. Jauß hat darauf hingewiesen, dass die diachrone Perspektive nicht nur die Geschichte eines Texttyps, sondern auch seinen sich wandelnden Status im literarischen System umfasst.134 Dabei ist »nach wechselseitigen Beziehungen« zu fragen, »die das System der Literatur im gegebenen historischen Augenblick ausmachen«,135 wobei »literarische Gattungen im periodischen Wechsel der dominierenden Rolle wie im rivalisierenden Nebeneinander erfasst werden«136 können. Diese Fragen weiten die Texttypenbeschreibung zu einer Typologie der gesamten Literatur eines bestimmten historischen Zeitpunktes aus. Im Rahmen der Untersuchung eines bestimmten Texttyps wie der geistlichen Verserzählungen, die nicht auf eine umfassende Gattungstheorie der mhd. Literatur hinzielt, können solche Fragen nur punktuell und ansatzweise – immer vom hier interessierenden Texttyp ausgehend – aufgegriffen werden. Dennoch ist es für ein differenziertes Verständnis des diachronen Wandels eines Texttyps von großer Bedeutung, auch seinen literatursystematischen Status und dessen Beeinflussung durch literarische und kulturelle Veränderungen wie etwa das Aufkommen alternativer Formen geistlichen Erzählens (Prosa, Meisterlied) zu berücksichtigen. Die synchrone und diachrone Perspektive des Beschreibungsmodells stellen einen produktionsästhetisch ausgerichteten Zugang zum literarischen Phänomen dar. Um den Texttyp in seiner Komplexität fassen zu können, müssen jedoch auch rezeptionsästhetische Dimensionen mitbedacht werden; dies soll in einer dritten, rezeptionsorientierten Perspektive geschehen. Dabei geht es – den Überlegungen von Jauß folgend – um die »Frage nach der Realität der literarischen Gattungen im geschichtlichen Alltag oder nach ihrer gesellschaftlichen Funkti-

134 Jauß: Theorie der Gattungen, S. 136: »Literarische Gattungen existieren nicht einzeln, sondern bilden die verschiedenen Funktionen des gegebenen epochalen Systems, zu dem sie das einzelne Werk in Beziehung setzen«. Das »Gefüge der traditionellen und der nicht kanonisierten Gattungen« wird dabei »nicht als logische Klassifikation, sondern als literarisches System einer bestimmten geschichtlichen Situation« (S. 118) verstanden. 135 Jauß: Theorie der Gattungen, S. 134. 136 Jauß: Theorie der Gattungen, S. 135.

32 | I Methodische Grundlagen on«,137 also um die »geschichtlichen oder lebensweltlichen Situationen, die diesen Prozeß [d.i., den literaturimmanenten Prozeß einer Gattung] in der Interaktion von Autor und Gesellschaft, Publikumserwartung und literarischem Ereignis bedingt haben könnten.«138 Die Funktionalität von Texten und Texttypen lässt sich einerseits an textinternen Faktoren wie Erzähl- und Sinngebungsmustern ablesen;139 andererseits wird sie auf textexterner Ebene in der Kontextualisierung und den dadurch geschaffenen Rezeptionsentwürfen für Texte in der (handschriftlichen) Überlieferung greifbar.140 Die Überlieferung setzt oft erst lange Zeit nach der Entstehung der Texte ein, weist teilweise eine große Varianz auf und stellt in den meisten Fällen bereits ein Rezeptionszeugnis dar. Diese spezifische Tradierungssituation mittelalterlicher Literatur führt dazu, dass die produktionsästhetisch ausgerichteten Analysen von Texten, die in der synchronen und diachronen Perspektive vorgenommen werden, fast immer auch in einer rezeptionsorientierten Perspektive reflektiert werden müssen, da die Produktionssituation meist nur mittelbar – über Rezeptionszeugnisse – zu erschließen ist. Auch die handschriftliche Überlieferung ist diachronem Wandel unterworfen – dies lässt sich besonders gut an Texten beobachten, die über einen längeren Zeitraum und in unterschiedlichen Kontexten überliefert sind. Um der zentralen Bedeutung der (handschriftlichen) Überlieferungsgeschichte und -kontexte für das Verständnis geistlicher Verserzählungen Rechnung zu tragen, soll dieser Bereich einen Schwerpunkt der Arbeit bilden. In dieser Perspektive wird somit nicht nur danach gefragt, auf welche kulturellen und literarischen Bedingungen seiner Entstehungszeit ein bestimmter Text antwortet,141 sondern auch danach, welche Fragen im Lauf seiner Weitertradierung an ihn gestellt und welches Antwortpotential ihm dadurch implizit zugeschrieben wurde. Die Verbindung der synchronen, diachronen und rezeptionsorientierten Perspektive zu einem komplexen Beschreibungsmodell erlaubt es, unterschiedliche Dimensionen des literarischen Phänomens zu beleuchten, die sich zwar auf einer theoretischen Ebene differenzieren lassen, in der praktischen Arbeit mit den Texten aber ein hohes Maß an Interdependenz aufweisen. So gewährt die (handschriftliche) Überlieferung zwar den einzigen Zugang zu den Texten, stellt aber meist schon ein Rezeptionszeugnis dar, das den Text möglicherweise gegen die textintern angelegte, vom Produzenten intendierte Wirkung funktionalisiert. Jeder Text ist Teil des diachronen Entwicklungsprozesses, kann in seiner jewei-

137 138 139 140 141

Jauß: Theorie der Gattungen, S. 129. Jauß: Theorie der Gattungen, S. 121. Vgl. dazu Waltenberger: Situation und Sinn. Vgl. den Ansatz der Untersuchung von Holznagel: Handschrift. Zum »Antwortcharakter« von Texten vgl. Jauß: Theorie der Gattungen, S. 137.

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ligen historischen Spezifik aber nur vor dem Hintergrund anderer Vertreter des Texttyps mittels der in der synchronen Perspektive entwickelten Vergleichsprinzipien angemessen beschrieben werden. Aufgrund dieser Interdependenzphänomene scheint es mir sinnvoll, die Perspektiven auch im Aufbau der Arbeit und bei der Beschäftigung mit den einzelnen Texten miteinander zu verbinden, da ein solches Vorgehen m.E. der historischen Komplexität des Gegenstandes am ehesten gerecht werden kann.

II Der Texttyp im literarischen Umfeld Die in der Einleitung vorgestellten modernen Adaptationen mittelalterlicher geistlicher Erzählstoffe haben verdeutlicht, was die mittelalterlichen Ausformungen dieser Stoffe ausmacht. Im Zentrum der Beschäftigung mit geistlichen Verserzählungen steht daher immer die Leitfrage, wie Geistliches erzählt, d.h. Transzendentes im narrativen Raum präsent gemacht wird.1 Diese Frage drückt die Verbindung von geistlicher Thematik und narrativer Form aus, die für geistliche Verserzählungen konstitutiv ist, aber in den einzelnen Vertretern des Texttyps auf ganz unterschiedliche Weise realisiert wird. Um die literarische Spezifik und zugleich die Variationsbreite des Texttyps zu konturieren sowie sein Verhältnis zu anderen (kleinepischen) Texttypen zu skizzieren, wird das literarische Phänomen nun zunächst in einer synchronen Perspektive betrachtet.2 Dadurch entsteht eine Basis für weiter ausdifferenzierende Zugänge in diachronen und rezeptionsorientierten Perspektiven in den folgenden Kapiteln. In der synchronen Perspektive werden als Vergleichsprinzipien3 die geistliche Thematik, die narrative Struktur, die metrische Form und der Umfang der Texte angewandt. Dabei wird jeweils von Fällen klarer Zugehörigkeit ausgegangen, die die betreffenden Eigenschaften in hohem Maß aufweisen. Anhand weiterer, weniger typischer Beispiele wird die Bedeutung dieser Eigenschaften für die Konstituierung des Texttyps ausgelotet. Dabei sind oft gerade die Randbereiche besonders aufschlussreich, in denen fließende Übergänge von einem Texttyp zum anderen zu beobachten sind, etwa, wenn der gleiche Erzählstoff mit unterschiedlicher inhaltlicher Akzentsetzung umgesetzt oder in unterschiedlichen Formen dargeboten wird. Der Bezug des Texttyps zum literarischen Umfeld wiederum ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis geistlicher Verserzählungen als Bestandteil des mhd. Literatursystems.

1 Geistliche Thematik Der Begriff ›geistliche Thematik‹ bedarf der Klärung, zumal er den nicht unproblematischen Gegensatz von geistlicher und weltlicher Thematik impliziert.4 Es gibt Verserzählungen, die man ohne Zögern als ›geistlich‹ bezeichnen kann,

1 Zum Phänomen des Erzählens im Mittelalter und seiner situativen Verortung s. den Sammelband: Situationen des Erzählens. 2 Zu den methodischen Grundlagen s. Kap. I.2.3. 3 Zu diesem Begriff s. Kap. I.2.3. 4 Zur Debatte über die Unterscheidung von ›geistlicher‹ und ›weltlicher‹ Literatur s. Kap. I.1.2.

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nämlich Texte, in denen durch transzendente Figuren bewirkte Vorgänge oder religiöse Inhalte eine zentrale Rolle spielen. In vielen Fällen besteht jedoch, wie Fritz Peter Knapp bemerkt, »keine Einigkeit darüber, welche Textsignale bereits ausreichen, die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe [der ›geistlichen‹ Texte, N.E.] zu rechtfertigen.«5 Diese Abgrenzungsschwierigkeit hat ihren Grund darin, dass es sich bei dem Vergleichsprinzip ›geistliche Thematik‹ um eine graduell organisierte Kategorie handelt: Die Begriffe ›geistlich‹ und ›weltlich‹ sind als Endpunkte einer Skala zu denken, deren Abstufungen fließend ineinander übergehen. Bei einer normativen Gattungskonzeption ist man gezwungen, an einer bestimmten Stelle dieses Verlaufs eine Grenze zu ziehen, die aber aufgrund ihrer Willkürlichkeit nie konsensfähig sein wird. Versteht man einen Texttyp jedoch – wie in der vorliegenden Untersuchung – als ›natürliche‹ Kategorie, die auf gute Beispiele statt auf die Grenzen hin orientiert ist, kann man mit dem Begriff ›geistliche Thematik‹ arbeiten, ohne eine strikte Abgrenzung vorzunehmen. Diejenigen Texte, die man problemlos als ›geistlich‹ bezeichnen kann, sind in dieser Konzeption gute Beispiele des Texttyps, sie stehen dem idealen kognitiven Modell einer geistlichen Verserzählung, in dem religiöse Inhalte zentral sind, besonders nahe. Aber auch Texte, die nur wenige religiöse Elemente enthalten, können als Vertreter des Texttyps untersucht werden – nur eben als weniger gute Beispiele. Dabei geht es nicht um die Entscheidung, ob diese Texte nun Vertreter des Texttyps sind oder nicht, sondern um die Frage, welchen Stellenwert die religiösen Elemente für den jeweiligen Text haben und wie sie narrativ eingebunden sind. Der Vergleich mit guten Beispielen geistlicher Verserzählungen erlaubt eine Einschätzung der Nähe bzw. Distanz dieser Texte zum idealen kognitiven Modell des Texttyps. An die Stelle einer Klassifizierung muss gerade bei Fällen unklarer Zugehörigkeit eine detaillierte Analyse der konzeptionellen und ästhetischen Eigenheiten des Textes treten. Bei der Untersuchung der narrativen Gestaltung von Vorgängen, die eine Präsenz der Transzendenz in der immanenten Welt suggerieren, sind verschiedene Aspekte von Bedeutung.6 Es ist danach zu fragen, in welcher Form das

5 Knapp: Erzählgattungen, S. 2. 6 Zur literarischen Darstellung von transzendenten Vorgängen vgl. u.a. Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen – Erscheinungsformen – Deutungen. Hrsg. von Martin Heinzelmann/Klaus Herbers/Dieter R. Bauer (Beiträge zur Hagiographie 3). Stuttgart 2002; Bruno Quast: Ereignis und Erzählung. Narrative Strategien der Darstellung des Nichtdarstellbaren im Mittelalter am Beispiel der virginitas in partu. ZfdPh 125 (2006), S. 29–46; Susanne Köbele: Grenzüberschreitungen. Spielräume literarischer Engel-Darstellung im Mittelalter. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54 (2007), S. 130–164; Andreas Hammer/Stephanie Seidl: Die Ausschließlichkeit des Heiligen. Narrative Inklusions- und Exklusionsstrategien im mhd. ›Passional‹. PBB 130 (2008), S. 272–297; Nine Miedema: Wunder sehen – Wunder erkennen – Wunder

36 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld Transzendente präsent ist,7 wie die Wahrnehmung dieser Präsenz sowohl auf der intradiegetischen als auch auf der extradiegetischen Ebene dargestellt bzw. gesteuert wird und welche Funktion der Präsenz des Transzendenten zugeschrieben wird. Die Form der Präsenz ist meist bereits durch den Erzählstoff vorgegeben, so dass der Variationsspielraum bei diesem Aspekt beschränkt ist. Man kann zwischen Formen mehr oder weniger direkter Präsenz des Transzendenten unterscheiden, wobei die Übergänge zwischen den einzelnen Formen oft fließend sind. Die direkteste Form der Präsenz ist die Erscheinung und das Handeln einer transzendenten Figur (Gott, Maria, Teufel etc.) im narrativen Raum. In manchen Fällen wird ein mirakulöser Vorgang ohne die körperliche Präsenz der transzendenten Figur gewirkt und nur durch den Erzähler oder eine menschliche Figur einem transzendenten Urheber zugeschrieben. Fälle indirekter bzw. uneindeutiger Präsenz liegen vor, wenn ein an sich immanent-lebensweltlicher Vorgang vom Erzähler oder den Figuren im Nachhinein als Wirken transzendenter Figuren erkannt bzw. interpretiert wird. Neben der Gruppe der transzendenten Figuren, die nach mittelalterlichen religiösen Vorstellungen als real existierend gedacht wurden, steht die Gruppe der Allegorien und Personifikationen,8 die

erzählen. In: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters (XXI. AngloGerman Colloquium). Hrsg. von Ricarda Bauschke/Sebastian Coxon/Martin H. Jones. Berlin 2011, S. 331–347; Andreas Hammer: Zwischen ratio und Erleuchtung. Religionsgespräche und Konversionserlebnisse in der mittelalterlichen Literatur. In: Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende. Hrsg. von Nine Miedema/Angela Schrott/Monika Unzeitig. Berlin 2012, S. 329–349, hier S. 329 f.; Köbele: Die Illusion der ›einfachen Form‹. 7 Der Begriff der Präsenz wurde in der mediävistischen Forschung der letzten Jahre wiederholt nutzbar gemacht, um unterschiedliche kulturelle und literarische Phänomene zu beschreiben, vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004; Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz-Spuren. Über Gebärden in der Mythographie und die Zeitresistenz des Mythos. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich/Bruno Quast (Trends in Medieval Philology 2). Berlin 2004, S. 1–15; Christian Kiening: Präsenz – Memoria – Performativität. Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel. In: Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel. Hrsg. von Ingrid Kasten/Erika Fischer-Lichte (Trends in medieval philology 11). Berlin 2007, S. 139–168; Müller: Erzählen und Erlösen, S. 196–199. 8 Die Beurteilung von transzendenten und allegorischen Figuren ist in epochenübergreifenden Forschungsansätzen oft problematisch. So greift beispielsweise Zymners Kommentar zur Parabeldefinition von Herder im Hinblick auf mittelalterliche religiöse Vorstellungen zu kurz: »Das von Herder genannte Figural weicht ganz offensichtlich von der Ebene des empirisch Möglichen ab: ›Engel und Geister einer anderen Welt‹ gehören bis zum experimentell wiederholbaren Beweis des Gegenteils nicht zur empirischen Realität, und bei Abstraktionen und Personifikationen ist das selbstverständlich.« (Rüdiger Zymner: Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel. Paderborn 1991, S. 85).

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ebenfalls im narrativen Raum präsent sein und religiöse Inhalte anschaulich machen können, aber keine Referenz auf außerliterarische Figuren darstellen. Schließlich können religiöse Inhalte auch auf einer diskursiven Ebene verhandelt werden. Dies ist charakteristisch für geistliche Reden bzw. Traktate, kommt aber auch in narrativen Texten vor, wenn etwa religiöse Inhalte in der Figurenrede explizit thematisiert werden. Die narrative Gestaltung der Präsenz des Transzendenten liegt im Gegensatz zu ihrer Form ganz in der Hand des jeweiligen Erzählers. Ein wichtiger Aspekt der Gestaltung ist die Art, wie der Erzähler seine Rezipienten und seine Figuren die Präsenz des Transzendenten wahrnehmen lässt – die Wahrnehmbarkeit transzendenter Figuren und Vorgänge ist ja gerade das Außergewöhnliche, das Unerhörte, das hier im narrativen Raum erfahrbar wird. Durch Erzählerkommentare kann der Erzähler den Rezipienten eine transzendente Figur bereits als solche erkennen lassen, bevor die Figuren der Erzählung es tun, oder er kann den Rezipienten die Figurenperspektive einnehmen und am Wahrnehmungsprozess der Figuren teilhaben lassen. Auf der intradiegetischen Ebene schafft der Erzähler durch die Schilderung des Wahrnehmungsprozesses und der Reaktion der menschlichen Figuren auf die Präsenz des Transzendenten ein Identifikationsangebot, das dem Rezipienten die Teilhabe an der Präsenzerfahrung im narrativen Raum ermöglicht. In Fällen indirekter Präsenz kann der Erzähler erst im Nachhinein einen Vorgang als durch die Transzendenz beeinflusst bezeichnen bzw. durch eine Figur als solchen bezeichnen lassen und dadurch den Faktizitätsanspruch der Interpretation nivellieren. Das Erzählen von der Präsenz des Transzendenten kann im Hinblick auf den Rezeptionsvorgang auf verschiedene Weise funktional eingebunden werden. Ich unterscheide im Folgenden zwischen drei Funktionalisierungstendenzen, wobei eine Erzählung durchaus mehrere Tendenzen aufweisen kann. Eine emotionale Funktion hat die Präsenz des Transzendenten, wenn sie narrativ so gestaltet wird, dass der emotional-andächtige Nachvollzug der erzählten Präsenzerfahrung und damit die religiöse Erfahrung des Rezipienten im Zentrum der intendierten Rezeption stehen. Eine didaktische Funktion kommt der Präsenz des Transzendenten zu, wenn durch das Eingreifen einer transzendenten Figur in die Handlung ein religiöses Konzept auf exemplarische Weise vorgeführt, gutes Handeln menschlicher Protagonisten belohnt und schlechtes Handeln bestraft wird. Durch den Nachvollzug des Erzählten soll der Rezipient belehrt oder in seinem Glauben und seinen (orthodoxen) Meinungen bestärkt werden. Eine parodistische Funktion hat die Präsenz des Transzendenten, wenn die Schilderung übernatürlicher Vorgänge und das Auftreten transzendenter Figuren keinen ernsthaften Bezug zu religiösen Inhalten aufweisen oder diese ins Gegenteil verkehren. Aus der historischen Distanz ist es oft schwer zu beurteilen, ob und inwieweit der parodistischen Verwendung religiöser Elemente ein ernsthafter

38 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld Subtext zugrunde liegt, oder ob die Präsenz des Transzendenten in parodistischen Texten nur zur Steigerung der Komik dient.9 Diese unterschiedlichen Aspekte der Präsenz des Transzendenten in geistlichen Verserzählungen werden im Folgenden anhand einer Reihe von Texten untersucht, die mit guten Beispielen geistlicher Verserzählungen beginnt, um dann zu den Randbereichen des Texttyps zu kommen, in denen religiöse Versatzstücke parodiert werden oder eine nur marginale Stellung einnehmen.

1.1 Erzählen von transzendenten Figuren In der Erzählung ›Thomas von Kandelberg‹ (350 V., 13. Jahrhundert)10 erfährt ein junger Schüler die Präsenz des Transzendenten durch eine lebendig gewordene Marienstatue, die ihm aus der Not hilft. Der vorbildliche Schüler Thomas widmet sein Leben und seine Keuschheit der Jungfrau Maria. Als er eines Tages mit anderen Schülern in einer geselligen Runde sitzt, schlägt einer der Schüler vor, dass in einer Woche jeder ein Kleinod von seiner Geliebten mitbringen solle; derjenige, der das wertloseste Kleinod bringt, muss für Essen und Trinken aufkommen. Thomas erschrickt, da er keine Geliebte hat und arm ist. In seiner Verzweiflung bittet er Maria um Hilfe, und das Marienbild, vor dem er kniet, reicht ihm ein kleines Büchslein. Als nun alle anderen Schüler ihre Geschenke gezeigt haben und Thomas verspotten, öffnet er sein Büchslein und zieht zwei ganze Messgewänder heraus. Die Schüler bitten Thomas um Vergebung. Später wird er zum Bischof geweiht und führt ein frommes Leben.

Den kurzen Prolog (10 Verse) beginnt der Erzähler mit einer topischen captatio benevolentiae, betont seine Absicht, seinen Rezipienten mit der Geschichte zu dienen (V. 3) und unterscheidet das gute Publikum, das gerne von hoflichen dingen (V. 7) hört, vom nicht aufnahmefähigen schlechten Publikum. Bei der Thematisierung des Gegensatzes zwischen den Schülern und dem Marienverehrer Thomas wird die geistliche Perspektivierung des Textes deutlich. Thomas hat sein Gemüt nie einer Frau (wip, V. 61) zugewandt, er ist von valsche rein unde gut (V. 63). Dann wird jedoch – in scheinbarem Widerspruch zur vorhergehenden Aussage – von seinem unablässigen Dienst für eine Jungfrau berichtet, bis sich der Widerspruch durch die Identifikation dieser Minnedame auflöst: Die maget die ich da meine / daz ist die suze reine / Die edel und die vrie / kristes muter sante

9 Zum Verhältnis von geistlichen Inhalten und Komik vgl. auch den Sammelband risus sacer – sacrum risibile. Interaktionsfelder von Sakralität und Gelächter im kulturellen und historischen Wandel. Hrsg. von Katja Gvozdeva/Werner Röcke (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 20). Bern 2009. 10 Vgl. Konrad Kunze: Thomas von Kandelberg. In: 2VL 9 (1995), Sp. 882–884. Ausgabe (zit.): Scholl: Thomas von Kandelberg.

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Marie (V. 69 ff.). Erst jetzt wird die Differenzierung wip vs. meide (V. 64) sinnhaft. Die folgenden 18 Verse sind einem Kommentar zum Nutzen von Marias Gnade und ihrer Hilfe als Intercessorin gewidmet, der auch auf einer extradiegetischen Ebene auf die Rezipienten und den Erzähler ausgeweitet wird (V. 81–90). Die Rückkehr zur Handlung bildet einen deutlichen Kontrast zu diesem zuversichtlichen Marienpreis: Der Protagonist ist verzweifelt über seine leichtsinnige Teilnahme an der Wette seiner Mitschüler. Das Erbarmen des Rezipienten wird am Ende der Klage durch den Erzählerkommentar regelrecht eingefordert: daz klagen einem herten stein / Sich erbarmen tete / ob er ez v[er]numen hete (V. 110 ff.). Am darauffolgenden Sonntag klagt Thomas sein Leid nach der Messe seiner Minnedame Maria. An dieser Stelle kommt es zum Eingreifen der transzendenten Figur, das zunächst als bloße Tatsache erzählt wird: Do sprach die suze kunegin / uz dem bilde wider in (V. 177 f.).11 Die Reaktion des menschlichen Protagonisten fällt dafür umso überschwänglicher aus: Er springt vor Freude auf, und nachdem er von der Marienstatue das kostbare Büchslein erhalten hat, weint er vor Liebe, küsst es zwölfmal und spricht unsagbar schöne Dankesworte (V. 211–223). Durch Identifikation mit dem Protagonisten kann der Rezipient an dessen Transzendenzerfahrung teilhaben und die Freude nachempfinden – die Präsenz der Transzendenz hat hier vor allem eine emotionale Funktion. Als Thomas beim Gastmahl seinen Mitschülern das Büchslein zeigt, wird auch für diese eine – wenn auch abgeschwächte – Präsenz des Transzendenten spürbar, indem auf wunderbare Weise aus dem kleinen Büchslein nicht nur ein paradiesischer Duft entströmt, sondern auch zwei Messegewänder entnommen werden können, deren transzendente Herkunft sich in ihrer alles übertreffenden Schönheit manifestiert (V. 275 ff.). Als Thomas auf die Frage der Schüler, woher er diese Kostbarkeiten habe, antwortet, er habe sie vom Himmelskönig und seiner Mutter bekommen, fallen die Schüler ihm zu Füßen, bitten um Verzeihung und bringen die himmlischen Messgewänder in einer Prozession in die Kirche. Sobald die Mitschüler die Bedeutung der himmlischen Objekte erkannt haben, ist von dem höfischen Minnewettstreit keine Rede mehr: Die geistliche Minnedame hat die weltlichen Geliebten ausgestochen. Im Epilog tritt neben die emotionale auch eine didaktische Funktionalisierung des Erzählten, indem die Marienverehrung als sicherster Weg zum Seelenheil dargestellt wird.

11 Zum Motiv der lebenden Statue vgl. Johannes Tripps: Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik. 2. Aufl. Berlin 2000.

40 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld In Siegfrieds des Dörfers ›Frauentrost‹ (647 V., 13. Jahrhundert),12 wird eine unglückliche Ehefrau von Maria vor dem Selbstmord bewahrt. Eine fromme Frau ist mit einem gottlosen Ritter verheiratet, der nur an Turnieren und weltlichen Vergnügungen interessiert ist. Oft misshandelt der Ritter seine Frau, deren Frömmigkeit und gute Werke ihm ein Dorn im Auge sind. Während langer Zeit erträgt die Frau alles geduldig und bittet Gott und Maria um die Bekehrung ihres Mannes. Doch als ihre Gebete nicht erhört werden, beschließt sie, Selbstmord zu begehen. Als ihr Mann eines Tages zum Turnier ausreitet, schickt sie das Gesinde fort, wirft die Schlüssel des Hauses in einen Teich und geht in einen Baumgarten, um sich zu erhängen. Auf dem Weg dorthin begegnet sie einer graugekleideten Frau, die sie fragt, wohin sie wolle. Die Frau des Ritters weist die Fremde zornig ab und geht weiter. Vor der Tür des Baumgartens erscheint ihr die Fremde wieder, doch die Frau schickt sie noch einmal weg. Am Fuß des Baumes, den sie sich ausgesucht hat, um sich zu erhängen, erscheint die Fremde erneut, obwohl die Frau den Baumgarten zugesperrt hatte. Die Fremde gibt sich nun als Maria zu erkennen. Die Frau des Ritters bereut ihren Fehler und fällt Maria zu Füßen. Maria gibt ihr daraufhin die Schlüssel des Hauses wieder und heißt sie in die Kemenate gehen. Dort findet die Frau ein Bild des Gekreuzigten an der Wand, dessen Wunden bluten. Der Gekreuzigte spricht zu der Frau und mahnt sie, nach seinem Vorbild geduldig im Leiden zu sein. Als der Ritter abends zurückkommt, empfängt die Frau ihn fröhlich. Auch durch seine Beschimpfungen und Schläge lässt sie sich nicht betrüben, was den Ritter sehr wundert, so dass er fragt, woher ihre Freude komme. Die Frau erzählt ihm, was ihr widerfahren sei, und durch diesen Bericht wird der Ritter bekehrt. Fortan leben die Eheleute in Frieden und erwerben nach dem Tod das ewige Leben.

Wie bei ›Thomas von Kandelberg‹ wird auch im ›Frauentrost‹ die entscheidende Wendung der Geschichte durch das Eingreifen einer transzendenten Figur herbeigeführt. Deren Wahrnehmung durch die Protagonistin und die Rezipienten ist jedoch anders gestaltet. Der Erzähler identifiziert Maria nicht gleich bei ihrem ersten Auftreten als transzendente Figur (ein vrouwe diu begegent’ ir, V. 202). Doch als der Erzähler den unfreundlichen Gruß der Frau tadelt, lässt er den Rezipienten auf der extradiegetischen Ebene die Identität der Figur erkennen: hete si [d.i. die Frau des Ritters] gewest vür wa ˆr, / Daz ez diu reine Vrouwe was, / von der Got mensche genas, / Wider menschlıˆcher art (V. 208 ff.). Das Mehrwissen des Erzählers und der Rezipienten gegenüber der Protagonistin wird wiederholt hervorgehoben, indem der Erzähler das von der Protagonistin unverstandene Handeln Marias kommentiert (V. 213–215, 230–236, 270–272). Erst bei der dritten Begegnung mit Maria und nach einem heftigen Wortwechsel, bei dem die Frau des Ritters zweimal gefragt hat, wer die Fremde sei (V. 265–310), erfährt die Protagonistin, mit wem sie es zu tun hat: »ich bin’z Marıˆa ˆ, / Gotes muoter, diu vil na ˆ / Vor dıˆnem angesihte sta ˆt (V.

12 Vgl. Konrad Kunze: Siegfried der Dörfer. In: 2VL 8 (1992), Sp. 1204 f. Ausgabe: GA III, S. 433–450.

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317 ff.). Nach dieser Offenbarung fällt die Frau Maria zu Füßen und bittet sie um Hilfe in ihrer Not. Maria verspricht, ihr zu helfen, und die Frau wird ˆ uzer ma ˆzen vro ˆ (V. 355). Die wiedererhaltenen Schlüssel wirken auf die Frau als Wahrzeichen, das sie vollends davon überzeugt, einer transzendenten Figur begegnet zu sein: Do ˆ si die slüzzel an gesach, / mit gro ˆzen vröuden si do ˆ sprach: / »Nu ˆ weiz ich wol, daz du ˆ bist, / von der der wa ˆre Je ˆsus Krist / In dise werlt was betaget, / und bist diu muoter und diu maget, / Diu die werlt ernert ha ˆt [...] ich wil mich vröuwen immer, / Daz ich dich, muoter, ie gesach, / und dıˆn munt mir zuo sprach.« (V. 371 ff.; 380 ff.). Die Begegnung ist für die Frau, die eben noch entschlossen war, sich zu töten, ein Grund immerwährender Freude, sie vergisst all ihr Leid (V. 384–386). Mit dem Verschwinden Marias ist die erste – stark emotional aufgeladene – Begegnung der Frau mit der Transzendenz abgeschlossen. In der Kemenate hat die Frau eine zweite Transzendenzerfahrung, aber in anderer Form: Da ˆ vant si zuo der rehten hant / Gotes marter an der want; / Der was ir komen harte na ˆ, / er wolte ir selbe ra ˆten da ˆ (V. 389 ff.). Während Maria ihr in Menschengestalt erschienen ist, nähert sich ihr Christus als lebendes Bild, aus dessen Wunden Blut fließt.13 Dieser Anblick und die Rede des Bildes vollenden den Sinneswandel der Frau. Ihre Verzweiflung weicht dem Erbarmen mit dem leidenden Christus, um dessentwillen sie gern ihre eigenen Leiden auf sich nehmen will. Dass dieser Wandel durch die direkte Begegnung mit der Transzendenz verursacht wird, bestätigt die Frau durch ihr Bekenntnis: ich sihe daz, herre, vater, wol, / Daz du ˆ bist der wa ˆre Krist, / der aller werlde lœser ist; / Ich wil nimmer me ˆr geklagen, / ich wil allez daz vertragen, / Swaz mir leides widervert, / sint mir daz heil ist beschert, / Daz ich dich, herre, habe gesehen, / unt tu mir selbe ha ˆst verjehen / So ˆ helflıˆcher mære (V. 440 ff.). Auch das Marterbild verschwindet wieder, die Frau bleibt allein zurück. In Bezug auf den Rezipienten hat die Präsenz der transzendenten Figuren sowohl eine emotionale Funktion (Teilhabe an der Transzendenzerfahrung, Anregung zur compassio) als auch eine didaktische (Reden der transzendenten Figuren). Bei der Begegnung der Frau mit Maria steht das Spannungsmoment im Vordergrund, das durch die Wissensdiskrepanz zwischen Rezipient und Figur entsteht, bei der Begegnung mit dem Marterbild der Nachvollzug des Mitleidens durch Identifikation. Nach dieser zweiten Begegnung mit der Transzendenz hält der Erzähler inne, um zunächst die menschliche Protagonistin zu loben, die ez hie zuo bra ˆhte, / daz

13 Zum Motiv des blutenden Bildes vgl. Marco Mostert: Reading Images and Texts. Some Preliminary Observations Instead of an Introduction. In: Reading Images and Texts. Medieval Images and Texts as Forms of Communication. Hrsg. von Marie¨lle Hageman/Marco Mostert (Utrecht Studies in Medieval Literacy 8). Turnhout 2005, S. 1–7, hier bes. S. 3.

42 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld Got an si geda ˆhte (V. 457 f.), und dann unter Einschluss der Rezipienten der Mutter Maria zu danken, die alle Menschen trösten kann (V. 461–464). Damit schlägt er eine Brücke vom erzählten Einzelfall zur Lebenswelt seiner Rezipienten und verleiht dem Erzählten eine didaktische Dimension. Daraufhin wird mit der Rückkehr des Ritters die Handlung zu Ende geführt. Wie die Mitschüler in ›Thomas von Kandelberg‹ durch den Anblick der himmlischen Messgewänder von ihrer Minne-Wette ablassen, wird auch der Ritter durch die mittelbare Begegnung mit der Transzendenz (durch die Erzählung seiner Frau) vollständig bekehrt: der was do ˆ gar wol genesen / Von aller sıˆner dorpikeit (V. 602 f.). Während der Frau aufgrund ihrer Marienverehrung die Gnade zuteil geworden ist, den transzendenten Figuren selbst zu begegnen, muss dem Ritter der bloße Bericht der Frau genügen, der allerdings durch das Wahrzeichen der wiedererhaltenen Schlüssel und deiktische Verweise (in dise kemena ˆte [...] hie an dirre want, V. 570 f.) überzeugend erscheint. Die Erzählung wird durch einen Epilog beschlossen (V. 624–647), der ein Lob der gottesfürchtigen Menschen und ein die Rezipienten einschließendes Gebet um das ewige Leben enthält. Während die transzendenten Figuren im ›Frauentrost‹ und in ›Thomas von Kandelberg‹ entweder in menschlicher Gestalt oder als lebende Bilder (Statue, Gemälde) von den Protagonisten als quasi körperlich präsent wahrgenommen werden können, offenbart sich die Präsenz der Transzendenz in ›Unser Frauen Ritter‹ (226 V., 13. Jahrhundert)14 nur in einem mirakulösen Vorgang. Ein junger Ritter übernachtet auf dem Weg zum Turnier bei einem armen Wirt, der eine schöne Tochter hat. Der Ritter verliebt sich in sie und versucht, sie zu verführen, doch das Mädchen ist standhaft. Erst mit Hilfe einer Kupplerin kann er die Eltern dazu bringen, ihm das Mädchen gegen Geld für eine Nacht zu überlassen. Im Bett fragt er nach ihrem Namen. Sie heißt Maria, und der Ritter, der die Gottesmutter Maria sehr verehrt, will das Mädchen deshalb unberührt lassen. Das Mädchen ist zunächst enttäuscht über die Zurückhaltung des Ritters, freut sich jedoch, als sie den Grund erfährt. Am nächsten Tag glänzt der Ritter erst im Turnier, wird dann aber erschlagen und auf dem Feld begraben. Das Mädchen trauert um ihn. Später finden zwei Schüler auf dem Feld einen Baum mit Ave-Blättern, der aus dem Mund des dort begrabenen Ritters gewachsen ist. Sie streiten sich um den Besitz des Baumes, bis ehrbare Leute einschreiten, das Wunder bekannt machen und die kirchliche Bestattung des Ritters erwirken. Das Mädchen Maria führt fortan ein geistliches Leben.

Diese Geschichte ist von zwei unerwarteten Wendungen bestimmt: dem Handeln des Ritters in der erkauften Liebesnacht und dem Wunder des Ave-Bäumchens. Das Handeln des Ritters ist durch seinen Mariendienst inspiriert, bleibt jedoch auf einer lebensweltlichen Ebene; das Ave-Bäumchen dagegen gilt dem Erzähler als

14 Vgl. Konrad Kunze: Unser Frauen Ritter und Von dem armen Ritter. In: 2VL 10 (1999), Sp. 96–98. Ausgabe: GA III, S. 455–461.

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göttliches Wunder: Die kwa ˆmen dar und besa ˆhen wol, / als ich iuch hie bescheiden sol, / Ein reinez Gotes wunder (V. 165 ff.). Dank dieses Wunders wird die Ehre des Ritters durch das kirchliche Begräbnis wiederhergestellt. Der Einbruch der Transzendenz kann – ähnlich wie im ›Frauentrost‹ – als Belohnung tugendhaften Handelns interpretiert werden. Der Gegensatz zwischen dem unchristlichen Begräbnis auf dem Feld (verursacht durch die beschränkte Wahrnehmung der Menschen, die nur vom Turniertod wissen) und dem ehrenvollen kirchlichen Begräbnis (verursacht durch das göttliche Wunder) eröffnet außerdem eine weitere didaktische Funktionalisierungsmöglichkeit der Geschichte, die auch im Epilog angedeutet wird. Gott kann den inneren Zustand eines Menschen erkennen, auch wenn der äußere Schein abweicht (Got erkennet des menschen herze wol, V. 203), was den Menschen – wie in dieser Geschichte – nicht immer gelingt. Daraus folgt der Schluss, ein Mensch betrüge sich selbst am meisten, wenn er sich nicht richtig verhalte. Vom Epilog her kann die Erzählung als Exempel defizitärer menschlicher Wahrnehmung und dadurch implizit als Warnung vor voreiligen Verurteilungen gelesen werden. Dies beginnt bereits bei der pervertierten Minnegeschichte zu Beginn, als der Ritter sich eine Liebesnacht erkaufen will und die Jungfräulichkeit nicht als schützenswertes Gut erkennt. Ihm werden die Augen erst durch den Namen Maria geöffnet. Das Mädchen Maria dagegen versteht die Abwendung des Ritters nicht und denkt, sie gefalle ihm nicht – er kann seine Beweggründe jedoch erklären und damit ihre Zustimmung gewinnen. Die beiden Schüler, die das AveBäumchen entdecken, sind sogar für dieses göttliche Zeichen blind und streiten sich auf törichte Weise um dessen Besitz. Der Bischof der Stadt erkennt das Wunder, doch die Menschen können erst angemessen darauf reagieren, als das Mädchen Maria die Ursache, das im Widerspruch zum unehrenhaften Tod stehende tugendhafte Verhalten des Ritters, genannt hat. In diesem Moment der richtigen Wahrnehmung aller Umstände kann die Ehre des Ritters wiederhergestellt werden (man sank, beide, unde las / Ob im, als man solde, V. 188 f.). Doch die Erzählung ermöglicht auch einen emotionalen Nachvollzug durch die Gestaltung des Verhältnisses der beiden Protagonisten, das als eine zwischen höfischen und religiösen Idealen stehende Liebesgeschichte erzählt wird. Zu Beginn wird der Ritter als höfischer Held geschildert; er wirbt um das Mädchen, das in der Liebesnacht über seine Zurückhaltung ähnlich enttäuscht ist wie Isolde Weißhand in Heinrichs von Freiberg ›Tristan‹-Fortsetzung. Doch dann entpuppt sich sein Rittertum als Mariendienst (ich wil mit swerten houwen / Durch si, na ˆch der ir sıˆt genant, V. 74 f.), und nach seinem Bekenntnis sind die beiden Protagonisten in einer Art Josephsehe verbunden, die auch über den Tod des Ritters hinaus andauert: Si [das Mädchen Maria] bleip durch in sıˆt a ˆne man, / swie er doch ir lıˆbes teil nie gewan (V. 133 f.). Die Trauer des Mädchens beim Ave-Bäumchen und ihr geistliches Leben (Abschneiden der Haare über dem Grab des Ritters) machen noch einmal die Intensität der Beziehung zum Toten deutlich, die die

44 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld Assoziation der Trauer Sigunes um Schionatulander in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ hervorruft. Diese geistliche Liebesgeschichte wird durch das göttliche Wunder des Ave-Bäumchens zusätzlich aufgewertet. Auch im ›Heller der armen Frau‹ (104 V., 2. Hälfte 13. Jahrhundert)15 wird der (Selbst-)Wahrnehmung der menschlichen Figuren durch einen mirakulösen Vorgang auf die Sprünge geholfen. Ein guter König will ein Münster bauen lassen, erlaubt jedoch nicht, dass irgendjemand außer ihm etwas dazu beiträgt, da er den himmlischen Lohn für sich allein haben will. Der König lässt mit goldenen Buchstaben an das Münster schreiben, dass er es erbaut habe. Über Nacht wird jedoch sein Name durch den Namen einer armen Frau ersetzt. Dieser Vorgang wiederholt sich dreimal, obwohl der König immer wieder seinen Namen einsetzten lässt. Der König lässt die Frau zu sich rufen, und angstvoll gesteht sie, für einen Heller, den sie beim Spinnen verdient habe, Heu gekauft und auf die Straße gestreut zu haben, als die Ochsen vorbeikamen, die die Steine für das Münster herbeizogen. Der König erkennt seinen Fehler, beschenkt die Frau und bessert sich.

Der Bericht über den Münsterbau des Königs wird durch einen Erzählerkommentar unterbrochen, in dem der Wille des Königs, den Lohn für sich allein zu haben, als tumber wan (V. 32) verurteilt wird. Nach der Fertigstellung des Münsters ereignet sich das Mirakel, das zunächst nur als unpersönlicher Vorgang erscheint: Sin name wart des nahtes ab getan / und stunt ein ander name dar an (V. 39 f.). Bei der zweiten Tilgung des Namens identifiziert der Erzähler Gott als Urheber des Vorgangs: daz geschach aber in der naht, / als ez Got selbe hete gedaht (V. 47 f.). Der Rezipient weiß an diesem Punkt der Erzählung also bereits mehr als der König – er weiß aber nicht, weshalb der Name der armen Frau am Münster steht. Dies erfährt er erst gleichzeitig mit dem König, der nach der dritten Wiederholung des Vorgangs ebenfalls erkennt, dass es sich um ein Eingreifen Gottes handeln muss: Der kunic erkante sich in Got, / daz ez were von Gotes gebot (V. 55 f.). Den Bericht der armen Frau kommentiert der Erzähler folgendermaßen: Got nam der vrowen reinen mut / fur des richen kuneges gut (V. 85 f.), bevor er vom Sinneswandel des Königs berichtet, der seinen Fehler einsieht und die Frau beschenkt. Damit ist die Handlung abgeschlossen. Im Epilog fasst der Erzähler die exemplarisch vermittelte Lehre zusammen und generalisiert sie: swer Got einen

15 Vgl. Ulla Williams: Der Heller der armen Frau. In: 2VL 3 (1981), Sp. 971 f. und 2VL 11 (2004), Sp. 642. Ausgaben: Wilhelm Grimm: [ohne Titel]. In: Wünschelruthe Nr. 10. Göttingen 1818, S. 37 f.; Heinrich Hoffmann: Ein Mære. Altdeutsche Blätter 1 (1836), S. 49–52 (Nachdruck Hildesheim/ New York 1978); Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte. Bd. III: Die Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 341. Hrsg. von Gustav Rosenhagen (DTM 17). Berlin 1909 (Nachdruck Dublin/Zürich 1970), S. 19 f. (Nr. 34, zit.). Zum Stoff: Tubach 1058.

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sulchen dienst tu, / Der gunne alle der werlde dar zu / daz si ir sunde ouch gebuzen (V. 93 ff.). Dies unterstreicht noch einmal die didaktische Funktion der Präsenz des Transzendenten in dieser Erzählung. Gott greift ein, um den Protagonisten zu belehren, und die Geschichte wird erzählt, um die Rezipienten zu belehren. In der Erzählung ›Der Württemberger‹ (je nach Fassung 333–713 V., 14. Jahrhundert)16 begegnet die Transzendenz dem menschlichen Protagonisten in der Form von Seelen bereits Verstorbener. Auch hier spielen verschiedene Ebenen und Formen der Wahrnehmung eine zentrale Rolle. Der württembergische Ritter Ulrich verirrt sich auf der Jagd im Wald und trifft auf einen Zug von mehreren hundert Paaren, die an ihm vorbeireiten, ohne seinen Gruß zu erwidern. Zuletzt reitet eine Dame allein, die als einzige für seinen Gruß dankt und ihm erklärt, dass es sich bei all diesen Paaren um Verstorbene handle, die im Leben miteinander Ehebruch begangen hätten; ihr Liebhaber sei noch nicht tot, weshalb sie allein reiten müsse. Als Ulrich nach dem Namen ihres Liebhabers fragt, nennt sie den Herrn von Schenkenberg, einen Freund Ulrichs und Paten seines Kindes. Die Dame bittet Ulrich, dem Herrn von Schenkenberg von ihrem Leiden zu erzählen. Ulrich verspricht es und begleitet die Dame trotz ihrer Warnungen und dem Verbot, irgendetwas zu berühren oder zu essen, zu ihrer Unterkunft. Bei einer Burg wird nun ein höfisches Fest gefeiert, dem Anschein nach sehr prachtvoll. Als das Essen aufgetragen wird, vergisst Ulrich das Verbot der Frau und greift nach einem Fisch, worauf vier seiner Finger verbrennen. Das Feuer wird erst gestillt, als die Dame ihm ein Kreuz in die Hand schneidet und das Blut über das Feuer rinnt. Danach wird Ulrich ein schönes Pferd präsentiert, das er aber auf den Rat der Dame hin verschmäht. Bei Tagesanbruch müssen die Verstorbenen den Ort wieder verlassen und ins Höllenfeuer zurückkehren. Als Ulrich zu der Burg zurückschaut, sieht er nur noch einen Baumstamm; die Dame erklärt, dass an dieser Stelle vor 1000 Jahren eine Burg stand. Bevor sie sich von Ulrich trennen muss, zeigt sie ihm ihre wahre Gestalt: Sie brennt am ganzen Leib. Ulrich kehrt nach Hause zurück und berichtet seinem Freund, was er erlebt hat. Beide fahren ins heilige Land und erlangen im Heidenkampf ihr Seelenheil.

In dieser Erzählung hat der Rezipient keinen Wissensvorsprung gegenüber dem Protagonisten. Mit diesem nimmt er die Verstorbenen zunächst als normale Menschen wahr, bis die einsame Dame ihn über ihren Status unterrichtet: ja sein wir tot alle (W V. 110). Doch der Württemberger will dies nicht glauben, da es im Widerspruch zu seiner lebensweltlichen Erfahrung steht: fraw, seit ir tot, / wa von ist ew der munt so rot? / ich han der toten vil gesen, / den wol anders waz beschen (W V. 111 ff.). Der Erzähler macht den Rezipienten allerdings auf die defizitäre

16 Vgl. Oskar Pausch: Der Württemberger. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1450–1453. Ausgaben: Franziska Heinzle: Der Württemberger. Untersuchung, Texte, Kommentar (GAG 137). Göppingen 1974; Oskar Pausch: Eine bairisch-österreichische Überlieferungskette des Württembergers. Mit einer Ausgabe der neuen Wiener Redaktion Wa [Ma] (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 298, 4. Abhandlung). Wien 1977. Die Siglen von Heinzle und Pausch werden bei Zitaten jeweils dem Vers vorangestellt.

46 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld sinnliche Wahrnehmung des Württembergers aufmerksam: da waz der ritter an betrogen: / ir klaider heten ubr zogen / ain immer wernds ungmah, / dez doch der ritter nicht sah. / reileich waz allz ir gerait. / in dawht, si heten kainer hand lait (W V. 185 ff.). Erst als die verstorbene Dame es ihm ermöglicht, kann der menschliche Protagonist die Realität der Jenseits-Sphäre hinter dem Schein wahrnehmen: also waz euch zu mir geschehen: / ir sacht mich fur ein schons weip – / nu ist vor lang faul mein leip. / ir seht hie nit wan ein schein, / und das die sel leidet pein.« / sie sprach: »ich musz euch loszen sehen – / das mag wol geschehen – / wie unser speisz sei getan.« / vil schier het sie den selben man / ein napff voller kroten / dar zu im geboten / und als vil slangen, / die kurczen und die langen. / sie brunnen alz ein heiz glut [...] sie sprach: »schawt unser not!« / daz fewr blo und rot / allenthalben aus ir slug. / daz rosz, das sie do trug, / daz bran bisz auff die fusze, / und auch die vil susze (K V. 265 ff.; 456 ff.). Für die Figur des Württembergers wird die Jenseits-Sphäre durch die direkte Konfrontation mit den Toten auf einer physischen Ebene erfahrbar. Dies zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der Szene, in der die Hand des Württembergers von übernatürlichem Feuer verbrannt wird, das nur durch das Blut eines lebenden Getauften (nämlich sein eigenes) gelöscht werden kann: »merkt wie dem sei: / dew sel ist noh dem leib pei, / und hat ez got also geschaft: / daz plut hat von der tawf kraft, / daz ez dem fewr hat erwert / und ew den leib hat ernert.« (W V. 291 ff.). Die physische und sinnliche Erfahrung (brennende Hand, Anblick der brennenden Frau) hat eine ganz andere Wirkung auf die menschliche Figur als bloße geistliche Lehrsätze. So bekennt die ehebrecherische Dame, dass sie sich im Leben wider besseres Wissen wenig um ihr Seelenheil gekümmert und die Beichte aus Furcht vor dem zornigen Ehemann unterlassen habe: dort man mir hoher eren gach, / do west ich nicht umb ungemah. / ich achtet luczl auf got, / des pin ich hie der tiefel spot. [...] do het ich ain piderben man, / durh den ich peiht must lan: / wer im ain unzuht von mir fur komen, / er het mir daz leben genomen (W V. 167 ff.). Die physische Erfahrung dagegen führt zu einer sofortigen und umfassenden conversio des Ritters, und diese soll der Rezipient durch Identifikation mitvollziehen. Die Präsenz des Transzendenten hat damit im ›Württemberger‹ eine emotionale Funktion, die didaktisch nutzbar gemacht werden kann. So ist der Epilog in seinen verschiedenen Fassungen jeweils vom Grundtenor geprägt, man solle seine Sünden rechtzeitig beichten und büßen, damit es einem nicht so ergehe wie der ehebrecherischen Dame. Diese aufs Einfachste reduzierte Bußdidaxe würde wohl kaum Wirkung zeigen ohne die vorangehenden sinnlichen Eindrücke, die vom Rezipienten auf einer emotionalen Ebene nachvollzogen werden können. Im ›Württemberger‹ finden sich, ähnlich wie in ›Unser Frauen Ritter‹, zahlreiche Versatzstücke aus der höfischen Literaturtradition. Sie rufen bei den Rezipienten eine Erwartungshaltung auf, die durch die Erzählung zugleich genutzt und unterwandert wird. So erinnert die Begegnung des Ritters mit den Verstor-

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benen an einem Ort, den er noch nie gesehen hat, an den typischen AventiureEingang; ein höfisches Fest mit Turnier und Tanz dient als Maske der Höllenstrafen; die verstorbene Dame ist wegen eines Ehebruchs verdammt, der Züge eines höfischen Minneverhältnisses trägt.17 Diese Versatzstücke, die für den Rezipienten zunächst vielleicht mit positiven Assoziationen verbunden sind, werden durch die Teilhabe an der physisch-sinnlichen Begegnung der Identifikationsfigur Württemberger mit der jenseitigen Sphäre und das erschreckende Bild der Höllenstrafen als Schein entlarvt. Während die Versatzstücke aus der höfischen Literaturtradition in ›Unser Frauen Ritter‹ zwar abgewandelt, aber nicht abgewertet werden, sind sie im ›Württemberger‹ in eine didaktische Funktionalisierung eingebunden, die sie als negativ erscheinen lässt und damit eine Distanzierung erzwingt.

1.2 Erzählen von allegorischen Figuren Allegorische Figuren und Personifikationen18 können ebenfalls eingesetzt werden, um religiöse Inhalte erfahrbar zu machen, wie dies etwa bei Konrads von Würzburg ›Der Welt Lohn‹ (274 V., 2. Hälfte 13. Jahrhundert) der Fall ist.19 Der Ritter Wirnt von Gravenberg führt ein ideales höfisches Leben, bewährt sich in Turnieren und dient den Frauen. Als er eines Tages zur Vesperzeit in seiner Kemenate einen Minneroman liest, erscheint eine überaus schöne Frau, die ihn für seinen Dienst belohnen will. Wirnt beteuert zwar, sie nicht zu kennen, doch sie erklärt ihm, dass er ihr schon seit seiner Jugend gedient habe, denn sie sei die Welt. Daraufhin zeigt sie ihm ihren Lohn: Sie dreht sich um, und ihr Rücken ist verfault und von Schlangen und Kröten zerfressen. Von diesem Anblick erschüttert, lässt Wirnt sein Weltleben hinter sich und wird Kreuzritter, um seine Seele zu retten.

17 Eine verheiratete Frau wird von einem Ritter umworben, die Liebe wird durch einen Ringtausch besiegelt: mein man der waz auz geriten, / do kom er, alz ich in hiez. / in mein haws ich in liez. / do kust er mich an meinen munt,/ da wurden wir anander kunt. / do zoh er ab der hend sein / ain rot guldein vingerlein (W V. 146 ff.). 18 Zu Begegnungen von menschlichen Figuren und Personifikationen vgl. Christian Kiening: Personifikation. Begegnungen mit dem Fremd-Vertrauten in mittelalterlicher Literatur. In: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Helmut Brall-Tuchel u.a. (Studia humaniora 25). Düsseldorf 1994, S. 347–387. 19 Vgl. Horst Brunner: Konrad von Würzburg. In: 2VL 5 (1985), Sp. 272–304 und 2VL 11 (2004), Sp. 886. Ausgaben: Konrad von Würzburg: Der Welt Lohn. In: ders.: Heinrich von Kempten, Der Welt Lohn, Das Herzmaere. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Edward Schröder. Hrsg. von Heinz Rölleke (RUB 2855). Stuttgart 1968 u.ö., S. 50–65 (zit.); Reinhard Bleck: Konrad von Würzburg: Der Welt Lohn. In Abbildung der gesamten Überlieferung, synoptische Edition, Untersuchungen (Litterae 112). Göppingen 1991.

48 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld Die Spannung zwischen dem idealen höfischen Leben Wirnts und dessen Bewertung aus geistlicher Perspektive erinnert an ›Unser Frauen Ritter‹ und den ›Württemberger‹. Während der ersten 216 Verse der Erzählung gibt es kaum Hinweise auf eine mögliche negative Wendung, vielmehr wird die Erscheinung der Frau als verdienter Lohn für die Bemühungen des Protagonisten dargestellt. Die so beim Rezipienten hervorgerufene Erwartungshaltung wird durch die überraschende Umkehr der Frau, die ihre wahre Gestalt der Figur Wirnt und dem Rezipienten gleichzeitig offenbart, unterlaufen. Figur und Rezipient sind dadurch gezwungen, den Anfang der Geschichte vom Ende her neu zu verstehen: Der Lohn für das anscheinend ideale Leben Wirnts sind Tod und Verdammung. Dieser erzähltechnische Kunstgriff ist auf emotionalen Nachvollzug durch die Rezipienten hin angelegt. Wie Wirnt sollen sie über das sinnlich eindrucksvolle Bild des verwesten Rückens erschrecken. Auf exemplarische Weise zieht der Protagonist die Konsequenz aus dieser Erkenntnis: zehant sıˆn herze im des verjach, / er wære gar verwa ˆzen, / swer sich wolte la ˆzen/an ir [der Welt] dienste vinden (V. 244 ff.), er verlässt seine Familie und fährt als Kreuzritter ins Heilige Land. Der Lauf der Geschichte sowie die apodiktische Belehrung des Publikums im Epilog zeigen eine didaktische Funktionalisierung der Erscheinung: swer an ir dienste funden wirt, / daz in diu fröude gar verbirt / die got mit ganzer stætekeit / den ˆ uzerwelten ha ˆt bereit. / Von Wirzeburc ich Cuonra ˆt / gibt iu allen disen ra ˆt, / daz ir die werlt la ˆzet varn, / welt ir die se ˆle bewarn (V. 267 ff.).

1.3 Geistliche Deutung ex post In manchen Texten werden scheinbar lebensweltliche Vorgänge geschildert, die erst im Nachhinein vom Erzähler oder von den Figuren als Eingriffe transzendenter Mächte gedeutet werden. Ein Beispiel dafür ist die Erzählung ›Die zwei Blinden‹ (161 V., 13. Jahrhundert).20 Zwei blinde Bettler klagen vor einer Kirche ihr Leid. Der eine ruft den König Emanuel von Griechenland an, der andere ruft Gott an. Der König hört dies und lässt die Blinden zu seinem Hof führen, wobei er dem ersten Blinden, der ihn angerufen hat, ein mit Gold gefülltes Brot, dem zweiten aber einen schönen Kapaun geben lässt. Der erste Blinde denkt aufgrund der Schwere des Brotes, es sei nicht durchgebacken, und will mit dem anderen Blinden tauschen, da dieser des Brotes für seine Kinder bedürfe. Der andere Blinde willigt ein. Nachdem der Tausch geschehen ist, lässt der König die Blinden zu sich rufen und erzählt der

20 Vgl. Hans-Joachim Ziegeler: Die zwei Blinden. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1617–1619. Ausgabe: Franz Pfeiffer: Altdeutsches Übungsbuch. Wien 1866, S. 39–41 (zit.); Ute Schwab: Die Barlaamparabeln in Cod. Vindob. 2705 (Istituto universitario orientale di Napoli. Quaderni della Sezione germanica degli Annali 3). Neapel 1966, S. 152–156. Vgl. auch Fischer: Studien, S. 53.

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Hofgesellschaft die wundersame Begebenheit, dass der zweite Blinde, der Gott angerufen hat, schließlich das mit Gold gefüllte Brot bekommen hat.

Die Triebfeder für den Tausch, der dazu führt, dass derjenige Blinde reicher beschenkt wird, der nicht den König, sondern Gott angerufen hat, ist die Ungenügsamkeit des ersten Blinden. Dies entspricht seiner beschränkten, in der Welt verhafteten Gesinnung: vnder in zwein der tvmber snel / Sprach. nv berate mich kvnic emanuel (V. 23 f.). Dennoch wird im Text nicht das Fehlverhalten dieses Blinden besonders betont, sondern der ganze Vorgang wird als seltsæne[s] mære (V. 124) bezeichnet und vom König vor der Hofgesellschaft mit folgenden Worten ausgelegt: esz sol nıˆem[en] chomen / Da von er getrowe ˆ et got / ez ist sin bet vn[d] sin gebot / Daz nıˆemen geste an im zwivelhaft / wan got hat noch die selben chraft / Vn[d] ze geben also vil / er git vn[d] nimt wol swem er wil (V. 127 ff.). Der Kommentar des Königs zielt auf die Macht Gottes, denjenigen zu beschenken, der auf ihn traut. Das Geschehen wird nicht als eine Folge von menschlichen Handlungen (Anrufungen der Blinden; ›präparierte‹ Gaben des Königs; Gier des zweiten Blinden) gedeutet, sondern als von Gott veranlasstes Geschehen. Diese Interpretation wird bekräftigt durch den Kommentar der Herren am Hof: Wir sehen nv wol daz ih’c christ / keiser ob allen kvnigen ist / Den svl wir immer eren (V. 138 ff.). Das Geschehen wird zum bizeichen (V. 146) für Gottes Macht; diese geistliche Deutung wird in den Figuren- und Erzählerkommentaren als richtige Interpretation der Ereignisse festgeschrieben. Durch eine Aufforderung an die Rezipienten, sich wie die Augenzeugen zu verhalten (Nv wil ich leren vn[d] raten / daz wir tvon als iene taten / Die ez mit ir ovgen an sahen / vn[d] got rehtes iahen / Daz er ob gwalte gwaltich wære, V. 148 ff.), ist die didaktische Wirkung des Erzählten sichergestellt. Erzählstoffe, in denen eine geistliche Deutungsperspektive erst ex post eingenommen wird, stehen oft in einem Übergangsbereich zwischen geistlichem und weltlichem Erzählen. Das zeigt sich besonders deutlich an den zahlreichen und ganz unterschiedlich akzentuierten Fassungen des Erzählstoffs von der ›Halben Decke‹.21

21 Vgl. Ulla Williams: Die halbe Decke. In: 2VL 3 (1981), Sp. 405–411. Ausgaben: ›Halbe Decke‹ I (155 V., 14. Jahrhundert?): Lieder-Saal I, S. 585–589; ›Halbe Decke‹ II (304 V., spätes 13. Jahrhundert): GA II, S. 391–399; ›Halbe Decke‹ III (206 V., 14. Jahrhundert): Ludwig Pfannmüller: Kleinere Beiträge zur Kenntnis der mhd. Novellendichtung II: Über das Kotzenmäre. ZfdA 54 (1913), S. 239–247, hier S. 244–247; ›Halbe Decke‹ IV (370 V., 15. Jahrhundert): GA III, S. 729–736; ›Halbe Decke‹ V (338 bzw. 261 V., 15. Jahrhundert): Hans-Friedrich Rosenfeld: Zum Kotzenmære. PBB 54 (1930), S. 367–390, hier S. 378–390; ›Halbe Decke‹ VI (Autor: Heinrich Kaufringer, 122 V., 15. Jahrhundert): Heinrich Kaufringer: Werke. Hrsg. von Paul Sappler. 2 Bde. Tübingen 1972–1974, hier Bd. I, S. 224–227; ›Halbe Decke‹ VII (126 V., 15. Jahrhundert): Karl Bartsch (Hrsg.): Meisterlieder der Kolmarer Handschrift (Bibliothek des literarischen Vereins in

50 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld Ein Sohn behandelt seinen alten Vater schlecht, nachdem dieser ihm sein ganzes Gut übergeben hat. Er wirft ihn aus dem Haus, und als der Vater um Schutz vor der Kälte bittet, lässt er ihm durch seinen eigenen Sohn nur eine schlechte Decke geben. Bevor der Enkel die Decke überbringt, teilt er sie aber in zwei Stücke und erklärt seinem Vater auf dessen Nachfrage hin, dass er den einen Teil dem Großvater bringen, den andern aber zurückbehalten wolle, um ihn dem eigenen Vater zu geben, wenn dieser einmal alt sei. Der Vater des Kindes erkennt daraufhin seinen Fehler und hält seinen eigenen alten Vater fortan in Ehren.

Diesen Handlungskern teilen alle acht erhaltenen deutschen Fassungen. Die geistlich perspektivierten Fassungen II und VIII nehmen Bezug auf das vierte Gebot und lassen den Sohn sein sündhaftes Verhalten erkennen. Im Epimythion der ›Halben Decke‹ II ermahnt der Erzähler sein Publikum: Daz merket, arm’ und rıˆche, / junge und alt’ gelıˆche, / Daz na ˆch Gotes le ˆre / ein ieglıˆch mensche ˆ ere / Sin[en] vater und sıˆn muoter; / Got ist im dester guoter / An sıˆnes lebens orte, / so ˆ diu se ˆle von der porte / Scheiden sol des mundes, / und beget im des grundes / Der ˆ ewigen helle (V. 269 ff.). Die Erzählung erfüllt die Funktion einer Warnung vor der Vernachlässigung des vierten Gebotes, die den Verlust des Seelenheils bedeuten kann. Die geistliche Akzentuierung zeigt sich außerdem in der Zeichnung der Figur des Enkels. Dessen Handeln wird nicht nur als tugendhaft dargestellt, sondern auch vom Erzähler bzw. vom undankbaren Sohn als von einem Engel bzw. von Gott inspiriert aufgefasst: daz kint sprach mit sinne, / Als im sıˆn engel gab die le ˆre (›Halbe Decke‹ II, V. 124 f.); Der vatter der erschrack vnde erkante sich daz er gesu ´ndet hette an sinem vatter vn[d] dz es von gotte dar komen wz daz der knabe sin svn dise rede zuo jme geton hette (S. 192). Ähnlich wie bei den ›Zwei Blinden‹ wird hier eine menschliche Handlung als indirektes Wirken der Transzendenz gedeutet. In den Fassungen I und IV der ›Halben Decke‹ fehlen dagegen sowohl der Hinweis auf eine göttliche Inspiration des Kindes als auch ein Bezug auf das vierte Gebot. Die Fassung I beginnt mit der Feststellung: Er was noch tumber den ain tor / Der ye durch sinü kint verlor / Sel vnd lib dü baid / Der sun mit hertz laid / Dem vatter dick lonen kan (V. 1 ff.). Hier wird nicht auf das falsche Verhalten des Sohnes fokussiert, sondern auf das unvorsichtige, tumbe Verhalten des Vaters, der sein ganzes Gut dem Sohn übergibt. Dies zeigt sich auch im Epimythion: Hie by mügent bischaft / Kiessen al vätter / Die dick in bösem wetter / Gewaget hant jr leben / Daz si gut jr kinde geben […] Och rat ich wer mit gut sy / Befangen daz er nimer ab / Sich getu al siner hab / Durch sin kint vff erde (V. 126 ff.; 136 ff.). Es geht nicht um die Folgen, die das Handeln in der Welt für die Zukunft der Seele im

Stuttgart 68). Stuttgart 1862 (Nachdruck Hildesheim 1962), Nr. LXXIX; ›Halbe Decke‹ VIII (Prosafassung, 15. Jahrhundert): Pfeiffer: Altdeutsches Übungsbuch, S. 191 f. Fischer ordnet die ›Halbe Decke‹ dem Themenkreis der ernsthaften Mären zu, welche zur »Demonstration allgemeinmenschlicher Laster« dienen, vgl. Studien, S. 99 f. und 111 f.; vgl. auch Ziegeler, Erzählen, S. 220–225.

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Jenseits zeitigen kann, sondern um die Auswirkungen des Handelns auf das diesseitige Leben. Die ›Halbe Decke‹ I endet mit der Aufforderung des Kindes, die Decke zu teilen. Die Schlussverse lassen vermuten, dass keine Besserung des Sohnes eingetreten ist: Hie mit hat ain ende / Die red von dem vntrüwen sun / Der brat ze hell als ain hun / Sid er sin vatter nit wolt erkennen / Dez mus jn der tüfel brennen (V. 147 ff.). Durch den Ausblick auf die Höllenqualen klingt zwar noch eine geistliche Deutungsmöglichkeit an, aber gegenüber der weltlichen Verhaltenslehre nimmt sie eine marginale Stellung ein. Die Fassung IV der ›Halben Decke‹ kommt indes ganz ohne geistliche Deutung aus. Der Sohn bessert sich zwar in dieser Fassung und nimmt den Vater in Ehren wieder auf. Die im Epimythion vermittelte Lehre geht aber in eine sehr ähnliche Richtung wie in der ›Halben Decke‹ I: Wer ere oder guo t haut / Das ist dez Huffereres raut / Der geb den chind[e]n in der masz / Dz er im selber auch lasz / Vnd hab dz messer hefftes halb / Vnd hab selber auch den gewalt / Das er baidu leich vnd geb (V. 353 ff.). Die Kritik am unvorsichtigen Verhalten des Vaters wird auch innerhalb der Erzählung in einem Erzählerkommentar geäußert, als der Vater aus der Burg vertrieben und in eine Scheune gebracht wird: Daz ist mir kunt tan fürwar / Das man sein swachlich da pflag / Der mengen wirdiclich[e]n tag / In hoh[e]n er[e]n hie belaib / Bis er sich selb da u[er]traib / Da er sein guo t von im lie / Dez laid er seufczend rui (meint riuwe) hie (V. 126 ff.). Die Reue des Vaters bezieht sich nicht auf einen Verstoß gegen ein göttliches Gebot, sondern auf sein unkluges Verhalten, das auf zu großem Vertrauen beruht. Angesichts der verderbten Welt reicht es nach dieser Deutung eben nicht aus, sich gottgefällig zu verhalten; man muss auch genügend Vorsicht und Misstrauen walten lassen, um sich selbst behaupten zu können. Eine ähnliche Lehre bieten auch die Fassungen III und V der ›Halben Decke‹: daz ist ein bıˆspel ˆ uf die welt: / diu kint diu gebent bœsen gelt. / da ˆ bıˆ sol sich ie versta ˆn / der dem kotzen welle enga ˆn, / der trahte ˆ uf sıˆn eigen leben, / und wil erz guot dem kinde geben, / daz er sta ˆt mit lærer hant, / der kotze wirt im bekant (›Halbe Decke‹ III, V. 197 ff.). Die geistliche Deutung fehlt in diesen beiden Fassungen allerdings nicht ganz, da der Vater nach der Besserung seines Sohnes zu diesem sagt, es wäre ein Schaden für sein Seelenheil gewesen, ihn in einem so schlechten Zustand sterben zu lassen. In der ›Halben Decke‹ VII wird zunächst der Rat gegeben, dass man nicht alles Gut aus der Hand geben solle, da man auf der Welt niemandem trauen könne: swie liep dir dıˆne friunde sıˆn, / du solt ˆ uf sie niht biuwen (V. 117 f.). In den folgenden Versen wird diese sprichwortartige Äußerung zu einem Vergänglichkeitstopos ausgebaut: Dir volgt niht silber unde golt, / traht umb dıˆnr se ˆlen heil. / du bist ein gast ˆ uf erden hie, / hüet dich vor misseta ˆt. / gedenk daz du dem werdst ze teil / der an dem criuz sıˆn bluot vergozzen ha ˆt (V. 121 ff.). Während im ersten (weltlichen) Teil der Lehre Bezug auf das Verhalten des Vaters genommen wird, scheint

52 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld der zweite (geistliche) Teil auf das Verhalten des Sohnes gemünzt zu sein. In Kaufringers Fassung (›Halbe Decke‹ VI) sind ebenfalls beide Deutungsperspektiven vorhanden. So beginnt Kaufringer seinen Text mit einem Bezug auf das vierte Gebot: Die hailig geschrift das lert: / wer vatter und muoter ert, / dem fristet got sein lankleben. / auch will im got zuo lon geben, / das er besitzet der engel schar (V. 1 ff.), kontrastiert diese geistliche Perspektive aber mit einer Beschreibung der verderbten Welt: doch hon ich oft genomen war, / als man sein laider vil sicht, / das es in der welt geschicht, / das das kint dem vatter sein / tuot manig schmäch und auch pein (V. 6 ff.). Die Lehre, die Kaufringer im Epimythion vermittelt, ist deshalb sowohl auf das richtige Verhalten in der Welt als auch auf die Sorge um das Seelenheil ausgerichtet, die sich im Befolgen der göttlichen Gebote vereinen lassen: Darbei süll wir all nun lern: / das wir nicht verdienen unhail, / ob wir den kinden werden zetail, / davon sullen wir haben schon / vatter und muoter umb den lon, / den uns gott darumb will geben (V. 114 ff.). Die jeweilige geistliche oder weltliche Deutung des Erzählstoffs kann vom Erzähler sowohl in die Narration eingebunden (göttliche Inspiration des Kindes) als auch auf der Kommentarebene verhandelt werden (Bezug auf das vierte Gebot/Appell zur Klugheit). Die uneindeutige Zugehörigkeit der Fassungen der ›Halben Decke‹ zum Texttyp der geistlichen oder weltlichen Verserzählung zeigt sich darin, dass ihnen mit geringfügigen textuellen Veränderungen eine eher geistliche oder eher weltliche Deutung verliehen werden kann. Bei Fällen klarer Zugehörigkeit wie etwa dem ›Frauentrost‹ oder ›Thomas von Kandelberg‹, bei denen die Erscheinung einer transzendenten Figur den Erzählkern ausmacht, wäre eine solche Umdeutung nicht denkbar.

1.4 Diskursive Vermittlung religiöser Inhalte in narrativem Rahmen Während in den ›Zwei Blinden‹ ein auf den ersten Blick rein lebensweltlicher Vorgang von den Figuren als exemplarisches Wirken Gottes interpretiert wird, inszeniert in des Strickers ›Der ernsthafte König‹ (244 V., 13. Jahrhundert)22 der Protagonist selbst eine exemplarische Situation, um seinen Bruder zur Umkehr zu bewegen. Ein Eingreifen der Transzendenz wird weder vom Erzähler noch von einer Figur postuliert. Die lebensweltlichen Vorgänge im narrativen Rahmen werden aber genutzt, um in der Figurenrede wirkungsvoll religiöse Inhalte zu vermitteln.

22 Vgl. Karl-Ernst Geith/Elke Ukena-Best/Hans-Joachim Ziegeler: Der Stricker. In: 2VL 9 (1995), Sp. 417–449. Ausgabe: Der Stricker: Die Kleindichtung. Hrsg. von Wolfgang Wilfried Moelleken. 5 Bde. (GAG 107). Göppingen 1973–1978, hier Nr. 98. Literatur: Derron: Ernsthafter König.

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Ein König ist so ernsthaft, dass er nie lacht. Die Hofgesellschaft wundert sich darüber und bittet den Bruder des Königs, der allen Weltfreuden zugetan ist, nach der Traurigkeit des Königs zu fragen. Nachdem der Bruder die Frage gestellt hat, lässt der König ihn aufs Schafott führen, bis aufs Hemd ausziehen und von allen vier Seiten Speere auf seinen Körper richten. Auf die Frage des Königs, warum er nicht fröhlich sei und lache, erwidert der Bruder, dass ein Lachen jetzt sein Leben kosten würde, und auf erneutes Nachfragen bekräftigt er, dass er mit jedem Menschen, der in einer ähnlich gefährlichen Lage sei, Mitleid habe. Daraufhin erklärt der König, dass er selbst sich in eben dieser Lage befinde und legt die Speere folgendermaßen aus: Sie bedeuten die Erinnerung an die Marter Christi für die Menschen, die Ungewissheit der Todesstunde, die Ungewissheit über das Schicksal der Seele nach dem Tod, die Angst vor dem Jüngsten Gericht. All diese Nöte und Ängste halten den König davon ab, fröhlich zu sein. Er ermahnt seinen Bruder, auch an Christi Leiden und das eigene Seelenheil zu denken. Der Bruder ändert daraufhin seinen Lebenswandel.

Ähnlich wie der König Emanuel aus den ›Zwei Blinden‹ seine Hofgesellschaft über die Allmacht Gottes belehrt, wird auch hier eine autoritative Figur als Vermittler religiöser Inhalte eingesetzt. Diese Lehre ist nicht nur durch die exemplarische Situation besonders beeindruckend, sondern auch durch den Gegensatz zwischen dem gottesfürchtigen ernsthaften König und seinem fröhlichen, der Welt verhafteten Bruder auf der narrativen Ebene: der kunich het einen bru(o)der, / der was der werlt lu(o)der. / der chunde wol toren froude geben / und niht wan nach der werlde lebn. / dem zugen der werlde chint zu(o). / des fur er spat und fru(o) / mit frouden und mit schalle (V. 15 ff.). Diese negative Bewertung lässt zwar schon eine Perspektivierung der Geschichte erkennen, die Beweggründe für die Reaktion des Königs auf die Frage seines Bruders sind dem Rezipienten aber ebenso unbekannt wie den Figuren des Bruders und der Hofgesellschaft. Er kann deshalb die Angst des Bruders und das Entsetzen der Hofgesellschaft nachvollziehen. Die didaktische Funktionalisierung des Erzählten wird dadurch zusätzlich verdeutlicht, dass der König das Urteil als öffentliche Belehrung inszeniert: [der König] sprach: »daz mir da wirret / und mich des lachens irret, / daz wil ich dich niht verdagen; / ich wil dirz zeigen und sagen. / daz sol an der stat geschehen, / daz ez min fursten muzen sehen / und dar zu alle, die ich han (V. 43 ff.). In einem weiteren Schritt wird die Lehre explizit auf die Rezipienten ausgeweitet: wir tæten vil billich als er [der König], / und mohten diu vier sper / alle zit an unserm hercen / mit gedanchen vaste smerzen. / sit wir des niht erliden mu(o)gen / und zu der not niht entu(o)gen, / so sul wir doch daz liden, / daz wir sin niht gar vermiden. / ob es niht mac gewesen me, / so laze uns doch tun so we / zeiner zit in dem tage, / daz ez got die wile wol behage! (V. 233 ff.). Indem er seinen Rezipienten (und sich selbst) zugesteht, nicht in der Lage zu sein, ständig an die drohenden Speere zu denken, schwächt der Erzähler die Radikalität der religiösen Lehre etwas ab. Diese Abschwächung erinnert an den in laiendidaktischen Traktaten häufig angesprochenen Topos, dass der Laie mit geistlichen Übungen nicht überfordert werden solle, da dies eine gegenteilige Wir-

54 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld kung haben könne.23 Im ›Ernsthaften König‹ wird so die Drastik des Erzählten durch den Kommentar im Epilog aufgefangen, um die didaktische Wirkung wenn möglich noch zu steigern.

1.5 Parodistischer Umgang mit religiösen Inhalten Durch eine Parodie religiöser Inhalte geht deren inhärente Dignität und damit ihre emotionale Dimension verloren. Der unernste Umgang mit religiösen Inhalten erweckt somit den Eindruck, diese seien auf der gleichen Stufe verhandelbar wie lebensweltliche Inhalte. Dieser Eindruck kann auf unterschiedliche Weise funktionalisiert werden. Er kann dazu dienen, die komische Wirkung oder die Aussage des Textes zu steigern; er kann aber auch durch einen ernsten Subtext als ein nur scheinbarer Eindruck entlarvt werden. In diesen Fällen tritt zur parodistischen eine didaktische Funktion. Das Verhältnis der beiden Funktionen ist oft schwer zu erkennen, was den Schwellenstatus parodistischer Texte mit religiösen Elementen zwischen geistlichen und weltlichen Texttypen deutlich macht. Ein Beispiel einer parodistischen Verserzählung ist Fröschels von Leidnitz ›Prozess im Himmel‹ (196 V., 14. Jahrhundert?).24 Der Ich-Erzähler berichtet, wie er eines Nachts im Traum von einem Engel in den Himmel geführt wird, wo Gott gerade Gericht hält: Der heilige Nikolaus klagt Johannes an, da er sich wegen der Sitte des Johannesminne-Trinkens als Patron der Reisenden um so viele Betrunkene auf dem Heimweg kümmern müsse. Verschiedene Heilige werden in dieser Streitsache befragt und sprechen sich für oder gegen Johannes aus, bis Andreas darauf hinweist, dass die Schuld Bernhards (wegen des am Morgen stattfindenden Trinkens der Bernhardsminne) noch viel größere Schuld treffe und er folglich sowohl Nikolaus als auch Johannes zu entschädigen habe. Gott schlichtet daraufhin den Streit, indem er feststellt, dass Bernhard am meisten schuldig sei, da er von Johannes und Nikolaus hätte angeklagt werden können. Bernhard wird dazu verurteilt, Johannes zum nächsten Kirchtag eine Lade für seine Urkunden und sein Schreibzeug zu kaufen. Johannes muss dagegen Nikolaus zur nächsten Kirchweih ein Paar Handschuhe schenken. Nachdem das Gericht beendet ist, macht Bernhard Gott auf die Anwesenheit des Erzählers aufmerksam, der vom himmlischen Hof freundlich empfangen wird. Bernhard trägt ihm auf, den Seinen auf Erden zu offenbaren, dass er denjenigen, die ihm zu Ehren die Bernhardsminne trinken, vier Gaben verleihen will: blaue Augen, zitternde Hände, einen schweren Kopf und ein betrunkenes Aussehen. Der Erzähler erwacht wieder und ruft im Epilog zum Dienst an Bernhard auf.

23 Vgl. etwa das Beispiel des Stoffes vom ›Ritter in der Kapelle‹, Kap. VI.3.1. 24 Vgl. Walter Blank: Fröschel von Leidnitz. In: 2VL 2 (1980), Sp. 977 f. Ausgabe: Hanns Fischer (Hrsg.): Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts (MTU 12). München 1966, S. 503–510.

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Die Rahmenhandlung des Traums dient zu einer Relativierung des Erzählten in Bezug auf seinen Faktizitätsanspruch. Im Epilog zieht sich der Erzähler aus der Verantwortung, indem er selbst auf den prekären Status des Traums verweist und dem Rezipienten die Bewertung überlässt: den traum ich für abenteur sag. / ich kann ainen zweifel nicht erweren, / doch wil ich sein selb auch nit schweren. / wer sein nicht glaubt, der laß es sein (V. 186 ff.). Am Anfang der Erzählung ist ihr Status jedoch noch nicht klar. Das aufgerufene Erzählmuster, ein himmlisches Gericht, könnte durchaus auch einer nicht-parodistischen geistlichen Erzählung zugrunde liegen.25 Doch bei der Klage des heiligen Nikolaus mit seiner ausführlichen Schilderung der Betrunkenen wird die parodistische Tendenz deutlich. Das Problem, über das gestritten wird, ist eines himmlischen Gerichts ebenso unwürdig wie die von Gott verordnete materielle Wiedergutmachung. Dadurch, dass die komischen Reden in den Mund heiliger Figuren gelegt sind, entsteht eine Inkongruenz zwischen dem außerliterarischen Status dieser Figuren und ihrem intradiegetischen Verhalten, die die komische Wirkung der Reden steigert. Dies wird etwa dann besonders deutlich, wenn die versammelten Heiligen als Reaktion auf Bernhards schlagfertige Verteidigungsrede gegen Andreas in Lachen ausbrechen (V. 130). Auf einer weiteren, intertextuellen Ebene wird Komik dadurch generiert, dass durch das Anzitieren bekannter Erzählmuster ein Erwartungshorizont aufgerufen wird, der dann durch den Fortgang der Erzählung unterlaufen bzw. ins Gegenteil verkehrt wird. Dies funktioniert beim anfangs anzitierten Erzählmuster des himmlischen Gerichts ebenso wie bei den narrativen Versatzstücken ›Ein Mensch wird dem himmlischen Hof vorgestellt‹ und ›dem Menschen wird ein religiöses Geheimnis geoffenbart‹. Das erste Versatzstück wird auf ›ernsthafte‹ Weise etwa in der Erzählung ›Bischof Bonus‹ verwendet, in der der Marienverehrer Bonus, obwohl er sich zunächst versteckt hält, vor dem himmlischen Hof eine Messe lesen muss und als Belohnung von Maria ein Messgewand bekommt. Das zweite Versatzstück ist beispielsweise im ›Armen Schüler‹ zu finden, wenn Maria dem Protagonisten ihre leibliche Aufnahme in den Himmel offenbart mit dem Auftrag, diese in der Welt zu verkünden. Im ›Prozess im Himmel‹ wird der Protagonist dagegen ausgerechnet vom beschuldigten heiligen Bernhard vor die himmlische Gesellschaft geführt. Ebenfalls von Bernhard wird ihm dann eine höchst zweifelhafte Offenbarung mitgeteilt. Das Generieren von Komik auf unterschiedlichen Ebenen, das Spiel mit Inkongruenzen und unterwanderten Erwartungen macht die Wirkung dieses Textes aus. Die Präsenz des Transzendenten hat dabei eine parodistische Funktion, ohne dass ihr ein erkennbarer ernstgemeinter Subtext zugrunde läge. Zwar

25 Beispiele: ›Streit der vier Töchter Gottes‹, ›Der ertrunkene Glöckner‹.

56 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld könnten die Schilderung der betrunkenen Bauern und die augenzwinkernde Aufforderung zum Dienst an Bernhard im Epilog als Negativdidaxe gedeutet werden. Aber eine solche Deutungsmöglichkeit scheint mir gegenüber der Lust an der Parodie und am Witz eher marginal zu sein. Durch die Verwendung von transzendenten Figuren und geistlichen Erzählmustern nimmt der ›Prozess im Himmel‹ zwar Bezug auf den Texttyp der geistlichen Verserzählung – ohne den er nicht in dieser Form denkbar wäre – doch er steht im Randbereich des Texttyps, da er die religiösen Elemente in einer ganz anderen Form verwendet, als es für geistliche Erzählungen typisch ist. Ein ähnlicher Fall liegt beim ›Müller im Himmel‹ (222 V., 15. Jahrhundert)26 vor. Nach dem Tod eines Müllers, der auf der Grenze zwischen zwei Kirchspielen lebte, können sich die Pfarrer nicht einigen, wo er begraben werden soll. Auf den Rat eines klugen Mannes wird die Entscheidung dadurch gefällt, dass der Leichnam auf einen Esel gebunden wird; wohin dieser sich wende, dort solle er begraben werden. Der Esel begibt sich unter den Galgen. Damit ist das Schicksal der Seele des Müllers besiegelt, er wird von den Teufeln geholt. Zuerst führt ein Teufel den Müller jedoch in den Himmel, um durch die Anschauung der ewigen Freuden seinen Schmerz in der Hölle zu verstärken. Auf listige Weise entkommt der Müller dem Teufel und tritt in den Himmel ein. Dort behauptet er seine Stellung, indem er die zu seiner Vertreibung ausgesandten Heiligen mit schlauen Verweisen auf deren eigene Sünden und Maria mit dem Verweis auf ihre grenzenlose Barmherzigkeit zurückweist. Selbst Christus kann ihn nicht aus dem Himmel vertreiben, denn der Müller beansprucht einen verschenkten alten Sack als Barmherzigkeitswerk. Nachdem ihm der Sack ausgehändigt worden ist, setzt er sich auf sein Eigentum und kann deshalb nicht mehr vertrieben werden.

Auch hier wird die Komik vor allem durch die Inkongruenz zwischen dem außerliterarischen Status der heiligen Figuren und der Art und Weise, wie sie in der Erzählung vom Müller vorgeführt werden, generiert. Man wird in dem Text kaum eine didaktische Komponente finden – ebenso wenig wird man allerdings dem Erzähler unterstellen können, er wolle die göttliche Allmacht auf ernsthafte Weise in Frage stellen. Dass der einfache Müller Heilige, Maria und selbst Gott überlistet, ist wohl nichts weiter als ein Bruch mit den Erwartungen der Rezipienten um der komischen Wirkung willen, die in den letzten beiden Versen gipfelt: doch bleib der molner in dem himmelrich / und sitzit uf sim sack hinder der tor / und keret sinen ars hervor (V. 220 ff.). Eine ähnliche Geschichte, aber mit ganz anderem Ausgang, erzählt der Schweizer Anonymus in ›Petrus und der Holzhacker‹ (100 V., 15. Jahrhundert).27

26 Vgl. Ulla Williams: Der Müller im Himmel. In: 2VL 6 (1987), Sp. 746 f. Ausgabe: Fischer: Märendichtung, S. 496–502. 27 Vgl. Johannes Janota: Schweizer Anonymus. In: 2VL 8 (1992), Sp. 931–942. Ausgabe: Eine

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Ein Holzhacker hört in der Predigt, dass schwer arbeitende Menschen zu weniger Beten, Fasten und guten Werken verpflichtet seien als müßige Leute, und dass man mit fleißiger Arbeit ebenso gut ins Paradies gelangen könne wie mit fleißigem Beten. Der Holzhacker beschließt daraufhin, immer fleißig zu arbeiten und verzichtet auf Beten, Fasten und gute Werke. Nach seinem Tod kommt er vor die Himmelspforte und wird von Petrus dort empfangen. Der Holzhacker kann nichts anders als seine Arbeit vorweisen; Petrus schickt ihn daraufhin weg, doch auf das Bitten des Holzhackers hin versucht er, ihn an seiner Axt in den Himmel zu ziehen. Dies gelingt aber nicht, da der Stiel aus der Axt bricht und der Holzhacker mitsamt dem Stiel in die Hölle fallen muss.

Wie der Müller aus der oben erwähnten Erzählung hat auch der Holzhacker kein Anrecht auf einen Platz im Himmel, weil er im Leben keinen Gottesdienst geleistet hat. Während jedoch der Müller den alten Sack als barmherzige Gabe nutzen kann, um im Himmel zu bleiben, scheitert der Versuch des Petrus, den Holzhacker an seinem Arbeitswerkzeug, der Axt, in den Himmel zu ziehen. Während die Heiligen im ›Müller im Himmel‹ vergeblich versuchen, den Müller aus dem Himmel zu vertreiben, versucht hier Petrus vergeblich, dem Holzhacker zu helfen. Die Darstellung der Ohnmacht einer eigentlich mit transzendenter Macht ausgestatteten heiligen Figur ist ein Inkongruenzphänomen, das Komik erzeugt. Während der komische Effekt also in beiden Texten durch die gleichen Mittel hervorgerufen wird, differiert die für die Interpretation entscheidende Gestaltung der menschlichen Figur grundsätzlich. Das Verhalten des Müllers, für dessen mangelnden Gottesdienst zu Lebzeiten keinerlei Gründe angegeben werden, ist durch List und Frechheit bestimmt, die auch vor den heiligsten Figuren keinen Halt machen und zu dem für den Müller vorteilhaften grotesken Ende der Geschichte führen. Religiöse Topoi (z.B. Marias grenzenlose Barmherzigkeit, Verheißung großen Lohns auch für einen kleinen Gottesdienst) und juristische Vorstellungen (unangreifbares Eigentum) werden dabei absolut gesetzt, so dass sie selbst die göttliche Macht aushebeln. Der Holzhacker dagegen kennt keine List. Durch seine Einfalt verkörpert er einen dem listigen Müller diametral entgegengesetzten Figurentypus. Nicht der fehlende Wille ist der Grund für den mangelnden Gottesdienst des Holzhackers, sondern seine Unfähigkeit, Lehre richtig aufzunehmen und umzusetzen: er arbeitet vast und tett darzuo / sust kein guot weder spat noch fruo. / er wand, er tätt gnuog. / das er arbeit und doch kein guot / darzuo tett, das betrouch in zwar. / Do er gestarb, er ward sin gewar (V. 21 ff.). Seine ausschließliche Weltzugewandtheit wird parodistisch überzeichnet gerade bei seinem Abschied von der Welt dargestellt: [der Holzhacker] wolt gan himel farn zehant. / den schlegel und die ax er uf die gürtel bant (V. 29 f.). Der Holzhacker stattet sich mit den Attributen seiner weltlichen Arbeit aus, um in den Himmel zu

Schweizer Kleinepiksammlung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Hanns Fischer (ATB 65). Tübingen 1965, S. 47–51.

58 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld kommen. Petrus erklärt ihm aber vor dem Himmelstor, auch der Arbeitsame könne nicht völlig auf den Dienst an Gott verzichten, sondern müsse nur nit als vil betten und fasten / als einer, der alle zit ruowet und rastet (V. 65 f.). Der Holzhacker erschrickt und erkennt erst jetzt sein Vergehen: »ach herre got, wie sol es mir ergan? / het ich die bredgi recht verstanden, / so wer ich ietz ledig der schanden / und wurd behalten ewenklich. / ach, her sant Peter, nu bitt ich dich, / das du mir helfest us disem leid.« (V. 78 ff.). Der Umgang der Figuren des Holzhackers und des Müllers mit religiösen Inhalten ähnelt sich insofern, als beide Figuren deren Komplexität in unzulässigem Maß reduzieren und das so gewonnene Substrat absolut setzen. Auf diese Weise entstehen groteske Verkürzungen: Maria muss immer helfen; ein arbeitender Mensch muss gar nichts für sein Seelenheil tun. Während der Erzähler des ›Müllers im Himmel‹ selbst die transzendenten Figuren an diesen Verkürzungen scheitern lässt und dadurch Komik erzeugt, geht diese Disposition in ›Petrus und der Holzhacker‹ auf Kosten der menschlichen Figur. Der Holzhacker beginnt nach seiner späten Erkenntnis, die Versäumnisse seines Lebens nachzuholen, indem er den Heiligen um Hilfe anruft. Dass die Reue nach dem Tod aber zu spät kommt, zeigt auf komische Weise die darauf folgende versuchte Rettung durch Petrus, der dem Holzhacker anbietet, ihn an seiner Axt ins Himmelreich zu ziehen. Doch dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt: und da er an den obresten staffel kam, / do huob sich kumers vil, / wan uss dem schlegel viel der stil, / daran sich huob der arm man. / do gieng erst sin liden an / mit dem stil viel er do / herab, des ward er unfro (V. 90 ff.). Die Inkongruenz zwischen der Bedeutung der Entscheidung über das Schicksal einer Seele und der materialverhafteten Art und Weise, wie diese Entscheidung gefällt wird, eröffnet die Möglichkeit, über den Holzhacker und seine Einfalt zu lachen. Der Text bietet durch die Schilderung der emotionalen Betroffenheit und späten Reue des Holzhackers aber auch eine andere, ernstere Interpretationsmöglichkeit: Der Rezipient kann Mitleid mit dem Holzhacker empfinden und das Geschehen als Warnung davor verstehen, religiöse Lehren misszuverstehen. Diese mögliche didaktische Funktionalisierung der Geschichte schließt das Lachen über den Holzhacker nicht aus – parodistische und didaktische Funktion können hier nebeneinander stehen. Während im ›Prozess im Himmel‹, im ›Müller im Himmel‹ und im ›Holzhacker‹ geistliche Erzählmuster parodiert werden, treten in der ›Buhlschaft auf dem Baume‹ (256 V., 15. Jahrhundert)28 transzendente Figuren in das weltliche Erzählmuster des Ehebruchsschwanks ein.

28 Vgl. Jürgen Meier: Buhlschaft auf dem Baume. In: 2VL 1 (1978), Sp. 1113–1115. Ausgabe: Fischer: Märendichtung, S. 485–495. Zum Stoff außerdem Gerd Dicke: Das belauschte Stelldich-

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Ein Blinder hat eine schöne Frau, die er mit übertriebener huote davon abhalten will, ihn zu betrügen. Die Frau wird jedoch von einem Schüler zu einem Stelldichein gebeten und geht mit ihrem Mann zu einer Linde, in deren Krone der Schüler sitzt. Die Frau macht dem Blinden weis, es handle sich um einen Apfelbaum und klettert unter dem Vorwand, Äpfel pflücken zu wollen, auf den Baum. Der Blinde umfasst den Baum, um einen etwaigen Nebenbuhler daran zu hindern, zu der Frau hinaufzuklettern. Diese gibt sich, auf Anweisung des Mannes, den Baum nur recht zu schütteln, in der Krone dem Liebesspiel mit dem Schüler hin, der aus einem Korb Äpfel hinabwirft. Diese Szene wird von Sankt Petrus und Christus beobachtet. Petrus ist entsetzt und bittet Christus, dem Blinden das Augenlicht wieder zu geben. Christus lehnt erst mit Verweis auf die Listigkeit der Frau ab, doch Petrus insistiert. Als der Blinde wieder sehen kann und die Frau wegen ihrer Missetat beschimpft, antwortet sie, es handle sich um einen Heilungszauber, dem der Ehemann sein wiedererlangtes Augenlicht verdanke. Der Ehemann lässt sich überzeugen und bedankt sich beim Schüler. Als Petrus hinzutritt, um ihn zu belehren, wird er von der Frau verleumdet, und der Ehemann will ihn erstechen. Auf Petrus’ Racheforderung hin antwortet Christus, dass er den Sündern gegenüber nachsichtig sei und sich ein zweites Mal für sie töten lassen würde.

Die Figurenkonstellation der Ausgangssituation ist für einen schwankhaften Text geradezu typisch. Der Blinde und seine junge, hübsche Frau bilden ein ungleiches Paar, der Blinde ist in seiner Wahrnehmung beschränkt und verkörpert mit seiner übertriebenen Eifersucht und huote den schlechten Ehemann. In der Baum-Episode überlistet die Frau den Ehemann, und damit könnte die Erzählung – würde sie einer einfachen Schwankstruktur folgen – zu Ende sein. Unvermittelt treten in diesem Moment aber die transzendenten Figuren auf: der schüler was ein rechter knab. / er begund sich mit der frauen rütteln / und die öpfel auss der kappen schütteln. / er sprach, das were recht. / Unser herr und auch sein knecht / sant Peter gingen bede dafür (V. 130 ff.). Das Auftreten der Figuren wird in keiner Weise motiviert, sie kommen zufällig vorbei. Dies läuft den Erwartungen, die man mit geistlichen Erzählungen verbindet, zuwider, denn dort erscheinen transzendente Figuren immer in einer bestimmten Situation aus bestimmten Gründen. Der unmotivierte Eintritt transzendenter Figuren in die Handlung eines Ehebruchsschwanks stellt somit schon eine erste komische Inkongruenz dar. Im weiteren Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass die Figur des Petrus zwar mit einer besseren Wahrnehmung ausgestattet ist als der Blinde,

ein. Eine Stoffgeschichte. In: Der ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela 2000. Hrsg. von Christoph Huber/Victor Millet. Tübingen 2002, S. 199–220; Henrike Lähnemann: ›Tristan‹ und der Sündenfall. Ein Theologumenon auf höfischen Abwegen. In: Der ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela 2000. Hrsg. von Christoph Huber/Victor Millet. Tübingen 2002, S. 221–242; Slenczka: Gäste, S. 138–159; Susanne Reichlin: Zeitperspektiven. Das Beobachten von Providenz und Kontingenz in der Buhlschaft auf dem Baume. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs/Susanne Reichlin (Historische Semantik 13). Göttingen 2009, S. 245–270.

60 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld dass er aber nur die Äußerlichkeiten (den Ehebruch) sieht, ohne diese mit dem Wissen über die Funktionsweise der Welt zu verbinden. Dieses Wissen hat dagegen Christus, der auf die Bitte des Petrus, den Blinden aufzuklären, antwortet: »sie fünd wol ein antwort / danoch, ob es der man sech an.« – / »herr, wie wer das aber getan«, / sant Peter sprach, »das höret ich gern.« / unser herr sprach: »wiltu sein nit enpern, / so wil ich dich lassen sehen, / wie die fraue wirt jehen.« (V. 144 ff.). In dieser Aussage findet sich der in der Erzählliteratur verbreitete Topos, die List der Frauen sei so groß, dass sie die Männer sogar gegen den Augenschein betrügen könnten.29 Dies wird hier dadurch noch gesteigert, dass auch ein von Gott bewirktes Wunder der listigen Frau nichts anhaben kann – wie selbst Christus im ›Müller im Himmel‹ den Müller nicht aus dem Himmel zu vertreiben vermag. Die Frau wird in der ›Buhlschaft‹ mit drei Figuren konfrontiert, die aufgrund des jeweiligen Wahrnehmungspotentials, mit dem sie ausgestattet sind, unterschiedlich mit ihr umgehen. Der blinde Ehemann hat eine derart beschränkte Wahrnehmung (sinnlich und kognitiv), dass er weder mit blinden noch mit sehenden Augen die List durchschaut.30 Petrus erkennt zwar die Wahrheit hinter der List, kann aber nicht angemessen darauf reagieren. Christus sieht die Wahrheit und weiß auch um das Funktionieren der List. Er tritt in der Rolle des Lehrers auf, der seinen Schüler Petrus anhand dieses Exempels über die Frauenlist belehrt, indem er auf dessen Wünsche eingeht und ihm zeigt, dass seine Bemühungen zu nichts führen. Petrus muss die Unmöglichkeit der Wahrheitsvermittlung erkennen, als die Frau ihn vor dem Blinden verleumdet und dieser mit dem Messer auf ihn losgeht. Christus kommentiert lapidar: »Petre, du woltest anders nicht. / vil manchem mer also geschicht, / der do saget böse mer. / du warst aber also alber / und meinest nit, das dises weib / sich wol konte scheib, / das sie iren man betörte, / wie eben auch der man das hörte.« (V. 227 ff.). Doch selbst nachdem Petrus die Wahrheit erkannt hat, reagiert er nicht angemessen, sondern äußert einen wütenden Rachewunsch: »herre got, / und rich mich an ir durch dein gepot.« (V. 241 f.). Christus antwortet: »nein, Peter, ich wil dir sagen, / dem sünder sol man vil vertragen. / weistu nicht, das ich mein leben / für den sünder hab gegeben. / dorumb so wil ich keinen lon. / ich wil sie in meinem schirm han. / ee ich sie liess in nöten, / ich liess mich noch eins töten.« (V. 243 ff.). Der ›blinden‹ Wut des Petrus

29 Dieses Motiv findet sich etwa in den Ehebruchsschwänken ›Das Kerbelkraut‹ und in Kaufringers ›Chorherr und Schusterin‹. 30 Das Motiv des vorgetäuschten Heilungszaubers und Überlistung des Mannes durch dieses Mittel findet sich auch in Heinrich Kaufringers ›Die zurückgelassene Hose‹, dort jedoch ohne transzendente Einwirkung. Die plötzliche Meinungsänderung des Mannes (Wut über anscheinenden Ehebruch – Dankbarkeit für die Heilung) erinnert an den Sinneswandel und die Reue des Ehemannes in Strickers ›Ehescheidungsgespräch‹.

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stellt Christus die besonnene Haltung des verzeihenden Erlösers gegenüber. Dies kann man als bedingungslose Vergebung auffassen31 oder – in einer weltlichen Lesart – als Resignation selbst Gottes vor dem Phänomen der listigen Frau, analog zum Erzählstoff vom bösen Weib, das selbst den Teufel an Bosheit übertrifft und von ihm gefürchtet wird.32 Jedenfalls wird in diesen Extrempositionen die parodistische Funktion der Präsenz der transzendenten Figuren deutlich: Die Figuren Petrus und Christus dienen dazu, die Aussage zu verabsolutieren und dadurch auch die Komik zu steigern. Allerdings werden bei diesen beiden Interpretationen der ›Buhlschaft‹ die letzten Verse des Textes zu wenig beachtet. Christus versichert nämlich nicht nur seine Bereitschaft, den Opfertod zu wiederholen, sondern fügt hinzu: »wer do peichtet und bereuet / und darzu mir getrauet, / dem vergibe ich sein schuld / und lass in erwerben mein huld« (V. 251 ff.). Der Wille Christi zur Vergebung und zum Opfertod für den Sünder ist also keineswegs beliebig wiederholbar, sondern an Bedingungen geknüpft: Beichte und Reue.33 Das Erlösungswerk läuft nicht, wie Hans Jürgen Scheuer meint,34 wie ein perpetuum mobile selbständig und unabhängig von äußeren Umständen weiter, sondern hängt von der Reue und Beichte der Sünder ab. Anhand des auf den ersten Blick paradoxen Verhaltens Christi kann der Rezipient zu einem ernstgemeinten Subtext der Erzählung vordringen: Christus sieht die faktische Wahrheit, er kennt den Lauf der Welt und weiß um die Unbelehrbarkeit des Ehemannes und die Unbestrafbarkeit der ehebrecherischen Frau in der Welt. Deshalb verzichtet er auf die von Petrus geforderte Rache. Er

31 So etwa Scheuer: Schwankende Formen, der die Interpretation Grubmüllers, dass das Verhalten Christi eine Resignation vor der verworfenen Welt bzw. der Frauenlist sei, zurückweist (S. 753, Anm. 41). Stattdessen interpretiert Scheuer Christus als »Beobachter zweiten Grades, der seine Operationen in der Welt auf Anschlussfähigkeit anlegt: Er löst sich aus dem Dilemma, nach dem eigenen Gebot eine Frau bestrafen zu müssen, die nur wahre Aussagen macht, indem er aus der Position des Erlösers, der die Welt immer wieder – iterum et iterum – erlösen würde, seine Beobachtung nicht von der Unterscheidung ›Schuld‹/›Unschuld‹ leiten lässt. Denn diese Unterscheidung wird ja durch den Erlösungsakt (immer wieder) transzendiert« (Schwankende Formen, S. 753). 32 Tubach 5361. 33 In dem Re´sume´ zu Scheuers Aufsatz von Gert Melville werden die Schlussverse der Erzählung ebenfalls zu wenig beachtet, wenn Melville in der ›Buhlschaft‹ eine Kirchenkritik sehen will: »In Form einer Invektive gegen die Amtskirche wurde hingegen Petrus als der ›Gelackmeierte‹, die figura der Kirche, stilisiert, der nur äußerliche Normen vollziehen kann.« (Melville: Einleitung, S. 524). Diese Unterstellung einer Kritik an der Institution der Kirche wird hinfällig, wenn die Beichte als kirchliche Institution zur Bedingung der Erlösung gemacht wird. 34 Vgl. Scheuer: Schwankende Formen, S. 754, bezeichnet den »Messias als Verwaltungstechniker der Erlösung [...], der nicht mehr die Sünde des Menschen sieht, sondern nur darauf schaut, dass sein System möglichst reibungslos in perpetuum weiterläuft«.

62 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld weist dabei auf seinen Willen zur Vergebung und seinen Opfertod für den Sünder hin, hält aber gleichzeitig fest, dass nur derjenige, der beichtet und bereut, diese Vergebung erlangen kann. Wird diese Deutungsmöglichkeit aktualisiert, kommt der Präsenz der transzendenten Figuren neben der parodistischen auch eine didaktische Funktion zu. Der Erzähler inszeniert durch die transzendenten Figuren Petrus und Christus verschiedene Stufen der Erkenntnisfähigkeit und macht damit dem Rezipienten des Textes verschiedene Interpretationsangebote. Dieser kann entweder auf der Stufe des Petrus verharren, sich über die Frauenlist empören, schließlich davor resignieren und sich die Lehre zu Herzen nehmen, nicht unvorsichtig unerfreuliche Nachrichten zu verbreiten; oder er kann einen Schritt weitergehen und die Position Christi einnehmen, die Welt angemessen beurteilen und anhand der Bedingung von Reue und Beichte für die Erlösung davon ausgehen, dass die Ehebrecherin – sofern sie nicht beichtet – im Jenseits der gebührenden Strafe zugeführt werden wird. Das Verhältnis des Textes zum Texttyp der geistlichen Verserzählungen wird dadurch komplexer. Natürlich ist die ›Buhlschaft‹ kein besonders gutes Beispiel einer geistlichen Verserzählung, aber durch die Aktualisierung der im Text angelegten geistlichen Deutungsmöglichkeiten kann sie auch als geistliche Erzählung gelesen werden. In vielen schwankhaften Texten werden geistliche Erzählmuster oder religiöse Inhalte anzitiert, ohne dass transzendente Figuren auftreten. Ein Beispiel dafür ist die ›Martinsnacht‹ des Strickers (Moe 59; 214 V., 13. Jahrhundert), in der gerade das Erscheinen transzendenter Figuren und dessen Wahrnehmung auf parodistische Weise zum Thema gemacht wird. Ein reicher Bauer feiert die Martinsnacht, indem er sich sinnlos betrinkt. Während der Bauer und sein Gesinde zechen, kommen Diebe herbei, um die Rinder des Bauern zu stehlen; ein Dieb dringt in den Stall ein, wird aber von einem Hofhund gestellt, worauf der Bauer in den Stall geht, um nach dem Rechten zu sehen. Der Dieb, dem keine Zeit zur Flucht bleibt, zieht sich aus und tut so, als würde er das Vieh des Bauern segnen. Dem erstaunten Bauern macht er weis, er sei der heilige Martin und behüte das Vieh des Bauern vor Diebstahl, da der Bauer ihn durch sein Zechen so sehr geehrt habe. Der betrunkene Bauer glaubt ihm und kehrt zum Gesinde zurück, um fröhlich weiterzuzechen, während die Diebe alle Rinder aus seinem Stall treiben. Am nächsten Morgen bemerkt der Bauer den Diebstahl und erntet zu dem Schaden auch noch den Spott der Leute.

Auch dieser Text eröffnet verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Man kann das Anzitieren des geistlichen Erzählmusters ›Heiligenerscheinung‹ und seine Unterwanderung durch die zweifelhafte ›Qualität‹ des erschienenen Heiligen als Parodie auf den allzu einfältigen Wunderglauben des Bauern interpretieren und die Handlung des Diebes als Beispiel einer besonders listigen Rettung aus drohendem Ungemach verstehen, die sich religiöser Muster auf eine ähnlich unver-

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schämte Weise bedient wie der Müller im Himmel. Die angesichts solcher List notwendige Mahnung zur Vorsicht findet sich im Epimythion: Da man ich mine freunde bi: / swie gut des diebes rede sıˆ/ und sin geheizze darzu, / daz man im doch sin rehte tu(o) / und in fur einen diep habe […] man sol in fur einen getriwen man / durch siniu wort niht han, / ern lazze die werch dar nach gan. / ern triuget niemen so vil / so den, der im getrowen wil (V. 199 ff.; 210 ff.). Diese Anweisung zum klugen Verhalten erinnert an die weltlichen Deutungen mancher Fassungen der ›Halben Decke‹. Das Erzählte wird in dieser Interpretation zwar didaktisch funktionalisiert, aber in einer weltlichen Perspektive; das Anzitieren eines religiösen Erzählmusters dient nur dazu, das Ausmaß der Dreistigkeit des Diebes zu betonen. Wenn man sich jedoch nicht nur von der expliziten didaktischen Funktionalisierung des Epimythions leiten lässt, sondern stärker auf die Ebene der Wahrnehmung der Figuren – besonders des Bauern – fokussiert, bietet sich eine weitere Interpretationsmöglichkeit. Ähnlich wie in der ›Buhlschaft‹ und in ›Petrus und der Holzhacker‹ wird ein Protagonist vorgestellt, dessen Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit defizitär ist. Beim Bauern der ›Martinsnacht‹ hat dies einen Grund: er wolde vil gewis sin, / ez wære sande Martin. / daz chom von siner trunchenheit (V. 85 ff.). Das Auftreten und die Reden des ›Heiligen‹ müssten den Bauern irritieren, wenn er bei klarem Verstand wäre, denn sie weichen vom erwartbaren Verhalten ab: [der Dieb] tet mit siner ceswen hant / uber den wirt und uber siniu kint / und uber iesliche sin rint / daz chreuce mere denne zehen stunt. / dar zu rurt er den munt / rehte, als er spræche einen segen (V. 36 ff.). Durch die Übertreibung der heiligen Handlung (mere denne zehen stunt) gerät diese in ein schiefes Licht. Diese Interpretation wird bestätigt durch die Varianten der jüngeren Textzeugen, die die Tendenz noch verstärken: zweinzik, hundert und sogar tawsent stunt macht der Dieb dort das Kreuzzeichen.35 Das ungewöhnliche, übertriebene und deshalb komische Handeln wird von einer ungewöhnlichen Lehre begleitet, die an die Offenbarung Bernhards im ›Prozess im Himmel‹ erinnert: Der Dieb erklärt seinen Rindersegen als Dank für den Dienst des Bauern: ich bin iz, sande Martein, / und wol dir gelten dinen w(e)in, / den du getrunchen hast durch mich. / din trinchen ist so gro(e)zlich, / daz du durch minen willen tust, / daz du sin wol geniezzen must (V. 51 ff.). Der Heiligendienst des Bauern besteht also im übermäßigen Trinken. Diese Lehre vermittelt der trunksüchtige Bauer danach auch seinen Knechten: »ich han vernomen rehte, / swer die heiligen eret, / daz ist vil wol

35 Die Ausgabe folgt der ältesten Stricker-Handschrift A (Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2705); die Variante zweinzik stunt haben die Handschriften HK (Heidelberg, UB, Cpg 341 und Cologny-Genf, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bodm. 72) und die Handschrift c (Karlsruhe, BLB, Cod. k 408); die Variante hundert stunt steht in der Handschrift L (Karlsruhe, BLB, Donaueschingen 104); die Variante tawsent stunt bietet die Handschrift B (Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2885).

64 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld becheret. / wir suln trinchen minen win / so sere, daz sande Mertin / iemer mer ein herre si, / und suln trinchen da bi, / daz er uns sin iemer danch sage […] wie mohte mich sin hulde / iemer sanfter ane chomen? / sit ich von im han vernomen, / daz er trinches gegert, / des wirt er von mir wol gewert« (V. 112 ff.; 126 ff.). Doch in der ›Martinsnacht‹ wird dieser pervertierte Heiligendienst mit dem entsprechenden Lohn vergolten. Der Dieb kündigt dies selbst indirekt an, wenn er zum Bauern sagt: ez warn diebe her chomen / und wolden dir haben genomen / diniu rinder und ander din gut. / durch daz han ich mich hergemut, / daz ich din gut unde dich / behuten wil; daz lazze an mich! / des wil ich fliezzechlichen phlegen […] nu lesche daz liht, lieber man, / und ginch an dinen gemach hin! / dannen ich her chomen bin, / da wil ich ouch hinwider varn / und wil dich iemer bewarn« (V. 57 ff.; 68 ff.). Doch selbst diesen Hinweis versteht der Bauer nicht,36 sondern hält sein Erlebnis für eine tatsächliche Begegnung mit der Transzendenz: »wol mich, daz ich sælich bin,« / so sprach er zu den sinen, / »ich han sande Mertinen / mit minen ougen gesehen; / mir mach nu nimmer misseschehen« (V. 90 ff.). Der Bauer dient mit seinem Fehlverhalten als Negativbeispiel, anhand dessen sich die Rezipienten eine Anweisung für das richtige Verhalten konstruieren können. In dieser Deutungsmöglichkeit ist nicht der Einfältige, der vorbehaltlos an eine Heiligenerscheinung glaubt, der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern derjenige, der wegen seiner Trunksucht eine defizitäre Erkenntnisfähigkeit aufweist.37 Auch wenn im Fluchtpunkt dieser etwas differenzierteren didaktischen Funktionalisierung das Laster der Trunksucht steht, ist sie nicht primär geistlich perspektiviert. Das Problem der Wahrnehmung einer transzendenten Figur dient eher als besonders exponierter Modellfall, der die didaktische Wirkung und die Komik gleichzeitig steigern kann. In der Erzählung ›Die zwei Beichten‹ (136 V., 14. Jahrhundert)38 wird das religiöse Kommunikationsmuster der Beichte auf ähnliche Weise pervertiert wie in der

36 Das Motiv, dass eine Figur die Wahrheit sagt, um eine andere Figur über ebendiese Wahrheit hinwegzutäuschen, ist auch aus anderen schwankhaften Erzählungen bekannt. So verrät z.B. die ehebrecherische Frau im ›Ritter mit den Nüssen‹ ihrem Ehemann das Versteck des Liebhabers, doch gerade aufgrund ihrer Beteuerungen glaubt der Ehemann ihr nicht und verzichtet darauf, nachzusehen. 37 Im gesamten Text kommt 21mal das Verb trinken und zweimal das Substantiv trunchenheit vor, wobei 16 Belege nur auf die Rede des Bauern über die Heiligenerscheinung und die Trinkszene danach (V. 90–170) entfallen. Dieses Insistieren suggeriert ebenfalls eine Kritik am Laster der Trunksucht. 38 Vgl. Werner Schröder: Die zwei Beichten A. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1615 f.; Alwine Slenczka: Die zwei Beichten B. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1616 f. Ausgaben: ›Die zwei Beichten A‹: Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwänke des 13. und 14. Jahrhunderts. Bd. 1. Hrsg. von Heinrich Niewöhner. 2. Aufl. hrsg. von Werner Simon, mit den Lesarten besorgt von Max Boeters/

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›Martinsnacht‹ das Erzählmuster der Heiligenerscheinung – indem nämlich die Stelle des Klerikers von unwürdigen Laien eingenommen wird. Im Gegensatz zur ›Martinsnacht‹ findet hier jedoch kaum eine didaktische Funktionalisierung statt. Ein Bauer wohnt abgelegen in einem Wald. Er kann am Palmsonntag nicht zur Kirche gehen, weil er viele kleine Kinder hat und der Weg mit Schnee bedeckt ist. Deshalb schlägt er seiner Frau vor, dass sie sich gegenseitig die Beichte abnehmen könnten. Die Frau ist einverstanden, sofern ihr keine harte Strafe droht. Als der Mann dies zusagt, beichtet sie ihm ihren Ehebruch mit dem Gutsherrn, seinem Amtmann, dem Landrichter, dem Dorfpfarrer und dem Messner. Der Mann ist zwar betrübt, vergibt seiner Frau aber. Daraufhin beichtet er, dass er einmal die vor dem Kamin eingeschlafene Magd mit der Hand berührt habe. Die Frau wird zornig und prügelt ihn blutig. Der Mann zieht daraus die Lehre, dass es dumm sei, Dinge zu erzählen, die einem schaden können.

Der Text ist zwar auf das religiöse Versatzstück ›Beichtsituation‹ angewiesen, dieses ist aber seiner geistlichen Funktion beraubt und dient nur zur Generierung von Komik: Die einfältige Reaktion des Mannes und die jähzornige Reaktion der Frau werden dem Gelächter preisgegeben. Ähnlich funktionieren auch Gebetsparodien oder Predigtparodien wie beispielsweise ›Des Buben Paternoster‹ oder ›Adam und Eva‹. Die Entscheidung, ob religiöse Elemente in schwankhaften Texten auf einen ernstgemeinten geistlichen Subtext verweisen oder lediglich zur Steigerung der Komik dienen, ist aus der historischen Distanz sehr schwer zu treffen und besonders gefährdet, durch das jeweilige Erkenntnisinteresse des modernen Interpreten beeinflusst zu werden. Diese Problematik wird m.E. in dem bereits zitierten Aufsatz Scheuers besonders deutlich,39 der sich der Beobachtbarkeit religiöser Kommunikation in der Form des Schwankes widmet.40 Scheuer geht dabei von der in der ›Disciplina clericalis‹ des Petrus Alfonsi empfohlenen Lek-

Kurt Schacks. Dublin/Zürich 1967, S. 27 f.; ›Die zwei Beichten B‹: Fischer: Märendichtung, S. 268–273. 39 Scheuer: Schwankende Formen. 40 Der Schwank lässt sich in Scheuers systemtheoretischem Modell als »dasjenige Kalkül verstehen […], das an anderen Formen (wie dem bıˆspel oder der Legende) sichtbar macht, aufgrund welcher diskursiven und performativen Regeln sie ihre Leistungen im Feld des Beobachterparadoxons religiöser Kommunikation erbringen […] Mit Blick auf religiöse Kommunikation decken seine [d.i. des Schwanks] Operationen Elemente einer Formenlehre des Religiösen auf, indem sie die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz nicht binär, sondern – wie auf einem Möbiusband – in ein und derselben Dimension abbilden« (S. 741 f.). Zwar ist für den modernen Betrachter das Transzendente prinzipiell unbeobachtbar, seine Beobachtung also paradox. Ich bezweifle aber, dass die für uns außer Frage stehende Unbeobachtbarkeit des Transzendenten auf den mittelalterlichen Diskurs über die Erfahrbarkeit des Religiösen übertragen werden kann. Sowohl indirekte Beobachtung göttlichen Wirkens z.B. in der Natur als auch die

66 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld türe der schwankhaften mala femina-Erzählungen aus, die auf dem Konzept eines inneren und äußeren Auges des Lesenden basiert. Das äußere, der Immanenz zugewandte Auge nimmt die Ehebruchsgeschichten wahr, das innere, auf die Transzendenz gerichtete Auge kann dagegen Erkenntnisse gewinnen, die über die Ebene der Handlung hinausgehen.41 Scheuer folgert daraus, dass auch bei mhd. Schwänken hinter den in ihnen enthaltenen »religiösen Signale[n]«42 jeweils ein ernstgemeinter geistlicher Subtext stehe, zu dem man bei einer genauen Lektüre vorstoßen soll. Diese pauschale Prämisse führt dazu, dass Scheuer auch bei Texten, die kaum religiöse Elemente aufweisen, einen ernstgemeinten religiösen Subtext ausmachen will. So versteht er die Binnenerzählung im ›Klugen Knecht‹ des Strickers (Moe 58), mit welcher der Knecht seinen Herrn durch Anspielungen zur Entdeckung des ehebrecherischen Pfarrers führt, als »Hermeneutik […] der Allegorese und der Schriftsinnauslegung, die Immanenz und Transzendenz im Zeichen von Brot und Wein ineinander überführt. Sie kann sich vom Litteralsinn abstoßen und sich über die Stufen des Spiritualsinnes (allegoricus/moralis, tropologicus) zum sensus anagogicus, dem eigentlichen Heilssinn, aufschwingen, ohne doch das Auffliegen des zutiefst profanen Ehebruchs aus dem Blick zu verlieren und zu invisibilisieren«.43 Durch diese Technik der Exegese würde der Bauer dazu gebracht, die Wahrheit hinter dem Schein zu erkennen, also quasi vom äußeren zum inneren Auge vorzudringen. Diese Strapazierung des Konzeptes vom mehrfachen Schriftsinn für eine zwar gewitzte, aber doch recht einfache Form indirekten Sprechens, das keinerlei explizit religiöse Elemente enthält, scheint mir über das Ziel hinauszuschießen. Das Epimythion des Textes thematisiert nur das kluge Verhalten des Knechtes, nicht eine etwaige geistliche Bedeutung der Vorgänge, die auch an keinen Textelementen festzumachen ist.44

direkte Beobachtung des Transzendenten in Form von Erscheinungen und Auditionen gehören aus mittelalterlicher Perspektive zur Lebenswirklichkeit. 41 Scheuer: Schwankende Formen, S. 739 f. 42 Scheuer: Schwankende Formen, S. 741. 43 Scheuer: Schwankende Formen, S. 746. 44 Scheuer sieht allerdings einen religiösen Erkenntnisgewinn jenseits der Handlungsebene, denn »das dem Knecht in den Mund gelegte bıˆspel« würde »auf der Formseite des Erzählens die Bedingungen frei[legen], unter denen Sinn kommuniziert werden kann. Unter dem Aspekt religiöser Kommunikation interessiert daher besonders die inserierte Erzählung, die danach zu überprüfen wäre, ob und wie die Differenz von ›immanent‹ und ›transzendent‹ in ihr am Werk sein könnte« (Schwankende Formen, S. 743). In diesem Sinne müsste jede Form uneigentlichen Sprechens prinzipiell für die Beschreibung religiöser Kommunikation bedeutsam und auf das Konzept des mehrfachen Schriftsinns zu beziehen sein. Auf einer sehr hohen Abstraktionsebene mag dies der Fall sein, für die konkrete Textanalyse lässt sich daraus aber wenig gewinnen.

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Auch im ›Nonnenturnier‹45 sind auf der Textebene nur marginale religiöse Elemente zu finden. Die Tatsache, dass die Handlung sich in einem Nonnenkloster abspielt, das ja eigentlich ein Ort geistlichen Lebens sein sollte, scheint mir vor allem der Steigerung der Komik zu dienen: Der Topos der sexuell unersättlichen Frau wird hier selbst auf Frauen ausgeweitet, die keusch leben sollten. Die Reaktion der Klosterfrauen auf den personifizierten Phallus als »visionärmeditatives Muster, mit dessen Hilfe sich die mulieres religiosae der zunächst befremdenden Verkörperung des Auferstandenen nähern«46 zu erklären und in Verbindung mit dem bei Mechthild von Magdeburg beschriebenen Aufstieg der Seele zur Vereinigung mit dem Bräutigam zu bringen, wie Scheuer dies tut,47 scheint mir eine durchaus textferne Interpretation zu sein. Die Erscheinung des Phallus hat wohl weniger mit religiösen als mit ikonographischen Traditionen zu tun, wie sie beispielsweise im Bild des Phallusbaumes aufscheinen.48 Wenn man der Erzählung eine geistliche Deutung unterlegen wollte, müsste dies eine exemplarische Warnung vor der Sünde der Luxuria sein, die jegliche Ordnung (selbst die des geistlichen Lebens im Kloster) durchbrechen kann, keineswegs aber eine Parodie auf das Mysterium der Inkarnation.49

1.6 Marginale religiöse Elemente Texte wie das ›Nonnenturnier‹ verstehe ich daher als Erzählungen mit vorrangig weltlicher Thematik, in denen einzelne religiöse Elemente oder Versatzstücke nur eine marginale Stellung einnehmen. Sie können eine zusätzliche Deutungsmöglichkeit eröffnen, diese ist aber meist nicht besonders naheliegend und wurde wohl auch kaum aktualisiert. Rüdiger Schnell hat die möglichen Funktionsweisen solcher Texte anhand der Erzählung ›Der Spiegel‹ (118 V., 14. Jahrhundert)50 auf differenzierte Weise dargestellt.

45 Vgl. Werner Williams-Krapp: Das Nonnenturnier. In: 2VL 6 (1987), Sp. 1180–1182. Ausgabe: Fischer: Märendichtung, S. 31–47. 46 Scheuer: Schwankende Formen, S. 760. 47 Scheuer: Schwankende Formen, S. 760 f. 48 Vgl. Harald Wolter von dem Knesebeck: Zahm und wild. In: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz u.a. Tübingen 2005, S. 479–520, hier S. 504–514. 49 Scheuer : Schwankende Formen, S. 762. 50 Vgl. Ingeborg Glier: Der Spiegel. In: 2VL 9 (1995), Sp. 92–94. Ausgabe: Fischer: Märendichtung, S. 48–51. Literatur: Rüdiger Schnell: ›Der Spiegel‹. Überlegungen zur literarischen Herkunft eines spätmittelalterlichen Schwankmäres. Euphorion 68 (1974), S. 252–269. Wieder in: Das Märe. Die mittelhochdeutsche Versnovelle des späteren Mittelalters. Hrsg. von Karl-Heinz Schirmer (Wege der Forschung 558). Darmstadt 1983, S. 256–280 (zit.).

68 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld Ein Bauer hat eine Magd und einen Knecht. Dieser liebt die Magd, und sie verspricht, seinen Willen zu tun, schiebt dies aber immer wieder hinaus. Eines Morgens sieht der Knecht, wie die Magd vor dem Herd schlafend daliegt, doch aus Furcht, sie könnte ihn ins Feuer werfen, traut er sich nicht, über sie herzufallen. Um sich an ihr zu rächen, holt er aber einen Spiegel, den er ihr vor die Scham klebt. Als die Magd aufwacht und das Feuer im Spiegel sieht, glaubt sie zu brennen und ruft Hausherrn und Hausfrau herbei. Die Hausfrau glaubt auch an das ›Wunder‹, der Hausherr aber lobt den klugen Knecht und sagt zur Magd, von nun an werde sie aller Leute Spott sein.

Schnell fragt nach der Herkunft und den Konnotationen der zentralen Motive ›Spiegel‹ und ›Feuer‹, um ein Deutungsmuster für den Text zu finden. Eine Anspielung auf das Fegefeuer leitet er vom Ausruf der scheinbar brennenden Magd ab: sie erschrack unmassen sere / und sprach: »we mir heute immermere! / sammer der gute sant Michahel, / mir prinnet leip und sel (V. 59 ff.). Die Anrufung des Seelenführers Michael weist auf einen geistlichen Deutungsrahmen: Die Magd glaubt, tot zu sein und im Fegefeuer bestraft zu werden. Diese Deutung gerät jedoch in Konflikt mit der vorangehenden Erzählung, denn die Magd hat sich dem geistlichen Ordnungsschema gemäß verhalten, den Knecht abgewiesen und sich nicht der Luxuria schuldig gemacht; sie sollte also nicht bestraft werden. Diesen Widerspruch löst Schnell dadurch auf, dass er die Fegefeuer-Assoziation als parodistische Bestrafung der Enthaltsamkeit der Magd deutet. Dabei erinnert er auch an die Vorstellung, dass Übeltäter in der Hölle ihren Taten gemäß bestraft werden:51 So sei der Spiegel auf die Scham der Magd geklebt, weil sie sich mit diesem Körperteil ›versündigt‹, d.h. die Bitten des Knechts nicht erhört habe. Damit liegt eine Lesart vor, die zwar auf den geistlichen Elementen des Textes beruht, diese aber parodistisch ins Gegenteil verkehrt. Als zweites Deutungsmuster zieht Schnell den höfischen Minnediskurs heran, in dem das Erwecken falscher Hoffnung durch die Dame als Vergehen bewertet wird.52 Dabei geht Schnell auch auf die in der lateinischen Minnekasuistik verbreitete Vorstellung ein, dass es ein Paradies und eine Hölle der Minne gebe, wo die Damen nach dem Tod den Lohn für ihr Verhalten im Leben erhielten, analog zu den transzendenten Belohnungs- und Straforten.53 Die den spröden Damen zugedachten Strafen werden mit dem Brennen im Höllenfeuer verglichen. Die Erzählung ›Der Spiegel‹ würde sich in dieser Lesart nur mittelbar auf geistliche Jenseitsdiskurse beziehen lassen, der direkte Anknüpfungspunkt wäre vielmehr die bereits weltlich gefärbte Kontrafaktur geistlicher Vorstellungswelten im Minnediskurs.54 Es scheint mir wahrscheinlich zu sein, dass es bei dem

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Schnell: Der Spiegel, S. 268 f. Schnell: Der Spiegel, S. 269–272. Schnell: Der Spiegel, S. 273–276. Schnell: Der Spiegel, S. 279 f.

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›Spiegel‹ nicht in erster Linie um eine Parodie religiöser Vorstellungen gehen soll. Dazu sind die religiösen Elemente zu marginal. Die beiden Figuren, die an ein übersinnliches ›Wunder‹ glauben, die Magd und die Hausfrau, sind in ihrer Wahrnehmung beschränkt. Wenn die Hausfrau von einem Wunder spricht,55 soll damit wohl weniger eine geistliche Deutung aufgerufen als die Figur lächerlich gemacht und diskreditiert werden. Die Diskrepanz, die zwischen der Einschätzung der Figuren und dem Wissen des Rezipienten entsteht, sorgt dabei für einen witzigen Effekt, der in den schwankhaft-misogynen Rahmen der listigen Rachehandlung des Knechtes passt. Natürlich ist es nicht auszuschließen, dass der Text insgesamt als Parodie geistlicher Vorstellungen gelesen werden konnte, wie dies etwa auch bei Strickers ›Martinsnacht‹ denkbar wäre. Die Stellung der religiösen Elemente im Gesamtgefüge der Erzählung lässt eine solche Interpretation aber nicht als naheliegend erscheinen.

2 Narration Die Leitfrage ›Wie wird Geistliches erzählt?‹ enthält zwei zentrale Komponenten. Nachdem das Spektrum der thematischen Möglichkeiten, die Präsenz der Transzendenz in den Texten erfahrbar zu machen, aufgefächert wurde, soll nun der Fokus auf dem zweiten Punkt, dem Erzählen, liegen. Die Narration steht dabei im Gegensatz zum Diskurs. Wie es in Bezug auf die Thematik eindeutig geistliche und eindeutig weltliche Texte gibt, kann man auch in Bezug auf die narrative Umsetzung manche Beispiele problemlos als ›Erzählung‹ bzw. ›Rede‹ bezeichnen: Erzählungen schildern ein Ereignis, weisen eine in sich abgeschlossene narrative Struktur auf und stehen (meist) im Präteritum; Reden besprechen ein Thema und stehen (meist) im Präsens. Dies sind allerdings nur die Endpunkte der Skala zwischen Narration und Diskurs – nur wenige Texte sind rein narrativ oder rein diskursiv, die meisten enthalten sowohl narrative als auch diskursive Elemente. In diesen Fällen ist das Verhältnis zwischen diesen Elementen entscheidend. Die mhd. Kleinepik weist unterschiedliche Typen von Kombinationen narrativer und diskursiver Elemente auf, und die Abgrenzung dieser Typen wurde in der Forschung kontrovers diskutiert. Ich folge hier dem Ansatz von Franz-Josef Holznagel, der vier Typen unterscheidet:56 die Verserzählung, das Bispel, die zweiteilige Gleichnisrede und die Rede. Die Unterscheidung zwischen den Text-

55 »lieber wirt, gee her / und schauwe das grösst wonder hie, / das got auf erden nie begie. / unser dirn wil verprinnen / in dem leibe innen.« (V. 80 ff.). 56 Holznagel: Verserzählung, S. 291–306; Holznagel: Handschrift, Kap. I.3.1.2.

70 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld typen erfolgt bei Holznagel sowohl durch den Tempusgebrauch57 als auch durch die Art der Denkoperation, mittels derer die narrativen und diskursiven Textelemente aufeinander bezogen werden.58 Ist eine Verserzählung mit einem diskursiven Epimythion versehen, werden narrativer und diskursiver Teil durch das Verfahren der Generalisierung aufeinander bezogen: Das im narrativen Teil geschilderte einmalige Ereignis wird auf seine Allgemeingültigkeit hin befragt. Im Bispel steht der erste, narrative (Bild-)Teil in erzählenden Tempora, der zweite, diskursive (Auslegungs-)Teil in besprechenden Tempora; das im ersten Teil geschilderte einmalige Ereignis wird verallgemeinert (Generalisierung) und auf einen anderen Wirklichkeitsbereich hin gedeutet (Analogisierung). Bei zweiteiligen Gleichnisreden stehen sowohl Bild- als auch Auslegungsteil in besprechenden Tempora; der im Bildteil geschilderte, sich stets auf gleiche Weise wiederholende Vorgang wird nur durch Analogisierung auf einen anderen Wirklichkeitsbereich hin gedeutet. Es gab und gibt in der Forschung auch andere Ansätze zur Binnendifferenzierung kleinepischer Texttypen, die hier kurz skizziert werden sollen. Fischer stellt neben die Erzählung (das Märe) die Rede und das Bispel, wobei letzteres sich nach Fischer dadurch auszeichnet, dass es zweiteilig ist und der Umfang des Auslegungsteils denjenigen des Erzählteils übertrifft. Dieses quantitative Verhältnis von Erzähl- und Auslegungsteil ist für Fischer das Abgrenzungskriterium zwischen Märe und Bispel.59 Die Orientierung nur am Umfang der Teile ist allerdings unzureichend, da sich daraus willkürlich erscheinende Zuordnungen ergeben. Aufgrund dieser Problematik lehnt Heinzle eine Binnendifferenzierung der Kleinepik nach narrativen und diskursiven Typen ganz ab.60 Grubmüller fasst alle zweiteiligen kleinepischen Formen unter dem Sammelbegriff »Bispel« zusammen und differenziert auf einer tieferen Ebene zwischen Gleichnis, Parabel und Beispielerzählung.61 In eine andere Richtung geht Ziegeler, der im Gegensatz zu Fischer den Unterschied zwischen Märe und Bispel nicht am Verhältnis zwischen Erzähl- und Auslegungsteil, sondern an der Erzähltechnik des jeweiligen Textes festmacht. Nach ihm sind Bispel auf die Generierung von Erkenntnis durch argumentative Strukturen (Beweis) angelegt, während in den Mären die Identifikation des Rezipienten mit den Protagonisten

57 Vgl. Holznagel: Verserzählung, S. 293. Holznagel unterscheidet nach Harald Weinrich »erzählende Tempora« (meist Präteritum) und »besprechende Tempora« (meist Präsens). 58 Holznagel: Verserzählung, S. 296 f. 59 Vgl. Fischer: Studien, S. 59–61. 60 Vgl. die Kritik von Heinzle: Märenbegriff, S. 128–134. 61 Vgl. Klaus Grubmüller: Meister Esopus. Untersuchungen zu Geschichte und Funktion der Fabel im Mittelalter (MTU 56). München 1977, S. 42–47.

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im Zentrum steht.62 Dem allgemeinen Fall, der im Bispel behandelt wird, steht der besondere Fall im Märe gegenüber.63 Dieser Ansatz ist für die detaillierte Einzeltextanalyse sehr gewinnbringend, aufgrund seiner Komplexität jedoch weniger für eine grobe Differenzierung geeignet als Holznagels Ansatz, der von basalen narratologischen Merkmalen ausgeht. Ziegelers Analysen zeigen jedoch, dass auch innerhalb eines Texttyps ein breites Spektrum an Kombinationsmöglichkeiten von diskursiven und narrativen Textelementen bestehen kann.

2.1 Verserzählungen Eine typische geistliche Verserzählung ist etwa Konrads von Würzburg ›Der Welt Lohn‹ (Zusammenfassung s. o., Kap. II.1.2.). Der Text enthält nur wenige diskursive Partien (kurzer Prolog und Epilog). Der narrative Hauptteil schildert eine in sich abgeschlossene Geschichte (höfisches Leben Wirnts – Erscheinung der Frau – Leben als Kreuzritter – Rettung der Seele). Im Epilog wird der erzählte Einzelfall generalisiert (Nu merkent alle die nu sint / dirre wilden werlte kint, V. 259 f.). Ganz anders ist der gleiche Erzählstoff (Erscheinung der Frau Welt) in der jüngeren Verserzählung ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ (737 V., 14. Jahrhundert) narrativ umgesetzt.64 Ein Ich-Erzähler [klagt] über sein verschwendetes Leben, das er, verführt von der Welt, in Sünden zugebracht hat. Er will sich jetzt Gott zuwenden, um vor seinem Tod noch Gnade zu erhalten. Da kommt eine schöne Frau zu ihm, die ihn als ihren Diener bezeichnet und ihn belohnen will, obwohl er sie nicht kennt. Sie führt ihn in eine wunderschöne Frühlingslandschaft, wo ein höfisches Fest gefeiert wird: Turnier, Musik, Tanz und Essen. Dabei teilt sie dem Erzähler mit, dass sie über alle Lebewesen auf der Welt herrsche. Gegen Abend

62 Vgl. Ziegeler: Erzählen, S. 95–238. 63 Ziegeler: Erzählen, S. 456. 64 Vgl. Jürgen Geiß: Weltlohn. In: 2VL 10 (1999), Sp. 838–840 und 2VL 11 (2004), Sp. 1647; Ausgabe: August Closs: Weltlohn, Teufelsbeichte, Waldbruder. Beitrag zur Bearbeitung lateinischer Exempla in mhd. Gewande nebst einem Anhang: De eo qui duas volebat uxores (Germanische Bibliothek II,37). Heidelberg 1934, S. 64–91 (zit.); Arnold Otto: der slecht weg zuo dem himelrich. Ein oberrheinisches Erbauungsbuch. Edition und Kommentar (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 42). Berlin 2005, S. 500–520. Zu den erzähltechnischen Unterschieden zwischen Konrads ›Der Welt Lohn‹ und ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ vgl. auch Nicole Eichenberger: ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹. Erscheinungsformen einer erbaulichen Kurzerzählung – Konstruktion und Rezeptionsentwürfe. In: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz u.a. (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 11). Zürich 2010, S. 359–385 und S. 694–700, hier S. 362–368.

72 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld erscheint ein alter Pilger mit zwölf Rittern am Ort des Festes und fordert die Frau auf, ihr wahres Gesicht zu zeigen – unter Jammern und Schreien gibt sie ihre Krone und ihre prächtigen Kleider her, ihr nackter Leib ist verwest und von Ungeziefer zerfressen. Sie gibt sich als die Welt zu erkennen, die alle ihre Diener zum Bösen verführt. Nach diesem Geständnis verwandelt sich der locus amoenus in ein Höllenfeuer; die Weltdiener klagen, während der Pilger sich als Christus zu erkennen gibt und den Verdammten vorwirft, sie hätten in ihrem Leben nicht an sein Leiden für die Menschen gedacht. Im Anschluss [...] folgt eine Ermahnung des Erzählers, nicht den Sünden der Welt zu verfallen, sondern stets ans Jüngste Gericht zu denken und sich darauf vorzubereiten. Denn nur diejenigen, die im Leben durch Reue, Beichte und Buße ihre Sünden getilgt haben, können beim Gericht vor Gott bestehen. Am Ende des Textes nimmt der Erzähler wieder die Rolle des reuigen Sünders an, der die Zeit, die ihm auf der Erde bleibt, dazu nutzen will, andere Leute vor der Sünde zu bewahren, indem er sie zu Barmherzigkeit anhält und sie die zehn Gebote lehrt.65

Der Text beginnt mit einer ausgedehnten Rede des homodiegetischen Ich-Erzählers, der seine mit Weltdienst vertane Zeit bereut. In dieser Situation setzt die Narration mit der Erscheinung der Frau Welt ein, die der Erzähler zunächst nicht als solche erkennt. Nach der Beschreibung des Festes wechselt der Erzähler von der Figurenperspektive zur Perspektive eines auktorialen Erzählers, indem er in einer Prolepse auf das kommende Ende der weltlichen Freude hinweist (WL V. 145–156). Nach dieser Prolepse wird die Narration zunächst weitergeführt, indem die Enthüllung der wahren Gestalt der Frau Welt und das jämmerliche Ende ihrer Verehrer erzählt werden, die in einem plötzlich entflammten Feuer verbrennen. Der Ich-Erzähler, vorher noch selbst als Weltdiener an der Handlung teilnehmend, erscheint dabei als außenstehender Betrachter (Die ich vor in grozen frouden sach, / Die hant leit und ungemach, / Ir pin was dicke jemerlich, WL V. 247 ff.). Nach der unbarmherzigen Verurteilungsrede des Pilger-Christus an die klagenden Verdammten bricht die Narration ganz ab (WL V. 300). Was mit der homodiegetischen Ich-Erzählerfigur geschehen ist, wird nicht gesagt, die narrative Struktur findet keinen Abschluss. An die Stelle des Figur-Ichs tritt nun ein Sprecher-Ich, an die Stelle der Narration ein Diskurs. Im Präsens werden verschiedene Themen besprochen: der Besitz unrechten Gutes, das Jüngste Gericht, die unanständige neue Mode, die Völlerei, das Alter und seine Geringschätzung durch die Menschen. Beim letzten Thema tritt der Erzähler wieder stärker als Figur in den Vordergrund: Er bezeichnet sich selbst als Alten, der geringgeschätzt werde. Der Wechsel von einer (nicht abgeschlossenen) Narration zum Diskurs innerhalb eines Textes zeigt, dass fließende Übergänge möglich waren und ein Text an verschiedenen Texttypen teilhaben konnte. In Konrads ›Der Welt Lohn‹ wird die narrative Struktur mit der Schilderung des weiteren Schicksals des Protagonisten abgeschlossen. Diese narrative

65 Zusammenfassung aus Eichenberger: Vom Sünder und der verlorenen Frau, S. 360 f.

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Umsetzung ist vor allem auf Identifikation des Rezipienten angelegt: Weil dieser sich mit der Figur Wirnt identifiziert, will er ihr weiteres Schicksal erfahren und lässt sich dadurch indirekt belehren. ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ nutzt die Narration dagegen vor allem als Beweis, dass die Weltdiener jämmerlich zugrunde gehen müssen – die Exempelgeschichte dient als Ausgangspunkt für direkte, diskursive Didaxe.66 Ähnliches lässt sich bei zwei anderen stoffverwandten Texten, den ›Zwei Blinden‹ und den ›Zwei Broten‹ des Schweizer Anonymus, beobachten. In den ›Zwei Blinden‹ (Zusammenfassung s. o., Kap. II.1.3.) wird erzählt, dass die Blinden nach dem Tausch auseinandergehen wollen, dann aber vor den König gerufen werden, der ihnen und der Hofgesellschaft das ›Wunder‹ erklärt. Damit endet der Text. Sowohl das Aufbrechen des Brotes als auch die Konsequenzen des Tausches werden ausgespart. In der Erzählung ›Die zwei Brote‹ (81 V., 15. Jahrhundert)67 des Schweizer Anonymus wird das narrative Potential des Stoffes dagegen weiter ausgeschöpft. Zwei Bettler sind auf Wanderschaft und leiden Hunger. Der eine ruft Gott um Hilfe an, der andere den Landesherrn. Ein Knecht dieses Landesherrn hört die Äußerungen der Bettler und berichtet seinem Herrn davon. Dieser lässt zwei Brote machen, eines mit hundert Gulden, das andere gar nicht gefüllt, und heißt den Knecht, das mit Geld gefüllte Brot demjenigen Bettler, der ihn um Hilfe angerufen habe, zu geben, um zu sehen, ob er seinem Schützling besser helfe als Gott dem andern. Als die Bettler ihre Brote empfangen haben, beklagt sich der zweite Bettler über die Schwere seines Brotes, da er vermutet, es sei nicht durchgebacken. Der erste Bettler jedoch mag lindes brot, und so tauschen die beiden Bettler die Brote. Der erste Bettler bricht sein eingetauschtes Brot auf und findet das Geld, worauf der zweite Bettler über sein verschenktes Glück klagt. Der Knecht geht zum Herrn und berichtet von den Geschehnissen, worauf dieser erkennt, dass sein Anspruch, der bessere Helfer als Gott zu sein, vermessen war, und dass Gottes Wille immer geschehen muss.

Die Bettler sind in dieser Fassung nicht blind, und die Gaben sind nicht ein Brot mit Gold und ein scheinbar wertvollerer Kapaun, sondern zwei Brote. Dass Gottes Wille immer geschehen muss, wird hier noch deutlicher gemacht als in den ›Zwei Blinden‹, da der Landesherr im Gegensatz zu König Emanuel keineswegs eine vorbildliche Figur ist: Er will mit Gott wetteifern und wird durch die wunderbare

66 Diese mit dem unterschiedlichen Grad des Auserzählens narrativer Vorgänge verbundenen Perspektivierungen entsprechen Ziegelers Unterscheidung zwischen Überzeugung des Rezipienten durch Beweis im Bispel bzw. durch Identifikation in der Erzählung. Dass es sich bei ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ aber nicht um ein Bispel handelt, zeigt die Tatsache, dass zwischen narrativem und diskursivem Teil nur eine Generalisierung, aber keine Analogisierung zweier Sphären stattfindet. Die von Ziegeler herausgearbeiteten Überzeugungsstrategien (Beweis/Identifikation) können also in unterschiedlichen Texttypen zum Einsatz kommen, auch wenn sie für jeweils einen Texttyp (Bispel/Erzählung) charakteristisch sind. 67 Ausgabe: Eine Schweizer Kleinepiksammlung, S. 63–66.

74 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld Fügung selbst belehrt. Während in den ›Zwei Blinden‹ das Ereignis zur Beweisführung dient und die Konsequenzen der Geschichte für die beteiligten Figuren deshalb nicht interessieren, wird in den ›Zwei Broten‹ die Reaktion der Bettler auf die Überraschung auserzählt. Durch Identifikation mit den Figuren kann der Rezipient die Lehre somit innerhalb der Narration nachvollziehen. Noch weiter auserzählt ist die Geschichte in der Prosaerzählung ›Die zwei Blinden II‹ aus der Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 (B 480, Bl. 243v–244r).68 In dieser Fassung erhält der Blinde, der den Kaiser von Rom anruft, ein mit Gold gefülltes Brot. Auf dem Heimweg trifft er den anderen Blinden, der Gott angerufen und kein Almosen erhalten hat, und verkauft ihm das Brot für drei Pfennige. Der zweite Blinde öffnet das Brot zu Hause und findet das Gold, kauft sich großen Besitz und ein Haus. Als der Kaiser von Rom vom Wohlstand des Blinden erfährt, fragt er ihn, woher er das Gut habe. Der Blinde erzählt es, und der Kaiser erkennt, dass nur demjenigen geholfen wird, der auf Gott vertraut. Während die Erzählung des Schweizer Anonymus v.a. die Belehrung der Figuren darstellt, die sich falsch verhalten haben, werden hier die positiv geschilderten Figuren herausgehoben: der Blinde, der auf Gott vertraut, und der mildtätige Kaiser. Die Prosaerzählung ist somit noch stärker auf eine Überzeugung des Rezipienten durch empathische Identifikation (mit den positiven Figuren) ausgelegt. Während in den ›Zwei Blinden‹ und ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ zwar die für das Bispel charakteristische Überzeugungsstrategie des Beweises im Vordergrund steht, narrative und diskursive Partien aber dennoch nur durch Generalisierung aufeinander bezogen werden, ist die Lage beim ›Ernsthaften König‹ des Strickers komplexer. Im narrativen Rahmen inszeniert der König eine Situation (simulierte körperliche Hinrichtung), die er dann in der Figurenrede nicht nur durch Generalisierung, sondern auch durch Analogisierung auf eine andere, religiöse Sphäre (Zustand der Seele) bezieht. Hier liegt also quasi ein geistliches Bispel innerhalb einer geistlichen Verserzählung vor. Die Existenz solcher Zwischen- und Integrationsformen zeigt die prinzipielle Offenheit kleinepischer Texttypen, die allerdings keineswegs darüber hinwegtäuschen sollte, dass es daneben auch zahlreiche Fälle klarer Zugehörigkeit zu den verschiedenen Typen gibt – wie dies bei einer ›natürlichen‹ Kategorie zu erwarten ist.

68 Ausgabe: Pfeiffer: Altdeutsches Übungsbuch, S. 41. Zu dieser Exempelhandschrift grundlegend Monika Studer: Exempla im Kontext. Studien zu deutschen Prosaexempla des Spätmittelalters und zu einer Handschrift der Straßburger Reuerinnen (Kulturtopographie des alemannischen Raums 6). Berlin/Boston 2013. Die Textnummern beziehen sich auf die Zählung in Studers Repertorium (S. 263–438; dort jeweils auch Angaben zur Überlieferungslage und den Erzählstoffen der Exempla). Weiteres zu dieser Handschrift in Kap. IX.1.2.

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2.2 Bispel und zweiteilige Gleichnisreden Die zweiteiligen Texttypen sind im Bereich der geistlichen Kleinepik besonders interessant, da in diesen Texten jeweils eine lebensweltlich-immanente und eine religiöse Sphäre aufeinander bezogen werden; ihre Qualität als geistliche Texte unterscheidet sich daher grundsätzlich von Texten, bei denen die religiösen Elemente bereits in die Narration eingebunden sind. In dem geistlichen Bispel ›Die Tochter und der Hund‹ des Strickers (Moe 134; 170 V., 13. Jahrhundert) wird erzählt, wie ein Herr seinem Amtmann befiehlt, während seiner Abwesenheit um das Wohl seiner Tochter besorgt zu sein und seinen Hund zu bewachen, damit dieser nicht zeveizt und zegeil (V. 19) werde und niemandem Schaden zufüge. Diese begonnene Narration wird nicht zu Ende geführt. Nach der Rede des Herrn zu seinem Amtmann setzt gleich der diskursive (Auslegungs-)Teil ein, in dem die menschlichen Figuren des narrativen Teils auf transzendente Personen bzw. abstrakte Entitäten bezogen werden: dem herren gelichet got […] diu sele, diu ist gotes chint […] gotes hunt, daz ist des menschen lip (V. 29; 38; 60). Aus dieser Analogisierung wird eine generalisierende didaktische Aussage abgeleitet: Die Seele soll umsorgt, der Leib hingegen in strenger Zucht gehalten werden. Die Narration spielt in diesem Bispel eine untergeordnete Rolle: Das Ereignis wird nur soweit auserzählt, wie es für die Analogisierung vonnöten ist – in diesem Fall reicht die Exposition. Allerdings ist auch innerhalb des Texttyps des Bispels eine gewisse Variationsbreite zu beobachten. Dies zeigt etwa die Annäherung an den Texttyp der Erzählung in der Prosafassung des Stoffes von ›Tochter und Hund‹ in der Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 (B 404): [207ra] Es waz ein kv´nig, der mvo ste varen vsser lande vmbe sine sache, die in ane gieng. Der kv´nig bevalch alles sin lant den, die sin gepflegen kvndent. Do hette er eine dohter, die waz jme gar liep, also liep sin selbes lip; vnd ouch einen hvnt, den befalch er eime ersamen ritter vnd bevalch jme an den lip vnd bi sinen hulden, daz er der jvngfrowen wole pflege vnd ir gebe zuo essene vnd zuo trinckene des besten, des er hette, also daz billich waz; vnd daz er den hvnt leite an fier bant gebvnden vaste; vnd daz er sehe, alse liep also jme der lip were, daz er dem hvnde nit anders zuo essen gebe danne wasser vnd brot. Der herre fvo r hin weg. Der ritter det nit also er in geheissen hette, wanne er gap der jvngfrowen wasser vnd brot, vnd gap dem hvnde guo te spise vnd mahte den also veisete vnd also geil, daz er die fier bant abe beiß vnd fras die jvngfrowe vnd erdote su´. Was vrteiles woltent ir nvo geben [207rb] u´ber disen ritter? Ich wene ir vrteiltent allesament, daz er den lip solte verlorn han, vnd were ouch wol billich, daz er dar vmbe sterben solte. Nvo sagent mir, lieben kint, wer ist dirre kv´nig vnd dise jvngfrowe vnd dirre hvnt vnd diser ritter? Daz wil ich u´ch sagen: Der kv´nig ist Cristus vnser herre, der ritter daz ist der sv´nder, der hvnt das ist des sv´nders lip, die jvngfrowe ist die sele, die bevilhet vns got vnd heisset vns, daz wir der selen, siner dohter, wol pflegent vnd ir die beste spise gebent. Vnd daz fu´rnement wir vnrehte vnd mestent den e e hvnt, daz ist der lip, daz er dicke so geil wurt, daz er die sele erdotet, vnd daz mvsse doch got erbarmen.

76 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld Durch das Auserzählen des falschen Verhaltens des Ritters wird eindringlich vorgeführt, welche Konsequenzen dieses Verhalten hat. Indem der Rezipient das Fehlverhalten des Ritters verurteilt, vollzieht er Gottes Urteil über den Sünder selbst nach und distanziert sich von der Figur des Ritters. Die Überzeugung des Rezipienten erfolgt also auf der Ebene der Identifikation. Erst danach findet die Analogisierung statt, die dem Erzählten eine geistliche Bedeutung gibt. Zweiteilige Gleichnisreden unterscheiden sich von Bispeln hauptsächlich dadurch, dass in ihnen allgemeine, prinzipiell wiederholbare und sich wiederholende Vorgänge erzählt werden (im Gegensatz zum Einzelfall im Bispel). Wie bei den Bispeln kommt dem narrativen Teil der Gleichnisreden auch erst durch die Analogisierung mit der religiösen Sphäre im diskursiven Teil eine geistliche Bedeutung zu. So wird in des Strickers ›Die Schlange ohne Gift‹ (Moe 124; 108 V., 13. Jahrhundert) berichtet, dass gewisse Schlangen einmal im Jahr ihr Gift auswerfen und sich häuten. Wenn die Schlange dann ohne Gift ist, bereut sie ihre Boshaftigkeit. Sie liegt wegen ihres verwundbaren Körpers den ganzen Tag friedlich auf einem Stein in der Sonne. Dies bemerken die Fliegen und andere Insekten und stechen sie. Dadurch gereizt, verspeist die Schlange die Störenfriede, was jedoch dazu führt, dass sie deren Gift aufnimmt und dadurch wieder so böse wird wie vor der Häutung. Dieser sich zyklisch wiederholende und daher im Präsens geschilderte Vorgang wird mittels Analogisierung im diskursiven Teil auf den Sünder gedeutet, der nach Reue und Beichte rein ist, vom Teufel jedoch wieder verführt wird und in sein sündhaftes Tun zurückfällt. Daran schließt sich eine Warnung an, dass der Weg des Menschen – im Gegensatz zu demjenigen der Schlange – nicht mit dem Tod beendet ist, sondern dass in der Hölle ewige Qualen auf den Sünder warten. Aufgrund der Darstellung wiederholbarer Vorgänge liegt der Texttyp der Gleichnisrede demjenigen der Erzählung ferner als das Bispel, das wie die Erzählung im narrativen Teil ein einmaliges Ereignis schildert.

2.3 Allegorien Neben Bispeln und zweiteiligen Gleichnisreden gibt es noch andere literarische Kleinformen, die mit Analogisierungsverfahren arbeiten. So sind beispielsweise allegorische Texte wie die ›Herzklosterallegorie‹69 durch ein doppeltes Analogisierungsverfahren bestimmt. Einerseits wird das Herz des Gläubigen mit der

69 Vgl. Gerhard Bauer: Herzklosterallegorien. In: 2VL 3 (1981), Sp. 1153–1167 und 2VL 11 (2004), Sp. 652; Gerhard Bauer: Claustrum Animae. Untersuchungen zur Geschichte der Metapher vom Herzen als Kloster. Bd. 1: Entstehungsgeschichte. München 1973.

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Organisationsform eines Klosters gleichgesetzt, andererseits werden die Klosterämter mit geistlichen Tugenden in Verbindung gebracht. Der Text hat daher eine dreigliedrige Struktur. Im Gegensatz zur zweiteiligen Gleichnisrede von der ›Schlange ohne Gift‹ ist der Bildteil in der Allegorie (Kloster) nicht narrativ und steht nicht als selbständiger Teil am Anfang, sondern wird laufend ausgelegt. Zudem unterscheiden sich Bild- und Auslegungsteil nicht durch einen Gegensatz von Narration und Diskurs, sondern dadurch, dass der Bildteil konkrete Entitäten, der Auslegungsteil hingegen abstrakte Größen enthält, die durch das Analogisierungsverfahren greifbar gemacht werden sollen. Man hat es bei dieser Allegorie zunächst also mit einem rein diskursiven Texttyp zu tun. Allerdings gibt es erweiterte Fassungen der Herzklosterallegorie, in denen die statische Allegorie durch die Integration narrativer Elemente dynamische Züge erhält. In der niederdeutschen Versfassung ›Herzklosterallegorie II.2‹70 geht der Text nach der Aufzählung der Klosterämter und der durch sie bezeichneten Tugenden (caritas het de abbatissa, / discrecio de priorissa. / fides de bewaret de böke, / spes de teppet unde henget de döke […], V. 5 ff.) in ein narrativ umgesetztes Ereignis über: wen godes denst is ghedan, / so scolen de vrowen to capittel ghan. / vrowe caritas de mynne, / discrecio de pryorinne, / de twe dat capittel halden, / wente se scholen erer aller walden. / de vrowen alle sitten ghan / nach erem orden al sunder wan. / humilitas sprak erst ere schult / umme ere broke unde vngedult (V. 39 ff.). Am Beginn der Handlung ist ein Tempuswechsel zu beobachten: vom Präsens der diskursiven Allegorie zum Präteritum des narrativen Vorgangs. Im Kapitelamt klagen sich jeweils zwei Frauen gegenseitig an, weil sie sich voneinander behindert fühlen. Die Gegnerinnen sind humilitas – mundicia, misericordia – justicia, oracio – spiritualis leticia, paciencia – veritas, obediencia – paupertas, castitas – disciplina und spes – fides. Am Ende ermahnt die Äbtissin ihre Klosterfrauen zur Mäßigung und versöhnt sie dadurch wieder miteinander. In die Allegorie ist somit eine kleine Verserzählung eingebaut, in der Personifikationen (die Tugenden als Klosterfrauen) religiöse Inhalte vermitteln. Noch weiter ausgebaut ist die ›Herzklosterallegorie II.3/Des hilghen gheystes closter‹.71 In der Handschrift Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 1251 Helmst. folgt auf die Erzählung vom Kapitelamt in Versen ein Prosatext, der das Motiv der Tugenden als Klosterfrauen weiterführt (Bl. 226r–233v): Der heilige Geist selbst baut für seine Töchter, die Tugenden, ein Kloster und bestellt die Demut zur Äbtissin, die Liebe zur Priorin etc. Dem Landesfürsten Satan missfällt aber das heilige Klosterleben, und als die Äbtissin, die Priorin und die Prokuratorin eines Tages weg-

70 Vgl. Bauer: Herzklosterallegorien, Sp. 1157 f. Ausgabe: Karl Bartsch: Klosterallegorie. Niederdeutsches Jahrbuch 11 (1885), S. 128–133. 71 Vgl. Bauer: Herzklosterallegorien, Sp. 1158 f.

78 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld gegangen sind, um ein anderes Kloster zu visitieren, schickt er seine sieben Töchter, die Laster, in das Kloster. Die Laster übernehmen die Klosterämter und vertreiben die Tugenden. Diese beten so lange zu Gott und dem heiligen Geist, bis letzterer kommt, die Töchter Satans hinauswirft und seine eigenen Töchter wieder in ihre Ämter einsetzt. Am Ende steht eine explizite Auslegung des Klosters als Herz eines jeden Menschen. Diese erweiterten Fassungen zeigen, dass sich narrative Elemente an diskursive Allegorien anlagern konnten. Narrative Elemente können aber auch integraler Bestandteil von allegorischen Texten sein, wie etwa die Reimpaarallegorie ›Das Frankfurter Würzgärtlein‹ zeigt.72 In diesem Text, der zur Tradition geistlicher Gartenallegorien gehört, wird zunächst das Bild eines Gartens als locus amoenus entworfen und in einem zweiten Schritt als Herz des Gläubigen gedeutet: Ich wil uch, lieben andechtigen, sagen, was disser wurtzgart bedeut: / Der wurtzgart sal das herz sein (Z. 40 ff.). Die Bestandteile des Gartens (Tür, Zaun, Baum, Blumen, Vögel) werden dann als geistliche Tugenden und Handlungen (Bescheidenheit, Gottes Wort, Glaube, Beichte etc.) ausgelegt. Insofern gleicht dieser Ansatz der ›Herzklosterallegorie‹: Der abstrakte Innenraum des Herzens wird mit einem konkret-wahrnehmbaren Außenraum gleichgesetzt, die Bestandteile des Außenraums wiederum in einem zweiten Analogisierungsverfahren mit abstrakten Tugenden in Verbindung gebracht. Sobald der allegorische Raum konstituiert ist, setzt ein narrativer Vorgang ein: Der wurzgart ist gemacht einem jungen hern, dem sein gemael vil sauer worden ist. Der wule gern mit yr wonen darin. Ich wil yn uch nennen – yr mogt yn wol kennen – Jesus ist er genant / und ist kommen von der / engel landt. Mir sollen ym nit versagen /, mir sollen yne gern darin lassen. / Er kluppet fleissig zu dem thurlin und verkundiget der gutten selen, / das er gern darin were. (Z. 164 ff.). Die Liebesgeschichte zwischen dem jungen Herrn und seiner Gemahlin wird zwischen den diskursiven Auslegungsteilen immer wieder angesprochen. Da im Text außerdem eine Kommunikationssituation zwischen dem Erzähler und seinem Publikum angelegt ist, entsprechen die Gemahlin und der junge Herr nicht nur der Seele und Christus, sondern die Gemahlin ist gleichzeitig eine Chiffre für das Herz und die Seele der angesprochenen Rezipienten. Deshalb wechselt der Erzähler zwischen der narrativen Ebene und der Adressierung des Publikums. Innerhalb dieser komplexen Konstruk-

72 Vgl. Dietrich Schmidtke: Frankfurter Würzgärtlein. In: 2VL 2 (1980), Sp. 820. Ausgabe: Dietrich Schmidtke: Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur des Spätmittelalters. Am Beispiel der Gartenallegorie (Hermaea N.F. 43). Tübingen 1982, S. 529–536; Kommentar: S. 120 ff. Der Text ist in dem einzigen erhaltenen Textzeugen so verderbt, dass die Versstruktur nur noch teilweise zu erkennen ist; deshalb werden hier nur die Zeilen nach der Ausgabe abgesetzt, nicht die Verse.

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tion nehmen die narrativen Elemente zwar keinen zentralen Platz ein, können aber dennoch zur Identifikation des Rezipienten mit der Gemahlin beitragen und dadurch das Analogisierungsverfahren auf das eigene Herz hin erleichtern.

2.4 Reden und Dialoggedichte Wenn man Narration und Diskurs als Endpunkte einer Skala auffasst, auf der die verschiedenen kleinepischen Texttypen situiert werden können, so ist der Texttyp der Rede am nächsten beim Endpunkt ›Diskurs‹ zu verorten und liegt der Erzählung somit am fernsten. In geistlichen Reden werden religiöse Inhalte auf einer darlegenden und erklärenden Ebene verhandelt.73 So berichtet der Stricker beispielsweise in seiner Rede ›Vom heiligen Geist‹ (Moe 11; 948 V., 13. Jahrhundert) vom Wesen, dem Wirken und den Gaben des heiligen Geistes. Der Sprecher der Rede inszeniert sich einerseits als Teil des Publikums, da sich die Heilswahrheiten, die er bietet, auf alle Menschen erstrecken, andererseits nimmt er aber auch die Position des Lehrers ein, indem er sein Publikum in der zweiten Person adressiert. Oft sind auch in geistliche Reden einzelne narrative Elemente integriert. So wird etwa am Ende der Stricker-Rede ›Vom heiligen Geist‹ Alexander der Große als Negativbeispiel eines von der Superbia beherrschten, der Welt zugewandten Menschen herangezogen, und es wird erzählt, was ein Meister nach dem Tod Alexanders über die Vergänglichkeit der weltlichen Macht gesagt habe. Die exemplarische Figur verleiht dem Diskurs zwar Nachdruck, bleibt aber marginal. Die narrativen Elemente können allerdings beliebig erweitert werden. So ist in Hans Rosenplüts Rede ›Die Beichte‹ (190 V., 15. Jahrhundert)74 beispielsweise die Kommunikationssituation zwischen Sprecher und Hörer narrativ ausgestaltet und in die Vergangenheit verlegt: Es kam zu mir ein sunder gross / Und offenbart mir sein herz ploss / Und sprach zu mir: »nu ler mich peichten« (V. 1 ff.). Nach den einleitenden Worten der belehrungswilligen Figur folgt die Rede des Ich-Sprechers, die den größten Teil des Textes ausmacht (V. 11–146). Im Epilog, der auf eine abschließende Bemerkung des Belehrten folgt, wird die Lehre verallgemeinert und auch auf die Rezipienten des Textes bezogen. Durch die Vermittlung der Lehre in einer narrativ inszenierten Kommunikationssituation werden die Rezipienten des Textes zum Publikum zweiter Ordnung, sie rezipieren

73 Zur Reimpaarrede vgl. Holznagel: Handschrift, Teil III. 74 Ingeborg Glier: Hans Rosenplüt. In: 2VL 8 (1992), Sp. 195–201. Ausgabe: Rosenplüt, Hans: Reimpaarsprüche und Lieder. Hrsg. von Jörn Reichel (ATB 105). Tübingen 1990, S. 81–87.

80 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld nur das, was der Sprecher einer Figur vermittelt, die allerdings wiederum als Projektionsfläche für das textexterne Publikum dienen kann. In Rosenplüts Rede ›Der Priester und die Frau‹ (228 V., 15. Jahrhundert)75 ist der narrative Rahmen noch breiter ausgestaltet. Die Rede beginnt mit einer Spaziergangseinleitung: Sich fugt eins tags, das ich must / Spaciren awss nach freuden lust. / Do kome ich in ein awe, die grunet (V. 1 ff.). In diesem locus amoenus wird der Erzähler Zeuge einer Begegnung zwischen einem Priester und einer Frau. Der Priester verbeugt sich vor der Frau, worauf ein Gespräch zwischen den beiden entsteht, in dem jeder versucht, dem andern die größere Ehre zuzuweisen. Nach dem Gespräch der Figuren verlässt der Erzähler den narrativen Rahmen und zieht allgemeine Folgerungen aus dem, was er gehört hat: Man solle Frauen und Priester ehren. In ›Der Priester und die Frau‹ werden die religiösen Inhalte (Gründe der Dignität von Priestern und Frauen) zunächst in der Figurenrede vermittelt, bevor sie vom Erzähler wieder aufgenommen werden. Dadurch rückt dieser Text in die Nähe von Erzählungen wie dem ›Ernsthaften König‹. Im Gegensatz zum ›Ernsthaften König‹ wird in ›Der Priester und die Frau‹ jedoch kein Vorgang geschildert, der auch ohne die diskursiven Beiträge erzählenswert wäre: Die narrativen Elemente dienen lediglich als atmosphärische Staffage für die diskursiven Teile. Dennoch zeigt dieser Text, dass die Übergänge selbst zwischen zwei prinzipiell so unterschiedlichen Texttypen wie Erzählung und Rede fließend sein können. Eine solche Zwischenform ist auch der ›Streit der vier Töchter Gottes‹ (485 V., 2. Hälfte 13. Jahrhundert).76 Die vier Töchter Gottes, Barmherzigkeit, Friede, Gerechtigkeit und Wahrheit, tragen vor dem Thron Gottes einen Streit über das Schicksal des sündigen Menschen aus. Jede Tochter bringt Argumente für bzw. gegen die Erlösung des Menschen vor. Die unversöhnlichen Positionen von Barmherzigkeit, Friede einerseits und Gerechtigkeit, Wahrheit andererseits werden schließlich durch den Sohn Gottes in Einklang gebracht, der sich bereit erklärt, die Schuld des Menschen mit seinem Tod zu sühnen. Er wird Mensch und erlöst dadurch die Menschen.

Die Figurenrede nimmt etwa ein Drittel des gesamten Textumfangs ein, ist aber in einen narrativen Vorgang eingebunden, der aus Exposition (Zorn Gottes auf den

75 Ausgabe: Rosenplüt (Reichel), S. 96–104. 76 Vgl. Waltraud Timmermann: Streit der vier Töchter Gottes. In: 2VL 9 (1995), Sp. 396–402 und 2 VL 11 (2004), Sp. 1461. Ausgabe: Die Erlösung. Mit einer Auswahl geistlicher Dichtungen. Hrsg. von Karl Bartsch (Bibliothek der deutschen Nationalliteratur 37). Quedlinburg/Leipzig 1858, S. IX–XX. Zum Erzählstoff vgl. auch Eduard Johann Mäder: Der Streit der Töchter Gottes. Zur Geschichte eines allegorischen Motivs (Europäische Hochschulschriften I/41). Bern/Frankfurt a.M. 1971 und Friedrich Ohly: Die Trinität berät über die Erschaffung des Menschen und über seine Erlösung. PBB 116 (1994), S. 242–284.

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gefallenen Menschen), Ereignis (Disput) und Abschluss (Opfer des Sohnes) besteht. Trotz des hohen diskursiven Anteils kann der ›Streit der vier Töchter Gottes‹ daher als Erzählung bezeichnet werden – die Figurenreden ließen sich beliebig verkürzen, und das Ereignis wäre immer noch erzählenswert. Ebenso ließen sich die narrativen Anteile in Rosenplüts Rede ›Der Priester und die Frau‹ beliebig reduzieren, ohne dass die zentralen Aussagen des Textes verloren gingen. Entscheidend für die Typologisierung ist daher weniger der absolute Anteil diskursiver bzw. narrativer Partien, sondern vielmehr ihr Verhältnis zueinander und ihre Bedeutung für die Struktur des gesamten Textes.

3 Metrische Form Der Texttyp der geistlichen Verserzählung unterscheidet sich nicht nur durch seine geistliche Thematik von weltlichen und durch seine narrative Gestalt von diskursiven Texten, sondern auch durch seine metrische Form von Prosatexten. Während die Gegensätze geistlich-weltlich und narrativ-diskursiv jeweils als Enden einer Skala zu verstehen sind, zwischen denen zahlreiche Mischformen und fließende Übergänge möglich sind, lässt das Kriterium der metrischen Form eine klare Entscheidung zu, ob ein Text in Reimpaaren, Strophen oder Prosa verfasst ist. Zwar können diese Unterschiede durch Mischung der Formen oder Nivellierung in der Überlieferung77 in den Hintergrund gerückt werden, eine graduelle Abstufung ist jedoch – zumindest aus produktionsästhetischer Sicht – nicht möglich. Von Interesse ist daher vor allem die Frage, welche Bedeutung die Versform (vorrangig: die Reimpaarform) in literatursystematischer und -historischer Perspektive für den Texttyp der geistlichen Verserzählung hat. Um diese Frage beantworten zu können, muss das Verhältnis von Vers- und Prosatexten in den Blick genommen werden: Gibt es eine Korrelation zwischen Inhalt und gewählter Form? Wird der gleiche Inhalt in Versen anders erzählt als in Prosa? Wird in bestimmten Kontexten bzw. zu bestimmten Zeiten die eine oder andere Form bevorzugt? Man kommt bei diesen Fragen nicht umhin, die diachrone Dimension miteinzubeziehen. Dieses facettenreiche Thema wird in den folgenden Kapiteln eingehender behandelt,78 deshalb hier nur eine Skizze. Geistliche Verserzählungen stehen in der Tradition der Vermittlung religiöser Inhalte in volkssprachigen Verstexten, die sich an der Ästhetik der höfischen

77 Textuell durch Zerstörung der Reimstruktur wie z.B. beim ›Frankfurter Würzgärtlein‹ (s. oben, Kap. II.2.3.) oder layouttechnisch durch Nicht-Absetzung der Verse wie z.B. in der Handschrift a des ›Königs im Bad‹ (s. Kap. V.2.5.2.). 78 Vgl. bes. Kap. III; IV.2.; VIII; IX.1.

82 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld Literaturtradition orientieren. Daneben gibt es aber auch volkssprachige Prosatexte, die geistliche Erzählstoffe behandeln – etwa im Rahmen von Predigten als exemplarische Einschübe.79 Man muss sich daher bewusst machen, dass im volkssprachigen Literatursystem, das auch mündliche ad hoc-Aktualisierungen geistlicher Erzählstoffe in der Predigt oder im Seelsorgegespräch einschließt, die nie verschriftlicht wurden, Prosa- und Versfassungen geistlicher Erzählstoffe immer nebeneinander existierten. Ihr jeweiliger Status und ihr Verhältnis zueinander haben sich jedoch über die Zeit hinweg verändert. Der Nachvollzug dieser Veränderungen ist allerdings nur mittelbar über die erhaltene Überlieferung möglich und daher immer mit Unsicherheit behaftet. Bis in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts sind sowohl von Vers- als auch von Prosaerzählungen meist nur Fragmente erhalten. Im späteren 13. und v.a. im frühen 14. Jahrhundert erfuhren die Verstexte jedoch eine Konsolidierung in der Überlieferung: Sie wurden in umfangreichen Kleinepiksammlungen zusammengetragen. Vollständige Prosaexempelsammlungen sind – soweit ich sehe – aus dieser Zeit nicht erhalten.80 Dies muss nicht heißen, dass geistliche Verserzählungen im literarischen System dieser Zeit generell präsenter waren als Prosaerzählungen. Sie scheinen jedoch im Hinblick auf die Verschriftlichung einen anderen Status gehabt zu haben. Die ihnen zugeschriebene Geltung war in bestimmten Kreisen von Auftraggebern, Redaktoren und Besitzern von Handschriften offenbar so hoch, dass ein Handschriftentyp Kleinepiksammlung (in verschiedenen Ausstattungsniveaus) entstehen konnte. Für volkssprachige geistliche Prosaerzählungen scheint ein solches Interesse zu dieser Zeit nicht bestanden zu haben. Für den Handschriftentyp der Kleinepiksammlung ist die Versform (meist Reimpaarform) der Texte ein zentrales konstitutives Merkmal. Allerdings lässt sich gerade bei Kleinepiksammlungen, die einen geistlichen thematischen Schwerpunkt aufweisen, eine Tendenz zur Vernachlässigung der Form feststellen: In verschiedene dieser Handschriften wurden auch einzelne (meist diskursive) Prosatexte integriert.81 Diese Korrelation einer Fokussierung auf religiöse Inhalte und Vernach-

79 Vgl. Hans-Jochen Schiewer: Ein maere ist daz. Narrative Exempla in der frühen deutschen Predigt. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland/Michael Mecklenburg (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19). München 1996, S. 199–219. 80 Wohl um 1300 ist die nicht ganz vollständige Handschrift der unikal überlieferten ›Heiligen Regel für ein vollkommenes Leben‹ anzusetzen. Dabei handelt es sich um einen geistlichen Prosatraktat mit zahlreichen eingestreuten Exempelgeschichten, der von der Anlage her lateinischen Exempelsammlungen wie beispielsweise Stephans von Bourbon ›De septem donis Spiritu Sancti‹ oder dem ›Dialogus Miraculorum‹ des Caesarius von Heisterbach gleicht. Zu verschiedenen Formen geistlichen Erzählens in Prosa s. auch Kap. IX.1.1. 81 S. dazu Kap. IV.1.1.2.; IV.1.1.12.

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lässigung der Form kann als Indiz dafür gelten, dass im Bereich der geistlichen Literatur die Prosaform zumal bei der diskursiven (traktathaften) Behandlung religiöser Inhalte sehr präsent war und solche Texte auch in einen von der Versform bestimmten Sammelkontext als (marginale) Ergänzungen integriert werden konnten. Im späten 14. und frühen 15. Jahrhundert entstehen zahlreiche neue volkssprachige geistliche Prosaerzählungen, die meist in geschlossenen Sammlungen überliefert sind. Manche dieser Sammlungen weisen wie die lateinischen Sammlungen einen traktathaften Rahmen auf, andere bringen nur die narrativen Texte. Die Zunahme von Prosaerzählungen ist ein Phänomen, das nicht auf geistliche Texte beschränkt ist, sondern im Kontext allgemeinerer literaturhistorischer Veränderungen gesehen werden muss: Auch im Bereich der weltlichen Erzählliteratur zeichnet sich im 15. Jahrhundert eine Tendenz zur Prosaform ab (Prosaroman). Die ältere Tradition der Verserzählungen, die im 13. und früheren 14. Jahrhundert vorherrschend war, ist im 15. Jahrhundert zwar immer noch im literarischen System präsent (sowohl durch Weitertradierung älterer als auch durch die Produktion neuer Texte), aber hat nicht mehr den gleichen literatursystematischen Status. Dieser diachrone Wandel ist auf vielschichtige Ursachen zurückzuführen, die wohl nur noch teilweise nachvollzogen und hier höchstens holzschnittartig angedeutet werden können:82 Formal-ästhetische Aspekte: Die Tendenz zur Prosa kann durch die zeitspezifischen Präferenzen mancher Kreise von Textproduzenten und Rezipienten beeinflusst sein. Prosa wird in ihrer Schlichtheit als schöner und/oder angenehmer empfunden als die ältere Tradition der Verstexte. In diesem Zusammenhang ist auch die Tendenz zur strophischen Form des Meisterlieds gegenüber der Reimpaar-Form zu sehen, die sich im 14./15. Jahrhundert beobachten lässt. Konzeptionelle Aspekte: In verschiedenen Kontexten (gerade bei Rezipienten geistlicher Literatur) rückt der Inhalt der Texte gegenüber der formalen Gestaltung in den Vordergrund; die tendenziell schmucklosere und daher ›effizientere‹ Prosa wird diesem Interesse besser gerecht als Verstexte. Rezeptionsästhetische Aspekte: Mit der sich steigernden Handschriftenproduktion und der leichteren Verfügbarkeit schriftlicher Texte hängt eine Tendenz zur privaten Lektüre gegenüber dem (geselligen) Literaturvortrag zusammen. Während Verstexte sich für den Vortrag eignen (bzw. ursprünglich für diese Rezeptionsform vorgesehen waren), lässt sich Prosa leichter lesen und kommt damit dieser Tendenz besser entgegen. Bei der Untersuchung des Texttyps der geistlichen Verserzählung müssen (geistliche) Prosaerzählungen stets mit einbezogen werden, da ihre Stellung im

82 Vgl. die ausführlichere Behandlung dieser Fragen in Kap. IV.2.; VIII; IX.1.

84 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld literarischen System in einem engen Interdependenz- und Interferenzverhältnis zur Stellung des hier untersuchten Texttyps steht. Dennoch lässt sich eine Fokussierung auf den Texttyp der Verserzählung aufgrund der unterschiedlichen ästhetischen Traditionen, in denen die beiden Texttypen stehen und die für ihre jeweilige literatursystematische Verortung entscheidend ist, begründen.

4 Umfang In der Bezeichnung ›Kleinepik‹ ist die Vorstellung von einem relativ geringen Umfang der Texte (im Gegensatz zur ›Großepik‹) angelegt. In diesem Bereich hat man es, ähnlich wie bei der Unterscheidung zwischen geistlicher und weltlicher Thematik, mit graduellen Abstufungen zu tun, die keine klare Grenzziehung erlauben; dies hat Fischers problematischer Versuch, eine Grenze bei 2000 Versen anzusetzen, deutlich gemacht.83 Dennoch ist eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Klein- und Großepik berechtigt, denn wiederum gibt es für beide Kategorien Fälle eindeutiger Zugehörigkeit: Niemand würde zögern, eine Erzählung wie Siegfrieds des Dörfers ›Frauentrost‹ oder den ›Heller der armen Frau‹ als kleinepischen Text zu bezeichnen, und man wird sich einigen können, dass Bruder Philipps ›Marienleben‹ oder Rudolfs von Ems ›Barlaam und Josaphat‹ Großepen sind. Zwischen diesen klaren Fällen gibt es jedoch Übergangsbereiche, in denen eindeutige Entscheidungen nicht möglich sind. Beim Versuch einer Kategorisierung aufgrund des Umfangs wurden deshalb in der Forschung neben der absoluten Verszahl eines Textes auch andere Faktoren berücksichtigt. So stellen etwa Fischer und Ziegeler auf der Ebene des Erzählstoffs die Frage nach der Komplexität der erzählten Geschichte:84 Ein typischer kleinepischer Text fokussiert auf ein zentrales Ereignis, ein typisches Großepos hat eine komplexere, sich über eine längere erzählte Zeit erstreckende Handlungsstruktur. Neben der Möglichkeit, auf inhaltlichem bzw. erzähltheoretischem Weg zu einer Vorstellung von relativer Kürze zu gelangen, hat Ziegeler auch auf einen rezeptionsorientierten Aspekt hingewiesen. In Bezug auf die Textauswahl der Kleinepiksammlung Heidelberg, UB, Cpg 341 (H) stellt er als gemeinsames Element der Texte fest, dass sie »vermutlich nicht länger sein [sollten], als daß ihre Lektüre etwa eineinhalb bis zwei Stunden beanspruchte.«85 Solche aufführungstechnischen Kriterien könnten durchaus auch bei der Entstehung der Texte (also auf produktionsästhetischer Ebene) eine Rolle gespielt haben.

83 Fischer: Studien, S. 57–59. 84 Vgl. ebd. Bei Ziegeler: Erzählen, werden die Übergangsformen zwischen »Fall« (Märe) und »Geschichte« (Roman) auf differenzierte Weise ausgelotet (Ziegeler, Erzählen, Dritter Teil). 85 Ziegeler: Mariendichtungen, S. 56.

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Die Komplexität der Frage zeigt sich im Bereich geistlicher Verserzählungen etwa an Kunz Kisteners ›Jakobsbrüdern‹ (1230 V., Mitte 14. Jahrhundert).86 Graf Adam von Bayern und seine Frau führen ein tadelloses Leben, ihre Ehe bleibt aber kinderlos. Erst als sie den heiligen Jakob um ein Kind bitten, wird ihr Wunsch erfüllt. Der Vater gelobt, dass sein Kind, falls es ein Sohn sei, eine Pilgerfahrt nach Compostela machen werde. Die Gräfin gebiert einen Knaben, der Jakob genannt wird. Bei seiner Geburt herrscht im ganzen Land große Freude. Das Kind wird sorgfältig erzogen und wächst zu einem schönen Jüngling heran. Der Graf wird zunehmend betrübter, weil der Sohn bald das Gelübde erfüllen muss. Als Jakob davon erfährt, bricht er sofort auf. Unterwegs schließt er Freundschaft mit dem Sohn eines verarmten schwäbischen Ritters aus Haigerloch. In einer Herberge erkrankt Jakob schwer. Vor seinem Tod nimmt er seinem Freund das Versprechen ab, ihn bis nach Compostela zu bringen. Als er gestorben ist, steckt der Freund die Leiche in einen Ledersack und trägt sie bis in die Wallfahrtskirche in Compostela. Während er dort um Ablass der Sünden bittet, wird Jakob wieder zum Leben erweckt. Die Kirchenglocken beginnen von selbst zu läuten, das Volk läuft herbei, und das Wunder wird durch die Kleriker bestätigt. Nach einem Aufenthalt in Compostela reisen die beiden Freunde wieder nach Bayern zurück. Jakobs Freund wird als Landpfleger eingesetzt und von allen bewundert. Nach einem Jahr verlässt er jedoch Bayern, um zu seinen Eltern zurückzukehren. Während seines Aufenthaltes in Haigerloch erkrankt er an Aussatz. Als er bei einem Waldbruder Rat sucht, offenbart ihm dieser, dass er nur durch das Blut eines Kindes seines Freundes, des jungen Grafen, geheilt werden kann. Der Aussätzige kehrt an den bairischen Hof zurück, wo gerade Jakobs Hochzeit gefeiert wird. Die Grafenfamilie nimmt den Aussätzigen in Ehren wieder auf. Jakob fragt, ob es kein Mittel für seine Heilung gebe. Sein Freund zögert lange, sagt aber schließlich, was er vom Waldbruder vernommen hat. Als die gräfliche Familie eines Tages ein Fest im Burggarten veranstaltet, bleibt Jakob allein mit seinem kleinen Kind und dem Aussätzigen auf der Burg zurück. Durch eine Engelsbotschaft bestärkt, schneidet Jakob dem Kind die Kehle durch, ruft seinen Freund herbei und bestreicht ihn mit dem Blut, worauf der Aussätzige gesund wird. Die beiden Freunde wollen das Land verlassen, doch Jakob verabschiedet sich noch von seinen Eltern und seiner Frau, indem er vorgibt, wegen eines Totschlags fliehen zu müssen. Währenddessen bringt die Amme das Kind herbei, das zu Jakobs Erstaunen und Freude wieder lebendig ist. Er klärt die Hofgesellschaft über das Wunder auf. Alle danken Gott, und es wird ein Doppelkloster gebaut, in das die Grafenfamilie eintritt.

Die Erzählung gehört, wie auch Konrads von Würzburg ›Engelhard‹ (6504 V., 13. Jahrhundert), zum Erzählstoff von ›Amicus und Amelius‹.87 Die Handlungsstruktur ist daher ziemlich komplex, die erzählte Zeit umfasst mehrere Jahrzehnte.

86 Vgl. Ingo Reiffenstein: Kistener, Kunz. In: 2VL 4 (1983), Sp. 1157–1160 und 2VL 11 (2004), Sp. 844 f. Ausgabe: Kunz Kistener: Die Jakobsbrüder. Hrsg. von Karl Euling (Germanistische Abhandlungen 16). Breslau 1899. Zur Stoffgeschichte vgl. Werner Williams-Krapp: Die gro ˆsten zeichen di kein heilige getun mac di tut dirre heilige. Zu den deutschen Jakobslegenden. In: Der Jakobuskult in Süddeutschland. Kultgeschichte in regionaler und europäischer Perspektive. Hrsg. von Klaus Herbers/Dieter R. Bauer (Jakobus-Studien 7). Tübingen 1995, S. 233–248. 87 Tubach 198.

86 | II Der Texttyp im literarischen Umfeld Einige der Protagonisten tragen Namen, die Handlung wird geographisch verortet. Diese Elemente sind eher für Romane als für Kurzerzählungen typisch. Dennoch hat Kisteners Erzählung nur etwa ein Fünftel des Umfangs von Konrads ›Engelhard‹. Dies ist allerdings weniger auf die inhaltlichen Abweichungen88 zwischen den beiden Texten, als vielmehr auf die narrative Umsetzung zurückzuführen. So fehlen etwa bei Kistener ausführliche Selbstreflexionen der Figuren und längere diskursive Passagen, in denen der Erzähler zu Wort kommt. Kistener präsentiert seinen Text als Exempel besonderer Treue (V. 3 f., 1176–1190) und propagiert den Jakobskult (V. 23–65, 1205–1214), während bei Konrad ein stilistisch elaborierter Prolog den Text eröffnet. Auffallend ist jedoch, dass bei Kistener gerade diejenigen Textpartien, die den größten Einfluss der höfischen Literaturtradition sichtbar werden lassen, am detailliertesten ausgearbeitet sind. Ein Beispiel dafür ist die Nachricht von der Geburt des Sohnes Jakob, die dem auf der Jagd befindlichen Grafen von einem Knecht überbracht wird, und die darauffolgende fröhliche Heimkehr des Grafen (V. 135–192): Der herre do sin jagen liesz, / den jeger er daz wilde hiesz / schicken uf die burg hindan. / die hunde hiesz er loufen lan. / sine diener warent alle vro, / heiles buttents ime do. / er dankte in allen gemein: / ›balde lant uns riten hein!‹ / einer sluog vür den andern dran, / der herre doch ze vörderst kam, / wan er was geritten wol. / sin herze was gemüetes vol. / er reit in allensament vor, / er was der erste an dem tor (V. 163 ff.). Die zentralen religiösen Elemente werden dagegen zielgerichteter und weniger detailliert erzählt. Während Konrad von Würzburg also auch die Szenen des Kindermords und der Wiedererweckung mit Reflexionen seiner Figuren ausgestaltet, beschränkt sich Kistener in seinen stilistischen Ausschmückungen auf stereotype höfische Szenen wie Ankunft, Abschied und Wiedersehen. Durch diese ausgeschmückten Passagen hebt sich Kisteners Text allerdings ebenso wie durch die komplexe Handlungsstruktur von typischen Kurzerzählungen ab – die ›Jakobsbrüder‹ stehen in einem Übergangsbereich zwischen geistlicher Kurzerzählung und Roman. Das hier entworfene Bild des Texttyps der geistlichen Verserzählung in synchroner Perspektive hat deutlich gemacht, worin seine literarische Spezifik besteht: Geistliche Verserzählungen machen die Präsenz der Transzendenz im narrativen Raum für den Rezipienten erfahrbar und unterscheiden sich dadurch von weltlichen Erzählungen bzw. von diskursiven Texten, die keine Identifikationsangebote für die Rezipienten bereitstellen. Durch ihre Versform stellen sie sich in die ästhetische Tradition der höfischen Literatur und bieten damit – im Gegensatz zu Prosaerzählungen – Anknüpfungspunkte für ein laikales Publi-

88 Im ersten Teil ersetzt der Mirakelstoff des wiedererweckten Jakobspilgers (vgl. Reiffenstein: Kistener, Sp. 1159) die Minnehandlung.

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kum. Aufgrund ihres geringen Umfangs können sie in einem Zug (vor-)gelesen und dadurch – im Gegensatz zu Großepen – immer als selbständige narrative Einheit wahrgenommen werden. So könnte man den idealisierten Vertreter des Texttyps umschreiben; die Verortung im literarischen Umfeld hat jedoch auch gezeigt, dass es neben besonders guten Beispielen breite Randbereiche weniger guter Beispiele gibt, die zwar auch als geistliche Verserzählungen angesprochen werden können, aber daneben verschiedene Berührungspunkte zu anderen Texttypen aufweisen. Diese weniger guten Beispiele sollen bei der Beschreibung des Texttyps nicht ausgegrenzt werden – im Gegenteil: Ihre Berücksichtigung ermöglicht es erst, das literarische Phänomen in seiner Komplexität zu erfassen.

III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Die Charakterisierung des Texttyps in synchroner Perspektive soll in einem zweiten Schritt durch die Betrachtung des literarischen Phänomens in diachroner Perspektive historische Tiefe erhalten. Dabei stellen sich die Fragen, aus welchen literarischen Traditionen die geistliche Verserzählung hervorgegangen ist, welchen literarischen und kulturellen Dynamiken der Texttyp im Lauf der Jahrhunderte unterworfen war, und inwiefern diese auf die konzeptionelle und ästhetische Verfasstheit der Texte eingewirkt haben. Die Untersuchung des diachronen Wandels des Texttyps ist für das Verständnis seiner literaturhistorischen Bedeutung zentral, kann aber aus verschiedenen Gründen nur bedingte historische Präzision beanspruchen. Einerseits lässt sich das literarische und historische Umfeld eines Textes immer nur bruchstückhaft rekonstruieren, da mit zahlreichen verlorenen Texten gerechnet werden muss und Informationen über die konkreten Entstehungskontexte der Texte (und damit über die in diesen Kontexten bekannte Literatur) fast immer fehlen. Andererseits können die meisten geistlichen Verserzählungen nur sehr ungenau datiert werden. Oft ist der einzige sichere Anhaltspunkt der durch den ersten erhaltenen Textzeugen gegebene terminus ante quem, der oft kaum eine genauere Eingrenzung als auf ein Jahrhundert erlaubt.1 Diese defizitäre Kenntnislage macht es unmöglich, jeder Erzählung einen genauen Platz in einer literarischen Reihe zuzuweisen, erlaubt aber dennoch die Erkenntnis gewisser literarischer Tendenzen, die sich im Lauf der Zeit verändern.

1 Der literarische und kulturelle Referenzrahmen Texte sind in konkreten historischen Situationen (angestoßen durch einen Auftraggeber, mit einem bestimmten Publikum im Blick) entstanden; die Verfasser nahmen in dieser Situation (bewusst oder unbewusst) auf einen literarischen und kulturellen Referenzrahmen Bezug, in dem sowohl das verfügbare kollektive Wissen über Texte und Erzählstoffe als auch die literarische Gestalt aller Texte, die die Verfasser aus mündlicher oder schriftlicher Vermittlung kannten, eine Rolle spielen konnten. Literarischer Referenzrahmen und historische Entstehungssituation haben Spuren in den Texten hinterlassen, die für die modernen Betrachter nur noch indirekt greifbar sind, da sie nicht auf den gleichen Refe-

1 Zu dieser Problematik vgl. Heinzle: Rezension, S. 135.

1 Der literarische und kulturelle Referenzrahmen

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renzrahmen rekurrieren können wie die mittelalterlichen Verfasser.2 Nur die schriftlich erhaltenen Texte des literarischen Referenzrahmens einerseits und die textinternen, literarisch überformten Äußerungen der Erzähler über die Entstehung ihrer Texte andererseits sind zugänglich. Auf dieser Grundlage müssen moderne Betrachter den literarischen Referenzrahmen des Textes zu rekonstruieren versuchen. Dabei kann es sich immer nur um ein Hilfskonstrukt handeln, das einen – wenn auch bruchstückhaften – Eindruck vom Wissenshorizont des mittelalterlichen Verfassers bietet. Dieses Verfahren, bei dem das vom Referenzrahmen ausgehende Verständnis des Textes und die vom Text ausgehende Rekonstruktion des Referenzrahmens interdependent sind, birgt die Gefahr des Zirkelschlusses, es ist, wie Christian Kiening treffend bemerkt hat, »ebenso unerlässlich wie unzureichend«:3 Man muss sich der immer nur approximativen und teilweise problematischen Aussagekraft der Ergebnisse bewusst sein, kann auf diese Weise aber dennoch wertvolle Erkenntnisse über die spezifische konzeptionelle und ästhetische Verfasstheit eines Textes gewinnen.

1.1 Textinterne Aussagen über Entstehungssituationen Zunächst sollen textinterne Aussagen über die Entstehungssituation von Texten in den Blick genommen werden, die ein (idealisiertes) Bild davon vermitteln, welche situativen Einflüsse auf die Entstehung eines Textes im literarischen Diskurs denkbar und welche Aspekte seiner Produktion darstellenswert waren. In Hartmanns von Aue ›Armem Heinrich‹4 stilisiert sich die Autorfigur zum gelehrten Ritter, der seine Erzählstoffe in verschiedenartigen Büchern zusammensucht. Als Grundlage der geistlichen Erzählung wird eine schriftliche Quelle angegeben (ein rede die er geschriben vant, V. 17; Er las daz selbe mære, V. 29),

2 Vgl. zu diesem Problem die Überlegungen Kienings in: Unheilige Familien, S. 33–36, die teilweise in eine ähnliche Richtung gehen. Kiening spricht das Problem an, dass Texte gleichzeitig als »Singularitäten ernstgenommen« und als »Variationen eines Typus beschrieben« werden müssen (mit [Erzähl-]Typus ist bei Kiening der inhaltliche, nicht der gattungsmäßige Aspekt angesprochen). Er schlägt vor, dazu die Begriffe der »narrativen Musters« und der »kulturellen Konfigurationen« zu verwenden, wobei erstere die »relative Stabilität syntagmatischer Grundelemente« bezeichnen und den »Anschluss an vorhandene Texte« ermöglichen, während die letzteren die »paradigmatische[n] Komplexe« repräsentieren und »den Anschluss an zeitgenössische Diskurse« erlauben (S. 35). 3 Kiening: Unheilige Familien, S. 34. Kiening weist ebenfalls auf die Gefahr des Zirkelschlusses bei der Rekonstruktion eines »Erzähltypus« hin: »Der Typus wird als Schnittmenge herauspräpariert aus eben jenem Corpus, dem auch der Text angehört, den man im Blick auf den Typus zu verstehen hofft – es droht die Zirkularität.« 4 Weiteres zu diesem Text s. Kap. III.4.1.2.

90 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 der Vorgang der Übertragung in deutsche Verse (über Sprache und Form der Quelle wird nichts gesagt) wird als diuten (V. 16) bezeichnet, womit sowohl eine ästhetische als auch eine konzeptionelle Anpassung an ein Publikum gemeint sein kann, das – folgt man der Selbstdarstellung in den ersten Versen – wohl ebenfalls in einem höfisch-laikalen Umfeld zu verorten, der Autorfigur an Bildung aber möglicherweise unterlegen ist. So inszeniert sich hier ein gelehrter Laie als Mittler zwischen (schriftlich fixiertem) geistlichem Stoff und laikalem Publikum. Diese Vermittlung findet in einem dezidiert geistlichen Rahmen statt, denn die Erzählung soll sowohl Gottes Ehre (V. 13) als auch das Seelenheil des Verfassers (V. 18–28) befördern. Der Erzähler der ›Vorauer Novelle‹ (1. Hälfte 13. Jahrhundert?)5 thematisiert weniger die Umstände als vielmehr den Vorgang der Textproduktion, indem er die Metapher des Dichtens als Schmiedehandwerk (V. 8–15) verwendet und seine Tätigkeit als zerbrechen des schönen Lateins (V. 8) darstellt, das durch die kunstvolle Bearbeitung ˆ uf einen tiuschen louf gerichtet werde (V. 19). Daraus geht hervor, dass der Erzähler eine (wohl schriftlich zu denkende) lateinische Quelle voraussetzt, die er durch bearbeitende Übersetzung zu einer deutschen Erzählung macht. Dies geschieht mit einer expliziten Wirkungsabsicht: Die deutsche Erzählung soll durch ihre ästhetische Qualität steinherte[…] herze[n] (V. 21) zur Gottesfurcht bewegen. Die Darstellung von Produktion und (intendierter) Rezeption des Textes im Prolog der ›Vorauer Novelle‹ nimmt zwar nicht Bezug auf historisch-situative Entstehungsumstände, leistet aber eine (idealisierte) poetologische Verortung geistlichen Erzählens sowohl in produktions- als auch in rezeptionsästhetischer Sicht. Auf die konkrete Entstehunssituation fokussiert dagegen der Erzähler Rudolf von Ems in ›Barlaam und Josaphat‹ (um 1225/1230),6 indem er sich über seine Quelle und deren Vermittlung äußert.7 Er führt die erste Aufzeichnung der Josaphat-Vita direkt auf die Initiative des Barachias zurück, den Josaphat als König über sein Reich eingesetzt hat, bevor er sich in die Wüste zurückzog. Barachias lässt eine griechische Vita schreiben, die später von Johannes Damascenus ins Lateinische übersetzt wird. Diese lateinische Version wird dann von den Zisterziensern in den deutschsprachigen Raum gebracht. Rudolf selbst kommt durch Wido, den Abt des Zisterzienserklosters von Kappel am Albis, in Kontakt mit der Erzählung, die er zunächst auf Latein gelesen hat. Daraufhin fragt er die Zisterzienser um Rat, ob er den Stoff ins Deutsche übertragen solle. Auf die Bitten des Abtes und der Brüder unternimmt er schließlich die Bearbeitung in deutschen

5 Weiteres zu diesem Text s. Kap. III.4.1.3. und VII.2.1. 6 Weiteres zu diesem Text s. Kap. III.4.4.2. 7 Sowohl im Prolog (4,25–5,3; 5,4–7) als auch im Epilog (402,2–404,4).

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Versen. Während der Anfang dieser Herleitungsgeschichte natürlich eine Quellenfiktion ist, die eine möglichst große Nähe zum historischen Geschehen suggerieren soll, ist der zweite Teil sehr aufschlussreich für die idealisierte Darstellung der Produktion volkssprachiger geistlicher Versliteratur. Zisterzienser erscheinen als Vermittler der lateinischen Quelle; mit ihrem Rat und ihrer Hilfe bearbeitet der Laie Rudolf den Stoff für ein laikales Publikum, das durch die Lektüre zur moralischen Besserung bewegt werden soll. Dieses Zusammenwirken von Ordensleuten und laikalem Autor verleiht dem Werk Rudolfs eine gewisse klerikale Autorität, zeigt aber auch, dass volkssprachige geistliche Literatur nicht als ein rein laikales Phänomen gedacht wurde, sondern ein Austausch vorstellbar war (und in manchen Fällen wohl auch tatsächlich stattgefunden hat). Einen ähnlichen Vermittlungsweg skizziert auch Heinrich der Klausner in seiner Erzählung ›Der arme Schüler‹ (Ende 13. Jahrhundert):8 Mir seite bru ˆder Pilgerıˆm / Von Gorlitz der gardia ˆn, / Den ich an mıˆme herzen ha ˆn / Na ˆch mıˆme selbis ra ˆte / An sıˆner predia ˆte / Erwelt vor einen wıˆsen man / Der di scrift vil wol kann / Zu richten unde glo ˆsen […] Her kann und weiz der gu ˆte man / Des manic ander nicht enkan. / Der seite mir dit me ˆre, / Daz ein schu ˆler we ˆre (V. 54 ff.). Wie in Rudolfs ›Barlaam‹ wird hier ein Ordensgeistlicher, der Guardian des Franziskanerklosters Görlitz,9 als Vermittler des Stoffes genannt. Im Gegensatz zu Rudolfs ›Barlaam‹ und zur ›Vorauer Novelle‹ ist aber nicht von einer (schriftlichen) lateinischen Quelle die Rede, sondern von einer mündlichen Erzählung. Die Autorität der Geschichte wird nicht aus ihrer Anciennität abgeleitet, sondern auf einer intellektuellen Ebene beglaubigt: Der Erzähler des volkssprachigen Textes inszeniert sich als so gebildet, dass er über die Gelehrsamkeit des Vermittlers Pilgrim urteilen und ihm Glaubwürdigkeit attestieren kann. Neben dieser Betonung klerikaler Gelehrsamkeit steht jedoch die Nennung des jungen böhmischen Königs10 als Auftraggeber (V. 1352–1357) – der Erzähler stellt seinen Text damit in die Tradition der höfischen Literatur, grenzt sich aber gleichzeitig von Möchtegern-Dichtern ab, die sich nur mit spitzfindigen Nichtigkeiten befassen (di vundin manic vundelıˆn / Daz nicht ein ha ˆr gewesin mac, V. 14 f.), und vergleicht diese mit Wilderern, die Bären auf tückische Weise mit Honig fangen.11 Positives Gegenbeispiel ist sein eigener Text: Heinrich Clu ˆzene ˆre / Der wil uns aber ein me ˆre / Durch kurzewıˆle

8 Weiteres zu diesem Text s. Kap. VI.1.3. 9 Zur Geschichte des 1234 gegründeten Klosters vgl. Christoph Gottlob Piltz: Kurtze historische Beschreibung des ehemaligen Franciscaner- oder Minoriten-Klosters in Görlitz. Hefte 1–22. Görlitz 1777–1798. Piltz verzeichnet die Guardiane des Klosters erst ab 1361 (Heft 9 und 10, 1785/86). 10 Vermutlich Wenzel II. von Böhmen (reg. 1278–1305). 11 Dies erinnert an die Jagdmetaphorik in Gottfrieds ›Tristan‹ (Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Friedrich Ranke. Berlin 1930, V. 841–870). Das Motiv der Bärenjagd erscheint ebenfalls bei Gottfried (V. 284 ff.).

92 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 machen / Von hevelıˆchen sachen / Und unser vrouwen wundir ein, / Daz der werlde hıˆ dirschein (V. 45 ff.). Die Erzählung ist kurzweilig und höfisch, hat aber durch ihre geistliche Thematik Gewicht und Dignität. Diese idealisierte Darstellung geistlichen Erzählens macht die Spannung zwischen ästhetischem Anspruch und der Vermittlung religiöser Inhalte deutlich. Heinrich versucht, ähnlich wie der ›Passional‹-Dichter, sich zwar von der weltlichen, besonders der als inferior empfundenen Minne-Dichtung zu distanzieren (V. 519–552), übernimmt aber gleichzeitig konzeptionelle und ästhetische Modelle aus der höfischen Literaturtradition, um sein Publikum auf angenehme Weise zu unterhalten. In einem dezidiert höfischen Umfeld inszeniert auch Herrand von Wildonie die Entstehung seines ›Nackten Kaisers‹ (um 1260/70):12 Er gibt an, die geistliche Verserzählung auf Bitte einer schönen Frau – also quasi als Minnedienst – verfasst zu haben (V. 8–11, 16–18). Als Quelle nennt er eine deutsche Prosachronik. Auch wenn diese Berichte über die Entstehung von Texten bestimmten literarischen Mustern folgen (Quellenberufung, Wahrheitsbeteuerung, Autorität des Erzählten durch Bezugnahme auf gelehrte Personen, Lob der Auftraggeber) und daher idealisiert sind, zeigen sie doch, dass die Entstehungssituationen geistlicher Verserzählungen ganz unterschiedlich sein (oder gedacht werden) konnten, und dass verschiedene Faktoren (gelesene oder gehörte, lateinische und deutsche Texte, Predigten, Gespräche) bei der Entstehung eines Textes eine Rolle spielen konnten. Das vermittelt einen (literarisch überformten) Eindruck von der Komplexität der historisch-situativen Verortung der Texte und des literarischen Referenzrahmens, auf den die Verfasser bei der Textproduktion zurückgreifen konnten.

1.2 Tradierung von Erzählstoffen Die Erzählstoffe der meisten geistlichen Verserzählungen waren in unterschiedlichen Formen und oft auch in verschiedenen Sprachgebieten verbreitet; sie sind keine Erfindungen der Verfasser deutscher Verserzählungen. Meist lassen sich zahlreiche Ausformungen der Stoffe zusammenstellen, die mehr oder weniger eng verwandt sind, direkte Abhängigkeiten sind jedoch eher selten auszumachen.13 Auf diese schwierige und oft verworrene Lage reagiert das flexible Konzept des literarischen Referenzrahmens, bei dem es (im Gegensatz zur traditi-

12 Weiteres zu diesem Text s. Kap. V.1.1. 13 Vgl. auch Kiening: Unheilige Familien, S. 34: »In einer Kultur variabler, beweglicher, wiedererzählender Texte, wie sie im Mittelalter gegeben ist, bezieht sich ein Autor, wenn er einen Stoff aufgreift, nur bedingt auf einen bestimmten Prätext.«

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onellen Stoffgeschichte) nicht darum geht, direkte Abhängigkeiten festzustellen oder hypothetische Stemmata zu (re-)konstruieren, sondern darum, zu sehen, in welchen Ausformungen ein Erzählstoff vorhanden ist, um vor diesem Hintergrund die spezifische Ausformung des Stoffes in der jeweiligen deutschen geistlichen Verserzählung besser verstehen zu können.14 Für den modernen Betrachter stellen die schriftlich erhaltenen Ausformungen der Erzählstoffe den einzigen Zugang zum literarischen Referenzrahmen dar – dessen Rekonstruktion besteht daher im Versuch, aus diesem fragmentarischen Bild einen Gesamteindruck von der Variationsbreite und den Veränderungen eines Erzählstoffs zu gewinnen.15 Dabei spielt die lateinische Exempeldichtung eine zentrale Rolle, da die meisten geistlichen Erzählstoffe früher oder später in dieser Form ›konserviert‹ wurden.16

14 Kiening (Unheilige Familien, S. 34 f.) schlägt vor, die traditionelle Stoffgeschichte, die »das thematische Potenzial einer narrativen Anordnung in der formalen Vielfalt rekonstruierter Verästelungen zum Verschwinden bring[e]«, durch eine »problemorientierte ›Thematologie‹ oder einen weiterentwickelten Sturkturalismus, der funktionelle, intertextuelle und rezeptionsbezogene Perspektiven sowie Formen ›kulturellen Wissens‹ berücksichtigt«, zu ersetzen. Ähnliche Vorstellungen liegen auch meinem Konzept des literarischen Referenzrahmens zugrunde, das den Fokus nicht auf stoffliche Abhängigkeiten legt, sondern darauf ausgerichtet ist, den einzelnen Text in seinem literarischen und kulturellen Kontext zu verorten. 15 Zur Problematik dieses Verfahrens s. o. 16 Die weitverzweigte und teilweise kontroverse Exempelforschung kann hier nur gestreift werden. Die lateinischen Sammlungen werden jeweils vorrangig in ihrem Verhältnis zu den deutschen Bearbeitungen untersucht; einen Beitrag zur Erforschung der lateinischen Exempla zu leisten, ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Als wichtige Eckpunkte der Exempelforschung seien genannt: Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ›Policraticus‹ Johanns von Salisbury (Ordo 2). Hildesheim/Zürich/ New York 1988; Christoph Daxelmüller: Narratio, Illustratio, Argumentatio. Exemplum und Bildungstechnik in der frühen Neuzeit. In: Exempel und Exempelsammlungen, S. 77–94; Les exempla me´die´vaux. Introduction a` la recherche, suivie des tables critiques de l’Index exemplorum de Frederic C. Tubach. Hrsg. von Jacques Berlioz/Marie Anne Polo de Beaulieu. Carcassone 1992; Christoph Daxelmüller: Zum Beispiel. Eine exemplarische Bibliographie. Jahrbuch für Volkskunde NF 13 (1990), S. 218–244; 14 (1991), S. 215–240; 16 (1993), S. 223–244; L’exemplum; Les exempla me´die´vaux. Nouvelles perspectives; Markus Schürer: Das Beispiel im Begriff. Aspekte einer begriffsgeschichtlichen Erschließung exemplarischen Erzählens im Mittelalter. Mittellateinisches Jahrbuch 38 (2003), S. 199–237; Markus Schürer: Das Exemplum oder die erzählte Institution. Studien zum Beispielgebrauch bei den Dominikanern und Franziskanern des 13. Jahrhunderts (Vita regularis 23). Berlin 2005; Le tonnerre des exemples. Exempla et me´diation culturelle dans l’Occident me´die´val. Hrsg. von Marie-Anne Polo de Beaulieu u.a. Rennes 2010. Grundsätzlich schließe ich mich der Position von Daxelmüller an, der das Exempel als funktionale Kategorie begreift (vgl. Daxelmüller: Narratio, S. 80 f.). Eine Einengung des Begriffs auf das Predigtexempel der Bettelorden halte ich für nicht sinnvoll. Vgl. dazu auch Peter von Moos: L’exemplum et les exempla des preˆcheurs. In: Les exempla me´die´vaux. Nouvelles perspectives, S. 67–81.

94 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 In manchen Fällen haben Verfasser deutscher Verserzählungen wohl auf solche schriftlichen Grundlagen zurückgegriffen (wie z.B. in der ›Vorauer Novelle‹ angedeutet), in anderen Fällen werden mündliche Aktualisierungen der Stoffe, die den schriftlichen Aufzeichnungen in lateinischen Exempelsammlungen vorangingen oder auf ihnen fußten, als Quellen für die deutschen Texte gedient haben.

2 Geistliche Erzählstoffe in lateinischen Exempelsammlungen und volkssprachigen Verserzählungen Lateinische Exempelsammlungen, die für die Rekonstruktion des literarischen Referenzrahmens herangezogen werden, müssen immer auch mit ihrem je eigenen, spezifischen Profil wahrgenommen werden. Entstehungszeit und -kontexte haben auch hier einen großen Einfluss auf die jeweilige Ausformung der Erzählstoffe.

2.1 Lateinische Exempelsammlungen in monastischen und laikalen Lebenswelten 2.1.1 Das klösterliche Leben als Orientierungsrahmen: Zisterziensische Sammlungen des 12./13. Jahrhunderts Im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert entstanden besonders im Orden der Zisterzienser mehrere große Sammlungen lateinischer Exempla. Zu nennen sind etwa das ›Collectaneum Clarevallense‹,17 das ›Exordium Magnum‹ des Konrad von Eberbach18 und der ›Dialogus miraculorum‹ des Caesarius von Heisterbach.19 In diesen monastisch geprägten Sammlungen werden beispielhaft Situationen und Probleme des Klosterlebens geschildert sowie das Leben besonders tugendhafter Mönche und ihre Gnadenerfahrungen als Vorbilder bereitgestellt. Die Exempla konnten den Mönchen die Sinnhaftigkeit ihres eigenen Lebens bestätigen und ihnen in schwierigen Situationen eine Hilfestellung sein.20 So wird bei-

17 Collectaneum exemplorum et visionum Clarevallense. E codice Trecensi 946. Hrsg. von Olivier Legendre (CCCM 208. Exempla medii aevi 2). Turnhout 2005. 18 Exordium magnum Cisterciense, sive narratio de initio Cisterciensis ordinis, auctore Conrado monacho Claravallensi postea Eberbacensi ibidemque abbate. Hrsg. von Bruno Griesser (CCCM 138). Turnhout 1994. 19 Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum. Hrsg. von Joseph Strange. 2 Bde. Köln 1851. 20 Vgl. Brian Patrick McGuire: Les mentalite´s des cisterciens dans les recueils d’exempla du XIIe sie`cle. Une nouvelle lecture du Liber visionum et miraculorum de Clairvaux. In: Les Exempla me´die´vaux. Nouvelles perspectives, S. 107–145, hier bes. S. 108–113.

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spielsweise im ›Collectaneum Clarevallense‹ (IV, XXX [102]) berichtet, dass ein Mönch gesehen habe, wie der Teufel während einer Vigil in Gestalt eines Affen in die Kirche gekommen sei und vor denjenigen Mönchen, die beim Chorgebet geschlafen hätten, stehengeblieben sei, gelacht und aus Freude über deren Nachlässigkeit in die Hände geklatscht habe. Dieses Exempel führt schläfrigen Mönchen die negativen Konsequenzen ihres Lasters vor Augen. In manchen Sammlungen sind die Exempla auch explizit im Kontext der Novizendidaxe angesiedelt, so beispielsweise bei Caesarius von Heisterbach, der seiner Sammlung den Rahmen eines Dialogs zwischen Meister und Novize gibt.21 Anhand der Exempla lernt der Novize, mit Geboten und Verboten des Klosterlebens umzugehen. Neben ihrer Funktion als Orientierungshilfe für die einzelnen Mönche dienten diese Sammlungen auch der Selbstvergewisserung des Ordens an sich sowie der Abgrenzung von anderen Orden; die Sammlungen hatten also auch einen institutionell geprägten Charakter.22 Die Erzählstoffe, die in den Exempelsammlungen bearbeitet wurden, gehen teilweise auf ältere Erzähltraditionen zurück,23 zum großen Teil handelt es sich aber um Geschichten, die sich in der jüngeren Vergangenheit und oft im Orden selbst abgespielt haben sollen.24 Es werden Orte und Gewährspersonen genannt, entweder die Namen der beteiligten Mönche oder die Namen derjenigen, die die Geschichte erzählt haben. Günstige Verbreitungswege für diese neuen Erzählstoffe waren etwa Zusammenkünfte von Mönchen verschiedener Klöster beim Generalkapitel in Cıˆteaux oder bei Visitationen.25 Nach und nach entwickelte sich bei den Zisterziensern ein größeres Interesse für die Laien- bzw. Nonnenseelsorge, was dazu führte, dass die laikale Lebenswelt in den jüngeren Exempelsammlungen präsenter ist. Ziel dieser Exempla war es, einem mit der Seelsorge betrauten Mönch Ratschläge zum Verhalten gegenüber seinen geistlichen Kindern zu geben.26 Dennoch blieben die Sammlungen in der monastischen Welt verankert, was sich auch daran zeigt, dass die Mehrzahl der Protagonisten noch bei Caesarius von Heisterbach Mönche sind und weltliche Figuren tendenziell eher negativ bewertet werden.27

21 Vgl. Hagby: Man hat uns, S. 210. 22 Vgl. Schürer: Das Exemplum, S. 16–19. 23 Vgl. Brian Patrick McGuire: The Cistercians and the rise of the exemplum in early thirteenth century France. A reevaluation of Paris BN MS lat. 15912. Classica et Mediaevalia. Revue danoise de philologie et d’histoire 34 (1983), S. 211–267, hier bes. S. 212 f. 24 Vgl. McGuire: The Cistercians, S. 213–215. 25 Vgl. McGuire: Les mentalite´s, S. 122–124. 26 Vgl. McGuire: Les mentalite´s, S. 126–128 und 138 f. 27 Vgl. Hagby: Man hat uns, S. 274 f.

96 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 2.1.2 Die Laiendidaxe als Aufgabe: Predigtexempel-Sammlungen des 13.–15. Jahrhunderts Im 13. Jahrhundert entstanden Exempelsammlungen, die nicht mehr hauptsächlich für den innermonastischen Gebrauch bestimmt waren, sondern primär als Hilfsmittel für die Seelsorge dienen sollten. Dies macht sich auch darin bemerkbar, dass in den Exempeln nun vermehrt laikale Protagonisten auftreten und die Ereignisse aus deren Perspektive geschildert werden. Gerade in den Mendikantenorden, die sich die Laienseelsorge zur Aufgabe gemacht hatten, entstanden viele derartige Sammlungen.28 Der Grundtenor der Vorreden dieser Sammlungen ist, dass Laien aufgrund ihrer mangelnden Bildung nicht fähig seien, sich komplexen theologischen Phänomenen auf einer abstrakten Ebene zu nähern, sondern diese nur mittelbar, durch ein Gleichnis oder eine Beispielgeschichte, begreifen könnten.29 Der Gebrauch von Exempla wird deshalb sowohl für die Laienpredigt als auch für das seelsorgerische Gespräch mit einzelnen Laien empfohlen. Die lateinischen Sammlungen stellten somit eine Fundgrube von Erzählstoffen dar, in der der Kleriker je nach Situation ein Exemplum wählte und in diejenige Form brachte, die für die Situation geeignet erschien. Das Predigtexemplum war im Endeffekt für den Laien bestimmt, aber nicht als Laienlektüre gedacht. Der literate Kleriker, der das Exemplum wiedererzählte bzw. neu erzählte, fungierte als Vermittler zwischen dem lateinischen Stoff und dem (illiteraten) Rezipienten. Die Exempla sind nicht mehr unbedingt mit expliziten Anweisungen für den Beichtiger ausgestattet und haben oft laikale Lebensformen zum Thema. So berichtet beispielsweise Jakob von Vitry von einer Frau, die von ihrem Mann beim Ehebruch ertappt wird und bei einer alten Frau Rat sucht. Diese rettet die Ehefrau durch eine List, indem sie zum Ehemann geht, der allein dasteht, und ihn grüßt, als ob er Gesellen bei sich hätte. Als der Ehemann sich wundert, macht sie ihm weis, zu einer bestimmten Tageszeit komme es öfters zu optischen Täuschungen, sodass man eine Person für mehrere halte. Der Ehemann glaubt, ihm sei es ebenso ergangen, er habe seine Frau doppelt im Bett gesehen, und bittet die Ehefrau um Vergebung.30

28 Mit den Veränderungen, die sich aus der Beteiligung der Mendikantenorden an der Exempeldichtung ergeben, setzen sich u.a. folgende Arbeiten auseinander: Thomas Füser: Vom exemplum Christi über das exemplum sanctorum zum »Jedermannsbeispiel«. In: Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum. Hrsg. von Gert Melville u.a. (Vita regularis 11). Münster 1999, S. 27–105; Marie Anne Polo de Beaulieu: Pre´sence de la Le ´gende dore ´e dans les recueils d’exempla. Citations, traces et re´e´critures. In: De la saintete´ a` l’hagiographie. Gene`se et usage de la Le ´gende dore ´e. Hrsg. von Barbara Fleith/ Franco Morenzoni (Publications romanes et franc¸aises 229). Genf 2001, S. 147–171. 29 Vgl. dazu Schürer: Das Beispiel im Begriff, S. 217–220. 30 Jacques de Vitry: The Exempla or illustrative stories from the sermones vulgares. Hrsg. von

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2.2 Konzeptionelle und ästhetische Unterschiede zwischen lateinischen Exempla und volkssprachigen Verserzählungen Wenn man deutsche Verserzählungen in ihrem Verhältnis zu lateinischen Exempla untersucht, muss man sich zunächst ein paar grundlegende Unterschiede zwischen diesen Texttypen vergegenwärtigen. Bei den volkssprachigen Verstexten fehlt in den meisten Fällen die für lateinische Exempla charakteristische Einbettung in den Gesamtzusammenhang einer Sammlung, die prinzipiell auf Vollständigkeit angelegt ist und in der sich die Exempla ergänzend aufeinander beziehen lassen.31 Mit dem Fehlen des äußeren Rahmens einer Sammlung fällt aber nicht nur die Einordnung in den Kontext anderer Erzählungen weg, sondern auch ein diskursiver Bezugsrahmen, der durch Elemente wie Prolog, Einführungen und Kommentare zu einzelnen Themenbereichen bei den lateinischen Exempelsammlungen gegeben ist.32 Die theoretisch-diskursive Auseinandersetzung mit dem Erzählten dient in den lateinischen Exempelsammlungen dazu, dem intendierten Leser (z.B. einem Novizen oder einem mit der Seelsorge betrauten Kleriker) den Sinn der Exempla zu erschließen oder ihm für bestimmte Situationen eine passende Exempelgeschichte an die Hand zu geben. Gerade bei Predigtexempelsammlungen wird vorausgesetzt, dass der Leser die lateinischen Texte nicht nur zur eigenen Bildung und Erbauung rezipiert, sondern die Stoffe in anderen Kommunikationssituationen wie der Predigt oder dem Seelsorgegespräch wiederverwendet, vielleicht auch in der Volkssprache. Für diese Verwendung werden die Exempla durch die Kommentare vorbereitet. Bei den deutschen Verserzählungen fällt diese an eine Person gebundene sekundäre Vermittlungssituation weitgehend weg. Die Texte sind so konzipiert, dass sie von einem laikalen bzw. theologisch ungebildeten Publikum direkt (hörend oder lesend) rezipiert werden können, ohne dass dabei ein theologisch gebildeter Vermittler nötig wäre. Auch wenn man sich die deutschen Texte als Vortragstexte denkt und dem Rezitator eine Mittlerrolle zwischen Text und Publikum zuschreibt, hat diese Vermittlerfigur gegenüber dem Text nicht dieselbe Autorität und Autonomie wie der Kleriker, der einem laikalen Publikum ad hoc einen Exempelstoff vermittelt, denn der volkssprachige Rezitator – selbst wenn er mit dem Autor des Textes identisch ist – erzählt den Stoff nicht jedesmal von Grund auf neu, sondern greift auf eine in der Versform ›festgeschriebene‹ Version

Thomas Frederick Crane (Publications of the Folklore Society 26). London 1890, Nr. 251 (S. 106). Den gleichen Stoff bietet die deutsche Verserzählung ›Das Kerbelkraut‹. 31 Vgl. Hagby: Man hat uns, S. 279. 32 Vgl. Hagby: Man hat uns, S. 280.

98 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 zurück, die er zwar variieren und modifizieren konnte, aber nicht ganz neu erfand. Durch diese Unterschiede bezüglich der Rezeptionssituation verschiebt sich der Autoritätsanspruch bei den volkssprachigen Erzählungen zum Text selbst und kommt v.a. in seiner formalen Gestalt zum Ausdruck. Dieser ästhetische Anspruch wird umgesetzt durch die Anknüpfung an die höfische Literaturtradition.33 Während das lateinische (Prosa-)Exempel den Charakter des vorläufigen, prinzipiell unfesten und für Neuaktualisierungen offenen Textes hat, ist die volkssprachige Verserzählung ein ›endgültigerer‹, zu einem Ganzen geformter Text, dessen Anspruch gerade in dieser Form liegt. Ein weiterer bedeutender Unterschied zwischen lateinischen Exempelsammlungen und deutschen Verserzählungen liegt darin, dass die lateinischen Exempla aufgrund ihrer Sprache überall rezipiert werden konnten, während die volkssprachigen Texte an ihren jeweiligen Sprachraum gebunden waren. Dadurch waren lateinische Exempel überregional präsent und wohl meist auch leichter greifbar als deutsche Verserzählungen. Viele Verfasser volkssprachiger Texte waren wohl bis zu einem gewissen Grad lateinisch-klerikal gebildet und kannten die Erzählstoffe entweder aus eigener Lektüre oder aus mündlichen Vermittlungssituationen (Predigt, Gespräch), in denen wiederum durch den Vermittler (Prediger, Kleriker) möglicherweise auf lateinische Exempla zurückgegriffen wurde. Maryvonne Hagbys Formulierung der »patenschaftlichen Beziehung«34 zwischen lateinischen und deutschen Texten trifft insofern zu, als der lateinische Hintergrund für die volkssprachigen Verfasser immer präsent war. Diese Präsenz zeigt sich auch darin, dass bei späteren volkssprachigen Prosafassungen in den meisten Fällen nicht auf die älteren Verserzählungen, sondern auf lateinische Quellen zurückgegriffen wurde.35

2.3 Zwischen Reminiszenz und Quelle: Stoffverwandte lateinische und volkssprachige Erzählungen Das Verhältnis zwischen einer deutschen Verserzählung und anderen erhaltenen Fassungen des gleichen Erzählstoffes kann von ganz unterschiedlichen Formen der Bezugnahme geprägt sein, da in der mittelalterlichen literarischen Kultur mündliche und schriftliche Ausformungen, Variationen und Modifikationen

33 Vgl. Hagby: Man hat uns, S. 203–212. 34 Hagby: Man hat uns, S. 212. 35 Vgl. dazu Kap. III.2. und Kap. IX.1.

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bekannter Erzählstoffe, akribische Übersetzungen und freie Bearbeitungen eines im kollektiven Wissen verankerten Stoffes nebeneinander stehen. Es gibt (eher seltene) Fälle, in denen ein direkter Bezug zwischen zwei Texten vorliegt, diese also so viele Übereinstimmungen aufweisen, dass einer der Texte dem anderen mit großer Wahrscheinlichkeit als Quelle gedient hat. Allerdings ist es auch in diesen Fällen schwer zu entscheiden, ob wirklich die erhaltene Version als Bezugspunkt für den anderen Text diente, oder ob es vielleicht eine nicht mehr erhaltene, sehr ähnliche Version war.36 Auch wissen wir meist nicht, ob der Verfasser des jüngeren Textes seine Quelle als schriftliches Dokument vor sich hatte oder sie aus einer mündlichen Vermittlungssituation kannte. Oft beobachtet man zwar enge Bezüge zwischen zwei Texten, die Art der Bezugnahme lässt sich jedoch nicht sicher feststellen. In diesem Fall muss man sich damit begnügen, die jeweiligen Akzentsetzungen der beiden Ausformungen zu beschreiben. In vielen Fällen lassen sich keine direkten oder engen Bezugnahmen zwischen den verschiedenen erhaltenen Fassungen eines Erzählstoffs feststellen. Dennoch lässt sich vor der Folie dieser Referenztexte die Akzentuierung des deutschen Textes (Motivauswahl, Deutung des Erzählten) genauer konturieren. Eine Reihe von Beispielen soll die verschiedenen Arten des Verhältnisses zwischen deutschen Verserzählungen und stoffverwandten lateinischen Fassungen deutlich machen und zugleich zeigen, inwieweit die Rekonstruktion des literarischen Referenzrahmens auf der Grundlage der erhaltenen lateinischen Exempla zum Verständnis der deutschen Texte beitragen kann. 2.3.1 Direkte Bezugnahme und selektive Übertragung: ›Der einfältige Pfarrer‹ Der Erzählstoff vom einfältigen Pfarrer ist in zwei voneinander unabhängigen deutschen Verserzählungen des späten 13. Jahrhunderts greifbar,37 dem ›Passional‹-Marienmirakel 8 (›Salve sancta parens‹, 90 V.) und einem Zwischenexempel aus den ›150 Mariengrüßen‹ (›Der einfältige Pfarrer‹, 69 V.). Beide Erzählun-

36 Erschwerend kommt hinzu, dass die Textgeschichte vieler lateinischer Exempelsammlungen nur unzulänglich aufgearbeitet ist. So wird etwa für den ›Dialogus miraculorum‹ des Caesarius von Heisterbach immer noch die Ausgabe von Joseph Strange (1851) benutzt. Es gibt jedoch auch Bemühungen um die Aufarbeitung von Exempelsammlungen, z.B. die Editionsreihe Exempla medii aevi. Hrsg. von Jacques Berlioz/Marie Anne Polo de Beaulieu/Jean-Claude Schmitt (CCCM), Turnhout 2002 ff., oder Einzelstudien wie Brigitte Weiske: Gesta Romanorum. 2 Bde. (Fortuna vitrea 3–4). Tübingen 1992. 37 Ausgabe des ›Einfältigen Pfarrers‹ innerhalb der ›150 Mariengrüße‹: Franz Pfeiffer: Mariengrüsse. ZfdA 8 (1851), S. 274–298, hier S. 290–292 (V. 521–590). In einem thematischen Zusammenhang mit diesen Verserzählungen steht auch die Übertragung der Marienmesse ›Salve sancta parens‹ selbst in deutsche Reimpaarverse, vgl. Kurt Gärtner: Eine Übertragung der ›Marienmesse Salve sancta parens‹ in Reimpaarversen vom Anfang des 14. Jahrhunderts. In:

100 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 gen stehen einer lateinischen Fassung, dem Exempel ›De quodam presbytero‹ aus dem ›Liber de miraculis‹ (Kap. 9)38 sehr nahe. Der Vergleich zwischen dieser lateinischen Fassung, die wohl in sehr ähnlicher Form beiden volkssprachigen Texten als Quelle diente, und den deutschen Verserzählungen lässt die jeweiligen Akzentsetzungen erkennen, die bei der Übertragung in die Volkssprache vorgenommen wurden. Ein mit geistigen Fähigkeiten wenig begabter Pfarrer führt ein tadelloses Leben und verehrt Maria außerordentlich. Aufgrund seiner Einfalt kann er jedoch nur die Marienmesse Salve sancta parens singen. Als der zuständige Bischof dies erfährt, enthebt er den Pfarrer seiner Ämter und jagt ihn davon. In der folgenden Nacht erscheint Maria dem Bischof im Traum und droht ihm mit einem baldigen Tod, wenn er ihren Kaplan, den einfältigen Pfarrer, nicht wieder in sein Amt einsetze. Dies geschieht sogleich.

Diese Handlungsstruktur ist in der lateinischen und den deutschen Fassungen gleich. Zu Beginn des lateinischen Textes steht der Gegensatz zwischen dem frommen Leben und der Einfalt des Pfarrers: Sacerdos [...] devote Domino serviens, ac honeste vivens, et optimis studiis praeditus, sed litterarum scientia non plene imbutus.39 Dieses Motiv erscheint in den deutschen Texten mit je anderer Akzentsetzung. Im ›Passional‹-Mirakel wird zunächst die Einfalt des Pfarrers als Mangel an uzerre[r] kunst (V. 3) konstatiert, der dann die tugende vernunst (V. 4) und die besondere Liebe des Pfarrers zu Maria (V. 6–9) gegenübergestellt werden. Im ›Einfältigen Pfarrer‹ wird ebenfalls zuerst die Einfalt des Pfarrers erwähnt, die dann mit einer relativ ausführlichen Schilderung des frommen Lebens kontrastiert wird, bei der im Gegensatz zur ›Passional‹-Fassung nicht der Mariendienst, sondern allgemeine christliche Tugenden im Vordergrund stehen: doch anders was sıˆn leben guot: / vil rehte stuont gein gote sıˆn muot. / er was kiusche, und he ˆt er iht, / des barc er vor den armen niht. / sıˆnem volke gienc er vor / als er kunde ˆ uf der sælden spor (V. 535 ff.).

Grundlagen. Forschungen, Editionen und Materialien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (FS Gisela Kornrumpf). Hrsg. von Rudolf Bentzinger/UlrichDieter Oppitz/Jürgen Wolf (ZfdA. Beiheft 18). Stuttgart 2013, S. 315–327. 38 Ausgabe: Liber de Miraculis Sanctae Dei Genitricis Mariae. Published at Vienna in 1731 by Bernard Pez. Hrsg. von Thomas Frederick Crane (Cornell University Studies in Romance Language and Literature 1). Ithaca 1925. Auf den Bezug hat Franz Pfeiffer (Marienlegenden. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1846, S. XIX und 270 f.) hingewiesen. Die Fassung der ›Legenda aurea‹ (Ausgabe: Iacopo da Varazze: Legenda aurea. Hrsg. von Giovanni Paolo Maggioni. 2. Aufl. 2 Bde. (Millennio Medievale 6/3). Florenz 1998, Kap. 127,135–140) weist ebenfalls Ähnlichkeiten mit ›De quodam presbytero‹ und den deutschen Texten auf, ist jedoch knapper gehalten als die Fassung des ›Liber de miraculis‹, was sie als Bezugstext für die deutschen Fassungen unwahrscheinlicher macht. 39 Ein Priester diente Gott mit Andacht, lebte tugendhaft und war von den besten Neigungen erfüllt, aber mit der Wissenschaft nicht besonders vertraut.

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Im lateinischen Text wird der Pfarrer vom erzürnten Bischof als Betrüger der Menschen bezeichnet. Dieser Vorwurf begegnet auch in der breit ausgestalteten Scheltrede des Bischofs im ›Einfältigen Pfarrer‹, nicht jedoch im ›Passional‹Mirakel, wo das Urteil des Bischofs nur in indirekter Rede wiedergegeben ist. Stattdessen wird dort ausführlich berichtet, dass der Pfarrer nicht nur die Erlaubnis verliert, Messe zu lesen, sondern auch wie ein Narr von hus unde hof (V. 34) vertrieben wird und in seiner Not Maria anruft (V. 44 f.). Im ›Passional‹-Mirakel wird also wieder die Bindung des Protagonisten an Maria hervorgehoben; andererseits fördert die Schilderung der Not des Pfarrers die Identifikation des Rezipienten mit dieser Figur. Im ›Einfältigen Pfarrer‹ wird nichts von einer Anrufung Marias gesagt, sondern die desolate Situation des Pfarrers mit einem Ausblick auf seine Rettung kontrastiert: danna ˆn schiet er a ˆne tro ˆst. / von sorgen wart er sıˆt erlost (V. 567 f.). Nach dem Fußfall des Bischofs vor dem Pfarrer, der in allen drei Fassungen enthalten ist, steht im lateinischen Text, der Bischof habe den Pfarrer geehrt und sein Leben lang mit Kleidung und Nahrung versehen. Dieser Versorgungsaspekt erscheint auch im ›Einfältigen Pfarrer‹. Im ›Passional‹-Mirakel fehlt das Motiv, stattdessen sind die Worte des Bischofs breiter ausgestaltet und als direkte Rede formuliert, an deren Anfang der Bischof die Erkenntnis seiner Fehleinschätzung durch die Erscheinung Marias gesteht: dir ist nicht wol geschehen, / als ich mit warheit habe gesehen (V. 71 f.). Nach der Rede wird nicht das weitere Leben des einfältigen Pfarrers, sondern seine Reaktion auf die Rettung durch Maria beschrieben: do wart vro der gute man / und dancte der vrouwen gut (V. 86 f.). Die untenstehende Tabelle zeigt, dass die beiden deutschen Fassungen auch im Detail bzw. bei der Übernahme bestimmter Formulierungen an je anderen Stellen dem lateinischen Text näher stehen: ›De quodam presbytero‹ (›Liber de miraculis‹ 9)

›Salve sancta parens‹ (›Passional‹-Mirakel 8)

›Der einfältige Pfarrer‹ (Exempel aus den ›150 Mariengrüßen‹)

Ob hoc a clericis apud episcopum accusatus est40

Diz mere wart von im so breit, daz ez der bischof vernam (V. 20 f.)

wan im des amptes sus gebrast, dem bischove er gerüeget wart (V. 548 f.)

episcopus interrogabat: si verum esset, quod de eo audierat? Qui respondit ei, verum esse41

do ˆ vraˆgte in der bischof saˆ ›sage, ist ez waˆr?‹ do ˆ spraˆch er ›jaˆ, herre, leider, ez ist waˆr.‹ (V. 551 ff.)

40 Deswegen wurde er von den Klerikern beim Bischof angeklagt. 41 Der Bischof fragte, ob es wahr sei, was er von ihm gehört habe. Er antwortete ihm, es sei wahr.

102 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Ad hoc episcopus furore commotus, dicens eum seductorem hominum esse42

sinen zorn er wante uf in mit harte grozer craft: alle siner pristerschaft hiez er in gentzlich vri wesen (V. 24 ff.)

Reversus vero presbyter ad domum suam tristabatur propter missae privationem43

Der prister, der gute man, daz tet dem armen manne weˆ. wart vil leidic und unvro, dannaˆn schiet er aˆne tro ˆst daz er verstozen was also (V. 566 f.) von alle sime gemache (V. 40 ff.)

Hac visione tremefactus episcopus surrexit concitus44

den bischof wart di angest iagen, Der bischof su ˆ mte sich niht meˆ daz er da von erwachte. zuhant (V. 578) er sich uf machte (V. 66 ff.)

Deinde praecepit, ut nunquam alteram missam cantaret, nisi eam, quam de Sancta Maria cantare solitus erat45

daz ich dir nu gebiete: er hiez in singen unde lesen von disme tage vurbaz als er vor gepflegen haˆt saltu behalden immer daz, (V. 582 f.) des ich dich gar wil vrien, daz du di schonen Marien erest mit der messe allein vur di andern gemein, als du biz her hast getan (V. 78 ff.)

Ex tunc vero presbyterum magnifice honorabat, quem etiam pro Dei amore et Sanctae Genitricis, quamdiu vixit, et vestivit et aluit46

do wart vro der gute man und dancte der vrouwen gut, daz si in hete wol behut an erbe und an dem amte sin (V. 86 ff.)

do ˆ wart der bischof missevar; von gro ˆzem zorne daz geschach. mit unmuote er zuo im sprach ›r trügenaere gar verlogen, ir habt got unt die werlt betrogen (V. 554 ff.)

er gap im spıˆse unde waˆt die wıˆle er lebte. alsus fuor er (V. 584 f.)

Die Spezifik der deutschen Texte, die sich im Vergleich mit dem lateinischen Referenztext zeigt, weist Verbindungen zu ihrer jeweiligen Einbettung in einen bestimmten literarischen Kontext auf. So steht das ›Passional‹-Mirakel in einer Reihe von Marienmirakeln, in denen die Marienverehrung der Protagonisten eine zentrale Rolle spielt. Gerade die Darstellung einer emotionalen Beziehung zu Maria, die sich in den Hilferufen und dem Dank des Pfarrers spiegelt, ist typisch für diese Texte. Da es sich um eine Reihung ähnlich perspektivierter Erzählungen

42 Darauf sagte der Bischof im Zorn, er betrüge die Menschen. 43 Der Priester kehrte nach Hause zurück und war traurig darüber, dass er keine Messe mehr halten durfte. 44 Durch diese Vision erschreckt, stand der Bischof sogleich auf. 45 Danach ordnete er an, dass er niemals eine andere Messe singen solle als diejenige, die er von der heiligen Maria zu singen gewohnt war. 46 Von da an ehrte er den Priester sehr, den er – um der Liebe Gottes und seiner heiligen Mutter willen – sogar kleidete und ernährte, solange er lebte.

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handelt, sind diskursive Partien auf ein Minimum beschränkt. Der einzige Kommentar zum Erzählten ist die stereotype Formel des si gelobet di kunigin (V. 90), die am Ende aller ›Passional‹-Marienmirakel steht. Der ›Einfältige Pfarrer‹ steht zwar ebenfalls in einem marianischen Kontext, aber nicht in einer Reihe von Erzählungen. Die ›150 Mariengrüße‹ umfassen drei 50er-Blöcke von Mariengrüßen zu je vier Versen, die jeweils mit einem Grußwort beginnen (Wis gegrüezet, Vrewe dich, Hilf uns). Den Grüßen sind ein Prolog und ein Epilog voran- bzw. nachgestellt, und zwei narrative Texte bilden die Brücken zwischen den GrußBlöcken. Der erste narrative Text ist eine Nacherzählung von 1 Reg 18,41–46 (Beendigung der dreijährigen Dürre durch Elias’ Gebet). Die Wolke wird dabei als Symbol für Maria, der Regen als Symbol für Christus gedeutet. Der zweite narrative Text ist der ›Einfältige Pfarrer‹. Der eigentlichen Erzählung ist ein Prolog von zehn Versen vorangestellt, in dem der Verfasser sich auf eine schriftliche Quelle mit Marienmirakeln beruft, die zeigen, wie Maria kan lo ˆnen ˆ uf daz ort / dem der ir dienstes ist bereit (V. 528 f.). Dieser Lohn wird in der Geschichte des ›Einfältigen Pfarrers‹ exemplarisch vorgeführt. Am Ende bezieht der Erzähler das durch das Exempel Gezeigte auch auf die Rezipienten: diu reine maget uns gewer / daz wir ir solhen dienest geben / da ˆ von wir ˆ eweclıˆchen leben (V. 586 ff.),47 um dann mit dem dritten Block von Mariengrüßen weiterzufahren, deren Lektüre und Mitvollzug als ebendieser Mariendienst verstanden wird, den Maria belohnen wird. Natürlich stellen nicht alle Unterschiede zwischen den beiden deutschen Fassungen zwingend eine bewusste und dadurch bedeutungstragende Auswahl der deutschsprachigen Verfasser bei der Bearbeitung der lateinischen Quelle dar; sie können auch durch leicht abweichende lateinische Bezugstexte oder die Art der Vermittlung dieser Bezugstexte (mit)bedingt sein. Dennoch lassen sich die Spezifik der deutschen Fassungen und ihr Verhältnis zueinander mithilfe des lateinischen Referenztextes deutlicher konturieren. 2.3.2 Enge Verwandtschaft ohne direkte Bezugnahme: Siegfrieds des Dörfers ›Frauentrost‹ Vom Erzählstoff der verzweifelten Frau, die sich erhängen will und von Maria gerettet wird, ist neben der deutschen Verserzählung ›Der Frauentrost‹ Siegfrieds des Dörfers eine lateinische Fassung erhalten: das Exempel ›Quidam erat miles dives‹.48 Die beiden Texte sind etwa gleichzeitig, in Handschriften der ersten Hälf-

47 Die Formulierung erinnert an den Schluss der lateinischen Fassung, dort allerdings auf den Protagonisten bezogen: Sic Beata DEI Genitrix sacerdotem sibi servientem [...] postea defunctum ad vitam aeternam suis meritis introduxit (So führte die heilige Gottesmutter den Priester, der ihr diente, nach seinem Tod zum ewigen Leben, wie er es verdiente). 48 Zum ›Frauentrost‹ vgl. Kap. II.1.1. Das lateinische Exempel steht in der Handschrift London,

104 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 te des 14. Jahrhunderts, überliefert. Die enge Verwandtschaft der beiden Fassungen49 führte zu wiederholten Versuchen, ihr Verhältnis genauer zu bestimmen. So ist Margaret Howie der Ansicht, das lateinische Exempel sei die Vorlage Siegfrieds des Dörfers gewesen.50 Die Abweichungen erklärt sie mit einer freien Bearbeitungsweise des deutschsprachigen Verfassers, was aber an vielen Stellen nicht überzeugen kann, denn die Anlage der beiden Texte lässt eine umgekehrte Bearbeitungsrichtung (deutscher Text als Vorlage des lateinischen) als ebenso möglich (und ebenso unbeweisbar) erscheinen.51 Edward Schröder nimmt dagegen an, dass der ›Frauentrost‹ und das lateinische Exempel nicht direkt voneinander abhängig seien und postuliert für das Exempel eine andere deutsche Vorlage.52 Dies begründet er damit, dass der Verfasser des Exempels deutsche Worte in den lateinischen Text eingeflochten hat, die kein Zitat aus dem ›Frauentrost‹ sind: Nachdem der Ritter im Exempel an einem Feiertag die aus der Kapelle kommende Frau niedergeschlagen hat, verfällt sie in Verzweiflung (diese Szene fehlt im ›Frauentrost‹): dum ad se reuersa fuisset, statim alta voce clamauit: ach et we, dicens: sunt iste remuneraciones quas habeo pro seruicio beate virginis?53 Wegen dieser zwei Wörter eine (schriftliche) deutsche Vorlage des Exempels anzusetzen, scheint mir allerdings etwas voreilig. Die mittelmäßige sprachliche Qualität des lateinischen Exempels deutet ebenso wie seine Überlieferung darauf hin, dass der Verfasser deutscher Muttersprache war,54 und es ist gut vorstellbar, dass er in seinen lateinischen Text deutsche Interjektionen eingefügt hat, ohne dafür eine deutsche Vorlage zu benötigen.

BL, Arundel 506 (1. Hälfte 14. Jahrhundert, aus dem Kloster St. Michael bei Mainz), Nr. 137, Bl. 26ra–27ra (vgl. Catalogue of Romances III, S. 551). Ausgabe: Margaret D. Howie: Studies in the use of exempla, with special reference to Middle-High-German Literature. Diss. London 1923, S. 118–121. 49 S. die Vergleichstabelle bei Howie: Studies, S. 43 f. 50 Vgl. Howie: Studies, S. 43–45, 75. 51 Gegen die Annahme, das lateinische Exempel sei die direkte Quelle der deutschen Verserzählung gewesen, spricht v.a. die Gestaltung der zweiten Begegnung der Frau mit Maria, s. unten. Nimmt man jedoch an, der deutsche Text sei die Quelle des lateinischen Exempels gewesen, wären die Reduktion der Erscheinung und die Ersetzung des Ehebruchs durch die Turnierfahrten eher erstaunlich. 52 Edward Schröder: Rezension zu Margaret D. Howie: Studies in the use of exempla, with special reference to Middle-High-German Literature. AfdA 43 (1924), S. 98. 53 Sobald sie wieder zu sich kam, schrie sie mit lauter Stimme: »Ach und weh!«, und sagte: »Ist das die Belohnung, die ich für den Dienst an der heiligen Jungfrau bekomme?« 54 Als Beispiel kann folgender Satz dienen, hinter dem die deutsche Syntax hervorscheint: Maledicti sint anni in quibus in maxima miseria vixi, et omnia bona que feci in elemoisinis et ieiuniis penitent me fecisse (Verflucht seien die Jahre, in denen ich im größten Elend lebte; und alles Gute, was ich mit Almosen und Fasten getan habe, reut mich).

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Bei diesen Versuchen, das Verhältnis zwischen den beiden Fassungen zu klären, handelt es sich um Hypothesen, die zwar denkbar, aber nicht beweisbar sind. Eine überzeugende Bestimmung des Verhältnisses scheint mir nur aufgrund der erhaltenen Texte nicht möglich zu sein, da sie den Tradierungsweg des Erzählstoffes nur punktuell und bruchstückhaft repräsentieren. Der Versuch, das Verhältnis durch die (Re-)konstruktion hypothetischer Zwischen- und Vorstufen zu bestimmen (wie Schröder dies tut), muss reine Spekulation bleiben. Was dagegen durch den Vergleich der beiden Fassungen gewonnen werden kann, ist ein aussagekräftiges Bild ihres je spezifischen Profils, das sich in der unterschiedlichen Akzentuierung des Erzählstoffs zeigt. Das lateinische Exempel beginnt mit der Beschreibung des Anwesens, das der Ritter besitzt, wobei ein Baumgarten, Teiche und eine Kapelle genannt werden. Im Gegensatz zum deutschen Text, in dem gar keine Kapelle erwähnt wird, kommt dieser im lateinischen Exempel eine zentrale Rolle zu. In ihr werden kaum je Messen gefeiert, weil der Ritter gottlos ist – seine Frau dagegen ist multum devota beatae virgini55 und liest in der Kapelle den Psalter. Die Frömmigkeit der Frau ist der Grund für die Misshandlungen durch den Ehemann, der nichts anderes tut als in tornamentis ludere et mala verba dicere.56 Diese Zusammenstellung von Turnier und Fluchen macht deutlich, dass auch ersteres negativ zu verstehen ist. Ganz anders sieht die Exposition bei Siegfried dem Dörfer aus: Dort wird nicht die Anlage des Anwesens beschrieben, sondern betont, dass der Ritter in einem Dorf lebt (V. 19–26). Die Ehefrau wird dann als schöne und tugendhafte Dame beschrieben, die ganz ohne Grund (von iren schulden kwam ez niht, V. 37)57 von ihrem Ehemann misshandelt wird. Von einer besonders ausgeprägten Frömmigkeit der Frau ist zunächst nicht die Rede. Das schlechte Leben des Ritters manifestiert sich in der deutschen Erzählung nicht in Turnierfahrten und bösen Reden, sondern in dem von ihm wiederholt begangenen Ehebruch (V. 49 f., 112–118). Diese Abweichung ist bedeutungsvoll, da der ganze Erzählstoff bei Siegfried in einer ehedidaktischen Perspektive betrachtet wird. Der Ritter ist nicht primär ein schlechter Mensch, sondern vorrangig ein schlechter Ehemann – die Frau ist dementsprechend nicht primär eine besonders fromme Frau, son-

55 Die Frau verehrt Maria sehr. 56 Der Ritter tut nichts anderes als an Turnierspielen teilnehmen und schlechte Reden führen (fluchen). 57 Diese Formulierung findet sich auch im lateinischen Exempel, dort wird jedoch ergänzt, dass die ›Schuld‹ der Frau in den Augen des Mannes ihre Frömmigkeit ist: et hoc sine aliqua culpa; uxor nichil aliud fecit nisi quod intravit capellam et conquista fuit beatae virgini (Und dies ohne jede Schuld. Die Ehefrau tat nichts anderes, als dass sie in die Kapelle ging und von der heiligen Jungfrau für sich eingenommen wurde).

106 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 dern vor allem eine gute Ehefrau. Dies wird in verallgemeinernden diskursiven Einschüben des Erzählers reflektiert (V. 56–64). Die Frömmigkeitsübungen der Frau stehen daher nicht für sich, sondern werden in einen direkten Zusammenhang mit dem schlechten Verhalten des Mannes gestellt: An irem gebet [si] dikke was / und den salter überlas / Vür des mannes misseta ˆt (V. 67 ff.). Während im lateinischen Exempel die Frömmigkeit der Frau den Zorn des gottlosen Ritters hervorruft, ist sie in der deutschen Erzählung gewissermaßen eine Reaktion auf die grundlose Boshaftigkeit des schlechten Ehemannes. Im lateinischen Exempel wird dann berichtet, dass die Frau, nachdem sie lange Zeit die Misshandlungen des Mannes ertragen hat, ohne dass ihre Gebete erhört wurden, quasi in desperationem lapsa est.58 Das Verhalten der Frau wird in die theologische Kategorie der Desperatio als Vergehen eingeordnet, das sich nicht nur in der Selbstmordabsicht äußert, sondern auch darin, dass die Frau vor der geplanten Selbsttötung in die Kapelle geht und eine blasphemische Schmährede an Maria hält. Danach sucht sich die Verzweifelte einen Baum, an dem sie sich erhängen will – am Fuß dieses Baumes sieht sie eine pulcherrima domina,59 der sie in ihrem Zorn androht, sie zu verprügeln, wenn sie nicht weggehe. Die Frau sucht sich einen anderen Baum aus, doch dort begegnet sie wieder der schönen Dame, die sich dann als mater Christi60 zu erkennen gibt. Die Frau fällt ihr zu Füßen, bittet um Vergebung ihrer Sünden und um eine angemessene Buße. Maria befiehlt ihr, in die Kapelle zu gehen, dort werde ihr eine Buße aufgetragen. Die Erscheinungsszene ist in den beiden Fassungen also sehr unterschiedlich gestaltet. In der lateinischen Fassung ist der Ausgangs- und Endpunkt die Kapelle: Dort schmäht die Frau Maria, dorthin wird sie zurückgeschickt, um Buße zu empfangen. Maria erscheint ihr nur zweimal, und zwar beide Male am Fuß eines Baumes im Garten. Das zentrale Element im Gespräch zwischen der Frau und Maria ist die Bitte um eine angemessene Buße für die begangenen Sünden: die Selbstmordabsicht und die Blasphemie. In der deutschen Erzählung dagegen wird der Entschluss der Frau, sich zu töten, psychologisch differenzierter eingeleitet: Der Erzähler erklärt, dass für jemanden, der lange Zeit standhaft gelitten hat, das Leid plötzlich zuviel werden könne und dann nicht mehr zu ertragen sei (V. 119–130). Zwar wird der Entschluss zum Selbstmord wie im lateinischen Exempel als Einflüsterung des Teufels gedeutet (V. 147–152), aber durch die vorhergehende psychologische Plausibilisierung des Verhaltens erscheint die Frau eher als bemitleidendeswerte Identifikationsfigur denn als Rasende wie im lateinischen Text. Dazu trägt auch der Kommentar zum Wegwerfen der Schlüssel

58 Sie verfiel in eine Art Verzweiflung. 59 Eine äußerst schöne Dame. 60 Mutter Christi.

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bei. Der Erzähler stellt diese Handlung als verständliches kleinez rechelıˆn (V. 166) der Frau an ihrem Mann dar, denn: sust kunde si sich rechen, / Daz guote wıˆp, und anders nicht (V. 176 f.). Vor der Ausführung der Tat überquert die Frau den Kirchhof, wo sie sich vor einem Marienbild verneigt und noch einmal ihr Leid klagt. Diese Klage enthält zwar einen Vorwurf wegen der ausbleibenden Hilfe, ist aber weit entfernt von der blasphemischen Schmährede der Verzweifelten im lateinischen Exempel. Die erste Begegnung mit Maria ist im deutschen Text nicht genau lokalisiert. Der Rezipient erfährt bereits zu diesem Zeitpunkt die Identität der fremden Frau, während er im lateinischen Text erst gleichzeitig mit der Frau darüber in Kenntnis gesetzt wird. Auch im Dialog mit Maria wird deutlich, dass die todeswillige Frau in der deutschen Erzählung zwar ungehalten, aber eben nicht rasend ist: Sie weist die fremde Frau unfreundlich ab, droht ihr aber nicht mit Prügel. Der ersten Begegnung folgen im deutschen Text eine zweite vor dem Tor zum Baumgarten und eine dritte am Fuß des Baumes, wo Maria erscheint, obwohl die Frau das Tor zum Baumgarten versperrt hatte.61 Im darauffolgenden Gespräch bittet die Frau Maria um Beistand und Hilfe, nicht um Vergebung der Sünden und Buße. Maria verspricht ihr denn auch, sie werde in der Kemenate eine hilfreiche Lehre erhalten. Diese ganz andere Akzentuierung findet ihre Erklärung zwar teilweise darin, dass die Frau im deutschen Text sich tatsächlich weniger hat zuschulden kommen lassen (keine Desperatio und Blasphemie), aber wahrscheinlich liegt der Hauptgrund in der Intention des Erzählers, die Rezipienten mittels Identifikation an der Gnade der Transzendenzerfahrung teilhaben zu lassen. Diese Erfahrung nämlich verändert die Einstellung der Frau so grundsätzlich, dass eine Buße ›überflüssig‹ wird. Eine solche Auffassung ist aus theologischer Sicht zwar bedenklich, für volkssprachige geistliche Erzählungen aber nicht untypisch.62

61 Dieses Motiv klingt auch im lateinischen Exempel an. Bei der zweiten Begegnung fragt die Frau Maria nämlich: quomodo potuistis vos per muram ita celeriter transire? (Wie konntet Ihr so schnell durch die Mauer hindurchgehen?). Da im Exempel allerdings beide Begegnungen innerhalb des Baumgartens (am Fuß unterschiedlicher Bäume) stattfinden, liegt in dieser Frage ein handlungslogischer Widerspruch. An dieser Stelle ist also möglicherweise eine Spur einer anderen Fassung des Erzählstoffs greifbar, auf die sich das lateinische Exempel bezieht, und in der eine (zusätzliche?) Begegnung vor der Mauer des Baumgartens, wie sie in der deutschen Fassung enthalten ist, gestanden haben muss. Dies kann als Indiz für die Unabhängigkeit der deutschen Verserzählung von der erhaltenen lateinischen Fassung gewertet werden, erlaubt aber keine konkreten Rückschlüsse auf Vor- oder Zwischenstufen. 62 So steht etwa auch im ›Armen Heinrich‹ die Wandlung der inneren Einstellung des Protagonisten im Vordergrund. Ein anderes Beispiel, in dem die theologische Bewertung eines Erzählstoffs sich auch innerhalb der lateinischen Tradition im Lauf der Zeit verändert hat, ist der ›Ritter in der Kapelle‹, vgl. Kap. VI.3.1.

108 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 In der darauffolgenden Szene der Begegnung mit dem Christusbild steht im lateinischen Text wiederum die Bußthematik im Vordergrund. Die Frau bittet um Buße, und Christus vergibt ihr ihre Sünden nur wegen der Intercession Marias (ex quo mater mea pro te rogavit).63 Das Christusbild befindet sich am zentralen Ort des lateinischen Exempels, in der Kapelle, und wird detailliert beschrieben. Seine physische Präsenz wird stärker betont als im deutschen Text, denn nach dem Verschwinden des Bildes bleiben die Blutstropfen an der Wand zurück. Diese Spur der Präsenz des Transzendenten wird von der Frau mit den Blumen geschmückt, die ihr das heimkehrende Gesinde bringt. Der zurückgekehrte Ritter wird nicht durch die bloße Erzählung der Frau, sondern auch durch den Anblick der Blutstropfen in der Kapelle bekehrt. Im deutschen Text steht bei der Begegnung der Frau mit Christus dagegen wieder die Bitte um Hilfe und Trost im Zentrum; die Frau wird in ihrer veränderten Einstellung bestärkt und bewirkt durch ihr Verhalten und die Erzählung des Erlebten die Konversion des Ehemannes. Die Versöhnung des Paares und das folgende glückliche Eheleben werden – der Fokussierung auf die Ehedidaxe entsprechend – ausführlich geschildert (V. 605–615). Erst danach wird auch das fromme Leben des Ehepaars thematisiert (V. 616–623). Die unterschiedliche Akzentuierung des Erzählstoffes in diesen beiden Fassungen steht möglicherweise auch im Zusammenhang mit ihren Entstehungsund Tradierungskontexten. Das lateinische Exempel ist in einer Sammelhandschrift mit anderen Exempla und theologischen Texten überliefert. Ein Besitzeintrag weist das Kartäuserkloster St. Michael in Mainz als Vorbesitzer aus. Das Exempel wurde also in einem klerikalen Kontext rezipiert (und ist wahrscheinlich auch in einem solchen Kontext entstanden), in dem vor allem eine theologisch schlüssige Darstellung des Stoffes interessierte. Für das wohl primär laikale Publikum Siegfrieds des Dörfers hingegen stand der emotionale Nachvollzug des Geschehens anhand einer Identifikationsfigur im Vordergrund. Auch die Betonung der Ehedidaxe passt in diesen Kontext. Zwar lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob etwa die Betonung der Ehedidaxe nur in der Fassung Siegfrieds des Dörfers anzutreffen und auf den volkssprachigen Verfasser zurückzuführen sei. Aber der lateinische Referenztext zeigt, dass diese Dimension bei der Gestaltung des Erzählstoffs nicht zwingend berücksichtigt werden musste und gibt ihrer Präsenz in Siegfrieds Fassung daher mehr Gewicht.

63 Deswegen hat meine Mutter Fürbitte für dich geleistet.

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2.3.3 Verschiedene Ausformungen eines Erzählstoffs: ›Marien Rosenkranz‹ Der am häufigsten anzutreffende Fall bei geistlichen Verserzählungen ist derjenige, dass alle zentralen Motive des Stoffs in verschiedenen (lateinischen) Fassungen vorhanden sind, der Stoff also allgemein bekannt und im literarischen Referenzrahmen verankert ist, aber keine engere Verwandtschaft zwischen den einzelnen Ausformungen festgestellt werden kann. Dies trifft etwa auf den Erzählstoff ›Marien Rosenkranz‹ zu, der u. a. in zwei deutschen Verserzählungen des 13. Jahrhunderts greifbar ist: dem ›Passional‹-Mirakel 21 (464 V.) und ›Marien Rosenkranz II‹64 (360 V.). Ein schlechter Schüler hat die Gewohnheit, einem Marienbild jeden Tag einen Kranz aus Blumen oder Blättern zu flechten. Später tritt er in den Zisterzienserorden ein. Wegen seiner klösterlichen Verpflichtungen kann er nun keine Blumen mehr suchen. Als er darüber weint, tröstet ihn ein alter Mönch und schlägt ihm vor, statt der Blumenkränze jeden Tag einen aus Ave-Gebeten bestehenden Kranz zu flechten. Der Jüngling wird zu einem vorbildhaften Mönch, erhält ein Amt und muss eines Tages wegen eines Geschäftes ausreiten. Im Wald spricht er seinen Ave-Kranz. Dies beobachten ein paar Räuber. Sie sehen, wie eine wunderschöne Frau erscheint und bei jedem Gebet Rosen aus dem Mund des Mönches pflückt, diese zu einem Kranz flicht und damit verschwindet. Die Räuber bedrohen den Mönch und zwingen ihn, zu erzählen, wer die Frau war. Da erkennt der Mönch, dass Maria erschienen ist – er hat sie selbst nicht gesehen – bekehrt Räuber und nimmt sie mit in sein Kloster.

Joseph Dobner hat acht erhaltene lateinische und einige volkssprachige Fassungen des Stoffes ermittelt,65 die sich in zwei Gruppen einteilen lassen. Erste Gruppe: – Paris, BNF, Ms. lat. 18134 (lat. Prosa, Ende 13. Jahrhundert) – London, BL, Add. 16589 (lat. Prosa, Ende 13. Jahrhundert) – London, BL, Royal 11 B. III (lat. Prosa, frühes 14. Jahrhundert) – München, BSB, Clm 26716 (lat. Prosa, 14. Jahrhundert) – ›Passional‹-Mirakel 21 ›Marien Rosenkranz‹ (dt. Verse, spätes 13. Jahrhundert) – ›Marien Rosenkranz II‹ (dt. Verse, 13. Jahrhundert)

64 Vgl. Joseph Dobner: Die mittelhochdeutsche Versnovelle Marien Rosenkranz. Leipzig 1928. Vgl auch Hildegard Elisabeth Keller: Rosen-Metamorphosen. Von unfesten Zeichen in spätmittelalterlichen Texten. Heinrich Seuses ›Exemplar‹ und das Mirakel ›Marien Rosenkranz‹. In: Der Rosenkranz. Andacht – Geschichte – Kunst. Hrsg. von Urs-Beat Frei/Fredy Bühler. Bern 2003, S. 49–67, bes. S. 61–63. 65 Tubach 4809. Vgl. Dobner: Marien Rosenkranz, S. 28–43, Abdruck der lat. und französischen Fassungen S. 60–68. Die Tatsache, dass der Stoff in den bekanntesten Sammlungen fehlt, erklärt Dobner mit kirchengeschichtlichen Argumenten: Das Rosenkranzgebet habe erst im 13. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen (Marien Rosenkranz, S. 44).

110 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 – –

›Nürnberger Marienbuch‹, Nr. 53 (dt. Prosa, um 1400) Jakob Sprenger: ›Vorrede zur Kölner Rosenkranzbruderschaft‹ (dt. Prosa, 2. Hälfte 15. Jahrhundert) – Jean Mie´lot: Miracles de Notre Dame, Nr. 45 (französische Prosa, Mitte 15. Jahrhundert) Die erste Gruppe ist von einer strukturellen Doppelung geprägt. Am Anfang wird ein Jüngling (Schüler, junger Mönch) vorgestellt, der Maria dadurch verehrt, dass er für ein Marienbild jeden Tag einen Kranz aus Blumen flicht. An dieser guten Gewohnheit wird er später gehindert (wegen seines Klostereintritts oder wegen der Jahreszeit). Er ersetzt daraufhin aus Eigeninitiative oder auf Rat des Abtes bzw. eines anderen Mönches den Blumenkranz durch einen Gebetskranz. Damit ist der erste Handlungsteil abgeschlossen. Der zweite Teil – meist zeitlich später angesiedelt – berichtet, wie der Mönch/Jüngling ausreitet, im Wald auf einen oder mehrere Räuber trifft und nur deshalb verschont bleibt, weil der/die Räuber nun sehen, wie aus den gesprochenen Ave-Gebeten wiederum tatsächliche Rosen werden. Zweite Gruppe: – London, BL, Egerton 1117 (lat. Prosa, Ende 13. Jahrhundert) – London, BL, Add. 33956 (lat. Prosa, Ende 13. Jahrhundert) – ›Liber exemplorum‹, Nr. 55 (lat. Prosa, 13. Jahrhundert) – München, BSB, Clm 5927 (lat. Prosa, Anfang 14. Jahrhundert) – Berlin, Staatsbibl., Mgf 863, Nr. B 506 (dt. Prosa, 1. Hälfte 15. Jahrhundert) – Berlin, Staatsbibl., Mgo 222, Marienmirakel 16 (dt. Prosa, 2. Hälfte 15. Jahrhundert) Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um eine Art Kurzfassung, die den ersten Handlungsteil weglässt. Die Gewohnheit des Mönchs, eine bestimmte Anzahl von Ave-Gebeten zu sprechen, wird nicht erklärt. Dadurch entfällt auch die Begründung für das Motiv, dass Maria Rosen aus dem Mund des Betenden pflückt. Die Versionen des ›Liber exemplorum‹ und von London, BL, Add. 33956 setzen sogar erst mit dem Ritt des Mönchs durch den Wald ein. Es ist charakteristisch für die Komplexität der Tradierungswege geistlicher Erzählstoffe, dass die beiden Grundausformungen des Stoffes etwa gleichzeitig in (erhaltener) schriftlicher Form auftreten und nebeneinander weitertradiert werden. Die beiden deutschen Verserzählungen gehören aufgrund ihrer Doppelstruktur zur ersten Gruppe und stehen innerhalb dieser Gruppe den Versionen von Paris, BNF, Ms. lat. 18134 und London, BL, Add. 16589 am nächsten. Sie weisen jedoch auch Gemeinsamkeiten untereinander auf, die in keiner anderen erhaltenen Fassung begegnen.

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Zu Beginn der Geschichte wird der Protagonist in den deutschen Erzählungen als lernunfähiger (›Passional‹-Mirakel) bzw. lernunwilliger (›Marien Rosenkranz II‹) Schüler dargestellt. Die Gewohnheit des Blumenkranzflechtens hebt sich also positiv gegenüber seinem sonstigen Leben ab. Erst im Kloster nimmt er an Verstand zu bzw. bessert sich. Diese erste Wandlung des Protagonisten ist sonst nirgends bezeugt. In der Fassung der Handschrift London, BL, Add. 1658966 wird der Protagonist am Anfang zwar auch als scolaris bezeichnet, wird aber im Gegensatz zu den deutschen Verstexten, die ihm herten mut, stumpfen sin (›Passional‹-Mirakel, V. 11) bzw. wildikeit (›Marien Rosenkranz II‹, V. 40) attestieren, als Musterknabe (puer etate, senex autem moribus)67 charakterisiert. Die abweichende Figurenzeichnung der deutschen Verstexte könnte dazu dienen, die große Bedeutung eines geringen Mariendienstes selbst bei ansonsten nicht vorbildlichem Leben in den Vordergrund zu stellen.68 Bei der Begegnung mit den Räubern lässt sich jedoch auch ein Unterschied zwischen den beiden Verserzählungen feststellen: Im ›Passional‹-Mirakel betet der Protagonist unterwegs seinen Gebetskranz, in ›Marien Rosenkranz II‹ kommt er dagegen im Wald auf den Gedanken, wie früher einen Kranz aus echten Blumen zu flechten, wobei er auch seine fünfzig Ave Maria spricht. Dies stellt eine Inkonsequenz dar, denn in dieser Szene geht es ja gerade darum, dass die Gebete durch Marias Einwirkung in den Augen der Räuber wieder zu materiellen Blumen werden – eine Doppelung mit vom Protagonisten gepflückten materiellen Blumen vermindert den Reiz des Motivs. Die beiden deutschen Verserzählungen bilden vor dem Hintergrund der anderen erhaltenen Fassungen des Erzählstoffs einen eigenen Tradierungsstrang, unterscheiden sich aber gleichzeitig in einigen motivischen Details und in der sprachlichen Umsetzung stark voneinander. Wie beim ›Frauentrost‹ wurde auch bei den beiden Fassungen von ›Marien Rosenkranz‹ in der älteren For-

66 Vgl. Dobner: Marien Rosenkranz, S. 66. 67 Ein Knabe hinsichtlich des Alters, ein Greis aber hinsichtlich der Sitten. 68 Diese Tendenz lässt sich in vielen ›Passional‹-Mirakeln beobachten, etwa im ›Gehängten Dieb‹, dem ›Ertrunkenen Glöckner‹, oder, in einem extremen Fall, in ›Maria rettet einen Ritter um seiner Frau willen‹ (vgl. auch Kap. IV.2.3.). Einfältige Marienverehrer werden in ›Salve sancta parens‹ und ›Ave Maria-Lilie‹ dargestellt. Eine weitere Abweichung der beiden deutschen Texte von anderen Fassungen ist die Einführung der Figur des alten Mönchs, der dem Protagonisten empfiehlt, einen Gebetskranz zu machen. Dieses Motiv stellt erneut die Einfalt des Protagonisten heraus und geht damit in eine ähnliche Richtung wie das Motiv des schlechten Schülers. Bei Jean Mie´lot rät der Abt dem jungen Mönch, den Kranz im Winter mit Gebeten zu flechten. Da es sich hierbei aber um eine Sammlung aus dem 15. Jahrhundert handelt, kann kein Einfluss auf die deutschen Verstexte angenommen werden. In Jakob Sprengers ›Vorrede zur Kölner Rosenkranzbruderschaft‹ findet sich ebenfalls das Motiv, dass der Jüngling den Rat von seinem geistlichen Vater bekommt.

112 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 schung versucht, ihr genaues Verhältnis zu bestimmen. Dobner war der Ansicht, dass ›Marien Rosenkranz II‹ die Priorität zukomme und das ›Passional‹-Mirakel 21 möglicherweise von ›Marien Rosenkranz II‹ beeinflusst worden sei.69 Die Argumente Dobners sind jedoch nicht zwingend; seine stilistischen Beurteilungskriterien sind stark von einer modernen Literaturästhetik geprägt und seine Argumentation zielt vor allem darauf ab, den von ihm herausgegebenen Text als den älteren zu profilieren. Franz Pfeiffer, der Herausgeber der ›Passional‹Marienmirakel, hielt dagegen ›Marien Rosenkranz II‹ für eine »Ueberarbeitung«70 des ›Passional‹-Mirakels, ohne dafür Gründe zu nennen. Ich halte eine direkte Bezugnahme der beiden deutschen Texte aufeinander auf einem schriftlichen Tradierungsweg für sehr unwahrscheinlich – dazu sind die Unterschiede zu groß. Dass ein Verfasser den anderen Text vom Hörensagen kannte, ist nicht auszuschließen, aber auch nicht zu beweisen. Der Vergleich mit den lateinischen Fassungen erlaubt besonders beim ›Passional‹-Mirakel 21 eine genauere Konturierung, da er die Bedeutung des Motivs des schlechten Schülers erkennbar macht. 2.3.4 Kombinationen verschiedener Erzählstoffe: ›Der verlorene Sohn‹ und ›Zeno‹ Während bei den bisher behandelten Fällen jeweils ein klar umrissener Erzählstoff im Zentrum steht, lassen sich bei einigen geistlichen Verserzählungen auch Kombinationen unterschiedlicher Erzählstoffe und -motive beobachten. Dabei ist zu fragen, welche neuen Akzente die volkssprachigen Erzählungen durch die Kombination gegenüber den ursprünglichen Erzählstoffen setzen. Die Erzählung vom ›Verlorenen Sohn‹ (938 V., 14. Jahrhundert?)71 wurde oft als widersprüchlich, heterogen und hybrid bezeichnet – was in der älteren Forschung meist mit einem negativen Urteil einherging, während erst in jüngster Zeit auch positivere Einschätzungen geäußert wurden.72

69 Vgl. Dobner: Marien Rosenkranz, S. 28, 50–57. Allerdings zieht Dobner auch die Möglichkeit einer gemeinsamen lateinischen Vorlage und ev. einer zusätzlichen geringen Mitbeeinflussung durch den anderen deutschen Text in Betracht, vgl. S. 56 f. 70 Marienlegenden (Pfeiffer), S. XVI. 71 Vgl. Hartmut Beckers: Der verlorene Sohn. In: 2VL 10 (1999), Sp. 288–290. Ausgabe: Loek Geeraedts: Die Stockholmer Handschrift Cod. Holm. Vu 73 (Valentin vnde Namelos, De verlorne sone, Flos vnde Blankeflos, Theophelus, ›Die Buhlschaft auf dem Baume‹, De deif van brugghe, De segheler). Edition und Untersuchung einer mittelniederdeutschen Sammelhandschrift (Niederdeutsche Studien 32). Köln/Wien 1984, S. 183–205. 72 Vgl. G[errit] J[an] Dieperink: Literarische Wanderwege im Gebiet der Hanse. Niederdeutsches Jahrbuch 65/66 (1939/40), S. 106–117, hier S. 113–115; Hartmut Beckers: Mittelniederdeutsche Literatur – Versuch einer Bestandesaufnahme. Niederdeutsches Wort 17 (1977), S. 1–58, hier

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Ein vorbildhafter Ritter und seine Ehefrau sind kinderlos. Als der Ritter an einem Weihnachtsabend von einer einjährigen Turnierfahrt heimkehrt, begehrt er des Nachts seine Frau. Dreimal erscheint ein Licht, und eine Stimme warnt, ein jetzt gezeugtes Kind müsse auf ewig verdammt sein. Trotz dieser Warnung und der Bitten der Frau zeugt der Ritter in dieser Nacht ein Kind. Als der Knabe acht Jahre alt ist, stirbt der Vater. Im Alter von 18 Jahren wird der Jüngling zum Ritter geschlagen. Seine Mutter weint immer, wenn sie ihn ansieht, da sie der warnenden Stimme gedenkt. Vom Sohn nach dem Grund ihrer Traurigkeit gefragt, versucht sie zunächst auszuweichen, muss den Jüngling dann aber über die Umstände seiner Zeugung aufklären. Auf den Rat des Jünglings verkaufen Mutter und Sohn ihr Hab und Gut, die Mutter geht ins Kloster, und der Sohn sucht Rat bei seinem Priester. Dieser schickt ihn zum Bischof, der wiederum weist ihn an den Papst weiter. Selbst der Papst ist in diesem aussichtslosen Fall unsicher und schickt den Jüngling zu einem frommen Einsiedler. Dieser gibt dem Jüngling folgende Buße auf: Er muss wie ein Lahmer zu einer Burg kriechen, muss schweigen und darf nur erbetteltes Essen zu sich nehmen. Der Jüngling tut dies. Auf der Burg eines Königs wird er von der Burgherrin und deren Tochter versorgt. Eines Tages zieht der König mit seinem ganzen Gefolge in die Schlacht gegen die Heiden. Der Lahme schaut dem Heer nach, worauf die Königstochter ihn fragt, ob er mitziehen wolle. Er bricht sein Schweigegebot und bittet um ein schwarzes Pferd und schwarze Waffen. Er bekommt das Gewünschte, zieht in die Schlacht und entscheidet diese für den König. Nach Ablauf seines ersten Bußjahres kehrt er zum Einsiedler zurück, muss aber wegen des gebrochenen Gebots ein zweites Jahr büßen. Wieder zieht der König gegen die Heiden. Diesmal bittet der Jüngling um ein rotes Pferd und rote Waffen und siegt erneut in der Schlacht. Als er zurückkehrt und wieder zum Krüppel wird, gibt die Königstochter ihm als Zeichen ihrer Liebe einen Ring. Er zerbricht diesen und gibt ihr die Hälfte zurück. Wegen des erneut gebrochenen Gebots muss er jedoch noch ein drittes Jahr büßen. Die Ereignisse wiederholen sich, wobei der Jüngling diesmal auf einem weißen Pferd in weißen Waffen kämpft. In der Schlacht nimmt er den feindlichen Sultan gefangen. Als der Jüngling dabei kurz seinen Helm abnimmt, sieht der Sultan sein entblößtes Gesicht. Nach Ablauf der Jahresfrist kehrt der Jüngling kriechend zum Einsiedler zurück. Um seine Seele ganz vom Teufel zu befreien, muss der Einsiedler eine Messe lesen. Vor dem pax vobis wird der Jüngling mit Leib und Seele in die Hölle entrückt, danach aber wiedergebracht. Nach der Messe berichtet er von der Höllenqual, die ihm ewig erschien, obwohl sie nur wenige Augenblicke dauerte. In einer Vision sieht er daraufhin, wie seine Eltern durch seine Buße aus der Hölle in den Himmel versetzt wurden. Im Himmel stehen auch zwei Stühle für ihn und die Königstochter bereit. Er kehrt als Gesunder zur Burg zurück, wird beim Essen vom gefangenen Sultan wiedererkannt und kann in Ehren die Königstochter heiraten. Er schließt einen Frieden mit dem Sultan und lebt mit seiner Frau fortan fromm und zufrieden.

S. 31; Friedel Helga Roolfs: Variationen über ›Robert den Teufel‹. ›De vorlorne sone‹ in der Stockholmer Handschrift Cod. Holm. Vu 73. In: westfeles vnde sassesch (FS Robert Peters). Hrsg. von Robert Damme/Norbert Nagel. Bielefeld 2004, S. 273–291, hier S. 274 f.; Jörn Bockmann: Figuren des Diabolischen in der deutschen Erzählliteratur des Mittelalters. Unter besonderer Berücksichtigung niederdeutscher Texte. Habilitationsschrift Kiel 2012, Kap. II.5. Jörn Bockmann hat mir freundlicherweise das noch unveröffentlichte Manuskript seiner Habilitationsschrift zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke.

114 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Der ›Verlorene Sohn‹ nimmt verschiedene Erzählstoffe auf.73 Eine zentrale Stellung nimmt dabei die Sage von Robert dem Teufel (Robert le Diable)74 ein, die zunächst im französischen Sprachgebiet verbreitet war. Davon zeugt ein französischer Versroman aus der Zeit um 1200.75 Der Erzählstoff gelangte im 13. Jahrhundert aber auch in die lateinische Exempelsammlung ›Tractatus de diversis materiis praedicabilibus‹ Stephans von Bourbon, in der er unter der Kategorie De multiplici utilitate penitentie76 erscheint (Lecoy Nr. 168). Der Roman und das Exempel stehen sich inhaltlich sehr nahe.77 In dieser Version wird erzählt, dass die Frau eines Grafen, die Gott jahrelang um ein Kind bittet, ohne erhört zu werden, sich schließlich an den Teufel wendet und ihm das erwünschte Kind verspricht. Sie bekommt einen Sohn, der Robert genannt wird. Sein teuflisches Wesen zeigt sich schon seit seiner frühesten Kindheit: Er beißt seine Ammen, prügelt sich, stiehlt, vergewaltigt, tötet. Auch als er zum Ritter geschlagen wird, begeht er viele Verbrechen. Als sich seine Mutter darüber beklagt, bedroht er sie mit dem Schwert und zwingt sie, ihm die Wahrheit über seine Geburt zu offenbaren. Nachdem er alles erfahren hat, zeigt er Reue, geht nach Rom und beichtet beim Papst. Dieser schickt ihn zu einem Einsiedler, der wegen der Schwere von Roberts Schuld zunächst ebenfalls ratlos ist. Doch eine göttliche Hand überreicht dem Einsiedler einen Brief, der die Buße für Robert festlegt: Dieser muss als Narr auftreten, darf nicht sprechen und muss das Essen mit den Hunden teilen. Am

73 Zusammenfassend zur Stoffgeschichte s. auch Roolfs: Variationen, S. 275 f.; Bockmann: Figuren, Kap. II.5. 74 Tubach 4119. Vgl. Jacques Berlioz: Robert le Diable. In: LexMa 7 (1995), Sp. 914 f., sowie Jacques Berlioz: Me´taphore, lieux communs et re´cit exemplaire. Les images de la folie simule´e dans la Vie du terrible Robert le Dyable (1496). In: Symboles de la Renaissance. Bd. II: Arts et langage. Paris 1982, S. 89–108 und 231–236; Jacques Berlioz: Les versions me´die´vales de l’histoire de Robert le Diable. Pre´sence du conte et sens des re´cits. In: Le Conte. Tradition orale et identite´ culturelle. Actes des rencontres de Lyon (1986). Hrsg. von Jean-Baptiste Martin. Lyon 1988, S. 149–165; Elisabeth Gaucher: Robert le Diable. Histoire d’une le´gende (Essais sur le ˆ ge 29). Paris 2003; La le´gende de Robert le diable du Moyen-A ˆ ge au XXe sie`cle. Actes du Moyen-A colloque international de l’Universite´ de Caen 2009. Hrsg. von Laurence Mathey-Maille/Huguette Legros (Medievalia 75). Orle´ans 2011. 75 Zum Roman vgl. Gaucher: Robert le Diable, S. 21–97, sowie die Ausgabe des Romans: Robert le diable. Edition bilingue. Hrsg. von Elisabeth Gaucher (Collection Champion classiques. Se´rie Moyen Age. Editions bilingues 17). Paris 2006. 76 Vom vielfältigen Nutzen der Buße. 77 Zur Stoffgeschichte des Romans vgl. Robert le Diable. Roman d’aventures. Hrsg. von E[ilert] Löseth (Socie´te´ des anciens textes franc¸ais 49). Paris 1903, S. XVII–XXXVI. Löseth postuliert eine Urfassung des Stoffes, auf die alle erhaltenen Fassungen unabhängig voneinander zurückgehen sollen (S. XX–XXIX). Als Grundlage dieser Urfassung nimmt er verschiedene Märchenmotive an, die den christlich-mittelalterlichen Vorstellungen entsprechend umgeformt worden seien (S. XXX–XXXVI).

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Hof eines Königs lebt Robert fortan als Narr, bis sich die Barbaren gegen den König erheben. Von einem Engel bekommt Robert weiße Waffen und siegt in der Schlacht. Diese Begebenheit wiederholt sich, allerdings wird Robert beim zweiten Mal von einem Ritter des Königs, der ihn aufhalten will, um ihn zu ehren, mit einer Lanze verwundet, wobei die Lanzenspitze in Roberts Schenkel stecken bleibt. Der König verspricht seine Tochter dem weißen Ritter, woraufhin der Seneschall des Königs sich selbst verwundet und sich als weißen Ritter ausgibt. Die vormals stumme Königstochter wehrt sich gegen die Vermählung mit dem Seneschall und kann plötzlich sprechen. Der Einsiedler, der Robert die Buße aufgegeben hatte, erscheint und erlaubt auch Robert, zu sprechen. Der König trägt ihm nun die Hand seiner Tochter an, doch Robert verzichtet darauf und wird Einsiedler. Zwei weitere französische Fassungen, das ›Dit de Robert le Diable‹78 und ein wohl auf dieses Dit zurückgehendes Mirakelspiel (›Miracle de Nostre Dame de Robert le Diable‹),79 beide aus dem 14. Jahrhundert, sind wohl Bearbeitungen des Romans bzw. verwandter Quellen. Jedenfalls teilen sie mit dem Roman Motive, die bei Stephan von Bourbon fehlen. Als wichtige Neuerung gegenüber den anderen Vertretern des Stoffes enthält das Dit das Motiv, dass Robert nicht Einsiedler wird, sondern die Tochter des Kaisers heiratet. Dies wird vorbereitet durch die Schilderung der aufkeimenden Liebe der Prinzessin zu Robert, als sie in ihm den weißen Ritter erkennt. Weitere Änderungen zeigen, dass das Dit, das später auch als Vorlage für ein französisches Prosaexempel diente, eine eigene Stofftradition begründete. Zwischen der Fassung Stephans von Bourbon und dem französischen Roman steht eine deutsche Prosafassung aus dem 15. Jahrhundert, der ›Königssohn von Frankreich‹.80 Der ›Königssohn‹ enthält außerdem Motive, die in keiner der bisher besprochenen Fassungen anzutreffen sind. So wird etwa berichtet, dass der Protagonist, der hier namenlos bleibt, nach der Entdeckung der Umstände seiner Zeugung zunächst bei einem Priester Rat sucht. Dieser schickt ihn zum Bischof, dieser wiederum zum Papst, der ihn dann, wie in den anderen Fassungen, zum Einsiedler weiterschickt. Die Buße des Königssohns beinhaltet außer den bekannten Elementen (schweigen, Essen mit den Hunden teilen) auch

78 Ausgabe: Karl Breul: Le Dit de Robert le Diable. In: Abhandlungen Herrn Prof. Dr. Adolf Tobler zur Feier seiner 25jährigen Thätigkeit als ordentlicher Professor an der Universität Berlin von dankbaren Schülern in Ehrerbietung dargebracht. Halle/Saale 1895, S. 464–509. 79 Ausgabe: Miracle de Robert le Dyable (Nr. 33). In: Miracles de Nostre Dame par personnages. Hrsg. von Gaston Paris/Ulysse Robert. Bd. 6. Paris 1881, S. 1–77. 80 Vgl. Christine Stöllinger-Löser: Vom Königssohn von Frankreich. In: 2VL 11 (2004), Sp. 870–873.

116 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 die Auflage, auf der Erde zu kriechen, ohne den Himmel anzuschauen. Diese beiden Motive begegnen auch im ›Verlorenen Sohn‹. Die Bezugnahme des ›Verlorenen Sohnes‹ auf die weitverzweigte Erzähltradition von Robert dem Teufel zu klären, ist also bereits eine komplexe Aufgabe, da keine der erhaltenen Fassungen die gleiche Kombination von verfügbaren Motiven enthält wie der ›Verlorene Sohn‹. Vom Handlungsgerüst her steht der ›Verlorene Sohn‹ in der Tradition des Exempels und des Romans; er enthält aber im Gegensatz zu diesen Fassungen das Hochzeits-Motiv, das wiederum im französischen Dit erscheint. Der ›Verlorene Sohn‹ scheint daher auf keine der erhaltenen Fassungen direkt Bezug zu nehmen. Es ist sowohl denkbar, dass die Motivkombination im ›Verlorenen Sohn‹ auf dessen deutschsprachigen Verfasser zurückgeht, der mehrere Fassungen des Erzählstoffes kannte, aber ebensogut möglich, dass eine (französische, lateinische, deutsche?) Fassung existierte, die bereits diese Kombination enthielt. Wenn man festgestellt hat, welche Elemente des ›Verlorenen Sohnes‹ auf die Robert-der-Teufel-Tradition zurückgehen, bleiben immer noch zahlreiche Motive, die der Robert-Tradition fremd sind. Sie resultieren aus der Kombination des Robert-Stoffes mit einem ganz anderen Erzählstoff, dem Marienmirakel vom ›Verwünschten Kind‹.81 Eine lateinische Fassung dieses Erzählstoffs ist etwa im ›Speculum historiale‹ des Vinzenz von Beauvais überliefert (7,115):82 Ein reicher Mann, der gelobt hat, mit seiner Frau keusch zusammenzuleben, bricht dieses Gelübde in einer Osternacht und zeugt ein Kind. Die Frau, erzürnt über die Tat des Mannes, wünscht das Kind zum Teufel. Der verwünschte Sohn ist schön und klug und wird von allen geliebt. Als er zwölf Jahre alt ist, kommt der Teufel und fordert den Knaben als seinen Besitz zurück. Daraufhin weint die Mutter beim Anblick ihres Kindes; der Sohn fragt nach dem Grund und erfährt die Umstände seiner Zeugung. Er verlässt sein Elternhaus, fragt weise Leute um Rat und kommt

81 Tubach 975 a und b. Eine Illustration des Stoffes ist in einem Psalter aus Nordfrankreich (Paris, BNF, Ms. lat. 238, Bl. 97v) zu finden. Abb. bei V[ictor-Martial] Leroquais: Les Psautiers manuscrits latins des bibliothe`ques publiques de France. 3 Bde. Macon 1940–1941, Tafel 49. 82 Zur Stoffgeschichte vgl. Paul Meyer: L’enfant voue´ au diable. Re´daction en vers. Romania 33 (1904), S. 163–178, bes. S. 163–167. Ausgabe: Vincentius Bellovacensis: Speculum quadruplex, sive speculum maius: naturale, doctrinale, morale, historiale. Bd. 4: Speculum historiale. Douai 1624 (Nachdruck Graz 1965). Von der Fassung des Vinzenz hängen weitere Texte ab: eine gekürzte Version bei Johannes Gobi: ›Scala coeli‹ 679 und eine deutsche Prosaversion im ›Magnet unserer lieben Frau‹ (München, BSB, Cgm 626, Bl. 240va–242ra). Der Fassung von Johannes Gobi wiederum steht die deutsche Prosaversion im ›Großen Seelentrost‹ (41,31) nahe. Auch in der französischen Literatur ist der Stoff verbreitet. Versfassungen bieten Gautier de Coinci, ein anonymes Mirakel aus dem 15. Jahrhundert und ein Mirakelspiel. Eine Prosafassung, ebenfalls von Vinzenz abhängig, ist bei Jean Mie´lot zu finden.

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nach Rom zum Papst, der ihn mit Empfehlungsbriefen an den Bischof von Jerusalem weiterschickt. Dieser wiederum schickt ihn zu einem heiligen Einsiedler, der von Himmelsbrot ernährt wird und mit den Engeln sprechen kann. Wegen der außerordentlichen Schwere der Schuld rät der Einsiedler dem Knaben, sich Maria anzuvertrauen. In der Osternacht, als die vom Teufel gesetzte Frist abgelaufen ist, hält der Einsiedler eine Messe und stellt den Knaben zwischen sich und den Altar. Nach der Elevation der Hostie wird der Knabe vom Teufel in die Hölle entrückt, auf die Bitte des Einsiedlers aber von Maria wiedergebracht. Nach der Messe erzählt der erlöste Knabe von seiner Höllenvision und kehrt zu seinen Eltern zurück. Im ›Verlorenen Sohn‹ wurden die beiden Erzählstoffe folgendermaßen kombiniert: Robert der Teufel Kinderlosigkeit

Verwünschtes Kind Zeugung in hl. Nacht Gutes Kind, kein Name84

Bedrohung der Mutter83 Bußfahrt, Kämpfe Messe, Höllenfahrt Rückkehr, Hochzeit

Bei dieser Kombination kommen nicht nur unterschiedliche Motive zusammen, es stoßen auch unterschiedliche Handlungslogiken aufeinander. In der RobertErzählung steht zu Beginn die Kinderlosigkeit des Paares: Das erwünschte Kind

83 Vgl. ›Verlorener Sohn‹, V. 185 f.: Der Sohn bringt die Mutter nur zum Geständnis, indem er ihr androht, sie mit dem Schwert zu durchbohren. Dies ist das einzige Relikt des teuflischen Wesens des Protagonisten, das aus der Robert-Tradition stammt. 84 Die Tatsache, dass das Kind im ›Verlorenen Sohn‹ keinen Namen trägt, wird bei Roolfs: Variationen, S. 277 als Hinweis auf »ältere Erzählschichten, die näher am Märchenhaften, Folkloristischen verortet sind« gedeutet. Es scheint mir naheliegender zu sein, dass der Verfasser des deutschen Textes sich hier – wie generell bei den Zeugungsumständen und der Kindheit des Protagonisten – einfach auf die Tradition des ›Verwünschten Kindes‹ bezieht, das bei Vinzenz ebenfalls namenlos ist.

118 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 wird durch Beihilfe des Teufels geboren und ist ihm daher wesensverwandt. Um sich dieses teuflischen Erbes zu entledigen, muss Robert Buße tun und kann schließlich als veränderter Mensch die göttliche Gnade erlangen (und, in manchen Fassungen, in die Gesellschaft reintegriert werden). In der Erzählung vom ›Verwünschten Kind‹ macht sich der Vater des Kindes eines doppelten Vergehens schuldig: Er bricht sein Keuschheitsgelübde und zeugt in einer heiligen Nacht ein Kind, das von der Mutter, die ihr Gelübde nicht brechen will, aus Verzweiflung verflucht wird. Das Kind trägt kein teuflisches Erbe in sich, sondern ist durch die Schuld der Eltern dem Teufel verfallen. Daraus resultiert die Suche des unschuldigen Sohnes nach Hilfe, die ihn bis zum Einsiedler führt, der ihn mit Marias Hilfe während der Messe in der Osternacht (analog zur Zeugung in einer Osternacht) erlösen kann. Durch die Höllenfahrt erlöst der Sohn zudem seine schuldigen Eltern. In beiden Erzählstoffen geht es also um Schuld und Erlösung, in beiden Fällen ist der Protagonist nur bedingt schuldig. Der kategoriale Unterschied besteht jedoch darin, dass die Schuld der Eltern bei Robert in dessen Wesen übergegangen ist, während sie beim verwünschten Kind nur als Fluch auf einem an sich tugendhaften Menschen lastet. Robert muss seine intrinsische Schuld – wie eine begangene Sünde – durch Buße tilgen, das verwünschte Kind kann durch eine liturgisch-rituelle Handlung (die freilich extremen Charakter hat) und den Beistand Marias von dem Fluch erlöst werden, ohne aktive Buße zu leisten (falls man nicht die Pilger- und Höllenfahrt schon als eine Form der aktiven Buße sehen will).85 Im ›Verlorenen Sohn‹ führte die Kombination dieser unterschiedlichen Handlungslogiken zu Brüchen, die den Text aus einer modernen Perspektive, die handlungslogische Stringenz fordert, als heterogen und unstimmig erscheinen lassen. Diese Unstimmigkeiten treten jedoch zurück vor der dadurch ermöglichten Neukonturierung des Protagonisten. Es treffen im ›Verlorenen Sohn‹ nämlich nicht nur zwei Handlungslogiken aufeinander, sondern auch ein geistlich und ein höfisch perspektivierter Figurenentwurf.86 Der Protagonist des

85 Ich stimme der Meinung Bockmanns (Figuren, Kap. II.5.) zu, dass es sich im ›Verlorenen Sohn‹ um eine Bußfahrt insofern handelt, als der Sohn im christlichen Sinn für die Sünde der Eltern büßt – entgegen der Interpretation von Roolfs: Variationen, S. 277–279, die aufgrund der Verwendung des Terminus hermeschar für Buße davon ausgeht, dass hier »vorchristliche[...] Erzählschichten« (S. 278) zutage treten würden. 86 Zu den Elementen aus der höfischen Literaturtradition im ›Verlorenen Sohn‹ s. auch Roolfs: Variationen, S. 280–285; Bockmann: Figuren, Kap. II.5. Elemente aus der höfischen Literaturtradition finden sich beispielsweise bei der Beschreibung des Vaters, der als vorbildhafter Ritter und Turnierkämpfer dargestellt wird: he was ok houesch vnde mylde / Eyn helt vnder syneme schylde / Wor he thorney vnde lust vor nam / Aldar he myt manheyt quam (V. 37 ff.). Auch der Sohn wird als høuesch vnde mynnechlyk / Leftalych vnde ok wolghe thogen (V. 147 ff.) beschrieben. Die

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Robert-Stoffes ist eine Herrscherfigur, leistet seine Buße an einem Hof ab und tut sich durch seine Leistungen im ritterlichen Kampf hervor, ist aber durch die Umstände seiner Zeugung eine (zunächst) negative Figur. Beim Erzählstoff vom ›Verwünschten Kind‹ hat man es dagegen mit einem positiv gezeichneten Protagonisten zu tun, der allerdings kaum eine aktive Rolle einnimmt und dessen Leben von Momenten des Einbruchs der Transzendenz bestimmt ist (warnende Stimme in der heiligen Nacht, Entrückung in die Hölle und Jenseitsvision, Rettung durch Maria).87 Die Kombination der beiden Figurenentwürfe führt im ›Verlorenen Sohn‹ zu folgender Synthese: Der Protagonist ist – wie das verwünschte Kind – eine unschuldige, tugendhafte Figur, die die Empathie der Rezipienten verdient; er nimmt aber nicht, wie das Kind, eine weitgehend passive Rolle ein, sondern kämpft – wie Robert – aktiv für seine Erlösung und Reintegration in die (höfische und religiöse) Gemeinschaft. So entsteht ein Protagonist, der höfischritterliche und religiöse Aspekte vereint und dadurch gerade für ein laikales, mit weltlich-höfischer Literatur vertrautes Publikum eine ideale Identifikationsfigur darstellte. Auf der Schaffung dieser Identifikationsfigur – und nicht auf der handlungslogischen Stringenz – lag wohl der Fokus des Verfassers bei der Kombination von unterschiedlichen Erzählstoffen. Das Beispiel des ›Verlorenen Sohnes‹ zeigt m.E. besonders deutlich, wie die Verortung eines Textes in seinem literarischen Referenzrahmen erlaubt, den Text in seiner spezifischen literarischen

Königstochter erkennt, dass der Jüngling ein wolgheboren man (V. 405) ist, als sie seinen Wunsch bemerkt, gegen die Heiden in die Schlacht zu ziehen. Die Kampfschilderungen stehen ebenfalls in der Tradition höfischer bzw. heldenepischer Literatur: Myd des de yunghelynk quam gehe rant / Vor de crystene alto hant / Vnde settede syk manlyk to der were / Myt swerde myt schylde vnde ok myt spere / Vnde sluch menneghen vromeden ghast / Dat eme dat lyf vnde herte brast (V. 437 ff.). Ein weiteres Mal beweist der Jüngling seine edle Herkunft und höfische Erziehung, als die Königstochter ihm nach der zweiten Schlacht einen goldenen Ring als Zeichen ihrer Liebe und Treue gibt: He nam it vnde brak it in twey / De ene helfte dede he er wedder / De andere be helt he sodder / Do prouede an eme de maghet sart / Dat he was van ghuder art / Vnde de truwe an eme was / Vast also eyn addamas (V. 552 ff.). Das weit verbreitete Motiv des zerbrochenen Rings erfüllt im ›Verlorenen Sohn‹ keine strukturelle Funktion; die Wiedererkennung des erlösten Jünglings erfolgt nicht mithilfe des Rings, sondern durch den gefangenen Sultan. Es dient vielmehr als Kennzeichen für die höfische Liebe, die Königstochter und Jüngling verbindet. Am Ende wird der Jüngling vom Einsiedler belehrt, wie er sich als idealer Ehemann und Herrscher zu verhalten habe: Dar [zur Burg des Königs] scholtu wedder varen / Du mocht nicht lengher sparen / Vnde scholt se [die Königstochter] to wyue han / Vnde dar vor den heydenen stan / Dat lant schaltu vor heghen / Dar to schaltu houescher tuchte pleghen / Vnde wesen er van herten holt (V. 805 ff.). Mit Hochzeit und späterem Landerwerb ist die Reintegration des von der Sünde erlösten Jünglings in die höfische Gesellschaft vollzogen. So tritt neben die stoffbedingten Handlungsgerüste und -logiken noch ein weiteres Erzählschema: das aus der höfischen Literatur stammende Schema vom Werdegang und der Bewährung eines jungen ritterlichen Helden. 87 Eine gegenteilige Einschätzung bei Roolfs: Variationen, S. 285.

120 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Verfasstheit besser zu würdigen und vorschnelle Abwertungen oder Etikettierungen zu vermeiden. In der Erzählung von ›Zeno‹ (1526 V., 14. Jahrhundert?)88 wird auf unterhaltsame Weise von der Translation der Reliquien der heiligen drei Könige berichtet. Zeno, ein reicher Mann aus Verona, und seine Gemahlin Enticia sind kinderlos. Nach langem Bitten werden sie von Gott erhört, und Enticia gebiert einen Knaben. Durch die allgemeine Freude wird der Teufel angelockt, der den Säugling aus der Wiege stiehlt, ihn in Mailand mit einem Brief, der von seiner Herkunft berichtet, vor die Münstertür legt und sich dann in Gestalt des Kindes selbst in der Wiege platziert. Fortan quält der Wechselbalg die Mutter und die Ammen und verschlingt das ganze Hab und Gut des Vaters, ohne jedoch zu wachsen. Das richtige Kind wird indes vom Bischof Zeno von Mailand gefunden, auf sein Geheiß von einer Wäscherin aufgezogen und auf den Namen Zeno getauft. Der junge Zeno erweist sich als außerordentlich tugendhaft und klug, besucht die Hochschulen und studiert in Spanien die schwarze Kunst. Nach seiner Rückkehr an den Bischofshof übertrifft der junge Zeno die Fürstensöhne, die dem Bischof zur Erziehung übergeben wurden, in allen Künsten und Spielen. Darüber verärgert, bezichtigt ihn ein Grafensohn, das Kind des Bischofs und der Wäscherin zu sein; diese Verleumdung räumt der Bischof aus der Welt, indem er Zeno eröffnet, wer sein richtiger Vater ist. Zeno reitet daraufhin mit seinen Gefährten nach Verona und sucht seine Eltern. Erst nach langer Suche findet er seinen Vater, der völlig verarmt mit dem Teufelsbalg in einer Hütte lebt. Zeno bannt den Teufel in ein Glas und tröstet seinen Vater. Bei einem Gastmahl mit den Mächtigen der Stadt gibt er sich als den wahren Sohn des alten Veroneser Zeno zu erkennen und stellt Wohlstand und Ehre seines Vaters wieder her. Danach bringt er das Glas mit dem Teufel nach Mailand und übergibt es zunächst seiner Amme, der Wäscherin. Diese öffnet trotz des Verbots aus Neugier das Glas, der Teufel bricht ihr den Hals und entweicht. Im Morgenland fährt er daraufhin in eine Königstochter, verrät aber einem Priester, der ihn beschwören will, dass nur Zeno ihn austreiben könne. Eine Ritterdelegation des morgenländischen Königs reist nach Verona und bittet Zeno um Hilfe. Dieser verspricht, in 30 Tagen zu kommen, vergisst aber sein Versprechen bis zum letzten Abend vor Ablauf der Frist. Doch glücklicherweise findet er ein Teufelsross vor seiner Tür, das ihn im Nu ins Morgenland bringt. Unterwegs bietet das Teufelsross an, Zeno das Grab der heiligen drei Könige zu zeigen, falls er es in Zukunft nicht

88 Vgl. Ursula Rautenberg: Zeno. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1535–1537. Ausgabe: Zeno oder die Legende von den heiligen drei Königen. Eine mittelniederdeutsche Version. Hrsg. von Anna Arfwidsson (Lunder Germanistische Forschungen 10). Lund/Kopenhagen 1940. Zur Entstehungsgeschichte des ›Zeno‹ gibt es unterschiedliche Theorien. Eine mnl. Vorlage wurde ebenso wie eine Entstehung des Textes in Köln erwogen, vgl. Volker Krobisch: Die Wolfenbütteler Sammlung (Cod. Guelf. 1203 Helmst.). Untersuchung und Edition einer mittelniederdeutschen Sammelhandschrift (Niederdeutsche Studien 42). Köln 1997, S. 59; Willy Krogmann: Die Vorstufen des mnd. Zeno. Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 38/39 (1963/1965), S. 73–150, hier S. 138–140. Zumindest für den zweiten Teil der Erzählung wäre eine Entstehung in Köln naheliegend, da dieser Teil einen starken Lokalbezug aufweist. Die Herausgeberin des ›Zeno‹, Anna Arfwidsson, setzt die verlorene Kölner Fassung im späten 13. Jahrhundert an, vgl. Zeno (Arfwidsson), S. 80 f. Die Erzählung könnte allerdings auch später entstanden sein. Ob der erste Teil auch dort entstand oder auf ältere, vielleicht mnl. Vorstufen zurückgeht, ist wohl nicht mehr zu entscheiden.

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mehr plagen wolle. Gerade noch rechtzeitig kommt Zeno am Hof des Königs an, um die Ritter, die wegen seines Ausbleibens vom König mit dem Tod bedroht werden, zu retten. Zeno treibt den Teufel aus, bannt ihn wieder ins Glas und heilt die Königstochter mit einem Kraut. Reich beschenkt nimmt Zeno Abschied, reitet zum Grab der Könige und gräbt die Särge aus. Dies wird allerdings vom König bemerkt, der Zeno verfolgen lässt. Das Teufelsross schützt Zeno jedoch durch einen Feuerkreis vor den Verfolgern. In der Nacht weisen drei himmlische Kerzen ihm den Weg nach Mailand. Der Bischof kommt ihm mit einer Prozession entgegen. Zeno kehrt nach Verona zurück, wo sein Vater ihm berichtet, er habe geträumt, dass der junge Zeno drei Sterne ausgegraben habe. Gemeinsam ziehen Vater und Sohn nach Mailand, wo der junge Zeno ein Frauenkloster bauen lässt, in dem die heiligen drei Könige begraben werden. 671 Jahre bleiben die Könige in Mailand, bis Kaiser Friedrich die Stadt nach fünfjähriger Belagerung einnimmt. Der höchste Potentat der Stadt soll daraufhin gehängt werden, aber seine Schwester, die Äbtissin des Klosters, in dem sich das Grab der heiligen drei Könige befindet, verspricht dem Bischof von Köln die Reliquien, falls er ihren Bruder retten könne. Der Bischof schickt die Reliquien ohne Kaiser Friedrichs Wissen nach Köln und erlangt vom Kaiser durch eine List Gnade für den Potentaten. Als die Mailänder den Verlust der Reliquien bemerken, fordern sie vom Kaiser Rache, doch da dieser vom Bischof in eine geistliche Bruderschaft aufgenommen wurde, kann er keine Rache ausüben. Auf der Reise nach Köln gehen die Reliquien als Strafe für den Ungehorsam des Bischofs zeitweilig verloren, tauchen aber wieder auf und werden in Köln mit Ehren empfangen.

Die Erzählung greift auf zwei ursprünglich selbständige Erzählstoffe zurück, die Translation der Reliquien nach Mailand und die Translation nach Köln.89 Auch innerhalb dieser Hauptteile, besonders im ersten Teil, werden unterschiedliche Stoffe und Motive aufgenommen.90 Das Motiv des kinderlosen Paares und des Teufelskindes erinnert an die Robert-der-Teufel-Tradition. Der Name des Protagonisten und die Teufelsaustreibung könnten mit einer veronesischen Legende in Beziehung stehen, die besagt, dass der Veroneser Bischof Zeno einen Teufel aus der Tochter des römischen Kaisers Galienus ausgetrieben habe. Der Name von Zenos Mutter, Enticia, könnte auf eine historische Person zurückgehen, eine Nonne namens Indicia, die von demselben Bischof Zeno verteidigt wurde, nachdem sie ins Gerede gekommen war.91 Eine weitere Stofftradition, die aufgenommen wurde, ist der Bericht von der Reliquien-Translation durch den Mailänder Bischof Eustorgius.92 Im ›Zeno‹ werden aber nicht nur Erzählelemente verschiedener Provenienzen zu einer neuen Handlungsstruktur zusammengefügt, auch bei der narrativen und ästhetischen Ausgestaltung hat sich der Verfasser an bereits vorhandene literarische Muster angelehnt. Dies zeigt sich besonders deutlich bei Zenos Jugendgeschichte, die Ähnlichkeiten mit der Jugendgeschichte von Hartmanns

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Vgl. Krobisch: Wolfenbütteler Sammlung, S. 62; Krogmann: Vorstufen, S. 138 f. Zur Stoffgeschichte s. auch Bockmann: Figuren, Kap. IV.2. Vgl. Acta Sanctorum. April, Bd. II, S. 7 ff. (11. April); Zeno (Arfwidsson), S. 10 f. Vgl. Zeno (Arfwidsson), S. 12–14.

122 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 von Aue ›Gregorius‹ aufweist. Wie Gregorius wird Zeno ausgesetzt und macht einen Geistlichen (Abt, Bischof) auf sich aufmerksam, indem er weint: do ˆ erweinde daz kint vil lu ˆ te (›Gregorius‹, V. 1017)

dat kint weˆnede, also ˆ ein kint do ˆt (›Zeno‹, V. 136)

Sobald der Geistliche sich aber des Kindes annimmt, beginnt dieses zu lachen: so ˆ lachete er den abbet an (›Gregorius‹, V. 1039)

Do ˆ lachede dat kint jegen ön (›Zeno‹, V. 143)

Dem Kind Gregorius ist eine Tafel beigegeben, die seine Herkunft teilweise enthüllt, dem Kind Zeno ein Brief. In beiden Dokumenten steht, dass das Kind noch ungetauft sei. und also ˆ der geleˆrte man an sıˆner tavele gelas wie daz kint geborn was, daz manz noch toufen solde

(›Gregorius‹, V. 1040 ff.)

Heˆ [der Teufel] makede darbıˆ eˆnen breˆf, in blıˆ heˆ öme schreˆf, de düvel mit sıˆner hant, dat öme weˆre bekant, deˆ dat kindelıˆn vünde, unde o ˆk alle sıˆne vründe. ˆ k so O ˆ schreˆf heˆ meˆre, dat dat kint ungedo ˆft weˆre. (›Zeno‹, V. 41 ff.)

Der Abt gibt Gregorius zum Fischer in die Pflege, der Bischof Zeno zu seiner Wäscherin. Die beiden Geistlichen taufen das Kind auf ihren eigenen Namen: daz kint hiez er ze toufe tragen. er huop ez selbe und hiez ez sus naˆch sıˆnem namen, Greˆgo ˆrius (›Gregorius‹, V. 1134 ff.)

Heˆ wolde et sülven döpen dan unde öme sıˆnen namen leggen an (›Zeno‹, V. 170 f.)

In der Schule wird die außergewöhnliche Begabung des Zöglings deutlich: Do ˆ der vischære und sıˆn wıˆp über des süezen kindes lıˆp so ˆ rehte vlıˆzic waˆren unz ze sehs jaˆren, der abbet nam ez do ˆ von in zuo im in daz klo ˆster hin […] Diu kint diu vor drin jaˆren zuo gesetzet waˆren, mit kunst ez diu so ˆ schiere ervuor daz der meister selbe swuor, er gesæhe von aller hande tugent nie so ˆ sinnerıˆche jugent. (›Gregorius, V. 1155 ff.; 1173 ff.)

Do ˆ it in dat vefte jaˆr trat, de heˆre des to raˆde wart, dat öt to der scho ˆle gaˆn schölde [...] Do ˆ leˆrde öt bıˆ veˆr jaˆren, dat alle den schölern, deˆ dar waˆren, in der leˆre io enboven lach.

(›Zeno‹, V. 178 ff.; 185 ff.)

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Wie Gregorius von seiner Ziehmutter als Findelkind beschimpft wird, nachdem er beim Spielen versehentlich seinen Ziehbruder geschlagen hat, erfährt auch Zeno beim Spiel mit anderen Kindern von seiner zweifelhaften Herkunft. Allerdings verletzt Zeno seine Spielgesellen, die fürstlichen Zöglinge des Bischofs, nicht durch Schläge, sondern durch seine Überlegenheit, die ihren Neid provoziert. Mit der Suche nach den Eltern enden die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Texten. Das Bezugnahmeverfahren ist typisch für die Erzählung ›Zeno‹: Es werden Verbindungen mit literarischen Traditionen hergestellt, die jedoch nur punktuell bedeutsam sind. Wie im ›Verlorenen Sohn‹ anscheinend kaum Gewicht auf handlungslogische Stringenz gelegt wurde, ist die Figurenzeichnung im ›Zeno‹ von teilweise widersprüchlicher Vielseitigkeit geprägt: Zeno ist eine schillernde Figur, höfischer Ritter, Teufelsaustreiber und Schwarzkünstler zugleich.93 Die durch den Erzählstoff vorgegebene geistliche Perspektivierung wird durch diese Figur mit höfischen und schwankhaften Elementen angereichert und überlagert, ohne jedoch grundsätzlich in Frage gestellt zu werden. Die Kombination von Erzählelementen in der volkssprachigen Erzählung diente auch als Grundlage für neue Ausformungen des Erzählstoffs. Aus dem späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert ist eine lateinische Bearbeitung des ›Zeno‹ erhalten,94 die zusammen mit Johannes’ von Hildesheim ›Historia trium regum‹ in einer theologischen Sammelhandschrift aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts überliefert ist.95 Jutta Fliege geht davon aus, dass der lateinische Text im Zusammenhang mit der neu einsetzenden Verehrung der drei Könige in Magdeburg am Ende des 14. Jahrhunderts in diesem Raum entstand.96 Es handelt sich um eine freie Bearbeitung, die an einigen Stellen kürzend und straffend vorgeht.97 Auch in einer deutschen Verserzählung wurde auf ›Zeno‹ Bezug genommen. Der zweite Teil der Erzählung ›Bruder Rausch‹,98 der von dem weiteren Schicksal

93 Vgl. Bockmann: Figuren, Kap. IV.2. 94 Vgl. Jutta Fliege: Die Legende von Zeno oder den Heiligen Drei Königen. In: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1100–1500. Regensburger Colloquium 1988. Hrsg. von Nikolaus Henkel/Nigel F. Palmer. Tübingen 1992, S. 223–232. 95 Dessau, Landesbibl., Hs. Georg. 48. Beschreibung bei Jutta Fliege: Die lateinischen Handschriften der Stadtbibliothek Dessau. Bestandsverzeichnis aus dem Zentralinventar mittelalterlicher Handschriften (ZIH) (Deutsche Staatsbibliothek. Handschrifteninventare 8). Berlin 1986, S. 43–51. 96 Vgl. Fliege: Die Legende, S. 230 f. 97 Vgl. Fliege: Die Legende, S. 228 f. 98 Zu diesem Text vgl. auch Kap. VIII.3.; Werner Röcke: Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 6). München 1987, S. 143–153; Bockmann: Figuren, Kap. II.4.

124 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 des Teufels Rausch nach seiner Verbannung aus dem Kloster berichtet, ist in den Grundzügen sehr ähnlich wie eine Episode aus der Erzählung ›Zeno‹.99 ›Zeno‹ (V. 659 ff.)

›Bruder Rausch‹ (V. 313 ff.)

ˆ sterlant, Do ˆ vo ˆr de düvel in O dar heˆ eˆnen gro ˆten köning vant. Nein kint hadde heˆ meˆre wen ˆene dochter heˆre. Me prıˆsede öre schöne över alle lant. De düvel sek örer underwant unde was an ör so ˆ unbescheˆden, dat dem vader wart to dem lıˆve leˆde. Heˆ sende över alle lant, eft ienich meˆster weˆre bekant, deˆ sek des underwünde, eft heˆ ör helpen könde. Dem wolde heˆ so ˆ vele gu ˆ des geven, dat heˆ heˆrliken möchte leven. Do ˆ queˆmen dar itlike papen unde begunden den düvel straffen. Heˆ sprak ön schöne lattıˆn enjegen, dat seˆ des schentliken vortegen. Do ˆ dit dicke schach, de düvel van torne sprach: »Van allen, deˆ nu ˆ leven, en werde ek nicht van hir dreven wen her Zeˆno ˆ, wüste deˆ mıˆ hir.«

Alsusz voer he in engelant Dar was he vnbekant He foer in des koninges dochter al tohant De was schone vnde wol bekant He dede er mennigen swaren dach Dat was deme koninge groeth vngemack Tohant de koninck baden sande War me grote meysters bekande To parisz in der guden stath Vmme gude meysters dat he bath De syner dochter hulpen tohant De worden em balde gesanth Uyl mennich meyster van kunsten wysz Doch was dar neyn so wysz De den duuel dar vth bryngin mochte Uele meysters sick dar an vorsochten To deme lesten sprack de duuel auer lued Ick byn geheyten broder rusz Uth dussem schonen vetekyn Bringet my nemant wen de abbet myn

Der zweite Teil der ›Bruder Rausch‹-Erzählung ist nur lose in die Handlungsstruktur eingebunden und spiegelt die Lust am unterhaltsamen (Weiter-)Erzählen wider.100 Komische Elemente stehen im Vordergrund, etwa, wenn der Teufel, nachdem er die Schätze des Königs nach Sachsen verfrachtet hat, zum Abt sagt: her abbet ick hebbe dat gedaen / Segget my schal de borch ock mede gaen / Ick fore se na iuwes herten begher / De abbet sprack neyn lath se deme koninge hir (V. 395 ff.). Der geistliche Hintergrund, der im ›Zeno‹ noch den Rahmen für die schwankhaften Elemente bildet, ist hier ganz zurückgetreten.

99 Vgl. Bockmann: Figuren, Kap. II.4. 100 Vgl. dazu auch Bockmann: Figuren, Kap. II.4.

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2.3.5 Zusammenwirken von Bild- und Texttradition: ›Der Welt Lohn‹ Die Verfasser geistlicher Verserzählungen konnten bei der Textproduktion nicht nur auf einen literarischen Referenzrahmen, sondern auch auf andere Bereiche Bezug nehmen, etwa auf religiöses Brauchtum101 oder bildende Kunst. Wie auch bei den Erzählstoffen geht es hier nicht darum, Abhängigkeiten zu (re)konstruieren, sondern die Texte vor ihrem kulturellen Hintergrund (soweit dieser fassbar ist) besser zu verstehen. Ein komplexer Fall dieser Art ist das Motiv der Frau Welt.102 Skulpturen dieser Personifikation aus dem späten 13. und frühen 14. Jahrhundert sind an verschiedenen Sakralbauten erhalten. Am Wormser Dom finden sich die Frau Welt und der Weltliebhaber. In Straßburg, Basel, Freiburg im Breisgau, Nürnberg und Regensburg ist der Fürst der Welt, das männliche Pendant, dargestellt.103 Das Motiv begegnet außerdem in lateinischen und volkssprachigen Texten des 13. bis 15. Jahrhunderts:104 – Exempel Fuit miles quidam et potens totus mundo deditus (lat. Prosa, 13. Jahrhundert)105 – ›Gesta Romanorum‹, Nr. Oe 202 (lat. Prosa, Anfang 14. Jahrhundert) – Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen,106 Nr. 9 (lat. Prosa, Mitte 14. Jahrhundert) – Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.607/Klapper: Erzählungen, Nr. 193 (lat. Prosa, Mitte 15. Jahrhundert) – Konrad von Würzburg: ›Der Welt Lohn‹ (dt. Verse, 2. Hälfte 13. Jahrhundert) – ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ (dt. Verse, 14. Jahrhundert) – Michel Beheim: ›Beispel von ainem weib, was vorn schan und hinden schraglich‹ (dt. Verse, 2. Hälfte 15. Jahrhundert)107

101 S. dazu Kap. VI.1.2.2 102 Vgl. Gisela Thiel: Das Frau Welt-Motiv in der Literatur des Mittelalters. Saarbrücken 1956; Wolfgang Stammler: Frau Welt. Eine mittelalterliche Allegorie (Freiburger Universitätsreden N.F. 23). Freiburg Schweiz 1959; Marianne Skowronek: Fortuna und Frau Welt. Zwei allegorische Doppelgängerinnen des Mittelalters. Berlin 1964. 103 Vgl. LCI 4, Sp. 496–498. 104 Zusammenstellung und Abdruck der lat. und Prosa-Fassungen in Bleck: Der Welt Lohn, S. 143–149 (zit.). 105 Überlieferung: London, BL, Arundel 406, Bl. 25r (Mainz um 1273); London, BL, Arundel 506, Bl. 56v (Kartäuserkloster St. Michael bei Mainz, 1. Hälfte 14. Jahrhundert); London, BL, Add. 21147, Bl. 10v (Kartäuserkloster Erfurt, Mitte 15. Jahrhundert). Eine weitere verwandte Fassung ist in Johannes Herolts ›Promptuarium exemplorum‹ zu finden. 106 Joseph Klapper: Erzählungen des Mittelalters. In lat. Urtext und dt. Übersetzung. Breslau 1914 (Nachdruck Darmstadt 1984). Zur dieser Exempelsammlung s. auch Kohushölter: Rezeption, S. 206–234. 107 Ausgabe: Konrad von Würzburg (Rölleke), S. 106–109.

126 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 –

Birlinger: Elsaessische Predigten, Nr. 66: De confessoribus (dt. Prosa, 2. Hälfte 14. Jahrhundert)108 – ›Von der welt valscheit‹ (dt. Prosa, vor 1393)109 Das Verhältnis dieser Texte zueinander sowie zu den Skulpturen wurde unterschiedlich beurteilt. So war Robert Priebsch der Meinung, dass Konrads ›Der Welt Lohn‹ auf eine (hypothetische) lateinische Version zurückgehe, die Merkmale des Exempels Fuit miles quidam und der ›Gesta‹-Fassung aufwies, und dass die bildenden Künstler weniger durch Konrads Erzählung als vielmehr durch die – seiner Ansicht nach weiter verbreiteten – lateinischen Exempel beeinflusst gewesen seien.110 Die diametral entgegengesetzte Position vertritt Reinhard Bleck, der alle anderen Fassungen für Bearbeitungen von Konrads ›Der Welt Lohn‹ hält: »Alle Nacherzähler haben in ihrer je eigenen Art die Vorlage ›Der Welt Lohn‹ benutzt [...] Der Schöpfer dieser kurz nach 1300 entstandenen Skulptur [d.i. Frau Welt am Wormser Dom] übertrug die literarische Vorlage in das Medium der Bildhauerkunst.«111 Eine differenziertere Perspektive auf die Zeugnisse zeigt jedoch, dass die Bestimmung eindeutiger Abhängigkeitsverhältnisse kaum möglich ist. Das Exempel Fuit miles quidam etwa weist zwar die gleiche Handlungsstruktur auf wie Konrads Erzählung, aber es gibt auch deutliche Unterschiede: Der Ritter trifft die Frau Welt nachts in einem kleinen Gehölz bzw. Lustgarten (virgultum plenum deliciis) vor seiner Burg an, als er über Pracht und Ehre (gloria) der Welt nachdenkt. Die Personifikation bezeichnet sich nicht als die Welt selbst, sondern als Ehre der Welt (gloria mundi). Die Wirkung der Begegnung mit der Frau auf das weitere Leben des Ritters wird nicht auserzählt, es heißt am Ende lediglich: miles emendatus rediit.112 Der Erzählstoff wird im lateinischen Exempel konzentrierter wiedergegeben, bei Konrad breiter ausgestaltet und auf Identifikation angelegt – indirekte Bezugnahme ist jedoch in beide Richtungen denkbar, genauso wie bei den Zeugnissen der bildenden Kunst. In der Fassung der ›Gesta Romanorum‹ wird eine stärker theologisch geprägte Perspektive auf die Geschichte eingenommen. Der Weltdienst des Protagonisten wird von Anfang an negativ dargestellt, denn: amor mundi ipsum impedivit quod deum sequi non potuit.113 Die Umstände der Begegnung zwischen Ritter und

108 Ausgabe: Anton Birlinger: Elsaessische Predigten. Alemannia 2 (1875), S. 1–28, 101–119, 197–223, hier S. 197–199. 109 Überlieferung: Zürich, ZB, Cod. A 131, Bl. 89r–90r (datiert 1393). 110 Robert Priebsch: Walther von der Vogelweide: ›Abschied von der Welt‹ (Lachmann 100,24; Paul 91). Modern Language Review 13 (1918), S. 465–473, hier S. 471. 111 Vgl. Bleck: Der Welt Lohn, S. 149. 112 Bekehrt ging der Ritter zurück. 113 Die Liebe zur Welt machte es ihm schwer, Gott zu folgen.

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Frau Welt, die sich hier Welt (seculum) nennt, werden nicht näher spezifiziert; dafür wird die Wirkung ausführlicher beschrieben: Der Ritter wird Einsiedler. Im lateinischen Exempel aus der Sammlung Breslau, UB, I.F.115 (Klapper: Erzählungen, Nr. 9) ist der Protagonist kein Ritter, sondern ein clericus plurimum uanitatibus seculi deditus.114 Die Umstände der Begegnung erinnern an Konrads Version: cum quadam die sederet in camera sua dictans de amore, apparuit ei quedam domina.115 Wie Wirnt von Gravenberg liest auch der Kleriker Liebesgeschichten. Die Personifikation nennt sich Liebe zur Welt (amor mundi). Nachdem sie ihren zerfressenen Rücken gezeigt hat, endet die Erzählung, ohne dass etwas über das weitere Leben des Protagonisten gesagt würde. In einer Kemenate findet die Begegnung auch in der deutschen Predigt De Confessoribus116 statt. Der Protagonist, ein junger Ritter, liegt wach im Bett, als die Frau Welt erscheint. Der Dialog zwischen Ritter und Frau ist ähnlich wie bei Konrad. Der Rücken der Frau wird jedoch nur abstrakt als widerzeme beschrieben. Ihre Gestalt erklärt die Frau damit, dass sie ihre Diener durch den Tod von ihrem schönen Weltleben trenne und diese dann – als Tote – ihren Freunden widerzeme würden. Der Ritter bekehrt sich und führt fortan ein gottgefälliges Leben. Das Exempel aus der Sammlung Breslau, UB, I.F.607 (Klapper: Erzählungen, Nr. 193) steht in verschiedener Hinsicht Konrads Erzählung sehr nahe. Der Weltdienst und die Turnierfahrten des Ritters werden zu Beginn ausführlich geschildert, der Dialog zwischen Ritter und Frau weist viele Ähnlichkeiten auf, und die Personifikation nennt sich Welt (Mundus). Nach der Begegnung zieht sich der Ritter aus der Welt zurück, dient Gott und erlangt nach dem Tod das Seelenheil. Die bedeutendste Abweichung besteht darin, dass der Ritter der Frau nicht in seiner Kemenate begegnet, sondern auf dem Weg zu einem Turnier, als er per quadam siluam amenam transire debuit.117 Das Motiv der Begegnung im Wald ist in einer etwas anderen Form auch in der deutschen Verserzählung ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ enthalten. Dort wird der Ich-Erzähler von der Frau Welt an einen locus amoenus im Wald geführt, an dem ein höfisches Fest gefeiert wird, bevor Christus als Pilger erscheint, die Frau zwingt, ihre wahre Gestalt zu zeigen, und der locus amoenus sich in ein Höllenfeuer verwandelt, das die Weltdiener verschlingt. Auch in der deutschen Prosaerzählung ›Von der welt valscheit‹ findet die Begegnung während eines Rittes durch den Wald statt. Nach einem Gespräch

114 Ein Kleriker, der den Nichtigkeiten der Welt sehr zugetan war. 115 Als er eines Tages in seiner Kammer saß und sich mit einer Liebesgeschichte beschäftigte, kam eine Dame zu ihm. 116 Von den Beichtvätern. 117 Als er einen schönen Wald zu durchqueren hatte.

128 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 wendet sich die Frau zum Gehen, der Ritter sieht ihren unreinen Rücken und fragt, wer sie sei. Sie antwortet: Ich bin die welt, und erklärt ihre doppelte Gestalt. Die Begegnung ist hier also ganz anders gestaltet als bei Konrad; dennoch zeigt sich ein eindeutiger Einfluss des Konradschen Textes: Der Protagonist, der der Welt 25 Jahre lang gedient hat, wird der von Gravenberg genannt. Dies macht deutlich, dass auch (bewusst?) punktuelle Bezugnahmen auf Ausformungen eines Erzählstoffs geläufig waren. Michel Beheims ›Beispel von ainem weib, was vorn schan und hinden schraglich‹ wird ebenfalls mit einem Ritt des Ich-Erzählers an einen locus amoenus eröffnet. Auf dieser blühenden grünen heide begegnet der Erzähler einer schönen Frau, mit der er den Tag im Gespräch zubringt. Als die Frau sich am Abend zum Gehen wendet, sieht der Erzähler ihren verwesten Rücken und erkennt sie als Frau Welt. Dieser kursorische Überblick zeigt, dass Elemente aus Konrads ›Der Welt Lohn‹ in die Stofftradition eingegangen sind, etwa der Name des Protagonisten oder die Lektüre-Szene in der Kemenate. Dennoch sollte die deutsche Verserzählung nicht vorschnell zur »Vorlage« der jüngeren Texte erklärt werden, denn diese weisen ja auch andere Elemente auf, die nicht in Konrads Text enthalten sind, etwa das Motiv der Begegnung im Wald. Dieses Motiv, das in nuce schon in der Begegnung im virgultum des lateinischen Exempels Fuit miles quidam angelegt ist, erscheint in mehreren Texten, ohne dass sich jeweils eine direkte Bezugnahme feststellen ließe.118 Anhand des Erzählstoffs von der Frau Welt wird noch einmal deutlich, dass der literarische Referenzrahmen nicht als Stammbaum voneinander abhängiger Texte zu verstehen ist, in dem die erhaltenen Fassungen möglichst genau einzusortieren sind, sondern vielmehr als ein kulturell verankertes Wissenskontinuum, in dem Versionen und Kombinationen von Erzählstoffen und Motiven in unterschiedlichen Formen (Gedächtnis, mündliche Erzählung, schriftlicher Text, Bild) verfügbar waren, die aus der historischen Distanz nur noch bruchstückhaft rekonstruierbar sind. Welchen Akzent ein Verfasser seinem Text vor diesem (rekonstruierten) Hintergrund gab, ist das entscheidende Erkenntnisinteresse bei dieser Untersuchung.

118 Das Wald-Motiv ist ein Bestandteil der Stofftradition und nicht zufällig, wie Bleck meint (S. 148).

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2.4 Exkurs: Weltliche Verserzählungen und lateinische Literatur Die lateinische Exempelliteratur ist für die Rekonstruktion des literarischen Referenzrahmens deutscher geistlicher Verserzählungen von zentraler Bedeutung, weil fast alle Erzählstoffe, die in diesen Erzählungen bearbeitet wurden, auch in lateinischen Exempla begegnen. Die Frage stellt sich nun, ob man hinsichtlich der Vermittlung von Erzählstoffen einen Unterschied zwischen geistlichen und weltlichen Erzählungen feststellen kann. Maryvonne Hagby versuchte, für verschiedene Texte des Strickers lateinische Quellen nachzuweisen.119 In seiner Kritik an Hagbys Arbeit weist Grubmüller allerdings zu Recht darauf hin, dass zwar Motivverwandtschaften zwischen deutschen, lateinischen und französischen Texten vorhanden sind, sich aber in den meisten Fällen »die Benutzung eines bestimmten Textes als Vorlage nicht sichern läßt, zumeist auch gar nicht wahrscheinlich ist«.120 Der Stricker habe, so Grubmüller, seine weltlichen Erzählungen in den meisten Fällen »ganz ohne Vorlage aus einem Thema heraus« entwickelt oder »auf verbreitete Erzählmotive zurück[gegriffen], ohne daß wir zeigen könnten, daß ihm eine bestimmte Version vorlag«.121 Auch wenn keine direkten Bezugnahmen vorliegen, stehen diese Texte dennoch in einem gemeinsamen literarischen Referenzrahmen.122 So begegnen etwa Elemente von mala femina-Erzählungen aus (geistlich geprägten) Exempelsammlungen oder Motive aus der lateinischen Komödienliteratur in schwankhaften Verserzählungen wieder.123 Ein Beispiel dafür ist die Komödie ›Lidia‹

119 Hagby: Man hat uns, bes. S. 101–107. 120 Vgl. Grubmüller: Ordnung, S. 95. Eine Ausnahme sieht Grubmüller in dem ›Jungen Ratgeber‹ des Strickers, der auf die Exempelsammlung ›Disciplina clercalis‹ des Petrus Alfonsi zurückgeht, vgl. ebd. S. 101–104. Daneben kommen für manche Fabeln des Strickers Fabeln Odos von Cheritona als Quellen in Frage, vgl. Grubmüller: Ordnung, S. 105. 121 Grubmüller: Ordnung, S. 104. 122 Nicht genauer zu fassende stoffliche Verwandtschaften sind etwa auch bei der ›Halben Decke‹ zu finden (Tubach 2001), ebenso beim thematisch verwandten ›Schlegel‹ Rüdigers des Hinkhofers, vgl. Hanns Fischer: Deutsche Literatur und lateinisches Mittelalter. In: Werk – Typ – Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur (FS Hugo Kuhn). Hrsg. von Ingeborg Glier u.a. Stuttgart 1969, S. 1–19. Der Erzählstoff vom Bauern, der zum Markt fährt, vom Duft einer Apotheke in der Stadt ohnmächtig wird und erst dadurch wiederbelebt werden kann, dass man ihm Mist unter die Nase hält, findet sich sowohl bei Jakob von Vitry (Crane) 191 als auch im französischen Fabliau ›Du vilain asnier‹ (Ausgabe: Nouveau recueil complet des fabliaux (NRCF). Hrsg. von Willem Noomen/Nico van den Boogaart. 10 Bde. Assen 1983–1998, hier Bd. 8, Assen 1994, S. 207–214; 374 f.). 123 Beispiele: Jakob von Vitry (Crane) 221, 227, 251; Stephan von Bourbon: Anecdotes historiques, le´gendes et apologues tire´s du recueil ine´dit d’E´tienne de Bourbon, dominicain du XIIIe

130 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 (2. Hälfte 12. Jahrhundert),124 die von der Liebe der titelgebenden Protagonistin, der Frau des Decius, zum Ritter Pirrus erzählt, der sie zunächst abweist. Auf die erneuten Bitten Lidias fordert Pirrus drei Beweise, dass sie ihren Mann so betrügen kann, dass für Pirrus keine Gefahr aus dem Ehebruch erwächst: Sie soll den liebsten Falken des Decius töten und Decius selbst fünf Barthaare ausreißen sowie einen Zahn ziehen lassen. Lidia geht zu Decius, beklagt sich, dass er den Falken mehr liebe als sie und erwürgt den Vogel. Bevor Decius etwas tun kann, fordert sie ihn schmeichelnd auf, mit ihr Zärtlichkeiten auszutauschen. Dabei reißt sie ihm fünf Barthaare aus und gibt vor, diese seien grau gewesen. Mithilfe des Vorwandes, einer seiner Zähne sei faul und verursache übelriechenden Atem, bringt Lidia Decius auch noch dazu, sich von Pirrus einen Zahn ziehen zu lassen. Um den ihr nun ergebenen Pirrus noch mehr zu beeindrucken, ersinnt sie eine neue List. Sie überzeugt ihren Mann davon, dass im Garten ein verzauberter Baum steht. Wenn jemand ihn besteigt, wird ihm vorgegaukelt, die am Boden befindlichen Personen würden sich miteinander vergnügen. Dies wird dem ungläubigen Decius von Lidia und Pirrus demonstriert, und er ist überzeugt von der Zauberkraft des Baumes, den er daraufhin fällen lässt. Das Motiv des gezogenen Zahns ist auch bei Jakob von Vitry125 und in der deutschen Erzählliteratur zu finden. Es wird in der anonymen Erzählung ›Der Zahn‹126 sowie in Heinrich Kaufringers ›Rache des Ehemannes‹ und ›Drei listigen Frauen‹ verwendet. Das Motiv von dem verzauberten Baum, der zum Ehebruch vor den Augen des Ehemannes genutzt wird, erinnert an die ›Buhlschaft auf dem Baume‹.127 Es finden sich also auch im Bereich weltlicher Erzählstoffe schriftlich erhaltene Ausformungen, die die Bekanntheit der Erzählstoffe bezeugen.128 Dennoch scheint der literarische Referenzrahmen weltlicher Erzählungen stärker als der-

sie`cle. Hrsg. von A[lbert] Lecoy de la Marche. Paris 1877, 237, 242. Ähnliche Motive finden sich in den deutschen Erzählungen ›Die böse Adelheid‹, ›Die böse Frau‹, Heinrich Kaufringers ›Die zurückgelassene Hose‹, ›Das Kerbelkraut‹, ›Der Ritter mit den Nüssen‹. 124 Vgl. Joachim Suchomski: Lateinische Comediae des 12. Jahrhunderts (Texte zur Forschung 32). Darmstadt 1979; Joachim Suchomski: »Delectatio« und »Utilitas«. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur (Bibliotheca Germanica 18). Bern 1975. 125 Jakob von Vitry (Crane) 248. 126 Vgl. Johannes Janota: Der Zahn. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1475 f. Ausgabe: Neues Gesamtabenteuer I, S. 134 f. (Nr. 20). 127 Allerdings fehlt hier noch jedes geistliche Element. Die Verbindung des Motivs mit dem Auftreten transzendenter Figuren ist aber auch schon in der lateinischen und italienischen Exempelliteratur belegt, vgl. Albert Wesselski: Märchen des Mittelalters. Berlin 1925, S. 64 f. und 214 f. 128 Die Nennung der ›Lidia‹ in Hugos von Trimberg ›Registrum multorum auctorum‹ macht die Bekanntheit dieses Textes auch im späteren 13. Jahrhundert deutlich, vgl. Suchomski: Comediae, S. 278.

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jenige geistlicher Erzählungen von nicht fixierten Ausformungen geprägt zu sein, weshalb sich auch weniger Fälle direkter Bezugnahmen feststellen lassen. Diese Problematik sollte aber auch in diesem Bereich bei der Analyse der deutschen Erzählungen nicht zu einer Vernachlässigung derjenigen stoffverwandten Texte führen, die eine (zumindest partielle) Rekonstruktion des Referenzrahmens ermöglichen.

3 Frühe Formen geistlichen Erzählens in der Volkssprache Den literarischen Referenzrahmen einer Erzählung bilden nicht nur stoffverwandte Texte, sondern auch konzeptionelle und ästhetische Traditionen, auf die ein Verfasser sich (bewusst oder unbewusst) bezieht. Geistliche Verserzählungen stehen so gesehen in einer langen Tradition geistlichen Erzählens in der Volkssprache. Das Grundmovens dieser literarischen Tradition besteht darin, lateinisch-klerikal geprägte religiöse Inhalte einem nicht oder nur beschränkt lateinkundigen, meist laikalen Publikum nahezubringen.129 Dabei steht diese volkssprachige geistliche Literatur in ständiger Konkurrenz zu weltlichen, teilweise mündlich tradierten und realisierten Literaturformen, von denen sie sich absetzt, die sie aber zugleich bis zu einem gewissen Grad zu integrieren versucht, um die volkssprachigen Rezipienten zu erreichen.130 Die Rezipienten, an die die frühen volkssprachigen geistlichen Dichtungen gerichtet sind, unterschieden sich wohl kaum von denjenigen der mündlichen Heldenepik-Traditionen. Es geht also nicht vorrangig darum, die weltliche Literaturtradition zu ersetzen, sondern vielmehr, Elemente aus der volkssprachigen Literaturtradition mit religiösen Inhalten zu verbinden.131 Die Situation geistlichen Erzählens in der Volkssprache ist damit doppelt prekär, da es sich zwischen der lateinisch-klerikalen Tradition

129 Zum geistlichen Erzählen in althochdeutscher Zeit vgl. etwa Müller: Erzählen und Erlösen. 130 Vgl. Haubrichs: Labor sanctorum. Diese Situation wird etwa im Prolog des ›Annoliedes‹ deutlich, in dem der Protagonist Anno den Helden aus der weltlichen Dichtung gegenübergestellt wird und diese übertreffen soll: Wir ho ˆrten ie dikke singen / von alten dingen: / wıˆ snelle helide vuhten, / wıˆsi veste burge bre ˆchen, / wıˆsich liebin vuiniscefte schieden, / wıˆrıˆche kunige al zegiengen. / nu ˆ ist cıˆt, daz wir dencken, / wıˆ wir selve sulin enden. / Crist, der vnser he ´ro guo t, / wıˆ o manige ceichen her vns vure dut, / alser ˆ uffin Sigeberg havit geda ˆn / durch den diurlıˆchen man, / den heiligen bischof Annen, / durch den sıˆnin willen (Ausgabe: Das Annolied. Mhd. und Nhd. Hrsg., übersetzt u. kommentiert von Eberhard Nellmann. 4. Aufl. (RUB 1416). Stuttgart 1996, V. 1 ff.). 131 Vgl. Eckart Conrad Lutz: Literaturgeschichte als Geschichte von Lebenszusammenhängen. Das Beispiel des Ezzo-Liedes. In: Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang. Ergebnisse des Troisie`me Cycle Romand 1994. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz (Scrinium Friburgense 8). Freiburg Schweiz 1997, S. 95–145, hier S. 129 f. und 144.

132 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 einerseits und der volkssprachig-weltlichen Literaturtradition andererseits etablieren muss. Bei geistlichen Erzählungen in der Volkssprache stellt sich also jeweils die Grundfrage, wie der Text dieser Situation begegnet, welche (gerade auch aus der weltlichen Literatur stammenden) konzeptionellen und ästhetischen Strategien verwendet werden, um religiöse Inhalte für ein nicht-lateinkundiges und nicht theologisch gebildetes Publikum im narrativen Raum erfahrbar zu machen. Im Lauf der Jahrhunderte sind unterschiedliche Modelle der Integration und Instrumentalisierung von Elementen aus weltlichen Literaturtraditionen zu beobachten. Ein Blick auf den diachronen Wandel geistlichen Erzählens in der Volkssprache und die ihm zugrundeliegenden konzeptionellen Modelle soll dies verdeutlichen.132

3.1 Biblische Figuren als Helden: ›Die altdeutsche Genesis‹ In der ›Altdeutschen Genesis‹ (2. Hälfte 11. Jahrhundert)133 wird der biblische Stoff in deutschen Versen so dargeboten, dass auch eine Annäherung an die Lebenswelt des wohl laikalen Publikums stattfinden kann.134 So wird beispielsweise besonders viel Wert auf emotionale Situationen gelegt, etwa bei der Klage Jakobs um Rahel: Hoy, weng Iacob, / wıˆe leide dir getet der tot, / daz er dir nam daz wib, / durch die du choletest dinen lıˆp / einez unt zueinzich ia ˆre die du dinem oheime dienotest, / ˆ e du sıˆgewunnest. / Ich pin des gewis / daz unter iw zuisk / niene wart diu minne so groz, / so do was des iameres gruo z, / do du sahe wib sco ˆniste / wib liebeste / den pitteren tot chiesen / unt du si dannen nemahtest erlosen (V. 3358 ff.). Die biblischen Personen werden als adlige Helden beschrieben, wenn etwa die angeborene Edelkeit Josephs sich trotz seines harten Sklavenlebens in Ägypten offenbart: unde was er doch so scone / same diu wunnesame pluo me, / daz si alle wunter nam, / wannen er ware so wol getan. / Vnder dere menige / gebarote er gelich einemo helde (V. 3727 ff.). Auch das Auftreten Jakobs und seiner Söhne vor dem Pharao erinnert an eine Begrüßungsszene an einem zeitgenössischen

132 Bei diesem Überblick kann es nicht darum gehen, die Texte in ihrer ganzen Komplexität zu würdigen; der Fokus liegt jeweils nur darauf, wie in diesen Texten Elemente aus der volkssprachig-weltlichen Literaturtradition integriert werden. 133 Vgl. Ursula Hennig: Altdeutsche Genesis. In: 2VL 1 (1978), Sp. 279–284 und 2VL 11 (2004), Sp. 80. Ausgabe: Die Altdeutsche Genesis. Nach der Wiener Handschrift. Hrsg. von Viktor Dollmayr (ATB 31). Halle/Saale 1932. 134 Vgl. Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen Mittelalter (1050/60–1160/70). 2., durchgesehene Aufl. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit; Bd. 1/2). Tübingen 1994, S. 65–68.

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Köngishof: Iacob iouch sine sune / uile drate chomen si ime. / der selbe altiskche / was ein ˆ erlich re ˆche, / er hiez die sune mit ime ge ˆn, / er gıˆe fur den chunich ste ˆn. / o ˆewedir ı halp sehse / stunten die herren so lu ˆste, / si waren alle ˆ erlich, / in newas da nieht gelich, / als ime si got het irchorn, / want er wolte uon in werden geborn (V. 5126 ff.). Der Adel der Familie Jakobs wird in heilsgeschichtlicher Perspektive dadurch erhöht, dass aus ihr Gottes Sohn hervorgehen wird; die Mittel, diesen Adel darzustellen, erinnern aber an die heroisch-volkssprachige Literaturtradition der Entstehungszeit. So wird dem Publikum der Zugang zu dem heilsgeschichtlichen Stoff erleichtert. Ein Bearbeiter der ›Altdeutschen Genesis‹, dessen Umformung in der sog. Millstätter Handschrift überliefert ist, ging in dieser Hinsicht noch weiter, indem er zusätzliche Veränderungen vornahm, besonders an Stellen, die den zeitgenössischen Moral- und Gesellschaftsvorstellungen zuwiderliefen. Joseph Diemer nennt als Beispiele die Darstellung der dem Publikum wohl unverständlich erscheinenden Benachteiligung Esaus, des Jägers, gegenüber Jakob, dem Untätigen, sowie die Beschneidung der Sichemiten und Jakobs (allzu) lange währenden Dienst um Rahel.135

3.2 Zwischen Kriegerideal und heilsgeschichtlicher Rolle: Holofernes als problematischer Held in der ›Älteren Judith‹ und der ›Jüngeren Judith‹ Wie in der ›Altdeutschen Genesis‹ wird auch in der ›Älteren Judith‹ (frühes 12. Jahrhundert)136 und der ›Jüngeren Judith‹ (2. Hälfte 12. Jahrhundert)137 jeweils nur eine biblische Episode nacherzählt. In der ›Älteren Judith‹ gibt es nur wenige Spuren einer Anpassung der biblischen Inhalte an die Lebenswelt der Rezipienten, etwa die Verwendung vertrauter, aber eigentlich anachronistischer Bezeichnungen wie bischof (V. 43) und kamire ˆri (V. 71). Auffallend sind außerdem zwei Wendungen, die aus der Heldenepik geläufig sind: Die Anfangsformel Ein kunic hıˆz und die Vorausdeutung auf das Ende der Geschichte mit der Konjunktion sıˆt, wie man sie etwa aus dem

135 Vgl. Genesis und Exodus nach der Millstätter Handschrift. Hrsg. von Joseph Diemer. Bd. 1: Einleitung und Text. Wien 1862, S. XIV f. 136 Vgl. Werner Schröder: Ältere Judith; Drei Jünglinge im Feuerofen. In: 2VL 1 (1978), Sp. 288–294. Ausgabe: Die kleinen Denkmäler der Vorauer Handschrift. Hrsg. von Erich Henschel/ Ulrich Pretzel. Tübingen 1963, S. 78–93. 137 Vgl. Werner Schröder: Jüngere Judith. In: 2VL 4 (1983), Sp. 923–926. Ausgabe: Die Jüngere Judith aus der Vorauer Handschrift hrsg. von Hiltgunt Monecke (ATB 61). Tübingen 1964. Zu den verschiedenen Fassung des Judith-Stoffes vgl. auch Lähnemann: Hystoria Judith.

134 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Nibelungenlied kennt: daz [Holofernes] was der argisti lıˆb. / sıˆt slu ˆg in Judithi, ein 〈scho ˆni〉 wıˆb (V. 15 f.). Die ›Jüngere Judith‹ ist dagegen stärker von Elementen der weltlichen Literaturtradition geprägt. Anders als in der ›Älteren Judith‹ wird hier – zumindest zu Beginn des Textes – kein starker Kontrast zwischen guten Juden und schlechten Heiden gezeichnet. Holofernes, der Gefolgsmann Nebukadnezars, erscheint zunächst als positive Figur, als ein helt vil vrumich (V. 229), ein helt ˆ erlıˆch (V. 233). Die im biblischen Text angelegten Beschreibungen des Heeres und der Kriegführung des Holofernes werden ausführlich wiedergegeben – es handelt sich dabei um Motive, die beim intendierten Publikum wohl auf Interesse stießen. Dabei kommt es dem volkssprachigen Verfasser entgegen, dass auch im biblischen Text bereits ein Heldenethos angelegt ist, das in einigen Zügen demjenigen seiner Zeit ähnlich ist. Das zeigt sich etwa in der Szene, als Holofernes und seine Helden über die Aussage des Kriegsgefangenen Achior, die Juden seien im Kampf unbesiegbar, wenn ihnen Gott beistehe, in Zorn geraten: dıˆHolofernes helde begunden zurnen al, / sıˆwolden in gerne erslagen haben, / daz er in dıˆwa ˆrheit mu ˆse sagen (V. 662 ff.). Die Konvergenz von bekannten literarischen Vorstellungen und biblischem Erzählstoff erleichtert die Integration der beiden Bereiche. Vielleicht kann man darin einen Grund dafür sehen, dass bevorzugt alttestamentliche Kriegergeschichten in volkssprachige Verse übertragen wurden. Allerdings führt diese Integration gerade beim Judith-Stoff auch zu theologischen Deutungsproblemen. Holofernes ist zwar ein Held, aber er steht in heilsgeschichtlicher Perspektive auf der falschen Seite – die zunächst positive Schilderung muss deshalb relativiert werden. Dies wird dadurch erreicht, dass neben das zu Beginn aufgerufene heroische Deutungsmuster das theologische Deutungsmuster der Tugenden und Laster tritt. Das Laster der Superbia, dessen sich Nebukadnezar schuldig gemacht hat, wird nun auch Holofernes zugeschrieben: Der he ˆrre Holofernes / der vermaz sich des, / daz (daz) sıˆn [gemeint ist Achior] wıˆssagen / im mu ˆse erga ˆn al ze schaden. (V. 681 ff.). Etwa in der Mitte der Erzählung tritt die uneingeschränkt positive Protagonistin Judith auf (V. 943 ff.), deren Tugenden nun den Lastern des Holofernes gegenübergestellt werden. Nachdem Judith sich für den Gang zu Holofernes geschmückt hat, ist sie zwar außerordentlich schön (übereinstimmend mit dem biblischen Bericht), aber es wird betont, dass diese Schönheit nicht von junchlicher ubermu ˆt kommt, sondern von ir tugeden vil gu ˆt (V. 1155 f.). Während bei Judith also selbst die äußerliche Schönheit durch innere Tugenden erklärt wird, verstrickt sich der zunächst als Held erscheinende Holofernes während Judiths Besuch immer mehr in den Lastern der Luxuria (du ˆ begunde er sa ˆ brinnen / na ˆch ir edelen minnen, V. 1227 f.; du ˆ erchuhte sich sıˆn gemu ˆte / von der vrouwen gu ˆte, / er begunde harte brinnen / von ir edelen minnen, V. 1417 ff.) und der Gula (er wart des scho ˆnen wıˆbes also ˆ vro ˆ, / daz er me ˆre ertranch do ˆ / in mete jouch in wıˆne / danne er

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deheines tages ˆgetrunche ı ze sıˆnem lıˆbe, V. 1429 ff.). So wird der in der ersten Hälfte des Textes konstruierte Held in der zweiten Hälfte bis hin zum schmachvollen Tod durch die Hand einer Frau destruiert, während Judith als tugendhafte Idealfigur in den Vordergrund tritt.

3.3 Der Heilige und die Weltkinder: Veldekes ›Servatius‹ und der ›Oberdeutsche Servatius‹ Neben biblischen Stoffen wurden auch Legenden in die Volkssprache übertragen, etwa die ›Servatius‹-Legende durch Heinrich von Veldeke.138 Der wohl um 1160/70 im Auftrag der Gräfin Agnes von Loon entstandene ›Servatius‹ konzentriert sich auf die Figur des Heiligen sowie auf die Lokalgeschichte von Maastricht.139 Weltliche Prachtentfaltung dient in diesem Text hauptsächlich als Negativfolie, von der Servatius sich distanziert: Hem en stont sijn herte nyet / tot werrentliken roeme (V. 1044 f.). Die Abneigung des Servatius gegenüber den Weltfreuden wird auch als Grund genannt, warum sich die Tongerer über ihn ärgern und ihn schließlich aus der Stadt vertreiben. Eine inhaltliche Anpassung des Legendenstoffs an ein laikales Publikum findet, abgesehen von Sprache und Versform, kaum statt. Einen deutlicheren Bezug zu weltlich-höfischen Literaturtraditionen140 weist dagegen der ›Oberdeutsche Servatius‹ (um 1190)141 auf. Es finden sich sowohl

138 Vgl. Ludwig Wolff/Werner Schröder: Heinrich von Veldeke. In: 2VL 3 (1981), Sp. 899–918 und 2 VL 11 (2004), Sp. 638. Ausgabe: Heinric van Veldeken: Sente Servas. Hrsg. und übersetzt von Jan Goossens/Rita Schlusemann/Norbert Voorwinden (Bibliothek mittelniederländischer Literatur 3). Münster 2008. 139 Vgl. dazu Johannes A. Huisman: Die Funktion der Ortsnamen in Veldekes Servatiuslegende. In: Namen in deutschen literarischen Texten des Mittelalters. Hrsg. von Friedhelm Debus u.a., Neumünster 1989, S. 225–239. Zum Vergleich von Veldekes ›Servatius‹ und dem ›Obd. Servatius‹ vgl. Ludwig Wolff: Der ›Servatius‹ Heinrichs von Veldeke und der ›Oberdeutsche Servatius‹. In: Sagen mit sinne (FS Marie-Luise Dittrich). Hrsg. von Helmut Rücker (GAG 180). Göppingen 1976, S. 51–62. Zu den Quellen der beiden Bearbeitungen vgl. Jan Goossens: Zur Quelle des ›Oberdeutschen Servatius‹. PBB 128 (2006), S. 398–408; Jan Goossens: Zu den Quellen von Veldekes ›Servatius‹. ZfdPh 127 (2008), S. 1–14. 140 Zu weltlichen Elementen in der Legende vgl. auch James K. Walter: The ›Upper German Servatius‹. Secular influences on the art of a saint’s life in the late twelfth century. In: Nu lo ˆn ich iu der ga ˆbe (FS Francis G. Gentry). Hrsg. von Ernst Ralf Hintz (GAG 693). Göppingen 2003, S. 285–298. 141 Vgl. Kurt Gärtner: Oberdeutscher Servatius. In: 2VL 7 (1989), Sp. 1–5 und 2VL 11 (2004), Sp. 1074. Ausgabe: Sanct Servatius oder Wie das erste Reis in deutscher Zunge geimpft wurde. Hrsg. von Friedrich Wilhelm. München 1910.

136 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Anklänge an die zeitgenössische höfische Literatur als auch an ältere Werke wie das ›Rolandslied‹ des Pfaffen Konrad und die ›Kaiserchronik‹.142 Die Beschreibung der Stadt Tongern, aller bürge bluome (V. 143), steht am Beginn der Erzählung. Die Pracht der Stadt und ihrer Bewohner, unter denen manige[r] helt balt (V. 130) zu finden ist, wird detailliert geschildert. Als von der Reue der Tongerer über ihre Behandlung des Servatius berichtet wird, heißt es: die iüngelinge vergazen / reiterlicher tagalte (V. 980 f.). An heldenepisches Erzählen erinnert die Beschreibung der Zerstörung Tongerns durch die Hunnen (V. 1726–1808) und der Schlacht Karls des Großen gegen ein sarazenisches Heer, das er mit der Hilfe des Servatius besiegt (V. 2001–2132): Karl hat eines lewen muot (V. 2013); zwischen den herigen bæiden, / der christen unde der hæiden, / was manic liehtiu brünne (V. 2027 ff.); si macheten helme scharte / unde sluogen wunden weite (V. 2046 f.); dehæin brünne enwas so glanz / sine wære schiere verschroten (V. 2062 f.); si wuoten untz an die waden / in dem bluotigen se (V. 2114 f.). Diese Versatzstücke aus der heroischen Literaturtradition stehen aber immer in einer geistlichen Perspektive: Etzel verwüstet das Land der Christen nur, weil Gott ihn dorthin gesandt hat, um Tongern, das sich gegen Servatius erhoben hat, zu bestrafen. Karl siegt dann am Tag des heiligen Servatius und mit dessen Hilfe über das sarazenische Heer. Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen Veldekes ›Servatius‹ und dem ›Obd. Servatius‹ im Bezug auf die Integration weltlich-höfischer Elemente bei einem der an die Vita angehängten Mirakel, das von der Errettung eines Ritters aus der Hölle berichtet. Bei Veldeke (V. 5839–6134) beginnt das Wunder mit einer Beschreibung der Stadt Nivelles, in der sich das Mirakel zugetragen hat. In dieser Stadt lebt eine fromme Klosterfrau namens Ute, die aus einer edlen Familie stammt. Ihr Bruder, ein Ritter, ist ein böser Mann und stirbt in Sünden; die Schwester betet für sein Seelenheil. Eines Tages erscheint ihr der Bruder und offenbart ihr, dass er aufgrund einer dreimaligen Pilgerfahrt, die er zum Grab des Servatius unternommen habe, von diesem Heiligen aus der Hölle erlöst worden sei. Der Bruder empfiehlt der Schwester daraufhin, Servatius zu verehren. Im ›Obd. Servatius‹ steht nicht die Beschreibung des Handlungsortes, sondern des Protagonisten am Beginn des Mirakels: von einem iüngelinge / sult ir vernemen ein mære. / sein chünne was erbære, / auch waser selbe grozes namen. / den leip mohter niht gezamen, / ern wære gar der werlde chint, / als diche sein ebenalter sint. / sein ahte was ce gote swach: / an der tumphæit er fürbrach, / swa er die mohte getreiben. / mit turnæien unde mit weiben / teter sich chunt dem lande. / an raube unde an brande / enchundin niemen geschuldic sagen (V. 3322 ff.).

142 Vgl. Gärtner: Obd. Servatius, Sp. 4.

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Der Protagonist wird mit geläufigen Topoi aus der höfischen Dichtung beschrieben, er stammt aus edlem Geschlecht, gibt sich weltlichen Vergnügungen wie Turnier und Frauendienst hin. Seine Weltliebe wird zwar getadelt, aber er erscheint doch nicht als durchweg schlechter Mensch, denn er hat keine schweren Verbrechen begangen. Nach seinem plötzlichen Tod betet seine Schwester, die Klosterfrau, für sein Seelenheil. Im ›Obd. Servatius‹ wird dabei nicht, wie bei Veldeke, darauf insistiert, dass die Schwester den irdischen Tod des Bruders gar nicht beklagt, sondern nur an seinem Seelenheil interessiert ist. Der Bruder erscheint der Schwester und erzählt von seiner Rettung durch Servatius, der für ihn erwirkt habe, dass er nur ins Fegefeuer, nicht in die ewige Hölle komme. Damit endet die Erzählung. Im ›Obd. Servatius‹ ist der Protagonist so gezeichnet, dass er als Identifikationsfigur für laikale Rezipienten dienen kann, die für seine weltlichen Vergnügungen Verständnis aufbringen und sich deshalb von einer solchen Figur umso eher belehren lassen. Bei Veldeke dagegen bietet sich eine Identifikation mit dem bösen Ritter nicht an, die Geschichte zieht ihre Wirkung eher aus dem Erstaunen über die Macht des Servatius, der selbst einen so üblen Menschen aus der Hölle erretten kann.

3.4 Die Kaiserin Crescentia als Idealfigur Die Erzählung von der keuschen Kaiserin Crescentia ist weder biblischen noch legendarischen Ursprungs. Hier steht eine gewöhnliche menschliche Figur im Zentrum, die sich jedoch durch ihre besondere Standhaftigkeit auszeichnet und als Lohn dafür Hilfe von einem Heiligen erfährt. Die Geschichte ist im 12. Jahrhundert als deutsche Verserzählung einerseits als Teil der ›Kaiserchronik‹, andererseits als selbständige Erzählung überliefert.143 Zwei kaiserliche Brüder aus Rom, der schöne und der hässliche Dietrich, werben um die afrikanische Königstochter Crescentia. Diese soll sich einen der Brüder zum Ehemann wählen und damit auch den Kaiser von Rom bestimmen. Sie wählt den hässlichen Dietrich, und dieser wird ein guter Kaiser. Als er zu einer Heerfahrt aufbricht, gibt er Crescentia in die Obhut seines Bruders, des schönen Dietrichs. Sobald der Kaiser weg ist, beginnt der schöne Dietrich, um seine Schwägerin zu werben, doch diese weist ihn ab, kann sich schließlich aber nur mithilfe einer List seiner erwehren: Sie gibt vor, ihn erhören zu wollen, und lässt einen Turm bauen, in den sie den Schwager zum Stelldichein lädt. Als dieser jedoch den Turm betreten hat, schließt Crescentia die Tür ab und hält Dietrich nun gefangen, bis die Rückkehr ihres Mannes angekündigt wird. Dann befreit sie ihn und verspricht ihm, ihrem Mann nichts von seinen Nachstellungen zu sagen. Der befreite schöne Dietrich verleumdet Crescentia aber bei ihrem Mann und bezichtigt sie des Ehebruchs. Der Kaiser befiehlt, sie

143 Vgl. Eberhard Nellmann: Crescentia. In: 2VL 2 (1980), Sp. 19–23.

138 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 hinzurichten, ohne sie anzuhören. Crescentia wird in den Tiber geworfen, doch ein Fischer rettet sie und bringt sie zu seinem Herrn, einem Herzog. Sie wird dort gut aufgenommen und der Herzog überträgt ihr die Erziehung seines Sohnes. Der Vitztum des Herzogs verliebt sich in Crescentia und wirbt um sie, aber sie weist ihn ab. Um sich zu rächen, erschlägt er eines Nachts den Sohn des Herzogs und beschuldigt Crescentia des Mordes. Der Herzog versucht Crescentia zu schonen, aber der Vitztum sorgt dafür, dass sie zum Tod verurteilt und ins Meer geworfen wird. Sie stirbt aber nicht, sondern wird auf eine Insel gespült. Dort erscheint ihr der heilige Petrus und verleiht ihr die Macht, Aussätzige zu heilen, wenn diese öffentlich vor ihr die Beichte ablegen. Petrus begleitet Crescentia über das Wasser wieder an Land. In der Zwischenzeit sind der Kaiser, sein Bruder, der Herzog und sein Vitztum alle von Aussatz befallen worden. Crescentia heilt den Herzog und den Vitztum. Als der Herzog jedoch erfährt, dass der Vitztum Crescentia fälschlich angeklagt hatte, lässt er ihn ins Meer werfen. Crescentia geht, ohne erkannt worden zu sein, an den Hof des Kaisers. Sie heilt nun auch den Kaiser und dessen Bruder. Der hässliche Dietrich ist sehr betrübt, als er erfährt, dass seine Frau zu Unrecht bestraft wurde. Nun gibt sich Crescentia zu erkennen. Die Freude am Hof ist groß, doch Crescentia weigert sich, wieder in ihren alten Stand zurückzukehren. Sie bringt ihren Mann dazu, das Reich seinem Bruder zu übergeben und, ebenso wie sie selbst, in ein Kloster zu gehen.

Die Erzählung ist von einer Doppelstruktur geprägt. Crescentia wird zunächst von ihrem Schwager, dann vom Vitztum begehrt, beschuldigt und einem Hinrichtungsversuch durch Ertränken unterzogen. Das erste Mal wird sie von einem Fischer gerettet, das zweite Mal von Petrus. Das Eingreifen einer transzendenten Figur bedeutet den Wendepunkt in der Geschichte: Crescentia ist ihren früheren Peinigern, die mittlerweile alle aussätzig geworden sind, als Helferin gegenübergestellt, verzeiht ihnen und heilt sie mit göttlicher Wunderkraft. Während der Vitztum trotz Crescentias Vergebung vom Herzog hingerichtet wird, kann sie ihren Ehemann und ihren Schwager versöhnen. Das Elend von Crescentias Weltleben, das hauptsächlich durch die von der Luxuria getriebenen Männer verursacht wurde, kann durch das himmlische Eingreifen wieder aufgehoben, die Ordnung wiederhergestellt werden. Dennoch ist die Versöhnung mit der Welt nur vordergründig, denn Crescentia kehrt nicht in ihre Funktion als Kaiserin zurück, sondern geht ins Kloster. Diese Konsequenz zeigt eine kritische Perspektive auf die Welt, der das klösterliche Leben als sicherer Weg zu Gott gegenübergestellt wird. Zwar wird auch die eheliche Liebe zwischen dem Kaiser und Crescentia betont, diese erscheint aber nicht als gleichwertige Lebensform neben dem klösterlichen Leben. Crescentia wird durch ihre Vorbildhaftigkeit gewissermaßen ›geheiligt‹: sıˆt wart hailich daz wıˆp.144

144 ›Crescentia A‹, V. 12802. Ausgabe: Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen. Hrsg. von Edward Schröder (MGH Deutsche Chroniken I,1). Berlin 1895 (Neudruck Berlin/Zürich 1964), S. 289–314 (V. 11352–12812).

4 Konzeptionelle und ästhetische Integrationsmodelle

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In der ›Kaiserchronik‹ ist die ›Crescentia A‹ (1460 V.) in die Genealogie der römischen Herrscher eingebunden. Möglicherweise handelt es sich bei der Erzählung um eine ursprünglich selbständige Fassung, die in den Großtext integriert wurde. Die nur fragmentarisch erhaltene ›Crescentia B‹,145 die nur geringe inhaltliche Abweichungen gegenüber der Fassung A aufweist,146 ist selbständig überliefert. Der einzige Textzeuge dieser Fassung enthält neben den Fragmenten von ›Crescentia B‹ Bruchstücke von zwei weiteren Texten: der ›Scoph von dem lone‹147 und die ›Cantilena de conversione Sancti Pauli‹.148 In dem ersten Gedicht werden heilsgeschichtliche Aspekte und Ehefragen behandelt. Die Schöpfung wird als dem Menschen untertan beschrieben und die Tugenden werden erwähnt, die erforderlich sind, um ewigen Lohn zu erlangen. Die ›Cantilena‹, deren Anfang überliefert ist, beginnt mit einer Klage über die Vergänglichkeit der Welt, dann bricht der Text ab. Wahrscheinlich handelte es sich bei der Handschrift also um eine Sammlung, die verschiedene narrative und didaktische geistliche Texte vereinte, wobei die Erzählung von der unschuldig verfolgten Ehefrau als exemplarisches Fallbeispiel zu den im ›Scoph von dem lone‹ behandelten Ehefragen verstanden werden konnte.

4 Geistliches Erzählen zur Zeit der Etablierung des Texttyps: Konzeptionelle und ästhetische Integrationsmodelle Im 13. Jahrhundert hat sich die geistliche Verserzählung – neben anderen kleinepischen Texttypen – innerhalb des literarischen Systems etabliert. In dieser Zeit ist vermutlich ein großer Teil der erhaltenen Texte entstanden; der Texttyp konnte eine gewisse Geltung beanspruchen, da nur wenig Konkurrenz durch alternative Formen, Geistliches in der Volkssprache zu erzählen, bestand – jedenfalls im Bereich schriftlich fixierter Texte. Im Gegensatz zur Stabilität auf der formalästhetischen Ebene lassen sich im Hinblick auf die konzeptionellen Grundlagen der Erzählungen – also bezüglich der Frage, wie religiöse Inhalte und höfische Literaturtradition integriert werden – große Unterschiede feststellen. Ich werde in der Folge verschiedene Integrationsmodelle skizzieren, die den konzeptionel-

145 Colmar, Archives De´partementales du Haut-Rhin, Ms. no. 559/560 (alem. Sprachgebiet, 4. Viertel 12. Jahrhundert). Vgl. dazu Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. Teil I: Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Wiesbaden 1987, Textband S. 59 f. Ausgabe: Ernst Martin: Colmarer Bruchstücke aus dem 12. Jahrhundert. ZfdA 40 (1896), S. 305–331. 146 Vgl. Karen Baasch: Die Crescentialegende in der deutschen Dichtung des Mittelalters (Germanistische Abhandlungen 20). Stuttgart 1968, S. 7–26. 147 Vgl. Edgar Papp: Scoph von dem lone. In: 2VL 8 (1992), Sp. 955–959. 148 Vgl. Edgar Papp: Cantilena de conversione Sancti Pauli. In: 2VL 1 (1978), Sp. 1172 f.

140 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 len Hintergrund von Gruppen von Texten bilden. Dabei geht es um unterschiedliche Vorstellungen des Verhältnisses von religiöser und weltlicher Sphäre zueinander, die durch Konfliktfälle auf den Prüfstand gestellt und bestätigt werden können. Ein erstes Integrationsmodell ist von der Tendenz geprägt, religiöse und weltliche Sphäre zu harmonisieren.149 Dies zeigt sich etwa darin, dass laikale Lebensformen positiv dargestellt werden und dadurch ein Identifikationsangebot für laikale Rezipienten geschaffen wird, oder dass versucht wird, möglichst viele Elemente weltlich-höfischer Literaturtraditionen in den geistlichen Erzählstoff zu integrieren. Da sich die Erzählstoffe nicht immer ohne weiteres dafür eignen, können auf diese Weise auch Brüche entstehen, die jedoch nicht immer problematisiert oder explizit gemacht werden. Die anderen drei Modelle basieren im Gegensatz zum ersten Modell auf der Annahme einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit von weltlich-höfischer und religiöser Sphäre. Auf die Frage, wie die Inkongruenz bewältigt werden kann, geben die drei Modelle je andere Antworten. Im zweiten Modell wird die Inkongruenz von weltlicher und religiöser Sphäre durch Entwürfe idealer Lebensführung in der Welt oder durch Beispiele des Wirksamwerdens besonderer göttlicher Gnade bewältigt. Das dritte Modell zeigt, wie menschliche Figuren der Inkongruenz und der sich daraus ergebenden Gefährdung für ihr Seelenheil durch kluges Verhalten in der Welt begegnen können. Es unterscheidet sich vom zweiten und vierten Modell vor allem dadurch, dass hier keine idealen oder radikalen, sondern eher pragmatische Lebensentwürfe präsentiert werden, in denen nicht die göttliche Gnade, sondern die Lebensklugheit der menschlichen Figuren die zentrale Rolle spielt. Das vierte Modell führt im Gegensatz dazu als Reaktion auf die Inkongruenz von religiöser und weltlicher Sphäre Beispiele radikaler Weltabkehr vor – die integrierten Elemente weltlich-höfischer Literatur erscheinen als Negativfolie, vor der sich die idealen Lebensentwürfe außerhalb der weltlichen Sphäre konturieren lassen. Die skizzierten Integrationsmodelle sind nicht als feste Kategorien zu verstehen, nach denen die Erzählungen klassifiziert werden könnten oder sollten – es handelt sich vielmehr um unterschiedliche Tendenzen, die sich auch überschneiden und kombiniert werden können. Für eine präzise Beschreibung der

149 Dieses Modell wird etwa durch den in der höfischen Literatur wiederholt anzutreffenden Topos ›Gott und der Welt gefallen‹ repräsentiert, vgl. dazu Klaus Hofbauer: Gott und der Welt gefallen. Geschichte eines gnomischen Motivs im hohen Mittelalter (Europäische Hochschulschriften I 1630). Frankfurt a.M. u.a. 1997.

4 Konzeptionelle und ästhetische Integrationsmodelle

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Integrationsstrategien der Einzeltexte ist es jedoch hilfreich, sich zunächst die grundsätzlichen Möglichkeiten der Integration von religiöser und weltlicher Sphäre bewusst zu machen, wie sie durch die vier Modelle repräsentiert werden, um vor diesem Hintergrund eine differenzierte Analyse des jeweiligen Textes vorzunehmen.

4.1 Harmonisierung von weltlicher und religiöser Sphäre 4.1.1 Konrad von Fußesbrunnen und Konrad von Heimesfurt Der Versuch, religiöse Inhalte und Versatzstücke aus der höfischen Literaturtradition zu harmonisieren, tritt in der bibelepischen Erzählung ›Die Kindheit Jesu‹ Konrads von Fußesbrunnen (3027 V., um 1200)150 besonders deutlich hervor.151 Im Prolog stellt sich der Verfasser des Textes zunächst selbst als Weltkind vor: wand ich ie want mıˆnen sin / ze der werlde lo ˆn unt niht na ˆch got. / luge, schimph unde spot, / dar ˆ uf stuont aller mıˆn gedanc (V. 66 ff.), betont dann aber, dass er sich jetzt von der Welt abgewandt habe. Die Weltzugewandtheit erscheint zwar als negativ, kann zugleich jedoch auch als Identifikationsangebot an ein höfisch-laikales Publikum verstanden werden. Außerdem muss die Abgrenzung des geistlichen Werks von früheren (nicht erhaltenen) weltlichen Werken (V. 86 ff.) bis zu einem gewissen Grad als Topos verstanden werden, der das Publikum auf einen geistlichen Text einstimmen soll.152

150 Vgl. Hans Fromm: Konrad von Fußesbrunnen. In: 2VL 5 (1985), Sp. 172–175 und 2VL 11 (2004), Sp. 877. Ausgabe: Konrad von Fußesbrunnen: Die Kindheit Jesu. Hrsg. von Hans Fromm/ Klaus Grubmüller. Berlin/New York 1973. Zur Quelle Konrads von Fußesbrunnen vgl. Konrad von Fußesbrunnen (Fromm/Grubmüller), S. 2–9. Es handelte sich dabei wohl um eine unbekannte Version des apokryphen Ps.-Matthäus-Evangelium, die das Motiv der zweifachen Einkehr im Haus des Räubers enthielt, wie sie etwa in der Handschrift London, BL, Arundel 404 vorliegt. Textabdruck nach dieser Handschrift in Konrad von Fußesbrunnen (Fromm/Grubmüller), S. 5–9. Vgl. auch: Latin Infancy Gospels. A New Text, with a Parallel Version from Irish. Hrsg. von M[ontague] R. James. Cambridge 1927, S. 122–126. Zum Stoff der Kindheit Jesu im Allgemeinen vgl. Achim Masser: Bibel, Apokryphen und Legenden. Geburt und Kindheit Jesu in der religiösen Epik des deutschen Mittelalters. Köln 1967. 151 Vgl. Konrad von Fußesbrunnen (Fromm/Grubmüller), S. 45–47; Nikolaus Henkel: Religiöses Erzählen um 1200 im Kontext höfischer Literatur. Priester Wernher, Konrad von Fußesbrunnen, Konrad von Heimesfurt. In: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter, S. 1–21, bes. S. 9–12; Stefanie Schmitt: Zwischen Heilsgeschichte und höfischer Literatur. Erzählen von der Kindheit Jesu beim Priester Wernher und bei Konrad von Fußesbrunnen. In: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. Hrsg. von Elke Brüggen u.a. Berlin 2012, S. 421–436. 152 Vgl. Konrad von Fußesbrunnen (Fromm/Grubmüller), S. 47. Fromm und Grubmüller gehen

142 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Die höfische Ästhetik des Textes zeigt sich auch in seinen narrativen Partien, etwa in der Tendenz zur psychologisch differenzierten Figurenzeichnung. Ein Beispiel dafür ist Josephs Reaktion auf die Nachricht von Marias Schwangerschaft. Er klagt unma ˆzen se ˆre (V. 377) und lässt sich auch von den Kammerfrauen Marias nicht beschwichtigen, die versichern, dass Maria keusch geblieben sei: Jo ˆsep da ˆ wider sprach: / »daz ist ein niuwer ungemach / uber ander mıˆne swære. / erchennet ir mich so ˆ alwære / unde so ˆ gar a ˆne sin? / nu sehet ir, daz ich gra ˆ bin / unt verre alter danne ir. / wer chunde daz entsagen mir, / daz mıˆn ouge gesiht?« (V. 447 ff.). Auf die Beteuerung der Kammerfrauen hin, Marias Kind sei von Gott gezeugt, vermutet er, ein als Engel verkleideter Mann habe Maria betrogen.153 Nach der darauffolgenden Engelsbotschaft im Traum ist Joseph schnell umgestimmt: er waht unt lie den arcwa ˆn / unt wart unma ˆzen vro ˆ (V. 506 f.). Alle vorher ausgebreiteten Zweifel, die ja durchaus mit rationaler Argumentation begründet werden, sind durch das Engelswort verschwunden. Ein Rezipient, der aufgrund mangelnder Bildung nicht in der Lage war, theologische Diskurse über die Inkarnation zu verstehen, konnte auf diese Weise durch die Identifikation mit der Figur Josephs das Wunder nachvollziehen und erkennen, dass sein Welt- und Erfahrungswissen vor dem Wunder der Inkarnation versagen musste. Am deutlichsten – und zugleich am problematischsten – tritt die Harmonisierungstendenz in den beiden Räuberepisoden hervor, die etwa ein Viertel der gesamten ›Kindheit Jesu‹ ausmachen. Auf der Flucht nach Ägypten wird die heilige Familie von einer Räuberbande überfallen. Einer der Räuber, der später an der Seite Jesu gekreuzigte gute Schächer,154 führt die heilige Familie in seine Behausung, um sie später als Sklaven zu verkaufen, da er kein Geld bei ihnen gefunden hat. Der Räuber lässt sich aber vom Leid Marias und Josephs erweichen155 und bewirtet die Familie schließlich prachtvoll. Während die heilige

davon aus, dass die Weltabsage ernst gemeint sei. Ähnliche Aussagen finden sich auch bei Hartmann von Aue: ›Gregorius‹ (V. 1 ff.) sowie bei Rudolf von Ems, ›Barlaam und Josaphat‹ (V. 5,10 ff.). Die Tatsache, dass diese beiden Autoren später auch noch weltliche Literatur verfasst haben, deutet auf den topischen Charakter der Aussagen hin. 153 Dieses Motiv findet sich zwar auch im Ps.-Matthäus-Evangelium, das Gespräch mit den Kammerfrauen ist im volkssprachigen Text aber breiter ausgestaltet. 154 Zur Figur des Räubers vgl. Elke Ukena-Best: »Domine, memento mei – herre nu ˆ erbarme dich«. Die Lebensgeschichte des rechten Schächers in Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu zwischen lateinischer Quelle, lateinischer Adaptation und deutscher Prosaauflösung. In: Scripturus vitam. Lateinische Biographie von der Antike bis in die Gegenwart (FS Walter Berschin). Hrsg. von Dorothea Walz. Heidelberg 2002, S. 185–206. 155 der wuotgrimme noch allez gie / bechumbert mit gedanchen. / sıˆn herze begunde wanchen / umbe sıˆne gevangen. / er blicte ie belangen / die frouwen unt daz chint an. / der unbarmherzic man / vant ez ze aller stunde / mit lachundem munde / unt mit spilnden ougen, / als im wære tougen, / daz dises wille wære. / in gro ˆzer herzeswære / so ˆ vant er die frouwen / under wıˆlen begunde

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Familie in Ägypten ist, wird der Räuber im Kampf schwer verwundet, doch seine Frau heilt ihn, indem sie seine Wunden mit dem Badewasser des Jesuskindes bestreicht, das sie nach dem Besuch der heiligen Familie in einer Flasche zurückbehalten hatte. Auf dem Rückweg von Ägypten kehrt die heilige Familie erneut beim Räuber ein.156 Ähnlich wie Holofernes in der ›Jüngeren Judith‹ ist auch der gute Schächer in der ›Kindheit Jesu‹ aus heilsgeschichtlicher Perspektive ein ambivalenter Held. Er ist zunächst eine negative Figur, ein Räuber und Mörder: si [die zwölf Räuber] ta ˆten ˆ uf der heide / den liuten vil ze leide. / si he ˆten ein gewonheit: / swer fur gie oder reit, / den si mohten uberchomen, / dem was schiere benomen / beidiu guot unde lıˆp, / ez wær man oder wıˆp. / sine chunden sich niht erbarmen / uber deheinen armen (V. 1509 ff.). Diese Raubzüge werden dann aber mit grundsätzlich positiv konnotiertem Vokabular aus der höfischen Literaturtradition beschrieben: nu he ˆten si sich aber geleit / eines tages na ˆch ir gewonheit / ˆ uf a ˆventiure gewin (V. 1557 ff.). Der Aufenthalt der heiligen Familie beim Räuber wird als höfisches Gastmahl an einem locus amoenus beschrieben: Daz chint wart sla ˆfen geleit / unt was daz ezzen bereit. / der wirt schuof sedel ˆ uf daz gras, / da ˆ der luft süeze was. / da ˆ smahte maniger hande chru ˆt. / ouch wa ˆren in der wıˆse lu ˆt / die vogele, daz berc unt tal / in gelıˆchem galme gegen hal (V. 1819 ff.). Da der Räuber arm ist, übernehmen er und seine Frau selbst die Bewirtung: truhsæzen unde schenchen, / die truogen ez willeclıˆchen dar. / ouch nam der wirt selbe war, / ob dehein gebrest da ˆ wære. / koche unt spıˆsære, / die behuotenz als umb ir lıˆp. / niuwan der wirt unt sıˆn wıˆp / der ampt aller phla ˆgen (V. 1854 ff.). Der höfische Stil zeigt sich auch in der Verwendung französischer Ausdrücke: petitmangir für den Morgenimbiss (V. 1874), »sire, dex vo comdiu« zum Abschied (V. 1924). Auch die Frau des Räubers verhält sich wie eine tugendhafte höfische Dame. Sie zeichnet sich durch triuwe und Gehorsam gegenüber ihrem Mann (V. 1779–1782) sowie wıˆplıˆche güete (V. 1899) aus. Die Figur des Räubers ist aus weltlich-höfischer Perspektive nicht nur als Gastgeber interessant. Er ist auch die einzige Figur des Textes, die in Kampfhand-

er schouwen, / wes der alte phlæge, / dem er so ˆ gar unwæge / in sıˆnem muote was gewesen / unt jach, er solt niht genesen. / nu ˆ vermist er an im nie, / ern sæhe im diu ougen ie / mit trehern uber wallen (V. 1676 ff.). 156 Die Bewirtung wird zwar auch in der lateinischen Version des Erzählstoffs ausführlich beschrieben, das höfische Gepräge ist dort aber nicht vorhanden. Besonders hervorzuheben ist hier, neben vielen anderen Topoi der Festbeschreibung, die Darstellung der Sitzgelegenheiten: nu schuof er sedel an der stet, / na ˆch franzeiser sit dar ˆ uf diu bet (V. 2409 f.). Nicht nur in Artusund Antikenromanen wurde der Stoff der aktuellen Lebenswelt der Rezipienten angepasst, auch in dem bibelepischen Text findet sich ein Verweis auf die modische französische Kultur.

144 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 lungen verwickelt ist. Die Klage der Frau über den verwundeten Mann erinnert an viele ähnliche Szenen in der weltlichen Literatur:157 Nu wart mit gro ˆzen wunden / an der walstat funden / der wirt, von dem ir ho ˆrtet sagen, / unt mit ja ˆmer in sıˆn hu ˆs getragen. / do ˆ man der hu ˆsfrouwen / so ˆ se ˆre verhouwen / ir lieben man ze hu ˆse truoc, / nu was ir leides genuoc. / si begunde ir leit enblanden / den ougen unt den handen. / an ir selber si sich rach. / als ein tobunde wıˆp si brach / daz ha ˆr ˆ uz der swarte (V. 2143 ff.). Der Räuber wurde aber nicht etwa im Krieg oder einem ritterlichen Zweikampf verwundet, sondern von Kaufleuten, die sich und ihr Gut verteidigten, so ˆ der billıˆchen tuot / der beidiu reht unt ellen ha ˆt / unt man in no ˆtwer niht erla ˆt (V. 2116 ff.). Hier wird der Bruch zwischen den inhaltlichen Vorgaben des Erzählstoffs und der Harmonisierungstendenz des Erzählers deutlich: Die Kaufleute sind im Recht, und trotzdem wird die Verwundung des Räubers beklagt, als handle es sich bei der Figur um einen ritterlichen Helden. Der latente Widerspruch wird jedoch vom Erzähler nicht thematisiert. Die Aussage, dass die Kaufleute im Recht seien, und die Klage über die Verwundung des Räubers scheinen auf zwei unabhängig voneinander gedachten Sinnebenen wahrgenommen zu werden. Es handelt sich gewissermaßen um zwei Perspektiven auf die ambivalente Figur des Räubers: Einmal wird er als Verbrecher den ehrlichen Kaufleuten gegenübergestellt, einmal wird er als heilsgeschichtlich legitimierte Person (der gute Schächer) und daher als valable höfische Identifikationsfigur gesehen. Möglicherweise ist die Inkongruenz dieser Perspektiven nur für einen modernen Betrachter störend – in der Perspektive mittelalterlicher laikal-höfischer Rezipienten konnte die Hybridität der Figur dagegen gerade ein Schlüssel zum Verständnis der religiösen Inhalte sein. Die auf seiner Hybridität basierende Integrationsleistung des Textes spiegelt sich auch in seinen Überlieferungskontexten.158 Die geistliche Dimension steht im Vordergrund in den Handschriften Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2742* (bairisches Sprachgebiet, 3. Viertel 13. Jahrhundert; Mitüberlieferung: Priester Wernhers ›Driu liet von der maget‹) und Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2696 (südbairisches Sprachgebiet, um 1300; Mitüberlieferung: Konrads von Heimesfurt ›Urstende‹, ›Das Jüdel‹, ›St. Katharinen Marter‹, ›Obd. Servatius‹, des sog. Heinrich von Melk ›Von des todes gehugede‹, ›Das Anegenge‹, Albers ›Tundalus‹, ›Die Warnung‹ und

157 Vgl. etwa die Trauer Enites um den totgeglaubten Erec (Hartmann von Aue: Erec. Mhd. Text und Übertragung von Thomas Cramer. 23. Aufl. Frankfurt a.M. 2000, V. 5730–6114). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die mirakulöse Heilung des Räubers durch den Badeschaum des Jesuskindes, die natürlich durch die Quelle vorgegeben ist, in diesem höfischen Ambiente aber auch an die Heilung Erecs durch das Pflaster der heidnischen Fee Famurgan (V. 5129–5249, 7220–7230) erinnern kann. 158 Vgl. Konrad von Fußesbrunnen: Die Kindheit Jesu. Ausgewählte Abbildungen zur gesamten handschriftlichen Überlieferung. Hrsg. von Hans Fromm u.a. (Litterae 42). Göppingen 1977.

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des sog. Heinrich von Melk ›Vom Priesterleben‹). Die höfische Dimension (und ihre geistliche Überformung) ist zentral in der Handschrift St. Gallen, Stiftsbibl., Cod. Sang. 857 (bair.-alem. Sprachgebiet, 2. Drittel 13. Jahrhundert; Mitüberlieferung: Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹ und ›Willehalm‹, Strickers ›Karl‹, ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹, Konrads von Heimesfurt ›Unser vrouwen hinvart‹). Die Aufnahme der geistlichen Texte Konrads von Fußesbrunnen und Konrads von Heimesfurt in diese Sammlung weltlicher Großepik deutet auf ein Bewusstsein der ästhetischen Verwandtschaft der Texte hin. Möglicherweise erfüllten die geistlichen Texte auch eine heilsgeschichtlich verortende und legitimierende Funktion für die weltlichen Texte, wie die ›Klage‹ dies für das ›Nibelungenlied‹ tut.159 Ähnliche Zusammenstellungen finden sich auch im Discissus Berlin, Staatsbibl., Mgf 587 u. a. (bairisches Sprachgebiet, um 1300; Mitüberlieferung: ›Nibelungenlied‹ und ›Klage‹)160 und in der Handschrift Karlsruhe, BLB, Donaueschingen 74 (sog. Wasserburger Codex, ostalem. Sprachgebiet, 2. Viertel 14. Jahrhundert; Mitüberlieferung: Rudolfs von Ems ›Willehalm von Orlens‹, Konrads von Heimesfurt ›Hinvart‹, ›Sigenot‹ und ›Eckenlied‹).161 Teile der ›Kindheit Jesu‹ wurden in verschiedene jüngere Texte integriert, etwa ins ›Passional‹162 und in Bruder Philipps ›Marienleben‹,163 aber auch als Prosaauflösung in das ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹ in der Handschrift Schaffhausen, Stadtbibl., Cod. Gen. 8 (Niederösterreich, um 1340).164 Die letzt-

159 Vgl. Bernd Schirok: Der Codex Sangallensis 857. Überlegungen und Beobachtungen zur Frage des Sammelprogramms und der Textabfolge. In: Ist mir getroumet mıˆn leben? Vom Träumen und vom Anderssein (FS Karl-Ernst Geith). Hrsg. von Andre´ Schnyder u.a. (GAG 632). Göppingen 1998, S. 111–126. 160 Der Discissus ist auf folgende Aufbewahrungsorte verteilt: Berlin, Staatsbibl., Mgf 587, Berlin, Staatsbibl., Mgf 814, Berlin, Staatsbibl., Mgf 923 Nr. 13, Dülmen, Herzog von Croy’sche Verwaltung, Hausarchiv Nr. 54, Koblenz, Landeshauptarchiv, Best. 701 Nr. 759,60. Zu dieser Handschrift vgl. auch Gisela Kornrumpf: Heldenbuch – oder Sammelhandschrift? Zum Codex discissus K des ›Nibelungenlieds‹. In: Scrinium Berolinense (FS Tilo Brandis). Hrsg. von Peter Jörg Becker u.a. (Beiträge aus der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz 10). Berlin 2000, Bd. I, S. 287–296. 161 Zu dieser Handschrift vgl. Werner J. Hoffmann: Konrad von Heimesfurt. Untersuchungen zu Quellen, Überlieferung und Wirkung seiner beiden Werke ›Unser vrouwen hinvart‹ und ›Urstende‹ (Wissensliteratur im Mittelalter 37). Wiesbaden 2000, S. 328–333. 162 Vgl. Kurt Gärtner: Zur neuen Ausgabe und zu neuen Handschriften der ›Kindheit Jesu‹ Konrads von Fussesbrunnen. ZfdA 105 (1976), S. 11–53, hier S. 13–15. 163 In der Handschrift Klosterneuburg, Stiftsbibl., Cod. 1242 vom Jahr 1338 wurde die zweite Einkehr der heiligen Familie beim guten Schächer in Bruder Philipps ›Marienleben‹ interpoliert, vgl. Gärtner: Zur neuen Ausgabe, S. 15–19. 164 Zu dieser Handschrift vgl. Gärtner: Zur neuen Ausgabe, S. 19–39, sowie Rudolf Gamper unter Mitwirkung von Susan Marti: Katalog der mittelalterlichen Handschriften der Stadtbibliothek Schaffhausen. Im Anhang Beschreibung von mittelalterlichen Handschriften des Staatsar-

146 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 genannte Interpolation macht ex negativo deutlich, welcher Aspekt des Textes zu seiner Entstehungszeit gerade seinen Reiz ausmachte: Der ästhetische und konzeptionelle Brückenschlag zwischen religiöser Thematik und höfischer Literaturtradition durch Versform, Stilistik und Figurenzeichnung. All dies scheint im Kontext der Prosa-Evangelienharmonie im 14. Jahrhundert nicht mehr interessiert zu haben,165 wie etwa die Reduktion auf (heilsgeschichtlich) relevante Fakten in der Prosaauflösung der ersten Bewirtungsszene (V. 1819–1897) zeigt: Dar nach wart ir aller. mit speis. vnd mit trinchen. so wol gephlegen. als man lieber vnd werder geste phligt. vntz daz slaffens zeit was. da wart in liepleich. vnd schon gepettet. vnd rueten. als in des dvrft was. nach so grozzer arebait. vnd nach micheln sorigen. Auch gab in der wirt. des andern morgens .e. si von danne cherten ze ezzen. vnd ze trinchen. mit gantzzen trewen.166 In der Schaffhauser Handschrift des ›Evangelienwerks‹ ist durch den Illustrationszyklus jedoch eine weitere Zugangsmöglichkeit zu diesen Fakten gegeben. Die Illustrationen167 aktualisieren den Inhalt durch die Abbildung zeitge-

chivs Schaffhausen, des Gemeindearchivs Neunkirch und der Eisenbibliothek, Klostergut Paradies. Dietikon/Zürich 1998, S. 19–25, 80–95. Zum Illustrationszyklus vgl. Alison L. Beringer: Before the Betrayal. The Life of Judas in a Vernacular Fourteenth-Century Austrian Manuscript. In: Between the Picture and the Word. Manuscript Studies from the Index of Christian Art (FS John Plummer). Hrsg. von Colum Hourihane (Index of Christian Art. Occasional Papers 8). Princeton 2005, S. 151–160 (mit Abb. 213–231); Alison L. Beringer: Word and Image in the Klosterneuburger Evangelienwerk. Manuscript and Cultural Contexts for the Vernacular. Diss. (masch.) Princeton 2006; Alison L. Beringer: Imaginatio, Bilder und Texte. Die Marienklagen im Klosterneuburger Evangelienwerk der Stadtbibliothek Schaffhausen. In: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter. Hrsg. von Kathryn Starkey u.a. Stuttgart 2007, S. 141–151; Alison L. Beringer: Speaking the Gospels. The Visual Program in Schaffhausen, Stadtbibliothek, Generalia 8. Journal of English and Germanic Philology 107 (2008), S. 1–24; KdiH, Bd. 4/1, S. 135–155 (Nr. 35.0.5). Zum ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹ vgl. u.a. Gisela Kornrumpf: Das ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹ des österreichischen Anonymus. Datierung, neue Überlieferung, Originalfassung. In: Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters. Beiträge eines Kolloquiums im Deutschen Bibel-Archiv. Hrsg. von Heimo Reinitzer unter Mitarbeit von Nikolaus Henkel (Vestigia Bibliae 9/10 [1987/1988]). Bern u.a. 1991, S. 115–131, 168–171; Kurt Gärtner: Die erste deutsche Bibel? Zum Bibelwerk des österreichischen Bibelübersetzers aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Mit zwei neuen Handschriftenfunden zum ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹ und zum ›Psalmenkommentar‹. In: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache. Hrsg. von Horst Brunner/Norbert Richard Wolf (Wissensliteratur im Mittelalter 13). Wiesbaden 1993, S. 273–295. 165 Vgl. auch Gärtner: Zur neuen Ausgabe, S. 20. 166 Zit. nach Gärtner: Zur neuen Ausgabe, S. 24. 167 Die Räuber-Episoden etwa sind folgendermaßen illustriert: Der Räuber, in Rüstung und mit einer Fahne, führt die gefangene heilige Familie mit sich. Sein Gesichtsausdruck verrät seine Wut und seine bösen Absichten (Bl. 20v oben); der Räuber, nunmehr mit freundlichem Gesicht, geleitet die heilige Familie in sein Haus (Bl. 20v unten). Auf Bl. 21v unten ist der Räuber, jetzt

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nössischer Kleidung, Handarbeiten, Waffen, machen ihn nachvollziehbar durch Gestik und Mimik der Figuren, vermitteln seine Dignität durch die Pracht der Blattgold-Nimben und unterstreichen seine Autorität durch die Propheten- und Evangelistenbilder. Die Adaption des Erzählstoffes an das intendierte Publikum, die in der Versfassung textintern bewerkstelligt wird, ist hier aus dem Text sozusagen auf den Seitenrand ausgelagert, ins visuelle Medium des Bildes verlegt. Die Kampfdarstellung der Räuber-Episode könnte dabei auf ein ähnliches Interesse des Publikums gestoßen sein wie die höfischen Festbeschreibungen bei Konrad. Ähnliche Harmonisierungstendenzen wie in der ›Kindheit Jesu‹ lassen sich auch in den Werken Konrads von Heimesfurt, ›Unser vrouwen hinvart‹ und ›Diu Urstende‹, beobachten.168 Die Geschichten vom Tod Mariae und der Auferstehung Jesu werden in diesen Erzählungen, basierend auf apokryphen lateinischen Quellen, mit stilistischen Elementen aus der höfischen Literaturtradition verbunden.169

ohne Rüstung, in seinem Haus mit seinem Sohn und seiner Frau zu sehen, die das Jesuskind badet und gleichzeitig den Schaum vom Bad abschöpft. Auf der anderen Seite des Badezubers sind Maria, Joseph, ihr Gesinde und die Tiere dargestellt. Auf der gegenüberliegenden Seite (Bl. 22r) sind zwei unfreundliche Leute in einem Haus zu sehen, die der heiligen Familie die Herberge versagen. In dieser nicht aus Konrads ›Kindheit Jesu‹ stammenden Episode stehen die schlechten Gastgeber als Negativexempel dem gastfreundlichen Räuber gegenüber. So wie jener mit dem Badeschaum den Lohn für seine gute Tat erntet, werden diese für ihre Hartherzigkeit bestraft. Die nächsten Bilder zeigen den Aufenthalt Jesu in Ägypten. Auf Bl. 24r unten wird die Geschichte des Räubers fortgesetzt: Hier ist der Kampf der Räuber mit den wehrhaften Kaufleuten zu sehen (Abb. 1). Drei Räuber in Rüstung stehen vier Kaufleuten entgegen, die sich mit Schwert, Speer, Bogen und Armbrust verteidigen. Auf Bl. 24v unten wird der verwundete Räuber von einem anderen Mann heimgeleitet. Seine Frau rauft sich bei diesem Anblick die Haare. Neben dieser Figurengruppe ist ein Innenraum im Haus des Räubers dargestellt, in dem die Frau die Wunden des Räubers mit dem Badeschaum bestreicht und ihn dadurch heilt (Abb. 2). Auf der gegenüberliegenden Seite, Bl. 25r unten, ist die zweite Einkehr der heiligen Familie beim Räuber und seiner Frau zu sehen. Als Übergangsbild zwischen der Räuberepisode und den Wundern des Jesusknaben in Nazareth ist auf Bl. 25v oben, neben dem Text, der vom weiteren Leben des guten Schächers und seinem Tod berichtet, Maria dargestellt, die mit einer Stickerei beschäftigt ist. Auf derselben Seite unten ist Joseph bei seiner Tätigkeit als Zimmermann zu sehen. 168 Vgl. Werner Fechter: Konrad von Heimesfurt. In: 2VL 5 (1985), Sp. 198–202 und 2VL 11 (2004), Sp. 879. Ausgabe: Konrad von Heimesfurt: ›Unser vrouwen hinvart‹ und ›Diu urstende‹, mit Verwendung der Vorarbeiten von Werner Fechter. Hrsg. von Kurt Gärtner/Werner J. Hoffmann (ATB 99). Tübingen 1989. Zur Überlieferung der Werke Konrads von Heimesfurt vgl. auch: Werner J. Hoffmann: Die Überlieferung der Werke Konrads von Heimesfurt. In: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von Volker Honemann/Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 82–109. 169 Vgl. Konrad von Heimesfurt (Gärtner/Hoffmann), S. XX–XXII; Hoffmann: Konrad von Heimesfurt, S. 6–12. Beispiele für die stilistische Nähe zur höfischen Literatur sind etwa das Jagd-

148 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Die Vereinbarkeit von religiöser und weltlicher Sphäre wird bei Konrad teilweise explizit thematisiert, etwa bei der Empfehlung der Demut: diemuot / diu ist gote liep und doch der werlde guot (›Hinvart‹, V. 55 f.), oder beim Lob des reichen, aber gottesfürchtigen Menschen und der Ehe als vorbildlicher Lebensform: Nu ˆ wizzet wol daz ein man / der rıˆch ist und bedenchen chan / gotes ˆ ere und da ˆ mite / der werlde prıˆs, und den site / als ez danne under den liuten sta ˆt / ze rehte haltet unde la ˆt, / der ist gote und der werlde wert. / solhiu zuht rehter sælden gert. / der ha ˆt er immer sıˆnen teil / und doch ze jungist daz heil / da ˆ sælden nimmer ende wirt, / da ˆ wünne bernde wünne birt. / daz schœnste und daz beste leben / daz got der werlde ha ˆt gegeben, / daz ist ˆ elicher hıˆra ˆt (›Hinvart‹, V. 981 ff.). Hier wird die Vereinbarung der beiden Sphären aus dezidiert laikaler Perspektive als realisierbares Lebensmodell entworfen – eine für das Integrationsmodell der Harmonisierung prototypische Haltung. Die Übersetzung geistlicher Erzählstoffe in die Volkssprache wird dabei als Dienst für ein nicht klerikal gebildetes Publikum inszeniert: Diu heilige schrift was wıˆlen ˆ e / Ebræisch in der alten ˆ e. / do ˆ wart si sus geme ˆret: / in Chriechisch verche ˆret, / dar na ˆch in Latıˆne bra ˆht. / sıˆt wart diz also ˆ beda ˆht / von genuogen die tihten chunden, / swaz si solher mære funden / von mislichen oder von wa ˆren / diu doch guot ze hœrenne wa ˆren, / wie si die tiutschen tihten / und ze solhem sinne rihten, / daz si ein ieglıˆch man / der doch der buoche niht enchan / wol endelıˆche vernimt / und baz ze hœrenne gezimt (›Hinvart‹, V. 57 ff.). In der Abfolge Hebräisch-Griechisch-Latein-Deutsch erscheint die Übersetzung in die Volkssprache nur als letzter Schritt in einer Reihe von Übersetzungsvorgängen, der quasi auf einer Stufe steht mit der Tätigkeit der lateinischen Bibelübersetzer. Dadurch wird die Bearbeitung religiöser Inhalte in der Volkssprache legitimiert und erhält eine gewisse Dignität. Gleichzeitig verweist Konrad darauf, dass die Texte in die Volkssprache übertragen werden müssen, damit der Illiteratus sie vollständig verstehen kann, und dazu trägt neben der bloßen Übersetzung auch die Integration von Elementen aus der höfischen Literaturtradition bei.

gleichnis im Prolog der ›Hinvart‹ oder das ebenfalls in der ›Hinvart‹ enthaltene rhetorische Spiel mit dem Wort leit: Swem nu ˆ herzeleit geschiht / und in des leides anders niht / wan leit mit leide ergetzet, / so ˆ leit ze leide setzet / daz leides nimmer ende wirt / da ˆ leit mit herzeleide swirt, / dem aller leidest ie geschach, / des leit und sıˆn ungemach / gelıˆchet sich unna ˆch her zuo: / do ˆ disiu edel vrouwe nuo / des grimmen herzeleides phnehen / vil chu ˆme hæte ein teil verjehen / daz si ir chint martern sach, / des to ˆt ir durch ir herze brach / und erschutte ir diu lide also ˆ gar / daz ir die trähene bluotvar / ze den ougen ˆ uz wielen/und über diu wangen vielen (›Hinvart‹, V. 177 ff.).

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4.1.2 Hartmann von Aue: ›Der arme Heinrich‹ und ›Gregorius‹ In den beiden geistlichen Verserzählungen Hartmanns von Aue, dem ›Armen Heinrich‹170 und dem ›Gregorius‹, sind ebenfalls Tendenzen zur Harmonisierung von weltlicher und religiöser Sphäre zu beobachten. Zugleich wird das Integrationsmodell durch die besonders schweren Schicksale der Figuren auf die Probe gestellt.171 ›Der arme Heinrich‹ In Schwaben lebt Heinrich von Aue, ein vorbildlicher höfischer Ritter. Auf der Höhe seines Ruhms wird er vom Aussatz befallen, und seine Freunde wenden sich von ihm ab. Als die Ärzte von Montpellier ihm nicht helfen können, fährt er nach Salerno, wo er erfährt, dass nur das Blut einer unschuldigen Jungfrau ihn heilen kann. Traurig zieht er sich aus der Welt zurück und wohnt fortan bei einem freien Bauern. Dessen achtjährige Tochter kümmert sich liebevoll um den Kranken. Nach drei Jahren erzählt Heinrich dem Bauern, wie er geheilt werden könne. Das Mädchen hört dies und beschließt, sich für Heinrich zu opfern. Nachdem das Mädchen sich gegen den Widerstand der Eltern und Heinrichs durchgesetzt hat, fährt sie mit Heinrich nach Salerno. Dort beobachtet Heinrich durch ein Loch in der Wand, wie der Arzt sich anschickt, das Mädchen zu töten, und sein Erbarmen ist so groß, dass er lieber krank bleiben will, als den Tod des Mädchens in Kauf zu nehmen. Obwohl das Mädchen maßlos enttäuscht ist, macht Heinrich sich mit ihr wieder auf den Rückweg. Auf dem Weg wird er durch ein Wunder Gottes geheilt und kommt gesund wieder zu Hause an. Er kehrt in seine glanzvolle weltliche Stellung zurück und heiratet das Bauernmädchen.

Die Erzählung wird durch eine ausführliche Beschreibung des Protagonisten eröffnet (V. 30–74), in der Heinrich als idealer weltlicher Ritter erscheint, der mit sämtlichen höfischen Tugenden ausgestattet ist und seinen Herrscherpflichten (Schutz der Verwandten und Armen, V. 64 ff.) vorbildlich nachkommt. Die Erkrankung am Aussatz bricht zunächst als unbegreifliches Verhängnis Gottes in dieses Idealbild ein. Eine Ambivalenz kommt in der Formulierung sıˆn ho ˆchmuot

170 Vgl. Cormeau, Christoph: Hartmann von Aue. In: 2VL 3 (1981), Sp. 500–520 (bes. Sp. 512–514) und 2VL 11 (2004), Sp. 590. Ausgabe: Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. von Hermann Paul, neu bearb. von Kurt Gärtner. 17., durchges. Aufl. (ATB 3). Tübingen 2001. 171 Die schwierige Beurteilung des Verhältnisses von religiöser und weltlich-höfischer Sphäre in diesem Text beschäftigt die Forschung schon lange, vgl. den Überblick bei Warning: Narrative Hybriden, S. 20–22 sowie die grundlegenden Studien von Christoph Cormeau: Hartmanns von Aue ›Armer Heinrich‹ und ›Gregorius‹. Studien zur Interpretation mit dem Blick auf die Theologie zur Zeit Hartmanns (MTU 15). München 1966 und Theodor Verweyen: Der ›Arme Heinrich‹ Hartmanns von Aue. Studien und Interpretation. München 1970. Gegen die Annahme einer Harmonisierungstendenz in der Erzählung hat sich etwa Warning: Narrative Hybriden, S. 22–25, ausgesprochen. Meine Interpretation, die in den Grundzügen derjenigen Cormeaus ähnlich ist, wird bestimmt von der Perspektive auf den diachronen Wandel des Texttyps geistlicher Verserzählungen. In dieser Perspektive zeigt der Vergleich von Hartmanns Werken mit jüngeren geistlichen Verserzählungen, dass bei Hartmann trotz aller Problematisierungen eine deutlich stärkere Tendenz zur Harmonisierung aufscheint als in Texten etwa des 14./15. Jahrhunderts.

150 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 wart verke ˆret / in ein leben gar geneiget (V. 82 f.) auf, denn ho ˆchmuot kann entweder als (nicht per se negativ konnotierte) höfische Hochstimmung (ho ˆher muot) oder bereits als Superbia verstanden werden. In der Folge wird aber die weltkritische Tendenz stärker spürbar: Als Beispiel für die Vergänglichkeit der Weltfreuden wird Absalom genannt, der als Aufrührer gegen den Vater und auf weltliche Schönheit bedachte Figur ein negatives Beispiel ist. Dann wird auf die grundsätzliche Vergänglichkeit weltlichen Lebens hingewiesen: me ˆdia ˆ vıˆta ˆ / in morte su ˆmus (V. 92 f.).172 Verschiedene Naturbilder dienen als Symbole dafür: Das weltliche Leben gleicht einer verbrennenden Kerze, einer verwelkenden Blume; unter Lachen verbirgt sich Weinen, unter dem Honig Galle.173 Der Erzähler resümiert in Bezug auf seinen Protagonisten: an hern Heinrıˆche wart wol schıˆn: / der in dem hœhsten werde / lebet ˆ uf dirre erden, / derst der versma ˆhte vor gote (V. 112 ff.). Bis hierhin ist zwar die zeittypische Vergänglichkeitstopik und die gängige Auffassung des Aussatzes als Strafe bzw. Prüfung zu finden.174 Die eindeutige Feststellung einer Schuld Heinrichs fehlt aber. Eine weitere biblische Parallelfigur ist der vom Aussatz befallene Hiob: als ouch Jo ˆbe geschach, / dem edeln und dem rıˆchen, / der ouch vil jaemerlıˆchen / dem miste wart ze teile / iemitten in sıˆnem heile (V. 128 ff.). Der Vergleich mit Hiob scheint das Idealbild Heinrichs zu bestätigen, denn Hiob wurde schuldlos geprüft. Die folgenden Verse zeigen jedoch, dass Heinrichs eigentliche Schuld nicht in seinem Weltleben, sondern in seinem Umgang mit der Krankheit besteht: Do ˆ der arme Heinrich / alre ˆst verstuont sich / daz er der werlte widerstuont, / als alle sıˆne gelıˆchen tuont, / do ˆ schiet in sıˆn bitter leit / von Jo ˆbes geduldikeit. / wan ez leit Jo ˆb der guote / mit geduldigem muote, / do ez im ze lıˆdenne geschach […] do entete der arme Heinrich / leider niender also ˆ; / er was tru ˆric und unvro ˆ (V. 133 ff.; 146 ff.). Die differenzierte Figurenzeichnung, die widersprüchliche Aspekte einer Figur aufzeigt und keine pauschalen Schuldzuweisungen zulässt, ist typisch für die höfische Literatur um 1200. Denn trotz seiner Schwäche erweist sich Heinrich in manchen Belangen weiterhin als guter Herrscher: Er verteilt sein Gut gerecht (V. 246 ff.), bevor er sich in die Hütte des Bauern zurückzieht. An dieser Stelle tritt nun die zweite Idealfigur der Erzählung auf: die Tochter des Bauern, die sich um

172 Es handelt sich hier um den Anfangsvers der Antiphon ›Media vita in morte sumus‹ (Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben) (CAO 3732). 173 Diese Vergänglichkeitstopik ist in der Literatur der Zeit verbreitet, vgl. Thiel: Das Frau WeltMotiv; Stammler: Frau Welt; Skowronek: Fortuna. 174 Vgl. William Maurice Sprague: God’s Punishment for Man. Leprosy in Hartmann von Aue’s ›Der Arme Heinrich‹. In: La maladie et la mort au Moyen aˆge. Actes du Colloque d’Amiens par le Centre d’Etudes Me´die´vales de l’Universite´ de Picardie-Jules Verne. Hrsg. von Danielle Buschinger (Me´die´vales 30). Amiens 2004, S. 116–136.

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Heinrich kümmert. Dies tut sie einerseits aus kindlicher Güte und wegen der Geschenke, die sie von Heinrich erhält, iedoch geliebete irz aller meist / von gotes gebe ein süezer geist (V. 347 f.). Nach drei Jahren des Leidens erzählt Heinrich im Gespräch mit dem Bauern, wie er geheilt werden könne. Gleichzeitig denkt er über seine Krankheit nach und findet zu einem Schuldbekenntnis: ich ha ˆn den schämelıˆchen spot / vil wol gedienet umbe got. / wan du ˆ sæhe wol hie vor / daz ho ˆch offen stuont mıˆn tor / na ˆch werltlıˆcher wünne […] do ˆ nam ich sıˆn vil kleine war / der mir daz selbe wunschleben / von sıˆnen gna ˆden hete gegeben (V. 383 ff.; 392 ff.). Er bezeichnet sich als werltto ˆren (V. 396) und seine Krankheit als ra ˆche Gottes (V. 409). Heinrich hat zu diesem Zeitpunkt die Deutung des Aussatzes als Strafe akzeptiert und die Nichtigkeit weltlichen Ruhms eingesehen. Die Rede wird auch von der Bauerntochter mitverfolgt. Das Mädchen fasst den Plan, sich für Heinrich zu opfern, und versucht in mehreren nächtlichen Gesprächen, ihre Eltern von dem Vorhaben zu überzeugen. Dabei argumentiert das Mädchen mit einer Perspektive auf die Welt, die dem weltlichen Idealbild, das zu Beginn des Textes anhand der Figur Heinrichs entworfen wurde, diametral entgegengesetzt ist: Ein früher unschuldiger Tod, mit dem das ewige Leben erlangt werden könne, sei besser als ein langes mühsames Leben, auf das die Verdammnis folge (V. 593 ff.). Dem Vorwurf der Mutter, die Tochter verstoße gegen das vierte Gebot, begegnet das Mädchen mit dem Hinweis auf den Nutzen, den das Weiterleben ihres Beschützers Heinrich den Eltern bringen würde. Die Mutter entgegnet, dass sie sich nie über den Tod der Tochter hinwegtrösten könne (und la ˆzestu ˆ uns über dıˆn grap / gesta ˆn von dıˆnen schulden, / du ˆ muost von gotes hulden / iemer sıˆn gescheiden, V. 658 ff.), doch das Mädchen lässt sich nicht beirren: so ˆ la ˆtz an iuwern hulden sta ˆn / daz ich ouch diu beide / von dem tiuvel scheide / und mich gote müeze geben. / ja ˆ ist dirre werlte leben / niuwan der se ˆle verlust. / ouch enha ˆt mich werltlich gelust / unz her noch niht berüeret, / der hin zer helle vüeret. / nu ˆ wil ich gote gna ˆde sagen, / daz er in mıˆnen jungen tagen / mir die sinne ha ˆt gegeben / daz ich ˆ uf diz brœde leben / ahte harte kleine (684 ff.). Wie radikal das Mädchen diese Position vertritt, zeigt sich in den Worten: [Gott] müezez sıˆn geklaget / daz ich unz morgen leben sol (V. 706 f.). Das Vorhaben des Mädchens gerät durch diese extreme Haltung ins Zwielicht: Nicht nur die christliche Nächstenliebe und Opferbereitschaft scheinen für sie eine Rolle zu spielen, sondern auch sozusagen egoistische Selbstmordabsichten,175 die als Weigerung verstanden werden können, das von Gott auferlegte Weltleben und seine Mühen zu ertragen.

175 Zur Beurteilung des Selbstmordes in der höfischen Epik vgl. Fritz Peter Knapp: Der Selbstmord in der abendländischen Epik des Hochmittelalters (Germanische Bibliothek, Reihe 3). Heidelberg 1979, bes. S. 170–184. Zum Egoismus der Bauerntochter vgl. auch Cormeau, Armer Heinrich und Gregorius, S. 25–30, 140; Peter Wapnewski: Hartmann von Aue. 2. Aufl. Stuttgart 1976,

152 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 In gewisser Weise ähnelt die Haltung des Mädchens deshalb der Ungeduld Heinrichs angesichts seiner Krankheit. Beide Protagonisten fügen sich nicht dem Plan Gottes, sondern wollen ihren Weg selbständig gestalten. So entwirft das Mädchen ein Bild ihres zukünftigen Lebens auf der Welt in den schwärzesten Farben und preist dagegen Gott als Wunschgatten und den Himmel als idealen Bauernhof, in dem sie allem Leid entrückt sei. Die Eltern glauben schließlich, die Worte des Mädchens seien vom heiligen Geist inspiriert (V. 855 ff.) und fügen sich ihrem Willen. Die übermäßige Todessehnsucht des Mädchens wird wieder deutlich, als sie fürchtet, Heinrich könnte ihr Angebot ablehnen. Sie kann es kaum erwarten, nach Salerno zu kommen: waz möhte ir nu ˆ gewerren / wan daz der wec so ˆ verre was, / daz si so ˆ lange genas? (V. 1052 ff.). Auch die Bedenken des Arztes weist sie fröhlich zurück und schilt ihn wegen seiner Ängstlichkeit. Als Heinrich das Opfer verhindert und das Mädchen ihren Plan des einfach zu erlangenden Seelenheils zerstört sieht, verfällt sie in regelrechte Raserei: si brach ir zuht und ir site, / si hete leides genuoc; / zuo den brüsten si sich sluoc, / si zarte unde roufte sich (V. 1284 ff.). Derweil hat sich bei Heinrich ein Umdenken vollzogen. Als er das Wetzen des Messers hört, erbarmt er sich, und durch den Anblick des festgebundenen nackten Mädchens wird er zu einer neuen Sicht auf die Dinge gebracht: nu ˆ sach er si an unde sich / und gewan einen niuwen muot: / in du ˆhte do ˆ daz niht guot / des er ˆ e geda ˆht ha ˆte / und verke ˆrte vil dra ˆte / sıˆn altez gemüete / in eine niuwe güete (V. 1234 ff.). In einem Monolog gelangt er zur Einsicht, dass kein Mensch sich eigenmächtig gegen Gottes Plan auflehnen solle: du ˆ ha ˆst einen tumben gedanc, / daz du ˆ sunder sıˆnen danc / gerst ze lebenne einen tac / wider den nieman niht enmac. / du enweist ouch rehte waz du ˆ tuost, / sıˆt du ˆ benamen ersterben muost, / daz du ˆ diz lasterlıˆche leben / daz dir got ha ˆt gegeben / niht vil willeclıˆchen treist, / und ouch dar zuo enweist / ob dich des kindes to ˆt ernert. / swaz dir got ha ˆt beschert, / daz la ˆ allez geschehen (V. 1243 ff.). An diesem Punkt ist der Fehler Heinrichs, seine Ungeduld angesichts seines Schicksals, wieder gutgemacht. Die Akzeptanz des göttlichen Willens und die niuwe güete, das Erbarmen Heinrichs, sind die Voraussetzung für seine Heilung. So erträgt Heinrich auch den Wutausbruch des enttäuschten Mädchens mit Langmut: swaz do ˆ scheltens ergienc, / der arme Heinrich ez emphienc / tugentlıˆchen unde wol, / als ein vrumer ritter sol / dem schœner zühte niht gebrast (V. 1337 ff.). Das Verhalten des Mädchens nach der Verweigerung des einfachen Todes ist parallel zum Verhalten Heinrichs nach der Erkrankung angelegt, es besteht in einem verzweifelten und unsinnigen Aufbäumen gegen das von Gott vorgezeichnete Schicksal. Wie die Krankheit für Heinrich, so kann auch

S. 110; eine Gegenposition vertritt Verweyen: Der arme Heinrich, S. 86–90, 94 f. Zur Bewertung dieser Figur vgl. auch Dewhurst: Generic Hybridity, bes. S. 46–65.

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die Verweigerung des einfachen Todes für das Mädchen als Prüfung Gottes gesehen werden. An dieser Stelle findet das Eingreifen Gottes in die diesseitige Welt statt: do erkande ir triuwe und ir no ˆt / cordis specula ˆtor, / vor dem deheines herzen tor / vürnames niht beslozzen ist, / sıˆt er durch sıˆnen süezen list / an in beiden des geruochte, / daz er si versuochte / rehte also ˆ volleclıˆchen / sam Jo ˆben den rıˆchen (V. 1356 ff.); do ˆ erzeicte der heilic Krist / wie liep im triuwe und bärmde ist / und schiet si do ˆ beide / von allem ir leide / und machete in da ˆ zestunt / reine unde wol gesunt (V. 1365 ff.). Während die Wandlung der inneren Einstellung Heinrichs detailliert geschildert wird, räumt der Erzähler dem Eingreifen der Transzendenz wenig Platz ein. Es erscheint als fast notwendige Konsequenz der ethischen Vervollkommnung Heinrichs. Zwar wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich um ein Wunder Gottes handle (V. 1374, 1386, 1394), aber das eigentliche Interesse des Erzählers gilt den menschlichen Figuren. Die Wiedereinsetzung Heinrichs in seine weltliche Herrscherstellung wird durch die Hochzeit des Protagonisten mit dem Mädchen vervollständigt: da ˆ wa ˆren phaffen genuoge, / die ga ˆben si im ze wıˆbe. / na ˆch süezem lanclıˆbe / do besa ˆzen si gelıˆche / daz ˆ ewige rıˆche (V. 1512 ff.). Obwohl von einem Sinneswandel des Mädchens nicht mehr die Rede ist, zeigt doch dieser Schluss, dass auch diese Figur ihr weltliches Schicksal akzeptieren muss: Anstatt durch einen allzu einfachen Tod möglichst bald das Seelenheil zu erlangen, führt sie ein Leben als Ehefrau Heinrichs, bevor sie in den Himmel eingeht. Dies kann als indirekte Kritik an der übertrieben weltfeindlichen Haltung des Mädchens verstanden werden, die als Ergänzung zur Kritik an Heinrichs übermäßiger Weltliebe zu sehen ist. Durch dieses versöhnliche Ende propagiert der Erzähler einen Mittelweg, bei dem der einzelne Mensch sich in das ergibt, was Gott ihm auferlegt, und dadurch ein Leben führen kann, das sowohl Gott als auch der Welt gefällt. Eine solche Haltung ist nur mit bestimmten inneren Voraussetzungen zu erreichen, wie es an Heinrich exemplarisch vorgeführt wird. Bei aller Kritik an der vergänglichen Welt ist im ›Armen Heinrich‹ doch eine harmonisierende Tendenz zwischen Gott und Welt vorherrschend, insofern das Weltleben als von Gott auferlegtes Schicksal der Menschen verstanden wird. Das Beispiel Heinrichs und seiner Frau zeigt, dass religiöse und weltliche Sphäre durchaus vereinbar sind, und dass ein gutes, an Gott orientiertes Weltleben der bessere Weg zum ewigen Leben ist als ein selbstgewählter vorzeitiger Tod. Diese harmonisierende Perspektive scheint nicht in allen Kontexten auf Zustimmung gestoßen zu sein. In der Fassung des ›Armen Heinrich‹, die in den verwandten Kleinepiksammlungen H und K (1. Hälfte 14. Jahrhundert) überliefert ist, wurde der Schluss durch den Einschub von dreizehn Versen abgeändert: Nach der Hochzeit verbringen Heinrich und die Bauerntochter ihr Leben nicht als weltliches Herrscherpaar, sondern ziehen sich in Klöster zurück und weihen ihr

154 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Leben ausschließlich Gott.176 Dieses angehängte Moniage-Motiv führt weg vom harmonisierenden Integrationsmodell, es deutet an, dass nur durch Weltabkehr das Seelenheil erlangt werden kann. Eine spätere lateinische Fassung des Erzählstoffes, die eng mit Hartmanns ›Armem Heinrich‹ verwandt ist (Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen, Nr. 6), nimmt ebenfalls eine andere Akzentuierung des Geschehens vor. Der Ritter, der hier Albertus heißt und am Rhein sitzt, ist vanitati milicie supra modum deditus;177 seine Schuld ist also von Anfang an klar umrissen, der Aussatz ist die Strafe für diese Sünde. Der kranke Albertus zieht sich nicht freiwillig zurück, sondern wird von seinen weltlichen Freunden vertrieben und lebt vierzehn Jahre im Elend. Im Gegensatz zu Heinrich leidet Albertus jedoch geduldig wie Hiob und segnet Gott für seine Leiden. Als Albertus von einem Arzt erfährt, dass er nur durch keusches, freiwillig gegebenes Blut geheilt werden könne, kommt dies einer armen Jungfrau zu Ohren, deren Vater ihr einst ein Kleid von Albertus’ Hof als Geschenk gebracht hatte. Sie rennt zu Albertus und bietet sich als Opfer an. Beim Arzt entscheidet Albertus sich gegen das Opfer. In der Nacht erscheint ihm Gott, heilt ihn und gibt ihm seinen Reichtum zurück. Zum weiteren Leben des Albertus heißt es: Albertus autem vendita exsoluens emit ampliora. Illam duxit virginem, que pro ipso mori uoluerat, in vxorem et post longum tempus exspirans quieuit in pace.178 Das Grundgerüst der Erzählung und zahlreiche Details stimmen mit dem ›Armen Heinrich‹ überein,179 doch im lateinischen Exempel steht anstelle der für Hartmanns Text so charakteristischen differenzierten Figurenzeichnung eine einfachere, theologisch schlüssigere Deutung: Der Aussatz ist Strafe für die Weltliebe des Ritters, sein geduldiges Leiden und sein Erbarmen bewirken schließlich die Heilung. Im ›Gregorius‹180 hat Hartmann von Aue einen Legendenstoff bearbeitet, der ebenfalls den Fall eines weltlichen Herrschers thematisiert. Im Prolog findet sich

176 Vgl. dazu auch Andreas Hammer/Norbert Kössinger: Die drei Erzählschlüsse des ›Armen Heinrich‹ Hartmanns von Aue. ZfdA 141 (2012), S. 141–163. 177 Den Vergnügungen der Ritterschaft im Übermaß zugetan. 178 Albert aber löste die verkauften Güter wieder aus und kaufte noch größere. Er heiratete jenes Mädchen, das für ihn hatte sterben wollen. Viele Jahre später starb er und ruht jetzt in Frieden. 179 Das genaue Verhältnis der beiden Texte ist umstritten, vgl. Kurt Ruh: Hartmanns ›Armer Heinrich‹. Erzählmodell und theologische Implikation. In: Ruh, Kleine Schriften I. Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters. Hrsg. von Volker Mertens. Berlin/New York 1984, S. 23–37, bes. S. 29. 180 Vgl. Cormeau: Hartmann von Aue, Sp. 509–512. Ausgabe: Hartmann von Aue: Gregorius. Hrsg. von Hermann Paul, neu bearb. von Burghart Wachinger. 15., durchges. u. erw. Aufl. (ATB 2). Tübingen 2004.

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der Topos der weltlichen Dichtung als Jugendsünde: Mıˆn herze ha ˆt betwungen / dicke mıˆne zungen / daz si des vil gesprochen ha ˆt / daz na ˆch der werlde lo ˆne sta ˆt: / daz rieten im diu tumben ja ˆr (V. 1 ff.). Daran schließt sich eine Warnung an, die Reue für Jugendsünden nicht auf die alten Tage zu verschieben. Entsprechend deutet der Erzähler sein jetziges Dichten als Möglichkeit, die durch sein früheres Dichten angehäuften Sünden zu verringern: Durch daz wære ich gerne bereit / ze sprechenne die wa ˆrheit / daz gotes wille wære / und daz diu gro ˆze swære / der süntlıˆchen bürde / ein teil ringer würde / die ich durch mıˆne müezikeit / ˆ uf mich mit worten ha ˆn geleit (V. 35 ff.). Als Bestätigung dieser Auffassung führt er das Beispiel seines Protagonisten Gregorius an: wan da ˆ enzwıˆvel ich niht an: / als uns got an einem man / erzeiget und bewæret ha ˆt, / so enwart nie mannes misseta ˆt / ze dirre werlde so ˆ gro ˆz, / er enwerde ir ledic unde blo ˆz, / ob si in von herzen riuwet / und si niht wider niuwet (V. 43 ff.). In diesen Versen ist bereits die Kernaussage der Erzählung enthalten: Jede Sünde, wie schwerwiegend sie auch sei, kann durch tief empfundene Reue getilgt werden. In der Folge wird ausgeführt, dass nicht die Sünde an sich das Gefährlichste sei, sondern der Zweifel an der Gnade Gottes und der Möglichkeit der Sündentilgung (V. 64 ff., 160 ff.). Dadurch bekommen der Vers da ˆ enzwıˆvel ich niht an und die angedeutete Parallele zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten eine tiefere Bedeutung. An dem harmloseren Beispiel des Erzählers kann der Rezipient zunächst die Aussage ›jede Sünde kann getilgt werden‹ nachvollziehen, bevor ihm die Sünden des Gregorius, die vil starc ze hœrenne (V. 53) sind, zugemutet werden.181 Diese Überleitung zeugt von einer geschickten Erzähltechnik, wirft aber auch ein etwas milderes Licht auf die kritischen Aussagen des Erzählers über seine früheren Werke. Er arbeitet ja auch im ›Gregorius‹ mit konzeptionellen und ästhetischen Elementen aus der höfischen Literaturtradition. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang das Entscheidungsgespräch zwischen Gregorius und dem Abt (V. 1479–1808), in dem die Vorzüge des Klosterlebens und des Ritterdaseins gegeneinander aufgewogen werden. Für beide Dialogpartner, den Abt und den jungen Gregorius, ist jedoch weniger die äußere Lebensform als vielmehr der muot, in dem sie gelebt wird, entscheidend. So sagt Gregorius: ritterschaft daz ist ein leben, / der im die ma ˆze kann gegeben, / so ˆ enmac nieman baz genesen. / er mac gotes ritter gerner wesen / danne ein betrogen klo ˆsterman (V. 1531 ff.). Nachdem seine Gegenargumente nicht gewirkt haben, akzeptiert der Abt Gregorius’ Entscheidung mit den Worten: du ˆ bist, daz merke ich wol

181 Vgl. Christian Leibinnes: Die Problematik von Schuld und Läuterung in der Epik Hartmanns von Aue (Kultur, Wissenschaft, Literatur 20). Frankfurt a.M. 2008, S. 43–63; Ulrich Ernst: Der ›Gregorius‹ Hartmanns von Aue. Theologische Grundlagen – legendarische Strukturen – Überlieferung im geistlichen Schrifttum (Ordo 7). Köln 2002, bes. S. 161–179.

156 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 dar an, / des muotes niht ein klo ˆsterman (V. 1635 f.). Der Erzählstoff hätte es durchaus hergegeben, die Entscheidung für das weltliche Leben als Ursache für den Fall des Gregorius darzustellen. Der Erzähler nutzt diese Möglichkeit aber nicht, sondern stellt die beiden Lebensformen quasi gleichberechtigt nebeneinander. Obwohl Gregorius sich als weltlicher Herrscher nicht willentlich falsch verhält, begeht er ungewollt so schwere Sünden, dass eine Wiedereinsetzung in die weltliche Herrscherrolle nach der vollbrachten Buße unvorstellbar ist. Mit dem ihm auferlegten Schicksal stößt Gregorius an die Grenzen des Ideals, religiöse und weltliche Sphäre harmonisch zu vereinen. Doch auch wenn dieser Extremfall die Grenzen des Harmonisierungsmodells aufzeigt und eine Rückkehr, wie sie im ›Armen Heinrich‹ geschildert wird, nicht mehr möglich ist, kann darin doch nicht eine prinzipielle Absage an das Modell gesehen werden. Denn Gregorius kann seine Schuld büßen und in die Gesellschaft reintegriert werden, er erlangt sogar wieder eine Herrscherstellung, allerdings keine weltliche, sondern ein noch ehrenvolleres geistliches Amt. Die vorbildliche Buße des Ritters Gregorius befähigt ihn zur Ausübung des höchsten geistlichen Amtes, in das er auf göttlichen Befehl hin eingesetzt wird. Hier wird, wie auch schon im Entscheidungsgespräch, deutlich, dass die Einstellung des Einzelnen zu seinem Schicksal der zentrale Aspekt ist. In den geistlichen Erzählungen Hartmanns von Aue geht es also nicht um einfache moraldidaktische Anweisungen. Das differenziert geschilderte Innenleben der problematischen Figuren soll die Identifikation des Rezipienten und dessen Mitfühlen und Mitleiden ermöglichen, die ihrerseits als Mittel zur Persuasion dienen. Diese Herangehensweise ersetzt eine komplexere theologische Reflexion und ist daher aus klerikaler Perspektive nicht unproblematisch.182 Das Unbehagen theologisch Gebildeter an diesem Vermittlungsmodell religiöser Inhalte zeigt sich beispielsweise in der zeitnahen lateinischen Bearbeitung des ›Gregorius‹ durch Arnold von Lübeck. Arnold kürzt oder tilgt höfische Elemente wie die Minnegeschichte von Gregorius’ Eltern, stellt stattdessen gelehrte Bezüge zur antiken Literatur und Mythologie her und unterfüttert die Handlung mit predigthaften Kommentaren.183

182 Vgl. Volker Mertens: Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption (MTU 67). München 1978, S. 76–104; Strohschneider: Inzest-Heiligkeit. 183 Vgl. Kohushölter: Rezeption, S. 21 ff. Ausgabe: Arnold von Lübeck: Gesta Gregorii peccatoris. Untersuchungen und Edition von Johannes Schilling (Palaestra 280). Göttingen 1986.

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4.1.3 ›Vorauer Novelle‹ Die nur fragmentarisch erhaltene ›Vorauer Novelle‹ (649 V., 1. Hälfte 13. Jahrhundert?) ist eine der literarisch anspruchsvollsten geistlichen Verserzählungen.184 Sie ist mit dem ersten Exempel der lateinischen ›Reuner Relationen‹ eng verwandt.185 Während Anton Schönbach eine direkte Abhängigkeit postulierte, versucht Klaus Zatloukal die Unterschiede, v.a. in der theologischen Auffassung, ins Licht zu rücken.186 Zwei Knaben, in frühem Alter ins Kloster gegeben, werden dort von einem tugendhaften, aber sehr strengen Lehrer erzogen, der ihnen zu viel geistliche Bildung zumutet und sie zu oft mit der Rute züchtigt. Deshalb weichen sie vom Pfad der Tugend ab und sinnen nur darauf, aus dem Kloster zu entfliehen. Nachdem die Flucht gelungen ist, geben sie sich den Weltfreuden hin. Sie gelangen in eine Stadt, in der öffentlich die schwarze Kunst (nigromancıˆe) gelehrt wird. Obwohl sie sich bewusst sind, dass dies verwerflich ist und für die Seele den Tod bedeutet, beginnen die Knaben, fleißig die Schwarze Kunst zu studieren. Weder die Warnung des Lehrmeisters noch die im Zauberbuch selbst eingetragene Warnung können sie abschrecken. Mithilfe der Zauberei begehen sie alle möglichen Laster. Nach einer Weile wird einer der Jünglinge todkrank. Während der Gesunde dem Sterbenden Trost zuspricht und ihn noch zur Reue bekehren will, verharrt der Kranke in Furcht und Verzweiflung. Nach einem langen Streitgespräch bittet der Gesunde seinen Freund nur noch, ihm nach dem Tod zu erscheinen und von seinem Schicksal zu berichten. Daraufhin stirbt der Kranke einen schrecklichen und qualvollen Tod. Er wird ohne Weihen auf dem Feld begraben. Der noch lebende Jüngling empfindet nun große Reue und geht zu einem Priester, dem er seine Vergehen beichtet. An dieser Stelle bricht der Text ab.

In einem 27 Verse umfassenden Prolog stellt der Erzähler zunächst Reflexionen über seine literarische Tätigkeit an:187 Der Text erscheint als Mittler zwischen dem Herzen des Erzählers, in dessen Werkstatt er geschmiedet wird, und dem (möglicherweise harten) Herzen des Rezipienten, das er durch seine poetische Qualität erweichen soll. Dieses Konzept wird in der ›Vorauer Novelle‹ auch dadurch legitimiert, dass die Geschichte der beiden Knaben, an denen die Rezipienten

184 Vgl. Klaus Zatloukal: Vorauer Novelle. In: 2VL 10 (1999), Sp. 523–525. Ausgaben: Anton E. Schönbach: Studien zur Erzählungsliteratur des Mittelalters II: Die Vorauer Novelle (Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien, Bd. 140, IV. Abhandlung). Wien 1899 (zit.); Die Vorauer Novelle und Die Reuner Relationen. In Abbildung hrsg. und transkribiert von Hans Gröchenig (Litterae 81). Göppingen 1981. Literatur: Klaus Zatloukal: Die Vorauer Novelle. Beobachtungen zur dichterischen Umgestaltung der ersten ›Reuner Relation‹. Euphorion 72 (1978), S. 240–259; Christian Schneider: Das Motiv des Teufelsbündners in volkssprachlichen Texten des späteren Mittelalters. Faust-Jahrbuch I (2004), S. 165–198. 185 Tubach 3127. Zu den ›Reuner Relationen‹ vgl. Anton E. Schönbach: Studien zur Erzählungsliteratur des Mittelalters I: Die Reuner Relationen (Sitzungsberichte der phil.-hist. Klasse der kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien, Bd. 139, V. Abhandlung. Wien 1898. 186 Zatloukal: Beobachtungen, S. 241–245. 187 Vgl. Kap. III.1.1.

158 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 bilde und le ˆre (V. 26) nehmen sollen, geradezu als Panorama gescheiterter Didaxe gelesen werden kann. Die gute, aber zu harte Lehre in der Klosterschule, die angenehme, aber schlechte Lehre in der Zauberschule und die eloquente, aber zu späte Lehre des Freundes an den Sterbenden führen nicht zum Erfolg. Dem steht implizit der literarische Text selbst gegenüber, in dem sich gute geistliche Lehre und schöne poetische Form harmonisch verbinden, sodass auch steinherte Herzen erweicht werden müssen. Zu Beginn der Erzählung hebt der Autor die Unschuld der beiden Knaben hervor. Dies stellt einen deutlichen Unterschied zur Fassung der ›Reuner Relationen‹ dar, denn dort ist der eine Knabe von Geburt an zum Verderben, der andere zur Rettung bestimmt. Dem theologischen Konzept der Prädestination steht hier also eine differenziertere Figurenzeichnung gegenüber, die bessere Identifikationsmöglichkeiten bietet. Die Wirkung der allzu harten Zucht in der Klosterschule wird in einem dreifachen Gleichnis beschrieben: wan swer den bogen ziehen wil / ze wıˆte ˆ uz der krefte zil, / der brichet in, als ich wol weiz; / und swer dem bro ˆte tuot ze heiz, / der brennet einen swarzen kol, / da ˆ von er selten gizzet wol; / und swer dem veisten vederspil / mit vollem kropfe getru ˆwen wil, / dem mac ez wol entvliegen (V. 55 ff.). Mit diesen Vergleichen stellt sich der Autor in eine gnomische Tradition, die auch in der höfischen Literatur oft aufgegriffen wird.188 Durch die Erwähnung der biblischen Vergleichsfigur Jonas (Jona 1,3) bei der Flucht der Knaben aus dem Kloster wird zugleich ein gelehrter Anspruch deutlich gemacht. Die im Kloster erzogenen Knaben sind nicht gegen die Tücken der Welt gewappnet, deren unter schönem Schein verborgene Gefahren im Bild daz honec mit der gallen (V. 96)189 umschrieben sind. Dies zeigt sich etwa an der Figur des Lehrers der schwarzen Kunst, dessen höfische Verhaltensweisen über seine innere Bosheit hinwegtäuschen. Er spricht die Knaben in wälsche (V. 146) an: ›ben seeiez venu, bea sir, / mıˆnen kinden unde mir!‹ (V. 147 f.). Die Knaben bitten ihn durch sıˆne curtesıˆe (V. 153), ihnen die schwarze Kunst beizubringen. Bezeichnenderweise wird curtesıˆe auf nigromancıˆe gereimt. Doch die weltliche Sphäre dient nicht immer als Negativfolie. So heißt es etwa von der Zauberei der Knaben: die [schwarze Kunst] begunden si do ˆ üeben: / got und die werlt betrüeben / mit manger hande sünde (V. 253 ff.). Mit werlt ist hier die von Gott geordnete, tugendhafte

188 Zum überspannten Bogen vgl. TPMA 2, S. 57 f.; ein etwas anders geartetes Bogengleichnis findet sich auch in Wolframs ›Parzival‹, vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mhd. Text nach der 6. Ausg. von Karl Lachmann, übersetzt von Peter Knecht, Einführung von Bernd Schirok. 2. Aufl. Berlin/New York 2003, 241,8–30. Zum verbrannten Brot vgl. TPMA 2, S. 123. Zum übersättigten Falken vgl. TPMA 3, S. 131; der übersättigte Falke erscheint (allerdings nicht als Gleichnis) auch in Wolframs ›Parzival‹, 281,26–30. 189 Hierbei handelt es sich ebenfalls um ein verbreitetes Motiv, vgl. TPMA 6, S. 176–178, das etwa auch in Hartmanns ›Gregorius‹ (V. 455) und ›Armem Heinrich‹ (V. 151) vorkommt.

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Welt gemeint, deren Ordnung durch die Sünden der Knaben gestört wird. Neben dem höfischen Auftreten des bösen Lehrers macht auch das prachtvoll ausgestattete Zauberbuch die Diskrepanz zwischen äußerem Schein und innerem Gehalt deutlich: es was wol beslagen / mit übergulten spangen (V. 176 f.), doch auf der ersten Seite warnt das Buch vor sich selbst:190 daz beslagen buoch wart ˆ uf geta ˆn / vor in beiden an der stat. / si vunden an dem ˆ ersten blat / geschriben wol mit minie / unz ˆ uf die dritten linie: / ›hie hebet sich ane der se ˆle to ˆt, / der mit ˆ eweclıˆcher no ˆt / vil grimme wirt gebunden / und lasterlıˆchen vunden / in des tiuvels ke ˆwen / von ˆ ewen unz hin z’e ˆwen.‹ (V. 200 ff.). Zwar erschrecken die Knaben vor der Warnung des Buches, lassen sich aber von ihrem Vorhaben nicht abbringen. Doch nach einiger Zeit wird die Warnung zur Wirklichkeit: wan ˆ uf dem zouberbuoche / begreif in [den einen Jüngling] der vil grimme to ˆt (V. 300 f.). Das Buch als Mittler der schwarzen Kunst scheint diese regelrecht zu verkörpern191 und wird damit zum impliziten Gegenstück der ›Vorauer Novelle‹ selbst: Wie das Zauberbuch zum Tod seines Lesers führt, soll die geistliche Erzählung die Umkehr und damit das Heil des Rezipienten bewirken. Die Todeskämpfe des Kranken und der Dialog zwischen den Freunden zeigen eine psychologisch differenzierte Erzählweise. Während der Gesunde schnell mit Trost zur Hand ist (wir ensuln an gote sus niht verzagen: / du ˆ weist wol daz geschriben ist, / daz unser herre Je ˆsus Krist / durch den sünder ist geborn, V. 338 ff.), bleibt der Kranke, ganz den Aussagen des Zauberbuches verpflichtet, verzweifelt: der heizen helle vlamme / enmac ich niht entrinnen, / ich muoz dar inne brinnen / ˆ eweclıˆche a ˆne ende (V. 358 ff.). Auf die Ermahnungen des Freundes zur rechten Reue reagiert er nur mit Zorn. Auch die theologischen Argumente des Gesunden verfangen nicht.192 Der Kranke antwortet nur: geselle mıˆn, / tuo mir hiute dıˆn triuwe schıˆn / und swıˆc von solhen sachen (V. 429 ff.). Der Gesunde erinnert den Freund an die Möglichkeit der Reue, indem er sagt: gedenke daz du ˆ ha ˆst gelesen, / daz nie kein riuwe ze spæte wart (V. 458 f.), doch die klösterliche Bildung, zu der diese Lektüre gehörte, ist überlagert von der Lektüre des Zauberbuches, das ewige Verdammung prophezeit. Der Kranke kennt nur noch die Desperatio. Als der Gesunde die Nutzlosigkeit seiner Worte einsieht, bittet er den Freund, ihm nach dem Tod von seinem Schicksal zu berichten. Daraufhin wird auf drastische Weise

190 Das Buch bildet den Höhepunkt einer Reihe von Warnungen, die die Knaben in den Wind schlagen: die Warnung eines aus der Stadt kommenden Klerikers (V. 137 f.) und die beiden Warnungen des Zaubermeisters (V. 161 ff. und 180 ff.). 191 So auch Schneider: Teufelsbündner, S. 179 f., S. 182. 192 Er erwähnt das beliebte – wenn auch etwas abgeänderte – Ezechiel-Zitat Qua hora ingemuerit (Zu welcher Zeit auch immer der Sünder [über seine Sünde] seufzt) (Ez 33,12; V. 411 ff.) und das Beispiel des guten Schächers (V. 422 ff.).

160 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 der Tod des Kranken beschrieben: Sein Körper zieht sich in Krämpfen zusammen, sein Mund schäumt, seine Zähne klappern, er zerbeißt sich die Zunge, erbleicht, schwitzt und riecht übel, bevor seine Seele den Körper verlässt: des wart vil snelle ein ho ˆhez pfant / gezücket von dem herzen sıˆn: / ich meine die se ˆle, diu vuor da ˆ hin / mit der tiuvellıˆchen schar, / diu na ˆch ir was komen dar (V. 558 ff.). Diese Todesschilderung ist ein Exempel für jene herzen, die sich durch keine Belehrung erweichen lassen. Auf das Negativbeispiel folgt aber sogleich das positive Vorbild. Der Rezipient soll ja gerade nicht, wie der Kranke, mit der Warnung des Zauberbuches alleingelassen werden.193 Von dem gesunden Jüngling heißt es nämlich: ˆ uz leides herzen grunde / suochte er die wa ˆren riuwe (V. 571 f.). Nun wird eine ideale Beichtsituation vorgeführt: Der Jüngling geht zu einem Priester und beginnt, seine Sünden zu beweinen, um sie dann vollständig zu beichten. Dieser Vorgang wird mit einem aus dem ›Physiologus‹ stammenden Bild verglichen: Der alte Adler fliegt so nah an die Sonne heran, dass sein Gefieder verbrennt, und lässt sich dann in einen See fallen; so wächst ihm ein neues Gefieder, und er wird wieder jung.194

193 Schneider: Teufelsbündner, S. 185, ist dagegen der Meinung, dass dieses positive Beispiel durch die vorausgehenden Aussagen des Sterbenden sowie durch die Aussagen des Erzählers selbst über daz swinde gotes gerihte (V. 122) »mit der Vorstellung vom Gericht eines zornigen Gottes, dessen Urteil sich menschlicher Einsicht entzieht und weder logisch vorberechenbar noch beeinflußbar ist« unterlaufen werde. Eine solche Lesart des Textes ist zwar möglich, aber m.E. wird dabei die fundamentale Bedeutung der rechten Reue, auf die der Text ja eigentlich abzielt, unterschätzt. Zwar mag es in theologischer Hinsicht etwas platt erscheinen, aber dem Text liegt doch wohl die Annahme zugrunde, dass derjenige, der bereut, gerettet wird, derjenige aber, der dies nicht tut, verdammt wird. Deshalb ist das Gottesgericht auch nicht unlogisch, sondern auf schematische Weise logisch. Hätte der Kranke bereut, wäre er gerettet worden. Der eigentlich springende Punkt dabei ist, dass in der ›Reuner Relation‹ der Unterschied zwischen den beiden Jünglingen mit der Prädestination erklärt wird – dies lässt das Gottesgericht unbeeinflussbar erscheinen. In der ›Vorauer Novelle‹ wird dagegen gerade die Bedeutung des freien Willens hervorgehoben, schon bei der Entscheidung der Knaben, die schwarze Kunst zu studieren. Das impliziert, dass es auch vom freien Willen des Menschen abhängt, ob er bereuen und gerettet werden will oder nicht. Wenn man die große Bedeutung, die dem Konzept der rechten Reue in der Laiendidaxe zukommt, berücksichtigt, scheint mir diese Lesart sehr plausibel zu sein. 194 Physiologus, Kap. VIII: De Aquila. Dicit David in psalmo CII: Renovabitur ut aquile iuventus tua. Phisiologus dicit aquilam talem naturam habere, ut quando senuerit, graventur ale eius et oculi eius obducuntur caligine. Tunc vero querit fontem aque vive et contra fontem evolat in altum usque ad ignem solis, ibique incendit alas suas simul et caliginem oculorum suorum emendat. Surgens autem de radio solis demum descendit in fontem ac tertia vice se mergit statimque renovata est. (Vom Adler. David sagt im 102. Psalm: Deine Jugend wird wie ein Adler erneuert werden. Der Physiologus sagt, dass der Adler solcher Natur sei, dass, wenn er alt wird, seine Flügel schwer werden und seine Augen mit Blindheit überzogen. Dann sucht er einen Brunnen mit lebendigem Wasser und fliegt über dem Brunnen in die Höhe bis zum Feuer der Sonne, dort entzündet er

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Die Reue des Jünglings hat seine Sünden verbrannt, und er ist in den See seiner Tränen gefallen, der ihn verjüngt. An dieser Stelle bricht der Text in dem einzigen erhaltenen Textzeugen ab. Zatloukal vermutet, der Text sei Fragment geblieben, weil der Verfasser, der vor allem an realistischen Schilderungen interessiert gewesen sei, in der nun folgenden Erscheinungsszene keinen Reiz mehr gesehen habe.195 Diese Erklärung scheint mir aus verschiedenen Gründen unbefriedigend zu sein. Einerseits hätte der Verfasser wohl einen anderen Erzählstoff gewählt, wenn er keine Geistererscheinungen hätte beschreiben wollen. Andererseits erfüllen die realistischen Schilderungen in diesem Text einen ganz bestimmten didaktischen Zweck: Sie werden eingesetzt, um den Rezipienten zu bewegen und für die Lehre empfänglich zu machen. Auch wenn dies in der ›Vorauer Novelle‹ auf poetisch anspruchsvollem Niveau geschieht, halte ich es doch für einen Anachronismus, das poetische Element nur als Selbstzweck zu verstehen. Wenn man die sorgfältige Gesamtkomposition des Textes berücksichtigt, scheint es mir zudem unwahrscheinlich, dass der Verfasser den Text absichtlich unvollendet gelassen hat. Naheliegender ist m.E. die Annahme, dass der Text aus nicht mehr nachvollziehbaren, äußeren Gründen Fragment geblieben oder erst während der Überlieferung (beim einzigen Textzeugen handelt es sich um eine Abschrift)196 zum Fragment geworden ist. Die ›Vorauer Novelle‹ integriert mit der differenzierten Figurenzeichnung und der an Gottfried von Straßburg orientierten Stilistik Elemente der höfischen Literaturtradition in den geistlichen Erzählstoff von den beiden Zauberschülern. Während in den stoffverwandten ›Reuner Relationen‹ die beiden Jünglinge durch Prädestination entweder zur Verdammnis oder zur Rettung bestimmt sind, wird diese Entscheidung in der ›Vorauer Novelle‹ von der inneren Einstellung der Figuren abhängig gemacht. Wie im ›Armen Heinrich‹ ist es der Umgang der Figuren mit ihrem (hier: selbstverschuldeten) Schicksal, der im Zentrum steht. Aufgrund seiner inneren Wandlung kann der zweite Jüngling gerettet werden, nicht wegen einer Vorherbestimmung. In der ›Vorauer Novelle‹ steht zwar nicht, wie im ›Armen Heinrich‹, das Idealbild eines frommen weltlichen Herrschers am Ende, aber es wird doch gezeigt, dass ein Mensch sich auch aus selbstverschuldeter

seine Flügel und beseitigt die Blindheit seiner Augen. Aus einem Sonnenstrahl erstehend, stürzt er sich schließlich in den Brunnen hinab und taucht dreimal unter und ist sogleich wie neu geboren.). Zit. nach: Der altdeutsche Physiologus. Die Millstätter Reimfassung und die Wiener Prosa nebst dem lateinischen Text und dem althochdeutschen Physiologus. Hrsg. von Friedrich Maurer (ATB 67). Tübingen 1967, S. 86. 195 Vgl. Zatloukal: Beobachtungen, S. 255. 196 Zur Handschrift vgl. unten, Kap. VII.2.1.

162 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Sündenverstrickung durch eine innere Wandlung wieder befreien kann. Durch die Schilderung der zu strengen Klosterzucht wird deutlich, dass kein Gegensatz zwischen böser Welt und guter Weltabkehr (Kloster) konstruiert werden soll, sondern es in jeder Lebensform auf das richtige Verhalten ankommt – ein ähnlicher Gedanke, wie er bei Hartmann von Aue im Entscheidungsgespräch zwischen Gregorius und dem Abt geäußert wird. 4.1.4 Das ›Jüdel‹ Der Erzählstoff vom Judenknaben, der zur christlichen Kommunion geht und als Strafe dafür von seinen Glaubensgenossen in einen Ofen geworfen wird, ist seit der Spätantike in zahlreichen Fassungen verbreitet197 und wurde in der deutschen Verserzählung ›Das Jüdel‹ (458 V., 13. Jahrhundert)198 wieder aufgegriffen. Der Sohn eines Juden besucht zusammen mit den Christenkindern die Schule. Der Judenknabe beobachtet, wie die anderen Kinder sich oft vor einem Marienbild am Weg verneigen und fragt nach dem Grund. Als er von den Kindern hört, Maria behüte sie in der Schule vor Schlägen, beginnt auch er, Maria zu dienen. Er verneigt sich vor dem Bild und reinigt es von Spinnweben. Als der Judenknabe eines Tages mit den anderen Kindern in die Kirche geht, erscheint ihm die Hostie nach der Transsubstantiation als lebendiges Kind, von dem der Priester Fleisch abbricht, um die Gläubigen zu speisen. Dadurch bewegt, empfängt auch der Judenknabe die Hostie. Zuhause fragt ihn der Vater, warum er so lange weggeblieben sei, und der Knabe erzählt alles. Der Vater versucht ihn zunächst von seiner Gesinnung wieder abzubringen, doch als dies nicht fruchtet, muss er schließlich, unter großen Klagen, dem Willen der Verwandten nachgeben, die den Knaben töten wollen, um Schande zu vermeiden. Der Knabe wird in einen heißen Backofen geworfen, doch Maria erscheint ihm und rettet ihn. Als die Juden merken, dass der Knabe noch lebt, wird auf Befehl des Knaben der Bischof herbeigerufen. Der Bischof geht mit dem Knaben in die Kirche, wo er und die anderen Juden, die durch das Wunder bekehrt wurden, die Taufe empfangen.

Auf den von Mariensymbolik geprägten Prolog (V. 1–27) folgt eine Beschreibung des kindlichen Mariendienstes des Judenknaben. Aus der Perspektive der anderen Kinder wird dem Judenknaben vermittelt, worum es beim Mariendienst geht: si sprachen nieman so guo ter. / Der leit so sanfte buze. / vnt wart wir genade nicht so

197 Einen Überblick über die Stofftradition geben Burmeister: Der Judenknabe, S. 31–37, 39–42; Eugen Wolter: Der Judenknabe. 5 griechische, 14 lateinische und 8 französische Texte (Bibliotheca Normannica 2). Halle 1879; Theodor Pelizaeus: Beiträge zur Geschichte der Legende vom Judenknaben. Halle 1914. 198 Vgl. Hans-Friedrich Rosenfeld: Das Jüdel. In: 2VL 4 (1983), Sp. 891–893. Ausgabe: Heinrich Meyer-Benfey: Mittelhochdeutsche Übungsstücke. 2. Aufl. Halle/Saale 1920, S. 84–96. Vgl. auch Burmeister: Der Judenknabe, S. 43–82; Cordula Hennig von Lange: ›Das Jüdel‹ – Judenfiguren in christlichen Legenden. In: Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters. Religiöse Konzepte, Feindbilder, Rechtfertigungen. Hrsg. von Ursula Schulze. Tübingen 2002, S. 135–162; Michael Stolz: Kommunion und Kommunikation. Eucharistische Verhandlungen in der Literatur des Mittelalters. In: Literarische und religiöse Kommunikation, S. 453–505.

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suze. / So wrde wir vil diche geslagen. / ir gut chan dir niemen vol sagen. (V. 80 ff.). Der Judenknabe schimpft mit der Spinne, die das Marienbild verunstaltet hat: wurm vnt wærstv weise. / Dv richtest dein werch ander swa. / ez en chumt dir nicht zemazzen da. / Vnt west ich wa ich dich funde. / du mvsest andirre stunde. / Arnen diese missetat. / dvne wæist nicht wie ez vm die frov wen stat. (V. 94 ff.). Obwohl er kein Christ ist, versteht der Judenknabe – im Gegensatz zum unvernünftigen Insekt – die Bedeutung der Gottesmutter. Auch bei der Beschreibung des Hostienwunders bleibt der Erzähler in der Figurenperspektive: Do man daz ampt begie. / div ovgen ez nie dar abe verlie. / Vntz im vf dem alter erschæin. / der aller schonist chinde æin. / Daz dehæin ovge ie vber sach. / d[er] briester vlæisch dar abe brach. / Vnt gab ez den livten inden munt. / do dovcht ez ie wol tovsenstvnt. / Schoner vnt starc danne ˆ e. / vnt entet nicht als im wære we. (V. 115 ff.). Erst nach dieser Schilderung kommentiert der Erzähler, dass das Kind das göttliche Geheimnis der Transsubstantiation geschaut habe. Durch diese Perspektivierung werden die Identifikation mit dem Protagonisten und der emotionale Nachvollzug des Geschehens gefördert. Auch bei der negativen Figur, dem Vater des Judenknaben, wählt der Erzähler eine differenzierte Perspektive durch die Schilderung der emotionalen Reaktion des Vaters auf das Urteil, seinen Sohn töten zu müssen (V. 230 ff.). Als der Vater seine Knechte schließlich beauftragt, den Knaben zu töten, gibt der Erzähler diesen durch die Wahl des Pronomens ein ›unpersönliches‹ Gesicht: nu stvnt ein bachoven da bei. / Dar hiezzen si wite beræiten. / vnt den so vaste hæizen. / Daz daz fiwer vaste her voz sluo c. / daz chint man schier dar truo c. / Gebunden vnt warf ez dar in. (V. 280 ff.). Erst beim Bericht über das Wunder der Errettung des Knaben aus dem Ofen wechselt der Erzähler in eine auktoriale Perspektive. Mit einer Adresse an die Rezipienten wird der Wunderbericht eingeleitet: Nv wil ivch [sic!] iv sagen wie ez qua[m]. / vnt waz dem fiwer benam. / Seine mæisterlose chraft. / daz daz chint vnschadhaft. / Muo se beleiben. / div gesegent ob allen weiben / lie sich da schæimberlichen sehen. / vnt lie dem chinde nicht geschehen. / Daz im læit waere. (V. 291 ff.). Einerseits wird hier durch die Formulierung eine Parallele zum Hostienwunder geschaffen (wie das Abbrechen dem Jesuskind nicht weh tut, schadet das Feuer dem Judenknaben nicht), andererseits erreichen die dem Knaben zuteil gewordenen religiösen Erfahrungen (Verehrung der Marienstatue – Hostienwunder – Marienerscheinung) hier ihren Höhepunkt. Auf allen Stufen dieser Bekehrungsgeschichte spielt das Sehen eine zentrale Rolle. Durch das Anschauen der Statue wird der Knabe überhaupt erst zum Mariendienst geführt. Er befreit die Statue von einer Spinnwebe, die die Sichtbarkeit behindert. Durch das Anschauen des Hostienwunders wird der Knabe dazu gebracht, den Leib Christi empfangen zu wollen. Konsequenterweise kann er nun Maria im Feuer wahrhaftig sehen. Nach dem Zwiegespräch zwischen Maria und

164 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 dem Knaben wird wieder auf die Figur des trauernden Vaters fokussiert, der die Juden bittet, seinen Sohn begraben zu dürfen, um seinen Schmerz zu lindern. Als er erfährt, dass der Knabe noch lebt, schlägt seine Trauer in übermäßige Freude um: do vreivt sich des iuden muo t. / Er stunt vnt lief da hin. / vnt wer vil gern zv im dar in. / Heten im die andern nicht gewert. (V. 350 ff.). In dem folgenden Dialog zwischen Vater und Sohn, in dem die inquit-Formeln weitgehend weggelassen sind, geht es noch einmal um das Sehen des Heiligen: Der Vater kann die Himmelskönigin nicht sehen, weil er nicht getauft ist, der Sohn aber sieht sie, weil er schon ein Taufversprechen abgelegt hat. Doch auf die Verheißung des Vaters, sich auch taufen lassen zu wollen, reagiert das Kind mit Skepsis und will erst in der Gegenwart von Christen den Ofen verlassen. Auch im Gespräch mit dem Bischof wird die Bedeutung des Sehens betont, als der Knabe sagt, seine Verwandten hätten ihn töten wollen, da seine ougen wunder sahen (V. 400) und er dies erzählt habe. Der Bischof bittet die Juden auf Geheiß des Knaben minnechleichen (V. 403), zurückzutreten, damit der Knabe den Ofen verlassen kann. Emotionale Betroffenheit auf beiden Seiten ist die Konsequenz des Wunders: da wart manic wange. / von wæinunden ovgen naz. / die iuden wæinten ouch daz. / Si ez so lange heten gespart. / vnt so lange wider den gart. / Tumplichen heten gestrebet.199 / vnt nach dem tv´uel gelebet. / Ir riwe si wol beschæinten. / die christen alle vor vrewden wæinten. (V. 412 ff.). Mit großer Freude werden im Münster TaufBottiche bereitet, der Bischof tauft den Knaben, die Priester die andern Juden, nachdem sie im christlichen Glauben unterrichtet worden sind. Über die Freude der Neugetauften heißt es am Schluss: brister vnt livte. / Sungen alle daz gotes wort. / daz was den iuden ein lieb[er] hort. / Danne golt od edel gestæine. / ez smaht in allen gemæine. / Sam daz hoe nig vof der zungen. / vil vaste si do drungen. / Da in div tovffe was beræit. / vnt liezzen alle ir tumphæit. / Vnt enphiengen daz ewige liecht. (V. 446 ff.). Das Entscheidende an diesem Ende ist der Umstand, dass eine emotionale, innere Wandlung der Juden, die Zeugen des Wunders geworden sind, zu ihrer freiwilligen Bekehrung und Taufe führt. In einer mittelalterlich-christlichen Wahrnehmung ist nichts anderes denkbar, als dass die Juden am Ende einer solchen Geschichte zum christlichen Glauben geführt (oder bestraft, vertrieben) werden. Ein Blick auf die Stofftradition200 zeigt aber, dass das harmonische Ende des ›Jüdels‹ außergewöhnlich ist. In anderen Fassungen finden Zwangstaufen statt, Taufunwillige werden vertrieben, und der Vater des Judenknaben wird anstelle des Knaben in den Ofen geworfen.

199 Hinter diesem Bild steht der Bibelvers Apg 26,14, in dem Paulus von seiner Konversion erzählt. 200 Tubach 2041.

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Das um 1300 entstandene ›Passional‹-Marienmirakel Nr. 25 ›Der Judenknabe‹ (568 V.),201 das den gleichen Erzählstoff bearbeitet, unterscheidet sich in einigen Details vom ›Jüdel‹; so wird etwa weniger Gewicht auf eine differenzierte Figurenzeichnung gelegt. Ein reicher Jude schickt seinen Sohn mit den Christenkindern zur Schule, um sein Ansehen zu steigern. Wenn die Kinder in die Kirche gehen, müssen sie sich auf Befehl des Lehrers vor einem Marienbild verneigen. Der Judenknabe tut dies auch, da er die Prügelstrafen fürchtet. Als die anderen Kinder dem Judenknaben erklären, wer Maria sei, beschließt er, ihr zu dienen, verneigt sich vor ihr, spricht das Ave Maria und befreit das Bild von Spinnweben. An Ostern geht der Knabe mit den anderen Kindern in die Kirche und sieht die Hostie als Christuskind. Er empfängt die Hostie. Zuhause erzählt er seinen Eltern, was er gegessen habe. Die Eltern sind bestürzt, und die Verwandten misshandeln den Knaben, um ihn von seiner Gesinnung abzubringen. Als dies nicht gelingt, wird der Knabe in den Ofen geworfen. Maria erscheint und rettet ihn. Als die Juden bemerken, dass der Knabe noch lebt, wird auf dessen Geheiß der Bischof herbeigerufen. Der Bischof treibt die Juden vom Ofen weg und bringt den Knaben in einer Prozession in die Kirche. Der Knabe und viele Juden, die bekehrt wurden, empfangen die Taufe.

In dieser Fassung verneigen die Kinder sich vor der Marienstatue nicht primär aus kindlicher Liebe, sondern auf Befehl des Lehrers, der die Säumigen mit Schlägen bestraft (V. 56 ff.). Der Mariendienst des Judenknaben besteht nicht nur in der Verbeugung, sondern – typisch für das ›Passional‹ – im Aufsagen des Ave Maria. In der Szene, als die Juden das Vergehen des Knaben erkennen, wird weniger Gewicht auf die Reaktion des Vaters gelegt, sondern vielmehr die Misshandlung des Knaben durch die Juden ausgemalt: Er wird verflucht und bespien, was als Parallele zur Passion Christi zu verstehen ist. Die judenfeindlichere Tendenz202 der ›Passional‹-Version zeigt sich auch darin, dass die Juden vom Bischof nicht freundlich gebeten werden, vom Ofen wegzutreten, sondern weggetrieben werden: der bischof treib sie alle hin, / als daz iudelin in bat (V. 522 ff.). In der ›Passional‹-Fassung ist die Identifikationsmöglichkeit mit der Vaterfigur reduziert und die Bekehrung vieler Juden wird zwar als Eingebung Gottes (der milde got der gute / der juden vil bekarte, V. 528 f.), aber nicht als emotionale Hinwendung der Juden zum christlichen Glauben beschrieben. Dadurch bietet die ›Passional‹-Fassung gegenüber der Version des ›Jüdels‹ ein eindimensionaleres Deutungsmuster der Geschichte, in dem die wundersame Rettung des Knaben durch Maria im Zentrum steht, während im ›Jüdel‹ der Fokus gerade auch auf den Figuren liegt, die innerhalb der Geschichte zunächst eine negative Rolle einnehmen.

201 Ausgabe: Marienlegenden (Richert), S. 187–205. Vgl. auch Burmeister: Der Judenknabe, S. 83–127. 202 In eine ähnliche Richtung geht die Bezeichnung der Juden als valsche diet (V. 388) mit ar[gem] sin (V. 521).

166 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 4.2 Bewältigung der Unvereinbarkeit von religiöser und weltlicher Sphäre durch ideale Lebensentwürfe und göttliche Gnade 4.2.1 Rudolf von Ems: ›Der gute Gerhard‹ Der ›Gute Gerhard‹203 Rudolfs von Ems ist eine Thesenerzählung, in der auf schematische Weise der Grundsatz vorgeführt wird, dass ein Mensch für seine guten Taten entweder den Ruhm der Welt oder den Lohn Gottes haben kann – aber nicht beides. Dies wird anhand der gegensätzlichen Figuren des Kaisers Otto und des Kaufmanns Gerhard gezeigt, indem die hochmütige Bitte des wohltätigen Kaisers, zu erfahren, welcher Lohn ihn im Himmel erwarte, als Anlass genommen wird, um das in jeder Hinsicht vorbildliche Leben des Kölner Kaufmanns zu schildern, der sich – im Gegensatz zum Kaiser – seiner guten Taten nie gerühmt hat. Auf Befehl eines Engels sucht der Kaiser den Kaufmann auf und lässt sich dessen Lebensgeschichte erzählen: Gerhard hat die dänische Königstochter Erene aus heidnischer Gefangenschaft erlöst; da sich kein Angehöriger der Königstochter meldete, wollte er sie mit seinem Sohn verheiraten; als jedoch auf der Hochzeit der totgeglaubte Bräutigam der Prinzessin, Prinz Wilhelm von England, auftauchte, veranlasste Gerhard seinen Sohn zum Verzicht und vermählte die Königstochter mit Wilhelm, der während seiner jahrelangen Suche nach der Braut verarmt war. Nachdem Gerhard ihm auch geholfen hatte, seinen Thron den Händen von Usurpatoren zu entreißen, verzichtete er auf die ihm angetragene Königswürde und setzte Wilhelm auf den Thron. Hinter dieser Erzählung steht ein Konzept der Unvereinbarkeit von weltlicher und religiöser Sphäre: Der Ruhm der Welt zerstört den Lohn Gottes (V. 537 ff., 981 ff.), und nur durch den Verzicht auf weltliche Güter und Herrschaft erlangt Gerhard seinen Ehrenplatz im Himmel (du ˆ lieze durch der se ˆle heil / der welde rıˆche werdekeit, V. 6712 f.). Im Gegensatz zu den differenziert gezeichneten Figuren etwa von Hartmanns von Aue ›Armem Heinrich‹ ist Gerhard eine eindi-

203 Vgl. Wolfgang Walliczek: Rudolf von Ems. In: 2VL 8 (1992), Sp. 322–345 und 2VL 11 (2004), Sp. 1344 f. Ausgabe: Rudolf von Ems: Der guote Geˆrhart. Hrsg. von John A. Asher. 3., durchges. Aufl. (ATB 56). Tübingen 1989. Vgl. auch Christoph Cormeau: Rudolf von Ems, Der guote Geˆrhart. Die Veränderung eines Bauelements in einer gewandelten literarischen Situation. In: Werk – Typ – Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur (FS Hugo Kuhn). Hrsg. von Ingeborg Glier u.a. Stuttgart 1969, S. 80–98; Meinolf Schumacher: Toleranz, Kaufmannsgeist und Heiligkeit im Kulturkontakt mit den ›Heiden‹. Die mittelalterliche Erzählung ›Der guote Geˆrhart‹ von Rudolf von Ems. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1 (2010), S. 49–58; Karin Cieslik: »so ˆ bitt ich dich / daz du ˆ geruochest hœren mich« (v. 449 f.). Rede- und Figurengestaltung im Guoten Gerhart Rudolfs von Ems. In: Sprechen mit Gott. Redeszenen in mittelalterlicher Bibeldichtung und Legende. Hrsg. von Nine Miedema/Angela Schrott/Monika Unzeitig (Historische Dialogforschung 2). Berlin 2012, S. 169–190.

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mensionale Idealfigur, die immer die richtigen Entscheidungen trifft und dadurch den Bruch zwischen religiöser und weltlicher Sphäre bewältigt, ohne eine innere Wandlung durchlaufen zu müssen. Im ›Guten Gerhard‹ sind viele Elemente aus der höfischen Literaturtradition zu finden, gerade bei den Festschilderungen in der Binnenerzählung. Die Rahmenhandlung zeigt jedoch, dass es nicht darum geht, diese Elemente so in den geistlichen Erzählstoff zu integrieren, dass die beiden Bereiche harmonisch in eins gesetzt werden – denn die Konstellation der Rahmenhandlung stellt das höfische Gesellschaftsmodell auf den Kopf: Ein einfacher Kaufmann soll im Himmel größeren Lohn empfangen als ein Kaiser. Dieses Skandalon (vgl. V. 570 ff.) kann nur durch die Idealität der Figur Gerhards, der sich nicht zuletzt durch höfische Tugenden auszeichnet, aufgefangen werden. Die Versatzstücke aus der höfischen Literatur dienen somit (auch) dazu, einen schwer genießbaren geistlichen Erzählstoff204 zugänglich zu machen, ohne jedoch dessen weltkritische Aussage zu relativieren. 4.2.2 Reinbot von Durne: ›Der heilige Georg‹ Im Legendenepos ›Der heilige Georg‹ Reinbots von Durne,205 entstanden wohl um 1240/50, steht ebenfalls ein Protagonist im Zentrum, der den Bruch zwischen religiöser und weltlicher Sphäre durch seinen idealen Lebensentwurf überwindet. Auftraggeber des Werks waren das Herzogspaar Otto II. und Agnes von Bayern. Schon der Erzählstoff bietet sich für eine Verbindung von geistlichen und höfisch-weltlichen Elementen an, da Georg als Ritterheiliger die beiden Bereiche in seiner Person vereint. So wird er im Prolog als Helfer der Ritter vorgestellt: Geo ˆri, der edel herre! / nu ha ˆn ich mich vil verre / vermezzen ˆ uf die gna ˆde dıˆn: / nu tuo gna ˆde an mir schıˆn! / wan ich dich, edel vürste, man, / daz dich manik riter an / gerüefet ha ˆt in gro ˆzer no ˆt, / do ˆ er rang umbe den to ˆt / und im dıˆn helfe wart bekant. /

204 Tubach 3175. Lateinische Fassungen des Stoffes finden sich beispielsweise in den ›Vitaspatrum‹: PL 73, Sp. 1140 f. (Vita des Pitirum) und in der Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/ Klapper: Erzählungen, Nr. 5. Eine mit dem ›Guten Gerhard‹ eng verwandte jüdische Erzählung, die auch die Binnenhandlung mit der Befreiung einer Gefangenen und der doppelten Hochzeit enthält, käme als Quelle in Betracht, allerdings ist die Entstehungszeit dieser Erzählung ungewiss, vgl. Reinhold Köhler: Zum ›Guten Gerhard‹. Germania 12 (1867), S. 55–60. 205 Vgl. Werner Williams-Krapp: Reinbot von Durne. In: 2VL 7 (1989), Sp. 1156–1161 und 2VL 11 (2004), Sp. 1297. Ausgabe: Reinbot von Durne: Der heilige Georg. Hrsg. von Ferdinand Vetter. Halle/Saale 1896. Literatur: Peter Strohschneider: Georius miles – Georius martyr. Funktionen und Repräsentationen von Heiligkeit bei Reinbot von Durne. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters (FS Volker Mertens). Hrsg. von Matthias Meyer/Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 781–811; Astrid Lembke: Erzählte Heiligkeit. St. Georg in mittelalterlicher Dichtung (Reihe Hochschulschriften 23). Berlin 2008, bes. S. 17 f., 22–27; Seidl: Blendendes Erzählen, S. 73–182.

168 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 wan kristenman nie ˆ uf gebant / ie helm noch ˆsenhuot, ı / in le ˆrte herze und der muot, / daz an dich gie der ˆ erste ruof / vür alle, die got ie geschuof (V. 71 ff.). Georg wird als idealer miles christianus, der sich dem Heidenkampf verschrieben hat, präsentiert. Innerhalb dieses Rahmens, der quasi als theologische Legitimierung des Rittertums dient, können Elemente aus der höfischen und heldenepischen Literatur integriert werden, ohne in einen Widerspruch mit der geistlichen Perspektivierung der Legende zu treten. So wird etwa von Georg berichtet, er habe so ˆ mangen Sarrazıˆn / mit sıˆn eines hant erslagen, / daz ichz niemer kan vollesagen. / ez enmak vor im niht wern: / er sleht lewen und ouch bern, / trachen, lintwürme; / er bristet in die stürme / als ein starkiu wolkenbrust; / anders ist niht sıˆn gelust / wan slahen heiden, slaha ˆ slach! / er ist der kristen obedach / und ir schirm und ir schilt (V. 462 ff.). Ähnliche stilistische Elemente finden sich auch bei den Schlachtbeschreibungen (z.B. V. 131–146; 1173–1255). Georg tritt nicht nur als kriegerischer Held, sondern auch als vollendeter höfischer Ritter auf, etwa bei seinem prächtigen Einzug und Lager vor der Stadt des heidnischen Fürsten Dacian (V. 1496–1602). Mehrmals nimmt der Erzähler dabei Bezug auf Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹: Georgs Zeltlager vor Dacians Stadt ist schöner als dasjenige Gahmurets vor Zazamanc (V. 1558 ff.); Georgs Schild ist schöner als derjenige von Feirefiz (V. 1674 ff.); das Bett, das Georg in Dacians Palast bereitet wird, ist schöner als dasjenige des Anfortas (V. 2685 ff.). Wie in Wolframs ›Willehalm‹ und ›Parzival‹ erscheint das höfische Rittertum als konfessionsübergreifende kulturelle Gemeinsamkeit, wenn Dacian Georg als Held anerkennt und ihm eine Versöhnung vorschlägt (V. 1704–1716). Während bei Wolfram das Verhältnis zwischen christlichen und heidnischen Helden jedoch entweder auf differenzierte Weise problematisiert wird (›Willehalm‹) oder sich ohne viel Federlesens in Wohlgefallen auflöst (z.B. die Taufe des Feirefiz im ›Parzival‹), ist es bei Reinbot von unverrückbaren Grenzen und einer klaren Wertung bestimmt. Die Verbissenheit, mit der beide Parteien an ihrer Überzeugung festhalten, macht eine Verständigung auf der höfisch-kulturellen Ebene schließlich unmöglich: ja möhte man ˆ e den Kiemse ˆ / geleiten oben ˆ uf den Seten, / ˆ e Dacia ˆn sıˆn Machmeten / oder Geo ˆri sıˆnen Je ˆsus / durch den andern lieze sus (V. 1720 ff.). Dass religiöse und höfische Sphäre nicht wirklich vereinbar, sondern von einer klaren Hierarchie bestimmt sind, zeigt sich auch an den Unterschieden, die zwischen Georgs und Dacians Rittertum hervorgehoben werden. So lehnt Georg das Minnerittertum ab, während Dacian den Frauendienst anpreist: ›geschiht ez: waz ich und ir / suln mit einander vröiden pflegen! [...] da beginnet aber iuwer hant / schildes rant verhouwen / durch minne werder vrouwen; / ir vindet riterschefte stat / und werdet ouch da ˆ strıˆtes sat; / sol iu sıˆn iemer werden buoz, / ez gilt ie doch der wıˆbe gruoz.‹ / ›Ei‹, sprach der vürste wıˆse, / ›na ˆch wıˆbes lo ˆne und prıˆse / wirt von mir niht me ˆ gestriten; / ich ha ˆn selten ˆ e erliten / durch sie no ˆt und arbeit. (V. 2246 ff.). Hier zeigt sich eine kritische Haltung gegenüber ritterlichen Lebensformen, die

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nicht von der militia Christi bestimmt sind. Diese Konstellation – der Entwurf eines höfischen Ritterideals und die gleichzeitige Propagierung des kompromisslosen Glaubenskampfes – führt in Wolframs ›Willehalm‹ zu Spannungen und Brüchen. Höfische Elemente werden problematisiert, etwa, wenn die ängstlichen christlichen Fürsten dem Heidenkampf ein Turnier vorziehen. Aber auch die Unterschiede zwischen Christen und Heiden und der Glaubenskrieg selbst werden in Frage gestellt.206 In Reinbots ›Georg‹ ist davon kaum etwas zu spüren. Dort wird der Gegensatz von religiöser und weltlicher Sphäre zwar vorausgesetzt, aber die Figur Georg integriert die beiden Sphären durch ihre Idealität: Georg ist zugleich demütig und tritt durch seine höfische Prachtentfaltung als ebenbürtiger Gegner Dacians auf; um seiner Würde als christlicher Held gerecht zu werden, muss er die Pracht der weltlichen Romanhelden überstrahlen. Die Idealität der Figur bewältigt zwar die Brüche zwischen religiösem und höfischem Bereich,207 führt aber auch zu einer eindimensionalen Figurenzeichnung und einem eindimensionalen Deutungsmuster des Geschehens. Der christliche Held Georg steht dem Heiden Dacian gegenüber, an dessen negativer Bewertung auch seine höfische Prachtentfaltung nichts ändern kann. Ein höfisch-laikaler Rezipient sollte in diesem Fall nicht durch das Miterleben innerer Konflikte geläutert werden, sondern in Georg ein ideales Vorbild sehen, an dem er seinen eigenen Lebensentwurf ausrichten konnte. 4.2.3 ›Bonus‹ und die Münchner Marienmirakel-Fragmente Der Aufschwung der Marienverehrung im 12. Jahrhundert schlägt sich unter anderem auch in der Entstehung von Marienmirakeln in deutschen Versen nieder. Ein Beispiel dafür ist ›Bonus‹ (238 V., spätes 12./13. Jahrhundert?),208 das Konrad Kunze als das »älteste deutsche gereimte Marienmirakel« bezeichnet hat.209

206 Vgl. Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1376–1418, hier Sp. 1401–1405; Rüdiger Schnell: Die Christen und die ›Anderen‹. Mittelalterliche Positionen und germanistsiche Perspektiven. In: Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Hrsg. von Odilo Engels/Peter Schreiner. Sigmaringen 1993, S. 185–202; Joachim Heinzle: Die Heiden als Kinder Gottes. Notiz zum ›Willehalm‹. ZfdA 123 (1994), S. 301–309; Burghart Wachinger: Schichten der Ethik in Wolframs ›Willehalm‹. In: Alte Welten – neue Welten. Bd. 1. Hrsg. von Michael S. Batts. Tübingen 1996, S. 49–59; Christoph Fasbender: ›Willehalm‹ als Programmschrift gegen die ›Kreuzzugsideologie‹ und ›Dokument der Menschlichkeit‹. ZfdPh 116 (1997), S. 16–31. 207 Zur Vereinbarkeit der Entwürfe vom idealen Heiligen und vom idealen Ritter vgl. auch Seidl: Blendendes Erzählen, bes. S. 179–182. 208 Vgl. Konrad Kunze: Bonus (Marienmirakel vom Bischof Bonus). In: 2VL 1 (1978), Sp. 952 f. und 2VL 11 (2004), Sp. 273. Ausgaben: Moriz Haupt: Bonus. ZfdA 2 (1842), S. 208–215 (zit.); Edward Schröder: Die deutsche Marienlegende vom Bischof Bonus. Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Klasse 1/1924, S. 1–13. 209 Kunze: Bonus, Sp. 953. Allerdings könnten die Münchner Marienmirakel ähnlich alt sein, vgl. unten.

170 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Als der fromme Bischof Bonus, der Maria besonders verehrt, in der Nacht vor Mariae Himmelfahrt in der Kirche betet, sieht er den Himmel offen stehen, und alle Heiligen kommen herab in das Münster. Bonus versteckt sich hinter einer Säule, doch Maria, die vor dem Altar sitzt, will, dass er eine Messe liest. Als Bonus versucht, sich noch besser zu verstecken, weicht die Säule von ihrer Stelle, und die Heiligen holen den Bischof herbei. Ein himmlisches Messgewand wird ihm angelegt, und er hält mit Hilfe der Apostel und der Erzengel die Messe. Bevor die Heiligen die Kirche verlassen, schenkt Maria ihm zum Dank für seinen Dienst das Messgewand. Am nächsten Morgen berichtet Bonus seinen Kaplänen von dem Wunder. Der Nachfolger des Bonus wünscht sich eine ähnliche Vision und betet nachts vor Mariae Himmelfahrt in der Kirche, schläft aber ein und wird auf wundersame Weise in sein Bett transportiert. Am nächsten Morgen schämt er sich und lebt fortan als frommer Mann.

Im Prolog (V. 1–15) tut der Autor seinen Willen kund, ein gotlıˆch[ez] mære (V. 1) von Maria zu erzählen und bittet nach einem Bescheidenheitstopos um Marias Hilfe dabei. Zu Beginn der Erzählung wird Bonus als vorbildlicher Mariendiener vorgestellt. Gegenüber der lateinischen Fassung des Erzählstoffs, dem ›Rhythmus de casula S. Boni‹ (12. Jahrhundert),210 auf den der volkssprachige Verfasser möglicherweise direkt Bezug genommen hat, lassen sich in der deutschen Version kaum größere Abweichungen feststellen. Prolog und Epilog sind anders gestaltet; der deutsche Text weist einige Erweiterungen auf, etwa in der Szene, in der Bonus den anderen Klerikern vom Wunder berichtet, das er erlebt hat. Im lateinischen Text heißt es an dieser Stelle nur: ille quidem nihil celat, sed quod vidit, hoc revelat (V. 40).211 In der deutschen Erzählung wird dagegen berichtet, wie die Kapläne am Morgen in die Kirche kommen und vom Wohlgeruch überrascht sind, den die Heiligen hinterlassen haben; dann zeigt ihnen Bonus das himmlische Messgewand und die weggerückte Säule, die Kapläne stimmen einen Lobgesang an und weinen vor Freude (V. 169–197). An verschiedenen Stellen weist die deutsche Erzählung zusätzliche direkte Figurenrede auf, etwa bei der Übergabe des himmlischen Messgewands: do ˆ sprach diu maget fro ˆne / ›mıˆn dienstman Bo ˆne, / hab dir ditz messegewant ze lo ˆne‹ (V. 159 ff.). In dieser Formulierung klingt ein (lehensrechtlich inspiriertes) Dienst-Lohn-Verhältnis an, das auf Strukturen der laikalen Lebenswelt verweisen kann. Die Erzählung von ›Bonus‹ steht vor allem durch die Verwendung des Reimpaarverses in der volkssprachigen Literaturtradition – weiterführende konzeptionelle oder ästhetische Bezüge zur höfischen Literatur sind kaum vorhanden. Es geht hier nicht, wie etwa bei Reinbots ›Heiligem Georg‹, darum, möglichst viele Versatzstücke der höfischen Literatur in eine geistliche Erzählung zu integrieren, um den Erwartungen eines laikalen Publikums besser gerecht zu

210 Ausgabe: Moriz Haupt: Bonus. ZfdA 3 (1843), S. 299–304. 211 Jener verheimlicht nämlich nichts, sondern offenbart alles, was er gesehen hat.

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werden. Vielmehr steht die Gnade im Vordergrund, die Maria einem ihrer vorbildlichen Diener zuteil werden lässt – und damit die Propagierung des Mariendienstes im Allgemeinen. In dieser Fokussierung auf den theologisch-didaktischen Inhalt steht der ›Bonus‹ vergleichbaren lateinischen Exempla nahe. Weitere Beispiele früher deutscher Marienmirakel in Versen, die sich eng an lateinische Bezugstexte halten, sind die drei Bruchstücke ›Heilung durch Marienmilch‹, ›Marienoffizium zur Unzeit‹ und ›Kaufmann aus Byzanz‹,212 die in einem Handschriftenfragment aus der Zeit von 1220/30 überliefert sind. München, BSB, Cgm 5249/11 Pergament · Reste von 2 Doppelbll. · 14,5–14,7 × 13–13,3 · östlicher Teil des bairischen Sprachgebiets (?) · 1220/1230 Die Seitennummerierung 1–8 stammt von Friedrich Keinz. Die Seiten 1/2/7/8 und 3/4/5/6 bilden je ein Doppelblatt. Auf S. 6 folgt nahtlos S. 7, es fehlt aber vermutlich ein Blatt zwischen S. 2 und 3. Dies ergibt die Abfolge: 1–2-xr-xv–3–4–5–6–7–8, wobei das fehlende Blatt x wohl ein Einzelblatt war. Inhalt: S. 1–2 ›Heilung durch Marienmilch‹ S. 3–6 ›Marienoffizium zur Unzeit‹ S. 6–8 ›Kaufmann aus Byzanz‹ Lit.: Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Fragmente Cgm 5249–5250 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,8). Wiesbaden 2005, S. 40.

Wegen der großen Textverluste sind verlässliche Aussagen über die Beschaffenheit dieser Texte nur begrenzt möglich. Die erhaltenen Bruchstücke weisen jedoch – ähnlich wie der ›Bonus‹ – außer dem Reimpaarvers keine besonderen Merkmale auf, die einen engen Bezug zur höfischen Literatur suggerieren würden. Die Marienmirakel stehen den lateinischen Fassungen der Erzählstoffe im ›Liber de miraculis‹ (Cap. 30 ›Item de quodam Fratre‹, zu: ›Heilung durch Marienmilch‹; Cap. 34 ›De quodam Clerico‹, zu: ›Marienoffizium zur Unzeit‹; Cap. 33 ›De Judaeo & Christiano‹, zu: ›Kaufmann aus Byzanz‹)213 sehr nahe, sodass eine direkte Bezugnahme auf diese Versionen seitens des volkssprachigen Verfassers wahrscheinlich ist. Darauf deutet auch die Nachbarschaft der drei Mirakel

212 Vgl. Hardo Hilg: Marienmirakelsammlungen. In: 2VL 6 (1987), Sp. 19–42, hier Sp. 31, und 2 VL 11 (2004), Sp. 977. Ausgabe: Friedrich Keinz: Bruchstücke von Marienlegenden. Germania 25 (1880), S. 82–88. Zur Stoffgeschichte der Marienmirakel vgl. Hermann Schnell: Zu den Münchener Bruchstücken von Marienlegenden. Germania 32 (1887), S. 427–432. 213 Hermann Schnell hat in seiner stoffgeschichtlichen Untersuchung bereits auf zwei Londoner Handschriften hingewiesen, die wohl den ›Liber de miraculis‹ enthalten, zitiert aber nicht die Ausgabe von Pez. Er identifiziert lediglich die Quellen für das erste und dritte Mirakel, zu denen volkssprachige (französische/spanische) Parallelen existieren.

172 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 sowohl in der lateinischen Mirakelsammlung als auch in den deutschen Fragmenten hin. Im ersten deutschen Bruchstück wird von der wundersamen Heilung eines kranken Mönchs durch Maria berichtet.214 Ein Mönch, der Maria immer besonders verehrt hat, wird schwer krank. Als seine Mitbrüder ihn schon für tot halten, erscheint ihm Maria in einem weißen Gewand, tröstet ihn und heilt ihn, indem sie ihn mit ihrer Milch bespritzt. Der Kranke kommt zu sich und schimpft mit seinen Brüdern, dass sie die Gottesmutter nicht würdig empfangen hätten. Erst als er begreift, dass nur er die Erscheinung gesehen hat, erzählt er der Reihe nach, wie es ihm ergangen ist. Die Brüder freuen sich mit ihm und preisen die Gottesmutter.

Der erhaltene deutsche Text setzt an der Stelle ein, wo das Wunder kommentiert wird. Gegenüber der lateinischen Fassung ist die deutsche Erzählung kürzer gehalten und vereinfacht. Sie enthält zwar auch das Paulus-Zitat Tanquam parvis in Christo vobis potum dedi, non escam (1 Kor 3,1 f.)215 und die Auslegung des lateinischen Textes, spart aber das Beispiel des heiligen Märtyrers Dionysius aus, das im ›Liber de miraculis‹ angefügt wird. Um an einem Ausschnitt die Unterschiede zwischen lateinischer und volkssprachiger Fassung zu veranschaulichen, werden die beiden Texte hier synoptisch dargeboten. Liber de miraculis, Cap. 30

›Heilung durch Marias Milch‹, V. 31–73

Aeger vero plurimum confortatus a Matre DOMINI mox caput erigit, nec jam aeger a lecto prosilit,

& Medicam dum nusquam respicit,

Der sieche gewan di chraft daz er wart redehaft daz hovbet er ovf rihte o vz dem bete er erschrihte er sah hin vnt her die arztinnen niender sah er

ejulans haec Fratribus retulit dicens: Hic astitit Regina gloriae me servum suum sanare & vos nihil ei reverentiae exhibentes peccastis utique, dum vidistis, quid gratiae faceret, & neglexistis parare ei, ubi recumberet.

er sprach weinende zvo in hie stvnt div reine […] haben bereitet ir einen stvl der ir getohte da si ovf gesitzen mohte er begvnde des darvmbe iehen

214 Die Heilung durch Marienmilch ist aus moderner Perspektive zwar vielleicht eine »eigenartige Erzählung«, (so Burmeister: Judenknabe, S. 67), es handelt sich aber um ein geläufiges Motiv der Marienmirakel-Literatur, das oft mit Bernhard von Clairvaux in Verbindung gebracht wird: Tubach 5109, 772; Caesarius von Heisterbach: ›Dialogus miraculorum‹, III,23; Vinzenz von Beauvais: Speculum historiale, VII,84; Johannes Gobi: Scala coeli, Nr. 639. Vgl. auch Jacques Berlioz: La lactation de saint Bernard dans un exemplum et une miniature du ›Ci nous dit‹ (de´but du XIVe sie`cle). Cıˆteaux. Commentarii cistercienses 39 (1988), S. 270–284. Zur ikonographischen Tradition der Lactatio Sancti Bernhardi vgl. auch LCI 5 (1973), Sp. 377 f. 215 Wie es sich für Kinder in Christus ziemt, gab ich euch Trank, nicht (feste) Speise.

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Et putans, quod ipsi similiter, sicut ille viderat visionem, vidissent, ait: Heu me miserum, quia non fui valens salvatrici meae parare aliquod sedile pulcherrimum, quae mihi immerito sospitatis impedit solatium! Sed enim tumultus vester non fieret, forsitan tam cito non recessisset.

Fratres vero hoc viso terror ingens occupat, ignorantes, quod factum fuerat. Et quoniam stupor hos invaserat, verba illius nullus perpendit, psalmodiae vox nulla resonat, & qui misere flebant, flere permoti trepidant.

Interea recuperata virtute aeger in se redit, & quod factum sit erga se, cognoscit, atque Fratribus recitat per ordinem, [s]icut216 viderat,

sicque mentes eorum revocat. Superfluum est nobis quaerere, quas laudes tantae Virgini tunc studuerunt exhibere hi […]217

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er wande si heten si ovh gesehen we daz mir so gar gebrast do mir chom so werder gast daz ih iz niht mohte bereiten noh wisen noh geleiten der iht des hete gervchet daz er sitzen hete gervchet der iwer vngefvge schal was so diche vber al daz niemen vo z gehoren mah si waere liht vber tah hivte langer hie beliben niwan daz ir si habt vertribn Do di brvder daz erchanden daz er so was erstanden do siz von im vernamen der rede si erqvamen sine ahten niht ovf sine sage iedoh wart ein gemeiniv dage von ir aller salter lesen vor vorhten entrvten si niht genesen dem siechen chom nvo wider diu maht do bechander wol vnt betraht allez daz im was geschehen er begvnde sagen vnt iehen der samenvnge in al gerihte von aller der geschihte wie in sant Marie erloste di brvder er da mite troste wie groz ir vrovde do wart des endarf nie […]

216 In der Ausgabe steht hier irrtümlicherweise ficut. 217 Der Kranke aber, sehr getröstet durch die Mutter Gottes, hebt ein wenig den Kopf, und schon nicht mehr krank, springt er aus dem Bett, und als er die Ärztin nirgends sieht, sagte er klagend folgendes zu den Brüdern: »Hier stand die Königin der Ehre, um mich, ihren Diener, zu heilen, und ihr habt gesündigt, indem ihr ihr keine Ehrerbietung gezeigt habt, und weil ihr, obwohl ihr gesehen habt, welche Gnade sie (mir) erwies, es vernachlässigt habt, ihr eine Möglichkeit anzubieten, um sich hinzusetzen.« Und weil er meinte, dass sie wie er die Vision gesehen hätten, sagte er: »Ach, ich Armer! Der ich nicht in der Lage war, meiner Heilerin einen schönen Stuhl zu bringen, was mir so unverdienterweise den Trost meiner Heilung geraubt hat! Aber wenn ihr nicht so viel Lärm gemacht hättet, wäre sie vielleicht nicht so schnell weggegangen!« Als sie dies sahen, wurden die Brüder von einer ungeheuren Furcht übermannt, denn sie wussten nicht, was geschehen war. Und weil sie ganz verwirrt waren, hörte überhaupt keiner auf seine Worte, erschallte keine Stimme mit (Lob-)Psalmen, und diejenigen, die zuvor elend

174 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Wenn in der deutschen Verserzählung ein Motiv ausführlicher gestaltet ist als im lateinischen Text, kann man dies meist auf den Reimzwang zurückführen. Das zweite Fragment enthält die Geschichte des ›Marienoffiziums zur Unzeit‹.218 Ein Kleriker, der eine Pilgerfahrt unternimmt, kehrt in der Nähe von Cambrai in einem Kloster ein. Beim Stundengebet hört er, dass die Mönche immer mit einem Marienoffizium beginnen, bevor sie das übliche Offizium anstimmen. Am nächsten Morgen fragt der Kleriker den Oberen des Klosters, warum sie sich nicht an die übliche Liturgie hielten. Daraufhin erzählt dieser, dass er in seiner Jugend mit zwei Gesellen ein wüstes Weltleben führte; in einer Vision sah der Jüngling sich und seine Gesellen vor dem Gericht Gottes stehen. Gott verurteilte sie, doch Maria bat Christus für den Jüngling um Gnade, da er ihre Tagzeiten immer gesprochen hatte. Nach dieser Vision bekehrte sich der Jüngling, aber seine beiden Gesellen führten ein noch schlimmeres Leben und wurden nach dem Tod verdammt. Da der Obere also durch Marias Hilfe der Verdammnis entgangen ist, beginnt er die Stundengebete immer mit einem Marienoffizium. Einem anderen Mönch, der unwillig war, das Marienoffizium vor den Stundengebeten zu sprechen, erschien Maria und befahl ihm, den Brauch der Brüder nicht zu stören, worauf der Mönch ihr ebenfalls gerne diente. Nachdem der fremde Kleriker diese Geschichte gehört hat, lobt er Maria für ihre Gnade und dient ihr fortan fleißig.

Im Gegensatz zu vielen späteren geistlichen Erzählungen behandeln diese beiden Fragmente monastisch geprägte Stoffe, die möglicherweise für ein laikales Publikum, das kaum theologische Kenntnisse hatte, wenig interessant waren. Besonders der zweite Text, der Fragen der monastischen Liturgie behandelt, dürfte eher schwer nachvollziehbar gewesen sein. Der Verfasser des deutschen Textes hält sich auch bei dieser Erzählung eng an die lateinische Quelle. Lediglich der Epilog ist mit einer Publikumsadresse etwas freier gestaltet: alsam svln wir hie cestet / genade sagen in beiden / daz si vns mivze scheiden / von hovbethaften schvlden / daz wir nah gotes hvlden / also hie gewerben / daz wir iht verderbn / von des tivels samen / nvo sprechet alle amen (V. 180 ff.). Diese formelhafte, Autor und Publikum einschließende Bitte um ein gutes Ende ist topisch. Vielleicht soll sie hier dazu dienen, die Betroffenheit jedes Einzelnen von den im Exempel behandelten Themen deutlich zu machen.

geweint hatten, zitterten und heulten nun zugleich. Währenddessen war der Kranke wieder vollständig zu sich gekommen und wurde sich bewusst, was mit ihm passiert war, und er erzählte den Brüdern der Reihe nach, was er gesehen hatte, und so brachte er sie wieder zum Verstand. Wir brauchen nicht zu fragen, welche Loblieder sich diese nun bemühten, der heiligen Jungfrau entgegenzubringen, die solches vermag. 218 Dieser Stoff begegnet auch im ›Collectaneum Clarevallense‹, Nr. 149, sowie bei Petrus Damiani, vgl. Kurt Reindel: Die Briefe des Petrus Damiani. Bd. 3. München 1989, S. 518–520 (Nr. 142). Eine deutsche Prosaversion findet sich im ›Magnet unserer lieben Frau‹ (München, BSB, Cgm 626, Bl. 194rb–194vb).

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Das dritte Fragment behandelt den Erzählstoff von einer Marienstatue bzw. Christus als Bürgen.219 Ein Archidiakon aus Lüttich kommt auf einer Pilgerfahrt nach Byzanz. In einer Kirche trifft er auf eine fröhliche Menschenmenge, die Gottes Lob singt. Aufgrund seiner mangelnden Griechischkenntnisse versteht der Archidiakon zunächst nicht, worum es geht, doch dann findet sich jemand, der ihm auf Lateinisch folgende Geschichte erzählt: Ein reicher Kaufmann ist verarmt und will in der Ferne sein Glück erneut versuchen. Ein Jude verlangt einen Bürgen, bevor er ihm Geld leiht. Der Kaufmann bietet Christus als Bürgen an, der Jude akzeptiert dies. In der Fremde wird der Kaufmann wieder reich. Erst am Vorabend des festgesetzten Tages erinnert er sich daran, dass er dem Juden das Geliehene zurückgeben muss. Da er keine Möglichkeit sieht, innerhalb der gesetzten Frist nach Byzanz zurückzukehren, legt er das Geld in eine Kiste und wirft diese ins Meer, in der Hoffnung, sein Bürge, Christus, werde sie rechtzeitig an ihren Bestimmungsort bringen. Dies geschieht, der Jude findet die Kiste am Morgen vor seinem Haus an der Küste. Er versteckt das Geld jedoch unter seinem Bett, und als der Kaufmann zurückkehrt, fordert der Jude das Geliehene von ihm zurück. Der Kaufmann führt den Juden in die Kirche zum Marienbild, vor dem der Handel geschlossen worden ist, und bittet Gott um Gerechtigkeit. Das Bild sagt, der Jude habe sein Gut erhalten und es unter dem Bett versteckt. Dadurch wird der Jude bekehrt, und das Volk freut sich über das Wunder.

Von dieser Erzählung ist nur der Anfang erhalten. Es lassen sich ähnliche Bearbeitungstendenzen erkennen wie in den anderen beiden Texten. Die deutsche Erzählung steht der lateinischen Fassung sehr nahe; Sachverhalte, die in einem volkssprachigen Kontext uninteressant oder zu kompliziert erscheinen mochten, sind jedoch weggelassen, wie z.B. die Thematisierung der Verständigungsprobleme aufgrund der griechischen Sprache. Wie im ›Bonus‹ scheint auch bei diesen Marienmirakeln der Fokus auf der exemplarischen Darstellung von Marias Gnade gelegen zu haben. Die Diskrepanz zwischen diesen ästhetisch anspruchslosen Übertragungen lateinischer Quellen und Erzählungen wie etwa Hartmanns von Aue ›Armem Heinrich‹ oder der ›Vorauer Novelle‹ macht deutlich, wie breit das Spektrum der Möglichkeiten, geistliche Erzählstoffe in deutsche Reimpaarverse umzusetzen, im späten 12. und 13. Jahrhundert war. Ob diese Texte auch für je unterschiedliche Rezipienten bestimmt waren, kann man aufgrund der erhaltenen Zeugnisse nicht sagen, es ist aber durchaus denkbar, dass Personengruppen mit unterschiedlichem Hintergrund ein Interesse an geistlichem Erzählen in Versen hatten.

219 Tubach 2797. Vgl. auch Kap. IX.2.1.

176 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 4.2.4 Das ›Passional‹ Marias Gnade steht auch im Zentrum der ›Passional‹-Marienmirakel; allerdings sind dort mehr Elemente aus der höfischen Literaturtradition integriert als in den frühen, schlicht gehaltenen Marienmirakeln. Die grundsätzliche Unvereinbarkeit der Hingabe an die Welt und der Gottesliebe wird auch im ›Passional‹ vorausgesetzt, aber dieser Bruch wird durch das gnädige Eingreifen Gottes und Marias in die Geschicke der Menschen bewältigt.220 So finden etwa im ›Passional‹ neben den idealen Heiligen wie Märtyrern, Bischöfen und Jungfrauen auch Figuren Platz, die nicht von Anfang an ein gottgefälliges Leben führten: sumeliche enkonden niht entvlien / alhie der werlde pfutze / und lagen vil unnutze / in ir pfule manigen tac; / zu iungest wart in doch der hac / gerumet und si quamen / da si von gote namen / aplaz aller sunde.221 In den Marienmirakeln tritt Maria dementsprechend als Mittlerin zwischen Gott und Menschen, als Beschützerin und Fürbitterin gerade derjenigen einfältigen und sündigen Menschen auf, die in den Augen einer selbstgerechten Welt oder eines strafenden Gottes keine Aussicht auf Erlösung hätten. Ein Beispiel dafür ist das ›Passional‹-Marienmirakel 15 ›Die Ave Maria-Lilie‹ (84 V.). Ein alter Ritter tritt in ein Zisterzienserkloster ein. Aufgrund seiner edlen Abstammung wollen die Mönche ihn nicht als Laienbruder, sondern als Mönch aufnehmen. Dafür soll der Ritter von einem Lehrer ausgebildet werden, kann sich aber, da er sonst nie mit Büchern umgegangen ist, nur die zwei Worte »Ave Maria« merken. Diese Worte spricht er immer mit viel Andacht. Nach seinem Tod wächst auf seinem Grab eine Lilie, auf deren Blättern in Goldbuchstaben »Ave Maria« steht. Damit hat Maria ihren Diener geehrt.

Dieses kurze Mirakel, das auch in der lateinischen Exempelliteratur weit verbreitet ist,222 zeigt, dass selbst ein kleiner, eigentlich unvollkommener Dienst belohnt wird, wenn er mit Andacht geleistet wird. Der Ritter versucht zwar, das Lesen zu lernen, aber sein herter sin (V. 40) lässt dies nicht zu. Gott sieht gnädig über diese Unzulänglichkeit hinweg: Got, aller selden ein volbort / und rechter tugende ein minne, / liez der herten sinne / den ritter nicht entgelden (V. 46 ff.). Um

220 Zum versöhnlichen Gottesbild des ›Passionals‹ und des ›Väterbuchs‹ s. Dorothea Borchardt/ Konrad Kunze: Väterbuch. In: 2VL 10 (1999), Sp. 164–170 und 2VL 11 (2004), Sp. 1595, hier Sp. 167: »Dabei tritt die Faszination durch einen suzen got ungleich stärker als die Furcht vor einem strafenden Gott hervor.« Vgl. auch Beatrice Kälin: Maria, muter der barmherzekeit. Die Sünder und die Frommen in den Marienlegenden des alten Passionals (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 17). Bern 1994. Zum ›Passional‹ im Allgemeinen vgl. Hans-Georg Richert: Passional. In: 2 VL 7 (1989), Sp. 332–340 und 2VL 11 (2004), Sp. 1166. 221 Friedrich Karl Köpke: Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts (Bibliothek der deutschen Nationalliteratur 32). Quedlinburg/Leipzig 1852 (Nachdruck Amsterdam 1966), 5,60 ff. 222 Tubach 427.

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auch den Mönchen deutlich zu machen, wie gut der Ritter Maria gedient hat, geschieht das Lilien-Wunder. So wird einerseits das Bild eines gnädigen, versöhnlichen Gottes gezeichnet, andererseits wird durch das Wunder bestätigt, dass es auf den guten Willen mehr ankommt als auf die vollkommene Ausführung. Damit wird das Bewusstsein derjenigen Rezipienten angesprochen, die zwar eine fromme Neigung haben, aufgrund ihrer Lebensumstände oder Charaktereigenschaften dieser Neigung aber nicht immer entsprechen können. Sie sollen durch solche Geschichten ermutigt werden, nicht vom guten Weg abzuweichen. Nicht nur mangelnde intellektuelle Fähigkeiten, auch charakterliche Schwächen wie fehlender Durchhaltewillen werden in den ›Passional‹-Marienmirakeln thematisiert, etwa im Mirakel 18 ›Drei Äpfel zur Warnung‹ (172 V.). Ein reicher Ritter bekehrt sich und wird Einsiedler. Zu Beginn wacht, fastet und betet er sehr eifrig, doch nach einer Weile lässt der Eifer nach, der Einsiedler schläft beim Gebet ein oder schiebt seine Tagzeiten auf. Da er aber immer Maria sehr verehrt hat, schickt sie einen Engel zu ihm, der ihm drei Äpfel zur Warnung mitbringt: einen verfaulten, der seine Faulheit bezeichnet; einen unreifen, der die falschen Gebetszeiten bezeichnet, und einen schönen reifen, der das gute Einsiedlerleben bezeichnet. Durch dieses Wunder zur Besinnung gebracht, bekehrt sich der Einsiedler erneut und hält fortan seine Gebetszeiten ein.

Die Ausgangssituation weist Ähnlichkeiten mit dem ›Durstigen Einsiedler‹ des Strickers auf.223 Während der Einsiedler des Strickers allerdings eine von Anfang an negativ gezeichnete Figur ist, ein Säufer, der nur im Rausch und im Zorn sowie in einer wirtschaftlichen Notlage den Entschluss gefasst hat, Einsiedler zu werden, wird der Ritter im ›Passional‹-Mirakel als positive Figur eingeführt, als guter man (V. 1), der es mit dem Rückzug aus der Welt zunächst ernst meint und große Besitztümer dafür zurücklässt. Trotz dieses guten Vorsatzes erkaltet sein Eifer aber nach einiger Zeit: er was in der ersten zit / vil heiz, als man ouch hute / vindet manige lute, / die zum ersten brinnen / wol veste in gotes minnen […] dar nach, als die gewizzen / ein teil beginnent vulen […] so kumt daz ungelucke, / daz itele wort werden balt / und daz herze an genaden kalt (V. 32 ff., 46 f., 52 ff.). Das Laster der Acedia hält Einzug, der Einsiedler wird nachlässig. Dieser schleichende Prozess wird detailliert geschildert, was einerseits dazu dient, den Rezipienten vor solchen Entwicklungen zu warnen, andererseits aber auch ein gewisses Verständnis für die Verfehlungen des Einsiedlers einfordert: Er ist nicht ein schlechter Mensch, sondern es ergeht ihm so, wie es vielen anderen, durchschnittlichen Menschen auch ergehen würde. Was ihn gegenüber anderen Menschen jedoch auszeichnet, ist sein Mariendienst. Maria, als Beschützerin gerade der Schwachen und der Sünder, schreitet deshalb ein und weist ihren Diener auf

223 Vgl. unten, Kap. III.4.3.

178 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 seine Verfehlungen hin: seht, do liez in geniezen / Maria, di vil gute, / daz er in sinen mute / besunder siner liebe ir iach / und sin herze nach ir brach (V. 112 ff.). Das Eingreifen des Engels funktioniert nach einem einfachen Dienst-LohnSchema, das die Grundlage des im ›Passional‹ skizzierten Marien- und Gottesbildes ist: Der Einsiedler hat Maria gedient; sobald er in eine Notsituation gerät, bekommt er als Dank für seinen Dienst göttliche Unterstützung.

4.3 Bewältigung der Unvereinbarkeit von religiöser und weltlicher Sphäre durch Klugheit: Der Stricker Mit den Verserzählungen, die dem Stricker zugeschrieben werden,224 tritt neben das Vertrauen auf Gottes oder Marias Gnade ein weiteres Modell zur Bewältigung des Bruchs zwischen religiöser und weltlicher Sphäre: Durch kluges Verhalten in der Welt soll der Mensch auf den richtigen Weg kommen, der schließlich auch zum Seelenheil führt. Diese Lebensklugheit wird in den Texten durch ein dezidiert laikales Autor-Ich vermittelt, das auch ohne klerikale Weihen als Lehrer seiner Mitmenschen auftritt.225 Der gelehrte Laie ist deshalb als Lehrer geeignet, weil er unterschiedliche Standpunkte einnehmen kann: Er ist ein theologisch (einigermaßen) Gebildeter, der religiöses Wissen an sein Publikum vermittelt und theologische Probleme für Ungebildete erörtert; er ist als Teil der Laiengemeinschaft aber auch, wie seine Rezipienten, ein armer Sünder, der auf die Gnade Gottes und die Mittlerschaft der Priester angewiesen ist. Diese Laiengemeinschaft ist jedoch mit einer verderbten Welt und mit pervertierten Klerikern konfrontiert, die den Zugang zum ewigen Leben gefährden und vor denen gewarnt werden muss. Von diesem fragilen Standpunkt aus versucht die Autorfigur, mit unterschiedlichen Methoden (exemplarischen Erzählungen, didaktischen Dis-

224 Vgl. Hedda Ragotzky: Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 1). Tübingen 1981; Sabine Böhm: Der Stricker. Ein Dichterprofil anhand seines Gesamtwerkes (Europäische Hochschulschriften 1530). Frankfurt a.M./ Bern 1995; Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme. Hrsg. von Emilio Gonza´lez u.a. (Philologische Studien und Quellen 199). Berlin 2006. 225 Vgl. Christa Ortmann/Hedda Ragotzky: »significatio laicalis«. Zur Autorrolle in den geistlichen Bispeln des Strickers. In: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter, S. 237–253, hier S. 238 ff., 244, 250 f. Der laikale Stand des Autors befähigt ihn sogar zur Kritik sowohl an Laien als auch an Klerikern, allerdings nur an solchen, die der gottgegebenen Ordnung zuwiderhandeln, vgl. Daniel Rocher: Hof und christliche Moral. Inhaltliche Konstanten im Œuvre des Stricker. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, S. 99–112, hier S. 109; Ortmann/Ragotzky: Significatio laicalis, S. 249.

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kursen, gleichnishaften Texten) Wege aufzuzeigen, wie sich ein Laie trotz der Gefährdungen in der Welt und in seinem Stand bewähren und das Seelenheil erlangen kann. Die dem Stricker zugeschriebenen Texte knüpfen auf ästhetischer und konzeptioneller Ebene an die höfische Literaturtradition an;226 es werden aber auch erhebliche Umakzentuierungen vorgenommen.227 Die Werte vröude, ˆ ere und milte 228 nennt Daniel Rocher zwar das »Dreieck von Strickers Wertsystem«, doch diese höfischen Werte werden beim Stricker in den Rahmen eines übergeordneten, für den Hof ebenso wie für die Kirche geltenden Begriffs göttlicher Ordnung gestellt, der sich alle Lebewesen zu fügen haben.229 Nicht die vröude an sich, sondern nur die mit diesem Ordo vereinbare vröude wird positiv bewertet. Ein Beispiel für dieses Ordnungsverständnis ist die Rede ›Die Minnesänger‹ (Moe 146), in der der Stricker das Konzept des höfischen Minnesangs als verwerfliche Anstiftung zum Ehebruch diffamiert. Gegen die sogenannte hohgemutiu minne (V. 7) und diejenigen, die wünschen, dass die Frauen ir triwe verchurn / und gotes hulde verlurn (V. 19 f.) macht sich der Stricker für die rechtmäßige huote des Ehemanns stark. Dem von Gott eingesetzten Sakrament der Ehe wird der Vorzug gegeben vor einem in der höfischen Kultur verankerten literarischen Konzept, das hier beim Wort genommen und ad absurdum geführt wird. Der Minnesänger erscheint als unehrlicher Schmarotzer, der schamlos die Gastfreundschaft des Ehemannes ausnützt, um dessen Frau zu umgarnen (V. 33 ff.). In der Rede des Minnesängers wird das für den Texttyp des Minnelieds charakteristische Vokabular zunächst schlagwortartig aneinandergereiht (V. 93 ff.), um dann als Geschwätz abgetan zu werden, auf das nur schlechte Frauen hereinfallen: daz æffen und daz triegen, / daz chlaffen und daz liegen, / daz næme ein bose wip fur gu(o)t (V. 107 ff.). Während im Minnesang eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem literarischen Konzept des Minnesangs stattfindet, gibt es für den Stricker nur eine moralische Richtschnur, die von Gott eingesetzte Ordnung. Daran wird das Verhalten der Figuren gemessen und danach werden sie beurteilt: Auf der negativen Seite stehen der Minnesänger als Verführer sowie die verführbare Ehefrau als Ehebrecherin, auf der positiven Seite der kluge Ehemann und die beständige Ehefrau, die seine huote gerne annimmt, weil sie auf ihre ˆ ere bedacht ist. Das richtige, gottgefällige Verhalten eines Ehemannes angesichts der trügerischen Machenschaften des Minnesängers wird ebenfalls skizziert. Einer verführbaren Frau und verdorbenen Ratgebern gegenüber werden brachiale Erziehungsme-

226 Vgl. Rocher: Hof und christliche Moral, S. 100, 109. 227 Vgl. Rocher: Hof und christliche Moral, S. 103, 111. 228 Rocher: Hof und christliche Moral, S. 109. 229 Vgl. Ortmann/Ragotzky: Significatio laicalis, S. 246; Grubmüller: Ordnung, S. 82–87.

180 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 thoden empfohlen (V. 131 ff.), den Minnesänger dagegen soll man mit dessen eigenen Waffen schlagen: da wider wære ouch daz vil sleht, / tæte der wirt dem gaste sin reht / und erzeiget im diu mære, / wes sin hofscheit wert wære. / swenne er dazetische sæzze / und gern trunch und æzze, / so wære daz vil gefu(e)ge, / daz man fur in tru(e)ge / edel blu(o)men, loup und gras, / daz ie der hofschære vroude was, / und einen vogel, der wol sunge, / und einen brunnen, der da sprunge / under einer schonen linden; / so moht er wol bevinden, / wie grozze froude ez allez git, / da von er singet alle zit. (V. 227 ff.). Während der Stricker in anderen Texten den Hof als positiven Ort von milte und Kunstverständigkeit darstellt und den Frauendienst als Dienst an tugendhaften Frauen preist, wird hier eine negative, weil mit dem göttlichen Ordnungsgefüge unvereinbare hofscheit angeprangert. In dieser Perspektive erscheint die Liebe des Minnesängers zu einer verheirateten Frau als gefährliche Krankheit, von der er schleunigst geheilt werden muss: swelch minnær also minnet, / daz im von minne brinnet / sin herce in sinem libe / nach eines andern mannes wibe, / der hat der hitze gar cevil. [...] diuselbe hitze ist so getan: / si chumt von dem helle fiwer / und von des ubelen tivels stiure (V. 303 ff.). In den dem Stricker zugeschriebenen Texten wird der Standpunkt vertreten, dass jeder Mensch, egal in welchem Stand und welcher Situation er sich befindet, alles daran setzen muss, in diesem Stand und dieser Situation das zu tun, was Gott am gefälligsten ist. ›Gott gefallen‹ heißt in diesem Denkmodell, sich in einer komplexen Welt voller Verführungen und Fallstricke jeweils für das Richtige zu entscheiden. Diese Entscheidung wird dadurch erleichtert, dass hinter der komplex erscheinenden Welt eine letztlich schablonenhafte Ordnung steht, die von Gut und Böse, Tugend und Laster bestimmt ist. Dies bedeutet, dass es in jedem Fall ein richtiges und ein falsches Verhalten gibt, und dass letzteres sich meist durch irgendein Laster, dem der Mensch verfallen ist, erklären lässt. Während in den höfischen Epen gerade die problematischen Fälle, die keine eindeutige Beurteilung zulassen, sondern unlösbare innere Konflikte hervorrufen, im Zentrum stehen,230 wird beim Stricker eine prinzipielle Geschlossenheit der göttlichen Weltordnung postuliert, die jeden Einzelfall argumentativ erklärbar macht. Diese gottgewollte Ordnung im didaktischen Diskurs transparent zu machen und ihre Gültigkeit durch die Bestrafung von Transgressionen zu verdeutlichen, ist das zentrale Thema der dem Stricker zugeschriebenen Texte. Dies wirkt sich auch auf die Figurengestaltung aus. Die Figuren interessieren als Typen und Vertreter von sozialen Gruppen.231 Modellhaft wird an den Einzelfällen vorgeführt,

230 Als Beispiel sei Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹ genannt, in dem die beiden Ehebrecher Tristan und Isolde zu höfischen Idealfiguren stilisiert werden. 231 Vgl. Grubmüller: Ordnung, S. 81 f.

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wie man sich als Ehemann, Ritter, Eremit richtig verhalten soll. Dies kann durch besonders vorbildhafte Vertreter der Gruppe oder aber durch Negativbeispiele erreicht werden. Allerdings geschieht dies nicht nur durch explizite Handlungsanweisungen für konkrete Situationen. Die Rezipienten sollen durch den prägnanten Einzelfall auch selbst zu den Grundprinzipien richtigen Handelns im Allgemeinen finden.232 Vier Beispiele verdeutlichen die Eigenart dieses Integrationsmodells. ›Der Richter und der Teufel‹ (Moe 126; 224 V.)233 Ein Richter, der seine Macht missbraucht, um Unrecht zu begehen, begegnet eines Tages dem Teufel. Dieser erzählt dem Richter, er sei unterwegs, um das einzunehmen, was ihm ernsthaft zugesprochen werde. Der Richter will trotz der Warnungen des Teufels mit diesem über den Markt gehen, um ihm zuzuschauen. Eine Frau wünscht ihr Schwein, eine andere ihre Kuh, eine dritte ihr eigenes Kind zum Teufel, doch der Teufel verzichtet darauf, diese Gaben anzunehmen, da sie ihm nicht ernsthaft überantwortet worden seien. Zuletzt begegnen der Richter und der Teufel einer armen Witwe, die vom Richter um ihr einziges Gut gebracht worden ist. Die Witwe verwünscht den Richter, und sogleich führt der Teufel ihn an den Haaren von dannen, da der Wunsch der Alten aus tiefstem Herzen kam.

Die Erzählung kann als Warnung für schlechte Richter gelesen werden. Sie verdeutlicht aber auch, dass der Teufel, so böse und listenreich er sein mag, in seiner Gewalt beschränkt ist: Den drei Frauen, die ihre Verwünschungen nicht ernst meinen, darf er nichts wegnehmen. Im Gegensatz zum Wolf aus ›Der Wolf und das Weib‹ (Moe 47) weiß der Teufel Ernstgemeintes und im Zorn Dahingesagtes zu unterscheiden. Dem Richter dagegen fehlt die Fähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen: Er begibt sich unnötigerweise in Gefahr, als er mit dem Teufel über den Markt geht, weil sein Eigensinn und sein Machtstreben ihn blind machen für die Einsicht in seine Schuld. Dieses unvernünftige Verhalten wird mit dem Verderben quittiert: also was der rihtære / mit sige worden sigelos / er wande vinden und verlos (V. 216 ff.). Der Reiz der Erzählung liegt neben dem didaktischen Nutzen in der Pointe, dass gerade der Teufel sich gesetzestreu verhält und gerecht richtet, während der Richter, dessen Aufgabe das gerechte Richten

232 Grubmüller: Ordnung, S. 88–91. 233 AaTh 1186. Vgl. Franz-Josef Holznagel: Von diabolischen Rechtsbrechern und gesetzestreuen Teufeln. Drei Ausgestaltungen eines Erzählstoffes und ihre Kontextualisierungen bei Cäsarius von Heisterbach, Chaucer und dem Stricker. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel u.a. Tübingen 2003, S. 159–174; Hartmut Bleumer: Vom guten Recht des Teufels. Kasus, Tropus und die Macht der Sprache beim Stricker und im Erzählmotiv ›The Devil and the Lawyer‹ (AT 1186; Mot M215). Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41/163 (2011) S. 149–174.

182 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 eigentlich wäre, an seinem durch die Laster der Habgier und des Machtstrebens verursachten Fehlverhalten zugrunde geht. ›Die Buße des Sünders‹ (Moe 147; 406 V.) Ein Sünder, von Reue ergriffen, bittet Gott darum, ihn so lange leben zu lassen, bis er alle seine Sünden gebüßt hat. Ein Engel verkündet ihm, dass Gott ihn erhört habe. Als der Sünder sehr lange gebüßt hat und sehr alt geworden ist, beklagt er sein Schicksal. Der Engel erscheint ihm wieder und sagt, er müsse noch unendlich lange büßen, um alle seine Sünden gutzumachen, da er auf Gottes Gnade verzichtet habe. Voller Verzweiflung versucht der Sünder, dem unerträglich gewordenen Leben ein Ende zu machen, doch alle Versuche sind vergebens, er kann seinen Wunsch nicht mehr rückgängig machen.

Diese mit einem langen diskursiven Teil ausgestattete Erzählung demonstriert, dass die Fehleinschätzung einer Situation katastrophale Folgen haben kann: Der Fehler des Sünders besteht in der Annahme, er sei in der Lage, seine Sünden selbst zu büßen, also ohne die Gnade Gottes auszukommen. Dies ist aber, wie der Erzähler im diskursiven Teil darlegt, eine durch das Laster der Superbia hervorgerufene selbstherrliche Verblendung. Während der Richter in ›Richter und Teufel‹ von vornherein als sündiger, schlechter Mensch beschrieben wird, spielt der Stricker in der ›Buße des Sünders‹ mit der Erwartungshaltung des Publikums, indem er einen reuigen Sünder auftreten lässt, dessen zunächst unverfänglich scheinende Bitte sich erst im Nachhinein als fatale Fehleinschätzung entpuppt. Dem Sünder mangelt es nicht an gutem Willen; aber er erkennt die göttliche Ordnung, die Gnade für die Sünder vorsieht, nicht und vergeht sich gegen Gott, indem er sich der Superbia schuldig macht. Dieses Beispiel nimmt der Autor zum Anlass, seinem Publikum in einer fast 300 Verse umfassenden Rede das richtige Verhalten für verschiedene soziale Gruppen zu erläutern. ›Der durstige Einsiedler‹ (Moe 5; 392 V.) Ein Trunkenbold bereut seine Sünden und fasst im Rausch den Entschluss, Einsiedler zu werden. Obwohl seine Freunde ihm von einem so radikalen Schritt abraten, nimmt er am nächsten Tag Abschied und zieht sich in eine Klause im Wald zurück. Nach einer gewissen Zeit frommen Lebens sehnt er sich nach Wein und Gesellschaft zurück. Er versucht, seinen Durst dadurch zu befriedigen, dass er die Leute, die bei ihm Rat suchen, auffordert, einen Topf Wein mitzubringen, aus dem er ihre Zukunft lesen will. Nach einer Weile bemerken die Leute seine Scharlatanerie und bringen ihm nichts mehr. Auf der Suche nach Wein verlässt er daraufhin seine Einsiedelei und kommt wieder in die Nähe der Stadt, um am Ende wieder im Wirtshaus zu landen, wo er sich vor den Säufern als Lehrer aufspielt. Er ist nun aller Leute Spott und lebt als Trinker in Schanden.

Diese Erzählung kommt – im Gegensatz zum thematisch verwandten ›Passional‹-Marienmirakel 18 – ohne das Eingreifen transzendenter Figuren aus. Die Figur des Eremiten dient, ähnlich wie der schlechte Richter, als Negativfolie, vor

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der sich das ideale Eremitendasein abzeichnet. Schon die Entscheidung des Trinkers, Einsiedler zu werden, wird im betrunkenen Zustand gefällt und im Zorn bestätigt – durch beide Laster wird diese Bekehrung in Frage gestellt. Dass es sich nicht um eine echte Bekehrung handelt, zeigt auch die Tatsache, dass der Einsiedler, sobald er körperlich schwächer wird, wieder nach Wein verlangt und seinen ganzen Sinn nur darauf richtet, wie er Wein bekommen kann. Der schlechte Einsiedler erreicht sein Ziel, indem er die Dummheit und Eitelkeit der Frauen ausnützt, denen er weissagt. Wieder in die Stadt zurückgekehrt, gibt er sich als Lehrer aus, doch nur die betrunkenen toren in der Taverne hören ihm gerne zu, die wisen verachten ihn (V. 362 ff.). So macht er sich selbst zum Gespött und versinkt noch tiefer in Laster und Sünde als vor seinem Aufbruch in die Einsiedelei. Wie bei der ›Buße des Sünders‹ wird auch hier vorgeführt, dass ein Anflug von Reue und gutem Willen allein nicht ausreicht, um eine wahre Bekehrung zu vollziehen. Indem der Trinker ein allzu hartes Leben wählt, verspielt er die Möglichkeit einer ihm angemessenen, gemäßigten Buße und Besserung. Wiederum wird also nicht nur das Laster an sich kritisiert, sondern auch die Fehleinschätzung einer Situation. ›Sünder und Einsiedler‹ (Moe 94; 96 V.) Ein Sünder bekehrt sich und büßt als Gefährte eines frommen Einsiedlers zunächst eifrig. Nach einem Jahr wird er jedoch ungeduldig und wundert sich, dass Gott kein Zeichen an dem frommen Einsiedler getan hat. Dieser bemerkt das Unbehagen des Sünders und bekehrt ihn mit drei Beispielen: Ein Mann legt immer mehr Holz auf eine Bürde, obwohl er sie nicht mehr tragen kann; ein anderer Mann versucht mit einem Gefäß ohne Boden Wasser zu schöpfen; zwei weitere Männer tragen eine Stange quer vor sich her und versuchen so durch eine enge Tür zu kommen. Diese Beispiele deutet er auf das Verhalten des Sünders: Obwohl dessen Sündenbürde schon kaum zu tragen ist, will er noch mehr Sünden dazutun; der gute Rat des Einsiedlers bleibt nicht in seinem Gemüt haften; die Jugend- und Alterssünden verwehren den Zugang zum Himmelreich. Von diesen Worten bewegt, führt der Sünder fortan ein gottgefälliges Leben.

Die erste Reue des Sünders flaut bald ab, sodass er den Fehler begeht, unberechtigterweise ein Zeichen von Gott zu verlangen. Der Einsiedler jedoch versteht es, ihn durch die allegorische Auslegung dreier Bilder von seiner Fehleinschätzung zu überzeugen und zur richtigen Bekehrung zu führen. Dieses Urteilsvermögen des Einsiedlers ist das Ideal, das der Stricker auch für seine Rezipienten als Voraussetzung eines gottgefälligen Lebens propagiert.

184 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 4.4 Bewältigung der Unvereinbarkeit von religiöser und weltlicher Sphäre durch Rückzug aus der Welt Der Unvereinbarkeit von religiöser und weltlicher Sphäre kann auch durch die Propagierung radikaler Weltabkehr begegnet werden. Versatzstücke aus der höfischen Literaturtradition werden dabei zu einer Negativfolie, von der man sich distanziert, wie dies beispielsweise der Erzähler des ›Väterbuchs‹ tut: Durch Got so sult ir verstan / Das ditz puch nicht hat gesait / Von werltlicher eitelchait, / Nicht von valscher lieb chraft / Nicht von ritters honschaft, / Nicht von abentewr, / Was vert und hewr / Hie und da sey getriben: / Da ist furbar an geschriben / Wie man der werlt entweich / Und zu Got streich / In sein raine hut / Mit tugentlichem mut (V. 41470 ff.). Wie diese Zuwendung zu Gott idealiter aussieht, wird in den Viten der asketischen, der Welt entsagenden Wüstenväter beschrieben. Es handelt sich dabei, ähnlich wie im ›Guten Gerhard‹ oder in Reinbots ›Georg‹, um ideale Lebensentwürfe, die jedoch außerhalb der höfischen Lebenswelt angesiedelt sind. Dieses Integrationsmodell – oder eher: Distanzierungsmodell – begegnet in zahlreichen geistlichen Texten des 13. Jahrhunderts. 4.4.1 ›Die gute Frau‹ In der ›Guten Frau‹ (3058 V., um 1230/40),234 deren anonymer Autor sich stilistisch an Hartmann von Aue orientiert,235 wird die Trennungs- und Wiederfindungsgeschichte eines höfischen Herrscherpaares erzählt.236 Nachdem in einem ersten Teil die Kinderminne der Protagonisten und der Erwerb von Ehefrau und Landesherrschaft durch den jungen Helden nach dem Schema der Artusromane geschildert werden,237 tritt eine Krise ein. Sie ist aber weder, wie in der Eustachius-Legende oder im stoffverwandten französischen Roman ›Guillaume d’Angleterre‹, eine von Gott verhängte Prüfung, noch, wie in Hartmanns Roma-

234 Vgl. Denis J. B. Mackinder-Savage: Die gute Frau. In: 2VL 3 (1981), Sp. 328–330. Ausgabe: Emil Sommer: Die gute Frau. Gedicht des dreizehnten Jahrhunderts. ZfdA 2 (1842), S. 385–481. Literatur: Gudrun Aker: ›Die gute Frau‹. Höfische Bewährung und asketische Selbstheiligung in einer Verserzählung der späten Stauferzeit (Europäische Hochschulschriften I 603). Frankfurt a. M./ Bern 1983; Schulz: Hybride Epistemik; Julia Weitbrecht: Keuschheit, Ehe und Eheflucht in legendarischen Texten. Vita Malchi, Alexius, Gute Frau. In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke/Julia Weitbrecht (Transformationen der Antike 14). Berlin/New York 2010, S. 131–154, hier S. 144–149. 235 Vgl. Aker: Die gute Frau, S. 16. 236 Die Geschichte steht in der Stofftradition der Eustachiuslegende. Zu dieser Tradition vgl. Röcke: Das Alte im Neuen. Der stoffverwandte französische Roman ›Guillaume d’Angleterre‹ diente möglicherweise als Quelle der ›Guten Frau‹, vgl. Aker: Die gute Frau, S. 153–162. 237 Vgl. Aker: Die gute Frau, S. 19 f.

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nen, durch ein Fehlverhalten der Protagonisten herbeigeführt. Der junge Graf trifft auf der Jagd bei einer Mühle auf zwölf lahme und blinde Bettler, die auf Geheiß seiner Frau dort gepflegt werden (V. 1477 ff.). Der Anblick des Elends dieser Menschen bewegt ihn so sehr, dass er an der Legitimität seines eigenen Wohllebens zu zweifeln beginnt: Do ˆ sweic er und reit vür sich / und da ˆhte ›diz ist wunderlich, / daz ich sündiger man / gote niht gedanken kan / der manecvalten ˆ ere. / hete er mir niht me ˆre / gegeben wan mıˆn sælec wıˆp, / so ˆ enkunde mıˆn lıˆp / gedienen niemer me ˆre / die manecvalten ˆ ere / die er mir ha ˆt geta ˆn‹ (V. 1503 ff.). Die Reflexion endet damit, dass der Graf die Unvereinbarkeit von prachtvollem Weltleben und gottgefälligem Leben feststellt: nu bekenne ich sicherlıˆche / daz niht so ˆ gro ˆzen schaden tuot / als ˆ ere unde guot. / daz ist ein mortgalle / zem ˆ ewigen valle (V. 1530 ff.). Das Ehepaar zieht die Konsequenz aus dieser Erkenntnis, verlässt heimlich das Land und begibt sich in freiwillige Armut, um das Seelenheil zu erlangen. Nach einer langen Leidensgeschichte und Trennung findet das Paar wieder zusammen und erlangt die Königsherrschaft in Frankreich. Diese neue weltliche Herrschaft erscheint als Lohn Gottes für die freiwillige Selbsterniedrigung.238 Ähnlich wie in Hartmanns Artusromanen folgt auf eine Zeit des Leidens die Wiedereinsetzung in die soziale Rolle, die die Protagonisten am Ende des ersten Teils erlangt hatten. Bei Hartmann sind die Figuren aber wegen eines inneren Konflikts in die Krise gestürzt und erlangen ihren Status durch die Behebung dieses Konflikts wieder. Nichts derartiges lässt sich in der ›Guten Frau‹ finden: Die Figuren sind – ähnlich wie im ›Guten Gerhard‹ – von Anfang an eindimensionale Idealgestalten, die keiner inneren Läuterung bedürfen. Die Leidenszeit bewirkt keine Entwicklung oder Veränderung der Figuren, sondern dient nur zur Bestätigung ihrer Vorbildhaftigkeit. Die Problematik verschiebt sich in der ›Guten Frau‹ weg von der Figur und hin zum Konzept des richtigen Lebens. Dabei wird von einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Weltleben und gottgefälligem Leben ausgegangen, die selbst ideale Figuren dazu zwingt, sich durch unstandesgemäße Selbsterniedrigung um ihr Seelenheil zu bemühen.239

238 Vgl. Aker: Die gute Frau, S. 93. Die gute Frau heiratet den König von Frankreich auf göttlichen Befehl (V. 2312 ff.). Nach seinem Tod erscheint der Graf wieder und wird dann als König eingesetzt. 239 Vgl. Aker: Die gute Frau, S. 11, S. 61–66.

186 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 4.4.2 Rudolf von Ems: ›Barlaam und Josaphat‹ Die Bekehrungsgeschichte des indischen Königssohnes Josaphat durch den christlichen Eremiten Barlaam endet in Rudolfs von Ems Legendenepos ›Barlaam und Josaphat‹ (um 1225/30) mit einer radikalen Weltabkehr, mit Josaphats Verzicht auf seine weltliche Herrschaft und seinem Rückzug in die Wüste.240 Im Prolog distanziert sich der Erzähler von der höfischen Dichtung, indem er den Topos benutzt, seine eigenen weltlichen Werke als Sünde zu beklagen; im Epilog wird der ›Barlaam‹, ähnlich wie später das Väterbuch, als Gegenstück zur höfischen Dichtung gezeichnet: diz mære ist niht von ritterschaft, / noch von minnen, diu mit kraft / an zwein gelieben geschiht; / ez ist von a ˆventiure niht, / noch von der liehten sumerzit: / ez ist der welte widerstrıˆt / mit ganzer wa ˆrheit, a ˆne lüge; / sunder spot und a ˆne trüge / ist ez an tiuscher le ˆre / der kristenheit ein ˆ ere. / swen es deste wirs gezimt / und deste ungerner ez vernimt, / ich wæne wol, der sünde sich. / sıˆn le ˆre ist reht und gotlich, / sich mac wol wıˆp unde man / a ˆne bœsern bezzern dran (404,5 ff.). Diese Aussagen schützen das Werk sowohl vor der Kritik derjenigen, die geistliche Lehre in der Volkssprache ungern sehen, als auch vor der Kritik unwilliger Rezipienten, die einen geistlichen Versroman langweilig finden könnten. Der Antagonismus von weltlich-höfischer und religiöser Sphäre wird hier apodiktisch festgeschrieben, innerhalb der Erzählung allerdings nicht immer durchgehalten. In den Minne-Exkursen (Sp. 294–298, 308) scheinen doch wieder höfische Konzepte auf.241 Als Josaphats Vater, der König Avenir, seinen Sohn von dessen neuem Glauben abbringen will, bittet er den Zauberer Theodas um Hilfe, und dieser versucht Josaphats Tugend zu erschüttern, indem er den Prinzen mit schönen Frauen umgibt. Dies nimmt der Erzähler zum Anlass, ein Gespräch mit seinem eigenen Herzen zu führen: Nu ˆ la ˆt mich sunder swære / mit urloube ˆ uz dem mære / ein we ˆnic ke ˆren, des ger ich, / wan es mıˆn muot betwinget mich (294,35 ff.). Er zeichnet daraufhin ein positives Bild von der höfischen Minne und berät sich mit seinem Herzen darüber, wie er sich gegenüber seiner aktuellen Minnedame zu verhalten habe. Auf den Rat des Herzens beginnt er alle Frauen um seiner Minnedame willen zu loben. Der Frauenpreis gipfelt in einer Adresse an die Minnedame, wobei auch die Inkongruenz des Exkurses mit der eigentlichen Erzähl-

240 Vgl. Walliczek: Rudolf von Ems, Sp. 329–332. Ausgabe: Rudolf von Ems: Barlaam und Josaphat. Hrsg. von Franz Pfeiffer (Dichtungen des deutschen Mittelalters 3). Leipzig 1843 (Nachdruck mit einem Anhang, einem Nachwort und einem Register von Heinz Rupp. Berlin 1965). Literatur: Schwab: Barlaamparabeln, S. 5–24; Siegmund Prillwitz: Überlieferungsstudie zum ›Barlaam und Josaphat‹ des Rudolf von Ems. Eine textkritisch-stemmatologische Untersuchung. Kopenhagen 1975; Eckart Conrad Lutz: Rhetorica divina. Mittelhochdeutsche Prologgebete und die rhetorische Kultur des Mittelalters (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker NF 82). Berlin/New York 1984, S. 244–277. 241 Vgl. dazu auch Köbele: Die Illustion der ›einfachen Form‹, S. 400 f.

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handlung thematisiert wird: Reiner name, nu ˆ wizzest daz: / kundich dir wol gesprechen baz / oder wære ez hie diu zıˆt, / daz ez die liute sunder nıˆt / an disem mære liezen, / mich wolte niht verdriezen, / ich wolte gerne dıˆnen prıˆs / (wær ich so ˆ künsterıˆch, so ˆ wıˆs) / sprechen, hœhen, me ˆren, / ze hœherm lobe ke ˆren: / daz hœret an diz mære niht, / als des mæres urhap giht, / durch daz muoz ich ez hie la ˆn (297,21 ff.). Ein zweites Mal kommentiert der Erzähler seine Geschichte, als Josaphat beim Angebot eines schönen Mädchens, sich taufen zu lassen, wenn er sich ihr hingebe, zu zweifeln beginnt. Der Erzähler äußert sich scherzhaft dazu: ein solich almuosen wær mıˆn gir, / ob es geruochte ein wıˆp von mir. / ich bin wıˆben also ˆ holt, / daz ich in durch ir minnen solt / sus wolde güetlıˆche / koufen das himelrıˆche (308,17 ff.). Zwar wird das Skandalon dieser Aussagen dadurch abgeschwächt, dass der Erzähler sie als schimphrede (308,29) bezeichnet, die nicht als Infragestellung der Geschichte gemeint sei. Dennoch zeigt sich hier, dass zwischen dem höfischen Selbstverständnis, das der Erzähler vertritt, und dem idealen Lebensentwurf des Protagonisten Brüche bestehen. Während Konrad von Fußesbrunnen in der ›Kindheit Jesu‹ die Möglichkeit genutzt hat, den guten Schächer zum höfischen Ritter zu stilisieren, versagen sich die positiven Figuren von ›Barlaam und Josaphat‹ einer solchen Inanspruchnahme. Nur die negativ besetzten Figuren werden mit höfischen Attributen ausgestattet, wodurch auch die höfische Lebensweise in ein negatives Licht gerückt wird. Der Heide Avenier wird zwar als idealer höfischer Herrscher beschrieben, er verfolgt aber die Christen, wodurch er sich disqualifiziert (5–8; 217). Ein heidnisches Opferfest trägt die Züge eines höfischen Festes mit stolze[n] junge[n] vrouwen und werde[n] ritter[n] ho ˆhgemuot (287,8 f.). Der weltlichen Ritterschaft seines Vaters stellt Josaphat die militia Christi entgegen: Du ˆ ha ˆst des einen wol gephlegen. / du ˆ bist der welte gar ein degen, / nu ˆ wirt ouch gote ein kemphe wert, / der dıˆn ze einem kemphen gert (220,21 ff.). Während das Konzept der militia Christi bei Ritterheiligen wie Georg eine Integration von höfischer und religiöser Sphäre leisten kann, bietet sich der Anachoret Josaphat nur bedingt als Identifikationsfigur an. Dieses ›Defizit‹ wird jedoch durch andere Aspekte des Textes aufgefangen, v.a. durch die didaktischen Einschübe. So wird beispielsweise bei der Belehrung des jungen Josaphat durch Barlaam ein ganzes Spektrum christlichen Grundwissens von der Heilsgeschichte bis zum Glaubensbekenntnis aufgefächert. Für ein theologisch nicht gebildetes Publikum ebenfalls interessant dürften die vielen eingestreuten Parabeln gewesen sein, die Josaphat den christlichen Glauben erklären sollen. Die breite Überlieferung des ›Barlaam‹ (49 erhaltene Textzeugen) kann als Indiz für die Resonanz des Textes gelten. Dies mag zunächst erstaunen, wird doch im ›Barlaam‹ ein Lebensentwurf präsentiert, der die völlige Abkehr von der Welt und den Verzicht auf jegliche politische Einflussnahme sowie gesellig-kul-

188 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 turelles Vergnügen propagiert. Dieser Entwurf stellte wohl für viele Rezipienten eine in der Realität nicht zu verwirklichende Option dar. Der Text wurde also wahrscheinlich nicht (oder zumindest: nicht nur) als konkrete Lebensanweisung verstanden, sondern führte dem Rezipienten eine grundsätzliche Problematik (die prinzipielle Unvereinbarkeit von weltlicher und religiöser Sphäre) und die konsequente Reaktion darauf (die radikale Abkehr von der Welt) vor Augen. Josaphat vollzieht diese Abkehr und wird dadurch zu einer Idealfigur, aber nicht zwingend zu einer Identifikationsfigur, die einen konkreten Nachvollzug verlangt. Ähnlich wie traditionelle Heiligenfiguren und Märtyrer kann er als Gegenstand der Bewunderung dienen, dem jeder Rezipient nur partiell nacheifert – das entscheidende Ziel des Textes ist erreicht, wenn der Rezipient ein Bewusstsein für die richtigen Maßstäbe entwickelt hat. Indem die Frage nach der Vereinbarkeit von Gott und Welt aus dem Inneren der Figuren auf eine äußere, nicht beeinflussbare Ebene verlagert wird, können die beiden Bereiche auch nicht aus menschlichen Kräften harmonisiert werden. Dies hat wiederum zur Konsequenz, dass der Mensch, sofern er sich der Problematik bewusst ist, auch mit unvollkommenen, aber seinen Kräften angemessenen Bemühungen die Gnade Gottes erlangen kann. Neben der radikalen Weltabkehr gibt es daher viele Zwischenstufen einer moderateren (Laien-)Frömmigkeit, die im Spätmittelalter auch Gegenstand theoretischer Abhandlungen wurde. In dieser Perspektive ist ›Barlaam und Josaphat‹ eine Erzählung, in der sowohl ein idealer, weltverneinender Lebensentwurf als auch christliches Grundwissen und Handlungsanweisungen geboten werden, die einem Laien bei seinem Leben in der Welt behilflich sein konnten. Vielleicht stieß gerade diese Summe verschiedener Aspekte auf so großes Interesse. 4.4.3 Hermann von Veldenz: ›Jolande von Vianden‹ In Hermanns von Veldenz ›Jolande von Vianden‹ (um 1280/90)242 wird nicht die Bekehrungsgeschichte und Weltflucht eines indischen Königssohns, sondern

242 Vgl. Wolfgang Jungandreas: Bruder Hermann. In: 2VL 3 (1981), Sp. 1049–1051 und 2VL 11 (2004), Sp. 647 f. Ausgaben: Bruder Hermann: Leben der Gräfin Iolande von Vianden. Hrsg. von John Meier (Germanistische Abhandlungen 7). Breslau 1889 (zit.); Bruder Hermann von Veldenz: Leben der Gräfin Yolanda von Vianden. Textgetreue Edition des Codex Mariendalensis (Bibliothe`que Nationale, Luxembourg, Ms. 860). Hrsg. von Claudine Moulin (Beiträge zur luxemburgischen Sprach- und Volkskunde XXXVI; Sonderforschungsreihe Language and Culture in Medieval Luxembourg 5). Luxembourg 2009. Vgl. auch Angela Mielke-Vandenhouten: Grafentochter – Gottesbraut. Konflikte zwischen Familie und Frömmigkeit in Bruder Hermanns ›Leben der Gräfin Yolande von Vianden‹ (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 21). München 1998; Guy Berg: Der Codex Mariendalensis. Zur Wiederauffindung, Erschließung und Edition einer hochmittelalterlichen Handschrift aus dem Raume Luxemburg. Bulletin Lin-

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einer zeitgenössischen historischen Person erzählt:243 Die Protagonistin Jolande (ca. 1231–1283), Tochter des Grafen Heinrich von Vianden, entscheidet sich gegen die von den Eltern vorgesehene Heirat mit Walram von Monschau und für ein Leben im neuen, unstandesgemäßen Dominikanerorden. Später wird sie Priorin des Dominikanerinnenklosters Marienthal. In der literarischen Gestaltung dieser Geschehnisse durch Hermann nimmt die Auseinandersetzung zwischen Jolande und ihren weltlich gesinnten Eltern einen zentralen Platz ein. Die prachtvolle höfische Welt, der Jolande durch ihre Herkunft angehört, fungiert fast ausschließlich als Negativfolie, vor der Jolande ihren Wunsch nach einem gottgefälligen Leben in Armut behaupten muss. Dennoch bedient sich der Erzähler ästhetischer und motivischer Versatzstücke aus der höfischen Literaturtradition. So erinnert etwa das Wortspiel mit dem Begriff süeze im Prolog (V. 1–6) an die Stilistik Gottfrieds von Straßburg und Konrads von Würzburg. Der wıˆp-vrouwe-Exkurs erinnert an Walther von der Vogelweide (V. 5924 ff.). Jolande wird mit dem aus der Minnelyrik bekannten Bild des Morgenrots beschrieben (V. 151 ff.). Gott wird als Kämpfer Jolandes bezeichnet (V. 3111 ff.), und Jolandes Bemühungen um die Erlaubnis, ins Kloster zu gehen, werden wie ein Turnierkampf inszeniert (V. 2057 ff., 4249 ff.). Die höfischen Versatzstücke werden jedoch teilweise durch den Kontext geistlich überformt. So spielt etwa die Szene, in der ein Wächter Jolande mit seinem Weckruf zum Beten der Tagzeiten auffordert, mit einer Reminiszenz an die Konstellation des Tagelieds (V. 5227–5276). Jolande und ihr geistlicher Vater, der Trierer Dominikaner Walther von Meisenburg, bedienen sich des Schachspiels als Mittel zur unbelauschten Kommunikation (V. 1429 ff.) – wie Tinas und Isolde in Heinrichs von Freiberg ›Tristan‹-Fortsetzung,244 als die Anwesenheit Tristans im Land unbemerkt mitgeteilt werden soll. Jolande und Walther vereinbaren aber nicht etwa ein verliebtes Stelldichein, sondern besprechen Jolandes Klostereintritt. Die Aufnahme und Transgression solcher Versatzstücke verdeutlichen die Überlegenheit der monastischen Lebensform.

guistique et Ethnologie 30 (2000), S. 7–26; Man mohte schrıˆven wal ein bu˚ch. Ergebnisse des Yolanda-Kolloquiums in Luxemburg, Vianden und Ansemburg (Beiträge zur luxemburgischen Sprach- und Volkskunde XXXI). Luxemburg 2001. 243 Ein weiteres Beispiel eines geistlichen Erzählwerks, in dem die vorbildliche Biographie historischer Personen geschildert wird, ist Ebernands von Erfurt ›Heinrich und Kunigunde‹. Allerdings liegen in diesem Fall zwischen der Lebenszeit der Protagonisten und der Entstehungszeit des Legendenepos (um 1220) zwei Jahrhunderte, während Jolande von Vianden und Hermann von Veldenz Zeitgenossen waren. 244 Heinrich von Freiberg: Tristan. Hrsg. von Reinhold Bechstein (Deutsche Dichtungen des Mittelalters 5). Leipzig 1877, V. 4121 ff.

190 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 Der Text thematisiert nicht nur die grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen höfischer und klösterlicher Welt, sondern propagiert auch speziell den Dominikanerorden, der als bester Weg zum Seelenheil dargestellt wird.245 Der Bezug zur historischen Realität der Rezipienten ist dadurch konkreter als im ›Barlaam‹. Der Verfasser, Hermann von Veldenz, war selbst Dominikaner und hat Jolande möglicherweise noch persönlich gekannt. Dennoch kann auch das Beispiel Jolandes als Verwirklichung eines Lebensideals verstanden werden, das man als (höfischer) Rezipient bewundert, aber nur partiell selbst nachvollzieht. 4.4.4 Konrad von Würzburg: ›Der Welt Lohn‹ Konrad von Würzburg hat sich der geistlichen Erzähldichtung mit seinen Legenden246 und der Erzählung ›Der Welt Lohn‹ gewidmet. Im Prolog des ›Silvester‹ reflektiert Konrad über die Eigenarten und Vorzüge geistlichen Erzählens: Die götliche[n] mæren (V. 3) bringen doppelten Nutzen, sie erfreuen und belehren. Dies fasst Konrad im Bild des Baumes, der sowohl Blüten als auch Früchte hervorbringt: ein boum der bringet unde birt / ein obez und die schœnen bluot: / als in der selben wıˆse tuot / ein götlichez mære; / nütz unde vröudebære / kan ez mit ein ander wesen (V. 8 ff.). Diese Konzeption geistlichen Erzählens kann, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, auch für die Erzählung ›Der Welt Lohn‹ gelten.247 Dort steht zwar kein vorbildlicher Heiliger im Zentrum, sondern ein der Welt verfallener Mensch – aber dessen Bekehrungsgeschichte wird in einer literarisch anspruchsvollen Weise (bluot) geschildert und soll die Rezipienten zur Besserung veranlassen (obez). Der Text spielt mit dem Gegensatz von höfischer Idealität und tatsächlichem Lohn der Welt, der sich in der allegorischen Figur der Frau Welt zeigt:248 Sie erscheint von vorne als ideale höfische Frau, ist hinten aber von Würmern und Maden zerfressen. In diesem Bild ist die Unvereinbarkeit von Welt- und Gottes-

245 Dies geschieht auch auf Kosten anderer Orden. So wird wiederholt geschildert, wie Angehörige anderer Orden, besonders Zisterzienser/innen und Kapuziner, auf die Bitte von Jolandes Eltern hin versuchen, Jolande von ihrem Entschluss abzubringen, Dominikanerin zu werden (z.B. V. 1496 ff., 3045 ff., 4525 ff.). 246 Ausgabe: Konrad von Würzburg: Die Legenden I–III. Hrsg. von Paul Gereke (ATB 19–21). Halle/Saale 1925–1927. Zu Konrads ›Silvester‹ vgl. u.a. auch Köbele: Die Illusion der ›einfachen Form‹, S. 379–395. 247 Vgl. Kap. II.1.2. 248 Zur Contemptus-mundi-Tradition vgl. Gabriel Silagi u.a.: Art. Contemptus mundi. In: LexMA 3 (1986), Sp. 188–193; Thiel: Das Frau Welt-Motiv; Stammler: Frau Welt; Skowronek: Fortuna; Eckart Conrad Lutz: Spiritualis fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein ›Ring‹ (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen XXXII). Sigmaringen 1990, S. 274–295; Christian Kiening/Florian Eichberger: Contemptus mundi in Vers und Bild am Ende des Mittelalters. ZfdA 123 (1994), S. 409–457, 482.

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dienst auf drastische Weise verdeutlicht, und der Protagonist Wirnt zieht die radikale Konsequenz aus dieser Erkenntnis, indem er der Welt ganz entsagt und fortan auf dem Kreuzzug als Ritter Gottes kämpft. Doch wie in Rudolfs von Ems Minneexkursen höfische Konzepte doch wieder in die Erzählung hineingenommen werden, finden sich auch in Konrads Erzählung Hinweise darauf, dass die Botschaft nicht so schematisch gemeint ist und nachvollzogen werden soll, wie es im Epilog nahegelegt wird (V. 259 ff.).249 Verschiedene Formulierungen deuten darauf hin, dass nicht das höfische Leben Wirnts an sich, sondern seine ausschließliche Konzentration auf dieses höfische Leben sein Fehler ist. So heißt es über seine Tugenden und seinen Weltdienst: swa ˆ mite ein man zer werlte sol / bejagen ho ˆher wirde prıˆs, / daz kunde wol der herre wıˆs / bedenken und betrahten [...] er hæte werltlıˆchiu werc / gewürket alliu sıˆniu ja ˆr (V. 20 ff.; 48 f.). Die Ausschließlichkeit des Weltdienstes ist deshalb ein Vergehen, weil Wirnt damit die göttliche Ordnung verletzt, indem er den Weltdienst über den Gottesdienst stellt. Dies wird in der Lektüreszene zu Beginn der Erzählung deutlich: Sus saz der ho ˆchgelobte / in einer kemena ˆten, / mit fröuden wol bera ˆten, / und hæte ein buoch in sıˆner hant, / dar an er a ˆventiure vant / von der minne geschriben. / dar obe hæte er do ˆ vertriben / den tag unz ˆ uf die vesperzıˆt; / sıˆn fröude was vil harte wıˆt / von süezer rede die er las (V. 53 ff.). Diese Szene ruft eine Assoziation an das Bild der psalterlesenden Maria bei der Verkündigung hervor. Doch statt des Psalters liest Wirnt einen Liebesroman, und statt des Verkündigungsengels erscheint die Frau Welt. Die Zeitangabe vesperzıˆt rückt Wirnts Lektüre zusätzlich in ein schlechtes Licht. Die Nennung der Hora canonica verweist auf die ›rechte‹ Lektüre zu diesem Zeitpunkt, das Stundengebet, an dessen Stelle Wirnt weltliche Liebesdichtung liest. Auf das Auseinanderklaffen von suggeriertem richtigem Verhalten und Wirnts Verhalten insistieren die Verse: sıˆn fröude was vil harte wıˆt / von süezer rede die er las. Wirnts fröude kontrastiert mit dem Gedenken an die Beweinung des toten, vom Kreuz abgenommenen Christus zur Vesperzeit. Diese verzerrte Bewertung von Weltdienst und Gottesdienst, der Wirnt sich schuldig macht, wird durch die Aussage der Frau Welt korrigiert, die bekennt, dass ihre Macht geringer ist als diejenige Gottes: ich fürhte niemen a ˆne got, / der ist gewaltic über mich (V. 210 f.). Die in Konrads Text durch die allegorische Figur deutlich vor Augen geführte prinzipielle Unvereinbarkeit von übermäßigem Weltdienst und gottgefälligem Leben führt dazu, dass Wirnt von Gravenberg nicht mehr in die höfische Welt reintegriert werden kann, sondern den Weg der nach außen

249 Reinhard Bleck meint, ›Der Welt Lohn‹ sei in direktem Zusammenhang mit dem Aufruf zu den Kreuzzügen 1267 bzw. 1275/76 entstanden und sei eine an den oberrheinischen Adel gerichtete »Propagandadichtung«, vgl. Bleck: Der Welt Lohn, S. 135–142. Eine so konkrete historische Einbindung ist kaum zu belegen.

192 | III Entstehung und Etablierung des Texttyps bis ca. 1300 getragenen radikalen Weltflucht gehen und lebenslange Buße leisten muss (V. 254 ff.). Die Verschiedenheit der konzeptionellen Modelle und ihrer jeweiligen ästhetischen Umsetzung in den einzelnen Texten, die in den vorangegangenen Analysen umrissen wurde, vermittelt einen Eindruck von der Komplexität des Phänomens geistlichen Erzählens im späten 12. und 13. Jahrhundert. In diesem Rahmen haben Versuche, religiöse und weltlich-höfische Sphäre harmonisch zu vereinen, ebenso ihren Platz wie Berichte von radikaler Weltabkehr. Diese Vielfalt macht deutlich, dass in verschiedenen literaturproduzierenden und -rezipierenden Gruppen mit je unterschiedlichem Interesse Geistliches in der Volkssprache erzählt wurde. Der Reimpaarvers war dabei eine über den konzeptionellen Unterschieden stehende ästhetische Standardform,250 was als Indiz für die etablierte Stellung des Texttyps der geistlichen Verserzählung im literarischen System dieser Zeit gewertet werden kann. Die unterschiedlichen Integrationsmodelle lassen sich nicht in eine lineare zeitliche Abfolge stellen. Man kann nur Tendenzen beobachten – so ist etwa das Harmonisierungsmodell im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert besonders verbreitet; das Modell, der Unvereinbarkeit von religiöser und weltlicher Sphäre durch Idealfiguren zu begegnen, tritt vor allem vor der Mitte des 13. Jahrhunderts auf; gegen Ende des Jahrhunderts herrschen die Modelle vor, in denen der Bruch zwischen Gott und Welt durch göttliche Gnade oder Weltabkehr überbrückt wird. Es ist jedoch immer mit einer Koexistenz verschiedener Modelle bzw. fließenden Übergängen zwischen verschiedenen Phasen zu rechnen, in denen bestimmte Modelle präferiert wurden. Die konzeptionellen Hintergründe der Modelle sind kein ausschließlich literarisches Phänomen, sondern stehen in komplexeren, von kulturellen und historischen Diskursen und Gegebenheiten beeinflussten Zusammenhängen. Der konkrete Einfluss dieses weiter gefassten kulturellen Referenzrahmens ist im Einzelfall allerdings schwer zu fassen.251

250 Zu frühen Prosaerzählungen s. Kap. IX.1.1. 251 Dies zeigt sich etwa an den letztlich unbefriedigenden Versuchen, mhd. Texte rein sozialgeschichtlich zu erklären, vgl. etwa die Analyse der ›Guten Frau‹ bei Aker: Die gute Frau, S. 66–97.

IV Konsolidierung des Texttyps in der Überlieferung und diachroner Wandel im 14./15. Jahrhundert Bei der Untersuchung des Texttyps in synchroner und diachroner Perspektive stand die Frage im Zentrum, welche ästhetischen und konzeptionellen Integrationsmodelle auf textueller Ebene angewandt werden, um religiöse Inhalte in der Volkssprache zu erzählen. Um der Komplexität des literarischen Phänomens gerecht zu werden, muss diese Sichtweise um eine rezeptionsorientierte Perspektive ergänzt werden, denn die Texte stehen in handschriftlichen Kontexten, die in den meisten Fällen bereits ein Rezeptionszeugnis darstellen und durch ihre inhaltliche Zusammenstellung Aufschluss über mögliche Rezeptionssituationen der Texte geben können. Außerdem vermitteln die Überlieferungszeugen einen Eindruck davon, welche Texte zu welchem Zeitpunkt im literarischen System verfügbar waren und welche Rezeptionsentwürfe ihnen zugeschrieben wurden. So lässt sich nicht nur die Überlieferungsgeschichte einzelner Texte, sondern auch die literaturhistorische Bedeutung des Texttyps genauer konturieren. Es ist daher zu untersuchen, welche Rolle die Eigenschaften geistliche Thematik, narrative Struktur und Versform für die Aufnahme in die jeweiligen Überlieferungskontexte spielten und wie in diesen Kontexten mit diesen Eigenschaften umgegangen wurde (Hervorhebung bzw. Marginalisierung von Eigenschaften durch Textvarianz, Überschriften, Layout etc.).1 Die sich im Lauf der Jahrhunderte verändernden Überlieferungskontexte (und die damit verbundenen, unterschiedlich akzentuierenden Rezeptionsentwürfe) reflektieren das Interesse, das geistlichen Verserzählungen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kontexten entgegengebracht wurde und tragen dazu bei, auch den diachronen Wandel des Texttyps selbst besser zu verstehen. Betrachtet man die Zeit der Etablierung und intensiven Produktivität des Texttyps (spätes 12./13. Jahrhundert) aus rezeptionsorientierter Perspektive, so stellt man fest, dass aus dieser Zeit nur sehr wenige Überlieferungszeugnisse erhalten sind. Eine in der Überlieferung greifbare Konsolidierung des Texttyps fand erst mit einiger zeitlicher Verzögerung im späteren 13. und frühen 14. Jahr-

1 Zur Bedeutung der handschriftlichen Kontexte für die Interpretation kleinepischer Texte s. etwa Sarah Westphal: Textual Poetics of German Manuscripts 1300–1500 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture). Columbia 1993, S. 218–223; mit spezifischem Bezug auf eine geistliche Erzählung auch Diana Müller: Textgemeinschaften. Der ›Gregorius‹ Hartmanns von Aue in mittelalterlichen Sammelhandschriften. Diss. Frankfurt a.M. 2013. Online-Publikation: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/30069 (30.1.2014).

194 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel hundert statt,2 als die Texte in umfangreichen Kleinepiksammlungen zusammengestellt wurden.3 Für viele geistliche Verserzählungen sind diese Kleinepiksammlungen die frühesten (und oft auch einzigen) erhaltenen Textzeugen, in den meisten Fällen handelt es sich dabei aber nicht um die erste schriftliche Fixierung der Texte. Die Textvarianz mehrfach überlieferter Texte zeigt, dass die Redaktoren der Kleinepiksammlungen auf ältere Vorlagen zurückgegriffen haben, die bereits unterschiedliche Lesarten enthielten.4 Es muss also eine frühe Überlieferung kleinepischer Texte gegeben haben, die nicht mehr greifbar ist. In der Forschung wurden verschiedene Vermutungen darüber angestellt, wie diese frühe Überlieferung aussah. Arend Mihm hat angenommen, dass die Einzelüberlieferung kleinepischer Texte am Anfang stand.5 Dies ist denkbar; es erscheint aber auch naheliegend, dass schon bald nach der Entstehung der Texte auch kleinere Sammlungen zusammengestellt wurden.

2 Bei den nur ungenau zu datierenden Texten ist der zeitliche Umfang dieser Verzögerung schwer abzuschätzen. Die Annahme einer zeitlichen Differenz zwischen Entstehung und Erstüberlieferung wird jedoch durch Texte von Autoren, deren Schaffenszeit bekannt ist oder erschlossen werden kann, bestätigt. 3 Ähnliche Sammlungstendenzen lassen sich auch in der Lyriküberlieferung des späten 13./ frühen 14. Jahrhunderts beobachten. In diesem Zeitraum sind die Heidelberger Liederhandschrift A (Heidelberg, UB, Cpg 357, um 1270/80), die Weingartner Liederhandschrift (Stuttgart, Landesbibl., Cod. HB XIII 1, 1. Viertel 14. Jahrhundert) und der Codex Manesse (Heidelberg, UB, Cpg 848, 1. Viertel 14. Jahrhundert) entstanden. 4 Vgl. Ziegeler: Beobachtungen, S. 491–496. 5 Mihm: Überlieferung, bes. S. 13–23, geht etwa davon aus, dass bereits im 13./14. Jahrhundert eine marktorientierte Einzelheftüberlieferung stattfand. Diese Annahme ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Einmal wird man nicht davon ausgehen können, dass im 13./14. Jahrhundert schon ein Buchhandel in der Form existierte, wie dies für das 15. Jahrhundert belegt ist; und Mihms Belege stammen sämtlich aus dem 15. Jahrhundert oder sind Fragmente, deren Status sich nicht abschließend klären lässt. Das Grundkonzept, dass die Einzelüberlieferung am Anfang der Tradierungskette kleinepischer Texte gestanden haben könnte, muss deshalb jedoch nicht ganz verworfen werden. Es wurde auch für andere Bereiche der mittelalterlichen Literatur erwogen; so hat etwa der Romanist Gustav Gröber ein ähnliches Schema für die Tradierung von provenzalischer Lyrik skizziert, vgl. Gustav Gröber: Die Liedersammlungen der Troubadours. Romanische Studien 2/IX (1877), S. 337–670, hier bes. S. 337–357 und 656 f. An den Anfang der Tradierungskette stellte er sog. »Liederblätter« (S. 337), also Einzelblätter, die jeweils nur ein Lied enthielten, und die sich im Besitz der Autoren befanden oder an die Adressaten überbracht wurden. Als zweite Stufe setzte Gröber sog. »Gelegenheitssammlungen« (S. 355) an, d.h. Abschriften der Einzelblätter, die von Gönnern der Troubadours, Kunstliebhabern oder Jonglars (Berufs-Rezitatoren) zusammengetragen wurden, und zwar in der (zufälligen) Reihenfolge, wie die Vorlagen ihnen in die Hände kamen. So entstanden Sammlungen, die weder nach Verfassern noch nach thematischen Gesichtspunkten geordnet waren. In einem weiteren Schritt seien diese Gelegenheitssammlungen dann nach verschiedenen Gesichtspunkten geordnet wieder abgeschrieben worden.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp

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Dabei könnte die Anordnung nach thematischen Schwerpunkten eine bedeutende Rolle gespielt haben. Vermutlich waren diese Vorstufen der erhaltenen Kleinepiksammlungen noch stärker vom Gebrauch einzelner Personengruppen (berufsmäßige Autoren, Rezitatoren, Literaturliebhaber) geprägt. Dies könnte auch der Grund sein, warum diese wohl nicht sehr aufwändig gestalteten Handschriften höchstens fragmentarisch erhalten sind. Letztlich lassen sich über die frühe Überlieferung kleinepischer Texte ebenso wie über ihre Entstehungsumstände meist nur Hypothesen aufstellen.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp für die Überlieferung geistlicher Verserzählungen 1.1 Zum Stellenwert geistlicher Verserzählungen in den erhaltenen Kleinepiksammlungen Vom späteren 13. bis ins 15. Jahrhundert entstanden zahlreiche Sammlungen, die teilweise in komplexen Verwandtschaftsverhältnissen stehen, teilweise unabhängig voneinander entstanden sind.6 Der Stellenwert, den geistliche Verserzählungen in diesen Sammlungen einnehmen, ist sehr unterschiedlich. Beim folgenden Überblick steht deshalb die Frage im Zentrum, wie sich geistliche Verserzählungen ins inhaltliche Profil der jeweiligen Sammlung einfügen. Die vorangestellten Siglen stammen aus der Stricker-Forschung.7 1.1.1 Die Handschrift A: Die älteste erhaltene Kleinepiksammlung A

Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2705

Pergament · noch 176 Bll. · 23,8 × 15,8 · Niederösterreich (?) · 3. Viertel 13. Jahrhundert Inhalt: Reden und Erzählungen des Strickers, Parabeln aus Rudolfs von Ems ›Barlaam‹, Freidank-Exzerpte, anonyme, meist weltliche Kleinepik. Lit.: Schneider: Gotische Schriften I, Textbd. S. 177 f., Tafelbd. Abb. 97–98; Ziegeler: Beobachtungen; Holznagel: Wiener Kleinepikhandschrift; Holznagel: Handschrift, bes. Kap. II.1.1.

Die Handschrift A enthält ein umfangreiches Stricker-Corpus, Freidank-Exzerpte, Rudolfs von Ems ›Barlaam‹-Parabeln sowie eine Reihe anonymer Texte. Unter

6 Einen Überblick und Kurzbeschreibungen dieser Handschriften bietet auch Holznagel: Handschrift, Kap. II.1.3. Zu den Verwandtschaftsverhältnissen vgl. ebd., Kap. II.2.2.1. 7 Vgl. Stricker (Moelleken) I, S. XXI–XXXVIII; Franz-Josef Holznagel: Die Koblenzer StrickerFragmente (Landeshauptarchiv, Best. 701 Nr. 385, Bl. 1 und 2). Mit einer aktualisierten Liste der Stricker-Siglen. ZfdA 140 (2011), S. 141–169, hier S. 168 f.

196 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel den in dieser Handschrift vertretenen Texttypen bilden die Bispel die größte Gruppe (117), gefolgt von den Reden (79), den Erzählungen (33) und den Gebeten (12). Es lassen sich Tendenzen beobachten, geistliche bzw. weltliche Texte zusammenzustellen: Der erste Teil (A 1–165) ist eher geistlich, der zweite (A 166–271) eher weltlich geprägt.8 Während die geistlichen Bispel und Reden in A zahlreich sind, finden sich nur wenige geistliche Erzählungen. Die Stricker-Texte ›Der Sünder und der Einsiedler‹ (A 104), der ›Ernsthafte König‹ (A 108) und ›Der Richter und der Teufel‹ gehören dazu. Eine geistliche Dimension hat auch die Erzählung ›Von zwei Blinden‹ (A 169); in einem Übergangsbereich zwischen geistlich und weltlich stehen die Strickerschen Schwankerzählungen ›Die drei Wünsche‹ (A 35) und ›Die Martinsnacht‹ (A 63).9 Die weltlichen Erzählungen sind zahlreicher. Neben einem größeren Interesse der Redaktoren an nicht-narrativen Formen könnte ein Grund für das Fehlen geistlicher Erzählungen auch darin zu suchen sein, dass möglicherweise zur Entstehungszeit der Handschrift einige der Erzählungen, die man ins 13. Jahrhundert datiert, noch gar nicht entstanden oder für die Redaktoren nicht greifbar waren. 1.1.2 Die Handschriften HKk: Repräsentative Kompendien H

Heidelberg, UB, Cpg 341

Pergament · 374 Bll. · 30,6 × 22,2 · Raum Nordwestböhmen/Oberfranken/südliches Vogtland · 1. Viertel 14. Jahrhundert Inhalt: Konrad von Würzburg, ›Die Goldene Schmiede‹; Walther von der Vogelweide und Reinmar von Zweter, Leichs; ›150 Mariengrüße‹; Marienmirakel aus dem ›Passional‹; ›Cato‹; ›Magezoge‹; ›Der Seele Kranz‹; Freidank-Exzerpte; weltliche und geistliche Kleinepik, darunter Texte Hartmanns von Aue, Rudolfs von Ems, Konrads von Würzburg und des Strickers. Lit.: Karin Schneider: Gotische Schriften in deutscher Sprache. Teil II: Die oberdeutschen Schriften von 1300 bis 1350. Wiesbaden 2009, S. 41–43; Matthias Miller/Karin Zimmermann: Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg. Cod. Pal. germ. 304–495 (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg VIII). Wiesbaden 2007, S. 129–165; Kleinere mhd. Erzählungen (Rosenhagen); Ziegeler: Mariendichtungen. K

Cologny-Genf, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bodm. 72

Pergament · noch II + 333 Bll. · 34,5 × 25 · Raum Nordwestböhmen/Oberfranken/südliches Vogtland · 1. Viertel 14. Jahrhundert Inhalt: weitgehend identisch mit H Lit.: Schneider: Gotische Schriften II, S. 41–44; Rene´ Wetzel: Deutsche Handschriften des Mittelalters in der Bodmeriana. Mit einem Beitrag von Karin Schneider zum ehemaligen

8 Vgl. Holznagel: Handschrift, Kap. I.2. 9 Vgl. Holznagel: Handschrift, Kap. I.3.2.1.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp

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197

Kalocsa-Codex (Bibliotheca Bodmeriana Kataloge VII). Cologny-Genf 1994, S. 81–129 und Abb. 6–8; Konrad Zwierzˇina: Die Kalocsaer Handschrift. In: Festschrift Max H. Jellinek. Wien/Leipzig 1928, S. 209–232.

Die Schwesterhandschriften H und K werden von einem geistlich geprägten Eingangsteil mit verschiedenen Mariendichtungen eröffnet. Ursprünglich stand zu Beginn die Marienklage ›Unser vrouwen klage‹, die in H mit einer 20-zeiligen Deckfarbeninitiale mit figuralem Schmuck ausgestattet ist (Abb. 3). Darauf folgten das eschatologische Gedicht ›Von dem jüngsten Tag‹ sowie ein Block von Marienmirakeln, der sich aus 23 ›Passional‹-Marienmirakeln und vier weiteren, anonymen Mirakelerzählungen zusammensetzt. Diesem ursprünglichen, wohl lange ungebunden aufbewahrten Eingangsteil wurden später weitere Lagen vorangestellt, die Konrads von Würzburg ›Goldene Schmiede‹, die Leichs Walthers von der Vogelweide und Reinmars von Zweter sowie die ›150 Mariengrüße‹ enthalten.10 Auf die Marienmirakel folgen in H die geistliche Erzählung ›Der Heller der armen Frau‹ sowie ein Block von didaktischen Texten (›Cato‹, ›Magezoge‹, ›Der Seele Kranz‹), danach drei weltliche Reimpaardichtungen (Der Freudenleere: ›Die Wiener Meerfahrt‹, ›Frauenturnier‹, ›Hauskummer‹). Ursprünglich waren danach drei weitere Erzählungen eingetragen, die allerdings radiert und überschrieben wurden: Eine nicht mehr identifizierbare Erzählung, die vom Widerstand eines Mädchens gegen eine unerwünschte Verheiratung berichtet,11 Heinrichs von Freiberg ›Ritterfahrt des Johann von Michelsberg‹ und die erotische Schwankerzählung ›Der Herrgottschnitzer‹. Als Palimpseste wurden auf den radierten Stellen zwei geistliche Texte eingetragen: die Rede ›Warum Gott sein Haupt neigte‹ (Bl. 88va–90va) und die Erzählung ›Mönch Felix‹ (Bl. 90va–92vb). Das Blatt nach Bl. 92 (das letzte der Lage) wurde herausgeschnitten, auf Bl. 93r sind die linke Spalte sowie der Anfang der rechten Spalte, in der das Ende des ›Herrgottschnitzers‹ stand, radiert. Auf Bl. 93rb folgt die weltliche Erzählung ›Frauenlist‹. Während die nicht identifizierte Erzählung und der ›Herrgottschnitzer‹ wohl aufgrund des erotischen bzw. blasphemischen Inhalts unerwünscht waren und durch ›anständige‹ Texte ersetzt werden sollten,12 wurde die ›Ritterfahrt‹ am Ende der Handschrift (Bl. 373r–374v) wieder eingetragen. Die Handschrift K ist im gleichen Skriptorium wie H entstanden. Der Hauptschreiber von K war auch an den Nachträgen von H beteiligt (H, Bl. 351ra–372v). Manche Texte wurden direkt aus H kopiert, andere aus gemeinsamen Vorlagen. Es gibt aber auch Stücke, bei denen in K zusätzliche Quellen verarbeitet wur-

10 Vgl. Ziegeler: Mariendichtungen, S. 57. 11 Vgl. Mihm: Überlieferung, S. 50. 12 Vgl. dazu auch Patrick del Duca: Der Herrgottschnitzer. In: Germania Litteraria Mediaevalis Francigena. Bd. VI, S. 128–134, hier S. 132 f.

198 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel den.13 Der Textbestand ist in H und K weitgehend übereinstimmend, doch die Anordnung der Texte unterscheidet sich besonders im Anfangsteil. So bilden die ›Goldene Schmiede‹, die Leichs und die ›150 Mariengrüße‹, die in H dem Grundstock vorgebunden sind, den eigentlichen Anfang von K; die ehemalige Anfangsstellung von ›Unser vrouwen klage‹ macht sich nur noch in einer außergewöhnlich großen Initiale bemerkbar (Bl. 22vb), der Text steht aber nicht am Anfang einer Lage. Auch die durch die Palimpseste gestörte Ordnung von H wurde in K behoben. Die beiden Palimpsest-Texte, die in dem weltlichen Umfeld von ›Hauskummer‹ und ›Frauenlist‹ wohl unpassend erschienen, wurden vorgezogen und kamen hinter ›Der Seele Kranz‹ zu stehen. Die Redaktoren von K nahmen noch eine weitere Änderung vor: Auf das eschatologische Gedicht ›Von dem jüngsten Tag‹ ließen sie nicht die Marienmirakel, sondern den didaktischen Block (›Cato‹, ›Magezoge‹, ›Der Seele Kranz‹, erweitert um ›Warum Gott sein Haupt neigte‹ und ›Mönch Felix‹), folgen, erst dann beginnen die ›Passional‹-Mirakel. Während die Gründe für das Vorrücken der Palimpsest-Stücke leicht erkennbar sind (unpassende Umgebung), ist die Ursache dieser zweiten Umstellung schwerer nachzuvollziehen, da durch den Einschub der didaktischen Texte der marianische Block (Marienlyrik – Marienmirakel) unterbrochen wird. Dennoch könnten inhaltliche Erwägungen hinter der Umstellung stehen: ›Von dem jüngsten Tag‹ ist zwar vor allem ein heilsgeschichtlicher Text, hat aber – gerade in der Christus-Rede – auch eine didaktische Komponente. Deshalb lassen sich die didaktischen Werke hier gut anschließen. Die heilsgeschichtlich-allegorische Rede ›Warum Gott sein Haupt neigte‹ passt ebenfalls zu den didaktischen Texten. Mit ›Mönch Felix‹ beginnt dann ein narrativ geprägter Teil, der zunächst geistliche Erzählungen (›Mönch Felix‹ bis ›Heller der armen Frau‹), dann weltliche (ab der ›Wiener Meerfahrt‹) enthält. Diese Umstellungen führen auch zu einer veränderten Wahrnehmung der geistlichen Erzählungen innerhalb der Sammlungen. In H erscheinen die ›Passional‹-Mirakel und die Zusatz-Marienmirakel (H 7–33) als ein geschlossener thematischer Block, der durch Eingangs- und Schlussverse gekennzeichnet ist: Hie hebent sich an groz wunder / von vnser vrowen besvnder (H Bl. 34ra) und Hie endent sich vnser vrowen wunder (H Bl. 70vb). Zwischen den Mirakeln aus dem ›Passional‹ und den zusätzlichen Mirakeln wird kein Unterschied gemacht; die anschließende geistliche Erzählung ›Der Heller der armen Frau‹ wird von diesem Block jedoch deutlich abgesetzt, da es sich bei dieser Erzählung nicht um ein Marienmirakel handelt. Nach Hie endent sich vnser vrowen wunder steht deshalb in H: So zeiget got ein anders dar vnder / Wie eines kvnges mvnster volquam / von einer armen spinnerin helbelinc san / Mit dem si alle ir not vber quam. In K dage-

13 Vgl. Schneider: Gotische Schriften II, Textbd., S. 42.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp

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199

gen wird der Block mit geistlichen Erzählungen, der nicht mehr auf den Marienteil folgt, von ›Mönch Felix‹ eröffnet und endet mit dem ›Heller der armen Frau‹, beides keine Marienmirakel. Dies schlägt sich auch in den Überschriften nieder. Nach der (mit H identischen) Überschrift zu ›Mönch Felix‹ (Ditz ist munich Felix genant / der tut uns ditz mere bekannt, K Bl. 45vb) folgt zwar zum ersten ›Passional‹-Mirakel die Überschrift aus H, doch der ›Heller der armen Frau‹ wird nicht mehr von den anderen Erzählungen abgesetzt, sondern schließt an die Schlussverse des letzten Marienmirakels mit folgender Überschrift an: Ditz ist ein mere, wie ein arme spinnerin mit einem helbelinge ein munster eines kuniges volbracht (K Bl. 85rb). In den folgenden Teilen der Handschriften HK lassen sich nicht mehr so klare Ordnungsprinzipien erkennen wie am Anfang. Geistliche und weltliche Texte stehen in teilweise bunter Mischung nebeneinander. Insgesamt lässt sich das Sammelinteresse aber so umreißen, dass die Redaktoren alle kleinepischen Texttypen aufnahmen, Narratives und Diskursives, Geistliches und Weltliches, Älteres und Neueres – so enstand eine Art Kleinepik-Summe. Durch ihr Format und ihre Ausstattung haben die Handschriften Repräsentationscharakter und konnten auch zur gemeinsamen Lektüre bzw. zum Vortrag in geselligem Rahmen dienen. k

Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2677

Pergament · I + 119 Bll. · 29,5–30 × 21–21,5 · Niederösterreich (Wiener Raum?) · 2. Viertel 14. Jahrhundert Inhalt: Bl. 1ra–26va 23 ›Passional‹-Marienmirakel Bl. 26va–27vb ›Unser Frauen Ritter‹ Bl. 27vb–30ra ›Thomas von Kandelberg‹ Bl. 30ra–32ra ›Marien Rosenkranz‹ Bl. 32ra–36ra Siegfried der Dörfer: ›Frauentrost‹ Bl. 36ra–38ra ›Der Seele Kranz‹ Bl. 38ra–42va ›Von dem jüngsten Tag‹ Bl. 42va–54ra Konrad von Würzburg: ›Goldene Schmiede‹ Bl. 54ra–55ra Walther von der Vogelweide: Leich Bl. 55ra–56va Reinmar von Zweter: Leich Bl. 56va–62rb ›150 Mariengrüße‹ Bl. 62rb–69rb ›Unser vrouwen klage‹ Bl. 69rb–70vb Konrad von Würzburg: ›Der Welt Lohn‹ Bl. 70vb–91va ›Der Sünden Widerstreit‹ Bl. 91va–94va Berthold von Regensburg: ›Von den Zeichen der Messe‹ Bl. 94va–96rb ›Warum Gott sein Haupt neigte‹ Bl. 96rb–98vb ›Adams Klage‹ Bl. 98vb–100va Stricker: ›Die fünf teuflischen Geister‹ Bl. 100va–103va ›Streit der vier Töchter Gottes‹ Bl. 103va–119rb ›Buch der Märtyrer‹ (Mariae Himmelfahrt, Verena, Katharina, Lucia, Margarethe, Brigitta)

200 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Lit.: Schneider: Gotische Schriften II, S. 101 f.; Hermann Menhardt: Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek. 3 Bde. (Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13). Berlin 1960–1961, hier Bd. I, S. 89–102; Mitteleuropäische Schulen I (ca. 1250–1350). Bearbeitet von Andreas Fingernagel/Martin Roland (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse, Denkschriften 245; Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters I,10). Wien 1997, S. 185 f. (Nr. 81); Martin Roland: Die Handschriften aus der Böhmisch-Österreichischen Hofkanzlei in der Österreichischen Nationalbibliothek. Codices Manuscripti 31 (2000), S. 5–40, hier S. 12; Passional. Hrsg. von Annegret Haase/Martin Schubert/Jürgen Wolf. Buch I: Marienleben; Buch II: Apostellegenden. 2 Bde. (DTM 91,1.2). Berlin 2013, Bd. I, S. LXIV.

Die Handschrift k ist mit HK verwandt und steht besonders K sehr nahe, die ihr wohl – zumindest teilweise – als Vorlage diente.14 Auch die Einrichtung von k ähnelt derjenigen von HK. Allerdings lässt sich in k eine deutliche thematische Umakzentuierung erkennen. Nur geistliche Texte wurden aus der Sammlung von HK ausgewählt und ein paar nicht in HK enthaltene Texte wurden hinzugefügt: das in der Psychomachie-Tradition stehende allegorische Gedicht ›Der Sünden Widerstreit‹, die Berthold von Regensburg zugeschriebene Messauslegung ›Von den Zeichen der Messe‹ (Prosa) und sechs Legenden aus dem ›Buch der Märtyrer‹. In k wird der am Anfang stehende Mariendichtungs-Teil von den ›Passional‹Marienmirakeln und den anonymen Zusatz-Marienmirakeln eröffnet, der ›Heller der armen Frau‹ fehlt. Ob es sich dabei um eine bewusste Entscheidung gegen den thematisch nicht ganz passenden ›Heller‹ (kein Marienmirakel) handelt, oder ob das Fehlen des Textes durch die Vorlage(n) bedingt ist (Schlussstellung des ›Hellers‹ innerhalb des Blocks geistlicher Erzählungen in K; andere Vorlagen?), muss offenbleiben. Jedenfalls wird der Beginn der Handschrift durch die erste Überschrift als marianischer Teil charakterisiert: Hiet heft sich an der iuncvrowen chran in rechter diemute (Bl. 1r). Auf die Marienmirakel folgt ein didaktischer Block mit ›Der Seele Kranz‹ und ›Von dem jüngsten Tag‹. Die beiden nicht explizit geistlichen Werke ›Cato‹ und ›Magezoge‹, die in HK innerhalb des didaktischen Blocks stehen, wurden in k nicht aufgenommen. Auf ›Der Seele Kranz‹ und ›Von dem jüngsten Tag‹ folgt der Block ›Goldene Schmiede‹, Leichs und ›150 Mariengrüße‹, daran schließt sich ›Unser vrouwen klage‹ an. Fünf weitere geistliche Texte teilt k mit HK. Am Ende der Sammlung stehen Legenden weiblicher

14 Das genaue Verwandtschaftsverhältnis ist in der Forschung umstritten: Zwierzˇina: Kalocsaer Handschrift, S. 218 f., Ziegeler: Mariendichtungen, S. 69 und Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.2.1.1. halten sie für eine direkte Abschrift von K; Hans-Georg Richert: Kalocsa Cod. 1. PBB 88 (Tübingen) 1967, S. 347–354 und Schneider: Gotische Schriften II, S. 101, für nicht direkt abhängig. Allerdings konnte Holznagel zeigen, dass Richerts Einschätzung auf fragwürdigen textkritischen Prämissen beruht. Daher erscheint es naheliegend, k zumindest in weiten Teilen für eine direkte Abschrift von K zu halten.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp

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Heiliger aus dem ›Buch der Märtyrer‹. Die erste, ›Mariae Himmelfahrt‹, steht in thematischem Zusammenhang mit dem vorangehenden ›Streit der Töchter Gottes‹: Dieser endet mit der Himmelfahrt Christi, darauf folgt das marianische Pendant. Bemerkenswert an der Zusammenstellung von k ist neben der dezidierten Fokussierung auf geistliche Texte auch die Tatsache, dass ein Prosatext (›Von den Zeichen der Messe‹) in eine Kleinepiksammlung aufgenommen wurde. 1.1.3 Die Handschriften MV: Kleinepiksammlungen als Andachtsbücher? M

Melk, Stiftsbibl., Cod. 1547

Pergament · 296 S. · 17,5 × 11,5 · Böhmen · 2. Viertel 14. Jahrhundert Inhalt: p. 1–198, 205–212 Sammlung vorwiegend geistlicher Stricker-Texte (darunter die Erzählungen ›Der ernsthafte König‹ und ›Der Sünder und der Einsiedler‹) p. 198–205 ›Die Jagd des Lebens‹, ›Der verbannte König‹ (Barlaam-Parabeln) p. 212–222 ›Bonus‹ p. 222–235 ›Der König im Bad‹ p. 235–266 ›Passional‹-Marienmirakel 24 ›Marias Fürbitte für einen Ritter‹ und 10 ›Der ertrunkene Glöckner‹ p. 267–271 ›Der Heller der armen Frau‹ p. 271–293 ›Cato‹ p. 293–295 ›Mariengruß‹ (›Salve Regina‹) Lit.: Schneider: Gotische Schriften II, S. 116 f.; Christine Glaßner (unter Mitarbeit von Alois Haidinger): Inventar der Handschriften des Benediktinerstiftes Melk. Teil 1: Von den Anfängen bis ca. 1400 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Denkschriften 285; Veröffentlichungen der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters II,8). Wien 2000, S. 422–425; Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.2.1.7.; Passional (Haase/Schubert/Wolf), Bd. I, S. LXVI f.

Die Handschrift M enthält hauptsächlich Stricker-Texte. Aus diesem Corpus wurden vorwiegend geistliche Stücke ausgewählt. Die Fokussierung auf geistliche Texte spiegelt sich auch in den nicht zum Stricker-Corpus gehörenden Texten der Handschrift M wider: Zwei Barlaam-Parabeln wurden in die Stricker-Sammlung integriert, und am Ende wurden fünf geistliche Erzählungen, der ›Cato‹ und ein ›Salve Regina‹ angehängt. Außer dem Marienmirakel ›Bonus‹ sind die geistlichen Erzählungen von M auch in HK zu finden. Allerdings weicht die Textgestalt in M, z.B. beim ›König im Bad‹, relativ stark von HK ab. Es scheint also keine direkte Verwandtschaft zwischen M und HK zu bestehen. Vom Layout her lassen sich sowohl Übereinstimmungen als auch Abweichungen feststellen: Wie in HK ist auch in M jeweils der Anfangsbuchstabe eines Verspaars ausgerückt;15 im

15 Zu dieser Gepflogenheit, die auf den deutschen Südosten weist, vgl. Schneider: Gotische Schriften II, S. 10.

202 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Gegensatz zu HK ist M aber kleinformatig und einspaltig beschrieben. M scheint keinen großen Repräsentationswert gehabt zu haben, sondern war vielleicht eher für die andächtige Einzellektüre gedacht. V

Rom, Biblioteca Vaticana, Cod. Reg. Lat. 1423

Pergament · 128 Bll. · ca. 17 × 11 · bair.-österr. Sprachgebiet · 1347 Inhalt: Bl. 1r lat. Gebet zu den hl. drei Königen (Nachtrag) Bl. 1r/v lat. Gebet zu Ottilie (Nachtrag) Bl. 1v–2r Klage der Maria Magdalena an Christi Grab (Nachtrag) Bl. 3r–110r Sammlung geistlicher Stricker-Texte (wie M) Bl. 104v–108r Barlaam-Parabeln ›Die Jagd des Lebens‹, ›Der verbannte König‹ Bl. 110r–114v ›Bonus‹ Bl. 114v–116r Stricker: ›Das entweihte Gotteshaus‹ Bl. 116v–128r ›Cato‹ Bl. 128v–129r ›Vom Nutzen des Gedenkens an Christus‹ (Prosa) Lit.: Carl Greith: Spicilegium Vaticanum. Beiträge zur näheren Kenntniss der Vatikanischen Bibliothek für deutsche Poesie des Mittelalters. Frauenfeld 1838, S. 57–66; Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.2.1.7.

Von der Anlage der Texte her steht V der Handschrift M sehr nahe. Konrad Zwierˇzina und Edward Schröder sind davon ausgegangen, dass M und V auf der gleichen Vorlage beruhen würden und womöglich im gleichen Skriptorium entstanden seien.16 Aufgrund der abweichenden Schreibsprache und Einrichtung beider Handschriften – M ist böhmisch und ähnelt vom Layout her den (ebenfalls böhmischen) Handschriften HK, V ist bairisch und teilt die Eigenart der ausgerückten Anverse nicht – kommt Holznagel aber zum Schluss, dass die Handschriften nicht als Schwesterhandschriften aufzufassen sind. Vielmehr äußert er die Vermutung, dass V eine gekürzte Teilabschrift von M sein könnte.17 In V sind die in M enthaltenen geistlichen Erzählungen bis auf den ›Bonus‹ ausgefallen. Strickers ›Entweihtes Gotteshaus‹, das in M die Strickersammlung beschließt, folgt in V auf den ›Bonus‹. Das Schreiberkolophon auf Bl. 128r lässt vermuten, dass der ›Cato‹ ursprünglich den Schluss der Sammlung bildete: Nu muz daz puech ein ende han, / der schreiber wil slaffen gan. / 〉Der daz puech geschriben hat, / den chlaide got mit himelischer 18 wat. 1347〈. Auf Bl. 128v–129r hat der gleiche Schreiber jedoch noch einen kurzen Prosatext eingetragen, der die Frage behandelt, welche Art des Gedenkens an Christus den größten Nutzen bringe. Die Handschrift V ist, ebenso wie M, kleinformatig und einspaltig beschrieben. Dennoch

16 Vgl. Konrad Zwierzˇina: Die Innsbrucker Ferdinandeumhandschrift kleiner mhd. Gedichte. In: Festgabe Samuel Singer. Tübingen 1930, S. 144–166, hier S. 145; Schröder: Bonus, S. 4. 17 Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.2.1.7. 18 Korrigiert aus: himelicher.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp |

203

ist die Ausstattung von V etwas aufwändiger: Neben einigen mit Blattgold und Fleuronne´ verzierten Initialen fällt besonders die siebenzeilige historisierte Deckfarbeninitiale auf, die auf Bl. 3r die Strickersammlung eröffnet (Abb. 4). 1.1.4 Die Handschriften WC: Rudolfs ›Barlaam‹ und eine geistliche Stricker-Sammlung W

Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2884

Pergament · 162 Bll. · 27,2 × 20,8 · Oberrheingebiet · um 1375/90 Inhalt: Bl. 1ra–111va Rudolf von Ems, ›Barlaam und Josaphat‹ Bl. 111vb–147vb Sammlung von 39 vorwiegend geistlichen Stricker-Texten, darunter die Erzählungen ›Der Richter und der Teufel‹, ›Der Sünder und der Einsiedler‹ und ›Der ernsthafte König‹ Bl. 148ra–162vb Konrad von Würzburg, ›Pantaleon‹ Lit.: Menhardt: Verzeichnis I, S. 517–526; Prillwitz: Überlieferungsstudie, S. 37–40; Martin Roland u. a.: Ergänzende Beschreibungen zum Katalog Mitteleuropäische Schulen II. Österreichische und deutsche Handschriften ca. 1350–1410 der Reihe Illuminierte Handschriften und Inkunabeln der Österreichischen Nationalbibliothek. Codices Manuscripti 32/33 (2000), S. 1–64, hier S. 8, 38 (Abb. 22), 64 (Abb. 94).

Die Kleinepiksammlung bildet nur einen Teil der Handschrift W, deren Haupttext Rudolfs von Ems Legendenepos ›Barlaam und Josaphat‹ ist. Die Sammlung wird durch Konrads von Würzburg Legende ›Pantaleon‹ beschlossen. Die StrickerSammlung in W enthält vorwiegend geistliche Texte, wobei allerdings der Anteil geistlicher Erzählungen (3 von 39 Texten) relativ gering ist. Die Stricker-Sammlung wurde in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts von Graf Wilhelm Werner von Zimmern, einem späteren Besitzer von W, in der Handschrift C abgeschrieben. Neben dem konservierenden Interesse an den älteren Texten lässt sich in C auch eine Bemühung um die Aktualisierung der Texte für ein zeitgenössisches Publikum beobachten.19 C

Karlsruhe, BLB, Cod. St. Georgen 86

Papier · noch 142 Bll. · 20,5 × 15 · niederalem.-schwäb. Sprachgebiet · 2. Hälfte 16. Jahrhundert Inhalt: Bl. 1r–2v ›Der Bussard‹ Bl. 3v–9r ›Die undankbare Wiedererweckte‹ Bl. 9v–95v Stricker-Sammlung Bl. 95va Freidank (nur Überschrift) Bl. 96r–136r ›Frau Untreue‹ Bl. 137r–142v Hans Sachs: ›Streitgespräch über die Liebe‹

19 Vgl. Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.2.1.2.

204 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Lit.: Jacob Klingner/Ludger Lieb: Handbuch Minnereden. Mit Beiträgen von Iulia-Emilia Dorobant¸u/Stefan Matter/Martin Muschick/Melitta Rheinheimer/Clara Strijbosch. 2 Bde. Berlin/Boston 2013, Bd. 2, S. 83 f.; Holznagel: Handschrift, Kap. II.1.3.1. und II.2.2.1.2.

1.1.5 Die Handschriften RaaQ: Kleinepik als Mitüberlieferung von Rudolfs ›Barlaam‹ R

München, BSB, Cgm 16

Pergament · noch 89 Bll. (19 Quaternionen fehlen) · 32 × 22,5 · bair.-österr. Sprachgebiet (Nachtrag: westmd.) · 1284 (Nachtrag: um 1300) Inhalt: Bl. 1ra–Bl. 81rb Rudolf von Ems: ›Barlaam und Josaphat‹ Bl. 81va–81vb Stricker: ›Hund und Stein‹ Bl. 81vb–82rb Stricker: ›Mahnung zu rechtzeitiger Buße‹ Bl. 82rb–84rb Stricker: ›Der gefangene Räuber‹ Bl. 84rb–85va Stricker: ›Die sechs Teufelsscharen‹ Bl. 85va–87ra Konrad von Würzburg: ›Der Welt Lohn‹ Bl. 87ra/b Stricker: ›Drei Gott verhasste Dinge‹ Bl. 87va–89vb Nachtrag: ›Thomas‹ (Verslegende) Lit.: Erich Petzet: Die deutschen Pergament-Handschriften Nr. 1–200 der Staatsbibliothek in München (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,1). München 1920, S. 27–30; Prillwitz: Überlieferungsstudie, S. 23–29; Schneider: Gotische Schriften I, S. 215–218.

In R ist ebenfalls Kleinepik des Strickers mit Rudolfs von Ems ›Barlaam‹ zusammengestellt. Die kleine Stricker-Sammlung wurde um Konrads von Würzburg ›Der Welt Lohn‹ erweitert. aa

Discissus Berlin, Staatsbibl., Mgf 737, Bl. 16–18, 19/ Göttweig, Stiftsbibl., ohne Sign. (verschollen)/Herzogenburg, Stiftsbibl., Cod. 92/Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 15336

Pergament · Reste von 12 Bll. · ca. 32 × 22 · ostalem. Sprachgebiet · 4. Viertel 13. Jahrhundert Inhalt: ›Christherre-Chronik‹ Rudolf von Ems: ›Barlaam und Josaphat‹ Konrad von Würzburg: ›Der Welt Lohn‹ Stricker: ›Drei Gott verhasste Dinge‹ Bußpsalmen Lit.: Prillwitz: Überlieferungsstudie, S. 73 f., 78 f.; Holznagel: Handschrift, Kap. II.1.3.1. und II.2.2.1.8.

Die Handschrift aa enthält eine ähnliche Sammlung wie R, allerdings scheint zwischen R und aa kein direktes Verwandtschaftsverhältnis zu bestehen. Der Überlieferungsverbund von Rudolfs ›Barlaam‹ und Stricker-Texten ist auch in der Handschrift Q zu beobachten. In dieser Stricker-Sammlung sind die Erzählungen ›Der ernsthafte König‹ und ›Der Richter und der Teufel‹ enthalten.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp |

Q

205

München, BSB, Cgm 273

Papier · 193 Bll. · 20,7–21 × 14,5–14,8 · mittelbair. Sprachgebiet · 1459 Inhalt: Bl. 2ra–136ra Rudolf von Ems: ›Barlaam und Josaphat‹ darin Bl. 83va–87ra ›Der Magezoge‹ Bl. 136rb–157va Stricker-Sammlung Bl. 158va–191rb Österreichischer Bibelübersetzer: ›Büchlein vom Antichrist‹ Lit.: Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 201–350 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,2). Wiesbaden 1970, S. 211–216.

1.1.6 Die Handschrift N: Eine geistliche Stricker-Sammlung N

Cologny-Genf, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bodm. 155

Pergament · 83 Bll. · 26,3 × 19,2 · ostobd. Sprachgebiet · Mitte 14. Jahrhundert Inhalt: Sammlung von 69 kleinepischen Texten des Strickers, ergänzt um zwei Parabeln aus Rudolfs von Ems ›Barlaam‹ Lit.: Wetzel: Deutsche Handschriften, S. 182–202 (mit Abb. 14); Wendelin Foerster/Konrad Burdach: Die Nikolsburger Bispelhandschrift. In: Untersuchungen und Quellen zur germanischen und romanischen Philologie (FS Johann von Kelle). Bd. 1 (Prager Deutsche Studien 8). Prag 1908 (Nachdruck Hildesheim 1975), S. 363–385.

Die Handschrift N enthält eine Sammlung mit vorwiegend geistlichen Texten des Stricker-Corpus. Darunter befinden sich die geistlichen Erzählungen ›Der Sünder und der Einsiedler‹, ›Der ernsthafte König‹ sowie ›Der Richter und der Teufel‹. Die Erzählungen stehen zahlenmäßig hinter Bispeln und Reden zurück. In N lässt sich die typische Überlieferungssymbiose von geistlichen Stricker-Texten und Auszügen aus Rudolfs von Ems ›Barlaam‹ beobachten. 1.1.7 Die ›Würzburger Kleinepiksammlung‹ Gotha, Forschungsbibl., Cod. Chart. A 216, Fasz. III (›Würzburger Kleinepiksammlung‹) Papier · Fasz. III: Bl. 75–111 · 29,5 × 20,5 · Würzburg · um 1342–1345 Inhalt: Sammlung von geistlicher und weltlicher Kleinepik Lit.: Falk Eisermann: Zur Datierung der ›Würzburger Kleinepiksammlung‹ (Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 216). ZfdA 134 (2005), S. 193–204; Falk Eisermann: Katalog der deutschsprachigen mittelalterlichen Handschriften der Forschungsbibliothek Gotha. Vorläufige Beschreibungen, abrufbar unter: http://www.manuscripta-mediaevalia.de/hs/projekt-Gotha-pdfs/Chart A 216.pdf (30.1.2014).

In dieser Sammlung sind neben einigen geistlichen Reden des Strickers auch die beiden geistlichen Erzählungen ›Mönch Felix‹ und Konrads von Würzburg ›Der Welt Lohn‹ enthalten.

206 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel 1.1.8 Die Handschrift p: Minneerzählungen und Marienmirakel p

Pommersfelden, Gräfl. Schönbornsche Schloßbibl., Cod. 54 (2798)

Papier · noch 133 Bll. · 19,5 × 13,3 · Thüringen · 2. Hälfte 14. Jahrhundert Inhalt: Bl. 1r–11r ›Der Schüler zu Paris‹ Bl. 11r–13r ›Minner und Trinker‹ Bl. 13r–16r Stricker: ›Das heiße Eisen‹ Bl. 16r–35r ›Die Heidin A‹ Bl. 35r–40v ›Daz brechen leit‹ Bl. 40v–48v ›Schampiflor‹ Bl. 48v–54r ›Marien Rosenkranz II‹ Bl. 54r–76v Heinrich der Klausner: ›Der arme Schüler‹ Bl. 76v–77r Gebet Bl. 77v–101r ›Laurin‹ Bl. 101v–128v ›Rosengarten zu Worms‹ Bl. 129r–133v ›Die halbe Birne A‹ Lit.: Ludwig Bethmann: Altdeutsche Handschriften der Gräflich Schönbornschen Bibliothek zu Pommersfelde. ZfdA 5 (1845), S. 368–372, hier S. 370 f.

In dieser Sammlung finden sich zwischen kurzen weltlichen Erzählungen, die meist der Minnethematik gewidmet sind, und heldenepischen Texten zwei geistliche Erzählungen, die jeweils den besonderen Mariendienst eines Mönchs bzw. eines Knaben hervorheben: ›Marien Rosenkranz II‹20 und Heinrichs des Klausners ›Armer Schüler‹.21 1.1.9 Die Handschrift E: Kleinepik im Rahmen des Hausbuchs Michaels de Leone E

München, UB, 2° Cod. ms. 731 (›Hausbuch Michaels de Leone‹)

Pergament · noch 285 Bll. · 34,5 × 26,5 · Würzburg · ca. 1345–1354 Inhalt: Zweiter Band des Hausbuchs: deutsch-lateinisch gemischte Sammlung, u. a. Werke Konrads von Würzburg, Freidank, Kleinepiksammlung (›Die Welt‹), Texte des Königs vom Odenwald und Lupold Hornburgs, Minnelyrik, Kochbücher, ›Lucidarius‹ und das lat. ›Elucidarium‹ des Honorius Augustodunensis. Lit.: Gisela Kornrumpf/Paul-Gerhard Völker: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München (Die Handschriften der Universitätsbibliothek München 1). Wiesbaden 1968, S. 66–107, 349; Das Hausbuch des Michael de Leone (Würzburger Liederhandschrift) der Universitätsbibliothek München (2° Cod. ms. 731) in Abb. hrsg. von Horst Brunner (Litterae 100). Göppingen 1983; Achnitz/Holznagel: Der werlt lauff; Rainer Leng: Der Große Löwenhof, das ›Hausbuch‹ des Michael de Leone und die erste Würzburger Universität. In: Würzburg, der Große Löwenhof, S. 153–181; Frank Fürbeth: Wissensorganisierende Komposithandschriften. Materiale Indizien eines spätmittelalterli-

20 Vgl. Kap. III.2.3.3. 21 Vgl. Kap. VI.1.3.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp

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207

chen Handschriftentyps am Beispiel des sog. ›Hausbuchs‹ von Michael de Leone. In: Materialität in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Martin Schubert (Beihefte zu Editio 32). Berlin 2010, S. 293–308; Wolfgang Müller: Die datierten Handschriften der Universitätsbibliothek München (Datierte Handschriften in Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland VI). Stuttgart 2011, Textbd. S. 3 f., Tafelbd. Abb. 14–16; Michael Embach/Martina Wallner: Conspectus der Handschriften Hildegards von Bingen. Münster 2013, S. 174 f.; Klingner/Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 2, S. 109 f.; Udo Kühne: Das Hausbuch als Literaturzentrum. Michael de Leone: Sammler lateinischer und deutscher Texte. In: Kulturstadt Würzburg. Kunst, Literatur und Wissenschaft in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Dorothea Klein/Franz Fuchs. Würzburg 2013, S. 1–24.

Im Hausbuch des Würzburger Protonotars Michael de Leone findet sich eine 58 Stücke umfassende Kleinepiksammlung mit Stricker-Texten sowie anonymen Bispeln und Fabeln. Die Sammlung wird in der Handschrift Die werlt (Bl. 68v) genannt und sollte wohl als exemplarische Anweisung für das richtige und kluge Verhalten in der Welt verstanden werden.22 In dieser Sammlung finden sich vorwiegend weltliche Texte. Außerhalb dieser geschlossenen Sammlung steht im Schlussteil des ›Hausbuchs‹ ein weiterer kleinepischer Text, Heinzelins von Konstanz in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstandene geistliche Erzählung ›Die zwei Sankt Johannsen‹.23 1.1.10 Die Handschriften BI und D: Kleinepiksammlungen mit weltlichem Profil B

Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2885

Papier · noch 215 Bll. · 28 × 20 · Innsbruck · 1393 Inhalt: Sammlung vorwiegend weltlicher Kleinepik Lit.: Menhardt: Verzeichnis I, S. 527–546; Ursula Schmid: Codex Vindobonensis 2885 (Bibliotheca Germanica 26). Bern/München 1985; Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.2.1.5.

In die Handschrift B wurden vor allem weltliche Texte aufgenommen. Thematische Schwerpunkte bilden Schwänke und Texte mit Minnethematik. Neben der Auswahl aus dem in AHK überlieferten Bestand wurden auch andere Texte, etwa die beiden Minne-Erzählungen ›Pyramus und Thisbe‹ und ›Der Schüler zu Paris‹, aufgenommen. Die beiden Strickerschen Schwankerzählungen ›Die drei Wünsche‹ und ›Die Martinsnacht‹ sind in der Sammlung enthalten. Dezidiert geistliche Texte finden sich zunächst nur vereinzelt (Konrads von Würzburg ›Goldene Schmiede‹ als Nr. 31, Friedrichs von Saarburg ›Antichrist‹ als Nr. 56), dann als relativ geschlossene kleine Gruppe am Ende der Handschrift: Auf die allegorische Rede ›Die drei Wappen‹ (Nr. 62) folgen die geistlichen Erzählungen ›Der ernsthafte König‹, ›Der König im Bad‹ und ›Der Württemberger‹. Daran schließen

22 Vgl. Achnitz/Holznagel: Der werlt lauff, S. 284–287. 23 Vgl. Kap. VII.1.

208 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel sich der didaktische Text ›Der Magezoge‹ und die ›Kreuzesholzlegende‹ Heinrichs von Freiberg an. I

Innsbruck, Landesmuseum Ferdinandeum, Cod. FB 32001

Papier · 114 Bll. · 29,5 × 21 · Innsbruck/Brixen · 1456 Inhalt: vorwiegend weltlich geprägte Kleinepiksammlung Lit.: Bernhard und Hans Peter Sandbichler: Handschriftenkatalog des Museum Ferdinandeum. Die Codices des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum bis 1600. Masch. Katalog. Innsbruck 1999, S. 154–157; Sammlung kleinerer deutscher Gedichte. Vollständige Faksimile-Ausgabe des Codex FB 32001 des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum. Einführung: Norbert Richard Wolf (Codices selecti 29). Graz 1972; Holznagel: Handschrift, Kap. II.1.3.1. und Kap. II.2.2.1.5.

In der eng mit B verwandten Handschrift I24 tritt die Fokussierung auf weltliche Texte noch deutlicher zutage: Die in B enthaltenen geistlichen Texte fehlen weitgehend, nur die schwankhafte ›Martinsnacht‹ des Strickers ist in beiden Handschriften überliefert. D

Dresden, SLUB, Mscr.M.68

Papier · II + 81 + I Bll. · 27,2 × 20,7 · Ostschwaben · 1447 Inhalt: vorwiegend weltlich geprägte Kleinepiksammlung Lit.: Werner J. Hoffmann: Die deutschsprachigen mittelalterlichen Handschriften der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden. Vorläufige Beschreibungen, abrufbar unter: http://www.manuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/obj31600759 (30.1.2014); Mihm: Überlieferung, S. 92–96, 133; Paula Hefti: Codex Dresden M 68 (Bibliotheca Germanica 23). Bern/München 1980.

Auch die Handschrift D enthält eine weltlich geprägte Kleinepiksammlung. Die einzige in dieser Handschrift enthaltene geistliche Erzählung ist des Strickers ›Ernsthafter König‹. 1.1.11 Die Handschrift a: Geistliche Erzählungen als Nachtrag zu großepischen Texten a

Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2779

Pergament · noch 170 Bll. · 35,5 × 25,5 · Wiener Raum · 2. Viertel 14. Jahrhundert (Nachträge: wenig später) Inhalt: Grundstock: Bl. 2va–46ra ›Kaiserchronik‹ Bl. 46ra–68rc Hartmann von Aue: ›Iwein‹

24 Die Handschrift I wurde in der früheren Forschung für eine Teilabschrift von B gehalten. Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.2.1.5., plädiert jedoch dafür, eher eine Schwesterhandschrift von B als Vorlage von I anzunehmen.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp

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209

Bl. 68rc–71va ›Die Heidin A‹ Bl. 71va–85rc ›Ortnit‹ Bl. 91ra–111vc ›Dietrichs Flucht‹ Bl. 112ra–130vc ›Rabenschlacht‹ Bl. 131ra–170vc Heinrich von dem Türlin: ›Die Krone‹ Nachträge auf freiem Raum: Bl. 1ra Gebet zum hl. Kreuz Bl. 1ra Gebet zu des Herrn Marterbild Bl. 1ra Vermerk über ein Weihnachtsopfer der Frau Turs 1358 Bl. 1va–2ra ,Passional‘-Marienmirakel 5 ›Jesuskind als Geisel‹ und 15 ›Ave MariaLilie‹ Bl. 85va–88va ›Väterbuch‹-Auszug: Siebenschläfer-Legende Bl. 88va–89va ›Buch der Märtyrer‹-Auszug: Vom heiligen Kreuz Bl. 89va–89vc Stricker: ›Der Sünder und der Einsiedler‹ Bl. 89vc–90rb Stricker: ›Der wahre Freund‹ Bl. 90rb–90vc ›Passional‹-Marienmirakel 4 ›Maria im Turnier‹, 16 ›Maria rettet einen Maler‹ und 17 ›Die geschwätzigen Mönche‹ Lit.: Schneider: Gotische Schriften II, Textbd., S. 102 f.; Menhardt: Verzeichnis I, S. 287–293; Mitteleuropäische Schulen I, S. 266–268 (Nr. 107), Abb. 341–343; Passional (Haase/Schubert/Wolf), Bd. I, S. LXV f.

In dieser repräsentativen Handschrift wurden zunächst umfangreiche Texte eingetragen, Chronikalisches, Artusliteratur, Heldenepik. Die freigebliebenen Seiten wurden zu einem späteren Zeitpunkt mit vorwiegend geistlichen Texten gefüllt: fünf ›Passional‹-Marienmirakel, zwei Erzählungen des Strickers, Legenden aus dem ›Väterbuch‹ und dem ›Buch der Märtyrer‹. Dass es sich dabei um einen Nachtrag handelt, zeigt das vom Grundstock abweichende Layout: Während die anderen Texte mit rot/blau alternierenden Lombarden mit grünem bzw. rotem Fleuronne´ ausgestattet sind, finden sich bei den geistlichen Texten nur rote (Bl. 1v/2r) bzw. rot/blau alternierende Lombarden mit ungeschicktem Fleuronne´ in der Gegenfarbe. Der auffälligste Unterschied besteht jedoch darin, dass bei den Nachträgen jeweils der Anfangsbuchstabe der Anverse ausgerückt und rot gestrichelt ist. Bei den Texten des Grundstocks lässt sich diese Eigenart nicht beobachten. Von einer zweiten Nachtragshand stammen die Gebete und der Stiftungsvermerk auf Bl. 1r. 1.1.12 Die verschollene Klosterneuburger Handschrift: Geistliche Allegorie und Narration Klosterneuburg, Stiftsbibl., Cod. 1244 (verschollen) Pergament · 53 Bll. · Oktavformat · Böhmen (?) · 14. Jahrhundert Inhalt: Bl. 1r–12v ›Tochter Sion‹ Bl. 12v–21r ›Alexius C‹ Bl. 21r–27v ›Der König im Bad‹ Bl. 27v–31v ›Von der Würde des Sakraments‹ (3 Erzählungen)

210 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Bl. 31v–33r Bl. 33r/v Bl. 34r/v Bl. 34v–36r Bl. 36r–37v Bl. 37v–39r Bl. 39r–43r Bl. 43r–45r Bl. 45r–46v Bl. 46v–48r Bl. 48r–53v

›Der Räuber‹ ›Köstliches Essen in schmutzigem Gefäß‹ ›Ave Maria-Lilie‹ II ›Erscheinung am Lichtmesstage‹ II ›Der Teufel als Kämmerer‹ II ›Priester Zacharias und die Sünderin‹ ›Maria rettet einen Ritter um seiner Frau willen‹ II ›Der Traum des Scholaren‹ (›Passional‹-Marienmirakel 9) ›Salve sancta parens‹ (›Passional‹-Marienmirakel 8) Mariengebet Mahnsprüche (Prosa)

Lit.: Joseph Maria Wagner: Mittheilungen aus und über Klosterneuburger Handschriften VIII–IX. Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit N.F. 9 (1862), Sp. 191–195, 232–234, hier Sp. 191–195 (Nr. VIII; irrtümlich unter der Signatur 1242); Eberhard Gottlieb Graff: Altdeutsche Sprachdenkmäler in Kloster Neuburg bei Wien, in Mölk, S. Florian, Kremsmünster und Linz. In: Diutiska III (1829), S. 267–280 (Nachdruck Hildesheim/New York 1970); [Heinrich Joseph] Floss: Neun Marienlegenden nebst einem Gebete an Maria, in Versen, aus einer altdeutschen Handschrift des XIV. Jahrhunderts im Stift Klosterneuburg bei Wien. [Münster 1851]; Karl Goedeke: Deutsche Dichtung im Mittelalter. 2. Aufl. Dresden 1871, S. 132–134, 245–249; Marienlegenden (Richert), S. XIV; Hans-Georg Richert: Wege und Formen der Passionalüberlieferung (Hermaea N.F. 40). Tübingen 1978, S. 75 f.; Passional (Haase/Schubert/ Wolf), Bd. I, S. LXVII f.

Die Klosterneuburger Handschrift ist seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts verschollen.25 Einige Texte wurden im 19. Jahrhundert nach dieser Handschrift ediert, ansonsten ist man auf die Angaben in der älteren Forschungsliteratur, besonders bei Wagner, angewiesen. Dieser gibt jeweils die Anfangsverse und den Umfang der Texte an. Zum Inhalt der Einzeltexte finden sich knappe Hinweise bei Graff.

25 Vgl. Marienlegenden (Richert), S. XIV: »Nach einer brieflichen Auskunft der Stiftsbibliothek vom 15.4.1959 lassen sich ›keinerlei Hinweise über den letzten Benützer dieser Handschrift oder über die Art und Weise sowie den Zeitpunkt des Verlustes eruieren‹«. Eine präzisere Mitteilung aus Klosterneuburg ist in Dobner: Marien Rosenkranz, S. 2 f., Anm. 6, zu finden: Die Handschrift sei »in Verlust geraten, wie noch manche andere deutsche Handschrift des Stiftes, welche der Germanist Franz Pfeiffer benützt und entlehnt hat… Nach dem Tode Pfeiffers scheinen seine Bücher verkauft oder versteigert worden zu sein«. Christine Glaßner (Wien) vermerkt im Handschriftencensus (http://www.handschriftencensus.de/3222 [September 2009]): »Zwei weitere Handschriften, die der Klosterneuburger Bibliothek in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entfremdet wurden, befinden sich heute in Straßburg, National- und Universitätsbibl., ms. 2523 (früher L germ. 498.8°) [olim Klosterneuburg, Stiftsbibl., Cod. 1170] bzw. ms. 2715 (früher L germ. 618.4°) [olim Klosterneuburg, Stiftsbibl., Cod. 1141].« Allerdings gibt es bisher keinen Hinweis darauf, dass der Klosterneuburger Handschrift 1244 das gleiche Schicksal widerfahren sein könnte.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp

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211

Bei der Klosterneuburger Handschrift handelt es sich um eine Sammlung ausschließlich geistlicher Texte, die vom inhaltlichen Profil her der Handschrift k ähnelt. Die Sammlung wird durch den allegorisch-brautmystischen Verstraktat ›Tochter Sion‹26 und eine Alexius-Legende eröffnet, dann folgt ein Block von 12 geistlichen Erzählungen. Am Schluss stehen ein Mariengebet und ein erbaulicher Prosa-Traktat. Die Aufnahme von einzelnen Prosatexten in eine Sammlung geistlicher Verstexte lässt sich auch in den Handschriften k und V beobachten und könnte damit zusammenhängen, dass im Bereich der geistlichen didaktischen Literatur schon früh die Prosaform üblich wurde und dass in den thematisch ausgerichteten Kleinepiksammlungen, die hauptsächlich geistliche Texte enthalten, das Kriterium der Versform eine nicht mehr so bedeutende Rolle spielte. Die drei unikal in dieser Handschrift überlieferten geistlichen Erzählungen ›Von der Würde des Sakraments‹ (I: 106 V., II: 60 V., III: 52 V.; 13./14. Jahrhundert?)27 sind dank des Abdrucks von Joseph Strobl erhalten: I Ein Priester führt ein lasterhaftes Leben. Deshalb weigert sich ein Mann aus seiner Pfarre, die Messe dieses Priesters zu besuchen. An einem Feiertag spaziert der Mann allein übers Feld und findet einen schönen Brunnen, den er bisher noch nie gesehen hat, und dessen Wasser köstlich schmeckt. Er sucht nach der Quelle des Brunnens und begegnet einem Alten, der ihn fragt, warum er nicht die Messe höre. Der Mann erklärt, dass er die Messe des unkeuschen und trunksüchtigen Priesters für unnütz halte, und dass er die Quelle des Brunnens suche. Als der Alte ihn zur Quelle führt, muss der Mann mit Erschrecken feststellen, dass sie durch das Maul eines verfaulten toten Hundes fließt. Der Alte erklärt, dass das Wasser trotz des unreinen Ursprungs süß und gesund sei und es sich mit der Messe des unreinen Priesters ebenso verhalte. Der Mann erzählt daraufhin dem Priester von seinem Erlebnis, und dieser bessert sich. II Ein Bruder glaubt nicht, dass Gott in der Hostie präsent ist, und lässt sich auch von den Argumenten seiner Mitbrüder nicht überzeugen. Während der Messe geschieht es einmal, dass der ungläubige Bruder ein Kind auf dem Altar sitzen sieht, das vom Priester in Stücke geschnitten und an die Leute verteilt wird. Sobald er von seinem Unglauben abgelassen hat, verschwindet die Vision. III Ein Waldbruder sitzt in der Einöde und bekommt an Feiertagen von einem Landpriester das Sakrament. Einmal hat er Besuch von einem anderen Waldbruder, der ihm von dem las-

26 Vgl. Dietrich Schmidtke: Tochter Syon. In: 2VL 9 (1995), Sp. 950–960 und 2VL 11 (2004), Sp. 1541. 27 Vgl. Burghart Wachinger: Von unwürdigen Priestern und von der Würde des Sakraments. In: 2 VL 11 (2004), Sp. 1591–1593. Ausgabe: Joseph Strobl: Drei Gedichte von der Würdigkeit der Priester. ZfdA 16 (1873), S. 467–474.

212 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel terhaften Lebenswandel des Landpriesters erzählt. Als der Priester das nächste Mal zum Waldbruder kommt, will dieser ihn nicht empfangen. Als der Priester wieder gegangen ist, hat der Waldbruder jedoch eine Vision: Ein Aussätziger schöpft Wasser aus einem goldenen Brunnen, doch der Waldbruder weigert sich, dies zu trinken, bis eine himmlische Stimme ihn dazu auffordert, denn das Wasser sei rein, auch wenn es durch die Hände des Aussätzigen gehe. Der Waldbruder sieht seinen Fehler ein, ruft den Priester zurück und empfängt von ihm das Sakrament.

Darauf folgt eine Sammlung von neun Marienmirakeln, die von Heinrich Joseph Floss 1851 herausgegeben wurde28 und eine Mischung aus ›Passional‹-Marienmirakeln, Bearbeitungen von ›Passional‹-Marienmirakeln und eigenständigen Erzählungen darstellt. Die Sammlung wird eröffnet durch die hier unikal überlieferte Erzählung ›Der Räuber‹ (94 V., 14. Jahrhundert). Ein Ritter hat sein Gut vertan und ernährt sich seither von Raub. Eines Tages beobachtet er vorbeifahrende Kaufleute und folgt ihnen in die Stadt, um sie zu berauben. Auf dem Weg zur Herberge der Kaufleute kommt er jedoch an einer Kirche vorbei und tritt ein, um sein tägliches Mariengebet zu verrichten. Als er vor dem Marienbild steht, sieht er, dass das Jesuskind weint und Maria seine Tränen mit ihrem Schleier auffängt. Der Ritter fragt Maria, wer das Kind betrübt habe, er wolle es rächen. Da sagt Maria, dass er selbst mit seinen Sünden der Verursacher des Leides sei. Sofort wird der Räuber von Reue ergriffen und fällt vor dem Jesuskind auf die Knie. Maria leistet Fürbitte für ihn, indem sie sich ebenfalls hinkniet. Nachdem Jesus dem Ritter seine Sünden vergeben hat, führt dieser ein geistliches Leben und erlangt dadurch das Himmelreich.

Dieser Text vereint Motive aus unterschiedlichen Erzählstoffen, die in ›Passional‹-Marienmirakeln behandelt werden; der Anfang erinnert an den ›Teufel als Kämmerer‹, das Eintreten in die Kirche statt des Raubes an ›Maria im Turnier‹, die Intercessions-Szene an ›Marias Fürbitte für einen Ritter‹. Dass der Verfasser der Marienmirakelsammlung die ›Passional‹-Mirakel kannte, ist durch die beiden in die Sammlung übernommenen Mirakel (Nr. 8 und 9) belegt – möglicherweise stellt der ›Räuber‹ also eine freie Bearbeitung und Zusammenführung bekannter Motive zu einer neuen Erzähleinheit dar. Der nächste Text der Sammlung, ›Köstliches Essen in schmutzigem Gefäß‹ (46 V., 14. Jahrhundert),29 ist nicht mit einem ›Passional‹-Mirakel stoffverwandt, weist aber Ähnlichkeiten zu den vorangehenden Sakraments-Mirakeln auf. Maria erscheint einem Mann im Traum und reicht ihm gutes Essen in einem unreinen Gefäß, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er durch seine Unkeuschheit seinen Mariendienst schmälert.

28 Verbleibende Exemplare dieser lange Zeit als unzugänglich geltenden Edition wurden von den Herausgebern der neuen ›Passional‹-Edition wieder aufgefunden, vgl. Passional (Haase/ Schubert/Wolf), Bd. 1, S. XIV (Anm. 21) und S. CCLXXXIII (bibliographische Nachweise). 29 Tubach 2108.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp

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213

Die dritte in der Klosterneuburger Sammlung unikal überlieferte Erzählung ist ›Priester Zacharias und die Sünderin‹ (108 V., 14. Jahrhundert).30 Eine Sünderin, die lange in Unkeuschheit gelebt hat, lacht über einen Priester namens Zacharias, der sie zu bekehren versucht. Daraufhin bittet er sie, in die Kirche zu gehen und vor dem Marienbild für ihn um Erbarmen zu beten. Die Sünderin befolgt die Anweisung. Das Jesuskind wundert sich darüber, dass seine Feindin für seinen Freund betet, doch Maria bewegt ihren Sohn dazu, der Sünderin zu vergeben. Von Reue ergriffen, beichtet die Frau ihre Sünden, führt ein geistliches Leben, stirbt bald darauf und erlangt das Seelenheil.

Die restlichen Texte der Sammlung sind stoffverwandt mit ›Passional‹-Mirakeln. Die an dritter Stelle in der Sammlung stehende ›Ave Maria-Lilie‹ II lässt das Verhältnis der Klosterneuburger Sammlung zu den ›Passional‹-Mirakeln deutlich werden. Das erste und fünfte Reimpaar dieses Textes sind identisch mit den Reimen des ›Passional‹-Mirakels; die direkte Bezugnahme des Verfassers auf diesen Text ist dadurch gesichert. Abgesehen von diesen anfänglichen Anknüpfungen weicht die ›Ave-Lilie‹ II jedoch in der Formulierung deutlich vom ›Passional‹Mirakel ab und weist eine stark kürzende Tendenz auf: Was im ›Passional‹ in 84 Versen erzählt wird, füllt hier nur 36 Verse. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch an den übrigen Erzählungen machen: ›Passional‹ ›Erscheinung am Lichtmesstage‹ ›Teufel als Kämmerer‹ ›Maria rettet einen Ritter um seiner Frau willen‹

242 V. 234 V. 286 V.

Klosterneuburger Sammlung 82 V. 76 V. 206 V.

Bis auf die ›Ave-Lilie‹ II weisen die Kurzfassungen kaum identische Reime mit den ›Passional‹-Mirakeln auf und weichen auch in den Formulierungen so stark ab, dass man auf den ersten Blick denken könnte, die Erzählungen seien unabhängig vom ›Passional‹ entstanden. Durch die beiden die Sammlung beschließenden ›Passional‹-Mirakel und die deutliche Bezugnahme in der ›Ave-Lilie‹ II liegt jedoch die Vermutung nahe, dass der Verfasser auch bei den anderen Kurzfassungen auf die entsprechenden ›Passional‹-Mirakel Bezug genommen hat, wenn auch in einer freieren Bearbeitungsweise. Ein weiteres Indiz dafür ist neben dem Kontext auch die Tatsache, dass die Kurzfassungen nie von den ›Passional‹-Fassungen abweichende Motive enthalten, die in anderen Vertretern der

30 Eine ähnliche Erzählung findet sich im ›Nürnberger Marienbuch‹ (Bettina Jung: Das Nürnberger Marienbuch. Untersuchungen und Edition (Texte und Textgeschichte 55). Tübingen 2004), Nr. 85.

214 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Stofftradition belegt wären. Die wenigen inhaltlichen Abweichungen lassen sich eher durch die freie Bearbeitungsweise des Verfassers als durch einen Rückgriff auf andere Bezugstexte erklären. Die deutlichste Abweichung von den ›Passional‹-Mirakeln – auch bei den beiden Texten, die keine Kurzfassungen darstellen – ist die Ersetzung des ›Passional‹-typischen Schlussverses des si gelobet di kunigin durch Epilogverse des Bearbeiters. Bei der ›Ave-Lilie‹ II wird gesagt, dass Gott mit diesem Wunder offenbar machen wollte, dass der einfältige Mönch in den Himmel gekommen sei; die ›Erscheinung am Lichtmesstage‹ II, der ›Teufel als Kämmerer‹ II und ›Maria rettet einen Ritter um seiner Frau willen‹ II enden mit dem Verweis auf das weitere fromme Leben und selige Ende der Protagonisten. Beim ›Traum des Scholaren‹ hat der Bearbeiter eine Fürbitte ans Ende gestellt,31 bei ›Salve sancta parens‹ den Tod und die Aufnahme ins Himmelreich des Protagonisten dazugedichtet.32 Der Akzent wird in der Klosterneuburger Sammlung somit von der Marienverehrung des ›Passionals‹ auf das Schicksal der Protagonisten, auf die Frage, wie man das Seelenheil erlangen kann, verschoben. 1.1.13 Die Handschrift c: Eine Kleinepiksammlung des 15. Jahrhunderts mit weltlichem Profil c

Karlsruhe, BLB, Cod. k 408

Papier · noch 191 Bll. · 29,5 × 20,5 · Schwaben (Augsburg?) · um 1430–1435 Inhalt: weltlich geprägte Kleinepiksammlung Lit.: Wilhelm Brambach: Die Karlsruher Handschriften. Bd. 1: Nr. 1–1299 (Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe IV,1). Karlsruhe 1896 (Neudruck mit bibliographischen Nachträgen. Wiesbaden 1970), S. 66–68, 299; Ursula Schmid: Codex Karlsruhe 408 (Bibliotheca Germanica 16). Bern/München 1974; Hans-Joachim Ziegeler: Kleinepik im spätmittelalterlichen Augsburg – Autoren und Sammlertätigkeit. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Johannes Janota/Werner Williams-Krapp (Studia Augustana 7). Tübingen 1995, S. 308–329; Klingner/Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 2, S. 80–82.

Diese umfangreiche Kleinepiksammlung enthält sowohl Teile des Bestandes der älteren Kleinepiksammlungen als auch neuere, wohl erst im 14. Jahrhundert entstandene Literatur. Der Fokus liegt auf weltlichen Texten; unter den ca. 115 Stü-

31 ›Traum des Scholaren‹ (bei Floss: Marienlegenden: ›Der Schüler von Sicilien‹), V. 99–104: Des helf vns auch divselbe meit, / Daz wir vnser gehorsamkeit / Ir ze lobe also volle bringen, / Daz wir mit ir werden singen / Irem lieben kinde ewiclich / In dem fronen himelrich. Amen. 32 ›Salve sancta parens‹ (bei Floss: Marienlegenden: ›Der einfältige Pfarrer‹), V. 90–94: Des danket er der kvnigin. / Vnd darnach immer mere / Sank vnd las er in ir ere, / Biz daz sie in zuo sich nam. / Vns geschehe allen auch alsam. Amen.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp

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cken sind nur etwa ein Dutzend geistliche, meist narrative Texte zu finden, so die Erzählungen ›Von dem armen Ritter‹,33 ›Der Württemberger‹, ›Jungfrau, Frau und Witwe‹, ›Der Teufel und der Maler‹,34 des Strickers ›Der Sünder und der Einsiedler‹, Konrads von Würzburg ›Der Welt Lohn‹ und der ›König im Bad‹. Auch die heilsgeschichtliche Erzählung ›Von Luzifers und Adams Fall‹ sowie die Strickersche Schwankerzählung ›Die Martinsnacht‹ sind in c überliefert. Die Erzählung ›Jungfrau, Frau und Witwe‹ (81 V., wohl 14. Jahrhundert)35 ist unikal in dieser Handschrift überliefert. Ein junges Mädchen hört einen Mönch über die Verdienste des keuschen Lebens predigen und gelobt, immer Jungfrau zu bleiben. Eine Woche später hört sie den Mönch über die Verdienste des Ehestandes predigen und vertraut ihm in der Beichte an, sie wolle unverzüglich heiraten. Der Mönch rät ihr, seine Ehefrau zu werden, und schickt sie nach Hause. In der nächsten Predigt hört das Mädchen von den Vorzügen des Witwentums und fragt den Mönch in der Beichte, ob sie auch Witwe werden könne. Er entlässt sie daraufhin aus der Ehe. Nach kurzer Zeit stirbt das Mädchen, das auf Erden Jungfrau, Ehefrau und Witwe war, und erhält im Himmel die Krone des ewigen Lebens.

Rolf Max Kully nennt die Erzählung ein »Schwankmäre mit moralisch-didaktischem Einschlag um das Thema der Naivität« (Sp. 931). Dies beschreibt treffend den Eindruck, den der Text auf einen modernen Leser macht – es fällt schwer, die Leichtgläubigkeit und die intellektuelle Beschränktheit des Mädchens ernst zu nehmen. Allerdings gibt es im Text keinen Hinweis darauf, dass die Naivität des Mädchens Anlass zum Lachen geben soll. Der Erzähler geht ganz selbstverständlich davon aus, dass die Protagonistin im Jenseits den Lohn für ihre Taten erhalten habe: Do wart ir in himelrich / Gegeben sicherlich / Die ewigen kron, / Do die engel schon / Singen vnd lesen. / Jch wolt auch gern do wesen, / Do man so selicklichen lebt / Vnd jn so endloser freud swebt. / Daß verley vns durch dein gu ´t, / Here Jhesu Christe, durch deiner wunden flut (V. 72 ff.). Die Figur des naiven Mädchens erinnert an einige Protagonisten der ›Passional‹-Marienmirakel, die trotz – oder gerade wegen – ihrer Einfalt, die mit einem innigen Glauben verbunden ist, von Gott oder Maria besonders ausgezeichnet werden.36

33 Vgl. Kap. IV.2.2. 34 Das Bruchstück ›Der Teufel und der Maler‹ (noch 134 V., 14. Jahrhundert?) ist unikal in c überliefert. Der Anfang der Erzählung ist verloren, da er auf jetzt fehlenden Blättern stand, die auch das Ende des ›Herrgottschnitzers‹ enthielten und vielleicht aus diesem Grund entfernt wurden. Zum Erzählstoff s. Tubach 3575. Zur Erzählung s. Jürgen Schulz-Grobert: Der Teufel und der Maler. In: 2VL 9 (1995), Sp. 721 f. Vgl. auch Kap. VIII.3.1. 35 Vgl. Rolf Max Kully: Jungfrau, Frau und Witwe. In: 2VL 4 (1983), Sp. 931 f. Ausgabe: Schmid: Codex Karlsruhe 408, S. 522–524. 36 So beispielsweise der einfältige Pfarrer aus ›Salve sancta parens‹ (Nr. 8), der Ritter aus der ›Ave Maria-Lilie‹ (Nr. 15) oder der Knabe aus ›Der Scholar und das Marienbild‹ (Nr. 22).

216 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel 1.1.14 Die Handschriften Lh: Kleinepiksammlungen mit Reden-Schwerpunkt L

Karlsruhe, BLB, Donaueschingen 104 (›Liedersaal‹-Handschrift)

Papier · noch 258 Bll. · 30 × 22 · Bodenseeraum (Konstanz?) · um 1425 Inhalt: Kleinepiksammlung mit vorwiegend weltlichen Texten, Minnereden und didaktischen Reden. Lit.: Lieder-Saal, Bd. 1–3; Heinrich Niewöhner: Der Inhalt von Laßbergs Liedersaal-Handschrift. PBB 66 (1942), S. 153–196; Mihm: Überlieferung, S. 78–92, 132; Klaus Grubmüller: Liedersaal-Handschrift. In: 2VL 5 (1985), Sp. 818–822; Klingner/Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 2, S. 75–79; Nicole Eichenberger/Christoph Mackert: Überarbeitung und OnlinePublikation der Erschließungsergebnisse aus dem DFG-Projekt zur Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Handschriften in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, unter Mitarbeit von Ute Obhof sowie unter Einbeziehung von Vorarbeiten von Wolfgang Runschke und Sabine Lütkemeyer. 2012–2013 (Beschreibung online: http://www. manuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/obj31575681); Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.2.1.6.

In der sog. ›Liedersaal‹-Handschrift L überwiegen die nicht-narrativen Texttypen.37 Dabei bilden Minnereden und Freidank-Stücke sowie die Reden des Teichners umfangreiche Gruppen. Auch in L haben neben Stücken aus dem AHK-Bestand neuere Texte Aufnahme gefunden. Neben einigen geistlichen Reden finden sich auch geistliche Erzählungen in der Sammlung. Aus dem ›alten‹ Bestand stammen die ›Barlaam‹-Parabel ›Die Jagd des Lebens‹ (L 34), Konrads von Würzburg ›Der Welt Lohn‹ (L 44), des Strickers ›Ernsthafter König‹ (L 47), ›Sünder und Einsiedler‹ (L 79) und ›Richter und Teufel‹ (L 132) sowie die anonyme Erzählung ›Der König im Bad‹ (L 147). Die ›Liedersaal‹-Handschrift überliefert aber auch zwei neuere Marienmirakel: Ehrenfreunds ›Der Ritter und Maria‹ (L 181) und die anonyme Erzählung ›Der Ritter und der Teufel‹ (L 206).38 h

Heidelberg, UB, Cpg 314

Papier · 249 Bll. · 28,5 × 21 · Augsburg · 1443–1449 Inhalt: Boner: ›Edelstein‹, lat. Prosastücke; Kleinepiksammlung; ›Dietrichs Flucht‹; ›Rabenschlacht‹ Lit.: Miller/Zimmermann: Codices Palatini germanici, S. 56–66; KdiH Bd. 4/1, S. 228–231; Klingner/Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 2, S. 61 f.; Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.2.1.6.

In der eng mit L verwandten Handschrift h sind die beiden geistlichen Erzählungen ›Jagd des Lebens‹ und des Strickers ›Sünder und Einsiedler‹ überliefert.

37 Vgl. Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.2.1.9. 38 Zu diesen beiden Texten vgl. Kap. IV.2.3.

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1.2 Sammelinteressen, Ausstattungsprofile, Rezeptionskontexte 1.2.1 Textverbünde und Sammelinteressen Beim Überblick über die Kleinepiksammlungen wurde deutlich, dass manche Texte wiederholt gemeinsam auftreten. Solche Überlieferungsverbünde gehen teilweise wahrscheinlich schon auf ältere Überlieferungsstufen zurück. In seiner Studie zur Überlieferung des Stricker-Corpus kam Hans-Joachim Ziegeler zum Schluss, dass die Redaktoren der Kleinepiksammlungen A, H, M, N und E jeweils unabhängig voneinander auf Vorgänger-Sammlungen zurückgegriffen haben. Aufgrund der Anordnung der Texte in den erhaltenen Handschriften erschließt Ziegeler die Existenz von thematisch geordneten Sammlungen mit Stricker-Texten, die von den Redaktoren der erhaltenen Kleinepiksammlungen in mehreren Durchgängen exzerpiert wurden. Dies führte dazu, dass in den erhaltenen Handschriften nur noch kleinere thematische Gruppen vorhanden sind und die Zusammenstellung teilweise disparat wirkt.39 Hinter den (verlorenen) thematischen Sammlungen stand wohl ein ähnliches Sammelinteresse, wie es sich auch in lateinischen Exempelsammlungen fassen lässt: Die einzelnen Texte sollten sich in einer prinzipiell auf Vollständigkeit angelegten Sammlung ergänzen und die thematische Ordnung sollte einen leichten Zugriff auf bestimmte Bereiche ermöglichen. Ein weiterer verbreiteter Überlieferungsverbund ist die Zusammenstellung des Legendenepos ›Barlaam und Josaphat‹ Rudolfs von Ems mit meist vorwiegend geistlicher Kleinepik (vgl. die Handschriften WRaaQ). Den Hintergrund dieser Zusammenstellung bildet möglicherweise ein Interesse an der (religions-) didaktischen Dimension sowohl des Großepos als auch der angehängten kleinepischen Texte. Eine formale Verwandtschaft (auch im ›Barlaam‹ werden oft kurze Parabeln zu Lehrzwecken eingeflochten) könnte die Verbindung begünstigt haben. Diese Vermutung wird bestätigt durch die ebenfalls häufige Zusammenstellung von Kleinepik des Strickers und aus dem Epos herausgelösten, selbständig überlieferten ›Barlaam‹-Parabeln. Eine (verlorene) Sammlung, die vorwiegend geistliche Stricker-Texte und die ›Barlaam‹-Parabeln enthielt, wurde vermutlich in A und HK ausgewertet.40 In der Handschrift N findet sich eine weitere Kombination von ›Barlaam‹-Parabeln und geistlichen Stricker-Stücken, die aber aufgrund der abweichenden Textgestalt auf eine andere Vorlage zurückgeführt werden muss.

39 Ziegeler: Beobachtungen, S. 476 f.; vgl. auch Holznagel: Handschrift, Kap. II.1.2.1. 40 Vgl. Ziegeler: Beobachtungen, S. 485 f.; Holznagel: Handschrift, Kap. II.1.2.1. und Kap. II.2.3.3.2. Ob A und HK auf die gleiche oder nur eine verwandte Vorlage zurückgreifen, ist ungeklärt.

218 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel In den Handschriften MV wurden vorwiegend geistliche Stricker-Texte41 mit Barlaam-Parabeln zusammengestellt, die nicht aus Rudolfs Epos stammen, sondern von diesem unabhängige Bearbeitungen derselben Erzählstoffe darstellen.42 Eine Fokussierung auf geistliche Texte zeigt sich auch bei der Textzusammenstellung der Handschrift k. Es handelt es sich um eine bewusste Auswahl geistlicher Texte aus einer größeren, gemischten Sammlung (K), die mit zusätzlichen Stücken angereichert wurde.43 Das Interesse am religiösen Inhalt scheint dabei stärker gewesen zu sein als das Bewusstsein für die formale Einheit, denn in k wurde auch ein Prosatext aufgenommen. Aus einem größeren Kontext herausgelöst wurde die Gruppe der ›Passional‹Marienmirakel. Diese Texte gingen wohl in einer Vorstufe von HKk einen Verbund mit vier weiteren Marienmirakeln ein (›Unser Frauen Ritter‹, ›Thomas von Kandelberg‹, ›Marien Rosenkranz‹ II und Siegfrieds des Dörfers ›Frauentrost‹). Dass es sich hierbei um eine planvolle Ergänzung handelt, zeigt der Umstand, dass das ›Passional‹-Mirakel 21 ausgelassen wurde, da es vom Stoff her mit ›Marien Rosenkranz‹ II identisch ist. Das Fehlen des ›Passional‹-Mirakels 25 (›Der Judenknabe‹) dürfte durch die Schlussstellung des Textes innerhalb der ›Passional‹-Mirakel bedingt sein. Ursprünglich lag diesem Überlieferungsverbund wohl ein Interesse an Mariendichtung zugrunde, doch es gibt auch Handschriften, in denen nicht-marianische Texte mit einzelnen ›Passional‹-Mirakeln angereichert wurden. Ein Beispiel dafür ist die Handschrift M, deren Kern eine Sammlung geistlicher Stricker-Texte bildet, die möglicherweise schon in einer Vorlage um fünf geistliche Erzählungen erweitert wurde: ›Bonus‹, ›König im Bad‹, ›Passional‹-Mirakel 24 und 10, ›Heller der armen Frau‹. Dass der Status solcher Zusätze bei der Weitertradierung manchmal prekär war, zeigt die mit M verwandte Handschrift V, die von den fünf Zusatztexten nur noch den ›Bonus‹ enthält. Gemeinsam mit Stricker-Texten treten ›Passional‹-Mirakel auch in der Handschrift a auf, gemeinsam mit dem ›König im Bad‹ auch in der verschollenen Klosterneuburger Handschrift.

41 Vgl. Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.2.1.2. Holznagel nimmt an, dass die Handschriften WMV auf Kleinsammlungen zurückgehen, die geistlich geprägt waren. 42 Vgl. Schwab: Barlaamparabeln, S. 5–20. 43 Auch im französischsprachigen Bereich gibt es neben gemischten Kleinepiksammlungen (z.B. Paris, BNF, Ms. frc¸. 837, Ms. frc¸. 19152) auch Sammlungen mit geistlichem Profil (z.B. Paris, BNF, Ms. frc¸. 22928).

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1.2.2 Sammelinteressen als Indizien für Rezeptionskontexte Bei der Betrachtung der Überlieferungsverbünde stellt sich die Frage, welche Personenkreise diese Sammelinteressen hatten, wer die Kleinepiksammlungen in Auftrag gegeben, geschrieben und rezipiert hat. Die Handschrift H wurde in der Forschung mit der böhmischen Adelsfamilie von Michelsberg in Verbindung gebracht.44 Dabei handelt es sich allerdings nur um eine vage Vermutung, die weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Einen eindeutigen Hinweis auf die Verortung in einem historischen Umfeld gibt die Handschrift a durch einen Nachtrag über das Weihnachtsopfer der Frau Turs vom Jahr 1358:45 Nach Christi gepürd drewczehen hundert iar dar nach in dem acht vnd funfczigisten iar hat mein fraw die Tursinn ir ´ opher an gehaben ze weichnachten mit zwelif wienner phenning, vnd daz hat si alle iar gemert mit drin phennigen (Bl. 1ra). Mit der Tursinn ist wohl Katharina Turs gemeint, die Frau des Hans Turs von Rauheneck bei Baden in der Nähe von Wien. Die Handschrift scheint sich spätestens um 1358 im Besitz dieser Familie befunden zu haben; ob sie bereits für die Familie angefertigt wurde, geht aus dem Vermerk nicht hervor. Da die meisten Handschriften kaum historische Informationen über ihre Auftraggeber und Besitzer preisgeben, ist man bei diesen Fragen ganz auf die inhaltlichen Sammelprofile der Handschriften angewiesen, aufgrund derer man versuchen kann, ein Rezipientenprofil zu skizzieren. Dieses Vorgehen ist nicht unproblematisch, da die Sammelprofile nicht immer eindeutig sind und selbst deutlich erkennbare thematische Schwerpunkte nicht ohne weiteres einer bestimmten Personengruppe zugeordnet werden können. Ziegeler hat anhand des ›Marienteils‹ der Handschriften HK, der auch in der geistlich fokussierten Handschrift k übernommen wurde, das Profil einer spezifisch laikalen Frömmigkeit skizziert.46 Dies macht er an dem »theologische[n] Gehalt« der ganzen Sammlung fest, der »eine entschieden laikale Position«47 vertrete. Ausdruck davon seien etwa die ›150 Mariengrüße‹, deren genaue Angaben zur Verrichtung der Gebete (Anzahl der venjen, mindestens eine Stunde des Tages soll mit Beten zugebracht werden) auf ein laikales Publikum hinweisen, das nicht an die monastischen Gebetszeiten gebunden war. In die gleiche Richtung weise das Schlussgebet der ›Mariengrüße‹, das in der Ich-Rolle einer Ehefrau for-

44 Kleinere mhd. Erzählungen (Rosenhagen), S. XXI; Miller/Zimmermann: Codices Palatini germanici, S. 129; Hans-Joachim Behr: Literatur als Machtlegitimation. Studien zur Funktion der deutschsprachigen Dichtung am böhmischen Königshof im 13. Jahrhundert (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 9). München 1989, S. 223–225. 45 Der Eintrag ist ebenfalls abgedruckt bei Menhardt: Verzeichnis I, S. 287–293, hier S. 288. Bei Menhardt findet sich auch die Identifizierung der Besitzerin. 46 Ziegeler: Mariendichtungen, bes. S. 57, 64 f., 70–72. 47 Ziegeler: Mariendichtungen, S. 57.

220 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel muliert ist.48 Auch die ›Passional‹-Marienmirakel mit ihren ritterlichen, einfältigen, armen, aber auf Maria vertrauenden Protagonisten interpretiert Ziegeler als Ausdruck der »Eigenständigkeit und de[s] Eigenwert[s] laikaler Glaubenserfahrung und Frömmigkeit«.49 Ebenso versteht Ziegeler die didaktisch geprägten Texte (›Von dem jüngsten Tag‹, ›Cato‹, ›Magezoge‹, ›Der Seele Kranz‹, ›Warum Gott sein Haupt neigt‹) als Werke, die sich »an ein laikales Publikum [richten], das das Interpretationsmodell vom Widerspruch von Welt-Leben und Seelenheil in Tendenzen zur Weltverachtung forciert oder mit Harmonisierungsversuchen in Tugendkatalogen zu überbrücken versucht«.50 Diese Beobachtungen sind sicher zutreffend. In den ›Mariengrüßen‹ und den ›Passional‹-Marienmirakeln artikuliert sich keine theologisch gelehrte Frömmigkeit; schon die Tatsache, dass die geistliche Kleinepik in der Volkssprache verfasst ist, sowie auch die Übernahme und Instrumentalisierung von Elementen aus der höfischen Literaturtradition lassen vermuten, dass sie sich nicht primär an lateinkundige Kleriker richtet. In vielen Texten des Stricker-Corpus wird explizit die Position des Laien vertreten, der zwischen der Sorge ums eigene Seelenheil und dem Angewiesensein auf die Vermittlung der Kleriker steht. Dies alles deutet darauf hin, dass ein laikales Publikum sich von diesen Texten angesprochen fühlen konnte. Aber waren diese Bezüge so spezifisch, dass sie nur für ein laikales Publikum interessant waren? Wie schwierig es ist, vom Inhalt eines Textes auf sein intendiertes Publikum zu schließen, zeigt etwa Rudolfs von Ems ›Barlaam‹, in dem Weltverachtung und Selbstverleugnung des Protagonisten mit einer extremen Konsequenz vorgeführt werden. Würde man die Erzählung beim Wort nehmen, müsste sie zur Selbstbestätigung von Eremiten geschrieben sein. Dies ist jedoch höchst unwahrscheinlich; sie sollte wohl vielmehr ein breites Publikum erreichen, das Josaphats Bekehrung als Ideal sehen konnte, dessen konsequenter Nachvollzug jedoch keineswegs von jedem verlangt oder gefordert wurde. Am prinzipiellen Vorbild-Charakter der Gestalt Josaphats und der von ihr ausgehenden Faszination änderte dies kaum etwas. Ebenso muss ein Text mit einfacher theologischer Argumentation und Versatzstücken aus der höfischen Literaturtradition nicht zwangsläufig nur für in der Welt lebende Laien gedacht sein. Eine klar umrissene Rezipientengruppe hat Karl Bertau für die Handschrift k in Erwägung gezogen.51 Er sieht in deren Auswahl eine spezifisch auf Frauen

48 Vgl. Ziegeler: Mariendichtungen, S. 64 f. 49 Ziegeler: Mariendichtungen, S. 71. 50 Ziegeler: Mariendichtungen, S. 71. 51 Karl Bertau: Die ›Goldene Schmiede‹ zwischen Rittern und Reuerinnen. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, S. 113–140.

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zugeschnittene Sammlung52 und vermutet als Adressatinnen »Frauen ritterlichen Standes […], die irgendetwas mit dem Heidenkampf des Deutschen Ordens und der Preußenfahrer zu tun haben«,53 »ritterliche Graswitwen«.54 Diese Konkretisierung ist aufgrund der fehlenden historischen Informationen zur Handschrift unzulässig, der Hinweis auf potentielle Rezipientenkreise im Umfeld von religiösen Orden ist aber wichtig. Mitglieder des Deutschen Ordens, die zwischen ritterlicher und monastischer Lebensform stehen, als besonders prädestinierte Rezipienten geistlicher Erzähldichtung in der Volkssprache,55 aber auch Angehörige anderer Orden,56 besonders Laienbrüder und Nonnen, kommen als Rezipientengruppen in Betracht. Auch an der Entstehung volkssprachiger geistlicher Erzähldichtung waren Ordensgeistliche beteiligt, etwa Bruder Philipp, der sein ›Marienleben‹ in der Seitzer Kartause verfasst hat (V. 10120–10129), oder die Zisterzienser von Kappel, die Rudolf von Ems den Erzählstoff von Barlaam und Josaphat vermittelten.57

52 Bertau: Ritter und Reuerinnen, S. 114. 53 Bertau: Ritter und Reuerinnen, S. 115. 54 Bertau: Ritter und Reuerinnen, S. 123, Anm. 24. 55 So widmet etwa Bruder Philipp sein ›Marienleben‹ den Deutschherren: ouch ditz büechelıˆn ich sende / den bruodern von dem diutschen hu ˆs, / die ha ˆn ich lange erkorn ˆ uz, / wan sıˆgern Marıˆen ˆ erent / und den gelouben Christes me ˆrent. Ausgabe: Bruder Philipp der Carthäuser: Marienleben. Hrsg. von Heinrich Rückert (Bibliothek der deutschen Nationalliteratur 34). Quedlinburg/Leipzig 1853 (Nachdruck Amsterdam 1966), V. 10089 ff. 56 So erscheinen etwa in der Gerichtsvision des ›Väterbuchs‹ unter den Erwählten die Angehörigen der Bettelorden, die Eremiten und die Deutschordensritter, vgl. Das Väterbuch. Aus der Leipziger, Hildesheimer und Straßburger Handschrift hrsg. von Karl Reißenberger (DTM 22). Berlin 1914 (Nachdruck Dublin/Zürich 1967), V. 40757 ff. Zum kontrovers diskutierten Verhältnis von ›Passional‹ und ›Väterbuch‹ zum Deutschen Orden vgl. Irina Denissenko: Deutschordenshagiographie und Hagiographie im Deutschen Orden. Wege und Probleme ihrer Erschließung und Zuweisung. In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters im östlichen Europa. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. Hrsg. von Ralf G. Päsler/Dietrich Schmidtke. Heidelberg 2006, S. 125–138; Martin J. Schubert: Das ›Passional‹ und der Deutsche Orden. Verbreitungs- und Tradierungsanalyse anläßlich der DTM-Neuedition. In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters im östlichen Europa. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. Hrsg. von Ralf G. Päsler/Dietrich Schmidtke. Heidelberg 2006, S. 139–155, bes. S. 155. Zur Überlieferungsgeschichte des ›Passionals‹ vgl. auch Richert: Wege und Formen, sowie kritisch dazu Kurt Gärtner: Zur Überlieferungsgeschichte des ›Passionals‹. ZfdPh 104 (1985), S. 35–69. Zum ›Väterbuch‹ vgl. außerdem Marianne Gouel: Das mitteldeutsche ›Väterbuch‹. Ein Missionsbuch des ostdeutschen Raumes? In: Studien zu Forschungsproblemen der deutschen Literatur in Mittel- und Osteuropa. Hrsg. von Carola L. Gottzmann/Petra Hörner (Deutsche Literatur in Mittel- und Osteuropa. Mittelalter und Neuzeit 1). Frankfurt a. M. u.a. 1998, S. 39–78. Bertaus Argumentation baut allerdings auf seinem Verständnis der Texte als Deutschordensliteratur auf. 57 Vgl. Rudolf von Ems: ›Barlaam‹, 5,4 ff.; 402,37 ff.

222 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Dies spricht dafür, dass mit einem regen Austausch zwischen klösterlicher und laikaler Sphäre zu rechnen ist und weder auf der Produzenten- noch auf der Rezipientenseite eine homogene Gruppe stand. Zudem muss bedacht werden, dass Handschriften von einem Umfeld in ein anderes wandern konnten, etwa beim Klostereintritt eines Besitzers oder einer Besitzerin, als Geschenk oder als Erbstück. Selbst wenn die Handschriften also für ein bestimmtes Umfeld geschrieben wurden, können sie später in anderen Kontexten rezipiert worden sein. Eine Festlegung auf konkrete Rezipientengruppen aufgrund der inhaltlichen Profile ist somit nicht nur aus der heutigen Perspektive nicht mehr möglich, sondern hat wohl auch zur Entstehungszeit der Handschriften nur in bedingtem Maß existiert. Vielmehr wird es sich bei den Produzenten und Rezipienten von Kleinepikhandschriften um prinzipiell offene und interagierende Gruppen von Handschriftenredaktoren und Handschriftenbesitzern gehandelt haben, an denen Ordensangehörige, Weltkleriker und Laien gleichermaßen teilhatten. 1.2.3 Ausstattungsprofile als Indizien für Rezeptionskontexte Auch wenn sich die erhaltenen Kleinepiksammlungen keinen historisch fassbaren Personengruppen zuordnen lassen, geben sie doch durch die große Variationsbreite äußerer Merkmale wie Format, Ausstattung und Textpräsentation Hinweise darauf, dass sie für unterschiedliche Rezeptionskontexte und -formen geschaffen wurden. Während die älteste erhaltene Kleinepiksammlung A zwar nur ein mittleres Format, aber doch eine sorgfältige Ausstattung (Schriftniveau, Rubrizierung) aufweist, sind die drei Schwesterhandschriften HKk als repräsentative Folianten angelegt und mit zahlreichen Fleuronne´-Initialen ausgestattet. Diese Handschriften dienen nicht nur der Bewahrung und Weitertradierung der Texte, sondern haben als (Vorzeige-)Objekte auch einen gewissen Geltungsanspruch. Den Gegensatz dazu bilden die drei einspaltigen Oktav-Handschriften MV und Klosterneuburg, Stiftsbibl., Cod. 1244, die wohl eher für die Einzellektüre gedacht waren. Es erstaunt zunächst nicht, dass Kleinepik in verschiedenen Kontexten auf verschiedene Weise rezipiert werden konnte und die Handschriften dementsprechend unterschiedlich gestaltet sind. Bemerkenswert ist jedoch die Korrelation zwischen kleinem Format und Fokussierung auf geistliche Texte, die sich sowohl bei den verwandten Handschriften MV als auch bei der verschollenen Klosterneuburger Handschrift zeigt. Möglicherweise wurden geistliche Texte tendenziell eher in der Einzellektüre rezipiert oder in einem Kontext vorgelesen, in dem repräsentative Aspekte nicht im Vordergrund standen. Dennoch wurde auch bei diesem Handschriftentyp in manchen Fällen Wert auf die Ausstattung gelegt. Das zeigt sich besonders an der Handschrift V, die einige mit Blattgold und Fleuronne´ verzierte Initialen und auf Bl. 3r eine siebenzeilige historisierte Deckfarbeninitiale aufweist. Ein über den linken Seitenrand

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gehender Rankenausläufer der Initiale bildet am unteren Seitenrand ein Medaillon, in dem ein Mönch an einem Schreibpult dargestellt ist (Abb. 4). Durch diese Figur wird das Umfeld klerikaler Schriftproduktion evoziert und deren Autorität und Dignität quasi auf die in der Handschrift enthaltene volkssprachige Kleinepik übertragen. Diese Perspektivierung des Inhalts durch den Buchschmuck passt sowohl zur geistlichen Fokussierung der Sammlung als auch zu der durch das kleine Format suggerierten Benutzung der Handschrift für die andächtige Einzellektüre. Eine historisierte, mit Blattgold verzierte Deckfarbeninitiale findet sich auch auf der ehemaligen Eröffnungsseite der repräsentativen Handschrift H (Bl. 22r): Die I-Initiale von ›Unser vrouwen klage‹ bildet eine Randleiste über den ganzen linken Seitenrand. Der untere Teil der Leiste ist mit Fabelwesen gefüllt, am unteren Seitenrand ist ein in Richtung der Leiste springender Hase dargestellt. Oberhalb der I-Initiale befindet sich in einem Architekturelement (Torbogen, Turm) eine Figur mit rosa Kleid und blauem Mantel, die mit ihrem Blick und einem Zeigegestus auf den Textbeginn hinweist (Abb. 3). Wahrscheinlich handelt es sich bei dieser Figur, ähnlich wie bei der historisierten Initiale der Handschrift V, um eine symbolische Autorfigur,58 die zum Text hinführen soll. Im Gegensatz zum schreibenden Mönch der Handschrift V ist hier aber ein höfisch gekleideter, sprechender (?) Mann dargestellt. Auch wenn es sich bei dieser Art von Autorbildern um ein verbreitetes Bildmuster handelt, hat die Wahl des jeweiligen Autortypus vielleicht doch eine gewisse Aussagekraft – zumal sie auch mit der jeweiligen äußeren Ausstattung und inhaltlichen Fokussierung der beiden Handschriften zusammengeht.59 Neben der äußeren Ausstattung kann in manchen Fällen auch die Präsentation des Textes selbst etwas über die intendierte Rezeptionsform aussagen. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel dafür ist die unterschiedliche Textgestalt der geistlichen Verserzählung ›Der Streit der vier Töchter Gottes‹60 in den drei

58 Miller/Zimmermann: Codices Palatini germanici, S. 129, geben als Deutungsangebote für die Figur: »Autor, Maria?«. Letzteres wäre aufgrund des Eröffnungstextes, ›Unser vrouwen klage‹, zwar denkbar, es fehlen jedoch eindeutige Marienattribute. Der Kopfputz ist aufgrund des abgeblätterten Goldgrunds nicht mehr sehr gut zu erkennen, aber es scheint sich um halblange Locken unter einer kleinen Haube zu handeln – also nicht die für Maria typischen Frisuren, sondern eher ein männlicher Kopfputz. 59 Zu Autorbildern und ihrem Verhältnis zu Handschriftenprofil und Text im Allgemeinen s. Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Gerald Kapfhammer/Wolf-Dietrich Löhr/Barbara Nitsche (Tholos 2). Münster 2007, sowie Ursula Peters: Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts (Pictura et Poesis 22). Köln u.a. 2008, bes. S. 55–96. 60 Zum Inhalt vgl. Kap. II.2.4.

224 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Kleinepiksammlungen HKk. Die Textgestalt ist in allen drei Handschriften ziemlich konstant, es fällt aber auf, dass in den Handschriften Kk ab V. 271 wiederholt lateinische Rubriken auftauchen, die in H fehlen. Dabei handelt es sich um Bibelzitate, die auf das im Text geschilderte Heilsgeschehen Bezug nehmen und nach ihrer Zitation jeweils in die Volkssprache übersetzt werden. Die lateinischen Zitate scheinen ein ursprünglicher Bestandteil der deutschen Verserzählung zu sein, denn auch in H findet sich noch eine Spur davon: Der Schreiber von H schrieb den vierten lateinischen Einschub wohl versehentlich ab, korrigierte seinen Fehler aber dadurch, dass er das letzte lateinische Wort unvollständig ließ und kurzerhand mit dem folgenden Reimpaar zu einem Dreireim verarbeitete: Consilium domini manet in e / Gotes rat sol beste / Ewiklichen immer me (H Bl. 249vb). In Kk steht an dieser Stelle manet in eternum.61 In der Handschrift H wurden also die in der Vorlage offenbar vorhandenen lateinischen Einschübe systematisch ausgelassen. Daraus folgt, dass Kk bei diesem Text nicht von H abhängig sein können, sondern höchstens auf eine gemeinsame Vorlage zurückgreifen.62 Während die Version von Kk durch die lateinischen Zitate einen gewissen gelehrten Anspruch zeigt, wurde dieser in der Version von H bewusst getilgt, vielleicht, um den Text der rein volkssprachigen Sammlung anzugleichen, in die er integriert wurde. Die Handschriften Kk überliefern zwar beide die lateinischen Zitate, weisen aber auch einige Abweichungen auf. K geht mehrmals mit H gegen k, z.B. V. 440 merket HK vs. wizzet k, V. 441 do vnser herregot HK vs. do got k. Daneben gibt es Stellen, an denen HK eine offensichtlich schlechtere Lesart bieten als k, z.B. V. 47 f. Do sich gain got hatte man / Vor vorhte seht do muste er san HK vs. Do sich gegen got het Adam / verwarcht, secht, do mvest er san k und V. 208 f. Der mensche muz ewikeit / Immer haben an ende HK vs. der mensch muez ewich leit63 / immer haben an enden k. Es ist in diesen Fällen schwer zu entscheiden, ob der Schreiber von k die Fehler seiner Vorlage verbessert hat oder ob er tatsächlich eine bessere Vorlage hatte als H und K. Die Vorlage von k kann jedenfalls nicht K gewesen sein. Dies wird durch einen Blick auf die Unterschiede bei den lateinischen Zitaten bestätigt. In k sind die lateinischen Einschübe jeweils doppelt vorhanden, da die Anweisungen des Schreibers für den Rubrikator am Rand noch erkennbar sind.

61 Der Rat Gottes besteht in E[wigkeit]. 62 Auch im volkssprachigen Text gibt es einige Stellen, an denen Kk zusammen gegen H gehen, z.B. V. 86 zwischen dir vnd dem menschen din H vs. zwischen dir vnd dem herre mein Kk und V. 204 geschaffen H vs. geborn Kk. 63 Das l ist in k durch Unterpungierung wieder getilgt. Vom Sinn her muss ewic leit aber die richtige Lesart sein.

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp

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225

K

k (Schreiber)

k (Rubrikator)

1 Ps 84,1164

Misericordia et veritas obviavervnt sibi (248va)

misericordia et veritas obuiauit sibi (102rb)

Misericordia et ueritas obuiauit sibi

2 Ps 84,1165

Ivsticia et pax oschvlate svnt (248vb)

iusticia et pax osculate sunt Iusticia et pax osculate (102rb) sunt

3 Act 13,2266

Inveni Dauid filium Iesse, virum secundum cor meum (248vb)

inveni Dauid filium Iesse Inveni Dauit filium Iesse verum secundum cor meum veruntamen secundum (102rb) cor tuum

4 Ps 32,1167

Consilium domini manet in eternvm (248vb)

consilium domini manet in Consilium domini manet eternum (102rb) in eternum

5 Is 35,468

Dicite pvsillanimis (249ra)

dicite pusillanimes: confortamini (102va)

Dicite pusillanimes: confortamini

6 Ps 121,169

Letatus svm in hiis que dicta svnt michi: in domvm domini (249ra)

letatus sum etc. totum versum (102va)

Letatus sum in hiis que dicta sunt michi: in domum domini ibimus

7 Is 7,1470

Ecce virgo concipiet et pariet filium et vocabitur nomen eius (249ra)

ecce virgo concipiet et filium et uocabitur nomen eius Emanuel (102va)

Ecce uirgo concipiet et pariet filium et vocabitur nomen eius Emanuel

8 Hbr 10,3771/ I Cor 4,572

Veniet dominus et non tardabit et illuminet (249ra)

veniet dominus et non tardabit et illuminat abscondita tenebrarum (102va)

Veniet dominus et non tarbit [sic] et illuminat abscondita tenebrarum

64 Die Barmherzigkeit und die Wahrheit begegneten einander. 65 Die Gerechtigkeit und der Frieden küssten sich. 66 Ich habe David, den Sohn Isais, als einen Mann nach meinem Herzen erkannt (K) – Ich habe David, den Sohn Isais, wirklich nach meinem Herzen gefunden (k Schreiber) – Ich habe David, den Sohn Isais, wirklich nach deinem Herzen gefunden (k Rubrikator) 67 Der Rat des Herrn besteht in Ewigkeit. 68 Sagt denen, die sich fürchten (K) – Sagt denen, die sich fürchten: Ihr werdet getröstet (k) 69 Ich freue mich dessen, was mir gesagt wurde: Ins Haus des Herrn (K) – Ich freue mich etc., den ganzen Vers (k Schreiber) – Ich freue mich dessen, was mir gesagt wurde: Ins Haus des Herrn werden wir gehen. 70 Siehe, eine Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und sein Name wird genannt werden (K) – Siehe, eine Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und sein Name wird Emanuel sein. 71 Der Herr wird kommen und nicht säumen und soll erleuchten (K) – Der Herr wird kommen und nicht säumen und erleuchtet das, was in der Dunkelheit verborgen ist (k). 72 Bei diesem Zitat handelt es sich um eine Kombination von Stellen aus dem Hebräerbrief und dem ersten Korintherbrief. Genau diesen Wortlaut bietet auch die Antiphon CAO 2170.

226 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel K

k (Schreiber)

k (Rubrikator)

9 Gal 4,473

Quando venit ergo sacri plenitudo temporis (249ra)

quando venit ergo plen(itudo) temporis misit (102vb)

Quando uenit ergo plenitudo temporis misit deus filium suum in terris

10 Lc 1,2674

Missus est Gabriel angelus ad Mariam virginem (249rb)

missus est angelus Gabriel Missus est Gabriel ad uirginem (102vb) angelus ad uirginem

11 Mt 26,2675

Accepit panem benedixit (249va)

benedixit (103ra)

12 Mt 26,2676

Conmedite hoc est corpus meum ex hoc omnes (249va)

(conm)edite hoc est corpus Conmedite hoc est corpus (m)eum (103ra) meum

13 Lc 22,1977

Hoc facite in meam conmemoracionem (249va)

(hoc) facite in meam (con)memoracionem (103ra)

hoc facite in meam conmemoracionem

14 Act 1,378

Loquens de regno dei (249vb)

loquebantur de regno patris (103rb)

Loquebantur de regno patris

15 Lc 24,50 f.79

Eleuatis manibus ferebatur in celum (249vb)

eleuatis manibus uerebatur eleuatis manibus in celum (103rb) uerebatur in celum

16 Act 1,1180

Quit statis aspicientes in celum allelvia (250ra)

viri galilei quid [gestrichen: Viri galylei quid aspicitis ammiramini (?) aspicientes in celum in] aspicitis in celum (103va)

17 Act 1,1181

Iesus qui asvmptus est a vobis in celum (250ra)

hic Iesus qui assumptus est hic Iesus qui assumptus a uobis in celum ita veniet est a uobis in celum sic (103va) ueniet etc.

Benedixit et fregit dedit discipulis suis

73 Als nun die heilige Zeit erfüllt war (K) – Als nun die Zeit erfüllt war, schickte er (k Schreiber) – Als nun die Zeit erfüllt war, schickte Gott seinen Sohn auf die Erde (k Rubrikator). 74 Der Engel Gabriel wurde zur Jungfrau Maria gesandt (K) – Der Engel Gabriel wurde zur Jungfrau gesandt (k). 75 Er nahm das Brot, segnete es (K) – Er segnete (k Schreiber) – Er segnete und brach es, gab es seinen Jüngern (k Rubrikator). 76 Esst, dies ist mein Leib, [esst] alle davon (K) – Esst, dies ist mein Leib (k). 77 Dies tut zu meinem Gedächtnis. 78 Er redete vom Reich Gottes (K) – Sie redeten vom Reich des Vaters (k). 79 Mit erhobenen Händen fuhr er gen Himmel. 80 Was steht ihr und schaut in den Himmel? Halleluja (K) – Ihr Männer aus Galiläa, was schaut ihr in den Himmel? (k). 81 Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde (K) – Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird so [wieder]kommen (k).

1 Die Kleinepiksammlung als zentraler Handschriftentyp |

227

Auffallend ist, dass die lateinischen Zitate in K oft syntaktisch unvollständig sind, während in k eher das Bemühen um in sich verständliche lateinische Zitate zu beobachten ist (z.B. bei 7, 8, 17). Allerdings steht bei manchen Abweichungen der Text von K dem Vulgata-Text näher als derjenige von k (z.B. bei 14, 16). Insgesamt entsteht der Eindruck, dass dem k-Schreiber der Umgang mit lateinischem (Bibel-)Text vertrauter war als dem K-Schreiber. Dies zeigt sich schon in seinen Anweisungen für den Rubrikator, die in Kursive mit vielen Abkürzungen geschrieben sind, wie man es von jemandem erwarten kann, der oft lateinischen Text schreibt. Auch der Rubrikator scheint sowohl lateinkundig als auch mit den Bibeltexten vertraut gewesen zu sein. So reichte manchmal ein Stichwort des Schreibers für eine selbständige Ergänzung des Rubrikators aus (6, 9, 11). Besonders deutlich wird dies in der Anweisung letatus sum etc. totum versum (6), die der Rubrikator ausweitet zu Letatus sum in hiis que dicta sunt michi: in domum domini ibimus. Damit geht er über das hinaus, was die Handschrift K an dieser Stelle bietet. Der Rubrikator von k hat aber auch korrigierend eingegriffen. Die Anweisung inveni Dauid filium Iesse verum secundum cor meum (3), bei der der Schreiber (versehentlicherweise?) verum statt virum geschrieben hat, änderte der Rubrikator in Inveni Dauit filium Iesse veruntamen secundum cor tuum. Damit entfernt er sich zwar vom Bibeltext, stellt aber einen in seinen Augen wohl stimmigeren Text her. Die Schreiber von HKk sind mit dem – im Kontext der volkssprachigen Sammlungen seltenen – lateinischen Text ganz unterschiedlich umgegangen: In H wurde der Text völlig getilgt, wohl im Bewusstsein, dass das intendierte Publikum damit nicht viel anfangen konnte. In K wurde der Text beibehalten; er erfüllt eine strukturierende Funktion (Initialen, Rubriken) und verleiht der Erzählung durch die Präsenz der Klerikersprache vielleicht eine gewisse Dignität, die jedoch nicht darauf beruht, dass die Rezipienten die lateinischen Einschübe wirklich verstehen müssen, denn sie werden jeweils in die Volkssprache übersetzt. Die Handschrift k zeigt prinzipiell das gleiche Bild wie K, allerdings wird hier deutlich, dass bei Schreiber und Rubrikator eine Vertrautheit mit lateinischen Texten vorhanden war, die sie (in etwas geringerem Maß) wohl auch bei den Lesern der Handschrift voraussetzten: Während nämlich die lateinischen Rubriken von K immer ausgeschrieben sind, finden sich bei den Rubriken von k etliche Abkürzungen, die vom Leser zumindest rudimentäre Grundkenntnisse der lateinischen Sprache und Schreibweise verlangten. Die Differenzen im Umgang mit den lateinischen Zitaten können somit auch ein Hinweis auf bestimmte Gruppen von intendierten Rezipienten sein. Besonders interessant ist dabei die Korrelation der Voraussetzung einer gewissen Vertrautheit mit lateinischem Text einerseits und der Fokussierung auf geistliche Texte andererseits, die in der Handschrift k zu beobachten ist. Die Präsenz der lateinischen Zitate konnte in dieser Handschrift eine ähnliche Funktion einneh-

228 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel men wie das Autorbild des schreibenden Mönchs in der Handschrift V: Sie perspektivierte die Lektüre der volkssprachigen Texte durch die Evokation der lateinisch-klerikalen Schriftlichkeit und ermöglichte den Rezipienten – wenn sie den lateinischen Text tatsächlich verstanden (weil sie Ordensleute oder besonders gebildet waren?) – eine Bestätigung ihres eigenen Selbstverständnisses als Teilhabende an dieser Schriftkultur.

2 Stoffverwandte Erzählungen als Indikatoren für den diachronen Wandel des Texttyps Betrachtet man den Texttyp im 14. und 15. Jahrhundert aus diachroner Perspektive, lässt sich feststellen, dass auch in diesem Zeitraum zahlreiche neue geistliche Verserzählungen entstanden sind, die in der Überlieferung oft, aber nicht immer im Verbund mit älteren Texten auftreten. Damit stellt sich die Frage, wie die jüngeren Texte auf die kulturellen und literarischen Veränderungen dieser Zeit reagieren, ob sie andere konzeptionelle Modelle oder ästhetische Umsetzungen erkennen lassen als die älteren Texte. Um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wird im Folgenden der diachrone Wandel des Texttyps anhand stoffverwandter älterer und jüngerer Erzählungen untersucht.

2.1 Jüngere (Kurz-)Fassungen älterer Erzählungen 2.1.1 ›Mönch Felix‹ Der Erzählstoff vom Mönch, dem beim Gesang eines Vogels viele Jahre wie wenige Stunden vorkommen,82 ist in drei voneinander unabhängigen, wohl noch aus dem 13. Jahrhundert stammenden Verserzählungen bearbeitet wor-

82 Vgl. Tubach 3378; Nigel F. Palmer: Mönch Felix. In: 2VL 6 (1987), Sp. 646–649; Mai: Mönch Felix; Fritz Müller: Die Legende vom verzückten Mönch, den ein Vögelein in das Paradies leitet. Leipzig 1912. Das von Müller erstellte Stemma aller Fassungen, in dem ›Mönch Felix‹ I als Abkömmling des ›Zweiflers‹ gilt, ist sicherlich nicht haltbar. Wichtigster und ältester Vertreter des Stoffes ist eine französische Fassung, ein Predigtexemplum von Maurice de Sully († 1196), Ausgabe: Paul Meyer: Les manuscrits des sermons franc¸ais de Maurice de Sully. Romania 5 (1876), S. 466–487. Eine weitere, den deutschen Texten nahestehende Fassung findet sich bei Odo von Cheritona, vgl. Le´opold Hervieux: Les fabulistes latins depuis le sie`cle d’Auguste jusqu’a` la fin du moyen aˆge. Bd. 4: Eudes de Cheriton et ses de´rive´s. Paris 1899, P 78.

2 Stoffverwandte Erzählungen als Indikatoren für den diachronen Wandel

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den: ›Mönch Felix‹ (382 V.),83 ›Mönch Felix‹ II (Fragment)84 und ›Der Zweifler‹ (178 V.).85 Ein Zisterziensermönch namens Felix ist äußerst tugendhaft. Eines Morgens geht er nach der Prim aus der Kirche, liest von den Paradiesesfreuden und zweifelt daran. In diesem Augenblick erscheint ein singender Vogel, Felix schließt entzückt das Buch und folgt dem Vogel, den er fangen will. Doch der Vogel fliegt davon. Voller Reue wegen der vertanen Zeit kehrt Felix ins Kloster zurück und bittet den Pförtner, ihn einzulassen. Der Pförtner antwortet, er kenne ihn nicht, und es entspinnt sich ein Streitgespräch. Der Pförtner wirft Felix vor, betrunken zu sein. Auf Felix’ Bitte werden schließlich der Abt und die Ältesten gerufen, doch niemand kennt ihn. Zuletzt wird Felix ins Siechhaus geschickt, wo ein uralter Mönch ihn wiedererkennt: Felix verschwand, als der alte Mönch Novize war. Im Totenrodel lesen die Mönche nach, dass er 100 Jahre abwesend war, er ist aber nicht gealtert, seine Kleider sind nicht verfault. Beim Gesang des von Gott gesandten Vögleins erschienen ihm 100 Jahre wie ein Augenblick.

Von ›Mönch Felix‹ ist eine jüngere, kürzende Bearbeitung indirekt erhalten: Die Handschrift, in der die Bearbeitung stand, ist nicht mehr identifizierbar, der Text ist nur durch den Abdruck von F. W. E. Roth nach einer Abschrift von Helferich Bernhard Hundeshagen greifbar.86 Roth macht keine Angaben zur Handschrift, die Hundeshagen benutzte. Der Sprachstand und die Orthographie des abgedruckten Textes deuten auf das 15. Jahrhundert.87

83 Ausgaben: GA III, S. 613–623; Mai: Mönch Felix, S. 433–448. 84 Überlieferung: Discissus Berlin, Staatsbibl., Fragm. 113/Berlin, Staatsbibl., Mgf 923 Nr. 3/ Berlin, Staatsbibl., Mgq 663. Ausgabe: Franz Pfeiffer: Bruchstücke mittelhochdeutscher Gedichte. ZfdA 5 (1845), S. 423–453 und Ursula Winter: Ein neues Bruchstück mittelhochdeutscher Schwank- und Legendendichtung. PBB 90 (Halle 1968), S. 395–399. Vgl. auch Ursula Winter/ Kurt Heydeck: Die Manuscripta Magdeburgica der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Teil 3: Ms. Magdeb. 170–286 (Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung, Erste Reihe 4,3). Wiesbaden 2008, S. 182. In diesem Discissus befindet sich ein weiteres Fragment einer ansonsten nicht überlieferten geistlichen Verserzählung, ›Der Räuber mit der Kerze‹: Ein Ritter unternimmt seit seiner Jugend Raubzüge. Er ist ansonsten aber freigiebig, geht zur Messe und hat einmal eine Kerze für Maria gestiftet. Als seine Söhne erwachsen sind, reut ihn sein bisheriges Leben, und er fasst den Entschluss, nicht mehr zu rauben. In der Nacht hat er im Traum eine Gerichtsvision, in der er zunächst verdammt wird. Hier bricht der Text ab; höchstwahrscheinlich endete er mit der Rettung des Ritters dank der gestifteten Kerze. 85 Vgl. Nigel F. Palmer: Der Zweifler. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1621 f. Ausgabe: Carl von Hardenberg: Geistliches Gedicht des XIII. Jahrhunderts. Germania 25 (1880), S. 339–344. 86 F[erdinand] W[ilhelm] E[mil] Roth: Mittheilungen aus mhd. Handschriften 2. ZfdPh 28 (1896), S. 33–43, hier S. 35–38. 87 Nhd. Diphthongierung und Monophthongierung durchgeführt, au-Schreibung für mhd. ou, sch-Schreibung vor l und w, Form war für was (außer im Reim); häufige Doppel-s-Schreibung, z.B. gross, dass.

230 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Die Bearbeitung umfasst 105 Verse und ist somit deutlich kürzer als ›Mönch Felix‹ (382 V.). Etwa 60 Verse stimmen ganz oder teilweise überein. Dies zeigt, dass es sich um eine direkte Bearbeitung der älteren Erzählung handelt, die dem Bearbeiter wohl schriftlich vorlag. Die Kürzungen der jüngeren Fassung betreffen vor allem Textteile, die für den Fortgang der Handlung nicht wesentlich sind, etwa den Prolog, das Tugendlob des Mönchs Felix, sein Entzücken über den Gesang des Vögleins, das Gespräch mit dem Pförtner und den Epilog. Als Beispiel für das Vorgehen des Bearbeiters können die Verse dienen, in denen die Zweifel des Mönchs beschrieben werden: ›Mönch Felix‹, V. 60 ff. beide, ougen unde hende Ze unserm herren er huob u ˆ f, der solhe vröude geschuof, Und lobt’ in innenklıˆch(e), daz in dem himel rıˆch(e) Wære vröude aˆne zal. er ist sælik der schouwen sal So ˆ rehte gro ˆz si sıˆn, daz tu ˆ sent zungen, noch diu mıˆn Si vol gründen möhten niht; daˆ ist daz eˆwige lieht, Daz nimmer verleschen mak; diu heilige schrift daz selber jach, Nie kein ouge si gesach, und ouch nie(meˆ) geschach Noch [nie] keines menschen o ˆren möhten si vol hœren, Noch herze vollen denken. dar an begunde er wenken Und[e] du ˆ ht’ in sıˆn unmügelich. do ˆ sante Got von himel rıˆch’ Dar ein klein vogelıˆn, daz kündet’ im die gaudıˆn, Diu in dem himel wære, mit sange lobebære So ˆ rehte wunnenklıˆch ez sank, daz der münch u ˆ f sprank, Daz buoch er ze samen slo ˆz, sıˆn vröude diu waz gro ˆz

Jüngere Bearbeitung, V. 12 ff. Beyde augen und hende Erhob er zu dem herrn:

O got, ich glaubte das gern, Was diss buch mir spricht, Doch ich begreife es nicht. Da kam ein vogelein, Das war gar merklich cleyn,

Doch tat es so minniglichen sang, Dass der mönch aufsprang, Und das buch verschloss. Sein freud die war gross.

Die diskursive Partie, in der der Erzähler über das unvorstellbare Ausmaß der Himmelsfreuden reflektiert, fehlt in der jüngeren Bearbeitung ganz. Die Zweifel des Mönchs werden in der jüngeren Fassung dagegen in direkter Rede wiedergegeben und erhalten eine andere inhaltliche Akzentuierung: Während sie in ›Mönch Felix‹ eine gewisse intellektuelle Anmaßung darstellen (ein Mensch

2 Stoffverwandte Erzählungen als Indikatoren für den diachronen Wandel

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meint, über die Himmelsfreuden urteilen zu können), erscheinen sie in der Bearbeitung eher als Eingeständnis eines intellektuellen Unvermögens trotz guten Willens. Bei der Bearbeitung wurde also nicht nur mechanisch gekürzt, sondern auch inhaltlich geglättet, sodass Felix in der jüngeren Bearbeitung als eindimensionale Figur erscheint. Dazu passt auch, dass im Disput mit dem Pförtner dessen Vorwürfe (Trunkenheit, Wahnsinn) ausgelassen werden, die den Protagonisten in ein schiefes Licht rücken könnten. Mönch Felix interessiert in der kürzenden Fassung nicht so sehr als Identifikationsfigur, sondern vielmehr als schematischer Träger der exemplarischen Handlung. 2.1.2 ›Thomas von Kandelberg‹ Eine Tendenz zur Konzentration auf narrative Partien lässt sich auch in der jüngeren, kürzenden Fassung ›Thomas von Kandelberg‹ II (188 V., 15. Jahrhundert?)88 beobachten, die auf die ältere Erzählung ›Thomas von Kandelberg‹ (350 V., 13. Jahrhundert) Bezug nimmt.89 Die beiden Fassungen haben ca. 80 Verse ganz oder teilweise gemeinsam.

88 Überlieferung: München, BSB, Cgm 714 (Nordbayern, 3. Viertel 15. Jahrhundert), Bl. 206r–209v). Ausgabe der beiden Versfassungen in Scholl: Thomas von Kandelberg, S. 38–56 (zit.). 89 Eine gegenteilige Annahme findet sich bei Scholl: Thomas von Kandelberg, S. 1–33, bes. S. 32 f. Scholl geht davon aus, dass beide Texte unabhängig voneinander auf eine gemeinsame deutsche Vorlage zurückgreifen. Diese Einschätzung beruht allerdings v.a. darauf, dass Scholl zahlreiche Verse von ›Thomas von Kandelberg‹ für spätere Zusätze gegenüber einem von ihm postulierten Urtext hält, was jedoch reine Spekulation bleiben muss. Zum Erzählstoff s. Tubach 4831, 4829 und Scholl: Thomas von Kandelberg, S. 57–83. Grundsätzlich lassen sich zwei Fassungen des Erzählstoffs unterscheiden. Zur ersten Fassung gehören neben der deutschen Verserzählung die lateinische Version von Ps.-Caesarius von Heisterbach: ›Libri VIII miraculorum‹, vgl. Aloys Meister: Die Fragmente der »Libri VIII miraculorum« des Caesarius von Heisterbach. Supplement zu: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 13 (1901), III, 33; London, BL, Add. 18929 (vgl. Catalogue of Romances in the Department of Manuscripts in the British Museum. Bd. II: Hrsg. von H[arry] L[eigh] D[ouglas] Ward. London 1893, S. 659); München, BSB, Clm 5927, Bl. 505; Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/ Klapper: Erzählungen Nr. 59; ›Magnum Speculum Exemplorum‹ (Ausgabe: Johannes Major: Magnum Speculum Exemplorum. Douai 1603, S. 643). In der zweiten Fassung ist Thomas kein Student, sondern noch ein Kind. Da die anderen Kinder seiner Schule zu Weihnachten bzw. Neujahr Geschenke bekommen, er aber nichts hat, ist er traurig und bittet Maria, ihm auch etwas zu schenken. Er bekommt von ihr ein Büchslein und zieht daraus, wie in der ersten Fassung, ein Messgewand oder Bischofsornat hervor. Vertreter dieser Fassung sind Hermann Korners ›Chronica novella‹ (ca. 1430; Ausgabe: Johann Georg von Eckhart: Corpus historicum medii aevi II. Leipzig 1723, Sp. 431–1344, hier Sp. 745); ›Ci nous dit‹ (Ausgabe: Ci nous dit. Recueil d’exemples moraux. Hrsg. von Ge´rard Blangez. 2 Bde. Paris 1979–1986) 624,1–5; Marienmirakelsammlung Berlin, Staatsbibl., Mgo 222 (Ausgabe: Johannes Bolte: Marienlegenden des XV. Jahrhunderts. Alemannia 17 (1889), S. 1–25) Nr. 18.

232 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Viele Partien aus ›Thomas von Kandelberg‹, die für den Fortgang der Handlung nicht unabdingbar sind, wurden in ›Thomas‹ II reduziert, z.B. der Bericht über den Mariendienst des Schülers (›Thomas‹, V. 51–91), die Rede Marias an Thomas (V. 173–190), die Schilderung der freudigen Reaktion des Protagonisten auf Marias Eingreifen (V. 211–232) sowie der Schluss, der vom weiteren Werdegang des Thomas erzählt (V. 295–350). Eine Reduktion von ca. 40 auf gut zehn Verse lässt sich bei der Klage des Thomas über die eingegangene Wette beobachten (›Thomas‹, V. 101–142; ›Thomas‹ II, V. 59–72). Von den Kürzungen sind also hauptsächlich Stellen betroffen, die Reflexionen, Figurenreden oder Beschreibungen von Emotionen enthalten, so dass ›Thomas‹ II einen strafferen, handlungszentrierteren Charakter hat. Neben den in ›Thomas‹ II neu dazugekommenen formelhaften Schlussversen ist nur an einer Stelle eine Erweiterung der jüngeren Fassung gegenüber der älteren zu beobachten, nämlich bei der Beschreibung der Kleinodien der elf Tischgesellen: ›Thomas von Kandelberg‹ (V. 233 ff.)

›Thomas‹ II (V. 131 ff.)

Do wiste der erst ein guldin vingerlin der ander zwei kleider sidin Der dritte ein badelachen genet von hohen sachen Der vierde ein gurtel wol beslagen daz solt er durch sin vrowen tragen Dirre einen butel wurzen vol von golde geworht wol Jener ein huben sidin der eine ein furspan guldin Ez was allez gut ze schowen

Der Erst zog auss ainen gürtel peslagen wol Der Ander aynen seyden pewtel muschat vol Der Dritt ain gut padlachen Das was genet mit hübschen sachen Der vierd praht ain koröckleyn Und sprach das gab mir das m[en]sch meyn Der ffunft ain güldein vorspan Das will ich durch yrn willen tran Der sechst ain güldeins vingerlein Das gab mir das m[en]sch mein Der Sibent ain teffelein drein graben Mit gold und durchschlagen Der achtt ain Seydeins hemdblein Das het vein güldein pörtlein Der Newnt ain Seydein hawben Der zehent ain Silbrein tawben Der aylfft het zwen hentschuch Als ich gelesen han in eim puch

Während der Erzähler der älteren Fassung nach der Aufzählung von sieben Kleinodien (von denen nur die ersten vier nummeriert werden) zur Frage der Gesellen nach dem Kleinod von Thomas übergeht, werden in der jüngeren Fassung akribisch alle elf Geschenke durchgezählt. Diese Tendenz zur Reihenbildung und Systematisierung, das Aufzählen um des Aufzählens und der Vollständigkeit willen, ist typisch für Texte dieser späteren Phase des Texttyps. Es finden sich auch kleinere inhaltliche Umakzentuierungen. So ist etwa im Prolog eine Betonung der geistlichen Perspektive der Erzählung zu beobachten,

2 Stoffverwandte Erzählungen als Indikatoren für den diachronen Wandel

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wenn das ideale Publikum nicht, wie in der älteren Fassung, als Gruppe von Leuten beschrieben wird, die gerne darzu verdagen / wanne si horen sagen / Von hoflichen dingen (V. 5 ff.), sondern als Leute, Die da gern giengen dar / Da sie von got hörten reden clar (V. 7 f.). Eine weitere Änderung zeigt eine Bemühung um detailrealistisches Erzählen. Aus dem emphatisch übertriebenen Ausruf des über die Wette verzweifelten Thomas: Sol ich ze mole daz verzern / des ich mich solde ein iar genern (›Thomas von Kandelberg‹, V. 107 f.) ist in der jüngeren Fassung das nüchtern-realistischere Schol ich an eim tag verzern / Dauon ich mich ain monet solt nern (›Thomas‹ II, V. 61 f.) geworden. Diese Änderungen sind zwar geringfügig, zeigen aber doch, dass der Bearbeiter den älteren Text nicht nur gekürzt, sondern auch an den Erwartungshorizont seiner Zeitgenossen angepasst hat. 2.1.3 ›Der Teufel als Kämmerer‹ Eine kürzende Bearbeitung des ›Passional‹-Mirakels 14 (›Der Teufel als Kämmerer‹) ist in der Marienmirakel-Sammlung der verschollenen Klosterneuburger Handschrift 1244 überliefert.90 Im Gegensatz zu den Kurzfassungen von ›Mönch Felix‹ und ›Thomas von Kandelberg‹ teilt der ›Teufel als Kämmerer‹ II nur ein identisches Reimpaar mit der Langfassung und weicht auch in der Formulierung stark ab. Dennoch kann man aus dem Sammlungskontext schließen, dass der Bearbeiter auf das ›Passional‹-Mirakel Bezug genommen hat. Es lassen sich folgende Bearbeitungstendenzen feststellen: Die lange Vorgeschichte des Protagonisten (Verarmung, Statuserhaltung durch Raubrittertum) fehlt ganz; Figurenreden und Beschreibungen sind stark gekürzt, sodass die Geschichte in 76 Versen erzählt ist, für die der ›Passional‹-Dichter 234 Verse braucht. Die Kurzfassung enthält keine neuen Motive gegenüber der älteren Fassung. Inhaltliche Umakzentuierungen ergeben sich nur ex negativo. Durch das Fehlen der Vorgeschichte ist die Kritik an ausschweifendem Lebenswandel auf Kosten von Witwen und Waisen in der Kurzfassung nicht vorhanden. Da die Verwandlung des Kämmerers in seine wahre teuflische Gestalt und das Erschrecken des Ritters nicht so konkret beschrieben werden, kann die Kurzfassung nicht die gleiche emotionale Wirkung entfalten wie die Langfassung. Während das ›Passional‹-Mirakel mit der Heimkehr des Mönchs endet, steht in der Kurzfassung der veränderte Lebenswandel des Ritters am Schluss. Diese Fokussierung auf den Protagonisten ist im Zusammenhang mit der Mirakelsammlung zu sehen, zu der die Kurzfassung gehört: Dort steht immer die Frage im Zentrum, wie man das Seelenheil erlangen kann. Die Bekehrung des sündigen Ritters ist aus dieser Perspektive interessanter als die Heimkehr des frommen Mönchs.

90 Vgl. dazu Kap. IV.1.1.12.

234 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel 2.2 Unabhängige Bearbeitungen eines Stoffes aus verschiedenen Jahrhunderten: ›Unser Frauen Ritter‹ und ›Von dem armen Ritter‹ Die Bearbeitung älterer Texte ist im Bereich der geistlichen Verserzählungen eher selten.91 Die meisten jüngeren geistlichen Verserzählungen sind unabhängig von den stoffverwandten älteren Erzählungen. Dies ist angesichts der großen Verbreitung geistlicher Erzählstoffe in ganz unterschiedlichen Bereichen (lateinische und volkssprachige Exempla, mündliche Verbreitung in der Predigt) nicht verwunderlich – meist war die ältere geistliche Verserzählung für einen späteren Bearbeiter weniger gut greifbar als andere Bearbeitungen des Erzählstoffes oder war jedenfalls nicht die naheliegendste Quelle. Auch bei voneinander unabhängigen stoffverwandten Erzählungen lassen sich Unterschiede in der ästhetischen und konzeptionellen Umsetzung des Stoffes beobachten, die Aufschluss über den diachronen Wandel des Texttyps geben können, wie dies im Folgenden anhand der Beispiele ›Unser Frauen Ritter‹ (226 V., 13. Jahrhundert) und ›Von dem armen Ritter‹ (575 V., 14. Jahrhundert) gezeigt wird.92 Einige Unterschiede zwischen den beiden Texten sind darin begründet, dass die Verfasser auf abweichende Fassungen des Erzählstoffes zurückgegriffen haben. Aus diesem Grund skizziere ich vor dem Vergleich der beiden Verserzählungen den literarischen Referenzrahmen anhand der erhaltenen Fassungen des Erzählstoffs vom Mädchen namens Maria.93 Die zahlreichen erhaltenen Versionen lassen sich dabei in drei große Gruppen einteilen. Die erste Gruppe wird u. a. durch Ps.-Caesarius: ›Libri VIII miraculorum‹ (III, 4) vertreten:94 Ein reicher Ritter aus Schwaben geht durch eine Stadt und sieht ein schönes Mädchen auf der Straße. Er schickt einen Diener zu den Eltern und bietet Geld für das Mädchen. Die armen Eltern schicken das Mädchen in sein Haus. In der Nacht fragt er nach ihrem Namen, verschont das Mädchen zur Ehre Marias und gibt sie am nächsten Tag samt Geld den Eltern zurück. Er wird im Krieg getötet und auf dem Feld begraben. Maria erscheint daraufhin dem Priester

91 Weitere Beispiele: Hans Rosenplüts Bearbeitung des ›Königs im Bad‹, s. Kap. V.1.2.1.; eine ebenfalls von F. W. E. Roth nach einer Abschrift von Helferich Bernhard Hundeshagen abgedruckte kürzende Bearbeitung des ›Passional‹-Mirakels 4 ›Maria im Turnier‹, vgl. Roth: Mittheilungen, S. 38 f. 92 Ausgaben der Erzählung ›Von dem armen Ritter‹: Schmid: Codex Karlsruhe 408, S. 101–115 (zit.); Herbert Röhnert: Von dem armen Ritter. PBB 48 (1924), S. 472–485, hier S. 472–484 (stark normalisierte Fassung). 93 Tubach 3450. 94 Weitere Vertreter dieser Gruppe: Ps.-Caesarius: ›Libri VIII miraculorum‹ III, 41; die deutschen Prosafassungen in Berlin, Staatsbibl., Mgf 863, B 523/ C 35.

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und befiehlt, ihren Diener angemessen zu bestatten. Der Ritter wird in der Kirche begraben, und der Priester verbreitet die Wundergeschichte. Zur zweiten Gruppe gehört u. a. die Fassung von Vinzenz von Beauvais: ›Speculum historiale‹ VII, 102 f. (S. 259):95 Ein reicher, im Krieg und als Frauenverführer berühmter Ritter kommt mit großem Gefolge zu einem Turnier in der Normandie. Auf einer Burg sieht er ein schönes Mädchen. Er schickt seinen Knecht, der das Mädchen den Eltern abkauft. Dies geschieht an einem Samstag. Im Bett fragt der Ritter nach dem Namen des Mädchens. Sie heißt Maria und beklagt den bevorstehenden Verlust der Jungfräulichkeit, da sie Nonne werden wollte. Der heilige Geist erfüllt den Ritter, und er lässt das Mädchen wegen des Namens und zu Ehren des Marientages (Samstag) unberührt. Am folgenden Tag bringt er das Mädchen in ein Kloster, geht zum Turnier und stirbt dort. Als der Ritter nicht zurückkehrt, beschuldigt die Äbtissin das Mädchen der Lüge. In ihrer Not fleht das Mädchen Maria an, welche ihr erscheint und mitteilt, der Ritter sei im Himmel; man solle ihn auf dem Friedhof begraben. Als Zeichen seiner Auserwähltheit blühe eine in seinem Herzen verwurzelte Rose auf seinem Grab, obwohl Winter ist. Die Äbtissin glaubt dem Mädchen erst, als sie das Zeichen sieht. Dann aber wird der Ritter ehrenvoll bestattet. In der dritten Gruppe, vertreten durch die Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen Nr. 104,96 kauft der Ritter das Mädchen ihren Eltern nicht ab, sondern entführt sie, obwohl sie sich dagegen sträubt und sich auf dem Weg absichtlich in den Dreck fallen lässt. Der Entführer belauscht dann aber ein Gebet des Mädchens zu Maria und ist davon so gerührt, dass er das Mädchen zu ihren Eltern zurückschickt. ›Unser Frauen Ritter‹ Die wohl im 13. Jahrhundert entstandene Verserzählung ›Unser Frauen Ritter‹97 steht der Fassung von Ps.-Caesarius (›Libri‹ III, 4) nahe, enthält aber auch das aus der zweiten Gruppe bekannte Motiv des Turniertodes (anstelle des Kriegs-

95 Weitere Vertreter dieser Gruppe: Johannes Gobi: ›Scala coeli‹ 647; die deutschen Prosafassungen im ›Nürnberger Marienbuch‹ (Nr. 12) und im ›Magnet unserer lieben Frau‹ (München, BSB, Cgm 626, Bl. 287va–288va) sowie, allerdings abweichend, die Fassung des ›Ci nous dit‹ 695,1–5. 96 Weitere Vertreter dieser Gruppe: die wohl von der Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/ Klapper: Erzählungen Nr. 104 abhängige deutsche Prosafassung im ›Magnet unserer lieben Frau‹ (München, BSB, Cgm 626, Bl. 275va–276rb); Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/ Klapper: Erzählungen Nr. 51. 97 Zusammenfassung in Kap. II.1.1.

236 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel todes). Nur in der deutschen Verserzählung ist das Motiv des Ave-Baumes zu finden.98 Die Verserzählung orientiert sich an der Ästhetik der höfischen Literaturtradition. Die Eingangsverse Ein ritter junk der siten pflak, / daz er vil selten ie verlak (V. 1 f.) erinnern an Hartmanns von Aue ›Erec‹. Der Ritter reitet durch aventiure (V. 7) zum Turnier. Er übernachtet bei einem armen Wirt mit einer schönen Tochter und wirbt um diese, was Assoziationen an Erecs Besuch bei Koralus hervorruft. Das Kupplerin-Motiv bringt dagegen einen schwankhaften Zug in die Erzählung, der auch im Streit der Schüler um den Ave-Baum noch einmal aufscheint. Wieder in den höfischen Bereich führen die Motive, dass der Ritter dem Mädchen nach erfolgter Zusage Minnegeschenke macht (kleinot unde kleit, V. 33). Die beleidigte Reaktion des Mädchens auf die Zurückhaltung des Ritters in der Nacht erinnert an die Schilderung der Hochzeitsnacht von Tristan und Isolde Weißhand in Heinrichs von Freiberg ›Tristan‹-Fortsetzung.99 Bei der ausführlichen Turnierschilderung bedient sich der Erzähler ebenfalls der gängigen Topoi aus der höfischen Literatur. Der Text ist für ein Publikum gemacht, das sich mit der höfischen Literatur auskennt, die Anspielungen einordnen kann und Freude daran hat; die Elemente aus der höfischen Literaturtradition werden eingesetzt, um den geistlichen Stoff in ästhetisch ansprechender Weise zu erzählen. ›Von dem armen Ritter‹ Ein Ritter bekommt von seinem sterbenden Vater den Rat, Maria immer zu verehren. Auf dem Weg zu einem Turnier übernachtet er auf der Burg eines armen Ritters, der eine schöne Tochter hat. Der Gast bittet für Geld um eine Nacht mit dem Mädchen. Die Eltern streiten zunächst darüber, ob die Ehre oder das Geld Vorrang haben, entscheiden sich aber schließlich, auf das Angebot des Gastes einzugehen. Nach dem Essen wird das weinende Mädchen an das Bett des Gastes geführt, und er fragt nach ihrem Namen. Als er erfährt, dass sie Maria heißt, lässt er sie unberührt. Die beiden bringen die Nacht stattdessen mit Gesprächen über die Gottesmutter zu. Am nächsten Tag geht der Ritter zum Turnier und wird getötet. Während das Mädchen den Psalter liest und Maria bittet, den Ritter zu beschützen, verkündet ihr eine himmlische Stimme, der Ritter sei bereits gestorben. Vater, Mutter und Tochter beklagen seinen Tod, und der Vater bittet um ein christliches Begräbnis, was der Pfarrer und der Bischof jedoch ablehnen. Da erscheint eine weiße Taube mit einem Himmelsbrief,

98 Möglicherweise könnte ein Zusammenhang bestehen zu dem in der zweiten Gruppe vorhandenen Motiv der Rose, die zur Unzeit (im Winter) auf dem Grab des Ritters blüht und ebenfalls in seinem Mund wurzelt. In Ps.-Caesarius: ›Libri VIII miraculorum‹ (III,41) wird außerdem berichtet, dass die Kleriker am Grab des Verstorbenen nicht nur seinen blühenden und duftenden Leichnam, sondern auch vier brennende Kerzen gefunden hätten, auf denen »Ave Maria« stand, außerdem sei Maria erschienen und habe eine Tafel auf der Brust getragen, auf der in goldenen Lettern »Haec est virgo Maria« geschrieben stand. 99 Vgl. Heinrich von Freiberg: ›Tristan‹, V. 683–841.

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der bestätigt, dass der Ritter in den Himmel aufgenommen worden sei. Der Bischof bestattet ihn daraufhin auf dem Friedhof, und das Mädchen Maria lebt in einer Klause über seinem Grab bis zu ihrem Tod, dann wird sie neben ihm begraben. Eine Weinrebe wächst aus dem Grab des Mädchens und neigt sich auf das des Ritters als Zeichen ihrer keuschen Liebe.

Die wohl im 14. Jahrhundert entstandene100 und in einer Kleinepiksammlung aus den 1430er Jahren unikal überlieferte101 Erzählung ›Von dem armen Ritter‹ steht der zweiten Gruppe des Erzählstoffs nahe: Der Ritter trifft das Mädchen auf einer Burg, nicht in der Stadt; das Mädchen trauert um den Verlust der Jungfräulichkeit (wobei im ›Armen Ritter‹ das Motiv des gewünschten Klostereintritts fehlt); das Mädchen selbst erfährt durch eine Audition (bzw. Vision) vom Tod des Ritters. Während bei Vinzenz von Beauvais eine Rose auf dem Grab des Ritters sowie ein Geheimnis der Äbtissin zum ehrenvollen Begräbnis führen, sind diese Zeichen im ›Armen Ritter‹ durch einen Himmelsbrief ersetzt. Dadurch sind einige inhaltliche Unterschiede zu ›Unser Frauen Ritter‹ bereits benannt, die allerdings nur bedingt mit der Gestaltungsintention der jeweiligen Verfasser zusammenhängen. Aussagekräftiger sind in dieser Hinsicht die Differenzen, die sich auf der Ebene der narrativen Umsetzung und des Umgangs mit Elementen aus der höfischen Literaturtradition beobachten lassen. Wie in der älteren Verserzählung ›Unser Frauen Ritter‹ finden sich auch im ›Armen Ritter‹ zahlreiche Reminiszenzen an die höfische Literatur: Die Übernachtung beim armen Ritter erinnert an den Aufenthalt Erecs bei Koralus; das Gespräch der Eltern über Gut und Ehre nimmt zwei zentrale Begriffe der höfischen Literatur auf; die Klause des Mädchens auf dem Grab des Ritters und die Rebe auf den Gräbern der beiden Liebenden können mit der Klause der Sigune in Wolframs ›Parzival‹ und der Rebe in Heinrichs von Freiberg ›Tristan‹-Fortsetzung assoziiert werden. Doch während die vergleichbaren Elemente in der älteren Erzählung zur ästhetischen Überformung des geistlichen Erzählstoff dienen, erscheinen sie im ›Armen Ritter‹ eher als Negativfolie, vor der sich die religiös

100 Röhnert, der Herausgeber des ›Armen Ritters‹, hielt diesen Text für älter als ›Unser Frauen Ritter‹, da der ›Arme Ritter‹ angeblich auf eine vor 1250 entstandene Fassung zurückgehe, die Röhnert zu rekonstruieren versuchte, vgl. Röhnert: Von dem armen Ritter, S. 485. In dem ›Armen Ritter‹ sind zehn Verse (›Armer Ritter‹, V. 396–405) nahezu unverändert aus der ›Halben Birne‹ (um 1300, V. 41–50) interpoliert worden. Dies muss aber nicht unbedingt bei einer späteren Bearbeitung geschehen sein, sondern könnte auch schon während der Entstehung des Textes stattgefunden haben. Dass der einzige erhaltene Textzeuge höchstwahrscheinlich eine Abschrift ist und auf eine metrisch korrektere Vorstufe zurückgeht, ist naheliegend, allerdings bin ich nicht der Meinung, dass diese Vorstufe, wie Röhnert annimmt, als ein »erzeugnis aus der blütezeit der mhd. dichtung [...] kurz vor der mitte des 13. jh.’s«, also 200 Jahre vor dem erhaltenen Textzeugen, angesetzt werden muss. 101 Karlsruhe, BLB, Cod. k 408, Bl. 15vb–19va.

238 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel inspirierten Handlungen der Figuren und das Eingreifen der transzendenten Mächte als Gegensatz profilieren. Besonders deutlich zeigt sich dieser Unterschied bei der Umsetzung des im Erzählstoff angelegten Skandalons des lasterhaften Angebots. In ›Unser Frauen Ritter‹ wird es durch die Übertragung auf eine Figur aus dem Bereich der Schwankerzählungen, die alte Kupplerin, gewissermaßen marginalisiert: Man kann über deren zweifelhafte Kunstfertigkeit lachen, ohne dass die anderen Figuren dadurch in ein schiefes Licht gerückt werden. Eine ganz andere Perspektive wählt der Erzähler des ›Armen Ritters‹: Dort macht der Ritter selbst den Eltern des Mädchens das lasterhafte Angebot, und durch das darauffolgende Gespräch zwischen den Eheleuten wird die ganze Tragweite des Skandalons ausgelotet. Dabei spielen die Leitbegriffe gu ´t und ere eine zentrale Rolle. Zu Beginn betont der Vater, dass er gu ´t nur mit eren (V. 200) erwerben wolle, und weist das Angebot zurück – eine tugendhafte Reaktion, wie man sie in einer höfischen Erzählung erwarten würde. Doch die Mutter stellt der ›idealistischen‹ Haltung des Vaters ein anderes, ›realistisches‹ Bild der Welt gegenüber: Es sei besser, die (verborgene) Schande in Kauf zu nehmen und dafür das Geld zu haben, um die Tochter später verheiraten zu können, denn: Arme leu ´te seynt vn wert. / Syehe, wie daz gu ´t vor die ere gat; / Vnd wer dez gu ´tes nicht en hat, / Den versmehet alles, da der ist (V. 240 ff.). In dieser Zeitkritik wird deutlich, dass die mit höfischen Idealen aufgeladenen Begriffe guot und ˆ ere – wie sie vom Vater noch verwendet werden – in einer verderbten Welt zu leeren Worthülsen verkommen sind, die nur noch das materielle Gut bzw. einen vordergründigen Anschein von Tugendhaftigkeit bezeichnen. Letzteres zeigt sich auch darin, dass die Frau den Ritter als fru ´mme[n] man (V. 253) bezeichnet, weil er ihr versprochen hat, die Schande zu verschweigen – frum ist also nicht jemand, der keine Schandtat begeht, sondern jemand, der der Welt vorspiegelt, keine Schandtat begangen zu haben. Das eigentliche Skandalon, das Angebot des Ritters, wird hier zum Anlass genommen, einen viel weiterreichenden Missstand zu benennen, nämlich die Verderbtheit einer Welt, in der arme Leute gezwungen sind, ihre Tugendhaftigkeit aufzugeben, um überleben zu können: Daz ist ein iemerlich gewyn, / Daz man offt dorch daz gu ´t / Wieder gotes hu ´lde tu ´t / Vnd auch wieder die ere gar (V. 299 ff.). Auch bei der Beschreibung der vermeintlichen Liebesnacht wird dieses Thema im ›Armen Ritter‹ noch einmal aufgenommen. Dort weint das Mädchen, weil sie iren magetu ´m / [...] Solt geben vmb gu ´t / Dorch ir gro ´ß armu ´t (V. 314 ff.). In ›Unser Frauen Ritter‹ dagegen weint das Mädchen, weil sie die Zurückweisung des Ritters als Kritik an ihrer Schönheit interpretiert.102

102 Dieser Unterschied ist bis zu einem gewissen Grad in den jeweiligen Fassungen des Erzählstoffs begründet, denen die Texte nahestehen: In der ersten Fassung wird nichts von einer Trauer

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Die unterschiedliche Behandlung der Motive vom lasterhaften Angebot und der vermeintlichen Liebesnacht ist symptomatisch für die im Lauf der Zeit sich verändernde Perspektive auf das Verhältnis von weltlicher und religiöser Sphäre. Die diesseitige Welt – und mit ihr alle Formen höfischer Kultur und Literatur – dienen im 14. und 15. Jahrhundert zunehmend als Negativfolie. Vor der verderbten Welt kann man sich nur durch unablässige Hinwendung zu Gott und einen gottgefälligen Lebenswandel schützen. Dieser konzeptionelle Hintergrund trägt dazu bei, dass die didaktische Dimension der Texte mehr Gewicht erhält, wie etwa die ausführliche Lehre des sterbenden Vaters an den Ritter zu Beginn des ›Armen Ritters‹ zeigt (V. 23–50). Auch im Bereich der narrativen Umsetzung sind einige Unterschiede zu beobachten. Im ›Armen Ritter‹ zeigen sich Ansätze der Tendenz zur Reihenbildung und zum Auserzählen, wie sie auch bei der Präsentation der Minnegeschenke in der Kurzfassung ›Thomas von Kandelberg‹ II deutlich wird. So nimmt etwa die Verbreitung der Nachricht vom Tod des Ritters viel Raum ein (V. 418–491), indem zunächst von der Audition der Tochter, dann von dem Bericht der Tochter über diese Audition an die Mutter (genaue Wiederholung des Vorangegangenen in direkter Rede), dann vom Bericht an den Vater erzählt wird. Die Tendenz zur Wiederholung wird auch in der Szene am Grab des Ritters deutlich, in der sich nicht nur die Tochter, sondern auch die Mutter das Haar abschneidet (V. 540 ff.). Dies führt zu einem weiteren Charakteristikum jüngerer Texte: der Vernachlässigung der Handlungslogik zugunsten eines kleinteiligen, vom Einzelmotiv ausgehenden Erzählens. Das zeigt sich besonders an den zahlreichen ›blinden‹ Motiven des ›Armen Ritters‹, die für das Verständnis des Handlungsverlaufs unnötig sind, aber einer Tendenz zur detailrealistischen Schilderung der Vorgänge entsprechen, wie sie ebenfalls in ›Thomas von Kandelberg‹ II festzustellen ist. Dazu zählen beispielsweise die vergebliche Suche des Ritters nach einer Herberge im Dorf (V. 82 ff.), der Hinweis auf die Ausstattung des Ritters mit Wein und Geld für den Fall, dass in einem Dorf kein Wein vorhanden sein sollte (V. 70 ff.) und das Angebot des Ritters auf der Burg, den von ihm mitgebrachten Wein zu trinken (V. 114 ff.), der Hinweis auf das Nachtlager der Knechte (V. 289 f.) und der Umstand, dass der Ritter früh genug aufbricht, um vor dem Turnier noch eine

des Mädchens gesagt, in der zweiten Fassung weint sie über die bevorstehende Schande, weil dadurch ihr Vorhaben, Nonne zu werden, vereitelt wird. Die Erzähler der volkssprachigen Texte haben aber dennoch eine jeweils eigene Akzentsetzung vorgenommen: Das Motiv des über die Zurückweisung enttäuschten Mädchens ist möglicherweise auf den volkssprachigen Erzähler zurückzuführen, und der Erzähler des ›Armen Ritters‹ hat das Motiv des weinenden Mädchens aufgegriffen, um seine weltkritischen Ausführungen zu betonen.

240 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Messe zu hören (V. 386 f.). Diese Erzählweise scheint dem handlungsorientierten Erzählen, wie es bei den kürzenden Bearbeitungen beobachtet werden kann, zunächst zuwiderzulaufen – doch es handelt sich bei den ›unnötigen‹ Ergänzungen eben nicht, wie in älteren Verserzählungen, um differenzierte Darstellungen der Emotionen und inneren Konflikte der Figuren oder um diskursive Reflexionen des Erzählers, sondern ebenfalls um handlungsorientierte Elemente, die der Haupthandlung zur Seite gestellt werden, sie vervollständigen, im Detail ausführen und damit plausibilisieren.

2.3 Die Geschichte vom Teufelsbündler als Paradigma für die Komplexität des literarischen Referenzrahmens Die Umsetzung eines geistlichen Erzählstoffs in deutsche Verse wird von literarischen und kulturellen Gegebenheiten geprägt, die zum jeweiligen Entstehungszeitpunkt der Texte vorherrschten und den literatursystematischen Ort des Texttyps bestimmten. Diese Dynamiken betreffen aber natürlich nicht nur geistliche Verserzählungen, sondern auch lateinische Texte und deutsche Prosaerzählungen, die im gleichen literarischen Referenzrahmen stehen wie die Verserzählungen. Um einen Text angemessen beurteilen zu können, müssen daher zeit-, form- und sprachtypische Aspekte berücksichtigt werden. Diese lassen sich am besten durch den Vergleich einer Erzählung mit stoffverwandten Texten fassen, die sich bezüglich ihrer Entstehungszeit, Form und Sprache unterscheiden. So entsteht ein komplexes Bild des kulturellen und literarischen Referenzrahmens, in den sich ein Text einordnen lässt und von dem er sich zugleich durch seine spezifische Verfasstheit abhebt. Anhand zweier Varianten des Erzählstoffs vom Teufelsbündler,103 die ich ›Maria als Interces-

103 Der bekannteste Vertreter ist wohl das Theophilus-Mirakel. Allerdings ist gerade dieser Stoff nur einmal als mhd. Verserzählung überliefert (›Passional‹-Mirakel 23). Zur Theophilus-Erzählung vgl. Tubach 3572; Überblick der lat. und dt. Fassungen: Konrad Kunze/Hansjürgen Linke: Theophilus. In: 2VL 9 (1995), Sp. 775–782. In anderen volkssprachigen Literaturen und in der bildenden Kunst spielte der Theophilus-Stoff eine wichtige Rolle, vgl. z.B. Michael W. Cothren: The Iconography of Theophilus Windows in the First Half of the Thirteenth Century. Speculum 59/2 (1984), S. 308–341; Michael Trabue Davis: Canonical views. The Theophilus story and the choir reliefs at Notre-Dame, Paris. In: Reading medieval images. The art historian and the object. Hrsg. von Elizabeth Sears/Thelma K. Thomas. Ann Arbor 2002, S. 102–116; Pascal Dumont: Comment inscrire un parcours existentiel dans le temps et dans l’espace. Comparaison entre le Theophilus narratif de Coinci et le Miracle de The ´ophile dramatise´ de Rutebeuf. In: Me´moire en temps advenir (FS Theo Venckeleer). Hrsg. von Alex Vanneste u.a. (Orbis Supplementa 22). Leuven 2003, S. 63–83; Iona McLeery: The Virgin and the Devil. The Role of the Virgin Mary in the Theo-

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sorin‹104 und ›Maria als Ehefrau‹105 nenne, soll im Folgenden ein solches Bild entworfen werden. Maria als Intercessorin Den Stoffkern dieser Variante bildet die Geschichte eines verarmten Menschen, der einen Handel mit dem Teufel eingeht, um wieder reich zu werden. Der Teufel verlangt dafür die Verleugnung Christi, wozu der Verarmte sich in den meisten Versionen bereit findet, und Marias, was der Verarmte ablehnt. Er bereut seine Sünde und bittet in einer Kirche um Vergebung. Maria tritt vor dem erzürnten Jesus als Fürbitterin für den Sünder auf und erwirkt schließlich Gnade für ihn. Ich teile die hier behandelten Fassungen106 nach gemeinsamen Besonderheiten in drei Gruppen. Erste Gruppe: – Caesarius von Heisterbach: ›Dialogus miraculorum‹ II,12 (lat. Prosa, 1. Viertel 13. Jahrhundert) – Ps.-Caesarius: ›Libri VIII miraculorum‹ III,83 (lat. Prosa, spätes 13. Jahrhundert?) – Continuatio Funiacensis107 (lat. Verse, 1. Hälfte 13. Jahrhundert) – Johannes Gobi: ›Scala coeli‹108 661 (lat. Prosa, 1. Hälfte 14. Jahrhundert) – ›Passional‹-Marienmirakel 24 (dt. Verse, spätes 13. Jahrhundert) – ›Großer Seelentrost‹ 3,40 (dt. Prosa, 14. Jahrhundert) – ›Nürnberger Marienbuch‹, Nr. 66 (dt. Prosa, um 1400) – Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863, B 387 (dt. Prosa, 1. Hälfte 15. Jahrhundert) – Exempelsammlung Nürnberg, GNM, Hs. 4028, Nr. 30 (dt. Prosa, 3. Viertel 15. Jahrhundert)

philus Legend and its Spanish and Portuguese Variants. In: The church and Mary. Papers of the Ecclesiastical History Society (Summer 2001/Winter 2002). Hrsg. von Robert Norman Swanson (Studies in church history 39). Woodbridge (Suffolk) 2006, S. 147–156. 104 Tubach 5133. 105 Tubach 5283. 106 Aufgrund der weiten Verbreitung des Stoffes untersuche ich hier nur eine Auswahl der erhaltenen Fassungen. Zu weiteren Fassungen sowie zur Genese des Erzählstoffs s. Rubel: Sünder, S. 109–196. Eine deutsche Verserzählung, die das Intercessionsmotiv, aber nicht das Verleugnungsmotiv enthält, ist der unikal in der verschollenen Klosterneuburger Handschrift 1244 überlieferte ›Räuber‹, vgl. Kap. IV.1.1.12. 107 Vgl. Rubel: Sünder, S. 140–143, mit Abdruck (S. 141 f., zit.). 108 Ausgabe: Jean Gobi: La Scala coeli. Hrsg. von Marie-Anne Polo de Beaulieu (Sources d’histoire me´die´vale). Paris 1991.

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Marienmirakelsammlung Berlin, Staatsbibl., Mgo 222, Nr. 9 (dt. Prosa, 15. Jahrhundert) Das für die erste Gruppe charakteristische Motiv ist die Intercessionsszene zwischen Marienbild und Jesuskind, die meist einen Kniefall Marias vor dem Kind einschließt. Im ›Dialogus miraculorum‹ wird die Handlung in Floreffe in der Diözese Lüttich lokalisiert. Der Protagonist, ein Jüngling, erbt das Gut seines Vaters, bringt einen großen Teil mit Turnieren und Spielleuten durch und muss den Rest seines Besitzes einem anderen Ritter verpfänden. Von seinem schlechten Verwalter erhält der verarmte Jüngling den Rat, den Teufel anzurufen. In einem Sumpf beschwört der Verwalter den Teufel. Nach einigem Zögern verleugnet der Jüngling Christus, weigert sich aber, Maria zu verleugnen. Auf dem Rückweg kommt er mit dem Verwalter an einer Kirche vorbei, geht hinein und betet zu Maria. Der verzweifelte Jüngling wird dabei von eben jenem Ritter belauscht, dem er sein Gut verpfändet hat. Maria bittet Christus, von seinem Zorn abzulassen, doch sie erwirkt erst Gnade für den Sünder, als sie selbst vom Altar herabsteigt und sich vor Christus zu Boden wirft. Durch das Gesehene gerührt, vermählt der Ritter den Jüngling mit seiner Tochter, sodass dieser nach dem Tod des Ritters seinen Besitz zurückerhält. Caesarius hat das relativ ausführlich erzählte Exempel ins zweite Buch des ›Dialogus‹ gestellt, das der Contritio109 gewidmet ist. Deshalb wird dieses Element in der Erzählung besonders betont, etwa beim Eintritt des Jünglings in die Kirche: Tantam ei Dominus propter honorem matris, quam non negaverat, contritionem donare dignatus est.110 Diese Reue ist die Voraussetzung dafür, dass Christus dem Jüngling auf Bitte Marias auch die Strafe für seine Schuld erlassen kann. Deutlich kürzer ist die jüngere Bearbeitung des Exempels bei Ps.-Caesarius, die stark auf den Handlungsverlauf fokussiert. So fehlen nicht nur der Dialograhmen zwischen Mönch und Novize und die Hervorhebung der contritio, sondern auch ›unnötige‹ Elemente und Ausschmückungen, beispielsweise der Vergleich der Verführung des Jünglings mit der Verführung Evas durch die Schlange bzw. des Vogels durch den Vogelsteller (›Dialogus‹: Statim secutus est miserum [d.i. dem bösen Verwalter], tanquam serpentis vocem Eva, quasi sibilum aucupis avicula;111 ›Libri‹: Et statim secutus est villicum112).

109 Reue. 110 Der Herr erachtete es für würdig, ihm zur Ehre der Mutter, die er nicht verleugnet hatte, so große Reue einzuflößen. 111 Auf der Stelle folgte er dem Elenden, so wie Eva der Stimme der Schlange, so wie der Vogel dem Pfeifen des Vogelstellers. 112 Und auf der Stelle folgte er dem Verwalter.

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Auf einer Exzerptversion des ›Dialogus miraculorum‹113 fußt das deutsche Prosaexempel aus der Handschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863, B 387. Der volkssprachige Bearbeiter hält sich sehr eng an den lateinischen Bezugstext, es sind kaum Abweichungen oder Umakzentuierungen festzustellen. Diese Art der Bearbeitung – eine relativ genaue Übersetzung eines lateinischen Bezugstextes – ist im Bereich der deutschen Prosaerzählungen nicht selten und wird vielleicht auch durch die gleiche Form begünstigt. Eine Anpassung des Erzählstoffs an die Gegenwart des Bearbeiters ist nicht festzustellen. Die ›Continuatio Funiacensis‹ enthält eine lateinische Versfassung des Erzählstoffes. Die kurze Erzählung umfasst 70 paarweise gereimte Hexameter und weicht an einigen Stellen stark von den bisher erwähnten Fassungen ab. So gibt es keinen Vermittler, der den verarmten Ritter zum Teufelspakt überredet, sondern er selbst bittet den Teufel um Hilfe. Nach der Weigerung des Ritters, Maria zu verleugnen, wird die Handlung unterbrochen, um einen zweiten Protagonisten vorzustellen (V. 15 f.). Dieser zweite Adlige ist als Gegenfigur zum Teufelsbündler entworfen. Während es von jenem heißt: Delicias mundi sequitur (V. 3)114, ist dieser von der göttlichen Weisheit erfüllt (V. 17), verachtet den ornatum mundi pomposum (V. 19)115 und kümmert sich um die Bedürftigen, für die er ein Hospiz mit einer dazugehörigen Kirche gebaut hat. In diese Kirche tritt nun der Teufelsbündler, um seine Tat zu beklagen. Da er Maria stets mit Fasten am Samstag geehrt hat, schöpft der Sünder Hoffnung und fleht vor dem Marienbild um Gnade. Darauf folgt die Intercessions-Szene mit Marias Kniefall vor Jesus, die von dem tugendhaften Adligen, der sich ebenfalls in der Kirche befindet, beobachtet wird. Dieser erzählt dem Teufelsbündler daraufhin, was er gesehen hat und bietet ihm an, ihn mit seiner Enkelin zu verheiraten und damit wieder reich zu machen. Der Teufelsbündler lehnt jedoch ab, denn: hanc solam querit habere, / Que tanta miserum studuit pietate fouere (V. 65 f.)116. Er zieht sich aus der Welt zurück und widmet sich der Armenpflege. Die Fassung der ›Continuatio‹ funktionalisiert den Erzählstoff nicht für eine spezifische theologische Aussage – im Gegensatz etwa zur Fassung des ›Dialogus Miraculorum‹. Der Fokus liegt hier auf der ästhetischen Dimension des Textes, wie sie in der Versform, dem rhetorischen Schmuck und der Komposition zum Ausdruck kommt. So unterscheidet sich die Versfassung der ›Continuatio‹ von den etwa gleichzeitig entstandenen lateinischen Prosafassungen.

113 London, BL, Add. 18346, Bl. 9vb–10va, vgl. Studer: Exempla, S. 375. 114 Er gab sich den Vergnügnungen der Welt hin. 115 Den angeberischen Schmuck der Welt. 116 Er verlangte nur diejenige zu haben, die sich so sehr bemüht hatte, für den Elenden Gnade zu erwirken.

244 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Die deutsche Verserzählung ›Marias Fürbitte für einen Ritter‹ (›Passional‹Marienmirakel 24, 646 V.) teilt mit der Fassung der ›Continuatio‹ nicht nur die Versform, sondern auch einige inhaltliche Elemente. Dennoch nimmt ›Marias Fürbitte für einen Ritter‹ aufgrund zahlreicher nur hier vorhandener Motive innerhalb der Stofftradition einen besonderen Platz ein. Ein junger Ritter, der auf den Rat seiner Freunde hin geheiratet hat, fährt stets zu Turnieren. Dabei verarmt er, will aber sein standesgemäßes Leben nicht aufgeben. Er kommt auf den Gedanken, dass der Teufel ihm helfen könnte, geht in den Wald und ruft den Teufel. Dieser will ihm Geld verschaffen, wenn er Gott verleugnet. Der Ritter tut dies, hat wieder Geld und führt sein gewohntes verschwenderisches Leben weiter. Als er jedoch Nachschub holen will, verlangt der Teufel auch die Verleugnung Marias, was der Ritter verweigert. Der Teufel entweicht, der Ritter kehrt reumütig heim. In der Zwischenzeit haben seine Feinde einen Krieg gegen ihn angezettelt; sie erobern seine Burg und zerstören sie, die Familie des Ritters stirbt in den Trümmern. Der Ritter selbst kann nur mit Mühe entfliehen. Im Wald trifft er auf zwei Fischer, die ihm seine Kleider stehlen und ihn verprügeln. Er klagt und bereut seine Taten. In einem fremden Land lebt er fortan als Bettler. Eines Abends kommt er auf eine Burg, wo ein Graf ihn empfängt und bewirtet. Am nächsten Morgen bleibt der Ritter nach der Messe in der Kirche und fleht Maria um Gnade an. Der Graf, der auch in der Kirche geblieben ist, sieht, wie das Marienbild bei Christus für den Ritter Fürbitte leistet und schließlich Gnade erwirkt. Der Ritter erwacht und will gehen, der Graf hält ihn aber auf, und der Ritter muss ihm seine Geschichte erzählen. Der Graf berichtet, was er gesehen hat und rät dem Ritter, zur Beichte zu gehen. Der Ritter tut dies und führt ein gottgefälliges Leben bis zu seinem Tod.

Der Anfang der Erzählung erinnert an Caesarius: Der Ritter ist verarmt, weil er stets zu Turnieren fährt. Das Fehlen einer Vermittlerfigur bei der Teufelsbeschwörung hat die deutsche Verserzählung mit der ›Continuatio Funiacensis‹ gemeinsam. Das Motiv, dass der Teufel beim ersten Treffen nur die Verleugnung Gottes verlangt und den Ritter daraufhin für eine Weile sein ausschweifendes Leben weiterführen lässt, ist jedoch – soweit ich sehe – nur im ›Passional‹ vorhanden. Es dient hier zur genaueren Charakterisierung des Protagonisten – denn wie in vielen ›Passional‹-Mirakeln steht auch in ›Marias Fürbitte für einen Ritter‹ die differenzierte Zeichnung der Figur und damit die Schaffung eines Identifikationsangebotes im Vordergrund. Der Ritter wird als Weltkind eingeführt, als sinnelose[r] man (V. 12), der seine ritterlichen Ausschweifungen (werltliche uppekeit, V. 20) aus hoem mute (V. 14) auch dann nicht lassen will, als sein Gut schwindet. Dadurch, dass der Ritter sich selbst entscheidet, in den Wald zu gehen und den Teufel zu rufen, trägt die Figur selbst die Verantwortung für diese Handlung. Die Verblendung des Ritters zeigt sich auch darin, dass er nicht zögert, Gott zu verleugnen, und in seinem fröhlichen Weltleben nach der ersten Verleugnung (V. 106–113). Der Erzähler betont, dass der Ritter es nach dem Teufelspakt genießt, ganz nach seinem Willen leben zu können – doch dieser Wille ist ein unrechte[r] sin (V. 113). Zu dieser Erkenntnis muss der Ritter jedoch in einem langen und schmerzhaften Prozess gelangen.

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Dieser Erkenntnisprozess setzt ein, als der Teufel die Verleugnung Marias fordert und auf den Versuch des Ritters, ihn umzustimmen (V. 155–167), nicht eingeht: do nam der ritter in den mut / daz er ouch solte sterben. / ob er wol kunde erwerben / alle werlt in sıˆne hant, / daz muste wesen doch volant / mit to ˆdes volleiste (V. 184 ff.). Nachdem er sich vom Teufel losgesagt hat, ist er vil beswe ˆrtes mutes (V. 226). Doch er muss die Konsequenzen seiner früheren Vergehen tragen, denn seine Niederlage im Krieg wird vom Erzähler als Strafe Gottes gedeutet: wand er verworfen hete got, / so ˆ hete er leidic strıˆten (V. 242 f.). Erst die Beraubung selbst der weltlichen Kleider durch die Fischer führt den Ritter zur völligen Erkenntnis seiner Schuld und zur Reue: »owe«, sprach er, »ich boser man, / nu ist mir rechte getan / [...] alsus begunde er sich clagen / mit steter ougen vliezen / in in begunde schiezen / di ruwe ir pfile also scharf / daz er gentzlich von im warf / alle vreude uf erden hi (V. 303 f.; 318 ff.). Während diejenigen Episoden, in denen der Protagonist aller seiner weltlichen Ehren beraubt wird (Krieg, Waldfischer) keine Entsprechungen in anderen Ausformungen des Erzählstoffes haben, erinnert die Betonung der Reue wieder an die Hervorhebung der contritio bei Caesarius. Die Schilderung des Bettlerlebens in der Fremde (V. 324–337) greift vielleicht das bei Caesarius angelegte Motiv auf, dass der verarmte Jüngling lieber in der Fremde betteln als daheim arm sein will (cogitabat exsulare, tolerabilius iudicans inter extraneos mendicare, quam inter notos et affines egestatis confusionem sustinere117). Die Figur des Grafen, auf die der Ritter in der Fremde trifft, hat eine Entsprechung im tugendhaften Ritter der ›Continuatio‹: Der Graf ist hoer tugende vol (V. 351), er geht auf der gotlichen strazen (V. 355), hat sein Erbe seinen Kindern überlassen und sich aus der Welt zurückgezogen: sin herze er gentzlichen brach / hin zu gote minnesam (V. 360 f.); er ist es gewohnt, Bettler zu empfangen und zu bewirten. Auch die Szene in der Kirche weist Ähnlichkeiten mit der ›Continuatio‹ auf, etwa bei der Beschreibung der Klage des Teufelsbündlers vor dem Marienbild: mit sinen vusten er sluc / sine brust und sin houbet (V. 408 f.) – Vultum demittit et pectus tundit amare (V. 28)118. In beiden Fassungen sieht der Teufelsbündler die Intercession des Marienbildes nicht selbst, sondern wird erst vom tugendhaften Ritter/Grafen darüber unterrichtet. Die Rede an die Gottesmutter macht in ›Marias Fürbitte für einen Ritter‹ noch einmal den Erkenntnisprozess des Ritters deutlich, denn er kann sein Handeln jetzt richtig einschätzen: owe, ich muz mich immer schamen, / daz ich so rechte blinde / ie kein dime kinde / so torlich leider mir gewarb (V. 446 ff.). Das Motiv eines Heiratsangebots durch den tugendhaften

117 Er überlegte, in die Fremde zu gehen, denn er hielt es für leichter, unter Fremden zu betteln, als unter Bekannten und Nachbarn die Schande der Armut auszuhalten. 118 Er senkte den Kopf und schlug hart an seine Brust.

246 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Adligen fehlt im ›Passional‹-Mirakel ganz. Der Graf rät dem Ritter lediglich, seine Sünden ordnungsgemäß zu beichten, um sich ihrer ganz zu entledigen. Wie der Protagonist der ›Continuatio‹ weiht der Ritter sein weiteres Leben Gott und Maria. Der Fokus liegt in dieser Ausformung des Erzählstoffs auf dem Erkenntnisprozess und der Wandlung des Protagonisten. Dadurch unterscheidet sich die deutsche Verserzählung deutlich von den lateinischen Fassungen, die ihr stofflich am nächsten stehen – bei Caesarius interessiert nicht die Figur an sich, sondern die göttliche Gabe der contritio, in der ›Continuatio‹ liegt der Akzent auf der kunstvollen Komposition der Erzählung, deren Knappheit keine differenzierte Figurenzeichnung zulässt. Zugleich machen die bei einzelnen Motiven evidenten Bezüge zu Caesarius und der ›Continuatio‹ aber auch deutlich, dass ›Marias Fürbitte für einen Ritter‹ bei aller Eigenständigkeit doch fest im literarischen Referenzrahmen verankert ist – die Art der Bezugnahme auf die Stofftradition ist aber eine ganz andere als etwa beim Prosaexempel B 387 aus der Handschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863. Bis zu einem gewissen Grad lassen sich die Unterschiede zwischen der ›Passional‹-Fassung und den anderen Vertretern des Erzählstoffs mit der Entstehungszeit, der Sprache und der formalen Gestalt des Textes erklären. Typisch für eine volkssprachige Erzählung des späten 13. Jahrhundert ist die Konzeption der prinzipiellen Unvereinbarkeit von Weltleben und Gottesdienst, an der der Protagonist zerbricht, und deren Überwindung durch Marias Gnade. Der Protagonist wird als zunächst schlecht handelnde Figur vom Erzähler kritisiert, gleichzeitig zielt die emotionale Funktionalisierung des Erzählten aber auch darauf ab, Sympathie für den Protagonisten zu wecken und ihn – vor allem in und nach seiner Wandlung – zur partiellen Identifikationsfigur zu machen. Die Betonung der emotionalen Dimension und die Präsentation einer schwachen Figur als Sympathieträger unterscheidet die volkssprachige Erzählung etwa von der ›Continuatio‹ und dem Caesarius-Exempel. Die Eigenständigkeit im Bezug auf die Erzähltradition und die differenzierte narrative Umsetzung wiederum unterscheiden die Verserzählung von späteren deutschen Prosaerzählungen. Aus dem 14. Jahrhundert stammt die lateinische Fassung aus Johannes Gobis ›Scala coeli‹, Nr. 661. Johannes bezieht sich explizit auf Caesarius von Heisterbach, von dem er auch die Lokalisierung des Geschehens übernimmt: Refert Cesarius, quod prope Florentiam fuit quidam miles.119 Das Handlungsgerüst stimmt in den beiden Fassungen zwar ungefähr überein, aber die Fassung der ›Scala‹ ist deutlich kürzer. Bei der Intercessionsszene fokussiert Johannes auf den Dialog – vom Niederknien des Marienbildes wird nichts gesagt. Die Bitten Marias sind dafür ausführlicher und mit Bibelzitaten angereichert: Fons miseri-

119 Caesarius berichtet, dass in der Nähe von Floreffe ein gewisser Ritter lebte.

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cordie, qui dixisti: ›Nolo mortem peccatoris et cetera‹ (Ez 33,11)120; in quacumque die ingemuerit peccator, omnium iniquitatum eius non recordabor (Ier 31,34; Ps 138,3).121 Auch am Ende der Erzählung, das am stärksten von Caesarius abweicht, hat Johannes Gobi Bibeltext eingeflochten. Zwar befindet sich auch in der Fassung der ›Scala coeli‹ ein Mann hinter einer Säule in der Kirche, der Zeuge der Intercession wird, doch das Angebot des Mannes, den Teufelsbündler mit seiner Tochter zu verheiraten, fehlt – seine Anwesenheit dient nur dazu, die Intercession zu bestätigen;122 stattdessen hört der Teufelsbündler nach der Intercessionsszene eine Stimme (wohl die Stimme Christi), die zu ihm sagt: Surge, uade et amplius noli peccare (Joh 8,11), quia merita Matris Dei te ad penitentiam attraxerunt.123 Durch den Verzicht auf das versöhnliche Ende wird das Thema der Reue und Buße stärker ins Zentrum gerückt. Die Bibelzitate verleihen dem Erzählten zusätzliche Autorität. Die deutsche Prosafassung aus der Exempelsammlung Nürnberg, GNM, Hs. 4028, Bl. 114ra–vb (3. Viertel 15. Jahrhundert) steht in engem Bezug zum Exempel der ›Scala coeli‹. Sie enthält ebenfalls die Berufung auf Caesarius mit der Lokalisierung: Es schreibt ain lerer, der haist Cesarius, vnd geschach pey¨ Florentz jn Walchen (114ra). Während in der ›Scala coeli‹ der Protagonist jedoch negativ charakterisiert wird (deditus uanitatibus mundi et lasciuiis124), wird in der deutschen Fassung nur davon berichtet, dass er verarmt sei. Die Begegnung mit dem Teufel ist ähnlich – wie in der ›Scala‹ verlagt der Teufel auch in der deutschen Fassung drei Verleugnungen (Gott, Heilige, Maria). Kleinere Abweichungen finden sich dagegen in der Intercessionsszene. In der deutschen Fassung schläft der Teufelsbündler nach seiner Klage vor dem Altar ein und sieht die Intercession nur im Traum. Das Ezechiel-Zitat in der Rede Marias fehlt, doch das Jeremias/PsalmZitat ist vorhanden. Auch der Hinweis darauf, dass Christus dem Teufelsbündler wegen seiner Liebe zu Maria vergibt, erscheint in beiden Fassungen (›Scala‹: Dimissa sunt ei peccata omnia, quoniam te dilexit multum;125 dt. Fassung: vnd jm sey¨ vergeben all sein sündt, darumb das er dich hat lieb gehabt, 114va). Das Motiv des Zuschauers hinter der Säule wird in der deutschen Fassung erst nach der

120 Du Quelle der Barmherzigkeit, der du gesagt hast: Ich will nicht den Tod des Sünders etc. 121 Wenn eines Tages einmal der Sünder [über seine Sünde] seufzt, dann werde ich mich an all seine Sünden nicht mehr erinnern. 122 In manchen Textzeugen der ›Scala coeli‹ fehlt diese Bestätigung im Dialog mit dem Teufelsbündler, wodurch die Präsenz des Mannes hinter der Säule zu einem blinden Motiv wird, vgl. die Fassung in der Ausgabe von Polo de Beaulieu. 123 Steh auf, geh hin und sündige von nun an nicht mehr, denn die Verdienste der Gottesmutter haben dich zur Reue bewegt. 124 Er war den Vergnügungen und der Lust der Welt zugetan. 125 Ihm sind alle Sünden vergeben, weil er dich sehr geliebt hat.

248 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Intercessionsszene eingeschoben und handlungslogisch eingebunden: Der Zeuge bestätigt dem Teufelsbündler, dass seine Traumvision tatsächlich stattgefunden hat. Es ersetzt damit das in der deutschen Fassung fehlende Motiv der himmlischen Stimme. Im Gegensatz zum Exempel der ›Scala coeli‹ wird die deutsche Prosaerzählung durch eine moraldidaktische Anweisung beschlossen: Also süllen wir got pitten, das er vns behuet vor dem guet, daz vns schad sey¨ an sel vnd an leib, vnd das er vns das guet geb, damit wir verdienen das ewig leben (114vb). Diese Fokussierung auf das Thema des rechten Gutes macht im Vergleich zur Einordnung der Erzählung in die Kapitel zur contritio bei Caesarius bzw. zur Virgo Dei Genitrix126 bei Johannes Gobi deutlich, wie flexibel geistliche Erzählstoffe im Hinblick auf ihre inhaltliche Akzentuierung sind. Zur ersten Gruppe gehören drei weitere deutsche Prosaerzählungen aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Die Fassung des um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen ›Großen Seelentrosts‹ fokussiert ganz auf die zentralen Handlungselemente: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Jüngling sein Gut mit höfischen Vergnügungen durchgebracht hat; es gibt keinen Vermittler für den Teufelspakt. Von einem Zögern bei der Gottesverleugnung oder einer inneren Wandlung des Jünglings ist keine Rede. Auch beim Intercessions-Dialog lässt sich Christus nicht lange bitten, sondern erhört Maria sogleich mit dem Verweis darauf, dass er derjenigen, die ihn gesäugt hat, nichts verweigere. Das für Intercessionsszenen typische Maria lactans127-Motiv begegnet auch in der Fassung des um 1400 entstandenen ›Nürnberger Marienbuchs‹ (Nr. 66),128 wird hier aber breiter ausgeführt: ›O du mein vil libes kint, gedenck dar an, das ich dich in meinem junckfrawlichem leib getragen han vnd geseuget mit meinen zarten brustlein vnd das ich dich blosz sah vor mir hangen an dem kreucz vnd gesprecz mit deinem rosen varben blut.‹ Diese Rede evoziert bildliche Darstellungen des Intercessions-Dreiecks, in dem Christus und Maria vor Gottvater knien und auf die Brüste bzw. die blutenden Wunden zeigen, um derentwillen sie um Gnade für den Sünder bitten, wodurch die emotionale Dimension (Mutterliebe und Schmerz Marias) besonders betont wird. Während in der Fassung des ›Großen Seelentrosts‹ die Handlungselemente im Zentrum stehen, wird in der Fassung des ›Nürnberger Marienbuchs‹ v.a. auf die Figurenreden fokussiert (Einleitung des Teufelspakts durch ein Selbstgespräch des Protagonisten; Dialog zwischen Teufel und Jüngling; Gebet des Jünglings zu Maria; Dialog zwischen Maria und

126 Jungfrau und Gottesgebärerin. 127 Stillende Maria. 128 Das Motiv ist auch in älteren Ausformungen des Erzählstoffs zu finden, so etwa in lateinischen Fassung der Handschrift Paris, BNF, Ms. lat. 18134 (1. Viertel 14. Jahrhundert), vgl. den Abdruck bei Rubel: Sünder, S. 149 f.

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Christus). Dies trägt zur Dramatik des Erzählten bei und erleichtert dessen emotionalen Nachvollzug. Während der Teufelsbündler im ›Großen Seelentrost‹ sein Gut dadurch wiedererlangt, dass der Ritter, dem er es verpfändet hat, ihm seine Tochter zur Frau gibt (wie bei Caesarius), ist es im ›Nürnberger Marienbuch‹ ein Unbekannter, der dem Jüngling seine Tochter zur Frau gibt mit der Begründung, wenn Gott ihm so grosz vnmessig genad getan habe, wolle er ihm auch genad tun. Ähnlich handlungsorientiert wie das Exempel aus dem ›Großen Seelentrost‹ ist die Fassung der Marienmirakelsammlung Berlin, Staatsbibl., Mgo 222 (Nr. 9) aus dem 15. Jahrhundert. Der Anfang der Geschichte weicht von den übrigen Fassungen ab, indem der Teufel, der von selbst zum Jüngling kommt, diesen auf einen hohen Berg führt und ihm dort Schätze von Gold und Silber zeigt – eine Assoziation an die Versuchung Christi.129 Das Geschehen ist außerdem in ein anderes soziales Umfeld verlegt: Der Jüngling ist Sohn eines Stadtbürgers, der Unbekannte, der ihm die Hand seiner Tochter anbietet, ain richer burger. Im ›Großen Seelentrost‹ ist der Helfer – wie in den lateinischen Fassungen – ein Ritter, im ›Nürnberger Marienbuch‹ ein edler man. Zweite Gruppe: – Vinzenz von Beauvais: ›Speculum historiale‹ VII, 105–106, S. 260 (lat. Prosa, 13. Jahrhundert) – Johannes Gobi: ›Scala coeli‹ 664 (lat. Prosa, 1. Hälfte 14. Jahrhundert) – Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863, B 525 (dt. Prosa, 1. Hälfte 15. Jahrhundert) – ›Magnet unserer lieben Frau‹, München, BSB, Cgm 626, Bl. 283va–284va (dt. Prosa, 2. Häfte 15. Jahrhundert) Die zweite Gruppe unterscheidet sich von der ersten hauptsächlich durch die Gestaltung der Szene in der Kirche: In der zweiten Gruppe findet keine eigentliche Intercession statt; das Marienbild verneigt sich nur vor dem Teufelsbündler, um sich dafür zu bedanken, dass er sie nicht verleugnet hat. Bei Vinzenz von Beauvais ist die Handlung in Aquitanien lokalisiert. Zu Beginn wird von einem Ritter und seinem Lehnsmann berichtet, der nach dem Tod des Ritters die Erziehung von dessen Sohn übernimmt. Der böse Verwalter der ersten Gruppe erscheint hier also als guter Lehnsmann. Der Jüngling wird jedoch durch seine Altersgenossen zu einem ausschweifenden Leben in den Wirtshäusern verführt und verliert so seinen ganzen Besitz, den der gute Lehnsmann aufkauft. Ein Zauberer bietet dem verarmten Jüngling Hilfe an und reitet in der Abenddämmerung mit ihm aus der Stadt, um ein ganzes Heer von Teufeln

129 Ein ähnlicher Anfang findet sich auch in einem Exempel aus dem ›Nürnberger Marienbuch‹ (Nr. 79).

250 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel anzutreffen – als der Jüngling Maria jedoch nicht verleugnen will, schickt der erboste Zauberer ihn fort. Der Jüngling geht klagend in eine Kirche, in der gerade die Vigil zu Mariae Himmelfahrt gefeiert wird. Das Marienbild verneigt sich vor ihm, ohne dass er es sieht. Zur Matutin kommt der gute Lehnsmann in die Kirche und ist verärgert über die Anwesenheit des Jünglings, den er für einen Heuchler hält. Doch als er den Gnadenbeweis des Marienbildes sieht, fragt er den Jüngling, was er getan habe. Dieser erzählt alles, der Lehnsmann gibt ihm seine einzige Tochter zur Frau und damit seinen Besitz zurück. Das Exempel ist bei Vinzenz zwar auch im ritterlichen Umfeld angesiedelt, der Jüngling verschleudert seinen Besitz aber nicht durch höfische Vergnügungen wie Turniere und Spielmannsmusik, sondern lässt sich zu den Lastern der Gula und der Luxuria hinreißen. Die Ersetzung der eigentlichen Intercessionsszene durch die Verneigung des Marienbilds führt zu einer anderen Bewertung der Geschichte: Die Gnade Marias und die Wirksamkeit des Mariendienstes (Ablehnung der Verleugnung) werden in den Vordergrund gerückt, während in der ersten Gruppe eher die Schwere der Schuld (indem Christus sich zunächst weigert, dem Sünder zu vergeben) und die Wirksamkeit der Fürbitte Marias betont werden. Eine volkssprachige Bearbeitung des Exempels aus dem ›Speculum historiale‹ findet sich in der Prosaexempelsammlung ›Der Magnet unserer lieben Frau‹. Der Bearbeiter hält sich vom Handlungsverlauf her eng an die Fassung von Vinzenz, hat aber stark gekürzt und vereinfacht. So wird beispielsweise die Vorgeschichte in einem Satz zusammengefasst: es ist gewessen ain y¨unger ritter, der verzeret nach dem todt seines vatters, was er het vnd must petlen (283va). Ein konkreter Grund für die Verarmung des Jünglings – bei Vinzenz: seine Lasterhaftigkeit – wird hier nicht genannt. Die Figur des guten Lehnsmanns wird erst in der Kirchenszene eingeführt. Der Fokus liegt durch diese stringente Erzählweise noch stärker auf dem kausalen Zusammenhang zwischen Ablehnung der Verleugnung und gnädiger Belohnung durch Maria. In der ›Scala coeli‹ des Johannes Gobi findet sich in unmittelbarer Nähe des Exempels Nr. 661 (einem Vertreter der ersten Gruppe) eine weitere Fassung des Erzählstoffs, Nr. 664, die zur zweiten Gruppe gehört. Der Jüngling verarmt hier, wie bei Vinzenz, wegen seines lasterhaften Lebensstils (post mortem patris dedisset se male societati, ebrietatibus, ludis et immundiciis130). Die Szene des Teufelspaktes ist jedoch anders gestaltet. Nicht ein Zauberer, sondern ein anderer Ritter vermittelt die Begegnung, und der Teufel verlangt nicht die Verleugnung Gottes und Marias, sondern nur die Verleugnung Marias. Die Weigerung des Jünglings wird nun mit seinem besonderen Mariendienst begründet: Et quia iste juvenis,

130 Nach dem Tod des Vaters gab er sich schlechter Gesellschaft, dem Trunk, dem Spiel und der Wollust hin.

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licet esset malus, qualibet die dicebat istum versum: ›Maria Mater gratie, / Mater misericordie, / Tu nos ab hoste protege, / In hora mortis suscipe.‹131 Statt Maria zu verleugnen, spricht der Jüngling ein Mariengebet – der erzürnte Teufel erwürgt den Vermittler und verschwindet. Die Szene in der Kirche ist zwar kürzer gehalten als bei Vinzenz, aber ähnlich gestaltet. Der Lehnsmann sieht, wie das Marienbild sich vor dem klagenden Jüngling verneigt und erzählt es ihm. Das Motiv der Hochzeit fehlt jedoch, über das weitere Leben des Jünglings wird nur gesagt: recuperatis possessionibus longo tempore in sanctitate servivit Deo.132 Dadurch wird die Tendenz der zweiten Gruppe, auf den Mariendienst und seine Belohnung zu fokussieren, in dieser Fassung noch intensiviert: Der Jüngling dient Maria schon vor dem Teufelspakt und begeht keine Verleugnungs-Sünde, wegen derer Maria als Intercessorin auftreten müsste. Noch weiter geht in dieser Hinsicht die deutsche Prosafassung aus der Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863, Nr. B 525. Der Protagonist dieser Fassung, ein junger Edelmann, verehrt ein Marienbild in seiner Burgkapelle, führt ansonsten aber ein lasterhaftes Leben und verarmt dadurch. Er verkauft seine Burg und bettelt in der Fremde. Als er nach einiger Zeit wieder in die Heimat kommt, geht er in die Burgkapelle, um wie früher vor dem Marienbild zu beten. Der neue Burgherr beobachtet, wie das Bild sich vor dem Jüngling verneigt, erzählt ihm dies und verheiratet ihn mit seiner Tochter. Das Teufelspakt-Motiv ist in dieser Fassung ganz weggefallen, sie ist auf das Kausalitätsverhältnis von Mariendienst und Belohnung reduziert. Zwar steht ihr Bezug zur Stofftradition der Teufelsbündler-Erzählung aufgrund zahlreicher gemeinsamer Motive außer Frage, aber die inhaltliche Akzentuierung und Wirkungsintention ist eine ganz andere als in der ersten Gruppe oder auch bei Vinzenz. Dieses Beispiel macht deutlich, wie flexibel der Umgang mit geistlichen Erzählstoffen und wie komplex die Bezüge innerhalb des literarischen Referenzrahmens sein konnten. Dritte Gruppe: – Jakob von Vitry (Crane) 296 (lat. Prosa, 1. Hälfte 13. Jahrhundert) – ›Militarius‹ (lat. Verse, 13. Jahrhundert) – Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen, Nr. 63 (lat. Prosa, Mitte 14. Jahrhundert)

131 Denn dieser Jüngling sprach, obwohl er schlecht war, jeden Tag diesen Vers: Maria, Mutter der Gnade, Mutter der Barmherzigkeit, beschütze uns vor dem Feind, nimm uns in der Todesstunde [bei dir] auf. 132 Nachdem er seine Güter zurückerhalten hatte, diente er Gott lange Zeit mit einem frommen Leben.

252 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel – ›Der Ritter und der Teufel‹ (dt. Verse, 14. Jahrhundert?) – ›Der verzweifelte Ritter‹ (dt. Verse, 15. Jahrhundert?) – ›Nürnberger Marienbuch‹, Nr. 78 Das auffälligste Charakteristikum der dritten Gruppe besteht darin, dass der Vermittler des Teufelspaktes kein Ritter oder Zauberer, sondern ein Jude ist. Was die Szene in der Kirche betrifft, finden sich sowohl Parallelen zur ersten als auch zur zweiten Gruppe. Eine kurze, handlungsorientierte Fassung dieser Gruppe findet sich bei Jakob von Vitry. Der Protagonist, über dessen sozialen Stand nichts gesagt wird, hat seinen Besitz beim Würfeln verspielt. Er flucht darüber und bittet in seiner Verzweiflung einen Juden um Hilfe, der ihn auffordert, Gott, die Heiligen und Maria zu verleugnen. Als der Protagonist letzteres nicht tun will, schickt der erboste Jude ihn fort. Eines Tages kommt der Protagonist in einer Kirche an einem Marienbild vorbei, das sich vor ihm verneigt. Ein reicher Mann sieht dies, lässt sich seine Geschichte erzählen und verheiratet ihn mit seiner Tochter. Die Szene in der Kirche entspricht somit der zweiten Gruppe. Im Gegensatz zu den meisten bisher behandelten Fassungen tritt bei Jakob der Teufel selbst nicht auf. Ganz anders wird der Erzählstoff im ›Militarius‹133 umgesetzt, einer 331 leoninische Hexameter umfassenden lateinischen Version. Der Protagonist, ein Ritter, hat durch seinen prunkvollen Lebensstil sein Gut verschwendet und sucht Rat bei einem Juden. In der Dämmerung führt dieser den Ritter an einen locus horroris und beschwört den Teufel, der in Gestalt eines Raben erscheint. Nachdem der Ritter sich geweigert hat, Maria zu verleugnen, bereut er seine Tat und kommt am Morgen zur Kapelle eines Dorfes, das einem tugendhaften Ritter gehört. Dieser befindet sich gerade in der Kapelle und sieht, wie die Marienstatue den Christusknaben um Vergebung für den Sünder bittet, während dieser im Gebet eingeschlafen ist. Der alte Ritter lädt daraufhin den jungen zu sich ein und vermählt ihn mit seiner Tochter. Wie bei der ›Continuatio Funiacensis‹ bringt die Versform auch beim ›Militarius‹ einen höheren ästhetischen Anspruch mit sich. Besonders großen Raum nehmen die Dialoge ein, die immer in direkter Figurenrede gehalten sind. Die Figur des Teufelsbündlers gewinnt an Tiefe durch die Schilderung des inneren Konflikts zwischen Furcht und Hoffnung, der ihn vor dem Marienbild in der Kirche bewegt (V. 160 ff.), und durch die Beschreibung seiner Freude, als er von seiner Rettung erfährt (V. 288 ff.). Im Epilog werden die

133 Vgl. Franz Josef Worstbrock: Militarius. In: 2VL 6 (1987), Sp. 527–529. Ausgaben: Der mittellateinische Militarius. Hrsg. von Robert Petsch. In: Petsch, Gehalt und Form. Gesammelte Abhandlungen zur Literaturwissenschaft und zur allgemeinen Geistesgeschichte (Hamburgische Texte und Untersuchungen zur deutschen Philologie II.1). Dortmund 1925, S. 260–276 (zit.); Rubel: Sünder, S. 71–83.

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Qualitäten Marias als consolatrix, mediatrix und auxiliatrix (V. 325)134 gepriesen; der Text schließt mit einer Anrufung Marias. Wohl aufgrund seiner stilistischen Qualitäten scheint der ›Militarius‹ besonders im Schulkontext als lateinische Grundlektüre verbreitet gewesen zu sein.135 Indizien dafür liefern sowohl die Nennung des Textes in Hugos von Trimberg ›Registrum multorum auctorum‹136 als auch die einzelnen Überlieferungszeugen, in denen der Text teilweise mit Glossen und grammatischen Hinweisen für den Gebrauch in der Schule aufbereitet wurde.137 Angesichts der Verbreitung des ›Militarius‹ erstaunt es nicht, dass auch jüngere volkssprachige Texte Bezug auf diese Fassung nehmen, so etwa die deutsche Verserzählung ›Der Ritter und der Teufel‹ aus der ›Liedersaal‹-Handschrift (L 206, 494 V.).138 Ein junger Ritter führt das opulente Leben eines Weltliebhabers und kümmert sich kaum um Gott. Er lebt aber so verschwenderisch, dass er all sein Gut verliert und verarmt. In seiner Not geht er zu einem Juden, der zauberkundig ist. Dieser verspricht, ihm zu helfen, und führt ihn nachts in einen finsteren Wald, wo er den Teufel beschwört, der sogleich in Gestalt eines Raben erscheint. Der Teufel verlangt für seine Hilfe die Verleugnung Gottes, der Ritter willigt ein. Doch als er auch Maria verleugnen soll, verweigert er dies, obwohl der Teufel und der Jude ihn mehrmals dazu auffordern. Weinend läuft er aus dem Wald und kommt in ein Dorf. Ein dort ansäßiger Edelmann hat bereits die Kapelle aufgeschlossen und betet. Der Ritter tritt in die Kapelle, bemerkt den Edelmann jedoch nicht. Vor dem Marienbild wirft er sich nieder und fleht um Erbarmen. Im Gebet schläft er ein, und der Edelmann beobachtet, wie das Marienbild lebendig wird und Maria beim Jesusknaben Fürbitte für den Ritter leistet. Der Ritter erwacht und will gehen, doch der Edelmann tritt ihm entgegen und lädt ihn zum Essen ein. Als der Ritter ablehnt, erzählt ihm der Edelmann, was er gesehen hat. Freudig bedankt sich der Ritter bei Maria. Nach dem Essen fragt der Edelmann seine Frau um ihr Einverständnis, die gemeinsame Tochter mit dem Ritter zu verheiraten. Auch das Mädchen stimmt zu, die Hochzeit wird gefeiert, und die Eheleute leben fortan tugendhaft und gottesfürchtig.

Sowohl die Handlungsstruktur als auch verwandte Formulierungen machen es evident, dass der ›Militarius‹ dem Verfasser von ›Ritter und Teufel‹ als Grundlage gedient hat. Abweichungen finden sich im stilistischen Bereich – der deutsche Text ist deutlich einfacher erzählt und weist weniger rhetorischen Schmuck auf – und bei einigen inhaltlichen Details. So wird der Protagonist in ›Ritter und Teu-

134 Trösterin, Mittlerin, Helferin. 135 Vgl. Rubel: Sünder, S. 59–65. 136 Karl Langosch: Das »Registrum Multorum Auctorum« des Hugo von Trimberg. Berlin 1942, S. 181 (V. 498–499c). 137 Vgl. Rubel: Sünder, S. 60–65, sowie die Beschreibungen der einzelnen Handschriften S. 30–50. 138 Vgl. Rubel: Sünder, S. 176–178.

254 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel fel‹ nicht nur als Weltkind beschrieben, sondern auch als fehlerhafter Christ: Er tett och got nit mer / Den als due juden tunt (V. 14 f.). Das Verarmen des Ritters erscheint deshalb im deutschen Text nicht nur als selbstverschuldete Konsequenz seiner Verschwendungssucht, sondern quasi als Strafe Gottes: Sin gut wart im abgezogen / Do ez got nit me wolt betragen (V. 30 f.). Der erste Besuch des Ritters beim Juden erinnert an einen Aventiure-Eingang aus der höfischen Literatur: Er begund sich vfftriben / Vff den weg vil balde / Jn einen vinsteren walde / Ains juden huz stuont da by [...] Der ritter in daz huz trat / Er was dar komen ane pfat (V. 52 ff., 57 f.). Das Motiv der quasi zufälligen, schicksalhaften Begegnung im Wald ohne Weg ist im ›Militarius‹ nicht vorhanden. Die im ›Militarius‹ breit ausgeführten Dialoge hat der volkssprachige Bearbeiter weitgehend übernommen und nur an wenigen Stellen leicht gekürzt. Der innere Konflikt des zwischen Furcht und Hoffnung schwankenden Ritters (›Militarius‹, V. 160–179) wurde ganz ausgelassen. Dafür enthält der deutsche Text innerhalb der Klage des Ritters vor dem Marienbild einen erzählenden Einschub, der im ›Militarius‹ nicht vorhanden ist. Dieser Einschub umfasst einerseits die Erwähnung des anwesenden Burgherrn, die im ›Militarius‹ erst später erfolgt, und andererseits eine Beschreibung der Handlungen des Ritters, der sich vor dem Altar niederkniet und das Marienbild umarmt. So wird im deutschen Text die Handlungslogik unterstützt (kein ›plötzliches‹ Auftauchen des Burgherrn) und die emotionale Dimension des Erzählten betont. Des weiteren diente der ›Militarius‹ als Grundlage für die wohl im 15. Jahrhundert entstandene strophische Verserzählung ›Der verzweifelte Ritter‹ aus der Colmarer Liederhandschrift München, BSB, Cgm 4997, Bl. 223r–229r (Rheinfranken, um 1460; 53 Str./848 V.).139 Ein junger Ritter verliert sein ganzes Gut wegen seines lasterhaften Lebens. Verzweifelt geht er zu einem Juden, der ihm Hilfe verspricht. In der Nacht beschwört der Jude den Teufel, der in Gestalt eines Raben erscheint. Nachdem der Teufel sich beim Juden über den Zauberbann beklagt hat, ist er bereit, dem Ritter zu helfen, falls dieser Gott verleugnet. Der Ritter tut es. Der Teufel verlangt aber auch die Verleugnung Marias. Dies verweigert der Ritter trotz aller Vorhaltungen des Teufels und des Juden. Er bereut seine Tat und kommt am nächsten Morgen in ein Dorf, wo ein Edelmann bereits in der Kapelle betet. Der Ritter ist zunächst unschlüssig, ob er die Kapelle betreten soll, da er zwischen Verzweiflung und Hoffnung hin

139 Vgl. Frieder Schanze: Der verzweifelte Ritter. In: 2VL 10 (1999), Sp. 320 f.; RSM 3, S. 488–490 (1Frau/23/3). Faksimile der Handschrift: Die Kolmarer Liederhandschrift der Bayerischen Staatsbibliothek München (cgm 4997). In Abb. Hrsg. von Ulrich Müller/Franz Viktor Spechtler/Horst Brunner. 2 Bde. (Litterae 35). Göppingen 1976, hier Bd. 1, Bl. 223r–229r. Zur Handschrift vgl. Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Handschriften aus Cgm 4001–5247 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,7). Wiesbaden 1996, S. 423–444.

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und her gerissen ist. Dann fleht er jedoch vor dem Marienbild um Erbarmen und schläft ein. Der Edelmann beobachtet, wie das Bild lebendig wird und Maria das Jesuskind um Erbarmen bittet. Als der Ritter erwacht, lädt ihn der Edelmann zum Essen ein. Als der Ritter ableht, erzählt ihm der Edelmann, was er gesehen hat. Der Ritter fällt vor dem Marienbild nieder und dankt Maria für ihre Hilfe. Als die Frau des Edelmannes von der Geschichte des Gastes erfährt, schlägt sie vor, ihm die Tochter zur Frau zu geben, was auch schon die Absicht des Edelmannes war. Der Ritter und die Jungfrau werden verheiratet und führen fortan ein gottgefälliges Leben.

Auch beim ›Verzweifelten Ritter‹ sind die direkten Bezüge evident. Diese Erzählung hält sich an einigen Stellen sogar noch enger an den ›Militarius‹ als ›Ritter und Teufel‹, denn auch bei langen Dialogen wurde fast nie gekürzt, sondern eher noch erweitert, so etwa beim Gespräch zwischen Teufel, Teufelsbündler und Jude. Zu Beginn gibt der volkssprachige Verfasser seinem Text allerdings einen eigenen inhaltlichen Akzent, indem er sein Hauptthema, die desperatio, hervorhebt: So fah ich diss getichte an / von einem ritter clüge, / wie der an got verczwifelt het / vnd an den gnaden sin (II,1 ff.). Wie im ›Militarius‹ wird die Armut des Ritters als selbstverschuldet dargestellt, wobei das Laster der Luxuria besonders betont wird: do er sin güt verswendet: / mit wiben het er es verzert / an er in vppikeit (III,6 ff.). Während der Teufelsbündler in der Stofftradition anonym ist, hat er im ›Verzweifelten Ritter‹ einen Namen bekommen: Vlones sün Pilate (IV,2). Im Folgenden wird er allerdings weiterhin nur der ritter genannt, die Funktion der Namensnennung bleibt unklar. Das Thema der desperatio wird beim inneren Konflikt vor dem Marienbild wieder aufgenommen. Während im ›Militarius‹ von einem Kampf zwischen timor und spes (V. 161) die Rede ist, sind es im deutschen Text verczwifelung und hoffenung, die streiten (Str. XXVI). Bei der Klage des Ritters vor dem Marienbild folgt der Verfasser des ›Verzweifelten Ritters‹ dem Bezugstext ›Militarius‹ auch stilistisch, indem er die vae mihi-Anaphern (V. 180 f., 183 f.) übernimmt (XXX,2 f., 5, 9, 13). Die beiden volkssprachigen Verserzählungen stehen sich inhaltlich durch die Bezugnahme auf den gleichen Text zwar nahe, sind jedoch eindeutig voneinander unabhängig. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie an unterschiedlichen Stellen dem lateinischen Text jeweils näher stehen:

256 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel ›Militarius‹140

›Der Ritter und der Teufel‹ (L 206) ›Der verzweifelte Ritter‹

vixit et pro voto, nisus conamine toto, / purpura fulgere mensas epulisque carere / nunquam passus erat [...] (V. 10 ff.)141

In purpur er sich dick clait Die bürger czerten by yn ser Sin tisch stuont ze aller zit berait Biß er zü armüt quam Mit guoter cost vnd win (Str. II,15 f.) Als ains hern tisch sol sin (V. 23 ff.)

Er sass vnd dacht in sinem muo t, daz besser wer ein sterben, oder aber wider ander güt (Str. IV,9 ff.)

unde sedens tristis se verbis inficit istis: / »aut nece mutabor, aut res velud ante lucrabor.« (V. 24 f.)142 quem contemplatur Judaeus et haec sibi fatur: / »res est difficilis, quam quaeris, nec puerilis« (V. 38 f.)143

Der jud zu dem ritter sprach Wie laid mir ist dein vngemach […] Wann din ding ist muelich (V. 81 ff.)

Der jüde gab ym bosen ratt vnd sprach die sach ist swere werlich es ist nit kindes spil daz dü mir hast gesagt (Str. VI,1 ff.)

»Ergo negas Christum?« – »Nego.« Daemon rursus ad istum: / »Teque virum mihi das?« – »Do quod melius mihi fidas.« (V. 86 f.)144

also verswertü dinen got vnd aüch den namen sin? der ritter sprach: ya, ane spot, tüstü den willen myn. Ja, sprach der geist, ich gibe dir vil gütes vnd der ere. Also wirstü myn eygen man? Der ritter sprach: ya. (Str. XII,13–XIII,4)

fit lis orta gravis: timor illic, spes ibi suavis / haec juvat, hic angit, haec allicit illeque plangit, / haec ait: accede! clamat timor: impie, cede! /

Ein strit alda herhebat wart in sym verirten herzen daz ein daz was verzwefelung die hiess yn abe stan Sie stritten wyder einander hart sag ich üch ane scherczen

e

140 Übersetzungen aus Rubel: Sünder, S. 84–91. 141 »Er lebte nach Belieben. Mit ganzer Kraft mühte er sich, dass Purpur auf der Tafel glänzte, und er duldete niemals, dass sie der Speisen entbehrte.« 142 »Daher saß er traurig da und redete sich die Worte ein: ›Entweder werde ich durch den Tod verwandelt werden oder ein Vermögen wie früher gewinnen.‹« 143 »Diesen betrachtete der Jude und sagte Folgendes: ›Die Sache, nach der du fragst, ist schwierig und nicht kinderleicht‹«. 144 »›Also leugnest du Christus?‹ – ›Ja, ich leugne.‹ Der Teufel sagte zu diesem: ›Und stellst du dich als Mann ganz in meinen Dienst?‹ – ›Ja, auf dass besser du mir vertraust.‹«

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›Militarius‹

›Der verzweifelte Ritter‹

vult timor, ut fugiat, ne desperatio fiat, / spes jubet ut mentem sanet et formet paenitentem. / spes tandem vicit, de qua sacra lectio dicit, / quod non confundat, dum fons lacrimabilis undat (V. 161 ff.)145

daz ander was die hoffenung die hiess yn zü hin gan Die arg verczwifelunge sprach ker ab dü bist verlorn dye hoffenung her wider jach ker zu der vsserkoren villicht bitt sie ir liebes kint daz es dir genedig sy verczwifelüng sprach nein herwint ir hilff wont dir nit by¨ Die hoffenung was ye so starck sie riet ym ye daz beste kein sünder nit verzwifeln sol waz sünd er ye getett Enphille dich dem küschen s[t]arck dyn hoffen daz sü veste wan sie ist aller genaden vol villicht hilfft dich ir bett (Str. XXVI,1 ff.).

Die beiden deutschen Verfasser halten sich insgesamt viel enger an den lateinischen Text, als dies etwa bei Adaptationen von ›Legenda aurea‹-Marienmirakeln im ›Passional‹ der Fall ist. Dies könnte insofern auf zeittypische Bearbeitungsweisen zurückgehen, als es denkbar ist, dass in Analogie zum Übersetzungsverfahren bei Prosaerzählungen größere Nähe zu dem als Autorität verstandenen lateinischen Ausgangstext angestrebt wurde; hauptsächlich ist es aber wohl durch die Versform des lateinischen Textes bedingt. Zwar können aufgrund der unterschiedlichen Sprache nicht ganze Versatzstücke (z.B. Reime) übernommen werden, aber der ähnliche Elaboriertheitsgrad in narrativer und stilistischer Hinsicht begünstigt die Nähe zum Bezugstext. Aus der Mitte des 14. Jahrhunderts ist eine weitere lateinische Fassung des Erzählstoffs erhalten: das Exempel aus der Sammlung Breslau, UB, I.F.115 (Klapper: Erzählungen, Nr. 63). Dieses Prosaexempel ist stärker handlungsorientiert als der in Versen verfasste ›Militarius‹. Der verarmte Ritter geht hier zu einem

145 »Ein gewaltiger Streit war entbrannt: Furcht hier und süße Hoffnung dort. Diese erfreute, jene machte Angst; diese lockte an und jene wies ab. Die Hoffnung sagte: Tritt heran! Die Furcht schrie: Geh weg, du Gottloser! Die Furcht wollte, dass er floh, dass er in Verzweiflung geriet; die Hoffnung erfreute, besänftigte den Verstand und ließ Reue reifen. Endlich siegte die Hoffnung, von der die heilige Schriftlesung sagt, dass sie nicht zugrunde gehen lässt, solange die Quelle der Tränen wogt.«

258 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel jüdischen Pfandleiher. Als er nichts mehr zu verpfänden hat, bietet der Jude ihm anderweitige Hilfe an und ruft den Teufel. Der Ritter verleugnet Gott, aber nicht Maria. Nach dem gescheiterten Teufelspakt kommt der Ritter zur Kapelle eines Jagdschlosses, klagt vor dem Marienbild und sieht die Intercessionsszene zwischen Maria und Jesus in einer Vision. Als der Ritter getröstet weggehen will, begegnet er dem Herrn des Jagdschlosses, der die Intercession ebenfalls gesehen hat und ihn reich beschenkt. Die Figur des jüdischen Pfandleihers ist ähnlich gestaltet wie im ›Militarius‹, die Intercessionsszene entspricht der ersten Gruppe. Das Exempel 78 aus dem ›Nürnberger Marienbuch‹ ist eine fast wortgetreue Übersetzung der Fassung aus der Breslauer Sammlung. Nur in ganz wenigen Formulierungsdetails weicht die deutsche Bearbeitung ab. Die Tatsache, dass hier so akribisch genau übersetzt und keinerlei Kürzungen oder Neuakzentuierungen vorgenommen wurden, ist bemerkenswert. Die hier behandelten Texte repräsentieren den Erzählstoff nicht in seiner Gesamtheit, sie sind nur herausgegriffene Beispiele, die aber dennoch einige grundsätzliche Beobachtungen erlauben. Neu entstehende Vertreter des Erzählstoffs beziehen sich immer in irgendeiner Weise auf einen komplexen literarischen Referenzrahmen, der aus bereits bestehenden Vertretern des Erzählstoffs besteht (konkrete Einzeltexte, mündliche Aktualisierungen etc.). Die erhaltenen Vertreter des Stoffs stehen daher in einem engen Geflecht von Bezügen und gegenseitiger Beeinflussung, weisen in ihrer konzeptionellen Akzentsetzung, ihrer ästhetischen Gestaltung sowie in ihrer Art der Bezugnahme auf den Referenzrahmen jedoch eine große Varianz auf. Maria als Ehefrau Der von einem Erzählstoff gebildete literarische Referenzrahmen ist keineswegs in sich geschlossen – es bestehen Beziehungen zu anderen Erzählstoffen, etwa durch gemeinsame Tradierungswege oder durch inhaltliche Interferenzen. Dies soll am Beispiel des Erzählstoffs ›Maria als Ehefrau‹ für den Bereich der deutschen geistlichen Verserzählungen gezeigt werden. Die wohl verbreitetste Fassung dieses Erzählstoffs findet sich in der ›Legenda aurea‹ (Maggioni), Kap. 115,211–244.146 Dort wird berichtet, wie ein mächtiger und reicher Ritter sein Gut in leichtsinniger Freigebigkeit verschenkt, bis er nichts mehr hat. Seine Frau dagegen ist sehr tugendhaft und verehrt Maria. Als der Rit-

146 Auf dieser Fassung basieren u.a. die deutschen Prosafassungen aus der Exempelsammlung Nürnberg, GNM, Hs. 4028, Nr. 23 und dem ›Magnet unserer lieben Frau‹, München, BSB, Cgm 626, Bl. 225rb–226va (beide 2. Hälfte 15. Jahrhundert).

2 Stoffverwandte Erzählungen als Indikatoren für den diachronen Wandel

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ter verarmt ist, kommt ein Festtag, an dem er die Leute zu beschenken pflegte. Vor Scham über seine Armut flüchtet er sich an einen verlassenen Ort, wo ihm der Teufel als furchterregender Reiter begegnet und Hilfe anbietet, wenn er ihm im Gegenzug seine fromme Frau überlassen will. Der Ritter willigt ein und lebt wieder prächtig bis zum festgesetzten Tag, an dem er seiner Frau befiehlt, mit ihm eine Reise zu unternehmen. Die Frau fürchtet sich, ist aber gehorsam. Unterwegs macht sie bei einer Kirche Halt, um sich der Fürsorge Marias zu empfehlen. Die Marienstatue der Kirche nimmt daraufhin die Gestalt der Ehefrau an, vertreibt den Teufel und ermahnt den Ritter, das unrechte Gut zurückzugeben. Der reuige Ritter erzählt seiner Frau, was vorgefallen ist, und Maria verhilft ihnen zu neuem Wohlstand. Das ›Passional‹-Marienmirakel 20 ›Maria rettet einen Ritter um seiner Frau willen‹ (286 V.)147 stimmt in den Grundzügen mit der Fassung der ›Legenda aurea‹ überein, weist aber auch eigene inhaltliche Akzentsetzungen auf. Ein stolzer, junger Ritter fährt oft zu Turnieren und ist sehr freigebig gegenüber den Spielleuten. Dies treibt er solange, bis er verarmt. Seine tugendhafte Frau ist auch freigebig, aber aus Barmherzigkeit gegenüber den Armen. Aufgrund ihrer Marienverehrung ist sie dem Teufel ein Dorn im Auge. Als ein Festtag kommt, an dem der Ritter Leute zu bewirten pflegte, flüchtet er vor Scham in den Wald. Der Teufel erscheint dem Ritter in hässlicher Gestalt auf einem schwarzen Pferd und bietet Hilfe an, wenn der Ritter ihm dafür seine Frau bringt. Der Ritter willigt ein und lebt wieder prächtig. Als das vereinbarte Jahr um ist, lässt der Ritter zwei Pferde satteln. Die Frau fürchtet sich und empfiehlt sich Maria. Unterwegs macht die Frau bei einer Kapelle Halt, um zu beten. Maria nimmt die Gestalt der Ehefrau an und reitet mit dem Ritter weiter. Der herannahende Teufel ist erzürnt über den Ritter, der ihm Maria statt seiner Frau bringt, doch Maria schickt den Teufel wieder in die Hölle. Der Ritter fällt vor Schreck vom Pferd und bittet Maria um Verzeihung. Sie ermahnt ihn, fortan ein besseres Leben zu führen. Bei seiner Rückkehr erzählt der Ritter der Frau, die in der Kapelle geschlafen hat, was vorgefallen ist, und beide leben von nun an tugendhaft.

Im Gegensatz zu vielen anderen ›Passional‹-Mirakeln ist diese Erzählung mit einem relativ langen Prolog (V. 1–13) ausgestattet, in dem der Erzähler die unermessliche Güte Marias betont, die nicht nur ihren Dienern, sondern auch anderen Menschen um ihrer Diener willen helfe. Von einem solchen Fall wird nun berichtet: Horet von eime rittere, / wi er vremder tugent genoz (V. 12 f.). Der Protagonist wird zunächst als junger, höfisch-idealer Turnierritter vorgestellt, der überall gerühmt wird (V. 14–23). Diese positive Beschreibung kippt jedoch ins Negative, als der Grund für diesen Ruhm genannt wird: wand sin gabe was so grob / spilluten und den vrien, / daz sie musten schrien / mit offenlichen worten /

147 Eine wohl auf dieser Erzählung basierende Kurzfassung des Erzählstoffs, ›Maria rettet einen Ritter um seiner Frau willen‹ II, ist in der verschollenen Klosterneuburger Handschrift 1244 überliefert, vgl. Kap. IV.1.1.12.

260 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel sin lob an allen orten (V. 24 ff.). Diesem erkauften weltlichen Ruhm, der in den Ruin führt, stellt der Erzähler das tugendhafte Leben der Ehefrau entgegen: ir man gab spilluten hin, / so liez ir tugenthafter sin / sich die gotes armen / mit milder hant erbarmen (V. 67 ff.). Der im Stoff bereits angelegte Kontrast zwischen den Eheleuten wird hier intensiviert,148 indem auch die Perspektive der Frau auf die Handlungen des Mannes erwähnt wird: ires mannes tobesucht, / daz er so vil in unpflec / durch hochvart gab hin wec, / daz was ir unmazen leit (V. 60 ff.). Die emotional gefärbte Figurenperspektive lädt zur Identifikation ein – und damit zur Erkenntnis, dass das zunächst vielleicht als positiv aufgefasste höfische Gebaren des Ritters als tobesucht zu verstehen ist. Der Ritter erweist sich im Elend als uneinsichtiger mensche sunder sin (V. 85). Er geht ohne Zögern auf den vorgeschlagenen Pakt mit dem Teufel ein und nimmt seine alten Gewohnheiten wieder auf: er gewan sin ouch me / und lebete richlich als e / von disme guten coufe (V. 137 ff.). Die Bewertung des teuflischen Gutes als guten couf muss als Figurenperspektive des Ritters verstanden werden und steht im Widerspruch zur zuvor eingenommenen Perspektive des Erzählers und der Ehefrau – wenn der Rezipient dem Identifikationsangebot gefolgt ist, müsste er hier einen Bruch bemerken und das Geschehen anders beurteilen als der Ritter. Der Protagonist wird erst durch die Konfrontation von Teufel und Maria zur Einsicht gebracht: Als daz der ritter vernam, / diz wunder an im worchte, / daz sin starke vorchte / an dem herzen wart so scharf, / untz si in von dem rosse warf (V. 242 ff.). Auf die Emotion und die körperliche Schwäche folgt die Erkenntnis der Schuld: do viel der trurige man / vor di gotes werden / langes an di erden / und bat di valscheit im vergeben, / daz er so torlich wolde leben / und mit den sunden sich versluc (V. 248 ff.). Der Ritter nimmt nun auch die Perspektive der Ehefrau (und des Erzählers) ein und ändert sein Leben: do wart ouch umme gewant / sin leben, als er liez schouwen. / er volgete siner vrouwen / und karte sich uf tugende me (V. 276 ff.). Während in der Fassung der ›Legenda aurea‹ das böse Gut des Teufels durch Geschenke Marias ersetzt wird, lässt die deutsche Verserzählung offen, ob die Eheleute wieder zu materiellem Wohlstand gelangen. Das könnte damit zusammenhängen, dass der volkssprachige Erzähler den Akzent stärker auf die innere Verfassung bzw. Wandlung der Figuren legt. Wohl aus dem 14. oder frühen 15. Jahrhundert stammt eine weitere deutsche Verserzählung, Ehrenfreunds ›Der Ritter und Maria‹ (L 181, 296 V., 14./15. Jahrhundert).

148 In der französischen Fassung Jehans de St-Quentin, dem ›Dit du povre chevalier‹ (Jehan de Saint-Quentin: Dits en quatrains d’alexandrins monorimes. Hrsg. von Birger Munk Olsen. Paris 1978, Nr. G) ist der Kontrast ebenfalls betont, indem der Ritter zu Beginn als ungläubiger Mensch geschildert wird.

2 Stoffverwandte Erzählungen als Indikatoren für den diachronen Wandel

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Ein Ritter, der eine tugendhafte Frau hat, ist sehr freigebig. Beide Eheleute verehren Maria: Seit neun Jahren feiern sie alle vier Marienfeste, und die Frau spricht zusätzlich jeden Tag ein Mariengebet. Nach und nach verarmt das Ehepaar. Als der Mann einmal ausreitet, wird sein Pferd müde. Er setzt sich hin und wünscht den Teufel herbei. Dieser erscheint prompt als junger Mann. Er verspricht, dem Ritter zu helfen, wenn er Gott und die Heiligen verleugne, was der Ritter auch tut. Der Teufel fordert nun auch die Verleugnung Marias, doch der Ritter verweigert dies. Daraufhin geht der Teufel einen Kompromiss ein und verlangt stattdessen die Frau des Ritters. Dieser verspricht, sie nach Ablauf eines Jahres zu bringen. Sogleich bereut er aber seine Tat. Als das Ehepaar wieder zu Wohlstand gekommen ist, wird der Ritter von seiner Frau gefragt, woher das neue Gut so plötzlich komme, gibt jedoch nur ausweichende Antworten. Nach einem Jahr macht er sich mit seiner Frau auf den Weg, um sie dem Teufel abzuliefern. Unterwegs tritt die Frau in eine Kapelle ein, um ihr Tagzeitengebet zu sprechen, der Ritter fürchtet sich jedoch und bleibt draußen. Er weint und bittet Maria um Hilfe, die ihm – für ihn unsichtbar – die Tränen von den Wangen wischt. In der Gestalt seiner Frau kommt Maria aus der Kapelle. Als der Teufel herannaht, bringt Maria die Reuetränen des Ritters mit und beschützt den Ritter mit dem Kreuzzeichen vor den Prügeln des Teufels. Auch auf die Forderung des Teufels nach einer Seelenwaage geht Maria nicht ein. Nachdem der Teufel verschwunden ist, kehrt sie mit dem Ritter zur Kapelle zurück, wo sie bei Christus Fürbitte für den Ritter leistet; doch das Christusbild wendet sich vom Ritter ab. Erst als Maria es wieder zum Ritter wendet, vergibt es ihm. Die in der Kapelle schlafende Frau erwacht. Beide Eheleute sind nun mit Gott versöhnt, bauen ein Kloster und beschließen ihr Leben darin.

In dieser Erzählung ist eine Interferenz zwischen dem Erzählstoff ›Maria als Ehefrau‹, der die Gesamtstruktur bestimmt, und dem Erzählstoff ›Maria als Intercessorin‹ zu beobachten. Das Motiv, dass der Teufel als Gegenleistung für das Gut die Ehefrau des Ritters verlangt, erscheint hier als Ersatz für die vom Ritter verweigerte Verleugnung Marias: Der tivvel sprach daz lasz ich sin / So bring mir dü frowen din / Die mir so vil ze laide tuot / Ir gebett duncket also guot / Dü magt an dü ir vch baide lant / Ich wän irs mit ain ander hant (V. 79 ff.). Während der Ritter in verschiedenen Fassungen des Erzählstoffs ›Maria als Intercessorin‹ den Teufel erfolglos darum bittet, auf die Marienverleugnung zu verzichten, ist diese Wendung der Handlung hier durch die Interferenz der beiden Erzählstoffe möglich geworden. Auch bei der Begegnung Marias mit dem Teufel und der Schlussszene in der Kapelle hat der Erzähler von ›Ritter und Maria‹ Elemente aus dem Erzählstoff ›Maria als Intercessorin‹ interpoliert: Maria verteidigt den Ritter gegenüber dem Teufel mit den Worten Er wolt min helffe nit verswern / Dar vmb so wil ich in gewern / Jch bring in wol von schulden / Zuo minez kindez hulden (V. 219 ff.). Die Versöhnung zwischen dem Ritter und Christus mittels einer Intercession Marias erfolgt nach der Begegnung mit dem Teufel (V. 258–276). Der Erzähler bezieht sich dabei auf eine Fassung von ›Maria als Intercessorin‹, in der der Teufel eine dreifache Verleugnung fordert (Gott, Heilige, Maria) und in deren Intercessionsszene das Jesuskind die Vergebung der Sünde zunächst verweigert, wie dies beispielsweise in der ›Scala coeli‹, Nr. 661, der Fall ist.

262 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel Durch die Verbindung der beiden Erzählstoffe entsteht eine Überlagerung von Handlungs- und Sinnstrukturen, die dazu führt, dass der Text als loser Verbund einzelner Erzählbausteine erscheint, denen keine stringente Handlungslogik zugrundeliegt. Dieser Erzähltechnik entspricht auch die Art der Figurenzeichnung in Ehrenfreunds ›Ritter und Maria‹. Der Protagonist ist nicht, wie in zahlreichen Fassungen sowohl von ›Maria als Intercessorin‹ als auch von ›Maria als Ehefrau‹, ein lasterhaftes oder leichtsinniges Weltkind. Von ausschweifenden höfischen Vergnügungen ist keine Rede, sondern nur von der milti (V. 23) des Ehepaars, das andere Leute verköstigt, und von der besonderen Marienverehrung des Ritters und – in noch höherem Maße – derjenigen seiner Frau. Umso unglaubwürdiger ist es deshalb in handlungslogischer Perspektive, dass dieser fromme Mann einen Teufelspakt eingeht. Während der Ritter in den ›Maria als Ehefrau‹-Erzählungen der ›Legenda aurea‹ und des ›Passionals‹ erst bei der Begegnung Marias mit dem Teufel seine Schuld einsieht, empfindet der Protagonist von ›Ritter und Maria‹ gleich nach dem geschlossenen Pakt Reue (V. 90) und kann auch das wiedergewonnene Gut nicht genießen (V. 98–106). Auf dem Weg zum Teufel traut sich der Ritter wegen seiner Gottesverleugnung nicht, die Kirche zu betreten, wendet sich aber mit einem reuevollen Gebet an Maria: Der ritter an den knüwen / Ruoft cristez muotter an / Nu hilff mir sündigen man / Rainü muotter vnd magt / Dü kaim sünder nie versagt / Mitt trechen er sich do begosz / Maria vieng sy an ir schoz / Wie ez der ritter nit enphant / Si wüst im sin ogen mitt der hant (V. 162 ff.). Die Reuetränen des Ritters verwendet Maria bei der Begegnung mit dem Teufel – wie auch die verweigerte Verleugnung – als Argument zu seiner Verteidigung. Hier wird ein weiteres Charakteristikum der narrativen Umsetzung des Erzählstoffs in diesem Text deutlich: die pleonastisch oder sogar widersprüchlich erscheinende Anhäufung ähnlicher Motive. Dahinter steht die gleiche assoziierende und integrierende Erzähltechnik wie bei der Verbindung der beiden Erzählstoffe. Wenn eine Szene oder ein Motiv bei dem Erzähler Assoziationen an verwandte Motive hervorrief, hat er sie in den Text integriert – ungeachtet dessen, ob sie sich sinnvoll in die Handlungsstruktur einfügten. So werden bei der Begegnung Marias mit dem Teufel nicht nur die von Maria aufgefangenen Reuetränen des Ritters vorgeführt, sondern auch noch die arma Christi herbeigetragen: Sy füerent rilich dort her / Des crützes nagel und sper / Maria füert in ir hant / Die trächten vnd daz gewant / Daz der ritter begoz / Do sin rüwe was so groz / Vnd daz der tiuvel an sach / Do meret sich sin vngemach (V. 199 ff.). Die Verbindung des Motivs der Marterwerkzeuge Christi mit dem tränennassen Gewand des Ritters erzeugt eine aus theologischer Perspektive problematische Interferenz, indem sie das tränennasse Gewand des Ritters und dessen Reuetränen implizit mit Christi ungenähtem Rock und seinem im Garten Gethsemane geweinten blutigen Tränen assoziiert. Auch im weiteren Verlauf dieser Szene zeigt sich die Tendenz

2 Stoffverwandte Erzählungen als Indikatoren für den diachronen Wandel |

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zur Motivanhäufung: Während Maria den Teufel in den anderen Fassungen des Erzählstoffs durch ihr Erscheinen und ihren Befehl in die Flucht schlägt, macht sie in ›Der Ritter und Maria‹ zusätzlich das Kreuzzeichen, und der Teufel gibt erst auf, als auch noch das Motiv der Seelenwage herangezogen wurde: [der Teufel] schre vil lut la mich sü wegen / Sy wurdent mir lat mich din segen / Do sprach von himmel dü konigin / Sy sint vngewegen min (V. 245 ff.). Diese Ausschnitte zeigen, dass die narrative Umsetzung des Erzählstoffs in ›Der Ritter und Maria‹ ganz anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als diejenige des älteren ›Passional‹-Mirakels. Der Erzähler von ›Ritter und Maria‹ reiht einzelne Szenen wie Tableaus aneinander, die viele assoziative Anknüpfungspunkte bieten und beim Rezipienten zum Weiterdenken anregen können. Auch emotionale Identifikationsangebote sind vorhanden. Sie lassen zwar nicht, wie das ›Passional‹-Mirakel, eine innere Wandlung nachvollziehen, sondern zeigen die Befindlichkeit der Figuren in jeweils einer spezifischen Szene, etwa die Reue des Ritters vor der Kirche oder seine Reaktion auf die Präsenz des Transzendenten, als Maria anstelle seiner Ehefrau aus der Kirche tritt: Maria ez verborgen was / Den lüten allen sag ich daz / Mitt fröd si in den sattel saz / Sie geviel im tusent valt basz / Denn da vor vil manic iar / Man fintz geschriben gar für war / Er sach sy an vnd aber an (V. 181 ff.). Das Göttliche macht sich hier als körperliche Schönheit bemerkbar, die dem Ritter wie einem Verliebten auffällt. Die grundlegenden erzähltechnischen Eigenschaften von ›Ritter und Maria‹ sind typisch für geistliche Erzählungen des 14./15. Jahrhunderts. Die Häufung und Verknüpfung von Motiven und Erzählstoffen in dieser Erzählung ist vergleichbar mit Texten wie dem ›Verlorenen Sohn‹, dem ›Zeno‹ und ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹.149 Die hier untersuchten Versionen des Erzählstoffs vom Teufelsbündler haben verdeutlicht, dass zeit-, form- und sprachtypische Phänomene bei der narrativen Umsetzung von geistlichen Erzählstoffen eine zentrale Rolle spielen können. Die Situierung eines Textes in seinem literarischen Referenzrahmen ermöglicht eine präzise Einordnung und Beschreibung dieser Phänomene. Dabei ist zu beachten, dass auch innerhalb einer Kategorie (z.B. deutsche Verserzählungen des 14. Jahrhunderts oder deutsche Prosaerzählungen des 15. Jahrhunderts) eine große Variationsbreite anzutreffen ist, was die konzeptionelle und ästhetische Umsetzung des Erzählstoffs sowie die Nähe zu eventuellen Bezugstexten betrifft. Auch hier kann der Vergleich mit stoffverwandten Texten hilfreich sein, um die jeweilige Spezifik der einzelnen Ausformungen zu konturieren.

149 Zu diesen Texten vgl. Kap. III.2.3.4. und II.2.1.

264 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel

3 Zusammenfassung Im Hinblick auf die literaturhistorische Bedeutung des Texttyps der geistlichen Verserzählung lassen sich im 14. Jahrhundert zwei wichtige Tendenzen beobachten. In rezeptionsorientierter Perspektive findet durch die Aufnahme der Texte in umfangreiche und teilweise repräsentative Kleinepiksammlungen eine Konsolidierung des Texttyps statt, der sich im 13. Jahrhundert im literarischen System etabliert hat. In diachroner Perspektive lässt sich beobachten, dass geistliche Verserzählungen sich im 14. und 15. Jahrhundert konzeptionell und ästhetisch den aktuellen kulturellen und literarischen Gegebenheiten anpassen. Kleinepiksammlungen spielen für die Überlieferung geistlicher Verserzählungen eine zentrale Rolle. Sie sind nicht nur für viele Texte die ersten und/oder einzigen Textzeugen, sondern geben durch die Diversität ihrer äußeren und inhaltlichen Gestaltung auch Hinweise auf mögliche Rezeptionskontexte geistlicher Verserzählungen. So deuten etwa das große Format und die Ausstattung der Handschriften HK auf einen repräsentativen Geltungsanspruch hin, während die kleinformatigen Handschriften MV eher als Andachtsbücher für die Lektüre im kleineren Rahmen geeignet waren. Dieser Eindruck wird durch ihr inhaltliches Profil bestätigt: Diese Handschriften enthalten fast nur geistliche Texte. Über die für Kleinepiksammlungen zentralen Aufnahmekriterien der Versform und des geringen Umfangs hinausgehend, lässt sich hier auch ein spezifisches Interesse an religiösen Inhalten beobachten. Stellt man sich in rezeptionsorientierter Perspektive die Frage, warum geistliche Verserzählungen in bestimmte Sammlungen aufgenommen wurden und wie sie in diesen Kontexten gelesen wurden, sind solche Indizien wertvoll; dennoch ist es kaum möglich, aufgrund inhaltlicher Profile auf konkrete Personengruppen als Auftraggeber und Besitzer der Kleinepiksammlungen zu schließen, da weder den Profilen der Handschriften noch den infrage kommenden Gruppen (adlige Laien, Ritterbrüder, Nonnen) so ausschließliche Aussagekraft bzw. Interessenschwerpunkte zugeschrieben werden können. Vielmehr muss man sowohl bei der Produktion als auch bei der Tradierung und Rezeption geistlicher Verserzählungen mit einem regen Austausch zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären rechnen. Der diachrone Wandel des Texttyps im 14. und 15. Jahrhundert in konzeptioneller und ästhetischer Hinsicht findet seine Begründung in komplexen Veränderungen sowohl des kulturellen als auch des literarischen Referenzrahmens, in dem die Texte stehen. So sind die stärkere Tendenz zur expliziten Didaxe und der kritischere Blick auf die diesseitige Welt bis zu einem gewissen Grad von theologischen Diskursen und kirchengeschichtlichen Veränderungen wie etwa der

Zusammenfassung

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Hinwendung zur Laienseelsorge beeinflusst.150 Damit hängen wiederum Veränderungen auch in der volkssprachigen Literatur zusammen, etwa die Zunahme von geistlicher (Prosa-)Literatur, die eine Auswirkung auf den literatursystematischen Status mhd. geistlicher Verserzählungen hat. Neben diesen Einflüssen, die mit dem religiösen Inhalt der Texte in Verbindung stehen, gibt es auch literarische Einflüsse, die die narrative Gestaltung der Texte betreffen. Hier ist etwa die Fokussierung auf Handlungselemente auf Kosten differenzierter Figurenzeichnung und Reflexionen zu nennen, die besonders bei Kurzfassungen älterer Verserzählungen zu beobachten ist. Eine quasi entgegengesetzte Tendenz zeigt sich bei anderen Erzählungen, die zwar auch eher schematische Figuren, aber keineswegs eine stringente Handlungsführung aufweisen, sondern durch assoziative Anhäufungen von Motiven bestimmt sind. Diese für die Handlungslogik oft ›unnötigen‹ Motive dienen dazu, einzelne Szenen der Erzählung detailrealistisch zu gestalten oder durch die Wiederholung des gleichen Motivs die Wirkung zu intensivieren. Diese Phänomene sind nicht spezifisch für geistliche Verserzählungen, sondern entsprechen dem zeitgenössischen literarischen Erwartungshorizont, dem die Verfasser der Texte gerecht zu werden versuchen. So reflektiert der historische Wandel des Texttyps punktuell immer auch die weiterreichenden literarischen und kulturellen Veränderungen, die ihn (mit-)bedingen. Gerade bei einer literaturhistorischen Einordnung spielt der literarische Referenzrahmen eine große Rolle für ein angemessenes Verständnis des Einzeltextes. Die Erzählstoffe waren meist in verschiedenen Versionen und Fassungen verbreitet, als gesprochene oder schriftlich fixierte, lateinische oder volkssprachige Texte, in Prosa und Versen. Der Verfasser einer deutschen Verserzählung konnte auf diese Tradition in unterschiedlicher Weise Bezug nehmen, ältere deutsche Texte kürzen, lateinische Bezugstexte mehr oder weniger genau übersetzen, einen nur mündlich vermittelten Erzählstoff ganz neu bearbeiten. Auch hier lassen sich zeit- und formtypische Tendenzen feststellen. Verfasser von geistlichen Verserzählungen griffen im 14. und 15. Jahrhundert nur relativ selten auf ältere Verserzählungen zurück; meist war der Erzählstoff wahrscheinlich in anderen Formen und Sprachen präsenter. Noch deutlicher ist diese Tendenz bei deutschen Prosaerzählungen: Prosaauflösungen älterer Verserzählungen sind die Ausnahme, ein mehr oder weniger direkter Rückgriff auf lateinische Prosaexempel die Regel. Dies hängt auch mit der übereinstimmenden Form zusammen: Lateinische Prosaexempel ließen sich leichter in deutsche Prosa übertragen als

150 Vgl. dazu etwa Werner Williams-Krapp: Konturen einer religiösen Bildungsoffensive. Zur literarischen Laienpastoration im 15. und frühen 16. Jahrhundert. In: Kirchlicher und religiöser Alltag im Spätmittelalter. Hrsg. von Andreas Meyer (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 69). Ostfildern 2010, S. 77–88.

266 | IV Konsolidierung des Texttyps und diachroner Wandel deutsche Verserzählungen. Dieser Eindruck wird bestätigt durch den Umstand, dass Verserzählungen, die sich auf einen lateinischen Verstext beziehen, dem Bezugstext in der Regel näher stehen als Verserzählungen, die sich auf einen lateinischen Prosatext beziehen. Auch im 14. und 15. Jahrhundert gibt es jedoch innerhalb des Texttyps eine große Diversität. Bei den oben angedeuteten zeittypischen Phänomenen handelt es sich lediglich um Tendenzen, die bei einer Betrachtung des Texttyps als Ganzes ins Auge fallen. Sie gehen teilweise mit allgemeinen literarischen Erscheinungen der Zeit zusammen oder entsprechen aktuellen theologischen Diskursen, betreffen aber immer nur einen Teil der in dieser Zeit entstandenen Verserzählungen.

V Überlieferungskontexte 1: Das Beispiel des ›Königs im Bad‹ Die literaturhistorische Bedeutung eines Texttyps zeigt sich nicht nur in produktionsästhetischer, sondern auch in rezeptionsorientierter Perspektive. Viele Texte wurden noch Jahrzehnte und Jahrhunderte nach ihrer Entstehung weiterüberliefert und blieben somit Teil des literarischen Systems. Gerade bei Texten, die über einen längeren Zeitraum tradiert wurden, stellt sich daher die Frage, welches Interesse man ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt entgegenbrachte, welche Aspekte also dazu beigetragen haben, dass sie weiterrezipiert wurden. Auf diese Frage können die Überlieferungskontexte eine – wenn auch nur bruchstückhafte – Antwort geben. Ausgehend von drei Beispielen werden in den folgenden Kapiteln verschiedene Überlieferungskontexte geistlicher Verserzählungen untersucht, um damit eine Grundlage für die Beurteilung der literaturhistorischen Bedeutung des Texttyps in rezeptionsorientierter Perspektive zu schaffen. Um die Einbindung der Beispiele in die jeweiligen Überlieferungskontexte präzise beschreiben zu können, wird deren Untersuchung jeweils eine Analyse des Textes und seines literarischen Referenzrahmens vorangestellt. Außerdem werden weitere Texte, die in ähnlichen Zusammenhängen überliefert sind, als Vergleichsbeispiele herangezogen, um die Untersuchungsergebnisse zu bestätigen bzw. zu differenzieren. Den Anfang der Beispielreihe macht der reich überlieferte ›König im Bad‹. Seine außerordentliche Verbreitung1 zeigt sich nicht nur in den erhaltenen 21 Handschriften und drei Drucken, sondern auch in späteren Bearbeitungen, die teilweise oder ganz auf der Erzählung fußen.2 Die Textzeugen bieten aufgrund ihrer Anzahl und Unterschiedlichkeit ein Panorama möglicher Überlieferungskontexte geistlicher Verserzählungen im 14. und 15. Jahrhundert.

1 Bei aller Vorsicht, die man bei Schlüssen von der heute erhaltenen Überlieferung auf die tatsächliche Verbreitung eines Textes walten lassen muss, scheint mir der Unterschied zu der für geistliche (und weltliche) Erzählungen sonst üblichen Anzahl von Textzeugen doch gravierend zu sein. Vgl. die Zusammenstellung von Überlieferungszahlen bei Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.1. 2 Ein Meisterlied aus dem 14./15. Jahrhundert, vgl. Hermann-Josef Müller: Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte der Pseudo-Strickerschen Erzählung ›Der König im Bade‹. Untersuchungen und Texte (Philologische Studien und Quellen 108). Berlin 1983, S. 113–117, Hans Rosenplüts ›König im Bad‹ (vgl. Müller: König im Bad, S. 118–147), sowie zwei Episoden in geistlichen Spielen des 16. Jahrhunderts, Sebastian Brants ›Tugent Spyl‹ und Johannes Römoldts ›Spiel vom grewlichen Laster der Hoffart‹ (vgl. Müller: König im Bad, S. 147–177).

268 | V Überlieferungskontexte 1

1 ›Der König im Bad‹ in seinem literarischen Referenzrahmen Der Erzählstoff vom stolzen und gedemütigten Herrscher ist in der Weltliteratur weit verbreitet.3 Grundsätzlich kann man bei den mittelalterlichen europäischen Fassungen nach Hermann Varnhagen zwei Typen unterscheiden, in denen auf zwei verschiedene Bibelstellen Bezug genommen wird: Zum ersten Typ, in dem der Gegensatz zwischen arm und reich (1 Samuel 2,4–8; Ps 75,8) im Zentrum steht, gehört u. a. die Fassung der ›Gesta Romanorum‹ (Oe 59).4 Der zweite Typ, die sog. ›Magnificat‹-Fassung, beruht auf der Bibelstelle Lc 1,52: Der König ärgert sich über die Aussage, dass die Hohen erniedrigt und die Niedrigen erhöht würden. Von diesem Typ sind neben deutschen, französischen, italienischen, spanischen und englischen auch zwei lateinische Grundversionen überliefert: ein Exempel aus der Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen (Nr. 34) und ein Exempel aus der ›Summa theologica‹ des Antoninus von Florenz. Die im Folgenden vorgestellten deutschen Fassungen des Stoffes weisen zwar Verwandtschaften, aber keine direkten Bezüge zu anderen erhaltenen Fassungen auf.

1.1 Moraldidaktisches Exempel und geistliches Erzählen als Minnedienst: Die beiden Verserzählungen ›Der König im Bad‹ und Herrands von Wildonie ›Der nackte Kaiser‹ Anhand der beiden Verserzählungen ›Der König im Bad‹ (362 V., 2. Hälfte 13. Jahrhundert)5 und Herrands von Wildonie ›Der nackte Kaiser‹ (668 V., wohl um 1260/70),6 die unabhängig voneinander den Erzählstoff vom gedemütigten Herrscher behandeln, wird die ästhetische und konzeptionelle Vielfalt geistlichen Erzählens im 13. Jahrhundert besonders deutlich.7

3 Tubach 1894. Vgl. auch Müller: König im Bad, S. 13–21; Hermann Varnhagen: Ein indisches Märchen auf seiner Wanderung durch die asiatischen und europäischen Litteraturen. Berlin 1882. 4 Vgl. Müller: König im Bad, S. 17 f. 5 Vgl. Michael Curschmann: Der König im Bad. In: 2VL 5 (1985), Sp. 72–75. Ausgabe und Grundlegendes zu Text und Überlieferungsgeschichte: Müller: König im Bad. Müller unterscheidet bei seiner Edition zwei Versionen des Textes (›König im Bad‹ I und II). Bei Zitaten nach der zweiten Version wird dies durch ›König im Bad II‹ gekennzeichnet. Die Handschriftensiglen der ›König im Bad‹-Überlieferung werden von Müller übernommen. 6 Vgl. Michael Curschmann: Herrand von Wildonie. In: 2VL 3 (1981), Sp. 1144–1147 und 2VL 11 (2004), Sp. 652. Ausgabe: Herrand von Wildonie: Vier Erzählungen. Hrsg. von Hanns Fischer (ATB 51). Tübingen 1959, S. 22–43. 7 Das Verhältnis zwischen dem ›Nackten Kaiser‹ und dem ›König im Bad‹ wurde unterschied-

1 ›Der König im Bad‹

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›Der König im Bad‹ Ein mächtiger König hört eines Abends in der Vesper den Magnificat-Vers Deposuit potentes de sede et exaltavit humiles.8 Er erkundigt sich bei seinen Kaplänen nach der Bedeutung dieses Verses, der mit seinem herrscherlichen Hochmut unvereinbar ist und meint, es sei unmöglich, dass irgendein König mächtiger sei als er. Deshalb lässt er den störenden Vers aus allen Büchern tilgen und verbietet, ihn zu lesen. Gott bestraft ihn jedoch für seine Missachtung der heiligen Schrift: Als der König eines Tages im Bad sitzt, kommt ein Engel in Gestalt des Königs ins Bad und wird für den König gehalten. Dem Engel werden die Kleider des Königs gereicht, während der richtige König, den nun keiner mehr erkennt, verprügelt und nackt hinausgeworfen wird. In seiner Verzweiflung geht der König zu einem Ratgeber, seinem Schenk, der ihn aufnimmt und ihm ein schlechtes Röcklein gibt, ihn aber für einen Verrückten hält, der nur im Wahn lebt, ein König zu sein. Der Schenk führt den vermeintlichen Narr dann zur Belustigung der Hofgesellschaft vor den Engel, der schließlich den König über sein Vergehen und die Strafe dafür aufklärt und ihm nach erteilter Lehre seine Königswürde wieder zurückgibt. Herrand von Wildonie: ›Der nackte Kaiser‹ Im Prolog gibt der Autor an, eine Geschichte zu erzählen, die er in einer deutschen Prosachronik gelesen habe und um einer geliebten Frau willen in Verse gebracht habe. Der römische Kaiser Gorneus ist so mächtig, dass er hochmütig wird und glaubt, er könne nie gestürzt werden. Am 12. Sonntag nach Pfingsten hört er in der Messe den Evangelienvers »Wer sich selbst erhöhet, der wird erniedrigt werden« (Lc 14,11/18,14). Er ärgert sich darüber, da er sich nicht vorstellen kann, im Jenseits weniger mächtig zu sein als auf Erden. Den Worten der Priester, die ihm den Vers erklären wollen, glaubt er nicht. Seit zehn Jahren hat der Kaiser keinen Gerichtstag mehr abgehalten, weshalb das Land von Raub und Brandschatzung heimgesucht wird. Nun hat er wieder einen Gerichtstag angesetzt, und in Erwartung der schönen Edelfrauen, die dort erscheinen werden, geht er am Abend vor dem Gerichtstag ins Bad. Während der Kaiser im Bad schläft, tritt ein Mann, der aussieht wie der Kaiser, aus dem Badehaus und reitet mit den Dienern heim. Der Kaiser erwacht, sieht die Lichter auf der Burg brennen und ist verwirrt. Die Baderknechte werfen ihn nackt hinaus. Er rennt zu einem Ratgeber, doch dieser glaubt ihm nicht, dass er Kaiser Gorneus sei, und lässt ihn mit einem schlechten Röcklein wieder gehen. In der Stadt bettelt er um Essen, wird von den Küchenknechten verspottet und isst Reste. Am Morgen muss er mit den Knechten Wasserzuber tragen. Danach geht er zum Gerichtstag und sieht das Gericht seines Doppelgängers, bei dem viele seiner lasterhaften Freunde hingerichtet werden. Er erkennt seine eigene Ungerechtigkeit und seine Verfehlungen. Als der Doppelgänger ihn sieht, bittet er um eine Pause, packt den Kaiser beim Schopf und führt ihn in eine Kemenate, um ihn dort zu belehren und sich selbst als Engel zu offenbaren. Nachdem der Kaiser seine Schuld

lich eingeschätzt. Varnhagen ging zunächst von einer gemeinsamen Quelle aus, später hielt er den ›Nackten Kaiser‹ für eine Bearbeitung des ›Königs im Bad‹, vgl. Varnhagen: Indisches Märchen, S. 52–59; Hermann Varnhagen: Longfellows Tales of a Wayside Inn und ihre Quellen. Nebst Nachweisen und Untersuchungen über die vom Dichter bearbeiteten Stoffe. Berlin 1884, S. 50–53. Das genaue Verhältnis wird sich allerdings ebenso wenig klären lassen wie der Wahrheitsgehalt von Herrands Behauptung, er habe eine deutsche Prosachronik als Quelle benutzt. 8 Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.

270 | V Überlieferungskontexte 1 bekannt hat, setzt der Engel ihn wieder in seine Rechte ein, und der richtige Kaiser geht zum Gericht zurück. Danach gibt er all sein unrecht erworbenes Gut zurück, stiftet Klöster und lebt fortan gottesfürchtig.

Der ›König im Bad‹ beginnt mit einem Sprichwort: Wer an im selbe niht bewart / vnzvcht vnd vnrechte hochvart, / den letzet got dort oder hie (V. 1 ff.), bevor im vierten Vers die Erzählhandlung einsetzt. Die Geschichte vom gedemütigten Herrscher ist durch die verallgemeinernde Aussage als Beispielgeschichte gekennzeichnet: Sie illustriert eine Wahrheit, die prinzipiell jeden Rezipienten ebenso betrifft wie den Protagonisten der Erzählung. In einen ganz anderen literarischen Diskurs stellt der »aus einer einflußreichen steiermärkischen Adelsfamilie«9 stammende Herrand von Wildonie, ein Schwiegersohn Ulrichs von Liechtenstein, seine Erzählung. Der höfischen Literaturtradition gemäß nennt Herrand seinen Namen und inszeniert sich als ›adligen Dilettanten‹ in einem höfischen Umfeld: do ˆ bat ein frouwe minniclıˆch / mich, daz ich ez tihte / und ez gerıˆmet rihte. / nu han ich ez durch sıˆgeta ˆn […] het ich ze tihten wıˆsen muot: / da ˆ diende ir gerne mit mıˆn lıˆp; / so ˆ liep ist mir daz selbe wıˆp (V. 8 ff.; 16 ff.). Das Motiv des Dichtens als Frauendienst ist in verschiedenen Zusammenhängen verbreitet, vor allem im Minnesang und im höfischen Roman – bei einer geistlichen Erzählung mag es zunächst etwas unpassend erscheinen, erinnert aber an ähnliche ›Brüche‹ wie etwa die Minneexkurse in Rudolfs von Ems ›Barlaam‹: Auch dort inszeniert sich der Autor einer geistlichen Erzählung als höfischer Minnediener. Herrand evoziert durch die Thematisierung seines Umfelds und des Vorgangs des Dichtens selbst eine Atmosphäre, in der die Rezipienten sich wiederfinden sollen/können, und die damit als eine Art captatio benevolentiae wirkt. Auch auf der konzeptionellen Ebene setzen der anonyme Verfasser des ›Königs im Bad‹ und Herrand je andere Akzente. Der bedeutendste Unterschied betrifft die Behandlung des Gerichtsmotivs. Im ›König im Bad‹ spielt dieses Motiv eine nebensächliche Rolle. Es wird lediglich in zwei Versen erwähnt, als der Engel dem König mitteilt, dass er nur deshalb wieder in sein Amt eingesetzt werde, weil er stets ein guter Richter gewesen sei: zwar wan din gvt gerichte / dir wer din schvlde vnvergeben (V. 292 f.). Diese Begründung wurde in einigen späteren Textzeugen missverstanden und verstümmelt; sie ist für die Handlungslogik des Textes marginal. Bei Herrand steht dieses Motiv dagegen im Zentrum, allerdings unter anderen Vorzeichen: Nicht seine Eigenschaft als guter Richter rettet den Herrscher, sondern er vernachlässigt die Rechtsprechung, kümmert sich nicht um sein Land und schützt seine Günstlinge vor gerechten Strafen. An dem schließlich doch einberufenen Gerichtstag scheint er zunächst vor allem wegen der eingeladenen Damen interessiert zu sein. Erst als Zeuge des vom Engel abge-

9 Curschmann: Herrand von Wildonie, Sp. 1144.

1 ›Der König im Bad‹

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haltenen Gerichts erkennt er seine Verfehlung. Der Kaiser Gorneus ist nicht nur wegen seiner (geistlichen) Superbia ein schlechter Herrscher, sondern auch, weil er seine (weltlichen) Herrscherpflichten vernachlässigt. Durch die unterschiedliche Behandlung des Gerichtsmotivs wird bei Herrand die im Erzählstoff angelegte Möglichkeit zur Herrscherdidaxe in den Vordergrund gerückt.10 Im ›König im Bad‹ bildet statt der Gerichtsszene die Konfrontation zwischen König und Engel vor der Hofgesellschaft den Höhepunkt der Erzählung. Während der Kaiser bei Herrand unerkannt bleibt und die Fürsten von seiner Substitution durch den Engel nichts erfahren, wird der König in der anonymen Erzählung vor seinen Doppelgänger geführt und beteuert dort, der richtige König zu sein, ohne dass ihn jemand zu erkennen vermag.11 Aus Eifersucht macht er seiner Frau Vorwürfe, was dazu führt, dass seine eigenen Dienstleute ihn verprügeln, bis der Engel ihn rettet und ihm dann unter vier Augen seine Verfehlungen vorhält. Bei Herrand ändert der Kaiser zwar sein Leben, erzählt aber nichts von seinen Erlebnissen. Im ›König im Bad‹ dagegen teilt der wiedereingesetzte König die Geschichte der ganzen Hofgesellschaft mit: do vragten in sin dienst man: / ›herre, wa mag der tore sin?‹ / do sprach der kvnich: ›nv get herin / vnd schowet, wie mir ist geschen!‹ / er begonde in offenliche iehen / vnd seit in dise mere, / wie im gelvngen were (V. 336 ff.). Auf den Akt des öffentlichen Bekenntnisses folgt auch die öffentliche Wiederaufnahme des verschmähten MagnificatVerses in die liturgischen Bücher. Diese nach außen hin gerichtete Dimension des Erzählten fehlt im ›Nackten Kaiser‹. Dort handelt es sich um einen ›privaten‹ Zweifel des Kaisers am Gotteswort, der nicht mit einem öffentlichen Akt der Bücherverstümmelung einhergeht. Der Kaiser Gorneus erlebt durch die Demütigung eine innere Wandlung, die zwar von den Fürsten bemerkt wird, deren Gründe für sie aber im Dunkeln bleiben. Im ›König im Bad‹ findet der Selbsterkenntnis- und Wandlungsvorgang dagegen auf einer gesellschaftlich-öffentlichen Ebene statt. So unterscheidet sich bei den beiden stoffverwandten Erzählungen nicht nur die inhaltliche Akzentuierung, sondern auch die Art der Figurenzeichnung. Im ›König im Bad‹ beweist das Schicksal des Königs auf

10 Dass Gorneus nicht nur hochmütig und ein ungerechter Richter, sondern auch anderen Lastern verfallen ist, deuten zwei Stellen an: Zum einen wird berichtet, dass er sich im Bad mit solher wıˆbelıˆn ein teil, / diu man da ˆ vindet ringe veil (V. 159 f.) vergnügt, zum andern verspotten ihn die Küchenknechte wegen seines dicken Bauchs, der nicht zu seiner Armut passe: »billıˆch unde reht / ist, daz man iuch ha ˆhen sol, / sıˆt ir iuch niht betragen wol / mugt und doch habt starken lıˆp« (V. 350 ff.). 11 Dieses Motiv ist auch in der Fassung der ›Gesta Romanorum‹ enthalten. Dort wird es noch insofern verstärkt, als nicht nur die Ritter und die Kaiserin, sondern auch die Hunde und Falken den richtigen Kaiser Jovinianus nicht erkennen. Erst nachdem er bei seinem Beichtvater, der ihn zunächst für den Teufel gehalten hat, gebeichtet hat, wird er wiedererkannt.

272 | V Überlieferungskontexte 1 exemplarische Weise die Wahrheit des biblischen Wortes. Bei Herrand dagegen steht eine psychologisch geschickt inszenierte innere Wandlung im Mittelpunkt, an der die Rezipienten des Textes teilhaben können, indem sie sich mit dem gefallenen Kaiser identifizieren. Dies schlägt sich auch in der narrativen Umsetzung nieder. Der Erzähler des ›Königs im Bad‹ weist bei der Szene im Bad explizit darauf hin, dass ein Engel die Stelle des Königs einnimmt. Im ›Nackten Kaiser‹ wird die Szene dagegen in der Figurenperspektive beschrieben – der Rezipient weiß ebenso wenig wie der Kaiser, was vor sich geht: ›König im Bad‹, V. 62 ff. Nu horet vil einen spehen list got dem kunege erzeigete, sin selde balde veigete er gie eines in daz bat do kom ein engel an sin stat in aller der gebere, als ez der kvnic were, wann nieman anders in reht erkos. der kvnic sin ere da verlos

›Nackter Kaiser‹, V. 167 ff. der keiser legte sich u ˆ f ein banc, als in diu hitze daˆ betwanc; diu venster wurden zuogetaˆn. do ˆ gie u ˆ z der tür ein man, der was dem keiser gar gelıˆch, sıˆn lıˆp, sıˆn stimme heˆrlıˆch, als ez der keiser wære. Do ˆ sprungen kamerære und reichten im sıˆn badekleit.

So entsteht im ›Nackten Kaiser‹ ein Spannungsbogen, der erst durch das Zwiegespräch des Kaisers mit dem Engel gelöst wird – der Rezipient identifiziert sich mit dem Kaiser und kann auf einer emotionalen Ebene dessen Verzweiflung und Wandlung nachvollziehen. Im ›König im Bad‹ hat der Rezipient dagegen einen Wissensvorsprung gegenüber der Figur. Dies lässt ihn eher die Haltung eines distanzierten Beobachters einnehmen, der mitverfolgt, wie Gott einen Hochmütigen bestraft, und der daraus Lehren für sein eigenes Verhalten ableiten kann. Während der Präsenz des Transzendenten im ›Nackten Kaiser‹ eher eine emotionale Funktion zukommt, steht im ›König im Bad‹ die didaktische Funktion im Vordergrund. Aus ästhetischer Sicht ist der ›Nackte Kaiser‹ zweifellos der anspruchsvollere Text. Dennoch hatte nicht diese Erzählung, sondern der weniger elaborierte ›König im Bad‹ einen so außergewöhnlichen Überlieferungserfolg. Dafür gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Herrand dichtete wahrscheinlich primär für sein direktes Umfeld – eine überregionale Verbreitung war möglicherweise gar nicht beabsichtigt. Der anonyme ›König im Bad‹ gelangte dagegen in den Bestand der Kleinepiksammlungen des frühen 14. Jahrhunderts, was seine Weitertradierung auch in späteren Kleinepiksammlungen – und darüber hinaus – förderte. Außerdem könnten inhaltliche Aspekte eine Rolle gespielt haben: Die didaktische Funktionalisierung der Geschichte im ›König im Bad‹ kam dem verstärkten Interesse an geistlicher Didaxe im 14. und 15. Jahrhundert entgegen, während die höfischen Elemente etwa im Prolog des ›Nackten Kaisers‹ in dieser Zeit dagegen oft eher als störend empfunden werden konnten.

1 ›Der König im Bad‹

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1.2 Rezeptionszeugnisse: Spätere Bearbeitungen des ›Königs im Bad‹ 1.2.1 Hans Rosenplüts ›König im Bad‹ Der Nürnberger Handwerksmeister Hans Rosenplüt, der in den Jahren 1427–1460 wirkte, hat eine kürzende Bearbeitung des ›Königs im Bad‹ verfasst.12 Rosenplüt hat neben dem ›König im Bad‹ auch andere ältere Verstexte überarbeitet, etwa Konrad Harders ›Frauenkranz‹ und die Erzählung ›Knecht Herolt‹, deren Bearbeitung durch Rosenplüt in der Forschung den Titel ›Spiegel und Igel‹ trägt. Rosenplüts 148 Verse umfassende ›König im Bad‹-Erzählung folgt in den Grundzügen dem älteren ›König im Bad‹; zahlreiche Reime und Versbausteine wurden übernommen. Die Handlung wurde aber durch das Auslassen mehrerer Szenen gestrafft, wodurch auch konzeptionelle Abweichungen entstanden:13 Der Besuch beim Ratgeber fehlt, der König bekommt bereits vom Bader ein altes Röcklein und kehrt gleich an seinen Hof zurück. Dadurch ist die vielleicht als bedenklich empfundene Szene, in der der König nackt durch die Stadt läuft, getilgt. Auch die Prügelszene am Hof fehlt, da der König gleich nach seiner Ankunft vom Engel in ein Schlafgemach geführt und belehrt wird. Daraufhin ändert der König sein Leben, legt aber kein öffentliches Schuldbekenntnis ab: Mit dem der engel do verswant. / Da legt der kunig an sein gewant / Und kome wider zu seinen kuniglichen eren / Und ließ furbaß got loben und eren / Und kam zu einem seligen ende und drum (V. 133 ff.). In Prolog und Epilog nimmt Rosenplüt die Tendenz des älteren Textes auf, die Geschichte als Exempel für jedermann zu inszenieren, rückt aber noch stärker den einzelnen Rezipienten in den Vordergrund:

12 Vgl. Glier: Hans Rosenplüt. Ausgabe: Rosenplüt (Reichel), S. 1–7. Vgl. auch Müller: König im Bad, S. 118–148. Grundlegend zu Rosenplüt: Hansjürgen Kiepe: Die Nürnberger Priameldichtung. Untersuchungen zu Hans Rosenplüt und zum Druck- und Schreibwesen im 15. Jahrhundert (MTU 74). München 1984; Jörn Reichel: Der Spruchdichter Hans Rosenplüt. Literatur und Leben im spätmittelalterlichen Nürnberg. Stuttgart 1985. 13 Allerdings scheint es äußerst schwierig zu sein, nachzuvollziehen, von welcher Version des ›Königs im Bad‹ Rosenplüt ausgegangen sein könnte (vgl. Müller: König im Bad, S. 138–141). Müller kommt zum Schluss, dass ein der Handschrift h nahestehender Textzeuge am ehesten in Betracht zu ziehen sei.

274 | V Überlieferungskontexte 1 ›König im Bad II‹, V. 1 ff; 348 ff.

Rosenplüt: ›König im Bad‹, V. 1 ff.; 137 ff.

Wer an yme selber nicht bewart vnczucht vnd vberige hoffart,

Der an im selber nicht nimet war, Wie er sein leben furet uber jar In hochfart und in ubermut, Damit man hie wider got tut, Das richet got an im dort oder hie. […]

das richet got dort oder hie. […] do wart der vers ›deposuit‹ vil lobelich vollenbracht, der yme vil lang versmacht, den hieß er richlichen schrieben an vnd wart ein gutter bieder man.

Und kam zu einem seligen ende und drum. Got mach uns auch am letzten frum, Das wir sein gotlich hulde gewinnen, Wenn wir uns sullen scheiden von hinnen Awß diesem wusten wilden grunt, Wenn unser sele scheidet von dem munt, Das sie mit gnaden werde begoßen, Das ir das reich werde aufgesloßen, Dorinn der kunig der eren wonet, Da man den frumen so reichlich lonet; Des helf uns got hie mit seiner gut. Das hat geticht der Rosenplüt.

Bei Rosenplüt hat sich das Verhältnis von diskursiven und narrativen Elementen gegenüber dem anonymen ›König im Bad‹ zugunsten der diskursiven Partien verschoben;14 im ›König im Bad‹ wird die Lehre implizit durch die exemplarische Geschichte vermittelt, in Rosenplüts Text wird sie zusätzlich in diskursiven Partien explizit gemacht – ein typischer Zug späterer geistlicher Verserzählungen.15 Rosenplüts ›König im Bad‹ ist in fünf Handschriften und einem Druck überliefert,16 meist im Zusammenhang mit anderen von Rosenplüt stammenden oder ihm zugeschriebenen Texten. Die Rosenplüt-Überlieferung war von Beginn an eine autorzentrierte Überlieferung, die ihren Schwerpunkt in Rosenplüts Wirkungsort Nürnberg hatte. Auch wenn Rosenplüts ›König im Bad‹ den Interessen

14 Bei Rosenplüt kommen auf 132 Verse Narration 16 Verse Prolog/Epilog; im ›König im Bad‹ stehen lediglich 3 Prologverse je nach Fassung ca. 300–360 Versen Narration gegenüber, ein Epilog fehlt meist ganz. 15 Dieses Phänomen zeigt sich etwa auch darin, dass in der Liedersaal-Handschrift dem anonymen ›König im Bad‹ 14 allgemein-belehrende Epilogverse angehängt wurden, vgl. unten, Kap. V.2.1.3. 16 Zusammenstellung der Textzeugen bei Müller: König im Bad, S. 126–137, sowie in Rosenplüt (Reichel), S. IX–XX.

1 ›Der König im Bad‹

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des Publikums im 15. Jahrhundert vielleicht besser Rechnung trug als die ältere, anonyme Fassung, hat sie diese doch nicht verdrängt; auch in der Drucküberlieferung war der ältere ›König im Bad‹ mit drei erhaltenen Drucken zwischen 1493 und ca. 1501 anscheinend erfolgreicher. 1.2.2 ›König im Bad‹-Meisterlied Ein weiteres Rezeptionszeugnis der ›König im Bad‹-Erzählung findet sich in einem Meisterlied, von dem zwei Versionen bezeugt sind.17 Die erste Version (47 Str., 240 V., 15. Jahrhundert) ist unikal in der Handschrift Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 3007 (Schlesien, 1472)18 überliefert, die zweite, mnd. Version ist nur als Fragment erhalten.19 Das Meisterlied nimmt direkten Bezug auf die Verserzählung vom ›König im Bad‹, was mehrere wörtliche Übereinstimmungen belegen,20 es finden sich aber auch bedeutende Abweichungen. Das Lied setzt gleich mit der Erzählhandlung ein: Hy vor gewaldig eyn reichir konig sas; die Ereignisse im Bad werden am Hof von einem Grafen, der den König begleitete, noch einmal nacherzählt; die Schlussszene, in der die Königin und die Fürsten den König um Verzeihung bitten, weil sie ihn nicht erkannt haben, ist breiter ausgestaltet. Das Meisterlied weist außerdem Bezüge zu anderen Elementen der Stofftradition auf, die in der Verserzählung nicht enthalten sind. So trägt der König im Meisterlied den Namen Nabuchodonosor.21 Die Zeitspanne, während derer auf Veranlassung des Königs der Magnificat-Vers verboten ist, wird mit sieben Jahren benannt – möglicherweise besteht hier ein Zusammenhang mit der Zeitspanne von sieben Jahren, während derer der König in der lateinischen Fassung der Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen, Nr. 34, im Elend leben muss. Während der König in der Verserzählung seinen Ratgeber durch eine Anspielung auf ein Geheimnis davon zu überzeugen versucht, dass er der rechte

17 Ausgaben: Julius Max Schottky: Nachrichten von Seltenheiten böhmischer und mährischer Bibliotheken. Anzeigeblatt für Wissenschaft und Kunst 5 (1819), S. 28–44, hier S. 36–44 (Version I); Jutta Fliege: Ein mittelniederdeutsches Fragment vom König im Bade. In: Studien zur Buchund Bibliotheksgeschichte (FS Hans Lülfing). Hrsg. von Ursula Altmann/Hans-Erich Teitge. Berlin 1976, S. 46–52 (Version II). Vgl. auch Müller: König im Bad, S. 113–117. 18 Vgl. Menhardt: Verzeichnis II, S. 753–762. 19 Halle/Saale, Universitäts- und Landesbibl., Quedl. Cod. 133, hinterer Spiegel. Vgl. Jutta Fliege: Die Handschriften der ehemaligen Stifts- und Gymnasialbibliothek Quedlinburg in Halle (Arbeiten aus der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle a.d. Saale 25). Halle/Saale 1982, S. 237 f. 20 Zusammenstellung der Übereinstimmungen bei Varnhagen: Longfellows Tales, S. 53–55. 21 So z.B. in der Moralisatio zum Exempel in den ›Gesta Romanorum‹, vgl. Hermann Oesterley: Gesta Romanorum. Berlin 1872 (Nachdruck Hildesheim 1963), S. 360 ff., in der der Kaiser Jovinianus ein alter Nabugodonosor (S. 365) genannt wird.

276 | V Überlieferungskontexte 1 König sei, erinnert der König im Meisterlied seinen Ratgeber an die Wohltaten, die er ihm erwiesen hat (V. 127–138), ein Motiv, das auch in Herrands ›Nacktem Kaiser‹ (V. 325 f., 330 f.)22 und in der Fassung der ›Gesta Romanorum‹ erscheint.23 Die mnd. Version des Meisterlieds hat außerdem mit der Fassung Herrands das Motiv gemeinsam, dass dem König nach der Belehrung durch den Engel die Krone wieder aufgesetzt wird (Meisterlied-Fragment V. 10, ›Nackter Kaiser‹ V. 549 ff.). Die Erzählweise des Meisterlieds ist handlungsorientiert; es lassen sich kaum konzeptionelle Akzente erkennen, die dem Erzählstoff eine andere Stoßrichtung geben würden als im älteren ›König im Bad‹. Die sprichwortartig-didaktische Dimension, die am Anfang aufgrund des direkten Einstiegs in die Handlung fehlt, erscheint an einer späteren Stelle (V. 37 f.): Nw mogit ir gerne horin, wy ys dem konige irging, / Also ys noch geschit vil vffte den tummen lewten. Die pleonastisch wirkenden Wiederholungen einzelner Motive, z.B. die Erzählung der Geschehnisse im Bad durch den Grafen am Hof (V. 72–81) oder der zweimalige Hinweis auf die Wohltaten, die der König dem Schaffner erwiesen hat (V. 129, 138) sind für die Erzählweise des 15. Jahrhunderts typisch.

1.3 Deutsche Prosafassungen des Erzählstoffs Anhand zweier Prosafassungen, die mit Herrands ›Nacktem Kaiser‹ bzw. dem anonymen ›König im Bad‹ stoffverwandt sind, lassen sich unterschiedliche Möglichkeiten der Bezugnahme jüngerer Prosaerzählungen auf ältere Verserzählungen konturieren. Die wohl um 1480 entstandene deutsche Prosaerzählung, die auf Herrands von Wildonie ›Nackten Kaiser‹ zurückgeht, wurde von Michael Curschmann bekannt gemacht.24 Es handelt sich dabei um einen der seltenen Fälle, in denen

22 Vgl. auch Müller: König im Bad, S. 115 f. 23 In den ›Gesta Romanorum‹ sucht der nackte Herrscher zwei Helfer auf, einen Mann, den er zum Ritter geschlagen hat, und einen Fürsten. Beide erinnert er an Wohltaten, die er ihnen erwiesen hat: Ego sum imperator Jovinianus, et ego te ad miliciam promovi tali tempore (Ich bin der Kaiser Jovinianus, und ich habe dich zu dieser und dieser Zeit zum Ritter geschlagen) (›Gesta Romanorum‹ (Oesterley), S. 361), und Imperator sum ego, et te ad divicias et honores promovi, quando te ducem feci et consiliarium meum te constitui (Ich bin der Kaiser, und ich habe dir zu Reichtum und Ehre verholfen, als ich dich zum Herzog machte und dich als meinen Ratgeber einsetzte) (S. 362). 24 Michael Curschmann: Ein neuer Fund zu Überlieferung des ›Nackten Kaiser‹ von Herrand von Wildonie. ZfdPh 86 (1967), S. 22–58. Überlieferung: Stuttgart, WLB, Cod. theol. et phil. 4° 81, Bl. 125v–131r.

1 ›Der König im Bad‹

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eine geistliche Verserzählung als direkte Grundlage für eine Prosaauflösung diente.25 Der Grund dafür könnte im vermutlichen Entstehungskontext der Erzählung zu finden sein: Der Verfasser der Prosaerzählung und Schreiber der Handschrift, in der sie unikal überliefert ist, löste für seine Sammlung auch andere, umfangreichere Verstexte in Prosa auf: Rudolfs von Ems ›Barlaam und Josaphat‹ und den ›Münchner Oswald‹.26 Er war somit in dem Verfahren geübt und hatte von vornherein mit deutschen Versvorlagen zu tun. Seine Ausgangslage unterschied sich dadurch von der für geistliche Prosaerzähungen typischeren Entstehungssituation im Kontext der Erstellung einer Prosaexempelsammlung, die auf eine oder mehrere lateinische Exempelsammlung(en) zurückgeht.27 Die Prosafassung des ›Nackten Kaisers‹ stimmt sehr genau mit ihrer Vorlage überein, viele Textbausteine wurden übernommen, auch Reimworte des Bezugstextes sind noch erkennbar.28 Auf der konzeptionellen Ebene ist jedoch eine deutliche Umakzentuierung festzustellen: Der Prolog, in dem die Entstehung des Textes auf Bitte einer höfischen Dame hin geschildert wird, und der Epilog, in dem Herrand sich namentlich nennt, wurden weggelassen, der Fokus liegt ganz auf der Handlung. Bisher noch nicht ediert und trotz eines Hinweises von Franz Bär29 kaum beachtet wurde eine Prosafassung des Erzählstoffs, die dem anonymen ›König im Bad‹ nahesteht und in der Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863, B 466 (1. Hälfte 15. Jahrhundert) überliefert ist.30 [236rb] Es waz ein kv´nig zuo Frankcriche, der hette zwene sv´ne, der waz einer ein leige, der ander ein pfaffe. Do der kv´nig gestarp vnd der eilteste bruo der, der ein leige waz, do besas der jvnge bruo der, der do gelert waz, das kv´nigriche. Do es jme in alle wiß glu´ckete vnd glu´ckliche ging vnd wole zuo zitlichen dingen, vnd zuo der welte glu´cke noch sinem willen, vnd ouch den sinen alle wole ging, er horte eines moles zuo einer vesper den vers, der do stot in dem Mangnificat: deposuit potentes de sede etc. Er setzet die gewaltigen von dem stuvo le vnd erhoe het die demuvo tigen. Er sprach glicher wisse, also obe er verzwifelte: Ich gloube nit, daz got seliche ding mv´ge getvo n. Der kv´nig sprach zuo den pfaffen, die do vesper svngent: [236va] Ir en sv´llent den vers fu´rbas nie nit singen, wann ich glov be nit, daz es also si. Do er also verzwifelte, er ging in die batstube, jme selben zuo troste vnd zuo gemache. Do er in dem

25 Zum Phänomen der Prosaauflösung im Bereich geistlicher Verserzählungen vgl. auch Kap. IX.1.3. 26 Vgl. Curschmann: Fund, S. 43, sowie Michael Curschmann: Der Münchner Oswald. Mit einem Anhang: Die ostschwäbische Prosabearbeitung des 15. Jahrhunderts (ATB 76). Tübingen 1974. 27 Vgl. Kap. IX.1. 28 Vgl. die genaue Analyse bei Curschmann: Fund, S. 43–49. 29 Franz Bär: Die Marienlegenden der Straßburger Handschrift Ms. Germ. 863 und ihr literarhistorischer Zusammenhang. Diss. Straßburg 1913, S. 24 (Nr. 114). 30 Zur Handschrift vgl. Kap. IX.1.2.

278 | V Überlieferungskontexte 1 bade waz, do kam gottes engel, vnd der waz geformet vnd geschaffen in alle wise also der o o kv´nig. Er sas zu jme in das bat. Der kv´nig wart vngedultig vnd sprach zu sinen knehten: o Werffent disen toren zu hant hin vs vnd tribent in enweg! Wie getar er in my´n bat komen? Des kv´niges knehte koment zuo hant, wande des kv´niges gebot, daz twang su´. Do su´ hortent die zwene mit ein ander kriegen vnd schelt wort haben, zuo hant wurffent su´ den rehten kv´nig vs, jren eigen herren. Su´ bekantent sin nit, als es gottes wille waz, dar vmbe handeltent su´ in v´bellich. Die bader wurffent jme die kv´bele zuo dem kopfe. Aber gottes engel, der bleip in dem bade vnd wart an des kv´niges bette gefueret, das er ruowete noch dem bade. Do noch wart jme hein geholffen von sinen dienern. Der engel da sas mit der kv´nigine o e e zu thische, do kam der [236vb] kv´nig in eime bosen snoden gewande fu´r den tisch vnd sprach: Frowe, jr sitzent eime andern gar nohe by´! Nvo bin ich doch uwer elich man vnd lag doch nehtin by´ u´ch an dem bette. Die kv´nigin wart schamrot vnd sprach: Ich gesach dich mit ougen nie me! Er wart aber jemerliche geslagen von den dienern. Der kv´nig ging31 zuo dem marschalg vnd sprach: Ich bin es, der kv´nig, vnd wir wurdent nehtin dirre sache vnd der sache zuo rotte, vnd seite jme vil heimelicher dinge. Der marschalck erschrag vnd sprach32 zuo dem engel: Herre, dirre buo be weiß alles daz, des wir nehtin zuo rate wurdent. Er wart aber gar sere geslagen von dem marschalck, daz der engel vf fvo r vnd nam den kv´nig mit der hant vnd fuo rte in in die kemenate33 vnd lies in wider sin kv´nigliches gewant an tvo n. Der engel seite do jme alles, daz er gedoht hette vnd waz er gesprochen hette, vnd wie er wider got getan hette. Er zov gete jme, daz er gottes engel waz. Vnd also wart der [237ra] kv´nig gedemvetiget vnd von gotte gestraffet. Er gewan ruwen vmbe sine hochfart vnd missetat vnd besserte sich noch des engels ratte vnd noch sime gebotte alles, daz er wider got getan hette. Er kam vnd sas zuo tische vnd seite do siner frowen vnd dem marschalck, wie es gevarn waz. Su´ erschrockent alle, vnd jeder man, der in geslagen hatte, der vorhte sich. Er sprach: Lant es sin! Es waz gottes verhengnisse. Vnd er gebot in allem sime lande, daz men wider den vers lese vnd sv´nge: Deposuit potentes, wanne er hette befvnden von dem engel, daz es also waz.

Von der Handlungsstruktur und dem Motivbestand her steht die Prosafassung innerhalb der Stofftradition der älteren Verserzählung vom ›König im Bad‹ am nächsten, doch der Bezug ist weniger eng als etwa bei der Prosafassung des ›Nackten Kaisers‹. Die Prosafassung des ›Königs im Bad‹ bietet eine gegenüber der Verserzählung vereinfachte Version der Geschichte: Der König geht nicht zu einem Ratgeber, sondern gleich an den Hof; das Erkennungszeichen, das der König dem Ratgeber (marschalck) offenbart, wird später eingefügt; die Belehrung durch den Engel ist kurz gehalten. Konzeptionell steht jedoch auch in der Prosafassung der exemplarisch-didaktische Beweis des Magnificat-Verses im Zentrum. Es liegt nahe anzunehmen, dass der Verfasser der Prosaerzählung die Verserzählung vom ›König im Bad‹ kannte – sei es aus eigener Lektüre, sei es aus der Erinnerung an einen Vortrag des Textes – und sie in seiner Fassung frei nacher-

31 ging ist später ergänzt. 32 Korrigiert aus sprch. 33 Korrigiert zu kemer.

1 ›Der König im Bad‹

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zählte, ohne dabei den Text – wie beim ›Nackten Kaiser‹ – auf akribische Weise Vers für Vers zu bearbeiten. Diese Hypothese wird durch die große Verbreitung und Bekanntheit der ›König im Bad‹-Verserzählung gestützt. Im 1. Drittel des 15. Jahrhunderts ist sie im benachbarten alemannischen Raum etwa durch die wohl in Konstanz entstandene ›Liedersaal‹-Handschrift bezeugt. Die Verserzählung vom ›König im Bad‹ scheint aber nicht der einzige Bezugstext für den Verfasser des Prosa-›König im Bad‹ gewesen zu sein. Dies wird besonders anhand der familiären Vorgeschichte deutlich, die im Prosa-›König im Bad‹ der Haupthandlung vorangestellt ist und die keine Entsprechung in der älteren Verserzählung hat. Die Funktion dieses Motivs innerhalb der Prosaerzählung bleibt unklar; vielleicht soll die Superbia-Sünde des Königs noch schwerwiegender erscheinen dadurch, dass er ein klerikal Gebildeter ist, der über die Autorität der heiligen Schrift Bescheid wissen müsste. Die Verknüpfung des Erzählstoffs vom gedemütigten Herrscher mit dem Motiv einer familiären Konstellation ist allerdings innerhalb der Stofftradition nicht unbekannt. Im ›Dit du Magnificat‹ des Jean de Conde´34 (1. Hälfte 14. Jahrhundert) wird zu Beginn berichtet, dass der König – hier: von Sizilien – zwei Brüder hat, den König von Aragon und den Herzog von Bayern. Das Motiv wird im Verlauf der Erzählung wieder aufgenommen, als der König nach seinem Sturz bei seinen Brüdern vergeblich Hilfe sucht. In dem mittelenglischen Reimpaargedicht ›Roberd of Cisyle‹ (wohl 14. Jahrhundert)35 treten neben dem Protagonisten, König Robert von Sizilien, ebenfalls zwei Brüder auf: Valemounde, der als Kaiser von Almayne über die Sarazenen herrscht, und Urban, Papst in Rom. In dieser Fassung trifft der gestürzte König im Gefolge des Engels in Rom mit seinen Brüdern zusammen, doch sie erkennen ihn nicht. Im Gegensatz zum französischen Text ist in der englischen Fassung ein Kleriker (der Papst) unter den Brüdern. Der Prosa-›König im Bad‹ weist keinen direkten Bezug zu diesen Fassungen des Erzählstoffes auf, aber der Blick auf den literarischen Referenzrahmen macht deutlich, dass es sich beim Motiv der familiären Vorgeschichte möglicherweise um eine Reminiszenz an eine andere, dem Verfasser bekannte Version des Erzählstoffs handelt, die er bei der Gestaltung seiner Fassung einfließen ließ, ohne sie handlungslogisch stringent einzubinden. Dieser freie Umgang mit dem Erzählstoff passt, wie der relativ lose Bezug zur älteren Verserzählung, zur selbständigen Arbeitsweise des Verfassers des Prosa-›Königs im Bad‹.

34 Ausgabe: Dits et contes de Baudouin de Conde´ et de son fils Jean de Conde´. Hrsg. von Auguste Scheler. Brüssel 1866, Bd. 2, S. 355–370. 35 Ausgabe: Carl Horstmann: Sammlung altenglischer Legenden. Heilbronn 1878 (Nachdruck Hildesheim/New York 1969), S. 209–219.

280 | V Überlieferungskontexte 1

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹ Aus ästhetischer Perspektive ist die Verserzählung vom ›König im Bad‹ kein herausragendes Beispiel, sondern ein schlicht gebauter, mit einer einfachen didaktischen Botschaft versehener, durchschnittlicher Vertreter des Texttyps – aus rezeptionsorientierter Perspektive ist die Erzählung jedoch einer der bedeutendsten kleinepischen Texte überhaupt.36 Anhand seiner reichen Überlieferung, die sich über etwa 200 Jahre erstreckt, lässt sich ein Panorama der Überlieferungskontexte geistlicher Verserzählungen skizzieren und in diachroner Perspektive untersuchen.37

2.1 Kleinepiksammlungen 2.1.1 Handschriften des 14. Jahrhunderts Kleinepiksammlungen spielen für die Überlieferung geistlicher Verserzählungen eine zentrale Rolle. Viele Erzählungen, so auch der ›König im Bad‹, sind zuerst in Kleinepiksammlungen greifbar. Der Text ist in den beiden großen Kleinepiksammlungen HK aus dem 1. Viertel des 14. Jahrhunderts überliefert.38 Als Nr. H 131 bzw. K 129 befindet sich der ›König im Bad‹ dort in einem Umfeld vorwiegend geistlicher Texte: Vor dem ›König im Bad‹ stehen des Strickers ›Die Milch und die Fliegen‹, ›Der ungeratene Sohn‹, ›Die Schlange ohne Gift‹, ›Der geprüfte Diener‹ und ›Die Klage‹; auf den ›König im Bad‹ folgen des Strickers ›Die fünf teuflischen Geister‹, Dietrichs von der Glesse ›Der Gürtel‹, die ›Maze‹ und Konrads von Würzburg ›Der Welt Lohn‹. Da die Redaktoren von HK wahrscheinlich aus ursprünglich thematisch geordneten Sammlungen geschöpft, diese aber in mehreren Durchgängen exzerpiert haben,39 ist kaum zu rekonstruieren, in welchem Umfeld der ›König im Bad‹ in diesen Vorgängersammlungen gestanden hat und inwiefern die Zusammenstellung in HK inhaltliche Aussagekraft hat. Es erscheint aber naheliegend, dass der Text schon in Vorstufen von HK im Zusammenhang mit Stricker-Texten überliefert wurde.40

36 S. Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.1.. 37 Vgl. auch Müllers Überlegungen zu den Überlieferungskontexten des ›König im Bad‹: Müller: König im Bad, S. 70–82. 38 Zu diesen Handschriften vgl. Kap. IV.1.1.2. 39 Vgl. Kap. IV.1. 40 So auch die Vermutung Müllers, dass der ›König im Bad‹ in einer Sammlung mit geistlichen Strickeriana gestanden haben könnte, vgl. Müller: König im Bad, S. 76 f.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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Für diese Annahme spricht auch die Kleinepiksammlung M,41 die den ›König im Bad‹ im Umfeld von Stricker-Texten überliefert. Diese Handschrift enthält fast ausschließlich geistliche Texte, zum größten Teil Strickeriana. Im Schlussteil der Handschrift sind zwei Barlaam-Parabeln, die geistliche Erzählung ›Bonus‹, ›Der König im Bad‹, die ›Passional‹-Marienmirakel 24 und 10, ›Der Heller der armen Frau‹ sowie der didaktische Reimpaartext ›Cato‹ und ein Mariengruß eingefügt. Die Textgestalt des ›Königs im Bad‹ ist in der Melker Handschrift recht eigenständig42 – vermutlich wurde hier eine andere Vorlage benutzt als in HK, die möglicherweise ebenfalls eine Zusammenstellung von Stricker-Texten und dem ›König im Bad‹ enthielt. Für die Aufnahme des ›Königs im Bad‹ in die Kleinepiksammlungen HKM scheint in erster Linie die Versform des Textes verantwortlich gewesen zu sein. Ein Bewusstsein für den religiösen Inhalt des Textes spiegelt sich in seiner Aufnahme in die geistlich orientierte Sammlung der Handschrift M sowie im seinem geistlich geprägten unmittelbaren Kontext in den Handschriften HK. In der verschollenen Klosterneuburger Handschrift 1244 (C), die hauptsächlich geistliche Kleinepik enthält, folgt der ›König im Bad‹ auf die ›Tochter Syon‹ und eine Alexius-Legende und geht drei Verserzählungen voraus, die die Würde des Eucharistie-Sakraments behandeln. In einer thematischen Perspektive kann der hochmütige König in dieser Sammlung als negative Gegenfigur zum heiligen Alexius aufgefasst werden, der demütig in freiwilliger Armut unerkannt im Elternhaus lebt, während der König von einem Engel dazu gezwungen werden muss, als Narr vor dem eigenen Hof zu erscheinen. Auch zu den nachfolgenden Erzählungen ist eine thematische Verbindung möglich. In seiner Belehrung fordert der Engel vom König: dv solt gelovben han, / daz dir die prister kvnden; / weistv sie halt in svnden, / doch lerent si dich mit der schrift / die waren kristenlichen stift (›König im Bad‹, V. 300 ff.). Dies passt zum Thema der folgenden Texte, die plausibel zu machen versuchen, dass die Würde des Eucharistie-Sakraments durch einen unwürdigen Priester nicht geschmälert wird.43 Für die Aufnahme des Textes in die Handschrift C spielten sowohl die Versform als auch der religiöse Inhalt des ›Königs im Bad‹ eine Rolle. Die Tatsache, dass in die Handschrift C auch ein geistlicher Prosa-Text aufgenommen wurde, könnte allerdings darauf hindeuten, dass hier der religiöse Inhalt entscheidender war als die Versform – im Gegensatz etwa zu HK.

41 Zu dieser Handschrift vgl. Kap. IV.1.1.3. 42 Vgl. Müller: König im Bad, S. 111 f. 43 Allerdings kann diese Verbindung nicht mit Sicherheit gezogen werden, da gerade die Stelle mit den sündigen Priestern in vielen Textzeugen missverstanden und geändert wurde. Da der Text von C nicht mehr fassbar ist, muss offenbleiben, wie die Stelle dort lautete.

282 | V Überlieferungskontexte 1 2.1.2 Fragmente Drei weitere aus dem 14. Jahrhundert stammende Pergamenthandschriften des ›Königs im Bad‹ sind nur fragmentarisch erhalten. Die Bruchstücke legen aber nahe, dass es sich auch bei diesen Handschriften um Sammlungen mehrerer kleinepischer Texte gehandelt hat. G

Den Haag/’s-Gravenhage, Königl. Bibl., Cod. 74 B 10, IIc

Pergament · ein beschnittenes Doppelbl. und zwei Einzelbll. · erhaltener Schriftraum: 10,1 × 4,8–6,8 · ripuarisches Sprachgebiet · 2. Viertel 14. Jahrhundert Inhalt: ›Zwiegespräch zwischen einem Ritter und einer Dame‹ ›König im Bad II‹ (V. 271–319) Lit.: Conrad Borchling: Mittelniederdeutsche Handschriften in Norddeutschland und den Niederlanden. Erster Reisebericht. In: Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Klasse. Geschäftliche Mittheilungen 1898. Göttingen 1899, S. 79–316, hier S. 251–253; Tilo Brandis: Mittelhochdeutsche, mittelniederdeutsche und mittelniederländische Minnereden. Verzeichnis der Handschriften und Drucke (MTU 25), München 1968, S. 233; Melitta Rheinheimer: Rheinische Minnereden. Untersuchungen und Edition (GAG 144). Göppingen 1975, S. 107–110, 120–125, 255; Müller: König im Bad, S. 33 f.; Hans Kienhorst: Lering en stichting op klein formaat. Middelnederlandse rijmteksten in eenkolomsboekjes van perkament. Bd. II: Handschriften (Miscellanea Neerlandica 32). Leuven 2005, S. 353; Klingner/Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 2, S. 55.

In der Handschrift G steht der ›König im Bad‹ neben einer Minnerede. Es scheint sich bei dieser Handschrift um eine Sammlung kleinepischer Texte gehandelt zu haben, die kein spezifisches inhaltliches Profil erkennen lässt.44 Die Ausstattung der Handschrift ist wenig repräsentativ: Das kleine Format und das niedrige Schriftniveau deuten darauf hin, dass die Handschrift eher für die (Einzel-)Lektüre gedacht war. Bei einem Blick auf die lokale Verbreitung der frühen ›König im Bad‹-Überlieferung, die sich auf den südostdeutschen Raum konzentriert, kommt der aus dem wmd. Sprachgebiet stammenden Handschrift G eine bemerkenswerte Stellung zu. Ob es sich hierbei um einen Einzelfall handelt, wie die erhaltene Überlieferung suggeriert, oder ob der ›König im Bad‹ schon im 14. Jahrhundert auch im Nordwesten des deutschen Sprachraums verbreitet war, muss offen bleiben.

44 Zur gemeinsamen Überlieferung von narrativer Kleinepik und Minnereden vgl. Mihm: Überlieferung, S. 108–112. Beispiel: Leipzig, UB, Ms 1614, Bl. 17–19 (omd. Sprachgebiet, Mitte 14. Jahrhundert; Inhalt: ›Liebesklage an die Geliebte G‹, ›Klage über Trennung von der Geliebten G‹, ›Das Frauenturnier‹).

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

D

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Dresden, SLUB, Mscr. App. 186, Nr. 7

Pergament · 2 Bll. · 25,5 × 17,5 · Bayern · Mitte 14. Jahrhundert Inhalt: ›König im Bad‹ (V. 17–320) Lit.: Hoffmann: Die deutschsprachigen Handschriften, abrufbar unter: http://www.manuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/obj31600034 (30.1.2014); Werner J. Hoffmann: Ein unbekanntes Dresdner Fragment vom ›König im Bad‹. In: Gedenkschrift Christoph Gerhardt. Hrsg. von Ralf Plate (erscheint 2015).

Das Fragment D bietet eine Textfassung, die zwischen den beiden von Müller angesetzten Versionen I und II steht.45 Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass der ›König im Bad‹ schon vor der Entstehung der erhaltenen Textzeugen in unterschiedlichen Vorstufen weit verbreitet war. Auf den Bll. 1r und 2v des Fragments sind am oberen Rand Abklatsche von einem Streifen des Doppelblatts, welches das erhaltene Doppelblatt umschloss, zu erkennen. Die kaum mehr lesbaren Textstücke sind Versenden nicht identifizierter Reimtexte – auch hier handelte es sich also um eine Sammlung mehrerer Verstexte, deren inhaltliches Profil allerdings nicht mehr zu rekonstruieren ist. W

Wien, ÖNB, Cod. Ser. nova 3809

Pergament · 1 Doppelbl. · 22 × 16,8 · bair. Sprachgebiet · 2. Hälfte 14. Jahrhundert Inhalt: ›König im Bad II‹ (V. 146–203) ›Winsbecken-Parodie‹ Lit.: Menhardt: Verzeichnis III, S. 1498; Joseph Seemüller: Persenbeuger Bruchstücke. ZfdA 55 (1917), S. 439–444; Otto Mazal/Franz Unterkircher: Katalog der abendländischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek. Series nova (Neuerwerbungen). Teil 3: Cod. Ser. n. 3201–4000 (Museion. Veröffentlichungen der Österr. Nationalbibliothek, N.F. IV,2,3). Wien 1967, S. 296 f.; Müller: König im Bad, S. 39 f.

In diesem Fragment steht neben dem ›König im Bad‹ ein weiterer kleinepischer Text, eine Parodie des Lehrgedichts ›Der Winsbecke‹.46 Der ›König im Bad‹ wurde also nicht nur mit geistlicher Kleinepik, sondern auch mit parodistischen Texten zusammengestellt. 2.1.3 Handschriften des späten 14. und 15. Jahrhunderts Der ›König im Bad‹ ist in drei Kleinepiksammlungen des späten 14. bzw. 15. Jahrhunderts überliefert. In diesen Sammlungen47 wurden einerseits Texte aus dem Bestand der älteren Kleinepiksammlungen weitertradiert, andererseits

45 Zur textgeschichtlichen Einordnung vgl. Hoffmann: König im Bad (in Vorbereitung). 46 Vgl. Frieder Schanze: Winsbecke, Winsbeckin und Winsbecken-Parodie. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1224–1231, bes. Sp. 1228 f. 47 Beschreibungen der Handschriften in Kap. IV.1.1.10; IV.1.1.14; IV.1.1.13.

284 | V Überlieferungskontexte 1 wurden auch jüngere, erst im Lauf dieser Jahrhunderte entstandene Texte aufgenommen. Die 1393 in Innsbruck geschriebene Papierhandschrift Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2885 (w) enthält hauptsächlich weltliche Kleinepik. Der ›König im Bad‹ steht jedoch gegen Ende der Handschrift innerhalb einer Gruppe mehrheitlich geistlicher Texte: Auf die allegorische Rede ›Von drei Wappen‹48 folgen des Strickers ›Ernsthafter König‹, der ›König im Bad‹, der ›Württemberger‹, die didaktische Rede ›Der Magezoge‹ und Heinrichs von Freiberg heilsgeschichtliche Erzählung ›Die Kreuzesholzlegende‹. Mit dem ›Ernsthaften König‹ ist der ›König im Bad‹ durch die jeweiligen Überschriften in eine engere Verbindung gestellt: Während der Stricker-Text Von dem ernsthaften ku ´nig (Bl. 181vb) heißt, trägt der ›König im Bad‹ die Überschrift: Von dem ´ ubr mutigen ku ´nig (Bl. 184va). Diese Überschrift ist nur hier bezeugt und scheint vom Schreiber der Handschrift w bewusst gewählt worden zu sein, um Parallelität (König) und Kontrast (ernsthaft/hochmütig) der beiden Protagonisten zu betonen.49 Die beiden anderen Sammlungen, die ›Liedersaal‹-Handschrift Karlsruhe, BLB, Donaueschingen 104 (l), und die Handschrift Karlsruhe, BLB, Cod. k 408 (k), enthalten jeweils eine Mischung weltlicher und geistlicher Texte, wobei die weltlichen Texte überwiegen. Eine planvolle thematische Einordnung des ›König im Bad‹ ist in diesen Sammlungen nicht erkennbar: In l steht der ›König im Bad‹ zwischen einem Freidank-Abschnitt und Sibotes ›Frauenzucht‹, in k zwischen dem ›Cato‹ und des Zwickauers ›Des Mönches Not‹. In der Handschrift l wurden am Ende des ›Königs im Bad‹ 14 epilogartige Verse angehängt, in denen der Rezipient aufgefordert wird, ebenfalls demütig zu sein, um das Seelenheil zu erlangen. Die Zusatzverse bringen inhaltlich nichts Neues, sie repetieren und explizieren nur die im Text angelegten didaktischen Aussagen. Die Versform des ›Königs im Bad‹ war für die Aufnahme in diese Handschriften wohl das entscheidende Kriterium. Denkbar ist auch, dass der ›König im Bad‹ nur deshalb in diese Sammlungen gelangte, weil er bereits in älteren Kleinepiksammlungen überliefert war und im Verbund mit anderen Texten in die jüngeren Sammlungen übernommen wurde, ohne dass dabei bewusste inhaltliche oder formale Entscheidungen eine Rolle spielten.

48 Ausgabe: Ute Schwab: Der Endkrist des Friedrich von Saarburg und die anderen Inedita des Cod. Vind. 2885 (Quaderni della Sezione Germanica degli Annali 1). Neapel 1964, S. 111 f. 49 Zu Ordnungsprinzipien in der Handschrift Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2885 s. auch Westphal: Textual Poetics, S. 73–80.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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2.1.4 Autorzentrierte Sammlungen Zwei Sammlungen, bei denen jeweils das Werk eines namentlich bekannten Autors im Zentrum steht, überliefern außerdem auch den anonymen ›König im Bad‹. Eine früher im Besitz von Wolfgang Christoph Freiherr von Velderndorf zum Neidenstein befindliche, seit 1645 verschollene Handschrift vom Jahr 1402 (q) enthielt hauptsächlich Werke Peter Suchenwirts. Eine Abschrift des Inhaltsverzeichnisses und einzelner Texte der Handschrift ist erhalten in Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 10100a.50 Neben dem Suchenwirt-Corpus enthielt die Handschrift demnach dreizehn weitere Texte, darunter neben dem ›König im Bad‹ auch weitere geistliche Erzählungen: Versweigseinnicht: ›Unsers herrn Wapen‹ Schondoch: ›Die Königin von Frankreich‹ Konrad von Würzburg: ›Heinrich von Kempten‹ Konrad von Würzburg: ›Die Goldene Schmiede‹ Konrad Harder: ›Frauenkranz‹ Heinrich von Freiberg: ›Legende vom Heiligen Kreuz‹ Heinzelin von Konstanz: ›Die zwei Sankt Johannsen‹ Jakob Peterswald: ›Die sieben Farben‹ Konrad von Würzburg: ›Herzmaere‹ (in der Handschrift Gottfried von Straßburg zugeschrieben) ›König im Bad‹ Versweigseinnicht: ›Von Stet und Unstette‹ Heinrich Hundertpfund: ›Von unser Frauen Marien Lobgedicht, genannt die guldin Arch‹ ›Von Cheuferen von Orient‹.

Die Handschrift Berlin, Staatsbibl., Mgq 361 (b) enthält eine Sammlung von Gedichten Heinrichs des Teichners. b

Berlin, Staatsbibl., Mgq 361

Papier · 302 Seiten (+ 13 ungezählte Bll.) · 21,5 × 14,5 · Bayern · um 1460/70 Inhalt: Sammlung von Teichner-Reden und Zusatztexte Lit.: Die Gedichte Heinrichs des Teichners. Hrsg. von Heinrich Niewöhner. 3 Bde. (DTM 44, 46, 48). Berlin 1953–1956, Bd. 1, S. LXXXIV f.; Müller: König im Bad, S. 40 f.

Die Sammlung wurde um Peter Suchenwirts Nachruf auf den Teichner und fünf weitere, nicht vom Teichner stammende Stücke ergänzt, die in der Handschrift in

50 Vgl. Müller: König im Bad, S. 56. Abdruck des Inhaltsverzeichnisses bei Alois Primisser: Peter Suchenwirts Werke aus dem vierzehnten Jahrhunderte. Ein Beytrag zur Zeit- und Sittengeschichte. Wien 1827 (Nachdruck Wien 1961), S. XLIX–LI. Beschreibung des Cod. Vindob. 10100a (um 1645), der neben einer Abschrift des Inhaltsverzeichnisses auch Abschriften einzelner Texte der Neidensteiner Handschrift enthält, bei Menhardt: Verzeichnis III, S. 1198–1201. Vgl. auch Klingner/Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 2, S. 110.

286 | V Überlieferungskontexte 1 zwei Gruppen zusammenstehen: an einer Stelle die ›Secretum-secretorum‹-Bearbeitung des Michel Gernpass,51 der ›König im Bad‹ und die ›Meierin mit der Geiß‹ (S. 116–138), an einer anderen Stelle die Minnerede ›Die sechs Farben‹ II und die geistliche Rede ›Krieg von Wein, Met und Bier‹ (S. 239–245). Eine thematische Einbindung in die Teichner-Sammlung lässt sich nicht feststellen. 2.1.5 Indirekt bezeugte Handschriften Neben den erhaltenen Handschriften und Fragmenten finden sich in zwei Bücherverzeichnissen von 1369/76 bzw. 1444 Hinweise auf weitere Textzeugen des ›Königs im Bad‹ bzw. des ›Nackten Kaisers‹. Das ältere der beiden Verzeichnisse enthält ein Besitzinventar des Ritters Erhard der Rainer von Schambach.52 In seinem Bücherverzeichnis werden neben einem ›Väterbuch‹, einem ›Tristan‹, einem Psalter, einem Arzneibuch, einer ›Kindheit Jesu‹ bzw. einem Marienleben, Texten des Teichners und Freidanks, einer Dekalogauslegung, einem ›Lucidarius‹, Urbaren, Lehn- und Salbüchern, einem Text über die fünf klugen und die fünf törichten Jungfrauen, Kalendern, einem Steinbuch, Lyrik Frauenlobs und Neidharts auch kleinepische Texte genannt: der ›Sperber‹, der ›Rosendorn‹ und der ›Weinschwelg‹. Der ›König im Bad‹ bzw. der ›Nackte Kaiser‹53 befand sich in einer kleinen Sammlung, die als I pue chel von her plick / vnd her Lawe reyn vnd den plozzen chue nichk benannt wird.54 Der erste Text ist nicht zu identifizieren, der zweite ist das kurze Dietrichepos ›Laurin‹. Bei diesem pue chel handelte es sich wohl um eine nur wenige Lagen umfassende Sammlung. Vermutlich war dieser Handschriftentyp verbreitet, es haben sich jedoch aufgrund des geringen Umfangs und der wahrscheinlich einfachen Ausstattung (lose Hefte, flexible Einbände?) kaum Exemplare davon erhalten. Aus dem Jahr 1444 stammt ein Inventar über die im Darmstädter Schloss der Grafen von Katzenelnbogen vorhandenen Wertsachen wie Stickereien, Bücher, Schmuck, Geräte und Wäsche.55 Unter den Büchern der Grafen sind eine ›Bran-

51 Zu diesem Text: Regula Forster: Das Geheimnis der Geheimnisse. Die arabischen und deutschen Fassungen der pseudo-aristotelischen Sirr al-asrar/Secretum secretorum (Wissensliteratur im Mittelalter 43). Wiesbaden 2006, S. 189. 52 Vgl. Klaus Matzel: Ein Bücherverzeichnis eines bayerischen Ritters aus dem 14. Jahrhundert. In: Medium Aevum Deutsch. Beiträge zur deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters (FS Kurt Ruh). Hrsg. von Dietrich Huschenbett u.a. Tübingen 1979, S. 237–245; Müller: König im Bad, S. 56 f. 53 Matzel: Bücherverzeichnis, S. 244, vermutet den ›König im Bad‹ hinter dem Titel, Müller: König im Bad, S. 57 tendiert eher zur Identifizierung mit Herrands ›Nacktem Kaiser‹. Letzteres scheint mir aufgrund des Titels wahrscheinlicher zu sein. 54 Matzel: Bücherverzeichnis, S. 239. 55 Vgl. Karl Ernst Demandt: Regesten der Grafen von Katzenelnbogen 1060–1486. 4 Bde. (Ver-

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹ |

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dan‹-Erzählung, ein Psalter, verschiedene theologische Texte, eine ElisabethLegende, eine deutsche Bibel, eine Dekalogauslegung, ein Exemplar von ›Der Heiligen Leben‹, ein ›Lucidarius‹, ein Rechtsbuch, ein Buch mit Artusliteratur und eines mit Neidhart-Literatur zu finden. Die Kleinepik ist vertreten durch ›Die Heidin‹56 sowie 2 sextern von dem scholer von Pariß, der konigin bat, der eebrecher mere, deß Nitharts profincie. Bei der Formulierung ist nicht ganz klar, ob es sich hierbei um zwei Sexternionen handelte, die diese vier Texte enthielten, oder ob allein der ›Schüler zu Paris‹ die beiden Sexternionen füllte und die anderen Texte Einzelhefte waren. Allerdings spricht die sonstige Anlange des Verzeichnisses, in dem ein neues Objekt meist mit einer Zahl bezeichnet wird, eher für ersteres. Dann läge hier ebenfalls eine kleine Sammlung kürzerer Verstexte vor, in der der ›König im Bad‹ zwischen zwei weltlichen Erzählungen Platz gefunden hätte.

2.2 Literarische Sammelhandschriften Bereits im 13. Jahrhundert werden einzelne kleinepische Texte auch im Kontext umfangreicherer literarischer Werke überliefert. Für die geistliche Kleinepik spielt dabei Rudolfs von Ems Legendenepos ›Barlaam und Josaphat‹ eine besondere Rolle.57 Der Handschriftentyp der literarischen Sammlung von Texten unterschiedlichen Umfangs und verschiedener thematischer Ausrichtung ist auch für die Überlieferung des ›Königs im Bad‹ im 15. Jahrhundert von Bedeutung. 2.2.1 Die Handschrift h: Artusroman und Historie h

Hamburg, SUB, Cod. germ. 6

Papier · 307 Bll. · 29 × 21 · Rheinfranken (Speyer?) · 1450/51–52 Inhalt: S. 2a–4a Meisterlied ›König Artus’ Horn‹ S. 4a–6b Meisterlied ›Luneten Mantel‹ S. 8a–365a Wolfram von Eschenbach: ›Parzival‹ S. 365a Historische Notiz zu König Artus S. 367a–560a Wirnt von Grafenberg: ›Wigalois‹ S. 560a–567a Brief des ägyptischen Sultans Abul Nasr S. 567a–569a Brief des Sultans Almansor von Babylon S. 569a–575b ›König im Bad‹

öffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 11). Wiesbaden 1953–1957, Bd. 2, S. 1174 f.; Müller: König im Bad, S. 55. 56 ›Die Heidin‹ ist wohl gemeint mit 1 dutsch buch von eyme heiden (Demandt: Regesten, S. 1174). 57 Vgl. Kap. IV.1.2.1.

288 | V Überlieferungskontexte 1 S. 576a–587a S. 589a–610b S. 611a–612b S. 612b

Tabellarische Aufstellung der Einzugsordnung bei der Krönung Kaiser Friedrichs III. in Rom Dokumente aus dem Leben Johannas von Orle´ans Artikel des Friedensvertrages zwischen Bischof von Lüttich (Johannes VIII. von Heinsberg) und der Stadt Lüttich 1408 Bericht über die Geburt eines Monstrums in Straßburg (lat.)

Lit.: Christine Putzo: Sammelhandschrift: Meisterlieder; Wolfram von Eschenbach, »Parzival«; Wirnt von Grafenberg, »Wigalois«; Chronikauszüge; Kleinepik (Kat. 23). In: Von Rittern, Bürgern und von Gottes Wort. Volkssprachige Literatur in Handschriften und Drucken aus dem Besitz der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Ausstellungskatalog. Hrsg. von Eva Horva´th/Hans-Walter Stork (Schriften aus dem Antiquariat Dr. Jörn Günther, Hamburg, 2). Kiel 2002, S. 64–67, 136–141; Gesa Bonath: Untersuchungen zur Überlieferung des Parzival Wolframs von Eschenbach. Bd. II (Germanische Studien 239). Lübeck/ Hamburg 1971, S. 229–245; Peter Jörg Becker: Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Eneide, Tristrant, Tristan, Erec, Iwein, Parzival, Willehalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied und ihre Reproduktion und Rezeption im späteren Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Wiesbaden 1977, S. 92–94; Achim Thomas Hack: Ein anonymer Romzugsbericht von 1452 (Ps-Enenkel) mit den zugehörigen Personenlisten (Teilnehmerlisten, Ritterschlagslisten, Römische Einzugsordnung) (ZfdA. Beiheft 7). Stuttgart 2007, S. 13; Michael Stolz: Von der Überlieferungsgeschichte zur Textgenese. Spuren des Entstehungsprozesses von Wolframs ›Parzival‹ in den Handschriften. In: Grundlagen, S. 37–61, hier S. 38, 43, 52, Anm. 53 und 56.

Die Handschrift wurde in den Jahren 1450–52 von einem Schreiber namens Jordan für seinen Eigengebrauch geschrieben, wie die Kolophone am Ende des ›Parzival‹ und des ›Wigalois‹ angeben: Explicit Parzifal Anno d[omi]nj M° Cccc° lj iar off purificac[i]o marie verginis wart dis buo ch geschrieben von Jordan vnd ist auch sin (S. 365a).58 Christine Putzo hat aufgrund der als Spiegel verwendeten Fragmente einer hebräischen Tora-Rolle und eines Kaufvermerks aus dem 16. Jahrhundert, in dem ein Freiherr von Ende erwähnt wird, Speyer als Entstehungsort in Erwägung gezogen.59 Hinter dem Schreiber Jordan vermutete Peter Jörg Becker einen »Kanzlist[en] und Beamte[n] einer Herrschaft«,60 da neben den offensichtlichen Lateinkenntnissen auch die seltene Zusammenstellung der beiden Epen Wolframs und Wirnts in einer Handschrift, die laut Becker für einen Adligen nicht denkbar wäre, für einen »Bürger vom Schlage Jordans«61 spräche. Auch wenn Beckers Urteil, was die Zusammenstellung der Texte angeht, wohl nicht ganz zutreffend ist,62 erscheint die von ihm vorgeschlagene sozialhistorische Verortung Jordans doch naheliegend.

58 59 60 61 62

Zit. nach Putzo: Sammelhs., S. 64. Vgl. Putzo: Sammelhs., S. 66. Becker: Handschriften und Frühdrucke, S. 94. Becker: Handschriften und Frühdrucke, S. 94. Tatsächlich findet sich die Zusammenstellung nur in einer weiteren erhaltenen Handschrift:

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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Die Textzusammenstellung charakterisiert Putzo folgendermaßen: »Den zwei Artusromanen folgt eine Sammlung kürzerer, sehr divergenter Texte, deren thematischer Nexus vorsichtig durch ein Interesse am (Fabulös-)Historischen bestimmt werden kann und in der Zeitgenössisch-Historiographisches und Fiktional-Literarisches in ungewöhnlichem Überlieferungsverbund verquickt werden.«63 Sie stellt die Hypothese auf, dass der jetzigen Sammlung zwei verschiedene Sammlungen, eine mit Artusliteratur, eine mit historischem Schwerpunkt, zugrunde liegen könnten.64 Die historische Sammlung hätte ursprünglich mit dem Text über Johanna von Orle´ans begonnen, der eine neue Lage mit einer neunzeiligen Initiale eröffnet. Diese Lage wäre schon fertiggestellt gewesen, als die davorstehenden kleinen Texte auf die leergebliebenen Blätter der letzten ›Wigalois‹-Lage und einer weiteren Lage eingetragen wurden, denn es musste vor der Lage mit dem Johanna-Text noch ein Blatt eingefügt werden, um das Ende der ›Einzugsordnung‹ einzutragen. Dies ist eine durchaus plausible Erklärung für die Entstehungsgeschichte der Handschrift. Allerdings ist zu beachten, dass – wie Putzo festgestellt hat – sowohl der direkt nach dem ›Wigalois‹ eingetragene Brief des Sultans Abul Nasr als auch die Dokumente zu Johanna von Orle´ans und die nachfolgenden historischen Stücke (Friedensartikel, Monstrenbericht) aus derselben chronikalischen Quelle stammen.65 Es wird also wohl kein langer Zeitraum zwischen der Abschrift der ›Johanna‹ und der Ergänzung der ArtusepikSammlung um die historischen Nachträge gelegen haben. Außerdem bildeten das »(Fabulös-)Historische« und das »Fiktional-Literarische« in den Augen Jordans (und überhaupt der spätmittelalterlichen Rezipienten dieser Texte) wohl keinen so großen Gegensatz wie für moderne Betrachter.66 Darauf deutet auch die historische Notiz über Artus hin, die Jordan nach dem ›Parzival‹ eingefügt hat: In dem iar da man zalt noch xps geburte cccc und lxiiij iar Do was hilarius Babst In der selben zijt Alz man lieset jn den historien der Britanien do reigirte jn Britania Arthuo rus der konig der schuff mit siner miltekeit Das jm dienten Franckerich Flandern Norwegen Dacia vnd vil ander riche Vnd der selbe konig Artus wart in einem strijt

Schwerin, LB, o. S. (md. Sprachgebiet, um 1435/40). Ob dies allerdings ausreicht, um die Zusammenstellung als »anscheinend verpönt« (Becker: Handschriften und Frühdrucke, S. 94) zu bezeichnen, ist fraglich. Kritik an Beckers Ansicht äußern Bernd Schirok: Parzivalrezeption im Mittelalter (Erträge der Forschung 174). Darmstadt 1982, S. 39 f. und Putzo: Sammelhs., S. 66. 63 Putzo: Sammelhs., S. 64. 64 Vgl. Putzo: Sammelhs., S. 66 mit Anm. 134 (S. 136 f.). 65 Dabei handelt es sich um das ›Sigismundbuch‹ Eberhard Windecks und dessen Zusatzüberlieferung, vgl. Putzo: Sammelhs., Anm. 140, 144, 145, 146 (S. 137 f.). 66 Vgl. dazu auch Eckart Conrad Lutz: Schreiben, Bildung und Gespräch. Mediale Absichten bei Baudri de Bourgueil, Gervasius von Tilbury und Ulrich von Liechtenstein (Scrinium Friburgense 31). Berlin/Boston 2013, S. 181–191.

290 | V Überlieferungskontexte 1 dotlich wunt vnd fure hinder sich jn ein jnsel sin wonden da zue heilen Vnd do noch vernoment sin lute nie war er keme jn den jnseln.67 Jordan scheint den Artusromanen ein zumindest teilweise historisch geprägtes Interesse entgegengebracht zu haben. Die Verbindung von Historischem und Fiktionalem zeigt sich auch bei den Sultansbriefen, deren einer auf ein historisches Ereignis zurückgeht,68 während der andere eine fingierte Einladung zum Turnier enthält.69 Der ›König im Bad‹ entbehrt ebenfalls jeder historischen Grundlage, dennoch ist er in den historischen Teil integriert. Ein nicht ganz vollständiges Inhaltsverzeichnis, das Jordan auf dem vorderen Spiegel notiert hat, gibt weiteren Aufschluss über seine Perspektive auf die Sammlung:70 Item dis ist der Parcifal wie er den Gral erwarb Item her Wigalois büch Item von dem Soldane ein abegeschrifft alz er den konig von Cypern gefangen hette Vnd wie er schreibe dem großen meister von Rodis Item von dem konige in dem bade Item wie konig Friderich zuo Rom einreit vnd zuo keiser gekronet wart vnd mit jme des koniges dochter von Portegal Item von der jungfrauwen uß Lottringen geborn die dem konige Karolo zue Franckerich zuo helffe kam wieder die Engelschen Item die rachtunge zwischen dem Bischoff von Luettich vnd der stat [Lücke] und ist [Rasur]

Die Texte werden jeweils mit einer Herrscherfigur in Verbindung gebracht: Nach den Herren Parzival und Wigalois werden der König von Zypern, der König Friedrich und die Königstochter von Portugal sowie der König von Frankreich erwähnt, dem Johanna von Orle´ans behilflich war. In diese Reihe fügt sich auch der ›König im Bad‹ ein. Dies deutet darauf hin, dass Jordan den ›König im Bad‹ als quasi-historisches Exempel verstand, das – analog zu anderen Beispielen aus der (jüngeren) Vergangenheit – das Thema der richtigen bzw. falschen Herrschaft behandelt. Unter diesem Aspekt konnten auch die beiden Artusepen gelesen werden. Das Konzept von Herrschaft steht dabei immer auch vor einem geistlichen Sinnhorziont, der sowohl im ›Parzival‹ und ›Wigalois‹ als auch in den ›Sultansbriefen‹, dem ›König im Bad‹ und bei Johanna von Orle´ans präsent ist. Natürlich bleiben diese thematischen Verbindungen assoziativ und sollen nicht

67 Zit. nach Putzo: Sammelhs., Anm. 138 (S. 137). 68 Vgl. Putzo: Sammelhs., S. 64. Es handelt sich um die Gefangennahme des Königs Janus von Zypern durch die Mameluken. 69 Vgl. Bettina Wagner: Sultansbriefe. In: 2VL 11 (2004), Sp. 1462–1468, hier Sp. 1467. 70 Zit. nach Putzo: Sammelhs., Anm. 163 (S. 140). Der zweite Sultansbrief und der Monstrenbericht fehlen. Dies dürfte beim Sultansbrief daran liegen, dass schon ein Sultansbrief vorausging, beim Bericht durch die Schlussstellung und die Kürze des Textes bedingt sein.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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über die Verschiedenheit der Texte selbst hinwegtäuschen. Dennoch glaube ich, dass solche – wenn auch nicht immer konsequent durchdachten – assoziativen Verbindungen und Interessen in einer Sammlung, die von einem Einzelnen zum Eigengebrauch angelegt wurde, eine wichtige Rolle spielten. Für die Aufnahme des ›Königs im Bad‹ in diese Sammlung war also wohl weder seine Versform (in der Handschrift stehen Vers- und Prosatexte nebeneinander) noch sein religiöser Inhalt entscheidend, sondern seine herrscherdidaktische Dimension. Dieser Textzeuge zeigt, dass die vielfältigen Anknüpfungspunkte, die der ›König im Bad‹ trotz oder gerade wegen seiner Durchschnittlichkeit bietet, für den Überlieferungserfolg der Erzählung mitverantwortlich sind. 2.2.2 Die Handschrift o: Reiseliteratur und Herrscherdidaxe o

Stuttgart, WLB, Cod. poet. et phil. 2° 4 und Köln, Wallraf-Richartz-Museum, Nr. 109

Papier · 118 + 1 Bll. · 28,5 × 21 · Südrheinfranken (Mudau im Odenwald?) · 1471–74 Inhalt: Bl. 1ra–91ra Johann von Mandeville: ›Reisebeschreibung‹ (Übersetzung Ottos von Diemeringen) Bl. 91v–104v Michel Wyssenherre: ›Herr von Braunschweig‹ Bl. 105r–110v ›König im Bad‹ Bl. 112r–115v ›Rat der Vögel‹ Lit.: Wolfgang Irtenkauf/Ingeborg Krekler (mit Vorarbeiten von Isolde Dumke): Codices Poetici et Philologici (Die Handschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart I,2). Wiesbaden 1981, S. 5 f.; Michel Wyssenherre: Eyn buoch von dem edeln hern von Bruneczwigk als er uber mer fuore. In Abbildung aus dem Cod. poet. fol. 4 der Württembergischen Landesbibliothek hrsg. von Iris Dinkelacker/Wolfgang Häring (Litterae 41). Göppingen 1977, S. 8 f.; Klaus Ridder: Jean de Mandevilles ›Reisen‹. Studien zur Überlieferungsgeschichte der deutschen Übersetzung des Otto von Diemeringen (MTU 99). München 1991, S. 97–100; Petra Busch: Die Vogelparlamente und Vogelsprachen in der deutschen Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Zusammenstellung und Beschreibung des Textmaterials, Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte, Untersuchungen zur Genese, Ästhetik und Gebrauchsfunktion der Gattung (Beihefte zu Poetica 24). München 2001, S. 61–63.

Der Schreiber dieser Handschrift nennt sich namentlich und gibt bei zwei Texten das Datum ihrer Fertigstellung an. Am Ende der ›Reisen‹ des Johann von Mandeville nennt er sich im rubrizierten Explicit: Hie endet diß bochelin vnd ist geschriben vndnde [sic] gemallet durch die hendee Hanssen von Goßhem, ein tzentgreffe tzu Modau ´, tzu disser tzy¨t als man schribe von Cristus gebue rt dussent cccc lxxj jare vff mitwoch, sant Lauo rencien tag des helgen mertelers, vnd begern von got die gnade vnd guo de, das er yn vor sue nden vnd vor allem vebeln behue de vnd nymmer laße ersterben, er moe ge dan vor sin holle erwerben. Jhesus Maria amen (Bl. 91ra). Am Ende des ›Herrn von Braunschweig‹ hat Hans von Gochsheim auf

292 | V Überlieferungskontexte 1 dem Grabmal des Herzogs als Inschrift eingetragen: Anno domini m cccc lxx iu vff Reminiscere huius opus (Bl. 104v). Alle Texte außer dem ›König im Bad‹ sind in dieser Handschrift mit Bildern versehen. Der Schreiber war auch als Illustrator tätig. Es gab in der Forschung mehrere Versuche, den sonst unbekannten Hans von Gochsheim zu identifizieren.71 Mit Modau ´ ist wohl Mudau im Odenwaldkreis gemeint, das im 15. Jahrhundert ein den Erzbischöfen von Mainz unterstelltes Zentgericht hatte. Allerdings ist für den fraglichen Zeitraum kein Zentgraf namentlich belegt. Das Amt des Zentgrafen wurde »gelegentlich« von einem »Adlige[n], der dieses Amt als Lehen oder pfandweise innehatte«, meist aber von einem »niederen Beamten« ausgeübt.72 Mit dem Herkunftsort Gochsheim könnte ein Ort in der Nähe von Bruchsal bzw. ein Ort in der Nähe von Schweinfurt gemeint sein.73 Sowohl Klaus Ridder als auch Hans-Joachim Behr halten Gochsheim bei Bruchsal für wahrscheinlicher. Behr vermutet, der Schreiber der Handschrift könnte mit Hans von Eberstein († 1479) identisch sein, der ab 1451 ausschließlich in der von seinen Vorfahren gegründeten Stadt Gochsheim wohnhaft war. Hans von Eberstein ist als Vasall und Heerführer des Pfälzer Kurfürsten Friedrich I. und des Grafen Ulrich von Württemberg bezeugt (zuletzt 1469).74 Da die Familie verarmt war, erwägt Behr, dass Hans von Eberstein »angesichts seiner chronischen Geldnot in Mainzer Dienste übergewechselt [sei] und wenigstens zeitweise als Zentgraf von Mudau sein Auskommen hatte«.75 Diese Hypothese ist, wie Behr einräumt, urkundlich nicht zu belegen, und die Identifizierung des Schreibers der Handschrift o muss spekulativ bleiben. Fraglich ist auch, für wen die Handschrift angefertigt wurde. Einerseits ist es denkbar, dass der Schreiber sie – wie Jordan die Handschrift h – für sich selbst anlegte. Andererseits ziehen Ridder und Behr auch in Erwägung, dass die Handschrift eine Auftragsarbeit sein könnte. Ridder sieht die Grafen von Erbach oder die Herren von Hirschhorn als mögliche Auftraggeber, Behr die Grafen von Katzenelnbogen, die Verbindungen zu den Mainzer Erzbischöfen hatten.76 Als Grund für die Annahme einer Auftragsarbeit nennt Ridder allgemeine Tendenzen der

71 Vgl. Irtenkauf/Krekler: Codices Poetici et Philologici, S. 5; Müller: König im Bad, S. 45 f.; Ridder: Mandeville, S. 278; Hans-Joachim Behr: Löwenritter und Teufelsbündler – Ein Braunschweiger Herzog auf Abwegen. Überlegungen zur Lokalisierung von Michel Wyssenherres Dichtung. Fifteenth Century Studies 24 (1998), S. 17–25. 72 Karl Kroeschell: Die Zentgerichte in Hessen und die fränkische Centene. Zeitschrift für Rechtsgeschichte 73 (1956), S. 300–360, hier S. 346. Zitiert auch bei Behr: Löwenritter, S. 17. 73 Vgl. Ridder: Mandeville, S. 278; Behr: Löwenritter, S. 19. 74 Vgl. Behr: Löwenritter, S. 20. 75 Behr: Löwenritter, S. 20. 76 Vgl. Ridder: Mandeville, S. 293; Behr: Löwenritter, S. 20 f.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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Johann von Mandeville-Überlieferung, die zeigen, dass in der zweiten Rezeptionsphase, der auch die Stuttgarter Handschrift angehört, v.a. hochadlige Rezipienten des Textes belegt sind.77 Behr begründet die Vermutung durch die Bebilderung der Handschrift und einen möglichen Zusammenhang der Reiseliteratur in der Handschrift mit der Palästinareise Philipps d. Ä. von Katzenelnbogen in den Jahren 1433/34. Es ist durchaus denkbar, dass ein Beamter nebenbei eine Auftragsarbeit für seine vermögenden Herren erledigte. Allerdings stellt sich hierbei die Frage, warum ein vermögender Auftraggeber nicht einen besseren Maler beschäftigte bzw. bei einem persönlichen Interesse an den Texten nicht selbst in der Handschrift deutlicher in Erscheinung treten wollte, etwa durch eine Nennung oder ein Wappen.78 Auch in diesem Punkt ist keine gesicherte Aussage möglich. Deutlich tritt dagegen das Sammelinteresse des Schreibers bzw. des Auftraggebers zutage. Auf Johann von Mandevilles weit verbreiteten, mit vielen Mirabilia ausgestatteten Reisebericht folgt eine hier unikal überlieferte Fassung der Sage um Heinrich den Löwen:79 Der Herzog von Braunschweig wird auf einer Pilgerreise in eine unwirtliche Gegend verschlagen, muss mit Greifen, Drachen und Kranichschnäblern kämpfen, wobei ihm ein Löwe behilflich ist, und wird schließlich wieder in die Heimat zurückgebracht, wo er gerade noch rechtzeitig mit einer Ringhälfte als Erkennungszeichen die Wiederverheiratung seiner Frau verhindern kann. Den größten Teil dieser strophischen Erzählung macht ein Pilgerreisebericht aus, verbunden mit dem Interesse an der Person eines Herrschers. Die Herrschaftsthematik dürfte auch das verbindende Glied zu den beiden anderen Texten der Handschrift gewesen sein, dem ›König im Bad‹ und dem ›Rat der Vögel‹. Der ›König im Bad‹ trägt die Überschrift: Diss her nach geschriben saget von eynem konigk wie es ym ergingk eyns mals in eynem bade, da ym syn gewalt genomen wart (Bl. 105r) und teilt mit dem ›Herrn von Braunschweig‹ das Motiv des Verlusts und der Wiedergewinnung von Herrschaft. Im ›Rat der Vögel‹ wird das Thema der rechten Herrschaft auf diskursiver Ebene verhandelt. Ausgangspunkt ist dabei eine Bitte des Königs der Vögel (Zaunkönig) um Ratschläge zur guten Herrschaftsausübung: der konig. Ich bieden uch, ir herren alle gar, / das ir myner eren nemet war, / vnd das myn lant in fryden sye, / das ich an

77 Zu dieser Überlieferungs- und Rezeptionsphase des ›Reiseberichts‹ vgl. Ridder: Mandeville, S. 290–303. 78 In der Mandeville-Handschrift Heidelberg, UB, Cpg 138 (Südrheinfranken, 2. Hälfte 15. Jahrhundert), die sich im 16. Jahrhundert in der Heidelberger Schlossbibliothek befand, ist beispielsweise Platz für die Illustrationen ausgespart. In Heidelberg, UB, Cpg 65 (Rheinfranken, 3. Viertel 15. Jahrhundert) sind die Wappen derer von Erbach und von Hirschhorn angebracht (Bl. 35rb). Zu diesen Handschriften vgl. auch Ridder: Mandeville, S. 56–59; 290–293. 79 Vgl. Klaus Ridder: Michel Wyssenherre. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1467–1470.

294 | V Überlieferungskontexte 1 laster lebe frye, / und radent mir, wy das ich / möge bewarn myn konigrich / und wisset mich recht und eben, / wie ich in eren möge leben (Handschrift Köln, Wallraf-Richartz-Museum, Nr. 109). Darauf geben verschiedene Vögel Antworten, wobei die guten Ratschläge auf der linken Seite (unter dem Zaunkönig), die schlechten Ratschläge auf der rechten Seite stehen. Neben jedem Ratschlag befindet sich das Bild des jeweils sprechenden Vogels. Mit dem ›König im Bad‹ teilt dieser Text die Frage nach guter Herrschaft sowie einfache, sprichwortartig verkürzt dargebotene Didaxe. Der ›König im Bad‹ wird in diesem Kontext, ähnlich wie der ›Herr von Braunschweig‹, wahrscheinlich als historisch verbürgte Geschichte von Fall und Wiederaufstieg eines Herrschers gelesen worden sein – der religiöse Inhalt und die Versform spielten wohl auch hier eine untergeordnete Rolle. Dass der ›König im Bad‹ als einziger Text der Handschrift nicht illustriert wurde, liegt wohl daran, dass Hans von Gochsheim für die anderen Texte bereits illustrierte Vorlagen hatte, für den ›König im Bad‹ aber nicht, da dieser Text nach Ausweis der erhaltenen Textzeugen erst im Druck mit Illustrationen ausgestattet wurde.

2.3 Exkurs: Geistliche Verserzählungen in niederdeutschen literarischen Sammelhandschriften An dieser Stelle soll kurz auf einen weiteren Typ literarischer Handschriften eingegangen werden, um das Bild möglicher Überlieferungskontexte geistlicher Verserzählungen im 15. Jahrhundert zu ergänzen: die niederdeutschen Sammlungen des 15. Jahrhunderts.80 Die Situation ist im Bereich der niederdeutschen Literatur insofern anders gelagert, als die Anzahl erhaltener Texte geringer ist als im hochdeutschen Bereich81 – in den Sammelhandschriften sind deshalb oft alle verfügbaren literarischen Verstexte zusammengetragen, ohne dass eine enge thematische Verbindung zwischen den einzelnen Texten erkennbar wäre.

80 Es gibt mehrere derartige Sammelhandschriften aus dem niederdeutschen Raum: die ›Livländische Sammlung‹ (Berlin, Staatsbibl., Mgo 186); die Wolfenbütteler Sammlung (Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 1203 Helmst.); das sog. ›Hartebok‹ (Hamburg, SUB, Cod. 102c in scrin.). 81 Beckers: Mittelniederdeutsche Literatur, S. 8–11.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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2.3.1 ›Der verlorene Sohn‹ in der Stockholmer Sammlung Stockholm, Königl. Bibl., Cod. Vu 73 Papier · 98 Bll. · 20 × 14 · Pommern · um 1420 Inhalt: Bl. 1r–33r ›Valentin und Namelos‹ Bl. 33r–47r ›Der verlorene Sohn‹ Bl. 47r–67r ›Flos und Blankflos‹ Bl. 67r–83r ›Theophilus‹ (Spielfassung) Bl. 83v ›Die Buhlschaft auf dem Baume B‹ Bl. 84r–95v ›Der Dieb von Brügge‹ Bl. 95v–97v ›Die Frau des Seekaufmanns‹ Bl. 98r Ausgabenverzeichnis eines Reisenden Lit.: Lotte Kurras: Deutsche und niederländische Handschriften der Königlichen Bibliothek Stockholm. Handschriftenkatalog (Acta Bibliothecae Regiae Stockholmiensis LXVII). Stockholm 2001, S. 87–89 und Abb. 47; Geeraedts: Stockholmer Handschrift, S. 7–25; Volker Krobisch: Zur Datierung der Stockholmer Sammlung. Niederdeutsches Wort 34 (1994), S. 75 f.; Roswitha Wisniewski: Zwei Sammelhandschriften aus Pommern. Besonders zu ›Marienklage‹, ›Theophilus‹, ›De segheler‹. In: Vom vielfachen Schriftsinn im Mittelalter (FS Dietrich Schmidtke). Hrsg. von Freimut Löser/Ralf G. Päsler (Schriften zur Mediävistik 4). Hamburg 2005, S. 623–635; Ralf G. Päsler: Zwischen Deutschem Orden und Hanse. Zu den Anfängen literarischen Lebens im spätmittelalterlichen Preußenland. In: Ostpreußen – Westpreußen – Danzig. Eine historische Literaturlandschaft. Hrsg. von Jens Stüben (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 30). München 2007, S. 155–173; Elisabeth de Bruijn: De codex spreekt boekdelen. Drie handschriften als sleutel tot de receptie van de Middelnederduitse ›Flos unde Blankeflos‹. Nieuw letterkundig magazijn 29 (2011), S. 25–29; Elisabeth de Bruijn: Die ›Floris ende Blancefloer‹-Überlieferung in den Nideren Landen. In: Dialog mit den Nachbarn. Mittelniederländische Literatur zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert. Hrsg. von Bernd Bastert/Helmut Tervooren/Frank Willaert (ZfdPh-Sonderheft 130). Berlin 2011, S. 113–126, hier S. 121–124; Elisabeth de Bruijn: Copy-paste? Die handschriftliche Präsentation mittelniederdeutscher epischer Texte in Handschrift Stockholm, KB, Cod. Holm. Vu 73. Niederdeutsches Jahrbuch 135 (2012), S. 33–57; Elisabeth de Bruijn: Give the Reader Something to Drink. Performativity in the Middle Low German ›Flos unde Blankeflos‹. Neophilologus 96 (2012), S. 81–101, bes. S. 82, 89 f.

An der Handschrift waren zwei Schreiber beteiligt (Bl. 1r–51v; 52r–97v). Ein eingeklebtes nd. Verzeichnis über Reiseausgaben gehörte wohl zum ursprünglichen Bestand der Handschrift, da es auf dem gleichen Papier wie die letzte Lage geschrieben ist.82 Die Angaben beziehen sich auf eine Reise über die pommerischen Orte Ziegenort, Altwarp, Anklam, Ranzin, Greifswald und Pölitz. Roswitha Wisniewski hat erwogen, dass das Verzeichnis die Stationen eines Reisenden wiedergibt, der die in Greifswald bestellte Handschrift abholte, um sie dem Auf-

82 Vgl. Geeraedts: Stockholmer Handschrift, S. 22–25.

296 | V Überlieferungskontexte 1 traggeber im Pölitzer Raum zu überbringen.83 Diese Hypothese lässt sich nicht beweisen, ist aber durchaus plausibel. Das Ausgabenverzeichnis ist jedenfalls ein deutliches Indiz für die Entstehung der Handschrift in diesem Raum. Über die auf dem Buchdeckel der Handschrift eingeschnitzten Wappen kann ein späterer Besitzer der Handschrift identifiziert werden: der schwedische Ritter und Ratsherr Arend Bengtsson (bezeugt 1445–1471).84 Auch wenn die Auftraggeber der Stockholmer Handschrift nicht fassbar sind, ist es doch naheliegend, sie in einem Umfeld städtischer Kaufleute zu suchen. Darauf könnte auch die Wanderung der Handschrift vom nordniederdeutschen in den südschwedischen Raum, entlang der Handelswege, hindeuten.85 Epische Texte dominieren die Sammlung. Mit der Erzählung von ›Valentin und Namelos‹, die die Kindheitsgeschichte von Helden aus der Karlssage behandelt, ist die Heldenepik vertreten, mit ›Flos und Blankflos‹, der Geschichte einer Kinderliebe zwischen einer christlichen Grafentochter und einem heidnischen Königssohn, die höfische Liebesgeschichte. Daneben stehen schwankhafte Erzählungen wie ›Der Dieb von Brügge‹, in der von einem Meisterdieb berichtet wird, der eine Königstochter gewinnt, und ›Die Frau des Seekaufmanns‹, in der die vergeblichen Versuche dreier Geistlicher, die Frau eines abwesenden Kaufmanns zu verführen, geschildert werden. Die ›Buhlschaft auf dem Baume‹ vereint schwankhafte und geistliche Elemente. Geistliche Mirakelgeschichten werden im ›Theophilus‹ und im ›Verlorenen Sohn‹86 erzählt. Einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der Zusammenstellung der Handschrift hatten wahrscheinlich die verfügbaren Vorlagen. Eine Überlieferungsgemeinschaft von ›Flos‹ und ›Theophilus‹ ist auch in der Handschrift Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 1203 Helmst. bezeugt und könnte dem Redaktor der Stockholmer Sammlung in dieser Form vorgelegen haben. Für die drei Dichtungen ›Valentin‹, ›Verlorener Sohn‹ und ›Dieb von Brügge‹, die sich stilistisch nahestehen, wurde sogar Verfasseridentität angenommen, was allerdings kaum zu

83 Vgl. Wisniewski: Zwei Sammelhss., S. 631. 84 Vgl. Geeraedts: Stockholmer Handschrift, S. 9. Neben der Zeitspanne von etwa zwei Jahrzehnten zwischen der Entstehung der Handschrift und den urkundlichen Belegen für Bengtsson spricht auch eine vermutliche Neubindung der Handschrift, bei der die letzte Lage in Mitleidenschaft gezogen wurde, für einen Besitzerwechsel (vgl. Geeraedts: Stockholmer Handschrift, S. 19). 85 Vgl. Geeraedts: Stockholmer Handschrift, S. 24, und Jürgen Meier: Die mittelniederdeutsche Verserzählung ›De deif van Brugge‹. Stoffgeschichtliche und sprachliche Untersuchung (Forschungen. Verein für niederdeutsche Sprachforschung. Neue Folge. Reihe B, Sprache und Schrifttum 7). Neumünster 1970, S. 12 f. Hypothesen zu den Rezipienten und zum Rezeptionskontext der Handschrift auch bei Roolfs: Variationen, S. 287 f. 86 Zum Text s. Kap. III.2.3.4.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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beweisen ist.87 Möglicherweise entstanden diese Texte aber in einem ähnlichen Umfeld88 und gelangten in einer gemeinsamen Vorlage in die Hände des Redaktors der Stockholmer Sammlung.89 Auch wenn die thematische Zusammenstellung der Texte relativ unspezifisch zu sein scheint, lässt sich innerhalb der Handschrift doch auch ein Bemühen um Einheitlichkeit und Kohärenz beobachen, das sich neben dem sorgfältigen und regelmäßigen Schriftbild auch in den erweiterten Prologen und Epilogen der Texte zeigt.90 Nach der Schlussformel des ›Verlorenen Sohnes‹ (ALdus so leueden se selychlyk / Vnde voren in godes hemmelryk / Also mote wy allen samen / Jn ghodes nomen AMEN, V. 915 ff.) folgen in der Handschrift drei jeweils neu ansetzende, nicht zum ursprünglichen Textbestand gehörende Epilog-Abschnitte. Der erste (V. 919–932) enthält eine Bitte um das Seelenheil des Dichters sowie eine Titelangabe: De dyt bok ghe dychtet vnde ghe screuen hat / Got gheue syner sele rat / Dat hemmelryke to lone / De vor lorne sone / Schal dyt bok ghe nømet syn / Dat neme yk uppe de truwe myn. Interessant ist dabei die wiederholte Verwendung des Begriffs bok, der schon im Prolog auftaucht, sowie die Wendung ghe dychtet vnde ghe screuen. Beide Begriffe sind an sich nicht sehr belastbar, da sie eine weniger spezifische Bedeutung als ihre nhd. Äquivalente haben.91 Ihr gemeinsames Auftreten könnte allerdings ein Indiz dafür sein, dass hier tatsächlich ein Dichterkolophon vorliegt, das vielleicht ursprünglich für ein Autograph in Form eines Einzelheftes (bok) gedacht war und von späteren Kopisten übernommen wurde. Jedenfalls ließe sich so die Doppelung der beiden Schlussverse des Erzählteils (917 f.) in den Schlussversen des ersten Epilogs (Des be helpe vns got allen samen / Jn godes momen AMEN, V. 931 f.) erklären. Kann man bei diesem ersten Epilog-Zusatz noch annehmen, er sei bereits in der Vorlage der Stockholmer Handschrift enthalten gewesen, werfen die beiden folgenden Epilog-Abschnitte weitere Fragen auf. Nach dem Amen des ersten

87 Vgl. Meier: Deif van Brugge, S. 156–166. Dagegen Hartmut Beckers: Valentin und Namelos. In: 2VL 10 (1999), Sp. 156–161, hier Sp. 157 f. 88 Ob dieses Umfeld wirklich ein »hansische[r] Literaturkreis in Brügge« (Beckers: Valentin, Sp. 158) ist, muss wohl offen bleiben. Für den ›Dieb von Brügge‹ mag ein Lokalbezug vorliegen. In ein kaufmännisches Umfeld könnte vom Thema her auch die ›Frau des Seekaufmanns‹ gehören, dies ist aber keineswegs zwingend. Für ›Valentin‹ und den ›Verlorenen Sohn‹, deren Stoff französischer Herkunft ist, muss nicht unbedingt ein Umweg über Brügge angenommen werden. 89 Vgl. Geeraedts: Stockholmer Handschrift, S. 74. Geeraedts nimmt eine gemeinsame mfrk. Vorlage für ›Valentin‹, den ›Verlorenen Sohn‹, ›Flos‹, ›Theophilus‹ und den ›Dieb von Brügge‹ an. Vgl. auch de Bruijn: Copy-Paste, S. 38. 90 Zu den Paratexten in der Stockholmer Handschrift vgl. de Bruijn: Copy-paste, zum ›Verlorenen Sohn‹ bes. S. 38–43. 91 Die Begriffe werden m.E. bei de Bruijn: Copy-Paste, S. 41, zu stark gegeneinander abgegrenzt.

298 | V Überlieferungskontexte 1 zusätzlichen Epilog-Abschnitts stehen zwei mit einem Paragraphenzeichen markierte Verse, die eine Trunkheische enthalten: Dyt bok dat ys vte / Me hale vns ghut ber up de snute (V. 933 f.), danach, wiederum durch ein Paragraphenzeichen markert, vier Verse mit einem Sprichwort:92 Wuste yk eynen ysren hot / De vor loghene were ghot / Vnde eynen schylt vor schelden / Den wolde yk dure ghelden (V. 935 ff.). Da die beiden Abschnitte keinerlei Bezug zum Text aufweisen und erst nach dem zweiten Amen erscheinen, kann man vermuten, dass sie nicht auf den Autor des ›Verlorenen Sohnes‹ zurückgehen, sondern von einem Schreiber stammen, der sie an seine Abschrift der Erzählung angehängt hat. Solche Formeln findet man besonders im 15. Jahrhundert sehr oft.93 Die Untersuchungen von Elisabeth de Bruijn legen nahe, dass die formelhaften Epilog-Abschnitte auf den Schreiber der Stockholmer Handschrift zurückgehen. Da nach dem ersten EpilogAbschnitt des ›Verlorenen Sohnes‹ noch etwas Platz auf Blatt 46v leer war, ist es durchaus vorstellbar, dass der Schreiber der Handschrift diesen Raum mit den Zusätzen füllte. Ein weiteres Indiz ist die Tatsache, dass gewisse Versatzstücke wie die Trunkheische oder Prolog-/Epilog-Formeln in ähnlicher Gestalt bei verschiedenen Texten wiederkehren.94 Besonders deutlich wird dies etwa bei dem nur in der Stockholmer Handschrift überlieferten Prolog zu ›Flos und Blankeflos‹, der an den Prolog des ›Verlorenen Sohnes‹ angelehnt ist.95 Die wiederkehrenden Formeln überbrücken die thematische Disparatheit der Texte, indem publikumseinschließende bzw. gesellige Elemente (Fürbitten, Trunkheischen) einen gemeinsamen Rezeptionsrahmen schaffen.96

92 Das Sprichwort vom Eisenhut gegen Lügen ist zuerst bei Freidank belegt, vgl. TPMA, Bd. 6, S. 320 f. 93 Vgl. die Beispiele von Trunkheischen bei Fischer: Studien, S. 265–267; W[ilhelm] Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter. 4. Aufl. Graz 1958 (Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1896), S. 515–517. 94 Vgl. de Bruijn: Copy-Paste, S. 44, 46, 48. 95 Die Verse 939–946 der Ausgabe von Geeraedts gehören nicht zum Epilog des ›Verlorenen Sohnes‹, sondern bilden einen Prolog für ›Flos und Blankeflos‹, vgl. auch Roolfs: Variationen, S. 286 (Anm. 3). Übereinstimmungen: Beyde awent spade vnde morghen vro (: to) entspricht V. 141: Auent spade vnde morghen vro (: to). Dat yk ende dyt bokelyn entspricht V. 25: Dat ik vul ende dyt bokelyn. Wente yk des byn seker vnde vrut / Dyne hulpe ys to allen dynghen ghut entspricht V. 27 f.: Wente yk byn des seker vnde vrut / Dyne helpe ys to allen dynghen gut. Vgl. auch de Bruijn: Copy-Paste, S. 46. 96 Vgl. dazu auch Roolfs: Variationen, S. 287. Die Formeln stehen in einer gewissen Korrelation zur Länge der Texte, denen sie angefügt werden. So sind in den letzten drei kurzen Verserzählungen kaum diskursive Hinzufügungen zu beobachten (vgl. de Bruijn: Copy-Paste, S. 52 f.). Dies mag damit zusammenhängen, dass bei kürzeren Texten eine Strukturierung weniger nötig (bzw. in den Vorlagen nicht vorhanden) war, allerdings glaube ich nicht, dass man daraus Schlüsse über die Gattungszugehörigkeit (Märe – Roman) ziehen kann, wie de Bruijn dies tut: »Eine Vielzahl formelhafter Paratexte deutet auf einen Romanmodus hin« (Copy-Paste, S. 54). Gerade

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹ |

299

2.3.2 ›Zeno‹ in der Wolfenbütteler Sammlung W

Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 1203 Helmst.

Papier · 160 Bll. · 14,1 × 9,5 · Ostfalen · Mitte 15. Jahrhundert Inhalt: Faszikel I Bl. 1r–37r ›Zeno‹ Bl. 37v–44v ›Des Kranichhalses neun Grade‹ Bl. 44v–46v ›Rat der Vögel‹ Bl. 46v–47r ›Neun Helden‹ Bl. 47r–71v ›Alexander‹ (aus dem ›Großen Seelentrost‹) Bl. 72r–80v ›Marina‹ I (Reimlegende) Bl. 81r–107v ›Brandan‹ Faszikel II Bl. 108r–142v ›Flos und Blankflos‹ Bl. 143r–159v ›Theophilus‹-Spiel Bl. 159v–160r ›Carmen latinum‹ Lit.: Otto von Heinemann: Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Erste Abtheilung: Die Helmstedter Handschriften III. Wolfenbüttel 1888 (Nachdruck unter dem Titel: Die Helmstedter Handschriften. Bd. 3: Codex Guelferbytanus 1001 Helmstadiensis bis 1438 Helmstadiensis [Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel 3]. Frankfurt a. M. 1965), S. 110 (Nr. 1311); Wolfgang Milde: Niederdeutsche Handschriften und Inkunabeln aus dem Besitz der Herzog August Bibliothek. Ausstellung in den musealen Räumen der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 9. bis 26. Juni 1976 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 16). Braunschweig 1976, S. 16 (Nr. 15); Krobisch: Wolfenbütteler Sammlung, S. 19–56; Busch: Vogelparlamente, S. 73–75; de Bruijn: Floris-Überlieferung, S. 121–124; de Bruijn: Copy-Paste, S. 35; de Bruijn: Give the Reader, S. 82, 87–89.

In einer ähnlichen literarischen Sammlung wie der ›Verlorene Sohn‹ ist auch die Erzählung ›Zeno‹ überliefert.97 Die Handschrift besteht aus zwei ursprünglich

Gebetsformeln und Trunkheischen begegen auch oft in den Prologen und Epilogen kleinepischer Texte. Eine klare Abgrenzung des 938 bzw. ursprünglich ca. 1156 Verse umfassenden ›Verlorenen Sohnes‹ (bei de Bruijn als »weltlich-religiöser Roman« klassifiziert, Copy-Paste, S. 34) vom 734 Verse umfassenden ›Dieb von Brügge‹ (bei de Bruijn als »Märe« klassifiziert, ebd. S. 34) ist aus texttypologischer Sicht ohnehin problematisch. 97 Zum Text s. Kap. III.2.3.4. Der Text ist in verschiedenen Kontexten anzutreffen: in Verbindung mit großepischen Werken ebenso wie in geistlich-erbaulich geprägten Sammlungen. Zu den weiteren Textzeugen vgl. Zeno (Arfwidsson), S. 28–38. Die erhaltenen Textzeugen scheinen alle auf eine verlorene mnd. Vorlage zurückzugehen. Möglicherweise ging die Verbreitung des Textes im niederdeutschen Raum von Magdeburg aus, wo im späten 14. Jahrhundert ein Altar im Dom den drei Königen geweiht wurde. Aber auch in Hildesheim wurden die drei Könige besonders verehrt, vgl. Krobisch: Wolfenbütteler Sammlung, S. 59. Zur Verehrung der Könige im Allgemeinen: Hans Hofmann: Die Heiligen Drei Könige. Zur Heiligenverehrung im kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben des Mittelalters (Rheinisches Archiv 94). Bonn 1975, bes. S. 129.

300 | V Überlieferungskontexte 1 selbständigen Faszikeln. Nach den sprachgeschichtlichen Untersuchungen von Volker Krobisch und nach dem Wasserzeichenbefund stammt der erste Teil aus dem Raum nördlich oder östlich von Goslar und aus den 1450er Jahren, während der zweite Teil vielleicht in Braunschweig in den späten 1440er Jahren entstanden ist.98 Der erste Teil müsste in der zweiten Jahrhunderthälfte nach Braunschweig gewandert sein, wo die beiden Teile vor 1479 zusammengebunden wurden.99 Der kürzeste Text der Wolfenbütteler Sammlung, die ›Neun Helden‹, umfasst 18 Verse, der längste, ›Flos und Blankflos‹, 1578 Verse. Eine Ausnahme bildet der aus dem ›Großen Seelentrost‹ übernommene Prosa-›Alexander‹. Auch in der Wolfenbütteler Sammlung lässt sich kein thematisches Sammelkonzept erkennen, das über ein generelles Interesse an unterhaltender (Vers-)literatur hinausgehen würde. Krobisch vermutet, dass die Zusammenstellung der Texte v.a. den Vorlagen geschuldet sei und nimmt für den ersten Teil der Handschrift eine Vorstufe an, die bereits alle Texte außer dem Prosa-›Alexander‹ enthielt.100 ›Zeno‹ und ›Kranichhals‹ sind auch in einer weiteren Handschrift gemeinsam überliefert,101 ›Flos‹ und ›Theophilus‹ sind beide auch in der Stockholmer Sammlung enthalten. Es ist wohl davon auszugehen, dass hinter dieser Handschrift ähnliche Auftraggeber- und Rezipientenkreise stehen wie hinter der Stockholmer Handschrift102 – Personen, die sich generell für mnd. Versliteratur interessierten und daher alles abschreiben ließen, was an Vorlagen verfügbar war. Lose thematische Verbindungen zwischen einzelnen Texten konnten bei der Lektüre immer hergestellt werden, waren aber für die Aufnahme eines bestimmten Textes in die Sammlung wohl nicht entscheidend.

2.4 Hausbuch: Literarische und lokalhistorische Interessen in Ulrich Mostls Handschrift Seit dem 14. Jahrhundert tritt vermehrt ein Typ von Sammelhandschriften auf, der in der Forschung oft als Hausbuch bezeichnet wird.103 Damit sind Sammlun-

98 Vgl. Krobisch: Wolfenbütteler Sammlung, S. 46–55. 99 Vgl. Krobisch: Wolfenbütteler Sammlung, S. 24–26. Krobisch identifiziert den Braunschweiger »Webmustermeister« als Hersteller des Einbandes. 100 Vgl. Krobisch: Wolfenbütteler Sammlung, S. 149 f. 101 Discissus Dresden, SLUB, Mscr.M.42 und Gotha, Forschungsbibl., Cod. Chart. A 985 (Obersachsen, 1433). 102 Auch in der Wolfenbütteler Handschrift finden sich Trunkheischen, vgl. de Bruijn: Give the Reader, S. 87–89. 103 Vgl. etwa Fürbeth: Komposithandschriften; Dieter H. Meyer: Literarische Hausbücher des

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹ |

301

gen gemeint, in denen, meist die persönlichen Interessen des Redaktors (oder seines Auftraggebers) widerspiegelnd, Texte unterschiedlicher Texttypen zusammengeführt sind. In einer Handschrift dieses Typs ist auch der ›König im Bad‹ überliefert: im Hausbuch, das der Regensburger Bürger Ulrich Mostl104 im frühen 16. Jahrhundert angelegt und größtenteils selbst geschrieben hat. f

München, BSB, Cgm 5919

Papier · II + 433 Bll. · 30,5 × 21 · Regensburg · 1501–1510 Lagen: VIII14 + VII28 +XII53 + XV83 + XIII109 + XII133 + X153 + XV182 + XVI214 + 2XV274 + XII297 + XI319 + XIII345 + XVI377 + XV407 + XII433. Lagen- und Blattzählung von der Hand Mostls. Inhalt: Bl. 1r–13r Ordnung des Augsburger Reichstags von 1500 Bl. 15r–27r Kochbuch Bl. 27v–30r Arzneirezepte; Rezeptparodien Bl. 30r/v Sieben Worte Jesu am Kreuz Bl. 30v–43r Branntweinbuch Michael Puffs von Schrick Bl. 43v–46r ›Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae‹ dt. Bl. 46r/v Ps.-josephinisches Traumbuch Bl. 46v–48r Cisiojanus dt. Bl. 48v–61r Handwerklich-technische Rezepte Bl. 61r–69r Humanmedizinische Rezepte Bl. 69r–91v ›Laurin‹ Bl. 91v–92v Heinrich von Landshut: ›Der Traum am Feuer‹ Bl. 92v–93v, 99r ›Von dem üblen Weib‹ II Bl. 93v–99r, ›Der Württemberger‹ 99v–100v 99r/v ›Henne und Fisch‹ Bl. 100v–104r Fröschel von Leidnitz: ›Der Prozess im Himmel‹ Bl. 104r–107r Stefan Veltsperger: ›Von alten Weibern‹ Bl. 107r–109r Morgenrot: ›Spruch von Glück und des Menschen Sinn‹ Bl. 109r–114r ›Der Wunderer‹ Bl. 114r–118r ›Kirchweih zu Affalterbach‹105 Bl. 118r–125r ›Der König im Bad‹ Bl. 125r–130r Zwickauer: ›Des Mönches Not‹ Bl. 130r–134v Rezepte und Rezeptparodien Bl. 134v–137r Heinrich der Teichner: Gedichte (Niewöhner, Gedichte Heinrichs des Teichners, Nr. 26 und 728) Bl. 137r–139r ›Lob der Frauen‹ V

16. Jahrhunderts. Die Sammlungen des Ulrich Mostl, des Valentin Holl und des Simprecht Kröll. 2 Bde. (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 2.1–2). Würzburg 1989, bes. S. 765–769. 104 Zu Mostl vgl. Heinzle: Württemberger, S. 4–8; Meyer: Literarische Hausbücher, S. 36–38. 105 Rochus von Liliencron: Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert. 5 Bde. Leipzig 1865–1869 (Nachdruck Hildesheim 1966), Bd. II, 465 ff., Nr. 224.

302 | V Überlieferungskontexte 1 Bl. 139r–142v Bl. 142v–148v Bl. 148v–153r Bl. 153r–164r Bl. 164v–174r Bl. 174r–183r Bl. 183r–191v Bl. 191v–198v Bl. 198v–202r Bl. 202r–205r Bl. 205r–210r Bl. 210r–214r Bl. 214r–216v Bl. 216v–219v Bl. 220r–224v Bl. 224v–234v Bl. 234v–236r Bl. 236r–239r Bl. 239r–243r Bl. 243r–245v Bl. 245v–248r Bl. 248r–251v Bl. 251v–256r Bl. 256v–257r Bl. 257v–258v Bl. 258v–262r Bl. 262v Bl. 262v–267v Bl. 267v–268r Bl. 268v–269v Bl. 269v–270v Bl. 270v–273r Bl. 273r–274r Bl. 274r–276v Bl. 276v–279r Bl. 279r/v Bl. 279v–281r Bl. 281r–283r Bl. 283r–284r Bl. 284r–287r Bl. 287r–290r Bl. 290r–295v

Drei geistliche Lieder106 ›Die Klage des Einsiedlers‹ ›Die Heimkehr des gefangenen Geliebten‹ ›Der bösen Klaffer Trügen‹ ›Der falschen Klaffer List‹ ›Rat der Frau Treue‹ ›Von treulosen Männern‹ ›Der Traum‹ ›Scheidsamen‹ ›Frau Minne warnt vor Hochmut‹ ›Stiefmutter und Tochter‹ Peter Schmieher: ›Wolfsklage‹ Peter Schmieher: ›Der Student von Prag‹ Peter Schmieher: ›Von der Kuh‹ ›Der Traum‹ Heilsgeschichtliche Reimpaartexte ›Die acht Farben‹ ›Lob der grünen Farbe‹ ›Die sechs Farben‹ ›Die Heimkehr des gefangenen Geliebten‹ ›Was Blütenfarben bedeuten‹ ›Die beiden Schwestern‹ ›Lob der Frauen‹ I Rezepte Rosner: ›Ordnung der Regensburger Judenpredigt‹ ›Gold und Zers‹ Rezept Jörg Schiltknecht: ›Gegen die Verderbnis aller Stände‹ Rezept für eine Pestarznei Liebeslied Rezepte Liebeslieder Weinrezepte Rosenplüt: ›Spruch von einem Barbierer‹ Mönch von Salzburg: Lied Rezept Numismatische Anweisung Didaktische Rede Segen des Kolumban (Prosa) Gebete und Segensformeln Aderlass- und Gesundheitsregeln Historischer Spruch über Karl den Kühnen

106 Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts, 5 Bde., Leipzig 1864–1877, Bd. II, 970 (Nr. 1207), 937 (Nr. 1168), 936 (Nr. 1167).

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹ |

Bl. 295v–296r Bl. 296r–299r Bl. 299r–301r Bl. 301v–306r Bl. 306r–307v Bl. 307v–309v Bl. 309v–310v Bl. 310v–311v Bl. 311v–312r Bl. 312r/v Bl. 312v Bl. 312v–314r Bl. 314r–315r Bl. 315r Bl. 315rv Bl. 315v–316r Bl. 316rv Bl. 316v–318r Bl. 318r–319v Bl. 320r–325v Bl. 325v–332r Bl. 332v–334v Bl. 334v–337v Bl. 337v–338v Bl. 338v–340r Bl. 340r–343r Bl. 343r–355v Bl. 355v–374r Bl. 374r–401v Bl. 401v–405v Bl. 405v–410r Bl. 410r–412r Bl. 412r–414r Bl. 414r–415r Bl. 415r–424v Bl. 425r–427r Bl. 427v–433v

303

Liebeslied Liedanfänge, darunter auch Lieder des Mönchs von Salzburg Numismatischer Traktat Salpeter- und Schießpulver-Rezepte Spruch vom Pfennig Heinrich von Toledo: Weissagung über das Weltende Geistliches Lied ›Abendvesper‹ Rezepte Liebesklage Rezept Didaktische Rede Kräutertraktat Pelzpreise in Nürnberg Rezept Kräutertraktat Liebesbriefparodie Rezepte Meisterlied in Frauenlobs blauem Ton Historische Lieder (Liliencron: Historische Volkslieder II,561 ff. [Nr. 248] und II,267 ff. [Nr. 173]) Hans Schneeberger: ›Der Mönch als Liebesbote C‹ Didaktische Rede Spruch von dem römischen Reich Liebeslied ›Von einem Kranz‹ ›Der Graf im Pfluge‹ Hans Schneider: ›Ermahnung wider die Türken‹ Historisches Lied (Liliencron: Historische Volkslieder II, 185 ff. [Nr. 163]) Peter Suchenwirt: ›Sieben Freuden Mariae‹ Wahl Erzherzog Maximilians zum Römischen König am Reichstag zu Frankfurt 1486, dt. Über die Kaiserkrönung in Aachen Gästeverzeichnis beim Besuch des Kaisers in Augsburg 1510 Historisches Lied (Druckabschrift; Liliencron: Historische Volkslieder III, 36 f. [Nr. 260]) Freidank: ›Von den sittigen‹ Elbelin von Eselberg: ›Das nackte Bild‹ Ausgabenverzeichnis für Backwaren (Zeitraum 1501–1510) Inhaltsverzeichnis

Lit.: Heinrich Adelbert von Keller: Verzeichnis altdeutscher Handschriften. Hrsg. von Eduard Sievers. Tübingen 1890 (Nachdruck Hildesheim/New York 1974), S. 62–84; Archivbeschreibung Heinrich Niewöhner (1919), 78 + 3 Bll.; Müller: König im Bad, S. 41 f.; Meyer: Literarische Hausbücher, S. 31–133, 465–494; Laurin. Hrsg. von Elisabeth Lienert u. a. Teilbd. I: Einleitung, Ältere Vulgatversion, ›Walberan‹. Berlin 2011, S. XXXIV–XXXVII; Klingner/Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 2, S. 107 f.

304 | V Überlieferungskontexte 1 Mostl hat in seiner Handschrift sehr unterschiedliche Texte zusammengetragen. Trotz der bunten Mischung lassen sich einige thematische Blöcke umreißen. Eine Sonderstellung nimmt die erste Lage mit der auf dem Augsburger Reichstag von 1500 erlassenen Ordnung ein. Diese Lage bildet einen eigenen Faszikel, wurde von einer anderen Hand geschrieben und weist ein anderes Wasserzeichen auf als die übrigen Lagen. Wohl erst beim Binden der Handschrift wurde dieser Faszikel mit den restlichen Lagen vereint: Die Lagenzählung von Mostls Hand beginnt mit der zweiten Lage, doch die anscheinend erst nach der Bindung angebrachte, ebenfalls von Mostls Hand stammende Foliierung bezieht den ersten Faszikel mit ein. Wie auch einige in der Sammlung enthaltene historische Lieder und Reden deutet die ›Ordnung‹ auf ein Interesse Mostls an zeitgenössischer (Regional-)Politik hin. Am Anfang der von Mostl selbst geschriebenen Sammlung steht ein Teil, der vor allem Gebrauchsliteratur in Prosa enthält. Auf ein Kochbuch folgt ein Block von Rezepten für Arzneien gegen verschiedene Krankheiten, teilweise parodistisch verzerrt. Die Rezeptfolge wird zweimal unterbrochen, einmal durch die Aufzählung der sieben Worte Christi am Kreuz, einmal durch einen Traktat über die Ablässe an den Hauptkirchen Roms, eine Anleitung zur Traumdeutung mittels Buchstechen und einen Cisiojanus. Der erste Teil endet auf Bl. 69v mit einem Kolophon Mostls: Et sic est finis per Vlrich Mostl. Allerdings fällt dieser Einschnitt nicht mit einer Lagengrenze zusammen; Mostl wollte anscheinend nur einen inhaltlichen Einschnitt markieren. Der auf Bl. 70r beginnende zweite Teil enthält vorwiegend literarische Texte in Versen. Innerhalb dieses Teils lassen sich wiederum gewisse Ordnungstendenzen feststellen. Am Anfang steht der längste in der Handschrift überlieferte Text, das Dietrichepos ›Laurin‹. Darauf folgt eine Reihe von meist schwankhaften Erzählungen, unterbrochen durch einige Reden, ein Rezept und einen historischen Spruch (Bl. 91v–137r). In diesem Abschnitt befinden sich auch zwei geistliche Erzählungen, der ›König im Bad‹ und der ›Württemberger‹, sowie Fröschels von Leidnitz Mirakel-Schwank ›Der Prozess im Himmel‹. Nach dieser Gruppe ist ein Minnereden-Block (Bl. 137r–210r) eingefügt, gefolgt von drei Texten Peter Schmiehers (Bl. 210r–219v). Ein zweiter Block mit Minnereden schließt den Teil ab (Bl. 234v–256r). Der dritte Teil (Bl. 256v–401v) wird von Liedern (geistliche, historische und Liebeslieder) dominiert. Dazwischen sind immer wieder Gebrauchstexte eingestreut, etwa Aderlassregeln (Bl. 287r–290r) und Angaben über die Werte und Gewichte verschiedener Münzen (Bl. 299r–301r). Ein letzter, vorwiegend historisch geprägter Teil (Bl. 401v–414r) enthält Nachrichten über den Reichstag in Frankfurt 1486, den Besuch des Kaisers in Augsburg und den Sieg des Königs Ferdinand von Aragon über die Mauren in Nordafrika in den Jahren 1509/10. Zwei Minnereden schließen die Sammlung ab.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹ |

305

Auf Bl. 425–427 hat Ulrich Mostl verschiedene Ausgaben der Jahre 1501–1510 eingetragen. Diese Einträge und die Datierung der historischen Erzähllieder zeigen, dass Mostl über mehrere Jahre hinweg seine Sammlung angelegt und ergänzt hat, bevor er sie mit einem Inhaltsverzeichnis (Bl. 427v–433v) versah, binden ließ und foliierte. Mit Mostl fasst man einen im frühen 16. Jahrhundert tätigen Sammler, Schreiber und Buchbesitzer, der mit Kleinepik aller Art, Liedern und Heldenepik umging, aber auch ein Interesse für Kochbücher, medizinische Rezepte, Numismatik sowie für lokalpolitische und relativ aktuelle historische Begebenheiten zeigte. Dabei ist eine stadtbürgerlich geprägte Perspektive zu erkennen. Der historische Spruch, der dem ›König im Bad‹ unmittelbar vorausgeht (Bl. 114r–118r), behandelt die Auseinandersetzungen zwischen der Stadt Nürnberg und den Markgrafen von Brandenburg-Kulmbach, die einander den Kirchweihschutz in Affalterbach streitig machten. Während Markgraf Friedrich in Erfurt bei Friedensverhandlungen war, kam es anlässlich der Kirchweih vom 19. Juni 1502 zu einer blutigen Auseinandersetzung zwischen Friedrichs Sohn Casimir und den Nürnbergern, die mit einer Niederlage der Nürnberger endete. Der von Mostl in seine Sammlung aufgenommene Spruch schildert die Ereignisse deutlich Nürnberg-freundlich und schließt folgendermaßen: Auch gib ich den von Normberg di er, / Got sei gelobt, ir leben noch mer / Das sei geschenk ainer gmain und rat, / Di peschutz die heilig trinitat! (Liliencron: Historische Volkslieder II, S. 469). Ein anderes Lied berichtet davon, wie die Stadt Vilshofen sich im Landshuter Erbfolgekrieg 1504 erfolgreich gegen die Pfälzer verteidigte (320r–323r). Auch direkte Bezüge zu Regensburg sind vorhanden: Ein historisches Lied (355v–374r) berichtet von der Übergabe der Stadt an Herzog Albrecht von Bayern 1485/86 und den Zeitraum bis zum Jahr 1492, als Regensburg von der bayerischen Herrschaft befreit und wieder zur Reichsstadt wurde. Wie nicht anders zu erwarten, wird im Text eine sehr Regensburg-freundliche Perspektive eingenommen. Die Stadt Regensburg ist auch in der ›Ordnung der Regensburger Judenpredigt‹ von Rosner präsent (257v–258v). Mostl nutzte sein Buch, um alles festzuhalten, was ihm interessant, bewahrungswürdig oder hilfreich erschien, von Rezepten über unterhaltsame Texte bis hin zum Ausgabenverzeichnis. Die Angabe auf dem hinteren Spiegel, wie viel Geld ihn das Buch gekostet habe, legt nahe, dass Mostl sein Unternehmen auch als Investition verstand, sei es für die eigene Unterhaltung und Bildung, sei es als Repräsentationsobjekt. Während die spezifischen Interessen Mostls für Minnereden und historische Texte deutlich hervortreten, scheinen die geistlichen Verserzählungen eher zufällig in die Sammlung gelangt zu sein. Dass aber die literarischen Texte generell nicht mit besonderer Sorgfalt aufgezeichnet wurden, zeigen die vielen Missverständnisse und Fehler, die Mostls Handschrift aufweist. Als besonders ekla-

306 | V Überlieferungskontexte 1 tantes Beispiel kann die Kontamination von drei Texten, ›Von dem üblen Weib II‹, dem ›Württemberger‹, und ›Henne und Fisch‹, dienen. Der fragmentarische ›Württemberger‹ ist zwischen die Anfangs- und Schlusspartie des ›Üblen Weibes‹ eingeschoben; darauf folgt der fragmentarische Text ›Henne und Fisch‹, bevor auf 99v–100v noch einmal ein Abschnitt aus dem ›Württemberger‹ steht.107 Mostl scheint beim Abschreiben allerdings nicht auf diese Verwirrung aufmerksam geworden zu sein. Wahrscheinlich steht eine verbundene Vorlage hinter der Kontamination – dennoch hätte ein mitdenkender Schreiber die Änderung des Themas bemerken müssen. Diese Beobachtung deutet auch darauf hin, dass es nicht nur ein literarisches Interesse war, das Mostl dazu bewegte, seinen umfangreichen Folianten anzulegen, sondern wohl auch die Freude am Besitz eines (zumindest äußerlich) repräsentativen Hausbuches.

2.5 Handschriften mit geistlichem Profil Bereits im 14. Jahrhundert lässt sich im Bereich der Kleinepiksammlungen die Tendenz beobachten, vorwiegend oder ausschließlich geistliche Texte in eine Sammlung aufzunehmen. Die Fokussierung auf religiöse Inhalte setzte sich im späteren 14. und 15. Jahrhundert im Handschriftentyp des volkssprachigen Erbauungsbuches fort. Damit sind Sammlungen gemeint, die unterschiedliche geistliche Texte, didaktische und katechetische Traktate, geistliche Erzählungen in Vers und Prosa, Gebete und Lieder vereinen, um den (wohl meist nicht oder nur rudimentär klerikal gebildeten) Rezipienten geistliche Belehrung zu bieten. In den meisten Fällen spielt die Form der Texte kaum eine Rolle, oft enthalten Erbauungsbücher vorwiegend Prosatexte. Der Handschriftentyp des Erbauungsbuches wurde im 15. Jahrhundert jedoch auch zu einem wichtigen Überlieferungsträger für geistliche Verserzählungen, wie fünf Textzeugen des ›Königs im Bad‹ zeigen.

107 [93v] Also zbait sich ir leben / Sy wil dem man nicht vergebenn / [Beginn des ›Württemberger‹-Fragments:] Herr Erenpolt was er genant / abenteur jm wardt erchantt [94r] Die kam wider farn kan / Er sey von art ain pider man / ains tags da geschach ...–... [99r] Ich han aber lüczel trost / vnd gedenck es helff nicht / [Ende des ersten ›Württemberger‹-Fragments] Wer ain vbel weib hat / der thü sich ir pey¨ zeiten ab / vnd kauff ain pabst / vnd heng sy an ain ast / vnd zben wolff oder drey¨ / Vnd heng dy nachatt da pey¨ / So sach nie man galch / hangen mit ergär pälch / Wer nü nehmen wil / ain raüb von der hell / der nem zu jm ain vbel weib / So gesicht er an dem spreidtt. [Beginn des ›Henne und Fisch‹-Fragments] 〉Ain ander spruch.〈 Ich kam auf ain pach, / da ich hort und sach / ain hennen mit aim visch kriegen... [99v] 〉Ain anders / Der sprach: im ist also〈 / Jr valt nicht vmb ain stro. / [Beginn des zweiten ›Württemberger‹-Fragments] Er sprach: eür schimpfen thut mir zorn / Jch hann ain halb handt verlorn ...

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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2.5.1 Die Handschrift i: Exemplarisches Erzählen in Prosa und Versen i

Nürnberg, GNM, Hs. 4028

Papier · noch 132 Bll. · 30 × 20,5 · westlicher Teil des mittelbair. Sprachgebiets108 · um 1468 Inhalt: Faszikel I Bl. 1r–97v Thüring von Ringoltingen: ›Melusine‹ Faszikel II Bl. 98r–130v Sammlung von 66 Prosaexempla Faszikel III Bl. 131r/v ›Der König im Bad‹ Bl. 132r–133v ›Der Ritter in der Kapelle‹ Lit.: Lotte Kurras: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften. Erster Teil: Die literarischen und religiösen Handschriften. Anhang: Die Hardenbergschen Fragmente (Kataloge des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg 1,1). Wiesbaden 1974, S. 42–44; Joachim Heinzle: ›Der König im Bad‹, ›Der Ritter in der Kapelle‹. Zwei unbeachtete Bruchstücke. ZfdA 102 (1973), S. 194 f.; Müller: König im Bad, S. 42 f.;109 Studer: Exempla, S. 185–187.

Die Handschrift besteht aus mehreren Faszikeln, die von einem Schreiber mit derselben Tinte geschrieben wurden. In dem illustrierten, auf 1468 datierten ›Melusine‹-Teil wurde jedoch ein anderes Papier verwendet als im ProsaexempelFaszikel. Die Blätter, auf denen die fragmentarischen Verserzählungen stehen, weisen wiederum ein anderes Wasserzeichen auf. Möglicherweise wurden die drei Faszikel in einer Werkstatt angefertigt110 und dann für einen Käufer zusam-

108 Merkmale: 1) Die nhd. Diphthongierung ist durchgeführt; 2) mhd. ou wird als au wiedergegeben (fraw), vgl. Virgil Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik (Germanische Bibliothek I.17). Bde. I.1 und I.3. Heidelberg 1929–1951, hier Bd. I.1., § 79, S. 170; 3) mhd. ei erscheint als ai, außer in den für das Bairische charakteristischen Ausnahmefällen wie heilig, vgl. Moser: Frnhd. Gramm. I.1., § 79, S. 169–171 (bes. Anm. 1 und 2); 4) im Anlaut erscheint k in der Regel als k, vereinzelt als ch (besonders bei chömen), vgl. Moser: Frnhd. Gramm. I.3., § 149, S. 256–258; im Inund Auslaut erscheint k als ck oder ckh (junckfraw, kranckh), vgl. Moser: Frnhd. Gramm. I.3., § 149, S. 268–270; 5) im Anlaut erscheint mhd. b als p (puezz, pist), beim Präfix be- jedoch meist als b (bechümeren), vgl. Moser: Frnhd. Gramm. I.3., § 137, S. 104 f.; 6) auf den westlichen Teil des Sprachgebiets deutet die sch-Schreibung für s vor Konsonant (schwester, schlaff, schneid), vgl. Werner Besch: Sprachlandschaften und Sprachausgleich im 15. Jahrhundert. Studien zur Erforschung der spätmittelhochdeutschen Schreibdialekte und zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache (Bibliotheca Germanica 11). München 1967, S. 107–112. 109 Bei Müller findet sich die falsche Angabe, dass »weder Schreiberidentität noch sonstige Verwandtschaften« (Müller: König im Bad, S. 42 f., mit Anm. 32) zwischen den Teilen der Handschrift bestünden. 110 Darauf könnte neben dem unterschiedlichen Papier auch der Umstand hindeuten, dass im ›Melusine‹-Teil und bei den Prosaexempla der Schriftraum mit Tinte vorgezeichnet ist, auf den Blättern mit den Verserzählungs-Fragmenten jedoch nicht. Nach Ausweis der Einbandstempel wurde die Handschrift in der 1460er Jahren im Regensburger Franziskanerkloster

308 | V Überlieferungskontexte 1 mengebunden. Jedenfalls ist es naheliegend, anzunehmen, dass die Faszikel von Beginn an (d.h., sobald sie die Produktionsstätte verlassen hatten) gemeinsam überliefert wurden. Im Jahr 1573 befand sich die Handschrift im Besitz des Grafen Wolfgang Jacob von Schwarzenberg, der Edelknabe bei Markgraf Philipp von Baden war und die Handschrift an diesen weitergab.111 Die Prosaexempelsammlung,112 die dem ›König im Bad‹-Fragment vorausgeht, besteht aus 66 Exempla; die ›Vitaspatrum‹, Caesarius von Heisterbach und Gregorius Magnus werden als Quellen genannt. Die Marienmirakel folgen oft der ›Scala coeli‹.113 Zentrale Themen der Sammlung sind Beichte und Buße. Daneben wird auch die Marienverehrung empfohlen. Die am Ende eines jeden Exempels angehängte Moralisatio in Form einer einfachen Lebensanweisung unterstreicht die didaktische Intention der Sammlung. So steht beispielsweise am Ende des Küsterin-Beatrix-Mirakels: Vnd die abtissin ward ein grosse püesserin vnd püest jn dem closter all jr sund, vnd schied von disem ellend zuo dem ewigen leben vnd zuo den hy¨melischen fräwden. Wer darzw well chömen, der püezz sein sünd vnd hab got vnd dy¨ hey¨ligen junckfrawen sand Katharein lieb, so geschicht jm, als der abtissin geschechen ist. Amen. (Bl. 129ra). Auf die Exempelsammlung folgen die Verserzählungen ›Der König im Bad‹ und ›Der Ritter in der Kapelle‹.114 Von der geistliche Thematik und der didaktischen Ausrichtung her passen diese Texte zu den Prosaexempla. Auch vom zweispaltigen Seitenlayout und vom Schriftbild her sind kaum Unterschiede erkennbar – die Verstexte werden den Prosaexempla einfach zur Seite gestellt, wobei die formale Differenz durch ähnliches Layout in den Hintergrund gedrängt wird. 2.5.2 Die Handschriften pa: Funktionalisierung narrativer Texte im Kontext von Traktatliteratur p

Stuttgart, WLB, Cod. theol. et phil. 2° 19

Papier · 121 Bll. · 29 × 20,7 · westliches Ostfranken · 1426/28

St. Salvator gebunden, vgl. Studer: Exempla, S. 185 f. Zum Inhalt der Sammlung vgl. auch Kap. IX.1.2. 111 Vgl. die Besitzeinträge auf dem vorderen Spiegel sowie Kurras: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 42. 112 Vgl. Hilg: Marienmirakelsammlungen, Sp. 35. Parallelüberlieferung dieser Sammlung: Salzburg, Stiftsbibl. Nonnberg, Cod. 23 B 25, Bl. 51r–116r (Bayern, 1466). Ich danke Gerold Hayer (Salzburg), der mir das Katalogisat dieser Handschrift aus seinem in Vorbereitung befindlichen Katalog der Nonnberger Handschriften zur Verfügung stellte. 113 Vgl. Hilg: Marienmirakelsammlungen, Sp. 35. 114 Zum ›Ritter in der Kapelle‹ vgl. Kap. VI.3.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

Inhalt: Bl. 1r–47v Bl. 49ra–87ra Bl. 87ra–97va Bl. 98–100 Bl. 101r–113v Bl. 113v–115r Bl. 116r Bl. 116v–121r

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Heinrich Seuse: ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ mit Vorrede Marquard von Lindau: ›Auszug der Kinder Israel‹ Marquard von Lindau: ›De Nabuchodonosor‹ dt. leer ›Sibyllenweissagung‹ ›Berner Marienklage‹ Passionsgebet (26 Verse) ›König im Bad‹

Lit.: Müller: König im Bad, S. 47–51; Nigel F. Palmer: Latein, Volkssprache, Mischsprache. Zum Sprachproblem bei Marquard von Lindau, mit einem Handschriftenverzeichnis der ›Dekalogerklärung‹ und des ›Auszugs der Kinder Israel‹. In: Spätmittelalterliche geistliche Literatur in der Nationalsprache. Bd. 1 (Analecta Cartusiana 106,1). Salzburg 1983, S. 70–110, hier S. 109; Neske, Ingeborg: Die spätmittelalterliche deutsche Sibyllenweissagung. Untersuchung und Edition (GAG 438). Göppingen 1985, S. 108–110.

Die Handschrift besteht aus zwei Teilen. Der erste, von Hand A geschriebene Teil (Bl. 1r–97v) enthält die umfangreicheren Seuse- und Marquard-Texte. Durch die von Schreiber A eingetragenen Datierungen lässt er sich in zwei Produktionsphasen unterteilen: Die ersten fünf Lagen, die Seuses ›Büchlein‹ enthalten, sind 1426 geschrieben worden und bildeten wohl ursprünglich einen selbständigen Faszikel, für den ein anderes Papier verwendet wurde als für die restlichen Teile der Handschrift. 1428 trug der Schreiber A auf vier weiteren Lagen die beiden Marquard-Texte ein. Von der letzten Lage verwendete er dabei nur das erste Blatt, der Rest der Lage blieb frei. Am Ende beider Faszikel steht je ein lateinisches Schreiberkolophon.115 Der Schreiber B (Bl. 101r–120r) ließ drei Blätter der letzten von Hand A beschriebenen Lage leer und trug dann die ›Sibyllenweissagung‹ ein, die er auf einer weiteren Lage fortsetzte. Dies muss in zeitlicher und räumlicher Nähe zum Werk des ersten Schreibers geschehen sein, da für die letzte Lage dasselbe Papier verwendet wurde wie für die drei vorangehenden Lagen. Auch der zweite Teil scheint nicht in einem Zug entstanden zu sein, denn der Schreiber B schloss auf Bl. 116r mit einem lateinischen Kolophon, trug dann aber noch den ›König im Bad‹ ein. Bemerkenswert ist bei dieser Handschrift die Trennung von Vers- und Prosatexten. Das Bewusstsein für den formalen Unterschied schlägt sich auch im Layout nieder: Die Verstexte im zweiten Teil sind einspaltig und mit abgesetzten Versen geschrieben.116 Die Prosatraktate machen allerdings den Hauptteil der Handschrift aus – die Verstexte scheinen als Nachträge hinzugefügt worden zu

115 Abdruck bei Müller: König im Bad, S. 49. 116 Eine solche Trennung von Vers- und Prosatexten im Erbauungsbuch-Kontext findet sich

310 | V Überlieferungskontexte 1 sein. Dies gilt in besonderem Maß für den ›König im Bad‹, der als eine Art Nachtrag im Nachtrag erscheint und vielleicht nur durch Zufall in die Sammlung gelangt ist. In der Handschrift a ist dagegen eine planvolle thematische Einbettung des ›Königs im Bad‹ zu beobachten. a

München, BSB, Cgm 319

Papier · I + 66 Bll. · 28,3 × 20,5 · nordbair. Sprachgebiet · Mitte 15. Jahrhundert Inhalt: Bl. 1r–28r Vaterunser-Auslegung Bl. 29r–56r Heinrich von St. Gallen: ›Magnificat-Auslegung‹ Bl. 57r–60v ›Der König im Bad‹ Bl. 61r–65v Passionsbetrachtung Lit.: Schneider: Die deutschen Handschriften V,2, S. 318 f.;117 Heinrich von St. Gallen: Die Magnifikat-Auslegung. Hrsg. von Wolfram Legner (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 11). München 1973, S. 11; Müller: König im Bad, S. 40.

Das große Format und die sorgfältige Ausstattung mit roten und blauen Initialen zeugen von einem ästhetischen Anspruch, der für Erbauungsbücher eher unüblich ist. Da keinerlei Informationen über Auftraggeber oder Vorbesitzer vorliegen, muss es allerdings offen bleiben, für welche Rezipientenkreise die Handschrift angefertigt wurde. Sowohl religiös interessierte Laien als auch Laienbrüder oder Nonnen sind als Rezipienten der Sammlung vorstellbar.

etwa auch in der Handschrift Karlsruhe, BLB, Donaueschingen 106. Dort wird die Trennung zusätzlich durch die Verwendung unterschiedlichen Beschreibstoffs (Verse – Pergament, Prosa – Papier) betont, wobei den Versen durch das Pergament quasi ein höherer Status zugesprochen wird. Dies scheint bei der Handschrift p allerdings nicht der Fall zu sein. 117 Bei Schneider: Die deutschen Handschriften V,2, S. 319, wird die anonyme ›König im Bad‹Erzählung mit der ›König im Bad‹-Bearbeitung Hans Rosenplüts verwechselt. Schneider setzt eine Schreibhand für die ganze Handschrift an. Allerdings ist zweimal ein auffälliger Bruch im Schreibduktus zu beobachten, einmal an einer Lagengrenze (Bl. 30/31) innerhalb der ›Magnificat-Auslegung‹, einmal an einer Textgrenze, nach dem ›König im Bad‹. Diese Brüche könnten darauf hindeuten, dass zwei Schreiber beteiligt waren, denn sie treten an Stellen auf, an denen man einen Schreiberwechsel erwarten kann. Nimmt man zwei Schreiber an, hätte der erste die Vaterunser-Auslegung und den Beginn der ›Magnificat-Auslegung‹ geschrieben (die ersten drei Lagen), der zweite den Rest der ›Magnificat-Auslegung‹ und den ›König im Bad‹ (die letzten drei Lagen). Auf den freigebliebenen Blättern der letzten Lage hätte der erste Schreiber dann die Passionsbetrachtungen nachgetragen, die auch von der Länge und vom Thema her gegenüber den Gebetsauslegungen als Nachtrag und Lagenfüllsel erscheinen. Diese Betrachtungen konnten erst eingetragen werden, nachdem der ›König im Bad‹ geschrieben war. Nimmt man nur einen Schreiber an, müsste man daher davon ausgehen, dass dieser mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung die Passionsbetrachtungen und die ersten drei Lagen geschrieben hätte, nachdem der zweite Teil der ›Magnificat-Auslegung‹ und der ›König im Bad‹ schon fertiggestellt waren. Dies scheint mir eher unwahrscheinlich zu sein.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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Die Sammlung weist drei thematische Schwerpunkte auf: das Vaterunser, das Magnificat und die Passion, wobei letztere nur relativ kurz behandelt wird. Die beiden Gebetstext-Auslegungen sollen die Gebete auch für laikale Rezipienten verständlich machen, damit diese den größtmöglichen Nutzen aus den von ihnen verrichteten Gebeten ziehen können. So wird die Vaterunser-Auslegung mit folgender Erklärung eröffnet: Got zu lob und zu ere han ich thümer muo t, ain klain sin zu sprechen uber das paternoster, wann ich fürcht layder, das es vil leüt unnüczlichen peten (Bl. 1r). Der didaktische Anspruch wird auch bei der ›Magnificat-Auslegung‹ Heinrichs von St. Gallen deutlich. Jeder Vers des ›Magnificats‹ wird in diesem Traktat von dem als Lehrer bezeichneten Simon von Cassia in einem imaginierten Dialog mit der Gottesmutter erklärt. Der ›König im Bad‹, der direkt auf die ›Magnificat-Auslegung‹ folgt, erscheint in diesem Kontext als narratives Pendant zur theoretischen Auslegung, denn auch hier wird ein Magnificat-Vers (Deposuit potentes) durch das Beispiel des hochmütigen Königs ›erklärt‹. In der ›Magnificat-Auslegung‹ wird dieser Vers folgendermaßen behandelt: Simon von Cassia wundert sich zunächst über den Vers, da doch viele Gewaltige auch erhöht worden seien, beispielsweise König David. Marias Antwort lautet, dass nicht alle Gewaltigen erniedrigt würden, sondern nur diejenigen, die ihre Gewalt missbrauchten, wie etwa Lucifer. Erniedrigt würden auch Personen, die nicht von Gott in ihr Amt eingesetzt worden seien, sondern nur wegen ihres Geldes oder ihrer Schmeichelei von den Menschen gewählt worden seien und ihr Amt schlecht ausüben würden, wie es sowohl bei geistlichen als auch bei weltlichen Herrschern heutzutage gang und gäbe sei: [47v] Vnd was da gesprochen ist von den gaistlichen, das mag man auch sprechen von den weltlichen kaysern, künigen vnd herren vnd fürsten, rittern vnd knechten, die also vnwirdiklichen von den menschen erwelt werden jn eyttler er, vnd jr wirdikeit vnd ampt nicht prauchen noch dem lob gotes, die werden all abgesetzt von dem almechtigen von jren stülen vnd wirden, vnd werden beraubt irer eren hie vnd dort ewigklichen. Auch so will er absetzen alle die hoffertigen jrs gemütes, die sich über nement jn jnn selber vnd in iren aigen güten wercken vnd maynend, sy habent, das sy nicht haben, vnd haben newr ain getrawen jn sich selber vnd verschmehen ander lewt leben, vnd urtailen das an gaistlichen vnd an weltlichen leuten zu dem poßten, vnd urtailen sich selber nicht wann newr, das sy gerecht sein. Vnd wo man sy strofft in der peicht oder sünst, des achten sy nicht vnd geben vmb all gelert leut nichtz vnd stien albeg auff irem aigen synn. Vnd wer also lebt, der wirt auch abgesetzt von dem stüll, vnd ir nam wirt auch abgesetzt vnd abgetilgt von dem puch des ewigen lebens, vnd werden gediemütiget ewigklich vmb das, das sy sich hie also über nümen habent.

In dem hier gezeichneten Bild der schlechten Herrscher und selbstgerechten Leute, die nicht auf den Rat der Gelehrten hören, wird ex negativo auch das Ideal eines guten Herrschers und demütigen Menschen erkennbar. Die Wandlung vom ersteren zum letzteren konkretisiert sich im Protagonisten der Erzählung vom ›König im Bad‹: Der König muss die in der Auslegung erwähnten Untugenden

312 | V Überlieferungskontexte 1 erst ablegen, um von Gott wieder in sein Herrscheramt eingesetzt zu werden. Die enge thematische Verbindung von traktathafter Auslegung und narrativer Exemplifizierung des ›Magnificat‹-Verses in dieser Handschrift zeigt, dass der ›König im Bad‹ für diesen speziellen Zweck in die Handschrift aufgenommen wurde. Kaum eine andere geistliche Erzählung hätte die Funktion erfüllen können, die dem Text hier durch seinen Kontext zugeschrieben wird. Dieser Fall macht deutlich, wie stark die Rezeption eines Textes durch den handschriftlichen Kontext beeinflusst werden kann. Dass der ›König im Bad‹ hier nicht als Verstext, sondern nur als Exempel zum ›Magnificat‹ interessierte, wird auch durch das Layout der Handschrift bestätigt: Analog zu den Prosatexten ist der ›König im Bad‹ fortlaufend, mit nicht abgesetzten Versen, geschrieben. 2.5.3 Die Handschriften rs: Erbauliche Kompendien Die ›König im Bad‹-Handschriften Straßburg, BNU, ms. 1995 (r) und St. Gallen, Kantonsbibl., VadSlg Ms. 356 (s) weisen ein ähnliches inhaltliches Profil und eine enge textgeschichtliche Verwandtschaft auf. r

Straßburg, BNU, ms. 1995

Papier · 136 Bll. · 20,3 × 14 · nordwestliches Rheinfranken · um 1428 Lagen: 3 VI36 + V46 + 3 VI82 [+ 3 Lagen?] + IV90 + VI102 + V112 + (V–1)121 + V131 + (V–3)138. Lagenzählung und teilweise Reklamanten. Die Lagenzählung geht von 7 auf 11 über, möglicherweise enthielt die Handschrift an dieser Stelle drei weitere Lagen. Bastarda von einer Haupthand (Bl. 1r–131r), Zusätze von verschiedenen Nachtragshänden (Bl. 131v–136v). Rubrizierung (Bl. 1r–131r) von der Haupthand. Inhalt: Bl. 1r–26r Konrad Kügelin: ›Vita der Elsbeth Achler von Reute‹ Bl. 26v Passionsgebet Bl. 27r–31r Dekalog dt. Bl. 31r/v ›Magnificat‹ dt. Bl. 31v Gebet Bl. 32r–32v Drei Eucharistie-Gebete Bl. 32v–34v Lehren Bernhards von Clairvaux Bl. 35r–36r Geistliche Ermahnungen Bl. 37r–42r ›Dreizehn Gnaden der Messe‹ Bl. 42v–45v ›Vom Almosengeben‹ Bl. 46r Dictum Bernhards von Clairvaux Bl. 46v Autoritäten-Dicta Bl. 47r–49r ›Goldenes Ave Maria‹ Bl. 49v–50r Gebet zu Barbara Bl. 50r ›Vom Advent‹ Bl. 50v–56v Sieben Bußpsalmen Bl. 56v–60r Litanei Bl. 60r/v Gebete Bl. 61r–65r ›Miserere‹ glossiert Bl. 66v–69r ›De profundis‹ glossiert

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

Bl. 69v–71r Bl. 71v–79r Bl. 79v–80r Bl. 80v Bl. 81r/v Bl. 82r Bl. 83r–84v Bl. 84v–85r Bl. 85r–86r Bl. 86r–87r Bl. 87r Bl. 87v–88r Bl. 88r Bl. 88v–89r Bl. 89v Bl. 90r Bl. 91r–98r Bl. 98v–105v Bl. 106r–108v Bl. 108v–109v Bl. 109v Bl. 110r/v Bl. 111r–112v Bl. 113r–120v Bl. 121r Bl. 121v Bl. 122r–127v Bl. 128r–131r Bl. 131v–133r Bl. 133v–134v Bl. 135r/v Bl. 136r

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Mariengebet ›Der Seele Kranz‹ Paternoster, Ave und Credo dt. ›Sieben Tagzeiten des Laien‹ ›Fünf Leiden Mariae‹ Gebete Zwei Marienlieder Geistliches Lied ›Nabuchodonosor‹ (Meisterlied) ›Priester, Ritter und Bauer‹ (Meisterlied) Mariengebet Anfang des Johannesevangeliums dt. Mariengebet ›Sieben gute Gedanken‹ ›Herzklosterallegorie‹ ›Salve Regina‹ dt. Passionsgeschichte dt. (Mt 26,1–27,66) ›Der König im Bad‹ Prosa-Exempel zum Thema des Leidens ›Neun Nutzen der Messe‹ ›Von der Eucharistie‹ Ave-Glossenlied ›Gegrüßet sistu ane we‹ Peter von Arberg: ›O starker Gott‹ (Lied mit Melodienotation) Berthold von Regensburg: ›Die Zeichen der Messe‹ Dictum Meister Eckharts Dictum eines Meisters ›Ave preclara maris stella‹ dt. Prosa-Traktat und Dictum Meister Eckharts Mariengebet Geistliche Lieder ›Canticum‹-Bearbeitung dt. Geistliches Lied

Lit.: Adolf Becker: Die deutschen Handschriften der Kaiserlichen Universitäts- und Landesbibliothek zu Straßburg (Katalog der Kaiserlichen Universitäts- und Landesbibliothek in Straßburg 6). Straßburg 1914, S. 3–7; Ernest Wickersheimer: Strasbourg (Catalogue Ge´ne´ral des Manuscrits des Bibliothe`ques Publiques de France, De´partements 47). Paris 1923, S. 410–413; Karl Bartsch: Beiträge zur Quellenkunde der altdeutschen Literatur. Straßburg 1886, S. 334–354; Müller: König im Bad, S. 51; Ulrich-Dieter Oppitz: Handschriften Karl Ritter von Kesaers und ihr Verbleib. ZfdA 125 (1996), S. 404–410, hier S. 406 f.

Die Straßburger Handschrift enthält größtenteils geistliche Prosatexte. Die Sammlung wird mit einer Vita der Klausnerin Elisabeth Achler von Reute († 1420) eröffnet, dann folgen meist kürzere Texte zu verschiedenen religiösen Themen, die im Kontext der volkssprachigen Laiendidaxe stehen, wie etwa das Paternoster, der Dekalog, der Anfang des Johannesevangeliums. Oft sind Texte dieser Art durch zählende Ordnungsschemata strukturiert: 10 Gebote, 13 Gnaden der Messe, 7 Bußpsalmen, 7 Tagzeiten, 5 Leiden, 9 Nutzen der Messe. Bei vielen Texten

314 | V Überlieferungskontexte 1 steht der praktische Lebensbezug im Vordergrund (konkrete Nutzen der Messe, Anleitung zum Almosengeben, Nutzen der einzelnen Gebete). Am Schluss des ›Goldenen Ave Maria‹ wird beispielsweise eine Marienerscheinung in der Todesstunde als Lohn für andächtiges Beten versprochen: Wer diß vorgeschriben gebee t allentag mit andacht spricht, dem erschynt vnser frauwe dry tage vor syme ende, ´ ym zu hilffe zu komen jn synen noe den (Bl. 49r). In eine ähnliche Richtung weisen auch die ›Sieben Tagzeiten für Laien‹, die auf die deutschen Übersetzungen von Paternoster, Ave Maria und Credo folgen und dem Tagesablauf eines Laien insofern angepasst sind, als nur frühmorgens viel gebetet werden muss, während des Tages aber weniger (Bl. 80v): Zu den sibben geczyden eyns leyen. § Zu metten zyth: xxiiij pater noster vnd auch also vil aue Maria. § Zu prime zy¨th, zu tercie zy¨th, zu sext zyth vnd zu none zy¨th: zu der yglicher ix pater noster vnd ix aue Maria. § Zu vesper zyth:· vij pater noster vnd vij aue Maria. Das sint alle zusamen lxxij pater noster vnd aue Maria. Darczu sal eyn yglicher mensch synen cristenlichen glauben zu dem aller mynsten alle morgende vnd abendes eyns andechtlichen sprechen vnd vnsern hern got syner gnaden allezyth bidden. Die Sammlung weist zwar eine schematische Mikro- aber keine erkennbare Makrostruktur auf. Die Kompilation sollte also wohl nicht als Nachschlagewerk dienen, sondern als Andachtsbuch ganz gelesen werden, damit die Rezipienten sich die Glaubensinhalte nach und nach aneignen konnten. Thematische Verbindungen zwischen einzelnen Texten sind zwar vorhanden (z.B. ›Magnificat‹Übertragung, ›König im Bad‹, ›Nabuchodonosor‹-Meisterlied), werden aber nicht durch räumliche Nähe der Texte oder durch explizite Verweise zum Ausdruck gebracht. Der Hauptschreiber der Handschrift fügte an manchen Textenden sprichwortartige Zusätze oder Kommentare ein, z.B. nach dem Mariengebet auf Bl. 71r: Bürge vnd schatze man hie verlat / Vns folget nicht dann vnser dat; nach der ›Herzklosterallegorie‹ auf Bl. 89v: Vnd nach dissen vorgeschriben dogenden mag der mensch sin leben wol richten; nach dem deutschen ›Salve Regina‹ auf Bl. 90r: Daz werde war! In gotes namen, amen. Kyrieleyson, Christeleyson, Kyrieleyson. Pater noster. Et ne nos inducas. Diese Zusätze deuten darauf hin, dass der Schreiber die von ihm niedergeschriebenen Inhalte durch die Erweiterungen bzw. das Anzitieren von liturgischen Texten und Gebeten selbst nachvollzog und damit auch zur Nachvollziehung durch die Rezipienten vorbereitete. Ein lateinisches Kolophon trug der Schreiber auf Bl. 120v nach Bertholds von Regensburg ›Zeichen der Messe‹ ein: Explicit super missam etc. anno domini mccccxxviij Michahelis festo,118 ein lateinischer Spruch beschließt das deutsche ›Ave preclara maris stella‹ (Bl. 127v):

118 Hier endet der Text ›Über die Messe‹, im Jahr des Herrn 1428, am Tag des heiligen Michael.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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Explicit Aue preclara etc. / Virgo non sis nobis amara.119 Die Versform des ›Königs im Bad‹ dürfte in dieser Sammlung kaum eine Rolle gespielt haben. s

St. Gallen, Kantonsbibl., VadSlg Ms. 356

Papier · 52 Bll. · 21–21,5 × 14–14,5 · Bodenseeraum · 2. Drittel 15. Jahrhundert Lagen: [VI] + 2 VI24 + (VI–4)32 + VI44 + II48. Lagenzählung: der ander sigstern (Bl. 1r), Dis ist der drit sigstern (Bl. 13r) und Dis ist der funft sigstern (Bl. 33r). Aus diesen Angaben ist zu erschließen, dass die erste Lage der Handschrift verloren ist und es sich bei der fragmentarischen dritten (bzw. ursprünglich vierten) Lage auch um einen Sexternio handelte. Kursive von zwei Händen: Hand A (Bl. 1r–37r, 45r–48v); Hand B (Bl. 37r–43r). Inhalt: Bl. 1r–3v Reimpaardekalog (aus: ›Katechetische Reimpaarsammlung‹)120 Bl. 3v–6v ›Der Seele Kranz‹ Bl. 6v–12v ›Der König im Bad‹ Bl. 12v–18v ›St. Galler Weltgericht‹ Bl. 19r–27v ›Cato‹ Bl. 27v–32v ›Marienleben‹ Bl. 33r–34r ›Syfrid‹ (Bruchstück) Bl. 35r–36v ›Fünf Leiden Mariae‹121 Bl. 36v–37r Mariengebet Bl. 37r–43r ›Leben Notkers des Stammlers‹ Bl. 45r–48v Rezepte Lit.:122 Müller: König im Bad, S. 51 f.; Michael Baldzuhn: Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der ›Fabulae‹ Avians und der deutschen ›Disticha Catonis‹. 2 Bde. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 44/1.2 [278/1.2]). Berlin/ New York 2009, S. 931, 1080.

Aus der Lagenzählung wird ersichtlich, dass am Anfang der Handschrift ein Sexternio fehlt. Der erste Text, ein Reimpaardekalog, ist unvollständig und setzt erst mit dem vierten Gebot ein. Allerdings reichen die ca. 75 fehlenden Verse nicht aus, um einen ganzen Sexternio (bei 22–32 Zeilen pro Seite) zu füllen, es müssen also noch weitere Texte verlorengegangen sein. Auf den Reimpaardekalog folgen ›Der Seele Kranz‹ und der ›König im Bad‹, die beide auch in der Straßburger

119 Hier endet das ›Ave praeclara‹ etc. / Jungfrau, sei uns nicht gram. 120 Der Reimpaardekalog stammt aus der Erbauungsbuch-Kompilation ›Oberrheinisches Erbauungsbuch‹/›Der slecht weg‹, die in Otto: der slecht weg beschrieben und ediert wurde. Bei Otto fehlt das St. Galler Reimpaardekalog-Fragment (entspricht V. 75–234 [S. 472–477] der Edition). 121 Dieser Text ist nicht identisch mit den ›Fünf Leiden Mariae‹, die in der Straßburger Handschrift überliefert sind; in s wird ein Dialog zwischen Christus und Maria im Himmel beschrieben, in r erinnert ein Betender Maria an ihre Leiden. 122 Theres Flury (Zürich) stellte mir freundlicherweise ihr in Vorbereitung befindliches Katalogisat dieser Handschrift zur Verfügung.

316 | V Überlieferungskontexte 1 Sammlung überliefert sind. Die darauffolgenden Texte behandeln die Themen Eschatologie (›St. Galler Weltgericht‹), allgemeine Didaxe (›Cato‹) und Mariologie (›Marienleben‹, ›Fünf Leiden Mariae‹, Mariengebet). Der mariologische Block wird allerdings durch ein Fragment einer hier unikal überlieferten weltlichen (heldenepischen?) Erzählung, ›Syfrid‹, unterbrochen. Diese bricht mitten in einem Satz auf Bl. 34r ab, etwa ein Drittel dieser Seite und Bl. 34v sind leer geblieben. Ob diese fragmentarische Überlieferung auf eine fehlerhafte Vorlage zurückzuführen ist, oder ob dem Schreiber der Text – der sich vom Rest der Sammlung unterscheidet – unpassend erschien, muss offen bleiben. Auf Bl. 35r fuhr der Schreiber mit den ›Fünf Leiden Mariae‹ fort. An dieser Stelle ist ein Übergang von Vers- zu Prosatexten zu beobachten. Die dritte Lage ist unvollständig, wahrscheinlich fehlen die beiden äußersten Doppelblätter, die Teile des ›Cato‹, den Schluss des ›Marienlebens‹ und den Anfang der ›Syfrid‹-Erzählung enthielten. Ein zweiter Schreiber hat nach dem Mariengebet eine wohl in St. Gallen entstandene Vita Notkers des Stammlers eingetragen, die bisher stoffgeschichtlich nicht eingeordnet wurde.123 Nach den leeren Seiten 43v, 44r/v folgen medizinische, diätetische und magische Rezepte, z.B. Kuren bei Impotenz oder ein Zauber, wie man seine Ehefrau dazu bringen kann, alles zu verraten, was sie weiß. Wie das ›Syfrid‹-Bruchstück ergänzen die Rezepte das geistlich geprägte Profil der Handschrift um einen weltlichen Aspekt und weisen auf ein laikales Umfeld hin, das sich allerdings nicht genauer fassen lässt.124 Die Handschriften r und s bilden in textgeschichtlicher Hinsicht eine Gruppe mit der ›Liedersaal‹-Handschrift (l) und stehen den älteren Handschriften HK nahe.125 Ein gemeinsames Missverständnis von lrs betrifft die gute Recht-

o

123 Darauf deutet ein Zusatz nach der eigentlichen Vita hin: Es ist zu wissend, daz die geschrifft ain dieser tafel ist vss gezogen vss der legend des hailgen bichters sant Nöggers darumb, daz die cristenlichen mentschen, die da begerend hilff vnd trosst von dem hailgen vatter sant Nögger wissend, in hie zesuo chend won er lit hie lib hafftig in dissem grab. Amen. Deo gracias (Bl. 43r). 124 Ein Eintrag auf Bl. 18v, am Ende des ›St. Galler Weltgerichts‹, könnte auf das Umfeld des Schreibers (und Besitzers?) hindeuten, lässt aber keine weitergehenden Schlüsse zu: wie dis nach benempten iuncker Hans. 125 Innerhalb der Gruppe ist die Handschrift r an einigen Stellen recht eigenständig. So bietet r beispielsweise in V. 24 der Ausgabe (in dem Magnificat): In dem psalmen Magnificat (Bl. 98v). Die Bezeichnung der neutestamentlichen Cantica als Psalmen ist gängig, in r könnte diese Änderung allerdings in Anlehnung an die Überschrift zur ›Magnificat‹-Übertragung auf Bl. 31r entstanden sein: Der psalme Magnificat zu dutsche. Die verwandten Handschriften ls teilen die ›Psalm‹-Erweiterung nicht. Eine wohl durch ein Missverständnis zustandegekommene Variante bringt r für V. 124 der Ausgabe (die sine savmere), als der König von den spottenden Leuten nach seinen Dienern und Lasttieren gefragt wird: vnd sin sperbere (Bl. 100v). Das in der höfischen Literatur verbreitete Motiv des Sperbers erschien dem Schreiber als Symbol der (verlorenen) Macht wohl passend.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹ |

317

sprechung des Königs als Grund für seine Begnadigung (V. 292 zwar wan din gvt gerichte). In l steht: zwar wer dü güt gerichte (Bl. 149ra), was vielleicht als ›Wenn du eine gute Gesinnung hättest‹ verstanden werden kann. Die Formulierung in s: Zwar wär din guo t gericht (Bl. 11r) ist wenig aussagekräftig, da mit der Ersetzung von wan durch wär das konzessive Element weggefallen ist. Eine sinnvolle Änderung bietet dagegen die Handschrift r: wan daz dü got geruo chte (Bl. 104r). Dies kann auf den bereits einsetzenden Sinneswandel des Königs bezogen werden und erscheint im unmittelbaren Kontext sogar plausibler als das ursprüngliche Motiv der guten Rechtsprechung, die im Text sonst keine Rolle spielt. In der folgenden Lehrrede ermahnt der Engel den König, die Worte der Priester zu glauben, selbst wenn er wisse, dass die Priester sündig seien (V. 300–304 der Ausgabe). Diese Stelle wurde zwar in l, nicht aber in rs korrekt übernommen.126 In s werden die Sünden auf den König bezogen: Er sprach o du solt geloben ha ´n, / was dir die priester ku ´ndent, / ald du tust dich in su ´nden. / Sy¨ lerent dich mit der geschrifft / Die warent cristelich gestifft (Bl. 11v). Der Schreiber von r bezieht die Sünden sogar auf Dritte, die der geläuterte König belehren soll: Vnd salt festen glauben han, / Waz die priester künden. / Vnd weist dü y¨mands sünden, / So lere sie auch da mit / Vnd gedencke an den fers deposuit / Vnd lere sie auch mit der geschicht / Die ware cristenliche schrifft (Bl. 104r). Hier sind es nicht mehr die christlichen Glaubenswahrheiten (gestift), die durch Bibelworte (geschrift) vermittelt werden, sondern der König wird aufgefordert, sein eigenes Erlebnis (geschicht) als Exempel für die Wahrheit des Bibelwortes (schrifft) zu erzählen. Ob es sich bei diesen Änderungen um Missverständnisse oder bewusste Korrekturen handelt, ist schwer zu sagen. Im geistlich geprägten Kontext von rs wäre es aber denkbar, dass der Wunsch bestand, den nicht handlungsrelevanten Verweis auf schlechte Priester zu tilgen.

2.6 Exkurs: Die gereimte oberrheinische Erbauungsbuch-Kompilation als besondere Ausprägung des Handschriftentyps ›Erbauungsbuch‹ Die ›König im Bad‹-Handschriften rs sind über weitere Parallelüberlieferung mit einer Gruppe von fünf Erbauungshandschriften verwandt, die eine Kompilation fast ausschließlich geistlicher Verstexte enthalten, die sog. ›Oberrheinische

126 Ebenfalls missverstanden bzw. geändert wurde die Stelle in den Handschriften G, b, h und in den Drucken. Die drei handschriftlichen Textzeugen beziehen die Sünden, wie auch s, auf den König; in den Drucken wurde die Stelle ganz ausgelassen.

318 | V Überlieferungskontexte 1 Erbauungsbuchkompilation‹. Die Gruppe repräsentiert damit einen Handschriftentyp, der dem bisher beobachteten Desinteresse an der Form in geistlichen Handschriften komplementär gegenübersteht. 2.6.1 Texte und Textzeugen Die Kompilation127 umfasst folgende Hauptbestandteile: eine christliche Lebenslehre mit Schwerpunkt auf der Bußlehre, eine Lehre vom rechten Haushalten (›Meister Albertus lere‹), eine als Dialog zwischen der Seele und Gott gestaltete geistliche Lehre (›Slecht weg‹), und eine ›Katechetische Reimpaarsammlung‹ (christliches Grundwissen über Dekalog, Sakramente, Tagzeiten etc.) und ist in den fünf Handschriften Karlsruhe, BLB, Lichtenthal 77 (K), Dresden, SLUB, Mscr.M.60 (D), Berlin, Staatsbibl., Mgf 742 (B), Paris, BNF, Ms. allem. 117 (P) und Düsseldorf, UB, Cod. F 55 (Dü) überliefert. Die Bestandteile der Kompilation sind in den verschiedenen Textzeugen unterschiedlich angeordnet und teilweise um weitere Texte ergänzt,128 darunter die geistlichen Verserzählungen ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ bzw. ›Weltlohn‹129 und die ›Teufelsbeichte‹.

127 Vgl. Arnold Otto/Burghart Wachinger: ›Der slecht weg‹ und das ›Oberrheinische Erbauungsbuch‹. In: 2VL 11 (2004), Sp. 1437–1441. Ausgabe: Otto: der slecht weg. Grundlegende Untersuchungen zur Handschriftengruppe bei Jürgen Geiß: Vorarbeiten für die Edition einer oberrheinischen katechetisch-erbaulichen Reimpaarsammlung (um 1400). Untersuchungen zu den Handschriften, Probe-Editionen, Überlegungen zur Funktion der Gesamtkompilation. Unveröffentlichte Magisterarbeit. Tübingen 1993. Jürgen Geiß stellte mir die Magisterarbeit freundlicherweise zur Verfügung, wofür ich mich bedanke. Zur Kompilation vgl. auch Eichenberger: Vom Sünder und der verlorenen Frau, S. 368–383. Otto hat ohne ersichtlichen Grund die in der bisherigen Forschung gängigen Handschriftensiglen geändert. Bei ihm trägt die Dresdner Handschrift die Sigel DD statt D, die Düsseldorfer Handschrift die Sigel D statt Dü. Dies ist besonders misslich, weil die Sigel D nun für zwei verschiedene Handschriften stehen kann. Ich verwende die alten Siglen D für Dresden, Dü für Düsseldorf. 128 Diese Tabelle basiert auf der Aufstellung bei Geiß: Vorarbeiten, S. 77. 129 Vgl. Geiß: Weltlohn. Ausgabe: Closs: Weltlohn, S. 64–91. Vgl. auch Eichenberger: Vom Sünder und der verlorenen Frau, bes. S. 359–368.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹ |

Handschrift K

Handschriften DB

Handschriften PDü

Christliche Lebenslehre

Christliche Lebenslehre

Christliche Lebenslehre

›Meister Albertus lere‹

›Meister Albertus lere‹

›Meister Albertus lere‹

Mönch von Salzburg: Marienlied

Mönch von Salzburg: Marienlied

Mönch von Salzburg: Marienlied

›Katechetische Reimpaarsammlung‹

›Katechetische Reimpaarsammlung‹

›Katechetische Reimpaarsammlung‹

›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹

›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ (mit Dekalog)

›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹

›Teufelsbeichte‹

›Teufelsbeichte‹

›Der slecht weg‹

›Der slecht weg‹

Psalmenkommentar (fehlt in B)

Psalmenkommentar

Johannes der Wise: Marienlob

Johannes der Wise: Marienlob

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Ave-Glossenlied K

›Der slecht weg‹ Seuse: Kommuniongebet Katechetische Prosasammlung Mariengebete K

Marienlied *DB Ave-Glossenlied *X (fehlt in D)

Ave-Glossenlied *X

›Regel und Leben Marias nach Christi Himmelfahrt‹ (fehlt in D) Reimpredigt Predigtsammlung (fehlt in P)

Die Handschriften lassen sich grundsätzlich in eine Textredaktion (K) und eine Bildredaktion (DBPDü) aufteilen. Die Handschriften der Bildredaktion zeichnen sich einerseits durch die Umstellung von ›Slecht weg‹ und ›Katechetischer Reimpaarsammlung‹, andererseits durch die Beifügung eines Bildprogramms

320 | V Überlieferungskontexte 1 mit Bildüberschriften aus, die eine neue Gliederung der Kompilation erzeugen.130 K

Karlsruhe, BLB, Cod. Lichtental 77

Papier · 246 Bll. · 21,5 × 15 · Rheinfranken · um 1425–1435 Bastarda von einer Haupthand und einer Nachtragshand. Rubriziert. Inhalt: ›Oberrheinisches Erbauungsbuch‹/›Der slecht weg‹ Lit.: Felix Heinzer/Gerhard Stamm: Die Handschriften von Lichtenthal. Mit einem Anhang: Die heute noch im Kloster Lichtenthal befindlichen Handschriften des 12. bis 16. Jahrhunderts (Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe XI). Wiesbaden 1987, S. 190–193; Otto: der slecht weg, S. 16–20. P

Paris, BNF, Ms. allem. 117

Papier · 218 Bll. · 29,1 × 20,7 · Unterelsass (Straßburg?) · 2. Viertel 15. Jahrhundert Bastarda von einer Hand (Henricus Schan). Rubriziert. Inhalt: ›Oberrheinisches Erbauungsbuch‹/›Der slecht weg‹ Lit.: Ge´de´on Huet: Catalogue des manuscrits allemands de la Bibliothe`que Nationale. Paris 1895, S. 56; Otto: der slecht weg, S. 31–35. Dü

Düsseldorf, ULB, Ms. F 55

Papier · 272 Bll. · 26 × 19,5 · Rheinfranken · um 1460–1480 Bastarda von einer Hand. Rubriziert. 86 lavierte, gerahmte Federzeichnungen. Inhalt: ›Oberrheinisches Erbauungsbuch‹/›Der slecht weg‹ Lit.: Handschriftencensus Rheinland. Erfassung mittelalterlicher Handschriften im rheinischen Landesteil von Nordrhein-Westfalen mit einem Inventar. Hrsg. von Günter Gattermann, bearbeitet von Heinz Finger u. a. 3 Bde. (Schriften der Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf 18). Wiesbaden 1993, Bd. I, S. 475 f.; Otto: der slecht weg, S. 27–31; KdiH, Bd. 6/1, S. 16–18 (Nr. 44.1.3) und Abb. 44.5–6. D

Dresden, SLUB, Mscr.M.60

Papier · 173 Bll. · 28,5 × 21,5 · Unterelsass (Hagenau) · um 1422–1424 Bastarda von mehreren Händen. Rubriziert. 86 lavierte Federzeichnungen. Die Handschrift stammt aus der Werkstatt Diebolt Laubers in Hagenau; die Illustrationen wurden von der Zeichnergruppe A ausgeführt. Inhalt: ›Oberrheinisches Erbauungsbuch‹/›Der slecht weg‹ Lit.: Hoffmann: Die deutschsprachigen Handschriften Vorläufige Beschreibung, abrufbar unter: http://www.manuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/obj31601977 (19. 6.

130 Die Handschrift P weist zwar keine Bilder auf, gehört aber dennoch zur Bildredaktion, da sie die gleichen Zwischenüberschriften wie DBDü enthält. Wahrscheinlich handelt es sich bei P um eine Abschrift einer bebilderten Vorlage, bei der zwar die Überschriften, nicht aber die Bilder übernommen wurden.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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2014); Lieselotte E. Saurma-Jeltsch: Spätformen mittelalterlicher Buchherstellung. Bilderhandschriften aus der Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau. 2 Bde. Wiesbaden 2001, Bd. 2, S. 33 f.; Otto: der slecht weg, S. 23–27; Arnold Otto: Geistliches aus Diebold Laubers Frühzeit. Die Handschriften M 60 aus der Sächsischen Landesbibliothek Dresden und W. fol. 251 aus dem Historischen Archiv der Stadt Köln. In: Aus der Werkstatt Diebold Laubers. Hrsg. von Christoph Fasbender unter Mitarbeit von Claudia Kanz und Christoph Winterer (Kulturtopographie des alemannischen Raums 3). Berlin/Boston 2012, S. 245–256; KdiH Bd. 6/1, S. 14–16 (Nr. 44.1.2) und Abb. 44.3–4. B

Berlin, Staatsbibl., Mgf 742

Papier · 153 Bll. · 27,2 × 20,6 · Unterelsass · um 1445–1460 Bastarda von einer Hand. Rubriziert. 91 lavierte Federzeichnungen. Inhalt: ›Oberrheinisches Erbauungsbuch‹/›Der slecht weg‹ Lit.: Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln. Hrsg. von Peter Jörg Becker/Eef Overgaauw (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Ausstellungskataloge N.F. 48). Mainz 2003, S. 225–227 [Jürgen Geiß]; Otto: der slecht weg, S. 20–23; KdiH Bd. 6/1, S. 13 f. (Nr. 44.1.1) und Abb. 44.1–2.

Einzelne Texte aus der Kompilation sind außerdem in weiteren Handschriften überliefert. Die ›König im Bad‹-Handschrift s enthält ein Fragment des Reimpaardekalogs aus der ›Katechetischen Reimpaarsammlung‹. Von der Textgestalt her gehört die Handschrift s zur Textredaktion, da der Dekalog-Text keine Zwischenüberschriften bei den einzelnen Geboten aufweist. Wie in K scheinen in der Vorlage von s auch die Sieben Sakramente, die auf den Dekalog folgen, nicht durch eine Überschrift vom Vorangehenden abgesetzt gewesen zu sein, denn der Schreiber von s hat wohl unabsichtlich die ersten acht Verse der Sieben Sakramente übernommen. Als er sein Versehen bemerkte, brach er ab und schloss mit amen. Die Handschrift Paris, BNF, Ms. allem. 150 (P2) teilt drei Texte mit der Kompilation (›Meister Albertus lere‹, ›Ave-Glossenlied‹ *X und ›Regel und Leben Marias nach Christi Himmelfahrt‹). Über weitere Parallelüberlieferung ist die Handschrift P2 außerdem mit den ›König im Bad‹-Handschriften s (›St. Galler Weltgericht‹)131 und r (›Ave preclara‹-Übersetzung, Bertholds von Regensburg ›Zeichen der Messe‹) verbunden. P2

Paris, BNF, Ms. allem. 150

Papier · II + 356 Bll.; zwei Faszikel (I: Bl. 1–201; II: Bl. 202–356) · 21–21,2 × 14–14,7 · Speyer · 1418/19

131 Vgl. Hellmut Rosenfeld: St. Galler Weltgericht. In: 2VL 2 (1980), Sp. 1061–1063 und 2VL 11 (2004), Sp. 485 f.

322 | V Überlieferungskontexte 1 Lagen: I + (VI–2)11 + 19 V201 + (VI–1)212 + 12 VI356. Inhalt: Faszikel I Bl. 1r–191v Johann von Mandeville: ›Reisebeschreibung‹ (Übs. Ottos von Diemeringen) Bl. 166v–168r Johannes von Hildesheim: ›Historia trium regum‹, dt. (Auszug) Bl. 192r–200v ›Priesterkönig Johannes‹ (›Presbyterbrief‹) Faszikel II Bl. 202r–245r Jakob Twinger von Königshofen: Chronik (Auszug) Bl. 246r–262r ›Fegfeuer des hl. Patricius‹ Bl. 262r–263r Gebete zum hl. Nikolaus Bl. 263r–268r ›Meister Albertus Lere‹ Bl. 268v lat. Gebet Bl. 268v–269r Gebet aus Freidank: ›Bescheidenheit‹ Bl. 269v–273r ›Autoritäten‹ Bl. 273v–277v ›Regel und Leben Mariae nach Christi Himmelfahrt‹ Bl. 277v–281r Glossenlied ›Ave, regina coelorum, mater regis angelorum, o Maria‹ Bl. 281r Gebärsegen lat./dt. Bl. 281v–283v ›Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts‹ (Ps.-Beda-Typ) Bl. 283v–292r ›St. Galler Weltgericht‹ Bl. 292r–303r ›Veronika‹ I (›Die sieben Ärzte‹) Bl. 303v–306r Tischzucht (›Erfurter Tischregeln‹) Bl. 306v–314r ›Geistliche Tischzucht‹ Bl. 314v–322r Predigt über Apc 2,7 Bl. 322v–325v ›Gehängter Dieb‹ II132 Bl. 325v–333r Berthold von Regensburg: ›Von den Zeichen der Messe‹ Bl. 333v–336r Lied in Boppes Hofton über die Messe Bl. 336r–341v ›Ave preclara maris stella‹ dt. Bl. 341r–342v ›Unser vrouwen klage‹ (Schlussgebet) Bl. 342v–343r ›Zwölf Früchte der Messe‹ Bl. 343v Ablassgebet, Papst Johannes XII. zugeschrieben Bl. 345r–356v ›Meister Albertus lere‹ Lit.: Archivbeschreibung Robert Priebsch (o. J.), 13 Bll.; Ridder: Mandeville, S. 72–81; Otto: der slecht weg, S. 35–39.

Die Handschrift besteht aus zwei Faszikeln, die von zwei unterschiedlichen Schreibern stammen (I: Bl. 1–201; II: Bl. 202–356). Nach Ausweis der Kolophone auf Bl. 200v und 334r entstanden die Faszikel 1418 bzw. 1419, Faszikel II wurde in Speyer von einem Schreiber namens Corin Schriber, ein guo t geselle (356v) geschrieben. Die Handschrift P2 gehört zur Bildredaktion der Erbauungs-Kompilation: Sie enthält eine zusätzliche Überschrift in ›Meister Albertus lere‹ (Wie gar nütze fragen sy, Bl. 345r), die in K fehlt. Außerdem sind die beiden anderen

132 Ausgabe: Jessie Crosland: A German Version of the Thief-Legend. The Modern Language Review 1 (1906), S. 59–63.

2 Die Überlieferung eines ›Bestsellers‹

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Texte, die P2 mit der Kompilation teilt, das ›Ave-Glossenlied‹ *X und ›Regel und Leben Mariae nach Christi Himmelfahrt‹, nur in Handschriften der Bildredaktion überliefert. Die Handschriften P2, rs und KDBPDü stehen einander nicht nur durch Parallelüberlieferung, sondern auch von ihren Entstehungsorten her nahe: Ihre Verbreitung beschränkt sich auf den südwestdeutschen Raum. Am weitesten voneinander entfernt liegen die Handschriften s (Bodenseegebiet) und r (nordwestliches Rheinfranken). Die anderen Handschriften lassen sich zwischen diesen beiden Eckpunkten entlang des Rheins anordnen: PDB im Unterelsass (P wohl in Straßburg, D in Hagenau); KDüP2 in Rheinfranken (P2 in Speyer). Es lässt sich allerdings keine chronologische ›Wanderrichtung‹ ausmachen. Als Entstehungsorte und Ausgangspunkte der Kompilation sind städtische Zentren wie Speyer oder Straßburg denkbar. Spätestens in den 1420er Jahren scheinen die Texte der Kompilation aber bereits über den gesamten oberrheinischen und rheinfränkischen Raum verbreitet gewesen zu sein. Bemerkenswert an der Handschriftengruppe ist nicht nur ihre Fokussierung auf geistliche Verstexte, sondern auch der im hohen Ausstattungsniveau (besonders der Bildredaktion) zum Ausdruck gebrachte Geltungsanspruch der Handschriften, der vergleichbar ist mit den geistlich geprägten Kleinepiksammlungen k (großes Format) und V (mit Blattgold verzierte, historisierte Deckfarbeninitiale). Dennoch können die Vers-Erbauungsbücher des 15. Jahrhunderts nicht als direkte Nachfolger der Kleinepiksammlungen des 14. Jahrhunderts gelten, denn der Textbestand der Erbauungsbuch-Kompilation unterscheidet sich deutlich von demjenigen der älteren Sammlungen: Die Hauptbestandteile der erbaulichen Verskompilation sind umfangreiche diskursive Texte, die erst im 14. Jahrhundert entstanden sind. Ihnen liegen andere religiöse Konzeptionen und didaktische Wirkungsintentionen zugrunde als der älteren geistlichen Kleinepik. Trotz der konzeptionellen Nähe zu zeitgenössischen geistlichen Prosatraktaten scheint der Rückgriff auf die literarische Tradition der Vermittlung religiöser Inhalte in Versen im Entstehungsumfeld der oberrheinischen Erbauungsbuch-Kompilation immer noch als Ausdruck eines besonderen ästhetischen Geltungsanspruchs aufgefasst worden zu sein.133 Das Konzept der ästhetischen Valorisierung religiöser Inhalte läuft den in den Texten vertretenen religiösen Auffassungen zwar teilweise zuwider, fand bei den Rezipienten dieser Texte aber offenbar Anklang. Wenn geistliche Verserzählungen in solche Handschriften auf-

133 Vgl. Geiß: Vorarbeiten, S. 57–60. Ein Bewusstsein der ästhetischen Höherwertigkeit von Verstexten gegenüber Prosatexten kommt etwa auch in der Erbauungshandschrift Karlsruhe, BLB, Donaueschingen 106 (Konstanz?, um 1495) zum Ausdruck, in der die Verstexte auf Pergament, die Prosatexte dagegen auf Papier geschrieben sind.

324 | V Überlieferungskontexte 1 genommen oder für solche Kompilationen überhaupt erst geschrieben wurden, war also nicht nur ihre konzeptionelle Ausrichtung, sondern auch ihre Versform von Bedeutung. 2.6.2 Geistliche Verserzählungen in der ›Oberrheinischen Erbauungsbuchkompilation‹ zwischen Selbständigkeit und Integration Die geistlichen Verserzählungen der ›Oberrheinischen Erbauungsbuchkompilation‹ sind teilweise an die diskursiven Teile angelagert, teilweise in diese integriert. Auf die ›Katechetische Reimpaarsammlung‹ folgen die Erzählungen ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ (737 V., 14. Jahrhundert)134 sowie die ›Teufelsbeichte‹ (237 V., 14. Jahrhundert):135 Ein Teufel sitzt am Montag vor Ostern auf dem Portal einer Kirche, in der die Leute zur Beichte gehen, und beobachtet, wie die Menschen, die hineingehen, vor Sünden schmutzig, diejenigen aber, die herauskommen, so klar wie Glas sind. Davon beeindruckt, will der Teufel diese Wandlung an sich selbst ausprobieren und geht in Gestalt eines Mannes zum Priester. Er beichtet alle seine Vergehen: den Rat an Lucifer, sich gegen Gott aufzulehnen; die Beteiligung am Sündenfall; die Anstiftung des Judas zum Verrat an Jesus und zum Selbstmord; die Beeinflussung von Caiphas und Pilatus im Prozess gegen Jesus und den Rat an Pilatus, sich selbst umzubringen; die Tötung unzähliger Leute in Streit und Krieg. Der Priester, der allmählich begreift, dass er mit dem Teufel zu tun hat, wirft seine Stola über dessen Kopf, um ihn am Weggehen zu hindern und zwingt ihn, seine Identität zu offenbaren. Der enttarnte Teufel gibt zu, dass er den Wunsch habe, wie die absolvierten Menschen rein zu werden und beteuert, an der Gnade Christi nicht zu zweifeln. Die Frage des Priesters, ob er denn auch Reue für seine Missetaten empfinde, verneint der Teufel jedoch, und der Priester verweigert ihm deshalb die Absolution. Jammernd entweicht der Teufel.

Die Erzählung behandelt den Stoff vom beichtenden Teufel136 in einer ähnlichen Form, wie er auch bei Caesarius von Heisterbach: ›Dialogus miraculorum‹ III,26 überliefert ist. Zwischen der lateinischen und der volkssprachigen Ausformung gibt es jedoch konzeptionelle Unterschiede: Während die Absolution des Teufels bei Caesarius daran scheitert, dass der Teufel sich aus Hochmut weigert, die vom Priester auferlegte leichte Buße (dreifache Prostration mit Schuldbekenntnis) auszuführen, kommt es in der volkssprachigen ›Teufelsbeichte‹ gar nicht erst zu einem Bußangebot. Der Teufel ist hier nicht nur unfähig oder unwillig, sich vor Gott zu erniedrigen, er ist nicht einmal fähig, Reue über seine Sünden zu emp-

134 Zu diesem Text vgl. Kap. II.2.1. und Eichenberger: Vom Sünder und der verlorenen Frau. 135 Letztere fehlt – wohl aufgrund der Schlussstellung – in der Handschrift K. Zur ›Teufelsbeichte‹ vgl. Andre´ Schnyder: Teufelsbeichte. In: 2VL 9 (1995), Sp. 727–729 und 2VL 11 (2004), Sp. 1512. Ausgabe: Closs: Weltlohn, S. 92–106. Vgl. auch Slenczka: Gäste, S. 45–65; Bockmann: Figuren, Kap. II.3. 136 Tubach 1637.

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finden. Die Rede des Teufels macht deutlich, dass die Fähigkeit zur Reue als Gnade Gottes verstanden wird: an der geschrifte stat, / Daz nie kein man gedan enhat / Gut ane helfe gots, daz glaubet, / Priester, der gnaden bin ich beraubet (V. 213 ff.). Der Situation des Teufels, der wegen seiner ewigen Verdammung nicht in der Lage ist, Reue zu empfinden, wird die Situation der Menschen gegenübergestellt, denen die Möglichkeit offensteht, sich von ihren Sünden durch Reue reinzuwaschen: Sunder, nu habe ruwen und leit / Und zwifel nit, daz ist min rat, / Und klagen unse sunde und missedat, / Den wir’s zu rehte pflihtig sin / Und han got lieb zu aller zit, / Der lonet uns gar gutlich / Und furt uns in sins vader rich, / Daz helfe got uns allen glich (V. 230 ff.). Diese Aufforderung passt zum didaktischen Anliegen der Kompilation, ein Modell guten christlichen Lebens zu vermitteln. Sowohl die ›Teufelsbeichte‹ als auch ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ weisen stilistische und sprachliche Ähnlichkeiten zur vorangehenden ›Katechetischen Reimpaarsammlung‹ auf. Aufgrund der Reimtechnik nimmt Closs an, dass die Texte im gleichen Raum, im rheinfränkisch-oberrheinischen Übergangsgebiet, entstanden sind.137 Es gibt auch zahlreiche übereinstimmende Formulierungen zwischen den drei Texten.138 So steht beispielsweise in ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹: Sie waz fül und unreine, / Das do von irme libe drang / Vil gar ein ymerlicher gestang, / Nach me dan ein fuler hünt. / Sy schre dicke und zu maniger stünt (WL 228 ff., K Bl. 230v/231r), in der ›Teufelsbeichte‹: Er satzete sich uber das dor / und sach wenn der mensch hin tranck, / das er von den sunden stanck / Noch erger denne ein fuler hunt, / das werte bitz uf die stunt (V. 20 ff.). Hier stimmen nicht nur zwei Reimpaare überein, sie erscheinen auch in ähnlichem inhaltlichem Kontext. Neben den stilistischen Übereinstimmungen lassen sich auch weiter gefasste konzeptionelle Ähnlichkeiten zwischen den drei Texten beobachten. Die Erzählung ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ greift verschiedene Themen der ›Katechetischen Reimpaarsammlung‹ wieder auf, etwa den Dekalog und eschatologische Fragen; in der ›Teufelsbeichte‹ wird das Sakrament der Buße behandelt. Zudem enthält die ›Teufelsbeichte‹ – wie der Antichrist-Abschnitt der ›Katechetischen Reimpaarsammlung‹ – einen heilsgeschichtlichen Abriss. Diese Bezüge mögen nicht ausreichen, um Verfasseridentität für alle drei Texte zu postulieren, aber sie scheinen mir auffallend genug zu sein, um davon ausgehen zu

137 Vgl. Closs: Weltlohn, S. 45–49, 96 f. Bei Closs mit den Termini Rheinfranken/Südfranken (damit ist Gebiet um Heilbronn gemeint) bezeichnet. Closs erwähnt als typische Merkmale die Reime sich/mich/dich – gelıˆch/sicherlıˆch/rıˆch, die in allen drei Texten vorkommen, den Reim braht – quat in ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ und den Reim verraden – gnaden in der ›Teufelsbeichte‹. 138 Zu den Übereinstimmungen zwischen ›Katechetischer Reimpaarsammlung‹ und ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ vgl. Eichenberger: Vom Sünder und der verlorenen Frau, S. 371, Anm. 26.

326 | V Überlieferungskontexte 1 können, dass die drei Texte in einem ähnlichen Umfeld, vielleicht unter Bezugnahme aufeinander, entstanden sind. Damit stellt sich die Frage nach der Selbständigkeit der beiden Verserzählungen innerhalb der Kompilation. Die ›Teufelsbeichte‹ weist deutliche Selbständigkeitsmerkmale auf: Sie beginnt mit einem Prolog, der sie klar vom Vorangehenden abgrenzt, während ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ unmittelbar mit der Rede des Ich-Erzählers einsetzt und v.a. im zweiten Teil der diskursiven Didaxe der ›Katechetischen Reimpaarsammlung‹ nähersteht als die stärker handlungsorientierte ›Teufelsbeichte‹. Hinzu kommt, dass die ›Teufelsbeichte‹ bereits zu einem frühen Zeitpunkt auch außerhalb der ›Oberrheinischen Erbauungsbuchkompilation‹ überliefert ist: Krakau, Bibl. Jagiellon´ska, Berol. Mgq 1497 Papier · 243 Bll. + 4 neuere Nachsatzbll. · 25,4 × 19 · Kölner Raum (?) · 1417 Inhalt: Bl. 1ra–96va Heinrich Seuse: ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ (frgm.) Bl. 96vb–150rb Rulman Merswin: ›Neunfelsenbuch‹ Bl. 150rb–166vb ›Buch von den junckfrawen, wie sy sich halten sullent‹ Bl. 167ra–186ra ›Christi Leiden in einer Vision geschaut‹ Bl. 186ra–187rb Katechetische Sammlung: Credo, Dekalog, 7 Todsünden, 9 fremde Sünden Bl. 190ra–207va ›Lucidarius‹ (frgm.) Bl. 208ra–210ra ›Teufelsbeichte‹ Bl. 210ra–217vb ›Laurin‹ (frgm.) Bl. 218r–243v ›Rosengarten zu Worms‹ (frgm.) Lit.: Klaus Klein: Eine wiedergefundene Handschrift mit ›Laurin‹ und ›Rosengarten‹. Teil I: ZfdA 113 (1984), S. 214–228; Teil II: ZfdA 115 (1986), S. 49–78; Laurin (Lienert u. a.), S. XXXIX f.; Helgard Ulmschneider: Der deutsche ›Lucidarius‹. Bd. 4: Die mittelalterliche Überlieferungsgeschichte (Texte und Textgeschichte 38). Berlin/New York 2011, S. 145–150.

Die Handschrift wurde von fünf Schreibern geschrieben: I (Bl. 1r–166v), II (Bl. 167r–187r), III (Bl. 190r–210r), IV (Bl. 210r–217v), V (Bl. 218r–243v). Der erste Schreiber, Johannes von Marsel, nennt seinen Namen und das Datum 1417 im Kolophon auf Bl. 166v, wo sich auch ein Besitzvermerk findet: Dis buch hat laßen schriben meister Hans Kraus, vnd ist im lieber den manig man seyn weip. Das einheitliche Layout bis Bl. 217v deutet darauf hin, dass es sich bei der Sammlung um ein Hausbuch handelt, das sukzessive ergänzt wurde.139 Auf eine Entstehung des Hauptteils im Kölner Raum deuten Fragmente eines Kölner Kanzleitextes hin, die als Spiegel eingeklebt wurden.140 Somit ist dieser älteste erhaltene Textzeuge der

139 Vgl. Ulmschneider: Lucidarius, S. 148. 140 Ulmschneider: Lucidarius, S. 148 f.

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›Teufelsbeichte‹ nördlich des vermutlichen Entstehungsraumes des Textes und des Verbreitungsraumes der Kompilation zu lokalisieren. In der Kompilation finden sich innerhalb größerer Texte narrative Passagen, deren Selbständigkeitsstatus noch uneindeutiger ist. Ein Beispiel dafür ist die exemplarische Erzählung ›Der Waldbruder‹ (140 V., 14. Jahrhundert),141 die innerhalb des Traktats ›Der slecht weg‹ überliefert ist. Ein frommer Waldbruder bittet Gott darum, ihm zu offenbaren, welcher Dienst ihm am angenehmsten sei. Eines Tages findet der Waldbruder vor der Tür seiner Klause einen kranken, verwundeten Mann, der ein schweres Kreuz mit sich schleppt. Der Waldbruder erbarmt sich über den Mann, nimmt ihn in die Klause und wäscht seine Wunden. In diesem Moment verschwindet der Fremde, und der Waldbruder erkennt, dass Christus selbst ihn besucht hat, um ihm zu offenbaren, dass die Passionsbetrachtung ihm der liebste Dienst sei.

Die Erzählung erfüllt innerhalb des Traktats eine konkrete Funktion: Sie steht im Bezug zu dem vorangehenden Kapitel, in dem beschrieben wird, wie man beten soll, um erhört zu werden; der Rezipient kann durch Identifikation mit dem Waldbruder den Lohn andächtigen Betens im narrativen Raum nachvollziehen. Diese enge Verzahnung von Diskurs und Narration legt nahe, dass die Erzählung vom ›Waldbruder‹ als Teil des ›Slecht weg‹ entstanden ist. Dennoch wurde sie später auch als selbständiger Text weitertradiert: Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 64.3 Aug. 8° Papier · XI + 278 + XII Bll. · 15 × 10,5 · Schwaben · um 1465–1475142 Inhalt: Bl. 1r–61r Passionsberichte nach den vier Evangelisten, dt. Bl. 61v–70v leer Bl. 71r–140v ›Die Schule der Tugenden‹ Bl. 142r–243v Johannes Nider: ›Die 24 goldenen Harfen‹ Bl. 244r–250v ›Waldbruder‹ Bl. 250v–278v ›Christus und die sieben Laden‹ Lit.: Otto von Heinemann: Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Zweite Abtheilung: Die Augusteischen Handschriften V. Wolfenbüttel 1903 (Nachdruck unter dem Titel: Die Augusteischen Handschriften. Bd. 5: Codex Guelferbytanus 34.1 Augusteus 4° bis 117 Augusteus 4° [Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel 8]. Frankfurt a. M. 1966), S. 124 f. (Nr. 3709); Stefan Abel: Johannes Nider: ›Die vierundzwanzig goldenen Harfen‹. Edition und Kommentar (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 60). Tübingen 2011, S. 50.

141 Vgl. Jürgen Geiß: Waldbruder. In: 2VL 10 (1999), Sp. 611 f. Ausgabe: Closs: Weltlohn, S. 114–119; Otto: der slecht weg, S. 421–425. 142 Datierung nach Wasserzeichenbefund. Für die Wasserzeichenanalyse danke ich Monika Strziga (HAB Wolfenbüttel).

328 | V Überlieferungskontexte 1 Vor der Bindung, die noch im 15. Jahrhundert erfolgte, wurden der erste Teil der Handschrift (1r–70v) und der zweite Teil (71r–278v) wohl separat aufbewahrt, worauf die stark verschmutzte Anfangsseite des zweiten Teils (71r) sowie die unterschiedlichen Schreibhände der beiden Teile hindeuten. Im hinteren Spiegel findet sich ein Besitzeintrag aus dem späten 15. Jahrhundert, in dem eine Frau namens Engel Sterin Huckerin aus Augsburg und ein Hans Stör (Ehemann, Verwandter der Frau?) genannt werden. Der ›Waldbruder‹ ist in der Wolfenbütteler Handschrift zwar auch in ein Erbauungsbuch integriert, es handelt sich aber um eine kleinformatige, anspruchslos gestaltete Handschrift, die hauptsächlich diskursive Prosatexte enthält. Die Verserzählung wurde an diesen Kontext angepasst, indem die Verse nicht abgesetzt geschrieben wurden. Innerhalb der Sammlung, in der die umfangreichen Traktate den kürzeren narrativen Texten vorausgehen,143 bildet der ›Waldbruder‹ eine Einheit mit der Prosaerzählung ›Christus und die sieben Laden‹, in der ebenfalls ein Eremit als Protagonist auftritt. Die Mitüberlieferung und die räumliche Entfernung vom Entstehungsgebiet der Kompilation machen deutlich, dass es sich hier um einen sekundären Überlieferungskontext des ›Waldbruders‹ handelt. Auf den ›Waldbruder‹ folgt in der ›Oberrheinischen Erbauungsbuchkompilation‹ eine zweite exemplarische Erzählung, ›Der Söldner als Barfüßer‹ (73 V., 14. Jahrhundert).144 Ein Söldner, der ein lasterhaftes Leben geführt hat, wird von Reue ergriffen und tritt in ein Franziskanerkloster ein. Das harte Klosterleben verleidet ihm aber bald, und er will wieder in die Welt zurückkehren. Als er sich aufmacht, um aus dem Kloster zu fliehen, verstellt ihm der gekreuzigte Christus die Tür. Christus rät dem zerknirschten Söldner, jeden Tag über die Passion zu meditieren, da ihm dann seine eigenen Leiden nichtig erscheinen würden. Der Söldner tut dies und wird ein frommer Mönch.

Die Figur des Söldners dient als Projektionsfläche für diejenigen Rezipienten, die zwar guten Willens, aber in ihrer Bekehrung noch nicht gefestigt sind. Durch die Identifikation mit dem Söldner können diese Unentschlossenen den Nutzen der Passionsmeditation nachvollziehen. Der Text weist außerdem einen Bezug zum nachfolgenden diskursiven Kapitel auf, in dem vom usz triben der bosen gedencken (K, Bl. 183r) gesprochen wird. Im Gegensatz zum ›Waldbruder‹ ist für den ›Söldner als Barfüßer‹ keine selbständige Überlieferung bezeugt.

143 Diese Art der Anordnung lässt sich öfter beobachten, vgl. z.B. die ›König im Bad‹-Handschriften pa (Kap. V.2.5.2.) und die Handschrift Weimar, HAAB, Cod. Quart 127 (Kap. IX.1.3.4.) 144 Ausgabe: Otto: der slecht weg, S. 426–428. Zum Stoff: Tubach 1372. Eine ähnliche Erzählung findet sich in der Marienmirakelsammlung Berlin, Staatsbibl., Mgo 222 (Nr. 35). Dort wird von einer Nonne berichtet, die aus dem Kloster entlaufen will.

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In der Handschrift K sind die beiden narrativen Texte zwar durch Überschriften abgesetzt, doch nur der ›Söldner als Barfüßer‹ ist in der Überschrift auch als narrative Einlage (byzeichen, K, Bl. 181v) gekennzeichnet, der ›Waldbruder‹ ist mit dem unspezifischen Welich manunge got aller geneme sy (K, Bl. 178v) überschrieben. Deutlicher wird der Unterschied zwischen diskursiven und narrativen Abschnitten des Traktats in den Handschriften der Bildredaktion: Die narrativen Passagen waren leichter und spezifischer zu illustrieren als lehrhafte Anweisungen.145 So hat möglicherweise gerade die Kapiteleinteilung der Bildredaktion eine Verselbständigung einzelner narrativer Teile der Kompilation begünstigt. Wie dieser Umstand auch innerhalb der Kompilation zu Verselbständigungstendenzen ursprünglich unselbständiger, in den Diskurs eingebetteter Texte führte, zeigt ein Beispiel aus der ›Christlichen Lebenslehre‹, die ›Falsche Reue‹ (37 V., 14. Jahrhundert).146 Ein reicher Mann, der auf dem Sterbebett liegt, lässt seine drei Söhne zu sich kommen und weint bei ihrem Anblick Blut und Tränen. Die Söhne halten dies für ein Zeichen seiner Reue und Frömmigkeit, und ein Sohn bittet den Vater, ihm nach acht Tagen zu erscheinen und über sein Schicksal im Jenseits zu berichten. Nach acht Tagen erscheint der Vater als brennender Geist und erklärt dem erschrockenen Sohn, er habe nicht wegen seiner Sünden geweint, sondern aus Trauer darüber, sein weltliches Gut verlassen zu müssen. Deshalb sei er auf ewig verdammt.

Dieses Exempel umfasst nur 37 Verse und ist syntaktisch in den Haupttext eingebunden: man wenet auch maniger weinet sin sunde, / Er weinet sin lip und sin kinde / Ader sin gut ader sin smertzen, / den er dan lidet an sim hertzen, / Als eim richen manne geschach, / do er zu dem dode sich brach (V. 792 ff.). Es besteht kein Zweifel, dass die narrative Passage vom Verfasser der ›Lebenslehre‹ ad hoc ausgearbeitet wurde, indem er auf bekannte Erzählmotive aus der Exempelliteratur zurückgriff. Die syntaktische Abhängigkeit, die Kürze und die nicht zu Ende geführte Handlung (wie reagiert der Sohn auf die Erscheinung?) machen eine selbständige Überlieferung des Exempels außerhalb der Kompilation unattraktiv – im Gegensatz etwa zum ›Waldbruder‹, der umfangreicher und in sich geschlossen ist. Die Bearbeiter der Bildredaktion erkannten aber die gute Illustrierbarkeit des narrativen Elements und fügten eine in der Textredaktion fehlende Überschrift ein: Von dem richen manne vnd sinre su ´ne drige / die vor ime stundent mit erbottenen henden (P, Bl. 18v, ähnlich auch DB; Dü an dieser Stelle fragmentarisch). Dazu kam in D (Bl. 18v, Abb. 5) und B (Bl. 16r, Abb. 6) ein Bild des Ster-

145 Zu den Illustrationszyklen s. auch Eichenberger: Vom Sünder und der verlorenen Frau, S. 376–383. 146 Ausgabe: Otto: der slecht weg, S. 189 f. (V. 796–833). Eine stofflich verwandte Erzählung findet sich in der Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/ Klapper: Erzählungen Nr. 78.

330 | V Überlieferungskontexte 1 benden und seiner Söhne. Durch diese Hervorhebung nimmt das Exempel eine prominentere Stellung ein, als ihm vom Verfasser der ›Lebenslehre‹ zugedacht war. Den Rezipienten der Bilderhandschriften blieb das Erzählmotiv dadurch vielleicht besser im Gedächtnis als die diskursiven Ausführungen über die rechte und falsche Reue. Das Layout einer Handschrift kann somit nicht nur die Wahrnehmung formaler Elemente (Vers/Prosa) beeinflussen, sondern auch durch sekundäre Einschnitte und Illustrationen narrative Texte bzw. Textteile gegenüber diskursiven Partien in den Vordergrund rücken. Dadurch erhalten die narrativen Partien einen höheren Selbständigkeitsgrad gegenüber dem Haupttext, in den sie eingebettet sind, was wiederum eine Loslösung aus der Kompilation und selbständige Überlieferung des narrativen Textes in einem sekundären Überlieferungskontext begünstigen kann. Dieses Beispiel des Ineinandergreifens und gegenseitigen Sich-Bedingens konzeptioneller, ästhetischer und materialer Aspekte wirft ein bezeichnendes Licht auf die komplexe Überlieferungssituation geistlicher Verserzählungen im Umfeld unterschiedlicher Typen von Erbauungshandschriften des 15. Jahrhunderts.

2.7 Drucke des ›Königs im Bad‹ Der ›König im Bad‹ ist eine der wenigen geistlichen Verserzählungen, die auch in den Druck gelangt sind.147 x Bamberg: Hans Sporer, 1493 4° · 8 Bll. · 6 Holzschnitte GW M38991 Ex.: London, BL, IA.2676; Paris, BNF, Re´s. Y2 885. y Erfurt: Hans Sporer, 1497 4° · 8 Bll. · 7 Holzschnitte GW M38990 Ex.: Washington, Library of Congress, Incun. 1497. E 3 Rosenwald Coll. z München: Hans Schobser, um 1501 4° · 8 Bll. · 6 Holzschnitte VD 16 V 2497 Ex.: Wien, ÖNB, 20 T 83.

147 Zu den Drucken und Druckern vgl. Müller: König im Bad, S. 57–63.

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Im Unterschied zur handschriftlichen Überlieferung ist die Erzählung in den Drucken nicht von vornherein in einen Kontext eingebunden, der ihre Wahrnehmung mitbeeinflusst. Sie konnte aber natürlich sekundär in ein Konvolut mit anderen Drucken oder handschriftlichen Faszikeln eingebunden und somit kontextualisiert werden.148 Die primäre Einzelüberlieferung manifestiert sich auch im Layout des Druckes, der ein Titelblatt und einen Illustrationszyklus von sechs bis sieben Holzschnitten enthält. Unter dem Titel Vom kinig im pad, dem sein gewalt genumen wart (x)149 ist zunächst ein zweiteiliger Holzschnitt zu sehen: Im oberen Bildfeld wird der König, in ein schlechtes Röcklein gekleidet, von zwei Personen zur Burg geführt, von deren Zinnen der Engel und die Königin herabschauen; im unteren Bildfeld wird der König, nackt am Boden liegend, von zwei Baderknechten geprügelt, während der Engel im Hintergrund eine abwehrende Geste macht (Abb. 7). Der nächste Holzschnitt illustriert die Szene im Bad, in der sich der König über den Bader erzürnt und, auf einer Bank sitzend, diesen mit einem Kübel verprügelt. Daneben sitzt der Engel (hier ohne Flügel, aber mit Krone). Auf dem nächsten Bild ist zu sehen, wie der Engel mit dem Gefolge zur Burg reitet, während der nackte König von dem Bader aus dem Bad geworfen wird. Das folgende Bild zeigt, wie der nackte König in den Saal geführt wird, wo der Engel und die Königin zu Tische sitzen. Die zwei folgenden Holzschnitte sind vertauscht: Zunächst ist dargestellt, wie der König die Königin und die Hofgesellschaft zu dem abgelegten schlechten Röcklein führt, während der Engel durch das Fenster verschwindet, erst dann kommt das Bild, auf dem der Engel dem König die Krone wieder aufsetzt. Dieser Fehler wurde auch in Sporers zweiter Auflage und in Schobsers Druck nicht korrigiert. Der Fokus des Illustrationszyklus liegt auf aktionsreichen Darstellungen (Prügelszenen) bzw. schematischen Bildern (Ankunfts- und Redeszenen). Zu dieser vereinfachten Perspektivierung passt auch die Epilog-Erweiterung, die in den Drucken vorgenommen wurde (nach V. 351 der Ausgabe):150 Vnd ward dar nach ein sellyg man, / er vnd etlich sein hoffgesindt. / Dar vmb, das er ward plint / an got vnd an dem gelauben sein, / dar vmb kam er in grosse pein, / das er so freffelich wider got was. / Vnd also hat das ein ende, / got vns alle zu himel sende. Amen (x, Bl. 8r). Darauf folgen im Druck x ein Kolophon Sporers sowie weitere Verse, die noch einmal die Quintessenz der Exempelgeschichte zusammenfassen: Hye ver-

148 Von dem einzigen erhaltenen Exemplar des Erfurter Drucks ist beispielsweise bekannt, dass es bis 1870 in ein Konvolut eingebunden war, vgl. dazu Müller: König im Bad, S. 62. 149 y: Von dem künig jn dem pat, wy er geschendet wart, z: Von dem künig in dem bad, dem sein gewalt genomen ward durch sein übermuot vnd hochffart, darumb er von got gestrafft ward. 150 Ich zitiere jeweils nach dem Druck x.

332 | V Überlieferungskontexte 1 mercket, arm vnd reich, / was got wunders geyt / im himel vnd auff erden / den, dye sich irs gewa[l]tz yber nemen, / dye lest er hye entschmechen. / Das seynd alle, dy hie nit recht dunt. / Dy schicket er in dy helle grund / vnd nimpt in offt hye iren gewalt, / das sy hye kumen in offenbary schant. (x, Bl. 8r). Die griffige Formel ›Die Hochmütigen kommen hier in Schande und dort in die Hölle‹ wird allerdings dem Inhalt des Textes, der ja gerade die Wandlung eines Hochmütigen zum Demütigen und seine Wiedereinsetzung in die weltliche Macht ebenso wie in die Gnade Gottes vorführt, nicht ganz gerecht. Während die Verse in Sporers Bamberger Druck noch wie eine Art Quintessenz an den Schluss gestellt sind, werden sie in Schobsers Druck, der kein Kolophon enthält, nahtlos an den Epilog angehängt und erscheinen somit als Bestandteil des Textes. Einen anderen Abschluss hat Sporer für den Erfurter Druck (y) gewählt. Hier endet der Text mit dem erweiterten Epilog. Darauf folgt ein weiterer Holzschnitt mit folgender Bildüberschrift: Da bringet man den kunig wider by der hendt, / der engel gyt im wider sein frawen vnd sein regement. Auf dem Bild ist zu sehen, wie ein Mann mit umgegürtetem Schwert in der Mitte den König im schlechten Röcklein und den König im Ornat samt Königin und Hofgesinde zusammenführt. Dieses Bild, das im Gegensatz zu den Zusatzversen des Bamberger Drucks gerade die dem König widerfahrene Gnade betont, macht auch die Verwirrung deutlich, die durch die Doppelgängergeschichte im Bild entsteht: Während der Engel hier als weltlicher Herr erscheint, wird der König zweimal dargestellt, einmal in seinem armen, einmal in seinem reichen Zustand. Diese Unstimmigkeit könnte darauf hindeuten, dass dieser Holzschnitt wohl nicht ursprünglich für den ›König im Bad‹ angefertigt wurde, sondern aus einem anderen Zusammenhang stammt, dem Drucker aber passend erschien und deshalb statt der Zusatzverse ans Ende des Druckes gestellt wurde. Die Aufnahme des ›Königs im Bad‹ ins Programm zweier Drucker kann als Bestätigung des außerordentlichen handschriftlichen Überlieferungserfolgs dieser Erzählung gesehen werden. Die Paratexte und Illustrationen der Drucke verdeutlichen einmal mehr die vielseitige Verwendbarkeit des ›Königs im Bad‹, die wohl maßgeblich zu seiner Verbreitung beigetragen hat.

3 Ein Vergleichsbeispiel: Schondochs ›Königin von Frankreich‹

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3 Ein Vergleichsbeispiel: Schondochs ›Königin von Frankreich‹ 3.1 Das Idealbild einer demütigen und standhaften Ehefrau Eine ähnlich hohe Zahl von erhaltenen Textzeugen wie der ›König im Bad‹ kann nur eine andere kurze mhd. Verserzählung aufweisen: Schondochs ›Königin von Frankreich‹ (704 V., um 1400),151 in der die Geschichte einer unschuldig verfolgten Frau erzählt wird.152 Der König von Frankreich hat eine schöne Ehefrau. Sein Marschall verliebt sich in die junge Königin und versucht sie zu verführen, doch sie bleibt standhaft. Aus Rache legt der verschmähte Marschall deshalb eines Morgens, als der König zur Jagd ausgeritten ist, einen Hofzwerg ins Bett der schlafenden Königin, eilt dann zum König und verleumdet die Königin. Der König kehrt sogleich zurück, findet den Zwerg im Bett seiner Frau und glaubt, was der Marschall ihm erzählt hat. Wütend zerschmettert er den Zwerg an der Wand und will auch seine Frau hinrichten lassen. Der alte Herzog Leopold von Österreich kann ihn aber dazu überreden, die Frau, die schwanger ist, zu schonen, bis sie ihr Kind geboren hat. Die Königin wird in Begleitung eines Ritters fortgeschickt. Unterwegs lauert ihr jedoch der Marschall auf und tötet den Ritter, die Königin kann fliehen. Im Wald trifft sie auf einen Köhler, der sie bei sich aufnimmt. Sie gebiert ihr Kind und unterstützt den Köhler, indem sie Stickereien anfertigt, die der Köhler in Paris verkauft. In der Zwischenzeit ist der Hund des getöteten Ritters immer wieder am Hof des Königs aufgetaucht, um den Marschall zu beißen und dadurch des Mordes zu überführen. Auf Fürsprache des Herzogs Leopold findet schließlich ein Gerichtskampf zwischen dem Hund und dem Marschall statt, in dem der Hund den Marschall überwältigt. Dieser muss daraufhin seine Schandtaten gestehen und wird gerädert. Der untröstliche König lässt nun überall nach seiner Frau suchen. In Paris erkennt er bei bei einer Marktfrau eine Stickerei der Königin und findet mithilfe des Köhlers die Königin und ihren Sohn ihm Wald. Die Eheleute versöhnen sich, die Königin wird im Triumph wieder an den Hof geführt und lebt fortan glücklich.

Die Erzählung ist stoffverwandt mit der ›Crescentia‹ und der ›Kaiserin von Rom‹,153 im Gegensatz zu diesen enthält die ›Königin von Frankreich‹ jedoch keine explizit religiösen Elemente: Die Protagonistin wird nach einigen Jahren wiedergefunden, weil der König eine von ihr gewirkte Stickerei erkennt; sie genießt nicht, wie Crescentia oder die Kaiserin von Rom, den Beistand eines Heiligen oder

151 Vgl. Udo Arnold: Schondoch. In: 2VL 8 (1992), Sp. 820–823; Ausgabe: Jutta Strippel: Schondochs ›Königin von Frankreich‹. Untersuchungen zur handschriftlichen Überlieferung und kritischer Text (GAG 252). Göppingen 1978. 152 Tubach 1898. Zur Stoffgeschichte vgl. A[xel] Wallensköld: Le conte de la femme chaste convoite´e par son beau-fre`re. Etude de litte´rature compare´e (Acta Societatis scientiarum Fennicae 34/1). Helsingfors 1907. 153 Vgl. Kap. III.3.4.; VII.4.2.2.; IX.2.2.

334 | V Überlieferungskontexte 1 Marias und wird auch nicht mit mirakulösen Fähigkeiten ausgestattet. Die Erzählung endet denn auch mit der Versöhnung und glücklichen Herrschaft von König und Königin, und nicht, wie die ›Crescentia‹, mit dem Klostereintritt der beiden Eheleute. Die Königin von Frankreich ist somit in erster Linie ein Beispiel weiblicher Standhaftigkeit und Demut. Diese Tugenden können sowohl in einen weltlichen als auch in einen geistlichen Deutungsrahmen gestellt werden. Die Überlieferungskontexte der ›Königin von Frankreich‹ suggerieren, dass diese beiden Deutungsmöglichkeiten genutzt wurden – vielleicht war hier, wie auch beim ›König im Bad‹, gerade das große Spektrum an Interpretationsmöglichkeiten eine Ursache des Überlieferungserfolgs. Für den Texttyp geistlicher Verserzählungen ist der Fall der ›Königin von Frankreich‹ deshalb besonders interessant, weil er zeigt, dass in rezeptionsorientierter Perspektive ein Text nicht nur durch religiöse Textelemente, sondern auch durch seinen Überlieferungskontext zur ›geistlichen Erzählung‹ gemacht werden konnte.

3.2 Geistliche Überlieferungskontexte der ›Königin von Frankreich‹ Die ›Königin von Frankreich‹ ist in 21 Handschriften des 15. Jahrhunderts überliefert. Wie der ›König im Bad‹ tritt auch diese Erzählung in unterschiedlichen Kontexten auf:154 in Handschriften mit literarischem Profil, in hausbuchartigen Sammlungen, im Überlieferungsverbund mit chronikalischen Texten. Dass der Erzählung im Lauf ihrer Tradierung jedoch nicht nur ein literarische oder historische, sondern auch eine religiöse Dimension zugeschrieben wurde, zeigen fünf Handschriften der ›Königin von Frankreich‹ mit geistlichem Profil, die hier kurz vorgestellt werden. L

Herzogenburg, Stiftsbibl., Cod. 69

Papier · 135 Bll. · 13,7–14 × 10,5 · Niederösterreich · um 1462 Inhalt (Blattzählung nach Hope Mayo: Descriptive Inventories of Manuscripts Microfilmed for the Hill Monastic Manuscript Library. Austrian Libraries. Vol. III: Herzogenburg. Collegeville (Minnesota) 1985, S. 253–255): Bl. 1r–24r Berthold von Regensburg: ›Die Zeichen der Messe‹ Bl. 24v–41r Gebete Bl. 42r–47v ›Sprüche der zwölf Meister zu Paris‹

154 Übersicht der Textzeugen: Strippel: Schondoch, S. 22–48. Die Siglen werden von Strippel übernommen. Vgl. außerdem Sibylle Jefferis: Die neuaufgefundene Heidelberger Handschrift von Schondochs ›Königin von Frankreich und der ungetreue Marschall‹. Ihre Einordnung in die übrige Handschriftenüberlieferung. In: New Texts, Methodologies, and Interpretations in Medieval German Literature (Kalamazoo Papers 1992–1995). Hrsg. von Sibylle Jefferis (GAG 670). Göppingen 1999, S. 209–227.

3 Ein Vergleichsbeispiel: Schondochs ›Königin von Frankreich‹

Bl. 47v–49r Bl. 49r–50v Bl. 51r–54r Bl. 55r–97v Bl. 97v Bl. 98v–101v Bl. 102r–105r Bl. 107r–118r Bl. 118v Bl. 119r–132v

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Geistliche Lehre gegen Hochmut Geistliche Fragen und Antworten Eucharistiegebet Ps.-Anselm von Canterbury: ›Interrogatio Sancti Anselmi de Passione Domini‹, dt. Gebet zu den Arma Christi Prosa-Marienmirakel Mariengebete Bericht über den Zug des Ladislaus Posthumus 1457 nach Prag Notiz über die Gefangennahme des Rates von Wien durch die Gemeinde 1462 Schondoch: ›Königin von Frankreich‹

Lit.: Strippel: Schondoch, S. 36–38; Mayo: Descriptive Inventories, S. 253–255; Franz Lackner: Datierte Handschriften in niederösterreichischen Archiven und Bibliotheken bis zum Jahre 1600 (Katalog der datierten Handschriften in lateinischer Schrift in Österreich VIII). Wien 1988, Textbd. S. 49 f., Tafelbd. S. 96.

Die Herzogenburger Handschrift kann als Übergangsform zwischen historischer und geistlicher Kontextualisierung der ›Königin von Frankreich‹ angesehen werden. Der Hauptteil der Sammlung besteht zwar aus geistlichen Texten, die ›Königin von Frankreich‹ steht aber am Ende der Handschrift in einem Umfeld von historischen Nachrichten. Wahrscheinlich hat die Nennung des Herzogs Leopold von Österreich in der ›Königin von Frankreich‹ die Aufnahme des Textes in diese Sammlung begünstigt. Die Erzählung wurde wohl, wie die vorangehenden Texte, als historischer Ereignisbericht verstanden, konnte aber auch zu den geistlichen Texten in Bezug gesetzt werden, die den Hauptteil der Sammlung ausmachen. U

Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2800

Papier · 176 Bll. · 30,3 × 21,5 · Wien (?) · um 1410–1434155 Inhalt: Bl. 1r–134r Johann von Neumarkt: ›Hieronymus-Briefe‹ Bl. 136r–137r Inhaltsverzeichnis für eine Predigtsammlung Bl. 138v–143r Predigtentwürfe Bl. 143v–147v Schondoch: ›Königin von Frankreich‹ Bl. 148r–153v Thomas Peuntner: ›Ars moriendi‹ Bl. 153v–155v Thomas Peuntner: ›Ave Maria-Auslegung‹ Bl. 174r/v Entwurf einer Fürbitte

155 Wz.: Bl. 1r–47v: Ochsenkopf mit einkonturiger Stange und Stern, Typ Piccard II/2, Abt. VI 178 (Bopfingen, Chur, Nürnberg, Regensburg, Greiz 1409–1414); Datenbank Wasserzeichen des Mittelalters (http://www.ksbm.oeaw.ac.at/wz/wzma.php) AT8500–2800 1,27,2 (diese Handschrift); Bl. 48r–174v: Ochsenkopf mit einkonturiger Stange, darüber Blume, sehr ähnlich: PiccardOnline 65293 (Würzburg 1413); ähnlich: PiccardOnline 65296, 65299 (beide Würzburg 1413), 65297 (Braunschweig 1416), 65292, 65300 (beide Nördlingen 1409); Wasserzeichen des Mittelalters AT8500–2800 57, 64 (diese Handschrift).

336 | V Überlieferungskontexte 1 Lit.: Menhardt: Verzeichnis I, S. 310–312; Strippel: Schondoch, S. 44 f.; Mitteleuropäische Schulen V (ca. 1410–1450). Wien und Niederösterreich. Bearbeitet von Katharina Hranitzky u. a. (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse, Denkschriften 435; Veröffentlichungen zum Schrift- und Buchwesen des Mittelalters I,14). Wien 2012, Textbd. S. 141–150 [Martin Roland], Tafelbd. Farbabb. 22, Abb. 180–182.

Die Handschrift wurde von vier Händen geschrieben. 1. Hand (Bl. 1r–137r): Bastarda; 2. Hand (Bl. 138v–143r, 174r/v): Kursive; 3. Hand (Bl. 143v–147v): Bastarda auf niedrigem kalligraphischem Niveau mit vielen kursiven Formen; 4. Hand (Bl. 148r–156r): schleifenlose Bastarda auf höherem kalligraphischem Niveau. Die Schreibsprache der ersten Hand wurde von Peter Wiesinger als »bairisch(-österreichische) Abschrift einer ostmitteldeutschen (Prager?) Vorlage«156 bestimmt; die anderen drei Hände schreiben mittelbairisch in unterschiedlich starker dialektaler Ausprägung. Die Handschrift ist wohl in drei Phasen entstanden. Der erste Schreiber trug den Haupttext, Johanns von Neumarkt ›HieronymusBriefe‹,157 nach Ausweis des Kolophons auf Bl. 134r/v im Jahr 1410 ein: In den eren des almechtigen gotes vnd seiner seligen müter mit allen gotes hey¨ligen, vnd zw getrew ein dinst dem erwirdigen sant Jeronimo. Dicz büch ist volbracht, do man czalt nach Cristi gepurt vierczehen hvndert jar dor nach in dem czehenden jar des nagsten Freitag vor der czehen tawsent Ritter tag. Der do hat besessen den obristen tron, der geb dem schrey¨ber sein lon. Amen. Die Datierung passt zu den Wasserzeichen-Belegen dieses Teils (1409–1416). Der Schreiber füllte mit seinem Text jedoch nur zwölf Lagen, weitere vier Lagen blieben leer. Möglicherweise sollte auf diesen Lagen die Predigtsammlung eingetragen werden, deren Inhaltsverzeichnis der Schreiber auf Bl. 136r–137r notierte. In einer zweiten Phase befand sich die Handschrift wohl im Besitz des zweiten Schreibers, der Predigtentwürfe und den Entwurf einer Fürbitte eingetragen hat. Die Texte lassen darauf schließen, dass dieser Schreiber ein Kleriker war, der eine Laiengemeinde zu betreuen hatte. Der erste Predigtentwurf zu Mt 7,14 beschreibt den Gegensatz zwischen dem breiten Weg zur Hölle und dem schmalen Weg zum Paradies. Neben kleineren Notizen finden sich auch zwei verschiedene Entwürfe über denselben Evangelientext (Lc 14,1), die jeweils andere Aspekte des Bibeltextes hervorheben. Am Ende der Handschrift, auf Bl. 174r/v, hat der Schreiber eine wohl für die Verwendung im Gottesdienst vorgesehene Fürbitte für die kommende Woche notiert. Er begann auf Bl. 174v, da aber der

156 Mitteleuropäische Schulen V, S. 142. 157 Zu diesem Text vgl. Ricarda Bauschke: Johann von Neumarkt: ›Hieronymus-Briefe‹. Probleme von Epochengrenzen und Epochenschwellen am Beispiel des Prager Frühhumanismus. In: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Nicola McLelland/Hans-Jochen Schiewer/Stefanie Schmitt. Tübingen 2008, S. 257–271.

3 Ein Vergleichsbeispiel: Schondochs ›Königin von Frankreich‹

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Platz nicht ausreichte, setzte er den Text auf Bl. 174r fort. Dabei wird auch für (vielleicht kürzlich) Verstorbene gebetet, wobei zehn Namen genannt werden, zuerst der ehemalige Pfarrer: vmbz her Niclasen sel, der ewer prediger ist gebesen (Bl. 174r). In einer dritten Phase, die etwa 25 Jahre nach der Niederschrift der ›Hieronymus-Briefe‹ anzusetzen ist, wurden die ›Königin von Frankreich‹ und die Peuntner-Texte eingetragen. Einen Anhaltspunkt für die Datierung gibt die Überschrift zur ›Ars moriendi‹ (Bl. 148r): Hye hebt sich an die künst von dez hailsamen sterbens, die zu deutsch pracht hat her Thoman, pharrer ze hoff anno domini m cccc xxx iiii. Zwar waren an diesem Teil zwei verschiedene Schreiber beteiligt, aber die Nummerierung der Texte mit 2 (Bl. 143r, zur ›Königin von Frankreich‹) und 3 (Bl. 148r, zu den Peuntner-Texten) ist mit der gleichen grauen Tinte geschrieben wie die ›Königin von Frankreich‹ und stammt wohl vom dritten Schreiber, der sie erst vornehmen konnte, nachdem die Peuntner-Texte eingetragen waren. Während die Eintragungen des zweiten Schreibers Gebrauchscharakter haben (tiefes Schriftniveau, grobmundartliche Formen), sind die Texte des dritten Teils sorgfältiger geschrieben und nicht so stark dialektal gefärbt. Auf den Wiener Raum als Entstehungsort des zweiten und dritten Teils der Handschrift deutet neben der Schreibsprache auch die Überschrift zur ›Ars moriendi‹ Thomas Peuntners hin. Der Autor wird als pharrer ze hoff bezeichnet, was auf eine gewisse Kenntnis der Verhältnisse am Wiener Hof schließen lässt. Das Datum 1434 bezieht sich auf die Entstehung der ›Ars moriendi‹, die Handschrift scheint jedoch nicht viel jünger zu sein.158 Als Entstehungs- und Gebrauchskontext der Handschrift hat Martin Roland das 1383 gegründete Büßerinnenhaus St. Hieronymus in Wien wahrscheinlich machen können,159 in dem ledige Mütter Aufnahme fanden und auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorbereitet wurden. In diesem Kontext gewinnt die ›Königin von Frankreich‹ aufgrund ihres Erzählstoffs eine besondere Relevanz: Das Motiv der zu Unrecht des Ehebruchs beschuldigten Frau, das Büßerleben der schwangeren Königin im Wald und ihre gesellschaftliche Rehabilitierung konnten als Identifikationsangebote für die Frauen des Büßerinnenhauses dienen. Gerade hier wird deutlich, wie die Erzählung sowohl in geistlicher

158 Vgl. Rainer Rudolf: Thomas Peuntners »Kunst des heilsamen Sterbens« nach den Handschriften der Österr. Nationalbibliothek (Texte des späten Mittelalters 2). Berlin 1956, S. 14 f. Rudolf setzt die Handschrift nach paläographischen Kriterien um die Mitte des 15. Jahrhunderts an. Die Überschrift wurde in der jüngeren Handschrift Klosterneuburg, Stiftsbibl., Cod. 1157 übernommen, vgl. Rudolf: Thomas Peuntner, S. 16. 159 Vgl. Mitteleuropäische Schulen V, Textbd. S. 143–146.

338 | V Überlieferungskontexte 1 (Büßerthematik) als auch in weltlicher Perspektive (Wiedereingliederung in Ehe und Gesellschaft) funktionalisiert werden konnte. I

Heidelberg, UB, Cpg 472

Papier · 208 Bll. · 28,3 × 20,4 · südbair. Sprachgebiet · um 1450 Inhalt: Bl. 1va–62ra ›Paradisus animae‹, dt. Bl. 62rb–66rb ›Beichttraktat Es sind vil menschen, den ir peicht wenig oder gar nichts hilft‹ Bl. 66rb–70ra Katechetische Sammlung Bl. 70rb–72rb Totenmessen Bl. 72rb–81vb Gebete und Exempel Bl. 82ra–116vb Mönch von Heilsbronn: ›Buch von den sechs Namen des Fronleichnams‹ Bl. 117ra–123ra Gebete, Hymnen und Betrachtungen Bl. 123ra–126vb Heinrich Seuse: Sterbelehre aus dem ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ Bl. 126vb–127rb ›Herzklosterallegorie‹ Bl. 127rb–129vb Betrachtungen und Gebete Bl. 130ra–136ra Passionsbericht nach den Evangelien Bl. 136ra–162vb Heinrich von St. Gallen: ›Passionstraktat‹ Bl. 162vb–175va Gebete Bl. 175vb–176vb NT-Cantica, Veni Sancte Spiritus, Salve-Regina-Paraphrase, Requiem dt. Bl. 177ra–184rb Jakob Engelin: Aderlasstraktat Bl. 184rb–186rb Peter Schmieher: ›Die Wolfsklage‹ Bl. 186va–188vb ›Lob der Frauen und der Priester‹ Bl. 189ra–194ra ›Christus und die sieben Laden‹ Bl. 194ra–195rb ›Das Goldene ABC‹ aus dem Meisterbuch des Rulman Merswin u. a. kurze Lehren Bl. 195rb–200va Schondoch: ›Die Königin von Frankreich‹ Bl. 200va–201ra Morgensegen Lit.: Miller/Zimmermann: Codices Palatini germanici, S. 519–534; Strippel: Schondoch, S. 35.

Die Heidelberger Sammlung vereint, ähnlich wie die ›König im Bad‹-Handschrift r, christliches Grundwissen und Anweisungen zum rechten Leben für vermutlich laikale Rezipienten. Narrative Elemente finden sich in der Nacherzählung der Passion, im Prosaexempel ›Christus und die sieben Laden‹ und in der ›Königin von Frankreich‹. Für die ›Königin von Frankreich‹ gilt ebenso wie für Peter Schmiehers ›Wolfsklage‹, dass diese von ihrem Stoff her nicht explizit geistlich sind, jedoch in eine geistliche Deutungsperspektive gestellt werden können, wie sie hier durch das geistliche Überlieferungsumfeld nahegelegt wird. W

Innsbruck, Bibl. des Jesuitenkollegs, Cod. 40024

Papier · 144 Bll. · 16 × 22 · bair.-österr. Sprachgebiet · um 1470

3 Ein Vergleichsbeispiel: Schondochs ›Königin von Frankreich‹

Inhalt: Bl. 1r–128r Bl. 129r–130v Bl. 130v–135v Bl. 135v–139v Bl. 140r–144v

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Marquard von Lindau: ›Dekalogerklärung‹ ›Kreuztragende Minne‹ Ablässe an den Hauptkirchen Roms Beschreibung der heiligen Stätten Jerusalems für Pilger Schondoch: ›Königin von Frankreich‹

Lit.: Franz Hotzy: Eine unbekannte Handschrift mit zwei mittelhochdeutschen Gedichten. Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 63 (1912), S. 1057–1070; Franz Hotzy: Zu Marquards von Lindau ›Buch der zehen gepot‹. Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 64 (1913), S. 407–411; Strippel: Schondoch, S. 47 f.; Palmer: Latein, S. 107.

Den Hauptbestandteil der Sammlung dieser Handschrift bildet Marquards von Lindau ›Dekalogerklärung‹. Zwischen diesem Traktat und den Beschreibungen der Kirchen Roms sowie der heiligen Stätten Jerusalems steht die ›Kreuztragende Minne‹, ein erbauliches Dialoggedicht zwischen Christus und der Seele. Die am Ende der Handschrift eingefügte ›Königin von Frankreich‹ kann als exemplarische Verwirklichung der in der ›Kreuztragenden Minne‹ gestellten Forderung, jeder Gläubige solle sein Leiden um Christi willen geduldig ertragen, verstanden werden – der vorangehende geistliche Text gibt auch den Deutungsrahmen für die Erzählung vor. S

Berlin, Staatsbibl., Mgq 267

Papier · noch I + 34 Bll.160 · 18,2 × 12,7 · Österreich · um 1465–1475161 Inhalt: Bl. 2r Ende einer nicht identifizierten eschatologischen Reimpaardichtung Bl. 2v–17r Schondoch: ›Königin von Frankreich‹ Bl. 17v–34v ›Margareta von Antiochien‹ (Verslegende II) Bl. 35r Gebet an Christus (Nachtrag, wohl 16. Jahrhundert) Lit.: Strippel: Schondoch, S. 41 f.; Moriz Haupt: Die Marter der heiligen Margareta. ZfdA 1 (1841), S. 151–193.

Die Handschrift ist von einer Hand geschrieben. Die Stellung der ›Königin von Frankreich‹ zwischen dem nur fragmentarisch erhaltenen didaktisch-eschatologischen Text und der ›Margarete‹ suggeriert eine geistliche Perspektivierung der Erzählung: Während in der Margaretenlegende eine ideale geistliche Frauenfigur im Zentrum steht, präsentiert die ›Königin von Frankreich‹ komplementär dazu eine ideale laikale Frauenfigur.

160 Lagen: (VI–10)3 + 2VI27 + (VI–4)35. Die mittelalterliche Foliierung xlvi–lxxix macht deutlich, dass 45 Bll. am Anfang fehlen. Die Reklamanten auf Bl. 3v, 15v und 27v zeigen die ehemaligen Lagengrenzen an. 161 Datierung aufgrund der Wasserzeichen: Waage im Kreis, darüber zweikonturiger Stern, gerade Waagschale, sehr ähnlich PiccardOnline 117047 und 117088 (beide Graz 1471).

340 | V Überlieferungskontexte 1 3.3 Bildzeugnisse zur ›Königin von Frankreich‹ Die Vielseitigkeit der ›Königin von Frankreich‹-Überlieferung zeigt sich nicht nur darin, dass die Erzählung sowohl in weltlichen als auch in geistlichen Überlieferungskontexten auftritt, sondern auch darin, dass das Ausstattungsspektrum der Textzeugen sehr breit ist. Neben Handschriften mit einfachem und mittlerem Ausstattungsniveau steht ein Textzeuge, der an Repräsentationswert alles überbietet, was man für kleinepische Texte gemeinhin erwarten würde: Der großformatige Pergament-Quaternio aus dem 2. Viertel des 15. Jahrhunderts (Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2675*)162 enthält ein ganzseitiges Eröffnungsbild und sieben halbseitige Deckfarben-Miniaturen. Die Bilder schaffen durch die Darstellung von Handlungsräumen, Kleidung, Mimik und Gestik Identifikationsangebote und verorten den Text in einem prachtvoll-höfischen Milieu, dem sich die Auftraggeber und Besitzer dieser Handschrift wohl zugehörig fühlten. Da die Handschrift keinerlei Hinweise auf ihre Entstehungsumstände gibt, kann man nur Vermutungen darüber anstellen, was den Text für die Auftraggeber so wertvoll erscheinen ließ. Denkbar wäre etwa, dass Vertreter des bairisch-österreichischen Adels ein genealogisch bedingtes Interesse an dem Text hatten. Ein Grund dafür könnte einerseits die Nennung des österreichischen Herzogs Leopold sein, andererseits wird die Protagonistin der Erzählung im Titel als Fürstin von Bayern vorgestellt:163 Hebt sich an ein hystori von der kuniginn von Frannkchreich, der hochgeborn furstinn von Baiern (Bl. 2r). Die Erzählung könnte somit als Teil der (imaginären) eigenen Familiengeschichte verstanden und geschätzt worden sein. Die Illustrationen greifen teilweise auf bekannte ikonographische Muster zurück, wie z.B. die Verkündigung für das Eröffnungsbild (Bl. 1v).164 Dies muss allerdings noch nicht auf einen geistlichen Deutungshorizont hinweisen, sondern kann auch als bloße Übernahme eines verbreiteten ikonographischen Musters verstanden werden. Nur an einer Stelle wird auch im Bild ein deutlich geistlicher Akzent gesetzt: Bei der Auffindung durch den König im Wald wird die Königin – gemäß der Beschreibung im Text – wie eine Nonne dargestellt (Bl. 7v, Abb. 8). Dieser genaue Textbezug war für bildliche Umsetzungen keineswegs zwingend, wie etwa ein Bildteppich zur ›Königin von Frankreich‹ zeigt, in dem

162 Vgl. Menhardt: Verzeichnis I, S. 87; Sibylle Jefferis: Das Bildprogramm für Schondochs Novelle ›Die Königin von Frankreich und der ungetreue Marschall‹ (c. 1400). Fifteenth-Century Studies 29 (2004), S. 111–132; Christina Weiler: Die Geschichte der Königin von Frankreich (Wien, ÖNB Cod. 2675*). Wie Bilder erzählen. Diplomarbeit masch. Wien 2009. 163 Diese Variante ist nur in dieser Handschrift bezeugt, vgl. Strippel: Schondoch, S. 211. 164 Zum Bildzyklus und den ikonographischen Vorbildern vgl. Weiler: Königin von Frankreich, S. 41–48.

Zusammenfassung

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die Königin stets mit weltlichem Gewand und Krone dargestellt ist.165 Die geistlichen Elemente des Textes fanden in der ›Prachtausgabe‹ der ›Königin von Frankreich‹ also durchaus auch Eingang in den Illustrationszyklus, spielten aber wohl gegenüber den genealogisch-adligen Interessen eine untergeordnete Rolle.

4 Zusammenfassung Anhand der breit überlieferten Erzählung vom ›König im Bad‹ lässt sich nachvollziehen, in welchen handschriftlichen Kontexten geistliche Verserzählungen im 14. und 15. Jahrhundert überliefert und rezipiert wurden und welchem diachronen Wandel die Überlieferung geistlicher Verserzählungen unterworfen war. So zeigt sich etwa, dass in einer ersten Überlieferungsphase im 14. Jahrhundert Kleinepiksammlungen als Überlieferungsträger im Zentrum standen, während im 15. Jahrhundert eine zunehmende Diversifizierung der handschriftlichen Kontexte zu beobachten ist. Neben den Kleinepiksammlungen gewinnen jetzt allgemein-literarische Handschriften, hausbuchartige Sammlungen und Erbauungsbücher an Bedeutung für die Überlieferung des ›Königs im Bad‹. In manche Handschriften gelangte der ›König im Bad‹ wohl eher zufällig, weil der Text gerade verfügbar war, als Lagenfüllsel oder Nachtrag. In andere Sammlungen wurde die Erzählung aber bewusst aufgenommen und thematisch eingebunden. Dabei lassen sich unterschiedliche Grade der Funktionalisierung beobachten. Eher lose thematische Anknüpfungen zeigen sich etwa in den Handschriften h und o, in denen der ›König im Bad‹ als Herrscher-Exempel gelesen werden kann. Ein allgemeines Interesse für geistliche Exempelgeschichten ist charakteristisch für die Handschrift i, in der die Verserzählung auf eine Sammlung von deutschen Prosaexempla folgt – hier war offenbar vor allem der inhaltliche, nicht aber der formale Aspekt von Bedeutung. Eine ähnliche Vernachlässigung der Form findet sich in der Handschrift a, in der der Text fortlaufend geschrieben ist; die thematische Einbindung ist dort allerdings umso spezifischer: Der ›König im Bad‹ folgt auf eine Magnificat-Auslegung, er steht als narratives Exempel nach dem erörternden Traktat. Diese Aufzählung erweckt den Eindruck, dass im 15. Jahrhundert generell der thematische Aspekt gegenüber dem formalen an Bedeutung gewonnen hätte. Dies ist eine Tendenz, die sich durch die Ablösung der Überlieferung von den Kleinepiksammlungen (bei denen die Versform entscheidend war) erklären lässt. Gerade bei einer Betonung des religiösen Inhalts ließ sich ja bereits im 14. Jahrhundert eine gewisse Toleranz im Bezug auf die

165 Vgl. Anna Rapp Buri/Monica Stucky-Schürer: zahm und wild. Basler und Straßburger Bildteppiche des 15. Jahrhunderts. Mainz 1990, Kat. 112, S. 354–358.

342 | V Überlieferungskontexte 1 Form feststellen. Dennoch würde es zu kurz greifen, allen Handschriftentypen, die auf geistliche Literatur fokussieren, ein Desinteresse an der Versform zu unterstellen. Wie breit das Spektrum auch innerhalb eines Handschriftentyps sein kann, zeigt die oberrheinische Erbauungsbuch-Kompilation, die fast ausschließlich geistliche Verstexte enthält und diesen Formaspekt durch abgesetzte Verse betont. In manchen (auch geistlichen!) Kontexten scheint die Versform also auch im 15. Jahrhundert noch einen ästhetischen Geltungsanspruch zum Ausdruck gebracht zu haben. Dieser Umstand ist für die Einschätzung des literatursystematischen Status geistlicher Verserzählungen im 15. Jahrhundert von Bedeutung. Das Vergleichsbeispiel der ›Königin von Frankreich‹ zeigt außerdem, dass ein Text nicht nur dann als geistliche Verserzählung rezipiert werden konnte, wenn geistliche Elemente bereits im Text eine zentrale Rolle spielen. In manchen Textzeugen rücken die in der ›Königin von Frankreich‹ eher marginal erscheinenden geistlichen Elemente (außergewöhnliche Tugend und Demut der Königin, Klausnerinnen-Leben im Wald) durch eine geistliche Kontextualisierung so in den Vordergrund, dass auch für die ›Königin‹ eine geistliche Perspektivierung naheliegt – in diesen Fällen wird die Bedeutung der rezeptionsorientierten Perspektive für ein differenziertes Verständnis des Texttyps besonders deutlich.

VI Überlieferungskontexte 2: Das Beispiel des ›Zwölfjährigen Mönchleins‹ Die Untersuchungen zum ›König im Bad‹ haben einen Eindruck von der Vielfalt der Überlieferungskontexte geistlicher Verserzählungen im 14. und 15. Jahrhundert vermittelt. Gerade im Bereich der Handschriften mit geistlichem Profil ist im 15. Jahrhundert ein großes Variationsspektrum in Bezug auf Ausstattung, Form und Textauswahl festzustellen. Es mag daher erstaunen, dass keine der geistlichen Handschriften, die den ›König im Bad‹ überliefern, sich eindeutig einem monastischen Entstehungs- oder Rezeptionsumfeld zuweisen lässt. Handelt es sich hierbei um einen Zufall der Überlieferung, oder war der Texttyp der geistlichen Verserzählung im monastischen Umfeld tatsächlich wenig präsent? Die Analyse der Kleinepiksammlungen hat nahegelegt, dass die Übergänge zwischen laikalen und monastischen Produktions- und Rezeptionskontexten fließend waren, dass für viele Handschriften sowohl eine Rezeption im Kloster als auch im laikalen Bereich vorstellbar ist.1 Dennoch ist zu bedenken, dass die Verfasser deutscher geistlicher Verserzählungen – gerade im 12. und 13. Jahrhundert – ihre Texte in eine dezidiert volkssprachige Literaturtradition stellen, indem sie die für die höfische Literatur typische Form des paargereimten Vierhebers benutzen und oft stilistische und motivische Versatzstücke aus der weltlichen Literatur verwenden. Mit dieser Stilisierung geht gezwungenermaßen ein ästhetischer (und implizit auch konzeptioneller) Anspruch einher, der in monastischen Kontexten möglicherweise als negativ empfunden werden konnte. Dieser Umstand könnte gerade im 15. Jahrhundert, zu einem Zeitpunkt, als sich die Prosa als Standardform für geistliche Texte durchgesetzt hat, eine zunehmend wichtige Rolle gespielt und in monastischen Kontexten zur Bevorzugung geistlicher Prosaerzählungen geführt haben. Dennoch wurden einige Verserzählungen auch in monastischen Kontexten rezipiert. Gelangten diese Texte aufgrund bestimmter thematischer Eigenschaften in diese Rezeptionskontexte, etwa, weil sie von monastischen Protagonisten erzählen? Sind sie vielleicht bereits in einem monastischen Umfeld entstanden und wurden aufgrund von Überlieferungstraditionen dort weiter abgeschrieben? Anhand der Erzählung vom ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ soll im Folgenden diesen Fragen nachgegangen werden. Dabei werden zunächst der literarische Referenzrahmen und die jeweils spezifische konzeptionelle Ausprägung und narrative Umsetzung des Erzählstoffs in der volkssprachigen Erzählung auf ihren Bezug zur monastischen Lebenswelt hin untersucht, um mögliche thematische

1 Vgl. Kap. IV.1.2.

344 | VI Überlieferungskontexte 2 Anknüpfungspunkte für monastische Rezipienten zu finden. In einem zweiten Schritt geht es um die Überlieferungskontexte der Erzählung, wobei nach dem Status der Erzählung innerhalb der Sammlung und nach spezifischen Rezeptionsentwürfen gefragt wird.

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ in seinem literarischen Referenzrahmen 1.1 Monastische und laikale Lebenswelten im ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ Im ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ (305 V., 14. Jahrhundert)2 wird die Geschichte eines jungen Mönchs erzählt, der am Weihnachtsabend Besuch vom Jesuskind bekommt. Eine ehrbare Frau hat sieben Töchter, bittet Gott aber darum, auch einen Sohn zu bekommen, den sie von allen Sünden fernhalten will. Die Frau wird erhört und gebiert einen Knaben, den sie im Alter von sechs Jahren in ein Mönchskloster schickt, um ihr Versprechen einzulösen. Dort wird der Knabe erzogen. Als er zwölf Jahre alt ist, fordert der Abt die Mönche im Advent dazu auf, sich auf die Ankunft Jesu vorzubereiten und erklärt dem jungen Mönchlein das Weihnachtsgeschehen, worauf das Mönchlein wünscht, das Jesuskind selbst sehen zu können. Der Abt rät dem Mönchlein, zu fasten, zu beten und seine Zelle vorzubereiten, dann werde Jesus ihn in der heiligen Nacht besuchen. Das Mönchlein lässt einen Maler kommen, der seine Zelle ausmalt, lässt Kerzenhalter an den Wänden befestigen und streut wohlriechende Kräuter auf den Boden. Als der Knabe in der Nacht in seiner offenen Zelle betet, erscheint Jesus tatsächlich in der Gestalt eines kleinen Kindes mit einem Apfel und einer Lilie in der Hand. Die beiden Knaben spielen mit dem Apfel und das Mönchlein herzt das Jesuskind, bis die Glocken zum Chorgebet rufen. Da schlüpft Jesus in den Ärmel des Mönchleins und kommt mit in die Kirche. Das Mönchlein muss beim Chorgebet vorsingen, schaut aber statt auf die Noten immer auf das im Ärmel versteckte Jesuskind und vergisst dabei Melodie und Worte. Der erzürnte Abt gibt dem Mönchlein einen Backenstreich, und auf der Stelle verschwindet das Jesuskind. Nun beginnt das Mönchlein laut über den Verlust des Geliebten zu klagen. Als der Abt aufgrund der Erzählung des Mönchleins das Wunder erkannt hat, schickt er den Knaben reumütig in seine Zelle und verspricht ihm, er werde das Jesuskind dort wiederfinden. Tatsächlich sitzt Jesus auf dem Betstuhl des Knaben, gibt ihm einen Brief für den Abt mit und sagt ihm, er werde noch heute sterben und in den Himmel eingehen. Das Mönchlein läuft in die Kirche zurück. Der Abt liest den Brief und hält auf göttliche Anweisung hin eine Messe. Beim Empfang der Hostie stirbt das Mönchlein, und seine Seele wird von den Engeln in den Himmel geführt. Der Abt schreibt das Wunder in einem Buch auf.

2 Vgl. Kurt Ruh: Das zwölfjährige Mönchlein. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1650–1652 und 2VL 11 (2004), Sp. 1714. Ausgaben: Das zwölfjährige Mönchlein (Maurer-von Constant); Theodor Kirchhofer: Die Legende vom zwölfjährigen Mönchlein. Schaffhausen 1866 (zit.).

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹

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Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ ist von monastischen Figuren und monastischen Handlungsräumen bestimmt. Zwar treten auch in anderen geistlichen Verserzählungen Ordensleute oder Kleriker als Protagonisten auf (z.B. der ertrunkene Glöckner, Mönch Felix, Thomas von Kandelberg, der Mönch mit den Rosenkränzen), aber meist spielt die monastische Lebensform keine so zentrale Rolle wie hier.3 Der kurze Prolog enthält eine Anweisung zum richtigen Verhalten und einen Demutstopos: Wære ich ein wıˆssag he ˆre, / so ˆ wolde ich nütze le ˆre / guoten liuten künden: / hüetent iuch vor sünden / mit werken und mit worten, / daz ist ˆ uf allen orten / mıˆn beste le ˆre und wıˆser ra ˆt (V. 1 ff.). Die Warnung vor Sünden weist zwar auf einen geistlichen Sinnhorizont, ist aber so allgemein gehalten, dass sich sowohl Ordensleute als auch Laien angesprochen fühlen können. Die Narration setzt mit einer typischen Einleitungsfloskel ein: hie vor in alten ziten (V. 8). Das Motiv der Bitte um ein Kind ist ebenso topisch wie die Anzahl der bereits geborenen Kinder (sieben Töchter). Wie der Prolog ist die Vorgeschichte zunächst nicht monastisch geprägt. Erst das Versprechen der Mutter, den erwünschten Sohn vor Sünden zu bewahren, indem sie ihn in ein Kloster gibt, stellt einen Bezug zur monastischen Sphäre her. Die ersten sechs Lebensjahre verbringt der Sohn bei der Mutter, dann wird er in ein Mönchskloster gebracht, wo er eine klerikale Erziehung erhält.4 Der Lehre des Abtes folgend, bereitet der Zwölfjährige sich im Advent sowohl äußerlich (Bemalung der Zelle, Kerzen, wohlriechende Kräuter) als auch innerlich (Fasten, Beten, Wachen) auf die Ankunft Christi vor. Hier findet eine Interaktion zwischen monastischer und laikaler Sphäre statt: Die Mutter schickt auf die Bitte des Sohnes den Maler, der die Zelle ausmalt. Dadurch hat auch die Mutter indirekten Anteil an der Vorbereitung des Knaben und folglich auch am Erscheinungswunder, das ihm aufgrund dieser Vorbereitung zuteil wird. Vor der Erscheinung des Jesuskindes unterbricht der Erzähler die Narration durch eine Publikumsadresse: Nu ˆ hoeret frouwen unde man / diu wunderlıˆchen dinc von got: / er kam geslichen ˆ ane spot / hin für die zelle ˆ uz erkorn, / reht als ein kint niu geborn, / daz ku ˆme sibennehtig ist (V. 116 ff.). Das angesprochene Publi-

3 Eine Ausnahme könnte man in ›Marien Rosenkranz‹ sehen, da in dieser Erzählung ja gerade das Klosterleben den jungen Mönch daran hindert, seine Blumenkränze zu flechten. Dieser Umstand wird aber vor allem dazu genutzt, die Propagierung des Ave-Gebets wirkungsvoll zu gestalten. Die entscheidende Szene, die Erscheinung Marias, findet außerhalb des Klosters statt. 4 Die Kindheit des Knaben wird nach dem üblichen Lebensalter-Schema gestaltet: Bis zum sechsten Jahr ist das Kind bei der Mutter, bis zum zwölften Jahr folgt die Erziehung im Kloster bzw. in einer Schule. Dieses Schema findet sich in zahlreichen weiteren literarischen Texten wieder, etwa in Hartmanns von Aue ›Gregorius‹, im ›Zeno‹ und in Gottfrieds von Straßburg ›Tristan‹.

346 | VI Überlieferungskontexte 2 kum wird hier als Gruppe imaginiert, der sowohl Frauen als auch Männer angehören5 – der Erzähler wendet sich also wohl nicht primär an eine Klostergemeinschaft. Bei der Erscheinung des Jesuskindes steht die emotionale Seite der Transzendenzerfahrung im Vordergrund. Schon die Vorbereitung des Mönchleins ist von seiner Liebe zum Jesuskind bestimmt: diu zelle wıˆte offen stuont, / gein dem ie sıˆn herze bran (V. 114 f.). Die ausführliche Beschreibung des Jesuskindes (V. 120–131) ermöglicht die emotional-imaginative Teilhabe der Rezipienten an der Transzendenzerfahrung. Das emotionale Verhalten des Mönchleins dient dabei als Identifikationsangebot: daz münechlıˆn vor liebe erschrac, / daz im diu minne doch bekleip (V. 132 f.). Beim kindlichen Spiel mit dem Apfel lässt das Mönchlein den Apfel nur bis in die Mitte der Zelle rollen, um sich dem Jesuskind noch mehr anzunähern: vil lıˆhte ez geswinde / kumt geloufen har zuo mir, / so ˆ erfülle ich mıˆn begir / in herzen und mit ougen (V. 142 ff.). Als das Jesuskind herbeikommt, wird es vom Mönchlein gefangen und umarmt: daz münechlıˆn gar snelle / kam als ein liebart 6 her gevarn, / ez zukt daz kint an sıˆnen arn / mit kreften (da ˆ waz niemand wider) (V. 154 ff.). Das bereits bei der Vorbereitung vorhandene emotionale Verlangen (begir, herze) wird in der Erscheinungsszene um eine sinnlich und physisch wahrnehmbare Dimension erweitert (ougen, Umarmung). Dass das Verlangen nach dem transzendenten Geliebten jedoch nie gesättigt werden kann, zeigt sich in der Trauer des Mönchleins, das zum Chorgebet gerufen wird und befürchtet, Jesus verlassen zu müssen (V. 164–171). Die emotionale Funktion, die dem Einbruch der Transzendenz in dieser Szene zugeschrieben ist, bietet sowohl für monastische als auch für laikale Rezipienten Anknüpfungspunkte, die emotionale Zuwendung zur transzendenten Figur ist für Gläubige jeden Standes nachvollziehbar. Mit dem Chorgebet steht wieder die monastische Lebenswelt im Zentrum. Das Mönchlein muss zum ersten Mal vorsingen. Beim Umblättern des liturgischen Buches sieht es das Jesuskind in seinem Ärmel, vergisst darüber die gelesenen Buchstaben und wird für seine unschuldige Verfehlung mit einer Ohrfeige bestraft. In der Zelle verkündet das Jesuskind dem Mönchlein seinen bevorstehenden Tod mit den Worten: wis wilkomen, tru ˆtgeselle mıˆn, / ich sage dir, du ˆ bist

5 Dass die Bezeichnung frouwen unde man nicht nur als Floskel verstanden wurde, zeigt die wohl aus einem Nonnenkloster stammende Handschrift F des Textes, in der der Begriff durch das neutrale alleman ersetzt wurde, das hier ›jeder, alle‹ bedeutet; man musste als Reimwort stehen bleiben (Frankfurt a.M., UB, Ms. Barth. 58, Bl. 114r). Zu weiteren semantischen Änderungen dieses Textzeugen s. unten, Kap. VI.1.4.2. 6 Hierbei handelt es sich um eine Konjektur des Herausgebers nach der Handschrift F (als ein liebebart); die Leiths. S hat als ein löw.

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹

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347

genesen, / du ˆ solt noch hiute bıˆ mir wesen / in mıˆnen fröuden, gloube mir (V. 230 ff.). Das erinnert an die Verheißung Jesu an den guten Schächer: Amen dico tibi: Hodie mecum eris in paradiso (Lc 23,43)7. Die Verheißung wird in der Erzählung durch einen brief (V. 246), den Jesus dem Mönchlein überreicht, beglaubigt. Der Abt und die Mönche lesen diesen Brief und halten auf göttliche Anweisung eine Messe für das Mönchlein. Diese liturgische Einbettung des Todes, der nach der Kommunion erfolgt, ist ebenso in die monastische Lebenswelt eingebunden wie die Grablege des Mönchleins vor dem altar (V. 284) der Klosterkirche. Die Tatsache, dass das Wunder vom Abt des Klosters in einem Buch aufgeschrieben wird, verweist auf institutionelle Traditionsbildung, wie sie für Klöster eine bedeutende Rolle spielte. Am Ende des Textes steht eine Fürbitte für die Hörer oder Leser, die auf Laien und Ordensleute gleichermaßen zutreffen kann und noch einmal das SündeMotiv des Prologs aufnimmt: vor der samenunge frıˆ / biten wir die namen drıˆ, / swer ditz mære ha ˆt vernomen, / daz er müeze über komen / se ˆle und lıˆbes ungemach, / als dem münechlıˆn geschach / in dem klo ˆster sunder pıˆn. / Je ˆsus lieber vater mıˆn, / nu ˆ hilf uns, daz wir müezen / alle unser sünde gebüezen (V. 293 ff.). Auf der Handlungsebene lässt sich im ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ ein Zusammenwirken von laikaler und monastischer Sphäre beobachten. Die monastische Sphäre ist dabei zwar dominant, durch die Rolle der Mutter besteht aber auch eine wichtige Verbindung zur laikalen Lebenswelt. Auf der diskursiven Ebene wendet sich ein nicht näher spezifizierter Erzähler an ein gemischtgeschlechtliches Publikum. Im Bezug auf das in Prolog und Epilog angesprochene Leitthema der Sünde erscheint das Mönchlein als Idealfigur, die im Zustand der Unschuld in den Himmel eingehen konnte. Der Erzähler hält den Text somit in der Schwebe zwischen monastischer und laikaler Sphäre. Er bietet Anknüpfungspunkte und Identifikationsangebote für Rezipienten beider Bereiche, indem er einerseits die Geschichte auf die allgemein-menschliche Problematik der Sünde bezieht, andererseits aber – durch den Erzählstoff begründet – das Kloster als sichersten Lebensraum darstellt.

1.2 Ausformungen des Motivs von der Erscheinung des Jesuskindes 1.2.1 Literarische Zeugnisse Um die spezifische Verfasstheit der deutschen Verserzählung nachzuvollziehen, wird im Folgenden ein Überblick über die verschiedenen Ausprägungen des Erzählstoffs gegeben und das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ vor diesem Hintergrund

7 Amen, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.

348 | VI Überlieferungskontexte 2 – auch im Hinblick auf seine Bezüge zu monastischer und laikaler Lebenswelt – verortet. Das zentrale Motiv, die Erscheinung des Jesuskindes, ist in der lateinischen und volkssprachigen Literatur verbreitet.8 So wird etwa das achte Buch des ›Dialogus miraculorum‹ des Caesarius von Heisterbach, das den Titel De diversis visionibus9 trägt, mit fünf Jesuskind-Visionen eröffnet, die sich meist in der Weihnachtszeit ereignet haben. Caesarius berichtet beispielsweise von einem Mönch, dem Maria das neugeborene Jesuskind in die Arme legt (VIII,2) oder von einer Jungfrau, die Jesus als dreijähriges Kind in der Kirche sieht und mit ihm das Ave Maria spricht; beim Vers et benedictus fructus ventris tui verschwindet das Kind aus Demut, da es sich nicht selbst preisen will (VIII,8). Auch die Vita Hugos von Cluny berichtet von einer Erscheinung des Jesuskindes in der heiligen Nacht.10 Während in diesen Beispielen das göttliche Wunder der Erscheinung im Zentrum steht, wird in späteren Ausprägungen des Erzählstoffs eher die Wirkung der Erscheinung auf die menschliche Figur, der sie zuteil wird, in den Vordergrund gerückt. Eine Handschrift des frühen 14. Jahrhunderts, die den Augustinerchorherren in Waldhausen/Oberösterreich gehörte (London, BL, Add. 15833),11 enthält eine so perspektivierte Bearbeitung des Caesarius-Exempels VIII,8: Einer betenden Frau erscheint der Jesusknabe in der Kirche. Er fordert sie auf, das Ave zu beten. Als sie bei benedictus fructus ventris tui angelangt ist, sagt der Knabe: Hoc ego sum,12 und verschwindet. Die Frau, über das Verschwinden des Knaben untröstlich, bittet dreißig Tage um die Rückkehr Jesu; am dreißigsten Tag erscheint er und führt ihre Seele in den Himmel. Ähnliche Versionen sind in der ›Scala coeli‹ (589A) und in der Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen, Nr. 12 zu finden.13 Mit dem ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ teilen diese Erzählungen das Motiv des Sehnsuchts-Todes. Eine deutsche Prosafassung des Ave-Mirakels findet sich in der Marienmirakelsammlung Berlin, Staatsbibl., Mgo 222, Nr. 33. Die gaistlichu ´ junkfrow des Mirakels bittet Maria, ihr zu offenbaren, wie vil si lidens von irem kind gehebt hett, als si es iij tag verlov ren. Daraufhin erscheint der Jungfrau in der Kirche ein Knabe, der mit ihr das Ave betet, bei Gesegnet ist die

8 Tubach 1019, 1021, 1022, 1034. 9 Von verschiedenen Visionen. 10 PL 159, Sp. 887. Eine jüngere Bearbeitung findet sich in der ›Scala coeli‹ 589. 11 Vgl. Catalogue of Romances in the Department of Manuscripts in the British Museum. Bd. III: Hrst. von J[ohn] A[lexander] Herbert. London 1910 (Nachdruck London 1962), S. 581–597, hier S. 582 (Nr. 3). 12 Gesegnet sei die Frucht deines Leibes – Dies bin ich. 13 Allerdings ist es hier, wie bei Caesarius, die Frau, die den Knaben auffordert, das Ave zu beten, nicht umgekehrt.

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ | 349

frucht dins libs sagt: Ich bin die selb frucht und verschwindet. Danach erscheint Maria der Jungfrau und erklärt ihr, ihre Leiden um den Verlust Jesu seien noch viel größer gewesen als die Trauer der Jungfrau über das Verschwinden des Kindes, da sie Jesus selbst getragen und gesäugt habe.14 In einer weiteren Prosaerzählung aus derselben Sammlung (Nr. 6) wird ebenfalls die Erscheinung des Jesuskindes mit der Frage nach dem Leid der Gottesmutter auf Erden verknüpft. Eine fromme Königstochter bittet Maria, ihr ihre Freude und ihr Leid auf Erden zu offenbaren. Als die Jungfrau des Nachts betet, erscheint ihr ein wunderschönes Kind, das sie in ihrer Kemenate herzt bis zum Morgengrauen. Dann verschwindet das Jesuskind, und sie sucht schreiend und weinend überall in der Stadt nach ihm. Als sie in die Kirche kommt, wo die Eucharistie gefeiert wird, erkennt sie in der verwandelten Hostie ihren Geliebten wieder, empfängt die Kommunion und stirbt daraufhin vor Freude.15 In dieser Ausprägung finden sich weitere Parallelen zum ›Zwölfjährigen Mönchlein‹: das jugendliche Alter der Protagonistin, die nächtliche Erscheinung, die erzwungene Trennung am frühen Morgen und die Wiedervereinigung mit dem Geliebten im Tod. In einem Exempel aus der Sammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen, Nr. 1 (De Christi nativitate16) wird von einer 14-jährigen Jungfrau berichtet, die auf einer Burg lebt und Maria sieben Jahre lang darum gebeten hat, Jesus zu sehen. An Weihnachten erscheint ihr Maria mit dem Knaben und lässt die Jungfrau mit dem Kind spielen. Dabei entspinnt sich folgender Dialog zwischen der Jungfrau und dem Jesusknaben: Cui puer dixit: Diligis me, karissima? At illa: Diligo te, dominorum karissime, omni modo quo possum. Cui puer: Quomodo? At illa: Plus quam omnes istas uestes. Et puer: Dicas, si plus me diligas. At illa: Ymmo plus quam cor meum. At Ihesus: Dic, si plus me diligas quam cor tuum. At illa: Nescio dicere; sed ipsum cor, quod diligit, loquatur.17 Darauf bricht ihr das Herz,

14 Dass das deutsche Mirakel auf eine lateinische Vorlage zurückgeht, zeigt folgender Fehler: In dem Dialog zwischen Jesuskind und Jungfrau heißt es Das kindli sprach: Ich bin min muo tter kind. Virgo sprach: Kanstu das Aue Maria? Der deutsche Bearbeiter hat also offenbar eine lat. InquitFormel wie Virgo dixit zunächst versehentlich unübersetzt wiedergeben wollen, ist dann aber beim zweiten Wort darauf aufmerksam geworden. 15 In dieser Erzählung werden außer der Jesuskind-Erscheinung auch verschiedene andere bekannte Motive verarbeitet: die Frage nach der größten Freude und dem größten (hier: dem kleinsten) Leid Mariae (Tubach 2845, 5120); die Suche nach dem Geliebten, die an das Hohelied erinnert: do lieff si vsß vnd schray vnd wainot vnd suo cht ez all vmb vnd vmb vnd frav get: Hav t iemen v v v gesechen, den ich vorloren han, min allerliebsten? O er ist der schönst vor allen menschen. O wa ist v min liebster hin? Sin wangen sind rosenrot. (ähnlich Ct 3,1–3; 5,6–10; 6,1) und die Realpräsenz Jesu in der Hostie (Tubach 2689c). 16 Von der Geburt Christi. 17 Der Knabe sagte zu ihr: Liebst du mich, [meine] Liebste? Und sie [sagte]: Ich liebe dich, du liebster aller Herren, wie auch immer ich kann. Der Knabe [sagte] zu ihr: Wie? Und sie [sagte]:

350 | VI Überlieferungskontexte 2 und Jesus führt ihre Seele in den Himmel. Die herbeigeeilten Burgleute finden das Mädchen tot, und in ihrem gebrochenen Herzen ist in Goldbuchstaben eingraviert: Diligo te plus quam me, quia tu creasti, redemisti et portasti in celum me.18 Man findet hier wiederum zahlreiche Parallelen zum ›Zwölfjährigen Mönchlein‹: die Altersstruktur (7, 14 bei der Jungfrau und 6, 12 beim Mönchlein), die Erscheinung an Weihnachten, das kindliche Spiel mit dem Geliebten, den Tod. Ein bemerkenswerter Unterschied besteht jedoch darin, dass die Protagonistin hier eine weltliche Jungfrau ist. Auch in der Volkssprache wurde diese Version des Erzählstoffs bearbeitet. In dem Mirakel Nr. 7 aus der Marienmirakelsammlung Berlin, Staatsbibl., Mgo 222,19

Mehr als alle diese Kleider. Und der Knabe [sagte]: Du sollst sagen, ob du mich mehr liebst. Und sie [sagte]: Ja gewiss, sogar mehr als mein Herz. Und Jesus [sagte]: Sage, ob du mich mehr liebst als dein Herz. Und sie [sagte]: Ich kann es nicht sagen. Aber dieses Herz, das liebt, soll sprechen. 18 Ich liebe dich mehr als mich selbst, denn du hast mich erschaffen, erlöst und in den Himmel geführt. 19 Die Mirakel 7 und 33 der Marienmirakelsammlung Berlin, Staatsbibl., Mgo 222 sind auch in der Kompilation ›Betrachtungen und Predigten zu 24 Kirchenfesten‹ zu finden, die in sechs Handschriften aus dem alemannisch-schwäbischen Raum überliefert ist. Zur Kompilation vgl. Margit Brand: Studien zu Johannes Niders deutschen Schriften (Institutum Historicum Fratrum Praedicatorum Romae. Dissertationes Historicae XXIII). Rom 1998, S. 199–205; zur Überlieferung vgl. S. 201–204. Drei dieser Handschriften befanden sich im Besitz von Frauenklöstern. Die älteste, um 1460 entstandene Handschrift (Überlingen, Leopold-Sophien-Bibliothek, Ms. 26) gehörte wohl den Dominikanerinnen des St. Galler Katharinenklosters und gelangte aus deren Besitz ins Dominikanerinnenkloster Zoffingen in Konstanz, das von St. Galler Schwestern 1497 reformiert wurde. Die auf das Jahr 1476 datierte Handschrift St. Gallen, Kantonsbibl., VadSlg Ms. 359 befand sich im Besitz der Schwestern zu St. Leonhard in St. Gallen. Die Handschrift Augsburg, UB, Cod. III.1.4° 30 gehörte den Memminger Franziskanerinnen. Innerhalb der ›Betrachtungen‹ stehen die zwei Mirakel in der St. Galler Handschrift auf den Bll. 78v/79r (Nr. 7) und 94v (Nr. 33), vgl. Wolfgang Stammler: Spätlese des Mittelalters II. Religiöses Schrifttum (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 19). Berlin 1965, S. 42 f. (zur St. Galler Handschrift vgl. Beat Matthias von Scarpatetti: Katalog der datierten Handschriften in der Schweiz in lateinischer Schrift vom Anfang des Mittelalters bis 1550. Bd. 3: Die Handschriften der Bibliotheken St. Gallen – Zürich, Text- und Abbildungsband. Dietikon/Zürich 1991, Textbd. S. 11, Nr. 25, Abbildungsbd. S. 168, Nr. 416). Die Textgestalt ist in der St. Galler Handschrift und der Marienmirakelsammlung Berlin, Staatsbibl., Mgo 222 so ähnlich, dass es sich nicht um zwei unabhängige Übersetzungen aus dem Lateinischen handeln kann. Die Marienmirakelsammlung steht allerdings der lateinischen Fassung näher als die Version aus den ›Betrachtungen‹. In der St. Galler Handschrift wurde etwa der ›Fehler‹ des lateinischen Virgo-Einsprengsels im Mirakel 33 korrigiert: Die iunkfrow sprach. Im Mirakel 7 ist der Teil des Dialogs zwischen Jesuskind und Jungfrau ausgelassen worden, in dem die Jungfrau sagt, sie liebe Jesus mehr als ihre Kleider. Ob es sich dabei um eine bewusste Änderung oder um ein Versehen handelt, ist fraglich. Ein Augensprung wäre denkbar, da zweimal die Wendung Die iunkfrow sprach kommt; möglicherweise hat der Schreiber die erste Rede übersprungen. Auf eine Verwirrung an dieser Stelle könnte auch hindeuten, dass zu Beginn der Rede [Ich] hav n dich lieber wenn min hertz das ich fehlt, vgl. Stammler:

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹

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dem die Erzählung aus der Breslauer Sammlung wohl als Vorlage diente, wird von einer adligen Jungfrau auf einer Burg berichtet, die sieben Jahre lang das Jesuskind verehrt. An Weihnachten geht sie um Mitternacht in die Kapelle. Dort erscheint ihr Maria mit dem Jesuskind und gibt ihr das Kind in die Arme. Das Kind fragt sie: Wie lieb hav stu mich? Sie antwortet erst, sie liebe es mehr als ihre Kleider; auf erneutes Nachfragen aber, sie liebe es mehr als ihr Herz, woraufhin sie vor übermäßiger Freude stirbt. Als die Burgleute sie tot finden, wird der Leichnam aufgeschnitten und im Herzen wird eine Inschrift aus goldenen Buchstaben gefunden: Ich hav n dich lieber denn mich selber, wav rumb da hav stu mich geschaffen, du hav st mich erlöst, du hav st mich gesichret ewigs leben. Die Jungfrau wird in Ehren bestattet und ihre Seele von den Engeln in den Himmel geführt. Eine weitere Ausprägung des Erzählstoffs findet sich in der Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen, Nr. 15 (De eukaristia; super: Hospes eram),20 in der berichtet wird, wie ein junger Mönch an Ostern über die Kommunion nachdenkt und Christus bittet, ihm zu erscheinen. Christus erscheint ihm als Knabe. Der Mönch herzt ihn und will ihn nicht mehr loslassen; der Jesusknabe verschwindet dennoch, der Mönch weint acht Tage lang und wird dann in den Himmel aufgenommen. Hier ist der Protagonist ebenfalls ein junger Mönch, die Erscheinung findet jedoch an einem anderen Herrenfest statt; das Motiv des Sehnsuchtstodes ist aber ebenfalls vorhanden. Noch deutlichere Parallelen zum ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ weist eine französische Fassung des Erzählstoffs aus dem ›Ci nous dit‹ (Nr. 314, Bd. I, S. 261) auf: Ein Abt ermahnt seine Mönche vor Pfingsten in einer Predigt, das Bett ihres Gewissens schön herzurichten, damit der Herr sich zu ihnen in dieses Bett lege. Ein junger Mönch versteht den allegorischen Charakter der Predigt nicht. Er bereitet sein richtiges Bett für den Herrn vor, und in der Nacht erscheint tatsächlich das Jesuskind, legt sich zu dem Mönchlein ins Bett und spielt die ganze Nacht mit ihm. Am nächsten Morgen versäumt der junge Mönch die Matutin. Der Abt fragt den jungen Mönch später, wo er gewesen sei. Der Mönch antwortet, das Jesuskind habe ihn im Bett besucht, und er habe nicht gewagt, das Jesuskind während der Matutin allein zu lassen, da es sich sonst gefürchtet hätte. Der Abt verkündet das Wunder im ganzen Konvent, und alle loben Christus. Wie im

Spätlese, S. 43 (Anm. 2). Die Marienmirakelsammlung enthält Fehler, die in der St. Galler Handschrift nicht vorhanden sind, z.B. im Mirakel 7: vnd die vnd die fröd hortend das volk, in der St. Galler Handschrift an der entsprechenden Stelle: Nun die jubel vnd die fröd hort das folk. Das genaue Verhältnis zwischen der Marienmirakelsammlung und den ›Betrachtungen‹ sowie die Frage, ob noch weitere Mirakel aus der Marienmirakelsammlung Berlin, Staatsbibl., Mgo 222 in dieser Kompilation enthalten sind, wären zu prüfen. 20 Von der Eucharistie. Über [den Bibelvers Mt 25,35]: Ich war ein Fremder.

352 | VI Überlieferungskontexte 2 ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ ist auch im ›Ci nous dit‹-Exempel eine Predigt bzw. Ermahnung des Abtes der Anstoß für die Vorbereitung des jungen Mönchs auf die Ankunft Christi; das Jesuskind erscheint dem Mönchlein in der Nacht in seiner Zelle bzw. seinem Bett; das Mönchlein erfüllt deshalb seine Pflicht beim nächsten Chorgebet nicht. Neben diesen auffälligen Parallelen gibt es allerdings auch Abweichungen. Das Mönchlein bereitet sich nicht besonders vorbildlich, sondern aufgrund eines Missverständnisses eigentlich falsch auf die Ankunft Christi vor; Christus ehrt jedoch sein kindliches Vertrauen und erscheint – gemäß der konkreten Vorbereitung des Mönchleins – auch in konkreter Gestalt; die Erscheinung findet nicht an Weihnachten, sondern an Pfingsten statt; das Motiv des Sehnsuchtstodes fehlt. Eine direkte Bezugnahme des ›Mönchleins‹ auf das ›Ci nous dit‹-Exempel ist vor allem aufgrund der letzten beiden Abweichungen unwahrscheinlich, da die Erscheinung an Weihnachten und der Sehnsuchtstod feste Bestandteile der Tradition sind und daher eher davon auszugehen ist, dass diese Elemente im ›Ci nous dit‹ abgewandelt wurden, als dass sie im ›Mönchlein‹ trotz einer ›Ci nous dit‹-Vorlage reintegriert wurden. Das Motiv der Bestrafung bzw. des Tadelns eines Kindes, das aufgrund einer Jesuskind-Erscheinung eine Verfehlung begeht, findet sich nicht nur im ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ und dem ›Ci nous dit‹-Exempel, sondern auch in einem lateinischen Exempel,21 das die Geschichte eines im Nonnenkloster erzogenen kleinen Mädchens erzählt. Das Kind lernt, dass Liebe eine Tugend sei und teilt seine Liebe zunächst zwischen einem Vogel und dem Hund der Äbtissin, beschliesst dann aber beim Anblick einer Marienstatue mit Kind, das Jesuskind zu lieben. Die Statue verspricht Gegenliebe. Später wird die kleine Nonne getadelt, weil sie während der Messe gelächelt hat. Weinend erklärt das Mädchen, sie habe doch nur gelächelt, weil ihr Geliebter, Jesus, der in der vom Priester emporgehobenen Hostie erschienen ist, ihr auch zugelächelt habe. Aufgrund der zahlreichen Abweichungen ist auch hier eine direkte Bezugnahme zwischen den drei Erzählungen unwahrscheinlich – gerade dieser Umstand zeigt jedoch, dass viele Einzelmotive, die an den Erzählstoff von der Erscheinung des Jesuskindes angelagert werden konnten, allgemein bekannter Bestandteil des literarischen Referenzrahmens waren, die einzelnen Verfasser also möglicherweise auch ohne direkte Bezugnahme auf einen bestimmten Text darauf zurückgreifen konnten. Die vielseitige Verwendbarkeit der Figurenkonstellation kindlicher Mönch – Jesuskind zeigt sich etwa auch in der Vita des Prämonstratensers Hermann-Jo-

21 London, BL, Cotton Cleopatra D. VIII (England, Ende 14. Jahrhundert), vgl. Catalogue of Romances III, S. 638 ff., zum hier erwähnten Exempel S. 638 (Nr. 3) und Catalogue of Romances I, S. 249.

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹

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seph von Steinfeld,22 die kurz nach Hermanns Tod in der Mitte des 13. Jahrhunderts von einem Mitbruder verfasst wurde. Hier wird berichtet, dass Hermann als Sechsjähriger ins Kloster gebracht wurde, wo er bis zum zwölften Lebensjahr blieb, um dann in ein anderes Kloster geschickt zu werden – die Altersstruktur 6, 12 entspricht derjenigen des ›Zwölfjährigen Mönchleins‹. Der Knabe Hermann, der seine freien Stunden lieber in der Klosterkirche als beim Spiel mit seinen Schulkameraden verbringt, verehrt eine Marienstatue mit Jesuskind, indem er dem Jesuskind Brot und Äpfel anbietet, die er bei sich trägt; die Statue streckt die Hand aus und nimmt die Gaben an.23 Einmal wird der Knabe von Maria, die ihm in der Kirche erscheint, eingeladen, mit den Kindern Jesus und Johannes Evangelist zu spielen.24 Die Motive des Apfels und des kindlichen Spiels, die später im ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ in etwas anderer Ausformung erscheinen, sind hier also ebenfalls vorhanden. Bei den meisten Ausprägungen des Erzählstoffs steht die emotionale Dimension der Beziehung eines kindlichen oder jugendlichen Protagonisten zum Jesuskind im Vordergrund. Die naive Liebe, die im kindlichen Gespräch oder Spiel des Protagonisten mit dem Jesusknaben zum Ausdruck kommt, scheint eine reizvolle Projektionsfläche für die religiösen Gefühle der Rezipienten dargestellt zu haben. Dies mag ein Grund sein, warum der Erzählstoff in so vielen verschiedenen Varianten und Nuancierungen immer wieder bearbeitet wurde. Die Verortung im literarischen Referenzrahmen zeigt, dass die meisten Motive, die im ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ vorkommen, auch in anderen Ausprägungen des Erzählstoffs anzutreffen sind. Es handelt sich dabei also kaum um eigene Erfindungen des Verfassers des ›Mönchleins‹. Im Vergleich mit den anderen bekannten Fassungen lassen sich aber auch Elemente herausstellen, die nur im ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ belegt sind. Die augenfälligste Abweichung der deutschen Verserzählung von der Stofftradition betrifft die Vorgeschichte des Erscheinungswunders. Zwar werden in manchen Fassungen des Erzählstoffs die jahrelange Jesuskind-Verehrung der Figur oder die Umstände ihrer Erziehung im Kloster bzw. auf einer Burg erwähnt, aber in keinem anderen Fall ist eine Vorgeschichte erhalten, die bis zur Geburt der Figur zurückreicht. Die familiäre Einbettung könnte also auf den Verfasser des ›Zwölfjährigen Mönchleins‹ zurückgehen. Darauf deutet neben ihrem unikalen Auftreten innerhalb der Stofftradition auch ein Bruch in der Erzähllogik

22 Vgl. Ruh: Zwölfjähriges Mönchlein, Sp. 1652. Zu Hermann vgl. Franz Josef Worstbrock: Hermann Josef von Steinfeld. In: 2VL 3 (1981), Sp. 1062–1066. Ausgabe der Vita: Acta Sanctorum. Begründet von Jean Bolland. Antwerpen u.a. 1643 ff. April I, S. 682–723 (7. April). 23 Vita, Kap. I,3 (S. 688). 24 Vita, Kap. I,4 (S. 688).

354 | VI Überlieferungskontexte 2 hin, der sich an der Übergangsstelle von der Vorgeschichte zur Haupthandlung zeigt: Nachdem der Knabe schon sechs Jahre im Kloster verbracht hat und dort zur Schule gegangen ist, beginnt das Mirakel damit, dass der Abt das Mönchlein über das Weihnachtsgeschehen informiert: dem kinde gap er snelle / die süeze le ˆre ˆ uz erkorn: / ez wære ein kindelıˆn geborn / von einer maget zuo dirre frist, / daz waere geheizen Je ˆsus Krist / mit namen vil gehiure (V. 56 ff.). Bei diesen Informationen handelt es sich allerdings um christliches Grundwissen, mit dem ein Kind, das schon sechs Jahre im Kloster verbracht hat, vertraut sein müsste. Die Passage wäre also nur dann sinnvoll, wenn der Text ohne Vorgeschichte direkt mit dem Mirakel einsetzen würde, wie dies etwa beim ›Ci nous dit‹-Exempel der Fall ist. Wahrscheinlich nahm der Verfasser des ›Mönchleins‹ Bezug auf eine (schriftliche oder mündliche) Fassung des Erzählstoffs, die keine Vorgeschichte enthielt, und bemerkte bei der Hinzufügung der Vorgeschichte den erzähllogischen Bruch nicht. Die Vorgeschichte ist nun gerade derjenige Teil der Erzählung, der die stärksten Verbindungen zur laikalen Lebenswelt herstellt: Mit der Figur der frommen Mutter, die durch ihr Versprechen, den Sohn ins Kloster zu geben, das Mirakel überhaupt erst ermöglicht und durch die Bereitstellung des Malers auch indirekten Anteil an der Erscheinung hat, ist eine zusätzliche Identifikationsfigur speziell für laikale Rezipienten vorhanden. Sollte die Vorgeschichte also tatsächlich auf den Verfasser der deutschen Verserzählung zurückgehen, könnte dies als Indiz dafür gewertet werden, dass der Verfasser bemüht war, seine Erzählung gerade auch für ein laikales Publikum interessant zu machen. 1.2.2 Bildende Kunst und Frömmigkeitspraxis Geistliche Verserzählungen stehen nicht nur in einem literarischen, sondern auch in einem kulturellen Referenzrahmen, können auf religiöse Rituale und Bräuche verweisen oder Bezug auf bildliche Darstellungen nehmen. So erinnert die ausführliche Beschreibung des Aussehens des Jesuskindes im ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ an die Christkind-Statuen, die im 14. und 15. Jahrhundert besonders in Frauenklöstern verbreitet waren.25 Sie stellen ein meist etwa einjähriges nacktes Jesuskind dar, das einen Apfel bzw. eine Weltkugel trägt und die andere Hand zum Segen erhoben hat (Abb. 9). Diese Statuen konnten auf dem Altar der Klosterkirche aufgestellt oder von einzelnen Nonnen in ihren Zellen beherbergt wer-

25 Vgl. Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern. [Ausstellungskatalog] Ruhrlandmuseum: Die frühen Klöster und Stifte 500–1200; Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland: Die Zeit der Orden 1200–1500. München 2005, S. 448, 457 f. Weitere Beispiele von Christkind-Statuen in: Spiegel der Seligkeit. Privates Bild und Frömmigkeit im Spätmittelalter. [Ausstellungskatalog] Germanisches Nationalmuseum Nürnberg. Nürnberg 2000, Kat. 11–13 (S. 175–177).

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹

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den. Diese Vorstellung ähnelt dem Motiv des Mönchleins, das Jesus in seiner Zelle empfangen will. In manchen Klöstern war es im Spätmittelalter außerdem üblich, kleine Pergament- oder Papierblättchen mit Zeichnungen des Jesuskindes an Novizinnen und Nonnen zu verschenken. Ein Beispiel dafür ist ein wohl aus Schwaben stammendes Andachtsblättchen mit dem segnenden Jesusknaben aus dem 3. Viertel des 15. Jahrhunderts.26 Während die Statuen meist eine goldene Weltkugel bei sich tragen und aufwendig bekleidet wurden, hat das Jesuskind hier einen Apfel in der Hand, sitzt auf einem Rasenstück und ist mit einem schlichteren geblümten Rock bekleidet. Die Verehrung des Jesuskindes fand eine weitere Ausdrucksform in der Tradition des Christkindelwiegens. Davon zeugen bewegliche Wiegen, in denen eine Christkindfigur lag.27 Sie wurden von den Nonnen bei der Andacht in der Zelle oder bei paraliturgischen Feiern und Spielen gewiegt. Diese Formen der Jesuskindverehrung waren zwar in Klöstern besonders verbreitet, aber nicht auf den monastischen Bereich beschränkt. Im 15. Jahrhundert ist diese Frömmigkeitspraxis auch in laikalen Familien für die Weihnachtszeit bezeugt.28

1.3 Exkurs: Naivität als Ideal Das Motiv der naiven Verehrung eines kindlichen Protagonisten für das Jesuskind lässt sich dadurch in besonderem Maß emotional funktionalisieren, dass die Ebenen von Konkretem und Abstraktem aufeinander bezogen werden: Das Mönchlein schmückt seine Zelle durch sinnlich wahrnehmbare konkrete Dinge (Farbe und Kräuter) und empfängt Gott in sinnlich wahrnehmbarer Gestalt. Eine Transgression des Objekthaften und Hinwendung zum Abstrakten, wie sie bei religiösen Reflexionen stattfinden müsste, bleibt hier aus – aufgrund des kindlich-einfältigen Protagonisten wird dies jedoch nicht als mangelhaft, sondern im Gegenteil gerade als besonders rührend empfunden. Dieser Eindruck wird durch weitere Erzählungen bestätigt, die zwar nicht direkt mit dem ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ zusammenhängen, aber in ihrer Figurenkonstellation und narrativen Gestaltung Parallelen aufweisen.

26 Vgl. Krone und Schleier, S. 448 f. 27 Vgl. Krone und Schleier, S. 458 f. 28 Vgl. Krone und Schleier, S. 459; Peter Keller: Die Wiege des Christuskindes. Ein Haushaltsgerät in Kunst und Kult (Manuskripte zur Kunstwissenschaft in der Wernerschen Verlagsgesellschaft 54). Worms 1998, bes. S. 86–135.

356 | VI Überlieferungskontexte 2 In Heinrichs des Klausners ›Armem Schüler‹ (1364 V., Ende 13. Jahrhundert)29 steht die naive Marienverehrung eines Schülers im Zentrum. Ein armer Schüler, der in einer Bischofsstadt lebt, verehrt mit großer Inbrunst die Gottesmutter Maria. Er spricht immer seine Paternoster und Ave Maria, und an den Marienfesten fastet er. Seine Mitschüler singen an Festtagen im Gottesdienst, doch es ist nicht erlaubt, ohne Schuhe den Chor zu betreten. An der Vigil von Mariae Himmelfahrt singt der arme Schüler, der keine Schuhe besitzt, trotzdem mit. Sobald der Schulmeister dies bemerkt, treibt er den Schüler jedoch aus dem Chor. Am nächsten Tag schleicht sich der Schüler zur Kräuterweihe wieder in den Chor, wird aber von einem bösen Mitschüler erneut vertrieben. Betrübt versteckt er sich in einem Winkel der Kirche und fleht Maria an, ihm doch ein Paar Schuhe zu schenken, damit er mit den anderen Kindern ihr Lob singen könne. Die Gottesmutter erhört ihn nicht, doch trotzig beschließt er, ihr dennoch eine Gegengabe zu verehren: Er kleidet Maria mit hunderten von Ave-Gebeten vollkommen ein (Schuhe, Rock, Surkot, Mantel, Schleier, Krone). Zum Lohn für seinen beständigen Dienst erscheint Maria ihm schließlich mit prächtigen Kleidern, die von goldenen Ave-Inschriften übersät sind, und fordert ihn auf, sich etwas zu erbitten. Der Schüler weigert sich jedoch. Daraufhin stellt Maria ihn vor die Wahl: Er könne entweder dreißig Jahre lang Bischof sein oder am dritten Tag sterben und in den Himmel eingehen. Der Schüler, immer noch ungläubig, wählt den Tod am dritten Tag, fordert aber einen Beweis. Maria befiehlt ihm, überall ihre leibliche Aufnahme in den Himmel zu verkünden. Als er dies in der Schule erzählt, wird er zunächst vom Lehrer verprügelt; nachdem der Lehrer aber von der ganzen Begebenheit und der Wahl des Schülers erfahren hat, bittet er diesen um Verzeihung und lässt seine Verkündigung aufschreiben. Der Schüler kehrt zu seiner Mutter zurück und stirbt am nächsten Tag im Beisein vieler Kleriker; Maria nimmt seine Seele in den Himmel auf.

Der Schüler wird zu Beginn als einveldic als ein kalp (V. 72) bezeichnet, in den folgenden Versen lobt der Erzähler jedoch seine Gelehrsamkeit und seinen Fleiß in der Schule. Die Einfalt ist daher nicht als Dummheit zu verstehen,30 sondern eher als kindliche Unschuld. Als der Schüler aufgrund seiner Armut nicht mit den anderen Kindern an Mariae Himmelfahrt im Chor singen darf, ist er untröstlich und bittet Maria um das Objekt, das ihm fehlt, nämlich ein Paar Schuhe. Die emotionale Zuwendung des Schülers äußert sich auf der Ebene greifbarer Objekte – ähnlich wie die Vorbereitung des Mönchleins auf Jesu Ankunft nicht nur durch Beten, sondern auch durch die Ausmalung der Zelle und das Streuen von

29 Hans-Georg Richert: Heinrich der Klausner. In: 2VL 3 (1981), Sp. 758 f. und 2VL 11 (2004), Sp. 631. Ausgabe: Karl Bartsch: Mitteldeutsche Gedichte (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 53). Stuttgart 1860, S. 1–39. Unikal überliefert in: Pommersfelden, Gräfl. Schönbornsche Schlossbibl., Cod. 54 (2798) (Thüringen, 2. Hälfte 14. Jahrhundert), vgl. Kap. IV.1.1.8. In dieser Handschrift, die eine literarische Sammlung enthält, folgt der ›Arme Schüler‹ auf die geistliche Erzählung ›Marien Rosenkranz II‹. Die Überschriften der beiden Texte sind identisch: Dit mer ist von eyme schuler (Bl. 48v, 54r). 30 Auch dieser Figurentypus begegnet in geistlichen Erzählungen, etwa im ›Einfältigen Pfarrer‹ oder im ›Passional‹-Mirakel 21 (›Marien Rosenkranz‹).

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹

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wohlriechenden Kräutern stattfindet. Die Bitte um Schuhe ist ein Motiv, das nicht nur im ›Armen Schüler‹ begegnet. Auch in der bereits erwähnten Vita HermannJosephs von Steinfeld tritt es im Kontext kindlicher Marienverehrung auf. Dort wird berichtet, wie der Knabe Hermann einmal im Winter mit nackten Füßen in die Kirche geht. Die winterliche Kälte tut seiner Andacht keinen Abbruch, was die Gottesmutter zum Mitleid bewegt. Sie fragt ihn, warum er keine Schuhe trage, und er antwortet, er habe keine. Da die Gottesmutter weiß, dass Hermanns Eltern arm sind, befiehlt sie ihm, unter einem Stein in der Kirche vier Denare hervorzuholen, mit denen er sich Schuhe kaufen kann. Hermann findet das Geld und kauft sich die Schuhe. Auf die gleiche Weise bekommt er auch für andere Dinge, etwa Wachstäfelchen und Griffel, Geld von Maria.31 Im ›Armen Schüler‹ bleibt die Bitte des Kindes trotz seiner innigen Marienverehrung jedoch zunächst unerhört. Darauf reagiert der Schüler trotzig und versucht, Maria zu übertreffen, indem er ihr nicht nur Schuhe, sondern eine ganze Garderobe aus Gebeten schenkt: Sint du vrowe mir ha ˆst vorseit / Daz ich dir dicke habe gecleit / Mıˆn herzeleit vil stille, / Doch ist daz mıˆn wille, / Daz ich dir hu ˆte gebin wil / Ga ˆbe hundirt stunt so ˆ vil / Alse ich dich gebeten habe [...] Do ˆ sprach der schu ˆler zuhant / Hundirt ˆ ave ˆ Marja ˆ. / Da ˆ zu ˆ was im harte ga ˆ / Und sprach kein unser vrouwen du ˆ / ›Daz salt du haben vor zwe ˆne schu ˆ. / Swıˆdu kondis wedir strebin, / Daz du mıˆnicht woldis gebin / Des ich dich gebeten habe.‹ (V. 407 ff.). Dieser beständige Dienst wird vom Erzähler als van rechter minne (V. 496) inspiriertes Verhalten bezeichnet, das durch das Erscheinen Marias, den Einbruch der Transzendenz in die Lebenswelt des Schülers, belohnt wird. Doch das trotzige Kind lässt sich nicht sofort umstimmen: Mit zorne sprach daz gu ˆte kint / Kein unsir vrouwen abir sint / Ich inwil ˆ uch nimmer me ˆ gebetin / Mit so ˆ vle ˆlıˆchin setin [...] Waz hilfet daz du ˆ rıˆche bis / An mancher hande werdikeit? [...] Du ha ˆst nicht wol gelo ˆnit mir: / Ane schu ˆ bin ich doch (V. 656 ff.). Der Schüler hält am versagten Objekt, den Schuhen, fest, obwohl ihm bereits eine viel größere Gnade, die physisch wahrnehmbare Präsenz Marias, zuteil geworden ist – dies zeigt auf rührende Weise seine Naivität: Do ˆ lachte di reine [Maria], / Do ˆ si hatte wol gehort / Sıˆne kintlıˆche wort / Unde sıˆne alwe ˆrekeit, / Daz so ˆ gro ˆze tumpheit / An den schu ˆler was gewant (V. 691 ff.). Maria begegnet dem kindlichen Trotz mit Geduld und bringt den Schüler schließlich dazu, ihr Angebot anzunehmen. Erst als Maria verschwunden ist, setzt die Freude des Schülers über die Erscheinung ein: Do ˆ ginc her zu der stunde / Mit gro ˆzin vrouden hin zu hu ˆs / Kein siner armen muter clu ˆs / Und vroute sich vil se ˆre / Der seltse ˆnin me ˆre (V. 396 ff.). Wie auch beim ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ dient die Figurenkonstellation hier dazu, die emotionale Funktion der Transzendenzerfahrung zu steigern – dadurch, dass das Kind so einfältig auf das Wunderbare reagiert, erscheint die

31 Vita, Kap. I, 6 (S. 689).

358 | VI Überlieferungskontexte 2 Transzendenzerfahrung auch für den Rezipienten in einem ganz unmittelbaren Licht. Ein weiteres Beispiel ist der Erzählstoff vom Knaben, der dem Jesuskind Essen anbietet.32 Er ist in einem Exempel aus Vinzenz’ von Beauvais ›Speculum historiale‹ (VII,99/2, S. 285) enthalten, das berichtet, wie in Speyer ein kleiner Knabe, der mit seiner Mutter in die Kirche geht, dem Jesuskind auf dem Arm einer Marienstatue ein Stück Brot anbietet: hisque verbis qualia Teutonici pueri balbutire solent implorare coepit, Pupe, Papa, Pupe, Papa.33 Das Jesuskind antwortet darauf in kindlicher Weise: Pupe noli flere, post triduum mecum papabis.34 Die Mutter hört dies und erzählt es einem Kleriker. Am nächsten Tag wird der Knabe von einem heftigen Fieber ergriffen und stirbt nach drei Tagen. Eine erweiterte Variante dieses Erzählstoffs ist in einer deutschen Prosaerzählung aus der Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 (B 436/C 34) überliefert.35 In dieser Fassung ist es nicht ein Kleinkind, sondern ein junges Mönchlein, das dem Jesuskind in der Kirche sein Schulbrot anbietet. Jesus lädt das Mönchlein als Dank dafür in acht Tagen an seinen Tisch. Ein alter Mönch, der dies gehört hat, und der Abt des Klosters werden auch eingeladen, jener nach vierzig, dieser nach dreißig Tagen. Der Abt will den Worten des Knaben und des Mönchs zunächst nicht glauben, als der Knabe aber nach acht Tagen stirbt, bereitet auch er sich auf seinen Tod vor, und alle sterben selig. Das kindliche Unvermögen, Abstraktes zu verstehen, führt hier – wie auch in der Geschichte des jungen Mönchs aus dem ›Ci nous dit‹ – zu einem nicht normkonformen Verhalten, das emotional funktionalisiert wird, indem die transzendente Figur sich dem Verhalten des Kindes anpasst und dadurch den Wert seiner naiven Verehrung wider das bessere Wissen der Gelehrten (hier: des Abtes) bestätigt. Aus rezeptionsästhetischer Sicht erlauben die narrativen Umsetzungen dieser Erzählstoffe ein Spiel mit Distanzierungs- und Identifikationsvorgängen. Die (erwachsenen) Rezipienten verfügen über mehr Urteilskraft als die kindlichen Protagonisten, distanzieren sich also als Mehrwissende von deren Handlungen; zugleich können die naiven Handlungen die Rezipienten emotional berühren und so zu einer Identifikation führen – letzteres wird durch die Reaktion der transzendenten Figuren bestätigt. Die besserwisserischen menschlichen Figuren

32 Vgl. Tubach 2115 (Essen wird einer Statue angeboten), 1026 (Einladung zum himmlischen Mahl). 33 Mit diesen Worten, wie die deutschen Kinder zu plappern pflegen, begann er ihn zu bitten: Bübchen, iss, Bübchen, iss. 34 Bübchen, weine nicht, in drei Tagen wirst du mit mir essen. 35 Abdruck von B 418 bei Franz Pfeiffer: Predigtmärlein. Germania 3 (1858), S. 407–444, hier S. 427–429, Nr. 20. Bei C 34 handelt es sich um eine kürzende Bearbeitung von B 418.

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ | 359

tragen ebenfalls dazu bei, die naive Hinwendung zum Transzendenten zu valorisieren und die Rezipienten in dieser Interpretationsweise des Erzählten zu bestärken. Der so konstruierten Mittelposition des Rezipienten zwischen unwissendem Protagonisten und besserwisserischen, aber eigentlich ebenso unwissenden Gelehrtenfiguren wird das richtige Urteilen über das Erzählte ermöglicht, was auch die intellektuelle Teilnahme des Rezipienten aufwertet. Darin könnte – ebenso wie in der emotionalen Funktionalisierung – ein Grund für die Verbreitung dieser Erzählstoffe liegen.

1.4 Nachtrag und Tischlektüre: Überlieferungskontexte des ›Mönchleins‹ Nach diesem Blick auf den literarischen Referenzrahmen stellt sich nun die Frage nach den Überlieferungskontexten des ›Zwölfjährigen Mönchleins‹. Während die ältere Handschrift S zwar ein geistliches Profil aufweist, aber kaum Informationen über ihre Entstehungs- und Rezeptionskontexte bietet, lässt sich die jüngere Handschrift F in einem monastischen Kontext verorten. 1.4.1 Die Handschrift S S

Schaffhausen, Stadtbibl., Cod. Gen. 20

Papier · 150 Bll. · 15 × 10,5 · südalemannisches Sprachgebiet · 2. Viertel 15. Jahrhundert Lagen: (VI–2)10 + 10 VI130 + IV138 + (VI–2)148. Inhalt: Bl. 1v–6v Nachtrag: Meister Eckhart: Predigt Bl. 6v–7v Nachtrag: Heinrich Laufenberg: Geistliches Lied (Nr. 792) Bl. 8r–9r Nachtrag: Reimgebet um Vergebung der Sünden Bl. 11r–137r Marquard von Lindau: ›Eucharistie-Traktat‹ Bl. 139r–148r Nachtrag: ›Das zwölfjährige Mönchlein‹ Lit.: Gamper/Marti: Katalog Schaffhausen, S. 115 f.

Der Hauptteil der Handschrift (Bl. 1–138) ist von einer Hand geschrieben ist und enthält nur einen Text, den ›Eucharistie-Traktat‹ Marquards von Lindau. Beim Schreiber dieses Teils, der sich im Kolophon zum ›Eucharistie-Traktat‹ Nicolaus Sinister nennt, könnte es sich um Nikolaus Linck handeln, der 1463/65 als Priester in Owingen bei Überlingen, 1464 in Urnau bei Friedrichshafen bezeugt ist.36 Der Hauptteil wurde wohl bei der Bindung um zwei Vorsatzlagen (Bl. 1–10, 139–148) ergänzt, für die das gleiche Papier verwendet wurde wie für den Haupt-

36 Vgl. Gamper/Marti: Katalog Schaffhausen, S. 115.

360 | VI Überlieferungskontexte 2 teil.37 Wahrscheinlich waren diese beiden Lagen zunächst unbeschrieben, und die Nachträge wurden erst nach der Bindung von anderen Schreibern vorgenommen. Auf der ersten Lage hat eine Hand des späten 15. Jahrhunderts (Nachtragshand A) eine Predigt, ein geistliches Lied und ein Gebet eingetragen. Auf der letzten Lage wurde das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ von einer anderen Nachtragshand (B) geschrieben. Der paläographische Befund legt eine Datierung des Nachtrags auf das 3. Viertel des 15. Jahrhunderts, also zeitnah zur Entstehung des Hauptteils, nahe.38 Die Nachträge passen zum geistlichen Profil der Handschrift, geben allerdings kaum Aufschluss darüber, in welchen Kontexten die Handschrift rezipiert wurde. Auch die (unsichere) Identifizierung des Hauptschreibers mit dem Priester Nikolaus Linck erlaubt keine genauere Situierung, denn das Kolophon gibt keine Auskunft darüber, ob der Schreiber die Handschrift im Auftrag oder für den Eigengebrauch geschrieben hat. Festzuhalten bleibt, dass die geistliche Verserzählung hier als Nachtrag zu einem umfangreichen Prosatraktat in einem geistlich geprägten Umfeld erscheint. Sie ist wohl eher zufällig in die Handschrift gelangt, ähnlich wie die Nachträge der ersten Lage – sie passt zum Profil, es findet aber keine unmittelbare thematische Funktionalisierung statt. 1.4.2 Die Handschrift F F

Frankfurt a. M., UB, Ms. Barth. 58

Papier · 169 Bll. · 31,5 × 20,5 · Rheinfranken (Frankfurt?)39 · 1. Drittel 16. Jahrhundert

37 Freundliche Mitteilung von Rene´ Specht (Stadtbibliothek Schaffhausen). 38 Gamper/Marti: Katalog Schaffhausen, S. 116, nehmen eine Hand der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts an. Die Schleifenbastarda der Nachtragshand B weist ein überhöhtes rundes Schluss-s auf, dessen Bogen in der Mitte gebrochen ist. Dabei handelt es sich um eine Erscheinung, die nach Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung. 2., überarbeitete Aufl. (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B. Ergänzungsreihe Nr. 8). Tübingen 2009, S. 77, ab dem 2. Viertel des 15. Jahrhunderts aufkommt und besonders im 3. Viertel des 15. Jahrhunderts häufig anzutreffen ist. Die Schrift der Nachtragshand B weist viele Ähnlichkeiten mit der auf 1459 datierten und aus der Werkstatt Diebold Laubers stammenden Handschrift Colmar, Stadtbibl., Ms. 305 auf (freundlicher Hinweis von Christoph Mackert, UB Leipzig). 39 Schreibsprache: Diphthongierung von mhd. ˆı, u ˆ , iu nur teilweise durchgeführt; besonders in sehr häufigen, kurzen Wörtern sind die Monophthonge erhalten: vch, vf, vß, by, ebenso im Diminutiv -lin; schwankender Gebrauch von Monophthong und Diphthong bei hudte/heudt und dry/drei. Dieser Befund entspricht der Situation im rheinfränkischen Sprachgebiet im frühen 16. Jahrhundert: Die Diphthongierung begann dort erst im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts und wurde erst in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vollständig durchgeführt, vgl. Moser: Frnhd. Grammatik I.1, § 77 (S. 154 ff.). In Frankfurter Urkunden erscheint die Diphthongschreibung erst

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹

Inhalt: Bl. 2r–92r Bl. 92r–99r Bl. 99r–104v Bl. 104v–107r Bl. 107r–111r Bl. 111r–112v Bl. 112v–117v Bl. 121r–126r Bl. 126r–130v Bl. 130v–132v Bl. 133r–135v Bl. 135v–137r Bl. 137v–169v

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Passionstraktat ›Do der minnenklich got‹ ›Frankfurter Würzgärtlein‹ Peregrinus (de Oppeln): Sermo de nativitate Christi dt. Bernhard von Clairvaux: Sermo de nativitate Christi dt. anonyme Predigt von der Geburt Christi Lesung von der Geburt Christi ›Das zwölfjährige Mönchlein‹ ›Frankfurter Würzgärtlein‹ Peregrinus (de Oppeln): Sermo de nativitate Christi dt. Bernhard von Clairvaux: Sermo de nativitate Christi dt. anonyme Predigt von der Geburt Christi Lesung von der Geburt Christi leer

Lit.: Gerhardt Powitz/Herbert Buck: Die Handschriften des Bartholomaeusstifts und des Karmeliterklosters in Frankfurt am Main (Kataloge der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. 3,II). Frankfurt a. M. 1974, S. 116–119; Albert Viktor Schelb: Die Handschriftengruppe ›Do der minnenklich got‹. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Passionsliteratur. Freiburg i. Br. 1972, S. 68–73.

Die Handschrift lässt sich in zwei thematische Teile gliedern, die jeweils einem Herrenfest zugeordnet sind: Passion (Bl. 2r–92r) und Advent bzw. Weihnachten (Bl. 92r–137r). Der Passionstraktat macht etwa zwei Drittel des Umfangs der ganzen Handschrift aus – bei den Texten des Weihnachtsteils handelt es sich dagegen um eine Sammlung kürzerer Texte, die bis auf das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ doppelt überliefert sind. Auf diesen besonderen Umstand wird später zurückzukommen sein. Zunächst stehen jedoch die Textgestalt und Kontextualisierung der Verserzählung in dieser Handschrift im Zentrum. Die Textgestalt des ›Zwölfjährigen Mönchleins‹ weicht in der Handschrift F deutlich von der älteren Handschrift S ab. Es finden sich Modernisierungen und Ersetzungen durch Synonyme, z.B. V. 23 f.: Einen knaben herlich / Den zoch die frow my¨nneklich (S) vs. eyn knaben der was su ´berlich, / den zoge sie gar tu ´gentlich (F); V. 33: Dar nach min hertz gar sere topt (S) vs. dar noch mein hertze verlangen hat (F); V. 234 ff.: Din reini muo ter hat dich mir / Mit ly¨b mit sel ergeben / E du gewunt ie menschen leben (S) vs. dein lieb mu ´tter hat dich mir / noch alle meines hertzen gy¨re, / mit leip vnd selen ergebben, / ehe du ´ gewondest das leben (F). In

im 2. Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts und setzt sich erst im 2. Viertel durch, vgl. Moser: Frnhd. Grammatik I.1, S. 158. Diese Beobachtungen machen eine Entstehung der Handschrift im rheinfränkischen (Frankfurter?) Raum im 1. Drittel des 16. Jahrhunderts wahrscheinlich. Der zeitgenössische braune Kalbslederband weist Streicheisenmuster und Einzelstempel aus einer Frankfurter Werkstatt auf, die im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert vor allem für Klöster gearbeitet hat (vgl. Powitz/Buck: Die Handschriften, S. 116).

362 | VI Überlieferungskontexte 2 monastischer Perspektive besonders bedeutungstragend sind die konsequenten Ersetzungen von mu ´nch, mu ´nchli (S) durch bru ´der, bru ´derlin (F) und mu ´nchen kloster durch gey¨stlich kloster. Von der Ausbildung des Knaben im Kloster (V. 32; 38 ff.) heißt es in S: Wurd er die buo ch gelert […] Zehant lerte man es da / Beide singen vnd och lesen / Vnd da by¨ rein vnd ku ´sch wesen; in F ist dies geändert zu: vnd au ´ch in der helligen schrifft gelert […] zu ´hant larte man yne da / beyde singen vnd lesen, / vnd eynen gu ´tten bru ´der wesen. Die (klerikale) Buchgelehrsamkeit, die S betont, wird in F auf die Kenntnis der Heiligen Schrift eingeschränkt bzw. spezifiziert; das formelhafte rein vnd ku ´sch von S wird in F durch das in einem monastischen Kontext wohl bedeutsamere eyn gu ´tte[r] bru ´der wesen ersetzt. Auch die Lehre des Abtes, wie die Mönche sich im Advent verhalten sollen, erscheint in F in veränderter Gestalt (V. 70, 105): So soltu vil vasten vnd betten […] beide vasten vnd och betten (S) vs. du ´ salt betten vnd castien dich […] bey¨de wachen, fasten vnd betten (F). Während die Andachtsübungen in S auf das Fasten und Beten beschränkt sind, kommen in F Selbstkasteiungen und Nachtwachen hinzu. Für diese vielleicht stärkere Anbindung an die Lebenswelt klösterlicher Rezipienten wird auch ein logischer Bruch in Kauf genommen: Auf den Versanfang bey¨de folgen nicht wie in S zwei, sondern drei Dinge. Besonders aufschlussreich für die Bearbeitungstendenz der Version F ist die Beschreibung der Kommunion des Mönchleins vor seinem Tod (V. 268 f.): Do das jung mu ´nchlin / Empfieng das brot lebendig (S) vs. darnoch das innig bru ´derlin zart, / mit gottes leichnam berichtet wart (F). In F werden einerseits Begriffe verwendet, die im frühen 16. Jahrhundert wohl geläufiger waren (gottes leichnam); andererseits wird mehr Wert auf die emotional berührende Wirkung des Textes gelegt (innig, zart). Die auf emotionale Anteilnahme ausgerichtete Erzählstrategie der Version F zeigt sich auch in der Szene, in der das Mönchlein der Klostergemeinschaft vom Wunder der Erscheinung berichtet (V. 212 f.). In S steht an dieser Stelle lediglich: Zehant der su ´ssen mere / Es do der samnung verjach. In F dagegen wird das ganze Ereignis in direkter Rede des Mönchleins noch einmal wiedergegeben. Diese 68 Verse umfassende Nacherzählung enthält kaum neue Motive, es wird lediglich in der ersten Person paraphrasiert, was vorher in der dritten Person erzählt wurde. Diese Wiederholung mag pleonastisch erscheinen, der beabsichtigte Effekt ist aber wohl eine Intensivierung der Identifikation und somit des Nachvollzugs der Transzendenzerfahrung durch die Rezipienten. Die Bearbeitungstendenz der Version F schlägt sich auch deutlich in der Figurenzeichnung nieder. Während das Mönchlein in S eine vorbildliche Figur ist, der als Lohn für ihren Dienst die Erscheinung des Jesuskindes zuteil wird, steht in F eine Deutung der Erscheinung als Gnadenakt Gottes im Vordergrund. Dies spiegelt sich etwa in der Rede des Abtes zum Mönchlein nach dem Verschwinden des Jesuskindes (V. 220 ff.):

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹

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Handschrift S

Handschrift F

Nun gang wider in die zelle din Vss dem kore sunder mit40 Sit din werk zuo aller zy¨t So recht volkomen sint. Villicht findestu das kint Dem alle wunder sint erkant

gang widder in die zellen dein vnd lasz leyt vnd tru´ren sein. ich wil got von himmelreich mit den bru´dern bitten vor dich, das er widder wolt schicken zu´ dir das nawe geborne kindelin noch deiner begirde, dem alle wonder sint bekandt.

Die Gnade Gottes und die Fürbitte der Klostergemeinschaft ersetzen in den Plusversen von F die vollkommenen Werke des Mönchleins. Diese Tendenz zur Relativierung des persönlichen Verdienstes findet sich auch bei der Schilderung des Todes des Mönchleins (V. 276 ff.): Handschrift S

Handschrift F

Wol vff reine seile trut, Sprach der su´sse Jhesus Crist, Sit du so vollekomen bist, An edelkeit du bist genesen: Du solt noch hu´t by¨ mir wesen, Gekrönt in mines vatters rich.

sein sele wart da von got entphangen, noch y¨me was sein begirlich verlangen. Got sprach zu´ y¨me: du´ bist gewesen,41 mit mir saltu´ nu´n ewiglich wesen, dich frawen mit der engel schare, der eppel scheiben hien vnd dar.

Die Rede Jesu an den sterbenden Knaben stellt in S eine Steigerung der Rede des Abtes dar: Beide attestierten dem Mönchlein ein vorbildliches Leben, als dessen Belohnung die Erscheinung des Jesuskindes bzw. die sofortige Aufnahme in den Himmel erfolgt, die durch die Anspielung auf den Bibelvers Lc 23,43 angedeutet wird. Für seine Verdienste erhält das Mönchlein außerdem eine himmlische Krone. In F sind dagegen alle Hinweise auf die eigenen Verdienste des Mönchleins getilgt. Jesus verspricht nicht eine sofortige Aufnahme in den Himmel, sondern ewige Freude in der Schar der Engel und ein ewig fortgesetztes kindliches Spiel mit dem Apfel. Die Wiederaufnahme dieses emotional berührenden Motivs macht die Tendenz der Version F zur Emotionalisierung zusätzlich deutlich. Nicht die Vorbildlichkeit, sondern gerade die rührende Naivität der Figur ist es, die hervorgehoben wird. Im Zuge der Relativierung der persönlichen Qualitäten des Mönchleins gewinnt die Klostergemeinschaft an Bedeutung. Das Mönchlein erscheint in F nicht mehr so sehr als herausragendes Individuum, sondern eher als Mitglied einer Gemeinschaft, die an der Gnade teilhat, die ihm widerfährt. In diese Richtung kann bereits die Wiedererzählung der Transzendenzerfahrung in direkter

40 Richtig wohl: nit. 41 Richtig wohl: genesen.

364 | VI Überlieferungskontexte 2 Rede gedeutet werden, die mit einer direkten Adresse an die Mitbrüder beginnt (nu ´n horent lieben bru ´der mein). Besonders deutlich wird diese Umakzentuierung jedoch bei der Grablegung des Mönchleins (V. 282 ff.): Handschrift S

Handschrift F

Do ward das mu´nchli loblich Von den engelschen knaben Vor dem altar begraben. Mit ir gesang offembar Die sel luter vnd klar o Fur mit ir schöpfer von dan. Dis wundret frowen vnd o´ch man, Vernomen an Cristes nacht.

also wart das bru´derlin zu´ hant, als sein todt wart bekant, von den brudern, die man mogt haben, in den chore vor den altar begraben. Mit gotlichem lopgesang wart got gegebben dang, das er dis wonder het erzey¨gt, gnediglich vor vns erey¨get. Vff die hellige cristnacht ist dis gescheen.

In S wird das Mönchlein von Engeln begraben und seine Seele mit Engelsgesang in den Himmel geleitet. In F dagegen sind es die gerade anwesenden Klosterbrüder, die den Toten begraben, und die Klostergemeinschaft – nicht der Engelchor – dankt Gott mit Lobgesängen für die erwiesene Gnade des Wunders. Die auf ein gemischtes Publikum hindeutende Floskel frowen vnd ´ och man ist ersetzt durch das Pronomen vns, wodurch auch die Rezipienten des Textes in die Gemeinschaft einbezogen werden. Die Varianten von F gegenüber der in S überlieferten älteren Version lassen neben der erwartbaren Modernisierung eine Akzentuierung der emotionalen Dimension der Geschichte erkennen, die mit einer Relativierung der individuellen Verdienste des Protagonisten und seiner stärkeren Einbindung in die klösterliche Gemeinschaft einhergeht. Die Anknüpfungspunkte für monastische Rezipienten werden dadurch hervorgehoben, und es ist vorstellbar, dass die Bearbeitung in einem monastischen Kontext erfolgte. Mit Sicherheit lässt sich das allerdings nicht sagen, da die Handschrift F an den von größeren Änderungen betroffenen Stellen keine Korrekturen oder Fehler aufweist, die darauf hindeuten würden, dass die Bearbeitung während des Abschreibevorgangs entstand. Möglicherweise gelangte das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ schon in früheren Tradierungsstufen in monastische Kontexte, wurde dort bearbeitet und nach einer derartigen Vorlage in F abgeschrieben. Festzuhalten bleibt jedoch trotz dieser Unsicherheit, dass die Textgestalt des ›Zwölfjährigen Mönchleins‹ in der monastisch geprägten Handschrift F Varianten aufweist, die für diesen Rezeptionskontext besonders geeignet erscheinen. Dies führt zur Kontextualisierung der Erzählung in der Sammlung von F. Die thematische Verbindung ist hier deutlich enger als in der älteren Handschrift S: Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹, das eine Jesuskind-Erscheinung an Weihnachten erzählt, bildet den Schluss einer Sammlung von Weihnachtstexten. Der erste Text dieser Sammlung, das hier unikal überlieferte sog. ›Frank-

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹

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furter Würzgärtlein‹,42 ist eine ursprünglich in Reimpaarversen verfasste allegorische Dichtung. Die Reime sind aber über weite Teile so zerstört, dass sich die Versform nicht mehr zuverlässig rekonstruieren lässt. Der Text steht in der Tradition der im Spätmittelalter verbreiteten Gartenallegorese. Im ›Frankfurter Würzgärtlein‹ wird das Herz des Gläubigen mit einem Garten verglichen, in dem die Seele auf die Ankunft ihres Bräutigams, Christus, wartet: Ich han erdacht ein wu ´rtzgertelin, das mu ´ß an dem hertzen sein. Das sal die sele bereyten vnd Ihesu ´m, das liebe kindelin, darin leyten. Vnd sal yme der blomen zu ´ einem krantz gebben, so gibt er yr da widder das ewig leben (Bl. 92r/v). Am Ende des Textes steht die Vereinigung des Bräutigams und der Seele im Garten. Dies wird mit einer Mahnung verknüpft, die kurze Zeit auf dieser Welt nicht in Sünden zu verbringen, sondern den Garten (also das Herz) rein zu bewahren, um danach mit Christus im ewigen Leben vereinigt zu werden. Auf diesen Text folgen drei Predigten, in denen Ankunft und Geburt Christi thematisiert werden. Die erste, Peregrin von Oppeln zugeschrieben,43 behandelt die Bibelstelle Is 9,6: Puer natus est nobis et filius datus est nobis44 und beginnt mit den Worten: Hudte werden vns gesagt vnd verku ´ndiget gar herliche, lobliche, achtbare mere, vnd doch den allermeyst, die da geerbet han in dissem adu ´ent, das ist in disser helligen zu ´ku ´fft vnsers lieben herren Ihesu Christi, vnd die das inniglichen begert haben, vff das sie yne sehen mogen, vnd sich gar wirdiglich darzu ´ bereydt haben mit lu ´ter beicht vnd mit warer ru ´we yrer su ´nde, vff das sie yne entphangen mogen (Bl. 99r). Auch dieser Text behandelt die innerliche und äußerliche Vorbereitung des Gläubigen auf die Ankunft Christi. Das hier thematisierte Sehen und Empfangen Jesu erinnert an das Motiv des zwölfjährigen Mönchleins, das Jesus tatsächlich in seiner Zelle empfängt. In der zweiten Predigt, einer deutschen Übersetzung einer Predigt Bernhards von Clairvaux,45 wird die Demut Jesu hervorgehoben, der nicht in Jerusalem wie ein Königssohn geboren wurde, sondern unter ärmlichen Umständen im unbedeutenden Bethlehem. Auch die dritte Predigt hebt Armut und Leiden des Jesuskindes hervor, das im Winter, im Stall, in der dunklen Nacht und in der Fremde geboren wurde.

42 Vgl. Schmidtke: Frankfurter Würzgärtlein. Zur Handschrift: Schmidtke: Studien, S. 19, 44 f. Vgl. auch Kap. II.2.3. 43 Vgl. Johann Baptist Schneyer: Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters. Für die Zeit von 1150–1350. 11 Bde. Münster 1969–1990, Bd. 4, 549, Nr. 11. 44 Ein Kind ist uns geboren, und ein Sohn ist uns gegeben. 45 Bernard de Clairvaux: Sermons pour l’anne´e. Texte latin des S. Bernardi opera par J[ean] Leclercq, H[enri] Rochais et Ch[arles] H. Talbot. Hrsg. von Marielle Lamy/Marie-Imelda Huille/ Aime´ Solignac. Bd. I.1 (Œuvres comple`tes XV.1; Sources chre´tiennes 480). Paris 2004, S. 196–211.

366 | VI Überlieferungskontexte 2 Auf die Predigten folgt eine Lesung, in der die Weihnachtsgeschichte nacherzählt wird. Dabei sind verschiedene apokryphe Motive in den biblischen Bericht eingeflochten, etwa ein Gebet Marias zum neugeborenen Kind, das Leiden des Kindes unter der Kälte und das Motiv von Ochs und Esel, die vor der Krippe niederknien, um ihren Schöpfer zu ehren. Die Texte behandeln das Thema der Advents- und Weihnachtszeit in unterschiedlichen Perspektiven: Die allegorische Dichtung schildert die Verbindung der einzelnen Seele mit Christus und fächert ein Tugendsystem auf; die Predigten und die Lesung vermitteln Bibelwort und Heilsgeschichte; die Erzählung vom Mönchlein zeigt im narrativen Rahmen eine exemplarische Verwirklichung der geforderten Vorbereitung auf die Ankunft Christi und ermöglicht den emotionalen Nachvollzug der Transzendenzerfahrung. Durch die in der Handschrift eingetragenen Überschriften wird den Texten nicht nur ein Platz im Kirchenjahr, sondern auch im klösterlichen Tagesablauf zugewiesen. Die Überschrift des ›Frankfurter Würzgärtleins‹ lautet: Hernoch folget ein andechtigs wurtzgertelin, das solt yr Christo Ihesu ´, vnserm herren, euwerm gemaheln, zu ´ lop vnd eren vf den helligen Christ obent zcu disch lesen (Bl. 92r). Man kann wohl davon ausgehen, dass auch die anderen Texte, einschließlich des ›Zwölfjährigen Mönchleins‹, zur Tischlesung verwendet wurden. Die Handschrift F lässt sich durch die Wasserzeichen auf das 1. Drittel des 16. Jahrhunderts datieren und durch Schreibsprache und Einbandstempel im rheinfränkischen, vielleicht Frankfurter Raum lokalisieren. Die Bemerkung zur Tischlesung weist auf einen klösterlichen Kontext, die Verwendung der Volkssprache sowie die Brautmystik des ›Frankfurter Würzgärtleins‹ könnten für ein Frauenkloster sprechen. Über die genaue Provenienz der Handschrift ist allerdings nichts bekannt.46 Wenn auch keine konkrete Klostergemeinschaft als Rezeptionsumfeld der Sammlung ausgemacht werden kann, gibt ein besonderer kodikologischer Umstand dennoch einen Hinweis darauf, auf welchen Wegen solche Texte im monastischen Umfeld zirkuliert haben könnten. Die Handschrift enthält auf Bl. 121r–137r, nach ein paar leer gebliebenen Blättern, die Texte des Weihnachtsteils in leicht anderer Textgestalt ein zweites Mal, allerdings ohne das ›Zwölfjährige Mönchlein‹. Die Schrift dieses Teils ist eine für das 16. Jahrhundert typische Kursive, während es sich bei der auf höherem kalligraphischem Niveau stehenden Schrift des Passions- und ersten Weihnachtsteils um eine konservative Buchschrift handelt, die auf Elemente der

46 Vor der Säkularisierung 1802 befand sich die Handschrift im Besitz des Frankfurter Bartholomäusstifts, vgl. Schelb: Handschriftengruppe, S. 68. Zu den Handschriften des Bartholomäusstifts vgl. Powitz/Buck: Die Handschriften, S. VIII–XXVI. Wann die Handschrift ins Bartholomäusstift gelangte, ist nicht bekannt.

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ |

367

Textualis des 15. Jahrhunderts zurückgreift. Die Schriften weisen aber trotz des unterschiedlichen Niveaus viele Ähnlichkeiten in den Buchstabenformen auf, weshalb Schelb und Powitz/Buck die Frage offen gelassen haben, ob es sich um einen oder zwei Schreiber handle.47 Einige abweichende Schreibgewohnheiten fallen auf: So wird im ersten Teil eher y in yr, steynern und heylsam geschrieben, während im zweiten Teil ir und steinern steht; im ersten Teil wird zu meist mit u, im zweiten mit w geschrieben. Dass der zweite Weihnachtsteil wohl nicht ursprünglich zur Anlage der Handschrift gehörte, zeigt sich neben dem unterschiedlichen Schriftniveau auch im Umstand, dass nur dieser Teil auf zwei Quinionen eingetragen wurde, während die Handschrift sonst aus regelmäßigen Quaternionen besteht.48 Der größere Schriftraum und beschnittene Marginalien in den Quinionen deuten außerdem darauf hin, dass die beiden Lagen ursprünglich ein größeres Format hatten und erst bei der Bindung mit dem Hauptteil der Handschrift zusammengefügt und beschnitten wurden. Es handelt sich bei dem zweiten Weihnachtsteil aber dennoch nicht um einen ganz selbständigen Faszikel, denn das in diesen Lagen verwendete Papier (Wz. Krone 2) wurde neben einem anderen Papier (Wz. Krone 1) auch in den Lagen 1, 2, 4, 8–10 des Hauptteils der Handschrift verwendet (die Lagen 3, 5–7, 11–15 und 18–21 enthalten nur Papier mit dem Wz. Krone 1). Angesichts der abweichenden Textgestalt der beiden Weihnachtsteile stellt sich die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander. Verschiedene Gründe sprechen dafür, dass der auf den Quinionen stehende zweite Teil die ursprünglichere Fassung bietet. Im zweiten Teil werden etwa die Predigten jeweils mit der lateinischen Perikope und ihrer deutschen Übersetzung eröffnet, während ihnen im ersten Teil nur die deutsche Übersetzung der Perikope beigegeben ist.49 Im Fall der aus dem Lateinischen übersetzten Bernhard-Predigt zeigt ein Vergleich, dass die Fassung im zweiten Teil dem lateinischen Ausgangstext näher steht als die Fassung im ersten Teil:

47 Vgl. Schelb: Handschriftengruppe, S. 69; Powitz/Buck: Die Handschriften, S. 116. 48 Lagen: (IV–1)7 + 14 IV119 + 2 V139 + 3 IV163 + (IV–2)169. WZ: Lagen 1, 3–8, 10–15, 18–21: Krone 1, Typ Piccard IX 49 (1524–1530); Lagen 1–2, 4, 8–10, 16–17: Krone 2, Typ Piccard VII 27b (1526–1535). 49 Beispiel: der Anfang der Bernhard-Predigt: Sonuit vox leticie in terra nostra, vox exultationis et salutis in tabernaculis peccatorum. Disse wort hab ich vor mich genomen in dem latin, die beschreibt vns der suße lerer Bernhardus, vnd ludten im deuschen also: Die stime der freude die hat geklungen in vnserm land, die stime der freude vnd der seligkeit ist gehort in den heusern der sunder (Teil 2, Bl. 130v); Die stime der freude die hat geklungen in vnserm land, die stime der freude vnd der seligkeit ist gehort in den heusern der sunder (Teil 1, Bl. 104v).

368 | VI Überlieferungskontexte 2 Bernhard: Sermo […] sed tu magis, o homo

50

Teil 2 (Bl. 130v/131r)

Teil 1 (Bl. 104v)

ader aller meist du mensch

vnd allermeyst du andechtigs hertz

Jhesus Christus, gottes sone, Jhesus Cristus, gottes sune, vnser Iesus Christus, Filius Dei, nascitur in Bethlehem Iudae51 der wirt geborn zw Betlehem lieber her, wirt geborn zu Iude Betlehem Iude Quid annuntiari dulcius poterat? Quid delectabilius commendari?52

was mag sußlicher verkundiget werden vnd lustlicher geprediget werden?

was mag hey[l]samer verkundiget werden?

Diese Beispiele sind deutlich genug, um den ersten Teil als Bearbeitung zu identifizieren, bei der semantische Ersetzungen (z.B. mensch/andechtigs hertz), Zusätze und Auslassungen vorgenommen wurden. Fälle von typischen Abschreibfehlern im ersten Teil, wie beispielsweise übersprungene Worte, bestätigen diesen Eindruck.53 Weitere Indizien dafür, dass im ersten Teil der zweite Teil als Vorlage benutzt wurde, sind marginal eingetragene Korrekturen im zweiten Teil, die im ersten Teil in den Text integriert wurden. Auf Bl. 121r und 123r wurde im zweiten Teil beim Satz: das die kra ´ten vnder die selben icht gehen das Wort icht unterstrichen und am Rand durch nit ersetzt, auf Bl. 123v wurde beim Satz: Sie nanten mich eines schzimmermans sone das Wort schzimmermans unterstrichen und am Rand durch schmiddens ersetzt. Im ersten Teil steht an den entsprechenden Stellen auf Bl. 92v: das die kraten nit vnder dieselben gehen, auf Bl. 95r: das die kraten vnder dieselben nit gehen, und auf Bl. 96r: Sie nanten mich eines schmiddes su ´ne. Weitere Abweichungen, die über das Verhältnis von Teil 1 und 2 Aufschluss geben, finden sich in den Überschriften der einzelnen Texte. Teil 2

Teil 1

Dis ist ein wu´rtz gertelin, das plegen mir zcu lesen vff den helligen christ obent, das solt ir e auch lesen zcu disch Ihesu´, eu´werm gemaln, zw eren vnd zcw lope (Bl. 121r)

Hernoch folget ein andechtigs wurtz gertelin, das solt yr Christo Ihesu´, vnserm herren, euwerm gemaheln, zu´ lop vnd eren vf den helligen Christ obent zcu disch lesen (Bl. 92r)

50 Aber du am meisten, oh Mensch. 51 Jesus Christus, der Sohn Gottes, wird in Bethlehem in Judaea geboren. 52 Was war süsser zu verkündigen, was angenehmer anzuvertrauen? 53 Beispiele aus der Bernhard-Predigt: des sele da nit zwflusß von dissen honigflussigen worten, was mag […] (Teil 2, Bl. 130v/ 131r); des sele nit da zufluße von dissen sußten vnd heylsamen, was mage […] (Teil 1, Bl. 104v); aus dem ›Frankfurter Würzgärtlein‹: vnd ich hatt doch nit sunde gethan (Teil 2, Bl. 125r); vnd ich doch key¨ne gethan (Teil 1, Bl. 97v).

1 Das ›Zwölfjährige Mönchlein‹

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Vff den helligen crist tag leset disse sermon oder predige, die ich geschreben hab vß dem bu´ch genant Peregrinu´s Magnu´s (Bl. 126r)

Ein andechtige sermon von der wirdigsten helligsten geburt vnsers lieben herren, geschreben vß dem Peregrino Magno (Bl. 99r)

Hie folgt hernoch ein ander sermon, die beschreibt der suß lerer sant Bernhart, vnd ist gar andechtig zw hu´ren, vnd mir lesen sie au´ch vff den helligen Christ obent oder vff den tag, wan sie vch gefelt, so leset sie au´ch gott zu´n eren zw tisch (Bl. 130v)

Ein ander andechtig sermon von der gebu´rt vnsers lieben herren, welche beschreibt der gotlich vnd su´ße lerer sanctus Bernhardu´s (Bl. 104v)

Disse sermon mogte ir au´ch lesen zw disch die Cristhelligen tage (Bl. 133r)

Ein ander andechtig sermon von der helligsten geburt vnsers lieben herren (Bl. 107r)

Hie folgt widder ein su´berlich lection von der geburt Christi (Bl. 135v)

Eyn andechtig lection von der geburt vnsers lieben herren (Bl. 111r)

[fehlt]

Eyn schone andechtig geschicht von eynem geystlichen bruder, lieblich zu lesen (Bl. 112v)

Die Überschriften des zweiten Teils sind aus der Perspektive einer Person geschrieben, die zu einer Gruppe (mir) gehört, bei der es sich vermutlich um eine Klostergemeinschaft handelt, worauf die Thematisierung der Tischlesung hindeutet. Diese Person wendet sich an eine andere, wohl ebenfalls klösterliche Gruppe (ir), der sie Anweisungen zur Lektüre der Texte im Rahmen der Tischlesung erteilt. In den Überschriften des ersten Teils wurde diese Anweisung nur für den ersten Text übernommen. Dieser Befund könnte darauf hindeuten, dass die im zweiten Teil erhaltene ursprünglichere Fassung aus einem anderen Kloster in das Kloster gelangte, aus dem die Handschrift stammt. Diese situative Verortung wurde beim Abschreibvorgang abgeschwächt, die Texte wurden dem Gebrauch im eigenen Kloster angepasst (z.B. durch das Weglassen der lateinischen Perikopen). Ein solcher Austausch könnte zwischen zwei befreundeten (Nonnen-) Klöstern bestanden haben; die konkreten Anweisungen und lateinischen Perikopen könnten aber auch ein Indiz dafür sein, dass ein Beichtvater den ihm anvertrauten Nonnen die Texte geschickt hat. Die Verwendung des gleichen Papiers und der gleichen (oder sehr ähnlichen) roten Tinte im ersten und zweiten Teil sprechen aber dagegen, dass es sich bei den Quinionen um einen Faszikel handelt, der an einem anderen Ort von einem anderen Schreiber hergestellt wurde als der Rest der Handschrift. Auch die Unterschiede der Schrift und der Lombardengestaltung lassen sich mit dem höheren kalligraphischen Niveau und dem konservativen Erscheinungsbild des ersten Teils erklären. Man muss also wohl von einem Schreiber ausgehen, der zunächst den zweiten Teil in Kurrentschrift geschrieben hat und dann für die Reinschrift im ersten Teil eine Schriftart und ein Layout imitierte, wie sie in Handschriften des 15. Jahrhunderts geläufig sind, weil er damit vielleicht einen Repräsentationsanspruch verband. Eine Erklärungsmöglichkeit für diesen zunächst

370 | VI Überlieferungskontexte 2 befremdenden Befund ist, dass der Schreiber (oder wohl eher: die Schreiberin), ein Mitglied der Klostergemeinschaft, die in den Überschriften des zweiten Teils angesprochen wird, eine von außen (vom Beichtvater, aus einem anderen Kloster) stammende Vorlage erhielt und diese zunächst schnell und ohne Veränderungen abschrieb (zweiter Teil). Erst in einem zweiten Schritt wurde diese Abschrift dann von derselben Person einem Korrektur- und Bearbeitungsprozess unterzogen und ins Reine geschrieben (erster Teil). Die Gründe für diesen doppelten Abschreibprozess können vielfältig sein: Vielleicht musste die Vorlage zurückgegeben werden; vielleicht war eine Einbindung in einen größeren Kontext und eine damit verbundene Reinschrift erst gar nicht vorgesehen. Im Zuge der Reinschrift wurde den fünf Texten des zweiten Teils wohl der Passionstraktat vorangestellt und der Weihnachtsteil um das ›Mönchlein‹ erweitert. Die beiden Quinionen mit der ersten Abschrift wurden dann mit eingebunden, vielleicht aus Interesse an der ursprünglichen Textfassung, vielleicht auch ohne reflektierten Grund. Die Anlage der Handschrift F dokumentiert somit indirekt den Austausch von geistlichen Texten zwischen verschiedenen klösterlichen Gemeinschaften und die Anpassung der Vorlagen an die jeweiligen Bedürfnisse des Konvents beim Abschreiben. Auf eine ähnliche Weise sind wohl auch die Varianten der Version F des ›Zwölfjährigen Mönchleins‹ entstanden. Die Überlieferung des ›Zwölfjährigen Mönchleins‹ in dieser Handschrift zeigt, wie eine vielleicht nicht ursprünglich für ein monastisches Publikum verfasste geistliche Verserzählung adaptiert, neu akzentuiert und in die monastische Lebenswelt eingebunden werden konnte.

2 Ein Vergleichsbeispiel: ›Die Sultanstochter im Blumengarten‹ 2.1 Von der Heidin zur vorbildlichen Äbtissin In der ›Sultanstochter im Blumengarten‹ (400 V., 14./15. Jahrhundert)54 spielt die monastische Lebenswelt ebenfalls eine bedeutende Rolle – die heidnische Protagonistin wird zur Äbtissin eines Nonnenklosters. In Babylon lebt ein reicher heidnischer Herr, dessen schöne Tochter jeden Tag in ihrem Garten die Blumen bewundert. Als sie mit einem edlen Herrn vermählt werden soll, bittet

54 Vgl. Nigel F. Palmer: Die Sultanstochter im Blumengarten. In: 2VL 9 (1995), Sp. 497–502 und 2 VL 11 (2004), Sp. 1468. Ausgabe: Johannes Bolte: Die Sultanstochter im Blumengarten. ZfdA 34 (1890), S. 18–31.

2 Ein Vergleichsbeispiel: ›Die Sultanstochter im Blumengarten‹

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sie den Vater um Erlaubnis, vor der Hochzeit noch einmal allein in ihrem Garten spazieren gehen zu dürfen. Dort kommt sie beim Anblick einer Lilie zur Überzeugung, dass derjenige, der diese Blumen erschaffen habe, der wahre Gott sein müsse, und entschließt sich, nur ihm zu dienen. Daraufhin erscheint ihr ein Engel, der so schön ist, dass sie ihn erst für Gott selbst hält. Er aber erklärt, seine Schönheit sei im Vergleich zu derjenigen seines Herrn wie ein Tropfen im Rhein. Die Sultanstochter fragt, wie sie dem Gott der Lilien dienen könne. Der Engel gebietet ihr, keusch zu bleiben. Erschrocken erzählt sie dem Engel, dass sie noch heute verheiratet werden soll. Der Engel befreit sie aus dieser misslichen Lage, indem er sie in kürzester Zeit dreitausend Meilen von ihrer Heimat wegbringt. Als das Verschwinden der Sultanstochter bekannt wird, zieht der Bräutigam zornig wieder ab. Derweil belehrt der Engel die Jungfrau auf der Reise über die Vorzüge der Keuschheit und erteilt ihr christliches Grundwissen über die Inkarnation, die Passion und die Engelschöre. In der Kirche eines Nonnenklosters setzt er die Jungfrau vor dem Altar ab, gibt ihr einen in Goldbuchstaben geschriebenen Brief in die Hand, der ihre Herkunft erklärt, und lässt sie zurück, umgeben von einem hellen Schein. Als die Äbtissin des Klosters die Sultanstochter am frühen Morgen in der Kirche findet, glaubt sie erst, eine Marienerscheinung vor sich zu haben; gemeinsam mit den anderen Klosterfrauen empfängt sie die Jungfrau mit einem ›Salve regina‹. Als sich das Missverständnis durch den Brief des Engels aufgeklärt hat, wird der Bischof der nächstgelegenen Stadt herbeigerufen, der das Wunder bestätigt, die Jungfrau tauft und als Nonne einkleidet. Sie erhält christliche Unterweisung und zeigt sich bald als so gelehrt und tugendhaft, dass man sie nach dem Tod der Äbtissin zu deren Nachfolgerin wählt. Dreißig Jahre lang führt sie das Kloster aufs Beste durch ihr eigenes vorbildliches Leben und ihre vom Engel erhaltene Lehre. Dann erscheint ihr der Engel erneut und verkündet ihr, dass sie in drei Tagen sterben werde. Nach ihrem Tod wird sie im Reich des Liliengottes zum Tanz der Jungfrauen geführt. Die Nonnen des Klosters beklagen ihren Tod und begraben sie.

Die heidnische Sultanstochter erkennt den wahren christlichen Gott, obwohl sie nichts von ihm weiß: Der Garten bietet als irdesch paradiss (V. 16) die Möglichkeit dazu – der bekannte Topos der Natur als Buch, aus der auch unwissende oder ungelehrte Menschen Gotteserkenntnis gewinnen können.55 Vor der Erscheinung des Engels unterbricht der Erzähler die Narration mit einer Publikumsadresse: u nun merkent, wem got gena ´dig ist, / wem gnad von im geschechen sol, / dz kan er bald fu ´gen wol. / dz merk ich bi dem wunder wol, / wie es der selbun magt ergieng. / es was ir des mau ls vmb kainen spott, / ir gefiel recht wol der gilgen got, / ir kam von himel ain liechter schin, / got der wolt ir gena ´dig sin (V. 56 ff.). Die Entrückung der Sultanstochter erscheint als Gnade Gottes, mit der er die naive, objektgebundene Verehrung der unwissenden Sultanstochter belohnt. Insofern weist die Erzählung Parallelen zum ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ auf: Wie das Mönchlein sich durch das Schmücken der Zelle vorbereitet, verehrt die Sultanstochter die äußere Schönheit der Geschöpfe Gottes (Blumen); wie Gott dem Mönchlein in Gestalt des Jesuskindes erscheint, schickt er zur Sultanstochter einen Engel, dessen Schön-

55 Vgl. Rm 2,14 f. Zu diesem Topos vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948, S. 321–327.

372 | VI Überlieferungskontexte 2 heit alles überstrahlt: do siu ´ des engels ward gewar, / von siner schu ´ni si erschrak, / dz siu ´ vf der erde lag (V. 66 ff.). Aufgrund seiner Schönheit hält die Sultanstochter den Engel für Gott, doch er stellt dieses Missverständnis richtig mit dem Hinweis auf die noch größere Schönheit Gottes: junkfrow kluo g, gesich mich recht / und merk, wie ain tropf mu ´g gesin / gen dem mer vnd gen den Rin, / noch klainer ist die schu ´ni min / gen dem liebsten edeln herren min (V. 84 ff.). Diese Vorstellung überzeugt die Jungfrau, die verspricht, dem Engel gehorsam zu sein und nach seiner Forderung, keusch zu bleiben, in die Entführung einwilligt. Bei der Entrückung der Sultanstochter bedient sich der Erzähler eines Musters, das auch in weltlichen Erzählungen begegnet, etwa in der höfischen Liebesgeschichte ›Der Bussard‹.56 Dort wird von der Liebe eines englischen Königssohnes zu einer französischen Königstochter berichtet, die er bei seinem Studium in Paris durch seine Mitstudenten (ihre Brüder) kennenlernt. Die heimliche Liebe der beiden wird dadurch gefährdet, dass die Königstochter mit dem König von Marokko verheiratet werden soll. Die beiden Liebenden hecken nun einen Fluchtplan aus: Als der Bräutigam aus Marokko mit seinem Gefolge in Paris erscheint, zieht sich die Königstochter in einen Baumgarten zurück, wo sie sich mit ihrem Liebsten verabredet hat. Der englische Königssohn bringt schnelle Pferde mit, und die beiden können – im Tumult um die Ankunft des Königs von Marokko unbemerkt – aus Paris fliehen. Als die Abwesenheit der Braut auffällt und sie nirgends gefunden werden kann, erhebt sich großes Wehklagen. Bald wird jedoch eine allgemein akzeptierte Ausrede für ihr Verschwinden gefunden: Der junkvrouwen nieman envant, / ir ho ˆch gemuete gar verswant, / Si ha ˆten [alle] ja ˆmer unde leit: / wan daz in schiere wart geseit, / Daz si ein engel hæte hin / gezükket (dan), ˆ uf den gewin, / Durch daz ir reiner zarter lıˆp / nie[mer] solte werden mannes wıˆp. / Si spra ˆchen [alle]: »si ha ˆt uns der genomen, / von dem wir al(le) sint bekomen, / [Unde] der alliu ding beschaffen ha ˆt: / daz zürne nieman, daz ist mıˆn ra ˆt.« / Der künig von Marroch urloup nam, / der reit da ˆhin, da er har bekam. (V. 531 ff.). Während das Motiv von der Jungfrau, die von einem Engel entrückt wird, um ihre Keuschheit zu retten, in der ›Sultanstochter‹ den Erzählkern bildet und durchaus ernstgemeint ist, wird es im ›Bussard‹ lediglich vorgeschoben, um die Flucht eines weltlichen Liebespaares zu kaschieren. Die Königstochter von Frankreich flieht ja nicht vor ihrem Bräutigam, um ihre Keuschheit zu bewahren, sondern um einen anderen Mann zu heiraten. Insofern führt die Verwendung des Motivs in diesem Kontext das Motiv selbst ad absurdum – die Referenz darauf zeigt aber zugleich seine allgemeine Bekanntheit an. Auch die Reaktion der beteiligten Figuren auf das Verschwinden der Braut gestaltet sich unterschied-

56 Vgl. Hans-Friedrich Rosenfeld: Der Bussard (früher: Der Busant). In: 2VL 1 (1978), Sp. 1145–1148. Ausgabe: GA I, S. 337–366 und 569–571.

2 Ein Vergleichsbeispiel: ›Die Sultanstochter im Blumengarten‹

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lich: Im ›Bussard‹ führt die Erklärung zu einer gütlichen Einigung zwischen Vater und Bräutigam, in der ›Sultanstochter‹ jedoch zu Streit und Trauer: irem vatter er [der Bräutigam] do wider seit, / dz er in betrogen hett (V. 125 f.); ir vatter was ain trurig man / vnd tett im des von herczen nov t (V. 128 f.). Wie wenig Interesse der Erzähler diesen Figuren entgegenbringt, zeigt sich allerdings seinem lapidaren Abschluss des Erzählmusters von der entrückten Braut: Disen haiden su ´llen wir u o trurun lan / vnd wider zu der iunkfröwun gan (V. 132 f.). Erst auf dem Weg zum Kloster eröffnet der Engel der Sultanstochter auch einen intellektuellen Zugang zum christlichen Glauben. Er greift dabei ihre erste Hinwendung zu Gott wieder auf, indem er die Keuschheit des gilgen gottes kind (V. 143) nennt. Nach der wundersamen Reise mit dem Engel beginnt das klösterliche Leben der Sultanstochter, die zwar mit christlichem Grundwissen ausgestattet, in der neuen Umgebung aber dennoch fremd ist. In ihrem Abschiedsgespräch mit dem Engel betont sie das Ausmaß ihrer Liebe zum Liliengott, für den sie ihre Heimat verlassen hat: wan vatter vnd muoter vnd magen min / die lassen ich durch den willen din, / grossen richtum lav ss ich faren [...] vnd [gru ´ss] ov ch mir v die maget su ´ss, / von der du mir vil hast geseit, / die die ku ´nschait des ersten anfieng; / sag ir, durch ir kind sitz ich hie / vnd si allain gesessen, / si sol min nit vergessen; / dz zimpt iren gnav den wol, / wan ich nit waiss wav ich sol (V. 196 ff.). Die Angst und Verlassenheit der Sultanstochter, die sich in dieser Rede äußern, lädt erneut zur emotionalen Anteilnahme am Schicksal der Protagonistin ein. Die Sultanstochter fühlt sich in der neuen Umgebung nicht nur als Fremde, sie wird auch als solche wahrgenommen, wenn die Äbtissin des Klosters, die morgens früh in die Kirche kommt, sie für Maria hält. Voller Freude über die Gnade, die Maria dem Kloster durch diese Erscheinung erweist, weckt die Äbtissin die Nonnen und organisiert eine überstürzte Prozession: siu begund vor an hin gau chen, / nach ir was gau ch in allen, / si hettent sich nau ch erfallen. (V. 231 ff.). Diese für moderne Rezipienten komisch anmutende Beschreibung57 soll jedoch wohl nicht die Äbtissin diskreditieren, sondern die Wirkung der von einem göttlichen Licht umgebenen Sultanstochter betonen. Die Kommunikation zwischen der Sultanstochter und den Nonnen ist erst durch die Vermittlung des Bischofs, der den Brief des Engels lesen kann, möglich. Mit der darauffolgenden Taufe und Einkleidung der Sultanstochter beginnt ein exemplarisches klösterliches Leben. Die Sultanstochter lernt schreiben, lesen und singen und ist so tugendhaft, dass sie nach dem Tod der Äbtissin in deren Amt eingesetzt wird.

57 Eine vergleichbare, aber bewusst komisch inszenierte Situation findet sich in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹, als Segremors, der von Parzivals Ankunft erfahren hat und es kaum erwarten kann, sich mit ihm zu messen, über die Zeltschnüre im Hoflager des Königs Artus stolpert (V. 284,30–285,20).

374 | VI Überlieferungskontexte 2 Im Epilog der Erzählung werden die Keuschen gelobt und die Unkeuschen ermahnt, von der Sünde abzulassen. Die Publikumsadresse (dz sag ich mannen vnd wiben, / das si vil sta ´t dar an [an der Keuschheit] beliben, V. 388 f.) ist nicht spezifisch auf ein monastisches Publikum zugeschnitten. Der Ausdruck wibe ist zwar allgemein verwendbar, bei einem für Nonnen verfassten Text würde man aber eher iunkfrouwen oder vrouwen erwarten. Dies könnte darauf hindeuten, dass auch hier Anknüpfungspunkte sowohl für laikale als auch für monastische Rezipienten geboten werden sollen und der Text – ähnlich wie das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ – nicht primär oder vorrangig für ein monastisches Publikum geschrieben wurde.

2.2 Ausformungen des Erzählstoffs von der bekehrten Heidin Die Verortung der Verserzählung im literarischen Referenzrahmen zeigt, dass der Verfasser auch hier auf verbreitete Motive Bezug nehmen konnte: Der Erzählstoff von der (heidnischen) Jungfrau, die aus Bewunderung für die Schönheit der Blumen in Liebe zum christlichen Gott entbrennt und daraufhin in ein Kloster entrückt wird, ist in verschiedenen Ausprägungen bis in die Neuzeit hinein anzutreffen.58 Am nächsten steht der deutschen Verserzählung ein lateinisches Prosaexempel aus der Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen, Nr. 111 (Mitte 14. Jahrhundert). Der Anfang ist in beiden Fassungen sehr ähnlich, wobei der Handlungsort Babylon im lateinischen Exempel nicht genannt und die Protagonistin als Königstochter bezeichnet wird. Das Gespräch mit dem Engel ist in der Verserzählung etwas ausführlicher gestaltet, stimmt in den Grundzügen aber ebenfalls mit dem lateinischen Exempel überein. Im weiteren Handlungsverlauf beschränkt sich das lateinische Exempel jedoch auf die wichtigsten Handlungselemente: Der Engel führt die Jungfrau ins Land der Christen, setzt sie in einem Nonnenkloster vor dem Altar ab; die Nonnen halten sie erst für Maria; aufgrund des Briefes wird ihre richtige Identität erkannt, sie wird getauft und eingekleidet. Vom Klosterleben der Jungfrau, ihrer späteren Tätigkeit als Äbtissin sowie ihrem Tod wird im lateinischen Exempel nichts gesagt. Auch die Keuschheits- und Christenlehre, die der Engel der Jungfrau auf dem Weg ins Kloster erteilt, fehlt im Exempel. Angesichts der zahlreichen Ähnlichkeiten ist es denkbar, dass der Verfasser der deutschen Verserzählung direkten Bezug auf das lateinische Exempel (oder eine sehr ähnliche Fassung) genommen hat. Sollte dies der Fall sein, würden dadurch die Beobachtungen bestätigt,

58 Tubach 2095. Darstellung der Stoffgeschichte in Bolte: Sultanstochter, S. 25–31, und bei Palmer: Sultanstochter, Sp. 497–502.

2 Ein Vergleichsbeispiel: ›Die Sultanstochter im Blumengarten‹

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die bei der Interpretation der deutschen Verserzählung gemacht wurden. Die Zusätze und Ausarbeitungen, die die Verserzählung gegenüber dem lateinischen Exempel aufweist, bilden einerseits Anknüpfungspunkte für ein laikales Publikum (Auserzählen der weltlichen Vorgeschichte) und erleichtern andererseits die Identifikation mit der Protagonistin und den emotionalen Nachvollzug der Transzendenzerfahrung. Die emotionale Beteiligung der Rezipienten wird im Epilog der Verserzählung nutzbar gemacht, um auch die didaktische Funktion des Erzählten hervorzuheben – im Fall des lateinischen Exempels war eine solche Ausformulierung wahrscheinlich der Aktualisierung des Erzählstoffs in der Predigt vorbehalten.

2.3 Überlieferungskontexte der ›Sultanstochter‹ Die ›Sultanstochter‹ ist in zwei Handschriften mit vorwiegend geistlichem Profil aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts überliefert. Während die Entstehungsumstände und Provenienz der Handschrift E im Dunkeln liegen, befand sich die Handschrift B spätestens im frühen 16. Jahrhundert im Besitz des Augustinerchorfrauenstifts Inzigkofen, ist aber vielleicht teilweise schon im oder für das Kloster entstanden. Die ›Sultanstochter im Blumengarten‹ wurde also nachweislich (auch) in einem klösterlichen Umfeld rezipiert. 2.3.1 Die Handschrift B B

Berlin, Staatsbibl., Mgo 222

Papier · 225 Bll. · 13,5 × 10 · Schwaben · 4. Viertel 15. Jahrhundert Inhalt: A Bl. 1r–26v Johannes Müntzinger: ›Expositio super oratione dominica‹ dt. B Bl. 29r–87r ›Adonay‹-Paternoster-Auslegung Bl. 87r–97r Marienandacht C Bl. 100r–102r Mahnung zur Abkehr vom weltlichen Leben Bl. 102r–146r Marquard von Lindau: ›De fide‹ dt. D Bl. 148r/v ›Herzklosterallegorie‹ Bl. 148v–158v ›Stimulus amoris‹ (Auszüge) EF Bl. 160r–170v ›Die Sultanstochter im Blumengarten‹ Bl. 170v–171v ›Neun Stücke zur Übung der Tugend‹ (Füllsel von anderer Hand) G Bl. 174r–181r Jakob Sprenger: ›Statuten der Kölner Rosenkranzbruderschaft‹ H Bl. 182r–205v Marienmirakelsammlung IK Bl. 206r–209v Johannes Nider: Predigt Bl. 210r–211r Geistliches Lied (Wackernagel: Kirchenlied II,851) L Bl. 218r–221r Geistliches Lied (Wackernagel: Kirchenlied II,850) Bl. 221v–222v Indulgenzbulle des Papstes Johannes XXII. lat. Bl. 223r–225v ›Vom Nutzen des Leidens‹

376 | VI Überlieferungskontexte 2 Lit.: Werner Fechter: Deutsche Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts aus der Bibliothek des ehemaligen Augustinerchorfrauenstifts Inzigkofen (Arbeiten zur Landeskunde Hohenzollerns 15). Sigmaringen 1997, S. 107–111; Brand: Studien, S. 188 f.; Falk Eisermann: ›Stimulus amoris‹. Inhalt, lateinische Überlieferung, deutsche Übersetzungen, Rezeption (MTU 118). Tübingen 2001, S. 482 f.; Studer: Exempla, S. 178 f.

Die Handschrift besteht aus neun ursprünglich selbständigen Faszikeln, die von elf Händen geschrieben wurden.59 Von der Schreibsprache her ist eine Entstehung in der Nähe des Stiftes Inzigkofen denkbar,60 ein direkter Zusammenhang mit diesem Kloster (durch Widmungen u.ä.) ist für den Entstehungszeitpunkt jedoch nicht nachzuweisen. Die Rezeption der Handschrift im Kloster ist erst durch den Besitzeintrag aus dem frühen 16. Jahrhundert gesichert. Bei der Zusammenbindung der Faszikel wurde auf thematische Gemeinsamkeiten geachtet, wie etwa die beiden aufeinander folgenden Vaterunser-Auslegungen am Anfang zeigen. Verschiedene Texte richten sich speziell an ein monastisches Publikum. Der kurze Traktat ›Neun Stücke zur Übung der Tugend‹ spricht gaischliche menschen (Bl. 170v) an, die ›Herzklosterallegorie‹ (Bl. 148r/v) zählt die Ämter eines Frauenklosters auf: ae pptissin, priolin, kusterin, pfortnerin, siechmaisterin.61 Die in der Texttradition übliche Bezeichnung klosterfrouwen ist in dieser Handschrift durch den Begriff conuentschwesterin ersetzt worden,62 der dem Sprachgebrauch des Augustinerchorfrauenstifts Inzigkofen entspricht.63 Dies könnte ein Indiz für einen Zusammenhang dieses Faszikels mit dem Stift Inzigkofen sein. Beim fünften Faszikel handelte es sich wohl ursprünglich um ein Einzelheft, das nur die ›Sultanstochter‹ enthielt. Die von einer anderen Hand nachgetragenen ›Neun Stücke zur Übung der Tugend‹ sind möglicherweise erst nach der Bindung der Handschrift geschrieben worden. Die ›Sultanstochter‹ ist außer den beiden geistlichen Liedern im achten und neunten Faszikel der einzige Verstext in der Handschrift. Die metrische Gestalt wird vom Layout her jedoch nicht betont, da die Verse fortlaufend, wie ein Prosatext, geschrieben sind. Sieht man von der metrischen Form ab, steht die ›Sultanstochter‹ innerhalb der Handschrift der Prosa-Marienmirakelsammlung im siebten Faszikel am nächsten.

59 Hände A–L; D und L sind wohl männliche Schreiber, L vielleicht ein Kleriker, »versiert im Schreiben lateinischer Texte und im Gebrauch ihrer Abbreviaturen, fällt jedoch in den deutschen durch starke Dialektfärbung auf« (Fechter: Deutsche Handschriften, S. 111). 60 Schreibsprache: Schwäbisch, außer Schreiber G: bairisch-ostschwäbisches Übergangsgebiet. 61 Vgl. Bauer: Herzklosterallegorien, Sp. 1161 (Nr. V,3); Bauer: Claustrum animae, S. 30 (Anm. 83). 62 Vgl. Fechter: Deutsche Handschriften, S. 108. 63 Vgl. Fechter: Deutsche Handschriften, S. 6.

2 Ein Vergleichsbeispiel: ›Die Sultanstochter im Blumengarten‹

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Dort findet sich sogar ein Text, dessen Erzählstoff gewisse Ähnlichkeiten zum Erzählstoff von der Sultanstochter aufweist (Nr. 8): Eine weltliche Jungfrau hat im Traum die Vision, dass sie von einem wunderschönen Jüngling in einen Blumengarten geführt wird. Dort trifft sie eine Schar von weißgekleideten und gekrönten Jungfrauen und deren Königin an. Auf die Frage des Jünglings, ob sie gern in diese Schar aufgenommen werden möchte, antwortet die weltliche Jungfrau, dass sie sich nichts Schöneres vorstellen könne. Die Königin erklärt ihr daraufhin, dass sie dafür ihre Keuschheit bewahren müsse. Von diesem Tag an flieht das Mädchen alle Weltfreuden und verdient sich so das ewige Leben. Während in der ›Sultanstochter‹ der Blumengarten das irdische Paradies ist, das nur auf das ewige Paradies verweist, sieht die weltliche Jungfrau des Prosamirakels den himmlischen Blumengarten, also das wirkliche Paradies, im Traum. In beiden Erzählungen tritt ein schöner Jüngling/Engel als Vermittler auf, beide Erzählungen enthalten das Keuschheitsgebot als Bedingung für die Aufnahme in den himmlischen Blumengarten. Während jedoch in der ›Sultanstochter‹ viele Details auserzählt und lange Dialoge eingeflochten werden, ist das Prosamirakel auf die wesentlichen Handlungselemente beschränkt – und die monastische Lebenswelt, die in der ›Sultanstochter‹ einen wichtigen Platz einnimmt, fehlt völlig. Die Handschrift B, die zur Bibliothek des Augustinerchorfrauenstiftes Inzigkofen gehörte, bietet die Möglichkeit, einen kurzen Blick auf den Status geistlicher Verserzählungen in (Frauen-)Klosterbibliotheken zu werfen. Zunächst einige Angaben zur Klostergeschichte. Das Stift Inzigkofen64 wurde im Jahr 1354 von zwei Bürgerstöchtern aus Sigmaringen gegründet. Nachdem sich weitere Frauen eingefunden hatten, nahmen die Klausnerinnen die franziskanische Drittordensregel an. Nach und nach wuchs der Wohlstand der Klause. In den 1390er Jahren entschlossen sich die Schwestern, einem strengen Orden anzugehören und traten zu den Augustiner Regularkanonikern über. Das führte unter anderem auch zu einer Aufteilung der Gemeinschaft in Chorfrauen (Kon-

64 Diese Darstellung folgt den grundlegenden Ausführungen von Fechter: Deutsche Handschriften, S. 1–42. Vgl. außerdem: Peter Schmidt: Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert (Pictura et Poesis 16). Köln u.a. 2003, S. 120–145; Peter Schmidt: Kleben statt malen. Handschriftenillustration im AugustinerChorfrauenstift Inzigkofen. In: Studien und Texte zur literarischen und materiellen Kultur der Frauenklöster im späten Mittelalter. Hrsg. von Falk Eisermann/Eva Schlotheuber/Volker Honemann (Studies in Medieval and Reformation Thought 99). Leiden/Boston 2004, S. 243–283. Ausgabe der Chronik des Stifts: Chronik des Augustinerchorfrauenstifts Inzigkofen 1354/1525–1813. Bearb. von Karl Werner Steim. Hrsg. von Edwin Ernst Weber. 2 Bde. (Documenta suevica. Quellen zur Regionalgeschichte zwischen Schwarzwald, Alb und Bodensee 18/1 und 18/2). Konstanz 2009.

378 | VI Überlieferungskontexte 2 ventschwestern) und Laienschwestern. Ab ca. 1413 wurde die strenge Klausur eingehalten. Um 1430 erhielten die Klosterfrauen aus dem Augustinerchorfrauenstift Pillenreuth eine Abschrift von deren Reformstatuten, nach denen sie fortan ihr Leben gestalteten. 1466 wurde das Stift durch Ulrich Schirm aus dem Stift Indersdorf visitiert. Im 16. Jahrhundert konnte sich das Stift trotz der Reformation halten. Die Bibliothek des Klosters65 war vermutlich dreigeteilt: In der Sakristei bzw. auf dem Schwesternchor befanden sich die Liturgica; eine Sammlung von überwiegend lateinischen theologischen Texten für den Beichtvater und seinen Kaplan waren in deren Wohnung außerhalb der Klausur aufgestellt. Die dritte Bibliothek befand sich innerhalb der Klausur und enthielt überwiegend oder ausschließlich deutsche Texte, die zur Tischlesung und zur persönlichen Lektüre der Schwestern bestimmt waren. Diese Bibliothek enthielt vor allem geistliche Traktate, didaktische Texte, Auslegungen von Bibeltexten, heilsgeschichtliche Texte (Leben Jesu u.ä.), Gebetbücher, Übersetzungen lateinischer Traktate und mystische Texte, z.T. Übersetzungen aus dem Niederländischen. Die Handschriften gelangten teilweise als Schenkungen in die Bibliothek oder wurden von eintretenden Frauen mitgebracht. Es gab aber auch im Kloster selbst eine rege Handschriftenproduktion.66 Literarische Beziehungen des Stiftes Inzigkofen bestanden zu den Dominikanerinnen zu St. Katharina in St. Gallen, zu den Augustinerchorfrauen in Pillenreuth und zu den Dominikanerinnen des Katharinenklosters in Nürnberg. Oft waren solche Beziehungen dadurch begründet, dass leibliche Schwestern in unterschiedliche Klöster eintraten und Beziehungen zwischen den Klöstern herstellten.67 Im Inzigkofer Stift wurde dem Umgang mit geistlicher Literatur, der sich in Handschriftenproduktion und Lektüre ausdrückte, große Bedeutung zugemessen. Dabei spielte die mystische Spiritualität eine wichtige Rolle, wie die Meister Eckhart-, Tauler-, Merswin- und Jan van Ruusbroec-Handschriften zeigen. Erzählende Texte waren – neben heilsgeschichtlichen und hagiographischen Werken – in dieser Bibliothek v.a. in Form von Prosaexempla vorhanden.68 Die

65 Diese Darstellung folgt Fechter: Deutsche Handschriften, S. 43–52. 66 Vgl. Fechter: Deutsche Handschriften, S. 173–182. Zum literarischen Leben des Klosters vgl. auch Stefan Abel/Nicole Eichenberger: Jos von Pfullendorf: ›Das Buch mit den farbigen Tuchblättern der Beatrix von Inzigkofen‹. Untersuchung und Edition (ZfdA-Beiheft 16). Stuttgart 2013. 67 Vgl. Fechter: Deutsche Handschriften, S. 183–188. 68 Neben der Marienmirakelsammlung im siebten Faszikel der Berliner Handschrift sind weitere Prosaexempel in anderen Handschriften aus Inzigkofen zu finden, etwa in München, BSB, Cgm 5292 (i. J. 1448 von Anna Jäck, Priorin des Klosters, geschrieben, vgl. Fechter: Deutsche Handschriften, S. 80–83) und Wien, Schottenkloster, Cod. 308 (i. J. 1451 für das Kloster Inzigkofen geschrieben, vgl. Fechter: Deutsche Handschriften, S. 87–90).

2 Ein Vergleichsbeispiel: ›Die Sultanstochter im Blumengarten‹

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wenigen in der Bibliothek enthaltenen Verstexte waren meist geistliche Lieder.69 Dieser Überblick macht deutlich, dass geistliche Verserzählungen in der Inzigkofer Bibliothek ein marginales Phänomen waren. Dass die ›Sultanstochter‹ dennoch in diesem Umfeld rezipiert wurde, dürfte eher auf Zufall beruhen bzw. den anderen Texten innerhalb der Handschrift zu verdanken sein. Es ist nicht auszuschließen, dass die ›Sultanstochter‹ bei monastischen Rezipientinnen auf Interesse stieß, aber wenn dies der Fall war, dann wahrscheinlich hauptsächlich wegen inhaltlicher Aspekte. Der Texttyp der geistlichen Verserzählung mit seinen ästhetischen Charakteristika spielte in diesem Umfeld kaum eine Rolle. 2.3.2 Die Handschrift E E

Budapest, Bibl. et Archivum P.P. Franciscanorum, Cod. Esztergom 11

Papier · 209 Bll. · 13,9 × 10,4 · mittelbair. Sprachgebiet · 2. Hälfte 15. Jahrhundert Inhalt: Bl. 1r–4v Beichtformel (Anfang fehlt) Bl. 5r–6v lat. Sündenverzeichnis Bl. 8r/v Scherzrezept Bl. 9r–10r Geistliches Lied in Frauenlobs Spiegelweise (RSM 3, 1Frau/26/10) Bl. 10v–13v Geistliches Lied in Regenbogens langem Ton (RSM 5, 1Regb/4/538b) Bl. 14r–18v Mönch von Salzburg: Geistliches Lied G 10 Bl. 19v–20r Strophisches Gedicht zur Weihnachtsgeschichte Bl. 20v–21v ›Lied vom mystischen Weingarten‹ Bl. 22r–34v ›Der Graf von Savoyen‹ (RSM 5, 1Regb/4/610d) Bl. 35r ›Sibyllenweissagung‹ (nur Vorrede) Bl. 36r–100r ›Tundalus‹ Bl. 100v–101r Versgebet um ein gutes Ende Bl. 102r–123r ›Güssinger Weltgerichtsspiel‹ Bl. 123r–131r ›Die Sultanstochter im Blumengarten‹ Bl. 131v–134r Beichtformel Bl. 135r–136r NT-Cantica und liturgische Gebete dt. Bl. 137r–141v ›Güssinger Totentanz‹ Bl. 142r–149v ›Der Ritter in der Kapelle‹ Bl. 150r–187v ›Wiener Oswald‹ Bl. 188r–208v ›Lucidarius‹ Lit.: Andra´s Vizkelety: Aspekte zur Entstehung und Funktion spätmittelalterlicher Sammelhandschriften. In: Deutsche Literatur des Spätmittelalters. Ergebnisse, Probleme und Perspektiven der Forschung. Hrsg. von Wolfgang Spiewok (Deutsche Literatur des Mittelalters 3). Greifswald 1986, S. 385–392; RSM 1, S. 158; Hansjürgen Linke: Die deutschen Welt-

69 Eine Ausnahme bildet eine didaktische Reimpaardichtung, die in der Handschrift Berlin, Staatsbibl., Mgq 1581 in eine Kompilation zum Thema Jungfräulichkeit eingefügt ist und auf Ct 3,11 basiert, vgl. Fechter: Deutsche Handschriften, S. 92–95.

380 | VI Überlieferungskontexte 2 gerichtspiele des späten Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe. Bd. I: Einleitung; Bd. II/1.2: Texte. Tübingen/Basel 2002, Bd. I, S. 16–18; Ulmschneider: Lucidarius, S. 94–97; Andra´s Vizkelety: Mittelalterliche deutsche Handschriften in Ungarn. In: Manuscripta germanica. Deutschsprachige Handschriften des Mittelalters in Bibliotheken und Archiven Osteuropas. Hrsg. von Astrid Breith u. a. (ZfdA-Beiheft 15). Stuttgart 2012, S. 235–245, hier S. 244.

Die Handschrift E ist von mehreren, teilweise schwer unterscheidbaren Händen geschrieben. Zwei Textblöcke lassen sich jeweils einem Schreiber zuweisen: Eine Hand schrieb Bl. 35r–134r, eine andere Hand Bl. 134v–149v. Neben einigen Profilfratzen und sonstigen Verzierungen enthält die Handschrift drei Federzeichnungen: eine ganzseitige Zeichnung mit schwarzer, roter und blauer Tinte, die einen König und einen Mann mit einem Vogel auf der Faust darstellt (zum ›Grafen von Savoyen‹?) (Bl. 35v); eine Königsfigur in roter Tinte (auf dem Seitenrand von Bl. 143r); eine Doppelseite mit Federzeichnungen in schwarzer und roter Tinte, die Oswald (mit einem Raben auf der Faust) und Paug darstellen (Bl. 174v/175r). Die unbeholfen wirkenden Zeichnungen stammen vielleicht vom Schreiber selbst, der möglicherweise auch als Rubrikator tätig war. Die dritte Zeichnung weicht in der Gestaltung von den ersten beiden ab, ist von der Bildkomposition her aber der ersten Zeichnung nachempfunden. Dies deutet darauf hin, dass die Handschrift entweder als Ganzes konzipiert oder die von verschiedenen Händen geschriebenen Teile schon früh zusammengefügt wurden. Die Zusammenstellung der Texte lässt thematische und formale Einheiten erkennen. Einen ersten Abschnitt bilden die deutsche Beichtformel für einen männlichen verheirateten Laien und das lateinische Verzeichnis von Sünden, die zur Exkommunizierung bzw. Suspendierung führen, solange sie nicht gebüßt sind. Danach folgen fünf geistliche Lieder. Mit dem ›Grafen von Savoyen‹ beginnt eine Reihe narrativer Texte. Der ›Graf von Savoyen‹ berichtet von einem hochmütigen Fürsten, der durch Gottes Gewalt erniedrigt wird und eine Weile getrennt von seiner Frau im Elend leben muss, ehe er seinen Besitz und seine Frau wiedererlangt. Im ›Wiener Oswald‹ wird erzählt, wie der fromme König Oswald die heidnische Königstochter Paug bekehrt und entführt, in einer Schlacht die Heiden besiegt und fortan eine keusche Ehe mit Paug führt. Der ›Tundalus‹, das ›Weltgerichtsspiel‹ und der ›Totentanz‹ behandeln in unterschiedlicher Form eschatologische Themen. Die beiden in der Handschrift enthaltenen geistlichen Verserzählungen, die ›Sultanstochter‹ und der ›Ritter in der Kapelle‹,70 weisen thematische Anknüpfungspunkte zu anderen Texten der Sammlung auf: Die ›Sultanstochter‹ behandelt, wie auch der ›Oswald‹, das Thema der Keuschheit, beim ›Ritter in der Kapelle‹ steht das Thema der Beichte und

70 Vgl. Kap. VI.3.

2 Ein Vergleichsbeispiel: ›Die Sultanstochter im Blumengarten‹

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Buße im Zentrum, das in den Beichtformeln und dem Sündenverzeichnis präsent ist. Am Schluss der Sammlung steht mit dem ›Lucidarius‹ ein naturkundlicher Text. Im Gegensatz zur Handschrift B sind die Verstexte hier in der Überzahl. Sowohl die geistliche Lieddichtung als auch die geistliche Narration ist in Versform vertreten; daneben stehen die umfangreicheren Prosatexte ›Tundalus‹ und ›Lucidarius‹. Während die geistliche Verserzählung in der Handschrift B als Randphänomen erscheint, hat man es hier mit einem Umfeld zu tun, in dem die Tradition geistlichen Erzählens in deutschen Versen deutlich präsenter ist. Die einzige bedeutende Abweichung in der Textgestalt der ›Sultanstochter‹ ist am Schluss des Textes in der Handschrift E zu finden. Dort sind innerhalb der Keuschheitslehre nach V. 390 f. der Ausgabe mehrere Zusatzverse eingefügt (E, Bl. 130v/131r): Der vo[lge] meiner ler, Das er sich dauon cher Vnd mändleich wider stand, Wan d[er] pös geist vnd dy natur, Dy habe[n] yn so vil pöser, arger list, Das der mensch villeicht darin verfall[en] mag. Das sechen mir wol vnd lät [?] an liechtem tag, Das es vil gu[ten] geistlichen lew ¨ ten wider faren ist, Das si sich nit behuetten mochten vor der natur vnd vor des argen tiefels list. Darumb ist fur dies[n] vnkewschait nit hilfleich noch so guet Wol stark ist des mensch[en] muet Fliechen ist vil pesser vnd guet Den silber vnd gold, Wa[n] got ist der menschait hold. D[arumb] fliechen vnd traben frawen von [...?], wellent si nit gefangen werden Mit dem angel der vnkeüschait, Ban ir anfechtung ist weit vnd prait vnd prait.

Bei den darauffolgenden Versen stimmen die beiden Textzeugen wieder weitgehend überein. Die fehlerhafte metrische Gestalt der eingeschobenen Verse lässt vermuten, dass es sich gegenüber dem Text von B um einen nachträglichen Zusatz handelt. Inhaltlich betont der Zusatz die Macht der Unkeuschheit, indem darauf verwiesen wird, dass auch gu[te] geistliche lewte der Sünde verfallen seien und dass man sich nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch Flucht vor der Unkeuschheit schützen könne. Neben das unangefochtene Vorbild der Sultanstochter tritt hier die Warnung vor den Gefährdungen, die auch dem geistlichen Stand zusetzen können.71 Das ist eine Verstärkung der didaktischen Funktion der

71 Vgl. Tubach 4733–4736.

382 | VI Überlieferungskontexte 2 Erzählung, wie sie im Epilog bereits angelegt ist. Ob der Verweis auf die geistlichen Leute allerdings auf ein monastisches Publikum hindeuten könnte oder nur zur Steigerung der Aussage dient, ist kaum zu entscheiden. Als Redaktoren, Schreiber und Rezipienten der Handschrift sind grundsätzlich sowohl Kleriker als auch Laien denkbar. Für einen Weltgeistlichen, der mit seelsorgerischen Aufgaben betraut war, könnte das lateinische Sündenverzeichnis sprechen.

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹ 3.1 Der Erzählstoff vom Bußunwilligen und die Frage nach der angemessenen Buße Beim ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ und der ›Sultanstochter‹ sind durch die Schilderung monastischer Lebenswelten thematische Anknüpfungspunkte vorhanden, die eine Überlieferung dieser Texte im klösterlichen Umfeld begünstigt haben könnten. Eine weitere geistliche Verserzählung, der ›Ritter in der Kapelle‹ (380 V., 2. Hälfte 14./1. Hälfte 15. Jahrhundert),72 weist keinerlei inhaltliche Verbindungen zu dieser Sphäre auf, wurde aber dennoch auch in Handschriften monastischer Provenienz tradiert. Ein Ritter führt Krieg, raubt und brandschatzt und beutet seine Untertanen aus, ohne je von Reue ergriffen zu werden. Ein heiliger Vater lebt in der Nähe seiner Burg im Wald. Das Gesinde des Ritters geht zu diesem Vater beichten, und als der Ritter davon hört, fällt ihm seine eigene Sündhaftigkeit ein. Er begibt sich ebenfalls zum heiligen Vater und beichtet seine ganze Schuld. Der Vater gibt ihm dafür sieben Jahre Buße auf, doch der Ritter glaubt, dies nicht aushalten zu können. Er bittet um eine kurze Buße. In einem lebhaften Dialog zwischen Vater und Ritter wird die Buße immer weiter verkürzt, bis sie sich darauf einigen, dass der Ritter nur eine Nacht lang in der Kapelle bei seiner Burg wachen und die Kapelle unter keinen Umständen verlassen solle. Gleich in der nächsten Nacht geht der Ritter in seine Kapelle, um die Buße zu leisten. Dort versammeln sich aber auch Lucifer und seine Teufel, die alles daran setzen, den Ritter von seiner Buße abzubringen. Die Teufel erschei-

72 Vgl. Jürgen Schulz-Grobert: Der Ritter in der Kapelle. In: 2VL 8 (1992), Sp. 101 f. Ausgaben: Adelbert von Keller: Erzählungen aus altdeutschen Handschriften (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 35). Stuttgart 1855, S. 70–79 und 690 (nach Handschrift W); F[riedrich] G[eorg] G[ottlob] Schmidt: Historie von einem Ritter, wie er büsset. From a Manuscript of the Fifteenth Century. Publications of the Modern Language Association of America 11 (1896), S. 258–274 (nach Handschrift A); Gerhard Eis: Prager Fragment der mittelhochdeutschen Dichtung ›Vom Ritter in der Kapelle‹. In: Eis, Altgermanistische Beiträge zur geistlichen Gebrauchsliteratur. Aufsätze – Fragmentfunde – Miszellen. Bern 1974, S. 53–64 (nach Handschrift P); Slenczka: Gäste, S. 172–181 (nach Handschrift N2). Eine Interpretation des Textes findet sich bei Slenczka: Gäste, S. 66–89.

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹

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nen ihm in der Gestalt seiner Schwester, die seine vertrauteste Ratgeberin ist und die ihm berichtet, die Feinde hätten seine Burg umgeben, dann in der Gestalt seiner Frau, die droht, die beiden mitgeführten Kinder zu töten, wenn er sie nicht vor den Feinden beschütze. Als die Kirche zu brennen scheint, kommt ein Teufel als Mann, der den Ritter auffordert, die Kirche zu verlassen, um sich nicht des Selbstmordes durch freiwilliges Verbrennen schuldig zu machen. Zuletzt erscheint ein Teufel als Priester, der den Ritter auffordert, die Kirche zu verlassen, da er nicht in Gegenwart eines Exkommunizierten die Messe halten könne. Der Ritter bleibt allerdings standhaft. Bei Tagesanbruch verlässt er die Kapelle und geht zu seiner Burg, wo er seine Familie unversehrt wiederfindet und die Erscheinungen der Nacht als Versuchungen des Teufels erkennt. Er ändert nun seinen Lebenswandel und wird ein frommer Mann. Sein Schutzengel berichtet daraufhin dem Einsiedler von der bestandenen Buße.

Der Erzählstoff behandelt die Frage nach dem rechten Verhältnis zwischen der Schwere der Sünden und dem Ausmaß der Buße.73 Er ist schon sehr früh in der lateinischen Exempelliteratur präsent und hat im Lauf der Zeit bemerkenswerte theologische Umakzentuierungen erfahren. Ein Blick auf die diachrone Dimension des literarischen Referenzrahmens macht deutlich, dass die theologischkonzeptionelle Bewertung und die narrative Umsetzung des Stoffes sich einerseits im Verlauf der Zeit, andererseits aber auch in Abhängigkeit der Entstehungskontexte der jeweiligen Ausformungen verändern. In den großen zisterziensischen Exempelsammlungen des späten 12. Jahrhunderts, dem ›Collectaneum Clarevallense‹ und dem ›Exordium magnum‹ Konrads von Eberbach, die hauptsächlich für die Rezeption im Orden gedacht waren, sind sehr eng verwandte Fassungen des Erzählstoffs zu finden. Das ›Collectaneum‹ (IV,XVII, S. 290 ff.) nennt als Gewährsmann einen abbas. Die Geschichte wird folgendermaßen erzählt: Ein vir secularis, der ein sündhaftes Leben führt, wird von seiner frommen Frau zur Beichte ermuntert. Er geht zum Priester, doch dieser verlangt eine schwere Buße (Pilgerfahrt) von ihm, ansonsten will er ihm die Absolution nicht erteilen. Der Mann verzweifelt angesichts der schweren Buße und erschlägt den Priester im Zorn. Die Ehefrau versucht den Mann erneut vom Nutzen der Beichte zu überzeugen, und er sucht den Bischof auf, um wieder zu beichten. Auch der Bischof verlangt zunächst eine schwere Buße (Pilgerfahrt, Fasten); als er aber erkennt, dass der Mann eine schwere Buße nicht annehmen will, schlägt er ihm vor, als Buße nur eine Nacht lang schweigend in einer Kirche auszuharren. Der Mann willigt ein. Der Bischof führt ihn in eine alte verlassene Kirche, wo der Mann von verschiedenen teuflischen Erscheinungen heimgesucht wird, die ihn zum Sprechen zu bringen suchen. Als am Morgen der Bischof in die Kirche kommt, verlangt der von den Teufeln zu Tode verängstigte Mann nach weiterer Buße, wird Mönch und verbringt sein nur noch kurzes Leben als from-

73 Tubach 3477a, 3694.

384 | VI Überlieferungskontexte 2 mer Mensch. Am Ende der Geschichte steht die Warnung des Erzählers an die Beichtiger, ihre Beichtkinder nicht durch allzu harte Bußforderungen zur Verzweiflung zu bringen. Dieses Epimythion steht im Einklang mit der Überschrift des Exempels: De periculo indiscretionis et utilitate discretionis. Der Fokus liegt in dieser Fassung auf dem adäquaten bzw. inadäquaten Verhalten der Kleriker, die Beichte abnehmen und Buße auferlegen. Die kurze Buße wird angesichts der Sünden des Mannes keineswegs für ausreichend gehalten, sondern ist eine Art Kunstgriff des guten Beichtvaters, um das renitente Beichtkind dazu zu bringen, eine angemessene Buße zu akzeptieren. Diese Fokussierung lässt sich auch im etwas jüngeren ›Exordium magnum‹ (V,XII, S. 337 ff.) beobachten. Dort heißt das entsprechende Exempel: De periculo indiscretorum confessorum et de laude discretorum. Im Gegensatz zur älteren Fassung ist das Exempel hier um zahlreiche reflektierende Kommentare erweitert. Dabei wird auch auf das Risiko des Verhaltens des Bischofs hingewiesen: Mit seinem Kunstgriff setzt der Beichtvater sein eigenes Seelenheil aus Nächstenliebe für sein Beichtkind aufs Spiel, wenn er fest darauf vertraut, dass der Mann durch die Nacht in der Kirche zu weiterer Buße angetrieben wird. Andernfalls würde er sich selbst schuldig machen, da er eine zu geringe Buße für die großen Sünden des Mannes gefordert und den Mann zu Unrecht absolviert hätte. Die diskursive Aufbereitung des Exempels ist ein deutlicher Hinweis auf die intendierten Rezipienten des Textes, Kleriker und Mönche, die mit den Möglichkeiten und Gefahren der Laienseelsorge vertraut gemacht werden sollen.74 In den Ausformungen des Stoffes, die ab dem 13. Jahrhundert entstanden sind, verschiebt sich die Perspektive. Nicht mehr der Kleriker, sondern der Sünder steht nun im Fokus. Dies zeigt sich auf der Handlungsebene darin, dass das Motiv des ersten Beichtvaters, der vom zornigen Mann getötet wird, in allen jüngeren Fassungen fehlt. Dieses Motiv, das auf einen klerikalen Rezipienten großen Eindruck machen muss, ist aus der Perspektive eines laikalen Rezipienten, der das Exempel etwa in der Predigt hört, nicht besonders interessant. Die Modifikation des Erzählstoffs reflektiert somit den Wechsel von der monastischen Exempelsammlung zur Predigtexempelsammlung. Stephans von Bourbon ›Tractatus de diversis materiis predicabilibus‹75 ist eine derartige Predigtexempelsammlung. Im Kapitel Quod ad multa valet cogi-

74 Eine ähnliche Fassung enthält auch die um 1300 entstandene Handschrift London, BL, Harley 2851, vgl. Catalogue of Romances III, S. 504 (Nr. 11). 75 Stephani de Borbone Tractatus de diversis materiis predicabilibus. Hrsg. von Jacques Berlioz/Jean-Luc Eichenlaub (CCCM 124). Turnhout 2002, S. 190 ff. Ähnliche Fassungen des Stoffes enthalten drei Londoner Handschriften: London, BL, Add. 16589 (vgl. Catalogue of Romances III, S. 468, Nr. 28); London, BL, Harley 268 (vgl. Catalogue of Romances III, S. 568, Nr. 120); London, BL, Egerton 1117 (vgl. Catalogue of Romances III, S. 474, Nr. 35).

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹

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tatio pene purgatorie76 erzählt Stephan die Geschichte De milite ter in nocte temptato.77 Vermittler des Erzählstoffs ist nach Stephans Darstellung ein Magister, der die Geschichte als Verserzählung bearbeitet habe. Die Tradierung des Stoffes wird hier nicht mehr, wie im ›Collectaneum‹, im monastischen Umfeld angesiedelt. Die Fassung Stephans von Bourbon weicht in vielerlei Hinsicht von den älteren Versionen ab. Ein sündiger Ritter wird von seiner Frau überredet, zum Bischof zur Beichte zu gehen. Nachdem er es abgelehnt hat, eine Pilgerfahrt zu unternehmen oder sonst eine angemessene Buße zu leisten, wird er in eine Kirche geführt, in der er eine Nacht lang schweigen soll. Der Teufel versucht ihn nun in Gestalt einer Gruppe von Händlern, in Gestalt seiner Frau, in Gestalt des Bischofs; der Ritter bleibt standhaft und wird daraufhin von den erbosten Teufeln so schlimm verprügelt, dass er am Morgen halbtot in der Kirche liegt. Der Bischof erklärt die Buße für ausreichend, aber der Ritter will dennoch sein Leben lang weiterbüßen, um nicht wieder in die Hände der Teufel zu fallen. Die Überschrift zeigt an, in welche Perspektive die Geschichte hier gestellt ist: Die Erfahrung der Fegefeuer-Qualen führt zur Bekehrung des Ritters. Das Motiv, dass die Nacht in der Kirche nur Anstoß zu einer weiteren, angemessenen Buße ist, wird auch bei Stephan von Bourbon beibehalten; die theologische Bewertung weicht aber deutlich von den älteren Fassungen ab, denn bei Stephan erklärt der Beichtvater die Buße des Ritters für ausreichend – das Beichtkind selbst ist es, das die Notwendigkeit weiterer Buße erkennt. Neben der theologischen Umakzentuierung sind weitere Motive zu finden, die in den älteren Versionen noch nicht präsent sind, so etwa das Motiv, dass ein Teufel in der Gestalt der Ehefrau des Ritters mit seinem Sohn auftritt, um den Büßenden zum Sprechen zu bringen. Sowohl die Verzweiflung der Pseudo-Ehefrau über die anscheinende Verrücktheit des Ritters als auch die kindliche Zuneigung des kleinen Sohnes (similiter puer pomum ei porrigebat et ei applaudebat et loquebatur balbutiendo78) sind darauf ausgelegt, den Ritter durch emotionale Betroffenheit und Rührung zum Brechen seines Gelübdes zu bringen. Laikale Rezipienten konnten in diesem Motiv Verbindungen zu ihrer eigenen Lebenswelt finden und sich dadurch leichter mit dem Ritter identifizieren. Das Motiv familiärer Liebe hat in der narrativen Umsetzung Stephans quasi den Platz des Motivs vom getöteten ersten Beichtvater übernommen, das in den älteren Fassungen für klerikale Rezipienten bedeutsam war. Eine ähnliche Fassung des Erzählstoffes aus dem 14. Jahrhundert ist in der Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen, Nr. 43 zu finden.

76 Dass das Gedenken an die Qualen des Fegefeuers zu vielem nütze ist. 77 Von einem Ritter, der in einer Nacht dreimal versucht wurde. 78 So streckte auch der Knabe ihm einen Apfel hin und klatschte in die Hände und sprach in Kinderweise plappernd zu ihm.

386 | VI Überlieferungskontexte 2 Hier erscheint der Teufel erst als Händler, dann als Bekannter, der von einem Überfall auf die Burg des Ritters berichtet, dann als Sohn des Ritters, der angesichts der verzweifelten Lage mit Selbstmord droht. Als dies nichts fruchtet, erscheint eine Teufelsschar, die den Ritter verprügelt. Am nächsten Morgen fragt der Ritter den Bischof nach seiner totgeglaubten Familie: Et dum quereret vbi vxor eius et filij sui iacerent occisi, dixit episcopus quod omnes bene valerent.79 Der Ritter erkennt, dass es sich um Versuchungen des Teufels handelte, und verlangt nach weiterer Buße.80 Auch in dieser Fassung liegt der Akzent auf der emotionalen Erschütterung des Ritters, der glaubt, seinen Besitz und seine Familie verloren zu haben. In dem Jehan de Saint-Quentin zugeschriebenen ›Dit du chevalier qui devint hermite‹ (S. 86–92)81 wird von einem Ritter berichtet, der auf Veranlassung seiner Frau zunächst bei einem Priester, dann bei einem Einsiedler beichtet. Bei dieser Abstufung könnte es sich um einen Bezug auf das Motiv vom ersten, unfähigen Beichtiger der zisterziensischen Fassungen handeln; dem Priester geschieht in der französischen Fassung jedoch kein Leid. Im Gegensatz zur Fassung Stephans von Bourbon gibt es hier kein Schweigegebot; der Ritter muss nur in der Kirche ausharren. Der Teufel versucht den Ritter zuerst in der Gestalt des Einsiedlers, dann in der Gestalt eines Knappen, der einen Überfall meldet, dann in der Gestalt der Ehefrau des Ritters und zweier Söhne, die von der Frau aus Verzweiflung getötet werden. Zuletzt veranstalten die Teufel ein großes Gewitter, doch nichts kann den Ritter aus der Kirche bringen. Am nächsten Morgen entschließen sich der Ritter und seine Frau, Einsiedler zu werden. Allen bisher besprochenen Fassungen ist gemeinsam, dass der Protagonist nach der Nacht in der Kirche weiterbüßt. Seit dem 13. Jahrhundert gibt es jedoch auch Ausformungen des Erzählstoffs, in denen die Bußleistung sich auf die Nacht in der Kirche beschränkt. So etwa in Ps.-Caesarius, ›Libri VIII miraculorum‹, Anhang II.2: Der Protagonist ist ein Adliger (magnatus), dem jegliche Buße zu schwer ist, und der sich nur darauf einlässt, eine Nacht allein in einer Kirche zu verbringen. Dort wird er von den Teufeln heimgesucht. Als er am Morgen zu seiner Burg zurückkehrt und alles so findet, wie er es verlassen hat, lobt er Gott und erzählt die Begebenheit seinem Beichtvater. Damit ist das Exempel abge-

79 Und als er fragte, wo seine Frau und seine Kinder erschlagen liegen würden, sagte der Bischof, dass es ihnen allen gut gehe. 80 Eine verwandte Fassung findet sich bei Johannes Herolt: Sermones discipuli de tempore et de sanctis, Promptuarium exemplorum. Straßburg: [Drucker des Palude], 1484 (GW 12355), Exempel P 116. 81 Eine verwandte Fassung findet sich in London, BL, Add. 27336 (vgl. Catalogue of Romances III, S. 659, Nr. 178).

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹

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schlossen. Der Fokus liegt hier nicht auf der Bußleistung an sich, sondern auf der Warnung vor den Vorspiegelungen des Teufels, durch die man sich nicht verleiten lassen soll. In eine ähnliche Richtung, aber noch deutlich weiter geht das Exempel Martins von Troppau in seinen ›Sermones de tempore et de sanctis. Promptuarium exemplorum‹82 (Kap. XV,D). Dort ist die Buße des Ritters darauf beschränkt, während einer einzigen Messe in der Kirche auszuharren.83 Der Teufel versucht den Ritter dabei in dreifacher Gestalt: als Bote, der den Überfall auf die Burg des Ritters meldet, als zweiter Bote, der den Sieg der Feinde meldet, und als Ehefrau, die mit den Söhnen zum Ritter kommt und weinend erzählt, die Burg sei verbrannt und weitere Kinder seien getötet worden. Der Ritter bleibt standhaft und findet bei seiner Rückkehr die Familie und das Gesinde unversehrt bei Tisch. Er erkennt, dass es sich um Vorspiegelungen des Teufels gehandelt hat, qui volebat impedire penitentiam eius.84 Von einer weiteren Buße oder einem Gesinnungswandel des Ritters ist nicht die Rede.85 In einer deutschen Prosaerzählung (Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863, Nr. C 22), die der Fassung Martins von Troppau nahesteht, ist die Buße in der Kirche auf den Zeitraum von der Mette bis zum Hochamt am Karfreitag (zur Sterbestunde Jesu) ausgedehnt. [334ra] Ein ander mere. Es waz eins moles ein ritter, vnd waz der selbe ritter gar eins wildes lebendes mit reisen, mit stechende, mit tvrnierende, vnd waz zuo den dingen gehorte, daz det er fu´r andere rittere. Eines moles wart, do wolte er ritten vf sine vigende, vnd do er uf daz velt kam, do sprach er zuo siner knehte eime: Rit hin fu´r durch den walt vnd warte, obe jeman in dem walde si. Der kneht reit hin fu´r. Do er in den walt kam, do sach er einen einsidel sitzen in sime hu´selin. Er gedohte: Du solt rehte disem einsidel bihten, vnd sas abe vnd gie zuo dem einsidel vnd bat in, dz er sine bihte horte. Er bihtete dem einsidel. Do er gebiht hatte, er sas wider vf sin pfert

82 Ausgabe fehlt; Druck: Martinus Polonus: Sermones de tempore et de sanctis. Straßburg: [Drucker des Jordanus von Quedlinburg 1483 (Georg Husner)], 1484 (GW 21433). 83 Dieses Motiv teilt Martins Exempel mit zwei Londoner Handschriften: London, BL, Royal 7 D i (England, Ende 13. Jahrhundert), vgl. Catalogue of Romances III, S. 485 (Nr. 80); London, BL, Harley 2385 (England, frühes 14. Jahrhundert), vgl. Catalogue of Romances III, S. 525 (Nr. 91). 84 ... der seine Buße vereiteln wollte. 85 Diesem Schema folgen auch zwei weitere Fassungen: der ›Convertimini-Traktat‹ (vgl. Catalogue of Romances III, S. 131, Nr. 100) und die deutsche Prosafassung in der Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 (C 22). Anscheinend eng mit dieser Prosa-Erzählung verwandt ist eine italienische Version (›Novella del Castellano‹, um 1400?), vgl. Reinhold Köhler: Kleinere Schriften zur erzählenden Dichtung des Mittelalters II. Berlin 1900, Kap. 33a: Die Legende von dem Ritter in der Kapelle, S. 217 f. Sie enthält wie das deutsche Prosaexempel die Motive der Buße am Karfreitag und des Einsiedlers im Wald. Da diese Erzählung aber nur indirekt (durch Inhaltsangaben bei Köhler) zugänglich ist, lassen sich keine genaueren Aussagen zum Verhältnis der beiden Fassungen machen.

388 | VI Überlieferungskontexte 2 vnd reit hin wider vmbe zuo sime herren vnd sprach: Herre, do ich in den walt kam, do vant ich einen Einsidel in sime hu´selin sitzen, vnd han dem gebihtet, vnd het mich also tu´gentlich von jme gelossen, [334rb] daz ich wolte, daz ir jme ouch bihtetent. Do sprach der herre: Vntze wane sollte aber ich jme gebihten? Ich enbihtete doch alle mine lebetagen nie keis. Vntze wenne sollte ich jme gesagen alles, daz ich je gedet? Do sprach der kneht: A, lieber herre, er ist ein also guo ter man, daz ich wol weis, daz es u´ch zuo grossem nvtze kvmmet. Do sprach der herre: Wuste ich, daz er mich nit hertekliche enpfinge, ich wolte es wogen vnd wolte jme bihten. Do sprach der kneht: Worlichen, herre, ich weis wol, daz er v´ch tv´gentlich enphehet vnd u´ch noch allem uwer willen rihtet. Der herre sprach: So will ich do hin. Der o o kneht reit fu´r zu dem einsidel vnd sprach: A, lieber herre vnd bruder, jch bringe u´ch my´nen heren her, der het jn allen sinen tagen nie gebihtet, den han ich vsser ret, daz er u´ch bihten wil. Vnd enphohent in guo tlichen.86 Der einsidel sprach: Daz wil ich gerne tvo n, vnd waz sin fro, daz sich ein solicher wilder man bekeren wolte von sinen [su´nden]. Der herre kam vnd sas zuo dem einsidel nider vnd bihtete jme sine sv´nde, vnd werte die [334va] bihte gar lange. Vnd do er gebihtet hette, do sprach der einsidel: Herre, nvo sol ich u´ch buo sse geben. Der herre sprach: Daz tvo nt. Do sprach der einsidel: Mv´gent ir vasten? Do sprach er: Nein ich, jch gefaste nie dag. Do sprach er: Mv´gent ir danne v´t betten? Er sprach: Nein. Do sprach der einsidel: Mv´gent ir danne keine biete fart gon? Der herre sprach: Nein. Do sprach aber der einsidel: Herre, so dvo nt nvwent ein ding: So nvo der karfritag komet, so stee nt zuo mettin vf vnd gent in die kirche vnd blibent in der kirchen vntze man daz ambaht geduo t, vnd betrahtent die wile an die arbeit vnd an die marter vnd an den bittern dot, den got durch u´ch gelitten het. Mv´gent ir joch daz getvo n, so wil ich u´ch uwere sv´nde vergeben. Do sprach der ritter: Daz wil ich gerne dvo n. Der ritter fvo r enweg, vnd do der karfritag kam, do gedohte der ritter an die buo sse, die jme der bihter besetzet hatte. Vnd do man mettin lu´te, do gie der ritter in die kirche, als jme der bihter besetzet hatte, vnd betrahtete des nahtes, wie vnser herre gefangen wart, vnd wie er gegeisthelt vnd vorspuwen wart, vnd [334vb] do der tag kam, wie er do zuo primen verurteilet wart, vnd wie er gekro´net wart, vnd so er also stot in sinen gedencken, so kvmmet siner knehte einer louffen in die kirche vnd sprach: Herre, wol dan hein, uwer vigende die sint komen vnd nement vns in vnserme lande alles, daz ir hant. Der herre der erschrack vnd sprach zuo jme selber: A herre in himelrich, wie sol ich nvo tvo n? Los ich my´n lant verwuo sten, so bin ich jemer me ein armer man. Brich ich danne die buo sse, die o o mir besetzet ist, so dvn ich ouch vnreht. Vnd wart zu rotte, wie es jme ergon solte in sime o lande. Er wolte joch sine busse halten, vnd er bleip in der kirchen. Dar nach wart zuo sexte zit, do gedohte der ritter, wie vnser herre an daz cru´tze geslagen, vnd so er also stot in den gedencken, so kvmmet sin liebester ritter, den er do hette vnd sprach: Wol uf, herre, wes ligent ir hie? Do sint alle vnser vigende komen vnd bu´rnent vns daz lant alles abe! Vnd lont es vns weren! Der herre erschrack gar sere vnd sprach: A herre, durch diner heilgen er[335ra]bermede willen, wie sol ich nvo my´n ding ane vohen? Er hette gerne sine buo sse stete gehebet, so hette er ouch gerne sin lant beschirmet, vnd bleip doch in der kirchen. Nuo dar noch wart, do gedohte er, wie vnser herre zuo nonen zit an dem cru´tze starp, vnd so er also in den gedencken stot, so komet sin selbes wip balde gelauffen zuo jme vnd brohte jre kindelin mit ir vnd sprach: Owe lieber herre, wie lostu vns so gar verderben? Dine vigende die hant vns verbrant vnd fue rent alles daz mit in enweg, daz wir hant. Wes sol ich mich vnd diese kleinen kint hinnan fu´r me begon? Do er die frowe selber gesach kvmmen vnd jren grossen

86 Korrigiert aus tv´gen.

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹

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ernest sach, do wart er beweget in jme selber, daz er nit enwuste, waz er schuo f, vnd gedoho o o te: A herre, durch diner bittern marter willen, waz sol ich nv tvn? Gon ich nv enweg, so han o o ich mine busse gebrochen; blibe ich hie, so mvs jemer me ein armer man sin! Vnd kam jme in sinen sin, waz jme dar vmbe geschehen mo´hte, so wollte er doch bliben, vntze daz ambaht vollebroht wu´rde, vnd bleip. Die frowe ging mit jren kinden [335rb] wider enweg schrigende vnd weinende. Do daz ambaht vollebroht wart, do gie der herre enweg mit trurigem mvo te vnd wolte do erfarn, wie es ergangen were. Vnd so er heim kvmmet, do vant er sine frowe vnd sine kint vnd sine ritterschaft vnd alles sin gesinde froe lich vnd wol gemvo t. Vnd er sprach zuo siner frowen vnd zuo sinen rittern vnd frogete su´, wie es stv´nde in sime lande, obe es verherget were vnd verbrant. Su´ sprochent: Herre nein, vnser lant stot in guo tem friden, wir wissent vmbe deheinen vnfriden. Do erkante er, daz es der tu´ffel hatte geton vnd in also betrogen wolte han, daz er sine buo sse gebrochen solte han. Vnd wart der herre do ein guo t seliger man vnd diende do gotte alle zit.

Wie bei Martin muss der Ritter in der deutschen Prosaerzählung drei Versuchungen überstehen: ein kneht berichtet, die Feinde seien ins Land eingefallen, der liebste Ritter meldet, die Feinde würden im Land brandschatzen, die Ehefrau mit den Kindern sagt, es sei alles verbrannt und verwüstet. Während der Rezipient in den anderen bekannten Versionen des Stoffes bereits im Voraus erfährt, dass es sich bei den erscheinenden Personen um Vorspiegelungen des Teufels handelt, wird bei Martin und im Prosa-›Ritter in der Kapelle‹ aus der Figurenperspektive des Ritters erzählt, der Spannungsbogen wird vom Beginn der Buße bis zur Aufdeckung der Teufelslist am Ende aufrecht erhalten. Nach der bestandenen Buße erkennt der Ritter (und mit ihm der Rezipient), dass er vom Teufel betrogen wurde. Während das lateinische Exempel sehr knapp gefasst ist, handelt es sich bei der deutschen Prosaerzählung um eine ausgearbeitete Lesefassung, die alle Leerstellen zu füllen versucht. Dies zeigt sich etwa an der narrativen Umsetzung der Bußszene. Die an den Tagzeiten orientierte Passionsbetrachtung dient dabei einerseits als Vorbild für die Rezipienten, erfüllt andererseits aber auch eine strukturelle Funktion: Die drei Versuchungen werden drei Tagzeiten (Prim, Sext, Non) und somit drei Leidensstationen Christi (Verurteilung und Dornenkrönung; Kreuzigung; Tod) zugeordnet. Analog zum sich steigernden Leiden Christi am Karfreitag steigern sich die Qualen und der Gewissenskonflikt des Ritters. Diese Parallelität führt zu einer impliziten Angleichung des büßenden Ritters an Christus und wertet seine Standhaftigkeit dadurch zusätzlich auf. Wieder andere Akzente setzt die Ausformung des Erzählstoffs bei Johannes Gobi: ›Scala coeli‹ 929.87 Hier findet die Beichte des Ritters nicht wegen einer Auf-

87 Weitere verwandte Versionen: Henmannus Bononiensis: ›Viaticum narrationum‹, Nr. 68, Ausgabe: Beiträge zur lateinischen Erzählungsliteratur des Mittelalters III: Das Viaticum narrationum des Henmannus Bononiensis. Hrsg. von Alfons Hilka (Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften Göttingen, phil.-hist. Klasse, 3. Folge Nr. 16). Berlin 1935, S. 95 f.; ›Istoria di un Castellano‹, vgl. Köhler: Kleinere Schriften II, S. 214–216.

390 | VI Überlieferungskontexte 2 forderung seiner Frau statt, sondern weil er von seinen Dienstleuten gehört hat, dass diese bei einem heiligen Vater (sanctus pater) zur Beichte gehen und er sich aufgrund seiner Sünden entschließt, dies auch zu tun. Die Beichtszene ist breiter ausgestaltet als in anderen Fassungen: Der Beichtvater verlangt eine absteigende Anzahl von Jahren und Monaten der Buße, was der Ritter solange ablehnt, bis der Beichtvater bei einer Nacht angekommen ist. Nun willigt der Ritter ein und geht in die Kirche. Dort versammeln sich die Teufel und versuchen, ihn in verschiedenen Gestalten von seinem Vorhaben abzubringen. Sie erscheinen als seine Schwester, als seine Frau mit zwei Kindern, als ein Mann, der um Hilfe bei einer Feuersbrunst in der Kirche bittet, und als Priester, der die Messe halten will und den angeblich Exkommunizierten dafür aus der Kirche schickt. Am Morgen geht der Ritter zur Burg und findet seine Familie wohlbehalten. Dem sanctus pater wird mitgeteilt, dass der Ritter vier himmlische Kronen verdient habe, da er allen vier Versuchungen widerstanden habe. Im Epimythion wird die Geschichte als Mahnung für diejenigen Sünder gedeutet, die dem Teufel nicht widerstehen können und bei der geringsten Versuchung die angefangene Buße abbrechen. Weil der Fokus auf die Standhaftigkeit gelegt ist, wird eine kurze, aber intensive Buße als ausreichend empfunden – ganz im Gegensatz zur Bewertung des Erzählstoffs in den zisterziensischen Fassungen des späten 12. Jahrhunderts. Die deutsche Verserzählung ›Der Ritter in der Kapelle‹ ist so eng mit der Fassung der ›Scala coeli‹ verwandt, dass eine direkte Bezugnahme vermutet werden kann, wie folgende Beispiele zeigen: ›Scala coeli‹

›Der Ritter in der Kapelle‹ (A)

Non egredieris de tota nocte quicquid tibi contingat88

Das du daraus kompst nicht Was dir halt darumb geschiht (V. 113 f.)

et cum venisset ad illam ecclesiam desertam cogitavit secum: »Melius est quod modo agas penitentiam tuam quam si differres agere«89

Do er die cappellen ansach Nun hort bie er zw jm selber sprach Man sol nit lenger peiten Ich wil pussen pei zeiten Ich will heint in der cappelan sein (V. 129 ff.)

durior est lapide90

Der tewffel sprach er ist allein Herter vil dan ein stay¨n (V. 183 f.)

88 Du wirst die ganze Nacht lang nicht hinausgehen, was auch immer dir zustösst. 89 Und als er zu dieser verlassenen Kirche kam, dachte er bei sich: Es ist besser, dass du gleich deine Buße tust, als dass du sie hinauszögerst. 90 Er ist härter als Stein.

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹

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Qui ivit et transfiguravit se in speciem uxoris militis, deferens in duobus brachiis duos filios parvulos quos ille miles habebat, et venit sine victa et clamide capillis omnibus laceratis91

Er nom an siech des riters frawen pild Sam es wer die lieb hausfraw sein Vnd trang zu der cappellen hinein Vnd furt zwei kint das ist war Sie liff her mit gestrewtem har Vnd mit zerissen gewant (V. 196 ff.)

Et projecit illos cum magno ictu in ecclesie pavimentum92

Sie warff die kinder auff die stein (V. 216)

Durior est adamante93

Der ander tewfel sprach allein Adamo den herten stein Den baikt man ee dan den man (V. 231 ff.)

Exeas ergo et non impedias divina94

Wan du wild doch gottes dienst sawmen Darumb du must den himel rawmen (V. 331 f.)

Die bedeutendsten Abweichungen des deutschen Textes von der ›Scala coeli‹ sind Amplifikationen, besonders in der Beichtszene. Während im lateinischen Text der Beichtvater sieben, drei, ein Jahr(e) und sieben bzw. einen Monat(e) der Buße vorschlägt, bevor er zu der einen Nacht kommt, wird diese Reihe im deutschen Verstext noch um drei, zwei, eine Woche(n) erweitert. Auch am Ende der Erzählung findet sich eine geringfügige Abweichung: In der ›Scala coeli‹ wird dem Beichtvater mitgeteilt, der Ritter habe vier himmlische Kronen verdient, im deutschen Text verkündet der Schutzengel des Ritters dem Beichtvater lediglich, dass der Ritter die Prüfung bestanden habe. Anstelle einer diskursiven Auslegung beschließt eine Bitte im Namen der Rezipienten den deutschen Text: Darumb so sullen wir pitten got / Wen bir angefochten werden / Von dem posen geist hie auff erden / Das uns dan beistan wol got / Vnd uns helffen auss aller not / Dass helff uns allermeist / Der vater und der sun und der heilig geist / Darzu die berd maid / Die ist ein grundt vest der barmherzigkait (A, V. 369 ff.). Aus der Bezugnahme der deutschen Verserzählung auf die ›Scala coeli‹ ergibt sich ein terminus post quem für den ›Ritter in der Kapelle‹, nämlich die Entstehung der ›Scala coeli‹ um die Mitte des 14. Jahrhunderts.95 Auch bei der

91 Dieser ging und nahm die Gestalt der Frau des Ritters an, in den beiden Armen zwei kleine Söhne tragend, wie der Ritter sie hatte, und kam ohne Gebende und Mantel, mit ganz zerzausten Haaren. 92 Und sie warf jene mit voller Kraft auf den Boden der Kirche. 93 Er ist härter als ein Diamant. 94 Du sollst hinausgehen, damit du nicht den Gottesdienst verhinderst. 95 Eine der ältesten erhaltenen ›Scala coeli‹-Handschriften wurde in Lüneburg 1377 geschrie-

392 | VI Überlieferungskontexte 2 Bewertung der konzeptionellen Umsetzung des Erzählstoffs spielt die Bezugnahme eine wichtige Rolle. So meinte etwa Gerhard Eis, der deutsche Text spiegle die zeitgenössische theologische Diskussion wider, ob die Länge der Buße dem Vergehen angemessen sein müsse oder ob es eher auf die Intensität der Reue ankomme.96 Aufgrund des theologischen Gehalts – Bußfrage und gekonnte Steigerung der Versuchungen (Schwester, Frau, eigenes Leben, eigenes Seelenheil) – nimmt Eis einen Priester als Autor des ›Ritters in der Kapelle‹ an.97 Diese Auffassung wird durch die Kenntnis des Verhältnisses zwischen ›Ritter in der Kapelle‹ und ›Scala coeli‹ jedoch in Frage gestellt, da die theologische Bewertung des Erzählten eben nicht auf den volkssprachigen Verfasser, sondern auf Johannes Gobi zurückzuführen ist. Der Bildungsstand und die Lebensumstände des volkssprachigen Autors lassen sich daher nicht aus dem Text erschließen. Die Ausformungen des Erzählstoffs vom büßenden Ritter weisen hinsichtlich ihrer konzeptionellen und narrativen Umsetzungen eine außerordentlich große Variationsbreite auf. Dabei haben sich sowohl die Entstehungs- und Rezeptionskontexte als auch die theologische Bewertung des Erzählten im Lauf der Zeit stark verändert. Der Erzählstoff wurde als instruktive Lektüre für Mönche und Beichtväter ebenso wie als emotionalisiertes Predigtexempel aufbereitet. Im deutschen ›Ritter in der Kapelle‹ lassen sich kaum eigene Akzentsetzungen des volkssprachigen Verfassers gegenüber der lateinischen Fassung der ›Scala coeli‹ feststellen – aber durch die Sprache und die Versform ist der Erzählstoff in eine andere literarische Tradition gestellt.

3.2 Textgeschichte und Überlieferungskontexte des ›Ritters in der Kapelle‹ 3.2.1 Zum Verhältnis der Textzeugen Der ›Ritter in der Kapelle‹ ist in sieben Handschriften des 15. Jahrhunderts überliefert: A E M N1

Augsburg, Universitätsbibl., Cod. III.1.8° 14 Budapest, Bibl. et Archivum P.P. Franciscanorum, Cod. Esztergom 11 München, BSB, Cgm 714 Nürnberg, GNM, Hs. 4028

ben (Lüneburg, Ratsbücherei, Theol. Quart. 8). Ansonsten ist keine Handschrift des 14. Jahrhunderts aus deutschsprachigem Gebiet bekannt, vgl. Scala coeli (Polo de Beaulieu), S. 72–77. Dies spricht für eine Entstehung des ›Ritters in der Kapelle‹ in der 2. Hälfte des 14. bzw. in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts, da die ersten Textzeugen der Verserzählung aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts stammen. 96 Eis: Prager Fragment, S. 62–64. 97 Eis: Prager Fragment, S. 64.

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹

N2 P W

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393

Nürnberg, GNM, Hs. 5339a Prag, Nationalbibl., Cod. XVI.G.33/2 Weimar, HAAB, Cod. Quart 564

Die Überlieferung konzentriert sich auf den nordbairisch-ostfränkischen Raum und besonders auf Nürnberg (vier Handschriften sind in Nürnberg oder im Nürnberger Raum entstanden). Textgeschichtlich lassen sich die Handschriften in zwei Gruppen teilen. Die erste Gruppe umfasst die Handschriften AN2M, die zweite besteht aus den Handschriften EPWN1. Die Gruppen lassen sich u. a. durch folgende Merkmale konstituieren: In V. A 79 weist Gruppe I die Lesart umb ein har auf, während Gruppe II zwar bietet; in V. A 84 ff. ist die absteigende Folge der Bußangebote in Gruppe I gestört, indem der Beichtiger zuerst eine zweimonatige, dann eine dreimonatige Buße anbietet; in V. A 112 steht in Gruppe I mannes macht, in Gruppe II mannes kraft im Reim. Die Gruppe II lässt sich wiederum in zwei Untergruppen teilen, wobei PWN1 auf der einen Seite, E auf der anderen Seite steht. Die Untergruppe PWN1 zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass die Verse A 250–253 fehlen. In der Hs. E fehlen dagegen die Verse A 99–105 und A 377 ff. Unter den erhaltenen Textzeugen bestehen keine direkten Abhängigkeiten, es muss folglich mit zahlreichen weiteren, verlorenen Textzeugen gerechnet werden. Diese grob skizzierten textgeschichtlichen Gruppen stimmen allerdings nicht mit dem Bild überein, das sich ergibt, wenn man die Überlieferungsträger nach thematischen Handschriftentypen einteilt. Der ›Ritter in der Kapelle‹ ist einerseits in Handschriften mit vorwiegend weltlicher Kleinepik bzw. Lyrik überliefert, die in der Tradition der Nürnberger Rosenplüt-Überlieferung stehen (MN2W), andererseits in Handschriften mit dezidiert oder vorwiegend geistlichem Profil (APEN1) die teilweise monastische Provenienz aufweisen. Im Folgenden werden die Überlieferungskontexte und denkbaren Tradierungswege des ›Ritters in der Kapelle‹ skizziert und besonders bei den Handschriften monastischer Provenienz nach der Stellung des Textes innerhalb der Sammlung gefragt. 3.2.2 Handschriften mit Rosenplüt-Überlieferung N2

Nürnberg, GNM, Hs. 5339a

Papier · 399 Bll. · 19,5 × 14 · Nürnberg · um 1472 Inhalt: Weltliche und geistliche Kleinepik, Lieder und Sprüche, Fastnachtsspiele; Werke von Hans Rosenplüt stehen im Zentrum. Lit.: Kurras: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 47; Kiepe: Priameldichtung, S. 330–348; Reichel: Der Spruchdichter, S. 238 f. (Nr. 21); Klingner/Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 2, S. 112 f.

394 | VI Überlieferungskontexte 2 Die Handschrift N2 wurde von einer Hand, vermutlich von einem Berufsschreiber, geschrieben.98 Darauf deuten die geübte Schrift und die besondere Zusammenstellung des Codex hin. Dessen erster Teil besteht hauptsächlich aus Einzelheften, die jeweils nur einen Text enthalten. Diese Hefte waren wohl ursprünglich für den Einzelverkauf hergestellt, wurden dann aber (vielleicht auf Geheiß eines Käufers) zu einem Konvolut zusammengebunden, wobei derselbe Schreiber, der auch die Einzelhefte geschrieben hatte, die nun entstehenden leeren Seiten (Umschläge der Einzelhefte) mit Priameldichtung füllte.99 Der zweite Teil der Handschrift ist anders angelegt.100 Am Anfang steht hier ein Grundstock, der ein Prosa-Gebetbuch, eine Sammlung geistlicher Priameln, verschiedene Brieftitulaturen sowie eine Sammlung von weltlichen und geistlichen Erzählungen, Minnereden, Fasnachtsspielen und weltlichen Priameln enthält. Der ›Ritter in der Kapelle‹ steht in diesem Grundstock zwischen den Minnereden ›Minner und Trinker‹ (Brandis: Minnereden, Nr. 418) und ›Verschwiegene Liebe‹ (Brandis: Minnereden, Nr. 335). An den Grundstock schließen sich weitere Lagen an, in die auch vier Einzelhefte integriert wurden. Die Handschrift ist einer der drei wichtigsten Textzeugen der RosenplütÜberlieferung.101 Das Interesse des Redaktors an diesem Autor zeigt sich auch darin, dass in der Handschrift mehrere Texte Rosenplüt zugeschrieben werden, die wohl gar nicht von ihm stammen.102 Der ›Ritter in der Kapelle‹ war folglich in den 1470er Jahren im Skriptorium eines Nürnberger Berufsschreibers vorhanden und wurde in eine vorwiegend weltliche Kleinepiksammlung aufgenommen, deren Schwerpunkt auf fast zeitgenössischer und aus der näheren Umgebung stammender Literatur lag. M

München, BSB, Cgm 714

Papier · IV + 489 Bll. · 21 × 15 · Raum Nürnberg · 3. Viertel 15. Jahrhundert Inhalt: Weltliche und geistliche Kleinepik, Minnereden, Fasnachtsspiele. Lit.: Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 691–867 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,5). Wiesbaden 1984, S. 79–89; Gerd Simon: Die erste deutsche Fastnachtsspieltradition. Zur Überlieferung, Textkritik und Chronologie der Nürnberger Fastnachtsspiele des 15. Jahrhunderts. Mit kurzen Einführungen in Verfahren der quantitativen Linguistik (Germanische

98 Vgl. Kiepe: Priameldichtung, S. 332. 99 Vgl. Kiepe: Priameldichtung, S. 332. Genaue Inhaltsübersicht der Handschrift S. 335–348. 100 Vgl. Kiepe: Priameldichtung, S. 333 f. 101 Außer der Nürnberger Handschrift sind zu nennen: Leipzig, UB, Ms 1590 und Dresden, SLUB, Mscr.M.50 (beide Nürnberg, 1460er Jahre). 102 ,Der Pfaffe in der Reuse‘, Bl. 247v–256r; Peter Schmiehers ›Wolfsklage‹, Bl. 315v–320v; Peter Schmiehers ›Student von Prag‹, Bl. 333v–336v.

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹

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Studien 240). Lübeck/Hamburg 1970, S. 12–14, 87; Reichel: Der Spruchdichter, S. 234 f. (Nr. 15); Klingner/Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 2, S. 103 f.

Den ersten Teil dieser Handschrift bildet eine Sammlung weltlicher und geistlicher Kleinepik, den zweiten Teil eine Sammlung von Fasnachtsspielen. Der ›Ritter in der Kapelle‹ steht zwischen der geistlichen Erzählung ›Der Württemberger‹ und der Minne-Erzählung ›Frauentreue‹. Durch das Inhaltsverzeichnis und die Überschriften der Handschrift ist der ›Ritter in der Kapelle‹ mit diesen beiden Texten und mit dem darauffolgenden ›Herzmäre‹ Konrads von Würzburg in eine Reihe gestellt: Der Ritter mit den seln / Der Ritter in der cappelln / Der Ritter mit dem glen rey¨ten / Der Ritter mit dem hertzen (Bl. Iv). Durch die Fokussierung auf die Protagonisten wird in den Überschriften eine Gruppe von Ritter-Erzählungen konstruiert. Diese Reihenbildung ist allerdings sehr oberflächlich, da sie nicht über den Stand der Protagonisten hinausgeht und keine Entsprechung auf der konzeptionellen Ebene der Texte hat. Durch die in der Handschrift sämtlich Rosenplüt zugeschriebenen Fasnachtsspiele und drei weitere Rosenplüt-Texte im ersten Teil steht auch diese Handschrift in der Tradition der Nürnberger Rosenplüt-Überlieferung. Die Handschrift gehörte im 15. Jahrhundert dem Nürnberger Bürger Michel Geyswurgel († 1499).103 Die Handschriften N2 und M stehen einander nicht nur vom inhaltlichen Profil, sondern auch von der Textgestalt des ›Ritters in der Kapelle‹ her nahe. Dies lässt vermuten, dass der ›Ritter in der Kapelle‹ bereits um die Mitte des 15. Jahrhunderts in die Tradition der Nürnberger Rosenplüt-Überlieferung Eingang gefunden hat und innerhalb dieser Tradition weiterüberliefert wurde. W

Weimar, HAAB, Cod. Quart 564

Papier · 142 Bll. · 18,7 × 15 · Nürnberg (?) · 3. Viertel 15. Jahrhundert Inhalt: I: ,Weimarer Liederhandschrift‘ II: Kleinepiksammlung Bl. 107r–108v Heinrich der Teichner: ›Der Welt Lauf‹ (Heinrich der Teichner [Niewöhner], Nr. 640) Bl. 108v, 122r–124v ›Der Bauern Lob I‹ Bl. 109v–116v ›Minneklage‹ Bl. 116v–119v Spruchdichtung Bl. 124v–125r ›Vom Nutzen der Messe‹ (Reimpaargedicht) Bl. 125v–127v, 120r/v ›Rosenplütsches Fasnachtsspiel‹ K 40104 Bl. 120v–121v, 128r–131v ›Rosenplütsches Fasnachtsspiel‹ K 19 Bl. 131v–137v ›Der Ritter in der Kapelle‹

103 Vgl. Schneider: Die deutschen Handschriften V,5, S. 79. 104 Die Nummern verweisen auf Adelbert von Keller: Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert. 3 Bde. (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 28–30). Stuttgart 1853.

396 | VI Überlieferungskontexte 2 Bl. 137v–140r Bl. 140r–141v

Drei Paare der Rosenplüt zugeschriebenen ›Weingrüße und -segen‹ ›Stiefmutter und Tochter‹

Lit.: Gisela Kornrumpf: Weimarer Liederhandschrift. In: 2VL 10 (1999), Sp. 803–807; Elisabeth Morgenstern-Werner: Die Weimarer Liederhandschrift Q 564 (Lyrik-Handschrift F) (GAG 534). Göppingen 1990; Franziska Wenzel: Meisterschaft im Prozess. Der Lange Ton Frauenlobs. Texte und Studien. Mit einem Beitrag zu vormoderner Textualität und Autorschaft (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 10). Berlin 2012, S. 65–70, 330; Klingner/ Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 2, S. 131.

Die sog. ›Weimarer Liederhandschrift‹ ist aus zwei Teilen zusammengesetzt. Der erste ist eine Lyriksammlung, in deren Zentrum die Liedproduktion Frauenlobs steht. Der zweite Teil, an dem sowohl der Schreiber des Lyrik-Teils als auch ein zweiter Schreiber beteiligt waren, enthält kleinepische Texte, darunter auch den ›Ritter in der Kapelle‹, sowie zwei ›Rosenplütsche Fasnachtsspiele‹ und drei Paare der wohl von Rosenplüt stammenden ›Weingrüße‹. Die Handschrift W enthält somit Texte, die von Rosenplüt stammen oder ihm zugeschrieben wurden, und partizipiert an der Nürnberger Überlieferungstradition der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts.105 Die Werke Rosenplüts stehen hier allerdings nicht im Zentrum, und die Textgestalt des ›Ritters in der Kapelle‹ gehört einer anderen textgeschichtlichen Gruppe an als N2 und M. 3.2.3 Handschriften mit geistlichem Profil A

Augsburg, UB, Cod. III.1.8° 14

Papier · I + 94 Bll. · 14,4 × 9,9 · Nürnberg · 4. Viertel 15. Jahrhundert Inhalt: Bl. Iv Inhaltsverzeichnis Bl. 1r–10v ›Sieben Votivmessen, Gregor dem Großen offenbart‹ Bl. 11r–33r ›Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae‹ dt. Bl. 33v–41v Ablässe im Nürnberger Heiliggeistspital Bl. 42r–54v Ablass bei der Heiltumsweisung und für das Nürnberger Heiliggeistspital Bl. 54v–64v Privilegien und Ablässe für den Deutschorden Bl. 65r–78v Passionsbericht aus dem Johannesevangelium (Kap. 18–19) dt. Bl. 79r–95v ›Der Ritter in der Kapelle‹ Lit.: Karin Schneider: Deutsche mittelalterliche Handschriften der Universitätsbibliothek Augsburg. Die Signaturengruppen Cod. I.3 und Cod. III.1 (Die Handschriften der Universi-

105 Vgl. Kornrumpf: Weimarer Liederhandschrift, Sp. 804: »Im zweiten Teil [...] sind acht kleinere Reimpaardichtungen des 14. und 15. Jahrhunderts zusammengetragen, die zum Nürnberger Repertoire seit ca. 1455 gehören (vgl. vor allem die Rosenplüt-Handschriften München, cgm 714; Dresden, Sächs. LB, Mscr. M 50; Leipzig, UB, cod. 1590; Nürnberg, Germ. Nationalmus., Hs 5339a).«

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹

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tätsbibliothek Augsburg II,1). Wiesbaden 1988, S. 446–448; Nine Robijntje Miedema: Die ›Mirabilia Romae‹. Untersuchungen zu ihrer Überlieferung mit Edition der deutschen und niederländischen Texte (MTU 108). Tübingen 1996, S. 96 f; Nine Robijntje Miedema: Die römischen Kirchen im Spätmittelalter nach den ›Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae‹ (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 97). Tübingen 2001, S. 50.

Die Handschrift A enthält ausschließlich geistliche Texte; im Zentrum steht das Thema des Ablasses, das sowohl in dem weitverbreiteten Traktat über die Ablässe der Hauptkirchen Roms als auch in den Texten behandelt wird, die sich mit Ablässen an Nürnberger Institutionen befassen. Die Erzählung vom ›Ritter in der Kapelle‹ passt mit ihrer Beicht- und Bußthematik gut zu dieser Ausrichtung. Die narrative Gestalt teilt der ›Ritter‹ mit den kurzen Prosaerzählungen aus den ›Sieben Votivmessen‹. Die Wirksamkeit der Votivmessen wird dort anhand zweier Exempla bestätigt. Im ersten Exempel erscheint einem Priester Karls des Großen eine Seele, die im Fegefeuer ist und am ganzen Körper brennt; der Priester liest die Votivmessen für sie; am Ende der siebten Votivmesse erscheint die jetzt erlöste Seele wieder und leuchtet heller als die Sonne. Das zweite Exempel berichtet von zwei Klosterfrauen, die in der Predigt von der Wirksamkeit der Messen hören und einander versprechen, dass diejenige, die länger lebe, der früher Verstorbenen die Votivmessen lesen lassen solle. Als die eine Klosterfrau stirbt, lässt die andere die Messen lesen, und am Ende der siebten Messe erscheint die erlöste Seele der Verstorbenen in einem so hellen Glanz, dass die Klosterfrau drei Tage lang in Verzückung bleibt. Die Gemeinsamkeit der narrativen Gestalt zwischen den Exempla und dem ›Ritter‹ wird vom Schreiber der Handschrift in den jeweiligen Überschriften zum Ausdruck gebracht: Die ›Sieben Votivmessen‹ nennt er ein hwbsche jstori von siben messen (Bl. Iv), den ›Ritter in der Kapelle‹ ein hubsche histori von einem riter, bie er pwsset (Bl. 95v). Auch wenn sich thematische und erzähltechnische Verbindungen zwischen dem ›Ritter‹ und den restlichen Texten der Handschrift ergeben, scheint die Verserzählung innerhalb der Sammlung eine eher marginale Stellung einzunehmen. Während der Hauptteil der Handschrift aus regelmäßigen Quinionen besteht, handelt es sich bei den zwei Lagen, die den ›Ritter in der Kapelle‹ enthalten, um einen Quaternio und einen Quinio aus anderem Papier. Diese beiden Lagen wurden zwar von der gleichen Hand geschrieben wie der Hauptteil, aber die verwendeten Tinten unterscheiden sich. Dies spricht dafür, dass der ›Ritter in der Kapelle‹ in einem anderen Arbeitsschritt geschrieben wurde und seine Aufnahme in die Sammlung vielleicht nicht ursprünglich vorgesehen war. Ein weiteres Indiz dafür ist das auf Bl. Iv eingetragene Inhaltsverzeichnis, in dem nur der ›Ritter in der Kapelle‹ fehlt. Es ist daher anzunehmen, dass die beiden Lagen, die den ›Ritter‹ enthalten, erst bei der Bindung der Handschrift, als das auf dem ersten Blatt der ersten Lage stehende Inhaltsverzeichnis schon eingetragen war, zum Hauptteil hinzugefügt wurden. Die Bindung der Handschrift wurde nach Ausweis der Einbandstempel in der

398 | VI Überlieferungskontexte 2 Buchbinderei des Nürnberger Augustinereremitenklosters vorgenommen.106 Die Handschrift befand sich also zum Zeitpunkt der Bindung in einem monastischen Umfeld. Fraglich ist, ob sie auch in diesem Umfeld entstand bzw. für dieses Umfeld bestimmt war. Die Zusammenfügung unterschiedlicher Faszikel vom gleichen Schreiber deutet auf eine kontinuierliche und umfangreiche Schreibarbeit hin, wie sie für ein klösterliches Skriptorium vorstellbar wäre. Es ist aber durchaus auch denkbar, dass ein städtischer, laikaler Schreiber die Handschrift anfertigte und sie nur zum Binden ins Kloster gab. Da keine Hinweise auf die weitere Besitzgeschichte vorliegen, muss offen bleiben, wie eng der Bezug der Handschrift zur monastischen Sphäre ist. Die Textgestalt der Handschrift A ist sehr nahe mit den Textzeugen N2 und M verwandt, die in der Rosenplüt-Tradition stehen. Dies deutet auf einen Austausch zwischen unterschiedlichen Kreisen von Handschriftenproduzenten und Literaturrezipienten hin. Auch wenn monastische Produzenten und Rezipienten sich für die Handschrift A nicht sicher nachweisen lassen, hebt sich doch das Profil der auf geistliche Gebrauchsliteratur in Prosa fokussierten Handschrift A deutlich von demjenigen der Handschriften N2 und M ab, die sich auf unterhaltsame Versliteratur konzentrieren. Die Handschriften sind somit auf Leserkreise mit unterschiedlichen literarischen Interessen ausgerichtet, denen allerdings der Lokalbezug zur Stadt Nürnberg gemeinsam ist. Die drei verbleibenden Textzeugen des ›Ritters in der Kapelle‹, die ebenfalls ein geistliches Profil aufweisen, sind nicht im Nürnberger Raum entstanden. N1

Nürnberg, GNM, Hs. 4028

Papier · noch 132 Bll. · 30 × 20,5 · westlicher Teil des mittelbair. Sprachgebiets · um 1468 Inhalt: Bl. 1r–97v Thüring von Ringoltingen: ›Melusine‹ Bl. 98r–130v Sammlung von 66 Prosaexempla Bl. 131r/v ›Der König im Bad‹ Bl. 132r–133v ›Der Ritter in der Kapelle‹ Lit. zu dieser Handschrift s. Kap. V.2.5.1.

In dieser Handschrift erscheinen die beiden geistlichen Verserzählungen ›Der König im Bad‹ und ›Der Ritter in der Kapelle‹ als Anhang einer Sammlung von geistlichen Prosaexempla, deren Schwerpunkt auf der Beicht- und Bußthematik

106 Vgl. Schneider: Deutsche mittelalterliche Handschriften, S. 446. Die Schreibsprache sowie die ortsspezifischen Nürnberger Ablässe machen auch eine Entstehung der Handschrift in Nürnberg wahrscheinlich. Zum Augustinereremitenkloster, das in den 1460er Jahren nach jahrzehntelangen Bemühungen reformiert wurde, vgl. Hellmut Zschoch: Klosterreform und monastische Spiritualität im 15. Jahrhundert. Conrad von Zenn OESA (gest. 1460) und sein Liber de vita monastica (Beiträge zur Historischen Theologie 75). Tübingen 1988, S. 10–49.

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹

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liegt. Ähnlich wie in der Handschrift A ist der ›Ritter in der Kapelle‹ hier thematisch gut eingebunden, sein kodikologischer Status zeigt jedoch, dass er innerhalb der Sammlung eine eher prekäre Stellung hat. Der Text steht auf einer Lage aus anderem Papier als die vorhergehenden Faszikel am Schluss der Handschrift, was eher den Eindruck eines Nachtrags als einer planvollen Einbindung in die Sammlung macht. E

Budapest, Bibl. et Archivum P.P. Franciscanorum, Cod. Esztergom 11

Papier · 209 Bll. · 13,9 × 10,4 · mittelbair. Sprachgebiet · 2. Hälfte 15. Jahrhundert Weiteres zu dieser Handschrift s. oben, Kap. VI.2.3.2.

In der Handschrift E steht der ›Ritter in der Kapelle‹ ebenfalls in einem vorwiegend geistlichen Kontext. In dieser Sammlung sind sowohl Vers- als auch Prosatexte vertreten. Texttypologisch steht der ›Ritter in der Kapelle‹ der ›Sultanstochter im Blumengarten‹, dem ›Wiener Oswald‹ oder dem Erzähllied vom ›Grafen von Savoyen‹ nahe. Thematische Verbindungen ergeben sich jedoch auch zu Prosatexten der Sammlung, etwa zu einem Beichtformular und einem Verzeichnis von Sünden, die zur Exkommunizierung führen, falls sie nicht gebüßt werden. In dieser Perspektive konnte der ›Ritter in der Kapelle‹ als narrative Darstellung eines besonders vorbildlichen Bußvorgangs gelesen werden. P

Prag, Nationalbibl., Cod. XVI.G.33/2

Papier · 211 Bll. · 10,5 × 8 · Eger (?) · 2. Hälfte 15. Jahrhundert Inhalt: Bl. 1r–17v ›Tagzeiten vom Leiden Christi zu jeder Viertelstunde‹ Bl. 18r–25v Gebet zu Johannes Baptist Bl. 26r–32v Gebet zur hl. Clara Bl. 33r–36v Gebet zum hl. Franziskus Bl. 36r–37r Gebet zu Christus Bl. 37v–38v Gebet zum hl. Hieronymus Bl. 39r–40r Heinrich Seuse: Morgengebet Bl. 40r/v Gedicht über den Namen Jesu Bl. 40v–51r ›Vom Loben Gottes‹ Bl. 52r–70v Eberhard Mardach: ›Sendbrief von wahrer Andacht‹ Bl. 71r–75r ›Acht Nutzen des Eucharistie-Sakraments‹ Bl. 75v–81v Traktat vom Leiden Bl. 82r–84r Mahnung, Leiden geduldig zu ertragen Bl. 84v–89r Lied einer Nonne Bl. 90r–106v ›Geistliche Hochzeit‹ Bl. 107r–148r Unterweisung für eine Klarissin Bl. 148r–157v ›Geistliches ABC für eine Klosterfrau‹ Bl. 158r–159r Lebensanweisung Bl. 159v–168r ›Vom Gedenken an Christus‹ Bl. 168r–178v ›Vierzehn geistliche Jungfrauen‹ Bl. 179r–187r ›Prager (omd.) Spiel über Maria in der Passion‹ Bl. 188r ›Vom falschen Klosterleben‹

400 | VI Überlieferungskontexte 2 Bl. 189r–196v Bl. 197r Bl. 198r–200r

›Vom wahren Klosterleben‹ Annenlied ›Ritter in der Kapelle‹ (frgm.)

Lit.: Walther Dolch: Katalog der deutschen Handschriften der k. k. öff. und Universitätsbibliothek zu Prag. I. Teil: Die Handschriften bis etwa z. J. 1550. Prag 1909, S. 96–99 (Nr. 157); ˇ eske´ Republice. Hrsg. von: Marie Rukopisne´ Fondy Centra´lnı´ch a Cirkevnı´ch Knihoven v C ˇ Tosˇnerova´ (Pru˚vodce Po Rukopisny´ch Fondech V Ceske´ Republice IV). Prag 2004, S. 127; Ulla Williams/Werner Williams-Krapp: Die Dominikaner im Kampf gegen weibliche Irrtümer. Eberhard Mardachs ›Sendbrief von wahrer Andacht‹. Mit einer Textedition. In: Deutsch-böhmische Literaturbeziehungen – Germano-Bohemica (FS Va´clav Bok). Hrsg. von Hans-Joachim Behr/Igor Lisovy´/Werner Williams-Krapp (Studien zur Germanistik 7). Hamburg 2004, S. 427–446, hier S. 431.

Die Handschrift P gehört zu einer Gruppe von drei ähnlich eingerichteten Handschriften aus dem späten 15. bzw. frühen 16. Jahrhundert (XVI.G.22, Bd. 1–3). Das Format beträgt jeweils 10,5 × 8, die Handschriften weisen ähnliche, mit braunem Leder überzogene Holzdeckelbände auf. Die drei Handschriften befanden sich im Besitz des Klarissenklosters in Eger.107 Der schreibsprachliche Befund sowie die inhaltliche Zusammenstellung lassen eine Entstehung in diesem oder für dieses Kloster naheliegend erscheinen.108 Auf ein monastisches Zielpublikum deutet der Sendbrief Eberhard Mardachs, in dem es heißt, Klosterleute seien zu mehr Geduld verpflichtet als Laien (So ist doch der orden, in dem du pist, als wol als ander orden, ein stant der volkumenheit, vnd darvmb pistu daz vil mer schuldig, denn ein ytlicher werltlicher ley, Bl. 60v) und die Traktate vom wahren und falschen Klosterleben; auf ein frauenklösterliches Zielpublikum weisen das Lied über den Abschied einer Nonne von der Welt, die ›Geistliche Hochzeit‹ und das ›Geistliche ABC für eine Klosterfrau‹, auf den Klarissenorden die Gebete von vnßer heiligen mutter Sant Claren (Bl. 26r) und vnßerm heiligen vater Sancto Francisco (Bl. 33r) sowie die Unterweisung für eine Klarissin.109 Ein Bezug zu Eger könnte in dem Gebet an Hieronymus bestehen, da dieser Heilige in Eger besonders verehrt wurde.110

107 Dort wurden die Handschriften auch in der frühen Neuzeit noch aufbewahrt, wie Einträge aus dem 17. und 18. Jahrhundert zeigen: Auf Bl. 13v findet sich die Notiz einer Nonne, wann sie ihre Röcke in den Jahren 1683/84 in die Schneiderei brachte, und auf Bl. 187v steht ein Vermerk über den Eintritt dreier Novizinnen ins Klarissenkloster in Eger, wohl aus dem Jahr 1757. 108 Vgl. Dolch: Katalog, S. 158. 109 Der Beginn des Textes spricht in unspezifischer Weise Menschen an, die in ein Kloster eintreten wollen; auf Bl. 129v/130r findet sich jedoch ein Hinweis auf die intendierten Rezipientinnen: es sey dan sach, das du lernst zemen dein zungen von vnnützen eyteln geschwetz vnd lernst sweigen, so kumstw ny¨mer zu der volkumenheit vnd wirst nicht genandt eyn warhaftige geistliche swester vnd tochter sancta Clara oder Francisi. 110 Vgl. Eis: Prager Fragment, S. 53.

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Der Ritter in der Kapelle‹

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Die Textsammlung der Handschrift P vermittelt einen guten Eindruck von der in einem Klarissenkloster des späten 15. Jahrhunderts rezipierten Literatur und den dahinterstehenden religiösen Vorstellungen. Die Sammlung wird eröffnet durch einen Tagzeitentraktat, der die Ereignisse der Leidensgeschichte Jesu auf die Viertelstunden des Tages verteilt. In der ersten Stunde (Vesperzeit) finden viertelstündlich folgende Geschehnisse statt: j Di frogung von obent esßen. ij Dy for sagung der kunftigen ding. iij Dy frewntlich wanderung der jungern Petry & Johannes. iiij Die fleysig zu wereitten (Bl. 1r/v). Die Tendenz zur Systematisierung, die sich in der akribischen Festlegung der Heilsgeschichte auf einen genauen Zeitplan zeigt, wird durch eine Auflistung verschiedener Schmerzen Christi und Mariae noch verstärkt. In roten Kästchen werden zwischen den viertelstündlichen Ereignissen die Blutvergießen und Stürze Jesu sowie die Leiden Mariae registriert und durchgezählt. Diese Zählbarkeit der Heilsgeschichte bietet die Möglichkeit einer ganz konkreten Orientierung am Passionsgeschehen und einer Strukturierung des eigenen Lebens im andächtigen Nachvollzug. Einen Orientierungsrahmen bieten auch zahlreiche andere Texte der Handschrift. Dabei spielt die Verankerung im Orden bzw. allgemein im klösterlichen Umfeld eine wichtige Rolle, etwa bei den Gebeten und den Traktaten, die Lebensanweisungen bieten. Andere Texte betonen stärker die persönlich-emotionale Hinwendung zum Göttlichen, etwa der Traktat ›Vom Gedenken an Christus‹, in dem empfohlen wird, sich Jesus immer entsprechend der gerade aktuellen eigenen Situation bzw. Tätigkeit vorzustellen. Dabei werden alltägliche Tätigkeiten wie Gehen, Essen etc. auf Ereignisse der Passionsgeschichte bezogen. So soll man etwa beim Gehen an den Gang Jesu vor die Richter oder zur Kreuzigung, beim Essen an das letzte Abendmahl denken. Im Text von den ›Vierzehn geistlichen Jungfrauen‹ wird geschildert, wie vierzehn Jungfrauen das Jesuskind pflegen und versorgen: Das ist, wie man dem kindlein Jhesus sol dinen jn seiner kintheit. Sol man es zum ersten einwickeln in tuchlein, czum andern legen jn ein wigen, czum driten sein huten, czum virden sol man es paden, czum funften sol man es speißen vnd trencken (Bl. 168r/v). Die Rezipientin kann durch Identifkation mit den Figuren diese alltäglichen Handlungen nachvollziehen, bevor sie mittels allegorischer Verfahren auf abstrakte Glaubenswahrheiten bezogen werden. Im Gegensatz zu den Erbauungsbüchern, in denen etwa der ›König im Bad‹ überliefert ist, handelt es sich bei der Handschrift P also um ein dezidiert monastisches Erbauungsbuch, in dem das klösterliche Umfeld als Identifikations- und Orientierungsrahmen dient. Die Handschrift besteht aus mehreren Faszikeln, die von verschiedenen Händen geschrieben wurden. Es ist denkbar, dass verschiedene Nonnen an der Herstellung der Handschrift beteiligt waren, es ist jedoch auch möglich, dass die Faszikel (teilweise) außerhalb des Klosters entstanden sind und erst dort zu einer Sammlung vereint wurden. Der ›Ritter in der Kapelle‹ steht auf einer eigenen,

402 | VI Überlieferungskontexte 2 fragmentarischen Lage am Ende der Handschrift. Möglicherweise handelte es sich ursprünglich um ein Einzelheft. Wie in den Handschriften A und N1 nimmt die Erzählung auch hier eine marginale Stellung innerhalb der Sammlung ein und wirkt wie ein mehr oder weniger zufällig beigefügter Nachtrag. Eine enge thematische Einbindung lässt sich nicht feststellen. Die Handschrift P bestätigt den Eindruck, dass geistliche Verserzählungen zwar vereinzelt in monastischem Umfeld rezipiert wurden, dass sie in Handschriften aus diesem Umfeld jedoch meist eine marginale oder prekäre Stellung hatten. Fragt man danach, auf welchen Wegen der ›Ritter in der Kapelle‹ nach Eger gelangt sein könnte, ist zunächst festzuhalten, dass ein Austausch zwischen Nürnberg, dem Überlieferungszentrum des Textes, und Eger durch regen Handelsverkehr gegeben war. Das Egerer Klarissenkloster, in dem die Handschrift P aufbewahrt wurde, hat jedoch noch eine engere Verbindung mit Nürnberg: Es wurde in den Jahren 1465–70 durch eine Delegation von fünf Nürnberger Klarissen reformiert.111 Es ist denkbar, dass der ›Ritter in der Kapelle‹ bei dieser Gelegenheit nach Eger gekommen ist und dort – vielleicht über mehrere Zwischenstufen112 – den Weg in die Handschrift P gefunden hat. Besonders deutlich zeigt sich am Beispiel des ›Ritters in der Kapelle‹ die prinzipielle Offenheit zwischen Überlieferungstraditionen geistlich-monastischer Prägung und Überlieferungstraditionen unterhaltsamer Versliteratur in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Der ›Ritter in der Kapelle‹ fand sowohl innerhalb der Nürnberger Rosenplüt-Überlieferung als auch in geistlich geprägten Kontexten seinen Platz. Zwei Handschriften mit geistlichem Profil (A, P) weisen Bezüge zur monastischen Lebenswelt auf. Die Textgestalt des ›Ritters in der Kapelle‹ in der Handschrift P ist mit derjenigen der Handschrift A jedoch nicht näher verwandt, was darauf hindeutet, dass ein wiederholter Austausch zwischen den unterschiedlichen literarischen Interessenssphären stattgefunden hat.

111 Zur Reformierung der Egerer Klarissen vgl. Karl Siegl: Das Salbuch der Egerer Klarissinnen v. J. 1476 im Egerer Stadtarchiv. Prag 1905, S. 11–13; Vincenz Pröckl: Eger und das Egerland. Historisch, statistisch und topographisch dargestellt. 2 Bde. Prag/Eger 1845, hier Bd. 1, S. 67 f. und Bd. 2, S. 132–139, bes. S. 133 f.: Fünf Nürnberger Klarissen reformierten 13 Egerer Nonnen und nahmen 17 Novizinnen auf; 1470 waren 36 Nonnen im Kloster; vier Nonnen, die vor der Reformation das Kloster verlassen hatten, traten wieder ein. 112 Zwischenstufen sind bei dieser Hypothese anzunehmen, da zwischen der Reformierung des Klosters und der Entstehung der Handschrift P etwa 30 Jahre liegen.

Zusammenfassung

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4 Zusammenfassung Geistliche Verserzählungen hatten in den Handschriftentypen, in denen sie tradiert wurden, einen je unterschiedlichen Status. Dies zeigt sich besonders deutlich an den Beispielen geistlicher Verserzählungen, die in monastisch geprägten Überlieferungskontexten stehen. Ihr marginaler Status in diesem Tradierungsumfeld äußert sich etwa darin, dass die Erzählungen oft am Ende einer Sammlung oder als nachträglich zugebundener Faszikel erscheinen, also eher zufällig mitüberliefert als bewusst in die Sammlung eingebunden wurden. Das Interesse, das geistlichen Verserzählungen in diesem Überlieferungsumfeld entgegengebracht wurde, scheint sich in den meisten Fällen auf ihren religiösen Inhalt konzentriert zu haben. Betrachtet man diese Ebene, erscheinen manche Texte besonders geeignet für bestimmte Überlieferungskontexte. So erstaunt es kaum, dass gerade das ›Zwölfjährige Mönchlein‹ und die ›Sultanstochter im Blumengarten‹ mit ihren klösterlichen Protagonisten zu den wenigen geistlichen Verserzählungen gehören, die in monastische Überlieferungskontexte gelangt sind. Die Versform war in diesem von Prosa dominierten Kontext unwichtig oder sogar unerwünscht, was sich teilweise am Layout ablesen lässt, in dem die Verse nicht abgesetzt und die Verstexte dadurch dem Erscheinungsbild von Prosatexten angeglichen werden. Wie eine solche Tradierungsform nach und nach auch zur Zersetzung der Versform führen kann, zeigt das Beispiel des ›Frankfurter Würzgärtleins‹. Während etwa der ›Ritter in der Kapelle‹ in den beiden Textzeugen, die mit einem monastischen Umfeld in Verbindung stehen, eine marginale Stellung als Nachtrag am Schluss der jeweiligen, von Prosa geprägten Sammlung hat, ist sein Status in den Textzeugen, die in der Rosenplüt-Überlieferungstradition stehen, ein ganz anderer. Dort spielt gerade die Versform eine wichtige Rolle, und der ›Ritter‹ ist in ein Umfeld anderer kleinepischer Texte integriert.

VII Überlieferungskontexte 3: Das Beispiel der ›Zwei Sankt Johannsen‹ Heinzelins von Konstanz Im Panorama der ›König im Bad‹-Überlieferung fehlen neben monastischen Überlieferungskontexten auch Handschriften, die in einem von (klerikaler) Gelehrsamkeit geprägten Umfeld produziert oder rezipiert wurden. Dennoch gibt es geistliche Verserzählungen, die in einem derartigen Kontext überliefert sind. Bei der Untersuchung dieses Kontextes muss zunächst umrissen werden, was unter ›gelehrt‹ zu verstehen ist. Ich bezeichne damit eine Gruppe von Überlieferungszeugen, die keineswegs homogen ist; sie besteht einerseits aus Handschriften, die aufgrund ihres Inhalts ohne ein gewisses Maß an gelehrter Bildung (oder die Vermittlung eines entsprechend Gebildeten) nicht rezipiert und verstanden werden können; andererseits beziehe ich auch Handschriften ein, die von ihrem Inhalt her nicht unbedingt auf ein gelehrtes Publikum hindeuten, deren Rezeption in einem gelehrten Umfeld aber durch entsprechende Spuren gesichert ist oder die nachweislich in einem gelehrten Umfeld entstanden sind. Bei der ersten Teilgruppe handelt es sich also um Handschriften, die ein dezidiert anderes Zielpublikum anvisieren als etwa Kleinepiksammlungen oder Erbauungsbücher. Wie sich monastische Handschriften an ein Publikum wenden, das mit der klösterlichen Lebenswelt vertraut war (oder vertraut gemacht werden sollte), wenden sich Handschriften mit gelehrtem Anspruch an ein Publikum, das Latein konnte und sich in verschiedenen Wissenschaftsbereichen auskannte (oder dies alles lernen sollte). Bei der zweiten Teilgruppe handelt es sich um Handschriften, die entweder durch ihre Produzenten oder durch ihre nachweisbaren Rezipienten einen Bezug zu einem gelehrten Umfeld aufweisen. Auf der Ebene der Texte stellt sich dabei die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen dem ästhetisch-konzeptionellen Anspruch der Verserzählungen und ihrem gelehrten Überlieferungskontext besteht.

1 Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹ | 405

1 Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹ in ihrem literarischen und kulturellen Referenzrahmen 1.1 Diskurs und Narration in Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹ Eine Erzählung, die in gelehrten Kontexten überliefert ist, sind Heinzelins von Konstanz ›Zwei Sankt Johannsen‹ (83 Str./498 V., um 1320/40).1 In einem wohlhabenden Kloster leben viele Nonnen, die außerordentlich fromm und tugendhaft sind. Das Klosterleben wird nur durch einen Streit gestört, der zwischen zwei Nonnen entbrannt ist: Die eine verehrt Johannes Baptist, die andere den Evangelisten. Trotz vieler Ermahnungen und auferlegter Bußen lassen die Nonnen nicht von ihrem ergebnislosen Disput ab, welcher Johannes der Größere sei. Eines Nachts erscheint der einen Nonne ihr geliebter Johannes Evangelist im Traum. Er tadelt ihr Verhalten, zählt ihr die Vorzüge des Baptisten auf, der viel heiliger sei als er, und ermahnt die Nonne, den Streit zu beenden. Zur selben Zeit erscheint der anderen Nonne Johannes Baptist. Auch er tadelt den Streit und macht die Nonne auf die Vorzüge des Evangelisten aufmerksam; er verweist auf die Freundschaft, die im Himmel zwischen den beiden Johannsen bestehe und verlangt ebenfalls das Ende des Streites. Zur Mette kommen beide Nonnen vor die Priorin und berichten von ihren Visionen. Sie versöhnen sich und streiten fortan nicht mehr.

Die ›Zwei Sankt Johannsen‹ entsprechen in verschiedener Hinsicht nicht der typischen Erscheinungsform geistlicher Verserzählungen. Die Erzählung ist nicht in vierhebigen Reimpaaren, sondern in sechszeiligen, kreuzgereimten Strophen gehalten, die insofern einen höheren formalen Anspruch an den Verfasser stellen, als dieser jeweils drei Reimworte finden muss. Während Prolog und Epilog in vielen geistlichen Verserzählungen ganz fehlen oder sich auf wenige Verse beschränken, machen die diskursiven Teile in den ›Zwei Sankt Johannsen‹ mehr als ein Viertel des gesamten Textes aus. Dies mag seinen Grund auch darin haben, dass die diskursiven Partien besonders gut geeignet sind, um den ästhetischen und gelehrten Anspruch des Textes zur Schau zu stellen. Der neun Strophen umfassende Prolog ist dem Lob Gottes gewidmet. Verschiedene Bezeichnungen und Sinnbilder für den Allmächtigen werden dabei kunstvoll ineinander verflochten: der alte kue nig Sabaot (Str. 2,3) hat den Teufel bezwungen, als er mit seinem Blut die Menschheit verjüngt (d.h. erlöst) hat, wie der Phönix sich in der Glut verjüngt. Das aus der ›Physiologus‹-Tradition bekannte Bild des Phönix wird hier umakzentuiert, indem Selbstverbrennung und Verjüngung nicht auf Kreuzestod und Auferstehung Christi verweisen, sondern das vergossene Blut Christi zum Feuer wird, in dem sich die sündige Menschheit ver-

1 Vgl. Ingeborg Glier: Heinzelin von Konstanz. In: 2VL 3 (1981), Sp. 936–938. Ausgabe: Thomas Cramer: Die kleineren Liederdichter des 14. und 15. Jahrhunderts. Bd. 1. München 1977, S. 375–392.

406 | VII Überlieferungskontexte 3 jüngt und neugeboren wieder aufersteht. Auf dieses Bild folgen die ebenfalls aus dem ›Physiologus‹ bekannten Vergleiche Christi mit dem Pelikan (Str. 3) und dem Löwen (Str. 4), die ihre Jungen mit dem eigenen Blut speisen bzw. vom Tod erwecken. In Str. 4–6 werden typologische Bezüge zum Alten Testament hergestellt: Christus erscheint als David, der Goliath bezwang; als zweite eherne Schlange des Moses; als Führer der Gläubigen durchs Rote Meer. In Str. 7 wird Christus als ie gewesner iungelink und Lebensbrunnen bezeichnet, was indirekt die Bezeichnung ›alter König Sabaoth‹ der zweiten Strophe wieder aufnimmt. Auf das kunstvoll gestaltete Gotteslob lässt der Erzähler zwei Prologtopoi folgen: eine Bitte um Gottes Beistand beim Dichten (Str. 8) und eine Quellenberufung (Str. 9). Im Gegensatz zum aufwendig gestalteten Prolog ist der narrative Teil des Textes eher schlicht gehalten. Zwischen den beiden Erscheinungsberichten steht eine Publikumsadresse, in der der Erzähler das Mirakel kommentiert: Nu her, wer fremder zeichen ger / ald wer der warheit ruo che! / der kum in gotes namen her, / o o niht furbaz er si suche, / er fund ir niht, dez bin ich wer, / so vil an mangem buche (Str. 38). Gleichzeitig werden hier Außergewöhnlichkeit und Faktizitätsanspruch des Mirakels betont. Um dessen herausragenden Charakter zu unterstreichen, suggeriert der Erzähler, dass es alle in Büchern aufgeschriebenen Wunder übertreffe. Damit setzt sich der Erzähler von schriftlichen Mirakel- und Exempelsammlungen ab, die durch seinen kunstvollen Verstext übertroffen werden – der ja allerdings seinerseits wieder in Buchform überliefert wird. Die Reden der beiden Johannsen, in denen sie den jeweils anderen Johannes preisen, umfassen 17 bzw. 21 Strophen. Die von Johannes Evangelist vorgetragene Vita des Baptisten enthält vor allem biblische Elemente: Verkündigung der Geburt durch Gabriel (Str. 23); Verstummen und Lobgesang des Zacharias (Str. 24–25); der ungeborene Johannes erkennt Jesus im Mutterleib (Str. 26–27); Eremitendasein (Str. 28); Taufe Jesu (Str. 29–30); Johannes ist Jungfrau, Prophet und Märtyrer (Str. 31–32). In der Vita des Evangelisten, die Johannes Baptist seiner Verehrerin vorträgt, sind neben den biblischen auch zahlreiche legendarische Motive zu finden: Johannes ist der Sohn von Gottes mume (Str. 45); auf der Hochzeit zu Kana hat Johannes seine Braut verlassen (Str. 46–47); Johannes ruht an Jesu Brust beim letzten Abendmahl (Str. 49–50); Martyrium im heißen Öl (Str. 51); Martyrium durch Gift (Str. 52); Johannes als Hüter Mariae (Str. 53–54); als Verfasser von Evangelium und Apokalypse (Str. 55–56); Tod in hohem Alter (Str. 57–58). Die Str. 70–83 bilden den Epilog. Das im Prolog bereits thematisierte Motiv von Gottes Alter und Jugend wird wieder aufgenommen: Got, stifter wunderlicher dink, / gar nach der wıesheit rate, / du alter griser iungelink, / ein in der trinitate, / gelich dem endelosen rink / in diner maiestate, // Din lop durchsank nie sin noch munt (Str. 70,1–71,1). Die Unmöglichkeit, Gottes Taten und Wege zu verstehen, wird in Str. 71–79 behandelt. Dabei zitiert der Erzähler verschiedene Autoritäten:

1 Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹

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Paulus (Rm 11,33 f.), Augustinus2 und das salomonische Weisheitsbuch. Diese Zitate untermauern den gelehrten Anspruch des Textes. Gleichzeitig wird im Epilog vor der geistlichen Superbia gewarnt, zu der sich die streitenden Nonnen hätten hinreißen lassen (Str. 80). Der Erzähler schwächt seine Ermahnung an die Nonnen jedoch dahingehend ab, dass er sich selbst als unwissend darstellt (Str. 81). Die beiden letzten Epilogstrophen enthalten eine Bitte um Gottes Beistand, wobei noch einmal verschiedene Umschreibungen Gottes eingeflochten werden: Hie mit der rede ein ende sie, / und kum uns der zu troe ste, / der Davit waz in strite bie / und der den schacher loe ste; / der tu uns sue ndesiechen frie / vor hellscher marter roe ste. // Der ie waz drie und doch ein got, / dem alle dink gezamen, / von dez gewalt und dez gebot / alle anevenge kamen, / dez nam der sie gesegenot, / on ende sprechent amen! (Str. 82–83). Während die diskursiven Partien dem Ausdruck eines gelehrten und ästhetischen Anspruchs gelten, steht in den narrativen Partien die didaktische Funktionalisierung der Handlung im Zentrum: Einerseits dienen die Johannes-Viten zur Rekapitulation und Aktualisierung von Wissen, andererseits ist die Erzählung eine Warnung vor geistlicher Superbia.

1.2 Entstehungsumfeld: Der Hof Albrechts von Hohenberg Im Fall der ›Zwei Sankt Johannsen‹ gibt es einige Anhaltspunkte zum Enstehungsumfeld des Textes. Der Name des Autors, Heinzelin von Konstanz, wird in zwei Handschriften, der Name des vermutlichen Auftraggebers, Graf Albrecht von Hohenberg, in einer Handschrift des Textes genannt: Dis ist die vorrede von den zwein Iohansen, daz het getihtet klein Heinze, graue Albrehtes von Hohenberg ku ´chenmeister (Bern, Burgerbibl., Cod. 260, Bl. 152vb). Bei dem Grafen handelt es sich höchstwahrscheinlich um Albrecht V. von Hohenberg.3 Der Autor Heinzelin von Konstanz, der noch ein zweites Streitgedicht (›Von dem Ritter und von dem Pfaffen‹) verfasst hat, ist nicht urkundlich belegt. Das Entstehungsumfeld des Textes lässt sich aber aufgrund der Anbindung an Albrecht von Hohenberg vergleichsweise gut umreißen. Albrecht (um 1293–1359) war ein Enkel des als Verfasser von Minneliedern bekannten Albrecht II., Graf von Hohenberg und Haigerloch, und stammte aus »einer der bedeutendsten Hochadelssippen Schwabens«.4 Er wurde, obwohl er

2 Cramer vermutet, es könnte sich um ein Zitat aus der ›Expositio über das Johannesevangelium‹, Kap. 96, handeln, vgl. Cramer: Kleinere Liederdichter I, S. 479. 3 Vgl. Glier: Heinzelin von Konstanz, Sp. 936 f. 4 Sabine Krüger: Albert II. In: NDB 1 (1953), S. 127 f., hier S. 127. Die Darstellung der Biographie

408 | VII Überlieferungskontexte 3 der älteste Sohn war, zum geistlichen Stand bestimmt, besuchte in Konstanz die Domschule und ist 1317 als Domherr in Konstanz bezeugt. Darauf studierte und lehrte er in Paris das kanonische Recht. Nach zwölfjähriger Abwesenheit kehrte er in seine Heimat zurück und wurde 1334 von einer Minderheit zum Bischof von Konstanz gewählt, konnte sich aber nicht durchsetzen. Zwei weitere Versuche, auf den Konstanzer Bischofsstuhl zu gelangen, scheiterten ebenfalls (1344, 1356). Seit 1340 war Albrecht Kanzler Kaiser Ludwigs des Bayern und unternahm für diesen verschiedene Gesandtschaften, z.B. zum König von Frankreich und zum Papst. 1342 trat Albrecht in Avignon zur Partei des Papstes über und wurde Kaplan Clemens’ VI., der ihn 1345 zum Bischof von Würzburg machen wollte. Dort konnte Albrecht sich allerdings nicht gegen den vom Kapitel gewählten Albrecht von Hohenlohe durchsetzen und wurde schließlich 1349 Bischof von Freising. Auch wenn seine Versuche scheiterten, Bischof von Konstanz und Würzburg zu werden, kann man Albrecht als gelehrte und für die Politik seiner Zeit nicht unbedeutende Persönlichkeit bezeichnen.5 Wenn man der Überschrift in der Berner Handschrift Glauben schenkt, war Heinzelin von Konstanz Albrechts kuchinmeister. Damit ist wahrscheinlich ein Verwaltungsamt gemeint, denn im 14. Jahrhundert waren die Hofämter meist nur noch Ehrentitel, die mit ihrer ursprünglichen Funktion nicht mehr viel zu tun hatten.6 Ob diese Bindung Heinzelins an Albrecht während dessen Konstanzer

Albrechts folgt den Angaben bei Krüger. Vgl. auch Alexander Cartellieri: Albrecht V., Graf von Hohenberg. In: ADB 45 (1900), S. 731–733. Regesten: Monumenta Hohenbergica. Urkundenbuch zur Geschichte der Grafen von Zollern-Hohenberg und ihrer Grafschaft. Hrsg. von L[udwig] Schmid. Stuttgart 1862; Regesta Hohenbergica. Urkunden zur Geschichte der Grafschaft Hohenberg bis 1381. Hrsg. von Hans Peter Müller. Der Sülchgau 26 (1982), S. 14–30. 5 Ein sehr negatives Bild von Albrecht zeichnet dagegen Andreas Bihrer: Repräsentationen adelig-höfischen Wissens – ein Tummelplatz für Aufsteiger, Außenseiter und Verlierer. Bemerkungen zum geringen gesellschaftlichen Stellenwert höfischer Literatur im späten Mittelalter. In: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte. Hrsg. von Barbara Fleith/Rene´ Wetzel (Kulturtopographie des alemannischen Raums, Bd. 1). Berlin/New York 2009, S. 215–227. Eine Relativierung älterer Mäzenatentums-Vorstellungen, die besonders in der Germanistik verbreitet waren, ist zwar durchaus angebracht; vgl. etwa HertaElisabeth Renk: Der Manessekreis, seine Dichter und die Manessische Handschrift (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 33). Stuttgart u.a. 1974, und die Kritik von Max Schiendorfer: Ein regionalpolitisches Zeugnis bei Johannes Hadlaub. Überlegungen zur historischen Realität des sogenannten »Manessekreises«. ZfdPh 112 (1993), S. 37–65. Dennoch scheint mir Bihrers Darstellung etwas über das Ziel hinauszuschießen mit dem Versuch, mittelalterliche Literaturund Kunstförderer insgesamt als Verlierer und sozialhistorisch unbedeutende Persönlichkeiten hinzustellen; dies ist besonders dann fragwürdig, wenn die Beurteilung auf unbeweisbaren Hypothesen fußt wie etwa derjenigen, Heinzelins Texte seien erst in Albrechts Würzburger Zeit entstanden (in der Albrecht bereits als ›Verlierer‹ bezeichnet werden kann). 6 Vgl. Werner Rösener: Hofämter. In: LexMa 5 (1991), Sp. 67 f.

1 Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹

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Zeit (bis 1335) und/oder auch danach bestand und welche Funktion Heinzelin genau versah, kann mangels urkundlicher Belege nicht festgestellt werden, die Verortung in einem von juristischer und geistlicher Gelehrsamkeit geprägten Umfeld ist jedoch einigermaßen gesichert.

1.3 Ausformungen des Erzählstoffs vom Streit um den Vorrang eines Heiligen 1.3.1 Lateinische Exempelliteratur und historische Nachrichten Heinzelins Beteuerung, eine so außergewöhnliche Mirakelgeschichte wie seine ›Zwei Sankt Johannsen‹ suche man in vielen Büchern vergeblich (Str. 38), muss bei einem Blick auf den literarischen Referenzrahmen der Erzählung relativiert werden, denn der Erzählstoff ist in verschiedenen Ausprägungen verbreitet und zugänglich.7 Zwei Fassungen können unterschieden werden. Ein Vertreter der ersten Fassung ist bei Caesarius von Heisterbach: ›Dialogus miraculorum‹ VIII, 51 zu finden. In diesem Exempel wird erzählt, wie zwei Nonnen eines Augustinerinnenklosters in der Diözese Trier miteinander um den Vorrang unter den Johannsen streiten. Die Heiligen erscheinen ihrer jeweiligen Verehrerin und zählen die Vorzüge des jeweils anderen Johannes auf. Am nächsten Morgen kommen die Nonnen vor ihrer Meisterin (magistra) zusammen, bitten einander um Verzeihung und streiten fortan nicht mehr. Ähnlich wie beim ›Zwölfjährigen Mönchlein‹ lassen sich auch bei dieser ersten Fassung des Erzählstoffs von den zwei Johannsen Bezugspunkte zur (frauen-) klösterlichen Lebenswelt und Frömmigkeitspraxis feststellen. In diesem Umfeld war die Verehrung der Johannsen besonders ausgeprägt.8 Die beiden Heiligen

7 Tubach 2829. Zur Stoffgeschichte vgl. auch Reinhold Köhler: Von den zwei Sanct Johannsen. Germania 24 (1879), S. 385–391. Eine etwas abweichende Variante des Motivs vom Vorrang eines Heiligen vor anderen Heiligen findet sich in der französischen Exempelsammlung ›Ci nous dit‹ (Nr. 338). Dort ist von fünf jungen Mönchen die Rede, die sich darauf einigen, dass jeder von ihnen sich einen speziellen Freund im Himmel aussuchen solle. Die ersten vier Mönche wählen nun Maria, Johannes Baptist, Johannes Evangelist und Petrus, während der fünfte Mönch Jesus selbst zum Freund wählt. Jeder der Mönche zeichnet sich in ähnlicher Weise wie sein Vorbild aus; am tugendhaftesten wird derjenige, der Jesus zum Freund gewählt hat. Vom Teufel zur Superbia angestiftet, erbittet er sich eine besondere Gnade. In einer Vision weist Jesus ihn zurecht, und von diesem Zeitpunkt an ist sein Lebenswandel noch vollkommener. In dieser Version stehen die beiden Johannes nicht im Zentrum, und es gibt keinen Wettstreit. Die Verehrung einzelner Heiliger dient eher dazu, den besonderen Wert der Christusverehrung in den Vordergrund zu stellen. 8 Vgl. Hans-Jochen Schiewer: Die beiden Sankt Johannsen, ein dominikanischer JohannesLibellus und das literarische Leben im Bodenseeraum um 1300. Oxford German Studies 22 (1993), S. 21–54, hier S. 47–49. Von der Johannesverehrung zeugen auch zahlreiche um 1300 im

410 | VII Überlieferungskontexte 3 boten sich gerade für Nonnen als Identifikationsfiguren an, da sie als Projektionsfläche für mystische Christusminne dienen und durch ihren asketisch-keuschen Lebenswandel eine Vorbildfunktion erfüllen konnten. Sowohl bei Caesarius als auch in Heinzelins Erzählung wird angegeben, dass der Streit in einem Nonnenkloster stattgefunden habe. Ob es sich dabei um Anspielungen auf historische Ereignisse oder um einen dem Stoff eigenen Topos handelt, ist im Einzelfall kaum zu entscheiden. Das Motiv taucht allerdings auch in historiographischen Dokumenten aus Frauenklöstern auf. So berichtet das Schwesternbuch des Dominikanerinnenkloster Katharinental bei Dießenhofen etwa von einer Aufspaltung des Konvents in »Evangelistinnen« und »Baptistinnen«.9 Briefe aus dem Nürnberger Klarissenkloster erwähnen eine Trennung des Konvents in Parteien von Verehrerinnen des Evangelisten bzw. des Baptisten in der Zeit um 1405–1410.10 Aus diesem Kloster sind außerdem zwei Johannes-Libelli überliefert, die ein gutes Bild des frauenklösterlichen Johannes-Kults im frühen 15. Jahrhundert vermitteln. Im Evangelisten-Libellus findet sich außerdem eine deutsche Prosafassung des Erzählstoffs, die allerdings zur zweiten Fassung des Stoffs gehört, in der die Streitenden gerade keine Nonnen, sondern gelehrte Kleriker sind.11 Diese zweite Fassung wird in der lateinischen Exempelliteratur durch die ›Legenda aurea‹ (Maggioni), Kap. 81,164–16812 repräsentiert. Die Erscheinungsszene ist hier kürzer gefasst, die Johannsen fordern die Kleriker lediglich auf, vom Streit abzulassen, da sie im Himmel in Frieden miteinander lebten.

Bodenseeraum entstandene Johannes-Plastiken, vgl. Rainer Hausherr: Über die Christus-Johannes-Gruppen. Zum Problem »Andachtsbilder« und deutsche Mystik. In: Beiträge zur Kunst des Mittelalters (FS Hans Wentzel). Berlin 1975, S. 79–103. 9 Vgl. Schiewer: Sankt Johannsen, S. 48; Ruth Meyer: Das ›St. Katharinentaler Schwesternbuch‹. Untersuchung, Edition, Kommentar (MTU 104). Tübingen 1995, S. 329 f.; Jochen Conzelmann: Die Johannsen-Devotion im Dominikanerinnenkonvent Sr. Katharinental bei Dießenhofen – Ein Modellfall für Literaturrezeption und -produktion in oberrheinischen Frauenklöstern zu Beginn des 14. Jahrhunderts. In: Predigt im Kontext. Hrsg. von Volker Mertens u.a. Berlin/ Boston 2013, S. 299–331. 10 Vgl. Jung: Das Nürnberger Marienbuch, S. 36* f. 11 Bamberg, Staatsbibl., Cod. hist. 152 (Johannes Baptist-Libellus); Bamberg, Staatsbibl., Cod. hist. 153 (Johannes Evangelist-Libellus), Bl. 137r–139r, vgl. Kurt Gärtner: Franko von Meschede. In: 2VL 2 (1980), Sp. 829–834, hier Sp. 831 f. 12 Weitere Vertreter dieser Ausprägung: Guilelmus Durantis: ›Rationale divinorum officiorum‹ (Rationale divinorum officiorum. Hrsg. von Anselme Davril/Timothy M. Thibodeau (CCCM 140). Turnhout 1995 ff.), VII, 42; Thomas von Cantimpre´: ›Bonum universale de apibus‹ (Thomas Cantipratanus: Bonum universale de apibus. Douai 1627), II, 29. Bei Thomas ist das Hauptmotiv des Exempels die Bezeugung der leiblichen Assumptio Mariae durch die beiden Johannsen, die den Klerikern erscheinen. Der Streit dient nur als Rahmen für diese Bezeugung.

1 Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹

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Die deutsche Verserzählung steht der ersten Fassung näher, die für den Vorrang der Johannsen vorgebrachten Argumente und ihre Reihenfolge weichen bei Heinzelin aber deutlich vom Caesarius-Exempel ab.13 Die schlichten lateinischen Exempelfassungen des Stoffes machen deutlich, dass die kunstvolle Bearbeitungsweise, mit der Heinzelin sich der Geschichte angenommen hat, keineswegs zwingend ist. Dennoch scheint sich gerade dieser Erzählstoff für die Zurschaustellung von Gelehrsamkeit geeignet zu haben, wie eine lateinische Versbearbeitung zeigt, die etwa zur gleichen Zeit wie Heinzelins deutsche Verserzählung entstanden ist. 1.3.2 Francos von Meschede ›Altercatio de utroque Iohanne Baptista et Evangelista‹ Franco von Meschede nutzt in seiner ›Altercatio de utroque Iohanne Baptista et Evangelista‹ (339 Stabatmater-Strophen, um 1330)14 den Erzählstoff, um seine juristische Gelehrsamkeit und stilistische Kunstfertigkeit zu demonstrieren, indem er die Geschichte zur Schilderung eines kirchenrechtlichen Prozesses macht. Die Bearbeitungen Francos und Heinzelins sind unabhängig voneinander, weisen jedoch eine ähnliche Art der Funktionalisierung des geistlichen Erzählstoffs auf – wenn auch in einer je anderen Sprache und in einem je anderen Kontext. Franco von Meschede ist 1319 und 1320 als Scholaster und Prokurator des seit 1310 mit 15 Kanonikern besetzten Stiftes Meschede in der Erzdiözese Köln urkundlich bezeugt.15 Er war wohl während mehrerer Jahre Leiter der aufblühenden Stiftsschule. Zwischen 1332 und 1337 wurde er Kanzler des Bremer Erzbischofs Burchard Grelle (1327–1344).16 Die beiden erhaltenen Werke Francos, die ›Altercatio‹ und ein strophisches Marienlob, die ›Aurea fabrica‹, sind Papst

13 So ist etwa die Abfolge der Johannsen vertauscht: Bei Caesarius wird erst der Evangelist gelobt, dann der Baptist, bei Heinzelin vice versa. Heinzelin führt neun Argumente für den Baptisten auf, von denen sieben eine Entsprechung bei Caesarius haben, zwei sind nur bei Heinzelin zu finden. Außerdem fehlen zwei bei Caesarius vorhandene Argumente. Für den Evangelisten führt Heinzelin 13 Argumente auf, von denen acht eine Entsprechung bei Caesarius haben. Fünf Argumente sind nur bei Heinzelin zu finden, zwei weitere Argumente nur bei Caesarius. 14 Vgl. Gärtner: Franko von Meschede, Sp. 830–832. Ausgabe: AH 29, S. 205–232. Vgl. auch Jul[ius] Evelt: Ueber den Scholaster Franco von Meschede. Westfälische Zeitschrift 23 (1863), S. 295–310. Zur Strophenform vgl. Hans Walther: Das Streitgedicht in der lateinischen Literatur des Mittelalters (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 5/2). München 1920, S. 133. 15 Vgl. Gärtner: Franko von Meschede, Sp. 829 f. 16 Vgl. Evelt: Scholaster, S. 297 f. Zu Grelle vgl. Wilhelm von Bippen: Burchard, Erzbischof von Bremen. In: ADB, Bd. 3 (1876), S. 555–556.

412 | VII Überlieferungskontexte 3 Johannes XXII. (1316–1334) gewidmet.17 Die ›Altercatio‹ weist in einem Textzeugen außerdem Widmungsstrophen an den Kölner Erzbischof Walram von Jülich (1332–1349) auf, die wohl sekundär hinzugekommen sind.18 Vom narrativen Kern her steht Francos Gedicht der ersten Fassung des Erzählstoffs nahe. Die aufgezählten Vorzüge der Johannsen stimmen teilweise mit den Argumenten bei Caesarius überein, und als Auslöser des juristischen Disputs wird ein Streit zwischen zwei Nonnen genannt (Str. 13, Prosa-Vorrede).19 Die Argumente werden bei Franco jedoch nicht von den Heiligen selbst vorgetragen, sondern von den gelehrten Juristen, die die Nonnen vor Gericht vertreten – dies erinnert an die zweite Fassung des Erzählstoffs, in der zwei Kleriker disputieren, etwa in der ›Legenda aurea‹: Tandem super hoc sollempni disputatione indicta, quilibet ualde sollicitus erat auctoritates et efficaces rationes inuenire, quibus suum Iohannem posset preferre.20 Was dort nur kurz zusammengefasst ist, wird bei Franco breit ausgeführt. Eine Erscheinung der Heiligen ist dabei gar nicht mehr nötig. Julius Evelt ging davon aus, dass ein realer Disput in einem Frauenkloster Franco zu seinem Gedicht inspiriert habe.21 Auch wenn ein solcher Fall nicht auszuschließen ist, scheint es mir doch sehr viel wahrscheinlicher zu sein, dass Franco den seit dem 13. Jahrhundert gut zugänglichen Exempelstoff unabhängig von historischen Vorkommnissen aufgegriffen und bearbeitet hat. Falls es eine außerliterarische Anregung gegeben haben sollte, dürfte dies eher der Name des Papstes Johannes XXII. gewesen sein, dem das Gedicht gewidmet ist.22

17 Vgl. Evelt: Scholaster, S. 296 f. 18 Francos ›Altercatio‹ ist in zwei Handschriften des 15. Jahrhunderts überliefert: Paderborn, Erzbischöfl. Bibl., Bestand d. Altertumsvereins, Handschrift 8; Berlin, Staatsbibl., Cod. theol. lat. fol. 427, 1r–45r. 19 Ob man die Caesarius-Fassung allerdings als »unmittelbare Quelle« (Gärtner: Franko von Meschede, Sp. 830) bezeichnen kann, ist schwer zu sagen. Es ist nicht auszuschließen, dass Franco auch andere Fassungen des Stoffes kannte. 20 Als endlich über diese Sache eine feierliche Disputation angesetzt wurde, war jeder sehr bemüht, Autoritäten und überzeugende Gründe zu finden, die es rechtfertigten, seinen Johannes zu bevorzugen. 21 Vgl. Evelt: Scholaster, S. 299–301. 22 Darauf deutet die Prosa-Vorrede hin: […] ad honorem prefatorum Johannis Baptiste et Johannis Evangeliste et ob reverenciam sanctissimi patris domini Johannis pape XXII. ipsorum equiuoci et ut aliquando ipse dominus papa, si sibi placuerit, in hoc libello aliqualem solaciosam habeat deductionem temporis (zur Ehre der vorgenannten Johannes Bapitst und Johannes Evangelist und zur Verehrung des heiligsten Vaters, des Herrn und Papstes Johannes XXII., ihrem Namensvetter, und damit dieser Herr und Papst, wenn es ihm gefällt, in diesem Büchlein ein wenig erbauliche Kurzweil finden kann). Zit. nach: Walther: Streitgedicht, S. 131.

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Der acht Strophen umfassende Prolog enthält die Widmung an den Papst, die Nennung des Autors, die Angabe des Themas sowie die Beteuerung, dass aus den Schriften (ex scripturis, Str. 5,4) geschöpft worden sei. Darauf folgt die topische Bitte um Gottes Beistand. Franco spielt mit rhetorischen Figuren und Verweisen auf biblisches und antikes Bildungswissen. So stellt er im Prolog eine Verbindung zwischen dem Streit um den Vorrang der Johannsen und dem unter den Jüngern (Lc 22,24–27) her (Str. 7–8). Bevor der Disput beginnt, verpflichten sich die beiden Parteien auf ein tadelloses Gerichtsverfahren: Es soll nicht gespottet werden, Dummheiten, Beschimpfungen und Beleidigungen dürfen nicht ausgesprochen werden (Str. 10–12). Es wird daran erinnert, dass die Parteien zwei Nonnen vor Gericht vertreten. Das Urteil des Richters in dieser geistlichen Streitsache muss akzeptiert werden (Str. 13–15). Darauf folgt eine Aufzählung des Personals, das beim Gerichtsverfahren anwesend ist: Pars alt’ra dicit: advocati / His assint, testes adprobati, / Procuratores garruli, / Apparitores et praecones, / Notarii, tabelliones / Et literarum geruli, // Clientulique defensores / Et iustus iudex, assessores, / Quod partis sit, pars usitet (Str. 16–17,3).23 Diese Aufzählung macht den didaktischen Aspekt des Textes sichtbar: Ein Schüler oder Student konnte sich anhand des Textes mit kirchenrechtlicher Prozessführung vertraut machen.24 Zu Beginn des Disputs präsentieren die beiden Parteien sogenannte Libelli, die die Vita und das Lob des jeweiligen Johannes enthalten. Zunächst wird der Libellus des Baptisten vorgestellt (Str. 19–56). Er enthält die üblichen Angaben über das Leben des Heiligen, seine Keuschheit und Demut, seine Trinitätsvision bei der Taufe Christi, seine Stellung als Bindeglied zwischen Altem und Neuem Testament, sein Eremitendasein und sein Martyrium. Der Bericht wird untermauert durch Verweise auf die heilige Schrift und typologische Bezüge (Johannes Baptist als zweiter Samson, Str. 34). Auch antike Bildung wird gestreift, wenn Johannes als Vir magnus iste, puer purus, / Vir abstinens, non Epicurus (Str. 21,4 f.)25 bezeichnet wird. Als Beispiel für Francos stilistische Künste kann Str. 32 gelten, die ein Polyptoton (lustra, collustrans, lustrante) und zahlreiche Binnenreime enthält. Am Ende des Baptisten-Libellus steht die Bitte der Partei an den

23 Die andere Partei sagt: Advokaten sollen diesen beistehen, beglaubigte Zeugen, redegewandte Prokuratoren, Schreiber, Herolde, Notare, Protokollanten und Briefboten, die Verteidiger des Klienten und ein gerechter Richter, Assessoren, was der Partei gehören mag, soll die Partei nutzen. 24 Vergleichsbeispiele in diesem Spannungsfeld von religiöser und juristischer Thematik, Gelehrsamkeit und Didaxe sind Jakobs von Theramo ›Belial‹ und seine deutschen Übersetzungen. Vgl. dazu Norbert H. Ott: Rechtspraxis und Heilsgeschichte. Zu Überlieferung, Ikonographie und Gebrauchssituation der deutschen ›Belial‹ (MTU 80). München 1983. 25 Dieser große Mann da [ist] ein reiner Knabe, ein enthaltsamer Mann, kein Epikur.

414 | VII Überlieferungskontexte 3 Richter, er möge ihren Favoriten (Dilectus) als größer in Bezug auf Würde, Taten, Verdienste und Namen (Str. 55) anerkennen. Darauf folgt der Libellus des Evangelisten (Str. 57–112). Bei der Vita wird besonderer Wert auf die Anwesenheit des Evangelisten bei Ereignissen aus dem Leben Jesu gelegt (Hochzeit zu Kana als Hochzeit des Johannes, Verklärung Christi, letztes Abendmahl, Johannes unter dem Kreuz). Die Missions- und Wundertätigkeit des Evangelisten nach dem Tod Jesu wird ebenso hervorgehoben wie seine Autorschaft des Evangeliums, der Apokalypse und der drei Johannesbriefe. Auch hier demonstriert Franco seine stilistischen Fähigkeiten, etwa bei der Schilderung der Einsetzung Johannes’ als Vormund Mariae, wobei er auf kunstvolle Weise den Umstand betont, dass die drei Protagonisten dieser Szene Jungfrauen sind: Salvator Iesus, virgo purus, / In cruce pendens moriturus, / Decentem servans ordinem / Dilecto meo castiorem / Virgineum servanti florem / Commendat matrem virginem (Str. 73).26 Eine rhetorische Spitze gegen den Baptisten findet sich in Str. 77, in der anhand des Bildes vom Jüngerlauf zum leeren Grab Jesu die typische Bezeichnung des Baptisten, praecursor (Vorgänger), auf den Evangelisten übertragen wird: Praecursor hic [Johannes Evangelist] fit, dum cucurrit / Cum Petro, Petro praecucurrit / Amoris amplitudine (Str. 77,1–3).27 Der Evangelist wird auch zum Eremiten (in Patmos) und Märtyrer (Bad im heißen Öl) stilisiert, um deutlich zu machen, dass er dem Baptisten in nichts nachsteht. Am Ende des Libellus werden die zwei an den Richter adressierten Strophen, die auch schon die Partei des Baptisten vorbrachte, wiederholt. Nach der Präsentation der Libelli fordert der Richter Zeugen (Str. 118), die von den beiden Parteien nominiert werden (Str. 120): Autoritäten aus dem Neuen Testament (Christus, die Evangelisten, Paulus), der frühchristlichen und mittelalterlichen Zeit (Eusebius von Caesarea, Ambrosius und viele weitere bis zu Raban und Gratian), aus dem Alten Testament (Salomo, Jesaja, Ezechiel, Jeremias, David, Jesus Sirach, Joseph) sowie aus der heidnischen Antike: Juvenal und Cato. Der Tabellio notiert die Zeugenliste (Str. 128). Nun beginnt der eigentliche Disput zwischen den beiden Parteien, der teilweise sehr spitzfindig geführt wird. Zunächst charakterisiert die Partei des Baptisten ihren Heiligen als Bannerträger (vexillifer) und starken Krieger (miles fortis) (Str. 130,5), der einen Heldentod gestorben sei und stellt ihn in eine Reihe mit biblischen Personen, denen ein ähnliches Schicksal widerfahren ist, u. a. Abel,

26 Als der Erlöser Jesus, eine keusche Jungfrau, sterbend am Kreuz hing, entsprach er der guten Sitte und befahl seine jungfräuliche Mutter in die Obhut meines Favoriten, einem Bewahrer der jungfräulichsten Blüte. 27 Dieser wird zum Vorläufer, als er zusammen mit Petrus [zum Grab Christi] rannte und Petrus in der Größe der Liebe überholte.

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Jonathan, die Makkabäer, Stephanus und Jesus selbst. Auf diese Aufzählung ruhmvoller Junggestorbener folgt der Vorwurf an die Partei des Evangelisten, dieser habe sein Leben in hohem Alter als klappriger und hustender Greis beschlossen (Str. 139). Die Evangelisten-Partei betont daraufhin, dass Johannes Evangelist keineswegs ein lästiger, sondern ein sehr würdiger Alter gewesen sei. Dies wird mit einer Liste biblischer Personen beglaubigt, die ebenfalls ein hohes Alter erreicht haben, etwa Adam, Methusalem und die Prophetin Hanna. In den folgenden Strophen wird die ständische Zugehörigkeit der Johannsen verhandelt. Die Baptisten-Partei wirft der Evangelisten-Partei vor, dass der Evangelist aus einer Fischerfamilie stamme, die Evangelisten-Partei antwortet, der Baptist habe keineswegs standesgemäß in der Wüste mit wilden Tieren gelebt. Dem Evangelisten wird die Flucht bei Christi Gefangennahme vorgeworfen, dem Baptisten die Taufe des Judas. Ausgehend von den Reden Christi zu Maria und Martha (Lc 10,38 ff.) und zu den Jüngern (Lc 22,27) wird dann der Vorrang der Sitzenden vor den Stehenden festgestellt. Dies nutzt die Evangelisten-Partei, um darauf hinzuweisen, dass der Evangelist beim Abendmahl an Jesu Brust ruhte, während der Baptist bei der Berufung des Andreas stand. Die Baptisten-Partei wendet dagegen ein, unter dem Kreuz Christi habe der Evangelist auch gestanden, beklagt sich aber gleichzeitig über die Sophisterei solcher Argumentation (Str. 211–213). Es folgen Auseinandersetzungen über die die Bekanntheit und Wertschätzung der Heiligen in der Welt,28 ihre Stellung in der Litanei und die Frage der rechten Priesterschaft: Der Baptist stammt aus einer Priestersippe, der Evangelist aber ist ein Priester des Neuen Testaments. Am Ende des Disputs versuchen die beiden Parteien, die Gegenseite mit Drohungen einzuschüchtern (Str. 306–307). Darauf folgt das Urteil des Richters: Nachdem ihm die Akten übergeben worden sind und er sich mit den Assessoren besprochen hat, kommt er zum Schluss, dass man in Bezug auf Heilige nur den Positiv magnus (groß), nicht aber den Komparativ maior (größer) verwenden solle (Str. 322). Dieses Urteil wollen die Parteien, denen es ja gerade um den Komparativ ging, nicht akzeptieren (Str. 328). Deshalb wird die Streitsache an Papst Johannes XXII. selbst weitergereicht, in cuius pectoris clausura / Quiescunt leges atque iura (Str. 334,1 f.).29 In einem kurzen Epilog nennt Franco noch einmal seinen Namen und gibt an, dass er das Gedicht am 6. Juli 1330 (Str. 339,1 f.) verfasst habe.

28 Die didaktische Intention des Textes zeigt auch hier, denn diese Frage wird genutzt, um eine lange Aufzählung der Weltvölker einzufügen (Str. 244–247). 29 In der Kammer seines Herzens ruhen die Gesetze und Rechte.

416 | VII Überlieferungskontexte 3 Während der Streit etwa bei Caesarius und Heinzelin lehren soll, das rechte Maß an Verehrung nicht zu überschreiten, wird er bei Franco instrumentalisiert, um einen vorbildhaften Prozess über eine geistliche Streitsache abzubilden. Diese Umakzentuierung hängt mit dem Entstehungs- und intendierten Rezeptionskontext des Textes zusammen. Das Gedicht ist dem Papst gewidmet, dem es aufgrund der kunstvollen stilistischen Gestaltung als Zeitvertreib dienen (und natürlich seinen Verfasser als kunstfertigen Mann empfehlen) soll. Am Ende öffnet Franco den Text zum Rezipienten hin: Die Streitfrage bleibt unentschieden, der Papst und Adressat des Gedichtes soll als höchste geistliche Autorität das Urteil fällen. Dadurch wird nicht nur dem Papst Respekt gezollt, sondern es ist auch die Möglichkeit einer Weiterführung des Disputs im Kreis gelehrter Theologen gegeben.30 Franco hat jedoch nicht nur den Papst als Rezipienten im Blick. Das zeigt sich am didaktischen Gehalt des Gedichts, an grundlegenden theologischen, juristischen, historischen und geographischen Lehrinhalten, die eher auf ein Schulpublikum zielen, das anhand des Textes eine Fülle gelehrten Wissens erlernen oder memorieren kann.31 Die bei Franco ausgebreitete Gelehrsamkeit übersteigt bei weitem den Anspruch von Heinzelins Erzählung. Trotz dieses qualitativen Unterschieds, bei dem die Sprache eine bedeutende Rolle spielt, lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen. Beide Texte sind in einem klerikal-gelehrten Kontext entstanden; sie setzen ein Publikum voraus, das mit gelehrtem Wissen vertraut ist, die Anspielungen verstehen kann und die kunstvolle Stilistik zu schätzen weiß. Das ist für einen lateinischen Text nicht außergewöhnlich, für eine deutsche Verserzählung jedoch schon. Die Faktur von Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹ ist somit bereits ein Indiz dafür, dass der Text für ein anspruchsvolleres Publikum gedichtet wurde als etwa der ›König im Bad‹. Diese Hypothese wird einerseits bestätigt durch den vermutlichen Auftraggeber Albrecht von Hohenberg, der einen geistlichen Hof als Entstehungs- und Rezeptionsumfeld als naheliegend erscheinen lässt, andererseits deuten auch die erhaltenen Textzeugen der ›Zwei Sankt Johannsen‹ auf gelehrte Rezipienten hin.

30 Eine Öffnung des Textes für eine weiterführende Diskussion des Publikums fehlt bei Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹. Der zweite von Heinzelin überlieferte Text, das Streitgespräch ›Von dem Ritter und von dem Pfaffen‹, hat allerdings einen offenen Schluss. In diesem Text unterhalten sich zwei Frauen im Winter in der Stube über die Frage, ob ein Ritter oder ein Kleriker der bessere Liebhaber sei. Die Verehrerin der Kleriker erringt einen vorläufigen Sieg, indem sie feststellt, gute Ritter und Kleriker seien den schlechten Liebhabern beider Stände vorzuziehen. Die endgültige Entscheidung wird jedoch der Frau Minne vorbehalten. 31 Vgl. auch Walther: Streitgedicht, S. 126, 133.

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1.4 Die ›Zwei Sankt Johannsen‹ in Handschriften mit gelehrtem Anspruch Heinzelins Erzählung ist in drei Handschriften aus der Mitte des 14. Jahrhunderts überliefert: im Hausbuch und im Manuale des Würzburger Protonotars Michael de Leone sowie in der wohl in Straßburg entstandenen Handschrift Bern, Burgerbibl., Cod. 260. Zwei weitere Textzeugen sind nur noch indirekt bezeugt. Die ›Zwei Sankt Johannsen‹ waren in der verschollenen Neidensteiner Handschrift (um 1400) innerhalb einer Kleinepiksammlung überliefert,32 und einige Prologund Epilogverse standen auf dem Rahmen eines undatierten Tafelbildes, das die Anbetung der Könige darstellte und sich im 19. Jahrhundert in der Kapelle des Schlosses Baldern im Ries befand.33 1.4.1 Die Handschriften Michaels de Leone Die Handschriften Michaels de Leone, besonders sein Hausbuch, erfreuen sich in der Germanistik großer Bekanntheit, nicht zuletzt aufgrund des Umstands, dass sie einen guten – und seltenen – Einblick in die Lebenswelt und die literarischen Interessen ihres historisch fassbaren Auftraggebers und Besitzers geben.34 Michael de Leone wurde wohl um 1300 als Sohn des aus Mainz zugezogenen Kölner Patriziers und Juristen Konrad Jude in Würzburg geboren. 1324–1328 studierte er beide Rechte in Bologna und schloss mit dem Grad eines Magisters ab. Seit 1328 ist er als kaiserlicher Notar in Würzburg bezeugt, seit 1336 als Protonotar des Bischofs Otto von Wolfskehl. Ab 1342 war Michael Kanoniker am Neumünsterstift und ab 1350 Scholaster dieses Stifts. In den 1340er Jahren versah er außerdem eine Pfarrstelle in Bettingen,35 1355 starb er. Den Großen Löwenhof hatte er 1332 erworben und 1349 an seinen Neffen Jacob, der zu dieser Zeit schon verheiratet war, übertragen.36 Nach Michaels Wunsch sollte das von ihm in den Jahren

32 Vgl. Kap. V.2.1.5. 33 Vgl. Moriz Haupt: Heinzelein von Constanz. ZfdA 6 (1848), S. 318 f.; Cramer: Kleinere Liederdichter I, S. 478. 34 Zur Biographie und den Sammlungen Michaels de Leone grundlegend, wenn auch in manchen Punkten überholt: Peter Keyser: Michael de Leone († 1355) und seine literarische Sammlung (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte Reihe IX, Darstellungen aus der fränkischen Geschichte 21). Würzburg 1966. Vgl. auch Ursula Peters: Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 7). Tübingen 1983, S. 138–168; Gisela Kornrumpf: Michael de Leone. In: 2VL 6 (1987), Sp. 491–503; Würzburg, der Große Löwenhof; Kühne, Hausbuch. Für Hinweise zu diesem Kapitel danke ich Udo Kühne (Kiel). 35 Vgl. Peter Rückert: Michael de Leone als Pfarrer von Bettingen am Main. In: Würzburg, der Große Löwenhof, S. 183–197. 36 Zur Besitzgeschichte des Löwenhofes vgl. Leng: Der Große Löwenhof, bes. S. 161 f. Leng bie-

418 | VII Überlieferungskontexte 3 1347–1354 zusammengetragene und ständig erweiterte zweibändige Hausbuch jeweils bei demjenigen Mitglied seiner Familie verbleiben, das den Löwenhof innehatte, zunächst also bei Jacob, später bei dessen Nachkommen. Während das zweibändige Hausbuch vorwiegend deutsche Texte enthält und zum Gebrauch im Löwenhof bestimmt war, vereint das Manuale hauptsächlich Texte, die für Michaels berufliche Tätigkeiten von Bedeutung waren, und ging nach Michaels Tod in den Besitz des Neumünsterstifts über. München, Universitätsbibl., 2° Cod. ms. 731 (Hausbuch Michaels de Leone) Pergament · noch 285 Bll. · 34,5 × 26,5 · Würzburg · ca. 1345–1354 Weiteres zu dieser Handschrift s. Kap. IV.1.1.9.

Christa Bertelsmeier-Kierst hat Michaels Hausbuch charakterisiert als »didaktisches Nachschlagewerk [...], mit dem im Löwenhof ständig gelebt werden sollte.«37 Im ersten, verlorenen Band waren die ›Disticha Catonis‹ und der ›Facetus cum nihil utilius‹ auf Lateinisch und Deutsch38 sowie Hugos von Trimberg ›Renner‹ und Gedichte Frauenlobs enthalten. Im zweiten Band stehen neben juristischen und historischen Texten, lateinischen Gebeten, Kochbüchern, Pesttraktaten und Tischzuchten eine Freidank-Sammlung, Konrads von Würzburg ›Turnier von Nantes‹, ›Goldene Schmiede‹ und ›Klage der Kunst‹, eine MinneliederSammlung mit Walther- und Reinmar-Schwerpunkt sowie das lateinische enzyklopädische Werk ›Elucidarium‹, gefolgt vom deutschen ›Lucidarius‹. Auch die Kleinepik ist im Hausbuch vertreten; aus dem literarischen Panorama der Zeit fehlt lediglich die Großepik. Auf Bl. 68v–107r befindet sich die Kleinepiksammlung ›Die Welt‹, die meist weltliche Erzählungen, Bispel und Fabeln aus dem 13. Jahrhundert enthält.39 Von dieser Sammlung deutlich gesondert wurden auch jüngere kleinepische Texte in das Hausbuch eingetragen: Die Reden I–V des Königs vom Odenwald und das ›Lob der ritterlichen Minne‹ folgen im Grundstock auf den Minnesang-Block und

tet auch eine Erklärung für die Tilgung des Namenseintrags im erhaltenen zweiten Band des Hausbuches: Sie könnte im Zusammenhang mit späteren Streitigkeiten zwischen dem Domkapitel und den nachmaligen Besitzern des Löwenhofes stehen (S. 173–179). 37 Bertelsmeier-Kierst, Christa: Das ›Hausbuch‹ des Michael de Leone. Zu Programm und Struktur der Sammlung. In: Würzburg, der Große Löwenhof, S. 199–210, hier S. 201. 38 Zur vermutlichen Einrichtung dieser zweisprachig überlieferten Texte vgl. Michael Baldzuhn: Cato und Facetus im Hausbuch Michaels de Leone. Zum handschriftlichen Nach-, Nebenund Ineinander von Latein und Deutsch im 14. Jahrhundert. Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 243 (2006), S. 96–104. Baldzuhns Überlegungen deuten auch darauf hin, dass es sich bei Michaels Hausbuch um eine hauptsächlich nach persönlichen Kriterien angelegte Sammlung für den Gebrauch in der Familie handelte. 39 Vgl. dazu Achnitz/Holznagel: Der werlt lauff.

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stehen vor Frauenlobs ›Marienleich‹. Die Reden VI und VII des Königs vom Odenwald wurden in der Nachtragsphase I eingetragen. Am Ende der Handschrift, nach Michaels Chronik, steht ein weiterer Block mit ›moderner‹ Kleinepik, der der Nachtragsphase II angehört:40 die beiden Streitgedichte Heinzelins, die Reden VIII–X des Königs vom Odenwald, die Erzählung ›Von dem üblen Weibe‹ II und die Reden XI–XII des Königs vom Odenwald. Während die ältere Kleinepiksammlung ›Die Welt‹ vielleicht schon als geschlossene Sammlung in das Hausbuch gelangte oder für die Aufzeichnung im Hausbuch aus greifbaren älteren Kleinepiksammlungen exzerpiert wurde, scheinen die jüngeren kleinepischen Texte des Hausbuchs dem persönlichen Umfeld Michaels nahezustehen.41 Dies gilt jedenfalls für die Texte des Königs vom Odenwald,42 eines Dichters aus dem Würzburger Raum. Dessen Reden I–V wurden vermutlich um 1348/49 in einem Arbeitsschritt in die Handschrift eingetragen, die folgenden Reden wohl jeweils kurz nach ihrer Entstehung nachgetragen.43 Das ganze Redencorpus ist nur in Michaels Hausbuch überliefert.44 Auch im Hinblick auf Heinzelins Gedichte ist es denkbar – wenn auch nicht sicher nachzuweisen – , dass Michael während der Verhandlungen des als Bischof eingesetzten Albrecht von Hohenberg mit den Würzburgern (1345–49) über persönliche Beziehungen Kenntnis von den Texten erhielt.45 Das Interesse Michaels de Leone an kleinepischen Texten scheint breit gefächert gewesen zu sein.46 Sowohl ältere, aus dem 13. Jahrhundert stammende Texte als auch zeitgenössische Erscheinungen wie etwa die pragmatischen Reden des Königs vom Odenwald, in denen statt höfischer Damen Nutztiere wie Hühner und Kühe gepriesen werden, sind vertreten. Heinzelins Gedicht ›Die zwei Sankt Johannsen‹ nimmt in diesem Ensemble eine gewisse Sonderstellung ein, da es der einzige kleinepische Text mit dezidiert geistlicher Thematik ist.

40 Vgl. Kornrumpf/Völker: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 71. 41 Vgl. Peters: Literatur in der Stadt, S. 155–164; Bertelsmeier-Kierst: Hausbuch, S. 209. 42 Vgl. Gisela Kornrumpf: Der König vom Odenwald. In: 2VL 5 (1985), Sp. 78–82. 43 Vgl. Kornrumpf: König vom Odenwald, Sp. 78. Zu den Nachtragsphasen vgl. Kornrumpf/ Völker: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 70 f. 44 Zur Parallelüberlieferung einzelner Reden vgl Kornrumpf: König vom Odenwald, Sp. 78 f. 45 Zu den Beziehungen zwischen Michael und Albrecht vgl. Keyser: Michael de Leone, S. 123–125; Peters: Literatur in der Stadt, S. 154 (Anm. 54); Bertelsmeier-Kierst: Hausbuch, S. 208 f. Zwar merkt Peters zu Recht an, dass ein persönliches Zusammentreffen von Michael und Albrecht nicht als gesichert gelten kann. Es ist jedoch auch denkbar, dass im Rahmen der Verhandlungen Albrechts mit der Würzburger Kurie einer von Albrechts Beamten Michael die Gedichte zugänglich machte. Jedenfalls deuten die auf die Mitte des 14. Jahrhunderts konzentrierte Überlieferung von Heinzelins Texten sowie die anderen persönlichen Verbindungen Michaels zu den Autoren der neueren Texte seiner Sammlung eher darauf hin, dass Michael nicht durch Zufall auf die Texte Heinzelins gestoßen ist. 46 Vgl. Peters: Literatur in der Stadt, S. 156 f.

420 | VII Überlieferungskontexte 3 Während sich im Hausbuch Michaels Interesse an der volkssprachigen Literatur zeigt, reflektiert das Manuale auch seine klerikale Gelehrsamkeit. Würzburg, UB, M. p. misc. f. 6 (Manuale Michaels de Leone) Pergament · 87 Bll. · 33 × 25 · Würzburg · 1343–1355 Inhalt: Sammlung vorwiegend lateinischer theologischer, historischer, juristischer und naturkundlicher Texte. Lit.: Hans Thurn: Die Handschriften der kleinen Provenienzen und Fragmente. Beschreibungen der mittelniederländischen Codices von W[erner] Williams-Krapp (Die Handschriften der Universitätsbibliothek Würzburg 4). Wiesbaden 1990, S. 31–47; Vom Großen Löwenhof zur Universität. Würzburg und die deutsche Literatur im Spätmittelalter [Ausstellung im Martin-von-Wagner-Museum der Universität Würzburg, Südflügel der Fürstbischöflichen Residenz 2002]. Hrsg. von Horst Brunner/Hans-Günter Schmidt. Wiesbaden 2002, S. 38 f. (Nr. 6) [Horst Brunner]; Ullrich Bruchhold: Deutschsprachige Beichten im 13. und 14. Jahrhundert. Editionen und Typologien zur Überlieferungs-, Text- und Gebrauchsgeschichte vor dem Hintergrund der älteren Tradition (MTU 138). Berlin/New York 2010, S. 3, 178–208; Embach/Wallner: Conspectus, S. 320 f.

Im Manuale stehen hauptsächlich lateinische Texte, die verschiedenen Wissensbereichen angehören; die Theologie ist beispielsweise durch Hermanns von Schildesche ›Breviloquium super missam‹ und ›Speculum sacerdotis‹ sowie das ›Officio sacerdotis‹ des Ps.-Thomas von Aquin vertreten, die Medizin durch Pestund Gesundheitstraktate, die Ökonomie durch die Haushaltslehre des Ps.-Bernhard. Auch von Michael selbst stammende Texte sind in der Sammlung enthalten, etwa seine Chronik und lateinische Versgebete, die er während seiner Studienzeit in Bologna verfasst hatte. Die Sammlung zeigt die starke Bindung an die Stadt Würzburg und den dort ansässigen Personenkreis. Heinzelins Gedicht ›Die zwei Sankt Johannsen‹ steht am Ende des jüngeren ersten Teils (entstanden wohl 1345–1354/56) nach einer Reihe von Pesttraktaten.47 Verschiedene Texte sind sowohl im Hausbuch als auch im Manuale überliefert, etwa die Pesttraktate,48 das Kuriengedicht des Magisters Heinrich49 sowie Hermanns von Schildesche Gesta und Chronik mit Michaels Kommentaren.50 Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹ ist jedoch der einzige volkssprachige51 und kleinepische Text aus der Hausbuch-Sammlung, der auch im Manuale überliefert

47 Bl. 64r–66v. Die Pesttraktate wurden von der Hausbuch-Hand A eingetragen, ›Die zwei Sankt Johannsen‹ von der Hausbuch-Hand C (vgl. Kornrumpf/Völker: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 69). Die Bezeichnungen der Hände stammen aus dieser Beschreibung. 48 Im Manuale: Bl. 59r–64r; im Hausbuch: Bl. 214r–222v. 49 Im Manuale: Bl. 49r–58v; im Hausbuch: Bl. 42v. 50 Im Manuale: Bl. 21r–29v; im Hausbuch: Bl. 256r–268v. 51 Otto Baldemanns volkssprachige ›Klage vom Römischen Reich‹ ist dagegen nur im Manuale (Bl. 40r–42v) überliefert.

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ist. Weder die ältere höfische Literatur (Minnesang, ›Die Welt‹, Werke Konrads von Würzburg), noch die anderen ›modernen‹ kleinepischen Texte – auch nicht Heinzelins ›Von dem Ritter und von dem Pfaffen‹ – wurden in das Manuale aufgenommen. Berücksichtigt man die unterschiedliche Charakteristik und intendierte Funktion der beiden Sammlungen, kann in dieser Auswahl ein Bewusstsein für die geistliche Thematik und vielleicht auch den gelehrten Anspruch der ›Zwei Sankt Johannsen‹ gesehen werden, die den Text von anderen kleinepischen Texten aus der Hausbuch-Sammlung abheben. Mit Michael de Leone fasst man einen Rezipienten des Textes, der aufgrund seiner klerikalen Bildung den gelehrten und literarischen Anspruch von Heinzelins Text erkennen und würdigen konnte. Die ›Zwei Sankt Johannsen‹ wurden in einem ähnlichen Umfeld rezipiert, wie sie wohl auch entstanden sind: an einem geistlichen Hof, an dem Produzenten, Förderer und Rezipienten sowohl lateinischer als auch volkssprachiger Literatur zusammentrafen bzw. in einer Person vereint waren, wie dies bei Michael de Leone der Fall war. 1.4.2 Die Berner Handschrift Für die Handschrift, die wohl im 15. Jahrhundert in den Besitz des Cölestinerklosters in Metz gelangt ist,52 hat Edward Schröder eine Lokalisierung nach Straßburg und eine Datierung auf das Jahr 1352 vorgeschlagen.53 Im Kalender, der Heiligenfeste, Sternzeichen und Aderlassregeln enthält, stehen einige auf Straßburg weisende Feste, etwa Kaiserin Richardis (18. 9.) und die beiden Straßburger Bischöfe Arbogast (21. 7.) und Florentius (7. 11.). Zwar fehlen erwartbare Feste wie die Dedicatio ecclesiae Argentinensis (29. 8.),54 es gibt jedoch auch keine klaren Indizien für ein anderes Bistum.55 Die Schreibsprache der deutschen Texte deutet ebenfalls auf den oberrheinischen Raum.56 Diese Indizien machen Straßburg als Entstehungsort wahrscheinlich, erlauben aber keine sichere Festlegung. Schröders Datierung auf das Jahr 1352 beruht darauf, dass er den Kalender aufgrund des am 24. 2. eingetragenen locus bissextilis als Kalender auf ein Schaltjahr deutete. Mithilfe der Wochentagsbuchstaben a–g ermittelte er die Jahre, in denen die Circumcisio Domini auf einen Sonntag fiel. So blieben nur die Jahre 1352 und

52 Vgl. Schachzabel, S. 52. 53 Schröder: Die Berner Handschrift, S. 51–56. 54 Vgl. Hermann Grotefend: Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit. 2 Bde. Hannover 1891–1898, Bd. 2, S. 176–180 (Straßburger Kalender). 55 Für das Bistum Konstanz fehlen z.B. Felix und Regula (11. 9.) sowie Verena (1. 9.), für das Bistum Basel fehlen Alban (21. 6.) und Kaiser Heinrich (13. 7.), vgl. Grotefend: Zeitrechnung, Bd. 2, S. 86–90 (Konstanzer Kalender) und S. 10–14 (Basler Kalender). 56 Vgl. Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit, S. 365 f.

422 | VII Überlieferungskontexte 3 1380; aufgrund des paläographischen Befundes wählte er 1352.57 Gegen die präzise Datierung ist einzuwenden, dass es sich auch um einen variablen Kalender handeln könnte, bei dem die Buchstaben a–g nicht für feste Wochentage stehen. Der Eintrag des locus bissextilis am 24. 2. deutet nicht zwingend auf ein Schaltjahr hin, da der 24. 2. allgemein als Schalttag angesehen wurde.58 Der terminus post quem, der sich aus den jüngsten Einträgen in Matthias’ von Neuenburg Chronik ergibt (4. März 1350; Nachtrag vom März 1352), legt ebenso wie der paläographische Befund eine Datierung in die Mitte des 14. Jahrhunderts nahe; eine Entstehung im Jahr 1352 ist somit gut möglich, kann aber nicht als gesichert gelten. Bern, Burgerbibl., Cod. 260 Pergament · 286 Bll. · 28,5 × 20 · Straßburg (?) · Mitte 14. Jahrhundert Inhalt: Bl. 1r–6v Kalender Bl. 7ra–17va Inhaltsverzeichnis Bl. 17vb lat. Marienlied (Nachtrag) Bl. 19ra–32va lat. ›Disticha Catonis‹ Bl. 32vb–33rb Proverbia Salomonis Bl. 33rb–43ra Florilegium antiker und frühchristlicher Autoritäten (meist Exzerpte aus Vinzenz von Beauvais: ›Speculum historiale‹) Bl. 43ra–48vb Robert Grosseteste: ›Templum Domini‹ Bl. 48vb–61rb Johannes Gallensis OFM: ›De quatuor virtutibus cardinalibus‹ Bl. 61va–74rb Exzerpt aus Ps.-Aristoteles: ›Secretum secretorum‹ Bl. 74va–76va Passio S. Erasmi episcopi et martyris; aus der ›Legenda aurea‹, vgl. Jacobus a Voragine: Legenda aurea, vulgo historia lombardica dicta. Hrsg. von Th[eodor] Graesse. 2. Aufl. Leipzig 1850, Kap. CXCIX/196) Bl. 76va/b Namen der Hl. drei Könige auf Hebräisch, Griechisch und Lateinisch (wohl nach der ›Legenda aurea‹ [Maggioni], Kap. 14,14) Bl. 76vb–77vb lat. Marienmirakel aus der ›Legenda aurea‹ (Maggioni): Bl. 76vb ›Ave-Lilie‹ (Kap. 50,118–124) Bl. 76vb–77ra ›Teufel als Kämmerer‹ (Kap. 50,125–149) Bl. 77rb Hymnus ›Salve, festa dies‹ (Kap. 50,117) Bl. 77rb Reimspruch ›Transit ad ethera virgo puerpera‹ (Kap. 115,170) Bl. 77rb ›Der gehängte Dieb‹ (Kap. 127,122–127) Bl. 77rb–77va ›Marien Bräutigam‹ (Kap. 127,128–134) Bl. 77va ›Der einfältige Pfarrer‹ (Kap. 127,135–140) Bl. 77va/b ›Gerichtsvision zur Warnung‹ (Kap. 127,141–151) Bl. 77vb ›Theophilus‹ (Kap. 127,152–160) Bl. 79ra–103vb Gottfried von Viterbo: ›Summa‹ Bl. 104ra–117va Briefe und Prophezeiungen Hildegards von Bingen Bl. 117va–118vb Katalog der Päpste und Kaiser Bl. 118vb–119va lat. ›Sibyllenweissagung‹

57 Schröder: Die Berner Handschrift, S. 52. 58 Vgl. Grotefend: Zeitrechnung, Bd. 1, S. 167–169.

1 Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹

Bl. 120ra–129rb Bl. 129rb–152vb Bl. 152vb–155ra Bl. 155ra–162vb Bl. 163ra–188vb Bl. 189ra/b Bl. 189rb–189va Bl. 189va/b Bl. 190ra–222ra Bl. 222ra–222va Bl. 222va–227ra Bl. 227ra–227vb Bl. 227vb–234ra Bl. 234ra–235vb Bl. 236ra–250vb Bl. 251ra–286va

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Exzerpt aus Bartholomäus Anglicus: ›De proprietatibus rerum‹, Prolog (über die 4 Elemente und Komplexionen) Bartholomäus Anglicus: ›De proprietatibus rerum‹, Buch XV: De provinciis Heinzelin von Konstanz: ›Die zwei Sankt Johannsen‹ Dicta des Albertus Magnus zu verschiedenen naturkundlichen, physiologischen und medizinischen Phänomenen Exzerpt aus Thomas von Cantimpre´: ›De natura rerum‹, Buch XVI: Sermo generalis de septem regionibus dt. Prosaexempel lat. Mariengebet lat. Augensegen Martin von Troppau: Chronik Katalog der fränkischen Könige lat. Anekdoten über Karl den Großen Ps.-Turpin von Reims: ›De septem artibus, quas Imperator Karolus Magnus in palatio suo depingi fecit‹59 Chronikalische Nachrichten über die Kaiser nach Karl dem Großen bis zu Karl III. und seiner Frau Richardis Minnesang-Strophen (Sammlung p) Chronikalische Nachrichten Matthias von Neuenburg: ›Chronik‹

Lit.: Hermann Hagen: Catalogus codicum Bernensium (Bibliotheca Bongarsiana). Bern 1875, S. 290–296, 660; Edward Schröder: Die Berner Handschrift des Matthias von Neuenburg. In: Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-hist. Klasse. Göttingen 1899, S. 49–71; Franz-Josef Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik (Bibliotheca Germanica 32). Tübingen/Basel 1995, S. 363–370, 593; Manuela Frick: Lange bin ich geweset verdaht... Zu Funktion, Integration und Wandel der deutschen Strophen (in) der Berner Handschrift (p). Untersuchungen im Rahmen von Überlegungen zum Gebrauchszusammenhang der Berner Sammelhandschrift Cod. 260. Lizentiatsarbeit masch. Freiburg Schweiz 2002; Schachzabel, Edelstein und der Gral. Spätmittelalterliche Handschriftenschätze der Burgerbibliothek Bern (Passepartout. Schriftenreihe der Burgerbibliothek Bern). Bern 2009, S. 52–57 [Marius Gehrig]; Embach/Wallner: Conspectus, S. 36–38.

Die Sammlung ist für den gelehrten Gebrauch aufbereitet. Dies zeigt sich schon am Inhaltsverzeichnis, das eine präzise Orientierung innerhalb der Handschrift ermöglicht. Dort wird nicht nur anhand der Foliierung mit römischen Zahlen auf Stellen in der Handschrift verwiesen, sondern zusätzlich durch Buchstaben, die am Seitenrand zur Untergliederung eingetragen sind. So kann eine bestimmte Textstelle leicht aufgefunden werden, wie zu Beginn des Inhaltverzeichnisses erläutert wird: Nota quod in ista tabula ponitur quidam numerus qui denotat

59 Vgl. Georges Lacombe: Aristoteles latinus. Bd. I. Rom 1939, Nr. 688.

424 | VII Überlieferungskontexte 3 numerum foliorum. Ponuntur eciam hic quedam littere que denotant locum capituli de qua materia queris (Bl. 7r).60 Die aus verschiedenen Quellen (ex diversis libris, Bl. 7r) geschöpfte Sammlung deckt zahlreiche Wissensbereiche ab – von der Philosophie über die Theologie, die Heilsgeschichte, die Naturkunde, die Eschatologie bis hin zur (Lokal-)Historie findet sich alles, was dem Kompilator wissenswert erschien. Diese Inhalte verweisen auf ein Umfeld von gelehrten Produzenten und Rezipienten. Schröder nahm auch hier eine nicht beweisbare Präzisierung vor mit seiner Ansicht, die Handschrift sei »unter d[en] Augen«61 des Matthias von Neuenburg für den Grafen Hugo von Hohenberg, den Bruder Albrechts, entstanden.62 Denkbar, aber ebenso wenig beweisbar ist eine Entstehung der Handschrift am Straßburger Bischofshof, an dem Matthias von Neuenburg ab 1328 als Rechtsberater des Bischofs Berthold von Buchegg tätig war.63 Am Anfang der Kompilation steht ein thematischer Block mit Weisheitslehren und Dicta, die einen Überblick der antiken und frühchristlichen Philosophie vermitteln. Dieser Block wird von den ›Disticha Catonis‹ und den salomonischen Proverbia eröffnet. Daran schließt sich eine Kompilation an, die hauptsächlich aus dem ›Speculum historiale‹ des Vinzenz von Beauvais schöpft, aber auch andere Quellen integriert.64 In dieser philosophiegeschichtlichen Kompilation werden die Viten und Lehren von Philosophen und Autoritäten wie Secundus Philosophus, Aristoteles, Plato, Hieronymus, Solon, Pythagoras, Epikur, Apuleius, Sokrates und den Stoikern, Diogenes, Augustinus, Hermes Trismegistos, Demosthenes, Eusebius, Valerius Maximus und Cicero dargeboten, teilweise in Form von Berichten, teilweise durch Exzerpte aus den Schriften der Gelehrten. Auf diesen Block folgt ein Teil mit überwiegend theologischen Texten. Am Anfang steht der Traktat ›Templum Domini‹ von Robert Grosseteste, der mit diagrammatischen Schaubildern zu den zehn Geboten und den Lastern, die bestimmten Wochentagen und Krankheiten zugeordnet werden, ausgestattet ist und außerdem einen Sündenkatalog enthält, in dem verzeichnet ist, welche Maßnahmen ein Kleriker zu ergreifen hat, wenn ihm die jeweilige Sünde gebeichtet wird. Darauf folgen ein Tugend-Traktat des Johannes Gallensis und ein Auszug aus dem Ps.-Aristotelischen ›Secretum secretorum‹. Der Rest dieser Lage (bis Bl. 78v) wurde mit Kurztexten gefüllt, die hauptsächlich aus der ›Legenda aurea‹

60 Merke, dass in diesem Verzeichnis Zahlen enthalten sind, die die Seitennummern angeben. Darüber hinaus sind Buchstaben enthalten, die den Ort des Kapitels angeben, dessen Inhalt du suchst. 61 Schröder: Die Berner Handschrift, S. 64. 62 Vgl. Schröder: Die Berner Handschrift, S. 69–71. 63 Vgl. Matthias von Neuenburg. Ein Chronist des Spätmittelalters am Oberrhein. Seine Zeit, sein Leben, sein Werk. Bearbeitet von Hans-Dieter Mück. Neuenburg am Rhein 1995, S. 36. 64 Vgl. Hagen: Catalogus, S. 290.

1 Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹

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stammen. Auf die Erasmus-Vita und eine Notiz über die Namen der drei Könige auf Hebräisch, Griechisch und Lateinisch folgt eine Reihe von mariologischen Texten, sieben Marienmirakel und zwei Marienhymnen. Das letzte Mirakel (›Theophilus‹) bricht unvermittelt ab, der Rest von Bl. 77v sowie Bl. 78r/v sind leer. Naturkundliche und historische Texte bilden den nächsten Teil, zuerst Gottfrieds von Viterbo ›Summa (Pantheon)‹, die die Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Gegenwart beschreibt und ebenfalls ausführlich auf naturkundliche Aspekte eingeht. Danach folgen die eschatologischen Briefe und Prophetien Hildegards von Bingen. Einen historischen Überblick geben die Papst- und Kaiserkataloge. Naturkundlich ausgerichtet sind die Exzerpte aus Bartholomäus’ Anglicus ›De proprietatibus rerum‹ zu den vier Elementen und zu den verschiedenen Weltteilen. In der alphabetischen Anordnung der geographischen Begriffe spiegelt sich die Vorliebe des Kompliators für umfassendes und gut erschließbares Wissen wider, wie sie auch im Inhaltsverzeichnis erkennbar wird. Heinzelins Gedicht ›Die zwei Sankt Johannsen‹ steht zwischen der Beschreibung der Weltteile und einer Sammlung von Dicta, die Albertus Magnus zugeschrieben sind und Abhandlungen über naturkundliche, physiologische und medizinische Erscheinungen wie etwa das Gehör, Sonnen- und Mondfinsternisse, die Berge Sinai und Zion, verschiedene Lähmungen, den Tod, Kinder, Brechreiz und Magenschmerzen beinhalten. Eine thematisch motivierte Einbindung der volkssprachigen Verserzählung findet nicht statt. Dennoch scheint der Text planvoll mitten in einer Lage eingetragen worden zu sein, er ist kein zufälliges Füllsel. Die Erzählung ist durch Überschriften strukturiert. Die Rubrik zu Beginn des Textes nennt das Thema und die Namen des Autors sowie seines Herrn: Dis ist die vorrede von den zwein Johansen daz het getihtet klein Heinze, graue Albrehtes von Hohenberg ku ´chin meister (Bl. 152v). Die Zwischenüberschriften dienen zur inhaltlichen Gliederung: Hie vindest du, wie zwo klosterfrowen sere kriegetent, wedere besser were (Bl. 153ra); Hie erschein sant Johans ewangelist siner kempferin (Bl. 153rb); Hie erschein sant Iohans baptist siner kempferin (Bl. 154ra); Hie lobet klein Heinze got umb sin getihte (Bl. 154vb). Es ist denkbar, dass für die Aufnahme des Textes in die Sammlung die (durch die Überschrift hervorgehobene) Anbindung Heinzelins an Albrecht von Hohenberg eine Rolle spielte. Ein Interesse an der Person Albrechts, der auch in der Chronik des Matthias von Neuenburg erwähnt wird und überhaupt in Straßburg eine bekannte Person gewesen sein dürfte, wäre besonders bei einer Entstehung der Handschrift in Straßburg naheliegend und würde zur lokalhistorischen Tendenz passen, die sich in den historischen Teilen der Handschrift zeigt. Auf die Dicta des Albertus Magnus folgt ein Exzerpt aus Thomas’ von Cantimpre´ ›De natura rerum‹, in dem die Himmelssphären, die Planeten, die geometrischen Formen und die Tiere behandelt werden. Letztere sind in Klassen

426 | VII Überlieferungskontexte 3 (Quadrupeden, Vögel) eingeteilt und dann in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt. Auf einem wohl später eingehefteten Blatt stehen zwei deutsche Prosaexempla, die dem Thema der Sorge um die Seelen der Verstorbenen gewidmet sind.65 Das erste berichtet von einem heiligen Bruder, der trotz seines vorbildlichen Lebens nach seinem Tod erst eine lange Zeit im Fegefeuer verbringen musste, da seine Brüder die Gebete für seine Seele vernachlässigten. Das zweite erzählt von einem Bruder, der seine Verpflichtung den Verstorbenen gegenüber versäumt hatte und nach seinem Tod, obwohl seine Brüder die Seelenmessen für ihn lasen, nicht in den Himmel gelangen konnte, da die Seelenmessen zunächst denjenigen Seelen zugute kamen, für die er nicht gebetet hatte. Erst als seine Brüder, nachdem er ihnen seinen Jammer geklagt hatte, doppelt so viele Messen lasen, gelangte er ins Himmelreich. Auf die beiden Exempla folgen ein lateinisches Mariengebet mit einer vorangestellten deutschen Ablassformel sowie ein lateinischer Augensegen. Hier zeigt sich die Vertrautheit der Produzenten der Handschrift sowohl mit lateinischer als auch mit volkssprachiger geistlicher Literatur. Auf die deutschen Prosaexempla folgt ein historisch-chronikalischer Teil. Zunächst ist die Chronik Martins von Troppau bis zum Papst Johannes Anglicus (Buch IV, 109) eingetragen,66 dann folgen eine Genealogie der fränkischen Könige und der Karolinger, eine Vita Karls des Großen und chronikalische Nachrichten zum Leben einzelner Herrscher bis zu Karl III. und seiner Frau, der heiligen Richardis. Am Ende dieser Lage steht eine Sammlung deutscher Minnesangstrophen.67 Der historische Teil wird mit einer Chronikkompilation über einzelne Kaiser und Päpste und der Chronik des Matthias von Neuenburg abgeschlossen. Die in den historischen Teil inserierte Minnesangstrophen-Sammlung ist ein weiteres Beispiel volkssprachiger Texte, die ohne erkennbaren thematischen Zusammenhang in die überwiegend lateinische Sammlung integriert wurde. Von der Stellung der Sammlung am Ende einer Lage und von ihrem unvermittelten Abbrechen her könnte die Sammlung mit den ›Legenda aurea‹-Exzerpten ver-

65 Diese Exempla erscheinen auch in der wohl in Straßburg entstandenen Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863, Nr. B 499 und B 500, vgl. Studer: Exempla, S. 412. 66 Vgl. Matthiae Neoburgensis Chronica cum continuatione et Vita Berchtholdi de Buchegg, Ep[iscopi] Arg[entinensis]/ Die Chronik des Matthias von Neuenburg. Nach der Berner- und Strassburgerhandschrift mit den Lesarten der Ausgaben von Cuspinian und Urstisius. Hrsg. von Gottlieb Studer. Bern 1866. 67 Vgl. zu dieser Sammlung u.a. Holznagel: Wege in die Schriftlichkeit, S. 365–370; Nikolaus Henkel: Vagierende Einzelstrophen in der Minnesangüberlieferung. Zur Problematik von Autorund Werkbegriff um 1200. In: Fragen der Liedinterpretation. Hrsg. von Hedda Ragotzky/Gisela Vollmann-Profe/Gerhard Wolf. Stuttgart 2001, S. 13–39, bes. S. 33–36.

2 Vergleichsbeispiele: ›Die Vorauer Novelle‹ und ›Der Zweifler‹

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glichen und als Füllsel bezeichnet werden. Das heißt allerdings nicht, dass die Produzenten der Handschrift diesen Texten kein Interesse entgegengebracht hätten – sie sind für die gesamte Sammlung zwar nicht zentral, aber es wurden zum Auffüllen der Lage eben gerade diese volkssprachigen Minnesangstrophen und nicht etwa lateinische Kurztexte gewählt. Das Beispiel der Berner Handschrift macht deutlich, dass volkssprachige Literatur in lateinischen Handschriften gelehrten Inhalts zwar einen prekären Status hat, aber durchaus auch das Interesse der Redaktoren finden kann. Aus welchen Gründen volkssprachige Texte in solche Sammlungen aufgenommen wurden, ist oft schwer zu beurteilen. Bei Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹ ist sowohl ein lokalhistorisch bedingtes Interesse an der Person Albrechts von Hohenberg als auch ein thematisches bzw. ästhetisches Interesse am Erzählstoff und seiner kunstvollen narrativen Umsetzung denkbar.68

2 Vergleichsbeispiele: ›Die Vorauer Novelle‹ und ›Der Zweifler‹ Um die Bedeutung von Überlieferungskontexten mit gelehrtem Anspruch für die Tradierung geistlicher Verserzählungen genauer fassen zu können, werden im Folgenden zwei Beispiele aus dem 13. Jahrhundert vorgestellt. Die ›Vorauer Novelle‹ zeichnet sich durch einen besonderen ästhetischen Anspruch aus, der ›Zweifler‹ weist ein ähnlich untypisches Verhältnis diskursiver und narrativer Partien auf wie Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹. Beide Erzählungen sind jeweils unikal in lateinischen Handschriften überliefert.

2.1 Die ›Vorauer Novelle‹ als Mitüberlieferung zisterziensischer Predigten Die ›Vorauer Novelle‹69 berichtet vom Schicksal zweier im Kloster erzogener Knaben, die wegen der allzu strengen Zucht des Klosterlehrers entlaufen und die schwarze Kunst lernen. Die offensichtliche Anlehnung des Verfassers an höfische Literaturtraditionen, etwa die Stilistik Gottfrieds von Straßburg, veranlasste Anton E. Schönbach dazu, in ihm einen Laien zu vermuten.70 Der einzige erhaltene Textzeuge der Erzählung stammt allerdings aus einem klerikalen Umfeld:

68 Zu einem weiteren volkssprachigen geistlichen Text, der in lateinischem Umfeld überliefert ist, vgl. Corinna Virchow: Der ›Basler Dialog zwischen Seele und Leib‹. Medium Aevum 71 (2002), S. 269–285. 69 Zum Inhalt vgl. Kap. III.4.1.3. 70 Vgl. Schönbach: Vorauer Novelle, S. 89 ff.

428 | VII Überlieferungskontexte 3 Die ›Vorauer Novelle‹ ist unikal in einem um 1300 entstandenen Faszikel einer im 15. Jahrhundert zusammengebundenen theologischen Sammelhandschrift überliefert.71 Vorau, Stiftsbibl., Cod. 412, Faszikel 4 Pergament · noch 9 Bll. · 16 × 11 · südwestdeutscher Raum (Bodenseegebiet?)72 · 4. Viertel 13./1. Viertel 14. Jahrhundert73 Inhalt: Bl. 76r–81v lat. Predigten (Lobpredigt auf Bernhard von Clairvaux, fünf Visitationspredigten)

71 Ein Überblick des Inhalts der gesamten Handschrift findet sich in Schönbach: Vorauer Novelle, S. 3–41. Das Phänomen, dass Fragmente deutscher Verstexte in lateinische Handschriften eingetragen wurden, ist im 12. und 13. Jahrhundert nicht nur bei diesem Text zu beobachten. Weitere Beispiele dafür sind etwa das ›Ezzolied‹, das im 12. Jahrhundert in eine Handschrift mit Gregors des Großen ›Moralia in Iob‹ (Straßburg, BNU, ms. 1, Bl. 74v) eingetragen wurde; der ›Baumgartenberger Johannes Baptista‹, der um 1200 in eine Handschrift mit Ivos von Chartres ›Pannormia‹ (Linz, Landesbibl., Hs. 317, Bl. 119v) gelangte; die Federprobe aus dem ›Armen Heinrich‹ in einer Ovid-Glossen-Handschrift aus dem 13. Jahrhundert, vgl. Konrad Kunze: ›Arme Heinrich‹-Reminiszenz in Ovid-Glossen-Handschrift. ZfdA 108 (1979), S. 31–33. 72 Schreibsprache: Südalemannisch. Für eine Entstehung im Bodenseegebiet sprechen folgende Merkmale: gelegentliche ai-Schreibung für mhd. ei (vgl. HSS, Karte 62); Schreibung o für mhd. ou, z.B. in zoberie (vgl. HSS, Karten 76 und 77); dc/wc-Schreibung (vgl. HSS, Karte 146). 73 Einfache Textualis von einer Hand. Typisch für ein einfaches Schriftniveau sind im 4. Viertel des 13. und im 1. Viertel des 14. Jahrhunderts das einbogige a und das spitz ausgezogene g (Schneider: Gotische Schriften II, S. 77) sowie das kursive r und der nicht mehr auf die Zeile gezogene k-Bogen (Schneider: Gotische Schriften II, S. 57). Vergleichsbeispiele: Zwei verschiedene g-Formen, t ohne Oberschaft, geschwänztes z und einen nicht mehr auf die Zeile gezogenen k-Bogen weist auch die Handschrift München, BSB, Cgm 18 auf (Bayern-Österreich, 4. Viertel 13. Jahrhundert; Schneider: Gotische Schriften I, Abb. 126). Unterschiedlich spitz ausgezogenes g, geschwänztes z im Auslaut und eine linksgeneigte w-Form erscheinen auch in der Handschrift München, BSB, Cgm 44 (Bayern-Österreich, 4. Viertel 13. Jahrhundert; Schneider: Gotische Schriften I, Abb. 131). Einen spitz ausgezogenen g-Unterbogen, einen nach links unter die Zeile gezogenen h-Bogen und ein linksgeneigtes w weist auch die Handschrift München, BSB, Cgm 63 auf (Südwesten, 4. Viertel 13. Jahrhundert; Schneider: Gotische Schriften I, Abb. 140). Zwei verschiedene g-Formen und langes Schluss-s finden sich auch in der Handschrift Stuttgart, WLB, HB III 23 (Weingarten/Konstanz, 1322; Schneider: Gotische Schriften II, Abb. 42). Einbogiges a, langes Schluss-s mit betontem Querstrich und t mit kleinem Oberschaft weist die Handschrift Stuttgart, WLB, HB XI 1 auf (Weingarten, Anfang 14. Jahrhundert; Schneider: Gotische Schriften II, Abb. 43). Geschwänztes z und ein spitz ausgezogener g-Bogen finden sich außerdem in der Handschrift Karlsruhe, BLB, Cod. Don. 421 (Ostschwaben, 1. Viertel 14. Jahrhundert; Schneider: Gotische Schriften II, Abb. 68). Das Schriftniveau des deutschen Textes ist deutlich niedriger als dasjenige der lateinischen Texte. Ähnliche Buchstabenformen deuten jedoch darauf hin, dass es sich um den gleichen Schreiber handelt. Als Beispiel der Variation einer Schreiberhand je nach geschriebener Sprache kann die Handschrift München, BSB, Clm 8023 dienen (Zisterzienserkloster Kaisheim, um 1290; Schneider: Gotische Schriften I, S. 237 f., Abb. 137).

2 Vergleichsbeispiele: ›Die Vorauer Novelle‹ und ›Der Zweifler‹

Bl. 81v–84r Bl. 84v

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›Vorauer Novelle‹ leer

Lit.: Pius Fank: Catalogus Voraviensis seu Codices manuscripti Bibliothecae Canoniae in Vorau. Graz 1936, S. 242–244; Schönbach: Vorauer Novelle, S. 2 f., 21–26; Vorauer Novelle (Gröchenig), S. V, 38–45.

Die lateinischen Predigten weisen auf ein zisterziensisches Entstehungsumfeld hin. Beim fragmentarischen deutschen Text handelt es sich um eine Abschrift, wie ein durch Augensprung entstandener Fehler zeigt.74 Es stellt sich folglich die Frage, ob die ›Vorauer Novelle‹ erst sekundär in das zisterziensische Umfeld gelangt oder bereits in diesem Umfeld entstanden ist. Für eine Entstehung im zisterziensischen Umfeld könnte der Erzählstoff sprechen: Sowohl die ›Reuner Relationen‹, auf die der Verfasser der ›Vorauer Novelle‹ wohl direkt Bezug genommen hat, als auch die Fassung bei Caesarius von Heisterbach: ›Dialogus miraculorum‹ I,33 sind in diesem Umfeld zu verorten. Der Überlieferungszusammenhang der ›Vorauer Novelle‹ mit Visitationspredigten erinnert außerdem daran, dass Exempelstoffe im 12. und 13. Jahrhundert unter Zisterziensern oft im Rahmen von Visitationen bzw. Zusammenkünften von Mönchen unterschiedlicher Klöster (wie beispielsweise beim Generalkapitel in Cıˆteaux) ausgetauscht wurden.75 Eine Entstehung der Verserzählung als Bearbeitung eines bei dieser Gelegenheit vermittelten Erzählstoffs durch einen Zisterzienser ist denkbar, aber natürlich nicht zu beweisen. Möglich ist auch, dass der Text in einem nichtmonastischen Umfeld entstanden ist und erst später in den zisterziensischen Überlieferungskontext gelangte. Ungeachtet dieser unbeantwortbaren Frage steht aber fest, dass die ›Vorauer Novelle‹ um 1300 von einem Schreiber zisterziensischer Predigten für wert befunden wurde, abgeschrieben zu werden. Die Entscheidung für den Verstext macht deutlich, dass ein Bewusstsein für die ästhetische Qualität der Erzählung durchaus vorhanden war. Wäre es dem Schreiber nur um den Erzählstoff gegangen, hätte er auf eine der verfügbaren lateinischen Prosafassungen zurückgreifen oder die Geschichte selbst in lateinischer Prosa nacherzählen können. Es scheint daher kein Zufall zu sein, dass gerade eine Verserzählung mit hohem

74 Auf Bl. 82r hat der Schreiber nach den Versen Wan swer den bogen ziehen wil / Ze weit uf der krefte zil zwei Verse übersprungen und mit Der brennet ainen swarzen kol / Da uon er selten gizzet wol fortgefahren, statt die Verse Der brichet in als ich wol waiz / Vnd swer dem brote duo t ze haiz einzutragen. Dieser Fehler lässt sich aufgrund der ähnlichen Versanfänge Der brennet / Der brichet mit einem Augensprung erklären, wenn in der Vorlage die Verse abgesetzt waren und der Schreiber sich an den Versanfängen orientierte. 75 Vgl. McGuire: Les mentalite´s, S. 122–124. Zum Generalkapitel der Zisterzienser vgl. auch Florent Cygler: Das Generalkapitel im hohen Mittelalter. Cisterzienser, Prämonstratenser, Kartäuser und Cluniazenser (Vita Regularis 12). Münster 2002, S. 23–118.

430 | VII Überlieferungskontexte 3 ästehtischem und gelehrtem Anspruch in einem lateinischen Überlieferungskontext tradiert wurde. Rätselhaft bleibt dabei immer noch die Frage, warum der Text nur fragmentarisch überliefert ist. Platzgründe spielten dabei keine Rolle, denn der Rest von Bl. 84r und Bl. 84v sind leer. Es müssen also die beiden Möglichkeiten in Betracht gezogen werden, dass entweder bereits die Vorlage fragmentarisch bzw. der Text überhaupt unvollendet waren, oder dass der Schreiber der Vorauer Handschrift eine vollständige Vorlage nicht ganz abgeschrieben hat. In jedem Fall können unbekannte äußere Gründe für die Unvollständigkeit vorliegen. Die fragmentarische Gestalt des Textes kann aber gleichzeitig auch ein Indiz für den prekären Status des Texttyps in diesem Umfeld sein.

2.2 Der ›Zweifler‹ als Leseanweisung für den Psalter? Der ›Zweifler‹ ist eine Bearbeitung des Erzählstoffes von dem Mönch, der beim Gesang eines himmlischen Vögleins mehrere hundert Jahre wie wenige Stunden empfindet.76 Ein Mönch hört in der Matutin den Psalmvers »Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist« (Ps 90,4) und zweifelt daran. Als der Mönch, der auch Küster des Klosters ist, die Kirche nach der Matutin zuschließen will, sieht er einen schönen Vogel vor der Kirchentür und will ihn fangen. Der Vogel fliegt aber davon, der Mönch vergisst die Kirche und läuft hinter ihm her in den Wald, wo der Vogel sich auf einen Baum setzt und so wunderschön singt, dass der Mönch entzückt bis zur Terz stehen bleibt. Dann fliegt der Vogel weg, und der Mönch kehrt traurig zum Kloster zurück; dieses findet er ganz verändert vor, und er kennt keinen der Klosterbrüder. Als er seinen Namen nennt, erinnert sich der Abt, dass in der Klosterchronik ein Bruder erwähnt wird, der vor tausend Jahren verschwunden sei. So hat sich der Psalmvers bewahrheitet.

Während die anderen deutschen Versbearbeitungen dieses Stoffes, ›Mönch Felix‹ I und II, in Kleinepiksammlungen stehen, ist der ›Zweifler‹ unikal in einer lateinischen illustrierten Psalterhandschrift des 13. Jahrhunderts überliefert.77 Die seit 1944 verschollene Handschrift ist wohl im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden, es haben sich jedoch von einigen Bildseiten Vorkriegsfotographien erhalten.

76 Zu verschiedenen Ausformungen dieses Erzählstoffs vgl. Kap. IV.2.1.1. 77 Zur Psalterillustration der Zeit vgl. Arthur Haseloff: Eine thüringisch-sächsische Malerschule des 13. Jahrhunderts (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 9). Straßburg 1897; Günther Haseloff: Die Psalterillustration im 13. Jahrhundert. Studien zur Buchmalerei in England, Frankreich und den Niederlanden. Göttingen 1938.

2 Vergleichsbeispiele: ›Die Vorauer Novelle‹ und ›Der Zweifler‹

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Metz, Stadtbibl., Ms. 1200 (verschollen) Pergament · 26,7 × 19,2 · 191 Bll. · omd. Sprachgebiet (Magdeburg?) · 1276 Inhalt: Bl. 1r Bildseite: Evangelistensymbole Bl. 1v–7r Kalender Bl. 7v Bildseite: Posaunenengel und Marterwerkzeuge Bl. 8v–9v ›Zweifler‹ Bl. 10r–12r Bildseiten: Zweifler – Verkündigung – Kreuzigung – Sündenfall – Posaunenengel und Baumdiagramm (?) Bl. 12v–158r Psalter Bl. 158r–172r Biblische Cantica Bl. 172v–179 Litaneien Bl. 179v–188r Totenoffizium (mit dt. Gebetstiteln) Bl. 188r–190v Vigilien Lit.: Catalogue Ge´ne´ral des Manuscrits des Bibliothe`ques publiques de France. De´partements. Tome XLVIII: Rouen et Amiens, Universite´s de Lille et Nancy, Metz. Paris 1933, S. 407 f.; Leroquais: Psautiers I, S. 268–270, Tafeln XCV–CII; Renate Kroos: Drei niedersächsische Bildhandschriften des 13. Jahrhunderts in Wien (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-hist. Klasse III,56). Göttingen 1964, S. 188 f. (Nr. 23); Jürgen Wolf: Psalter und Gebetbuch am Hof. Bindeglieder zwischen klerikal-literaler und laikal-mündlicher Welt. In: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences (FS Dennis H. Green). Hrsg. von Mark Chinca/Christopher Young. Turnhout 2005, S. 139–179, hier S. 162 f., 174 f. (Nr. 54); Henrike Manuwald: Medialer Dialog. Die ›Große Bilderhandschrift‹ des Willehalm Wolframs von Eschenbach und ihre Kontexte (Bibliotheca Germanica 52). Tübingen/Basel 2008, S. 115–117.

Die Handschrift wird nach einer Bildseite, auf der die vier Evangelisten dargestellt sind, durch einen Kalender eröffnet, dessen Heiligenfeste auf die Diözese Magdeburg hindeuten.78 Auf den mit Bildern der jeweiligen Tierkreiszeichen, Monatsarbeiten und Heiligen ausgestatteten Kalender (Abb. 10) folgt eine Bildseite, auf der zwei Posaunenengel und zwei Engel mit Marterwerkzeugen (Lanze und Dornenkrone) dargestellt sind (Bl. 7v; Leroquais: Psautiers, Tafel XCVII; Abb. 11). Auf Bl. 8v–9v ist der ›Zweifler‹ eingetragen, auf Bl. 10r ist eine ganzseitige Miniatur zu diesem Text zu sehen (Leroquais: Psautiers, Tafel XCVIII; Abb. 12). Danach folgt ein Bildteil mit vier ganzseitigen Miniaturen: die Verkündigung (Bl. 10v) und die Kreuzigung (Bl. 11r; Leroquais: Psautiers, Tafel XCIX; Abb. 13), beide auf Goldgrund; der Sündenfall (Bl. 11v) und ein nicht mehr genau bestimmbares Bild mit zwei Posaunenengeln und einer wohl Baumdiagramm-ähnlichen Darstellung (Bl. 12r).79 Auf diesen Bildteil folgen der lateinische Psalter, Litaneien

78 Vgl. Leroquais: Psautiers I, S. 268 und Kroos: Drei niedersächsische Bildhss., S. 171. 79 Leroquais: Psautiers I, S. 270, beschreibt das Bild folgendermaßen: »deux anges sonnant de la trompette de chaque co ˆte´ d’un arbre dont le feuillage se divise en cinq parties; au milieu de

432 | VII Überlieferungskontexte 3 und ein Totenoffizium mit deutschen Gebetsüberschriften. Auf Bl. 190v steht ein deutsches Kolophon: Do uon unses herren ihesu Christi gebort uorgan waren Dusent zweihundert vn sechse un subenzec iar do uollenscreip diessen salter heinrich zu vnisborch.80 Damit ist wahrscheinlich Unseburg a. d. Bode bei Magdeburg gemeint.81 Die sehr aufwendig ausgestattete Handschrift steht in engem Zusammenhang mit anderen illustrierten Psalterhandschriften aus dem Magdeburger Raum.82 Der Psalter ist das typische und wohl meist auch einzige lateinische Andachtsbuch, das in der Hand von Laien anzutreffen war.83 Durch den Psalter war auch in einer illiteraten Umgebung die lateinische Schriftlichkeit präsent – man hat es also mit einem Übergangsbereich zwischen lateinisch-klerikalem und laikalem Umfeld zu tun. Dass die laikalen Rezipienten sich diesen lateinischen Text aber auch zu Eigen machten, zeigen schon früh und häufig auftretende volkssprachige Einsprengsel in lateinischen Psalterhandschriften.84 Meist handelt es sich dabei entweder um Nachträge (Anmerkungen, Gebetsanweisungen, Gebete u.ä.) oder um schon ursprünglich vorgesehene volkssprachige Erklärungen, die meist in Form von Rubriken auftreten.85 Zuweilen finden sich auch gereimte deutsche Gebetsanweisungen86 sowie deutsche Versgebe-

chacune de ces parties une teˆte humaine«. Vielleicht handelte es sich dabei um eine Darstellung der Wurzel Jesse oder eines Tugend-Laster-Schemas. 80 Zit. nach Hardenberg: Geistliches Gedicht, S. 339. 81 Vgl. Palmer: Zweifler, Sp. 1622. Dagegen Kroos: Drei niedersächsische Bildhss., S. 173, die Vnisborch mit Hundisburg (südlich von Haldensleben) identifiziert. 82 Vgl. Kroos: Drei niedersächsische Bildhss., S. 173; Elisabeth Klemm: Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek. Text- und Tafelband (Katalog der illuminierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek in München 4). Wiesbaden 1998, S. 262–266, Abb. XVI, 663–670. Klemm sieht eine enge Verwandtschaft zu einem aus dem Magdeburger Raum stammenden Psalter von 1265 (München, BSB, Clm 23094). 83 Vgl. Thomas Lentes: Text des Kanons und Heiliger Text. Der Psalter im Mittelalter. In: Der Psalter in Judentum und Christentum. Hrsg. von Erich Zenger (Herders biblische Studien 18). Freiburg u.a. 1998, S. 323–354; Wolf: Psalter, S. 139–141. 84 Vgl. Wolf: Psalter, S. 151–155. 85 Vgl. Ernst Hellgardt: Deutsche Gebetsanweisungen zum Psalter in lateinischen und deutschen Handschriften und Drucken des 12.–16. Jahrhunderts. In: Deutsche Bibelübersetzungen des Mittelalters. Beiträge eines Kolloquiums im Deutschen Bibel-Archiv. Hrsg. von Heimo Reinitzer unter Mitarbeit von Nikolaus Henkel (Vestigia Bibliae 9/10). Bern u.a. 1991, S. 400–413; Ernst Hellgardt: Lateinisch-deutsche Textensembles in Handschriften des 12. Jahrhunderts. In: Latein und Volkssprache im deutschen Mittelalter 1000–1500. Regensburger Kolloquium 1988. Hrsg. von Nikolaus Henkel/Nigel F. Palmer. Tübingen 1992, S. 19–31; Wolf: Psalter, S. 168–179. 86 Vgl. z.B. Wolf: Psalter, Kat. 14: nachgetragene gereimte Anweisungen aus dem 14. Jahrhundert in Cologny-Genf, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bodm. 30 (um 1200).

2 Vergleichsbeispiele: ›Die Vorauer Novelle‹ und ›Der Zweifler‹

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te87 in lateinischen Psalterhandschriften. Dennoch scheint es eine Ausnahme zu sein, dass ein lateinischer Psalter einen selbständigen deutschen Verstext enthält, der nicht erst nachträglich eingefügt wurde, sondern eine prominente Stellung in der Gesamtkonzeption der Handschrift einnimmt. Ein vergleichbares Beispiel, das allerdings nicht aus dem deutschen Sprachraum stammt, ist der in der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts in England entstandene Albani-Psalter (Hildesheim, Dombibl., Hs. St. God. 1), der nach dem Kalender und zwischen zwei Blöcken von Bildseiten das altfranzösische ›Alexiuslied‹ sowie lateinische Briefe Gregors des Großen mit französischer Übersetzung enthält. An ganz ähnlicher Stelle – im Bildteil zwischen Kalender und Psalter – ist hier ein volkssprachiger Verstext integriert. Nicht nur die Aufnahme eines deutschen Verstextes in eine lateinische Psalterhandschrift ist außergewöhnlich, sondern auch die im Magdeburger Psalter realisierte Kombination von volkssprachiger Mirakelerzählung und dazugehöriger Illustration. Es ist zwar im Allgemeinen nicht unüblich, dass in den Illustrationszyklen von Psalterhandschriften auch Mirakelstoffe ins Bild gesetzt sind; oft treten diese Bilder chronologisch angeordneten heilsgeschichtlichen Zyklen auf, die vom Alten Testament über das Leben Jesu bis zu den Heiligen fortschreiten, wobei im letzten, nicht-biblischen Teil lokale Heilige und Kirchenpatrone dargestellt88 oder Mirakelstoffe illustriert werden konnten. So schließt etwa das Bildprogramm des sog. Ingeborg-Psalters89 (Anfang 13. Jahrhundert), das eine heilsgeschichtliche Bildfolge von Abraham bis zum Tod Mariae enthält, mit zwei ganzseitigen Miniaturen zum Marienmirakel von Theophilus. Eine andere Illustration des Theophilus-Stoffes findet sich in der Handschrift Paris, BNF, Ms. lat. 238, einem lateinischen Psalter aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts.90 In dieser Handschrift sind die Bildseiten über die Handschrift verstreut, folgen aber dennoch einem heilsgeschichtlichen Ordnungsmuster, denn dem TheophilusBild geht die Darstellung vom Tod und der Krönung Mariae voraus. Nach dem Theophilus-Bild folgt eine weitere Marienmirakel-Illustration, die den Erzählstoff des verdammten, von Maria geretteten Kindes ins Bild setzt.91 Im Unterschied zur ›Zweifler‹-Illustration im Magdeburger Psalter sind diese Bilder jedoch nicht mit einer dazugehörigen Erzählung versehen. Sie wirken, wie auch die anderen heilsgeschichtlichen Darstellungen, für sich. Für die Illustration des

87 Vgl. z.B. Wolf: Psalter, Kat. 19: Erlangen, UB, Ms. 143 (Mitte 13. Jahrhundert); Kat. 25: Fulda, LB, Cod. Aa 46 (1. Viertel 13. Jahrhundert). 88 Vgl. Haseloff: Psalterillustration, S. 8 f. 89 Vgl. Leroquais: Psautiers I, S. 138–143; Tafeln LII–LIX. 90 Vgl. Leroquais: Psautiers II, S. 36–38; Tafeln XLVI–LI; Haseloff: Psalterillustration, S. 65–67. 91 Zu diesem Erzählstoff vgl. Kap. III.2.3.4.

434 | VII Überlieferungskontexte 3 ›Zweiflers‹ im Magdeburger Psalter musste dagegen eine ikonographische Umsetzung überhaupt erst gefunden werden. Das Bild vereint Architektur- und Gartenelemente mit dem Muster der Vogelpredigt des heiligen Franziskus.92 Das direkte Nebeneinander von Text und Bild deutet darauf hin, dass das Bild hier ad hoc, als Illustration für genau diesen Text, konzipiert wurde. Sowohl die Tatsache, dass überhaupt eine deutsche Verserzählung in einen lateinischen Psalter aufgenommen wurde, als auch die herausgehobene Stellung, die der ›Zweifler‹ in der Handschrift einnimmt, deuten darauf hin, dass der Text bzw. sein Inhalt für die Auftraggeber der Handschrift eine besondere Bedeutung hatte. Diese Auftraggeber sucht Jürgen Wolf in den »höchsten Adelskreisen« und stellt sich das Buch »am (anhaltinischen?) Hof zur Unterweisung des fürstlichen Nachwuchses oder als Dedikationsexemplar für die Neugründung eines dem adligen Stifter besonders nahestehenden (Zisterzienser-)Klosters«93 vor. Die prachtvolle Ausstattung der Handschrift legt es nahe, die Auftraggeber in vermögenden Kreisen zu vermuten; es muss aber wohl offen bleiben, an welchem Hof bzw. Ort und in welcher Form der Psalter genutzt wurde. Eine Verwendung zu didaktischen Zwecken halte ich aufgrund des Repräsentationswerts der Handschrift für eher unwahrscheinlich; auch die Insertion des deutschen Textes scheint mir nicht in diese Richtung zu weisen, da es sich beim ›Zweifler‹ nicht um einen typischen Schultext handelt, der sich wie ein ›Cato‹ oder Fabeltexte als Anfängerlektüre geeignet hätte. Ein plausiblerer Grund für die Aufnahme der Verserzählung in die Psalterhandschrift wäre ein besonderer Anlass wie die von Wolf und auch von Palmer94 erwogene Klosterstiftung. Darauf könnte neben dem monastischen Protagonisten auch die detailliert ausgeführte Darstellung der Klosterkirche in der Illustration zum ›Zweifler‹ hindeuten.95 Ein weiteres Indiz für diese Hypothese kann in der Tatsache gesehen werden, dass der Erzählstoff später im Zusammenhang mit Klostergründungslegenden auftritt.96 Die besondere Bedeutung des ›Zweiflers‹ für die Produzenten und Rezipienten des Magdeburger Psalters könnte allerdings auch in der Erzählung selbst begründet sein, deren ästhetischer und gelehrter Anspruch ihrer herausgehobenen Stellung durchaus gerecht wird. Wie bei Heinzelins ›Zwei Sankt Johannsen‹ nehmen auch im ›Zweifler‹ die diskursiven Partien einen wichtigen Platz ein. Von den 178 Versen des Textes entfallen 78 auf den elaborierten Prolog, wei-

92 Vgl. LCI 6 (1975), Sp. 288. 93 Wolf: Psalter, S. 163. 94 Vgl. Palmer: Zweifler, Sp. 1622. 95 Aufgrund des Westchores lässt sich der Baustil der dargestellten Kirche als deutsch bestimmen (freundlicher Hinweis von Jeffrey Hamburger (Harvard)). 96 Vgl. Palmer: Zweifler, Sp. 1622.

2 Vergleichsbeispiele: ›Die Vorauer Novelle‹ und ›Der Zweifler‹

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tere 14 auf den Epilog. In nur 86 Versen wird das eigentliche Mirakel erzählt. Der Erzähler beginnt seinen Prolog mit der Grundfrage, wie man ins Himmelreich gelangen könne, und nennt die zwei dafür erforderlichen Haupttugenden: Swen got sines riches sol gewern / zweier tugende er nicht mac untpern / Di heizen zu latine als ich iz las / Spes [et] longanimitas / Daz ist hoffenunge vnde guot gebite (V. 1 ff.). Die Nennung der lateinischen Namen erweckt den Eindruck der Gelehrsamkeit, die darauf folgende Erläuterung in der Volkssprache richtet sich an ein wohl laikales Publikum. Eine weitere Bedingung für den Eingang ins Himmelreich ist die Läuterung des Menschen, die mit einem aus der weltlichen Epik geläufigen Vergleich umschrieben wird: Alse van almarie ein side / mvze wir gelutteret werden (V. 12 f.). Diese Bezeichnung eines kostbaren Stoffes findet sich auch im ›Rolandslied‹ des Pfaffen Konrad und in Strickers ›Karl‹.97 Danach kommt der Erzähler zur Gegenüberstellung von weltlichem, vergänglichem Gut, das zu verachten, und himmlischem, ewigem Gut, das zu erstreben sei. In einem Dreischritt wird die Vergänglichkeit und Unbeständigkeit weltlicher Dinge aufgezeigt. Zunächst werden irdische Güter und Naturphänomene aufgezählt, die endlich sind: Sommer, Blumen, Gold, Silber, reiches Gewand. Dann werden Personengruppen aus der volkssprachigen Heldenepik und der heidnischen Antike als Exempla weltlicher Vergänglichkeit angeführt: Waz half den nibelungen ir hort / do si erslagen vorden dort / in vremedem lande / di stolzen wiganden. / Di romescen keisere mochten ouch nicht genesen / swi riche si weren gewesen / Doch nam si alle der tot / vnde musten hin dar got gebot (V. 35 ff.). Diese Vergleiche setzen eine Vertrautheit mit der weltlichen Literaturtradition voraus, schaffen aber gleichzeitig eine Distanz zu ihr. Als dritte Stufe wird noch einmal die Vergänglichkeit irdischer Güter betont, nun aber auf einer abstrakteren Ebene. Den contemptusmundi-Versen Ez ist allez toub vnde blint / vnde ein trovm da mit di werlt vert (46 f.), werden dann die Himmelsfreuden gegenübergestellt (V. 51–61). Die Bezeichnungen der Weltfreuden (toub vnde blint) werden dabei durch den Topos einer unvorstellbaren Erweiterung der Sinneswahrnehmung wiederaufgenommen: in der vroude so rechte groz / di in menscen herze nie gevloz / vnde menslich ouge nie gesach / Noch nie zv horene gescach / keines menscen oren (V. 57 ff.). Auf die Gegenüberstellung von Welt- und Himmelsfreuden und die Gegenüberstellung von Toren und Weisen folgen eine Wahrheitsbeteuerung und eine Quellenangabe: In vitas patrum ich ez las (V. 79).98 Das Thema der erweiterten Sinneswahrnehmung, das schon bei der Gegenüberstellung von Welt- und Him-

97 Vgl. Palmer: Zweifler, Sp. 1621. 98 Mir ist keine Fassung des Erzählstoffs vom verzückten Mönch aus den ›Vitaspatrum‹ bekannt; möglicherweise handelt es sich um eine Quellenfiktion, bei der die bekannte Quelle dem Text Autorität verleihen sollte.

436 | VII Überlieferungskontexte 3 melsfreuden im Prolog angesprochen wurde, wird auch im narrativen Teil wieder aufgegriffen. Die Sicht des Mönchs auf die bekannte Umgebung wird durch den Gesang des Vogels verändert: Her dachte alsus. Wi kvmet daz / so dicke ich durch gangen han / Dissen walt. Daz mir so wol getan / Alse ich mich nv versinne / Nech ein bovm erscein hir inne (V. 124 ff.). Auch die Wahrnehmung der Zeit wird durch den Einbruch der Transzendenz beeinflusst: Der zuverlässige Küster vergisst seine Pflicht, das Münster abzuschließen, und glaubt, er habe nur wenige Stunden lang dem Gesang des Vogels gelauscht; tatsächlich waren es aber tausend Jahre. Diese Wahrnehmungsveränderung des verzückten Mönchs dient schließlich als Beweis für das unvorstellbare Ausmaß der Himmelsfreuden, die noch viel schöner sind als der Gesang des Vogels. Betrachtet man den ›Zweifler‹ in seinem literarischen Referenzrahmen, stellt sich heraus, dass diese Erzählung innerhalb der Stofftradition – so weit ich sie überblicke – diejenige Fassung ist, die den engsten Bezug zum Psalmvers quia mille anni in oculis tuis sicut dies hesterna quae pertransiit et vigilia nocturna (Ps 90,4)99 aufweist: vnde do man daz vers zv chore sanc / daz da sprichet. daz kvme also lanc / tvsent iar vor gottes ougen sin / so egesteren tages scin / Der selbe mvnich began / sere zwibelen daran (V. 83 ff.). Andere Fassungen berichten entweder nur von allgemeinen Zweifeln an der Dauer der himmlischen Freuden oder lassen den Mönch gar nicht zweifeln, sondern nur um einen Vorgeschmack der himmlischen Freuden bitten. Die Abwesenheit des Mönchs beträgt in den meisten anderen Ausformungen einige hundert Jahre, nur im ›Zweifler‹ sind es genau die im Psalmvers erwähnten tausend Jahre. Der Text wird dadurch in einen direkten Bezug zum Psalter gestellt und kann als ›Beweis‹ des Psalmverses (und implizit natürlich des ganzen Psalters) gelesen werden. So ist er besonders geeignet, als Eröffnung einer Psalterhandschrift zu dienen und übernimmt prinzipiell eine ähnliche Funktion wie die deutschen Gebetsanweisungen, die sich in vielen zeitgenössischen Psalterien finden und den Rezipienten darüber belehren, zu welchem Anlass ein bestimmter Psalm gebetet und wie er verstanden werden soll. Nur handelt es sich beim ›Zweifler‹ nicht um eine explizite Anweisung, sondern um einen exempelhaften Vorspruch, der dem Rezipienten im Nachvollzug des erzählten Geschehens die Glaubenswahrheiten des Psalters erschließt.100

99 Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist, und eine Nachtwache. 100 Die stoffgeschichtliche Besonderheit sowie die unikale und außergewöhnliche Überlieferung des ›Zweiflers‹ könnten darauf hindeuten, dass der Text für die Insertion in diese Handschrift überhaupt erst angefertigt wurde. Schreibsprache und Stil der Erzählung sprechen nicht gegen eine solche Annahme. Dies muss zwar ebenso eine Hypothese bleiben wie die Überlegungen zu möglichen Auftraggebern.

3 Geistliche Erzählungen im Umfeld von juristischen Texten

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3 Geistliche Erzählungen im Umfeld von juristischen Texten Geistliche Verserzählungen wurden auch in volkssprachigen Handschriften mit Texten überliefert, die gelehrtes Wissen tradieren. Dabei spielt die Zusammenstellung von Kleinepik mit juristischen Texten eine wichtige Rolle. Das Spektrum der Kontextualisierung reicht von bloßer Mitüberlieferung bis hin zur thematischen Funktionalisierung. So sind des Strickers ›Sünder und Einsiedler‹ und ›Richter und Teufel‹101 in einer ›Deutschenspiegel‹-Handschrift102 zu den Artikeln gestellt, die das Erbrecht im Fall von Klostereintritten bzw. das Amt und die rechtliche Stellung des Richters behandeln. In einer ›Schwabenspiegel‹-Handschrift103 ist neben diesen beiden Texten auch des Strickers ›Marktdieb‹ nach einem Landrechts-Artikel über die Wucherer inseriert. Die Verserzählungen haben in diesen Fällen exemplarischen Charakter, sie illustrieren den betreffenden Rechtsartikel. Diese Zusammenstellungen wurden u. a. von Norbert H. Ott und Franz-Josef Holznagel bereits eingehend untersucht.104 Volkssprachige juristische Handschriften stehen in einem Übergangsbereich zwischen klerikaler Bildung und laikaler Verwaltung.105 Kleriker und Laien mit unterschiedlichem Bildungsstand, die in irgendeiner Weise in die weltliche Rechtsprechung involviert waren, beschäftigten sich mit diesen Texten und rezipierten in diesem Kontext auch geistliche Verserzählungen.

101 Zu den beiden Stricker-Texten vgl. Kap. III.4.3. 102 Innsbruck, Universitäts- und Landesbibl., Cod. 922 (bair.-österr. Sprachgebiet, 14. Jahrhundert). 103 Freiburg, Stadtarchiv, B 1 Nr. 199 (südalem. Sprachgebiet, um 1330/32). 104 Norbert H. Ott: Bispel und Mären als juristische Exempla. Anmerkungen zur Stricker-Überlieferung im Rechtsspiegel-Kontext. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter (Paderborner Colloquium 1987). Hrsg. von Klaus Grubmüller/L. Peter Johnson/Hans-Hugo Steinhoff. Paderborn u.a. 1988, S. 243–252; Holznagel: Handschrift, Kap. II.2.3.2. 105 Zum Zusammenhang von juristischen und literarischen Texten im Allgemeinen vgl. Recht und Literatur. Hrsg. von Hartmut Bleumer/Susanne Kaplan. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41/163 (2011); darin bes.: Caroline Emmelius: Der Fall des Märe. Rechtsdiskurs und Fallgeschehen bei Heinrich Kaufringer. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41/163 (2011), S. 88–113; Eva Schumann: Seltzsame Gerichtshändel. Fiktive Prozesse als Bestandteil der juristichen Praktikerliteratur. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41/163 (2011), S. 114–148; Bleumer: Vom guten Recht. Vgl. außerdem Eva Schumann: Wissensvermittlung leicht gemacht. Die Vermittlung gelehrten Rechts an ungelehrte Rechtspraktiker am Beispiel der volkssprachigen Teufelsprozesse. In: Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne. Hrsg. von Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick (Historische Zeitschrift. Beihefte NF 57). München 2012, S. 182–213.

438 | VII Überlieferungskontexte 3 3.1 Eine didaktische Kleinepiksammlung als Anhang zum ›Sachsenspiegel‹ In der Handschrift Leipzig, UB, Ms 946 (Handschrift l) ist eine Zusammenstellung von juristischen und kleinepischen Texten zu finden, deren Bezüge weniger eng sind als bei den oben genannten Rechtsspiegelhandschriften und Stricker-Erzählungen. In der Handschrift l folgt auf den ›Sachsenspiegel‹ eine Gruppe von vorwiegend didaktischen kleinepischen Texten, darunter auch die geistliche Verserzählung ›Der ernsthafte König‹ des Strickers. l

Leipzig, UB, Ms 946

Pergament · 65 Bll. · 33 × 24,5–24,8 (Bl. 65: 22,4 × 11–12) · Raum Sachsen/Anhalt/Thüringen · 1. Hälfte 14. Jahrhundert Inhalt: Bl. 1r Judeneid Bl. 1r Nachtrag: lat. historische Notizen Bl. 1v–55r ›Sachsenspiegel‹ Bl. 55r/v ›Magdeburger Dienstrecht‹ Bl. 55v–58r ›Der Magezoge‹ Bl. 58r–59v Stricker: ›Der ernsthafte König‹ Bl. 59v–60r ›Die Adelkrone‹ Bl. 60r–62r ›Der Seele Kranz‹ Bl. 62r–64v ›Von dem jüngsten Tag‹ Bl. 64v–65v Konrad von Haslau: ›Der Jüngling‹ Lit.: Franzjosef Pensel: Verzeichnis der deutschen mittelalterlichen Handschriften in der Universitätsbibliothek Leipzig. Zum Druck gebracht von Irene Stahl (DTM 70/3). Berlin 1998, S. 131–134; Kleinere mhd. Erzählungen (Rosenhagen), S. XXX; Konrad von Haslau: Der Jüngling. Nach der Heidelberger Handschrift Cpg. 341 mit den Lesarten der Leipziger Handschrift 946 und der Kalocsaer Handschrift (Cod. Bodmer 72). Hrsg. von Walter Tauber (ATB 97). Tübingen 1984, S. XV f.

Das einheitliche Layout der von einer Hand geschriebenen Handschrift zeigt, dass die Kleinepiksammlung als integraler Bestandteil der Sammlung eingetragen wurde. Allerdings hatte der Schreiber wohl etwas zu knapp kalkuliert, denn er kürzte die kleinepischen Texte und ging auf den letzten Seiten dazu über, die Verse nicht mehr abgesetzt zu schreiben, um Platz zu sparen. Der letzte Text der Sammlung, Konrads von Haslau ›Jüngling‹, ist zwar wohl von demselben Schreiber,106 aber in deutlich flüchtigerer Schrift eingetragen. Da nur noch einige Zeilen auf dem letzten Blatt der letzten Lage (Bl. 64) frei waren, musste der

106 Pensel: Verzeichnis, S. 131, setzt für diesen Text eine zweite Hand an. Die ähnlichen Buchstabenformen deuten jedoch eher darauf hin, dass derselbe Schreiber den ›Jüngling‹ eingetragen hat, sich aber einer Schrift auf niedrigerem kalligraphischem Niveau (kursive Form des r; z ohne Querstrich) bedient und schneller geschrieben hat.

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Schreiber ein zusätzliches Blatt einfügen. Dazu verwendete er ein kleinformatigeres Blatt, das gerade ausreichte, um den Schluss des ›Jünglings‹ aufzunehmen.107 Die Kleinepiksammlung wird vom ›Magezoge‹, der Lehrrede eines Vaters an seinen Sohn, eröffnet. Sie thematisiert, ebenso wie Konrads von Haslau ›Jüngling‹, das rechte Verhalten in der Welt. Die unikal in der Handschrift l überlieferte Rede ›Die Adelkrone‹ ist eine nach Ständen differenzierte Lehre für Priester, Ritter und Damen.108 Dezidiert geistliche Didaxe bieten des Strickers ›Ernsthafter König‹,109 ›Der Seele Kranz‹ und ›Von dem jüngsten Tag‹. Im ›Ernsthaften König‹ wird der den Weltfreuden zugewandte Bruder des Königs mittels einer inszenierten Verurteilung zum Tod dazu gebracht, die Nichtigkeit des irdischen Lebens einzusehen. Auf den Rat des Königs hin denkt der Bruder fortan in Analogie zu den realen Speeren, die ihn auf dem Schafott bedrohten, stets an die vier symbolischen Speere, die eine übermäßige Fröhlichkeit nicht zulassen (die Marter Christi, die ungewisse Todesstunde, das ungewisse Schicksal nach dem Tod, die Angst vor dem Jüngsten Gericht). In ›Der Seele Kranz‹ werden die Tugendblumen aufgezählt, die ein Gläubiger auf dem Weg zum Himmelreich pflücken muss, um dort Einlass zu finden. Am Ende dieses Textes wird das Schicksal der Guten und Bösen im Jenseits thematisiert: Swenne wir sulche mere horen lesen [von den Freuden im Paradies], / So wolle wir gerne zu himele wesen. / Doch so kome wir so nahes nicht dar, / Daz wir beschowen der engele schar, / Wir haben hie erarnet. / Got hat vns gewarnet: / Jz si man oder wib, / Jz sal kastigen sinen lib / vnd nach guten werken ringen, / So mac ime wol gelingen [...] Wer aber nach des vleisches willen lebet / Vnde nicht nach gotes hulden strebet, / Der muz zu der helle, des dunket mich, / Des mac her nicht entsagen sich, / Da muz her inne / beide braten vnd brinne (Bl. 62r). Im nachfolgenden Text ›Von dem jüngsten Tag‹ wird diese Trennung von Erwählten und Verdammten effektvoll ausgemalt. Möglicherweise

107 Obwohl dies auf den ersten Blick nach einem späteren Nachtrag aussieht, scheint der Eintrag des ›Jünglings‹ demselben Arbeitsprozess wie der Hauptteil der Handschrift anzugehören, denn die Rubrizierung ist bei allen Texten gleich. Denkbar wäre etwa, dass der Schreiber während der Herstellung des Hauptteils den Auftrag bekam, den ›Jüngling‹ ebenfalls in die Sammlung zu integrieren. Die Kalkulationen für den Umfang der Handschrift (acht Quaternionen) waren zu diesem Zeitpunkt wohl bereits abgeschlossen, deshalb musste das Zusatzblatt eingefügt werden. 108 Den drei Ständen werden dabei die Symbole Lamm, Gold und Seide zugewiesen. Dem Priester und dem Ritter werden außerdem biblische Vorbildfiguren zugeordnet: Johannes Baptist und Judas Makkabäus. 109 Vgl. Kap. II.1.4. Im handschriftlichen Titel wurde das im ersten Vers genannte Adjektiv ›ernsthaft‹ zum Namen des Königs umstilisiert: Dit heizit kung Ernst. Eine ähnliche Überschrift enthält auch die Handschrift Dresden, SLUB, Mscr.M.68, die der Leipziger Handschrift textgeschichtlich nicht nahesteht: Von küng Ernsten (Bl. 56rb).

440 | VII Überlieferungskontexte 3 bildete dieser Text in der ursprünglichen Konzeption den Schluss der Kleinepiksammlung, was auch aus thematischen Gründen naheliegend erscheint. Zwischen dieser Auswahl didaktischer Kleinepik und dem vorangehenden juristischen Text besteht insofern eine assoziative Verbindung, als auf das juristische Regelwerk allgemeinere und exemplarische Verhaltenslehren folgen, die das konkrete weltliche Recht um eine heilsgeschichtlich-eschatologische Dimension erweiterten.

3.2 Das Verhältnis der Handschrift zu den Kleinepiksammlungen HK Mit Ausnahme der ›Adelkrone‹ sind alle in der Handschrift l enthaltenen kleinepischen Texte auch in den Kleinepiksammlungen HK überliefert, allerdings in abweichender Reihenfolge und Textgestalt: Handschrift l ›Magezoge‹ Stricker: ›Ernsthafter König‹ ›Adelkrone‹ ›Der Seele Kranz‹ ›Von dem jüngsten Tag‹ Konrad von Haslau: ›Jüngling‹

Handschriften HK ›Von dem jüngsten Tag‹ H6/K7 (4) ›Magezoge‹ H36/K9 (6) ›Der Seele Kranz‹ H37/K10 (7) Konrad von Haslau: ›Jüngling‹ H52 (49)/K50 (47) Stricker: ›Ernsthafter König‹ H86 (61)/K84 (75)

Für Konrads von Haslau ›Jüngling‹ ist die Handschrift l neben HK der einzige Textzeuge, allerdings überliefert l nur einen Abschnitt des Textes, in dem es um die negativen Konsequenzen des Würfelspiels geht (V. 295–448 der Ausgabe). Das Verhältnis der drei Textzeugen charakterisiert der Herausgeber Walter Tauber folgendermaßen: K sei eine Abschrift aus H, und l stehe »ebenfalls H sehr nahe«,110 da l einen Plusvers von K nicht überliefert. Auch wenn das genaue Verhältnis der Handschriften schwer zu klären ist,111 kann man doch festhalten, dass alle Textzeugen eng verwandt sind. Bei den anderen Texten können jedoch nur lose textgeschichtliche Verwandtschaften festgestellt werden. Beim ›Magezoge‹ weicht l von allen anderen Textzeugen in der Reihenfolge der Sprüche gänzlich ab;112 durch ein gemeinsa-

110 Konrad von Haslau (Tauber), S. XVII. 111 Die Leipziger Handschrift weist einige Fehlstellen (z.B. V. 327 f., 337 f., 353–356, 375–380, 387–430) und Umformulierungen (z.B. V. 341 f.) auf. Sie geht jedoch nie in sinntragenden Lesarten mit H oder K gegen die jeweils andere Handschrift. Der Plusvers aus K (nach V. 438, erzeugt einen Dreireim) steht zwar nicht in l, dafür hat l aber mit K gegenüber H die korrekte Versfolge V. 306/307 gemeinsam. 112 Vgl. Kurt Gärtner: Der Magezoge (Spiegel der Tugend). In: 2VL 5 (1985), Sp. 1153–1155.

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mes Schlussgebet ist l nur mit der jüngeren, ebenfalls omd. Handschrift De113 verwandt. Die Kleinepiksammlungen HK enthalten dagegen einen nur dort überlieferten abweichenden Schluss – die Handschrift l repräsentiert also eine andere Fassung des Textes als HK. Auch im Fall des ›Ernsthaften Königs‹ weist die Handschrift l Abweichungen gegenüber den Kleinepiksammlungen HK auf, so dass eine direkte Verwandtschaft der Textzeugen ausgeschlossen ist.114 Die meisten Abweichungen und Auslassungen der Handschrift l werden von keinem anderen Textzeugen geteilt,115 nur selten geht die jüngere Stricker-Handschrift v116 mit l zusammen. Diese Handschrift kann aber nicht direkt auf die Handschrift l zurückgehen, denn l überliefert den Text nur bis V. 185 der Ausgabe und bringt dann 14 eigene Schlussverse, während die Handschrift v den Text bis V. 236 der Ausgabe überliefert. Die 14 Schlussverse, die wohl vom Schreiber der Handschrift l stammen, stellen die Erzählung in eine fingierte Predigtsituation: Nu ir liben lute, / Die got hat hir gesampnit hute, / Nemet alle ein bilde dar bi, / Wie rechte bitter der ewige tot si, / Vnde bitet got, den guten, / Daz her vns da vor muze behuten, / Vnde e denne wie ersterben, / Daz wie sine hulde erwerben, / Vnde muzen komen in sin riche, / Da wir ewicliche / Inne mugen leben. / Daz her vns daz ruche geben, / Daz vns daz allen muze geschen, / So sprechet alle amen (Bl. 59r/v). Der Epilog bezieht das fingierte Predigtpublikum in ein gemeinsames Schlussgebet ein und betont die didaktische Funktion der Erzählung (nemet alle ein bilde dar bi), die sich in dieser Perspektivierung gut in die didaktische Sammlung einfügt. Die Überlieferungslage von ›Der Seele Kranz‹ ist sehr komplex und wurde bisher nur teilweise aufgearbeitet.117 Fest steht jedoch, dass die Handschrift l zu

113 Dessau, Landesbücherei, Hs. Georg. 24.8°, Bl. 196r–204v. 114 Gegen eine Abhängigkeit der Leipziger Handschrift von HK spricht neben verschiedenen anderen Abweichungen auch V. 76 der Ausgabe, bei dem l die bessere Lesart Der verwete sich, so die toten tvnt gegen die verderbte Stelle in HK Der ver veste sich, als die toren tvnt bietet. 115 In l wurden 59 Verse ausgelassen, um Platz für die restlichen Texte zu sparen. Allerdings wurden die Kürzungen an durchaus sinnvollen Stellen vorgenommen: Die hier ausgelassene Rede des Königs an den Bruder, in der wiederholt wird, was schon vorher erzählt wurde, ist nicht unbedingt nötig zum Verständnis der Lehre, und der ausgesparte Abschluss der Handlung erscheint in diesem v.a. didaktisch geprägten Umfeld auch nicht zwingend notwendig, da ja nicht die narrative Struktur des Textes im Vordergrund zu stehen scheint. 116 Chur, Staatsarchiv, Cod. B 1 (hochalem. Sprachgebiet, Ende 15. Jahrhundert), vgl. Stricker (Moelleken) I, S. XXXVII. 117 Zu diesem Text und seiner Überlieferung vgl. Werner Fechter: Der Seele Kranz. In: 2VL 8 (1992), Sp. 1017–1022 und 2VL 11 (2004), Sp. 1413. Ausgaben: Gustav Milchsack: Der seˆle cranz. PBB 5 (1878), S. 548–569; Bartsch: Beiträge zur Quellenkunde, S. 260–262. Die Überlieferung von ›Der Seele Kranz‹ lässt sich in zwei Hauptgruppen unterteilen, wobei die zweite Gruppe gegenüber der ersten Gruppe 26 Plusverse aufweist. Die Handschrift l (in der Forschung zu ›Der Seele

442 | VII Überlieferungskontexte 3 einer anderen textgeschichtlichen Gruppe gehört als die Kleinepiksammlungen HK, wodurch auch hier eine engere Verwandtschaft bzw. ein Rückgriff auf gemeinsame Vorlagen ausgeschlossen sind. Die Fassung des eschatologischen Textes ›Von dem jüngsten Tag‹ der Handschrift l steht den Kleinepiksammlungen HK ebenfalls fern.118 ›Von dem jüngsten Tag‹ ist in der Handschrift l aufgrund seiner Stellung am (ursprünglichen?) Schluss der Sammlung von besonders drastischen Kürzungsmaßnahmen betroffen: Etwa 300 Verse wurden weggelassen, so dass der Text mit den Höllenqualen endet; die darauffolgende Beschreibung der Himmelsfreuden wurde ausgespart. Auch hier hat der Schreiber eigene Schlussverse hinzugefügt: Geruch vns, herre, bewaren, / Er, dan wir von hinnen varen / Vz disme enelende, / Daz wie mit sulchem ende / Von hinnen scheiden muzen, / Daz wir die reinen suzen / Gotes muter muzen beschowen / Mit allen iren iuncvrowen. / Des sele muze werden rat, / Der diz buch gemachet hat, / Des sele muze selig wesen! / Alle, die ez horen oder lesen, / Die muzen sin behut / Vor der engestlichen glut, / Die in der helle so michil ist. / Des helfe vns der suze Crist. Amen (Bl. 64v). Wiederum wird das Publikum in das Gebet um ein gutes Ende einbezogen. Die weggelassene Beschreibung der Himmelsfreuden wird auf drei Verse reduziert, die den Anblick Marias und der Jungfrauen schildern. Diese Beobachtungen bestätigen die Hypothesen der Kleinepikforschung, dass viele kleinepische Texte in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts bereits in verschiedenen Fassungen verbreitet waren und die Redaktoren der erhaltenen Kleinepiksammlungen auf unterschiedliche Vorlagen zurückgriffen.119 Die Handschrift l ist – ähnlich wie etwa die geistlich orientierten Kleinepiksammlungen k und MV – durch ihre Fokussierung auf didaktische Texte ein Beispiel einer Sammlung mit spezifischem thematischem Profil. Dies macht sich nicht nur in der Auswahl der Texte, sondern auch in den vom Schreiber hinzugefügten Schlussversen bemerkbar, in denen die didaktische Funktion der Texte zusätzlich hervorgehoben wird.

Kranz‹ trägt diese Handschrift die Sigle L) gehört zur Gruppe I. Die ›König im Bad‹-Handschriften HKrs (in der Forschung zu ›Der Seele Kranz‹ tragen diese Handschriften die Siglen H, C2, S und Sg) gehören dagegen zur Gruppe II und bilden über verschiedene Fehl- und Plusverse sowie umgestellte/geänderte Verse innerhalb der Gruppe II eine Untergruppe IIa. Diese teilt sich wiederum in eine Gruppe IIa–1 (Vorstufe von rs) und eine Gruppe IIa–2 (Vorstufe von HK). 118 Vgl. L[eonard] A[shley] Willoughby: Von dem jungesten Tage. A middle high german poem of the thirteenth century. Oxford 1918, S. 28–34. 119 Vgl. dazu Kap. IV.1.2.1.

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3.3 Ein gelehrter Rezipient der Handschrift Da keine Hinweise auf das konkrete Entstehungsumfeld oder die Erstbesitzer der Handschrift l vorhanden sind, muss es ungewiss bleiben, von wem und für wen die didaktische Kleinepiksammlung als Anhang zum ›Sachsenspiegel‹ aufgezeichnet wurde. Es gibt jedoch Rezeptionsspuren aus der Mitte des 14. Jahrhunderts, die zeigen, dass die Handschrift sich zu diesem Zeitpunkt in den Händen eines lateinkundigen Lesers befand. Auf Bl. 1r hat dieser Rezipient Verse eingetragen, die teilweise lokalhistorische Bezüge aufweisen:120 Nota. M tricenteno quadrageno quoque nono, / Troxico [sic!] facta, rea gens concrematur hebrea; / Swarzburg cassatur, Bohemus rex coronatur / x bis ix rarus redit exul tunc Wolemarus. / Errores generat gens que se sponte flagellat. / Argentum purum superat heller vile cuprio. / Quinque supratacta sunt vno sub anno peracta.121 Nota. De lite Welfholcz. Anno milleno centeno ter quoque quino, / Siluam Welponis perfundens vnda cruoris.122

120 Der lateinische Text ist an mehreren Stellen grammatikalisch falsch, eine eindeutige Übersetzung daher schwierig. Problematische Stellen werden durch Fragezeichen markiert. Merke. Im Jahr 1349 wurde, nachdem die Vergiftung geschehen war [?], das schuldige jüdische Volk verbrannt. Schwarzburg wurde kassiert, der König der Böhmen wurde gekrönt. Nach 29 Jahren [?] kehrte damals der einsame [?] Pilger Woldemar zurück. Leute, die sich freiwillig geißelten, stifteten Verwirrung. Der geringe Kupferheller überstieg an Wert das reine Silber. Die fünf vorgenannten Dinge sind innerhalb eines einzigen Jahres geschehen. Merke. Von der Schlacht bei Welfesholz. Im Jahr 1305 wurde Welfesholz von einer Woge von Blut überflutet. Merke. Von der Schlacht bei Beesenstedt. Du weißt, dass die Wettiner im Jahr 1363 in Beesenstedt Krieg führten. Merke. Von der Schlacht bei Lucka. Behalte im Gedächtnis, dass am Fest der Petronella im Jahr 1307 Markgraf Friedrich viele Schwaben erschlug. Merke. Von der Burg Teuditz. Im Jahr 1321 wurde die hohe Burg Teuditz zerstört. Dies geschah im Frühling um das Marienfest herum. Vom großen Wind. Im Jahr 1335 am Fest von Simon und Judas gab es einen starken Wind, der viele Zäune, Mauern und Gebäude mit Türmen zerstörte. Prüfe den Geist, beobachte die Sitten, erinnere dich an das Geschehene. Auf diese Weise, von diesen Dingen und in diesen Dingen wirst du erkennen, wer du bist. Auf der Welt gibt es drei [Arten von Menschen], die sagen können, was sie wollen: Das sind große Herren, alte Leute und nicht zuletzt die Vaganten. 121 Diese Verse sind in leicht abweichender Gestalt auch in der Merseburger Bischofschronik überliefert, vgl. Chronica episcoporum ecclesiae Merseburgensis. Hrsg. von Roger Wilmans. In: Monumenta Germaniae Historica Bd. 12. Scriptores Bd. 10. Hannover 1852, S. 157–212, hier S. 196 (Continuatio III). 122 Vgl. Hans Walther: Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris latinorum. Alphabetisches Verzeichnis der Versanfänge mittellateinischer Dichtungen. 2. Aufl. Göttingen 1969, I,1167.

444 | VII Überlieferungskontexte 3 Nota. De lite Besinstete. Anno milleno ccc decaseno terno, / Scis Wetin fiunt Besinstete bella.123 Nota. De lite Luckowe. Quando millenus ccc fuit annus septimus / in festo Petronelle memor esto, / Quod Fridericus multos occidit marchio sweuos. Nota. De castro Toydicz. Anno milleno ter c vigesimo primo, / quod Toydicz castrum desolatum fuit altum. / Accidit hoc vere tunc circa festa Marie. De flatu venti. Anno milleno ter c trigesimo quino / Symonis et Jude, ventus validus fuit adque peruertit sepes, muros, cum turribus edes.124 Inspice mentem, conspice mores, facta reuolue. / Sic et ab hijs et in hiis poteris cognoscere, quis sis.125 In mundo tres sunt quod volunt dicere possunt: / Sunt magni dominique senes nec non vaguantes.

Die in den historischen Notizen genannten Orte Welfesholz, Beesenstedt, Lucka und Teuditz weisen in den sächsisch-anhaltisch-thüringischen Raum. In der ersten Notiz wird auf die von der wittelsbachischen Partei betriebene und am 30. 1. 1349 erfolgte Wahl Gunthers XXI., Graf von Schwarzburg-Blankenburg, zum Gegenkönig zu Karl IV. Bezug genommen. Am 26. 5. 1349 verzichtete Gunther auf die Wahl und starb kurz darauf.126 Im Frühling des Jahres 1349 fanden in mehreren Städten der Umgebung Judenpogrome statt, die durch die Behauptung ausgelöst wurden, die Juden hätten Brunnen vergiftet.127 Ebenfalls in der jüngeren Vergangenheit haben sich die Schleifung der Burg Teuditz (1321) und die durch einen Sturmwind verursachten Zerstörungen (1335) ereignet. Etwas weiter zurück liegen die Schlachten bei Welfesholz (1305), Beesenstedt (1263) und Lucka (1307); in letzterer besiegten die Wettiner Friedrich der Freidige und Diezmann ein vom König zurückgelassenes Truppenkontingent.128 Bei den beiden letzten Einträgen handelt es sich um Sprichwörter ohne historischen Bezug. Diese Nachträge zeigen, dass sich die Handschrift spätestens 1349 im Besitz einer Person befand, die lateinkundig und an lokalhistorischen Ereignissen interessiert war.

123 Bei diesem Datum handelt es sich um einen Fehler, da die Schlacht bei Beesenstedt 1263 stattfand. 124 Die Nachricht über diesen Sturmwind findet sich in anderer Textgestalt auch in Michaels de Leone Hausbuch, Bl. 263v (De magno inpetu ventorum). 125 Vgl. Walther: Initia I,9397. 126 Vgl. dazu Jürgen John/Reinhard Jonscher/Axel Stelnzer: Geschichte in Daten. Thüringen. München/Berlin 1995, S. 79 f. 127 Vgl. Stefan Litt: Die Juden der schwarzburgischen Territorien im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: Beiträge zur Geschichte der Juden Schwarzburgs (FS Philipp Heidenheim zum 100. Todestag). Hrsg. von dem Schlossmuseum Sondershausen (Juden in Schwarzburg 1). Sondershausen 2006, S. 8–18, hier S. 9. 128 Vgl. Günter Naumann: Sächsische Geschichte in Daten. 2. Aufl. München/Berlin 1994, S. 53; Jörg Rogge: Die Wettiner. Aufstieg einer Dynastie im Mittelalter. Ostfildern 2009, S. 87.

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Ob dieser gelehrte Rezipient allerdings in einem monastischen oder in einem laikalen Kontext anzusiedeln ist, geht aus den Nachträgen nicht hervor. Das auf dem Einband angebrachte Papierschild von 1541 weist die Handschrift als säkularisierten Klosterbesitz aus. Es ist also sicher, dass sich die Handschrift in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts in einem Kloster befand – ob sie bereits in der Mitte des 14. Jahrhunderts in diesem Umfeld anzutreffen war, als die Nachträge vorgenommen wurden, oder ob sie sogar schon in diesem Umfeld entstanden ist, lässt sich nicht sagen. Pensel nahm als Provenienz das Dominikanerkloster Leipzig an, ohne dies allerdings zu begründen.129 Es gibt keinerlei Besitzeinträge oder andere Merkmale, die diese Provenienz bezeugen würden. Zwar ist im Bücherverzeichnis der Leipziger Dominikaner von 1514130 ein Speculum saxonum in vulgari aufgeführt, und im Sequestrationsverzeichnis von 1541 finden sich sogar zwei Saxenspiegel;131 in Klosterbibliotheken dieser Gegend war das Rechtsbuch aber sehr verbreitet, da die Klöster oft auch an der weltlichen Rechtsprechung beteiligt waren. Das Vorhandensein eines bzw. mehrerer ›Sachsenspiegel‹ im Leipziger Dominikanerkloster spricht also nicht zwingend für eine Herkunft der Handschrift l aus diesem Kloster. Denkbar wäre etwa auch eine Provenienz aus dem Benediktinerkloster in Chemnitz,132 das ebenfalls zwei ›Sachsenspiegel‹ besaß,133 und dessen Bücherverzeichnis im Gegensatz zu demjenigen des Leipziger Dominikanerklosters auch ein Interesse an volkssprachiger epischer Literatur erkennen lässt.134 Als weiteres Indiz für die Provenienz der Handschrift aus einem älteren Kloster könnten auch die Fragmente einer lateinischen Bibelhandschrift des 10. Jahrhunderts gelten, die in der Handschrift l als Spiegel verwendet wurden, da in älteren Klöstern und Orden solche Makulatur eher vorhanden gewesen sein dürfte als in dem verhältnismäßig jungen Dominikanerkloster.

129 Vgl. Pensel: Verzeichnis, S. 131. 130 Leipzig, UB, Ms 2593h. 131 Leipzig, UB, Ms 2593i. Der zweite ›Sachsenspiegel‹ könnte auch ein Druck gewesen sein, da die Leipziger Dominikaner im 16. Jahrhundert vor allem Drucke sammelten (freundlicher Hinweis von Thomas Döring, UB Leipzig). 132 Zur Geschichte des Chemnitzer Benediktinerklosters vgl. Klaus Petzoldt: Monasterium Kempnicense. Eine Untersuchung zur Vor- und Frühgeschichte des Klosterwesens zwischen Elbe und Saale (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte 25). Leipzig 1982, bes. S. 1–50, 110–131. 133 Vgl. Jürgen Sarnowsky: Die Bibliothek des Klosters Chemnitz am Vorabend der Reformation. Teile I–III. Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige 108 (1997), S. 321–373. 134 Im Sequestrationsverzeichnis von 1541 sind neben deutschen geistlichen Handschriften (Bibeln, ›Vitaspatrum‹, ›Passional‹, Martyrologium, Leben Jesu, exegetische Traktate, Texte von Brigitta von Schweden, Seuse, Tauler) auch weltliche Texte enthalten: ein ›Parzival‹, eine ›Melusine‹, mehrere Herbarien, Schriften des Petrus de Crescenciis und eine Chronik.

446 | VII Überlieferungskontexte 3 Wie die Besitzgeschichte der Handschrift auch verlaufen sein mag – die Textzusammenstellung und die erhaltenen Benutzerspuren reichen aus, um die Stellung volkssprachiger juristischer Handschriften (und der in ihnen mitüberlieferten Kleinepik) zu umreißen. Durch die Volkssprache und die weltliche Rechtsprechung steht die Handschrift in einem laikal geprägten Umfeld; das weltliche Recht ist aber gleichzeitig auch Teil akademischer Bildung, und die Rechtsprechung lag nicht nur in den Händen weltlicher Herren, sondern wurde oft von geistlichen Herren und Klöstern ausgeführt, weshalb sich viele volkssprachige Rechtshandschriften auch in monastischem Besitz befanden.

4 Geistliches Erzählen in einem klerikal-gelehrten Umfeld im 15. Jahrhundert 4.1 Die Handschrift des Augustinerchorherrn Johannes Grundemann Um das Bild klerikal-gelehrter Entstehungs- und Rezeptionskontexte geistlicher Verserzählungen abzurunden, soll hier noch ein Beispiel aus dem 15. Jahrhundert vorgestellt werden: die volkssprachige Literaturproduktion des Leipziger Augustinerchorherrn Johannes Grundemann, der vor kurzem als Autor des ›Leipziger Äsop‹, der ›Leipziger Griseldis‹ und des ›Leipziger Apollonius‹ nachgewiesen werden konnte.135 Bei Grundemann liegt der seltene Fall vor, dass seine literarischen Texte als Autographe überliefert sind. Aus diesem Grund lässt sich der kompilierende, übersetzende und bearbeitende Umgang des gelehrten Verfassers mit geistlichen Erzählstoffen hier besonders gut untersuchen. Grundemann war 1439 an der Leipziger Universität immatrikuliert, 1443 Magister, 1451 Cursor in der Theologie und 1454 Sententiarius, 1458 wird er als

135 Vgl. grundlegend zu Johannes Grundemann und seiner Identifikation als Autor der Texte aus Leipzig, UB, Ms 1279: Christoph Mackert: Die Leipziger Textsammlung Ms 1279 und die Schriftproduktion eines Leipziger Augustinerchorherren im mittleren 15. Jahrhundert. In: Finden – gestalten – vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz u.a. (Wolfram-Studien 22). Berlin 2012, S. 219–263; Christoph Mackert: Die Bibliothek des Augustinerchorherrenstifts St. Thomas. In: Thomas Fuchs und Christoph Mackert: 3 x Thomas. Die Bibliotheken des Thomasklosters, der Thomaskirche und der Thomasschule im Laufe der Jahrhunderte. Leipzig 2012, S. 9–36, 97 f. Die Angaben zum Leben Johannes Grundemanns und seinen literarischen Aktivitäten sind diesen Arbeiten entnommen. Zu Leipzig als Übersetzungszentrum vgl. auch Nikolaus Henkel: Leipzig als Übersetzungszentrum am Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. DFG-Symposion Wolfenbüttel 1981. Hrsg. von Ludger Grenzmann/Karl Stackmann. Stuttgart 1984, S. 559–576.

4 Geistliches Erzählen in einem klerikal-gelehrten Umfeld im 15. Jahrhundert

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Licentiatus erwähnt. Grundemann ist als Plebanus in St. Nicolaus und von 1454–1467 als Propst des Augustinerchorherrenstifts St. Thomas bezeugt. Im Jahr 1470 ist er gestorben. In der Universitätsbibliothek Leipzig befindet sich ca. ein Dutzend Handschriften aus der Bibliothek des Thomasstifts, an denen Johannes Grundemann als Schreiber beteiligt war. Bis auf eine Ausnahme handelt es sich dabei um lateinische Handschriften, die meist theologische Texte enthalten.136 Grundemann hat sowohl ganze Handschriften als auch einzelne Texte geschrieben, hat Inhaltsverzeichnisse angelegt, Schaltzettel und Marginalien angebracht sowie Korrekturen eingefügt. Hier zeigt sich sein gelehrter Umgang mit lateinischen Texten, die erschlossen und für den wissenschaftlichen Gebrauch bereitgestellt werden.137 Grundemann ist auch Verfasser einiger lateinischer Sermones. Daneben zeichnete er in der Handschrift Leipzig, UB, Ms 1279 aber auch eigene deutsche Texte auf.138 Leipzig, UB, Ms 1279 Papier · II + 320 + I Bll. · 21,7 × 15,6 · Leipzig · um 1465 Inhalt: Bl. 1r–9v Inhaltsverzeichnis Bl. 10v Eigenschaften guter und schlechter Menschen (lat.–dt.) Bl. 11r–110v ›Leipziger Äsop‹ Bl. 110v–113v ›Von der werlde ythelkeyt‹ Bl. 113v–129v ›Visio Philiberti‹ Bl. 129v–131v ›Die Ermordung eines Juden und die Rebhühner‹ Bl. 131v–135r ›Der Bauer im Zweikampf‹ Bl. 135v–160r ›Leipziger Griseldis‹ Bl. 160v–235r ›Leipziger Apollonius‹ Bl. 236r–294r ›Sieben weise Meister‹ (Auszug: sieben Erzählungen) Bl. 294v–304r ›Crescentia‹ Bl. 304v–311r ›Hildegund von Schönau‹

136 Johannes Grundemann war an folgenden Handschriften beteiligt (vgl. die Übersicht bei Mackert: Leipziger Textsammlung, S. 257–263): Leipzig, UB, Ms 563, Ms 548, Ms 549, Ms 372, Ms 1036, Ms 612, Ms 803, Ms 1279, Ms 265, Ms 215, Ms 363, Ms 221, Ms 785. Die Handschrift Leipzig, UB, Ms 363 enthält neben Predigtsammlungen und historischen Texten auch zwei Texte Lupolds von Bebenburg, der im Leone-Kreis eine wichtige Rolle spielte. Diese beiden Texte sind von Grundemanns Hand eingetragen worden. 137 Zu dieser Art des Umgangs mit geistlichen Texten vgl. auch Eckart Conrad Lutz: Arbeiten an der Identität. Zur Medialität der cura monialium im Kompendium des Rektors eines reformierten Chorfrauenstifs. Mit Edition und Abbildung einer Windesheimer ›Forma investiendi sanctimonialium‹ und ihrer Notationen (Scrinium Friburgense 27). Berlin/New York 2010. 138 Unter dem Titel Esopus deutsch reimweiß wird die Handschrift im Sequestrationsverzeichnis des Thomasstifts von 1541 erwähnt, vgl. Dietmar Debes: Das Sequestrationsverzeichnis der Bibliothek des Thomasklosters zu Leipzig, in: FS Hans Lülfing (Zentralblatt für Bibliothekswesen. Beiheft 93). Leipzig 1966, S. 83–95, hier S. 90.

448 | VII Überlieferungskontexte 3 Bl. 311v–317r Bl. 317v–318r Bl. 318v–319v

Streitgespräch zwischen Tugenden und Lastern (lat.–dt.) Eigenschaften guter und schlechter Menschen (lat.–dt.) Sprüche über schlechte Frauen u. a. (lat.–dt.)

Lit.: Pensel: Verzeichnis, S. 173–175; Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im Mittelalter (Hermaea N.F. 69). Tübingen 1994, S. 204–206; Mackert: Leipziger Textsammlung, bes. S. 221–224; Mackert: Bibliothek, S. 97 f.; Christoph Mackert: Dyß yß der kamp vnde der stryt dyses krangken vorgenglichen lebens yn dyßer werlde. Johannes Grundemanns lateinischdeutsche Version der ›Rota pugnae moralis‹ in der Leipziger Handschrift Ms 1279. In: Grundlagen, S. 227–245.

Die Texte von Grundemanns Sammlung gehören unterschiedlichen Texttypen und Themenbereichen an, ihnen ist aber eine mehr oder weniger deutliche didaktische Intention gemeinsam. Diese kann katechetisch-erbaulich sein wie im Streitgespräch zwischen Tugenden und Lastern, der ›Visio Philiberti‹ oder den Eigenschaftskatalogen guter und schlechter Menschen, exemplarisch wie in der ›Crescentia‹ und der ›Hildegund‹ oder eher auf Weltklugheit und List ausgerichtet, wie in den äsopischen Fabeln und den Prosaromanen. Als Gebrauchskontexte der Sammlung sind die Schule oder die Laienpredigt und -seelsorge vorstellbar. Das Interesse sowohl für lateinische wissenschaftliche als auch für volkssprachige literarische Texte, das sich an Grundemanns Schreiber-, Übersetzerund Verfassertätigkeit zeigt, erinnert an die Sammelhandschriften Michaels de Leone. Während bei Michael allerdings nur eine tendenzielle Trennung zwischen lateinischen (Manuale) und volkssprachigen (Hausbuch) Texten zu beobachten ist, zeigt sich diese Unterscheidung bei Grundemann ganz deutlich. Die lateinischen wissenschaftlichen Texte, für das Kloster hergestellt, stehen in meist großformatigen Codices, während die deutschen Texte in einer einzigen, kleinformatigen und anspruchslosen Handschrift vereint sind.

4.2 Volkssprachige geistliche Erzählungen in Grundemanns Handschrift 4.2.1 ›Von der werlde ythelkeyt‹ und ›Visio Philiberti‹ Bei den beiden geistlichen Verstexten in Grundemanns Handschrift, ›Von der werlde ythelkeyt‹ und ›Visio Philiberti‹, handelt es sich um Bearbeitungen zweier lateinischer Texte, die in einer von Grundemann selbst geschriebenen lateinischen Handschrift zu finden sind. Diese Handschrift diente höchstwahrscheinlich als Vorlage für die Übersetzung.139 Während der erste Text eine redenartige Klage über die Falschheit der Welt ist, wird in der ›Visio Philiberti‹ (648 V.,

139 Leipzig, UB, Ms 803, Bl. 1r–3v. Vgl. Mackert: Textsammlung, S. 240–246.

4 Geistliches Erzählen in einem klerikal-gelehrten Umfeld im 15. Jahrhundert

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15. Jahrhundert)140 vom Streit zwischen Körper und Seele eines zur Hölle verdammten Menschen erzählt. Der französische Einsiedler Philibert hat in einer Winternacht folgenden Traum: Er sieht eine Seele, die zum toten Körper zurückkehrt, um sich über ihre Verdammung zu beklagen. Die Schuld daran trägt ihrer Ansicht nach der Körper, dem sie seine Vergänglichkeit, seine Prunksucht, seine Völlerei und Räuberei vorwirft. Der Körper streitet die Schuld jedoch ab: Er habe nichts ohne die Seele vollbringen können, und es wäre ihre Aufgabe gewesen, ihn von den Sünden abzuhalten. Die Seele erwidert, der Körper habe nicht auf ihre Ermahnungen gehört. Der Körper beklagt den Verlust weltlchen Gutes durch den Tod und besteht darauf, dass die vernünftige Seele das Verderben hätte abwenden sollen. Die Seele beklagt nun auch ihr Schicksal, bis die Teufel erscheinen und die Seele unter vielen Qualen in die Hölle führen. Erschreckt wacht Philibert auf, bittet Gott darum, das ewige Seelenheil erlangen zu können, und schwört allen weltlichen Freuden ab.

Dieser Erzählstoff ist sowohl in der lateinischen als auch in der volkssprachigen Literatur sehr weit verbreitet.141 In der handschriftlichen Überlieferung bildet die lateinische ›Visio Philiberti‹ oft einen Überlieferungsverbund mit der Weltklage ›Ecce mundus moritur‹, so auch in der von Grundemann geschriebenen Handschrift Leipzig, UB, Ms 803. Die Rede ›Ecce mundus moritur‹ hat Grundemann unter dem Titel ›Von der werlde ythelkeyt‹ neben der ›Visio Philiberti‹ in die Volkssprache übersetzt. Grundemann folgt bei seinen Übersetzungen prinzipiell dem lateinischen Text, seine Bearbeitung ist aber meist etwas ausführlicher, es werden mehrere deutsche Verse gebraucht, um einen lateinischen Vers wiederzugeben. Ein Beispiel dafür ist die Schilderung, wie die Seele von den Teufeln in die Hölle geführt wird: Leipzig, UB, Ms 803, Bl. 3rb

Leipzig, UB, Ms 1279, Bl. 127r, V. 546 ff.

Ecce demones, pice nigriores,

Dye thufele sy gar snel kummene sach Dy worn alze dy kollen swarcz Alze y keyn pech adder hartcz Sy warn alle eyslich vnd grusam Das keyn man vß gesprechen kan Es kann och nicht beschreben werden Von allen schribern vf der erden Keyn maler kans nicht gemalen Dye beschornen vnd dy kalen

Quorum turpitudinem tocius scriptores Mundi nec scriberent nec pingerent pictores,

e

140 Nigel F. Palmer: Visio Philiberti. In: 2VL 10 (1999), Sp. 412–418. Edition nach dieser Handschrift: Christoph Mackert/Almuth Märker: Johannes Grundemann (?): ›Von der werlde ythelkeyt‹ / ›Eyn gesichte wy dy sele czu deme lichenam sprach‹ – ›Ecce mundus moritur‹ / ›Visio Philiberti‹. Deutsch-lateinischer Parallelabdruck nach den Handschriften Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms 1279, fol. 110v–129v, und Ms 803, fol. 1ra–3vb. In: Finden – gestalten – vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz u.a. (Wolfram-Studien 22). Berlin 2012, S. 563–615. 141 Vgl. Palmer: Visio Philiberti.

450 | VII Überlieferungskontexte 3 Ferreas suscinulas manibus ferentes142

Sy quamen alle geloufen vnd geganden e Met glunden yserynnen czangen

Mit Vergleichen (alze dy kollen) und Doppelungen (pech adder hartcz) verleiht Grundemann dem deutschen Text mehr Anschaulichkeit. Für das Verspaar scriptores/pictores braucht er fünf Verse, wobei der letzte (Dye beschornen vnd dy kalen) wohl als Flickreim auf gemalen eingefügt wurde. Der deutsche Text enthält dadurch viele Amplifikationen, aber kaum bedeutungstragende Veränderungen gegenüber der lateinischen Vorlage. Man merkt Grundemanns Stilistik aber auch an, dass er eher gewohnt war, Prosatexte zu schreiben. Die Verserzählung ist also wohl nicht Ausdruck eines spezifischen Interesses Grundemanns für die Versform, sondern verdankt diese Form ihrer lateinischen Versvorlage. Geistliche Erzählstoffe sind in Grundemanns Sammlung auch in Prosaform vertreten – die Texte scheinen hauptsächlich im Hinblick auf ihre Thematik aufgenommen worden zu sein. 4.2.2 ›Crescentia‹ Der Erzählstoff von der unschuldig verfolgten Ehefrau Crescentia143 ist in drei Versfassungen des 12. und 13. Jahrhunderts verbreitet,144 wurde aber auch als Prosaerzählung bearbeitet. Grundemanns ›Crescentia‹-Bearbeitung145 basiert bereits auf einer deutschen Prosafassung, der Version der ›Crescentia‹-Erzählung aus der ›Sächsischen Weltchronik‹,146 einer Bearbeitung der ›Crescentia‹ aus der ›Kaiserchronik‹, und stimmt meist mit dieser überein. Selten sind bei Grundemann

142 Siehe, [da kommen] die Dämonen, schwärzer als Pech, deren Hässlichkeit alle Schreiber der ganzen Welt nicht beschreiben und alle Maler nicht darzustellen vermögen, eiserne Zangen in den Händen tragend. 143 Vgl. Nellmann: Crescentia, Sp. 20 f.; Baasch: Crescentialegende, S. 53–80. Abdruck der lateinischen Marienmirakel-Fassungen bei Wallensköld: Le conte, S. 116–128. 144 Zu den Fassungen des 12. Jahrhunderts vgl. Kap. III.3.4. Die dritte Fassung, ›Crescentia C‹ (1052 V., 13. Jahrhundert), ist eine jüngere, kürzere Bearbeitung. Sie ist von keiner der erhaltenen älteren Fassungen direkt abhängig, steht aber Fassung B näher. Ausgabe: GA I, S. 135–164. Vgl. auch Baasch: Crescentialegende, S. 26, 129–149. 145 Editionen nach dieser Handschrift: Moriz Haupt: Crescentia. Altdeutsche Blätter 1 (1836), S. 300–308; Die Crescentia-Erzählung aus der ›Leipziger Kleinepikhandschrift‹ Ms 1279. Hrsg. von Gesine Mierke (Saxofodina 1). Chemnitz 2013. 146 Ausgabe: Sächsische Weltchronik. Hrsg. von Ludwig Weiland (Deutsche Chroniken u. andere Geschichtsbücher des Mittelalters II. Monumenta Germaniae historica II). Hannover 1877, S. 1–384, ›Crescentia‹: S. 139–143. Vgl. auch Hubert Herkommer: Überlieferungsgeschichte der ›Sächsischen Weltchronik‹. Ein Beitrag zur deutschen Geschichtschreibung des Mittelalters (MTU 38). München 1972, S. 181–185; Jürgen Wolf: Die Sächsische Weltchronik im Spiegel ihrer Handschriften. Überlieferung, Textentwicklung, Rezeption (Münstersche Mittelalter-Schriften 75). München 1997.

4 Geistliches Erzählen in einem klerikal-gelehrten Umfeld im 15. Jahrhundert

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kleine syntaktische Umstellungen oder ›modernere‹ Begriffe zu finden, z.B. hervarn es dy Romere (Bl. 295v) anstelle von vreisket it de Romere (›Sächsische Weltchronik‹, S. 140). Auch Grundemanns stilistische Vorliebe für Begriffsdoppelungen führt manchmal zu abweichenden Formulierungen (behalden adder bewarn; um yre mynne adder um yre lybe, Bl. 295r/v), aber weniger häufig als bei der Übersetzung lateinischer Texte. Die bedeutendste Abweichung von der ›Crescentia‹ aus der ›Sächsischen Weltchronik‹ stellt ein wohl von Grundemann eingefügtes Motiv dar, das in manchen Ausprägungen des Erzählstoffs präsent ist, in der Fassung der ›Weltchronik‹ jedoch fehlt. Crescentia wird in der ›Sächsischen Weltchronik‹ (wie auch in der ›Kaiserchronik‹) von Petrus mit der Macht ausgestattet, Aussätzige nach der Anhörung einer offenen Beichte zu heilen. In einer anderen Ausprägung des Erzählstoffs fehlt Petrus – Crescentia gräbt dagegen auf Marias Geheiß ein Heilkraut aus, um damit die Aussätzigen zu heilen.147 In Grundemanns Fassung ist dieses Heilkraut-Motiv in die ›Crescentia‹-Fassung der ›Kaiserchronik‹ bzw. ›Sächsischen Weltchronik‹ integriert.148 Die Figur des Petrus wurde außerdem durch den Engel Gabriel ersetzt, eine Änderung, die nicht auf Grundemann zurückgeht, sondern schon in der Redaktion der ›Sächsischen Weltchronik‹ vorgenommen wurde, zu der die Vorlage Grundemanns wohl gehörte.149 ›Sächsische Weltchronik‹, S. 142

Grundemann: ›Crescentia‹, Bl. 301v/302r

Gabriel der heilige erzengel quam to ire gan unde sprach: ›Vrowe, du hevest gotes hulde. He hevet di geven ene gnade,

Do quam czu yr der engel Gabriel und wagte sy uff und sprach ›frowe, du hast gotes hulde; he hat dyr gegeben eyne große gabe. Royfe des krudes das unter dyme hobte gewachsen ys; weme du das czu trynkene gybest, der wert gesunt von allerley krangkeyt; och muß he dor czu offenberlich bekennen alles das he gethaen hat, anders hylft es en nichsnicht.‹ Czu hant roufte dy frowe des krudes alzo vyl alzy es yn yrem boseme behalden konde. Dornoch nam sy der engel Gabriel by der hant und furte sy ober das waßer byß vf das lant und wysde sy weder czu der borg do sy von geworfen wart.

swe so di dot sine bicht uppenbare, de wirt gesunt van allerhande suke.‹

He nam se bi der hant unde ledde se over de vlot up dat lant unde wisde se wider to der burch, dar siu af geworpen was.

147 Vgl. Wallensköld: Le conte, S. 32–60. 148 Vgl. Wallensköld: Le conte, S. 62. 149 In zwei Handschriften der ›Sächsischen Weltchronik‹ (Nr. 18 und 19 in der Ausgabe Weilands) erscheint der Engel Gabriel statt Petrus.

452 | VII Überlieferungskontexte 3 Die Änderung Grundemanns könnte einen erzähltechnischen Hintergrund haben: die Bemühung um eine stringente Handlungslogik. Das Motiv des Heilkrautes, das der Verfasser vielleicht aus einer anderen Fassung des Erzählstoffs kannte,150 steigert die Glaubwürdigkeit der Erzählung, indem die Heilkraft Crescentias auf eine faktische Ebene verlegt wird. Im Text der ›Crescentia‹ in Ms 1279 finden sich typische Abschreibfehler, so beispielsweise ein vermeintlicher Augensprung auf Bl. 296r unten/296v oben: ynnewenyg dem [gestrichen: m] / mantele yß der torm schybelecht gebu / wet met czygele [gestrichen, dann unterpungiert: hoch vnde schoe ne]. [296v] Dor obene vf dem thorme synt schoe ne / wonungen. Sowohl die letzte Zeile von Bl. 296r als auch die erste Zeile von Bl. 296v enden mit schoe ne. Vermutlich hat Grundemann beim Blick auf die Vorlage das erste und zweite schoe ne zunächst verwechselt und das erste für einen Fehler gehalten, weshalb er den Teilsatz gestrichen hat. Bei genauerem Hinsehen bemerkte er den Fehler und stellte den Teilsatz durch Unterpungierung wieder her. Weitere Indizien dafür, dass es sich bei der ›Crescentia‹ um eine Abschrift handelt, sind die Verschreibung warß vff statt warf vß (Bl. 298r), die wohl eher durch ungenaues Kopieren der Vorlage als während der Textherstellung passieren kann, und zahlreiche am Rand nachgetragene Worte, die bei der Abschrift vergessen wurden. Am Ende der ›Crescentia‹ hat Grundemann die Zeilen eingetragen, in denen er sich selbst als alten Klosterbruder bezeichnet: An dem abende des heyligen geystes das yß an dem phyngest abende yß dys geschichte vß geschreben vnder dem officio dy wyle man dy toufe seynte von eyme alden kranken brudere vf dem sich huße yn dem doerntczchenne (Bl. 304r). Dieses Kolophon deutet darauf hin, dass zwischen dem Eintrag der ›Crescentia‹ und der Aufzeichnung der nachfolgenden ›Hildegund‹ ein zeitlicher Abstand liegt. Vielleicht ist Grundemann bei oder nach dem Abschreiben der ›Crescentia‹ auf die Idee gekommen, die Geschichte der Hildegund von Schönau zu übersetzen, in der ebenfalls der Leidensweg einer frommen und standhaften Frauenfigur nachgezeichnet wird. 4.2.3 ›Hildegund von Schönau‹ Im Gegensatz zur ›Crescentia‹ benutzte Grundemann für seine zweite geistliche Prosaerzählung eine lateinische Quelle: die Vita Hildegunds von Schönau aus

150 Vermutlich befand sich ein Exemplar von Stephans von Bourbon ›De dono timoris‹ in der Bibliothek des Thomasstifts Leipzig, vgl. Debes: Sequestrationsverzeichnis, S. 89. Grundemann könnte also die Fassung des Stoffes bei Stephan (Lecoy Nr. 136) gekannt haben, in der das Heilkraut vorkommt.

4 Geistliches Erzählen in einem klerikal-gelehrten Umfeld im 15. Jahrhundert

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dem ›Dialogus miraculorum‹ des Caesarius von Heisterbach (I, 40).151 In der Vita wird berichtet, wie ein reicher Bürger aus Neuß auf der Rückreise von einer Pilgerfahrt ins heilige Land, die er mit seiner Tochter Hildegund unternommen hat, unerwarteter Weise erkrankt und stirbt. Der Diener des Bürgers macht sich mit dem Vermögen aus dem Staub; Hildegund bleibt allein in Tyrus zurück, schlägt sich mit Betteln durch und besucht die Schule. Ein deutscher Pilger erbarmt sich über das Kind und bringt es in die Heimat zurück. Bei der Bischofswahl in Trier kommt es kurz darauf zu einer Doppelwahl, und Hildegund übernimmt, als Jüngling verkleidet, die gefährliche Aufgabe, einen Brief in dieser Angelegenheit zu überbringen. Unterwegs versucht ein Fremder, ihr sein Diebesgut unterzuschieben. Von den nacheilenden Häschern wird Hildegund deswegen gefangen und zum Tod verurteilt. Sie wird gehängt, aber ein Engel Gottes stützt sie, sodass sie keinen Schmerz empfindet. In der Nacht hört sie lieblichen Gesang und sieht, wie die Seele ihrer Schwester Agnes in den Himmel geführt wird. Der Engel prophezeit ihr, dass sie in zwei Jahren auch sterben und in den Himmel eingehen werde. Sie wird vom Engel nach Verona entrückt, wo sie ihre Botschaft ausrichten kann. Nach ihrer Rückkehr tritt sie unter dem Namen Joseph als Novize in das Zisterzienserkloster Schönau ein. Nach der prophezeiten Frist stirbt sie; erst dann erkennen die Mönche, dass sie eine Frau war. Sie wird in Ehren bestattet und die Mönche stellen Nachforschungen an, bis sie ihren wahren Namen und ihre Herkunft herausgefunden haben. Grundemann ist der lateinischen Quelle in seiner volkssprachigen Fassung der ›Hildegund‹-Vita weniger eng gefolgt als der deutschen Vorlage bei der Bearbeitung des ›Crescentia‹-Stoffs. Er hat einige Vereinfachungen vorgenommen und die Handlung geglättet. Die Namen der Nebenfiguren werden weggelassen;152 allgemein gehaltene diskursive Kommentare oder Vergleiche werden ausgespart, da sie im lateinischen Text meist im Zusammenhang mit der Novizendidaxe stehen.153 Auch narrative Details, die vor allem in einem klösterlichen Kontext von Bedeutung sein konnten, fehlen in der volkssprachigen Fassung bzw. wurden abgeändert. So bringt etwa die Eintragung von Hildegunds Tod in

151 Zum Erzählstoff vgl. Franz Josef Worstbrock: Hildegund von Schönau. In: 2VL 4 (1983), Sp. 4–8 und 2VL11 (2004), Sp. 670. 152 Bei Caesarius werden folgende Namen genannt: Wolemar und Rudolf sind die beiden erwählten Bischöfe von Trier, der Abt von Schönau heißt Theobald, der junge Mitbruder Hildegunds heißt Hermann. 153 Bei Caesarius wird die Erzählung einmal durch einen Kommentar des Novizen unterbrochen, der die Entrückung Hildegunds von Augsburg nach Verona mit der Entrückung Habakuks von Judäa nach Babylon vergleicht und die Tatsache, dass Hildegund der Himmelfahrt ihrer Schwester beiwohnt, mit der Vision Benedikts von der Himmelfahrt seiner Schwester Scholastica in Verbindung bringt.

454 | VII Überlieferungskontexte 3 den Nekrolog des Klosters die Mönche bei Caesarius in Verlegenheit, da sie den wahren Namen Bruder Josephs nicht kennen und sich damit begnügen müssen, zu schreiben: Duodecimo Kalendas Maii obiit ancilla Christi in Sconavia. Dieses administrative Problem ist im lateinischen Text der Anlass für die Mönche, nach Hildegunds Herkunft und Namen zu forschen. Bei Grundemann ist es dagegen die emotionale Beteiligung am göttlichen Wunder, die zu den Nachforschungen der Mönche führt; die alltägliche Notwendigkeit des Nekrologeintrags wird nicht thematisiert: vnde lobeten gote yn syner ewykeyt vnd yn syner guete vnde yn alle synen lyben heyligen, der do yß eyn wue nderer vnd eyn wunder werker yn hymmel vnd yn erde. Zu den geschichten hetten sy czu male gerne gewust yren namen (Bl. 311r). Diese Umakzentuierung lässt sich sowohl durch den veränderten Entstehungs- und Rezeptionskontext als auch durch die veränderten Anforderungen an erbauliche Literatur im 15. Jahrhundert erklären. Die Stilistik Grundemanns ist deutlich von den Prosaromanen seiner Zeit geprägt. Dies zeigt sich etwa in seiner Vorliebe für Begriffsdoppelungen durch mit ›oder‹ verbundene Synonyme: was es begynnen adder thun solde; wo es sich solde keeren adder wenden; vnd larte adder lernte (Bl. 305r/v). An einigen Stellen hat Grundemann den Handlungsverlauf kohärenter gestaltet oder besser nachvollziehbar gemacht als im lateinischen Exempel. So berichtet er schon bei Hildegunds Schulbesuch in Tyrus, dass sie yn manne adder knechte kleydern (Bl. 305v) zur Schule gegangen sei, während bei Caesarius die Verkleidung erst beim Botengang erwähnt wird. Konsequenterweise ergänzt Grundemann deshalb auch, dass Hildegund bei dem deutschen Pilger, der sie nach Hause mitgenommen hat, alze eyn knechtchen, eyn frysch knabe (Bl. 305v) aufgewachsen sei. Während Hildegund im lateinischen Text konsequent als puella bezeichnet wird, schwankt Grundemann zwischen den Begriffen knabe und jungfrowe. Die Problematik der Bezeichnung einer Frau in Männerkleidern wird auch explizit thematisiert. Als Hildegund ihren Botengang unternimmt, hat Grundemann zunächst geschrieben: Alzo nam der junge knabe dy bry, hat diesen Anfang aber gestrichen und folgendermaßen korrigiert: Alzo lyß sich das jungfrowychyn, das ich nuo muß eyne jungen knaben nenne, oe ber reden vnd nam dy bryve, dy yn eyme stabe vormacht warn (Bl. 306r). Diese Korrektur ist ein Indiz dafür, dass die Leipziger Handschrift den Entstehungsprozess der ›Hildegund‹-Bearbeitung abbildet, dass es sich dabei also um die erste Niederschrift handelt. Diese Beobachtung bestätigt die Hypothese Mackerts, dass Grundemann in seiner einzigen deutschen Handschrift sowohl Texte von älteren Vorlagen abgeschrieben als auch neue Bearbeitungen direkt eingetragen hat.154

154 Aus unterschiedlichen Typen von Fehlern erschließt Mackert, dass die Handschrift bei manchen Texten, etwa dem ›Apollonius‹, die erste Niederschrift darstellt, bei anderen, etwa dem

Zusammenfassung

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Die Form der geistlichen Erzählungen in der Sammlung Johannes Grundemanns ist zweitrangig. Zwar lassen sich Unterschiede in Grundemanns Bearbeitungstechniken feststellen, je nachdem, ob er eine lateinische oder deutsche Vorlage in Vers- oder Prosaform bearbeitet, aber die Wirkungsabsicht bleibt für alle Bearbeitungen dieselbe: Der Erwartungshorizont eines zeitgenössischen Publikums wird durch erzähltechnische und stilistische Anpassungen erfüllt, um die Vermittlung einer Lehre zu erleichtern. Grundemanns didaktische Tendenz beschränkt sich dabei nicht auf die geistlichen Texte; auch die weltlichen Erzählungen sollen Orientierung in der Welt und Anweisungen für eine fromme und zugleich kluge Lebensführung bieten. Die vielfältigen Interessen Grundemanns für lateinische und deutsche, gelehrte und laiendidaktische Texte erinnert mutatis mutandis auch an die Handschriften Michaels de Leone, der in seinem Hausbuch sein eigenes Interesse an unterschiedlichen Texttypen der volkssprachigen Literatur zum Ausdruck brachte und es zugleich mit einer didaktischen Intention im Hinblick auf seine Nachkommen verband.

5 Zusammenfassung Wenn geistliche Verserzählungen in einem gelehrten Umfeld überliefert sind, hat man es oft mit besonderen Bedingungen der Produktion und Rezeption zu tun, die sich teilweise auch in der Faktur der Texte selbst widerspiegeln. So verrät Heinzelins von Konstanz Erzählung ›Die zwei Sankt Johannsen‹ in ihren außergewöhnlich umfangreichen Prolog- und Epilogpartien den gelehrten Anspruch des Autors, der im Umfeld eines geistlichen Hofes dichtete. Die Überlieferung des Textes in Handschriften, die durch ihr Profil bzw. durch ihre Auftraggeber mit einem ähnlichen Umfeld klerikaler Gelehrsamkeit verbunden sind, bestätigt diesen Geltungsanspruch. Durch besondere ästhetische Qualität besticht auch die ›Vorauer Novelle‹, die unikal in einer lateinischen zisterziensischen Predigthandschrift überliefert ist, durch elaborierte diskursive Partien (Prolog und Epilog) der in einer lateinischen Psalterhandschrift erhaltene ›Zweifler‹, der möglicherweise speziell für diesen Überlieferungskontext verfasst wurde und als exemplarischer Vorspruch zum Psalter rezipiert werden konnte. Geistliche Kleinepik wurde jedoch nicht nur gemeinsam mit lateinischen (gelehrten) Texten tradiert, sondern ging oft auch Überlieferungsgemeinschaften mit volkssprachigen juristischen Gebrauchstexten ein, etwa in der Handschrift Leipzig, UB, Ms 946. Zwar ist der Entstehungskontext dieser Handschrift nicht mehr zu rekonstruieren;

›Äsop‹, eine Abschrift bereits vorhandener Vorlagen ist, vgl. Mackert: Textsammlung, S. 231–240.

456 | VII Überlieferungskontexte 3 bald nach ihrer Entstehung wurde sie jedoch von einem gelehrten Rezipienten benutzt, der auf einem leer gebliebenen Blatt lateinische historische Notizen und Sprüche eingetragen hat. Das Beispiel des um die Mitte des 15. Jahrhunderts tätigen Leipziger Augustinerchorherrn Johannes Grundemann zeigt, wie eine klerikal gelehrte Person, die an der Produktion und Redaktion lateinischer theologischer Handschriften beteiligt war, auch mit volkssprachiger Literatur umgehen konnte; geistliche Vers- und Prosaerzählungen stehen dabei nebeneinander.

VIII Späte Ausläufer des Texttyps (15./16. Jahrhundert) Die vorangehenden Kapitel haben einen Eindruck von der Breite der Überlieferungskontexte geistlicher Verserzählungen und von ihrem diachronen Wandel vermittelt. Unterschiedliche Handschriftentypen dominierten die verschiedenen Phasen der Tradierung: Während im 14. Jahrhundert, der Zeit der Konsolidierung des Texttyps in der Überlieferung, die Kleinepiksammlungen mit ihrer Fokussierung auf metrische Form und relativ geringen Umfang im Zentrum standen, gewannen im 15. Jahrhundert zunehmend thematische Aspekte – teilweise auf Kosten der Versform – an Bedeutung. Zudem veränderte sich die Überlieferungssituation im 15. Jahrhundert auch durch das Aufkommen des Buchdrucks, das gerade für Texttypen mit geringem Umfang entscheidende Veränderungen mit sich brachte. Die Dynamik der Überlieferung spiegelt als Rezeptionszeugnis immer auch die diachrone Dimension des literarischen Phänomens selbst. Angesichts der veränderten Überlieferungssituation geistlicher Verserzählungen im 15. Jahrhundert ist also auch zu fragen, welche Stellung der Texttyp im (produktiven) literarischen System dieser Zeit einnimmt bzw. wie er sich unter dem Einfluss kultureller und literarischer Dynamiken im 15. Jahrhundert verändert hat. Anhand der Erzählung von ›Ritter Gottfried‹ und weiterer Beispiele soll dies nachgezeichnet werden. Das späte 15. bzw. frühe 16. Jahrhundert ist zugleich der Endpunkt der Produktivitätsphase des Texttyps. Zwar wurden einzelne Texte noch über diesen Zeitraum hinaus weitertradiert, es entstanden aber kaum noch neue Vertreter des Texttyps. Bei der Analyse der Beispiele sollen daher auch verschiedene Erklärungsmöglichkeiten für das Versiegen der Produktivität skizziert werden.

1 ›Ritter Gottfried‹ als typischer Vertreter der späten Phase 1.1 ›Ritter Gottfried‹ in seinem literarischen Referenzrahmen Die Erzählung ›Ritter Gottfried‹ (412 V., 15. Jahrhundert)1 ist in verschiedener Hinsicht ein typischer Vertreter der Spätphase des Texttyps. Der Text unterscheidet sich nicht nur in seiner ästhetischen und konzeptionellen Verfasstheit, sondern auch in rezeptionsorientierter Perspektive von älteren Verserzählungen: Der Text ist nur im Druck überliefert.

1 Vgl. Frieder Schanze: Ritter Gottfried. In: 2VL 8 (1992), Sp. 98 f. Vgl. auch die unter der Leitung

458 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps Ein junger Mann namens Gottfried ist ein vorbildlicher Turnierritter, verrichtet aber auch täglich seine Gebete. Er wird mit der Tochter eines anderen Ritters verheiratet, die ein unrecht erworbenes Klostergut mit in die Ehe bringt. Nach einigen Jahren stirbt die Frau. Der betrübte Ritter Gottfried bittet Gott darum, ihm das Schicksal seiner Frau im Jenseits zu offenbaren. Auf dem Weg zu einem Turnier kommt der Ritter in ein Wirtshaus. Der Sohn des Wirtes liegt krank darnieder, seit er im Wald von einem Teufel verletzt wurde, der eine verdammte Seele mit sich führte. Im Gespräch mit dem Kranken erfährt Gottfried, dass es sich um die Seele seiner Frau gehandelt haben muss, die kurz vor diesem Unglück gestorben ist. Er reitet am nächsten Morgen zur besagten Stelle, begegnet dem Teufel und schützt sich mit dem Kreuzeszeichen vor dessen Angriff. Der besiegte Teufel führt den Ritter daraufhin in die Hölle, wo er seine Frau antreffen soll. Der Teufel warnt ihn, er solle nichts anfassen, nichts essen und trinken. Gottfried trifft an einem locus amoenus auf tjostierende Ritter, die er alle kennt, sieht köstliches Essen auf einem Tisch und begegnet schließlich einer Gruppe von Tänzern, bei der sich seine Frau befindet. Sie erscheint ihm schöner als je zuvor, doch als sie ihn erkennt, bricht sie in lautes Klagen aus. Gottfried äußert den Wunsch, mit ihr an dem angenehmen Ort zu bleiben, doch sie zeigt ihm, dass sie innerlich verbrennt und dass die schöne Mahlzeit aus Schlangen und Schwefel besteht. Sie berichtet, dass sie wegen des unrechten Gutes, das ihr Vater einem Kloster entwendet habe, diese Strafen erleiden müsse. Der Teufel führt Gottfried wieder ins Diesseits und gibt ihm eine Salbe, mit der er den Wirtssohn heilen kann. Nach der Genesung des Wirtssohnes reitet Gottfried in seine Heimat, gibt dem Kloster das unrechte Gut zurück, teilt seinen Besitz unter seinen Kindern auf und wird Laienbruder in einem Zisterzienserkloster. Nach drei Tagen erscheint ihm die Seele seiner Frau, die er zunächst wegen ihrer Schönheit für Maria hält. Sie berichtigt ihn aber und verkündet, dass sie durch seine Hilfe in den Himmel gekommen sei und er ihr nach drei Jahren folgen werde. Der Ritter lebt tugendhaft im Kloster bis zu seinem Tod.

Wie in vielen Erzählungen des 15. Jahrhunderts geht es in ›Ritter Gottfried‹ hauptsächlich um die Frage, wie ein Mensch sich in seinem Leben zu verhalten habe, um nach dem Tod das ewige Leben zu erlangen. Dass eine fromme Grundeinstellung und ein geringfügiger Mariendienst in der Perspektive dieser Zeit dazu nicht mehr unbedingt ausreicht, zeigen die Figuren Gottfrieds und seiner Frau, die sich keines aktiven Vergehens schuldig machen, sondern sich vielmehr durch tägliche Gebete auszeichnen. In dieser Hinsicht ist besonders der Vergleich mit der stoffverwandten Erzählung ›Der Württemberger‹ interessant. Während der Protagonist des ›Württembergers‹ einer höfischen Dame begegnet, die aufgrund ihres Ehebruchs mit einem seiner Freunde verdammt ist, versucht Gottfried die Seele seiner geliebten Ehefrau aus der Hölle zu befreien, die aufgrund eines nur geerbten unrechtmäßigen Besitztums verdammt ist. Der Kern der

von Klaus Graf erstellte Seite: http://de.wikisource.org/wiki/Ritter Gottfried (30.1.2014), mit Abdruck der Fassung A. Der Entstehungszeitpunkt der Erzählung lässt sich nicht genau bestimmen; den terminus post quem liefert der ›Württemberger‹ (14. Jahrhundert), der in ›Ritter Gottfried‹ rezipiert wird, den terminus ante quem der erste Druck um 1497. Aus stilistischen und textgeschichtlichen Gründen (s. dazu unten) erscheint mir eine Entstehung im späteren 15. Jahrhundert wahrscheinlich.

1 ›Ritter Gottfried‹

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Begegnung wird sehr ähnlich erzählt, doch der Verfasser von ›Ritter Gottfried‹ hat die Vorgeschichte der Begegnung und die Figurenkonstellation völlig umgestaltet: der zufällig-aventiurehafte Beginn des ›Württembergers‹ (der Ritter verirrt sich auf der Jagd) ist einer herbeigesehnten Jenseitsreise gewichen, die ehebrecherische Liebe der ehelichen Fürsorge. Die veränderte Figurenkonstellation hat nicht nur Auswirkungen auf die theologische Bewertung des Erzählstoffs, sondern ermöglicht auch eine ganz andere Art der Emotionalisierung, die sich auf die eheliche Liebe zwischen Gottfried und seiner Frau bezieht. Sie wird durch die Schilderung der glücklichen Ehe und der Trauer Gottfrieds um die verstorbene Frau aufgebaut (V. 38 ff.) und dient zur Motivierung von Gottfrieds Wunsch, über das Schicksal seiner Frau im Jenseits unterrichtet zu werden. Der Anblick der Höllenqualen, die sie leiden muss, macht unter diesen Voraussetzungen einen starken Eindruck und führt zu Gottfrieds Entschluss, alles für die Erlösung seiner Frau zu tun. Besonders rührend ist dann die letzte Szene gestaltet, in der die erlöste Seele der Ehefrau dem Ritter im Kloster erscheint: Do er nu in dem kloster was / Drey tage, als ich von im las, / Seiner frawn sel erschein im drat / Schoe n in einer schne weissen wat. / Do er sy sach vnd plicket an, / Er meinet, es wer Maria fran. / Er viel ir nyder zu fusse, / Do lachet die sel so sue sse. / Sy sprach: »Wer meinest, der ich seyn? / Sag mir, lieber erloe ser mein!« / »Dein tugent mag nyemand schreyben, / Bist gesegnet ob allen weyben, / Vnd gottes muter Maria, / Schoe ne ros von ierarchia!« / Sy sprach zu im: »Mein lieber man, / Ich bin dein weib wolgetan. / Durch dein hilff, gebet vnd auch stewr / Bin ich erloe st von ewigm fewr. / Gesegen dich got, lieber pul, / Czu himel, do ist vnser stul. / Czu himel will ich peitten dein, / Im dritten iar solt pey mir sein.« / Die sel also vor im verschwant / Vnd fur gen himel alzu hant. (V. 386 ff.). Die Verwechslung der Ehefrau mit Maria erinnert an Ehrenfreunds Erzählung ›Ritter und Maria‹, in der Maria tatsächlich die Gestalt der Ehefrau annimmt und dem Ritter schöner als je zuvor erscheint.2 Die eheliche Liebe wirkt im Jenseits weiter, wie das Versprechen der Frau an ihren Geliebten (pul) deutlich macht, er werde in drei Jahren im Himmel mit ihr vereint werden.3 Diese Form gesellschaftlich und religiös sanktionier-

2 Vgl. Kap. IV.2.3. 3 Die Schlussszene von ›Ritter Gottfried‹, in der die gerettete Frau dem Ritter im Kloster erscheint, weist Ähnlichkeiten mit einem lateinischen Exempel aus der Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/ Klapper: Erzählungen (Nr. 99) auf (vgl. auch Tubach 1190). Dort wird berichtet, wie ein sterbender Sünder, der eine Vision von den ihn erwartenden Höllenstrafen hat, Reue empfindet, seine Sünden beklagt und seiner frommen Frau die Beichte nachspricht. Durch eine himmlische Stimme getröstet, stirbt er und erscheint nach drei Tagen seiner Frau: Die tercia uenit vir ad vxorem eius dicens: Vir tuus paradysi colonus est, quem breuiter sequeris. (Am dritten Tag erschien der Mann seiner Frau und sagte: Dein Mann ist ein Bewohner des Paradieses, und du wirst ihm bald folgen.)

460 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps ter Emotionalität ist für die Literatur dieser Zeit typisch – ein ähnlicher Paradigmenwechsel wie zwischen dem ›Württemberger‹ und ›Ritter Gottfried‹ vollzieht sich etwa auch im Bereich der Liebeslyrik.4 Die schematische Auffassung von göttlicher Gerechtigkeit, in der die Schuld der Vorfahren auch Unschuldige verdammt, wird im ›Ritter Gottfried‹ so absolut gesetzt, dass sie nicht nur die Menschen, sondern auch die Teufel betrifft. Dies zeigt sich in der Figur des Teufels, der Gottfried durch die Hölle führt. Auf Gottfrieds Kreuzzeichen und Schmähruf (Du pist ewiglichen verlorn / Vnd zu der ewigen hel erkorn, V. 200 f.) reagiert der Teufel mit einer bitteren Klage: Der teuffel erseufftzet vnd sprach: / »Ey, wie ein pitters vngemach, / Das ich bin von ewig freyden / Czu ewiger pein gescheiden! / Hat Lucifer wider got gethan, / Do hab ich wenig schuld daran (V. 202 ff.). Der Teufel gebärdet sich denn auch nicht wie ein Bösewicht, sondern ist Gottfried ein nützlicher Helfer – im Erzählmuster übernimmt er die Rolle der höfischen Ehebrecherin des ›Württembergers‹. Beim Abschied erteilt der Teufel Gottfried Ratschläge zur Erlösung der Ehefrau und des Wirtssohnes: Nun hastu gar wol vernommen, / Das soltu mercken gar eben, / Wilt ir helffen zum ewig leben, / So weistu wol das vnrecht gut, / Do dein hertz, synn vnd darzu mut / Lange zeit hat vmb gepetten. / Wiltu volgen meinen retten, / Dardurch du denn her bist gefarn, / Wiltu des purgers sun bewarn, / Se hin die pue x mit der salben! / Streiche ims an allenthalben, / Ine gotes namen drey stundt, / So wirt er bald wider gesundt (V. 355 ff.). Das Motiv der Heilsalbe entspricht der für späte Verserzählungen typischen Tendenz zum Faktischen bzw. Sichtbaren und zum Detailrealismus. In diese Richtung weisen auch das blinde Motiv, dass Gottfrieds Knecht das Krankenbett des Wirtssohnes erst für ein Kindbett hält (V. 75 ff.), und die redundanten Wiederholungen von bereits Erzähltem (Gottfrieds Gebete: V. 9 ff./165 ff.; unrechtes Gut: 30 ff./303 ff.). Der Erzählstoff von der Jenseitsreise ist in der geistlichen Literatur sehr verbreitet. ›Ritter Gottfried‹ stellt sich durch die Aufnahme verschiedener Versatzstücke in den Rahmen dieser Stofftradition. Das Motiv der Beobachtung eines von verdammten Seelen abgehaltenen Turniers5 begegnet etwa bereits um 1210 in Wirnts von Grafenberg Artusroman ›Wigalois‹.6 In diesem Text trifft der Held

4 Vgl. Johannes Janota: Ich und sie, du und ich. Vom Minnelied zum Liebeslied (WolfgangStammler-Gastprofessur für Germanische Philologie: Vorträge H. 18). Berlin 2009. 5 Tubach 4930. 6 Vgl. Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. Berlin/New York 2005, V. 4539–4588, 4718–4727, 4822 ff. Zu den Jenseitsvorstellungen im ›Wigalois‹ vgl. auch Michael Veeh: Auf der Reise durch die Erzählwelten hochhöfischer Kultur. Rituale der Inszenierung höfischer und politischer Vollkommenheit im ›Wigalois‹ des Wirnt von Grafenberg (Regensburger Studien zur Literatur und Kultur des Mittelalters 2). Berlin 2013, S. 100–132.

1 ›Ritter Gottfried‹

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Wigalois in Korntin auf eine Schar von 103 turnierenden Rittern, die dauernd we ˆ!, we ˆ (V. 4553) rufen und rote Flammen auf schwarzem Grund als Wappen führen. Als Wigalois einen Speer nach ihnen wirft, verbrennt dieser; in ihrer Nähe empfindet der Held unerträgliche Hitze. Wie sich später herausstellt, handelt es sich bei diesen Rittern um die Gefolgsleute des ermordeten Königs Jorel, die an einem Fegefeuer-ähnlichen Strafort ihre Sünden abbüßen müssen. Tagsüber turnieren sie, die Nacht verbringen sie in einem brennenden Schloss. Wie ihre Sünden beschaffen sind und welche Hoffnung auf Erlösung sie haben, wird offengelassen. Auch in der lateinischen Exempelliteratur ist das Motiv in dieser Zeit verbreitet. Im ›Dialogus miraculorum‹ (XII,17) des Caesarius von Heisterbach wird von einem Priester berichtet, der nachts in der Nähe der Burg der Grafen von Lootz einer Gruppe von turnierenden Toten begegnet, die den Namen eines kürzlich verstorbenen Ritters rufen. Er kann sich durch das Zeichnen eines Kreises vor ihnen schützen, die Vision hält aber bis zum Morgengrauen an. Etwas weiter ausgebaut ist diese Geschichte in Ps.-Caesarius: ›Libri VIII miraculorum‹ I,34. In dieser Fassung begegnen mehrere Reisende einem schwarzen Reiter, der zum Turnier eilt. Sie sehen eine große Burg an einer Stelle, an der nie eine gestanden hat.7 Aus dieser Burg reiten der Graf Ludwig II. von Lootz und seine Brüder, die alle kürzlich verstorben sind, zum Turnier.8 Die Begegnung mit einem Verdammten findet oft in der Wildnis statt, so auch in Thomas’ von Cantimpre´ ›Bonum universale de apibus‹ (II, 51/4).9 Ein Ritter geht zur Jagd in die Berge, verliert aber gegen Abend seine Leute und Hunde und bleibt allein im Wald zurück. Nach einer Weile hört er das Bellen zweier Hunde, folgt dem Geräusch und klettert mühsam zu einer schönen Wiese zwischen den Bergen hinauf. Dort umkreisen seine Hunde einen vornehmen Mann, der verwundet am Boden liegt, zwei eiserne Keulen liegen zu seinen Seiten. Auf die Frage des Jägers, wer er sei und woher er komme, erzählt der Verwundete, er sei bereits tot, in seinem Leben aber sei er ein Ritter und schrecklicher Sünder gewesen. Auf dem Kriegszug des Richard Löwenherz gegen Philipp von Frankreich habe er sich des Mordes und der Wollust schuldig gemacht, sei dann von einem starken Fieber ergriffen worden und ohne Beichte und Sakramente gestorben. Kurz vor seinem Tod, als er schon nicht mehr sprechen konnte, reuten ihn aber

7 Ein ähnliches Motiv, allerdings unter anderen Vorzeichen, begegnet auch im ›Württemberger‹: Das Turnier der Verdammten findet in der Verserzählung an einem Ort statt, an dem vor langer Zeit eine Burg stand; diese ist zum Zeitpunkt der Handlung jedoch längst verschwunden (›Württemberger‹ K 426 ff.; M 537 ff.). 8 Zu den historischen Personen vgl. Meister: Fragmente der »Libri VIII miraculorum«, S. 52. 9 Tubach 4523; Thomas von Cantimpre´: ›Bonum universale de apibus‹, S. 469–471. Das gleiche Exempel findet sich auch in Johannes Majors ›Magnum Speculum Exemplorum‹, Abt. Contritio, Exemplum III.

462 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps seine Taten und er vergoss Tränen darüber. Seine Seele wurde daraufhin zwei Dämonen übergeben, die ihn bis zum jüngsten Tag mit den eisernen Keulen quälen, indem sie ihn auf den Berg treiben und wieder hinunterstoßen. Wegen seiner Reuetränen hegt er aber Hoffnung, am jüngsten Tag erlöst zu werden. Der Verwundete und die Keulen verschwinden vor den Augen des Jägers, dieser wird durch die Begegnung von seinem schlechten Leben bekehrt und bessert durch sein Vorbild auch andere. Das hier aufgegriffene Motiv der Jagd spielt für den Erzählstoff nicht nur als Einleitungssituation eine Rolle,10 die übermäßige Jagdleidenschaft kann auch als Grund der Verdammung auftreten.11 Eine Kombination beider Motive ist in Michel Beheims Meisterlied ›Von dem von Württemberg‹ (5 Str., Osterweise Nr. 107) zu finden.12 Graf Eberhard von Württemberg reitet alleine zur Jagd in den Wald. Dort erschreckt ihn ein lautes Sausen und Brausen, das von einem unheimlichen Jäger verursacht wird. Eberhard beschwört das Wesen und erfährt, dass es sich dabei um einen adligen Herrn handelt, der wegen seiner Jagdleidenschaft Gott gebeten hat, bis zum jüngsten Tag jagen zu dürfen. Zur Strafe für diesen unangemessenen Wunsch jagt er nun schon seit 450 Jahren einem Hirsch hinterher. Der verdammte Jäger zeigt dem Grafen Eberhard sein kaum mehr faustgroßes, geschrumpftes Gesicht. Nach der Begegnung nimmt der Jäger die Verfolgung des Hirschs wieder auf, Graf Eberhard reitet heim. Die Aussage des Verdammten: got hiess mich, daz ich dir zusagt / mein jagen, paissen, pirssen (V. 29 ff.) kann als Warnung für den – ebenfalls jagenden – Grafen verstanden werden; eine explizite Moralisatio fehlt jedoch.13

10 In dieser Funktion begegnet es etwa auch in einigen Fassungen der ›Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten‹, vgl. Kap. IX.5. 11 Tubach 1941. Ein Exempel aus dem ›Liber exemplorum‹ (Liber exemplorum ad usum praedicantium. Saeculo XIII compositus a quodam fratre minore anglico de provincia Hiberniae. Secundum codicem Dunelmensem. Hrsg. von A[ndreas] G[eorge] Little (British society of Franciscan studies 1). Aberdeen 1908, Nr. 138) berichtet, dass Radulf de Faentiis, ein Onkel Eleanores von Aquitanien, bei der Jagd am Karfreitag durch göttliches Einwirken so unglücklich stürzte, dass er ein Auge verlor. 12 RSM 3, 1Beh/107 (S. 62); Ausgabe: Die Gedichte des Michel Beheim. Nach der Heidelberger Handschrift Cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Handschrift Cpg 312 und der Münchener Handschrift Cgm 291 sowie sämtlicher Teilhandschriften hrsg. von Hans Gille/Ingeborg Spriewald. 3 Bde. (DTM 60, 64, 65). Berlin 1968–1972, Bd. 1, S. 366 f. 13 Einen deutlicheren moralischen Akzent setzt die Prosaerzählung zum Thema Quod sabbatum sanctificare debemus aus der Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 (B 478/ erweiterte Fassung: C 8). Zwei Geistliche, die durch einen Wald zu einer Kapitelversammlung wandern, hören Jagdgeschrei und sehen, wie ein nacktes Kind von Hunden gejagt und zerrissen wird. Die beiden beschwören das Kind, zu offenbaren, wer es sei. Das Kind offenbart sich als Seele eines verstorbenen Landesherrn, der an Sonntagen und Feiertagen zur Jagd statt zum Gottesdienst gegangen ist. Da seine Nachkommen ihn vergessen haben, bittet der Tote die Brüder,

1 ›Ritter Gottfried‹

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Im ›Ritter Gottfried‹ wird die Seele der Frau aufgrund einer anderen Sünde in die Hölle gebracht: wegen ihres unrechten Gutes.14 Dieses Motiv ist ebenfalls verbreitet. Es findet sich etwa bei Stephan von Bourbon (Lecoy 34), der von einem frommen Ritter berichtet, dem ein verstorbener Verwandter mehrmals erscheint, als er in der Kirche betet. Der Tote sagt, er leide schon seit sieben Jahren Qualen wegen eines fremden Gutes, das er unrechtmäßig besessen habe, und bittet den Ritter, dieses Gut zurückzugeben, damit er erlöst werde. Eine deutsche Prosaerzählung, die die Strafen für den Besitz unrechten Gutes schildert, findet sich als Zusatzexempel in einer Handschrift des ›Großen Seelentrostes‹:15 Ein verstorbener Ritter erscheint einem seiner Freunde als Verdammter, auf einem schwarzen Pferd sitzend, aus dessen Nüstern Flammen schlagen, einen Mantel und ein Stück Erde tragend. Der Tote berichtet, dass er den Mantel einer armen Frau abgenommen und das Stück Land unrechtmäßig erworben habe. Zur Strafe wird er nun von dem Mantel verbrannt und von der Erde niedergedrückt. Er bittet den Freund, das Land zurückzugeben und den Mantel zu bezahlen. Im Gegensatz zum Ritter Gottfried, der für seine Frau das Gut zurückgibt, kümmern sich die Kinder des Ritters im ›Großen Seelentrost‹ aber nicht um das Seelenheil des Vaters, sondern behalten das Gut. Das Exempel wird mit der Warnung verknüpft, sich nicht auf seine Kinder oder Ehegatten zu verlassen, sondern selbst seine Schulden zu Lebzeiten zu begleichen. Diese Beispiele machen deutlich, dass der Verfasser von ›Ritter Gottfried‹ auf eine reiche Tradition von Erzählmustern und Motiven zurückgreifen konnte.

eine Messe für ihn zu halten. Dies geschieht, und auf dem Rückweg vom Kapitel begegnen die Brüder an derselben Stelle der nun erlösten, hell strahlenden Seele, die sich bei ihnen bedankt. Das Exempel kann als Warnung vor der Vernachlässigung des Gottesdienstes sowie als Beispiel für den Nutzen von Messen und Gebeten für Verstorbene gelesen werden. In der Berliner Exempelsammlung ist die Geschichte zweimal vertreten, wobei der zweite Text (C 8) wohl eine erweiternde Bearbeitung des ersten ist. Während die Seele sich in der ersten Fassung darüber beklagt, von den Nachkommen vergessen zu sein, wird in der zweiten Fassung mehr Wert auf die lange Dauer der Qualen gelegt, denn dort präzisiert die Seele: vnd dis geschicht mir alle tage fvnf stvnt oder vj stvnt, daz ir dis hie gesehen hant, vnd han dis getriben wol zwei hvndert jor (Bl. 325ra). Eine verwandte Erzählung findet sich in einem lateinischen Exempel aus der Handschrift London, BL, Add. 15833 (14. Jahrhundert, Vorbesitzer: Augustinerkloster Waldhausen in Oberösterreich). In dem Exempel wird von einem Bauern berichtet, der auf dem Weg zu einer Kirchweih im Wald auf eine klagende Seele gestoßen ist, ihr Hilfe versprochen und die Kleriker der Kirche dazu gebracht hat, für die Seele zu bitten. Dadurch hat er ihr dreißig Jahre Fegefeuer erspart. Vgl. Catalogue of Romances III, S. 596, Nr. 158 (Bl. 173v). 14 Tubach 2944 f 4) und 3). 15 Vgl. Der Große Seelentrost. Ein niederdeutsches Erbauungsbuch des vierzehnten Jahrhunderts. Hrsg. von Margarete Schmitt (Niederdeutsche Studien 5). Köln/Graz 1959), S. 258, Anm. zu 7). Das Exempel ist nur in der Handschrift K (Kopenhagen, Königl. Bibl., Cod. Thott. 58,2°, mnd. Sprachgebiet, 1473) überliefert.

464 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps Einen über das Allgemeine hinausgehenden Bezug weist ›Ritter Gottfried‹ zu der älteren deutschen Verserzählung ›Der Württemberger‹ auf.16 Bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen den beiden Erzählungen muss beachtet werden, dass der ›Württemberger‹ in vier sehr divergenten Fassungen überliefert ist:17 W Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2885 (Innsbruck, 1393) Weiteres zu dieser Handschrift s. Kap. IV.1.1.10. K

Karlsruhe, BLB, Cod. k 408 (schwäbisch-ostfrk. Übergangsgebiet [Augsburg?], um 1430–1435) Weiteres zu dieser Handschrift s. Kap. IV.1.1.13. M München, BSB, Cgm 714 (Raum Nürnberg, 3. Viertel 15. Jahrhundert) Weiteres zu dieser Handschrift s. Kap. VI.3.2.2. Ma München, BSB, Cgm 5919 (Regensburg, ca. 1501–1510) Weiteres zu dieser Handschrift s. Kap. V.2.4. Wa

Wien, ÖNB, Cod. Ser. nova 20231

Papier · noch 192 Bll. · 20 × 13 · bair.-österr. Sprachgebiet · 1432 Inhalt: Bl. 2r–172v ›Gesta Romanorum‹ dt. Bl. 173r–185r Erbauliche Sammlung (Beichspiegel, Gebete, Ablassanweisungen, Lieder) Bl. 185v–192v ›Der Württemberger‹ Lit.: Pausch: Württemberger; Weiske: Gesta Romanorum 2, S. 142.

›Ritter Gottfried‹ steht der nur fragmentarisch überlieferten Redaktion WaMa nahe; dies zeigt sich beispielsweise bei der Szene, in der der Begleiter des Ritters (die Frau/der Teufel) dem Ritter verbietet, etwas von den köstlichen Speisen auf dem Tisch zu essen: ›Württemberger‹ Wa (V. 134 f.; 185 f.; 188)

›Ritter Gottfried‹ (V. 224; 242 ff.)

Das ir merkcht mein winke[n]: Ier sült nicht essen noch tr[incken] [...] auf die chostperen t[isch] manigerlay wildbre[t und visch] [...] Gar heymleich sy i[m winchen gan,]

Du sichst auch trincken vnd essen [...] Fand er ein wol bereyten tisch, Darauff stunde wilpret vnd visch. Wolt mit in essen vnd trincken, Do thet im der teuffel wincken

16 Vgl. Kap. II.1.1. 17 Synoptischer Druck der Fassungen: Heinzle: Württemberger, ohne die Handschrift Wa. Abdruck der Handschrift Wa: Pausch: Württemberger.

1 ›Ritter Gottfried‹

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Den in Wa enthaltenen Reim winken/trincken hat der Verfasser von ›Ritter Gottfried‹ verwendet, als Gottfried trotz der Warnung nach dem Essen greifen will. Sowohl in der WaMa-Redaktion des ›Württembergers‹ als auch im ›Ritter Gottfried‹ fällt dem Protagonisten die Schönheit der Toten beim Tanz auf (›Württemberger‹ WaMa V. 281 ff., ›Ritter Gottfried‹ V. 270 f.), während er in den Fassungen W und M des ›Württembergers‹ die Schönheit bereits bei der ersten Begegnung mit den Toten bemerkt. Beim Motiv der brennenden Verdammten, das ebenfalls einen Berührungspunkt der beiden Texte darstellt, ist der Vergleich mit der WaMa-Redaktion nicht möglich, da die Handschriften an dieser Stelle lückenhaft sind. In ›Ritter Gottfried‹ sind sowohl Elemente aus der Fassung W als auch aus der Fassung K enthalten; es ist durchaus denkbar, dass in der WaMa-Redaktion die beiden Motive des brennenden Hauses und der Ackerlänge kombiniert waren. ›Württemberger‹ W (V. 401 ff.)

›Württemberger‹ K (V. 451 ff.)

»reittent ferre dort hin dan, ferer dan eins ackers breit!« der ritter von der frawen reit. diu fraw hub auf ir arm ploz, Er reit an ein ferre stat, daz fewr verr von ir schoz, sie sprach: »schawt unser als ain haws da wer verprant. not!« daz fewr blo und rot Allenthalben aus ir slug. Daz rosz, das sie do trug, daz bran bisz auff die fusze, und auch die vil susze.

›Ritter Gottfried‹ (V. 286 ff.) Sy sprach: »Tret ein wenig dar pas, Das ir der kurtzweil nit werd nas.« Ein ackerleng er hinder sich trat, Do warf sy auf ir vehe wat, Das fewr allenthalb von ir schlug Mit glanster vnd gros ongefug, Recht als zwelff stedel auf erden, Die all angezue ndet werden.

Auf eine Entstehung des ›Ritter Gottfried‹ im schwäbisch-ostfränkisch-nordbairischen Raum deuten neben dem zweimaligen Druckort Nürnberg die Reime mhd. aˆ/a auf o sowie mhd. eu auf ei hin.18 In diesem Raum ist der ›Württemberger‹ durch die Handschriften K (schwäbisch-ostfränkisches Übergangsgebiet), M (Raum Nürnberg) und Ma (Regensburg) bezeugt, was eine Entstehung des ›Ritter Gottfried‹ im späten 15. Jahrhundert in diesem Raum als naheliegend erscheinen lässt.

18 Beispiele: not/hot (für hat, V. 216 f.); hon/schon (V. 284 f.); tot/hot (V. 342 f.); dar von/stan (V. 348 f.); an/fran (für vro ˆne, V. 390 f.). Vgl. dazu Moser: Frnhd. Grammatik, Bd. I.1, S. 147: »Die hchal. Dichter des 14. und 15. Jhs. reimen nie, die bair. selten aˆ : o ˆ (o); dagegen ist dies bei den ndal. ganz gewöhnlich, bei den schwäb., nürnb., ofr. und md. sehr häufig der Fall.« Der durch Entrundung entstandene Reim freyden/scheyden (V. 204 f.) könnte auf Schwaben als Entstehungsraum hindeuten.

466 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps 1.2 Überlieferung im Druck Die Erzählung ›Ritter Gottfried‹ ist in zwei Drucken des späten 15. bzw. des frühen 16. Jahrhunderts überliefert. A Nürnberg: Friedrich Creußner, um 1497 4° · 10 Bll. · Titelholzschnitt · GW 1257350 N Ex.: München, UB, Cim. 38/36 B Nürnberg: Wolfgang Huber, [um 1510] 8° · 8 Bll. · Titelholzschnitt · VD 16 V 2725 Ex.: Augsburg, Staats- u. Stadtbibl., Rar. 58/3; Berlin, Staatsbibl., Yd 7820 R/6

Der ältere Druck A scheint für den jüngeren Druck B als Vorlage benutzt worden zu sein. Die Textgestalt wurde fast unverändert übernommen. Nur einzelne Buchstaben wurden ersetzt, einzelne Wörter gestrichen und einige Modernisierungen vorgenommen (z.B. die Ersetzung von dick in A durch offt in B, V. 24). Nur an wenigen Stellen sind semantische Abweichungen zu beobachten. In A lautet der letzte Vers (V. 413): Domit hat das gedicht ein ent, in B dagegen: Domit hat dieß bue chlein ein endt. In B wurden außerdem zwei stereotype Schlussverse hinzugefügt: O herr behue t uns vor eim solchen gut / Das die seel verfurt in helle glut. Auch für den Titelholzschnitt von B hat wohl derjenige von A (Abb. 14) als Vorlage gedient. Prinzipiell wird auf beiden Holzschnitten das gleiche dargestellt: Im oberen Bildfeld kämpfen der gerüstete Ritter Gottfried zu Pferd und ein Teufel auf einem drachenähnlichen Reittier miteinander, im unteren Bildfeld betet Gottfried kniend vor Gott, der in einer Wolke schwebt; daneben wird die Ehefrau Gottfrieds in der Hölle gepeinigt. Der Holzschnitt von B zeigt das Geschehen spiegelverkehrt zum Holzschnitt von A, was dafür spricht, dass er nach der Vorlage von A geschnitten wurde. Dabei wurde das teuflische Reittier etwas größer gestaltet als bei A, der vor dem betenden Gottfried am Boden liegende Helm und das Kreuz im Nimbus Gottes wurden weggelassen. Die Titelholzschnitte nehmen die Handlungselemente nur ungenau auf. Die nackte Frau im feurigen Höllenschlund erinnert an verbreitete ikonographische Muster der Höllenstrafen und gibt den im ›Ritter Gottfried‹ geschilderten schönen Anschein der Höllenqualen gerade nicht wieder. Auch der Kampf zwischen Gottfried und dem Teufel fällt im Text weit weniger dramatisch aus als auf dem Holzschnitt. Allerdings dürften diese bekannten Bildmotive durchaus verkaufsfördernde Erwartungen bei der potentiellen Leserschaft geweckt haben. Das einzige erhaltene Exemplar des Drucks A wurde erst spät mit anderen, inhaltlich disparaten Drucken zusammengebunden. Über eine eventuelle zeitnahe Einbettung in einen Kontext anderer Drucke lässt sich in diesem Fall nichts sagen. Die beiden erhaltenen Exemplare von B scheinen aber noch im 16. Jahrhundert jeweils mit anderen Drucken zusammengebunden worden zu

1 ›Ritter Gottfried‹

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sein.19 Auch wenn diese Zusammenstellungen meist kein stringentes Sammelprogramm erkennen lassen und der einzelne Druck durch die Aufnahme in das Konvolut eine weniger starke Prägung durch den Kontext erhält als dies oft bei Handschriften der Fall ist, lassen sie doch gewisse Rückschlüsse auf die allgemeinen Leseinteressen der Käufer zu, die auch ›Ritter Gottfried‹ besaßen. Das Exemplar Berlin, Staatsbibl., Yd 7820 R6 des Drucks B ist in ein Konvolut von 17 Drucken eingebunden, die alle in Nürnberg zwischen ca. 1510 und 1521 gedruckt wurden. Der heutige flexible Pergamenteinband wurde bei einer Restaurierung von 1977 angefertigt, scheint aber dem Vorgängereinband ähnlich zu sein.20 Flexible Pergamenteinbände waren seit dem frühen 16. Jahrhundert zunächst als billige Einbandvariante gebräuchlich, bevor sie sich in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts und im 17. Jahrhundert, manchmal durch Pappdeckel verstärkt, als ›vollwertige‹ Einbände durchsetzten.21 Eine zeitnahe Einbindung in der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts ist also wahrscheinlich. Vor allem deuten jedoch die Provenienz und Entstehungszeit der Drucke darauf hin, dass ein Nürnberger Sammler, der im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts aktiv war, das Konvolut zusammengestellt hat und wohl auch binden ließ. 1. ›Ratbüchlein‹ [Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1520] · VD 16 W 1731 2. ›Ein lied von der Fronica‹22 Nürnberg: Wolfgang Huber, 1512 · VD 16 L 1707 3. ›Die Königin von Frankreich und der ungetreue Marschall‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1520 · VD 16 L 1702 4. Martin Maier: ›Der Ritter aus der Steiermark‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, o. J. [um 1515] · VD 16 ZV 16030 5. Hans Folz: ›Die Bauernhochzeit‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1521 · VD 16 F 1774 6. ›Ritter Gottfried‹ Nürnberg: Wolfgang Huber, o. J. [um 1510] · VD 16 V 2725 7. Hans Folz: ›Wirtsknecht und Hausmagd‹ Nürnberg: Johannes Stüchs, o. J. [1521] · VD 16 F 1784

19 Zu solchen zeitnahen Sammlungen vgl. Ursula Rautenberg: Das Werk als Ware. Der Nürnberger Kleindrucker Hans Folz. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24 (1999), S. 1–40, hier S. 23–25. 20 Vgl. den Restaurationsbericht im Konvolut, in dem der Vorgängereinband folgendermaßen beschrieben wird: »Flexibler Ganzpergamenteinband. Buchblock 176 Blätter mit colorierten Holzschnitten, auf zwei Lederriemchen geheftet. Lederriemchen und Pergament im Falz durchgebrochen. Textblätter stark verschmutzt und teilweise Öl- oder Wachsflecke.« (Anita Herold, 9.1.77, Berlin, Deutsche Staatsbibliothek, Restaurierungswerkstatt). 21 Freundlicher Hinweis von Thomas Döring (UB Leipzig). 22 RSM 5, S. 23–43, 1Regb 1/535o.

468 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps 8. Ludwig Binder: ›Vor zeyt ein künig saß zu Rom‹23 Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1521 · VD 16 B 5516 9. ›Der edle Moringer‹ Nürnberg: Adam Dyon, o. J. [um 1510] · VD 16 L 1682 10. Kunz Has: ›Spruch von einem Bäckersknecht‹24 Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1516 · VD 16 H 754 11. Hans Folz: ›Salomon und Markolf‹ Nürnberg: Johannes Stüchs, o. J. [1521] · VD 16 F 1781 12. ›Ein hübsch lied von einer junckfrawen die da trew iagt‹25 Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1519 · VD 16 H 5736 13. ›Ritter Alexander‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1515 · VD 16 ZV 16483 14. Hans Folz: ›Abenteuerlich Klopfan‹ Nürnberg: Johannes Stüchs, o. J. [1521] · VD 16 F 1767 15. Hans Folz: ›Von einem Arzt und einem Kranken‹26 Nürnberg: Johannes Stüchs, o. J. [um 1520] · VD 16 F 1769 16. ›Mordtat von Amberg‹ [Nürnberg: Jobst Gutknecht, um 1520] · VD 16 K 547 17. ›Vom ungetreuen Knecht‹27 Nürnberg: Jobst Gutknecht, o. J. [um 1520] · VD 16 H 5747

Die Sammlung wird von einem Rätselbuch (›Ratbüchlein‹) eröffnet, enthält Fasnachtsspiele (Nr. 5, 11, 15), Klopfan-Sprüche und narrative Texte (Nr. 2, 3, 4, 6, 7, 9, 13, 17), sowohl in Meisterlied- als auch in Reimpaarform. Darunter sind einige Texte mit geistlicher Thematik: die Veronika-Legende, ›Ritter Gottfried‹ und das Lied ›Von einer junckfrawen die da trew iagt‹, das von einer Jungfrau berichtet, die auf Erden keine Treue finden kann und sich deshalb an Gott und Maria wendet. Auch das weitverbreitete Meisterlied ›Die Königin von Frankreich und der ungetreue Marschall‹ ist in dem Konvolut enthalten. Daneben zeigt sich in der Sammlung auch ein Interesse am Historisch-Monströsen (Nr. 8, 10, 16). Das Meisterlied von Ludwig Binder schildert die Gräueltaten des Kaisers Nero, der Inzest begangen, seiner Mutter den Bauch aufgeschnitten, eine Kröte geboren und Rom angezündet haben soll. Die beiden Reimpaardichtungen ›Spruch von einem Bäckersknecht‹ und ›Mordtat von Amberg‹ berichten über kürzlich begangene schauerliche Verbrechen und die darauffolgende Hinrichtung der Mörder. Mit den Texten von Hans Folz, den Fasnachtsspielen und der Klopfan-Sammlung sind spezifisch nürnbergische Literaturtraditionen vertreten.

23 RSM 3, S. 10: 1Barth 1. 24 Vgl. Helmut Weinacht: Has, Kunz. In: 2VL 3 (1981), Sp. 538–544, hier Sp. 541 f. 25 Vgl. Philipp Wackernagel: Bibliographie zur Geschichte des deutschen Kirchenliedes im 16. Jahrhundert. Frankfurt/Erlangen 1855, S. 37 (Nr. 92). 26 Ausgabe: Keller: Fastnachtspiele, Nr. 120 (S. 1–13). 27 RSM 4, S. 104 f.: 1HeiMü 524.

1 ›Ritter Gottfried‹

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Während das Berliner Konvolut eine starke räumliche und zeitliche Konzentration auf das Nürnberg der 1510er-Jahre aufweist, ist das Erscheinungsbild des Augsburger Konvoluts (Augsburg, Staats- und Stadtbibl., Rar. 58), in dem das zweite erhaltene Exemplar des Drucks B überliefert ist, disparater. Zwar sind acht der 16 Drucke in Nürnberg entstanden, im Gegensatz zum Berliner Konvolut sind hier aber auch Augsburg, Leipzig, Oppenheim, Straßburg und Mainz als Druckorte vertreten. Engere inhaltliche Verbindungen lassen sich kaum feststellen, das Spektrum reicht von einer Anleitung zum Bergbau (Ulrich Rülein von Kalbe: ›Bergbüchlein‹)28 über Schwankerzählungen (z.B. ›Vom Kaufmann, der dem Juden ein Pfund Fett aus seiner Seite versetzt‹)29 und ehedidaktische Traktate (z.B. Martin Maier: ›Vom ehelichen Stand‹)30 bis hin zu historischen Sprüchen (z.B. Peter Frey: ›Von dem jungen Prinzen‹).31 Das Beispiel von ›Ritter Gottfried‹ zeigt, dass eine geistliche Verserzählung in dieser späten Phase nicht nur anders geschrieben, sondern auch anders überliefert wurde. Eine Funktionalisierung des Einzeltextes innerhalb einer größeren Sammlung, wie sie für viele Handschriftentypen des 15. Jahrhunderts zu beobachten ist – etwa durch die Einbettung in einen dezidiert geistlichen Kontext – findet in einem Konvolut von Einzeldrucken kaum mehr statt. Die Überlieferung im Druck führt zu einer Betonung der Selbständigkeit der Einzeltexte. Dabei wird einerseits ihre Rezeption weniger durch andere Texte beeinflusst, andererseits sind die Texte aber auch im Hinblick auf ihre Weitertradierung auf sich allein gestellt. Während in der handschriftlichen Überlieferung oft Texte mit abgeschrieben wurden, auch wenn sie vielleicht gar keinen inhaltlichen Zusammenhang zum Rest der Sammlung aufwiesen, muss der gedruckte Text an sich interessant genug sein, um neu aufgelegt zu werden. Dadurch gewinnen auch textexterne verkaufsfördernde Elemente wie etwa der Teufelskampf auf dem Titelholzschnitt der ›Ritter Gottfried‹-Drucke zunehmend an Bedeutung.

28 Vgl. Gundolf Keil: Rülein, Ulrich von Kalbe. In: 2VL 11 (2004), Sp. 1345–1348. 29 RSM 3, S. 516–518: 1Frau/33/12. 30 Ausgabe: Dichtungen des sechzehnten Jahrhunderts nach den Originaldrucken. Hrsg. von Emil Weller (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 119). Tübingen 1874, S. 33–36 (Nr. 5). 31 RSM 3, S. 519: 1Frey/1.

470 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps

2 Ein Vergleichsbeispiel: Hans Folz’ ›Der Pfarrer im Ätna‹ 2.1 Die Jenseitsreise eines aufmüpfigen Pfarrers Das Motiv des Jenseitsreisenden, dem die Hölle zunächst als locus amoenus erscheint, bis ein Verdammter ihm seine wahren Qualen zeigt, teilen der ›Württemberger‹ und ›Ritter Gottfried‹ mit Hans Folz’ Erzählung ›Der Pfarrer im Ätna‹ (268 V., wohl um 1470/80).32 In Sizilien lebt ein Bischof, dem einer seiner Kleriker besonders verhasst ist. Er befiehlt zweien seiner Diener, diesen Pfarrer in ein Loch am Fuße des Ätna zu werfen, aus dem noch kein Wesen lebend wieder herausgekommen ist. Jemand kann den Pfarrer allerdings vor dem Mordanschlag warnen, und dieser eilt zur Beichte und zur Kommunion, um sich auf den Tod vorzubereiten. Dann wird er von den Dienern des Bischofs ergriffen und ins Loch gestoßen. Zu seinem Erstaunen kommt er aber nicht in einen feurigen Abgrund, sondern nach einer kurzen Zeit in der Finsternis auf eine schöne Wiese mit Bäumen und Blumen. Dort begegnet er zunächst einem Ritter mit einem Sperber, dann einem Grafen mit einem Habicht und einem Mönch mit einem Eichhörnchen. Diese Personen verneigen sich zwar vor dem Pfarrer, sprechen aber nicht mit ihm. Danach führt ihn sein Weg zu einem prächtigen, mit Gläubigen gefüllten Münster. Vor der Kirche stehen Wechselbänke sowie Tische mit Speis und Trank, und es findet ein höfisches Fest mit Tanz und Turnier statt. Daneben stehen schöne Bäder bereit. Als der Pfarrer weitergeht, kommt er zu einem Schloss, das mit Edelsteinen und Gemälden geschmückt ist. In einem Saal steht ein Bett, worin ein Graf, der Bruder des Bischofs, zwischen zwei wunderschönen Frauen liegt. Der Pfarrer bittet den Grafen, ihm zu erklären, wo er sei. Dieser antwortet, er befinde sich mitten in der Hölle, und legt ihm die verschiedenen Erscheinungen aus. Die beiden Frauen sind Nattern und Kröten und bestrafen mit ihren Küssen die Wollüstigen. Der Ritter mit dem Sperber steht für jene, die die Jagd dem Gottesdienst vorgezogen haben; der Sperber ist ein Teufel, der den Ritter pausenlos quält. Der Graf mit dem Habicht steht für die Räuber und die Besitzer unrechten Gutes. Der Mönch vertritt die Ordensleute, die trotz ihres Standes der Welt anhingen und ihre Tagzeiten versäumten. Die Gläubigen im Münster sind Ketzer und Winkelprediger. Die Wechselbänke stehen für die Geizigen, die Tische für die Fresser und Säufer, das höfische Fest repräsentiert die Hoffart und die weltlichen Vergnügungen. Die Bäder sind den Ehebrechern bereitet, die in stinkendem Schlangen- und Drachengift baden müssen. Diese Qualen warten auf die Verdammten, die sich nicht vor dem Tod mit Reue, Beichte und Buße gewappnet haben. Nach dieser Unterweisung bittet der Graf den Pfarrer, dem Bischof zu berichten, was er gesehen habe, und ihn zu warnen. Als Beweis für die Wahrheit seiner Botschaft soll er den Bischof auf das Geheimnis hinweisen, dass der Graf selbst den Rat gegeben hat, den Pfarrer zu töten, da dieser in seinen Predigten die Laster des Grafen und des Bischofs angeprangert hatte. Der Pfarrer macht sich wieder auf den Rückweg, und als er sich umdreht, sieht er an der Stelle des locus

32 Vgl. Johannes Janota: Folz, Hans. In: 2VL 2 (1980), Sp. 769–793 und 2VL 11 (2004), Sp. 449 f. Ausgabe: Hans Folz: Die Reimpaarsprüche. Hrsg. von Hanns Fischer (MTU 1). München 1961, S. 174–183 (Nr. 23).

2 Ein Vergleichsbeispiel: Hans Folz: ›Der Pfarrer im Ätna‹

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amoenus ein großes Feuer. Nachdem der Pfarrer dem Bischof alles erzählt hat, bekehrt sich dieser und führt fortan ein frommes Leben.

Der Pfarrer kommt nicht durch mysteriöses Geschick oder durch den eigenen Wunsch ins Jenseits, sondern durch einen Mordanschlag seines Herrn. Die Hölle ist bei Folz zudem geographisch verortet: Sie befindet sich im Inneren der Erde, erreichbar durch den Vulkan Ätna.33 Indem der Rezipient die Schilderung des Ortes zunächst aus der Figurenperspektive verfolgt, wird ein Spannungsbogen aufgebaut. Erst bei der Begegnung mit dem Grafen erfährt er – gleichzeitig mit der Figur des Pfarrers –, wo der Pfarrer sich befindet und was die verschiedenen Erscheinungen bedeuten. Im ›Württemberger‹ dagegen wissen Protagonist und Rezipient von Anfang an, dass es sich bei den höfischen Paaren um Verdammte handelt, und auch im ›Ritter Gottfried‹ besteht kein Zweifel daran, wo man sich befindet. Während bei diesen beiden Texten der Reiz in der Diskrepanz zwischen äußerer Erscheinung und wahrer Gestalt liegt, die in den Verhaltensanweisungen des jenseitigen Führers und dem Zuwiderhandeln des Lebenden ausgespielt wird, geht es im ›Pfarrer im Ätna‹ eher darum, ein rätselhaftes Tableau aufzubauen, das in einer Schlüsselszene (Begegnung mit dem Grafen) ausgelegt wird. Im ›Pfarrer im Ätna‹ nehmen die Höllenstrafen nicht nur höfischen Schein an; die verschiedenen Erscheinungen sind als Allegorien verschiedener Laster und ihrer Strafen zu verstehen. Die Einführung dieser zusätzlichen Sinnebene könnte auf eine didaktischen Intention und eine Tendenz zur Reihenbildung und Systematisierung zurückgehen, wie sie für das 15. Jahrhundert typisch sind. Der Erzählstoff wird aber nicht nur als Warnung vor Lastern didaktisch funktionalisiert, sondern hat auch ein gesellschaftskritisches Potential. Der Pfarrer begegnet in der Hölle seinem sozial höhergestellten weltlichen Herrn, der dort für sein lasterhaftes Leben büßen muss.34 Die Warnung des Verdammten richtet sich an seinen Bruder, den geistlichen Herrn des Klerikers. Diese Kritik an weltlichen und geistlichen Herren gewinnt zusätzlich an Brisanz durch den Umstand, dass der Mordanschlag auf den Pfarrer eine Vergeltung für dessen öffentliche Kritik an seinen Herren war. Diese gesellschaftskritische Dimension ist sowohl dem ›Württemberger‹ als auch ›Ritter Gottfried‹ fremd. Die veränderte Figurenkonstellation führt bei Folz zu einer abweichenden theologischen Bewertung des Erzählten. Neben der Warnung vor Lastern, die zu Höllenstrafen führen, wird der unschuldige Protagonist als Vorbild herausge-

33 Zwar ist die Hölle auch in ›Ritter Gottfried‹ in einem holen perck (V. 213) lokalisiert, aber die geographische Präzisierung bei Folz suggeriert einen stärkeren Realitätsbezug. 34 Tubach 2621. Das Motiv, dass ein Kleriker seinem verdammten Herrn begegnet, ist z.B. auch der Exempelsammlung London, BL, Add. 6716 (1. Hälfte 15. Jahrhunderts) enthalten, vgl. Catalogue of Romances III, S. 689, Nr. 25.

472 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps stellt. Als der Pfarrer erfährt, dass er sterben soll, bereitet er sich auf angemessene Weise darauf vor: Der pfarrer leyt pald ab die pürd / Der sünd und eylt zum sacrament (V. 18 f.).35 Die Bedeutung von Reue, Beichte und Buße wird auch in der Rede des verdammten Grafen thematisiert, der nach der allegorischen Auslegung der Strafen betont, nur diejenigen müssten diese Qualen erleiden, die nicht gebeichtet und keine Sakramente empfangen haben: Doch was ich euch gesaget han, / Solt ir allein von den verstan, / Die sich nit mit geleyt bewarn, / An rew, peicht und an puß verfarn / Und voraus an die sacrament. / Der pein wert ewiclich an ent (V. 225 ff.). Im Epimythion werden die Rezipienten denn auch zur Buße aufgefordert: Diß nem ein yder mensch zu herczen, / Bedenk die angst und grossen smerczen, / Hab rew, thu puß um sein mistat, / Wan nie auff erd icht wart so nat (V. 263 ff.). Die Vielseitigkeit der Erzählung, die sowohl eine unterhaltsame Geschichte als auch didaktische und gesellschaftskritische Elemente beinhaltet, dürfte der Erwartungshaltung eines städtischen Publikums in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts entgegengekommen sein.

2.2 Hans Folz als Drucker und Verleger der eigenen Werke Bei Hans Folz hat man es mit dem außergewöhnlichen Fall zu tun, dass ein Dichter sich nicht nur durch die konzeptionelle und ästhetische Gestaltung seiner Texte um deren Verbreitung bemühte, sondern sie teilweise auch in der eigenen Druckerei druckte. Folz war der fünfte in Nürnberg ansässige Drucker und betrieb in der Zeit von ca. 1479–1488 eine Offizin. Er war zugleich der erste deutschsprachige Autor, der seine Werke im Selbstverlag herausgab,36 und druckte fast ausschließlich seine eigenen Werke. Die Ausstattung und Tätigkeit der Folzschen Offizin werden von Ursula Rautenberg als »einfach […] mit geringem Qualitätsbewußtsein«37 charakterisiert. Die Drucke wurden nicht, wie in professionellen Offizinen, mit besonderer Sorgfalt gedruckt, gehören aber auch nicht zu den schlechtesten Drucken der Zeit. Die Frage nach den Gründen, die Folz dazu bewogen, eine Druckerei zu führen, wurde in der Forschung unter-

35 Tubach 2516. Ein ähnliches Motiv findet sich in der Exempelsammlung London, BL, Harley 219 (frühes 15. Jahrhundert): Ein Priester sieht im Traum einen offenen Höllenschlund vor seinem Bett; ein Engel sagt ihm, dass er nur deshalb nicht hinabgestoßen werde, weil er kürzlich gebeichtet habe, vgl. Catalogue of Romances III, S. 53 (Nr. 81). 36 Vgl. Rautenberg: Das Werk als Ware, S. 4. Flood, John: Hans Folz zwischen Handschriftenkultur und Buchdruckerkunst. In: Texttyp und Textproduktion, S. 1–27. 37 Rautenberg: Das Werk als Ware, S. 26.

2 Ein Vergleichsbeispiel: Hans Folz: ›Der Pfarrer im Ätna‹

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schiedlich beantwortet. Wirtschaftliches Gewinnstreben und soziale Etablierung in der Stadt wurden ebenso erwogen wie ein didaktisch-philanthropisches Anliegen, Wissen an weitere Gesellschaftskreise in der Stadt zu vermitteln.38 Rautenberg widerspricht der ökonomischen Begründung mit dem Hinweis auf die bereits gesicherte wirtschaftliche Existenz von Folz zum Zeitpunkt seiner Druckertätigkeit und den vermutlich geringen Gewinn, den der Verkauf der billigen Drucke einbrachte. Als Gegenargument zur These der sozialen Etablierung mittels Literaturproduktion führt sie die eher kritische Haltung der Nürnberger Regierung gegenüber literarischer Produktion an, die sich in Zensurmaßnahmen und Aufführungsverboten manifestierte.39 Als Movens für die Einrichtung einer eigenen Offizin sieht Rautenberg vielmehr die veränderten Bedingungen von Literaturverbreitung im Druckzeitalter an. Die Verfasser von Literatur konnten nicht mehr unbedingt mit Entlohnung für Auftragswerke oder Aufführungen rechnen; die Verleger und Drucker vermarkteten die Werke und machten damit wirtschaftlichen Gewinn, während die Verfasser leer ausgingen bzw. von den Verlegern nur schlecht bezahlt wurden. Rautenberg sieht in Folz’ Selbstverlag eine Reaktion auf diese prekäre Situation. Indem Folz seine eigenen Werke druckte, sorgte er sowohl für den äußeren Zusammenhalt von Autor und Werk als auch dafür, dass der wirtschaftliche Gewinn dem Autor selbst zukam. Möglicherweise handelt es sich dabei weniger um eine ideelle, als vielmehr um eine notgedrungene Entscheidung, da professionelle Verleger in dieser frühen Phase das Risiko vielleicht gemieden hätten, volkssprachige Kleinepik zu drucken, deren Absatz nicht so gesichert war wie etwa derjenige von theologischen Großwerken.40 Die Druckertätigkeit von Folz lässt sich nach den verwendeten Typen und dem Layout der Drucke in zwei Phasen (1479–1483, 1483–1488) unterteilen.41 Die zweite Phase zeichnete sich durch eine zunehmende »Kommerzialisierung und Käuferorientierung«42 aus, die sich in der ökonomisch motivierten Umstellung vom Quart- auf das Oktavformat und der Einführung des Kurztitels bzw. des später auftretenden Außentitelblatts mit Holzschnitt zeigen. Das Oktavformat und die Festlegung auf die drucktechnisch günstige Blattzahl von 4, 6 oder 8 führten auch dazu, dass der Textumfang eine gewisse Größe nicht überschreiten durfte.43 Dieser Zwang wird besonders deutlich bei den Neuauflagen von Texten, die Folz

38 39 40 41 42 43

Vgl. den Forschungsüberblick bei Rautenberg: Das Werk als Ware, S. 33 f. Vgl. Rautenberg: Das Werk als Ware, S. 34–37. Vgl. Rautenberg: Das Werk als Ware, S. 37 f. Vgl. Rautenberg: Das Werk als Ware, S. 4. Rautenberg: Das Werk als Ware, S. 20. Vgl. Rautenberg: Das Werk als Ware, S. 20–22.

474 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps in der ersten Phase bereits in Quartformat gedruckt hatte und die er für den Druck in Oktav kürzte.44 Jörn Reichel hat die Veränderungen, die Folz dabei vornahm, untersucht und hat verschiedene Kürzungstendenzen festgestellt. Einerseits wurde die Handlung auf die Kerngeschichte reduziert, Figurenreden und Beschreibungen wurden gestrichen, wobei auch kleinere Sinnstörungen in Kauf genommen wurden. Inhaltlich bedeutsame Änderungen gab es allerdings nur in den Epimythien, die verallgemeinert und publikumswirksamer gestaltet wurden. So verwandelte Folz beispielsweise eine Kritik an Quacksalbern in eine antijüdische Polemik und eine Ständekritik in eine Warnung vor Alkohol und Frauenlist.45 Reichel nennt als Grund dieser Veränderungen neben dem Kürzungszwang aufgrund des kleineren Formats auch den Versuch, den Verkaufserfolg der Texte durch Anpassung an Publikumsinteressen zu fördern.46 Das Phänomen der Folz’schen Neuauflagen verdeutlicht somit den Einfluss der veränderten Bedingungen der Literaturverbreitung in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts auch auf die Gestaltung der Texte.

2.3 Drucke des ›Pfarrers im Ätna‹ Der ›Pfarrer im Ätna‹ ist – wie ›Ritter Gottfried‹ – nur im Druck überliefert. Der Text wurde zunächst von Hans Folz selbst gedruckt; dieser Erstdruck ist in einem Übergangsbereich zwischen den beiden Phasen von Folz’ Druckertätigkeit anzusiedeln:47 Er ist noch in der ersten Type gedruckt, weist allerdings schon äußere Merkmale der zweiten Phase auf, etwa das Oktavformat und den Kurztitel auf Bl. 1a. F2 [Nürnberg: Hans Folz, um 1479/83] 8° · 8 Bll. · Titelholzschnitt · GW 10148 Ex.: Berlin Staatsbibl., Inc. 1860/3 Lit.: Rautenberg: Das Werk als Ware, S. 9 f.; Albert Schramm: Der Bilderschmuck der Frühdrucke. 23 Bde. Leipzig 1920–1943, Bd. XVIII, Nr. 372 (Abb. des Holzschnittes).

44 Es handelt sich dabei um die Texte ›Drei törichte Fragen‹ (Folz, Reimpaarsprüche [Fischer], Nr. 8), ›Die Wahrsagebeeren‹ (Folz, Reimpaarsprüche [Fischer], Nr. 9) und ›Drei listige Frauen‹ (Folz, Reimpaarsprüche [Fischer], Nr. 10), vgl. Jörn Reichel: Hans Folz als Bearbeiter eigener Märendrucke. In: Philologische Untersuchungen (FS Elfriede Stutz). Hrsg. von Alfred Ebenbauer (Philologica Germanica 7). Wien 1984, S. 357–373, hier S. 359 f. 45 Vgl. Reichel: Hans Folz als Bearbeiter, S. 362–365. 46 Vgl. Reichel: Hans Folz als Bearbeiter, S. 370 f. 47 Vgl. Rautenberg: Das Werk als Ware, S. 9 f.

2 Ein Vergleichsbeispiel: Hans Folz: ›Der Pfarrer im Ätna‹

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Auf dem Titelholzschnitt des Druckes ist dargestellt, wie zwei Diener den Pfarrer in den Abgrund stoßen. Der Titel lautet: Item von dem pfarrer im loch, do man zallt tausent fier hundert vnd in dem süben vnd firczigsten iar gescheen. Die genaue Jahreszahl sollte wohl die Historizität des Erzählten beglaubigen und dadurch neben der Abbildung des Gewaltaktes das Interesse am Text wecken. Dies scheint gelungen zu sein, denn der ›Pfarrer im Ätna‹ wurde auch nach Folz’ Tod noch zweimal gedruckt. S Nürnberg: Johannes Stüchs, [ca. 1520] 8° · 8 Bll. · Titelholzschnitt · VD 16 F 1771 Ex.: Berlin Staatsbibl., Yg 5183R Bl [Thierhaupten: Klosterdruckerei], 1593 8° · 7 Bll. · 2 Holzschnitte · VD 16 F 1772 Ex.: Berlin Staatsbibl., Yg 5188R; München BSB, Res/Asc. 4183/3

Der Nürnberger Druck von ca. 1520 weist kaum Abweichungen vom Folz’schen Druck auf. Im Titel wird, wie auch schon in F2, die Historizität des Erzählten durch die Nennung einer Jahreszahl verbürgt. In dem späteren Druck aus dem Kloster Thierhaupten wurden einige Änderungen im Text vorgenommen, und ein neuer Titel setzt zusätzliche Akzente: Ein schoe ne hystori von einem priester / so wunderbarlich durch das hochwürdig sacrament des altars vor hoe llischer pein behüet vnd auch daruon erlediget worden / beeden gaystlichen vnd weltlichen sehr nutzlich zue wissen vnd zu lesen. Geschechen nach Christi geburt / 1447. Ein Element des Textes, die Buß- und Sakramentslehre, wird hier zum thematischen Schwerpunkt gemacht. Die Autorsignatur am Ende des Textes wurde getilgt und durch eine allgemeine Fürbitte ersetzt (V. 267 f.): Dar zu woe ll Gott sein gnad vns geben / Vnd nach disem das ewig leben / Amen. Dies könnte durch den Umstand bedingt sein, dass der Thierhauptener Druck sowohl zeitlich als auch örtlich von der Nürnberger Literaturtradition entfernt ist, in der der Name Hans Folz als Autorität gelten und den Verkauf fördern konnte. Die vorgenommenen Änderungen im Thierhauptener Druck betreffen – ähnlich wie bei Folz’ Neuauflagen – die Paratexte und die diskursiven Teile der Erzählung. Diese Partien übernehmen bei Drucken eine Funktion der Rezeptionssteuerung, wie sie in der handschriftlichen Überlieferung zu einem großen Teil durch den thematischen Kontext der Sammlung bestimmt wurde.

476 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Bruder Rausch‹ 3.1 Der Erzählstoff vom Teufel im Kloster zwischen Didaxe und Parodie In ›Ritter Gottfried‹ und im ›Pfarrer im Ätna‹ werden dem Rezipienten einfache Verhaltensregeln für einen sicheren Weg ins Himmelreich vermittelt. Diese an starre Bedingungen geknüpfte, unreflektierte und unproblematisierte Schematik des Heils erinnert an systematisch-rechnerische Ablassversprechen und Meditationsanweisungen dieser Zeit.48 Es gibt im 14./15. Jahrhundert aber auch Texte, die – oft in der Form einer schwankhaften Geschichte – eine kritische Perspektive gegenüber klösterlichen Lebensformen49 und göttlicher Heilsordnung einnehmen. Wie ein Erzählstoff zwischen ernstgemeinter Didaxe und satirischer Überzeichnung oszillieren konnte, zeigt das Beispiel der Geschichte vom Teufel im Kloster. Der Erzählstoff wird in der nur fragmentarisch erhaltenen Verserzählung ›Der Teufel und der Maler‹ (noch 134 V., 14./15. Jahrhundert) umgesetzt.50 Ein stoffverwandtes lateinisches Exempel findet sich in der Exempelsammlung Breslau, UB, I.F.115/Klapper: Erzählungen, Nr. 77. Mithilfe dieses Exempels kann die Handlung an den lückenhaften Stellen der volkssprachigen Erzählung annährend rekonstruiert werden; zugleich zeigt sich die unterschiedliche Akzentuierung des Stoffes in den beiden Ausformungen. Das lateinische Exempel berichtet von einem Mönch, der Maler ist und den Teufel immer so hässlich wie möglich malt. Der Teufel bittet den Mönch mehrmals, dies zu unterlassen, aber vergebens. Deshalb greift der Teufel zu anderen Mitteln: Er gibt einer schönen Frau den Gedanken ein, dass sie sich ein Buch schreiben und malen lassen solle. Der Mönch wird als Illuminator engagiert und der Teufel sorgt dafür, dass der Mönch und die Frau sich ineinander verlieben. Sie verabreden ein Stelldichein, bei dem sich auch der Teufel einfindet, der den Mönch verprügelt und die Verwandten der Frau herbeiruft. Der Mönch wird in den Kerker gesteckt, aber der Teufel befreit ihn, nachdem der Maler ihm versprochen hat, ihn nie wieder hässlich malen zu wollen. Der Teufel setzt sich nun selbst in Gestalt des Mönchs in den Kerker. Am nächsten Morgen wird der Teufel als Mönch zum Tod verurteilt und zur Richtstätte geführt, doch auf dem Weg dorthin verschwindet er. Der Abt wird daraufhin wegen der Taten seines Mönchs beschuldigt, doch er weiß von nichts und bezeugt, dass beim Morgengebet alle Mönche anwesend waren.

48 Vgl. etwa die Darstellung der Tagzeiten nach Viertelstunden in der Handschrift Prag, Nationalbibl., Cod. XVI.G.33/2 (Kap. VI.3.2.3.). 49 In diese Richtung gehen etwa auch die Erzählungen ›Der Guardian‹ und ›Die Jüdin und der Priester‹. 50 Vgl. Schulz-Grobert, Der Teufel und der Maler.

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Bruder Rausch‹

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Im deutschen Text wird der Mönch im Kloster eingekerkert, es gibt kein weltliches Gerichtsverfahren und keinen Versuch, den Mönch hinzurichten. Dagegen wird das Motiv des Doppelgängers breiter ausgestaltet. Der erhaltene Text setzt an der Stelle ein, als der Mönch zum Erstaunen seiner Mitbrüder wieder frei herumläuft, statt im Kerker zu sitzen. Der Küster fragt den befreiten Mönch, wie er entkommen sei. Dieser meint, er habe sich gar nichts zuschulden kommen lassen, doch der Küster läuft ins Dormitorium und weckt die anderen Mönche, damit sie den Flüchtigen festhalten. Der Abt ergreift den Mönch und führt ihn wieder zum Gefängnis, das immer noch verschlossen ist. Als der Mönch hineingestoßen werden soll, sitzt schon ein anderer Mönch darin, der ihm an Gestalt vollkommen gleich ist. Großes Erstaunen breitet sich aus, doch der Abt beschwört die beiden identischen Mönche, und der Teufel fährt aus dem Gefängnis. Er beschimpft den Abt, dass das Leben im Kloster nicht wohlgeordnet sei, und entweicht. Der Abt und die Mönche entschuldigen sich bei dem Maler. Dieser aber beschließt, den Teufel fortan nur noch mit einer goldenen Krone zu malen.

Im lateinischen Exempel macht sich der Mönch zwar der Liebe zu der Buchbestellerin schuldig, aber dies geschieht nur auf Eingebung des Teufels. Eine direkte Kritik am Klosterleben kann darin nicht gesehen werden. Da der Anfang des deutschen Textes verloren ist, können eventuelle Unterschiede bei der Motivierung nicht mehr festgestellt werden. Für den Schluss, der in beiden Fassungen überliefert ist, finden sich im deutschen Text allerdings deutlich zahlreichere schwankhafte Elemente, die das Klosterleben in ein schiefes Licht rücken. Dazu gehören die offene Kritik des Teufels (ir rechten torn, / Vnd het ir eßels orn, / Jr wert vmmer eßel gnuck! / Her, her apt, ir seyt so clüg, / Diß closter ist nicht wol bericht, / Jr kent ewr eygen münch nit, V. 77 ff.), aber auch der nicht gerade höfliche Umgangston der Mönche untereinander. So reagiert der befreite Mönch auf die Frage des Küsters, warum er nicht im Gefängnis sei, statt mit einer Erklärung mit einer Drohung: Euch wirt von mein handen / Ein großer slack geslagen, / Jr mugt eyn jar do von sagen (V. 14 ff.); die Mönche können es gar nicht erwarten, den Flüchtigen wieder einzukerkern: Do das die munch vernomen, / Jr was keiner so laß, / Er hub sich dester baß. / Der apt der aller vorderst ginge, / Den munch er bey der kappen vinge (V. 26 ff.). Der Rat im Epilog, sich nicht mit vngetrewen Leuten einzulassen (V. 119), wirkt eher halbherzig angesichts der Tatsache, dass der Mönch vor dem Teufel kapituliert hat und ihm lieber einen Gefallen tut, als noch mehr leiden zu müssen. Der Erzählstoff, der im lateinischen Exempel als Warnung vor den Listen des Teufels gestaltet ist, wird in der deutschen Erzählung genutzt, um eine Klostersatire zu erzählen, die nicht nur die Mönche als ungehobelte Gesellen zeichnet, sondern auch das Bildnis des Teufels mit einer goldenen Krone als Endprodukt der Auseinandersetzung stehen lässt.51 Ob es sich

51 Einen stoffverwandten Gegenentwurf bietet das ›Passional‹-Marienmirakel 16 ›Maria rettet

478 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps dabei nur um parodistische Überzeichnung zur Steigerung der Komik handelt, oder ob in der Erzählung ein didaktischer Subtext angelegt ist, der schließlich doch in die Stoßrichtung des lateinischen Exempels führen könnte, lässt sich aufgrund des fragmentarischen Charakters kaum entscheiden. In der stoffverwandten Erzählung ›Bruder Rausch‹52 (420 V., 15. Jahrhundert) ist die parodistische Überzeichnung noch konsequenter durchgeführt. In einem Benediktinerkloster in Sachsen leben viele junge Mönche, die sich kaum um Gott kümmern. Der Teufel kommt als Jüngling zum Kloster und verdingt sich als Küchenknecht. Nach ein paar Tagen bittet der Abt den neuen Knecht, der Rausch heißt, ihm ein Rendezvous mit einer Frau aus dem Dorf zu arrangieren. Rausch erledigt dies gewissenhaft, und fortan nutzen alle Mönche seine Kupplerdienste. Als er eines Tages zu spät in die Küche kommt, wird er vom Koch geschlagen und wirft diesen aus Rache in einen Kessel mit siedendem Wasser. Da Rausch aber an diesem Abend vom Abt ins Dorf geschickt wurde, um eine Frau abzuholen, fällt kein Verdacht auf ihn, und er wird zum neuen Koch gemacht. Während sieben Jahren versieht er dieses Amt und kocht jeden Freitag ein Fleischmus. Im Pförtnerhaus schnitzt er Knüppel, die er den anderen Mönchen für den Bedarfsfall anbietet. Als zwischen dem Abt und dem Prior ein Streit um eine Frau entbrennt, holen sich beide Streitparteien heimlich Knüppel bei Bruder Rausch. Beim Treffen in der Kirche um Mitternacht entwickelt sich eine schreckliche Prügelei. Rausch löscht dabei die Lichter, so dass die Mönche sich blindlings schlagen, ohne zu sehen, wen sie vor sich haben. Zu allem Überfluss wirft Rausch auch noch eine Kirchenbank nach den Kämpfenden. Dann bringt er ein Licht, tritt als Friedensstifter auf und versöhnt die verletzten Mönche. Eines Tages ist Bruder Rausch lange abwesend und erinnert sich erst auf dem Heimweg, dass nichts Essbares mehr im Kloster ist. So nimmt er kurzerhand das Hinterteil einer am Weg weidenden Kuh mit und kocht es für die Brüder. Der arme Bauer, dem die Kuh gehört, sucht sie und findet schließlich den halben Kadaver. Da es schon spät ist, muss er im über Nacht im Wald bleiben und wird dadurch Zeuge einer Teufelsversammlung, bei der verschiedene Teufel sich ihrer Missetaten rühmen. Unter ihnen ist auch Rausch, der von den Verwirrungen erzählt, die er im Kloster gestiftet hat. Am nächsten Tag geht der Bauer zum Abt und berichtet, was er gehört hat. Der Abt beschwört Rausch und zwingt ihn schließlich, sich in ein schwarzes Pferd zu verwandeln und zu entweichen. Rausch geht nach England und fährt dort in die Königstochter. Verschiedene Pariser Gelehrte versuchen sich als Exorzisten, können aber nichts bewirken, bis Rausch selbst verrät, nur sein Abt könne ihn austreiben. Der Abt wird geholt und macht Rausch wieder zu einem Pferd. Während der Abt und der König beim Festmahl sitzen, bringt Rausch unzählige Bleihaufen, die der König dem Abt aus Dankbarkeit überlassen hat, ins Kloster und trägt dann den Abt selbst nach Hause. Im Kloster angekommen, bannt der Abt den Teufel auf eine Burg, wo er bis zum jüngsten Tag bleiben muss.

einen Maler‹, dem ebenfalls die Auseinandersetzung eines Malers und eines Teufels über die Darstellung des letzteren zugrunde liegt. In dieser Fassung fügt sich der Maler jedoch nicht den Wünschen des Teufels, sondern wird von Maria vor dem Teufel gerettet. 52 Vgl. Dieter Harmening: Bruder Rausch. In: 2VL 1 (1978), Sp. 1043–1045. Ausgabe: Heinrich Anz: Bruder Rausch. Niederdeutsches Jahrbuch 24 (1898), S. 76–112. Vgl. auch Bockmann: Figuren, Kap. II.4.

3 Ein weiteres Vergleichsbeispiel: ›Bruder Rausch‹

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Wie in ›Teufel und Maler‹ wird hier das Wirken des Teufels in einem Kloster auf satirische Weise geschildert. Auch von dieser Fassung existiert eine nicht-satirische Ausformung, eine md. Prosaerzählung aus dem zisterziensischen Erbauungsbuch ›Die heilige Regel für ein vollkommenes Leben‹ (spätes 13. Jahrhundert).53 Dort führen die Mönche des Klosters ein so frommes Leben, dass der Teufel sich darüber ärgert und sich als Koch im Kloster verdingt, um Unruhe und Unfrieden zu stiften. Die Intrusion des Teufels ins Kloster ist somit ganz anders motiviert als in der Verserzählung von ›Bruder Rausch‹, in der die Mönche schon vor dem Erscheinen des Teufels ein lasterhaftes Gesindel sind, das sich nicht eyn haer (V. 6) um Gott kümmert. In der Prosaerzählung liegt das Hauptvergehen der Mönche darin, dass sie die vom Teufel vorgesetzten Fleischgerichte essen. Durch seine Überredungskünste bringt der Teufel schließlich sogar den tugendhaften, widerstrebenden Abt dazu, Fleisch zu essen, indem er ihm vorgaukelt, das sei in seinem Alter nötig. Der Teufel raubt sodann die Kuh einer armen Witwe und setzt sie dem Abt vor. Der Sohn der Witwe wird auf der Suche nach der verlorenen Kuh Zeuge der Teufelsversammlung und berichtet dem Abt davon. Dieser klagt laut über sein Vergehen, gibt dem Sohn der Witwe zwei Kühe als Ersatz und beschwört den Teufel, sich zu erkennen zu geben, um ihn dann zu verbannen. Die Brüder leben fortan wieder tugendhaft und friedlich miteinander. In ›Bruder Rausch‹ essen die Mönche nicht nur mit Genuss die Fleischspeisen des Teufels, sondern nehmen auch seine Kupplerdienste in Anspruch und leihen seine Knüppel aus, um einander zu verprügeln. Während die Prosaerzählung als ernstgemeinte Warnung vor den Listen des Teufels gestaltet ist, wird der Erzählstoff in ›Bruder Rausch‹ genutzt, um eine Klostersatire zu inszenieren. Nachdem der Bauer den Abt vor dem Teufel in seinem Kloster gewarnt hat, wird Rausch zwar durch einen Exorzismus beseitigt: De abbet sprack nu vare snelle van danne / Unde schade nummer mer neyneme manne (V. 311 f.), aber es wird kein Wort darüber verloren, ob die Mönche ihr Leben danach bessern oder nicht – der didaktische Aspekt des Erzählstoffs ist hier völlig marginalisiert, während die parodistische Funktion voll ausgeschöpft wird.

3.2 Überlieferung im Druck Die im ›Bruder Rausch‹ enthaltene Mischung aus Schwank und Gesellschaftssatire scheint erfolgreich gewesen zu sein; darauf deuten die hochdeutsche

53 Vgl. Die Heilige Regel für ein vollkommenes Leben. Eine Cisterzienserarbeit des XIII. Jahrhunderts. Aus der Handschrift Additional 9048 des British Museum. Hrsg. von Robert Priebsch (DTM 16). Berlin 1909, S. 49 f. (Nr. 22).

480 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps Bearbeitung des niederdeutschen Textes sowie die breite und langanhaltende Überlieferung des Textes im Druck hin. Niederdeutsche Drucke: A [Stendal: Joachim Westval, 1488] · GW 1274554 B [Braunschweig: Hans Dorn, um 1519] · VD 16 B 8452 C [Köln: Servas Kruffter, um 1520] · VD 16 B 8453 Hochdeutsche Bearbeitung: M Straßburg: Martin Flach, 1508 · VD 16 B 8449 W Augsburg: Hans Froschauer, 1512 · VD 16 B 8450 St Straßburg: Matthias Hupfuff, 1515 · VD 16 B8451 N Nürnberg: Friedrich Gutknecht, [um 1560] · VD 16 ZV 2555 N2 Nürnberg: Valentin Fuhrmann, [um 1590] · Ex.: London, BL, 11517.de.24/6

Die hochdeutsche Bearbeitung weist kleinere Unterschiede zum niederdeutschen Text auf. So wird die Handlung von Sachsen in das Zisterzienserkloster Esrom in Dänemark verlegt; als Gewährsmann wird ein Mönch dieses Klosters genannt. In der hochdeutschen Fassung wird der Teufel von Beginn an ›Rausch‹ genannt, während der Name in der niederdeutschen Fassung erst verwendet wird, nachdem der Teufel ihn dem Abt mitgeteilt hat. Dies könnte auf eine bereits größere Bekanntheit des Stoffes hinweisen. Am Ende der hochdeutschen Fassung wird der Teufel nicht in eine Burg, sondern in einen Berg verbannt. Die bedeutsamste Veränderung ist am Schluss der Erzählung in angehängten Epilogversen zu finden (zit. nach M, Bl. 10r): Darumb sich boe se münch thuo n hüten, / das sie in solcher brue nst nicht wüten, / vnd folgen bruo der Rauschen ordinantz, / vnd nit vergessen irer obseruantz, / sunder folgen der regel sant Augustin, / die Humberius darüber hat geschriben fyn, / wie sich ein yegklicher halten sol, / das er nit werd der sünden vol. / Das alles zü erinnern brecht leicht schmertz, / darumb ein yeder erkenn sein hertz, / was von sünden daruff gefallen seyn, / durch rew vnd leidt frey auß der helle peyn. / Do mit ir leichtlich vernemmen mügt, / was hie inn ist kürtzlich außgetrückt. / Vnd do mit hat dis gedicht ein ende, / gott vns in den letsten zeyten sende / sein genad vnd barmhertzigkeit, / das wir gott sehen in ewigkeit. Amen. Der Bearbeiter hat verbreitete Epilogtopoi aufgegriffen, um die Erzählung zu einer ernstgemeinten Ermahnung an nachlässige Ordensleute umzuinterpretieren, ohne den narrativen Teil des Textes zu ändern – ein ähnliches Vorgehen wie bei den Neuauflagen der Folz’schen Texte. Die so entstandenen Brüche zwischen den narrativen und diskursiven Textpartien und Paratexte scheinen dem Überlieferungserfolg im Fall von ›Bruder Rausch‹ jedoch keinen Abbruch getan haben.

54 Vgl. Robert Priebsch: Bruder Rausch. Facsimile-Ausgabe des ältesten niederdeutschen Druckes (A), nebst den Holzschnitten des niederländischen Druckes (J) vom Jahr 1596 (Zwickauer Facsimiledrucke 28). Zwickau 1919.

Zusammenfassung

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4 Zusammenfassung Geistliche Verserzählungen des späteren 15. Jahrhunderts passen sich in ihrer konzeptionellen und ästhetischen Gestaltung an literarische und kulturelle Entwicklungen der Zeit an. Auch die Erzählstoffe an sich interessieren weiterhin – teilweise auch über das 15. Jahrhundert hinaus. Es ist daher unwahrscheinlich, dass die konfessionellen Entwicklungen des 16. Jahrhunderts (etwa: Kritik der Reformatoren an Heiligenkult und Wunderglauben) eine entscheidende Rolle beim Versiegen des Texttyps gespielt haben.55 Die Gründe scheinen eher im literatursystematischen Status des Texttyps bzw. seiner literaturhistorischen Bedeutung zu liegen. Nur sehr wenige geistliche Verserzählungen sind in die Drucküberlieferung gelangt. Meist handelt es sich bei den gedruckten Texten um aktuelle Erzählungen – von den älteren Texten ist nur der ›Bestseller‹ ›Der König im Bad‹ zu erwähnen. Die spärliche Drucküberlieferung geistlicher Verserzählungen mag damit zusammenhängen, dass Kurztexte, deren Absatz ungewiss war, ein höheres Risiko für die Drucker darstellten als umfangreichere ›Klassiker‹. Überlieferungsverbünde, in deren Gefolge geistliche Verserzählungen in der handschriftlichen Überlieferung manchmal wohl eher zufällig, ohne bewusste Entscheidung des Handschriftenredaktors für genau diese Texte, weitertradiert wurden, greifen in der Drucküberlieferung nicht mehr, da hier jeder Text für sich selbst steht. In der Kürze allein kann das Problem jedoch auch nicht begründet sein – denn es gibt durchaus Kurztexte, die in der Drucküberlieferung äußerst erfolgreich waren, wie etwa das Beispiel von ›Bruder Rausch‹ oder die weltliche Erzählung vom ›Ritter aus der Steiermark‹56 zeigen. Eine wichtige Rolle kommt daher wohl dem formal-ästhetischen Aspekt des Texttyps zu, der Standardform des Reimpaarverses. Die literaturhistorische Bedeutung dieser formalen Eigenschaft hat im Vergleich zu anderen Formen (Prosa, strophische Formen) bereits im 14. Jahrhundert deutlich abgenommen. Das komplexe Zusammenwirken dieser kulturellen und literarischen Veränderungen und Einflüsse führt um 1500

55 Dies lässt sich gut an den frühneuzeitlichen Bearbeitungen des Erzählstoffs vom Judenknaben beobachten (vgl. Burmeister: Judenknabe, S. 190–205): Zwar wurde der Erzählstoff (nach der Fassung der ›Scala coeli‹) in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts in Hieronymus Rauschers ›Auserwählte Papistische Lügen‹ aufgenommen und dem protestantischen Spott preisgegeben; er tauchte aber am Ende des 16. Jahrhunderts wieder als ernstgemeintes Mirakel in dem (deutschsprachigen) ›Speculum Miraculorum SS. Eucharistiae‹ des katholischen Autors Valentin Leucht auf (nach der griechischen Fassung des Nikephoros Kallistos). Interessant ist an diesem Fallbeispiel nicht nur die Langlebigkeit des Erzählstoffs, sondern vor allem auch die Tatsache, dass die frühneuzeitlichen Autoren nie auf bekannte mittelalterliche deutsche Versfassungen der Erzählstoffe zurückgriffen. 56 Vgl. dazu Kap. IX.2.2.

482 | VIII Späte Ausläufer des Texttyps zum Versiegen der Produktivität des Texttyps, das – so könnte man zumindest für die formale Ebene sagen – quasi von seinen Rändern her bedingt ist. Um dieses Phänomen genauer zu fassen, werden im folgenden Kapitel die alternativen Formen, die für das Erzählen religiöser Inhalte in der Volkssprache verwendet werden konnten, in ihrem Verhältnis zu geistlichen Verserzählungen untersucht.

IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Die meisten Erzählungen, die bisher behandelt wurden, sind gute Beispiele geistlicher Verserzählungen;1 ihre Verschiedenheit zeigt die konzeptionelle und ästhetische Variationsbreite innerhalb des Texttyps auf. Der Texttyp ist jedoch kein in sich geschlossenes, autonomes literarisches Phänomen – er wird von einer Peripherie umgeben, in der die weniger guten Beispiele angesiedelt sind: Texte, deren Thematik nur marginal geistlich geprägt ist; Texte, in denen die narrativen Partien nicht so dominant sind; Texte, die nicht in vierhebigen Reimpaarversen verfasst sind; Texte, die eine komplexere Handlungsstruktur und einen größeren Umfang aufweisen als die im Kern des Texttyps angesiedelten Beispiele. Die Peripherie ist somit auch die Kontaktzone zu anderen Texttypen mit abweichender thematischer oder formaler Prägung, denen die weniger guten Beispiele geistlicher Verserzählungen in einem oder mehreren Aspekten nahestehen. Der literatursystematische Status von Texttypen – und damit auch ihr Verhältnis zueinander – ist diachronem Wandel unterworfen. Wie sich die konzeptionellen Möglichkeiten, religiöse Inhalte zu erzählen, im Lauf der Zeit verändert haben, wurde bereits skizziert;2 in diesem Kapitel soll nun der ästhetische Aspekt der Form im Zentrum stehen. Ein volkssprachiger Autor, der einen geistlichen Erzählstoff bearbeiten wollte, konnte eine Reimpaarerzählung, ein Meisterlied, ein Drama, einen Prosatext oder eine Text-Bild-Komposition verfassen. Seine Wahl wurde von verschiedenen Faktoren beeinflusst: einerseits vom ästhetischen Geltungsanspruch und der literaturhistorischen Bedeutung einer bestimmten Form zum Zeitpunkt seiner literarischen Tätigkeit, andererseits vom Umfeld, in dem er schrieb, und vom Publikum, für das er schrieb. Während etwa im 12. und 13. Jahrhundert der Reimpaarvers als Standardform für die narrative Umsetzung geistlicher Erzählstoffe in der Volkssprache gelten konnte, waren im 14. und vor allem im 15. Jahrhundert die Prosaerzählung und das Meisterlied mindestens zu ebenbürtigen, wenn nicht zu präferierten Formen geworden. Die Koexistenz dieser alternativen Formen im literarischen System beeinflusste wiederum den Status des Texttyps der geistlichen Verserzählung. Die Untersuchung alternativer Formen kann somit dazu dienen, den Texttyp in seiner Spezifik noch deutlicher zu konturieren, macht zugleich aber auch die prinzipielle Offenheit von Texttypen und den diachronen Wandel ihres literatursystematischen Status sichtbar.

1 Zur Konzeption des Texttyps vgl. Kap. I.2.3. 2 Vgl. Kap. III; IV.2; VIII.

484 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Die Form eines Textes wurde zum Zeitpunkt seiner Entstehung zwar vom Verfasser bestimmt, konnte sich im Verlauf der Textgeschichte aber auch verändern. So gibt es Fälle, in denen Reimpaarerzählungen in andere Formen (Prosa, Meisterlied) überführt wurden, und Fälle, in denen ursprünglich selbständige Erzählungen durch die Integration in größere Texte oder Textverbünde ihre Selbständigkeit verloren. Die ästhetischen und konzeptionellen Veränderungen, die bei diesen sekundären Bearbeitungen vorgenommen wurden, sind für das Verständnis der Spezifik unterschiedlicher Formen geistlichen Erzählens besonders aufschlussreich.

1 Geistliches Erzählen in Prosa 1.1 Aufkommen und Verbreitung geistlicher Prosaerzählungen3 Die ersten volkssprachigen Prosabearbeitungen lateinischer Exempelstoffe finden sich schon sehr früh als Insertionen in deutschen Predigten.4 Allerdings werden die Erzählstoffe in diesen Fällen nicht immer auserzählt, sondern oft nur anzitiert. Erste volkssprachige Prosaexempelsammlungen, in denen die Erzählungen außerhalb des Predigtkontextes zusammengestellt sind, werden im späten 13. Jahrhundert greifbar. Beispiele dafür sind die mitteldeutsche Sammlung ›Heilige Regel für ein vollkommenes Leben‹, die zahlreiche geistliche Prosaerzählungen enthält,5 und die Fragmente einer Prosaexempelsammlung aus dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts in Frankfurt, UB, Fragm. germ. II 6,6 die u. a. eine Prosabearbeitung des Erzählstoffs vom ›Gehängten Dieb‹ enthält. Bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts bedurfte die Verwendung volkssprachiger Prosa, gerade wenn sie religiöse Inhalte wiedergab, noch der Legitimierung, was sich auch an den Selbstreflexionen mancher Autoren ablesen lässt.7 Gegenüber dem Wahrheitsanspruch der lateinischen Prosa und gegenüber der etablierten Kunstform der volkssprachigen Versliteratur musste sich die volks-

3 Zur literaturhistorischen Entwicklung der deutschen geistlichen Prosaerzählung vgl. Studer: Exempla, S. 125–151. 4 Vgl. Schiewer: Ein mære ist daz. 5 Vgl. Studer: Exempla, S. 132–134. 6 Vgl. Gerhardt Powitz: Bruchstücke einer Exempelsammlung (Handschriftenfunde zur Literatur des Mittelalters 162). ZfdA 134 (2005), S. 33–42 (mit Abdruck). 7 Vgl. Werner Williams-Krapp: Laienbildung und volkssprachliche Hagiographie im späten Mittelalter. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hrsg. von Ludger Grenzmann/Karl Stackmann (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5). Stuttgart 1984, S. 697–707, hier S. 699.

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sprachige Prosa erst durchsetzen. Dies gelang im Zuge einer zunehmenden Tendenz zur Prosaform, die die geistliche Traktatliteratur ebenso erfasste wie die weltlichen Romane. So ist im 14. und 15. Jahrhundert eine ständige Zunahme der Produktion von Prosaexempelsammlungen zu beobachten.8 Ab etwa 1350 entstanden verschiedene ›Legenda aurea‹-Übersetzungen,9 ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert stammt eine nur fragmentarisch erhaltene Übersetzung des ›Dialogus miraculorum‹ des Caesarius von Heisterbach.10 In der Mitte des 14. Jahrhunderts wurde der ›Große Seelentrost‹ zusammengestellt.11 Gegen Ende des 14. Jahrhunderts entstand wohl im Nürnberger Klarissenkloster das sog. ›Nürnberger Marienbuch‹, eine Sammlung, die neben einem Marienleben auch zahlreiche Marienmirakel umfasst,12 und die teilweise in ›Der Heiligen Leben‹, dem erfolgreichsten deutschen Prosalegendar,13 verwertet wurde. Ebenfalls aus dem späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert stammt eine thüringische Exempelsammlung in Heidelberg UB, Cpg 118.14 Die umfangreiche, von Franz Pfeiffer sog. ›Predigtmärlein‹-Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 ist um 1430 im elsässischen Raum entstanden.15 Seit etwa 1450 gibt es auch vollständig erhaltene deutsche Übersetzungen des ›Dialogus miraculorum‹ und des ›Bonum universale de apibus‹ des Thomas von Cantimpre´.16 Eine wohl um 1460 entstandene Sammlung deutscher Prosaexempel ist in Salzburg, Stiftsbibl. Nonnberg, Cod. 23 B 25 und Nürnberg, GNM, Hs. 4028 überliefert. ›Der Seelen Wurzgart‹, eine heilsgeschichtlich angeordnete Sammlung mit didaktischen und narrativen Texten, stammt ebenfalls aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts.17 Eine kleinere, auf Marienmirakel fokussierte Sammlung befindet sich in Berlin, Staatsbibl., Mgo 222. Aus

8 Vgl. Hilg: Marienmirakelsammlungen, Sp. 31 ff.; Werner Williams-Krapp: Ordensreform und Literatur im 15. Jahrhundert. Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 4 (1986/1987), S. 41–51, hier S. 41; Williams-Krapp: Konturen, S. 77. 9 Vgl. Hilg: Marienmirakelsammlungen, Sp. 31 f.; Williams-Krapp: Ordensreform, S. 45 f. 10 Vgl. Studer: Exempla, S. 136 f. 11 Vgl. Der Große Seelentrost (Schmitt), S. 118*–131*. 12 Vgl. Jung: Das Nürberger Marienbuch, S. 30*–32*. 13 Vgl. Williams-Krapp: Ordensreform, S. 45 f. 14 Vgl. Hilg: Marienmirakelsammlungen, Sp. 32; Ausgabe: Carl Reinholdt: Die Wundergeschichten des Cod. Pal. germ. 118. Greifswald 1913. 15 Vgl. Nigel F. Palmer: Die Münchner Perikopenhandschrift Cgm 157 und die Handschriftenproduktion des Straßburger Reuerinnenklosters im späten 15. Jahrhundert. In: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte. Hrsg. von Barbara Fleith und Rene´ Wetzel (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1). Berlin/New York 2009, S. 263–300, hier S. 274; Studer: Exempla, S. 9–28. 16 Vgl. Hilg: Marienmirakelsammlungen, Sp. 34. 17 Vgl. Werner Williams-Krapp: Exempla im heilsgeschichtlichen Kontext. Zum ›Seelenwurzgarten‹. In: Exempel und Exempelsammlungen, S. 208–223.

486 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen dem späten 15. Jahrhundert ist ein sehr umfangreiches mariologisches Werk überliefert, der ›Magnet unserer lieben Frau‹, der wohl aus dem Nürnberger Klarissenkloster stammt.18 Diese keineswegs vollständige Liste kann einen Eindruck von der zunehmenden Bedeutung der Prosaform für das Erzählen religiöser Inhalte vermitteln. Die geistliche Prosaliteratur ist von einer ähnlichen Variationsbreite geprägt wie die Versliteratur. Neben Texten, die Laiendidaxe auf einem einfachen Niveau bieten und einer normativen Frömmigkeitstheologie verpflichtet sind, wie sie beispielsweise Jean Gerson und Johannes Nider vertraten,19 stehen konzeptionell anspruchsvollere Texte wie die Werke der sog. Wiener Schule20 und die mystische Literatur, die neben traktathaften Werken auch einen neuen Typ geistlicher Erzählungen hervorgebracht hat, in denen die Narration als Rahmen zur Vermittlung mystischer Konzepte genutzt wird.21 Um einerseits die Unterschiede zwischen geistlichen Vers- und Prosaerzählungen und andererseits die Variationsbreite innerhalb der geistlichen Prosaliteratur zu skizzeren, werden im Folgenden verschiedene Ausformungen derselben Erzählstoffe in Vers und Prosa vorgestellt.

1.2 Unterschiedliche Akzentsetzungen in stoffverwandten Vers- und Prosaerzählungen Bei den Vergleichen wird jeweils von einer Verserzählung ausgegangen, um dann Prosabearbeitungen des gleichen Erzählstoffs zu untersuchen, wobei ich mich auf drei Prosaexempelsammlungen beschränke: das ›Nürnberger Marienbuch‹ (um 1400), die Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 (sog. ›Predigtmärlein-Sammlung‹, um 1430) und die Exempelsammlung Nürnberg, GNM, Hs. 4028 (2. Hälfte 15. Jahrhundert). Das ›Nürnberger Marienbuch‹22 ist eine Kompilation aus einem Marienleben, einer Marienmirakelsammlung und mariologischen Auslegungen. Es ist unikal in der Handschrift Bamberg, Staatsbibl., Cod. Hist. 157 (um 1410) überliefert, die dem Nürnberger Klarissenkloster gehörte. Beim anonymen Verfasser bzw. Kom-

18 Vgl. Hilg: Marienmirakelsammlungen, Sp. 37. 19 Vgl. Williams-Krapp: Konturen, S. 80 f.; Abel: Johannes Nider, S. 17–31, 127–133. 20 Vgl. grundlegend dazu Klaus Wolf: Hof – Universität – Laien. Literatur- und sprachgeschichtliche Untersuchungen zum deutschen Schrifttum der Wiener Schule des Spätmittelalters (Wissensliteratur im Mittelalter 45). Wiesbaden 2006. 21 Beispiele: ›Christus als Koch‹, ›Der Bruder mit den sieben Säcklein‹, ›Das Frauchen von 21 (22) Jahren‹, ›Meister Eckharts Tochter‹. 22 Vgl. Jung: Das Nürnberger Marienbuch, S. 1*–64*.

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pilator handelte es sich vermutlich um einen Dominikaner. Die 102 Texte der Mirakelsammlung sind in fünf Kapitel aufgeteilt, die dem Gruß, dem Lob, dem Bild, der Barmherzigkeit Marias sowie der Bestrafung von Nachlässigkeiten beim Mariendienst gewidmet sind. Die Prosaerzählungen sind meist kurz und handlungsorientiert – diskursive Partien mit Kommentaren, Moralisationen oder Handlungsanweisungen fehlen größtenteils. Die Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 entstand in den 1430er Jahren im bzw. für das Reuerinnenkloster in Straßburg. Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 Papier · 352 Bll. · 28 × 21 · Straßburg · um 1430/40 Eine Hand. Besitzeintrag des 15. Jahrhundert im hinteren Spiegel: Dis buo ch ist der Ruwerin sant Marigen Magdalenen zuo Stroßburg. Inhalt (Textzählung nach Studer: Exempla): Bl. 3ra–112va Viten aus den ›Alemannischen Vitaspatrum‹ (Nr. A1–A32) Bl. 113ra–176rb Exempla aus den ›Alemannischen Vitaspatrum‹ mit Zusatzgut aus anderen Sammlungen (Nr. B1–B351) Bl. 176rb–313va Exempelsammlung B (Nr. B352–B536) Bl. 317ra–343rb Exempelsammlung C (Nr. C1–C38) Lit.: Bär: Marienlegenden; Ulla Williams: Die ›Alemannischen Vitaspatrum‹. Untersuchungen und Edition (Texte und Textgeschichte 45). Tübingen 1996, S. 24*; Burmeister: Judenknabe, S. 130–144, 320 f.; Derron: Ernsthafter König, S. 163–171, 242–244; Palmer: Münchner Perikopenhandschrift, S. 274; Monika Studer: Antonius der Einsiedler trifft Caesarius von Heisterbach. Zur gemeinsamen Überlieferung von Exempla der ›Alemannischen Vitaspatrum‹ und des ›Dialogus miraculorum‹ in Straßburger Handschriften und Drucken. In: Schreiben und Lesen in der Stadt. Literaturbetrieb im spätmittelalterlichen Straßburg. Hrsg. von Stephen Mossman/Nigel F. Palmer/Felix Heinzer (Kulturtopographie des alemannischen Raums 4). Berlin/Boston 2012, S. 167–196, hier S. 171 f., 193 f.; Studer: Exempla.

Die Sammlung setzt sich aus drei Teilen zusammen:23 Auf einen ersten Teil, der Übersetzungen von Viten und Exempla aus den ›Vitaspatrum‹ enthält, folgen zwei Blöcke mit Exempeln und Mirakeln unterschiedlicher Provenienz. Zwischen den Exempelsammlungen B und C bestehen verschiedene stoffliche Überschneidungen, wobei die Exempla des Teils C meist kürzer sind und Bearbeitungen der Parallelerzählungen aus Teil B darstellen. In der Sammlung finden sich viele Exempla, die auf den ›Dialogus Miraculorum‹ des Caesarius von Heisterbach und andere verbreiteten Exempelsammlungen zurückgehen. Einige Exempla enthalten jedoch auch Quellenangaben, die auf mündliche Vermittlungswege hindeuten, z.B. Bl. 206va/b: Also was ouch hie vor zuo Rodensheim her Hesse, der schriber, sach es vnd seite es ouch, Bl. 237vb: Daz hie vor geschriben

23 Zur Struktur der Handschrift und den Teilsammlungen s. Studer: Exempla im Kontext, S. 151–177.

488 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen stot, daz geschach in der cu ´sterie zuo Hassien, der cu ´ster der selben gegene seite es o bruder Johannesse, dem lesemeister von Elfu ´rte, der seite dis vor geschribene gottes wunder von seiner erbermede, und Bl. 240vb: der von Sternegasse bredigete dis zuo Strosburg. Der Umgang mit den Exempla in der Sammlung scheint teilweise ein durchaus kreativer gewesen zu sein. Darauf deuten einerseits die stofflichen Doubletten in den Exempelsammlungen B und C hin, andererseits die Kommentare, die manchen Exempla beigefügt wurden. Ein Beispiel dafür ist ›Des Münzers Frau‹ (B 365): [181vb] Ein mv´nsser lag siech vnd sante noch sime bihter. Der kam. Er bihtete vnd wolte wider han gegeben. Do daz die frowe vernam, do hette [182ra] su´ zwey´ kint, die nam su´ vnd ging fu´r die tu´re, do er jnne lag, vnd schrey´ mit luter stymmen: Waz wiltu armer mve ding tvo n? Wiltu mich vnd dine kleine kint vorderbin? vnd schrey´ so lute vnd so jemerlich, daz der man geriet zuo weinende, vnd er sprach: Herre, gont enweg, e daz ich alsus my´ne kleinen kint vnd my´n wip noch brote wolte machen gonde, e wolte ich jemer me in der hellen sin. Vnd e er daz wort je vollen gesprach, do siht er, wie der tu´ffel jme die zvnge vsser dem mvnde brach, vnd wurgete in, daz er dot gelag. Der bihter det die tu´re vf vnd hies die frov we mit jren kinden in. Do sach su´ jren man do ligen dot. Do ich es horte bredigen, do sprach ich: Solte got vnrehter dvo n? So spreche ich, er hette vnrehte getan. Er solte den tu´ffel geheissen han dem wibe den hals abe brechen! Wanne er hette gerne wider gegeben, hette in daz wip verlossen.

Der Verfasser des Kommentars gibt an, das Exempel in einer Predigt gehört zu haben, zeigt sich aber unzufrieden mit dem Ausgang der Erzählung: In seinen Augen ist nicht der Münzer schuldig, sondern die Frau. Während das in der Predigt erzählte Exempel den Schwerpunkt auf die Mahnung legt, sich nicht von guten Vorsätzen abbringen zu lassen, setzt der Kommentator einen neuen Akzent: Der gute Wille des Münzers (wanne er hette gerne wider gegeben) ist für ihn ausreichend, die Einstellung der Frau, die mehr Wert auf die Bewahrung des materiellen Wohlstandes als auf das Seelenheil ihres Mannes legt, dagegen verdammungswürdig. Dies führt ihn zum Schluss, Gott habe in diesem Fall unrecht gehandelt, und er fügt einen alternativen Schluss hinzu: Der Teufel hätte der Frau den Hals umdrehen sollen, nicht dem Mann. Dieses kommentierende Vorgehen macht deutlich, dass die Exempla als veränderbare Erzählungen angesehen wurden, die in die Denkmuster und Vorstellungswelten der jeweiligen Bearbeiter eingepasst wurden. Bei dem Kommentator handelte es sich um eine Person, die sich zwar ermächtigt fühlte, einen alternativen Schluss zu präsentieren, aber wohl keine umfangreichere theologische Bildung besaß. Es ist durchaus denkbar, dass die Änderung auf eine Klosterfrau, die das Exempel abschrieb, zurückgeht. Diese Position zwischen Theologie und Laienfrömmigkeit, bei der die lateinisch-klerikale Bildung zwar den Referenzrahmen bildet, aber immer eine gewissen Distanz zwischen diesem Rahmen und dem Bildungsstand der intendierten

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Rezipienten besteht, wird auch im Exempel ›Der Ritter und der Barfüßer‹ (B 395) deutlich. [202rb] De penitencia vnius militis24 Es waz ein byderber ritter, der sas in eime gebirge, das wol in zwelf milen nit lu´tes vmbt in gesessen waz.25 Nvo kam es also, das zwene barfvo ssen dar komen. Der ritter bot es in gar wol. Der eine ving an vnd bredigete von gotte gar wol, vnd treip daz drie tage, wann er hette gerne gesehen, daz der herre oder die frowe oder sine kint oder sin gesinde gebihtet hettent. o Do daz nit enhalf, do sprach er: Herre, nv gent vns vrlop, vnd lone u´ch got, jr hant es vns gar wol vnd gar erlich erbotten, vnd sprach do zvo m herren: Vnd inwil doch niemer me her zuo u´ch kvmmen in uwer hus. Der herre sprach: War vmbe? Ist u´ch denne kein leit hie geschehen oder keine [202va] smocheit, oder ist es u´ch nit wol erbotten mit spise? Nein es, herre, sprach der barfvo sse, daz weis got wol, es wart vns nie baz erbotten an allen dingen danne ir hant getan, herre. Ich kam ouch nit her durch uwer spisen willen, jch kam har durch daz heil uwer selen, daz ir mir bihten soltent, vnd bin dry´e tage dar vmbe hie gewesen vnd u´ch jemer sit gebredigt, was ich denne guo tes kvnde, daz doch uwer keines nie gebihten wolte. Da von gent vns vrlop, vnd vergelte u´ch got uwers guo ten gemaches. Der herre was ein tvgenthaft man vnd sprach: Nvo blibent, herre, ich wil bihten. Er bleip. Morne wart, do fuo rte er den herren in einen garten, vnd bihte jme mit grosser andaht vnd mit also grossem weinende, daz es vnser herre gerne moe hte hoe ren, alse er ouch det. Der herre gap jme buo sse, die leistete er gerne vnd froe lich, vnd me der zuo , vnd sprach, er wolte niemer me gesv´nden. Der barfuo sse fvo r dannan. Der herre, der wart siech zuo hant [202vb] vnd starp in ahte tagen, vnd fvo r zuo himelrich vnd kam also fv´r vnsern herren. Do sach er wol vnsers herren willen, wann also balde, so men vnsern herren ane siht, so siht wol sinen willen; daz ist ouch billich. Er fuo r zuo hant her wider abe vnd kam in den luft, vnd nam do den selben lip vnd die selben kleider an sich, die er ane hette an dirre welte, do er bihtete in dem garten. Mit dem selben libe kam er, vnd sas der barfuo sse beslossen in siner zellen, vnd er schreip vnd studierte, also die guo ten gerne dvo nt. Der herre kam durch beslossener tu´r in vnd sprach in dem schoe nesten lattine, daz je gesprochen wart: Got gruo sse dich, du lieber vatter! Der barfvo sse sach vf vnd sach in an vnd sprach: Sint gotte wilkome, lieber herre! Wannan kvment ir? Er sprach in latine: Got der lone dir, lieber vatter. Ich kome von himelriche. Er sprach: Lieber herre, o kvndent ir latine? War vmb sprochent ir nit zu mir latine, do ich by´ u´ch waz? Ir jehent ouch, ir koment von himelrich! Er sprach aber in [203ra] latine: Es ist war, jch kome von himelriche. Vnd do ir bi mir worent, do kvnde ich nit latine. Der barfuo sse sprach: Ir hant doch den selben lip vnde die selben cleider an, die ir hettent, do ich by´ u´ch waz. Er sprach: Do ich von gotte fvo r, do nam ich disen lip vnd dise cleider in dem lufte, vnd ouch do by´, daz ich komen bin durch beslossen tu´r, vnd lit my´n lip in dem grabe do heime, vnd mine cleider, die sint armen lu´ten gent, vnd wurt men dir es zuo hant enbientende, daz ich dot si, vnd daz du my´n gedenckest. Vnd zuo hant lieber vatter, do du dannan fue re, do wart ich siech vnd lag ahte tage vnd starp vnd fvo r zuo himelriche, vnd bin jetzunt vor gotte, wie daz ich joch hie stande, vnd lone dir got, lieber vatter, daz ich dich je gesach, des mve sse got jemer gelobet sin! Nvo e e gesegene dich der getruwe got, jch wil faren in my´ne froide. Vnd rete alles lattine, gar schoo ne lattine, vnd fvr inweg. Do koment ouch die botten von siner frowen vnd seiten jme, daz er dot were, vnd heissent sin gedencken.

24 Von der Buße eines Ritters. 25 Korrigiert aus sas.

490 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Die Erscheinung eines Toten, der über sein Schicksal im Jenseits berichtet, ist ein sehr verbreitetes Motiv. Verwunderlich ist hier auf den ersten Blick, dass der Geist des Ritters – quasi als Beweis, dass er wirklich im Himmel ist – sich mit dem Barfüßer auf Lateinisch unterhält, obwohl er in seinem Leben nicht lateinkundig war. Die Lateinkenntnisse der intendierten Rezipienten der Sammlung – seien es die Reuerinnen oder eine laikale Predigtgemeinde – dürften, sofern überhaupt vorhanden, eher bescheiden gewesen sein. Auf jeden Fall sprachen sie nicht, wie der Text immer wieder betont, in dem schoe nesten lattine, daz je gesprochen wart. Der Umstand, dass der Ritter plötzlich lateinkundig war, musste also besonders auf Leute wirken, für die Latein eine fremde Sprache war, die vor allem durch den Gebrauch in der Liturgie präsent war und einen sakralen Charakter hatte. Der lange Dialog und die vielen Nachfragen des Barfüßers (War vmb sprochent ir nit zuo mir latine, do ich by ´´ uch waz?) lassen die eigentliche Grundaussage des Exempels, dass der Ritter nur deshalb in den Himmel gekommen sei, weil er vor seinem Tod gebeichtet habe, fast in den Hintergrund treten. Die beiden Protagonisten sind als Gegensätze angelegt: hier der ungelehrte Ritter, der in der Einöde lebt und sich selbst durch dreitägige Predigten nicht zur Beichte bewegen lässt, dort der gelehrte Barfüßer, der in seiner Zelle studiert und schreibt. Diese in der Welt existierenden Gegensätze werden im Himmel jedoch aufgehoben, denn der Geist des toten Ritters erscheint auf gleicher Augenhöhe wie der Mönch, indem er in dem schoe nesten lattine spricht. Die Beherrschung der heiligen, ja himmlischen Sprache dient als Symbol für die Vollkommenheit des Seligen, der in den Himmel aufgenommen wurde.26

26 Ich habe keine Vorlage in der lateinischen Exempelliteratur finden können, auf die der deutsche Verfasser direkt Bezug genommen hätte. Das Motiv der expliziten Thematisierung der lateinischen Sprache ist allerdings geläufig. So erwähnt etwa Petrus Venerabilis in seinen ›De Miraculis libri duo‹ I, 21 (Ausgabe: Petri Clvniacensis Abbatis De Miraculis libri dvo. Hrsg. von Dyonisia Bouthillier (CCCM 83). Turnhout 1988, S. 63 f.), dass ein Mönch, der im Todeskampf lag, zunächst verstummt sei, dann aber auf die Frage eines Freundes, ob er eine Vision gehabt habe, auf Latein antwortete: Ad quem ille his uerbis: »Vidi ait Dominum, et dulce consortium eius.« Hoc cum non uulgaribus set ita ut expressi uerbis latinis dixisset. (Dazu sagte dieser folgende Worte: Ich habe den Herrn gesehen und sein schönes Gefolge. Dieses sagte er nicht in der Volkssprache, sondern mit genau diesen lateinischen Worten). Kurz darauf sei der Mönch verstorben. Der Gebrauch der lateinischen Sprache wird hier, wie in ›Ritter und Barfüßer‹, mit himmlischen Dingen und mit Todesnähe in Verbindung gebracht und erscheint als Beglaubigung der Vision des Sterbenden. Negativ konnotiert ist ein Latein sprechender Illiteratus dagegen in einem Exempel aus der Handschrift London, BL, Harley 2316, Nr. 31 (England, 14. Jahrhundert), vgl. Catalogue of Romances III, S. 576, Nr. 31: Dort wird von einem Dominikaner berichtet, der nur wenige Worte Latein konnte; der Teufel fuhr in ihn, und plötzlich sprach er fließend Latein. Erst mit einem dreimaligen Exorzismus konnte der Lateinteufel wieder ausgetrieben werden. Ganz ohne jenseitigen Einfluss wird die lateinische Sprache thematisiert in Jakobs von Vitry

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Die Prosaexempelsammlung,27 die in den Handschriften Salzburg, Stiftsbibl. Nonnberg, Cod. 23 B 2528 und Nürnberg, GNM, Hs. 402829 überliefert ist, entstand wohl im Zusammenhang mit der Katharinenlegende, die ihr in der Nonnberger Handschrift vorangestellt ist. Der inhaltliche Bezug zur Katharinenlegende zeigt sich etwa darin, dass in einigen Exempeln der Sammlung die Gottesmutter Maria durch Katharina ersetzt ist, etwa in der Erzählung von der Küsterin Beatrix.30 Ein thematischer Schwerpunkt der Sammlung ist die Bußlehre. Die Erzählungen sind meist mit einer Moralisatio versehen, die das Erzählte auf sehr schematische Weise didaktisch auswertet. Ein Beispiel dafür ist das Exempel von der unvollständigen Buße: [107rb] 〉Von zway¨n lerern sagts.〈 〉E〈s giengen zu ainen zey¨ten zwen hoch lerär jn dy¨ land vnd wollten vnterwey¨sen dy¨ menschen, damit sy verdienten dy¨ gotz huld. Der ain, der was ain ponitentzer, das ander was ain schaffer. Dy¨ giengen miteinander gegen ainer purig, do was ain edle fraw. Vnd dy¨ selb fraw sach dy¨ zwen herren gen zu´ der selben vest. Do gedacht sy¨: Daz sind dy¨ zwen prüder vnd priester. Ich will mich jr ainem pey¨chten. Sy¨ kennen mein nicht, jch bedarff mich von jn nicht schamen. Es geschach, das dy¨ herren kummen jn die purig zu´ der frawen, die kniett da nider fur den penitentzer vnd peicht ym. Vnd der ander herr, der schaffer hy¨ess, der sach das: Als offt dy¨ fraw ain sund peicht, als offt chroch jr ain krot aus dem mund vntz an der letzt, do sach er, das ein trackh den chopff her auß stieß vnd zuch jn hin wider ein. Das traib er mer dann ainsten, vnd doch zum letzten belaib er gar dry¨nn. Vnd dy¨ krotten, dy¨ herauß waren [107va] chrochen, dy¨ giengen all hin wider. Vnd do dy¨ fraw nicht mer wolt peichten, do hüben sy sich von dann vnd sy¨ chomen auf das veld, da

Schwankerzählung ›De Maugrino qui scolarem ligari fecit‹ (Ausgabe: Die Exempla aus den Sermones feriales et communes des Jakob von Vitry. Hrsg. von Joseph Greven (Sammlung mittellateinischer Texte 9). Heidelberg 1914, Nr. 104): Der ungelehrte und geizige Pariser Pfarrer Maugrinus wird zu einem fremden, auf dem Krankenbett liegenden Scholaren gerufen, dem er die Beichte abnehmen soll. Da der Fremde kein Französisch spricht, beichtet er auf Lateinisch, was Maugrinus dazu bringt, ihn für verrückt zu halten und einzusperren. Nach seiner Genesung beschwert sich der Fremde beim Bischof von Paris. Der Bischof schickt daraufhin nach Maugrinus und gibt vor, bei ihm beichten zu wollen. Er wirft aber nur mit lateinischen Begriffen um sich, während Maugrinus pflichtbewusst immer Deus vobis indulgeat (Der Herr vergebe Euch) sagt. Der literatus Jakob von Vitry wendet sich mit seiner Satire über gescheiterte lateinische Kommunikationssituationen gegen ungenügend gebildete Pfarrer. Diese Satire kann andere literati zum Lachen bringen, wie es an der Reaktion des Bischofs auch in der Erzählung selbst vorgeführt wird. 27 Vgl. dazu Hilg: Marienmirakelsammlungen, Sp. 35. 28 Zu dieser Handschrift vgl. Peter Assion: Die Mirakel der Hl. Katharina von Alexandrien. Untersuchungen und Texte zur Entstehung und Nachwirkung mittelalterlicher Wunderliteratur. Diss. Heidelberg 1969, S. 78 f.; Studer: Exempla im Kontext, S. 188–190. Gerold Hayer (Salzburg) stellte mir freundlicherweise sein in Arbeit befindliches Katalogisat zu dieser Handschrift zur Verfügung. 29 Zu dieser Handschrift vgl. Studer: Exempla, S. 185–187. 30 Nürnberg, GNM, Handschrift 4028, Bl. 127vb–129ra. Zum Erzählstoff: Tubach 536.

492 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen hüb der schaffer vnd sprach zu´ dem peichtiger: Lieber, jch hab gesechen als offt dy¨ fraw ain sündt peicht, als offt chroch jr ain krot aus dem mund. Vnd darnach stieß ain trackh den kopff heraus, er chom aber her für nicht. Vnd dy¨ krotten schluffen all hin wider ein. Der penitentzer sprach: Lieber prüder, lass vns wider zu´ jr gen. Dy¨ hat ain sündt verschwigen, ob wir ir dy¨ mochten an gewinnen. Vnd da sy hin wider chomen, do was dy¨ fraw todt. Do erschracken sy von gantzen jrem hertzen vnd waintten vast vnd petten drey¨ tag fur der frawen sel. Vnd do sy¨ das getriben vntz an den dritten tag, do entschlieffen sy¨ vnd sachen jn dem geist dy¨ edeln frawen herreiten auf ainem trackhen vil grey¨slich, vnd hetten sich dy¨ schlangen gewunten vmb jren hals vnd nüegen jr brust vnd dy¨ krotten kruchen jr zu den augen herauß vnd hin ein vnd peinigten jr zungen vnd jren mund. Do sprachen dy¨ zwen herren: Sag an, du edle fraw, wie stet es vmb dich? Sy¨ sprach: Ich bin verdampt. Vnd dy¨ hundt nüegen jr ir hend vnd pain ewigklich. Vnd secht jr den trackhen, den [107vb] ich rey¨t? Das ist die gross sündt, die ich han gethan mit meinem vettern, dy¨ selb sünd torst ich vor scham nicht peichten. Das ist ain vrsach, das ich ewigkleich mu´ß der verdampten sel aine sein. Dy¨ herren sprachen: Was tetten dy¨ schlangen vmb dein haubt vnd vmb den hals vnd dy¨ tier, die dein prüst nagent? Das bedewt, das ich mein hawbt vnd den hals offt entplöst han, damit ich vil hochfart pflag vnd mangem man offt vil po´ß gelüst mocht. Vnd darumb nagen dy¨ schlangen mein hals vnd dy¨ prüst. Vnd dy¨ herren sprachen: Was bedewten dy¨ krotten, dy¨ dir datz dem mund vnd datz den augen aus vnd ein krüchen? Dy¨ fraw sprach: Daz bedewt, daz ich meine augen ny¨e hab behuet vor vnkäwschem schalckhafftigen gesicht vnd offt vnd dick schälcklichen gesechen han vnd mein zung liess ich offt vnnützlich klaffen vnkäwsche pose wort. Darumb nagen mir dy¨ krotten mein zung. Dy¨ herren sprachen: Was bedewten dy¨ hunt, die dir dy¨ hendt nagent? Die fraw sprach: Dy¨ hend han ich lieb gehabt vnd damit vertraib ich mein weil vnd mein zeit vnd setzt darauf allen meinen fley¨ß vnd gedacht nicht an mein got vnd an mein schöppfer vnd an dy¨ schwären sünd vnd jch offt [108ra] vnd dick wider jn gethan hett. Darumb nagent mich dy¨ hunt ewigklich. Dy¨ herren sprachen: Sey¨t du doch der verdampten pist, sag vns, wa mit verdient die menschen aller pöldist die ewig verdampnus? Dy¨ fraw sprach: Aller maist dy¨ menschen, die jr sünd hy¨e auf erdt nicht gantz vnd gar peichten vnd die sich schamen, daz sy¨ der sünd nicht türen peichten. Vnd den selben geschicht als mir geschechen ist vnd beschawen auch gotz anplick ny¨mmermer. Also schied dy¨ fraw von den herren mit grossem jamer vnd geschray¨ jn dy¨ ewig verdampnüß. Darvmb, lieber mensch, nicht verschweig dein sünd vor dem pey¨chtiger, das dir nicht geschech als der frawen geschechen ist. Es ist pesser ein y¨eglicher mensch verscham sich hy¨e vor dem briester, dann das er [über der Zeile ergänzt: sich] verschamen müst vor got vnd vor dem himelischen her an dem jungsten tag, so doch aller menschen sündt geoffenbart müssen werden etc.

1.2.1 ›Maria im Turnier‹ Beim Erzählstoff von Maria im Turnier31 lassen sich zwei Fassungen unterscheiden. In der ›Legenda aurea‹ (Maggioni), Kap. 127,95–98, wird von einem Miles quidam berichtet, der sehr tapfer ist und Maria verehrt. Als er zu einem Turnier reitet, kommt er an einem Maria geweihten Kloster vorbei und tritt ein, um eine Messe zu hören. Nach der einen Messe folgen weitere, und er wagt nicht hinauszugehen, um den Gottesdienst nicht zu stören. Als er die Kirche endlich verlässt,

31 Tubach 4925.

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kommen ihm die anderen Turnierritter entgegen und sprechen ihn als Sieger an. Manche Ritter präsentieren sich als seine Gefangenen. Da begreift er, dass Maria für ihn ihm Turnier gekämpft hat, und geht ins Kloster. Bei Caesarius von Heisterbach: ›Dialogus miraculorum‹ VII,38, ist das Mirakel in die Vita des Adligen Walter von Birbech (Bierbeek nahe Löwen) integriert, der sich in späteren Jahren ins Kloster Himmerode (Mutterkloster von Heisterbach) zurückzog und dort ca. 1222 starb.32 Das Mirakel dient hier als Eröffnung der Vita Walters nach dessen genealogischer Einordnung und wird folgendermaßen erzählt: Walter geht mit großem Gefolge zum Turnier. Unterwegs kommen die Ritter an einer Kirche vorbei. Walter ermahnt sein Gefolge, mit ihm eine Messe zu hören, aber die anderen ziehen alle weiter – er allein hört die Messe. Als er aus der Kirche kommt, ist das Turnier schon zu Ende. Er fragt nach dem Sieger und hört seinen eigenen Namen, denn Maria hat für ihn im Turnier gekämpft, während er die Messe hörte. Walter, der den Leuten zunächst nicht glaubt, geht zum Turnierplatz in der Stadt. Dort präsentieren sich seine Gefangenen, und er begreift das Wunder. Der Klostereintritt Walters erfolgt jedoch nicht unmittelbar nach diesem Erlebnis, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt; er ist folglich nicht Teil der Episode. Die erste Fassung des Erzählstoffs ist im ›Passional‹-Marienmirakel 4 als Verserzählung bearbeitet worden. Ein Ritter verehrt Maria sehr. Als er einmal auf dem Weg zum Turnier ist, kommt er an einer Kirche vorbei und tritt ein, um eine Messe zu hören. Als eine Messe vorbei ist, wird am nächsten Altar schon die nächste Messe gelesen. Der fromme Ritter traut sich deshalb nicht, die Kirche zu verlassen. So geht es den ganzen Vormittag lang. Als der Ritter endlich in die Stadt reitet, in der das Turnier stattfinden soll, kommen ihm die Turnierritter entgegen und verkünden, das Turnier sei vorbei, und er habe den Sieg errungen. Der fromme Ritter bestreitet dies zunächst, erkennt aber dann, dass Maria in seiner Gestalt im Turnier gekämpft hat, während er Marienmessen hörte. Der Ritter entschließt sich, ins Kloster zu gehen.

Die nur 90 Verse umfassende Erzählung bietet kaum inhaltliche Abweichungen gegenüber dem lateinischen Bezugstext der ›Legenda aurea‹;33 einzig der schnelle Entschluss des Ritters zum Klostereintritt wird im deutschen Text etwas dramatischer geschildert: der ritter sich do von in brach, / zur werlde nam er urloub, / wand im was ir liebe toub. / er enschuf weder diz noch daz: / als er in den wapenen saz, / sus reit er in daz closter hin; / sin vil gotlicher sin / greif vurbaz an di ritter-

32 Vgl. Catalogue of Romances in the Department of Manuscripts in the British Museum. Bd. II. Hrsg. von H[arry] L[eigh] D[ouglas] Ward. London 1893, S. 662. 33 In der ›Legenda aurea‹ wird von Rittern gesprochen, qui se ab eo captos dicebant (die sagten, sie seien von ihm gefangen worden), im ›Passional‹-Mirakel von Schuldnern (die im waren schuldic gut / nach des turneies recht, V. 62 f.); die Bekanntmachung des Wunders erfolgt im lateinischen Text in indirekter, im deutschen Text teilweise in direkter Rede.

494 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen schaft, / daz er mit aller tugende craft / Marien ritter wolde sin. / des si gelobet di kunigin! (V. 80 ff.). Mit dieser impulsiven Handlung wird die emotionale Seite der Marienverehrung des Ritters betont. Die beiden stoffverwandten deutschen Prosaerzählungen folgen im Gegensatz zum Verstext nicht der ›Legenda aurea‹-Tradition, sondern gehören zur zweiten Fassung des Erzählstoffs.34 Im ›Nürnberger Marienbuch‹ (Nr. 48) wird die klerikale Autorität Caesarius explizit als Quelle genannt: Ez schreibt der maister Cesarius, das zu ainem mal was ain ritter, der hiesz her Walther von Birberg. Die Erzählung ist gegenüber der Caesarius-Version vereinfacht und auf die Fakten fokussiert; Walther hat zwar Maria besunder lieb und handelt mit andaht, aber bei diesen Bezeichnungen handelt es sich um Formeln, die in vielen Mirakeln wiederkehren. Ein individueller Zug wie der in der Verserzählung geschilderte hastige Aufbruch ins Kloster in voller Rüstung wird der Figur nicht verliehen. In der Exempelsammlung Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 ist das Exempel zweimal enthalten (B 516/C 29). Beim Exempel B 516 handelt es sich um die Übersetzung einer Exzerptversion des ›Dialogus miraculorum‹.35 Die zweite Fassung (C 29) ist eine leicht kürzende Bearbeitung von B 516. [Bl. 272rb] Item aliud miraculum de beata virgine. [Bl. 272va] Ein ritter hies her Walther von Birberg. Do er waz in der blve genden jugent weltlicher ritterschafte, in der er manhaft vnd not veste zuo den eren waz, er huo p an von sinen kintlichen tagen, daz er vnser frowen vor ougen hette vnd liep. Er erte su´ mit flissigem dienste zuo allen ziten. Der selbe herre fvo r zuo einer zit zuo eime tvrney´ do nohe by´. Er hette mit jme in siner schar vil ritter. Su´ ritent vnd fvo rent fu´r eine kirche. Er manete su´, daz su´ die messe hortent. Es waz in nit wole zuo muo te, su´ enhettent nit andaht dor zuo vnd sprochent: Wir svment vns zuo lange. Su´ fuo rent alle enweg, aber er bleip aldo. Er hies jme eine messe sprechen von vnser frowen vnd opferte. Do die messe vs kam, er reit alleine nach. Ime bekament vil lu´tes engegen gande vnd sprochent, der turney´ wer zergangen. Er frogete, wer der o beste were. Su´ sprochent: her Walther von Birberg, den hant alle die lu´te fu´r den besten zu o ere vnd [Bl. 272vb] zu lobe. So koment aber ander lu´te vnd vil lu´tes, die sprochent ouch alle sament also. Es nam in wunder, wie es sich also fvo gete oder waz es were. Er kam doch zuo der selben stat gewoffent mit andern rittern vnd fvo r der ritterschefte noch. Er det doch wenig manheite oder grosser eren. Do der turney´ zergangen waz, etliche ritter fvo rent in sin herberge, dar vmb daz er in gnode vnd miltikeit erzou gete. Su´ sprochent, daz su´ von jme in dem tvrney´ gefangen worent vnd in dem ritter spil. Er sprach, es wer nit war, ich enving

34 Weitere deutsche Prosabearbeitungen der zweiten Fassung finden sich im ›Magnet unserer lieben Frau‹ (München, BSB, Cgm 626, Bl. 202rb–202vb) und in Johann Hartliebs ›Dialogus miraculorum‹-Übersetzung: Johann Hartliebs Übersetzung des Dialogus Miraculorum von Caesarius von Heisterbach. Aus der einzigen Londoner Handschrift hrsg. von Karl Drescher (DTM 33). Berlin 1929, S. 61 f. 35 Diese Version ist in London, BL, Add. 18346, Bl. 33rb–va, überliefert, vgl. Studer: Exempla, S. 418. Zum Verhältnis der lateinischen und der deutschen Fassung dieses Exempels vgl. Studer: Exempla, S. 87–93.

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uwer nit. Su´ antwurten: In der worheite, wir wurdent uwer hant slege gewar hu´te vnd o sohent uwer ritterlichen zeichen do vnd hortent uwer stymme du. Er bekande, daz das u beschehen waz von der gnoden vnser lieben frowen.

Das deutsche Prosaexempel folgt sehr genau der lateinischen Caesarius-Exzerptversion. Im Gegensatz zum ›Nürnberger Marienbuch‹ sind hier kaum stereotype Formeln zu finden, die auf den volkssprachigen Bearbeiter zurückgehen, sondern nur Motive, die bereits in der Vorlage angelegt sind, wie etwa der Beginn der Marienverehrung in Walthers Kindheit. Die beiden Prosaerzählungen nehmen in keiner Weise auf die ältere Verserzählung Bezug, sondern bearbeiten eine andere Fassung des gleichen Erzählstoffs. Ob es sich bei dieser Wahl um Zufall handelt, oder ob die Nennung der historischen Person Walthers (die als Wahrheitsgarant verstanden werden konnte) eine Rolle spielte, lässt sich kaum mehr feststellen. Deutlich wird anhand der drei Beispieltexte aber nicht nur, dass ältere Verserzählungen für jüngere Prosaerzählungen meist unbedeutend waren, sondern auch, dass die Verfasser von Prosaerzählungen ganz unterschiedlich mit ihren lateinischen Bezugstexten umgehen konnten. 1.2.2 ›Jesuskind als Geisel‹ Für die deutschen Bearbeitungen des Erzählstoffs vom Jesuskind als Geisel ist die Fassung der ›Legenda aurea‹ (Maggioni), Kap. 127,108–121, als Bezugstext von grundlegender Bedeutung.36 Eine sehr ähnliche Handlungsstruktur wie das ›Legenda aurea‹-Exempel weist die deutsche Verserzählung ›Das Jesuskind als Geisel‹ (›Passional‹-Marienmirakel 5; 132 V.) auf.37 Eine Witwe hat nur einen einzigen Sohn. Als dieser ins Gefängnis geworfen wird, bittet sie Maria, ihn zu befreien. Nachdem sie lange gebeten hat, ohne erhört zu werden, entschließt sie sich, der Marienstatue das Jesuskind vom Schoß zu nehmen und als Geisel bei sich zu Hause aufzubewahren, bis sie ihren Sohn wiederbekommt. Maria lässt sich dadurch erweichen, befreit den Sohn aus dem Gefängnis und verlangt ihr eigenes Kind zurück.

Wie bei ›Maria im Turnier‹ sind in der volkssprachigen Bearbeitung bis auf wenige Amplifikationen38 kaum nennenswerte inhaltliche Abweichungen von der

36 Tubach 1024. Eine weitere lateinische Fassung findet sich in Ps.-Caesarius: ›Libri VIII miraculorum‹ III,82. Eine etwas abweichende Variante, bei der sich der Sohn bereits auf dem Weg zum Galgen befindet, ist im ›Liber exemplorum‹, Nr. 48 und in einer französischen Fassung (›Ci nous dit‹, Nr. 696/697) überliefert. 37 Für eine direkte Bezugnahme auf die ›Legenda aurea‹ spricht neben der Textgestalt auch die ähnliche Abfolge der Erzählungen ›Maria im Turnier‹ – ›Jesuskind als Geisel‹ – ›Gehängter Dieb‹, die in der ›Legenda aurea‹ nur um die vor dem ›Jesuskind als Geisel‹ eingeschobene ›Vision einer himmlischen Prozession‹ abweicht, die im ›Passional‹ fehlt. 38 So werden etwa die Gebete der Mutter um die Befreiung des Sohnes vor dem Kirchengang

496 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen ›Legenda aurea‹ festzustellen. Einzig am Ende der Erzählung findet sich ein Kommentar, der wohl auf den volkssprachigen Bearbeiter zurückgeht: Seht, alsus kan Marie / ir tugent den liuten zeigen, / die sich wellent neigen / und ir mit dienste under sin (V. 128 ff.). Auch die Prosafassung aus dem ›Nürnberger Marienbuch‹ (Nr. 29)39 fußt auf der ›Legenda aurea‹; sie steht dem lateinischen Text noch etwas näher als die Verserzählung, denn auf Amplifikationen wird hier verzichtet. Einen eigenen Akzent setzt der volkssprachige Bearbeiter lediglich bei der Beschreibung des Mariendienstes der Witwe: das multum deuota40 der ›Legenda aurea‹ ist zu der für die Mirakel des ›Marienbuchs‹ typischen wan sy zu ir grosse lieb het vnd andaht geworden. In der Exempelsammlung Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 (B 507) ist dagegen eine sehr eigenständige Fassung des Stoffes überliefert. [268rb] Item aliud miraculum de beata virgine: Qualiter vna mulier spoliauit beatam virginem suo puero in gremio sedente, ut filium suum captiuum liberaret.41 Eine frowe hette nuwent einen svn, der waz frech vnd der hette vigende. Nvo kam es also eines moles, daz [268va] sine vigende gegen jme rittent vnd vingent in, vnd wurffent in in einen turn. Die mvo ter waz leidig vnd trurig vnd kam zuo in vnd wolte ir kint erloe sset han mit silber vnd mit golde vnd mit allem deme, daz su´ hette. Man wolte ir den svn nit geben vmbe kein guo t, men wolte in nvwen verderben. Die mvo ter, die waz leidig vnd besprach alle jre frv´nde. Es enhalf als nit. Der herre, der in gefangen hatte, der waz ein hoher herre, vnd wolte in nvwent verderben. Do aber die mvo ter keinen trost vant an nieman, do hette su´ ettelichen dienest getan vnser lieben frowen, vnd gedahte: Weiß got, nvo ist aller din trost dohin, den du hettest zuo aller der welte. Nvo kere an vnser frov wen, die verlie keinen menschen werlos von ir scheiden. Vnd ging enweg vnd viel fu´r vnser frowen vnd bat su´, daz su´ es dete durch jr trutes kindes willen vnd ir hu´lffe, daz su´ ir kint wider gewu´nne, vnd manete su´ gar verre vnd bat su´ gar genote, vnd treip su´ es gar lange. Ir svo n, der kam nit. Su´ saste vnser [268vb] frowen kertzen vnd frv´mete ir messen vnd gelobete ir zuo vastende alle jre obende o o alle sament zu wasser vnd zu brote, waz su´ gedet. Ir kint kam nit. Vnd do su´ sach, daz es nit enhalf, do sprach su´: Weiß got, frowe sante Maria, nvo han ich nuwen ein geborn kint vorloren, vnd wiltu mir daz niht wider gewy´nnen. Nvo wil ich vorsvo chen, wie wole dir zuo mvo te were, do du din liebes eingebornes42 kint hettest drige tage vorlorn, vnd du es alle die wil suo chtest, vnd es nit kvndest vinden. Sit du nvo wole weist, wie leidig ich bin, vnd mir nit helffen wilt, by´namen, so wil ich dir din kint nemen vnd wil es gehaben also lange, vntze daz du mir myn kint wider gebest. Vnd beyttete, vntz daz nieman in der kirchen waz by´

ausführlicher erzählt (V. 12–31), und nach der Geiselnahme ist eine direkte Rede der Frau zum Jesuskind eingefügt (V. 86–89). 39 Weitere deutsche Prosafassungen: ›Großer Seelentrost‹ (S. 125,19 ff.); ›Magnet unserer lieben Frau‹ (München, BSB, Cgm 626, Bl. 220ra–220vb). 40 Sehr fromm. 41 Ein weiteres Mirakel der heiligen Jungfrau: Wie eine Frau die heilige Jungfrau ihres Sohnes beraubte, der in ihrem Schoß saß, damit sie ihren gefangenen Sohn befreie. 42 Vor eingebornes gestrichen: kint.

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vnser frowen bilde, vnd ging dar vnd brach daz kint von vnser frowen schosse vnd sprach: v o e Weis got, liebe frowe, ist dir nv din kint liep, so lose es, wanne by´namen, din kint wurt [269ra] dir niemer, jch habe denne myn kint e wider. Vnd nam daz kint, vnd want es in ein tvch, vnd leit es in ir kisten. Vnser frowe, do su´ ir kint hette vorlorn, vnd in der ersten naht darnach, do kam vnser frowe in den tvrn zuo dem gefangenen vnd sprach: Sloffestu? Er sprach: Wer redet do zuo mir? Su´ sprach: Daz bin jch, Maria, vnd het dich din mvo ter wider mich gewunnen mit vrluge. Ein bilde, daz stvnt in dem mv´nster jn my´ner glichnisse, vnd sas deme ein kind in der schos in my´nes kindes glichnisse, do bat su´ mich lange vmbe dich e o vnd ich enwolte su´ nit horen, vnd det ich dz niht one sache. So het su´ zu gefarn vnd het mir myn kint genomen abe miner schoße, vnd het daz heim getragen vnd het geleit in ire kisten. Do vnser frowe dis jme geseite, do brach su´ dem jvngelinge sine ringe von sinen beinen vnd nam in by´ der hant vnd fuo rte in heim fv´r sin hus vnd sprach: Nvo heiß diner mvo ter, daz su´ mir myn kint wider [269rb] gebe! Er kam heim. Sin mvo ter die waz jnnekliche fro vnd frogete in, wie es jme ergangen wer, vnd wer jme dennan hette geholffen. Er sprach: Daz det vnser liebe frowe, vnd seite do ir, wie es gefaren waz, vnd sprach: Liebe mvo ter, nvo bring ir ir kint wider. Su´ nam daz kindelin vß ir kisten vnd truo g es wider, vnd saste es dem bilde wider vff sine schoß vnd sprach do: Liebe mvo ter, nvo enzv´rne es niht, mich enruo chete, waz ich hette gedon, daz mir myn kint were wider worden. Nvo lieben kinder, waz git vns vnser frowe hie mitte zuo verstonde? Su´ vnd ir kint gedatent nie kein ding ane sache. Su´ hette wol der frowen svo n schiere erloe set vs dem turne, wanne daz su´ vns wolte geben zuo verstonde jr helffe. Wer wenent ir, der dise frov we si, oder ir eingeboren kint? Die cristenheit, daz ist diese frowe. Ein jegeliche cristensele ist sin eingeborn kint. Wenent ir, daz uwer kint sint uwer eingeborne kint? [269va] Su´ sint uwer vigende. Es ist manig tusent mensche in der helle, die nie drin worent komen worent ir kint. Uwer sele, die ist uwer eingeborn kint. So ir die vorlierent vnd in die sv´nde gefallent, vnd su´ die tu´ffel in die tv´rne gewerffent vnd su´ in jre bant gelegent, o so su´llent ir komen fu´r vnser frowen, vnd su´llent su´ bitten, daz su´ es tu durch jres eingebornen kindes willen, daz su´ u´ch helffe, daz ir uwer eingebornen kint wider gewynnent, uwer sele vs des tu´ffels banden vnd vsser sinen stricken. Vnd su´llent ir geloben buo sse vnd beservnge. Wil su´ es denne nit duo n, so sont ir sprechen: Mvo ter, von wenne wenent ir diese ere haben? Wenent ir su´ haben von u´ch selber? Ir hant su´ von mir vnd von allen sv´ndern, vnd were der sv´nder nit worden, jr werent nie worden muo ter des almehtigen gottes. Daran o o su´llent ir gedencken vnd su´llent mir helffen gegen uwerme kinde. So dut su´ es vnd mvs es o o [269vb] tvn, vnd spricht su´ denne zu jrme kinde: O herre vnd lieber svn, erbarme dich u´ber diese armen sv´nder. So sprichet er: Muoter, wes bittestu mich u´ber den menschen, der mir nie ere gebot, er bu´tte mir e zehen vnere dergegen? Ich mag es gar kvmme getvo n, daz ich mich u´ber in erbarme. So sprichet su´: Herre vnd svn, jch mag es nit enbern, jch mvosse fu´r den sv´nder bitten, wan du solt wole gedencken, daz ich nie dine mvoter were worden, wanne dem sv´nder zuo liebe. Vil liebes kint, daran soltu gedencken vnd solt jme genedig sin durch mich. So sprichet vnser herre: Vil liebe mvoter, du moe htest mich bitten vmbe myn rich vnd vmb allen minen gewalt, ich enmag dir nv´tz verzihen. Ich mvos dich eren, wanne ich han selber gebotten, daz man vatter vnd mvoter eren sol, dovon mvos ich dich ouch eren. Dovon so diene men gerne vnser frowen, wanne su´ leit es jemer ane, das der mensche bekert wurt vor sime ende.

Auffällig sind gegenüber der Verserzählung und der Prosafassung des ›Marienbuchs‹ die auserzählten Details dieser Fassung, die vor allem dazu dienen, die Geschichte plausibler und nachvollziehbarer zu machen. So wird eine Begründung gegeben, warum der Sohn gefangen wird (er war übermütig und hatte des-

498 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen halb Feinde). Die Frau versucht nach der Gefangennahme ihres Sohnes zunächst, seine Feinde mit Silber und Gold zu bestechen, und sie bittet ihre Freunde um Hilfe. Erst als sie in der Welt keine Hilfe erfahren hat, wendet sie sich an Maria, die sie zunächst mit Gebeten, dann mit Stiftungen von Kerzen und Messen sowie mit Fasten zu erweichen versucht. Als dies alles nichts hilft, greift sie zum radikalen Mittel der Geiselnahme des Jesuskindes. Dabei wird der Gedankengang der verzweifelten Mutter psychologisch geschickt nachgezeichnet. Die Analogie zwischen dem Verlust ihres Sohnes und dem Verlust Christi zwischen Karfreitag und Ostern wird betont und damit an Marias mütterliche Gefühle appelliert. Angesichts dieses hingebungsvollen Mariendienstes kommt allerdings die Frage auf, warum Maria die Frau so lange nicht erhört. Um etwaigen Zweifeln am Verhalten Marias vorzubeugen, lässt der Erzähler Maria zu dem Sohn sagen, sie habe nicht ohne Grund so lange gewartet (vnd det ich dz niht one sache) – der Erzählstoff gibt jedoch keinen plausiblen Grund her, warum Maria die Frau nicht hätte erhören sollen. Diese Leerstelle wird in dieser Prosaerzählung durch eine allegorisierende Auslegung geschlossen. Möglicherweise handelt es sich dabei um ein Relikt aus einer Predigt, in die das Exempel ursprünglich integriert war. Die Begründung lautet, Maria habe so lange gewartet, damit das Wunder offenbar würde und die Menschen dadurch belehrt werden könnten. Die Figuren der Erzählung werden dann folgendermaßen ausgelegt: Die Mutter ist die Christenheit bzw. jeder einzelne Christ, der Sohn ist die Seele des Christen; die Feinde und das Gefängnis sind die Teufel und die Sünden, die die Christenseele bedrohen. Gegen diese Bedrohungen kann Maria helfen, die, an ihre Mutterschaft erinnert, bei Christus für den Sünder bittet. Christus kann ihr aufgrund des vierten Gebots keine Bitte abschlagen und zeigt sich barmherzig. Die Auslegung mag für einen modernen Leser eher unbefriedigend erscheinen, ist aber ungeachtet ihrer inhaltlichen Qualität vor allem deshalb interessant, weil sie eine Reflexion über den Erzählstoff sichtbar macht, wie sie in der Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 an mehreren Stellen aufscheint. Im Gegensatz zum ›Nürnberger Marienbuch‹ wird hier der Erzählstoff nicht unhinterfragt und kommentarlos wiedergegeben, sondern durchaus kritisch beleuchtet und entsprechend umgestaltet. Die Prosafassung des Erzählstoffs, die in der Handschrift Nürnberg, GNM, Hs. 4028 (Nr. 25) zu finden ist, setzt noch einmal andere Akzente. [112ra] Von ainer witiben hoe r etc. Es was zü ainen zey¨ten ein erberge fraw, ain witib, die het vnser frawen gar lieb vnd dient jr gar fleissigklich. Vnd die selb witib hett ny¨emant, den ain ainigen sun, den het sy¨ gar lieb vnd hett auch nicht andern trost. Es geschach das, das der selb jr sun aus raitt jn fromde land. Vnd er ward gefangen von seinen veinten, vnd dy¨ mordöten jn gar ser vmb hab vnd wolten jn beschätzen. Des ward dy¨ müter gewar, das jr sun geuangen was. [112rb] Do erschrack sy¨ von gantzem jrem hertzen vnd ward dar umb vast anrüffen die junckfrauen

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Mariam vnd klagt jr jr hertzenlaid vnd pit sy, das sy¨ jr ir kindt wider schicket. Vnd grosser gepet tett sy vil vnd traib es gar lange zeit. Sy¨ ward aber nicht gewert. Vnd die witib erkant, das jr gebe nicht halff, da gie sy¨ gen kirchen, da sach sy¨ vnser frawen pild stan auf dem altar. Do gie sy¨ für vnd sprach, sam sy¨ etwas zornig wär: Liebe kungin Maria, wes zeichstu mich? Wildu nicht mein kindt herwider schicken? Nun main ich doch, jch hab dir etwas gedient vnd hab dich offt geert, das du mir pillich mein kindt herwider schickest. Nu, sey¨t du aber sein y¨e nicht wild tuo n, so müstu doch deines kinds an sein! Vnd die wibtib [sic] gie dar vnd nam der kungin Marie jr kindt ab dem arm vnd trüg es hin haim vnd want es jn schone tüchlen, dy¨ schönsten, als sy¨s gehaben möht, vnd legt es jn ain schrein vnd schloß e e vast zu vnd sprach: La sechen, Maria, wie sanft es dir tu, deines kinds müst enberen. Nu wirdt dir zwar dein kindt ny¨mmer wider, du gebst mir dann das mein. Vnd als lang [112va] ich meins kindts nicht han, als lang müst du des deinen auch enperen. Nun la sechen, wess streit für gee! Do die küngin Maria der witiben ernst erkant, do chom sy zü der witiben sün dort hin, da er gefangen was, vnd löst jm alle seine pant vnd macht jn ledig vnd löß von allen seinen veinten vnd sprach zü jm: Nun gee hin haim zü deiner müter vnd sprach, jch hab dich ir gesant, das sy¨ mir mein kindt auch wider geb! Der jungling chom wider haim zü seiner müter vnd sagt jr, wie die kungin Maria jn erlöst hiet vnd sy¨ hiet gesprochen: Hay¨s mir dein müter mein kindt auch wider geben. Do ward die witib erfräwd von gantzem jrem hertzen vnd nam her das kindt vnser frawen mit grosser andacht vnd true g es der kungin Marie wider jn die kirchen vnd gab jr daz wider an jren arm vnd danckh jren genaden vnd hilff, dy¨ sy jr erzaigt het an jrem sun. Vnd dient jr darnach fley¨ssigklicher dan sy¨ vor het gethan. Darumb ain y¨edlicher mensch, der jn angsten vnd jn noe tten sey¨ oder jn anfechtigung oder jn väncknüß, der dien der junckfraw [112vb] Marie, wan sy¨ hat wol den gewalt, das sy ainen y¨eglichen menschen wol gehelffen mag.

Diese Ausformung ist zwar nicht so eigenständig wie diejenige der Berliner Exempelhandschrift Mgf 863, weist aber doch gegenüber der ›Legenda aurea‹-Version einige Amplifikationen auf. Die emotionale Dimension des Geschehens steht im Vordergrund, indem das Erschrecken, das Leid, der Zorn der Mutter betont werden. Auch in dieser Fassung motiviert der Erzähler das Zögern Marias, wenn auch nicht in einem so aufwendigen diskursiven Zusatz wie in der Berliner Handschrift; ein kurzer Erzählerkommentar reicht aus: Do die küngin Maria der witiben ernst erkant. Die Zeit der Nichterhörung erscheint somit als Zeit der Prüfung, ob es der Witwe tatsächlich ernst ist mit ihrem Vertrauen zu Maria; die Verzweiflungstat der Geiselnahme fungiert als Bestätigung des grenzenlosen Vertrauens. Eine eigene Akzentuierung weist die Nürnberger Handschrift auch am Ende der Erzählung auf: Einerseits wird – im Gegensatz zu allen anderen bisher erwähnten Fassungen – auf das weitere Leben der Protagonistin eingegangen, die aus dem Mirakel gelernt hat und Maria jetzt noch mehr verehrt als vorher; andererseits wird – ähnlich wie in der Verserzählung – ein Kommentar an den Schluss gestellt, in dem der Erzähler sich an die Rezipienten wendet und für sie eine Lehre aus dem Erzählten zieht. Während die Lehre in der Verserzählung sehr allgemein und vage bleibt, wird sie hier auf Menschen in Notsituationen hin spezifiziert. An den verschiedenen deutschen Versionen des Erzählstoffs vom Jesuskind als Geisel zeigen sich die je eigenen Profile der Prosaexempelsammlungen

500 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen besonders deutlich. Während das ›Nürnberger Marienbuch‹ auf jede Art von Kommentar zur Narration verzichtet, wird in den beiden anderen Sammlungen die Handlung problematisiert (d.h. das Zögern Marias als erklärungsbedürftig erkannt und entsprechend motiviert) und durch einen diskursiven Zusatz reflektiert, was wiederum in je unterschiedlicher Weise geschieht. 1.2.3 ›Der Teufel als Kämmerer‹ Die ›Legenda aurea‹ (Maggioni), Kap. 50,125–149,43 bietet auch beim Erzählstoff vom Teufel, der in menschlicher Gestalt als Kämmerer bei einem Ritter dient, den Bezugstext für die volkssprachigen Bearbeitungen. Eine deutsche Versfassung ist im ›Passional‹-Mirakel 14, ›Der Teufel als Kämmerer‹ (234 V.), überliefert. Ein armer Ritter wird zum Raubritter, um seine prächtige Hofhaltung zu finanzieren. Trotz seiner verwerflichen Lebensweise betet er seit seiner Jugend jeden Tag ein Ave Maria und lässt sich durch nichts davon abbringen. Eines Tages geht ein Mönch an der Burg vorbei und wird von den Leuten des Ritters überfallen. Er bittet sie, ihn zu ihrem Herrn zu bringen. In der Burg angekommen, bittet er den Ritter, sein ganzes Hausgesinde zusammenzurufen, damit er vor ihnen predigen könne. Der Ritter willigt ein und ruft sein Gesinde. Der von Gott inspirierte Mönch sieht, dass einer fehlt. Es ist der Kämmerer, der sich erst versteckt hat, dann aber doch vor den Mönch geführt wird. Als der Mönch den Kämmerer beschwört, seine Identität zu offenbaren, erbleicht dieser und wird von Krämpfen geschüttelt, bis er gestehen muss, er sei der Teufel in Menschengestalt und habe dem Ritter 14 Jahre lang nachgestellt, um ihn zu erwürgen und in die Hölle zu führen, sobald er an einem Tag sein Ave-Gebet versäume. Der Mönch jagt den Teufel in die Hölle, der erschrockene Ritter fällt dem Mönch zu Füßen, bittet um Vergebung und führt fortan ein tugendhaftes Leben.

Die Handlungsstruktur stimmt bis auf die für volkssprachige Versbearbeitungen üblichen Amplifikationen genau mit dem lateinischen Bezugstext überein. Zu Beginn der Geschichte lässt sich allerdings in der deutschen Verserzählung eine konzeptionelle Umakzentuierung feststellen. Während der Protagonist in der ›Legenda aurea‹ lediglich als Raubritter bezeichnet wird, der auf unbarmherzige Weise jeden Reisenden bestiehlt, wird im ›Passional‹ präzisiert, dass der Protagonist wegen seiner Armut zum Raubritter geworden sei:44 als noch manic arm

43 Eng verwandt mit der Fassung der ›Legenda aurea‹ ist das Exempel Nr. III,78 der ›Libri VIII miraculorum‹ des Ps.-Caesarius. Eine ähnliche Fassung findet sich auch im ›Alphabetum narrationum‹ (An Alphabet of Tales. An English 15th century translation of the Alphabetum Narrationum of Etienne de Besanc¸on. Hrsg. von Mary Macleod Banks. 2 Bde. (Original Series. Early English Text Society 126–127). London 1904, hier Bd. I, Nr. 71). Weitere deutsche Prosafassungen: ›Großer Seelentrost‹, S. 121,6 ff.; ›Magnet unserer lieben Frau‹, München, BSB, Cgm 626, Bl. 103ra–104ra. 44 Die entsprechende Stelle in der ›Legenda aurea‹ lautet: Quidam miles quoddam in uia communi castrum habebat et omnes transeuntes sine miseratione aliqua spoliabat (Ein Ritter hatte

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ritter pflit, / uf dem groz gesinde lit, / der nicht groze gulde hat / und doch nicht gerne abe lat, / er enwolle grozlichen leben / und stete in dem vollen sweben; / des muz er dicke reisen / uf witewen und uf weisen, / den er ist vil bitter. / alsus was der ritter / zur werlde gar vermezzen (V. 13 ff.). Dadurch wird der Protagonist in ein positiveres Licht gerückt, denn er raubt nicht aus reiner Bosheit, sondern ist durch eine finanzielle Notlage gezwungen zu rauben, wenn er seinen sozialen Status aufrechterhalten will. Natürlich ist diese vermezzen[heit] zur werlde im Kontext der geistlichen Erzählung negativ konnotiert und kann nicht als valable Entschuldigung für die Ausbeutung von Witwen und Waisen gelten. Dennoch wird der Ritter durch sein für die Rezipienten nachvollziehbares inneres Dilemma zur Identifikationsfigur stilisiert. Während im lateinischen Text schematisch der Gegensatz ›böser Mensch – Wirkung des Ave‹ ausgespielt wird, ist die deutsche Verserzählung auf den emotionalen Nachvollzug des Geschehens ausgerichtet. Die stoffverwandte Prosaerzählung des ›Nürnberger Marienbuchs‹ (Nr. 16) folgt dem lateinischen Bezugstext erwartungsgemäß enger als die Verserzählung. Am Schluss weist sie allerdings geringfügige Kürzungen gegenüber dem ›Legenda aurea‹-Exempel auf: Beim Geständnis des Teufels fehlt die Erklärung, dass er den Ritter am ersten Tag ohne Ave sogleich erwürgt hätte; der Dank des geläuterten Ritters und sein Abschied von dem heiligen Mann sind ausgelassen. Diese Kürzungen entsprechen der Tendenz der ›Marienbuch‹-Mirakel, möglichst knapp und handlungsorientiert zu erzählen. Eine weitere Abweichung der deutschen Prosafassung ist in erzähltechnischer Hinsicht interessant. Nach der Beschwörung durch den heiligen Mann wird das Geständnis des Kämmerers/ Teufels, der bis dahin nur als camerarius vorgestellt wurde, mit Cui ille respondit45 eingeleitet. Erst in der direkten Rede wird die wahre Identität der Figur offenbar – der Erzähler der lateinischen Fassung arbeitet also mit einem Spannungsmoment, das durch das seltsame Benehmen des herbeigeführten Kämmerers konstruiert und im Geständnis aufgelöst wird. Der Verfasser der deutschen Prosaerzählung führt dessen Geständnis mit Do sprach der teufel ein. Vielleicht handelt es sich dabei um ein Versehen, aber die Stelle macht doch deutlich, dass es dem Bearbeiter nicht um erzähltechnische Raffinesse ging, sondern um die Fakten; da er (und aufgrund der Bekanntheit des Erzählstoffs wohl auch die meisten Rezipienten) schon wusste, dass es sich bei der Figur um den Teufel handelte, konnte er es auch sagen, ohne damit die Wirkung der Erzählung zu gefährden.

eine Burg, die an einer öffentlichen Straße lag, und alle, die vorbeikamen, raubte er ohne jedes Erbarmen aus). 45 Jener antwortete ihm.

502 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Die Fassung der Exempelhandschrift Berlin, Staatsbibl., Mgf 863 (C 25) weist einige Amplifikationen gegenüber der ›Legenda aurea‹-Version auf. [336va] Es waz ein ritter, vnd was der ein ro´iber vnd gar ein u´beltetiger man, vnd wer fu´r sine burg fuo r, der wart bero´bet. Eines moles, do fuo r ein geistlicher46 man, ein priester, fu´r sine burg. Do lieffent des herren knehte her abe vnd noment jme alles, daz er hatte. Do sprach der geistliche man: A lieben gesellen, so wil ich u´ch bitten, daz ir mich zuo jme lassent. Ich erbitte in lihte, daz [336vb] er mir es heisset wider geben, daz ir mir genomen hant. o e Su´ sprochent, su´ wolten in gerne zu jrme herren furen. Wer es, daz ir herre jme es hiesse wider geben, so woltent su´ es jme gerne wider geben. Do fuo rtent su´ den geistlichen man fu´r den herren. Do bat er den herren, daz er jme hiesse wider geben, daz jme do genomen waz. Es enmoe hte nit sin, der herre wolte jme nv´tz nit wider geben. Wie u´beltetig nvo der herre waz, so hatte er doch ein ding an jme, daz er niemer morgen vf gestvnt, er segente sich mit dem Aue Maria. Nvo do dem geistlichen man sin ding nit moe hte wider werden, do sprach er zuo dem herren: Lieber herre, woltent irs nvo gerne von mir hoe ren, ich wolte u´ch eine sache sagen, du ir jemer deste seliger werent. Do sprach der ritter, daz wolte er gerne hoe ren. Der geistliche man der sprach: So heissent alles uwer gesinde her komen, daz su´ es alle hoe rent. Daz geschach, dem gesinde wart allem gerue ffet. Do sprach der geistliche man: Herre, uwer gesinde ist nit alles hie. Su´ luo getent vmb vnd vmb, do brast des kellers. Do man suo hte den keller, do hette er sich verborgen. Man brohte den keller ouch dar. Do su´ alle zesamen komen, do [337ra] sprach der geistliche man zuo dem keller: Ich beswere dich by´ der kv´nigin sante Maria, daz du hie vor dime herren sagest vnd vor allen den, die hie sint, waz mannes du sist. Do sprach der keller: Owe, waz woltestu hu´te har? Do sprach aber der geistliche man: Ich beswer dich by dem vatter vnd by´ dem sv´ne vnd by dem heilgen geiste, daz du sagest, wer du sist! Do sprach der keller: Ich bins, der tu´ffel. Do sprach der geistliche man: In wellen dingen bistu danne hie gewesen? Do sprach der tu´ffel: Ich han manig jor mines herren keller gewesen in der wise. Min herre der het eine gewonheit an jme gehebet alle zit, daz er nie gelies keinen tag, wanne er des morgens vf stvnt, daz er des niemer tag gefelete, er segente sich mit dem Aue Maria. Vnd welles tages er daz verfelet hette, ich hette jme den hals abe gebrochen. Do der ritter daz erhorte vnd sin gesinde, do erschrockent su´ alle sament vnd wurdent also erschrocken, daz su´ nit enwustent, waz su´ dotent, vnd bihtetent also alle sant dem geistlichen man vnd wurdent alle selige lu´te. Do gebot der geistliche man dem tu´ffel, daz er wider in sine helle fue re47.

Eine Eigenheit dieser Ausformung ist die Begründung des beraubten Klerikers, warum er zum Ritter geführt werden möchte: Während er in den anderen Ausformungen ankündigt, mit dem Herrn sprechen zu wollen, bittet er hier darum, seine gestohlenen Sachen zurückzubekommen. Erst nach der Weigerung des bösen Ritters lässt der Kleriker das Gesinde zusammenrufen, um ihnen etwas Nützliches zu erzählen. Die Bitte um Rückgabe der gestohlenen Sachen ist handlungslogisch gesehen ein blindes Motiv, entspricht aber der in der ganzen Sammlung zu beobachtenden Tendenz, die Erzählungen durch die Erwähnung von

46 Korrigiert aus geistl. 47 Korrigiert aus mvoste.

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Details oder alltäglichen Dingen möglichst realitätsnah und plausibel zu gestalten. Im Gegensatz zur Ausformung des ›Marienbuchs‹ wird hier mehr Gewicht auf den Spannungsbogen gelegt: Der geistliche Mann muss zweimal nachfragen, bevor der Kämmerer seine wahre Identität bekennt. Die ausführliche Schilderung der Reaktion des Ritters und seiner Leute unterstreicht das Unerwartete der Enthüllung zusätzlich. Die Ausformung der Exempelsammlung Nürnberg, GNM, Hs. 4028, stellt ebenfalls die Reaktion des Ritters auf die Enthüllung in den Vordergrund. [118vb] Von ainem ritter sagts. Es was zu ainen zeiten ain ritter, der sazz pey¨ ainem gemainen weg, da das volck aller maist hin vnd her zoch. Da selben raubt er vnd nam jn, was sy¨ hetten, vnd was gar ein pöser man. Da fügt es sich, das ein prediger dar chom. Da lieffen die pösen rauber dar vnd wolten jn auch rauben. Do sprach der prediger: Des thue t nicht! Last mich jn die pürig, jch will das gotz wort predigen. Vnd redt den rauberen als güte wort vor, das sy¨ jn jn die purig liessen. Do er hin ein chom, do sprach er zü dem ritter: Haist alles ewr haußgesind her chömen, jch will jn das gotz wort sagen. Der ritter hiess alls sein gesind her chömen, alls es got wolt. Do sprach der prediger: Sey¨t jr all hie das haußgesind? Sy¨ sprachen: Ja. Der prediger sprach: Jr sey¨t noch nicht gar hy¨e, jr müsst all vor mir sein. Das gesind sach hin vnd her vnd warten, wer noch nit hie wär. Da funden sy¨ des chamern nicht. Man müsst jn y¨e pringen. Vnd do der kameren de[n]48 prediger ansach, do verchert sich sein gesicht vnd kert das weis jn den augen her für vnd verkert sein antlw ¨ tz vnd ward gar grey¨lich sechen, das der herre vnd das gesind allez [119ra] erschracken gar ser von der gestalt, dy¨ der kamerer hett. Do sprach der prediger: Jch pewt dir pey¨ dem almächtigen got, das du mir sagst, wer du seyst! Do sprach der kamerer: Jch bins, der tewfel. Der hey¨lig prediger sprach: Was tüst du hy¨e pey¨ disem ritter? Der teufel sprach: Mein herre der Luciper hat mich her zü jm gesandt, vnd pin vierzechen jar pey¨ jm gewesen vnd solt jm alle tag den hals haben ab prochen. Do sprach er alle tag ain Aue Maria, vnd wenn er das gesprach, so macht ich jm nichts abgewinnen. Do das erhört der ritter, da viel er dem prediger zü füssen vnd pat jn, das er got fur jn pät, vnd ward jm peichtig vnd pessert sein leben vnd pracht es zü ainem güten end. Darumb merckh ein y¨edlich mensch: Wer sicher well sein vor dem pösen geist, der er die küngin Maria mit dem grüß, den jr der engel sand Gabriel pracht. Sy¨ behüt jn furwar altzeit vor sunden vnd vor weltlichen schanden. Amen.

Im Gegensatz zur Verserzählung wird hier gerade die Bosheit des Raubritters betont, die nicht einmal – wie in der ›Legenda aurea‹ und in den anderen deutschen Prosafassungen – durch den Verweis auf seinen Mariendienst abgeschwächt wird, denn das tägliche Ave-Sprechen wird erst in der Rede des Teufels erwähnt. Doch der böse Ritter wird durch den effektvoll beschriebenen Auftritt des Teufels erweicht: Er erschrickt nicht erst nach dem Geständnis des Teufels, sondern bereits bei dessen furchterregendem Anblick. Die Wandlung des Ritters von einem bösen Räuber zu einem frommen Menschen steht im Zentrum dieser

48 Handschrift: der

504 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Ausformung, die bezeichnenderweise mit der Buße des Ritters endet – vom Verschwinden des Teufels oder vom Abschied des Predigers wird nichts erzählt. In der abschließenden Lehre wird der Nutzen des Ave-Sprechens betont. Anhand der hier behandelten stoffverwandten Ausformungen wird deutlich, dass die verschiedenen Exempelsammlungen je eigene Akzente setzen. In den meisten Fällen übte dabei die ältere Verserzählung keinen erkennbaren Einfluss auf die jüngeren Prosaerzählungen aus. Die drei Prosaexempelsammlungen lassen verschiedene erzähltechnische Tendenzen erkennen, die sich von der Erzählweise der stoffverwandten älteren Verserzählungen unterscheiden, etwa die Konzentration auf die Fakten unter Aussparung besonders der Figuren-Innenperspektive, die Bemühung um eine realitätsnahe Darstellung durch Erwähnung von handlungslogisch irrelevanten Details und eine stärker ausgeprägte didaktische Intention. Dabei handelt es sich allerdings um Tendenzen, die im 14. und 15. Jahrhundert für verschiedene Bereiche der Literatur typisch sind und sich teilweise auch in jüngeren geistlichen Verserzählungen beobachten lassen. Die Unterschiede in der Erzähltechnik zwischen Vers- und Prosaerzählungen sind daher wohl in größerem Maß dem literarischen Erwartungshorizont der jeweiligen Entstehungszeit und des jeweiligen Entstehungskontextes geschuldet als dem Wechsel der Form. Die Form ist jedoch aus literatursystematischer Perspektive wichtig: Im 15. Jahrhundert hatte die Prosa bereits eine so große Bedeutung erlangt, dass die geistlichen Prosaerzählungen sowohl von der Form als auch von der Erzähltechnik her den aktuellen literarischen Erwartungen besser entsprachen als Verserzählungen, die in einer älteren ästhetischen Tradition standen.

1.3 Prosaauflösungen geistlicher Verserzählungen Die Tatsache, dass geistliche Prosaerzählungen meist nicht auf ältere Verserzählungen Bezug nehmen, dürfte nicht nur in deren ›altmodischer‹ Erzählweise begründet gewesen sein, sondern auch darin, dass bei kurzen Erzählungen – im Gegensatz zu anderen Texttypen wie beispielsweise dem Roman – die Übersetzung eines leichter greifbaren, bereits in Prosa verfassten lateinischen Exempels für die meisten Verfasser weniger Aufwand bedeutete als die Überführung eines volkssprachigen Verstextes in Prosa.49 Auch hier gibt es ein paar Gegenbeispiele,

49 Längere Verserzählungen, wie Kunz Kisteners ›Jakobsbrüder‹, wurden eher in Prosa aufgelöst, wahrscheinlich, weil die Stoffe in lateinischen Sammlungen nicht in dieser Form oder dieser Ausführlichkeit vorhanden waren. Von den ›Jakobsbrüdern‹ sind zwei Prosafassungen bekannt (Nürnberg, GNM, Hs. 16567, 113r–129r; Berlin, Staatsbibl., Mgq 189, 195r–204r). Zum

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etwa die Prosaauflösung von Herrands von Wildonie ›Nacktem Kaiser‹50 und die Prosaauflösung der Verserzählung ›Engel und Waldbruder‹, die im Folgenden vorgestellt wird. 1.3.1 Die Verserzählung ›Engel und Waldbruder‹ Die Verserzählung ›Engel und Waldbruder‹ (498 V., 14./15. Jahrhundert)51 behandelt die Frage nach der Gerechtigkeit des Wirkens Gottes in der Welt. Bruder Heinrich führt 50 Jahre lang ein vorbildliches Eremitendasein im Wald, ernährt sich nur von Wurzeln und wildem Obst und bittet um den Anblick Gottes vor seinem Tod. Mit dieser unangemessenen Bitte erzürnt er Gott jedoch. Ein Engel wird in Räubergestalt zum Waldbruder gesandt, schlägt die Tür der Klause ein, legt Feuer und zwingt den Waldbruder, ihm zu folgen. Die beiden ziehen graue Kutten an, die der Engel zwei getöteten Mönchen abgenommen haben will. Nach einer Tagesreise kommen sie zu einer Burg, wo sie gut bewirtet werden. Am nächsten Morgen wirft der Engel den dreijährigen Sohn des Hausherrn in einen Kessel mit heißem Wasser. Heinrich und der Engel fliehen und kommen am Abend in eine Stadt, wo sie von einem Bürger gut bewirtet werden. Nach dem Essen stiehlt der Engel ein goldenes Trinkgefäß. Nach einer weiteren Tagesreise kommen Heinrich und der Engel in eine andere Stadt, wo sie im prächtigen Haus eines reichen, aber geizigen Bürgers schlecht bewirtet werden. Zum Dank schenkt der Engel dem Bürger am nächsten Morgen das entwendete Trinkgefäß. Am Abend des vierten Tages werden Heinrich und der Engel in einer anderen Stadt von einem alten Kaufmann beherbergt, der eine fromme junge Frau hat. Der Schreiber des Kaufmanns, ein junger Geck, kümmert sich um die Gäste. Nach dem Essen erzählt der Engel von geistlichen Dingen. Am nächsten Morgen führt der Schreiber die Gäste wieder auf ihren Weg zurück, doch unterwegs stößt der Engel ihn von einer hohen Brücke ins Wasser. Nachdem der Engel und Heinrich geflohen sind, ordnet der Engel eine Rast an und offenbart sich Heinrich als Bote Gottes. Heinrich will dies wegen der zahlreichen scheinbaren Missetaten des Engels zunächst nicht glauben, doch der Engel erklärt nun die Beweggründe seiner Taten: Der erste Wirt und seine Frau vernachlässigten aus übermäßiger Liebe zu ihrem Sohn den Gottesdienst; das goldene Trinkgefäß war das einzige unrechte Gut des zweiten Wirts; der dritte Wirt ist aufgrund seines unrechten Gutes und seiner Hoffart sowieso verdammt, auf den einen Becher kommt es also nicht mehr an;

Text vgl. Kap. II.4. Bei der Zusammenstellung größerer Sammlungen wie etwa der Legendensammlung ›Der Heiligen Leben‹ wurden neben lateinischen Vorlagen auch einzelne ältere Verserzählungen in Prosa aufgelöst: Legenden aus dem ›Passional‹, Hartmanns von Aue ›Gregorius‹ und Konrads von Fußesbrunnen ›Kindheit Jesu‹. 50 Vgl. Kap. V.1.3. 51 Vgl. Erich Wimmer: Engel und Waldbruder. In: 2VL 2 (1980), Sp. 525–528 und 2VL 11 (2004), Sp. 407 f; Fritz Peter Knapp: Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439. 1. Halbbd.: Die Literatur in der Zeit der frühen Habsburger bis zum Tod Albrecht II. 1358. Graz 1999, S. 436–439; Luisa Rubini Messerli: Engel und Waldbruder. Eine Theodizee-Legende. Daphnis 40 (2011), S. 165–181. Ausgabe: Schönbach: Engel und Waldbruder. Ich zitiere nach der unter der normalisierten Version stehenden handschriftengetreuen Transkription bei Schönbach, wobei ich er-Kürzungen und Nasalstriche auflöse. Die Verszahlen beziehen sich auf die normalisierte Version.

506 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen der Schreiber wollte die Frau des vierten Wirts zum Ehebruch verführen. Nach dieser Aufklärung erscheint der Engel dem Waldbruder in seiner wahren Gestalt und mahnt ihn, nicht um den Anblick Gottes, sondern um das ewige Leben zu bitten, dann werde Gott sich ihm in drei Jahren zeigen. Der Waldbruder fällt dem Engel zu Füßen und schläft ein. Wunderbarerweise findet er sich beim Erwachen in seiner Klause wieder, die nicht verbrannt ist. Er dient Gott noch drei Jahre lang, bis er selig stirbt.

Der Blick auf den literarischen Referenzrahmen zeigt, dass der Erzählstoff weit verbreitet,52 aber kein direkter Bezugstext für die deutsche Verserzählung auszumachen ist. Am nächsten steht ihr die Fassung Jakobs von Vitry (Crane 109). Die vier auf Tagereisen verteilten Stationen des Einsiedlers sind bei Jakob ähnlich: Dem ersten Wirt wird ein Becher gestohlen, der ihn von Gott ablenkt; dem zweiten, schlechten Wirt wird der Becher geschenkt; der Diener (famulus) des dritten Wirtes wird von der Brücke gestoßen, weil er den Wirt ermorden wollte; der Engel erwürgt den Sohn des vierten Wirtes, weil dieser nach der Geburt des Kindes keine Almosen mehr gegeben hatte. Die Rahmenhandlung weicht allerdings deutlich ab, denn bei Jakob zweifelt der Einsiedler an Gottes Gerechtigkeit, und der Engel offenbart dem Einsiedler seine Identität von Beginn an. Mit dem Motiv der geistlichen Superbia, die die Rahmenhandlung von ›Engel und Waldbruder‹ bestimmt, ist auch die Theodizee-Erzählung in der Handschrift Paris, BNF, Nouveau fonds lat. 14958/Klapper: Erzählungen, Nr. 211 verknüpft:53 Der Protagonist, ein Einsiedler, hat eine Vision, die ihn an der Gerechtigkeit Gottes zweifeln lässt. Er sieht, wie ein anderer Einsiedler, der stets ein gutes Leben geführt hat, einem bösen Räuber die Beichte abnimmt. Der bekehrte Räuber verliert später ein Auge, hilft einem Überfallenen beim Aufrichten des Wagens und stellt sich den Verwandten eines von ihm Ermordeten, die ihn totschlagen. Daraufhin wird er in den Himmel aufgenommen. Dies erzürnt den Beichtvater, der

52 Tubach 2558. Zur Stoffgeschichte vgl. Schönbach: Engel und Waldbruder, S. 38–51; AaTh, Typ Nr. 759; Gaston Paris: L’ange et l’ermite. In: Paris, La poe´sie du Moyen Age. Lec¸ons et lectures. Paris 1885, S. 151–187; Otto Rohde: Die Erzählung vom Einsiedler und dem Engel in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Leipzig 1894; Heinz-Wilhelm Haase: Die Theodizeelegende vom Engel und dem Eremiten (AaTh 759). Diss. masch. Göttingen 1966. Eine weitere deutsche Versfassung des Stoffes stammt von Heinrich Kaufringer: ›Der Einsiedler und der Engel‹. Zu Kaufringers Erzählung vgl. Slenczka: Gäste, S. 19–44. Schönbach ist der Meinung, Kaufringer habe ›Engel und Waldbruder‹ »zum Muster genommen«, vgl. Schönbach: Engel und Waldbruder, S. 60 f.; zum Verhältnis der beiden Texte vgl. auch Michaela Willers: Heinrich Kaufringer als Märenautor. Das Oeuvre des cgm 270. Berlin 2002, S. 211–227. Meines Erachtens sind die von Schönbach als Reminiszenzen an ›Engel und Waldbruder‹ aufgeführten Stellen allerdings keine zwingenden Belege für eine Benutzung des älteren Textes. Es ist zwar denkbar, dass Kaufringer den anonymen Text kannte, aber aufgrund der zahlreichen inhaltlichen Abweichungen kann es ebenso gut sein, dass er einen anderen Bezugstext benutzt hat. 53 Die Handschrift wird bei Klapper: Erzählungen, S. 12, ins 13. Jahrhundert datiert.

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seine eigenen Verdienste für viel größer hält als diejenigen des Räubers.54 Enttäuscht sagt er sich von seinem moralisch guten Leben los, verlässt die Einsiedelei und geht in die Welt. Unterwegs stürzt er zu Tode und fährt in die Hölle. Nach dieser Vision erscheint dem zweifelnden Einsiedler ein Engel, der ihn von der Gerechtigkeit Gottes überzeugt und nach einer Reihe von anderen Beispielen auch erklärt, dass der erste Einsiedler wegen seines Hochmutes gerechterweise in die Hölle gefahren sei. Das Exempel steht wahrscheinlich in keinem direkten Bezug zur Verserzählung von ›Engel und Waldbruder‹, zeigt aber, dass die Kombination des Superbia-Motivs mit der Theodizee-Frage nichts Einmaliges ist. Im Gegensatz zu den meisten anderen Fassungen des Erzählstoffs wird in der Verserzählung ›Engel und Waldbruder‹ eine Diskrepanz zwischen dem Figurenwissen und dem Wissen der Rezipienten geschaffen, indem der Erzähler diesen zwar mitteilt, dass ein Engel zum Waldbruder gesandt wird, der Waldbruder selbst den Engel aber für einen Räuber hält (V. 27 ff.). Nach der ersten Übeltat des Engels, der Ermordung des Knaben, werden die Rezipienten durch einen Erzählerkommentar daran erinnert, dass dieser Mord nur scheinbar etwas Böses ist: daz waz gottez wil der ez weschueff (V. 139), während der Waldbruder von der Boshaftigkeit seines Gefährten überzeugt ist. Durch diese Erzähltechnik wird Spannung erzeugt, da der Rezipient zwar weiß, dass es sich um göttliche Befehle handelt, die der Engel ausführt, in den Einzelfällen aber ebenso wie der Waldbruder keinen Sinn in den Übeltaten erkennen kann. Erst durch die Erklärungen des Engels am Schluss wird der Sinn für die Figur und den Rezipienten gleichzeitig enthüllt.55 1.3.2 Überlieferungskontext der Verserzählung: Eine illustrierte Sammlung geistlicher Verstexte Die Erzählung von ›Engel und Waldbruder‹ ist unikal überliefert in der Handschrift Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2953. Die Handschrift besteht aus verschiedenen Faszikeln, die nach Ausweis der Wasserzeichen in der ersten Hälfte des 15. Jahr-

54 Tubach 3175. 55 Im Gegensatz zu Rubini: Engel und Waldbruder, S. 173–176, kann ich in der Erzählung keine schwankhafte Dimension erkennen, die die didaktische Aussage des Textes in Frage stellen würde. Das einzige Element, das satirisch wirken mag, die Beschreibung des modischen Schreibers, scheint mir die moraldidaktische Tendenz eher noch zu verstärken. Vergleicht man ›Engel und Waldbruder‹ mit offensichtlich parodistischen Texten religiösen Inhalts wie etwa Fröschels ›Prozess im Himmel‹ oder der ›Buhlschaft auf dem Baume‹, wird deutlich, dass ›Engel und Waldbruder‹ nicht diesen Texten, sondern vielmehr denjenigen geistlichen Erzählungen nahesteht, die in ihrer theologischen Aussage und deren narrativer Gestaltung relativ schlicht sind (wie unter anderen etwa der ›König im Bad‹, der ›Ritter in der Kapelle‹ oder ›Ritter Gottfried‹) und dadurch für moderne Rezipienten zuweilen (unfreiwillig) komisch wirken mögen.

508 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen hunderts entstanden sind.56 Auf Bl. 288v findet sich der Eintrag Peter Spörl. Spörl war ein Goldschmied, der 1465 das Salzburger Bürgerrecht erwarb.57 Ob er als Besitzer der ganzen Handschrift oder nur der/des letzten Faszikel(s) oder lediglich als Benutzer der Handschrift anzusehen ist, bleibt unklar.58 Sein Interesse für Literatur ist durch drei weitere Codices bezeugt, die seinen Namenszug enthalten und sich später im Besitz des Klosters Mondsee befanden.59 Durch den Einband, der einen Stempel mit dem Stiftswappen des Benediktinerklosters Mondsee aufweist, ist auch für den Wiener Codex 2953 die Provenienz Mondsee gesichert. Die Handschrift befand sich im späten 15. Jahrhundert in diesem Kloster und wurde dort gebunden.60 Es ist denkbar, dass die Handschrift als Ganzes nach Mondsee gelangte und dort neu gebunden wurde, es ist aber auch möglich, dass die Faszikel erst in Mondsee zusammengestellt wurden.

56 Faszikel I: Lagen: VI12 + V22 + 5 VI81, Wz.: 1) Waage ohne Kreis, mit gerader Waagschale, ähnlich PiccardOnline 116072 (Venedig 1451); 2) Dreiberg im Kreis, darüber einkonturiges Kreuz, sehr ähnlich PiccardOnline 153618 (Frankfurt a.M. 1448); 3) Antoniuskreuz im Kreis, darüber einkonturiges Kreuz, ähnlich PiccardOnline 125380 (Landshut 1459), 125369 (Vicenza 1442). – Faszikel II: Lagen: 6 VI152; Wz.: Amboss, darüber einkonturiges Kreuz, sehr ähnlich PiccardOnline 122628 (Venedig 1433). – Faszikel III: Lagen: (VI–1)162*; Wz.: Leopard, gepunktet, Typ PiccardOnline 85223, 85224 (Como 1440), Typ Piccard XV/2, Abt. II 1402, 1403 (beide Ravenna 1440). – Faszikel IV: Lagen: 4 VI210; Wz.: Dreiberg, darüber einkonturige Stange, darüber einkonturiges Kreuz und weiteres Beizeichen (Buchstabe D im Berg), ähnlich Briquet 11767 (Pistoia 1411, Lucca 1414, Prato 1427), Typ PiccardOnline 151343 (Castello de Nozano 1410). – Faszikel V: Lagen: 2 VI234 + V244; Wz.: 1) nicht identifizierbares Wz. in Lage 19; 2) Horn, waagrecht ausgerichtet, ein Strich auf dem Horn, sehr ähnlich PiccardOnline 119478 (Kaschau 1419), 119482 (Fischhausen 1421). – Faszikel VI: Lagen: 2 VI268 + V278; Wz.: Amboss, darüber einkonturiges Kreuz, sehr ähnlich PiccardOnline 122618 (Salzburg 1428). – Faszikel VII: Lage: V288; Wz.: Einhorn, Typ Piccard X, Abt. III 1669 (Braunschweig 1426), 1670 (Cividale del Friuli 1420). 57 Vgl. Christine E. Janotta: Das älteste Salzburger Bürgerbuch 1441–1541. Salzburger Museum Carolino Augusteum. Jahresschrift 32 (1986), S. 6–192, hier S. 72. 58 Vgl. Gabriele Baptist-Hlawatsch: Das katechetische Werk Ulrichs von Pottenstein. Sprachliche und rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen (Texte und Textgeschichte 4). Tübingen 1980, S. 22 f. 59 Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2856, 2870, 3617. Durch Eintragungen gesichert sind die ›MondseeWiener Liederhandschrift‹, Heinrichs von Mügeln ›Valerius Maximus‹ und Irmhart Ösers ›Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaac‹. Da es sich bei Cod. 2856 und 3617 um Komposithandschriften handelt, sind die Besitzverhältnisse hier ebenso unklar wie bei Cod. 2953. Alle Handschriften aus Spörls Besitz befanden sich im späten 15. Jahrhundert im Kloster Mondsee. 60 Zu den Mondseer Einbänden vgl. Kurt Holter: Die Buchkunst im Kloster Mondsee. In: Holter: Buchkunst – Handschriften – Bibliotheken. Beiträge zur mitteleuropäischen Buchkultur vom Frühmittelalter bis zur Renaissance. Hrsg. von Georg Heilingsetzer/Winfried Stelzer. 2 Bde. (Schriftenreihe des Oberösterreichischen Musealvereins – Gesellschaft für Landeskunde Bd. 15/16). Linz 1996, Bd. 2, S. 785–833, hier S. 813–816.

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Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2953 Papier · II + 290 Bll. · 20,3 × 13,8 · südbair. Sprachgebiet (Salzburger Raum ?) · 1. Hälfte 15. Jahrhundert Inhalt: Faszikel I (Hand 1: 1r–81r) Bl. 1r–38r Ulrich von Pottenstein: ›Dekalogerklärung‹ Bl. 38v–73v Thomas Peuntner: ›Büchlein von der Liebhabung Gottes‹ Bl. 74r–81r lat. Sermones: De nativitate virginis Marie, De assumptione B.M.V. Faszikel II (Hand 2: 82r/v; Hand 3: 83r–139v; Hand 4: 140r–152v) Bl. 82r–123v ›Christophorus‹ Bl. 124r–139r ›Engel und Waldbruder‹ Bl. 139v lat. Reimspruch über die Würde der Priester Bl. 139v Reimpaardekalog Bl. 140r/v Ave-Glossenlied Bl. 141r–151r ›Losbuch‹ Bl. 151v Eucharistie-Bild mit lat. Liturgie-Zitaten Bl. 152r/v Zwei Eucharistie-Gebete Faszikel III (Hand 5: 153r–162r) Bl. 153r–162r ›Beichttraktat Es sind vil menschen, den ir peicht wenig oder gar nichts hilft‹ Faszikel IV (Hand 6: 163r–205r) Bl. 163r–205r Johann von Neumarkt: ›Hieronymus-Briefe‹ (unvollständig) Bl. 205v–210v leer Faszikel V (Hand 7: 211r–238r, 239v; Hand 8: 238v–239r) Bl. 211r–239v Formelbuch Bl. 240r–244v leer Faszikel VI (Hand 9: 245r–276r) Bl. 245r–270r Gottfried von Franken: ›Pelzbuch‹ Bl. 270v–276r Meister Albrant: ›Rossarznei‹ Bl. 276v–278v leer Faszikel VII (Hand 10: 279r–282v) Bl. 279r–282v Aderlass-Büchlein Bl. 283r–288v ursprünglich leer, Nachträge von verschiedenen Händen Lit.: Menhardt: Verzeichnis I, S. 659–662; Baptist-Hlawatsch: Ulrich von Pottenstein, S. 21–24.

Im ersten Faszikel (um 1450) sind Texte der Wiener Schule und zwei lateinische Predigten, im zweiten (um 1430) verschiedene kürzere geistliche Texte enthalten. Der dritte Faszikel (um 1440) überliefert einen verbreiteten deutschen Beichtspiegel, der vierte (um 1410/20) die ›Hieronymus-Briefe‹ Johanns von Neumarkt. In den drei letzten Faszikeln (um 1420, um 1430, 1. Drittel 15. Jahrhundert) sind sachliterarische Texte überliefert: ein Formelbuch, das Musterbriefe vor allem aus Salzburg und aus der Zeit Erzbischof Pilgrims II. bietet, Gottfrieds von Franken ›Pelzbuch‹ (ein Werk zum Obst- und Gartenbau), Meister Albrants ›Rossarznei‹ und ein unvollständiges Aderlassbüchlein.

510 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Die Erzählung ›Engel und Waldbruder‹ steht in der kleinen illustrierten Sammlung geistlicher Texte im Faszikel II. Die Illustrationen zur ›Christophorus‹-Legende (1630 V., wohl 14. Jahrhundert)61 sind teilweise als Federzeichnungen ausgeführt, teilweise nur als Bleistiftvorzeichnungen vorhanden. Sie stammen von einem Zeichner, der mit verschiedenen ikonographischen Mustern (Stifterbild [Abb. 15], Heiliger an der Martersäule [Abb. 16]) und zeichnerischen Details (Faltenwurf) vertraut war, die er versatzstückhaft immer wieder anwandte. Die Illustrationen zu ›Engel und Waldbruder‹ sind kolorierte Federzeichnungen, die von einem sichtlich ungeübteren Zeichner stammen (Abb. 17–19). Vielleicht ist dieser mit dem Schreiber identisch, denn für Schrift und Zeichnung wurde hier die gleiche Tinte verwendet, während beim ›Christophorus‹ die Tinte der Federzeichnungen grau, die Schreibtinte braun ist. Die beiden letzten Zeichnungen zum ›Ave-Glossenlied‹ und zu den Eucharistie-Texten sind ebenfalls koloriert, machen aber einen sorgfältigeren Eindruck als die Bilder zu ›Engel und Waldbruder‹. Möglicherweise war hier der zweite Schreiber oder ein weiterer Zeichner am Werk. Die Farben sind allerdings mit denjenigen der anderen kolorierten Zeichnungen identisch. Denkbar ist auch, dass ein Zeichner im ganzen Faszikel Bleistiftvorzeichnungen machte, aber nur im ›Christophorus‹ diese auch selbst mit Feder ausführte. Den Hauptteil der Sammlung machen zwei narrative Texte aus, die ›Christophorus‹-Legende und die Erzählung von ›Engel und Waldbruder‹. Darauf folgen ein dem heiligen Bernhard zugeschriebener lateinischer Reimspruch, der die Würde der Priester thematisiert,62 und ein deutscher Reimpaardekalog.63 Ein

61 Vgl. Rosenfeld, Hans-Friedrich: Christophorus. In: 2VL 1 (1978), Sp. 1230–1234, hier Sp. 1232–1234, und 2VL 11 (2004), Sp. 326. Ausgabe: Anton Schönbach: Sanct Christophorus. ZfdA 17 (1874), S. 85–141. Ich zitiere nach der Handschrift, da die Ausgabe Schönbachs auf einem anderen Textzeugen beruht. 62 Bl. 139v: Hec sunt verba sancti Bernhardi ad omnes sacerdotes: / O vos sacerdotes dei / vos tangunt sermones mei / magne estis dig[n]itatis / agnum dei vos tractatis / quem Jeremias prophetauit / [gestrichen: Maria in ventre p portauit] / Johannes digito monstrauit / Maria in ventre portauit / hii tres antequam nati sunt sanctifficati. / O quam sanctus debet esse / non ore prophetare, / sed ore sume[re] et manducare / non digito monstrare / sed digiti tractare / non ventre / sed debet portare mente (Dies sind die Worte des heiligen Bernhard an alle Priester: Oh ihr Priester Gottes, euch betreffen meine Predigten. Ihr habt große Würde: Ihr berührt das Lamm Gottes, das Jeremias verheißen hat, Johannes mit dem Finger gezeigt hat und Maria im Bauch getragen hat. Diese drei wurden geheiligt, ehe sie geboren wurden. Oh, wie heilig muss er sein, der [das Lamm Gottes] nicht nur mit dem Mund verheißen, sondern mit dem Mund aufnehmen und essen darf, der [es] nicht nur mit dem Finger zeigen, sondern mit dem Finger berühren darf, und der [es] nicht im Bauch, sondern im Geist tragen darf). 63 Mensch, gelawb nür in ain got, / mit eytler red seins nam nicht spot, / die heiligen täg vey¨r all geren, / dein vater vnd müeter hab in eren, / an recht den mensch tött nicht, / zu dieprey¨ hab auch

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zweiter Schreiber führte die Sammlung mit einem Ave-Maria-Glossenlied und einem ›Losbuch‹64 fort. Bei letzterem handelt es sich um ein geistliches Wahrsagespiel: Für alle Kombinationen, die mit drei Würfeln von drei Sechsern bis zu drei Einsern geworfen werden können, ist ein Eintrag vorhanden, in dem ein Heiliger dem Würfler einen Wahrsagespruch mitteilt. Die drei Würfel mit der entsprechenden Augenzahl sind jeweils mit roter und schwarzer Tinte neben den entsprechenden Eintrag gemalt. Die Reihe der Sprüche beginnt bei drei Sechsern mit Christus: Jesus Christus sprach: / warum pistu so swach? / gehab dich gar wol, / ich pin, der dich tressten schol / wol vor allen panden, / la mich deins hailes walden. / Ich pins, der gotes segen / vnd wil deins hailes phlegen (Bl. 141r). Sie geht dann über Anna und Joachim, Maria, die Engel, die Apostel, die Propheten und einige Figuren des Alten Testaments bis zu den Kirchenvätern und Heiligen, wobei österreichische Lokalheilige besonders häufig vorkommen (z.B. Oswald, Wolfgang, Koloman, Magnus und Radegunde). Dies lässt auf eine Entstehung oder zumindest Überarbeitung im österreichischen Raum schließen. Die Sprüche der Heiligen sind meist sehr unspezifisch, die Gebrauchsanweisung am Ende des ›Losbuchs‹ suggeriert aber dennoch eine gewisse Ernsthaftigkeit des Spiels: wer in das lazz puchlein wil werffen, der scholl nider chnien vnd schol sprechen pater noster vnd aue Maria vnd gelauben vnd phalm [sic], so vint er die warhait vnd sagt im auch die gerechtikchait (Bl. 151r). Die letzten drei Seiten der Lage sind dem Thema der Eucharistie gewidmet. Auf Bl. 151v ist ein Bild zu sehen, das einen modisch gekleideten weltlichen Herrn zeigt, der kniend die Hostie empfängt. Darunter stehen Zitate aus der lateinischen Abendmahlsliturgie.65 Auf Bl. 152r/v findet sich je ein deutsches Abendmahlsgebet. Der Faszikel wird mit einem Schreibervers abgeschlossen: Wer das geschriwen hat, der ist ein gut gesell. Wolt got, beres war! Aber dennoch ist es war war war war war (Bl. 152v). Die kleine Sammlung behandelt unterschiedliche Aspekte des geistlichen Lebens, bietet Unterhaltung durch die Lektüre der narrativen Texte und durch

chain phlicht, / pis nicht vnchewsch auf deiner ee, / valscher zewgnus nicht [gestrichen: pege] bege, / deins nagsten kanweib beger nicht, / allez fremdez güt sey¨ dir enwicht. / Also stent die zechen pot, / daz du die behalten scholt (Bl. 139v). 64 Vgl. Francis B. Bre´vart: Losbuch (gereimt). In: 2VL 5 (1985), Sp. 912 f.; Karin Schneider: Losbuch (gereimt) II. In: 2VL 11 (2004), Sp. 930 f. (jeweils ohne diese Handschrift). 65 Homo quidam versus gloria patri / versus tantum ergo Genitori o salutaris / hostia vnitrinoque domino sacris so[le]mnis / Credo in deum (Bl. 151v). Gemeint sind folgende Texte: homo quidam fecit cenam magnam (Lc 14,16: Ein Mann machte ein großes Essen); die Doxologie (Ehre sei dem Vater etc.); Strophen aus drei Eucharistie-Hymnen des Thomas von Aquin: Tantum ergo sacramentum und Genitori genitoque sind die Str. 5 und 6 des Hymnus ›Pange lingua‹ (AH 50,386), O salutaris hostia und Uni trinoque domino sind die Str. 5 und 6 des Hymnus ›Verbum supernum prodiens‹ (AH 50,388), Sacris solemniis ist der Anfang des gleichnamigen Hymnus (AH 50,387).

512 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen das Würfelspiel ebenso wie andächtige Betrachtung im Ave-Glossenlied und den Eucharistiegebeten. Die Illustrationen dienen zur Vergegenwärtigung der Geschehnisse bei den narrativen Texten, als Andachtsbilder bei den Gebetstexten. Die laikale Frömmigkeit, die hier zum Ausdruck kommt, erinnert an die Handschriften der ›Oberrheinischen Erbauungsbuchkompilation‹66 – auch dort ist ein ähnliches inhaltliches Profil an Verstexte und teilweise an Illustrationen gebunden. Der Faszikel der Wiener Sammelhandschrift ist damit ein weiterer Zeuge für den Handschriftentyp des gereimten, von einem ästhetischen Anspruch geprägten Erbauungsbuches, der wohl hauptsächlich in laikalen Kreisen verbreitet war. 1.3.3 Die Prosaauflösung von ›Engel und Waldbruder‹ Auf die Prosaauflösung der Erzählung von ›Engel und Waldbruder‹, die in der Handschrift Weimar, HAAB, Cod. Quart 127 überliefert ist, hat zuerst Klaus Graf aufmerksam gemacht.67 [158v] Es was ain rechter clausner vnd einsidel, mit namen genant bruder Hainrich, vnd was manchen tag ain clausner vnd einsidel gewessen, vnd sein clausen die lag vere von den lewten mer dan viertzig meil in ainem finstern wald, da vil wilder dier innen waren; vnd hett in den viertzig iaren kainen menschen gesehen. Vnd er hett nach der armen gewonhait gar arge spey¨s von wilden ops vnd von laub vnd graß. Nun bat er got gar ain vnzymlich bett – wann wer vnzimlich ding begert,68 der wirt selten gewert – das er gottes anplick [w]urt69 ain stund an sehen, so wolt er dann gern sterben. Damit erzürnet er gott den heren gar sere. Nun senndet im gott ainen engel auß dem baradeyß in ainer gestalt aines wilden schachers mit seinen claidern vnd waffen, vnd er trug zwo grab herein kutten vber sein achseln, vnd er kam fur d[e]s70 bruders clausen; der lag an seinem gebet. Er sties mit grimmen an die tür vnd sprach: Thu auff, wer ist dy¨nnen? Der einsidel [Bl. 159r] hart erschrack vnd forcht got vnd sprach: Ach, mein lieber herr, wie han ich dich erzurnet? Das rewet mich von gannczen meinem hertzen. O herr, vergib mir mein sünd vnd laß mich dein huld erwerben! Vnd do er im alsbald nicht auff tett, do stieß er die tür auff vnd zünet die clausen an. Vnd do der einsidel sahe, das die clausen vberall bran, da fiel er dem schacher zu füssen vnd sprach: Lieber herr, thu mir nichts an meinem ley¨b! Ich han euch nichts zu geben, ich han weder gu´t noch gelt. Der [schacher] sprach: Stee auff, bruder, vnd laß dir sagen wer ich bin: Ich bin ain mörder vnd han newlich zwen mue nsch71 erschlagen, den nam ich die ku´tten. Vnd er hu´b den einsidel auff vnd leget im die ku´tten an vnd sprach: Woll an, du must mit mir gen. Du gewinst vns baiden gnug. Vnd [die] annder kutten leget der schacher an vnd sprach zu´ im

66 Vgl. Kap. V.2.6. 67 Vgl. Klaus Graf: Die Weimarer Handschrift Q 127 als Überlieferung historiographischer, prophetischer und erbaulicher Texte. ZfdA 118 (1989), S. 203–216, hier S. 211. 68 Korrigiert aus: bergert. 69 In der Handschrift: nurt. 70 In der Handschrift: das. 71 Am Rand von späterer Hand korrigiert: münch.

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dem einsidel: Bruder, wie haistu? Er sprach: Ich haiß bruder Hainrich. Do sprach er: So hayß ich bruder Gemlich. Vnd do er der einsidel sache den ernst, do sprach [er]: Get vor, so will ich euch nach gen. Also gieng der einsidel mit großen [159v] sorgen, vnd vorcht sich vor seinem geferten, vnd het ymmer sorg, wann er in ermordet; vnd bat got gar fleyssig, das er72 im von dem wilden bruder helf. Also loff bruder Gemlich gar ser in dem ersten tag woll vier tagway¨d, vnd der einsidel must immer, was er mocht, hin nach lauffe – er wolt oder wolt nit – vntz das sy ain bürck sachen. da wurd er noch serer zu ey¨len, vnd do sy hin zu komen, do stund der burckher vor dem thor. Sy fragten in, ob er der burckher wer. Er sprach: Ja, lieben bruder. Sy sprachen: Herr, so bitt wir euch, das ir vnns heint beherbergt durch gotz willen. Er sprach: Lieben bruder, ich wil es gern durch got thun, vnd will mit euch tailen mein brot vnd mein wein vnd visch vnd wilpret vnd was ich von speyß han. Vnd er furt sy zum tisch in o die purck vnd gab in genug. Vnd do sy¨ nun gessen hetten, da hieß man sy schlaffen fürn. Die bruder giengen schlaffen. Nun het der bu´rckher gar ain gotvorchtigen frawen, vnd hetten eren vnd gutz genug. Nun hett sy auch ain kind, das [160r] das was in73 gar lieb, das was dreyer jar alt vnd was gar schon. Nun het sy¨ mit dem kind alle frewd vnd kurtzlichwey¨l; dar zu hett sy¨ ain ammen zu dem kind. Do nun der tag hergieng, do gieng bruder Gemlich hin, da die ammen lag, vnd [sprach]: Stee auff, es ist tag! Die stund bald auff vnd wolt wennen, es wer ir herschafft, sy hett verschlaffen, vnd hieng ain kessel vber das feur vnd wolt das kind baden. Vnd da das wasser am aller haisten was, da kam der engel, der bruder Gemlich, vnd warff das kind in den kessel vnd sprach zu dem einsidel: Woll auff bald, lieber bruder Hainrich, vnd laß vnns bald von hynnen. ich han ainen großen mord getan. Also lieffen sy bald vberzwerchs veld gen ainem vinstern wald. In der purck was großer jammer vnd not vmb das kind, das er in den kessel geworffen hett. Das was tod, als es [gottes] will was. Vnd vatter vnd mutter rufften cleglich zu got dem heren. Nun komen die zwen bruder in ain statt, vnd bruder Gemlich batt sein bruder Hainrich, das er vmb herberg bett. Do gedacht er im: [160v] O vatter von himel, hilf mir von disem bruder Gemlich! Do giengen sy¨ in aines burgers haus vnd wollten herberg bitten. Do kam der hausknecht vnd treyb sy wider auß. Sy¨ fragten in, wa der wirt wer. Do kam der wirt, den batten sy vmb die herberg vmb gotz willen. Er sprach: ich thu es bilich. Es sol ewch mein spey¨ß vnd getranck vnuersagt sein. Do man nun essen solt, da ward ir gar woll gepflegen mit gutter spey´ß vnd getranck; aber der engel, genant bruder Gemlich, der aße gar wenig. Nun wolt sein gesel, das er auch eß als er. Des wolt er nit tun. Es setz in auch der wirt ain guldin kopf fur, got [und] Mariam zu eren, vnd da sy nun gessen hetten, do bley¨b der kopf vnuerspert. Den kopf zoch der engel an sich vnd verbarg in vnnder die kutten. Der wirt hieß die gest schlaffen legen. Nu namen die zwen bruder vrlaub vnd danckten dem wirt gar ser vnd sprachen: Lieber wirt, gott gesegen euch. Wir wollen fruw von dannen gen. Vnd des morgens fruw, da es taget, da legten sy sich an vnd der [161r] bruder Gemlich sprach zu bruder Hainrich: Lieber bruder, richt dich zu lauffen, es stett gar besorgklich vmb vns. Da gedacht im der gutt bruder: Was hat er im getan? Vnd sie eylten auß dem [haus] vnd lieffen bald ir straß, gleich als zwen schedlich man, die ainen schaden hetten getan. Vnd da sy¨ hindan komen, do zoche der bruder Gemlich den kopfe herfur vnd sprach: Siche, lieber geselle: Hab gutten mutt! Des erschrack der ainsidel gar ser. Er sprach: Bruder, es ist der kopf, da wir auß truncken haben! Er sprach: Ey¨, du hast vnrechte getan. Also giengen sy¨ baide haimlich dahin, vnd der einsidel het sich

72 Über der Zeile nachgetragen: er. 73 Korrigiert aus: im.

514 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen gern von dem wilden bruder abgestollen, aber es [was] gots will. Nun giengen sy¨ die dritten tagweid gen ainer stat, da arm vnd reich, edel vnd vnedel innen saßen. Sy giengen in das aller kostlichest haus, so es in der statt lag, das lüchtet als der tag von liechtem märbelstain vnd vil manicherlay¨ hubschhait. Daran was in den fenstern gar schon74 gleser vnd hubsche roß an dem barn. Ain mechtiger graffe wer woll mit eren dar innen gesessen. Also hett der selb man vil [161v] ko´ch vnd kellner vnd kamerer vnd junckfrawen, als ainem reichen man woll zuo gehort. Do kamen die zwen bruder fur den hern vnd batten im vmb die herberg. Er sprach zornigklichen: Geet auß meinem haus, ir stertzel! Ich haiß euch annders mit knutteln schlahen, das euch nach got wee wirt. Darumb so geet mir bald weck! Ir fuget mir in mein hauß nicht. Do sprach bruder Gemlich: O lieber herr, beherbergt vnns heint durch o gott. Es wirt vnns zu spatt, söll wir weyter gen. So sey¨ wir nie hie gewessen vnd sind vnerkant. Last vns im stall oder vnnder der stiegen ligen. Er gehieß in die herberg. da satzten sy sich nider fur die stiegen, da75 yederman fur sich auff vnd ab gieng. vnd da man nun essen solt, da gedacht ney¨mant an sy¨ dann der kellner, der was ain gotz vorchtig man; der tett in guttlich nach seinem vermügen. An dem vierden morgen, da gieng der engel, bruder Gemlich genant, zu dem heren vnd sprach: Nempt hin den guldin kopf, den gan ich euch vor allen lewten dar[umb, das] ir vnns habt beherbergt, wie woll ir vnns nicht [162r] habt geben. Da dancket im der burger vnd fraget in, in welcher maß er im den kopf gebe, vnd er hieß den kopf behalten vnd schalt sy zu lon vnd sprach: Ir trugner, gett auß meinem haus vnd kumpt ny¨mermer darein, oder es muß ewer leben gelten. Da huben sich die zwen bruder darvon. Da was der kellner gegenwurtig, dem gaben sy seinen lon mit dem segen. Also kamen [sy] auß der statt an ainen hochen berg, da gedacht im der einsidel: Du haist wol bruder Gemlich! Also giengen sy¨ auff dem hohen berg vnd sahen herab, wohin sy¨ sollten gen. Da ersahen sy¨ ain statt, da giengen sy¨ hin vnd kamen zu ainem reichen burger, der was ain kremer in der selben statt vnd was gar ain alter man woll bey¨ sibentzig jaren, vnd was gen gott ain rechter man vnd het ain ersame junge frawen, vnd die auch gern gen kirchen gieng, vnd alle tag so sendet sy¨ ir gebett mit andacht zu gott vnd gab gar gern almußen. Da batten die zwen bruder den burger vmb die herberg. Er sprach: Gern. Vnd er sach nach seinem schreyber vmb, [162v] der gieng dort her in reinischen gewand vnd zwen hubsch hantschuch an seinen hennden vnd ain krawß fley¨mich har vnd new gefastes schwert an seiner seyten. Der burger sprach: Schrey¨ber, thu mir den gesten guttlich durch gott. Da bracht man her gutte kost vnd gutten wein. Da man nun gessen het, da hub der engel, genant bruder Gemlich, ain hubsche red an von den frewden vnd gnaden, die in dem himel wern. Vnd er redet als suße wort, die nie kain mensch gehort het von gott vnd von vnnser lieben frawen, das in der ainsidel ser begund ansehen vnd gedacht im: Kanstw so hubsche red von den frewden vnd gnaden, die in dem himel sind? Vnd bist doch ain rechter großer morder vnd ubelthetter! Die hubsche red nam ain end. Der wirt recket sein hend zu gott auff vnd sprach: Herr, erbarm dich vber mich! ich [han] nie besser vnd hubscher red gehort. Vnd er batt bruder Gemlich vnd seinen gesellen, das sy¨ noch aht tag bey¨ im bleyben. Er sprach: Nicht, her, wir wollen fruo w von dannen. Ir sult vns [163r] ainen botten ley¨hen, der vnns den rechten weg wey¨ße. Er sprach: Den will ich euch lassen wey¨ßen. Der burger vnd die fraw sprachen zu dem schreyber, das man die gest schlaffen solt legen. Vnd do sich der tag her ließ, do wecket der engel, [der] genant was bruder Gemlich, den schrey¨ber auff vnd sprach:

74 Nach gar schon in der Handschrift irrtümlicherweise ein zweites gar schon. 75 In der Handschrift: das.

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Wey¨ße vnns vber den stege, das wir den weg treffen. Er stund auff vnd gieng mit in gen dem großen wasser bis sy auff den steg kamen. Der pruder Gemlich nam den schrey¨ber bey¨ der hannd vnd warff in in das wasser. Wee hewt vnd vnd y¨mer wee, sprach der einsidel zu bruder Gemlich, warumb hastu du dem jungen sein leben genomen? Wo sull wir nu hin, wer sol vnns ichtz geben? Du wast nachtig ain gutter bruder, das ich gutten trost von dir gewan von deiner gutten hubschen lere. Den trost han ich verlorn! Woll auff, wir sullen fliehen. Da begunden sie furbas wanndern gegen ainer bray¨ten hay¨de. Do sprach doch bruder Gemlich zu pruder Hainrich: Sitze ain wey¨l nider vnd rascht. Ich sich woll, [dich]76 verdreyßet des lebens gar ser. Gehab dich woll, ich will [163v] mich von dir schaiden. Westu du gern, wer ich were? Er sprach: Ja, lieber bruder. Er sprach: Ich bin ain engel vnd bin ain [b]ott77 gotes. Do sprach bruder Hainrich: Des glawb ich nicht. du bist ainem engel nit gley¨ch. Du bist ain mörder vnd ain vbelthetter! Solt gott solich engel haben? Hastu doch getött zwen hailig bruder, der kutten trag wir baide an, vnd zwen jung knaben! Da sprach der engel: Sey¨t das ich dir die warhait muß sagen: Das kind, das ich ermordt han, das han ich darumb gethan, wann vatter vnd mutter gen kirchen sollten gen, so was ir synn vnd ir muo t mer zu dem kind dann zu gott. Des sind sy nu vberigs, vnd ist nu ir gebett gutt vnd rain, das in gott darumb will geben das himelreich. Nu will ich dir sagen von dem burger, dem ich den kopf stal: Der selb het sunst kain vnrecht gutt dann den kopf, der wer darmit verdampt worden. Nun hatt der selb burger verdienet das himelreich. Aber der reich man, der den kopf nit recht von vns empfieng, wee im das er y¨e geborn ward! Er ist ewigklich [164r] verdampt von seines posen gutz wegen. Wann er mer poßer ding begert, darumb gab ich im den kopf, der ward mit vnrecht gewunen; den sullen wir im auch gunen. Da gedacht im bruder Hainrich, das wer noch nit vnrecht getan. Er sprach: Nu hör von dem schrey¨ber: Der was ain rechter betriegner, wann alle sein begird was au´ff ju´ngfrawen, wie er die mocht zu fall bringen vnd ir ere ab[stelen],78 vnd das solt nit lennger sein, wann der man vnd die fraw, do er bey¨ was, die patten gott gar fleyßigklichen vmb das ewig leben, vnd das wirt in auch geben. Wa[s]79 ich dir nu gesagt, lieber bruder, das ist war, als war das ist, das du gott hast gebetten woll funfftzig iar, daz du seinen anplich mochst ain mal ansehen so wollstu dann gern sterben. Des will dich gott nit gewern. Vnd an der selben statt da erschein im der engel in engels wey¨ß. Er sprach: Mein leib, mein sel, mein gutt, mein ere, dar zu auch mein leben sey¨ dir ewigklichen geben! Der engel sprach mit zvchten: Du must in vngemach in deiner zelle bleyben [164v] vnd solt furbas auff kainem bett ligen vnd dienen got, so wil ich dir geben zuerkennen vber drew jar sein gottlich gestalt. Darnach verschwant der engel vor dem bruder. Dem bruder geschahe lay¨d vnd leget sy¨[ch] auff die hayde vnd entschlieff. Also da kam ain styme, die sprach: Stee auff, du bist dahay¨m. Zuo hand erwachet der einsidel vnd was in seiner clausen, vnd er sahe nicht daran, das verprunnen was. Also dienet er gott dem heren die selben drew jar mit ganntzem fleyß vnd mit grosser andacht, mit bette, mit fasten vnd mancherlay¨ gutter vbung, vnd mit grosser kostigung seines ley¨bs, vnd nach den drew jaren verschiede er gar seliglichen; vnd gott der empfieng sein sell in das ewig leben, da sicht sy [sein] anplick ewiglichen. Amen etc.

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In der Handschrift: des. In der Handschrift: gott. Von anderer, späterer Hand ergänzt: stelen. In der Handschrift: war.

516 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Die Prosaauflösung hält sich eng an die Vorlage, ganze Sätze oder Satzteile werden fast unverändert übernommen, die Handlungsstruktur wird ohne größere Abweichungen wiedergegeben; im Detail lassen sich aber dennoch einige Änderungen feststellen. So sind etwa Hinweise auf eine fingierte mündliche Vortagssituation getilgt: Publikumsadressen, in denen der Erzähler der Versfassung seine Rezipienten zum Zuhören auffordert (beispielsweise ›Engel und Waldbruder‹ V. 1 f., 143 f.); ein das Publikum inkludierender Erzählerkommentar (V. 89 f.); die Fürbitte für Autor und Publikum im Epilog (V. 488–498). Die Prosaerzählung weist keinen diskursiven Schlussteil auf, stattdessen sind die Schilderungen des gottesfürchtigen Lebens des Waldbruders in den drei verbleibenden Jahren, seines Todes und seiner Aufnahme in den Himmel ausführlicher gestaltet als in der Versfassung. In der Prosaerzählung werden die Namen der Protagonisten im Gegensatz zur Versfassung sehr häufig genannt. So steht der Name des Waldbruders hier gleich im ersten Satz, während er in der Versfassung erst erwähnt wird, als der Engel ihn danach fragt. Auch wird in der Prosafassung für die Benennung des Engels oft ein Namenszusatz (der engel, genant bruder Gemlich) verwendet, um dessen doppelte Identität (Räuber und Engel) deutlich zu machen. Die häufige Namensnennung beugt einerseits Missverständnissen bei der Lektüre vor, erweckt andererseits aber auch – ähnlich wie die ausführliche Schilderung des weiteren Lebens des Waldbruders und die Tilgung der Merkmale fingierter Mündlichkeit – den Eindruck eines objektiven Ereignisberichts. Die Prosaerzählung weist auch kleinere Amplifikationen und semantische Änderungen auf. So wohnen in der Stadt des reichen Bürgers nicht nur edel purger (V. 221), sondern Arme und Reiche, Edle und Unedle. Während der Schreiber des Krämers in der Versfassung nur die Ehefrau seines Herrn verführen will (V. 438 ff.), stellt er in der Prosafassung allen Jungfrauen nach. Am Ende der Prosafassung sagt der Engel dem Waldbruder nicht nur voraus, dass er noch drei Jahre in seiner Klause zu leben habe, sondern auch, dass er (wohl als Form der Selbstkasteiung) nicht mehr in einem Bett schlafen solle. Bemerkenswert ist außerdem, dass in der Prosaerzählung einige Stellen geändert wurden, die für den Bearbeiter wohl missverständlich oder unklar waren.80 Ein Beispiel dafür ist die Umstellung von Handlungselementen in der

80 Für die Textgeschichte der Verserzählung interessant ist eine Stelle, die in dem einzigen erhaltenen Textzeugen offenbar verderbt ist. Als der Engel den Waldbruder fragt, ob er wissen wolle, wer er sei, heißt es in der Versfassung: do sprach der gut man / und sach den engel an (V. 387 f.). Diese Stelle konjiziert Schönbach in seiner Edition zu: do ˆ sweic der guote man / und sach den engel an. In der Prosafassung steht: er sprach: Ja, lieber bruder. Es ist natürlich denkbar, dass Schönbach mit seiner Konjektur Recht hat und der Bearbeiter hier eine Änderung vorge-

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Episode beim ersten Wirt. Die Elemente sind in der Versfassung folgendermaßen angeordnet: 1) Bewirtung; 2) Lebensumstände des Wirts (tugendhafte Frau und geliebtes Kind); 3) Schlafengehen der Gäste; 4) Ermordung des Kindes. Der Bearbeiter hat die Reihenfolge umgestellt: 1) Bewirtung; 2) Schlafengehen der Gäste; 3) Lebensumstände des Wirts (Frau, Kind, Amme); 4) Ermordung des Kindes. In der Prosafassung wird die durch die Nachtruhe bedingte ›Unterbrechung‹ der Handlung genutzt, um die Informationen über die Lebensumstände des Wirtes zu geben, wobei auch die Amme erwähnt wird, die in der folgenden Mordepisode eine Rolle spielen wird. Dies erleichtert den Nachvollzug des Geschehens, während die Figur der Amme in der Versfassung erst in der Mordepisode eingeführt wird. Auf einem Missverständnis beruht möglicherweise die Kürzung der Verse 245 f. Dort sagt der reiche Bürger zu den ungebetenen Gästen: Da von get aus meinem haus / Ich gib ewch nicht ein graws (V. 245 f.). Es ist denkbar, dass der Bearbeiter die Wendung nicht verstand (graws = mhd. gru ˆz, ›Korn‹, hier: ›nichts‹), jedenfalls steht in der Prosafassung an dieser Stelle nur: ir fuget mir in mein hauß nicht. Allerdings muss beim Vergleich von Details immer bedacht werden, dass der Bearbeiter möglicherweise einen anderen als den einzigen erhaltenen Textzeugen der Verserzählung vor sich hatte und es daher nicht als gesichert gelten kann, dass alle Abweichungen (bewusste) Änderungen des Bearbeiters darstellen. Dennoch lassen sich Bearbeitungstendenzen feststellen, die für die Prosafassung charakteristisch sind, etwa die Bemühung um Handlungslogik und Verständlichkeit sowie das Desinteresse an Publikumsadressen – beides zeigt eine für Prosaerzählungen typische Fokussierung auf faktenbasiertes und handlungsorientiertes Erzählen an. 1.3.4 Überlieferungskontext der Prosaerzählung: Ein Konvolut von handschriftlichen und gedruckten Faszikeln Bisher ist nur ein Textzeuge des Prosa-›Engel und Waldbruder‹ bekannt.81 Dabei handelt es sich um einen Sammelband aus Handschriften-Faszikeln und Drucken, der im frühen 16. Jahrhundert wohl in Nürnberg zusammengestellt wurde.82

nommen hat. Möglich ist aber auch, dass im einzigen Textzeugen der Versfassung nicht das Verb falsch ist, sondern der Anfang des Verses; dieser hätte etwa ja, sprach der gut man lauten können. 81 Bei diesem Textzeugen scheint es sich um eine Abschrift zu handeln. Darauf deuten einige typische Abschreibfehler hin, etwa die Wiederholung von gar schon (Bl. 161r), das Auslassen von sinntragenden Worten wie gottes (Bl. 160r) und haus (Bl. 161r) oder Verschreibungen wie des für dich (Bl. 163r). 82 Vgl. Graf: Weimarer Handschrift, S. 215.

518 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Weimar, HAAB, Cod. Quart 127 und Inc. 609a; Inc. 318a, 1–3; Inc. 303a, 1–3 Papier · ursprünglich 258 Bll. · 21,5 ×14,5 · unterschiedliche Entstehungsorte · 2. Hälfte 15. Jahrhundert/um 1500 Inhalt: Faszikel A Bl. 2r–3r Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes Bl. 5r–66r Thomas Lirer: ›Schwäbische Chronik‹ Bl. 70r–90r ›Gmünder Kaiserchronik‹ Bl. 90v–99r Liste der Könige und Kaiser von Nimrod bis Marcus Antonius Faszikel B Bl. 104r–118v ›Gmünder Kaiserchronik‹ mit Fortsetzung bis König Ruprecht Bl. 121r–127v ›Prophezeiung Hildegards von Bingen‹ Bl. 127v–130v ›Vision auf das Jahr 1401‹ Bl. 130v–131v ›Vaticinia de summis pontificibus‹, dt. Bl. 131v–132r lat. Prophezeiung Faszikel C Bl. 138r–146r Prophetisch-astrologischer Traktat Bl. 150r–157v ›Christus und die sieben Laden‹ Bl. 157v–158r ›Vitaspatrum‹-Exzerpte Bl. 158v–164v Prosa-›Engel und Waldbruder‹ Drucke Bl. 174–177 ›Die geschicht Dracole waide‹, Nürnberg: Marx Ayrer, 1488 (GW 12524) Bl. 178–183 ›Maximilian I. Erwählung. Verzeichnis der Teilnehmer an der Wahl‹, [Straßburg: Johann Prüß, nach März 1486] (GW M 22070) Bl. 184–190 ›Maximilian I. Erwählung lat.‹, [Mainz: Peter Schöffer, nach April 1486] (GW M 22083) Bl. 191–198 Fortsetzung des Drucks ›Maximilian I. Erwählung. Verzeichnis der Teilnehmer an der Wahl‹ Bl. 199–218 ›Maximilian I. Krönung‹, [Straßburg: Johann Prüß, nach April 1486] (GW M 22101) Bl. 219–232 ›Maximilian I. Coronatio Maximiliani in Aquisgrano‹, [Mainz: Peter Schöffer, nach April 1486] (GW M 22094) Bl. 233–240 ›Maximilian I. Handel und Vornehmen Etlicher in Flandern‹, [Nürnberg: Friedrich Creussner, nach Feb. 1488] (GW M 2211010) Bl. 242–246 Ercole d’Este: ›Spiritualium personarum feminei sexus facta admiratione digna‹, [Nürnberg: Hieronymus Hölzel, 1501] (VD 16 E 3980) Bl. 248–254 Ercole d’Este: ›Wunderperliche gschihten von gaystlichen Weibßpersonen‹, [Nürnberg: Hieronymus Hölzel, 1501] (VD 16 E 3982) Bl. 257–258 ›Belagerung der Stadt Modon‹, [Nürnberg: Hieronymus Hölzel] 1500 (GW M 24916) Lit.: Graf: Weimarer Handschrift (grundlegende Beschreibung der Handschrift und ihrer Entstehungsumstände); Jürgen Wolf: Von geschriebenen Drucken und gedruckten Handschriften. Irritierende Beobachtungen zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Buchdrucks in der 2. Hälfte des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts. In: Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Andreas Gardt/Mireille Schnyder/

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Jürgen Wolf unter Mitarbeit von Susanne Schul. Berlin/Boston 2011, S. 3–21, hier S. 16; Embach/Wallner: Conspectus, S. 284 f.

Der handschriftliche Teil gliedert sich in drei Faszikel: A (Bl. 1–103, um 1500?), B (Bl. 104–137, um 1462/68), C (Bl. 138–172, letztes Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts83), in denen unterschiedliches Papier verwendet wurde und die von drei verschiedenen Händen geschrieben wurden. Auf eine planvolle Zusammenführung der unterschiedlichen Faszikel deuten das für den ganzen Band angefertigte Inhaltsverzeichnis und die Foliierung mit römischen Zahlen von der Hand des Schreibers von Faszikel A. Der Sammelband reflektiert ein breitgefächertes Interesse vor allem an historisch-zeitgeschichtlichen Themen sowie an endzeitlichen Prophezeiungen und erbaulicher Literatur.84 Der Prosa-›Engel und Waldbruder‹ ist in einem Faszikel mit geistlichen Texten überliefert. Die erste Lage des Faszikels enthält einen Traktat, der aus verschiedenen Sternenkonstellationen die Geburt und das Wirken des Antichrists in den Jahren 1472–1506 erläutert.85 Der Rest der Lage ist leer, auf der zweiten Lage folgt zunächst die Prosaerzählung ›Christus und die sieben Laden‹,86 die von einem Kaufmann berichtet, der Einsiedler geworden ist, dann aber doch wieder in die Welt zurückkehren will. Auf dem Weg trifft er einen Krämer, der sieben Laden mit kostbaren Gütern mit sich führt. Die Kostbarkeiten sind jedoch nur mit den Gütern der Seligpreisungen zu erlangen, über die der unbeständige Einsiedler nicht verfügt. Als der Krämer plötzlich verschwindet, wird sich der Einsiedler bewusst, dass es Christus war, und kehrt reuig in seine Klause zurück. An diese Erzählung sind zwei Auszüge aus den ›Vitaspatrum‹ angehängt.87 Im ersten Exempel belauscht ein Altvater die Worte eines Bettlers, der sich trotz seiner Armut glücklich schätzt, weil er sich im Gegensatz zu eingesperrten Reichen frei bewegen kann. Im zweiten Exempel ersucht ein Bruder den

83 Faszikel C, der den Prosa-›Engel und Waldbruder‹ enthält, besteht aus drei Sexternionen, wobei das letzte Blatt des dritten Sexternio fehlt, das vorletzte (Bl. 172) als Spiegel aufgeklebt wurde. Wz.: Ochsenkopf ohne Gesichtsmerkmale, mit einkonturiger Stange und Kreuz, sehr ähnlich PiccardOnline 62430 (Nördlingen 1490) und PiccardOnline 62431 (Ittendorf 1493). Der Wasserzeichenbefund weist ebenso wie die Schrift auf eine Entstehung des Faszikels im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts. Die Schreibsprache ist nordbairisch-ostfränkisch, der Faszikel könnte also in der Gegend von Nürnberg entstanden sein, wo der Sammelband auch zusammengestellt wurde. 84 Graf: Weimarer Handschrift, S. 215 f., warnt zu Recht vor einem vorschnellen »modernen Konstrukt einer Einheit« bezüglich der Textzusammenstellung des Sammelbandes. 85 Vgl. Graf: Weimarer Handschrift, S. 209 f. 86 Vgl. Kurt Ruh: Christus und die sieben Laden. In: 2VL 1 (1978), Sp. 1241–1243. Vgl. auch Kap. V.2.6.2. 87 Es handelt sich um Übersetzungen von PL 73, Sp. 904 f. (V, 7,46) und Sp. 912 (V, 10,3 f.), vgl. Graf: Weimarer Handschrift, S. 209 (Anm. 30), S. 211.

520 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen heiligen Antonius um Fürbitte, doch dieser rät ihm, selbst zu Gott zu beten; darauf folgt ein Dictum des Antonius, dass Gott zurzeit keinen Krieg in die Welt bringe, da die Menschen zu schwach seien, um Anfechtungen zu ertragen. Der Rest von Bl. 158r ist leer; auf Bl. 158v beginnt der Prosa-›Engel und Waldbruder‹. Der Text füllt den Rest der Lage und die ersten drei Blätter der dritten Lage, deren Rest ist leer geblieben. Den kleineren Texten dieses Faszikels ist das Thema des Eremitendaseins gemeisam, wobei ›Christus und die sieben Laden‹ und ›Engel und Waldbruder‹ Protagonisten vorführen, die sich zunächst falsch verhalten (Rückkehr in die Welt, unangemessene Bitte), durch das Eingreifen einer transzendenten Figur aber zur Besserung gebracht werden. Die beigebundenen Drucke haben größtenteils eine politisch-zeitgeschichtliche Thematik und lassen sich in keine thematische Verbindung mit den handschriftlichen geistlichen Texten bringen. Geistliche Thematik lässt sich nur in der lateinischen und der deutschen Fassung eines Traktats über die selige Lucia Brocadelli von Narni finden, deren Verehrung von Ercole d’Este propagiert wurde.88 Die Prosaerzählung von ›Engel und Waldbruder‹ ist somit auf der Mikroebene zwar thematisch eingebunden, auf der Makroebene lassen sich jedoch nur sehr allgemeine Interessenschwerpunkte des Sammlers feststellen.

2 Geistliches Erzählen in Meisterliedern Geistliche Erzählstoffe wurden im 14./15. Jahrhundert nicht nur vermehrt in Prosa bearbeitet; auch die Form des mehrstrophigen Meisterlieds, das sich im 14. Jahrhundert etablierte, trat neben die Reimpaarform.89 Es wurden sowohl vorhandene geistliche Reimpaarerzählungen zu Meisterliedern umgeformt als auch geistliche Erzählstoffe unabhängig von älteren Reimpaarerzählungen in Meisterliedform neu bearbeitet. Ähnlich wie bei den Prosaerzählungen lässt sich auch bei den Meisterliedern in erzähltechnischer und stilistischer Sicht ein breites Spektrum beobachten. Die Präferenz der Strophenform scheint daher – ähnlich wie bei der Prosa – nicht nur auf einer sich von Reimpaartexten unterscheiden-

88 Vgl. Graf: Weimarer Handschrift, S. 213 f. 89 Vgl. Horst Brunner: Tradition und Innovation im Bereich der Liedtypen um 1400. Beschreibung und Versuch der Erklärung. In: Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg 1979. Hrsg. von dem Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten. Berlin 1983, S. 392–413, hier S. 402 f.; Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. 2 Bde. (MTU 82–83). München 1983–1984, hier Bd. 1, S. 1–16; Michael Baldzuhn: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift (MTU 120). München 2002, hier S. 55–68, bes. S. 67.

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den Erzählweise zu beruhen, sondern vor allem auf der zunehmenden Bedeutung, die die Form selbst innerhalb des literarischen Systems erlangte. Die Sangbarkeit strophischer Texte könnte dabei als Anreiz gegenüber der Rezitation bzw. dem stillen Lesen von Reimpaartexten eine Rolle gespielt haben.

2.1 Der Erzählstoff vom Marienbild als Bürge/Pfand Eine volkssprachige Reimpaarbearbeitung des Erzählstoffs von Maria als Bürge/ Pfand90 findet sich in den Münchner Marienmirakel-Fragmenten aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts: ›Der Kaufmann aus Byzanz‹.91 Sie nimmt Bezug auf die lateinische Fassung des ›Liber de miraculis‹ (Nr. 33). Diese Fassung berichtet von einem Archidiakon aus Lüttich, der in Byzanz Zeuge eines Festes in der Marienkirche wird. Ein Einheimischer erzählt ihm, wie es zu dem Fest kam: Ein verarmter Kaufmann hatte vor der Marienstatue dieser Kirche Christus als Bürgen für das von einem Juden geliehene Geld vorgeschlagen. Der Kaufmann wurde dann in der Fremde reich, vergaß aber den Termin, an dem er das Geld zurückzahlen sollte. Als er sich am Vorabend doch erinnerte, warf er eine Kiste mit dem Geld ins Meer, und diese wurde wunderbarerweise vor das Haus des Juden transportiert. Der Jude nahm das Geld, leugnete aber später in der Kirche, es erhalten zu haben, worauf das Marienbild zu sprechen begann und ihn der Lüge überführte. Die deutsche Reimpaarfassung steht dem lateinischen Bezugstext sehr nahe. In dem erhaltenen Abschnitt sind kaum bedeutende inhaltliche Umakzentuierungen oder stilistische Ausschmückungen zu finden. Michel Millers stoffverwandtes Meisterlied ›Der Kaufmann aus Konstantinopel‹ (um 1500)92 ist unabhängig von dem älteren Reimpaartext und gehört zu einer abweichenden Fassung des Erzählstoffes, die sich u. a. in Ps.-Caesarius von Heisterbach: ›Libri VIII miraculorum‹ III, 70, findet. In dieser zweiten Fassung fehlt die Rahmenhandlung; der Ort der Handlung trägt nicht den Namen Konstantinopel statt Byzanz. Der Kaufmann schlägt nicht Christus, sondern Maria als Bürgen vor und gibt dem Juden ein hölzernes, bemaltes Marienbild als Pfand. Als

90 Tubach 2797. 91 Vgl. Kap. III.4.2.3. 92 Vgl. Frieder Schanze: Miller, Michel. In: 2VL 6 (1987), Sp. 529–531; RSM 4, S. 351 f., 1Mil2. Ausgabe: Cramer: Kleinere Liederdichter II, S. 302–305 (zit.). Das Meisterlied ist in zwei Drucken aus dem 1. Viertel des 16. Jahrhunderts überliefert: Mainz: Friedrich Heumann, um 1510 (VD 16 M 6599) und Nürnberg: Jobst Gutknecht, um 1520 (VD 16 M 6600). Der Titelholzschnitt zeigt in einem gerahmten Bild den Kaufmann, der von einem Schiff aus die Geldkiste ins Meer wirft. Neben dem Rahmen steht der Jude (erkennbar am ›Judenfleck‹ auf der Brust), den Blick auf das gerahmte Bild gerichtet.

522 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen er in der Fremde reich geworden ist, vergisst er den Termin zwar nicht, seine Heimkehr verzögert sich aber durch einen Sturm. Nach der Rückkehr des Kaufmanns entlarvt das versetzte Marienbild die Täuschung des Juden. Millers ›Kaufmann aus Konstantinopel‹ ist ein neunstrophiges Meisterlied in Frauenlobs Spätem Ton. Gegenüber der Fassung bei Ps.-Caesarius werden teilweise andere Akzente gesetzt. Die historische Wahrheit der Erzählung wird durch die Erwähnung einer Chronik als Quelle und den Verweis auf die jüngere Geschichte betont: In einer cronick ich das laß, / und wie vor zeiten ein kaufmann was, / zu Constantinopel er da saß / mit seinem hauß, ee das der Tue rck gewane (Str. I,1 ff.). Der Kaufmann wird als besonders wahrheitsliebender Mensch vorgestellt, wodurch die Anschuldigung des Juden, er habe sein Versprechen nicht gehalten, an Brisanz gewinnt. Auch das Verarmen des Kaufmanns wird zusätzlich dramatisiert durch den Hinweis, dass das Marienbild, das er dem Juden als Pfand überlässt, das Einzige sei, was er noch besessen habe. Als der Kaufmann durch den Sturm an der Heimfahrt gehindert ist, kommt er nicht selbst auf die Idee, das Geld den Wellen zu überlassen, sondern fleht Maria um Hilfe an: In eine kirchen er da gieng, / mit betrue btem herzen er anfieng, / bat got und der am kreue ze hieng, / Maria, das si im der warheit thet beistane (Str. V,1 ff.). Prompt wird ihm in einer Audition mitgeteilt, was zu tun sei: es kam ein stimm von got und sprach, / das was Maria, der gnaden bach, / gar minnigklich si zu im iach: / »ein große sach hast (du) wider mich gethane, / das du mein bild versatzest zu dem hunde, / darumb soltest (du) steen in der hellen grunde. / deiner warheit laß ich dich geniessen, / daz du kein lue gen thetest nie. / merk, was ich dir auch sage hie: / ein wol bewarten schrein kauf dir / und thu das gelt als sambt darein verschliessen. / Und trags hin auf das meere dar, / wue rf es darein und laß hinfarn, / so wil ich es selber bewarn, / das es dem argen Jue den werden mue ge (Str. V,5–VI,4). Diese Stelle zeigt eine theologische Umakzentuierung des Geschehens gegenüber der Fassung des Ps.Caesarius: Anders als in der lateinischen Fassung erscheint die Verpfändung des Marienbildes im Meisterlied nämlich als Sünde, für die der Kaufmann eigentlich in der Hölle büßen müsste. Davor bewahren ihn nur seine in der ersten Strophe erwähnte Wahrheitsliebe und die Tatsache, dass er noch nie gelogen hat. Nicht das besondere Vertrauen zu Maria, die er als Bürgen wählt, sondern seine Befolgung des achten Gebots rettet den Kaufmann. Neben das narrative Muster des belohnten Mariendienstes tritt damit das Ordnungsschema des Dekalogs, das in der Laienkatechese des Spätmittelalters eine wichtige Rolle spielte. So wird die ursprüngliche Handlungslogik des Stoffes, die ganz auf die Gnade Marias abzielt, durchbrochen und durch eine neue Logik der Regelkonformität ersetzt. Maria erscheint dabei nicht nur als gnädige, sondern vor allem als gerechte Helferin, die die mirakulösen Vorgänge inszeniert und ausführt. Es ist hier gerade nicht die einfältig-vertrauensvolle Idee des Kaufmanns, das Geld dem Meer (und somit Maria) zu überlassen, sondern die explizite Anweisung Marias.

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Die Auseinandersetzung zwischen dem Juden und dem zurückgekehrten Kaufmann findet vor Gericht statt. Der Jude wird dazu angehalten, auf das verpfändete Bild einen Eid zu schwören, dass er das Geld nicht erhalten habe: das bilde hieß man schnelligklichen bringen / und gab dem Jue den einen bescheid, / ob er moe cht schweren einen eid / mit fingern auf das bild geleit. / Der Jue d der sprach: »ich thu es so geringe.« / Da er die finger darauf legt, / das bild gar schon fieng an und redt (Str. VIII,11–IX,2). Als der Jude den Meineid leisten will, redet das Bild und entlarvt den Betrüger. Dies entspricht der neu etablierten Handlungslogik. Der Jude ist als Kontrastfigur zum wahrheitsliebenden Kaufmann konzipiert. Er bricht das achte Gebot, indem er im Rahmen eines Gerichtsverfahrens einen Meineid leistet, und wird von Maria dafür bestraft, genauso wie der Kaufmann dafür belohnt wurde, dass er sein Wort nicht brechen wollte. Zwar wird in der letzten Strophe des Meisterlieds auch der vertrauensvolle Mariendienst empfohlen, aber im Kern ist der Mirakelstoff zu einem Wahrheitsexempel geworden. Das Meisterlied entspricht sowohl durch diese konzeptionelle Ausformung des Erzählstoffes als auch durch seine Form dem Erwartungshorizont um 1500 besser als die ältere Verserzählung.

2.2 Der Erzählstoff von der unschuldig verfolgten Ehefrau Zwei Reimpaarerzählungen, die unterschiedlichen Fassungen des Erzählstoffs von der unschuldig verfolgten Ehefrau93 angehören, Schondochs ›Königin von Frankreich‹ und Hans Rosenplüts ›Kaiserin von Rom‹, wurden um 1500 zu Meisterliedern umgearbeitet. Diese beiden Bearbeitungen und ihre Überlieferungsgeschichte sind ein gutes Beispiel für die unterschiedlichen Ausprägungen des Verhältnisses zwischen Reimpaar- und Meisterlieddichtung. Auf der in der handschriftlichen Überlieferung bereits äußerst erfolgreichen Reimpaarerzählung ›Die Königin von Frankreich‹ fußt das anonyme Meisterlied ›Die Königin von Frankreich und der ungetreue Marschall‹ in Regenbogens Langem Ton (15 Str., Ende 15. Jahrhundert).94 Gegenüber der Reimpaarfassung ist das Meisterlied bedeutend kürzer (704 V. vs. 345 V.); vor allem Partien mit Figurenreden und längeren Beschreibungen wurden ausgelassen. Neben diesen Kürzungen lassen sich auch konzeptionelle Umakzentuierungen feststellen. So wird das

93 Vgl. Kap III.3.4.; V.3.; VII.4.2.2. 94 Vgl. Frieder Schanze: Die Königin von Frankreich und der ungetreue Marschall. In: 2VL 5 (1985), Sp. 102 f.; RSM 5, 1Regb/4/640, S. 165 f. Ausgabe: M[ax] A[dolf] Pfeiffer: Das Weimarer Liederbuch (Hundertdruck 28–29). München 1918–1920, S. 129–140. Ich zitiere nach dem Druck Erfurt: [Hans Sporer], 1498 (GW M 40883).

524 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Publikum im Meisterlied verstärkt zur emotionalen Teilnahme am Geschehen und zum Mitleid mit der verstoßenen Königin aufgefordert: O wer wolt sein des syns so hart, / der nit all hy bedecht den grossen schmertz, / das dyssem reinen weibe zart / so gar durch trang yr reyns gemue t vnd hertz! / Und wen solt es erparmen nicht, / das sy von hab vnd aller yrer zyr / ab weichen must durch den gewalt / des marsch[a]lcks, dem sy nit erfuelt sein gyr (Str. IV,16 ff.). Auch in der Dialogszene zwischen dem Köhler und der Königin zeigt sich diese Intensivierung der Emotionalität. Während die Königin in Schondochs Reimpaartext den Köhler lediglich nach seinem Gewerbe fragt und ihn bittet, sie aufzunehmen, bricht die Königin des Meisterlieds in eine Klage über ihre verzweifelte Situation aus und fleht den Köhler um Erbarmen an. Bei Schondoch äußert der Köhler nur Bedenken, sie nicht standesgemäß beherbergen zu können, im Meisterlied dagegen ist er vom Schicksal der Königin ergriffen: Dem koe ller ging ser noh das klagen, / nam sy pald an, ee ir dy flucht wue rde zu spot, / troe st sy mit worten gar sue ßlich (Str. VI,5 ff.). Diese Änderungen entsprechen literarischen Tendenzen, die sich in vielen Texten des 14./15. Jahrhunderts beobachten lassen (Fokussierung auf Handlung/ Fakten, verstärkte Emotionalisierung) und auch in der ›Königin von Frankreich‹ schon erkennbar sind – in der etwa hundert Jahre jüngeren Meisterlied-Bearbeitung treten sie aber noch deutlicher hervor. Das Bemühen des Bearbeiters um Steigerung gegenüber der Vorlage zeigt sich auch an weiteren Stellen. Zur Verstoßung der Königin heißt es in der Reimpaarerzählung: Der ritter nam die fröwe zart, / Die im do bevolhen wart, / Und fuorte si durch einen tan (V. 193 ff.). Im Meisterlied ist aus dem tan ein locus horroris geworden: Der ritter alt von dannen keret / mit der kue nigin durch einen wald grausam vnd wilt (Str. V,1 f.). Der entlarvte Marschall wird im Meisterlied nicht nur, wie in der Reimpaardichtung, gerädert, sondern auch noch geschleift. Der Köhler, der bei Schondoch burge, stette und wite lant (V. 683) bekommt, wird im Meisterlied in den Grafenstand erhoben (Str. XV,13 ff.). Gleichzeitig versucht der Bearbeiter, durch die Vermeidung oder explizite Problematisierung von Unwahrscheinlichem oder Unmotiviertem die Glaubwürdigkeit des Erzählten zu steigern. So wird die Verfolgung des Ritters und der Königin durch den Marschall im Meisterlied mit der Furcht des Marschalls erklärt, verraten zu werden: wan er besorgt, die fraw wue rd im erzelen, / wy er ir vnzimlich begeret (Str. V,3 f.). Über das Umherirren der Königin im Wald bis zu ihrem Zusammentreffen mit dem Köhler heißt es bei Schondoch: Die fröwe ging in leides pfliht / In dem walde, do si was. / Loup, wurtzelen und gras / Ass si in dem gewilden, / Das minnecliche bilde. / Si ging so lang in dem tan / Untz si zuo einem koler kam (V. 210 ff.). Der Bearbeiter sieht sich angesichts dieser Schilderung zu einem erklärenden Kommentar veranlasst: Hy sagt vns die ystorig das, / wy sy drey tag vor wer im wald vmb gangen, / kraut, wurtz vnd ander soe lches aß. / Wer

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glaubt nit, daz ir schwer vnd groß verlangen, / der schmertz vnd dy hertzliche forcht, / vntzimliche speiß vnd richt / das klar zart weib hab kue n ertauren nicht! / Ich schweig in irem leib der frucht, / damit sy so schwerlich beladen war, / das sy ein schoe nen sun gebar. / Nit wunder, wer das verschmacht wer gar, / dan das got alle dinck vermag / und hat dy sein alweg in der pflicht. / Ob dy goe tliche macht das worckt, / das selb mein mund auch nimmer wider spricht (Str. VI,9 ff.). Der Erzähler gibt zu, dass es unwahrscheinlich sei, dass eine so vornehme Frau dieses harte Leben ausgehalten habe, gibt aber Gottes Hilfe als nicht anzweifelbaren Grund dafür an. Mit dem Verweis auf die Quelle (ystorig) verwahrt er sich gegen jede Unterstellung, er habe etwas Unwahrscheinliches erfunden. Während der ermordete Ritter, der die Königin in die Verbannung begleiten sollte, bei Schondoch nicht mehr erwähnt wird, nachdem der Hund den Mord ›aufgeklärt‹ hat, führt der Bearbeiter den Erzählstrang mit dem christlichen Begräbnis des Toten zu Ende: Er wart erstlich mit der processen / geholet auß dem wald vnd zu der erd bestat / Mit grosser pitterlicher klag / aller menigklich dy pey dem opffer waren (Str. XI,1 ff.). Nicht nur die formalen und konzeptionellen Veränderungen unterscheiden das Meisterlied von seiner Vorlage – auch seine Überlieferungssituation weicht ab. Das Meisterlied ist nur im Druck überliefert, und in seinem ältesten Textzeugen, einem Druck von 1498, ist es mit einem Bildzyklus von 16 Holzschnitten ausgestattet, die die wichtigsten Stationen der Handlung wiedergeben. Auf dem Titelholzschnitt ist im unteren Bildfeld der Ausritt des Königs zur Jagd zu sehen, im oberen Bildfeld legt der Marschall den Zwerg ins Bett der Königin. Dadurch, dass der Titelholzschnitt gleichzeitig das erste Bild des Zyklus ist, ist die Übereinstimmung von Bild und Text in der Folge gestört. Erfurt: [Hans Sporer], 1498 4° · 10 Bll. · Titelholzschnitt und 15 Holzschnitte im Text · GW M 40883 Ex.: Washington, Libr. of Congr., Incun. 1497. E. 3, Rosenwald-Collection Lit.: Sibylle Jefferis: Das Meisterlied von der Königin von Frankreich. Ihre Geschichte in Text und Bildern. In: Current Topics in Medieval German Literature. Texts and Analyses (Kalamazoo Papers 2000–2006). Hrsg. von Sibylle Jefferis (GAG 748). Göppingen 2008, S. 118–149.

Neben diesem illustrierten Frühdruck sind sechs weitere Drucke bis ca. 1570 bekannt. Die jüngeren Drucke sind alle in Nürnberg entstanden und enthalten nur einen Titelholzschnitt.95 Das Meisterlied wurde also noch bis in die 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts rezipiert. Schondochs Reimpaarfassung dagegen ist zwar in 21 Handschriften des 15. Jahrhunderts überliefert, es sind aber keine gedruckten

95 Vgl. das Verzeichnis der Drucke in RSM 1, Nr. 136 (S. 392 f.).

526 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Textzeugen belegt. Im Fall der ›Königin von Frankreich‹ scheint somit eine klare Ablösung des älteren Reimpaartextes durch das jüngere Meisterlied stattgefunden zu haben, die nicht nur mit dem Wechsel der Form, sondern auch mit dem Wechsel des Überlieferungsmediums (Handschrift – Druck) einherging. Das Bestreben des Meisterlied-Verfassers, den Erwartungen des Publikums im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert besser gerecht zu werden, das er im Epilog ausdrückt (Hie mit endt sych diss neue gedicht, / vnd ist in eim gemein thon gemacht, / doch neue nach der ystory nicht, / sunder wy vor in sprue chen ist gedacht, / vnd fast in kurtz begriffner art, V. XV, 16 ff.), hat sich offenbar gelohnt. Ein ganz anderes Bild zeigt sich bei Hans Rosenplüts ›Kaiserin von Rom‹ (452 V., Mitte 15. Jahrhundert) und dem auf diesem Text basierenden Meisterlied von Albrecht Baumholz. Rosenplüts Fassung ist in fünf Handschriften und zwei Drucken aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts erhalten, eine niederdeutsche Bearbeitung ist in einem Druck aus dem Jahr 1500 überliefert.96 Im Gegensatz zur älteren ›Königin von Frankreich‹ hat Rosenplüts Text somit den Übergang in die Drucküberlieferung geschafft. Im späten 15. oder frühen 16. Jahrhundert wurde die Reimpaarerzählung von einem Autor namens Albrecht Baumholz als Meisterlied in Frauenlobs Vergessenem Ton bearbeitet (17 Str.).97 Wie auch bei der ›Königin von Frankreich‹ ist der Umfang des Meisterlieds deutlich geringer (452 V. vs. 255 V.); vor allem Figurenreden wurden gekürzt. Außerdem hat Baumholz alle gelehrten, biblischen oder antiken Anspielungen Rosenplüts getilgt.98 Baumholz’ ›Kaiserin von Rom‹-Meisterlied ist unikal in der von Hans Sachs geschriebenen Meisterlieder-Handschrift Berlin, Staatsbibl., Mgq 414 (Nürnberg, 1517/18) überliefert. Das Meisterlied ist nicht in den Druck gelangt und scheint – der erhaltenen Überlieferung nach zu urteilen – deutlich weniger erfolgreich gewesen zu sein als Rosenplüts Reimpaartext. Der Hauptgrund dafür mag weniger in der Form des Textes als vielmehr in der Tatsache liegen, dass Rosenplüt in Nürnberg als literarische Größe etabliert war und Baumholz sich vielleicht aus diesem Grund überhaupt erst mit dessen Reimpaartext befasst hat, ohne die Absicht zu hegen, ihn durch eine neuere Fassung zu ersetzen – auch wenn sich bei Baumholz ähnliche modernisierende Bearbeitungstechniken beobachten lassen wie im ›Königin von Frank-

96 Vgl. Rosenplüt (Reichel), S. 8 f., IX–XX. 97 Vgl. Frieder Schanze: Baumholz, Albrecht. In: 2VL 1 (1978), Sp. 647 f.; RSM 3, 1Baumh/1, S. 13. Ausgabe: Cramer: Kleinere Liederdichter I, S. 67–75. 98 Bei Rosenplüt wird der Kaiser Octavian mit Salomo, David und Hiob verglichen (V. 10 ff.), und die Kaiserin zählt auf der einsamen Insel die biblischen Vorbilder Susanna, Judith, Josua und Daniel auf, denen Gott in einer Notlage geholfen habe (V. 268 ff.). In die Absage der Kaiserin an den zweiten Verführer, den Bruder des Grafen, ist bei Rosenplüt ein Edelsteinkatalog eingefügt, den Baumholz ebenfalls weggelassen hat.

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reich‹-Meisterlied. Das Beispiel des Baumholz’schen Meisterliedes zeigt, dass neben der Präferenz für eine bestimmte Form oder Erzählweise im Einzelfall auch andere Faktoren für die Weitertradierung und Rezeption eines Textes entscheidend sein konnten, es sich also auch hier um komplexe Phänomene handelt, die sich nicht auf eine einfache diachrone Entwicklungsformel reduzieren lassen. Dennoch lassen sich auf einer allgemeinen, über den Einzeltext hinausgehenden Ebene Tendenzen erkennen. So ist die Bevorzugung der MeisterliedForm – ähnlich wie die zunehmende Bedeutung der Prosa – ein Phänomen, das sich nicht auf geistliche Erzählungen beschränkt oder für diesen Texttyp spezifisch ist. Ein Beispiel aus der schwankhaften Literatur soll deshalb das hier skizzierte Bild ergänzen. Die Reimpaarerzählung ›Ritter Alexander‹ (259 V., wohl 2. Hälfte 15. Jahrhundert) ist in zwei Drucken überliefert.99 Sie berichtet Von dem aller schonsten Ritter Alexander vnd seiner schoe nsten frawen, vnd wie er noch mit einer schoe nern in einem andern landt sein ee brach,/ dardurch sie beyde in ein thurn gelegt wurden,/ vnd wie sein recht eeweyb sie beyde erlediget.100 Die Ehefrau des Ritters befreit ihren Mann und seine Geliebte, indem sie Alexander im Gefängnis besucht und mit ihm die Kleider tauscht. Er verlässt das Gefängnis, sie aber behauptet vor Gericht, sie selbst habe die andere Frau besucht, um herauszufinden, welche von beiden die Schönere sei. Wegen der beschwerlichen Reise habe sie Männerkleidung getragen. Durch diese List löst sich alles in Wohlgefallen auf. Wahrscheinlich diente die Erzählung von ›Ritter Alexander‹ als Vorlage für Martin Maiers ›Ritter aus der Steiermark‹, ein Meisterlied im Herzog-Ernst-Ton (35 Str., auf 1507 datiert).101 Darin wird prinzipiell die gleiche Geschichte erzählt, sie ist aber noch um eine Vorgeschichte erweitert: Trimunitas, der Ritter aus der Steiermark, kommt an den dänischen Königshof. Die dänische Königstochter Flordebel verliebt sich in ihn und erwirkt schließlich von ihrem Vater, mit Trimunitas verheiratet zu werden. Bei der Hochzeit sagt ein französischer Ritter, dass nur die Königin von Frankreich noch schöner sei als Flordebel. Um dies zu überprüfen, fährt Trimunitas nach Frankreich. Er sieht, dass die Königin tatsächlich schöner ist, begeht Ehebruch mit ihr, wird jedoch ertappt und eingekerkert. Von seiner treuen Ehefrau wird er dann auf gleiche Weise gerettet wie Ritter Alexander in der Reimpaardichtung. Von ›Ritter Alexander‹ ist nur ein einziger Druck

99 Vgl. Frieder Schanze: Ritter Alexander. In: 2VL 8 (1992), Sp. 94 f. Zur Überlieferung s. ebd., Sp. 94. Hier zitierter Einzeldruck: Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1515 (VD 16 ZV 16483, Ex.: Berlin Staatsbibl., Yd 7820, Nr. 13 R). Ausgabe: Fischer: Märendichtung, Nr. 36, S. 330–337. 100 Titel des Drucks. 101 Vgl. RSM 4, S. 259–261, RSM 1, S. 401–406. Zu Martin Maier vgl. Frieder Schanze: Maier, Martin. In: 2VL 5 (1985), Sp. 1167–1172 und 2VL 11 (2004), Sp. 957.

528 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen aus dem frühen 16. Jahrhundert erhalten, vom ›Ritter aus der Steiermark‹ sind dagegen 27 Drucke aus der Zeit von ca. 1510 bis 1663 bekannt – der Text wurde somit noch weit über das 16. Jahrhundert hinaus weitertradiert. Dieser Vergleichsfall macht deutlich, wie sehr die Meisterlied-Form im literarischen System des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts an Bedeutung gewann. Dies musste sich auch auf den literatursystematischen Status des Texttyps der Reimpaarerzählung auswirken, was sich besonders deutlich in der Drucküberlieferung des 16. Jahrhunderts zeigt, in der selbst aktuelle Reimpaarerzählungen wie Hans Rosenplüts ›König im Bad‹ oder ›Ritter Alexander‹ gegenüber Meisterliedern einen schweren Stand hatten.102

3 Geistliches Erzählen im Drama Eine weitere Möglichkeit, geistliche Erzählstoffe in der Volkssprache zu bearbeiten, war die dramatische Form. Der Unterschied zur Verserzählung ist in diesem Fall größer als bei der Prosaerzählung oder beim Meisterlied, da es sich um eine ganz andere Art der Gestaltung eines Stoffes (dramatische statt narrative Umsetzung) handelt. Aufgrund seiner Entstehung aus der Liturgie heraus wurden im geistlichen Spiel vorrangig biblische und heilsgeschichtliche Stoffe dargestellt.103 Im französischen Sprachraum wurden seit dem 13. Jahrhundert auch zunehmend Mirakelstoffe dramatisiert,104 wie etwa Rutebeufs ›The´ophile‹105 und die Sammlung von Marienmirakelspielen der Handschriften Paris, BNF, Ms. frc¸. 819 und 820106 zeigen.

102 Bei einigen Reimpaarerzählungen, die in den Druck gelangten, hört die Tradierung im 1. Drittel des 16. Jahrhunderts auf: ›König im Bad‹ (jüngster Druck ca. 1501), Rosenplüts ›König im Bad‹ (einziger Druck ca. 1530), Rosenplüts ›Kaiserin von Rom‹ (jüngster Druck 1500), ›Ritter Gottfried‹ (jüngster Druck ca. 1510). Gegenbeispiele sind die schwankhafte Erzählung ›Bruder Rausch‹ (zwei Drucke in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts) und Hans Folz’ ›Pfarrer im Ätna‹ (ein Druck von 1593). 103 Zu den verschiedenen Inhaltstypen geistlicher Spiele vgl. die Übersicht bei Schulze, Ursula: Geistliche Spiele im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Von der liturgischen Feier zum Schauspiel. Eine Einführung. Berlin 2012, S. 45–199. 104 Vgl. Charles Mazouer: Le the´aˆtre franc¸ais du Moyen Age. Paris 1998. Zum Verhältnis von narrativer und dramatischer Umsetzung von Mirakelstoffen vgl. auch Anna Drzewicka: De la narration au jeu. Les Miracles de Notre-Dame. Cahiers de Varsovie 19 (1992), S. 33–45. 105 Ausgabe: Rutebeuf: Le miracle de The´ophile. Hrsg., übersetzt u. kommentiert von Jean Dufournet (GF 467). Paris 1987. Vgl. auch Dumont: Comment inscrire. 106 Ausgabe: Miracles de Nostre Dame par personnages. Hrsg. von Gaston Paris/Ulysse Robert (Socie´te´ des anciens textes franc¸ais). Paris 1876–1893.

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Im 14. und 15. Jahrhundert entstehen auch im deutschen Sprachraum einzelne geistliche Spiele, die Mirakelstoffe bearbeiten und mit geistlichen Verserzählungen stoffverwandt sind,107 etwa das mnd. ›Theophilus-Spiel‹.108 Dieser Text steht allerdings in keinem direkten Bezug zur älteren Verserzählung des ›Passionals‹. Auch bei dramatischen Texten aus späteren Jahrhunderten, die geistliche Erzählstoffe verarbeiten, liegt meist keine Bezugnahme auf stoffverwandte ältere Verserzählungen vor. Zu nennen wären hier etwa Hans Sachs’ ›Engel und Waldbruder‹-Spiel109 oder Jacob Gretsers Jesuitendrama ›Dialogus de Udone Archiepiscopi Magdeburgensis‹.110 Ausnahmen stellen Sebastian Brants ›Tugendspiel‹ und Römoldts ›Fein Christlich vnd nue tzlich Spiel von dem grewlichen Laster der Hoffart‹ dar, die direkte Bezüge zur Erzählung vom ›König im Bad‹ aufweisen.111 Auf den literatursystematischen Status des Texttyps der geistlichen Verserzählung hatte die dramatische Form – im Gegensatz zu anderen Formen wie Prosa und Meisterlied – anscheinend keinen entscheidenden Einfluss.

4 Einbettung in Großtexte Eine Eigenschaft des Texttyps der geistlichen Verserzählung ist die prinzipielle Selbständigkeit der Texte. Dies unterscheidet sie etwa von Mirakelepisoden in Heiligenlegenden, die als Bestandteil eines größeren Textes konzipiert und meist auch tradiert werden. Allerdings gibt es auch hier Zwischenstufen und fließende Übergänge: Die syntaktisch in den Haupttext eingebundene Episode und die in sich geschlossene, als Einzeltext überlieferte Verserzählung bilden nur die Enden der Skala. Als Beispiele für Zwischenformen wären etwa zu nennen: Die Erzählung ›Der einfältige Pfarrer‹ aus den ›150 Mariengrüßen‹, die zwar eine in sich

107 Zum Texttypus des Mirakelspiels im Allgemeinen vgl. Elke Ukena: Die deutschen Mirakelspiele des Spätmittelalters. Studien und Texte. 2 Bde. (Arbeiten zur mittleren deutschen Literatur und Sprache 1). Bern/Frankfurt a.M. 1975. 108 Vgl. Kunze/Linke: Theophilus, Sp. 778–782; Andre´ Schnyder: Das mittelniederdeutsche Theophilus-Spiel. Text – Übersetzung – Stellenkommentar (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 58 [292]). Berlin/New York 2009. 109 Vgl. Hans Sachs: Werke. Hrsg. von Adelbert von Keller. Tübingen 1870–1908, hier Bd. XI, S. 359–373. 110 Zur Verserzählung vgl. Nigel F. Palmer: Udo von Magdeburg. In: 2VL 9 (1995), Sp. 1213–1220. Zu Gretsers Drama vgl. Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begründet von Helmut de Boor und Richard Newald, Bd. 5). München 2009, S. 344–346. 111 Vgl. Müller: König im Bad, S. 147–177.

530 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen geschlossene Erzähleinheit darstellt, aber nur im Rahmen des größeren Textes überliefert ist; die ›Barlaam‹-Parabeln, die sowohl als Teil eines Großtextes als auch als selbständige Kleintexte auftreten;112 die ›Passional‹-Marienmirakel, die als Teil eines großen Werks entstanden und durch ihre stereotypen Schlussformeln als zusammengehörige Gruppe gekennzeichnet sind, bereits früh aber als selbständige Erzählungen tradiert wurden; die Münchner Marienmirakel-Fragmente, die im Rahmen einer größeren Mirakelsammlung entstanden sind und anscheinend nur in diesem Rahmen tradiert wurden. Gerade die Form der (Mirakel-, Exempel-)Sammlung, die in der lateinischen und deutschen Prosaliteratur, aber auch in der französischen Versliteratur113 eine wichtige Rolle bei der Entstehung geistlicher Kleintexte gespielt hat, scheint für die deutschen Verserzählungen nicht so bedeutend gewesen zu sein. Abgesehen von den Münchner Marienmirakel-Fragmenten und den ›Passional‹-Marienmirakeln erscheinen die meisten geistlichen Verserzählungen in der Überlieferung als Einzeltexte, die mit anderen Texten wechselnde Überlieferungsverbünde eingehen, aber wohl nicht im Rahmen einer größeren Sammlung entstanden sind. So kann man die Fälle, in denen etwa einzelne ›Passional‹-Marienmirakel selbständig weitertradiert werden, als Anpassung an die für den Texttyp gängige Form der Überlieferung als selbständige Einzeltexte sehen. Es gibt jedoch auch das gegenläufige Phänomen, nämlich die Integration ursprünglich selbständiger Verserzählungen in größere Texte. So fanden Auszüge aus Konrads von Fußesbrunnen ›Kindheit Jesu‹ Aufnahme in Bruder Philipps ›Marienleben‹, ins ›Passional‹114 und als Prosaauflösung ins ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹;115 Konrads von Heimesfurt ›Urstende‹ wurde in

112 Der nur 16 Verse umfassende ›Zweikampf‹, der im ›Barlaam‹ nicht syntaktisch in den Haupttext eingebunden ist, wurde beispielsweise ohne jede Änderung in Kleinepiksammlungen des 14. Jahrhunderts übernommen. Der Anfang des ›Einhorns‹ blieb bei der selbständigen Überlieferung auch unverändert, die letzten vier Verse, die den syntaktischen Übergang zum Haupttext herstellen, mussten jedoch modifiziert werden: »hie sıˆ dir bilde bıˆ gegeben / daz du ˆ dirre welte leben / rehte erkennest wie sıˆ sta ˆt.« / do ˆ sprach der guote Jo ˆsapha ˆt (Rudolf von Ems: ›Barlaam‹, 120,13 ff.) vs. hie sei vns bilde bi gegeben / daz wir dirre werlt leben / zv recht erkennen wie si stat / wan si kein stete hat (Heidelberg, UB, Cpg 341, Bl. 203v). Aus der Anrede einer Einzelperson, wie sie im Dialog zwischen Barlaam und Josaphat gegeben ist, wurde in der selbständigen Fassung ein den Erzähler und das Publikum einschließendes wir. Der letzte Vers leitet im ›Barlaam‹ wieder zur Haupthandlung über. Er konnte wegen des Reims nicht ganz weggelassen werden. Der Bearbeiter hat ihn deshalb durch einen Flickvers ergänzt, der zwar keine neue Information enthält, aber das Reimpaar abschließt. 113 Vgl. beispielsweise die Marienmirakelsammlungen Gauthiers de Coincy sowie Jeans und Baudouins de Conde´. 114 Vgl. Fromm: Konrad von Fußesbrunnen, Sp. 175. 115 Vgl. Kap. III.4.1.1.

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Heinrichs von München ›Weltchronik‹ aufgenommen.116 Wie sich ästhetische und konzeptionelle Verfasstheit eines ursprünglich selbständigen Textes durch die Integration in einen Großtext ändern konnten, wird im Folgenden anhand der Erzählung ›Adams Klage‹ nachgezeichnet, die in verschiedene Redaktionen von Rudolfs von Ems ›Weltchronik‹ interpoliert wurde.

4.1 ›Adams Klage‹ 4.1.1 Selbständige Fassung Die Erzählung ›Adams Klage‹ (13. Jahrhundert, 426 V.)117 behandelt das Schicksal des ersten Menschenpaares, das sich nach der Verstoßung aus dem Paradies auf der diesseitigen Welt zurechtfinden muss. Nach der Verstoßung aus dem Paradies müssen Adam und Eva auf der Welt ein karges Leben führen. Sie bauen sich eine Hütte und klagen sieben Tage lang, bis sie vom Hunger übermannt werden. Wie die Tiere müssen sie nun Laub und Gras essen. Eva bekennt sich schuldig am Sündenfall und bittet Adam, sie zu töten. Er lehnt dies aber als weiteren Verstoß gegen Gottes Gebot ab und schlägt stattdessen vor, Gott durch Buße gnädig zu stimmen. Eva soll 34 Tage nackt im Tigris stehen und beten, Adam 40 Tage im Jordan. Während die ganze Schöpfung mit Adam klagt, erscheint der Teufel in Engelsgestalt der Eva und macht ihr weis, ihre Buße sei bereits vollendet. Er führt die Entkräftete zu Adam zurück, der sie mit Wehe-Rufen empfängt, da er den abermaligen Betrug des Teufels erkennt. Auf Adams und Evas Vorwürfe hin erklärt der Teufel, dass er Adam hasse, weil dieser die Schuld an seinem Sturz trage. Gott habe nämlich den Engeln geboten, den nach seinem Bild geschaffenen Menschen anzubeten. Er, Lucifer, habe sich jedoch geweigert, ein Wesen anzubeten, das nach ihm entstanden sei und sich in seinem Hochmut auch über Gott erhoben, was zu seinem Sturz führte. Auf Adams Bitte hin verschwindet der Teufel. Eva hält sich nicht mehr für würdig, mit Adam zusammenzubleiben und geht ans westliche Ende der Welt. Sie ist schon schwanger, und als die Zeit der Geburt herannaht, bittet sie Gott vergeblich um Erbarmen und Hilfe. Die Sonne und die Sterne kann sie jedoch bewegen, Adam von ihrer Not zu berichten, und Adam erwirkt dann durch sein Gebet, dass zwölf Engel Eva zu Hilfe gesandt werden. Der Erzengel Michael selbst dient als Hebamme. Kain wird geboren, kann sogleich laufen und bringt seiner Mutter ein Kräutlein. Michael unterweist daraufhin Adam im Ackerbau, und die Familie zieht wieder nach Osten. Mit der Angabe, dass Adam 30 Söhne und 30 Töchter gezeugt und 930 Jahre gelebt habe, schließt der Text.

116 Vgl. Fechter: Konrad von Heimesfurt, Sp. 201; Hoffmann: Konrad von Heimesfurt, S. 211–253. 117 Vgl. Brian Murdoch: Adams Klage. In: 2VL 1 (1978), Sp. 45–47 und 2VL 11 (2004), Sp. 14. Ausgabe: GA I, Nr. 1 (S. 5–16). Überlieferung der selbständigen Fassung: Kleinepiksammlungen HKk (vgl. Kap. IV.1.1.2.); in der Handschrift Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2709 (Mittelbayern/Böhmen [Prag?], 1. Hälfte 14. Jahrhundert) stehen die ersten 50 Verse der Erzählung als Nachtrag zu Bruder Philipps ›Marienleben‹.

532 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen In dieser ursprünglichen Fassung ist eine Episode aus dem Leben Adams als selbständige, von Prolog und Epilog gerahmte Erzählung gestaltet worden. Die Vorgeschichte (der Sündenfall) wird als bekannt vorausgesetzt (V. 9 ff.); im Epilog wird der Vorwurf der Unvollständigkeit vorweggenommen und abgewiesen, indem der Erzähler betont, es wäre eine zu große Arbeit und würde zu lange dauern, alles Leid zu erzählen, das Adam auf Erden erlebt habe (V. 418 ff.). Die hier herausgegriffene Episode erschien dem Verfasser wohl besonders geeignet, da sie sowohl emotional als auch didaktisch funktionalisiert werden konnte, wie die Ankündigung im Prolog erkennen lässt: Welt ir ez vernemen, daz ich iu sage, / ein vil jæmerlıˆche klage, / Gro ˆz herzen leit und ungemach, / daz Adam und Even geschach / Von des tiuvels ræten, / dem si gevolget hæten (V. 1 ff.). ›Adams Klage‹ steht somit in einer ähnlichen Tradition bibelepischen Erzählens wie die Werke Konrads von Fußesbrunnen und Konrads von Heimesfurt:118 Die Erzählung soll nicht nur eine Informationslücke schließen, sondern vor allem die Heilsgeschichte emotional nachvollziehbar und didaktisch nutzbar machen, indem die Möglichkeit der Identifikation mit den biblischen Personen geboten und eine ausgereifte Bußlehre vermittelt wird.119 Anhand des Verhaltens der ersten Menschen werden exemplarisch verschiedene Möglichkeiten der gescheiterten und gelungenen Buße durchgespielt, die als prototypische Konkretisierungen allgemeiner Bußregeln verstanden werden können. So gesteht Eva ihre Schuld zwar ein, verzweifelt aber daran. Erst auf Adams Rat – der hier quasi die Rolle des Priesters einnimmt – wird in der Hoffnung auf Gottes erbarmeheit (V. 59) eine angemessene Buße beschlossen. Adam führt diese vorbildlich aus, seine Klage bewegt den ganzen Kosmos (Diu tier und ouch diu vogelıˆn, / daz wazzer liez sıˆn vliezen sıˆn, / Elliu geschefede half im klagen, V. 13 ff.), doch Eva lässt sich erneut vom Teufel täuschen und verfällt somit ein zweites Mal in Sünde. Diese Wiederholung der Sünde verweist auf ihre prinzipielle Wiederholbarkeit, wie der Teufel dies in seiner Rede an Adam formuliert: Und wil ouch immer me ˆre, / swa ˆ ich mak, ich verke ˆre / Dich und dıˆn geslehte (V. 217 ff.). Durch sein beständiges Gebet erreicht Adam jedoch von Gott, dass der Teufel verschwindet, und dies wird zum Anlass genommen, den Nutzen eines guten Gebetes darzustellen: Do ˆ er gebeten hæte, / und Got gesach sıˆn stæte, / Er tet, als er noch hiute tuot, / swenne an in gewendet sıˆnen muot / Genzlıˆchen der sündære, / dem buezet er sıˆner swaere / Also ˆ daz er im gewert, / ob er rehter dinge gert (V. 247 ff.). Am Beispiel Evas wird dann gezeigt, dass der erzürnte Gott sich vom Sünder abwenden kann, wenn dieser nicht angemessen gebüßt hat. In

118 Vgl. Kap. III.4.1.1. 119 Vgl. auch Danielle Jaurant: Rudolfs ›Weltchronik‹ als offene Form. Überlieferungsstruktur und Wirkungsgeschichte (Bibliotheca Germanica 34). Tübingen/Basel 1995, S. 329–333.

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ihren Geburtsnöten wird Eva alleingelassen, bis Adam herbeikommt und für sie bittet. Da er weniger gesündigt und besser gebüßt hat als sie, wird er erhört, wie der von Gott geschickte Erzengel Michael erklärt: Eva, du ˆ muost heilik sıˆn / von Adam, dem wirte dıˆn; / Den ha ˆt Got so ˆ gar erkant, / daz er uns ha ˆt ze dir gesant, / Er ha ˆt gestillet sıˆnen zorn (V. 371 ff.). Adam übernimmt somit die Rolle des Intercessors. Das Modellhafte des Textes zeigt sich auch in der Figurenzeichnung. Der Sündenfall wird fast ausschließlich Eva zugeschrieben, Adam dagegen verhält sich standhaft und vorbildlich. Er repräsentiert den idealen pater familias, der in allen Situationen guten Rat weiß, die richtigen Entscheidungen trifft und für das Überleben der Seinen sorgt. Eva, die nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Schwäche sündigt, wird in der Rolle der gehorsamen Ehefrau dargestellt, die sich in allen Dingen nach dem Willen ihres Mannes richtet: Si tet, daz si des niht enliez, / swaz si her Adam tuon hiez (V. 93). Wenn sie auf sich allein gestellt ist, erkennt sie den Betrug des Teufels nicht. Diese Schilderung der ersten Menschen als Hausvater und Ehefrau nach zeitgenössischen Idealvorstellungen erleichtert einerseits die Identifizierung der Rezipienten mit den Figuren, andererseits bietet sie ein Stück implizite Ehedidaxe. 4.1.2 Interpolierte Fassung Für die Aufnahme in die ›Weltchronik‹-Redaktionen wurde die Erzählung ›Adams Klage‹ gekürzt und angepasst. Die interpolierte Fassung120 umfasst nur noch 378 Verse, sie beginnt mit V. 17 der selbständigen Fassung und hört mit deren V. 380 auf. Prolog und Epilog wurden getilgt, um den Text in den ›Weltchronik‹-Kontext einzubetten. Der Passus, in dem Michael Adam zum Ackerbauern ausbildet sowie der Hinweis auf die weitere Nachkommenschaft Adams und Evas wurden ausgelassen, um die Kohärenz mit dem Großtext zu gewährleisten, in dem auf die Episode ›Adams Klage‹ zunächst die Geschichte von Kain und Abel folgt, bevor Adams weitere Nachkommen erwähnt werden. Durch die Auslassung der diskursiven Teile, die gerade die Rechtfertigung für die Gestaltung der Episode als Einzeltext enthielten, hat die Erzählung nicht nur äußerlich, sondern auch konzeptionell ihre Selbständigkeit eingebüßt. Es findet sich aber auch eine bedeutende inhaltliche Änderung in der interpolierten Fassung. Sie betrifft die Darstellung des Engelssturzes in der Rede des Teufels zu Adam. In der selbständigen Fassung nennt der Teufel als erste Ursache für seinen Sturz die Weigerung, den soeben geschaffenen Adam anzubeten. Diese Darstellung folgt der lateinischen Adam-Vita, die als Bezugstext für ›Adams Kla-

120 Ausgabe: Hermann Fischer: Die Buße Adams und Evas von einem Unbekannten. Aus Handschriften der Weltchronik Rudolfs von Ems. Germania 22 (1877), S. 316–341.

534 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen ge‹ diente:121 quando insufflavit deus spiritum vitae in te et factus est vultus et similitudo tua ad imaginem dei, et dixit dominus deus: ecce Adam, feci te ad imaginem et similitudinem nostram. Et egressus Michahel vocavit omnes angelos dicens: adorate imaginem domini dei, sicut praecepit dominus deus. et ipse Michahel primus adoravit, et vocavit me et dixit: adora imaginem dei Jehova. et respondi ego: non habeo ego adorare Adam. et cum compelleret me Michahel adorare, dixi ad eum: quid me compellis? non adorabo deteriorem et posteriorem meum. in creatura illius prius sum. antequam ille fieret, ego iam factus eram. ille me debet adorare. Hoc audientes ceteri qui sub me erant angeli noluerunt adorare eum. et ait Michahel: adora imaginem dei. si autem non adoraveris, irascetur tibi dominus deus. et ego dixi: si irascitur mihi, ponam sedem meam super sidera caeli et ero similis altissimo. Et iratus est mihi dominus deus et misit me cum angelis meis foras de gloria nostra (S. 225 f., Z. 73–88).122 Der lateinische Text macht deutlich, dass erst das Gebot, Adam anzubeten, Lucifer dazu gereizt hat, sich gegen Gott aufzulehnen und sich schließlich nicht nur über den Protoplasten, sondern über Gott selbst zu erheben.123 Beim Bearbeiter, der ›Adams Klage‹ in die ›Weltchronik‹ interpolierte, scheint diese Version des Engelssturzes jedoch – wohl aufgrund ihrer nicht-ka-

121 Vgl. Wilhelm Meyer: Vita Adae et Evae. Abhandlungen der philosophisch-philologischen Classe der königlich-bayerischen Akademie der Wissenschaften 14/3 (1878), S. 185–250 (mit Ausgabe, zit.). Zur komplexen Stoffgeschichte der apokryphen Adam-Leben vgl. Bob Miller: Eine deutsche Versübersetzung der lateinischen ›Vita Adae et Evae‹ in der ›Weltchronik‹ Heinrichs von München. In: Studien zur ›Weltchronik‹ Heinrichs von München. Bd. 1: Überlieferung, Forschungsbericht, Untersuchungen, Texte. Hrsg. von Horst Brunner (Wissensliteratur im Mittelalter 29). Wiesbaden 1998, S. 240–332, hier S. 240–259. 122 Als Gott dir den Lebensgeist einhauchte und dein Gesicht und deine Gestalt nach dem Bild Gottes gemacht wurden, da sagte Gott, der Herr: Siehe, Adam, ich habe dich nach meinem Bild geschaffen. Und Michael ging hinaus und rief alle Engel zusammen und sagte: Betet das Abbild Gottes, des Herrn, an, wie Gott, der Herr, es befohlen hat. Und Michael selbst war der erste, der [Adam] anbetete, und er rief mich und sagte: Bete das Abbild des Gottes Jehova an. Ich aber antwortete: Ich habe Adam nicht anzubeten. Und als Michael mich drängte, [ihn] anzubeten, sagte ich zu ihm: Wieso drängst du mich? Ich werde keinen anbeten, der schlechter und jünger ist als ich. Unter den Geschöpfen bin ich ihm überlegen. Ich war früher als seine Erschaffung. Es wäre recht, dass er mich anbetete. Als sie dies hörten, wollten auch die übrigen Engel, die mir untergeben waren, ihn nicht anbeten. Da sagte Michael: Bete das Abbild Gottes an. Wenn du ihn aber nicht anbeten solltest, wird Gott, der Herr, dir zürnen. Und ich sagte: Wenn er mir zürnt, werde ich meinen Thron über die Sterne des Himmels setzen und werde dem Höchsten gleich sein. Und Gott, der Herr, zürnte mir und beraubte mich und meine Engel unserer Würde. 123 Diese Version des Engelssturzes ist in den apokryphen Adam-Leben und ähnlich auch im Koran bezeugt. In dieser lateinischen Fassung wird sie mit dem biblischen Motiv des Hochmütigen, der seinen Thron über die Sterne setzt (Is 14,12), vermischt. Vgl. Koran, Sure 7,11–18 und 38,71–85 (Ausgabe: Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin. München 2010); Meyer: Vita Adae et Evae, S. 225, Anm. zu Z. 77; Miller: Deutsche Versübersetzung, S. 241 (Anm. 3).

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nonischen Elemente – auf Unverständnis gestoßen zu sein. Er macht aus der Weigerung des Teufels, den Menschen anzubeten, eine Weigerung, Gott anzubeten: ›Adams Klage‹ (V. 198 ff.)

Interpolierte ›Adams Klage‹ (V. 165 ff.)

Wan daz ich wart versto ˆzen mit andern mıˆnen geno ˆzen, Daz kom von dıˆnen schulden: mir gebo ˆt bıˆ sıˆnen hulden Got unser schepfære, naˆch dem du ˆ gebildet wære, Do ˆ du ˆ im wære gelıˆch, daz ich ane betet dich; Ich sprach, daz ichz niht tæte, sıˆt er mich schoener hæte Und eˆ geschaffen, danne dich, so ˆ soldestu ane beten mich. Daˆ ane beten dich al gemeine die engel, den ich eine; Micheˆl der engel heˆrste der was der aller eˆrste; Der selbe Micheˆl sprach ze mir: »unser herre haˆt geboten dir, Daz du ane betest sıˆne hant getaˆt, Adam, den er gebildet haˆt Naˆch sıˆnes selbes bilde.«

wan daz ich wart versto ˆzen mit allen mıˆnen geno ˆzen, daz kam von dıˆnen schulden, do ich wider gotes hulden mit mıˆner ho ˆchferte warp. daˆ von mıˆne eˆre gar verdarp

ich sprach, diu rede [diu] wær wilde, Jchn wolde niht ane beten dich; er möhte lıˆhte erzürnen mich, Daz ich mit mıˆnem tro ˆne sæze gegen dem aquilo ˆne Und wurde glıˆch dem obersten Gote

in an betten gemeine alle engel denne ich eine. Michael der engel heˆrste was do ˆ der aller eˆrste der selbe sprach so ˆ zu mir: »unser herre haˆt geboten dir, du ˆ solt an beten in, sıˆt er dir wıˆsheit unde sin vor uns allen haˆt gegeben, du ˆ solt naˆch sıˆme gebote leben.« ich sprach daz ich des nicht enteˆte, sıˆt er mich geschaffen heˆte scho ˆner und wıˆser danne sich, er mochte lıˆchte erzurnen mich, daz ich mit mıˆnem tro ˆne seˆze gein dem aquilo ˆne und wurde gelıˆch dem ho ˆhen gote

Diese Änderungen in der interpolierten ›Adams Klage‹ führen dazu, dass nicht mehr klar wird, weshalb der Teufel Adam die Schuld an seinem Sturz zuschreibt, denn Adam spielt in der Szene keine Rolle mehr. Dieser handlungslogische Bruch scheint dem Bearbeiter allerdings weniger wichtig gewesen zu sein als die Herstellung einer möglichst orthodoxen Version des Engelssturzes. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine weitere, wahrscheinlich ursprünglich auch selbständige Bearbeitung der lateinischen ›Vita Adae‹, die nur noch als Interpolation in Heinrichs von München ›Weltchronik‹ erhaltenen ist.124

124 Vgl. Miller: Deutsche Versübersetzung, S. 259–272. Abdruck: ebd., S. 273–332. Bei der Bezeichnung der Redaktionsklassen folge ich Miller.

536 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Sie folgt einer anderen Redaktion (Klasse III) der lat. ›Vita‹ als ›Adams Klage‹ (Klasse II) und ist detaillierter ausgearbeitet, besonders bei Figurenreden und Beschreibungen.125 Sie enthält neben der Geschichte von Adams und Evas Buße noch weitere Episoden: Kains Brudermord, die Reise Seths ins Paradies und Adams Tod. In den Textzeugen ist die ursprünglich wohl ca. 1500 Verse umfassende Erzählung mit Zusätzen aus der ›Christherre-Chronik‹, Jans Enikels ›Weltchronik‹ und Gundackers von Judenburg ›Christi Hort‹ kontaminiert, so dass sie in der überlieferten Form eine Länge von 2233 Versen hat.126 Im Gegensatz zu der interpolierten ›Adams Klage‹ enthält diese Bearbeitung die apokryphe Version des Engelssturzes, allerdings wird zur Wahrung der Kohärenz versucht, diese mit der kanonischen Fassung in Einklang zu bringen, die im Großtext, der ›Christherre-Chronik‹, geboten wird. So erklärt der Erzähler, Gott habe die Engel schon vor der Erschaffung des Menschen verpflichtet, diesen anzubeten, sobald er erschaffen sei; Lucifer habe sich geweigert und sei also schon vor der Erschaffung des Menschen aus dem Himmel verstoßen worden (V. 443–476). Diese Erklärung wirkt zwar nicht besonders überzeugend, zeigt aber das Bewusstsein für den handlungslogischen Bruch, der durch die Interpolation entstand, und das Bemühen, ihn zu beseitigen. 4.1.3 Status des interpolierten Textes innerhalb des Großtextes Die interpolierte Fassung von ›Adams Klage‹ wurde in zwei verschiedene Redaktionen von Rudolfs von Ems ›Weltchronik‹ eingefügt, wobei dem integrierten Text eine je andere Bedeutung für die Kompilation zukommt.127 In der ersten Gruppe von ›Weltchronik‹-Handschriften, in der ›Adams Klage‹ in den Text Rudolfs von Ems inseriert ist, dient die Verserzählung zur amplifizierenden und präzisierenden Schilderung der Heilsgeschichte. Die Erzählung, in der viel Wert auf eine emotionale Funktionalisierung des Stoffs gelegt wird, verleiht dem an dieser Stelle eher referierenden Text Rudolfs eine zusätzliche Dimension.128 Als Vertreter dieser Redaktion wird eine Donaueschinger Handschrift vorgestellt.129

125 Vgl. Miller: Deutsche Versübersetzung, S. 257. 126 Vgl. Miller: Deutsche Versübersetzung, S. 259–263. 127 Vgl. Jaurant: Rudolfs Weltchronik, S. 329–334. 128 Vgl. Jaurant: Rudolfs Weltchronik, S. 330. Jaurant nennt ›Adams Klage‹ für die erste Gruppe eine »erweiternde Intarsie«. Zu der ersten Gruppe gehören folgende Handschriften: Karlsruhe, BLB, Donaueschingen 79; Fulda, Landesbibl., Aa 88; Stuttgart, WLB, Cod. Bibl. fol. 5; Weimar, HAAB, Cod. Fol 416; Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 2690. 129 Handschriftennummer nach Dorothea Klein: Heinrich von München und die Tradition der gereimten deutschen Weltchronistik. In: Studien zur ›Weltchronik‹ Heinrichs von München.

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113 Karlsruhe, BLB, Donaueschingen 79 Pergament · 258 Bll. · 42,3 × 31,3 · Südrheinfranken · 1365 Inhalt: Bl. 3ra–200rb Rudolf von Ems: ›Weltchronik‹ darin: Bl. 5ra–7ra ›Adams Klage‹ (interpolierte Fassung) Bl. 202ra–258ra ›Leben der heiligen Elisabeth‹ Lit.: Karl August Barack: Die Handschriften der Fürstlich-Fürstenbergischen Hofbibliothek zu Donaueschingen. Tübingen 1865 (Nachdruck Hildesheim/New York 1974), S. 63–67; Jörn-Uwe Günther: Die illustrierten mittelhochdeutschen Weltchronikhandschriften in Versen. Katalog der Handschriften und Einordnung der Illustrationen in die Bildüberlieferung (tuduv-Studien, Reihe Kunstgeschichte 48). München 1993, S. 133–140; Jaurant: Rudolfs Weltchronik, S. 124–133; Klein: Heinrich von München, S. 98; Eichenberger/Mackert: Erschließungsergebnisse, abrufbar unter: http://www.manuscripta-mediaevalia.de/dokumente/html/obj31576719 (Katalogisat von Ute Obhof; abgerufen am 11.8.2014).

Die Handschrift wurde von einem Schreiber namens Johannes von Speyer im Jahr 1365 für den Kurfürsten Ruprecht I. von der Pfalz angefertigt.130 Die ›Weltchronik‹ ist mit 184 Deckfarbenminiaturen ausgestattet und wird von einem ganzseitigen Bild eröffnet, das die drei Reiche des Kosmos darstellt. Im himmlischen Reich thront oben in der Mitte ein segnender Christus in einem kathedralartigen Architekturrahmen, zu beiden Seiten steht eine betende Figur. Rechts und links davon halten je zwei Engel die Evangelien. Unter dieser göttlichen Sphäre steht die himmlische Sphäre mit Sonne und Mond. Darunter ist das irdische Reich in Form einer Erdkugel dargestellt, von Wasser umgeben, in dem Fische schwimmen. Auf der Erde sind zwei Männer beim Pflügen zu sehen. Unter der Erde befindet sich ein gähnender Höllenrachen, wo zwei Teufel damit beschäftigt sind, arme Seelen im Feuer zu malträtieren. Die Erzählung ›Adams Klage‹ ist nahtlos in den Text der ›Weltchronik‹ integriert. Außerdem ist sie in diesem illustrierten Textzeugen Teil des Bildprogramms geworden. Das Kernmotiv von ›Adams Klage‹, die vereitelte Buße im Wasser, ist in diesem Bildprogramm relativ prominent vertreten, denn das erste Weltalter ist nur mit sechs Bildern illustriert: der Erschaffung Evas, dem Sündenfall (beide Bl. 4r), der Klage Gottes gegen Adam und Eva (Bl. 4v), der Vertreibung

Bd. I: Überlieferung, Forschungsbericht, Untersuchungen, Texte. Hrsg. von Horst Brunner (Wissensliteratur im Mittelalter 29). Wiesbaden 1998. 130 Vgl. Bl. 200rb: Anno domini m ccc lx quinto illustris princeps Rupertus, comes palatinus juxta Renum, comparauit illum librum per manus Jo[hannis] de Spira, hev minimi scriptorum (Im Jahr 1365 ließ der berühmte Fürst Ruprecht, Pfalzgraf bei Rhein, dieses Buch anfertigen durch die Hand des Johannes von Speyer, ach, des geringsten unter den Schreibern); und Bl. 258ra: Diese zwen bücher hat erzuget der edel hochgeborne furste hertzoge Ruprecht der elter, pfalntzgraue by dem Rine, dez heilichen romischen riches oberster drochsesze vnd herzoge in Beigern, anno m ccc lx quinto.

538 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen aus dem Paradies (Bl. 5r), der Buße im Wasser (Bl. 5v) und dem Opfer der Brüder Kain und Abel (Bl. 6r). Der Text von ›Adams Klage‹ beginnt in einer Spalte, die auch die Miniatur zur Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies enthält. Das nächste Bild nimmt den Stoff von ›Adams Klage‹ auf: Es zeigt den Teufel, der Adam zu Eva führt, die noch im Wasser steht – der Maler hat die Rollen der Protagonisten (wohl unabsichtlich) vertauscht. Das nächste Bild, das Opfer Kains und Abels (Bl. 6ra) ist an der Textstelle platziert, an der Adam den Teufel fragt, warum er ihn überall verfolge.131 Im Bildprogramm wird also schon vorweggenommen, was im Text erst später, nach der Interpolation von ›Adams Klage‹, verhandelt wird. Auch in der handschriftlichen Erscheinungsgestalt wird die interpolierte Verserzählung nicht als Fremdkörper gekennzeichnet – sie erscheint als integraler Bestandteil des Großtextes, den sie um einen Handlungsaspekt (Adams Buße) erweitert. Die zweite Gruppe von ›Weltchronik‹-Handschriften, in die ›Adams Klage‹ interpoliert wurde, ist dadurch gekennzeichnet, dass der Beginn der ›Christherre-Chronik‹ (meist V. 1–2565) der ›Weltchronik‹ Rudolfs von Ems vorangestellt ist. Als Bindeglied zwischen den beiden Großtexten fungiert dabei die interpolierte ›Adams Klage‹.132 Als Beispiel dieser Gruppe wird eine Wolfenbütteler Handschrift vorgestellt. 119 Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 8 Aug. 4° Pergament · 156 Bll. · 25 × 16 · bair.-österr. Sprachgebiet · 2. Viertel 14. Jahrhundert Inhalt: Bl. 1ra–11vb ›Christherre-Chronik‹ Bl. 11vb–13rb ›Adams Klage‹ (interpolierte Fassung) Bl. 13rb–155vb Rudolf von Ems: ›Weltchronik‹ Lit.: Otto von Heinemann: Die Handschriften der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Zweite Abtheilung: Die Augusteischen Handschriften IV. Wolfenbüttel 1900 (Nachdruck unter dem Titel: Die Augusteischen Handschriften. Bd. 4: Codex Guelferbytanus 77.4 Augusteus 2° bis 34 Augusteus 4° [Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel 7]. Frankfurt a. M. 1966), S. 134 (Nr. 2966); Günther: Weltchronikhandschriften, S. 403–410; Jaurant: Rudolfs Weltchronik, S. 258–266; Klein: Heinrich von München, S. 99; Ralf Plate: Die Überlieferung der ›Christherre-Chronik‹ (Wissensliteratur im Mittelalter 28). Wiesbaden 2005, S. 43.

131 Die beiden dem Bild unmittelbar vorangehenden Verse lauten: Do sin wir vnschue ldig an / Got hat sin rache an dir getan). Möglicherweise ließ der Maler sich vom Wort rache irreführen. 132 Zu dieser Gruppe gehören folgende Handschriften: Graz, Landesarchiv, Hs. 3; Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 8 Aug. 4°; Colmar, Stadtbibl., Depositum Muse´e Bartholdi, o. Sign.; Kassel, UB, 2° Ms. theol. 4; Stuttgart, WLB, HB XIII 6.

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Der Text der interpolierten ›Adams Klage‹ beginnt mit einer zweizeiligen Initiale, wie sie für die Abschnittsgliederung der Handschrift typisch ist. Der Übergang zwischen ›Christherre-Chronik‹ und ›Adams Klage‹ ist nicht stärker hervorgehoben als Abschnitte innerhalb der Verserzählung ›Adams Klage‹. Im Erscheinungsbild der Handschrift wird also nicht mehr deutlich, dass der Erzählung ›Adams Klage‹ eine Scharnierfunktion zwischen den beiden großen Chroniken zukommt. Auch in der Wolfenbütteler Handschrift ist die Verserzählung in ein Bildprogramm integriert. Die Schöpfungsgeschichte und das Leben der ersten Menschen werden hier mit folgenden Bildern illustriert: die Erschaffung Adams (Bl. 9ra), die Erschaffung Evas (Bl. 9vb), der Sündenfall (Bl. 10va), Adam und Eva mit Feigenblättern (Bl. 11rb), die Vertreibung aus dem Paradies (Bl. 11va), die vereitelte Buße im Jordan (Bl. 12ra). Das Bild zu ›Adams Klage‹, auf dem ein Teufel dargestellt ist, der Eva zum klagenden Adam führt, beschließt den Bildzyklus zum Leben der ersten Menschen. Das nächste Bild zeigt die Arche Noah. Bei den ersten Bildern der Handschrift wird jeweils der erste Vers nach dem Bild rot geschrieben und wirkt dadurch wie ein Bildtitulus. Im Fall des Bildes zu ›Adams Klage‹ ist es der Vers: Er [der Teufel] begvnd mit ier wainen. Am Seitenrand neben dem Bild steht außerdem eine Anweisung des Schreibers für den Maler: Do Ewa wold puezzen vnd der tyefel wider (?) sait. Der Text erfüllt in den beiden Redaktionen zwar eine je unterschiedliche Funktion für die Kompilation, sein textueller und kodikologischer Status ist jedoch in beiden Fällen ähnlich: Jeder Hinweis auf die ehemalige Selbständigkeit ist verschwunden. Wahrscheinlich kam es den Kompilatoren vor allem darauf an, eine fehlende heilsgeschichtliche Episode nachzutragen. Dass dies aber nicht ohne einen kritischen Blick auf den zu interpolierenden Text geschah, zeigt die Änderung bei dem offensichtlich als problematisch empfundenen EngelssturzMotiv.

5 Zwischen Text und Bild Nicht nur die Verbindung eines Textes mit anderen Texten, auch die Insertion von Bildern kann die Gestalt und Rezeption des Textes verändern. Ein Beispiel dafür ist etwa die herausgehobene Stellung narrativer Partien in der Bildredaktion des ›Oberrheinischen Erbauungsbuchs‹.133 Insgesamt sind die Fälle, in denen geistliche Erzählungen mit Bildern versehen wurden, eher selten. Eine Ausnahme bilden geistliche Erzählstoffe, die schon seit ihrer Entstehung zwi-

133 Vgl. Kap. V.2.6.2.

540 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen schen Bild und Text angesiedelt sind und dementsprechend in unterschiedlichen medialen Formen und Kombinationen bearbeitet wurden. Ein Beispiel dafür ist der Erzählstoff von der Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten.134 Die bildliche Darstellung der Begegnung ist in ganz Europa in verschiedenen Ausprägungen und in einem Zeitraum von der 2. Hälfte des 13. bis ins ausgehende 16. Jahrhundert verbreitet,135 es gibt aber auch zahlreiche Textfassungen in verschiedenen Sprachen sowie Bild-Text-Kombinationen. Im deutschsprachigen Bereich wurde der Stoff in unterschiedlichen Formen bearbeitet: als auserzählte Geschichte, als Dialoggedicht und als Bild-Text-Ensemble.

5.1 Verserzählungen von der Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten Zu einer auserzählten Geschichte wurde der Stoff in der Verserzählung ›Van drie doden konyngen ende van drie leuendigen konynghen‹ (238 V., 14. Jahrhundert) verarbeitet.136 An einem schönen Tag im Mai reiten drei höfische Herren zur Jagd aus. Während ihr Gesinde mit den Hunden eine Hinde verfolgt, verirren sich die drei Herren mit einem Knecht im Wald. Erst bei Einbruch der Dunkelheit beginnen sie sich zu fürchten. Der Knecht, dem in der vergangenen Nacht träumte, er sehe ein Feuer und drei Tote dabei, klettert auf einen Baum, um die Gegend zu erkunden. Wirklich sieht er ein einsames Feuer im Wald. Die Herren reiten dorthin. Als die Pferde scheuen, rufen die Herren die Heiligen an, dann bemerken sie drei Tote, die neben dem Feuer liegen und grässlich verunstaltet und von Ungeziefer zerfressen sind. Auf die Schreckensrufe der drei Lebenden antwortet ein Toter stellvertretend für die drei, dass sie mächtige Herren gewesen seien, und weist darauf hin, dass keine weltlichen Ehren, Schätze und Freunde vor dem Tod schützen können. Die Lebenden beten für das Seelenheil der Toten. Als der Tag anbricht, reiten die Herren aus dem Wald und fassen den Entschluss, Klöster zu stiften und fortan ein gottgefälliges Leben zu führen, um nach dem Tod das ewige Leben zu erlangen.

Der Text wird von einem Natureingang mit den aus der höfischen Literaturtradition bekannten Topoi eröffnet: In eynre suter zomer tijt, / soe men wunnentliken

134 Vgl. Erich Wimmer: Die drei Lebenden und die drei Toten. In: 2VL 2 (1980), Sp. 226–228 und 2 VL 11 (2004), Sp. 383; Begegnung (Tervooren/Spicker), S. 13–33. 135 Vgl. Karl Künstle: Die Legende der drei Lebenden und der drei Toten und der Totentanz. Nebst einem Exkurs über die Jakobslegende im Zusammenhang mit neueren Gemäldefunden aus dem badischen Oberland. Freiburg i. Br. 1908, bes. S. 27–62; Willy Rotzler: Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten. Ein Beitrag zur Forschung über die mittelalterlichen Vergänglichkeitsdarstellungen. Winterthur 1961, bes. S. 1–17; Begegnung (Tervooren/Spicker), S. 16–22. 136 Vgl. Rotzler: Begegnung, S. 53–56; Begegnung (Tervooren/Spicker), S. 35–42. Ausgabe: ebd., S. 50–69.

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siet, / loif, gras, bloymen mennigerleye, / als om die tijt van den meye (V. 1 ff.). Auch die Schilderung der drei Protagonisten besteht aus solchen Versatzstücken: Sie sind moedes ryke (V. 7), sind weithin bekannt, haben Gut, Burgen, Ländereien, Dienstleute und schöne Frauen und sind heerlick […] gedaen (V. 23). Diese Einleitung, in der nichts auf die Wendung hindeutet, die die Geschichte nehmen wird, ruft Assoziationen an die Erzähltechnik Konrads von Würzburg in ›Der Welt Lohn‹ hervor. Auch als die Herren sich im Wald verirren, gelangen sie zunächst an einen locus amoneus, an dem viele Vögel singen. Dies alles lässt eine höfische Aventiure-Erzählung erwarten.137 Erst mit dem Einbruch der Dunkelheit wird die Situation unheimlich. Die geistliche Dimension wird nun deutlicher: Als die Pferde scheuen, beginnen die Herren, Gott, Maria und verschiedene Heilige (Quirin, Eligius, Oswald) anzurufen. Der Knecht, der als Handlungsträger fungiert, weist die Herren dann auf die Toten hin,138 die auf furchterregende Weise beschrieben werden: Oir arme, schenckel ende hende / gebeerden als swarte brende / Oir lijham waren eyselic gedaen: / Dair oir oren ende ogen plagen te staen, / dair quamen slangen vyt gegaen […] Dat oir buyck solde sijn, / dat waren vynster fenijn. / Der dyren mennich dair yn saten / ende die lijcham aten, / edessen, slangen ende kraden / ende dair toe menge maden (V. 119 ff.). Die drei Herren äußern in kurzen Reden ihr Entsetzen über den Anblick und die Tatsache, dass sie selbst dereinst so aussehen werden. Darauf antwortet einer der Toten und zählt alle weltlichen Ehren auf, die die drei Toten in ihrem Leben genossen haben, um die Lebenden davon zu überzeugen, dass alle weltlichen Güter nach dem Tod nutzlos seien. Die aus der Contemptus-mundi-Literatur bekannten Argumente stehen im Gegensatz zu dem höfischen Idealbild, das zu Beginn der Erzählung entworfen wurde. Als die Herren am Morgen auf dem Heimweg sind, zeigen sie sich entsprechend bekehrt: Sie wollen auf weltliche Freuden verzichten und Klöster stiften, in denen Nonnen und Mönche für ihr Seelenheil beten. Der dritte Herr will seine Besitztümer seinen Erben überlassen und all sein Gut für die Stiftung von Klöstern und den Gottesdienst spenden. Dadurch erhoffen sich die Herren die Aufnahme ins Himmelreich nach ihrem Tod. Der Text weist eine in sich geschlossene narrative Struktur auf. Die narrativen Partien machen gegenüber der Figurenrede mehr als die Hälfte des Textes aus,139 und die Figurenreden werden der narrativen Struktur angepasst, indem sie nicht als jeweils drei korrespondierende Redeeinheiten von drei Lebenden

137 Das Motiv, dass jemand, der sich auf der Jagd verirrt, mit dem Jenseits bzw. Verstorbenen in Kontakt kommt, ist verbreitet, vgl. Kap. VIII.1.1. 138 Dabei könnte es sich um ein Relikt aus der italienischen Darstellungstradition handeln, in der ein Einsiedler die Herren auf die Toten hinweist, vgl. Rotzler: Begegnung, S. 56. 139 Narrative Partien: V. 1–133, 205–212; Figurenrede: V. 134–204, 213–238.

542 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen und drei Toten gestaltet sind, sondern die Rede der Toten in einer längeren Redeeinheit des ersten Toten zusammengezogen ist. Der parallele Aufbau des Erzählstoffs (den drei Lebenden entsprechen drei Tote) wird dadurch zwar etwas verwischt, es wird aber die Wiederholung ähnlicher Redeeinheiten vermieden, die im narrativ geprägten Text langatmig oder redundant wirken könnte. In einer anderen Verserzählung, ›Van dren konyngen‹ (297 V., 15. Jahrhundert?) aus dem sog. ›Hartebok‹,140 sind die narrativen Partien weniger dominant. Drei Könige gehen gemeinsam zur Jagd und sondern sich von ihrem Gesinde ab, um sich über geheime Angelegenheiten zu unterhalten. Dabei rät einer der Könige, darum zu bitten, dass Gott ihnen zeigen wolle, wie es um ihre verstorbenen Väter stehe. Bei Einbruch der Nacht haben die Könige ihr Gefolge verloren und verirren sich im Wald. Einer sieht an einem Baum drei Tote lehnen. Der zweite König fürchtet eine teuflische Erscheinung, doch der dritte erkennt in den Toten die Väter der drei Könige. Der weiseste unter den Königen befragt die Toten nach ihrem Schicksal. Die drei Toten antworten nacheinander: Zwei sind im Himmel, einer ist verdammt. Neben dem Hinweis auf die Vergänglichkeit der Welt üben die drei Toten auch harsche Kritik an den Klerikern, die ihre Pflichten vernachlässigen. Darauf folgt ein kurzer Dialog, in dem die drei Toten jeweils auf eine Aussage der Lebenden antworten.

Zwar wird auch dieser Text mit einem Jagdmotiv eröffnet, die narrative Einleitung ist aber viel kürzer gehalten als in der Fassung ›Van drie doden konyngen ende van drie leuendigen konynghen‹. Die geistliche Dimension wird bereits durch einen kurzen Prolog deutlich gemacht: In godes namen sin alle dingh / De an der wysen gotheyt sint / De alle dingh hefft wol bedacht / Mit siner gotliken macht (V. 1 ff.). Durch den Wunsch der Könige, über das Schicksal ihrer Väter im Jenseits unterrichtet zu werden, erscheint die Begegnung mit den Toten nicht als ein plötzlich über die Lebenden hereinbrechendes Ereignis, sondern als Erhörung einer frommen Bitte. Die narrative Partie ist auf die Einleitung reduziert.141 Die Beschreibung der Toten durch den Erzähler beschränkt sich auf zwei Verse (Dre dode mynschen al sunder wan / De weren greselich getan, V. 39 f.); eine genauere Beschreibung ist in die Figurenreden der Lebenden integriert (V. 52 ff.). Die Figurenreden zeigen eine durch das bildliche Muster der Gegenüberstellung der Figurengruppen motivierte Struktur. Zunächst kommentiert jeder Lebende den Anblick der Toten. Der zweite König äußert dabei die Befürchtung, die Toten könnten feindlich gesinnt oder eine teuflische Erscheinung sein;142 glei-

140 Vgl. Rotzler: Begegnung, S. 56–59; Begegnung (Tervooren/Spicker), S. 32. Ausgabe: ebd., S. 122–128; Text nach: Het Hartebok. Handschrift Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek, 102c in scrinio. Diplomatische Edition. Hrsg. von Erika Langbroek u.a. (Middeleeuwse verzamelhandschriften uit de Nederlanden 8). Hilversum 2001. 141 Narrativer Teil: V. 5–43; Figurenrede: V. 44–296. 142 Vgl. Rotzler: Begegnung, S. 58.

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chermaßen fürchtet er sich aber auch vor dem Spott, den seine Angst auslösen könnte (V. 86 ff.). Dann spricht ein Lebender stellvertretend für die drei Könige die Toten an, worauf jeder Tote in einer Rede antwortet. Was in der Verserzählung ›Van drie doden konyngen ende van drie leuendigen konynghen‹ vermieden wird, tritt hier ein: Besonders die wiederholte Klerikerkritik, die einen großen Teil der Reden ausmacht, wirkt redundant. Auf die Rede des dritten Toten, die vielleicht in einer älteren Version des Textes das Ende bildete, folgt ein erneuter kurzer Dialog zwischen den Lebenden und den Toten. Er enthält kaum neue Informationen, die Reime wirken ungeschickter als im restlichen Text. Die Reden des zweiten und dritten Lebenden lassen keinerlei Läuterung erkennen, sondern sind von der Superbia erfüllt, die den Lebenden eigentlich nur vor der Begegnung eigen sein sollte. Eine mögliche Erklärung für diese Doppelung könnte sein, dass ein späterer Bearbeiter den Text amplifizierte, indem er quasi eine zweite Begegnung inszenierte, wie sie ihm vielleicht aus Text-Bild-Ensembles bekannt war. Der Text hat keinen narrativen Abschluss. Es wird nichts über die Wirkung der Begegnung auf die Lebenden oder eine etwaige Besserung der Könige gesagt. Die narrative Partie dient in dieser Fassung nur als Vorbereitung für die Begegnungsszene, die von Figurenreden bestimmt ist.

5.2 Dialoggedicht-Version der ›Begegnung‹ Als reines Dialoggedicht ohne jegliche narrative Rahmung wurde der Erzählstoff in der Fassung ›Dis ist der welte lon‹ (111 V., 14. Jahrhundert)143 umgesetzt, in dem die Reden von drei Toten und drei Lebenden einander gegenübergestellt werden. In den Reden werden ähnliche Motive aus der Contemptus-mundi-Tradition aufgegriffen wie in den anderen Fassungen. So warnt der erste Tote vor der Weltfreude und dem Vertrauen auf die hohe soziale Stellung, denn am Ende bleibe nur das Totenhemd; der erste Lebende antwortet darauf mit einer Absage an die valsche und triegende welt (V. 26). Der zweite Tote nennt weitere weltliche Güter, die nicht vor dem Tod schützen können: Es enwart nie moe nsche, frou we oder man / So schon, so rich oder so tugenthaft, / Dem kunst, mage oder libes craft / So vaste moe gent by geston: / Im muo s ovch ein lip alsus zergon, / Also du an mir nu sehent solt. / Was sol dir silber oder golt, / Ros, federspil oder schoe ne woth / Es zucket dir als der grimme tot (V. 32 ff.). Die Pferde, die Jagdvögel und die schöne Kleidung sind Artefakte der höfischen Kultur, doch in der Perspektive des Toten dienen sie

143 Vgl. Rotzler: Begegnung, S. 49–52; Begegnung (Tervooren/Spicker), S. 31 f. Ausgabe: ebd., S. 118–120; Text nach Künstle: Legende, S. 38–40.

544 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen nur der hochfart und der ´ upekeit (V. 42), die der Lebende hinter sich lassen soll. Der zweite Lebende ist von dem wunder (V. 50), das Gott an den Toten zeigt, so bewegt, dass er zunächst nichts mehr sagen kann. Seine Bekehrung wird dann in einer Weltabsage deutlich: O arme welt, was sint wir? / Ein cleinoe ter, böse vnd gar vnwert! / Min hertz nue t me froe iden gert (V. 64 ff.). Der dritte Tote versucht den Lebenden durch einen eindringlichen Vergleich zu bewegen: We tovber moe nsche, wo ist nu din sin, / Das dir die welt gevellet so wol, / Die ist so vil bitterkeit so vol? / Ich was noch schöner, wen du bist / Nu bin ich ful alsam der mist. / Do von so schaffe der selen roth, / Sit du sist, wie nu der lip zergot (V. 74 ff.). Die Antwort des Lebenden ist eine lange Klage über die Falschheit der Welt: We welt, we froe ide, we iunge iar, / We stolzer lip, we schoe nes har, / We frue nt, we mage, we grosses guo t, / We schoe nes leben, we hoher muo t, / We bloe des, kranckes moe nschen leben (V. 83 ff.). Die weltlichen Güter, die wiederum teilweise mit der höfischen Kultur assoziiert sind, erscheinen nach der Begegnung als nichtig, wenn der menschliche Protagonist betont, er könne keine Freude mehr empfinden: Was ich nu fue rbas leben me, / Daz ich nue t han wen ach vnt we, / Truren, sue fzen nach dirre gesiht (V. 101 ff.). Das Dialoggedicht ›Dis ist der welte lon‹ legt durch die Anordnung der Reden (die Lebenden sprechen jeweils nach den Toten) besonderen Wert auf die Wirkung, die die Erscheinung auf die Lebenden macht, also gerade auf den Aspekt, der in der ›Hartebok‹-Fassung fehlt. In der Handschrift, die das Dialoggedicht unikal überliefert, ist der Text mit Bildern ausgestattet. Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 16.17 Aug. 4° Papier · noch 115 Bll.144 · 21,6 × 14,5 · Oberrhein (Straßburg?) · um 1415145 Inhalt: Bl. 1r–44v Jakob Twinger von Königshofen: ›Chronik‹ (Auszüge) Bl. 45r–48r Heilsgeschichtliche Erzählung (Prosa)

144 Lagen: 3 VI36 + VII50 + 4 VI98 + (VII–5)105 + V115. Bei den letzten beiden Lagen ist die ursprüngliche Struktur aufgrund der Restraurierung von 1998 schwer erkennbar. Nach Bl. 98a fehlen 3 Bll. (Reste erkennbar). Möglicherweise fehlen zwei weitere Bll. vor Bl. 98a; darauf könnte die Tatsache hindeuten, dass die mittelalterliche Foliierung in römischen Zahlen von lxxxxviii (Bl. 98) auf ci (Bl. 98a) springt. Bei der zweitletzten Lage handelte es sich also ursprünglich wohl um einen Septenio. 145 Datierung aufgrund der Wasserzeichen: Lage 1: Formenpaar Ochsenkopf mit Augen und Nasenring im Gesicht, darüber Stern, ähnlich Briquet 14925 (Schaffhausen, 1400; weitere Belege: St. Gallen 1402–1420, Bern 1407–1416, Neuweilnau 1413, Zofingen 1414, Schaffhausen 1415); Lagen 2–10: Formenpaar Ochsenkopf mit Augen und Nase, Kontur der Nase unten offen, darüber einkonturige Stange und Stern, sehr ähnlich PiccardOnline 81010 (Kloster Güntersthal, 1409). Durch die in Twingers ›Chronik‹, dem Brief und dem historischen Bericht genannten Daten ergibt sich als terminus post quem 1415. Der Wasserzeichenbefund legt eine Datierung kurz nach diesem Zeitpunkt nahe.

5 Zwischen Text und Bild

Bl. 48v–50v Bl. 51r–60v Bl. 60v–80r Bl. 80v–81r Bl. 81r–83r Bl. 83r Bl. 83v–84r Bl. 84v–85r Bl. 85v–87r Bl. 87v–89v Bl. 90r–96v Bl. 97r–98r Bl. 99r–115v

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Unterwerfungsbrief des Herzogs Friedrich von Österreich an Kaiser Sigismund (Konstanz, 7.5.1415) ›Streitgespräch zwischen Christ und Jude‹ Kunz Kistener: ›Die Jakobsbrüder‹ ›Schönheit der Geliebten‹ ›Die sechs Farben I‹ Gebet zu Christophorus Credo dt. Mariengebet ›Dis ist der welte lon‹ Von den beweglichen Feiertagen (Verse) Komputistische Tafel und astrologischer Traktat (teilweise lat.) Historischer Bericht über den Tod des Herzogs Anton von Brabant in der Schlacht von Azincourt (25.10.1415) Kochbuch

Lit.: Heinemann: Die Augusteischen Handschriften IV, S. 202 f.; Kistener (Euling), S. 16, 30 f., 34 f.; KdiH Bd. 1, S. 292 (Nr. 9.1.17); Klingner/Lieb: Handbuch Minnereden, Bd. 2, S. 145.

Bei dieser Handschrift handelt es sich um eine hausbuchartige Sammlung, die unterschiedliche Texte vereint. Sie wurde von mehreren Händen in jüngerer gotischer Kursive auf hohem kalligraphischem Niveau geschrieben. Erkennbar ist ein lokal- und zeitgeschichtliches Interesse, das sich in Jakob Twingers ›Chronik‹, dem Unterwerfungsbrief des Herzogs von Österreich und dem Bericht über den Tod des Herzogs von Brabant zeigt. Diese Texte stehen der Anfertigung der Handschrift zeitlich und/oder örtlich nahe und nehmen teilweise Bezug auf aktuelle Ereignisse. Auf eine örtliche Gebundenheit deuten auch die wohl in Straßburg entstandenen ›Jakobsbrüder‹ Kunz Kisteners hin.146 In der Sammlung sind geistliche Texte mit unterschiedlichen Akzentsetzungen und Funktionen vertreten. In manchen Texten wird christliches Grundwissen vermittelt, etwa im Credo und im ›Streitgespräch zwischen Christ und Jude‹. Die Gebetstexte konnten zur Andacht dienen. Die geistliche Narration ist durch die ›Jakobsbrüder‹ vertreten. Die memento mori-Thematik von ›Dis ist der welte lon‹ rundet den geistlichen Block ab, der allerdings durch die Insertion von zwei Minnereden zwischen den ›Jakobsbrüdern‹ und dem Gebet zu Christophorus unterbrochen wird, was auf ein allgemeineres literarisches Interesse hindeutet.

146 Während eine Entstehung in Straßburg durch die Schreibsprache und die Textauswahl naheliegend erscheint, aber nicht nachzuweisen ist, belegt ein Besitzeintrag von späterer Hand (Ende 15. Jahrhundert?) auf Bl. 98ar, dass sich die Handschrift zu diesem Zeitpunkt in Straßburg o o befand: Dyß buch jst junckfrow Sabinenn Wetzlenn (?) vonn Marssylenn, ein jn wonernynn zu Stroßburg etc.

546 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Die Handschrift weist an einigen Stellen lateinische Einsprengsel auf: In den beiden Dialoggedichten sind die Bezeichnungen der Sprecher lateinisch (iudeus/ respondens147 beim ›Streitgespräch‹, mortuus dicit/viuus dicit148 bei ›Dis ist der welte lon‹), und in den astrologischen Texten finden sich lateinische Passagen. Die zahlreichen Abkürzungen und die flüssige Schreibweise dieser lateinischen Abschnitte zeigen, dass die Schreiber mit lateinischer Schriftlichkeit vertraut waren. Es lassen sich jedoch keine konkreten Rückschlüsse auf die genaueren Entstehungsumstände oder Erstbesitzer der Handschrift ziehen. Dem Dialoggedicht ›Dis ist der welte lon‹ kommt in der Handschrift insofern eine besondere Stellung zu, als es der einzige illustrierte Text ist. Neben jeder Rede ist die entsprechende Figur dargestellt (Abb. 20): gekrönte, zerfressene Tote und teilweise gekrönte Lebende in reicher Kleidung. Die kolorierten Federzeichnungen bilden den Rahmen der Begegnung und leisten die Vergegenwärtigung des entsetzlichen Anblicks der Toten – Aufgaben, die in den Verserzählungen zu einem guten Teil von den narrativen Partien übernommen werden. Durch die ausführlichen Reden mit Bezugnahme auf Versatzstücke aus der höfischen Kultur steht das Dialoggedicht zwischen Ausformungen des Erzählstoffs, die auf den Text fokussieren (wie die Erzählung ›Van drie doden konyngen ende van drie leuendigen konynghen‹) und Ausformungen, in denen das Bild im Zentrum steht und der Text auf wenige Verse reduziert ist.

5.3 Bild-Text-Ensembles der ›Begegnung‹ Bild-Text-Ensembles, in denen der Text gegenüber dem Bild meist eine untergeordnete Rolle spielt, sind sowohl in großformatigen Wandmalereien als auch in der Buchmalerei und auf Einblattholzschnitten überliefert. In diesen Fassungen wird nicht die Möglichkeit aktualisiert, den Stoff zu einer narrativen Struktur auszubauen, sondern ganz auf das Motiv des Begegnungsmoments fokussiert. Ein solches Bild-Text-Ensemble der Begegnung ist in der Handschrift München, BSB, Cgm 3974 (bair.-österr. Sprachgebiet, um 1460–64), Bl. 59v, überliefert (Abb. 21).149 Drei gekrönte Tote werden hier drei gekrönten Lebenden gegenüberstellt. Auf den Spruchbändern finden sich Mahnungen der Toten und sprichwortartige Kommentare der Lebenden:

147 Der Jude/Der Antwortende. 148 Der Tote sagt/Der Lebende sagt. 149 Vgl. Rotzler: Begegnung, S. 196, 208 f.; Begegnung (Tervooren/Spicker), S. 22, 130 f. Ich zitiere nach der Handschrift. Zur Handschrift vgl. Karin Schneider: Die deutschen Handschriften der

5 Zwischen Text und Bild

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Tote

Lebende

Sey wir ez hewt so seyt ir ez morgen Ich mayn euch all drey da voren

Ach got durch deyn wunder manigfalt Wye seynd dy drey also yemerlich gestalt

Daz ir seyt das woren wir Das wir seynd das werdent ir

Wvrden sy ye leuten geleich Das duncket mich gar wunderlich

Avch mag euch wol wunder han Wye wir so iemerlich seyn getan

Svllen wir alle werden so So wurden wir nymer pillich fro

Das Bild-Text-Ensemble ist in eine Kompilation integriert, die einen hohen Anteil illustrierter, typologischer Texte enthält und durch eine Mischung lateinischer und volkssprachiger Partien gekennzeichnet ist. Die Aufbereitung der Texte weist auf eine Verwendung im Schulkontext hin.150 Zu diesem Umfeld passen der proverbielle Charakter der Aussagen und die schematische Anordnung des Bildes der ›Begegnung‹, die als mnemotechnische Stütze dienen konnten. Eine von der Bildkomposition her abweichende Darstellung findet sich auf einem Einblattholzschnitt (Mitte 15. Jahrhundert, Kupferstichkabinett Berlin, Abb. 22).151 Auf dem querformatigen Blatt stehen sich die drei Lebenden und drei Toten in einer Reihe gegenüber, sind also nicht, wie in der Münchner Handschrift, paarweise untereinander angeordnet. Die drei gekrönten Lebenden sind zu Pferd und in reichen Gewändern dargestellt, die von Schlangen und Kröten zerfressenen Toten stehen aufrecht. Als Zeichen ihrer verlorenen Macht liegen die Kronen der Toten auf dem Boden. Die Spruchbänder gehen fahnenartig von den Figuren aus und enthalten einen Text, der mit demjenigen der Münchner Handschrift fast identisch ist. Die Reihenfolge weicht allerdings ab.

Bayerischen Staatsbibliothek München. Die mittelalterlichen Handschriften aus Cgm 888–4000 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,6). Wiesbaden 1991, S. 504–519. 150 Vgl. Klaus Grubmüller: Elemente einer literarischen Gebrauchssituation. Zur Rezeption der aesopischen Fabel im 15. Jahrhundert. In: Würzburger Prosastudien II. Untersuchungen zur Literatur und Sprache des Mittelalters (FS Kurt Ruh). Hrsg. von Peter Kesting (Medium Aevum 31). München 1975, S. 139–159, bes. S. 143–145. 151 Vgl. Rotzler: Begegnung, S. 196 f.; Begegnung (Tervooren/Spicker), S. 23, 132 f. Ich zitiere nach dem Holzschnitt.

548 | IX Peripherie des Texttyps: Alternative Formen Lebende

Tote

Sie weren wer sie weren Wir magen vns ir wol ir[w]eren152

Iz insal uch nit wonder han Das wir drie sint also gethan

Sint sie menschen gewesen glich Sich das wondirt mich

Das ir siet daz waren wir Das wir sint das werdent ir

Goit durch dine wonder manigfalt Wie sint die drie also gestalt

Sin wir is hude ir siet is morn Ich meynen uch alle drie da vorn

In dem abweichenden Text des ersten Lebenden klingt die Superbia der Lebenden an, wie sie etwa auch in der ›Hartebok‹-Fassung begegnet. Durch diese Textauswahl wird der Aspekt der Bekehrung in diesem Holzschnitt im Gegensatz zur Münchner Bild-Text-Fassung in den Hintergrund gedrängt. Das Erstaunen der Lebenden und die Mahnungen der Toten stehen im Zentrum. Die Bild-Text-Ensembles der Münchner Handschrift und des Berliner Holzschnitts zeigen, dass der Erzählstoff von der Begegnung im 15. Jahrhundert in sehr unterschiedlichen Kontexten rezipiert wurde, in klerikal gebildeten Kreisen ebenso wie bei den wohl breiteren Leserkreisen der leicht zugänglichen und reproduzierbaren Einblattholzschnitte. Die Variationen in Bildkomposition und Textanordnung machen deutlich, dass der Erzählstoff auch als Bild-Text-Ensemble unterschiedlich akzentuiert werden konnte. Bei beiden Beispielen basiert die Wirkung jedoch hauptsächlich auf dem bildlichen Element. Die Begegnung ist zur Momentaufnahme erstarrt, eine Dynamisierung durch Narration findet nicht statt.

6 Zusammenfassung Geistliche Verserzählungen befinden sich immer in einem Spannungsfeld anderer Möglichkeiten, Geistliches zu erzählen; diese Möglichkeiten müssen bei der Betrachtung der Verserzählungen als Texttyp mitbedacht werden. Teilweise sind deutliche Unterschiede zwischen den Formen festzustellen (Vers vs. Prosa), teilweise hat man es mit graduellen Abstufungen zu tun (Dialoggedichte, Text-BildEnsembles). Während der Reimpaarvers im 13. Jahrhundert noch die Standardform für geistliches Erzählen in der Volkssprache ist, stellt er im 15. Jahrhundert nur noch eine unter vielen Möglichkeiten dar. Die Präferenz liegt in dieser Phase meist bei anderen Formen wie der Prosa oder dem Meisterlied. Die Form, in der

152 Der Text des Spruchbandes ist an dieser Stelle fehlerhaft. Gut lesbar sind ir[…]eren, dazwischen scheint ein Buchstabe t zu stehen. Dies ergibt jedoch keinen Sinn. Da die Aussage ›Wir können uns gut gegen sie verteidigen‹ sein muss, kann die Stelle zu irweren konjiziert werden.

Zusammenfassung

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ein Text verfasst ist, hat in den handschriftlichen (und gedruckten) Zeugnissen keinen absoluten Wert – ihre Bedeutung und der Umgang mit ihr sind sehr variabel. Die Form kann für die Aufnahme in eine Sammlung entscheidend, irrelevant oder störend sein – die konkrete Gestaltung des Textes in der Handschrift/ im Druck kann seine formale Gestalt betonen oder kaschieren. Die Aufbereitung des Textes im Textzeugen hat wiederum Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Textes durch die Rezipienten. So werden gute Beispiele des Texttyps in manchen Kontexten (etwa in Kleinepiksammlungen) bewusst als Verserzählungen tradiert und rezipiert, in anderen Kontexten tritt ihre Form hinter dem Inhalt zurück (etwa in Prosa-Erbauungsbüchern). In synchroner Perspektive ist die spezifische ästhetische Verfasstheit des Texttyps (Versform, Bezug auf höfische Literaturtradition) konstitutiv; in diachroner und rezeptionsorientierter Perspektive spielt sie zu Beginn eine zentrale Rolle, verliert dann jedoch an Bedeutung, bis die produktive Phase des Texttyps um 1500 aufhört, während geistliches Erzählen in alternativen Formen Teil des literarischen Systems bleibt.

Schluss Hugo Kuhn stellte zur literatursystematischen Verortung geistlicher Verserzählungen1 folgende Überlegungen an, die in einer rhetorischen Frage gipfeln:2 Die größten typologischen Schwierigkeiten bereitet die meist nur schmal überlieferte, aber große Menge geistlicher Erzählungs- und Moralisationstexte. Um und nach 1200 war der Typ, ob von Geistlichen oder von Laien verfaßt, aus der frühmittelhochdeutschen Geistlichendichtung ganz in das Gefolge der ritterlich-höfischen Adelsdichtung geraten. Diese Zuordnung gilt noch für die Literatursituation um 1300 […]. Im 14. Jahrhundert tritt für geistliche Erzählung schon vielfach Prosa ein […]. Aber weit zahlreicher und z.T. ebenfalls weit verbreitet sind noch immer Reimpaarfassungen […]. Was vermag hier eine typologische Ordnung?

Die Texte verweigern sich einer Einordnung, weil sie zwischen den von Kuhn umrissenen Bereichen »Deutsche geistliche Gebrauchsliteratur« und »Ritterdichtung« (13. Jahrhundert), »Reimpaar- und Strophendichtung deutscher Literaten« und »religiöse Geistlichenliteratur« (14. Jahrhundert) sowie den Faszinationstypen »Religion« (Katechetik, Aszetik, Mystik) und »Liebe und Gesellschaft« (poetische, fiktive Literatur) (15. Jahrhundert) stehen. Die geistlichen Verserzählungen gehören inhaltlich zur religiösen Literatur, die prinzipiell von Klerikern getragen wurde und Gebrauchscharakter hatte, stehen formal und (teilweise) konzeptionell jedoch der fiktionalen höfischen Literatur nahe, die sich gerade durch ihre Bindung an laikale Produzenten- und Adressatenkreise sowie durch ihren ästhetischen Anspruch auszeichnet. Das variantenreiche Oszillieren des Texttyps zwischen diesen Bereichen, das sich nicht nur auf diachroner Ebene, sondern auch auf der gleichzeitig entstandener Einzeltexte mit unterschiedlicher Akzentsetzung beobachten lässt, erscheint in dieser Perspektive als literatursystematische Aporie; geistliche Verserzählungen können immer nur als defizitäre Vertreter eines oder der beiden literarischen Bereiche wahrgenommen werden, an denen sie teilhaben – sie sind aufgrund ihres Inhalts keine ›richtige‹ Ritterdichtung, aufgrund ihrer Form und Stilistik keine ›richtige‹ religiöse Literatur. Die Hybridität des Texttyps führt so zu seiner Marginalisierung als problematischer Sonderfall. Es soll und kann hier nicht darum gehen, Kuhns Systematik einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen oder gar ein alternatives Systematisierungsmodell zu entwerfen. Kuhns Systematik ist – wie jedes Modell dieser Art – eine mögliche Perspektive auf das komplexe Phänomen mittelalterlicher deutscher Literatur,

1 Bei Kuhn geht es nicht nur um Verserzählungen geringen Umfangs – bei meinen Überlegungen stehen die kurzen Erzählungen jedoch im Vordergrund. 2 Kuhn: Entwürfe, hier: 14. Jahrhundert, S. 69.

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die als Modell ihre Berechtigung hat und Erkenntnismöglichkeiten bietet, jedoch auch durch gewisse (notwendige) Vorannahmen und Setzungen geprägt ist. Auf diesen letzten Punkt möchte ich mich konzentrieren, denn die problematische Stellung geistlicher Verserzählungen in Kuhns Systematik ist symptomatisch für den Umgang der älteren Forschung mit geistlicher Kleinepik und für die geringe Beachtung, die dieser ›nonkonforme‹ Texttyp bisher gefunden hat. Aus diesem Grund sollen hier die Möglichkeiten literatursystematischer Verortung geistlicher Verserzählungen – in Auseinandersetzung mit verschiedenen literaturhistorischen Entwürfen – überdacht und, auf den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung aufbauend, um eine weitere, texttyp-zentrierte Perspektive ergänzt werden. Das bei Kuhn explizit gemachte systematische Unbehagen an geistlichen Verserzählungen tritt bereits in der thematischen Gliederung der Literaturgeschichte von Helmut de Boor und Richard Newald3 zutage. In Band II (Zeitraum: 1170–1250)4 wird eine Unterteilung in höfische Epik, Lyrik, religiöse und lehrhafte Dichtung vorgenommen. Hartmanns ›Armer Heinrich‹ und ›Gregorius‹ erscheinen unter der höfischen Epik, Konrads von Fußesbrunnen ›Kindheit Jesu‹ dagegen unter der religiösen Dichtung. Noch deutlicher wird die Problematik in Band III (Zeitraum 1250–1350)5 mit der Unterteilung in höfische Epik, Heldenepik, Geschichtsdichtung, Kleinepik, Lyrik, Didaktische Dichtung, Spruchdichtung und religiöse Dichtung. Das Interessante an dieser Gliederung – gerade im Hinblick auf geistliche Verserzählungen – ist die Definition der weltlichen Texttypen über ihre Form, die der geistlichen jedoch über ihren Inhalt. Denn die geistlichen Verserzählungen erscheinen – bis auf die mit Autornamen verbundenen Texte Konrads von Würzburg und Herrands von Wildonie – nicht etwa unter der Kleinepik, sondern unter der religiösen Dichtung. Eine Begründung für diese Einsortierung findet sich in der Charakterisierung geistlicher Verserzählungen als »anspruchslose kleine Werke, deren Bedeutung mehr im Stoff als in der dichterischen Behandlung liegt«.6 Als positives Gegenbeispiel wird die ›Vorauer Novelle‹ herausgehoben – bezeichnenderweise mit der Umschreibung »novellistische Erzählung«,7 die ansonsten für weltliche Kleinepik gebraucht

3 Helmut de Boor/Richard Newald: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1949 ff. 4 Helmut de Boor: Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1170–1250 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2). München 1953. 5 Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. 1250–1350. 1. Aufl. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 3/1). München 1962 (5. Aufl.: Neuauflage. Bearbeitet von Johannes Janota. München 1997). 6 De Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter, S. 470. 7 De Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter, S. 484.

552 | Schluss wird.8 Zwar wird der Wille zur »moralische[n] Belehrung«9 als Gemeinsamkeit weltlicher wie geistlicher kleinepischer Formen genannt, aber trotzdem werden die geistlichen Verserzählungen in der Systematisierung nicht als formal gleichwertig mit den weltlichen Erzählungen behandelt, sondern in die thematische Kategorie der religiösen Dichtung eingeordnet. Zur Problematik der Hybridität geistlicher Verserzählungen tritt hier eine ästhetische Abwertung, die die Fokussierung auf den Inhalt der Texte und die Marginalisierung ihrer Form rechtfertigt. Eine andere systematische Perspektive nimmt die von Joachim Heinzle herausgegebene Literaturgeschichte ein,10 deren Grundkategorien die literarische Interessenbildung (kultureller Aspekt) und die literarischen Formen sind. Letztere werden unterteilt in Lyrik, Epik (Erzählung), Rede, Prosa. Die für den Texttyp der geistlichen Verserzählung problematische Interferenz inhaltlicher und formaler Kategorisierung ist in dieser Systematik nicht gegeben. In Band II/1 (Zeitraum: 1160/70–1220/30)11 wird die Epik in die Unterkategorien höfischer Roman, Heldenepik, Kleinepik, Tierepos und Geistliche Epik aufgegliedert. Werke wie Hartmanns ›Gregorius‹ und Konrads von Fußesbrunnen ›Kindheit Jesu‹ erscheinen unter der geistlichen Epik. Die Kategorie der Kleinepik wird nur durch zwei Texte vertreten, Hartmanns ›Armen Heinrich‹ und den ›Moriz von Craun‹, wobei zunächst vielleicht verwundern mag, dass beide als »Kleinepik mit weltlichem Stoff«12 bezeichnet werden. Zwar wird bei der folgenden differenzierten Analyse des ›Armen Heinrich‹ wiederholt auf die Nähe der Erzählung zur Legende und auf die Schwierigkeit der Gattungszuweisung hingewiesen,13 aber man ist doch versucht, darin ein Relikt der Tendenz zu sehen, ästhetisch anspruchsvolle Verserzählungen eher der weltlichen Literatur zuzuschlagen. In den Bänden II/214 und III/115 erfolgt eine Trennung nach großepischen und kleinepischen Formen;

8 De Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter, S. 194. 9 De Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter, S. 194. 10 Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. von Joachim Heinzle. Tübingen 1984 ff. 11 L. Peter Johnson: Vom hohen zum späten Mittelalter. Die höfische Literatur der Blütezeit. 1160/70–1220/30 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Bd. 2/1). Tübingen 1999. 12 Johnson: Vom hohen zum späten Mittelalter, S. 385. 13 Johnson: Vom hohen zum späten Mittelalter, S. 386 f. 14 Joachim Heinzle: Vom hohen zum späten Mittelalter. Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert. 1220/30–1280/90. 2. Aufl. (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Bd. 2/2). Tübingen 1994. 15 Johannes Janota: Vom späten Mittelalter zum Beginn der Neuzeit. Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit. 1280/90–1380/90 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit Bd. 3/1). Tübingen 2004.

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letztere werden wiederum in geistliche und weltliche Erzählungen unterteilt. Damit ist die systematische Gleichberechtigung der geistlichen Kleinepik erreicht und eine Reduzierung auf den Inhalt, wie man es bei de Boor beobachten konnte, ausgeschlossen. Dennoch ist das grundsätzlich negative Urteil über ihre ästhetische Qualität weiterhin vorhanden: »Als Kunstwerke sind die meisten dieser Texte unerheblich, auch solche, deren Verfasser klingende Namen tragen. Man darf das bei dieser Gattung auch nicht anders erwarten.«16 Als positive Ausnahmen werden Hartmanns ›Armer Heinrich‹ und die ›Vorauer Novelle‹ genannt. Es spielt für meine Überlegungen keine Rolle, ob die ästhetische Qualität der geistlichen Verserzählungen tatsächlich geringer ist als diejenige der weltlichen. Jedenfalls haben ästhetische Werturteile der Erforschung weltlicher Texte kaum Abbruch getan, während die in eben solchen Werturteilen begründete Reduktion geistlicher Erzählungen auf ihren Inhalt in der mangelnden Beachtung dieser Texte in der Forschung bis heute fortwirkt, auch wenn man sich von den ästhetischen Kategorien, die ihnen zugrunde liegen, längst verabschiedet hat. Die Vorstellung, dass ein Verstext mit religiöser Thematik weder ein ästhetisch vollwertiger Vertreter der höfischen Literatur noch ein ernstzunehmender Vertreter der geistlichen Literatur sein könne, ist dabei nicht prinzipiell falsch – das Zusammenführen von religiösem Inhalt und höfischer Literaturtradition führt notwendig zu konzeptionellen und möglicherweise auch zu ästhetischen Kompromissen. Wie ist diesem Dilemma aus einer auf den Texttyp zentrierten Perspektive zu begegnen? Ein grundsätzliches Verwerfen der Kategorien ›geistlich‹ und ›weltlich-höfisch‹ und der damit einhergehende Verzicht auf eine Differenzierung zwischen geistlicher und weltlicher Kleinepik17 scheint mir keine sinnvolle Lösung zu sein, weil man damit die Möglichkeit verlieren würde, die spezifische Leistung der Texte präzise zu fassen, die ja in der Integration der beiden Sphären besteht. Eine differenzierte Beschreibung der Hybridität des Texttyps sowie seiner konzeptionellen und ästhetischen Integrationsversuche ist im Gegenteil gerade notwendig, wobei ein offenes, am Konzept der ›natürlichen Kategorie‹ orientiertes und prototypisch angelegtes Beschreibungsmodell, das graduelle Abstufungen erlaubt und keine dichotomischen Zuweisungen erzwingt, der Komplexität des literarischen Phänomens m.E. am ehesten gerecht wird, da es ein vertieftes Verständnis der literaturhistorischen Bedeutung des Texttyps jenseits qualitativer Urteile und starrer Gattungsgrenzen ermöglicht.18 Durch die religiösen Inhalte haben geistliche Texte einen thematischen Geltungsanspruch, sie vermitteln sakrales Wissen, referieren auf theologische Dis-

16 Heinzle: Vom hohen zum späten Mittelalter, S. 138. 17 Zu meinem Verständnis dieser Kategorien vgl. Kap. I.1.2.; II.1. 18 Zu meiner texttypologischen Konzeption vgl. Kap. I.2.3.

554 | Schluss kurse und stehen in einem Rahmen klerikaler Autorität und lateinischer Gelehrtensprache. Volkssprachige geistliche Texte stellen so gesehen immer eine Transgression dar: Sie lösen die religiösen Inhalte partiell aus diesem Rahmen und übertragen sie in die laikale Kultur. Ein solcher Transfer ist an sich nichts außergewöhnliches, er wurde ständig von Klerikern geleistet, die mit der Laienseelsorge betraut waren; der entscheidende Unterschied zwischen dem theologischen Gespräch des Hofkaplans mit seinem adligen Herrn und einem volkssprachigen geistlichen Text ist jedoch, dass der geschriebene Text zwar in einem bestimmten Kontext und für ein bestimmtes Publikum entstanden ist, aber jederzeit auch außerhalb dieses Kontextes rezipiert werden konnte. Der Text schrieb die religiösen Inhalte in einer spezifischen Form fest, und zwar in der mit laikaler Kultur konnotierten volkssprachigen Literaturtradition (Verse, Stilistik). Die religiösen Inhalte konnten natürlich in einem Gespräch über den Text wieder aus ihrer formalen Verfasstheit gelöst werden,19 diese stellte aber dennoch einen wichtigen Schritt dar zur Etablierung der Möglichkeit, Geistliches in der Volkssprache und der ihr eigenen Ästhetik zu erzählen. Das Entstehen geistlicher Texte in der Volkssprache kann als Reaktion auf Spannungen zwischen laikalen Kulturformen und theologischen Diskursen, zwischen dem laikalen Bedürfnis nach Teilhabe an religiösen Inhalten und klerikaler Institutionalisierung und Regulierung religiösen Wissenstransfers verstanden werden. In volkssprachigen geistlichen Texten wird diesen Spannungen durch ästhetische und konzeptionelle Mittel begegnet. Durch Versform und Stilistik stellen sich die Texte – und damit implizit auch ihre Inhalte – in die volkssprachige Literaturtradition; durch konzeptionelle Integrationsmodelle von religiöser und laikaler Sphäre werden die religiösen Inhalte Teil eines laikal geprägten kulturellen Selbstverständnisses. Ein besonders prägnantes Beispiel für diesen Integrationsprozess ist etwa Hartmanns von Aue ›Armer Heinrich‹,20 der einen religiösen Mirakelstoff so erzählt, dass die innere Wandlung eines höfischen Protagonisten im Zentrum steht. Durch die Krankheit muss der arme Heinrich lernen, gottgefällig zu leben, kann dann aber wieder seine höfische Existenz weiterführen, in der er weltliche Herrschaft und Gottesdienst auf vorbildliche Weise vereint. Geistliche Erzählungen situieren sich im literarischen System somit durch spezifische Leistungen, die sie von anderen Texttypen unterscheiden. So werden in geistlichen Erzählungen religiöse Inhalte explizit thematisiert und narrativ umgesetzt, während ein religiöser Sinnhorizont zwar für alle mittelalterlichen Literaturformen anzunehmen ist, in vielen Fällen aber nur als implizit mitge-

19 Vgl. Lutz: Schreiben, Bildung und Gespräch, S. 55–57. 20 Vgl. Kap. III.4.1.2.

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dachter kultureller Hintergrund eine Rolle spielt. Bei der Unterscheidung zwischen geistlichen und weltlichen Texten handelt es sich um graduelle Abstufungen und fließende Übergänge, was etwa an den stoffverwandten Erzählungen ›Die Jakobsbrüder‹ von Kunz Kistener und ›Engelhard‹ von Konrad von Würzburg deutlich wird. Beide Erzählungen bearbeiten den Amicus und AmeliusStoff. Konrad von Würzburg setzt den Akzent auf die Minnehandlung (Dietrich verhilft Engelhard zur Hochzeit mit Engeltrud, Engelhard opfert seine Kinder für den kranken Dietrich), Kunz Kistener hingegen auf ein Mirakel (der Freund bringt den verstorbenen Jakobspilger nach Santiago und ermöglicht dessen Wiedererweckung, der Jakobspilger opfert sein Kind für den kranken Freund).21 Bei volkssprachigen geistlichen Erzählungen geht es sicher nicht nur darum, theologische Diskurse für Laien verständlich zu machen, sondern auch, den Rezipienten einen emotionalen Bezug zum Erzählten zu geben, indem etwa Möglichkeiten des Miterlebens von Transzendenzerfahrungen durch Identifikation mit den Figuren der Erzählung geschaffen werden. Dadurch unterscheiden sich geistliche Erzählungen von diskursiven Texttypen wie Reden und Traktaten, die stärker auf die Vermittlung von Wissen fokussieren. Auch hier sind die Übergänge fließend, wie etwa die Erzählung ›Der Streit der vier Töchter Gottes‹ zeigt, in der ein Bericht über den Streit zwischen den allegorischen Töchtern Gottes um die Erlösung des sündigen Menschen dazu dient, einen heilsgeschichtlichen Abriss zu vermitteln.22 Die bisher genannten Charakteristika betreffen geistliches Erzählen in der Volkssprache im Allgemeinen. Der Unterschied zwischen narrativen Groß- und Kleinformen ist dabei vor allem aus rezeptionsästhetischer Perspektive von Bedeutung. Großformen wie etwa Bruder Philipps ›Marienleben‹ oder Rudolfs von Ems ›Barlaam und Josaphat‹ wurden nicht in einem Zug gelesen oder gehört, sondern wurden nach und nach erschlossen oder selektiv wahrgenommen. Geistliche Kurzerzählungen dagegen konnten als in sich geschlossene Einheiten rezipiert werden, da sie meist auf ein zentrales Ereignis fokussieren. So wird etwa in einem Marienmirakel aus dem ›Passional‹ die Gnadenfülle Marias an dem prägnanten Beispiel eines Glöckners vorgeführt, der auf dem Weg zu seiner Geliebten von einer Brücke stürzt und ertrinkt, aufgrund seines beständigen Mariendienstes jedoch aus den Fängen des Teufels gerettet wird. Die so skizzierte Hybridität des Texttyps muss nur dann als Defizit empfunden werden, wenn man volkssprachig-laikale und lateinisch-klerikale Kultur als getrennte Bereiche betrachtet und nur die weltliche, fiktionale Literatur als ›eigentliche‹ Literatur ansetzt. Beides wird der mittelalterlichen Literatursitua-

21 Vgl. Kap. II.4. 22 Vgl. Kap. II.2.4.

556 | Schluss tion nicht gerecht, in der von gegenseitiger Beeinflussung und Überlagerung der Bereiche auszugehen ist (Beteiligung von einer Person an beiden Bereichen, Austausch zwischen Personengruppen). Die starke Verankerung geistlicher Verserzählungen in der ›eigentlichen‹ Literatur und die Bedeutung des ästhetisch-formalen Aspekts zeigt sich auch im diachronen Wandel des Texttyps. Im 12./13. Jahrhundert entsprechen geistliche Verserzählungen einem Bedürfnis des vorwiegend laikalen Publikums nach der Beschäftigung mit und Aneignung von religiösen Inhalten. Das nicht aufzulösende Spannungsverhältnis zwischen weltlicher und religiöser Sphäre wird in den Erzählungen thematisiert und mit verschiedenen Integrationsmodellen konfrontiert. Zwar mögen diese Lösungsversuche aus moderner Perspektive teilweise wenig überzeugend sein, aber sie nehmen Bezug auf Fragen, die zu ihrer Entstehungszeit virulent waren und haben daher ihre historische Berechtigung. Im 13. Jahrhundert sind Reimpaartexte die Standardform für die literarische Bearbeitung religiöser Inhalte in der Volkssprache. In den Kleinepiksammlungen des 14. Jahrhunderts erfährt der Texttyp seine überlieferungsgeschichtliche Konsolidierung. Zugleich ist der Texttyp im 14. Jahrhundert jedoch auch von kulturund literaturhistorischen Dynamiken betroffen, die zu konzeptionellen und ästhetischen Veränderungen führen. Die formalen und stilistischen Elemente aus der höfischen Literaturtradition erstarren zu Versatzstücken; sie werden im Zusammenhang mit einer stärkeren Didaktisierung und Moralisierung zunehmend negativ beurteilt. Der literatursystematische Status geistlicher Verserzählungen wird in dieser Zeit durch das Aufkommen alternativer Formen (Prosa, Meisterlied) infrage gestellt. Diese Tendenz verstärkt sich im 15. Jahrhundert, die Produktivität des Texttyps nimmt im 14./15. Jahrhundert ab und versiegt um 1500. Das Interesse an den religiösen Inhalten ist zu dieser Zeit zwar noch vorhanden – aber die konzeptionell-ästhetische Verfasstheit geistlicher Verserzählungen, die in der höfischen Literaturtradition stehen, entspricht nicht mehr dem literarischen Erwartungshorizont der Zeit. Die Überlieferungsgeschichte bestätigt diesen Eindruck. Geistliche Verserzählungen erscheinen zuerst im Verbund mit Kleinepik, werden also primär im Bewusstsein ihrer formal-ästhetischen Eigenart tradiert und rezipiert. Ein Interesse für ihre inhaltliche Spezifik zeigt sich zwar bereits im 14. Jahrhundert in geistlichen Kleinepiksammlungen (die immer noch durch den Formaspekt mitgeprägt sind). Im 15. Jahrhundert erscheinen geistliche Verserzählungen dann in zunehmend divergierenden Kontexten. Die Versform tritt dabei gegenüber inhaltlichen Komponenten deutlich in den Hintergrund, indem die Texte nicht nur mit Prosatexten überliefert, sondern ihnen auch im Layout angeglichen werden. Die Überlieferung spiegelt so die literaturhistorischen Entwicklungen, die zunehmend negative Bewertung ästhetischer und konzeptioneller Versatzstücke aus der höfischen Literaturtradition.

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Diese – natürlich holzschnittartig vereinfachte – Skizze macht deutlich, dass geistliche Verserzählungen im 12./13. Jahrhundert gerade aufgrund ihrer ästhetischen und konzeptionellen Integrationsleistung eine nicht zu unterschätzende literaturhistorische Bedeutung hatten. Der Status des Texttyps nahm in den darauffolgenden Jahrhunderten ab, dennoch waren geistliche Verserzählungen nicht zuletzt durch die Weitertradierung älterer Texte (Beispiel: ›König im Bad‹) auch zu dieser Zeit noch ein fester Bestandteil des mittelhochdeutschen Literatursystems. Eine Marginalisierung des Texttyps, wie sie in der Forschung lange Zeit vorherrschend war, ist weder aus literaturhistorischer noch aus rezeptionsorientierter Perspektive zu rechtfertigen. Die Hybridität geistlicher Verserzählungen sollte dabei nicht als Defizit, sondern als spezifische ästhetische und konzeptionelle Integrationsleistung dieses Texttyps wahrgenommen und gewürdigt werden.

Literaturverzeichnis und editorische Hinweise Editorische Hinweise Bei Textzitaten nach Handschriften und frühen Drucken wurden lang-s und rundes s vereinheitlicht, u/v und i/j-Schreibung jedoch nach den Textzeugen beibehalten; die gängigen Abkürzungen wurden stillschweigend aufgelöst, die Groß- und Kleinschreibung vereinheitlicht sowie nach moderner Orthographie interpungiert. Rubriken sind durch 〉...〈 gekennzeichnet. Die in der Untersuchung enthaltenen Übersetzungen lateinischer Texte stammen, wenn nicht anders angegeben, von der Autorin.

Abkürzungen AaTh ADB

AH ATB Briquet

CAO GA

GAG GRLMA GW

HSS

KdiH

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Abkürzungen

LCI LexMa MTU NDB PBB Piccard

PiccardOnline PL

RLW

RSM

VD 16 2

VL

ZfdA ZfdPh

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Textausgaben und Forschungsliteratur In diesem Verzeichnis sind Textausgaben und Forschungsliteratur in alphabetischer Reihenfolge enthalten. Da die meisten geistlichen Verserzählungen nicht als Monographien, sondern innerhalb größerer Sammlungen oder innerhalb von Forschungsartikeln veröffentlicht wurden, hätte eine Trennung von Quellen und Forschungsliteratur den raschen Zugriff auf die einzelnen Titel eher erschwert als erleichtert. Für die Suche nach Editionen von Einzeltexten ist das Register der Autoren, Werke und historischen Personen geeignet – bei der jeweils ersten Nennung eines Textes findet sich in der Regel das Vollzitat der Edition in der Fußnote. Abel, Stefan/Eichenberger, Nicole: Jos von Pfullendorf: ›Das Buch mit den farbigen Tuchblättern der Beatrix von Inzigkofen‹. Untersuchung und Edition (ZfdA-Beiheft 16). Stuttgart 2013. Abel, Stefan: Johannes Nider: ›Die vierundzwanzig goldenen Harfen‹. Edition und Kommentar (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 60). Tübingen 2011. Achnitz, Wolfgang/Holznagel, Franz-Josef: Der werlt lauff vnd ir posait. Die Sammlung ›Die Welt‹ und ihre Rezeption. In: Würzburg, der Große Löwenhof, S. 283–312. Acta Sanctorum. Begründet von Jean Bolland. Antwerpen u. a. 1643 ff. Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln. Hrsg. von Peter Jörg Becker/Eef Overgaauw (Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Ausstellungskataloge N.F. 48). Mainz 2003. Aker, Gudrun: ›Die gute Frau‹. Höfische Bewährung und asketische Selbstheiligung in einer Verserzählung der späten Stauferzeit (Europäische Hochschulschriften I 603). Frankfurt a. M./Bern 1983. An Alphabet of Tales. An English 15th century translation of the Alphabetum Narrationum of Etienne de Besanc¸on. Hrsg. von Mary Macleod Banks. 2 Bde. (Original Series. Early English Text Society 126–127). London 1904. Der altdeutsche Physiologus. Die Millstätter Reimfassung und die Wiener Prosa nebst dem lateinischen Text und dem althochdeutschen Physiologus. Hrsg. von Friedrich Maurer (ATB 67). Tübingen 1967. Die altdeutsche Genesis. Nach der Wiener Handschrift hrsg. von Viktor Dollmayr (ATB 31). Halle/Saale 1932. Das Annolied. Mhd. und Nhd. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Eberhard Nellmann. 4. Aufl. (RUB 1416). Stuttgart 1996. Anz, Heinrich: Bruder Rausch. Niederdeutsches Jahrbuch 24 (1898), S. 76–112. Arnold von Lübeck: Gesta Gregorii peccatoris. Untersuchungen und Edition von Johannes Schilling (Palaestra 280). Göttingen 1986. Arnold, Udo: Schondoch. In: 2VL 8 (1992), Sp. 820–823. Assion, Peter: Die Mirakel der Hl. Katharina von Alexandrien. Untersuchungen und Texte zur Entstehung und Nachwirkung mittelalterlicher Wunderliteratur. Diss. Heidelberg 1969. Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Gerald Kapfhammer/Wolf-Dietrich Löhr/Barbara Nitsche (Tholos 2). Münster 2007. Baasch, Karen: Die Crescentialegende in der deutschen Dichtung des Mittelalters (Germanistische Abhandlungen 20). Stuttgart 1968. Baldzuhn, Michael: Cato und Facetus im Hausbuch Michaels de Leone. Zum handschriftlichen Nach-, Neben- und Ineinander von Latein und Deutsch im 14. Jahrhundert. Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 243 (2006), S. 96–104. Baldzuhn, Michael: Schulbücher im Trivium des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Die Verschriftlichung von Unterricht in der Text- und Überlieferungsgeschichte der ›Fabulae‹

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Textausgaben und Forschungsliteratur

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Textausgaben und Forschungsliteratur

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Textausgaben und Forschungsliteratur

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Textausgaben und Forschungsliteratur

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Textausgaben und Forschungsliteratur

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601

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602 | Literaturverzeichnis Ziegeler, Hans-Joachim: Beobachtungen zum Wiener Codex 2705 und zu seiner Stellung in der Überlieferung früher kleiner Reimpaardichtung. In: Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von Volker Honemann/Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 469–526. Ziegeler, Hans-Joachim: Der literarhistorische Ort der Mariendichtungen im Heidelberger Cpg 341 und in verwandten Sammelhandschriften. In: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter, S. 55–77. Ziegeler, Hans-Joachim: Die zwei Blinden. In: 2VL 10 (1999), Sp. 1617–1619. Ziegeler, Hans-Joachim: Erzählen im Spätmittelalter. Mären im Kontext von Minnereden, Bispeln und Romanen (MTU 87). München 1985. Ziegeler, Hans-Joachim: Kleinepik im spätmittelalterlichen Augsburg – Autoren und Sammlertätigkeit. In: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Johannes Janota/Werner Williams-Krapp (Studia Augustana 7). Tübingen 1995, S. 308–329. Zipfel, Frank: Art. Gattungstheorie im 20. Jahrhundert. In: Handbuch Gattungstheorie. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Stuttgart 2010, S. 213–216. Zschoch, Hellmut: Klosterreform und monastische Spiritualität im 15. Jahrhundert. Conrad von Zenn OESA (gest. 1460) und sein Liber de vita monastica (Beiträge zur Historischen Theologie 75). Tübingen 1988. Zwierzˇina, Konrad: Die Innsbrucker Ferdinandeumhandschrift kleiner mhd. Gedichte. In: Festgabe Samuel Singer. Tübingen 1930, S. 144–166. Zwierzˇina, Konrad: Die Kalocsaer Handschrift. In: Festschrift Max H. Jellinek. Wien/Leipzig 1928, S. 209–232. Das zwölfjährige Mönchlein. Ein Gedicht des vierzehnten Jahrhunderts zum ersten Male herausgegeben und mit einer Übertragung in’s Neudeutsche begleitet von Johann H. Maurer-von Constant. Schaffhausen 1842. Zymner, Rüdiger: Art. Biopoetische/Kognitionswissenschaftliche Gattungstheorie. In: Handbuch Gattungstheorie. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Stuttgart 2010, S. 162–164. Zymner, Rüdiger: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003. Zymner, Rüdiger: Texttypen und Schreibweisen. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Hrsg. von Thomas Anz. Band 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2007, S. 25–80. Zymner, Rüdiger: Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel. Paderborn 1991.

Register Autoren, Werke und historische Personen Kursiv gedruckte Titel bezeichnen Texte, die in der Arbeit mit einer ausführlichen Zusammenfassung ausgestattet sind. Historische Personen wurden nur dann ins Register aufgenommen, wenn sie in direktem Zusammenhang mit einem Autor, einem Werk oder einer Handschrift stehen, also beispielsweise Drucker, Auftraggeber oder Handschriftenbesitzer. ›150 Mariengrüße‹ 99, 103, 196–200, 219f., 529 ›Abendvesper‹ 303 ›Die acht Farben‹ 302 ›Acht Nutzen des Eucharistie-Sakraments‹ 399 ›Adam und Eva‹ 65 ›Adams Klage‹ 18, 199, 531, 531–539 ›Die Adelkrone‹ 438–440 ›Adonay-Paternoster-Auslegung‹ 375 ›Die ältere Judith‹ 133f. ›Vom Advent‹ 312 Agnes von Bayern 167 Agnes von Loon 135 Alber: ›Tundalus‹ 144 ›Meister Albertus lere‹ 318–324 Meister Albrant: ›Rossarznei‹ 509 Albrecht V. Graf von Hohenberg 407–409, 416, 419, 424f., 427 Albrecht von Hohenlohe 408 ›Alemannische Vitaspatrum‹ 487 ›Alexius C‹ 209, 211, 281 ›Alexiuslied‹ (altfrz.) 433 ›Vom Almosengeben‹ 312 ›Alphabetum narrationum‹ 500 ›Die altdeutsche Genesis‹ 132f. ›Das Anegenge‹ 144 ›Das Annolied‹ 131 Ps.-Anselm von Canterbury: ›Interrogatio Sancti Anselmi de Passione Domini dt.‹ 335 Antoninus von Florenz: ›Summa theologica‹ 268 Ps.-Aristoteles: ›Secretum secretorum‹ 422 ›Von dem armen Ritter‹ 215, 234–240, 236f. Arnold von Lübeck: ›Gesta Gregorii peccatoris‹ 156

Augustinus 407, 424 ›Ave Maria-Lilie‹ (›Passional‹-Marienmirakel 15) 111, 176, 176f., 209, 215 ›Ave Maria-Lilie II‹ 210, 213f. ›Ave preclara maris stella‹ 313–315, 321f. ›Ave regina coelorum‹ 322 Ayrer, Marx 518 Baden siehe Philipp Baldemann, Otto: ›Klage vom Römischen Reich‹ 420 ›Barlaamparabeln‹ 201f., 218, 281, 530 Bartholomäus Anglicus: ›De proprietatibus rerum‹ 423, 425 Baudouin de Conde´ 530 ›Baumgartenberger Johannes Baptista‹ 428 Baumholz, Albrecht: ›Die Kaiserin von Rom‹ 526f. Bayern siehe Agnes, Otto ›Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten‹ 5, 462, 540–548, 564 Beheim, Michel: ›Beispiel von ainem weib‹ 125, 128 –: ›Von dem von Württemberg‹ 462 ›Beichttraktat Es sind vil menschen, den ir peicht wenig oder gar nichts hilft‹ 338, 509 ›Die beiden Schwestern‹ 302 ›Die Belagerung der Stadt Modon‹ 518 Bengtsson, Arend 296 ›Berner Marienklage‹ 309 Bernhard von Clairvaux 172, 312, 361, 365, 367f. Ps.-Bernhard von Clairvaux: ›Haushaltslehre‹ 420 Berthold von Buchegg, Bischof von Straßburg 424

604 | Register Berthold von Regensburg: ›Von den Zeichen der Messe‹ 199–201, 313, 321f., 334 ›Betrachtungen und Predigten zu 24 Kirchenfesten‹ 350f. Binder, Ludwig: ›Vor zeyt ein künig saß zu Rom‹ 468 ›Bischof Bonus‹ 55, 169–171, 170, 175, 201f., 218, 281 Boccaccio, Giovanni: ›Decamerone‹ 30 Böhmen siehe Wenzel ›Die böse Adelheid‹ 130 ›Die böse Frau‹ 130 Boner: ›Edelstein‹ 216 ›Brandan‹ 286, 299 Brant, Sebastian: ›Tugendspiel‹ 267, 529 ›Daz brechen leit‹ 206 Brigitta von Schweden 445 ›Der Bruder mit den sieben Säcklein‹ 486 ›Bruder Rausch‹ 123f., 478, 478–481, 528 ›Das Buch der Märtyrer‹ 199–201, 209 ›Das Buch von den junckfrawen, wie sy sich halten sullent‹ 326 Buchegg siehe Bertold ›Die Buhlschaft auf dem Baume‹ 58–63, 59, 130, 295f., 507 ›Der Bussard‹ 203, 372f. Caesarius von Heisterbach 308 –: ›Dialogus Miraculorum‹ 18, 82, 94f., 99, 172, 241–249, 324, 348, 409–412, 416, 429, 453f., 461, 485, 487, 493–495 Ps.-Caesarius von Heisterbach: ›Libri VIII miraculorum‹ 231, 234–236, 241f., 386, 461, 500, 521f. ›Cantilena de conversione Sancti Pauli‹ 139 ›Cato‹ 196–198, 200–202, 220, 281, 284, 315f., 434 ›Von Cheuferen von Orient‹ 285 ›Christherre-Chronik‹ 204, 536, 538f. ›Christi Leiden in einer Vision geschaut‹ 326 ›Christliche Lebenslehre‹ 318f., 329f. ›Christophorus‹ 509f. ›Christus als Koch‹ 486 ›Christus und die sieben Laden‹ 327f., 338, 518–520 ›Ci nous dit‹ 231, 235, 351f., 354, 358, 409, 495 Clemens VI. (Papst) 408

›Collectaneum Clarevallense‹ 94f., 174, 383, 385f., 390 ›Continuatio Funiacensis‹ 241–244 ›Convertimini-Traktat‹ 387 ›Crescentia‹ 17, 137f., 137–139, 333f., 450 Creußner, Friedrich 466, 518 Defoe, Daniel: ›Robinson Crusoe‹ 30 ›Der Bauern Lob‹ I 395 ›Der bösen Klaffer Trügen‹ 302 ›Der falschen Klaffer List‹ 302 ›Der Heiligen Leben‹ 287, 485, 505 ›Der Seele Kranz‹ 196–200, 220, 313, 315, 438–442 ›Der Seelen Wurzgart‹ 485 ›Der Sünden Widerstreit‹ 199f. ›Des Buben Paternoster‹ 65 ›Des Kranichhalses neun Grade‹ 299f. ›Des Münzers Frau‹ 488 ›Deutschenspiegel‹ 437 ›Der Dieb von Brügge‹ 295–297, 299 Dietrich von der Glesse: ›Der Gürtel‹ 280 ›Dietrichs Flucht‹ 209, 216 ›Dis ist der welte lon‹ 543–546 ›Disticha Catonis‹ 418, 422, 424 ›Dit de Robert le Diable‹ 115f. Dorn, Hans 480 ›Drei Äpfel zur Warnung‹ (›Passional‹-Marienmirakel 18) 177, 177f. ›Drei Wappen‹ 207, 284 ›Dreizehn Gnaden der Messe‹ 312 ›Van dren konyngen‹ 542, 542f. ›Van drie doden konyngen ende van drie leuendigen konynghen‹ 540, 540–543, 546 Dyon, Adam 468 Eberstein siehe Hans ›Ecce mundus moritur‹ 449 ›Eckenlied‹ 145 Meister Eckhart 313, 359, 378 ›Meister Eckharts Tochter‹ 486 ›Der edle Moringer‹ 468 Ehrenfreund: ›Der Ritter und Maria‹ 216, 260–263, 261, 459 ›Der einfältige Pfarrer‹ 99–103, 100, 356, 529 ›Das Einhorn‹ (Barlaamparabel) 530 Elbelin von Eselberg: ›Das nackte Bild‹ 303

Register

›Elsaessische Predigten‹ 126f. ›Elucidarium‹ 206, 418 ›Engel und Waldbruder‹ 505f., 505–520 ›Engel und Waldbruder‹ (Prosa) 505, 512–520 Engelin, Jakob: ›Aderlasstraktat‹ 338 Enikel, Jans: ›Weltchronik‹ 536 Ercole d’Este 520 –: ›Spiritualium personarum‹ 518 Erhard der Rainer von Schambach 286 ›Erscheinung am Lichtmesstage‹ II 210, 213f. ›Der ertrunkene Glöckner‹ (›Passional‹-Marienmirakel 10) 15, 55, 111, 201, 218, 281, 345, 555 ›Von der Eucharistie‹ 313 ›Ezzolied‹ 428 ›Facetus cum nihil utilius‹ 418 ›Falsche Reue‹ 329, 329f. ›Vom falschen Klosterleben‹ 399 ›Fegfeuer des hl. Patricius‹ 322 Flach, Martin 480 ›Flos und Blankflos‹ 295–300 Folz, Hans 468, 474, 480 –: ›Abenteuerlich Klopfan‹ 468 –: ›Die Bauernhochzeit‹ 467 –: ›Drei listige Frauen‹ 474 –: ›Drei törichte Fragen‹ 474 –: ›Der Pfarrer im Ätna‹ 470f., 470–476, 528 –: ›Salomon und Markolf‹ 468 –: ›Von einem Arzt und einem Kranken‹ 468 –: ›Die Wahrsagebeeren‹ 474 –: ›Wirtsknecht und Hausmagd‹ 467 Franco von Meschede: ›Altercatio de utroque Iohanne Baptista et Evangelista‹ 411–416 –: ›Aurea fabrica‹ 411 ›Frankfurter Würzgärtlein‹ 78f., 81, 361, 365f., 368, 403 ›Die Frau des Seekaufmanns‹ 295–297 ›Frau Minne warnt vor Hochmut‹ 302 ›Frau Untreue‹ 203 ›Das Frauchen von 21 (22) Jahren‹ 486 ›Frauen Zimmer Calender‹ 1 ›Frauenlist‹ 197f. Frauenlob 286, 396, 418 –: ›Marienleich‹ 419 ›Frauentreue‹ 20, 395 ›Das Frauenturnier‹ 197, 282

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605

Freidank 195f., 203, 206, 216, 284, 286, 298, 303, 322, 418 Freiligrath, Ferdinand 2 Der Freudenleere: ›Wiener Meerfahrt‹ 197f. Frey, Peter: ›Von dem jungen Prinzen‹ 469 Friedrich von Saarburg: ›Antichrist‹ 18, 207 Fröschel von Leidnitz: ›Prozess im Himmel‹ 54, 54–56, 58, 63, 301, 304, 507 Froschauer, Hans 480 ›Fünf Leiden Mariae‹ 313, 315f. ›Fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Gerichts‹ 322 Fuhrmann, Valentin 480 Gauthier de Coincy 116, 530 ›Vom Gedenken an Christus‹ 399, 401 ›Gegrüßet sistu ane we‹ 313 ›Der gehängte Dieb‹ (›Passional‹-Marienmirakel 6) 111, 495 ›Der gehängte Dieb‹ II 322 ›Geistliche Hochzeit‹ 399f. ›Geistliche Tischzucht‹ 322 ›Geistliches ABC für eine Klosterfrau‹ 399f. Gernpass, Michel: ›Secretum secretorum‹ 286 Gerson, Jean 486 ›Die geschicht Dracole waide‹ 518 ›Die geschwätzigen Mönche‹ (›Passional‹-Marienmirakel 17) 209 ›Gesta Romanorum‹ 125f., 268, 271, 275f., 464 Geyswurgel, Michel 395 ›Gmünder Kaiserchronik‹ 518 Gochsheim siehe Hans ›Gold und Zers‹ 302 ›Goldenes Ave Maria‹ 312, 314 Gottfried von Franken: ›Pelzbuch‹ 509 Gottfried von Straßburg 161, 189, 285, 427 –: ›Tristan‹ 20, 91, 180, 345 Gottfried von Viterbo: ›Summa‹ 422, 425 ›Der Graf im Pfluge‹ 303 ›Der Graf von Savoyen‹ 379f., 399 Gregorius Magnus 308, 433 –: ›Moralia in Iob‹ 428 Grelle, Burchard, Erzbischof von Bremen 411 Gretser, Jacob: ›Dialogus de Udone Archiepiscopi Magdeburgensis‹ 529

606 | Register ›Großer Seelentrost‹ 116, 241, 248f., 299f., 463, 485, 496, 500 Grundemann, Johannes 446–456 –: ›Der Bauer im Zweikampf‹ 447 –: ›Crescentia‹ 447f., 450–452 –: ›Eigenschaften guter und schlechter Menschen‹ 447f. –: ›Die Ermordung eines Juden und die Rebhühner‹ 447 –: ›Hildegund von Schönau‹ 447f., 452–454 –: ›Leipziger Äsop‹ 446f., 455 –: ›Leipziger Apollonius‹ 446f., 454 –: ›Leipziger Griseldis‹ 446f. –: ›Sieben weise Meister‹ 447 –: ›Streitgespräch zwischen Tugenden und Lastern‹ 448 –: ›Visio Philiberti‹ 447–450, 449 –: ›Von der werlde ythelkeyt‹ 447–450 ›Der Guardian‹ 476 ›Güssinger Totentanz‹ 379f. ›Güssinger Weltgerichtsspiel‹ 379f. Guilelmus Durantis: ›Rationale divinorum officiorum‹ 410 ›Guillaume d’Angleterre‹ 184 Gundacker von Judenburg: ›Christi Hort‹ 536 ›Die gute Frau‹ 184f. Gutknecht, Friedrich 480 Gutknecht, Jobst 467f., 521, 527 ›Die halbe Birne‹ 237 ›Die halbe Birne A‹ 206 ›Die halbe Decke‹ 49–52, 50, 63, 129 Hans von Eberstein 292 Hans von Gochsheim 291f., 294 Hartebok 294, 542, 544, 548 Hartlieb, Johann: ›Dialogus miraculorum‹ 494 Hartmann von Aue 184f., 196 –: ›Der arme Heinrich‹ 16, 89, 107, 149, 149–154, 156, 158, 161, 166, 175, 428, 551–554 –: ›Erec‹ 144, 236f. –: ›Gregorius‹ 10, 121–123, 142, 149, 154–156, 158, 162, 345, 505, 551f. –: ›Iwein‹ 208 Has, Kunz: ›Spruch von einem Bäckersknecht‹ 468 ›Der Hauskummer‹ 197f.

›Die Heidin‹ 287 ›Die Heidin A‹ 206, 209 ›Die Heilige Regel für ein vollkommenes Leben‹ 82, 479, 484 ›Heilung durch Marienmilch‹ 171–174, 172 ›Heimkehr des gefangenen Geliebten‹ 302 Heinrich der Klausner 92 –: ›Der arme Schüler‹ 91, 206, 356, 356–358 Heinrich von dem Türlin: ›Die Krone‹ 209 Heinrich von Freiberg: ›Kreuzesholzlegende‹ 18, 208, 284f. –: ›Die Ritterfahrt des Johann von Michelsberg‹ 197 –: ›Tristan‹ 189, 236f. Heinrich von Landshut: ›Der Traum am Feuer‹ 301 Heinrich von Melk: ›Vom Priesterleben‹ 145 –: ›Von des todes gehugede‹ 144 Heinrich von Mügeln: ›Valerius Maximus‹ 508 Heinrich von München: ›Weltchronik‹ 531, 535 Heinrich von St. Gallen: ›Magnificat-Auslegung‹ 310f. –: ›Passionstraktat‹ 338 Heinrich von Toledo: ›Weissagung über das Weltende‹ 303 Heinrich von Veldeke: ›Servatius‹ 135–137 Heinrich Graf von Vianden 189 Magister Heinrich: ›Kuriengedicht‹ 420 Heinzelin von Konstanz: ›Von dem Ritter und von dem Pfaffen‹ 407, 416, 421 –: ›Die zwei Sankt Johannsen‹ 207, 285, 405, 405–427, 455 ›Der Heller der armen Frau‹ 44, 44f., 84, 197–201, 218, 281 Helwig (von Waldirstet): ›Kreuzesholzlegende‹ 18 Henmannus Bononiensis: ›Viaticum narrationum‹ 389 ›Henne und Fisch‹ 301, 306 Hermann von Schildesche: ›Breviloquium super missam‹ 420 –: ›Chronik‹ 420 –: ›Gesta‹ 420 –: ›Speculum sacerdotis‹ 420 Hermann von Veldenz: ›Jolande von Vianden‹ 188–190 Hermann-Joseph von Steinfeld 352f., 357

Register

Herolt, Johannes: ›Promptuarium exemplorum‹ 125 –: ›Sermones discipuli de tempore et de sanctis. Promptuarium exemplorum‹ 386 Herrand von Wildonie 92, 551 –: ›Der nackte Kaiser‹ 11, 92, 268–272, 269f., 276–279, 286 ›Der Herrgottschnitzer‹ 197, 215 ›Herzklosterallegorie‹ 76–78, 313f., 338, 375f. ›Herzklosterallegorie‹ II.2 77 ›Herzklosterallegorie‹ II.3 77 Heumann, Friedrich 521 Hildegard von Bingen 422, 425 Hölzel, Hieronymus 518 Hohenberg siehe Albrecht, Hugo Hohenlohe siehe Albrecht Huber, Wolfgang 466f. Hugo von Cluny 348 Hugo von Hohenberg 424 Hugo von Trimberg: ›Registrum multorum auctorum‹ 130, 253 –: ›Der Renner‹ 418 Hundertpfund, Heinrich: ›Goldene Arche‹ 285 Hupfuff, Matthias 480 Husner, Georg 387 ›Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae dt.‹ 301, 396f. ›Istoria di un Castellano‹ 389 Ivo von Chartres: ›Pannormia‹ 428 Jacob de Leone 417f. Jacobus de Voragine: ›Legenda aurea‹ 2, 100, 257–260, 262, 410, 412, 422, 424, 426, 485, 492–496, 499–503 ›Die Jagd des Lebens‹ (Barlaamparabel) 201f., 216 Jakob von Theramo: ›Belial‹ 413 Jakob von Vitry: Exempla 96, 129f., 251f., 490f., 506 Jan van Ruusbroec 378 Jean de Conde´ 530 –: ›Dit du Magnificat‹ 279 Jehan de St-Quentin: ›Dit du povre chevalier‹ 260 –: ›Dit du chevalier qui devint hermite‹ 386

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›Das Jesuskind als Geisel‹ (›Passional‹Marienmirakel 5) 1, 209, 495, 495–500 Johann von Mandeville: ›Reisebeschreibung‹ 291, 293, 322 Johann von Neumarkt: ›Hieronymus-Briefe‹ 335–337, 509 Johannes Damascenus 90 Johannes der Wise: ›Marienlob‹ 319 Johannes Gallensis: ›De quatuor virtutibus cardinalibus‹ 422, 424 Johannes Gobi: ›Scala coeli‹ 116, 172, 235, 241, 246–251, 261, 308, 348, 389–392, 392, 481 Johannes von Hildesheim: ›Historia trium regum‹ 123 –: ›Historia trium regum dt.‹ 322 Johannes von Marsel 326 Johannes XXII. (Papst) 412 Jolande von Vianden 189 Jordan (Schreiber) 288–290, 292 ›Der Judenknabe‹ (›Passional‹-Marienmirakel 25) 165, 165, 218 ›Das Jüdel‹ 144, 162, 162–165 ›Die Jüdin und der Priester‹ 476 ›Die jüngere Judith‹ 133–135, 151, 143 Jülich siehe Walram ›Jungfrau, Frau und Witwe‹ 215, 215 ›Von dem jüngsten Tag‹ 197–200, 220, 438–440, 442 ›Kaiserchronik‹ 136f., 139, 208, 450f. ›Die Kaiserin von Rom‹ 333 ›Katechetische Reimpaarsammlung‹ 315, 318–326 Katzenelnbogen, Grafen von 286, 292f. ›Der Kaufmann aus Byzanz‹ 171, 175, 175, 521–523 ›Vom Kaufmann, der dem Juden ein Pfund Fett aus seiner Seite versetzt‹ 469 Kaufringer, Heinrich: ›Chorherr und Schusterin‹ 60 –: ›Die halbe Decke‹ 49, 52 –: ›Die zurückgelassene Hose‹ 60, 130 –: ›Drei listige Frauen‹ 130 –: ›Einsiedler und Engel‹ 506 –: ›Die Rache des Ehemannes‹ 130 –: ›Die unschuldige Mörderin‹ 20 Keller, Gottfried 1f.

608 | Register ›Das Kerbelkraut‹ 60, 97, 130 Kistener, Kunz: ›Die Jakobsbrüder‹ 85, 85f., 504, 545, 555 –: ›Die Jakobsbrüder‹ (Prosa) 504 ›Klage‹ (›Nibelungenlied‹) 145 ›Klage über Trennung von der Geliebten G‹ 282 ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹ 145f., 530 ›Knecht Herolt‹ 273 ›König Artus’ Horn‹ 287 ›Der König im Bad‹ 81, 201, 207, 209, 215f., 218, 267–334, 269, 338, 341–343, 398, 401, 404, 416, 442, 481, 507, 528f., 557 ›Der König im Bad‹ (Meisterlied) 267, 275f. ›Der König im Bad‹ (Prosa) 277–279 König vom Odenwald 418f. ›Die Königin von Frankreich und der ungetreue Marschall‹ 467f., 523–527 ›Der Königssohn von Frankreich‹ 115 ›Köstliches Essen in schmutzigem Gefäß‹ 210, 212, 212 Konrad Harder: ›Frauenkranz‹ 273, 285 Konrad Jude 417 Konrad von Eberbach: ›Exordium Magnum‹ 94, 383f., 386, 390 Konrad von Fußesbrunnen 532 –: ›Kindheit Jesu‹ 141–147, 187, 505, 530, 551f. Konrad von Haslau: ›Der Jüngling‹ 438–440 Konrad von Heimesfurt 3, 18, 532 –: ›Diu Urstende‹ 144, 147, 530 –: ›Unser vrouwen hinvart‹ 145, 147f. Konrad von Würzburg 189, 196, 421, 551 –: ›Der Welt Lohn‹ 47, 47f., 71f., 125–128, 190–192, 199, 204f., 215f., 280, 541 –: ›Engelhard‹ 85f., 555 –: ›Die goldene Schmiede‹ 196–200, 207, 285, 418 –: ›Heinrich von Kempten‹ 285 –: ›Herzmäre‹ 395 –: ›Die Klage der Kunst‹ 418 –: ›Pantaleon‹ 203 –: ›Silvester‹ 190 –: ›Das Turnier von Nantes‹ 418 Pfaffe Konrad: ›Rolandslied‹ 136, 435 Korner, Hermann: ›Chronica novella‹ 231 Kosegarten, Ludwig Gotthard 2

›Von einem Kranz‹ 303 Kraus, Hans 326 ›Kreuztragende Minne‹ 339 ›Krieg von Wein, Met und Bier‹ 286 Kruffter, Servas 480 Kügelin, Konrad: ›Vita der Elsbeth Achler von Reute‹ 312f. Laßberg, Joseph von 5 Laufenberg, Heinrich 359 ›Laurin‹ 206, 286, 301, 304, 326 ›Leben der heiligen Elisabeth‹ 537 ›Leben Notkers des Stammlers‹ 315f. Leucht, Valentin: ›Speculum Miraculorum SS. Eucharistiae‹ 481 ›Liber de miraculis‹ 100–103, 171–174, 521 ›Liber exemplorum‹ 110, 462, 495 ›Lidia‹ 129f. ›Liebesklage an die Geliebte G‹ 282 ›Lied vom mystischen Weingarten‹ 379 ›Lied von der Fronica‹ 467f. ›Lied von einer junckfrawen die da trew iagt‹ 468 Linck, Nikolaus 359f. Lirer, Thomas: ›Schwäbische Chronik‹ 518 ›Lob der Frauen‹ I 302 ›Lob der Frauen‹ V 301 ›Lob der Frauen und der Priester‹ 338 ›Lob der grünen Farbe‹ 302 ›Lob der ritterlichen Minne‹ 418 ›Vom Loben Gottes‹ 399 Loon siehe Agnes ›Losbuch‹ 509, 511 ›Lucidarius‹ 206, 286f., 326, 379, 381, 418 Ludwig der Bayer, deutscher Kaiser 408 ›Luneten Mantel‹ 287 Lupold von Bebenburg 447 ›Luzifers und Adams Fall‹ 215 ›Magdeburger Dienstrecht‹ 438 ›Der Magezoge‹ 196–198, 200, 205, 208, 220, 284, 438–440 ›Der Magnet unserer lieben Frau‹ 116, 174, 235, 249f., 258, 486, 494, 496, 500 ›Magnum Speculum Exemplorum‹ 231, 461 Maier, Martin: ›Der Ritter aus der Steiermark‹ 467, 481, 527f. –: ›Vom ehelichen Stand‹ 469

Register

Mardach, Eberhard: ›Sendbrief von wahrer Andacht‹ 399f. ›Margarete von Antiochien II‹ 339 ›Maria im Turnier‹ (›Passional‹-Marienmirakel 4) 2, 209, 212, 234, 492–495, 493 ›Maria rettet einen Maler‹ (›Passional‹-Marienmirakel 16) 209, 477f. ›Maria rettet einen Ritter um seiner Frau willen‹ (›Passional‹-Marienmirakel 20) 111, 259, 259f., 262f. ›Maria rettet einen Ritter um seiner Frau willen‹ II 210, 213f., 259 ›Marias Fürbitte für einen Ritter‹ (›Passional‹-Marienmirakel 24) 201, 212, 218, 241, 244, 244–246, 281 ›Marien Rosenkranz‹ (›Passional‹-Marienmirakel 21) 109, 109–112, 218, 345, 356 ›Marien Rosenkranz‹ II 109, 109–112, 199, 206, 218, 345, 356 ›Marienleben‹ 315f. Marienmesse ›Salve sancta parens‹ 99 ›Marienoffizium zur Unzeit‹ 171, 174, 174 ›Marina‹ I 299 Marquard von Lindau 309 –: ›Auszug der Kinder Israel‹ 309 –: ›De fide dt.‹ 375 –: ›De Nabuchodonosor dt.‹ 309 –: ›Dekalogerklärung‹ 339 –: ›Eucharistie-Traktat‹ 359 Martin von Troppau 387, 389 –: ›Chronik‹ 423, 426 –: ›Sermones de tempore et de sanctis. Promptuarium exemplorum‹ 387 Ps.-Matthäus-Evangelium 141f. Matthias von Neuenburg 424 –: ›Chronik‹ 422f., 425f. Maurice de Sully 228 ›Maximilian I. Coronatio‹ 518 ›Maximilian I. Erwählung lat.‹ 518 ›Maximilian I. Erwählung. Verzeichnis der Teilnehmer an der Wahl‹ 518 ›Maximilian I. Handel‹ 518 ›Maximilian I. Krönung‹ 518 ›Die maze‹ 280 Mechthild von Magdeburg 67 ›Media vita in morte sumus‹ 150 ›Die Meierin mit der Geiß‹ 286 Meisenburg siehe Walther 509

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›Merseburger Bischofschronik‹ 443 Merswin, Rulman 378 –: ›Meisterbuch‹ 338 –: ›Neunfelsenbuch‹ 326 Michael de Leone 207, 417–421, 448, 455 Michelsberg, Familie von 219 Mie´lot, Jean: ›Miracles de Notre Dame‹ 110f., 116 ›Militarius‹ 251–258 Miller, Michel: ›Der Kaufmann aus Konstantinopel‹ 521–523 ›Minner und Trinker‹ 206, 394 ›Miracle de Nostre Dame de Robert le Diable‹ 115 ›Mönch Felix‹ 197–199, 205, 228–231, 229, 233, 345, 430 ›Mönch Felix‹ II 229 Mönch von Heilsbronn: ›Buch von den sechs Namen des Fronleichnams‹ 338 Mönch von Salzburg 302f., 319, 379 Mondsee-Wiener Liederhandschrift 508 Monschau siehe Walram ›Die Mordtat von Amberg‹ 468 Morgenrot: ›Spruch von Glück und des Menschen Sinn‹ 301 ›Moriz von Craun‹ 552 Mostl, Ulrich 300–306 ›Der Müller im Himmel‹ 56, 56–58, 60, 63 MünchnerMarienmirakel-Fragmente 171–175, 521, 530 ›Münchner Oswald‹ 277 Müntzinger, Johannes: ›Exposition super oratione dominica dt.‹ 375 ›Nabuchodonosor (Meisterlied)‹ 313f. ›Der nackte Kaiser (Prosa)‹ 276–279, 505 Neidhart 286f. ›Neun Helden‹ 299f. ›Neun Nutzen der Messe‹ 313 ›Neun Stücke zur Übung der Tugend‹ 375f. ›Nibelungenlied‹ 134, 145 Nider, Johannes 375, 486 –: ›Die 24 goldenen Harfen‹ 327 ›Das Nonnenturnier‹ 67 ›Novella del Castellano‹ 387 ›Nürnberger Marienbuch‹ 110, 213, 235, 241, 248f., 252, 258, 485–487, 494–496, 498, 500f., 503

610 | Register ›Vom Nutzen der Messe‹ 395 ›Vom Nutzen des Leidens‹ 375 ›Oberdeutscher Servatius‹ 135–137, 144 ›Oberrheinisches Erbauungsbuch‹ 315, 318–324, 342, 512, 539 Odo von Cheritona 129, 228 Öser, Irmhart: ›Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaac‹ 508 Österreichischer Bibelübersetzer: ›Büchlein vom Antichrist‹ 205 ›Ortnit‹ 209 Otto II. von Bayern 167 Otto von Wolfskehl, Bischof von Würzburg 417 Ovid 428 ›Paradisus animae dt.‹ 338 ›Passional‹ 92, 145, 176–178, 221, 445, 505, 530 ›Passional‹-Marienmirakel 196–200, 209, 212–215, 218, 220, 257, 530 ›Passionstraktat Do der minnenklich got‹ 361 Peregrinus de Oppeln 361, 365 Peter von Arberg: ›O starker Gott‹ 313 Peterswald, Jakob: ›Die sieben Farben‹ 285 Petrus Alfonsi: ›Disciplina clericalis‹ 65, 129 Petrus Damiani 174 Petrus de Crescenciis 445 Petrus Venerabilis: ›De Miraculis libri duo‹ 490 Peuntner, Thomas 337 –: ›Ars moriendi‹ 335, 337 –: ›Ave Maria-Auslegung‹ 335 –: ›Büchlein von der Liebhabung Gottes‹ 509 ›Der Pfaffe in der Reuse‹ 394 Pfalz siehe Ruprecht Philipp Markgraf von Baden 308 Bruder Philipp: ›Marienleben‹ 84, 145, 221, 530f., 555 ›Physiologus‹ 160, 405f. Pilgrim, Guardian in Görlitz 91 ›Prager (omd.) Spiel über Maria in der Passion‹ 399 ›Priester Zacharias und die Sünderin‹ 210, 213, 213 ›Priester, Ritter und Bauer‹ 313 ›Priesterkönig Johannes‹ 322

›Prophezeiung Hildegards von Bingen‹ 518 Prüß, Johann 518 Psalter 431–436 Puff, Michael von Schrick: ›Branntweinbuch‹ 301 ›Pyramus und Thisbe‹ 207 ›Rabenschlacht‹ 209, 216 ›Der Räuber‹ 210, 212, 212 ›Der Räuber mit der Kerze‹ 229, 229 ›Rat der Frau Treue‹ 302 ›Rat der Vögel‹ 291, 293, 299 ›Ratbüchlein‹ 467f. Rauscher, Hieronymus: ›Auserwählte Papistische Lügen‹ 481 ›Regel und Leben Mariae nach Christi Himmelfahrt‹ 322f. Reinbot von Durne: ›Der heilige Georg‹ 167–170, 184 Reinmar 418 Reinmar von Zweter: ›Leich‹ 196–200 ›Reuner Relationen‹ 157f., 160f., 429 ›Rhythmus de casula S. Boni‹ 170 ›Ritter Alexander‹ 468, 527f. ›Ritter Gottfried‹ 457–471, 458, 474, 476, 507, 528 ›Der Ritter in der Kapelle‹ 54, 107, 307f., 379f. 382f., 382–403, 507 ›Der Ritter in der Kapelle‹ (Prosa) 387–389 ›Der Ritter mit den Nüssen‹ 64, 130 ›Ritter und Barfüßer‹ 489f. ›Ritter und Teufel‹ 216, 252–257, 253 ›Roberd of Cisyle‹ 279 Robert Grosseteste: ›Templum Domini‹ 422, 424 ›Robert le Diable‹ (Versroman) 114–116 Römoldt, Johannes: ›Fein Christlich vnd nue tzlich Spiel von dem grewlichen Laster der Hoffart‹ 267, 529 ›Der Rosendorn‹ 286 ›Rosengarten zu Worms‹ 206, 326 Rosenplüt, Hans 393–396, 398, 402f. –: ›Die Beichte‹ 79f. –: ›Die Kaiserin von Rom‹ 523, 526–528 –: ›Der König im Bad‹ 234, 267, 273–275, 528 –: ›Der Priester und die Frau‹ 80f. –: ›Spiegel und Igel‹ 273 –: ›Spruch von einem Barbierer‹ 302

Register

–: ›Weingrüße und -segen‹ 396 ›Rosenplütsche Fasnachtsspiele‹ 395f. Rosner: ›Ordnung der Regensburger Judenpredigt‹ 302, 305 Rudolf von Ems 90, 196 –: ›Barlaam und Josaphat‹ 84, 90f., 142, 186–188, 190f., 203–205, 217f., 220f., 270, 277, 287, 530, 555 –: Barlaamparabeln 195 –: ›Der gute Gerhard‹ 166f., 184f. –: ›Weltchronik‹ 531, 533f., 536–539 –: ›Willehalm von Orlens‹ 145 Rüdiger der Hinkhofer: ›Der Schlegel‹ 129 Ruprecht I. von der Pfalz, Kurfürst 537 Rutebeuf: ›The´ophile‹ 528 Sachs, Hans 526 –: ›Engel und Waldbruder-Spiel‹ 529 –: ›Streitgespräch über die Liebe‹ 203 ›Sachsenspiegel‹ 438, 443, 445 ›Sächsische Weltchronik‹ 450–452 ›Salve Regina‹ 201, 313f., 338 ›Salve sancta parens‹ (›Passional‹-Marienmirakel 8) 99–103, 100, 111, 210, 212, 214f. ›Schampiflor‹ 206 ›Scheidsamen‹ 302 Schiltknecht, Jörg: ›Gegen die Verderbnis aller Stände‹ 302 Schmieher, Peter 304 –: ›Student von Prag‹ 302, 394 –: ›Von der Kuh‹ 302 –: ›Wolfsklage‹ 302, 338, 394 ›Das Schneekind‹ 20 Schneider, Hans: ›Ermahnung wider die Türken‹ 303 Schobser, Hans 330–332 Schöffer, Peter 518 ›Die Schönheit der Geliebten‹ 545 ›Der Scholar und das Marienbild‹ (›Passional‹-Marienmirakel 22) 215 Schondoch: ›Die Königin von Frankreich‹ 285, 333, 333–342, 523–526 ›Der Schüler zu Paris‹ 206f., 287 ›Die Schule der Tugenden‹ 327 ›Schwabenspiegel‹ 437 Schwarzenberg siehe Wolfgang

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Schweizer Anonymus: ›Petrus und der Holzhacker‹ 56–58, 57, 63 –: ›Zwei Brote‹ 73, 73f. ›Scoph von dem lone‹ 139 ›Die sechs Farben‹ 302 ›Die sechs Farben‹ I 545 ›Die sechs Farben‹ II 286 Seuse, Heinrich 309, 319, 399, 445 –: ›Büchlein der ewigen Weisheit‹ 309, 326, 338 Sibote: ›Frauenzucht‹ 284 ›Sibyllenweissagung‹ 309, 379, 422 ›Sieben gute Gedanken‹ 313 ›Sieben Tagzeiten des Laien‹ 313f. ›Sieben Votivmessen‹ 396f. Siegfried der Dörfer: ›Frauentrost‹ 16, 40, 40–43, 52, 84, 103–108, 111, 199, 218 ›Sigenot‹ 145 ›Der slecht weg‹ 318–324, 327 ›Der Söldner als Barfüßer‹ 328, 328f. ›Der Sperber‹ 286 ›Der Spiegel‹ 67–69, 68 Spörl, Peter 508 Sporer, Hans 330–332, 523, 525 Sprenger, Jakob: ›Statuten der Kölner Rosenkranzbruderschaft‹ 375 –: ›Vorrede zur Kölner Rosenkranzbruderschaft‹ 110f. ›Sprüche der zwölf Meister zu Paris‹ 334 ›St. Galler Weltgericht‹ 315f., 321f. ›St. Katharinen Marter‹ 144 Stephan von Bourbon 129f., 385f., 463 –: ›De dono timoris‹ 452 –: ›De septem donis Spiritus Sancti‹ 82 –: ›Tractatus de diversis materiis praedicabilibus‹ 114–116, 384 ›Stiefmutter und Tochter‹ 302, 396 ›Stimulus amoris‹ 375 Stör Hucker, Engel 328 Stör, Hans 328 ›Der Streit der vier Töchter Gottes‹ 18, 55, 80, 80f., 201, 223–228, 555 ›Streitgespräch zwischen Christ und Jude‹ 545f. Stricker 30, 129, 178–183, 195f., 201–205, 207, 209, 215, 217f., 220, 280f., 438 –: ›Die Buße des Sünders‹ 182, 182f. –: ›Die Tochter und der Hund‹ 75

612 | Register –: ›Drei Gott verhasste Dinge‹ 204 –: ›Drei Wünsche‹ 196, 207 –: ›Der durstige Einsiedler‹ 177, 182, 182f. –: ›Ehescheidungsgespräch‹ 60 –: ›Entweihtes Gotteshaus‹ 202 –: ›Der ernsthafte König‹ 52–54, 53, 74, 80, 196, 201, 203–205, 207f., 216, 284, 438–441 –: ›Fünf teuflische Geister‹ 199, 280 –: ›Der gefangene Räuber‹ 204 –: ›Der geprüfte Diener‹ 280 –: ›Das heiße Eisen‹ 206 –: ›Hund und Stein‹ 204 –: ›Der junge Ratgeber‹ 129 –: ›Karl‹ 145, 435 –: ›Klage‹ 280 –: ›Der kluge Knecht‹ 66 –: ›Mahnung zu rechtzeitiger Buße‹ 204 –: ›Der Marktdieb‹ 437 –: ›Die Martinsnacht‹ 62, 62–65, 69, 196, 207f., 215 –: ›Die Milch und die Fliegen‹ 280 –: ›Die Minnesänger‹ 179f. –: ›Der Richter und der Teufel‹ 16, 181, 181f., 196, 203–205, 216, 437 –: ›Die Schlange ohne Gift‹ 76f., 280 –: ›Die sechs Teufelsscharen‹ 204 –: ›Sünder und Einsiedler‹ 183, 183, 196, 201, 203, 205, 209, 215f., 437 –: ›Der ungeratene Sohn‹ 280 –: ›Vom heiligen Geist‹ 79 –: ›Der wahre Freund‹ 209 –: ›Wolf und Weib‹ 181 Stüchs, Johannes 467f., 475 Suchenwirt, Peter 285 –: ›Sieben Freuden Mariae‹ 303 ›Sultansbriefe‹ 287, 289f. ›Die Sultanstochter im Blumengarten‹ 370f., 370–382, 399, 403 ›Vom Sünder und der verlorenen Frau‹ 71f., 71–74, 125, 127, 263, 318f., 324–326 ›Syfrid‹ 315f. ›Tagzeiten vom Leiden Christi zu jeder Viertelstunde‹ 399, 401 Tauler, Johannes 378, 445 Teichner 216, 285f., 301, 395

›Der Teufel als Kämmerer‹ (›Passional‹-Marienmirakel 14) 15, 212f., 233, 500, 500–504 ›Teufel als Kämmerer‹ II 210, 213f., 233 ›Der Teufel und der Maler‹ 215, 476–478, 477 ›Die Teufelsbeichte‹ 318f., 324, 324–327 ›Theophilus‹ (›Passional‹-Marienmirakel 23) 240 ›Theophilus-Spiel‹ 295–297, 299f., 529 ›Thomas‹ (Verslegende) 204 Thomas von Aquin: ›Pange lingua‹ 511 –: ›Sacris solemniis‹ 511 –: ›Verbum supernum prodiens‹ 511 Ps.-Thomas von Aquin: ›Officio sacerdotis‹ 420 Thomas von Cantimpre´: ›Bonum universale de apibus‹ 410, 461, 485 –: ›De natura rerum‹ 423, 425 ›Thomas von Kandelberg‹ 38, 38–40, 42, 52, 199, 218, 231–233, 345 ›Thomas von Kandelberg‹ II 231–233, 239 Thüring von Ringoltingen: ›Melusine‹ 307, 398 ›Tochter Sion‹ 209, 211, 281 ›Tochter und Hund (Prosa)‹ 75f. ›Der Traum‹ 302 ›Der Traum des Scholaren‹ (›Passional‹-Marienmirakel 9) 210, 212, 214 ›Von treulosen Männern‹ 302 ›Tristan‹ 286 ›Tundalus‹ 379–381 Ps.-Turpin von Reims 423 Turs, Hans von Rauheneck 219 Turs, Katharina von Rauheneck 219 Twinger, Jakob von Königshofen: ›Chronik‹ 322, 544f. ›Udo von Magdeburg‹ 529 ›Von dem üblen Weib‹ II 301, 306, 419 Ulrich von Liechtenstein 270 Ulrich von Pottenstein: ›Dekalogerklärung‹ 509 ›Die undankbare Wiedererweckte‹ 203 ›Vom ungetreuen Knecht‹ 468 ›Unser Frauen Ritter‹ 42, 42–44, 46–48, 199, 218, 234–240 ›Unser vrouwen klage‹ 197–200, 223, 322

Register

›Väterbuch‹ 176, 184, 209, 221, 286 ›Valentin und Namelos‹ 295–297 ›Vaticinia de summis pontificibus dt.‹ 518 Velderndorf zum Neidenstein siehe Wolfgang Veltsperger, Stefan: ›Von alten Weibern‹ 301 ›Veni Sancte Spiritus‹ 338 ›Der verlorene Sohn‹ 112–120, 113, 123, 263, 295–298 ›Veronika‹ I 322 ›Verschwiegene Liebe‹ 394 Versweigseinnicht: ›Unsers herrn Wapen‹ 285 –: ›Von Stet und Unstette‹ 285 ›Der verzweifelte Ritter‹ 252, 254f., 254–257 Vianden siehe Heinrich, Jolande ›Vierzehn geistliche Jungfrauen‹ 399, 401 ›Le vilain asnier‹ 129 Vinzenz von Beauvais: ›Speculum historiale‹ 116f., 172, 235, 237, 249–251, 358, 422, 424 ›Visio Philiberti‹ 447–450, 449 ›Vision auf das Jahr 1401‹ 518 ›Vita Adae et Evae‹ 533–536 ›Vitaspatrum‹ 167, 308, 435, 445, 518f. ›Vorauer Novelle‹ 90f., 94, 157, 157–162, 175, 427–430, 455, 551, 553 ›Vom wahren Klosterleben‹ 400 ›Waldbruder‹ 327–329, 328 Walram von Jülich, Erzbischof von Köln 412 Walram von Monschau 189 Walther von der Vogelweide 189, 418 –: ›Leich‹ 196–200 Walther von Meisenburg 189 ›Das warme Almosen‹ 20 ›Die Warnung‹ 144 ›Warum Gott sein Haupt neigte‹ 197–199, 220 ›Was Blütenfarben bedeuten‹ 302 Weimarer Liederhandschrift 395f. ›Der Weinschwelg‹ 286 ›Von der welt valscheit‹ 126f. Wenzel II. von Böhmen 91

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Wernher der Gärtner: ›Helmbrecht‹ 20 Priester Wernher: ›Driu liet von der maget‹ 144 Westval, Joachim 480 Wido, Abt von Kappel 90 ›Wiener Oswald‹ 379f., 399 Wilhelm Werner Graf von Zimmern 203 Windeck, Eberhard: ›Sigismundbuch‹ 289 ›Winsbecke‹ 283 ›Winsbecken-Parodie‹ 283 Wirnt von Grafenberg 288 –: ›Wigalois‹ 287–290, 460 Wolfgang Christoph Freiherr von Velderndorf zum Neidenstein 285 Wolfgang Jacob Graf von Schwarzenberg 308 Wolfram von Eschenbach 288 –: ›Parzival‹ 44, 145, 158, 168, 237, 287–290, 373, 445 –: ›Willehalm‹ 145, 168f. Wolfskehl siehe Otto ›Der Württemberger‹ 5, 45, 45–48, 207, 215, 284, 301, 304, 306, 395, 458–465, 470f. ›Der Wunderer‹ 301 ›Von der Würde des Sakraments‹ 209, 211f., 211f., 281 Wyssenherre, Michel: ›Der Herr von Braunschweig‹ 291, 293f. ›Der Zahn‹ 130 ›Zeno‹ 120f., 120–124, 263, 299f., 345 Zimmern siehe Wilhelm ›Die zwei Beichten‹ 64f., 65 ›Die zwei Blinden‹ 48f., 48–50, 52f., 73f., 196 ›Die zwei Blinden‹ II 74 ›Der Zweifler‹ 228f., 427, 430, 430–436, 455 ›Der Zweikampf (Barlaamparabel)‹ 530 Zwickauer: ›Des Mönches Not‹ 284, 301 ›Zwiegespräch zwischen einem Ritter und einer Dame‹ 282 ›Zwölf Früchte der Messe‹ 322 ›Das zwölfjährige Mönchlein‹ 343–371, 344, 374, 382, 403, 409

614 | Register

Handschriften Augsburg, Universitätsbibliothek (UB) Cod. III.1.4° 30 350 Cod. III.1.8° 14 392f., 396–399, 402 Bamberg, Staatsbibliothek Cod. hist. 152 410 Cod. hist. 153 410 Cod. hist. 157 486 Berlin, Staatbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Cod. theol. lat. fol. 427 412 Fragm. 113/ Berlin, Staatsbibl., Mgf 923 Nr. 3/ Berlin, Staatsbibl., Mgq 663 229 Mgf 587 145 Mgf 737, Bl. 16–18, 19/ Göttweig, Stiftsbibliothek, ohne Sign. (verschollen)/ Herzogenburg, Stiftsbibliothek, Cod. 92/ Wien, ÖNB, Cod. Vindob. 15336 204, 217 Mgf 742 318–324, 329 Mgf 814 145 Mgf 863 74f., 110, 234, 241, 243, 246, 249, 251, 277, 358, 387, 426, 462, 485–490, 494–499, 502f. Mgf 923 Nr. 13 145 Mgq 189 504 Mgq 267 339 Mgq 361 285f., 317 Mgq 414 526 Mgq 1581 379 Mgo 186 294 Mgo 222 110, 231, 242, 249, 328, 348, 350f., 375–379, 485 Bern, Burgerbibliothek Cod. 260 407, 417, 422–427 Breslau, Universitätsbibliothek (UB) I.F.115 125, 127, 154, 167, 231, 235, 251, 257f., 268, 275, 329, 348f., 351, 374, 385, 459, 476 I.F.607 125, 127

Budapest, Bibliotheca et Archivum P.P. Franciscanorum Cod. Esztergom 11 375, 379–382, 392f., 399 Chur, Staatsarchiv Cod. B 1 441 Colmar, Archives De´partementales du Haut-Rhin Ms. no. 559/560 139 Colmar, Stadtbibliothek Depositum Muse´e Bartholdi, o. Sign. 538 Ms. 305 360 Cologny-Genf, Bibliotheca Bodmeriana Cod. Bodm. 30 432 Cod. Bodm. 72 63, 196–202, 207, 216–219, 222, 224–228, 264, 280f., 316, 440–442, 531 Cod. Bodm. 155 205, 217 Den Haag/’s-Gravenhage, Königliche Bibliothek Cod. 74 B 10, IIc 282, 317 Dessau, Landesbibliothek Hs. Georg. 48 123 Hs. Georg. 24.8° 441 Dresden, Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek (SLUB) Mscr.App. 186, Nr. 7 283 Mscr.M.42 300 Mscr.M.50 394 Mscr.M.60 318–324, 329 Mscr.M.68 208, 439 Dülmen, Herzog von Croy’sche Verwaltung, Hausarchiv Nr. 54 145

Register

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Düsseldorf, Universitätsbibliothek (UB) Cod. F 55 318–324, 329

Hildesheim, Dombibliothek Hs. St. God. 1 433

Erlangen, Universitätsbibliothek (UB) Ms. 143 433

Innsbruck, Bibliothek des Jesuitenkollegs Cod. 40024 338f.

Frankfurt a. M., Universitätsbibliothek (UB) Ms. Barth. 58 346, 360–370 Fragm. germ. II 6 484

Innsbruck, Landesmuseum Ferdinandeum Cod. FB 32001 208

Freiburg, Stadtarchiv B 1 Nr. 199 437 Fulda, Landesbibliothek Cod. Aa 46 433 Cod. Aa 88 536 Gotha, Forschungsbibliothek Cod. Chart. A 216 205 Cod. Chart. A 985 300 Graz, Landesarchiv Hs. 3 538 Halle/Saale, Universitäts- und Landesbibliothek Quedl. Cod. 133 275 Hamburg, Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Cod. 102c in scrin. 294 Cod. germ. 6 273, 287–291, 317, 341 Heidelberg, Universitätsbibliothek (UB) Cpg 65 293 Cpg 118 485 Cpg 138 293 Cpg 314 216 Cpg 341 63, 84, 196–202, 207, 216–219, 222–228, 264, 280f., 316, 440–442, 530f. Cpg 357 194 Cpg 472 338 Cpg 848 194 Herzogenburg, Stiftsbibliothek Cod. 69 334f.

Innsbruck, Universitäts- und Landesbibliothek Cod. 922 437 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek (BLB) Cod. k 408 63, 214f., 284, 464 Cod. St. Georgen 86 203f. Donaueschingen 74 145 Donaueschingen 79 536–538 Donaueschingen 104 63, 216, 274, 279, 284, 316f. Donaueschingen 106 310, 323 Lichtenthal 77 318–324, 328f. Kassel, Universitätsbibliothek (UB) 2° Ms. theol. 4 538 Klosterneuburg, Stiftsbibliothek Cod. 1157 337 Cod. 1242 145 Cod. 1244 209–214, 218, 222, 233, 259, 281 Koblenz, Landeshauptarchiv Best. 701 Nr. 759, 60 145 Köln, Wallraf-Richartz-Museum Nr. 109 291, 294 Kopenhagen, Königliche Bibliothek Cod. Thott. 58,2° 463 Krakau, Biblioteka Jagiellon´ska Berol. Mgq 1497 326f. Leipzig, Universitätsbibliothek (UB) Ms 215 447 Ms 221 447 Ms 265 447

616 | Register Ms 363 447 Ms 372 447 Ms 548 447 Ms 549 447 Ms 563 447 Ms 612 447 Ms 785 447 Ms 803 447–449 Ms 946 438–446, 455 Ms 1036 447 Ms 1279 447–455 Ms 1590 394 Ms 1614, Bl. 17–19 282 Ms 2593h 445 Ms 2593i 445 Linz, Landesbibliothek Hs. 317 428 London, British Library (BL) Add. 15833 348, 463 Add. 16589 109–111, 384 Add. 18346 243, 494 Add. 18929 231 Add. 21147 125 Add. 27336 386 Add. 33956 110 Add. 6716 471 Arundel 404 141 Arundel 406 125 Arundel 506 104, 125 Cotton Cleopatra D.VIII 352 Egerton 1117 110, 384 Harley 219 472 Harley 268 384 Harley 2316 490 Harley 2385 387 Harley 2851 384 Royal 7 D i 387 Royal 11 B. III 109 Lüneburg, Ratsbücherei Theol. Quart. 8 392 Melk, Stiftsbibliothek Cod. 1547 201–203, 217f., 222, 264, 281, 442

Metz, Stadtbibliothek Ms. 1200 431–436 München, Bayerische Staatsbibliothek (BSB) Cgm 16 204, 217 Cgm 273 204f., 217 Cgm 319 310–312, 328, 341 Cgm 626 116, 174, 235, 249, 258, 494, 496 Cgm 714 231, 392–396, 398, 464 Cgm 3974 546f. Cgm 4997 254 Cgm 5249/11 171 Cgm 5292 378 Cgm 5919 300–306, 464 Clm 23094 432 Clm 26716 109 Clm 5927 110, 231 München, Universitätsbibliothek (UB) 2° Cod. ms. 731 206f., 217, 418–421 Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (GNM) Hs. 4028 241, 247, 258, 307f., 341, 392f., 398f., 402, 485f., 491f., 498f., 503f. Hs. 5339a 393–396, 398 Hs. 16567 504 Paderborn, Erzbischöfliche Bibliothek Bestand d. Altertumsvereins, Handschrift 8 412 Paris, Bibliothe`que nationale de France (BNF) Ms. allem. 117 318–324, 329 Ms. allem. 150 321–324 Ms. frc¸. 819 528 Ms. frc¸. 820 528 Ms. frc¸. 837 218 Ms. frc¸. 19152 218 Ms. frc¸. 22928 218 Ms. lat. 238 433 Ms. lat. 18134 109f., 248 Nouveau fonds lat. 14958 506 Pommersfelden, Gräflich Schönbornsche Schlossbibliothek Cod. 54 (2798) 206, 356

Register

Prag, Nationalbibliothek Cod. XVI.G.33/1 400 Cod. XVI.G.33/2 393, 399–402, 476 Cod. XVI.G.33/3 400 Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana Cod. Reg. Lat. 1423 202f., 218, 228, 442 Salzburg, Stiftsbibliothek Nonnberg Cod. 23 B 25 308, 485, 491 Schaffhausen, Stadtbibliothek Cod. Gen. 8 145–147 Cod. Gen. 20 359–364 Schwerin, Landesbibliothek (LB) ohne Signatur 289 St. Gallen, Kantonsbibliothek VadSlg Ms. 356 312, 315–317, 321, 323, 442 VadSlg Ms. 359 350f. St. Gallen, Stiftsbibliothek Cod. Sang. 857 145 Stockholm, Königliche Bibliothek Cod. Vu 73 295–298, 300 Straßburg, Bibliothe`que nationale et universitaire (BNU) ms. 1 428 ms. 1995 312–317, 321, 323, 338, 442 ms. 2523 210 ms. 2715 210 Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek (WLB) Cod. HB XIII 1 194 Cod. HB XIII 6 538 Cod. Bibl. fol. 5 536 Cod. poet. et phil. 2° 4 291–294, 341 Cod. theol. et phil. 2° 19 308–310, 328 Cod. theol. et phil. 4° 81 276 Überlingen, Leopold-Sophien-Bibliothek Ms. 26 350

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Vorau, Stiftsbibliothek Cod. 412 428–430 Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek (HAAB) Cod. Fol 416 536 Cod. Quart 127 328, 512, 518–520 Cod. Quart 564 393, 395f. Wien, Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) Cod. Vindob. 2675* 340f. Cod. Vindob. 2677 199–201, 211, 218–220, 222, 224–228, 323, 442, 531 Cod. Vindob. 2690 536 Cod. Vindob. 2696 144 Cod. Vindob. 2705 63, 195f., 207, 216f., 222 Cod. Vindob. 2709 531 Cod. Vindob. 2742* 144 Cod. Vindob. 2779 208f., 218f. Cod. Vindob. 2800 335–338 Cod. Vindob. 2856 508 Cod. Vindob. 2870 508 Cod. Vindob. 2884 203f., 217f. Cod. Vindob. 2885 63, 207f., 284, 464 Cod. Vindob. 2953 507–512 Cod. Vindob. 3007 275 Cod. Vindob. 3617 508 Cod. Vindob. 10100a 285 Cod. Ser. nova 20231 464 Cod. Ser. nova 3809 283 Wien, Schottenkloster Cod. 308 378 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek (HAB) Cod. Guelf. 8 Aug. 4° 538f. Cod. Guelf. 16.17 Aug. 4° 544–546 Cod. Guelf. 64.3 Aug. 8° 327f. Cod. Guelf. 1203 Helmst. 296, 299f. Cod. Guelf. 1251 Helmst. 77 Würzburg, Universitätsbibliothek (UB) M. p. misc. f. 6 420f. Zürich, Zentralbibliothek (ZB) Cod. A 131 126

618 | Register

Drucke ›Die Belagerung der Stadt Modon‹ [Nürnberg: Hieronymus Hölzel], 1500 518 Binder, Ludwig: ›Vor zeyt ein künig saß zu Rom‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1521 468 ›Bruder Rausch‹ Augsburg: Hans Froschauer, 1512 480 [Braunschweig: Hans Dorn, um 1519] 480 [Köln: Servas Kruffter, um 1520] 480 Nürnberg: Friedrich Gutknecht, [um 1560] 480 Nürnberg: Valentin Fuhrmann, [um 1590] 480 [Stendal: Joachim Westval, 1488] 480 Straßburg: Martin Flach, 1508 480 Straßburg: Matthias Hupfuff, 1515 480

–: ›Von einem Arzt und einem Kranken‹ Nürnberg: Johannes Stüchs, o.J. [um 1520] 468 –: ›Wirtsknecht und Hausmagd‹ Nürnberg: Johannes Stüchs, o.J. [1521] 467 ›Die geschicht Dracole waide‹ Nürnberg: Marx Ayrer, 1488 518 Has, Kunz: ›Spruch von einem Bäckersknecht‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1516 468 Herolt, Johannes: ›Sermones discipuli de tempore et de sanctis. Promptuarium exemplorum‹ Straßburg: [Drucker des Palude], 1484 386

›Der edle Moringer‹ Nürnberg: Adam Dyon, o.J. [um 1510] 468

›Der König im Bad‹ Bamberg: Hans Sporer, 1493 330–332 Erfurt: Hans Sporer, 1497 330–332 München: Hans Schobser, um 1501 330–332

Ercole d’Este: ›Spiritualium personarum‹ [Nürnberg: Hieronymus Hölzel, 1501] 518 –: ›Wunderperliche gschichten‹ [Nürnberg: Hieronymus Hölzel, 1501] 518

›Die Königin von Frankreich und der ungetreue Marschall‹ Erfurt: [Hans Sporer], 1498 523, 525 Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1520 467

Folz, Hans: ›Abenteuerlich Klopfan‹ Nürnberg: Johannes Stüchs, o.J. [1521] 468 –: ›Die Bauernhochzeit‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1521 467 –: ›Der Pfarrer im Ätna‹ [Nürnberg: Hans Folz, um 1479/83 474f. Nürnberg: Johannes Stüchs, [ca. 1520] 475 [Thierhaupten: Klosterdruckerei], 1593 475 –: ›Salomon und Markolf‹ Nürnberg: Johannes Stüchs, o.J. [1521] 468

›Lied von der Fronica‹ Nürnberg: Wolfgang Huber, 1512 467 ›Lied von einer junckfrawen die da trew iagt‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1519 468 Maier, Martin: ›Der Ritter aus der Steiermark‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, um 1515 467 Martinus Polonus: ›Sermones de tempore et de sanctis‹ Straßburg: [Drucker des Jordanus von Quedlinburg 1483 (Georg Husner)], 1484 387

Register

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›Maximilian I. Coronatio‹ [Mainz: Peter Schöffer, nach April 1486] 518

›Die Mordtat von Amberg‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, um 1520 468

›Maximilian I. Erwählung lat.‹ [Mainz: Peter Schöffer, nach April 1486] 518

›Ratbüchlein‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1520 467

›Maximilian I. Erwählung. Verzeichnis der Teilnehmer an der Wahl‹ [Straßburg: Johann Prüß, nach März 1486] 518

›Ritter Alexander‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, 1515 468, 527

›Maximilian I. Handel.‹ [Nürnberg: Friedrich Creussner, nach Feb. 1488] 518 ›Maximilian I. Krönung‹ [Straßburg: Johann Prüß, nach April 1486] 518 Miller, Michel: ›Der Kaufmann aus Konstantinopel‹ Mainz: Friedrich Heumann, um 1510 521 Nürnberg: Jobst Gutknecht, um 1520 521

›Ritter Gottfried‹ Nürnberg: Friedrich Creußner, um 1497 466f. Nürnberg: Wolfgang Huber, [um 1510] 466–469 ›Vom ungetreuen Knecht‹ Nürnberg: Jobst Gutknecht, o.J. [um 1520] 468

Abbildungen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.

Stadtbibliothek Schaffhausen, Cod. Gen. 8, Bl. 24r. Stadtbibliothek Schaffhausen, Cod. Gen. 8, Bl. 24v. Universitätsbibliothek Heidelberg, Codex palatinus germanicus 341, Bl. 22r. Rom, Biblioteca Vaticana, Cod. Regin. lat. 1423, Bl. 3r. Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden / Deutsche Fotothek, Mscr.M.60, Bl. 18v. Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz Berlin, Mgf 742, Bl. 16r. Paris, Bibliothe`que nationale de France, Re´s. Y2 885 (Titelholzschnitt). Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2675*, Bl. 7v. Badisches Landesmuseum Karlsruhe, Inv.-Nr. 80/411. V[ictor-Martial] Leroquais: Les Psautiers manuscrits latins des bibliothe`ques publiques de France. 3 Bde. Macon 1940–1941, Planche XCVI. Leroquais: Psautiers, Planche XCVII. Leroquais: Psautiers, Planche XCVIII. Leroquais: Psautiers, Planche XCXIX. Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München, Cim. 38#36 Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2953, Bl. 109v. Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2953, Bl. 118v. Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2953, Bl. 127v. Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2953, Bl. 132r. Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2953, Bl. 134r. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 16.17 Aug. 4°, Bl. 86v/87r. Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 3974, Bl. 59v. Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin, Inv. 147–1 / Schreiber 1899.

622 

 Abbildungen

Abb. 1: ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹: Geschichte des guten Schächers – Stadtbibliothek Schaffhausen, Cod. Gen. 8, Bl. 24r.

Abbildungen 

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Abb. 2: ›Klosterneuburger Evangelienwerk‹: Geschichte des guten Schächers – Stadtbibliothek Schaffhausen, Cod. Gen. 8, Bl. 24v.

624 

 Abbildungen

Abb. 3: Initiale und Zierleiste zu Beginn von ›Unser vrouwen klage‹ – Universitätsbibliothek Heidelberg, Codex palatinus germanicus 341, Bl. 22r.

Abbildungen 

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Abb. 4: Initiale und Zierleiste zu Beginn der Kleinepiksammlung – Rom, Biblioteca Vaticana, Cod. Regin. lat. 1423, Bl. 3r.

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 Abbildungen

Abb. 5: ›Die falsche Reue‹ – Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden/ Deutsche Fotothek, Mscr.M.60, Bl. 18v.

Abbildungen 

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Abb. 6: ›Die falsche Reue‹ – Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz Berlin, Mgf 742, Bl. 16r.

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 Abbildungen

Abb. 7: Titelholzschnitt zu ›Der König im Bad‹ (Druck Bamberg: Hans Sporer, 1493) – Paris, Bibliothèque nationale de France, Rés. Y2 885.

Abbildungen 

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Abb. 8: Schondoch: ›Die Königin von Frankreich‹ – Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2675*, Bl. 7v.

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 Abbildungen

Abb. 9: Christkind-Statue – Badisches Landesmuseum Karlsruhe, Inv.-Nr. 80/411.

Abbildungen 

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Abb. 10: Kalenderseite aus dem Magdeburger Psalter (Metz, Stadtbibl., Ms. 1200, Bl. 4v) – V[ictor-Martial] Leroquais: Les Psautiers manuscrits latins des bibliothèques publiques de France. 3 Bde. Macon 1940–1941, Planche XCVI.

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 Abbildungen

Abb. 11: Bildseite aus dem Magdeburger Psalter (Metz, Stadtbibl., Ms. 1200, Bl. 7v): Engel mit Posaunen und Marterwerkzeugen – Leroquais: Psautiers, Planche XCVII.

Abbildungen 

Abb. 12: Bildseite aus dem Magdeburger Psalter (Metz, Stadtbibl., Ms. 1200, Bl. 10r): ›Der Zweifler‹ – Leroquais: Psautiers, Planche XCVIII.

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 Abbildungen

Abb. 13: Bildseite aus dem Magdeburger Psalter (Metz, Stadtbibl., Ms. 1200, Bl. 11r): Kreuzigung – Leroquais: Psautiers, Planche XCXIX.

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Abb. 14: Titelholzschnitt zu ›Ritter Gottfried‹ (Druck Nürnberg: Friedrich Creußner, um 1497) – Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität München, Cim. 38#36

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 Abbildungen

Abb. 15: Christophorus-Legende – Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2953, Bl. 109v.

Abbildungen 

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Abb. 16: Christophorus-Legende – Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2953, Bl. 118v.

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 Abbildungen

Abb. 17: ›Engel und Waldbruder‹ – Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2953, Bl. 127v.

Abbildungen 

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Abb. 18: ›Engel und Waldbruder‹ – Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2953, Bl. 132r.

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 Abbildungen

Abb. 19: ›Engel und Waldbruder‹ – Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. Vindob. 2953, Bl. 134r.

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Abb. 20: ›Dis ist der welte lon‹ – Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Cod. Guelf. 16.17 Aug. 4°, Bl. 86v/87r.

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 Abbildungen

Abb. 21: ›Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten‹ – Bayerische Staatsbibliothek München, Cgm 3974, Bl. 59v.

Abbildungen 

Abb. 22: ›Die Begegnung der drei Lebenden und der drei Toten‹ – Kupferstichkabinett. Staat­liche Museen zu Berlin, Inv. 147-1 / Schreiber 1899.

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