Geist – Kultur – Gesellschaft: Versuch einer Prinzipientheorie der Geisteswissenschaften auf transzendentalphilosophischer Grundlage [1 ed.] 9783428531608, 9783428131600

Nach Diltheys hilflosen Versuchen, mit einer »Kritik der historischen Vernunft« den Geisteswissenschaften den Status von

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 9783428531608, 9783428131600

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ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 99

Geist – Kultur – Gesellschaft Versuch einer Prinzipientheorie der Geisteswissenschaften auf transzendentalphilosophischer Grundlage

Von Bernward Grünewald

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Begründet von Kurt Schelldorfer

Herausgeber Dorothea Frede (Hamburg), Volker Gerhardt (Berlin), Otfried Höffe (Tübingen) Bernulf Kanitscheider (Gießen), Oswald Schwemmer (Berlin) und Wilhelm Vossenkuhl (München)

Schriftleitung Volker Gerhardt

Hinweise 1. Der Zweck der Schriften „Erfahrung und Denken“ besteht in der Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der „Philosophie der Wissenschaften“. 2. Unter „Philosophie der Wissenschaften“ wird hier die kritische Untersuchung der Einzelwissenschaften unter dem Gesichtspunkt der Logik, Erkenntnistheorie, Metaphysik (Ontologie, Kosmologie, Anthropologie, Theologie) und Axiologie verstanden. 3. Es gehört zur Hauptaufgabe der Philosophie der Gegenwart, die formalen und materialen Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften zu klären. Daraus sollen sich einerseits das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften und andererseits die Grundlage zu einer umfassenden, wissenschaftlich fundierten und philosophisch begründeten Weltanschauung ergeben. Eine solche ist weder aus einzelwissenschaftlicher Erkenntnis allein noch ohne diese möglich.

BERNWARD GRÜNEWALD

Geist – Kultur – Gesellschaft

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 99

Geist – Kultur – Gesellschaft Versuch einer Prinzipientheorie der Geisteswissenschaften auf transzendentalphilosophischer Grundlage

Von Bernward Grünewald

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 978-3-428-13160-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort In den Geisteswissenschaften, mehr noch in philosophischen Abhandlungen über sie, werden Gedanken mitunter in einem so vornehmen Ton vorgetragen, dass man darüber leicht die Frage vergessen könnte, ob sie auch einen Inhalt haben. Allein, wo sollten auch die Anschauungen, auf die sich geisteswissenschaftliche Begriffe beziehen mögen, zu suchen sein? – Dies ist eine der zentralen Fragen, denen wir uns stellen wollen. Über die Geisteswissenschaften, die Sozialwissenschaften, die Kulturwissenschaften1 ist gewiss auch viel Kluges gesagt und geschrieben worden. Von Friedrich Schleiermacher bis Hans-Georg Gadamer, von Johann Gustav Droysen bis Arthur Coleman Danto, von Wilhelm Dilthey bis Emilio Betti, Eric Donald Hirsch und Thomas M. Seebohm, von Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert über Max Weber, Alfred Schütz bis Talcott Parsons, Niklas Luhmann, Hans Albert und Jürgen Habermas reicht die Liste der Autoren, von denen man mehr oder weniger Grundsätzliches über solche Wissenschaften lernen kann. Und es gibt auch unzählige mehr oder weniger kritisch referierende Darstellungen von einzelnen oder mehreren dieser Ansätze. – Wir wollen diesen referierenden Darstellungen nicht eine weitere hinzufügen (zumal nicht wenige auch der genannten Autoren in solchen Referaten ihre Hauptaufgabe zu sehen scheinen), sondern die Frage nach der möglichen Gültigkeit geisteswissenschaftlicher Begriffe und Urteile bis zu ihrem systematischen Ursprung verfolgen und zu beantworten versuchen. Soweit wir ausführlicher auf vorliegende Ansätze posi1 Angesichts der Uneinheitlichkeit des deutschen Sprachgebrauchs und der Schwierigkeiten in anderen Sprachen (etwa ,human studies‘ im Englischen und ,sciences humaines‘ im Französischen) scheint mir eine allzu strenge terminologische Regelung für mein Vorhaben nicht sinnvoll. Man erlaube mir, den Ausdruck ,Geisteswissenschaften‘ im Folgenden immer in einem weiten, dabei freilich auf empirische Disziplinen bezogenen Sinne zu gebrauchen, ohne dass damit ausgeschlossen sein soll, dass – zumal in berichtenden Passagen – etwa der Ausdruck ,Kulturwissenschaften‘ in einem ganz ähnlich weiten Sinne (der freilich von dem Wortgebrauch des referierten Autors abhängig sein muss) zu verstehen ist. Für die begrenzteren Wissenschaftsgruppen stehen die Ausdrücke ,hermeneutische Wissenschaften‘ (auch ,Werk-Wissenschaften‘) und ,Sozialwissenschaften‘ zur Verfügung, ohne dass damit schon eine vollständige Disjunktion der zu berücksichtigenden Wissenschaften bezeichnet sein soll; die Sprachwissenschaften, hochschulorganisatorisch zumeist mit den (hermeneutischen) Literaturwissenschaften verbunden, wären sonst kaum berücksichtigt (wenn sie sich nicht als Hilfsdisziplinen der Literaturwissenschaften verstehen wollen). Der Hauptzweck dieser Arbeit zielt, in deutlicher Abhebung gegen die Tendenz der öffentlichen Debatten, ohnehin mehr auf die gattungsbegriffliche Einheit als auf die bloß betriebsmäßig-faktische Differenzierung der Geisteswissenschaften.

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Vorwort

tiv oder negativ Bezug nehmen, wollen wir lediglich die Notwendigkeit eines Neubeginns und eines Rückgangs auf vorauszusetzende Prinzipien exemplarisch verdeutlichen. Dabei wird dem Leser sogleich und zunehmend stärker auffallen, dass unsere Überlegungen sich an einer Wissenschaftskonzeption orientieren, die bisher für die meisten Theoretiker der Geisteswissenschaften allenfalls als negative Folie gedient hat: an derjenigen der Kantischen Transzendentalphilosophie. Der Grund für diese Orientierung liegt in der Tatsache, dass in dieser Konzeption zuerst die Objektivität empirischen Wissens konsequent als Leistung der Subjektivität gedacht worden ist und die Bedingungen dieser Objektivität, anders als viele Interpreten (und die meisten Theoretiker der Geisteswissenschaften) dachten, nach unserer noch näher zu begründenden Überzeugung nicht bloß für die Naturwissenschaften, sondern auch, freilich in eigentümlicher Abwandlung, für die Geistes- und Sozialwissenschaften grundlegend sind. Wir werden daher nach einleitenden Klarstellungen zum Begriff der Geisteswissenschaften in einem ersten Kapitel einerseits den Gedanken der Objektivität in exemplarischer Auseinandersetzung mit einer hermeneutischen Konzeption zu rehabilitieren versuchen, die sich auf die „Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung“2 und die Befreiung von den „ontologischen Hemmungen des Objektivitätsbegriffs“3 etwas zugute hält; andererseits werden wir im Ausgang von einer Konzeption, die auf Objektivität der Sozialwissenschaften größten Wert legt, die erkenntnistheoretische Fragestellung so zu präzisieren versuchen, dass unter der neukantianischen Oberfläche dieser Konzeption die transzendentalphilosophischen Voraussetzungen deutlich werden. Im Weiteren werden wir uns dem Problem zuwenden, wie (und wie weit) denn in Anlehnung an Kants Wissenschaftskonzeption, die nach verbreiteter Auffassung die Geisteswissenschaften aus dem Kreis der Wissenschaften ausschließt, und unter Zuhilfenahme phänomenologischer Begriffe eine Theorie der Geisteswissenschaften zu begründen wäre. Die Geistes- und Sozialwissenschaften unterscheiden sich von anderen Wissenschaften durch eine eigentümliche Art von Rezeptivität. – Das ist die grundlegende These dieses Buches. Dass diese Art der Rezeptivität von uns ,Verstehen‘ genannt wird, besagt wenig bei der Vieldeutigkeit dieses deutschen Ausdrucks und gar seiner Äquivalente in anderen Sprachen. Und es besagt erst 2 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen (1960), 6. Aufl. 1990 u. 1986 als Band 1 u. 2 der ,Gesammelten Werke‘ unter dem (weitere Abhandlungen einbeziehenden) Titel: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990; Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register, Tübingen 1986 (zitiert als „H I“ und „H II“), H I, S. 246; vgl. unsere ausführliche Diskussion dieser Problematik, u. S. 47–95. 3 Vgl. H I 270.

Vorwort

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recht nichts nach den Versuchen einer sich ,hermeneutisch‘ nennenden Tradition, von dem Ausdruck einen derart universellen Gebrauch zu machen, dass darüber alles Spezifische geisteswissenschaftlicher Erfahrung und ihrer alltäglichen Vorformen in dem holistischen Begriff eines pragmatischen ,Weltverstehens‘ verschwindet. Deshalb ist unsere grundlegende These nicht durch Rückgriff auf einen bekannten Ausdruck zu präzisieren, sondern nur durch eine theoretische Entwicklung der Prinzipien jener Rezeptivität. Eben daran fehlte es denn auch allen bisherigen, selbst den mit dem Ausdruck ,Verstehen‘ operierenden Versuchen, den Geistes- und Sozialwissenschaften eine theoretische Grundlage zu verschaffen. Deshalb sahen wir uns gezwungen, unseren kritischen Ausgangspunkt nicht bei solchen wissenschaftstheoretischen Entwürfen zu nehmen, die schon ein Corpus institutionell gefestigter Geistes- und Sozialwissenschaften vor Augen hatten, sondern bei jener erkenntnistheoretischen Philosophie der Wissenschaften, welche mit den heutigen Geistes- und Sozialwissenschaften allenfalls insofern etwas zu tun hat, als sie durch eine prinzipielle Kritik gewisse, deren empirische Forschung beirrende und behindernde, metaphysische Spekulationen aus dem Kreis möglicher Wissenschaften ausschloss. Es liegt auf der Hand, dass unsere Anknüpfung an die Transzendentalphilosophie Kants nicht eine schlichte Rückkehr zu Kant sein kann: Wer einmal einen Text wie die Vorrede zu den ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ zur Kenntnis genommen hat, wird selbst dann, wenn er nicht alle Nuancen des Verhältnisses zwischen diesem Werk und der „Kritik der reinen Vernunft“ sogleich bemerkt hat, doch die Überzeugung gewonnen haben, dass Kant so etwas wie die heutigen Geistes- und Sozialwissenschaften ebenso wenig als Wissenschaften hätte begreifen können, wie er dies explizit mit Bezug auf die damals im Entstehen begriffene empirische Psychologie getan hat. – So gewiss dies nun auch auf einem sehr engen und strengen Wissenschaftsbegriff beruht, der weder mit dem heutigen weiten deutschen Wortgebrauch noch mit dem zumeist engeren, auf die Naturwissenschaft eingeschränkten Gebrauch der entsprechenden englischen und französischen Ausdrücke übereinstimmt, so gewiss gibt es in der Kantischen Erfahrungstheorie doch von dieser terminologischen Frage ganz unabhängige Voraussetzungen für diesen negativen Bescheid, die es kritisch zu analysieren lohnt. Auf den Kern reduziert, betrifft diese kritische Analyse die Voraussetzung Kants, dass es keine anderen Prinzipien der Rezeptivität gebe als Raum und Zeit und dass es die Zeit allein sei, die als Rezeptivitätsbedingung unserer Erfahrung von Seelischem – oder, wie Kant auch sagt – unserer Erfahrung der ,denkenden Natur‘ zugrundeliege. Diese Kantische Voraussetzung, die merkwürdiger Weise von Theoretikern der Geisteswissenschaften niemals ernsthaft diskutiert worden ist, schien uns nur durch einen Rückgriff auf die Husserlsche Phänomenologie überwindbar zu sein. Unsere zweite, die grundlegende These

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Vorwort

allererst präzisierende These ist es demgemäß, die eigentümliche Möglichkeitsbedingung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Rezeptivität (und ihres Pendants in der alltäglichen Erfahrung) sei ein Prinzip, das wir in Anlehnung an Husserlsche Begriffe ,noematisches System‘ nennen. In der heutigen, allerorten von der angeblichen ,linguistischen Wende‘ bestimmten Diskussion werden wir die damit gemeinte Sache vorab am besten durch den Hinweis erläutern können, sie werde in den Sinnstrukturen von Sprachen empirisch konkretisiert, wobei wir nochmals unterstreichen, sie sei als Voraussetzung schon der Rezeption (nicht erst des Begreifens) geistiger Phänomene zu denken. Mit diesen beiden Thesen haben wir unsere Nähe und zugleich unsere Entfernung zur Kantischen Transzendentalphilosophie und zugleich unsere Distanz zu den bisherigen Versuchen einer Theorie der Geistes- und Sozialwissenschaften ausreichend deutlich gemacht.4 – Die ersten drei Teile des Buches enthalten kritische Untersuchungen, in denen durch die Reflexion auf Hermeneutik und Sozialwissenschaft und durch die Prüfung der transzendentalphilosophischen und der phänomenologischen Grundlagen die Desiderate einer Theorie der Geisteswissenschaften offengelegt und unsere beiden Hauptthesen konkretisiert werden sollen. Der Gang der Untersuchungen folgt also der ,analytischen Methode‘, von der kritischen Analyse der in den exemplarisch thematisierten Konzeptionen enthaltenen Probleme zu den Prinzipien möglicher geisteswissenschaftlicher Erfahrung. Angedeutet werden in diesen kritischen Untersuchungen gelegentlich auch schon Elemente einer systematischen Theorie, die dann im vierten Teil in Gestalt eines Versuches vorgestellt wird, eine Art von geisteswissenschaftlichem Analogon zu Kants ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ zu formulieren. – Die Bezeichnung ,Versuch‘ ist dabei in der strengen, alle ,Endgültigkeit‘ auch nur der eigenen Meinungsbildung ausschließenden Bedeutung zu nehmen, auch wo der Wortsinn der Formulierungen eine zur literarischen Gattung (dem mos geometricus) gehörende ,Endgültigkeit‘ zum Ausdruck bringt. Wir hielten es für theoretisch fruchtbar, unsere beiden Thesen und mit ihnen die Grundüberzeugungen der „Kritik der reinen Vernunft“ auf diese 4 Wir bestreiten nicht, dass es auch Anknüpfungspunkte für unsere Thesen in den Diskussionen der Vergangenheit gegeben hat. Von ihrer ganzen Anlage her bietet sich insbesondere die Konzeption Max Webers an; dies werden wir in einem eigenen Kapitel verdeutlichen (s. u. S. 97–149). Was die These von der Rezeptivitätsfunktion des Verstehens angeht, so ist sie mehrfach von Hans Albert vertreten worden (vgl. etwa den Aufsatz „Hermeneutik und Sozialwissenschaft“, in: Sozialtheorie und soziale Praxis. Eduard Baumgarten zum 70. Geburtstag, hrsg. v. H. Albert, Meisenheim 1971, S. 42–77; wieder abgedr. in: H. Albert, Plädoyer für einen kritischen Rationalismus, München 1971, S. 106–149; in überarbeiteter Fassung auch als III. Kapitel in: H. Albert, Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens, Tübingen 1994, S. 78–112, dort insbes. S. 103.

Vorwort

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Weise einem Gedankenexperiment auszusetzen. Eines der Ergebnisse des Experiments im Hinblick auf moderne handlungstheoretische Diskussionen scheint es uns zu sein, dass die vorgestellte Theorie in aller wünschenswerten Deutlichkeit die unzulänglichen Voraussetzungen aufzuklären erlaubt, die zu der schief gestellten Frage geführt haben, ob (rationale) Gründe Ursachen seien. Schließlich erlaubt die Theorie, wie wir hoffen, auch eine begründete und ausreichend differenzierte Antwort auf die Frage, was es heißen könne, dass die Geisteswissenschaften (es versteht sich: der Möglichkeit nach) wahrhaft Wissenschaften seien.

Inhaltsverzeichnis A. Der Begriff der Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.

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Der gängige Wortgebrauch und die Kriterien für einen wissenschaftstheoretischen Begriff der Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

II. Meta-Intentionalität – die Reflexionsstruktur der Geisteswissenschaften . .

18

1. Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften – einmal nicht (bloß) als Gegensatz betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

2. Gegenstandsstruktur und Differenzierung der Geisteswissenschaften . .

20

III. Empirizität – empirische und geltungskritische Reflexion . . . . . . . . . . . . . .

24

IV. Abgrenzung der Geisteswissenschaften gegen drei nicht-empirisch bestimmte Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

1. Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

26

2. Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung in den Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Empirisches und transzendentales Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

II. Hermeneutik als Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Zu Heideggers Rede vom ,hermeneutischen Zirkel‘ . . . . . . . . . . . . . . . .

50

2. Gadamers Anknüpfung an Heideggers ,hermeneutische Phänomenologie‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

a) Die Perspektive des lebensweltlichen Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . .

56

b) Abgrenzung gegen Schleiermacher und Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . .

57

c) Hermeneutische Erfahrung als Folge eines Angesprochenseins . . .

66

d) Hermeneutik und Applikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

3. Konsequenzen und Widersinn der Orientierung an Gespräch und Applikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

III. Die erkenntnistheoretische Fragestellung in den hermeneutischen Werkwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Objektivität und Rezeptivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

2. Objektivität und begriffliche Bestimmung – Das Werk als zu begreifender Gegenstand, Kategorien empirischer Werkbestimmung . . . . . . .

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12

Inhaltsverzeichnis a) Propositionaler Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Poiematischer Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Subjektiv-hermeneutische und objektiv-hermeneutische Erfahrung d) Das Werk als Produkt und die zugrundeliegende ,Konzeption‘ . . . Zwischenbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Gnoseologische Implikationen von Webers Kategorienlehre der verstehenden Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kulturwissenschaftliche und soziologische Kategorien als Grundbegriffe und ihre korrelativen wissenschaftlichen Aufgaben (Deutung und Erklärung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beispiele von Spezifikationen fundamentalerer Kategorien und Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Sinnbegriff als differentia specifica kulturwissenschaftlicher Begriffe und der Korrelatbegriff des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktuelles Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erklärendes Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Evidenz verstehender Deutung und die Gültigkeit der Erklärung . . 5. Kausalität – Sinn – Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis von Kausalität und Geltungsgründen – die Funktion der Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wertrationalität und Irrationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gesetzlichkeit, Individualität und Geschichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . d) Geschichtlichkeit und geschichtliches Bewusstsein der Handelnden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) ,Subjektivität‘ und ,Objektivität‘ der Wertbeziehung . . . . . . . . . . . . . 6. Erkenntnistheoretisches Resümee der Auseinandersetzung mit Webers Kategorienlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sponaneität und Rezeptivität der Wissenschaft – erzeugte und verstandene Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Schematisierung der Kategorien durch die Differenzierung des Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Frage nach Prinzipien geisteswissenschaftlicher Erfahrung und ihrem transzendentalphilosophischen Fundament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C. Rückgang auf die Kantische Transzendentalphilosophie und die Husserlsche Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bisherige Einschätzungen der Philosophie Kants in der Theorie der Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die übliche negative Einschätzung der Bedeutung der „Kritik der reinen Vernunft“ für die Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die positivere Einschätzung der Bedeutung der zweiten und dritten ,Kritik‘ für die Geisteswissenschaften – und die Problematik dieser Einschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 3. Der generelle Begriff der Natur und der spezielle der denkenden Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bestimmende und reflektierende Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kants Geschichtsphilosophie als ,Empiriologie‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Rickerts werttheoretische Projektion des Irrationalen in die „Kritik der Urteilskraft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Die Problematik eines Rückgriffs auf die ästhetisch-reflektierende Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die empirische Psychologie und die ,NATUR‘ des Geistes . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Einschätzungen der Psychologie bei Dilthey und den Neukantianern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kants Frage nach einer Wissenschaft von der denkenden NATUR und das Problem der Konstruktion in der reinen Anschauung . . . . . . . . . . . 3. Kategoriengebrauch und innere Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Frage nach Struktur und ,Grundbestimmung‘ der Phänomene der denkenden NATUR – Innere Erfahrung und die Differenz zwischen empirischem und transzendentalem Bewusstsein des Denkens . . . . . . . a) Anschauliche und begriffliche Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Logische und empirische Erforschung des Subjekts: ,Reflexion‘ und Apprehension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Erfahrbarkeit des Denkens: empirische und transzendentale Selbstaffektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Denken als Reden mit sich selbst: Die Selbstobjektivation des Denkens durch die Sprache und das Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Struktur des zu Verstehenden, der bezeichneten Gedanken . . . f) Einbildungskraft und Schematismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Das Verfügen über ein System von Sinnbeziehungen als Bedingung des Denkens und seiner Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der phänomenologische Begriff des Noema und der Begriff des noematischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einige Bemerkungen zu Husserls Verhältnis zu Kant . . . . . . . . . . . . . . . 2. Husserls phänomenologische Analyse der Intentionalität in den ,Logischen Untersuchungen‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Husserls transzendentale Phänomenologie und die Einführung des Noema-Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Analyse des Zeitbewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zeitbewusstsein, Regelbewusstsein, Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Konstitutionssysteme und noematische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Habitualitäten und konkretes Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Der Begriff eines noematischen Systems und die Idee des absoluten noematischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das noematische System als formale Habitualität von Personen und Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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156 160 164 172 174 180 180 187 194

200 200 202 208 215 217 221 224 227 229 232 237 240 243 247 251 252 252

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Inhaltsverzeichnis b) Die beiden ,Dimensionen‘ des noematischen Systems . . . . . . . . . . . c) Intersubjektivität der Sprache als Bedingung der Erfahrbarkeit von Gedanken und die Idee eines absoluten noematischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Anschauungsformen und Mannigfaltigkeitsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anschauungsformen und Mannigfaltigkeitsordnungen in Kants Theorie der Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgerungen für das Problem der mathematischen Behandlung von Noemata und die Möglichkeit einer Wissenschaft von der denkenden NATUR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

D. Theoretische Prinzipien der Geisteswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anthropologische Vorbemerkungen: Die denkende NATUR und die NATUR des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Erstes Hauptstück: Formale Noetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zweites Hauptstück: Noetische Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Drittes Hauptstück: noetische Praktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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IV. Viertes Hauptstück: Noetische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrsatz 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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E. Freiheit zum Abschluss – Jenseits der Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Die speziellen modaltheoretischen Lehrsätze der MAdN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

A. Der Begriff der Geisteswissenschaften I. Der gängige Wortgebrauch und die Kriterien für einen wissenschaftstheoretischen Begriff der Geisteswissenschaften In der deutschen Alltagssprache wird der Ausdruck ,Geisteswissenschaften‘ in einem engeren und in einem weiteren Sinne gebraucht, in einem engeren, wenn etwa in der Wortfügung ,Geistes- und Sozialwissenschaften‘ die Sozialwissenschaften zwar in einen (vagen) Zusammenhang mit den Geisteswissenschaften gebracht, aber doch von ihnen unterschieden werden, in einem weiteren, wenn die Sozialwissenschaften ihnen zugerechnet werden. Ohne hier schon die Gründe zu diskutieren, wollen wir festlegen, dass wir uns im Folgenden insoweit an den weiteren Wortgebrauch halten werden. Freilich folgen wir dem üblichen Wortgebrauch deshalb doch nicht in jeder Hinsicht. Der übliche Wortgebrauch ist nämlich eher durch pragmatische, näherhin hochschulpolitische, als durch wissenschaftstheoretische Gesichtpunkte bestimmt, so dass beinahe alle wissenschaftlichen Fächer, deren ,Ausstattung‘ (und Finanzbedarf) in der Hauptsache durch Bücher bestimmt ist, den Geisteswissenschaften zugerechnet werden. Ohne Frage gehört dazu die Philosophie, warum nicht auch die Theologie, ja die Jurisprudenz? Das mag denn auch hochschulpolitisch ganz in Ordnung sein. Aber wir beschäftigen uns nicht mit Hochschul-Fächern und -Instituten, sondern mit den Wissenschaften als solchen. Dies wird zur Folge haben, dass wir keine der drei gerade genannten Disziplinen zu den Geisteswissenschaften zählen werden. Denn unter wissenschaftstheoretischen Gesichtpunkten geht es bei der Differenzierung der Wissenschaften nicht um organisatorische Fragen, sondern um die Eigentümlichkeiten des Gegenstandes, der Methoden und der Ziele, letztlich um die Art der Geltungsbegründung für wissenschaftliche Aussagen. Dass unter diesen Gesichtspunkten die genannten Disziplinen sich von jenen empirischen Wissenschaften, die wir hier allein ,Geisteswissenschaften‘ nennen wollen, prinzipiell unterscheiden, wird weiter unten zu erläutern sein, und es wird uns zu einer aufschlussreichen Abgrenzung unseres Untersuchungsgegenstandes verhelfen.1 1 Damit grenzt sich unser Begriff der Geisteswissenschaften von vornherein in einem wichtigen Punkt von jenem eher wissenschaftspolitisch akzentuierten Begriff ab, der etwa dem „Manifest Geisteswissenschaft“ zugrundelag, das die Autoren Carl

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A. Der Begriff der Geisteswissenschaften

II. Meta-Intentionalität – die Reflexionsstruktur der Geisteswissenschaften 1. Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften – einmal nicht (bloß) als Gegensatz betrachtet An wenigen deutschen Hochschulen gibt es noch ,traditionelle‘ philosophische Fakultäten. Manch einer mag geneigt sein, die dort versammelten Wissenschaften mit den Geisteswissenschaften zu identifizieren und sie in erster Linie den Naturwissenschaften entgegenzusetzen (zu denen irgendwie, nicht nur wegen der Fakultätsgrenzen, auch die Mathematik ,hinzuzugehören‘ scheint). Aber die schlichte und oft ausschließliche Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften lässt es nicht nur im Unklaren, wohin eigentlich die restlichen Fakultäten gehören, sie verdeckt auch die historische Tatsache, dass diese Entgegensetzung nur innerhalb einer Fakultät, die einmal schlicht ,Philosophische Fakultät‘ hieß, ihren Sinn hatte. Diese Fakultät enthielt neben der Philosophie lauter Fächer, die sich früher oder später aus der Philosophie entwickelt hatten.2 Noch heute zeugen etwa die Namen der Basler philosophisch-historischen und der philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultät von der einstigen Zusammengehörigkeit der ,Gegensätze‘ – ,unter‘ der Philosophie, welch letztere dann zu keiner der beiden ,Parteien‘ zählt – und zwar nicht aus lauter Vornehmheit, wie wir sehen werden.3 Statt nun wie Dilthey den Begriff der Geisteswissenschaften aus der Entgegensetzung zu den Naturwissenschaften zu gewinnen, wollen wir einen Weg einschlagen, der jener alten Zusammengehörigkeit eher gerecht wird und auch ein wichtiges Stück Gemeinsamkeit, nämlich den empirischen Charakater beider Wissenschaftsgruppen, deutlicher werden lässt. – Wir wollen exemplarisch eine Geisteswissenschaft ,von den Naturwissenschaften her‘ gewinnen, um zu zeigen, worin das eigentümliche Charakteristikum einer Geisteswissenschaft besteht und in welch selbstverständlicher Beziehung die Naturwissenschaften (wie alle anderen Wissenschaften) zu diesem Charakteristikum stehen: Friedrich Gethmann, Dieter Langewiesche, Jürgen Mittelstraß, Dieter Simon, Günter Stock 2005 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vorgelegt haben. In dem Manifest heißt es (nach dem Ausschluss der Sozialwissenschaften aus dem Begriffsumfang) ausdrücklich: „Geisteswissenschaften sind keine empirischen Wissenschaften“ (S. 9); (auch als pdf-Datei, verfügbar unter: http://www.bbaw.de/ bbaw/Veranstaltungen/Veranstaltungsseite_ansehen.html?terminid=551). 2 Zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie etwa wurde daher in der frühen Neuzeit kaum ein Unterschied gemacht, deshalb konnte Newton sein Hauptwerk auch „Philosophiae naturalis principia mathematica“ überschreiben. 3 Über die alte Universitätsstruktur, in der die philosophische als ,niedere‘ Fakultät den drei ,oberen‘ Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz, Medizin) gegenüberstand, findet sich sehr Aufschlussreiches, mitunter in ironischer Brechung, in Kants „Streit der Fakultäten“ (AA VII 1–116).

II. Meta-Intentionalität

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Nehmen wir an, wir betreiben eine Wissenschaft wie die Chemie. Zum Gegenstand hat unsere Wissenschaft Verbindungen elementarer Stoffe untereinander, und das Ziel ist es, Gesetze für die mögliche Verbindung und Trennung dieser Stoffe und Stoffverbindungen zu ermitteln („Abstrakter formuliert ist die Chemie die Natur-Wissenschaft, die sich mit den Ursachen und Wirkungen von Elektronenabgabe, -aufnahme und -verteilung zwischen Atomen und Molekülen befasst.“ lesen wir in einem Konversationslexikon.4). Unsere Bemühungen führen hoffentlich zu Ergebnissen, aber es gibt keine Garantie dafür, dass ein Ergebnis, das wir gewonnen zu haben glauben, der kritischen Prüfung durch unsere Kollegen standhält; und wir tun gut daran, jedes unserer Ergebnisse selbst nochmals zu prüfen. Wir reflektieren also auf unsere Resultate und, um herauszufinden, wodurch ein eventueller Fehler in die Untersuchung gelangt ist, auf unsere Methoden und ihre Tragweite, unsere Experimente, unsere Problemstellungen, unsere Apparaturen, vielleicht sogar auf unsere Aufmerksamkeitsfähigkeit in kritischen Beobachtungsphasen, um die Gültigkeit unserer Resultate zu kontrollieren und zu sichern. Zu jeder Wissenschaft gehört solche Geltungsreflexion, ja man kann sagen: sie gehört zu jeder echten, auch alltäglichen Bemühung um Wissen. Und wir wissen um die Notwendigkeit kritischer Reflexion, weil wir uns an eigene und fremde Irrtümer erinnern – z. B. an die in der Frühzeit der Chemie aufgekommene Phlogiston-Theorie (welche das Feuer mit einem eigenen „Feuerstoff“, „Phlogiston“ genannt, erklären wollte). In diesem Sinne ist jede echte Wissenschaft eine ,kritische‘ Wissenschaft.5 Deshalb gibt es innerhalb einer Wissenschaft genug Gründe, sich auch mit der Geschichte dieser Wissenschaft zu beschäftigen: didaktische Gründe (was könnte für einen angehenden Wissenschaftler belehrender sein, als die Entwicklung bis zum gegenwärtigen Stand der Forschung individuell nachzuvollziehen), aber auch echte forschungsrelevante Gründe: Wenn neu entdeckte Phänomene durch die etablierten Theorie-Ansätze nicht mehr recht erklärt werden können, mag eine Überprüfung der Wissenschaftsgeschichte und ihrer entscheidenden Weichenstellungen auf die Entdeckung alternativer Ansätze führen. Aber ganz unabhängig von solchen innerwissenschaftlichen Bedürfnissen, unabhängig von der Reflexion auf ungelöste Probleme innerhalb der Wissenschaft, 4

Meyers Lexikon in drei Bänden, Mannheim 1997. Es versteht sich von selbst, dass die wesentlich zur Wissenschaft gehörige kritische Funktion sich nicht allein auf im engeren Sinne wissenschaftliche Aussagen beziehen kann, insofern vorwissenschaftliche „Theorien“ in großem Maße unseren privaten, gesellschaftlichen und politischen Alltag bestimmen. Die ökologischen Probleme bieten da ein reiches Betätigungsfeld naturwissenschaftlicher Kritik. Soziale Probleme sind ein notorisches Feld wissenschaftlicher Aufklärung über die Widersprüche zwischen begründbaren Erkenntnissen der gesellschaftlichen Verhältnisse und sozial wirksamen ,Theorien‘ über diese Verhältnisse; dass die Kritik an den letzteren mitunter selbst in Gefahr gerät, Gegenstand der Ideologiekritik zu werden, sollte niemanden verwundern, der weiß, dass Theorien wie deren Kritik von Menschen gemacht werden. 5

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A. Der Begriff der Geisteswissenschaften

lässt sich eine Wissenschaftsgeschichte denken, welche ihrem eigentümlichen Zweck nach die Geschichte der Chemie oder der Naturwissenschaften überhaupt zum Thema macht, etwa weil sie diese Geschichte als wichtigen Teil der Geistesgeschichte insgesamt ansieht oder auch als Bedingung wirtschaftlicher und gar politischer Entwicklungen. In einer solchen Wissenschaftsgeschichte spielt die Phlogiston-Theorie und deren Überwindung vielleicht eine Schlüsselrolle an der Schwelle zu einer im eigentlichen Sinne wissenschaftlichen Chemie und der mit ihr einsetzenden industriellen Entwicklung Europas. Mag für die innerwissenschaftliche Reflexion des Chemikers die PhlogistonTheorie nur als ungültige, überwundene, also abzulehnende, ja zu vergessende Theorie fungieren, als Element der Wissenschaftsgeschichte könnte sie ein aufschlussreicher Gegenstand der Forschung sein. Natürlich ist es auch für die Wissenschaftsgeschichte nicht gleichgültig, ob eine Theorie widerlegt ist oder sich bewährt hat, ob eine Erklärung falsch, weil vielleicht schon logisch fehlerhaft, oder aber korrekt ist. Doch das Falsche, jedenfalls, wenn es geschichtlich wirksam geworden ist, ist ebenso möglicher Gegenstand ernsthafter Forschung wie das Richtige. Es ist für den Wissenschaftshistoriker zwar kein ,Gegenstand‘ sozusagen kollegialer Auseinandersetzung, kein zu diskutierender Theoremkomplex, aber ein Gegenstand seiner Erkenntnis, genauer: ein zu erforschendes empirisches Faktum. Mit dem Übergang von der innerwissenschaftlichen Reflexion des Chemikers zu der die Vergangenheit erforschenden Arbeit des Wissenschaftshistorikers sind wir nun von einer Naturwissenschaft in eine Geisteswissenschaft geraten, und die genauere Betrachtung der Situation, in die wir da geraten sind, soll uns einigen Aufschluss über die eigentümliche Struktur der Geisteswissenschaften geben. 2. Gegenstandsstruktur und Differenzierung der Geisteswissenschaften Der Gegenstand der Chemie war etwas Physisches, genauer, da wir eine Wissenschaft wie die Chemie nicht durch die bloße Angabe eines ,Materialgegenstands‘, sondern erst durch die des Formalgegenstandes auszeichnen können: die Verbindungen und Trennung physischer Elemente. Die Wissenschaftsgeschichte, speziell die Chemiegeschichte hat gewiss in irgendeinem Sinne viel mit jenem Material- und Formalgegenstand zu tun, aber es ist nicht ihr Gegenstand, weder formaliter noch materialiter. Was sie mit diesem Gegenstand zu tun hat, könnte man etwas umständlich so ausdrücken: zum Gegenstand hat sie das Die-Verbindungen-und-Trennung-physischer-Elemente-zum-Gegenstand-Haben, einfacher gesagt: sie hat den wissenschaftlichen, speziell chemischen, Gegenstands-Bezug zum Gegenstand. Mit einem von der Phänomenologie wiederbelebten scholastischen Ausdruck können wir jeden Gegenstandsbezug als „In-

II. Meta-Intentionalität

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tentionalität“ bezeichnen, wobei jedoch keineswegs an eine Absicht (also eine ganz besondere Art von Gegenstandsbezug, die man bildungssprachlich ebenfalls ,Intention‘ nennt6) gedacht ist. Erkennen ist der phänomenologischen Redeweise gemäß ein intentionaler Akt, insofern er (wie das bloße Sich-etwas-Vorstellen, das Urteilen, das Wünschen, das Wollen usw.) immer auf etwas, das wir im weitesten Sinne ,Gegenstand‘ nennen, bezogen ist.7 Die Naturwissenschaften vollziehen intentionale Akte erster Stufe: ihr Gegenstand enthält noch nichts von Intentionalität. 8 Die Wissenschaftsgeschichte der Naturwissenschaften vollzieht dagegen intentionale Akte zweiter Stufe; sie bezieht sich auf etwas, das seinerseits schon Intentionalität enthält. – Genauer können wir von mehreren zusammengehörigen intentionalen Momenten sprechen: zum einen von den Erkenntnisakten der Naturwissenschaftler, zum anderen aber von deren Erkenntnissen im Sinne der Erkenntnisresultate, den Theorien und Theorieansätzen, welche sich in sprachlichen Darstellungen niederschlagen. Mit den Erkenntnisakten im engeren Sinne sind eine Reihe von beobachtenden, experimentierenden, vorbereitenden, organisierenden Handlungen verbunden; und all dies setzt eine Gemeinschaft von wissenschaftlichen Subjekten voraus mit einem ganzen System von habituellen Zielsetzungen und Überzeugungen (in die jene wissenschaftlichen Resultate, nun als Bestimmtheiten dieser Subjekte integriert werden). Auch die Handlungen und habituellen Bestimmtheiten der Wissenschaftler, mithin auch die Wis6 Weil im Englischen diese engere Bedeutung von „intentionality“ allein vorherrscht, haben Autoren, die den von uns hier benutzten phänomenologischen Begriff aufgreifen wollten, hierzu die Großschreibung „Intentionality“ gewählt (vgl. John R. Searle, Intentionality. An essay in the philosophy of mind, Cambridge 1983). 7 Der Gebrauch, den wir hier von dem phänomenologischen Begriff der Intentionalität machen, impliziert nicht, dass wir den bloßen Gedanken des Gegenstandsbezugs schon für ausreichend halten, um das Gebiet der geistigen Phänomene zu charakterisieren. Vor allem wäre darauf hinzuweisen, dass dieser Gegenstandsbezug immer den Charakter einer expliziten oder impliziten Verknüpfung (Synthesis), im elementaren Fall zwischen der Intention auf ein Bestimmungssubstrat und der prädikativen Bestimmung des Substrats, hat. – In neuerer Zeit hat darauf Ernst Tugendhat in seiner Husserl-Kritik hingewiesen (vgl. z. B. Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt a. M. 1976, S. 143–174). Freilich brauchte man zu dieser Erkenntnis nicht unbedingt sprachanalytische Hilfsmittel, sondern könnte schon Kants vielleicht noch weiter führendes Konzept der „ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption“ in der Kritik der reinen Vernunft ausschöpfen (vgl. Immanuel Kant, KrV, B 131 ff. AA III 108 ff.; zu unserem an Kant orientierten Begriff des Bewusstseins s. u. S. 33 ff. und 37 ff.). – Wir werden später den Begriff der Intentionalität vor allem auch durch Husserls Begriffe der Noesis (des intentionalen Aktes) und des Noema (des intentionalen Gehaltes) ergänzen (s. u. S. 227–252). 8 So sehr auch der Gegenstand der Naturwissenschaft allererst durch Intentionalität zum Gegenstand wird; unsere Feststellung besagt gar nichts über irgendeine Art von „An-sich-Sein“ des naturwissenschaftlichen Gegenstandes. – Mögen wir sogar im Sinne neuerer Ansätze in der Wissenschaftstheorie die naturwissenschaftlichen Gegenstände als „Konstrukte“ begreifen, so ist doch mit ihnen nicht etwas Intentionales konstruiert, sondern etwas Raum-Zeitliches.

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A. Der Begriff der Geisteswissenschaften

senschaftler selbst sind durch den Bezug auf die Naturgegenstände (die chemischen Verbindungen und Prozesse etwa) gekennzeichnet, also durch Intentionalität: durch etwas also, das diesen Naturgegenständen selbst völlig abgeht. – Die Wissenschaftsgeschichte kann sich (je nach Bedarf und näherer Zielsetzung) auf all diese intentionalen Momente beziehen, auf die sich die Naturwissenschaften als solche niemals beziehen. – Gewiss reflektiert auch der Naturwissenschaftler auf seine Tätigkeit, seine Resultate und die seiner Kollegen, nämlich um sie zu prüfen, um ungelöste Probleme zu entdecken, aber nicht um diese Tätigkeiten und Resultate zu erforschen, die Gesetzmäßigkeit, denen sie gehorchen, zu studieren, über sie Theorien aufzustellen. Ist die Naturwissenschaft ein intentionales Unterfangen, so stellt die Geschichte der Naturwissenschaft eine Intentionalität zweiter Stufe dar, eine Art von Meta-Intentionalität, und zwar nicht bloß sozusagen vorübergehend und hilfsweise um der Erkenntnis der primären, der Natur-Gegenstände willen, sondern grundsätzlich und ihrer eigentlichen Zielsetzung nach. Eben dies macht die Geschichte der Naturwissenschaft zu einer Wissenschaft sui generis. Unsere These lautet nun: Geisteswissenschaften sind generell von dieser Art, sie vollziehen intentionale Akte zweiter Stufe, ihr Wesen besteht in einer wissenschaftlichen Meta-Intentionalität. Der Begriff dieser Meta-Intentionalität charakterisiert besser als der ,ontologisch‘ verstandene (und eine dualistische Metaphysik nahelegende) Gegensatz von Natur und Geist9 die Differenz der beiden Wissenschaftsgruppen, denn er erlaubt eine positive Beziehung der einen auf die andere Gruppe. Wir werden im übrigen sehen, dass dieser Ansatz des Verhältnisses nicht nur eher als die pure Entgegensetzung erlaubt, nach dem Begriff (und der ,Natur‘) des Geistes zu fragen, sondern auch, nach dem Begriff der Natur zu fragen. Nicht alle Geisteswissenschaften thematisieren erkennende Intentionalität. Freilich scheint alle Intentionalität durch Erkenntnismomente in irgendeiner Weise mitbestimmt zu sein. Auch Handlungswissenschaften wie die Soziologie oder die allgemeine Historie setzen auf Seiten ihres Gegenstandes erkennende Subjekte voraus, weil Handeln Erkennen voraussetzt, häufig allerdings auch mit misslingenden Erkenntnisbemühungen, mit Irrtümern und Illusionen verbunden ist; aber auch diese sind Arten (und wenn man will: Abarten) erkennender Intentionalität. Schon deshalb enthält Handeln immer einen Gegenstandsbezug – 9 Der Begriff der Ontologie (ursprünglich der Lehre vom Sein im Allgemeinen, seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch auf eine Lehre von den verschiedenen Seinsarten ausgedehnt), wird u. E. prinzipientheoretisch vor allem dann problematisch, wenn mit ihm der Anspruch verbunden wird, aller Reflexion auf die Möglichkeit des Erkennens und Wissens sei eine ontologische Theorie voranzustellen, sei es auch eine solche des Seins der Erkenntnis oder des erkennenden Seienden. Mit einem solchen Anspruch verfehlt sie die unabdingbare Aufgabe einer echten Transzendentalphilosophie, die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt aufzuklären.

II. Meta-Intentionalität

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und darüber hinaus auch durch seinen Entwurfscharakter: Was durch das Handeln erreicht werden soll, ist wiederum ein Gegenständliches, ein Zweck, ein zukünftiger Sachverhalt, der ins Auge gefasst, in günstigen Fällen erreicht wird, und dann wiederum als erreichter bemerkbar und erkennbar sein muss. Meta-Intentionalität charakterisiert daher auch jene Wissenschaften, welche dauerhafte Resultate von speziellen Handlungen, von Produktionshandlungen, zum Gegenstand machen, die Produkt- oder Werk-Wissenschaften10: Immer sind diese Werkwissenschaften auf Gegenstände bezogen, welche ihre Existenz oder zumindest ihre Art der Existenz intentionalen Akten und Handlungen verdanken, immer sind sie in intentionalen Akten konzipiert (als Haus, als Stuhl, als Garten), oft sind sie darüber hinaus wiederum als intentional auf gewisse Gegenstände bezogen konzipiert und realisiert (als bildliche Darstellungen von Gegenständen, als Romane über ein Geschehen – oder eben als wissenschaftliche Werke über Planetenbewegungen, ökologische Zusammenhänge, historische Entwicklungen). Mit den letzten Beispielen deutet sich schon die Möglichkeit mehrstufiger Meta-Intentionalität an: Romane sind aus Intentionalität entstandene Werke, die ihrerseits intentionale Beziehung auf ein Geschehen haben, das seinerseits wiederum durch Intentionalität bestimmte Personen (mit ihren Handlungen, Gedanken, Meinungen, Zwecksetzungen) in sich enthält. Ähnliches läßt sich über historische Werke sagen. Aus alledem können wir den Schluss ziehen, dass sich jedenfalls eine Differenzierung der Geisteswissenschaften vornehmen lassen müsste, die sich an den Strukturmomenten der Intentionalität orientiert: Wissenschaften von Handlungen, von den verschiedenen Arten von Handlungen, von Werken, von den verschiedenen Arten von Werken, von den allgemeinen Strukturen von Handlungen und Werken ebenso wie von den einzelnen konkreten Vorkommnissen und Entwicklungen.

10 Sollte die neuere Wissenschaftstheorie Recht mit der These haben, dass (natur-) wissenschaftliche Gegenstände (in welchem Sinne genau auch immer) ,Konstrukte‘ seien, dann gehören natürlich auch diese Gegenstands-Konstrukte als Konstrukte zum Gegenstandsfeld der Geisteswissenschaften. Nur muss man sich darüber klar sein, dass es eines ist, in einer Naturwissenschaft einen Gegenstand zu ,konstruieren‘, um dadurch ein Wissen über die Natur (als einem nicht erst durch diese Konstruktion Erschaffenen) zu erwerben, und ein anderes, das Konstrukt als Konstrukt (und also Produkt des Naturwissenschaftlers) zu erfassen und zu analysieren, um dadurch ein Wissen über die Geschichte oder die Art der Konstruktion und der Konstrukteure zu erwerben. Das erstere ist ein naturwissenschaftliches Unternehmen, sofern es qua Intentionalität erster Stufe um Erkenntnis empirischer Tatsachen geht, das letztere ein geisteswissenschaftliches Unternehmen, weil es durch Intentionalität zweiter Stufe gekennzeichnet ist.

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A. Der Begriff der Geisteswissenschaften

III. Empirizität – empirische und geltungskritische Reflexion Der Begriff der Meta-Intentionalität besagt, dass sich da eine theoretische Intention auf andere Intentionen und intentionale Momente bezieht, dass wir es also mit einer Art von Reflexion, einem Rückbezug des wissenschaftlichen Subjekts auf Subjektives zu tun haben. Aber diese Reflexion der Geisteswissenschaften ist von besonderer Art; sie ist in einem doppelten Sinne empirische Reflexion. Zum einen bezieht sie sich, wie schon die Reflexion etwa des Chemikers auf seine wissenschaftlichen Ergebnisse oder die seiner Kollegen, auf empirisch gegebene Intentionalität, also auf etwas Faktisches, das aufgrund irgendwelcher empirischer Daten direkt oder indirekt als Faktum zugänglich ist. Wenn wir uns jedoch an den oben beschriebenen Übergang von der innerwissenschaftlichen Reflexion des Chemikers zur geisteswissenschaftlichen Reflexion des Chemie-Historikers erinnern, so sehen wir, dass die geisteswissenschaftliche Reflexion noch in einem zweiten Sinne empirische Reflexion ist. Ihr Ziel ist die empirische Erkenntnis der faktischen Intentionalität, nicht die Überprüfung, Korrektur oder gar Weiterentwicklung der ihr als Faktum vorgegebenen Intentionalität. Dies gilt auch dort, wo wir als Geisteswissenschaftler durchaus die Geltung oder Nichtgeltung der vorgegebenen Intentionalität bemerken und uns für sie „interessieren“. Gegenstand der Untersuchung des Wissenschaftshistorikers ist Gültiges und Ungültiges gleichermaßen, nicht weil es gleichwertig wäre, sondern weil es gleichermaßen ein Stück jener ,Welt‘ ist, die durch Intentionalität gekennzeichnet ist, und weil es in jener Welt hervorgebracht worden und mehr oder weniger wirksam gewesen ist. Die Meta-Intentionalität des Geisteswissenschaftlers ist mit Bezug auf die vorgegebene Intentionalität empirische Reflexion, nicht Geltungsreflexion, nicht weil der Geisteswissenschaftler blind wäre für die Geltungsdifferenzen der vorgegebenen Intentionalität, sondern weil sein Forschungsziel ein anderes ist als – in unserem Beispielfall – das Forschungsziel des Chemikers und weil deshalb auch die Methoden und Geltungsgründe für die Aussagen des Wissenschaftshistorikers andere sind als die Methoden und Geltungsgründe des Chemikers.11 11 Im ,Normalfall‘ wird sich der Wissenschaftshistoriker darauf verlassen können, dass für die gegenwärtige Chemie schon geklärt ist, was von den vergangenen wissenschaftlichen Bemühungen zu gültigen und was zu ungültigen Ergebnissen geführt hat. Wir können an dieser Stelle noch nicht ausführlich die Frage behandeln, wie der Wissenschaftshistoriker mit der Situation umgehen solle, falls dies in irgendeinem Punkte strittig ist (eine Situation, die etwa in der theoretischen Physik schon häufiger auftreten wird, in geisteswissenschaftlichen Disziplinen, deren Geschichte man schreiben wollte, wohl an der Tagesordnung ist). Es mag aber zunächst genügen, darauf hinzuweisen, dass der Chemiehistoriker, wenn er sich denn die Kompetenz zutraut, auch wissen (und deutlich machen) sollte, wann er seine historische Methode unterbricht oder verlässt und zum Chemiker wird. – Dass vergleichbare methodische Unterscheidungen in der Geschichte der Geisteswissenschaften schwerer fallen, lässt sich leicht denken. – Solche Unterscheidungen fallen (um noch einen Schritt weiterzugehen) Historikern der Theorie der Geisteswissenschaften so schwer, dass sie mitunter meinen,

III. Empirizität

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Freilich, so wie es zu den Obliegenheiten des Chemikers gehört, nicht nur die Behauptungen seiner Kollegen kritisch zu überprüfen, sondern auch zu (gesellschaftlich verbreiteten und wirksamen) vorwissenschaftlichen Fehlmeinungen Stellung zu nehmen, so kann erst recht etwa der Sozialwissenschaftler nicht einen Widerspruch zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen der gesellschaftlichen Verhältnisse und gesellschaftlich verbreiteten Meinungen über die letzteren außer Acht lassen, zumal jene Meinungen nicht bloß (wie bei der Chemie) eine vorwissenschaftliche ,Konkurrenz‘ zu seinen Bemühungen darstellen und also seine eigenen Resultate in Frage stellen, sondern – als kausal wirksames und mit der übrigen Wirklichkeit interferierendes Moment der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst – wesentlich zum Gegenstand seiner Forschung gehören.12 Dennoch ist die Kritik der gesellschaftlich verbreiteten Meinungen etwas anderes als die Erforschung ihrer faktischen Verbreitung und Wirksamkeit; vor allem aber ist die Methode der Erforschung gesellschaftlicher Fakten nur so weit zur Kritik gesellschaftlich verbreiteter Meinungen geeignet, als diese Meinungen sich auf gesellschaftliche Fakten beziehen. Chemische Meinungen zu kritisieren, ist die Aufgabe der Chemie; das dürfte unstrittig sein. Aber auch gesellschaftlich verbreitete politische Meinungen sind nicht immer Meinungen über gesellschaftliche Fakten, sondern enthalten in großem Maße moralische und (moralisch-)rechtliche Implikationen, für die eine empirische Wissenschaft prinzipiell keine Gründe bereitstellen kann. In den folgenden Überlegungen müssen wir uns nun klar machen, dass auch zwischen den im gängigen (und hochschulpolitischen) Sprachgebrauch ohne weiteres zu den ,Geisteswissenschaften‘ gezählten Disziplinen eine entscheidende Differenz von Forschungszielen, Methoden und Geltungsgründen besteht, welche die prinzipielle Funktion der Empirie in diesen Disziplinen betrifft und welche uns zwingt, das Methoden- und Geltungsproblem der empirischen Disziplinen gesondert zu behandeln, so dass wir es vorziehen werden, den Terminus ,Geisteswissenschaften‘ im Folgenden allein für die empirischen Disziplinen zu verwenden.13 eine Theorie der Geisteswissenschaften vorgelegt zu haben, wenn sie nur eine (durch einige kritische Anmerkungen bereicherte) Geschichte der betreffenden theoretischen Versuche zustande gebracht haben. 12 Dass auch die betreffenden Wissenschaften wiederum die Meinungen und mithin die gesellschaftliche Wirklichkeit beeinflussen, führt dazu, dass Ideologie und Ideologiekritik nicht immer leicht zu trennen sind, und macht ein spezifisches methodologisches Problem von Wissenschaften wie der Soziologie oder auch der (besonders der gegenwartsnah forschenden) Geschichtswissenschaft aus. 13 Diese terminologische Entscheidung ist selbstverständlich nicht frei von Willkür; aber sie scheint uns angesichts der methodologischen Fehleinschätzungen, zu denen eine Zusammenfassung empirischer und nichtempirischer Disziplinen unter einen Titel verleitet, in einem wissenschaftstheoretischen Zusammenhang dringend geboten. – Die Folge unserer Entscheidung ist es, dass dort, wo wir von „empirischen Geisteswissenschaften“ sprechen werden, das Wort „empirisch“ keine spezifizierende, sondern nur

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IV. Abgrenzung der Geisteswissenschaften gegen drei nicht-empirisch bestimmte Disziplinen 1. Philosophie In einer äußerlichen, hochschulpolitischen Betrachtung, zumal wenn es um Fragen der Finanzierung und Ausstattung von Instituten geht, ist nichts selbstverständlicher, als dass die Philosophie zu den Geisteswissenschaften gezählt wird. Ihr traditioneller Bedarf an Sachmitteln betrifft hauptsächlich die Anschaffung von Büchern; und die in den Büchern zum dauerhaft verfügbaren Objekt gewordene Intentionalität scheint der Hauptuntersuchungsgegenstand der Philosophie zu sein. Dieser Eindruck wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass die Philosophiegeschichte in der Philosophie der heutigen Zeit einen breiten Raum einnimmt. Ja, für manche Philosophen scheinen Philosophie und Philosophiegeschichte mehr oder weniger zusammenzufallen; und wo etwa das Stichwort „philosophische Hermeneutik“ zur Charakterisierung der eigenen systematischen Zielsetzung gebraucht wird, hat der Leser der betreffenden philosophischen Werke mitunter Mühe, zwischen den einander ablösenden philosophiehistorischen Darstellungen und Analysen noch die sachbezogenen Thesen (und ihre Begründungen) zu entdecken. Allerdings bestehen gerade Hermeneutiker darauf, dass etwa Platon und Aristoteles samt ihren Schriften nicht etwa empirische Gegenstände philosophischer Untersuchungen seien, sondern dass die Beschäftigung mit ihnen, sosehr sie auch eine philologische Erschließung der Texte impliziere, ein Gespräch, ein wissenschaftlicher Disput mit „Kollegen“ sei – nicht anders als die Beschäftigung mit gegenwärtigen Philosophen. Bei aller Besonderheit der Auseinandersetzung mit den Schriften früherer Philosophen würde sich in dieser Hinsicht die philosophiegeschichtliche Forschung nicht grundsätzlich von dem wissenschaftlichen Disput unter naturwissenschaftlichen Fachkollegen unterscheiden, zu dem ja auch das Studium wissenschaftlicher Veröffentlichungen, und darunter von Autoren gehört, mit denen man aus kontingenten Gründen nicht oder nicht mehr in einen lebendigen Dialog treten könnte. Speziell die Auseinandersetzung mit früheren, zumal antiken Philosophen bedarf freilich eines z. T. erheblichen Stücks philologischer, mithin empirischer Deutungs-Arbeit, ehe man zur philosophischen Diskussion der Probleme und Thesen schreiten kann.14 Die eine explikative Funktion hat, die an unsere terminologische Grundentscheidung erinnern soll. 14 Das wiederum schließt nicht aus, dass manche philologische Frage (man denke nur an die Deutung der Partizipialkonstruktionen Aristotelischer Texte) erst aufgrund philosophischer Kenntnisse entschieden werden kann. Diese Kenntnisse aber werden zur Lösung der philologischer Probleme nicht eigentlich als (systematisch-)philoso-

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Sache aber, um die es bei philosophiegeschichtlicher Forschung wie in der Philosophie überhaupt geht, ist nicht die faktische, empirisch mehr oder weniger gegebene und deutlich feststellbare Meinung von Platon oder Aristoteles, sondern das, worüber Platon und Aristoteles nachgedacht und geschrieben haben. Und diese Sache der Philosophie umfasst, wenn es denn eine Naturphilosophie ebenso wie eine Philosophie des Geistes gibt, sowohl Natur als auch Geist – nicht empirisch gegebene Intentionalität, sondern, wenn es denn einmal um Intentionalität gehen sollte, die Prinzipien oder das Wesen von Intentionalität, so wie es an anderer Stelle um die Prinzipien oder das Wesen der Natur gehen mag. Natürlich wird mit dieser Richtigstellung nicht bestritten (muss jedenfalls nicht bestritten werden), dass es auch eine Form der empirischen Geistesgeschichte geben kann und gibt, in welcher u. a. auch philosophische Entwicklungen eine bedeutende Rolle spielen – insofern sie nämlich aus bestimmten kulturellen Strömungen hervorgegangen sind und insofern sie im engeren Sinne geistige, aber auch gesellschaftlich-politische Wirkungen gehabt haben. Aber diese Art der geistesgeschichtlichen Forschung hat eine grundsätzlich andere Zielsetzung als die philosophisch betriebene Philosophiegeschichtsschreibung, sie fragt, ihrer eigentümlichen Zielsetzung nach, nicht nach der Wahrheit philosophischer Thesen und Theorien, sondern nur nach ihrer Tatsächlichkeit, mag der philosophisch gebildete Geistesgeschichtler sich (sozusagen privat) auch noch so sehr für die Gültigkeit der Theorien interessieren und sich ein Urteil über sie zutrauen. Freilich meldet sich bei der Rede von den Sachfragen der Philosophie sogleich ein grundsätzliches Bedenken: Ist nicht alle Philosophie letztlich Reflexion? – Selbst die Naturphilosophie wäre demnach Reflexion auf unsere Begriffe der Natur und des Naturprozesses sowie auf die Prinzipien unserer Naturerfahrung. Ebenso wäre die Praktische Philosophie Reflexion auf unsere phische Einsichten des Interpreten ins Spiel gebracht, sondern als empirische Hypothesen über die Gesamtkonzeption des zu interpretierenden Autors; Hypothesen, die ihre Rechtfertigung aus der Belegbarkeit durch andere Zeugnisse der Zeit ziehen und mindestens mit letzteren vereinbar sein müssen. – Diese Bemerkung hat ihre Wichtigkeit vor allem im Hinblick auf Konzeptionen einer Hermeneutik, die aus der angedeuteten Bedingtheit philologischer Interpretation durch Kenntnisse über die ,Sache‘ des Textes ein Argument für die Auffassung ziehen wollen, alle Interpretation habe sich am Modell des Gesprächs zu orientieren und ziele auf ein „Einverständnis in der Sache“. Dies trifft nicht einmal für die philosophiegeschichtliche Forschung zu: Sie würde sich ihren Gegenstand durch eigene „Vorurteile“ (auch dies ein – affirmativ gebrauchtes – Schlüsselwort jener Hermeneutik) verstellen, wenn sie nicht reinlich zwischen philologischer Interpretation, der Sachdiskussion (dem ,Gespräch‘) mit dem Autor und gegebenenfalls schließlich den aus der Diskussion mit dem Autor zu entwickelnden eigenen philosophischen Ergebnissen unterscheiden würde. Dass solch feine methodische Differenzierungen nicht jedermanns Sache sind, spricht nicht gegen ihre Notwendigkeit (vgl. hierzu unten S. 47–95).

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Begriffe der Praxis: auf Wertbegriffe, Normbegriffe, normative Grundsätze: lauter intentionale Gegebenheiten also. Ja, wenn die linguistische Wende, von der man seit einigen Jahrzehnten spricht, das letzte Wort sein sollte, was unterscheidet eigentlich solche ,positiven‘ Gegebenheiten von den Gegebenheiten der oben ins Auge gefassten Geisteswissenschaften? Dass alle Philosophie Reflexion sei, ist durchaus eine gewichtige Auffassung, der wir hier nicht widersprechen wollen. Bestreiten aber müssen wir, dass es sich da um empirische Gegebenheiten, um empirisch gegebene Intentionalität handelt – so richtig es sein mag, dass es in unserer Kulturwelt Begriffe, Thesen, Grundsätze und Normen philosophischer Herkunft gibt und dass unsere Gegenwart wie unsere Geschichte dadurch bestimmt sind. Und so richtig es sein mag, dass die philosophische Reflexion auch von solchen faktischen Gegebenheiten ihren Ausgang nimmt und in ihnen Probleme entdeckt (etwa in irreführenden sprachlichen Gewohnheiten), so wenig zielt doch die Philosophie auf ein Wissen von der Existenz solcher faktischen Gegebenheiten. Vielmehr fragt sie danach, welche Begriffe, Thesen, Grundsätze, Normen die ihnen zugedachte prinzipielle Aufgabe erfüllen, welche gedanklichen, sei es auch sprachlich artikulierten, Prinzipien richtig, gültig, wahr oder falsch sind. Die Philosophie zielt nicht auf ein Wissen, das sich auf empirische Daten stützen könnte, sondern sie zielt auf ein Reflexionswissen von Prinzipien, die der Philosoph und seine Diskussionspartner im argumentierenden Denken selbst (in einem bestimmten Sinne) zu ,erzeugen‘ und jedenfalls zu rechtfertigen haben – auch dann, wenn schon Andere (Philosophen und Nichtphilosophen) sie vor ihnen erzeugt und gebraucht haben sollten. Dies gilt insbesondere auch von einer philosophischen Wissenschaftstheorie, welche von den tatsächlichen Arbeiten der Einzelwissenschaften ihren Ausgang nehmen mag. Dadurch, dass sie die Begriffe und Grundsätze, die sie den Wissenschaften zudenkt, selbst verantworten und begründen muss, unterscheidet sich philosophische Wissenschaftstheorie von empirischer Wissenschaftsgeschichte. Die reflexive „intentio obliqua“ der Philosophie, ihr Rückbezug auf Intentionalität, hebt das auf die Sachgeltung der diskutierten Intentionalität zielende Forschungsinteresse nicht auf. Philosophie ist nicht Erkenntnis von existierender, gegebener Intentionalität, von gegebenem Geist, sondern Erzeugung von Intentionalität, wenn man so will, Erzeugung von Geistigem, und deshalb keine empirische Geisteswissenschaft. Darin aber, dass sie Erzeugung von Intentionalität, Erzeugung von Geistigem ist, unterscheidet sie sich in keiner Weise von irgendeiner anderen Wissenschaft, sei diese auch eine Naturwissenschaft.

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2. Theologie Wodurch unterscheidet sich die Theologie von den geisteswissenschaftlichen Religionswissenschaften, der Religionsgeschichte und der Religionssoziologie? Zur Beantwortung dieser Frage können wir zunächst auf eine Übereinstimmung zwischen der Philosophie und der Theologie hinweisen: Obwohl beide in großem Maße auf empirisches Material, empirisch gegebene Texte zurückgreifen und diese Texte daher zunächst durchaus mit philologischen Methoden erschließen müssen, können sie es doch nicht bei dieser Auffassung der Texte als empirisch gegebener Intentionalität bewendet sein lassen; sie können ihre philosophische bzw. theologische Aufgabe vielmehr nur erfüllen, wenn sie sich mit dem Geltungsanspruch des empirisch Gegebenen auseinandersetzen. Die Differenz zwischen den beiden Disziplinen zeigt sich erst, wenn wir die Art dieses Geltungsanspruch näher betrachten. Mag es im Inhalt der beiderseitigen Aussagen auch manche Berührungspunkte, Übereinstimmungen und vielleicht auch Konflikte in theoretisch-metaphysischer oder moralisch-praktischer Hinsicht geben (so wie es in historischer Hinsicht Berührungspunkte und Konflikte zwischen theologischer Heilsgeschichte und empirischer Geschichtsschreibung geben mag), so zeichnet sich für die Theologie der Geltungsanspruch des ihr vorgegebenen Materials durch eine autoritative Unabweisbarkeit aus, die sowohl den geisteswissenschaftlichen Disziplinen als auch der Philosophie fremd sein muss. Der Theologe tritt seinen Texten und ihren Autoren nicht wie der Philosoph als (jedenfalls dem Prinzip nach) gleichberechtigter Diskussionspartner gegenüber, sondern als „Hörer des Wortes“.15 Theologie versteht sich als eine auf Glauben gegründete Wissenschaft – eine Tatsache, die manchem im Glauben Ungeübten als Widerspruch in sich erscheinen mag und die auch dem Versuch einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Theologie nicht geringe Schwierigkeiten bereitet.16 Welchen 15 Vgl. den Titel des Werkes von Karl Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie (neu bearb. v. J. B. Metz), München 1963. 16 Vgl. z. B. den Beitrag von Gottlieb Söhngen, Die Weisheit der Theologie durch den Weg der Wissenschaft, in: J. Feiner u. M. Löhrer (Hrsg.), Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik, Bd. 1, Die Grundlagen heilsgeschichtlicher Dogmatik, Einsiedeln 1965, 6. Kap., S. 905–977; dort insbes. S. 947 die Klarstellung, dass die Dogmen nicht bloß regulative, sondern konstitutive Voraussetzungen der theologischen Aussagen seien. Es versteht sich, dass es in unserem Zusammenhang nicht darauf ankommt, wie ausdrücklich diese Dogmen festgehalten sind. – Man könnte versuchen, die mit dieser Voraussetzung verbundenen Schwierigkeiten zu vermeiden, indem man die Theologie sozusagen als eine durch eine religiöse Gemeinschaft veranlasste Auftragsforschung auffasste, die lediglich auf bestimmte Forschungsgegenstände verpflichtet sei, mithin den Glauben allenfalls als eine außerhalb der wissenschaftlichen Methode anzusiedelnde Motivation voraussetzte. In diesem Falle gäbe es keinerlei wesentliche methodische Differenzen zwischen der Theologie und der empirischen Religionswissenschaft. – Unsere obigen Überlegungen wollen nicht der Theologie me-

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Inhalt der die Theologie begründende Glaube immer haben mag, der theologische Begriff des Glaubens schließt es gerade aus, dass die Geltung der Glaubensinhalte (Dogmen) empirisch oder nicht-empirisch (also philosophisch) überprüfbar wäre. Die Quelle dieser Geltung liegt in einer zur geglaubten Heilsgeschichte gehörenden Offenbarung und Inspiration, welche den Grund für einen (je nach der Denomination) mehr oder weniger theoretischen und jedenfalls praktischen Glaubensgehorsam darstellen. Dies hat Konsequenzen für das methodische Ziel der Theologie. Zwar sind die Texte und die sie ,beglaubigende‘ Tradition durchaus Gegenstände eines empirischen Wissens, das einer philologischen und historischen Methode unterworfen werden kann und muss. Aber nicht im bloßen Wissen von einem Gegenstand (von Texten und den in ihnen tradierten und gegebenenfalls schriftlich fixierten Glaubensinhalten), sondern in den Folgerungen aus diesem Wissen für das Glaubensleben der betreffenden Gemeinschaft kommt die wissenschaftliche Arbeit der Theologie an ihr Ziel.17 Theologie dient, auch wo sie Textauslegung ist, der Verkündigung. Demgemäß muss sich die Theologie zum methodischen Ziel setzen, die Applikation, die lebendige Anwendung des in den Texten und in der Tradition artikulierten Glaubens, in der gegenwärtigen Glaubensgemeinschaft zu ermöglichen und zu befördern.18 Damit hat die Theologie einen außerhalb des empirisch (und auch philosophisch) Aufweisbaren liegenden Maßstab zum Kriterium für sie gültiger Aussagen: den der dogmatischen Autorität der gegenwärtigen Gemeinschaft.19 thodologische Vorschriften machen, sondern gehen einfach von der Voraussetzung aus, dass die Theologie ein eigenständiges theologisches Selbstbewusstsein hat. 17 Vgl. hierzu die Diskussion der thomistischen, an Aristoteles anknüpfenden sog. Konklusionstheologie bei Söhngen, S. 970–975. 18 Vgl. mit Bezug auf die Exegese der biblischen Texte: Karl Hermann Schelkle, Heilige Schrift und Wort Gottes. Erwägungen zur biblischen Hermeneutik, in: Theol. Quartalsschr. 138 (1958), S. 257–274, insbes. 272 f. 19 Wir haben uns in der obigen Darstellung an die mit einem besonders strikten dogmatischen Verständnis verbundene katholische Theologie gehalten; die Darstellung wäre sicherlich mit Bezug auf die evangelische Theologie im Sinne einer offeneren Dogmatik zu modifizieren und zu differenzieren. Deren Selbstverständnis variiert von einer traditionellen, dem katholischen Verständnis in den für uns hier entscheidenden Punkten nahestehenden Einstellung bis zu einer die Theologie mehr an die Philosophie annähernden Haltung, die sich dann aber konsequenter Weise, trotz Einbeziehung der Reflexion auf andere Religionen, strikt von einer empirischen („positiven“) Religionswissenschaft abgrenzt; für die erstere Einstellung vgl. den Artikel von H.-H. Schrey, „Theologie II. Ev. Theologie“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Bd. 6, Sp 769–775; für die letztere etwa das Buch von Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1977, dort insbes. das 5. Kap. „Theologie als Wissenschaft von Gott“, S. 299–348; zum heutigen Stand vgl. auch: Christoph Schwöbel, Art. „Theologie“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4., völlig. neu bearb. Aufl., Bd. 8, Tübingen 2005, Sp. 255–306; für die neuere katholische Diskussion vgl. Siegfried Wiedenhofer, Art. „Theologie“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, 3. Aufl., Freiburg usw. 2000, Sp. 1435–1444.

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Nur ein äußeres Symptom und freilich die politische Realisierungsbedingung dieser Eigentümlichkeiten der Theologie ist es, dass ihr Lehr- und Forschungsbetrieb, selbst wenn er wie in der Bundesrepublik Deutschland an staatlichen Universitäten stattfindet, unter der Jurisdiktion nicht allein einer der Freiheit der Wissenschaft verpflichteten öffentlichen Gewalt steht, sondern zugleich auch unter der Jurisdiktion einer geschlossenen religiösen (mehr oder weniger hierarchisch strukturierten) Gemeinschaft. 3. Rechtswissenschaft Nicht nur der Gebrauch des Wortes Dogmatik in der Rechtswissenschaft legt den Vergleich zwischen ihr und der Theologie nahe. Ähnlich wie bei der letzteren können wir fragen: was unterscheidet die Rechtswissenschaft eigentlich von der Rechtsgeschichte oder der Rechtssoziologie? Auch die Rechtswissenschaft hat es mit intentionalen Gegebenheiten zu tun, mit Gesetzestexten, einem Rechtssystem, rechtlichen Sachverhalten, die auch Gegenstand etwa der Rechtsgeschichte sein können. Insofern ist die Rechtsdogmatik, anders als die philosophische Rechtslehre und Rechtstheorie, nicht ohne eine Art von „empirischer Basis“ denkbar. Was aber für die Rechtsgeschichte ein bloß faktischer, empirischer Gegenstand von besonderer Struktur ist, das ist für die rechtswissenschaftliche Dogmatik nicht bloß ein Untersuchungsgegenstand, sondern ein System von verbindlichen Regeln, die auch gegenüber der Rechtswissenschaft selbst mit einem autoritativen Geltungsanspruch auftreten. Wie die Theologie so steht auch die Rechtswissenschaft unter einer außerwissenschaftlichen Autorität, der sie in ihrer wissenschaftlichen Arbeit zwar keinen Glaubensgehorsam schuldet; und auch von einem ,rechtlichen Gehorsam‘ zu sprechen, würde das Verhältnis der rechtswissenschaftlichen Dogmatik zum Gesetz und zum Gesetzgeber nicht ganz treffen.20 Aber sie hat doch eben diesen Rechtsgehorsam, sowohl der unter dem Gesetz stehenden Bürger als auch der das Gesetz vollziehenden Institutionen, durch Sinn-Explikation und -Konkretisierung zu ermöglichen. Sosehr mitunter auch die historische Interpretation von Gesetzestexten zur Erschließung des Sinnes von Gesetzen beitragen mag, so ist doch die Frage des Rechtsdogmatikers letztlich nicht, was der Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Inkraftsetzung gemeint hat, sondern was zum gegenwärtigen Zeitpunkt rechtlich gültig ist, was rechtens ist. Das, was rechtens ist, wird nicht durch ein empiri20 Der Grund liegt in der (zumindest in demokratischen Rechtsstaaten selbstverständlichen und rechtsphilosophisch geforderten) kritischen Aufgabe der Rechtswissenschaft, sowohl den faktischen Gesetzestexten gegenüber als auch der Rechtspraxis gegenüber. – Dass dagegen der Rechtswissenschaftler etwa als Hochschullehrer ein auch Rechtsgehorsam implizierendes Amt ausübt und dabei auf ein spezielles Fachgebiet verpflichtet ist, unterscheidet ihn natürlich nicht von irgendeinem anderen Hochschullehrer.

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sches Gesetzgebungsfaktum bestimmt, sondern durch eine „Rechtslage“, die auf dem gegenwärtigen (u. U. durch mancherlei weitere, inzwischen hinzugekommene, Gesetzgebungsakte und Rechtsentscheidungen präzisierten) Willen des Gesetzgebers beruht. Der Wille des Gesetzgebers drückt sich zwar in empirischen Objektivationen (Gesetzestexten) aus, die eine empirische ,Verankerung‘ rechtswissenschaftlicher Aussagen zur Folge haben. Aber die Gesetzestexte und infolgedessen auch die rechtswissenschaftlichen Aussagen gelten nicht aufgrund der empirischen Gegebenheit der Gesetzestexte und auch nicht – dies ist entscheidend – aufgrund der geschehenen Willensentscheidung und -äußerung des Gesetzgebers, sondern aufgrund des gegenwärtig gültigen Gesetzgeber-Willens – oder deutlicher: der gegenwärtigen Gültigkeit des in den Texten bezeugten Gesetzgeber-Willens. Wie in der Theologie erschöpft sich daher das Ziel der wissenschaftlichen Arbeit nicht im bloßen Verstehen der autoritativen Texte selbst, sondern erst in deren Applikation auf die gegenwärtige rechtliche Wirklichkeit, zwar nicht schon auf den einzelnen Fall (wie in der Jurisdiktion), aber doch auf Typen von Tatbeständen. Die Rechtsdogmatik hat über die Klärung des eigenen Sinnes von Gesetzestexten hinaus für die Applikation aus den einschlägigen Paragrafen des Gesetzessystems Obersätze zusammenzustellen, welche die Subsumtion von Fällen erlauben. Die Resultate der Rechtswissenschaft sind insofern, trotz ihrer empirischen Verankerung, keine bloßen Erfahrungssätze, sondern wie die Gesetzestexte selbst normative Sätze und normenexplizierende Sätze, welche für die Rechtspraxis normative Bedeutung haben.21 21 Emilio Betti hat in seiner „allgemeinen Auslegungslehre“ die juristische Auslegung wie die theologische unter den Obertitel „normative Auslegung“ gestellt; vgl. auch den Paragraphentitel „§ 53. Problem des Verstehens im Hinblick auf das Entscheiden (Handeln) gemäß vorgegebenen Richtlinien: Auslegung mit normativer Aufgabe überhaupt. Gemeinsame Problematik der juristischen und der theologischen Auslegung“ (Emilio Betti, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1967, S. 601). – Gegenüber dieser auch systematischen Einordnung der Rechtsdogmatik, welche durch die seit Hume und Kant erarbeiteten Unterscheidungen zwischen theoretischen und praktischen sowie zwischen empirischen und nicht-empirischen Sätzen bestimmt ist, muss die wortgeschichtliche Erklärung des Disziplintitels (aus der Verbindung mit der medizinischen Erfahrungsmethodologie der Antike) als völlig unerheblich angesehen werden (vgl. dazu den sich hauptsächlich auf die Wortgeschichte bis zu Christian Wolff beschränkenden Artikel „Rechtsdogmatik“ von M. Herberger in: Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 8, Sp. 266–272). Die Geschichte der in diesen Hinsichten genaueren Methodenreflexionen beginnt eben erst mit Hume und Kant. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Differenz zwischen empirischer Rechtsgeschichte und -soziologie auf der einen und Rechtsdogmatik auf der anderen Seite erst im 19. Jahrhundert deutlicher hervortrat. Scharf herausgearbeitet wurde sie dann vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa von Max Weber (vgl. etwa: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. J. Winckelmann, Tübingen 71988 [im Folgenden WL] S. 1–145, dort insbes. S. 87 ff.), aber auch von rechtspositivistischer Seite, so von Hans Kelsen (vgl. etwa: Der Soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht, Neudruck der 2. Aufl. v. 1928, Aalen 1962).

B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung in den Geisteswissenschaften Die Geisteswissenschaften, wie wir sie bisher umgrenzt haben, sind empirische Wissenschaften. Das bedeutet: ihre Aussagen sind Erfahrungsaussagen, ihrer Geltung nach also durch Rezeptivität fundiert – anders etwa als die Aussagen der Philosophie oder Mathematik. Vor allen Urteilen und Aussagen, die wir als Wissenschaftler selbst erzeugen, muss uns etwas ,gegeben‘ sein, das wir aufnehmen, rezipieren können. Rezeptivität macht ,Gegenstände‘ (das Wort im weitesten Sinne genommen) zugänglich, die nicht durch das erkennende Subjekt erzeugt werden (wie in der Mathematik) und die auch nicht bloß ihrer begrifflichen Möglichkeit nach erkannt werden sollen (wie in der Philosophie), sondern die wirkliche Vorkommnisse in der Welt sind oder gewesen sind. Speziell diejenige Rezeptivität, welche die Geltung der geisteswissenschaftlichen Aussagen notwendigerweise fundiert, muss Intentionalität zugänglich und schließlich erfahrbar machen. Aber auch die Geisteswissenschaften selbst und ihre Aussagen sind eine Art von Intentionalität; ja, diese letztere, die geisteswissenschaftliche Intentionalität, impliziert an ihrer rezeptiven Basis eine Art von Reproduktion der ersteren, der rezipierten und erfahrenen Intentionalität. Daraus ergibt sich das Problem, wie eine Verwechslung von Momenten der einen, der rezipierten und erfahrenen, und der anderen, der wissenschaftlich erzeugten, Intentionalität zu vermeiden sei. – Ein solches Problem kann in den Naturwissenschaften nicht auftauchen: Was dort rezipiert wird, hat raum-zeitliche Struktur, was die Intentionalität des Wissenschaftlers erzeugt, hat sprachliche und begriffliche Struktur. – In den Geisteswissenschaften finden sich in dem, was rezipiert wird, und in dem, was wissenschaftlich erzeugt wird, sprachliche und begriffliche Strukturen. Damit geisteswissenschaftliche Aussagen nicht bloß etwas über die Subjektivität der Geisteswissenschaftler besagen, sondern etwas über die ,Objekte‘ dieser Aussagen (die gewiss ihrerseits Subjekte bzw. Subjektives sind), damit diese Aussagen also Objektivität beanspruchen können, muss die rezeptiv zugängliche und erfahrbare Intentionalität – nennen wir sie ,Objekt-Intentionalität‘ – von der ,Subjekt-Intentionalität‘ der Geisteswissenschaften selbst (von der ,Meta-Intentionalität‘) unterschieden sein.1 Sie darf weder eine in den Geisteswissenschaf1 Der Ausdruck ,Objekt-Intentionalität‘ ist nicht ganz problemlos, weil er dazu verleiten könnte, das Verhältnis der Geisteswissenschaften zu ihren ,Gegenständen‘ ,objektivistisch‘ aufzufassen. Wir könnten statt dessen von ,Primär-Intentionalität‘ spre-

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

ten erzeugte noch eine in ihnen vollzogene Intentionalität sein; genauer: sie darf vom Geisteswissenschaftler allenfalls (in einem jeweils genauer zu bestimmenden Sinne) nachvollzogen sein und diesem Nachvollzug muss ein ursprünglicher Vollzug vorausliegen. Damit die Rezeption von Intentionalität nicht nur stattfindet, sondern als Rezeption eine wissenschaftliche Aufgabe erfüllen kann und wissenschaftlich überprüfbar ist, muss sie von der vollzogenen oder erzeugten Subjekt-Intentionalität nicht bloß begrifflich unterschieden, sondern auch methodisch unterscheidbar sein. Weil wir es sowohl bei den Geisteswissenschaften als auch bei ihren Gegenständen mit Intentionalität zu tun haben, ist diese Forderung alles andere als selbstverständlich; und noch weniger ist es ihre Erfüllung. Beinahe jede Abhandlung, die unter dem Stichwort Hermeneutik veröffentlicht wird, kann dies bezeugen, denn eine vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit verbreitete Tendenz hält diese Forderung für unnötig und unerfüllbar. Wir werden in diesem Kapitel zunächst eine grundsätzliche Klärung bezüglich der theoretischen Einstellung der Geisteswissenschaften vornehmen, um dann das Problem der Empirizität und Rezeptivität in den Geisteswissenschaften im Hinblick auf die Hermeneutik von Werken einerseits und auf das Verständnis von Handlungszusammenhängen andererseits ein wenig zu differenzieren. – Dabei werden wir uns exemplarisch mit den Konzeptionen zweier Autoren, derjenigen von Hans-Georg Gadamer und derjenigen von Max Weber, auseinandersetzen, die auf sehr unterschiedliche Weise und zu ganz verschiedenen Zeiten den Gang der Theoriebildung in den zugehörigen wissenschaftstheoretischen Überlegungen der Hermeneutik (und Theorie der Geschichtswissenschaft) einerseits, in den Sozialwissenschaften andererseits bestimmt haben.2 Dabei hätte der erstere sicherlich noch entschiedener als der letztere die Annahme, er verstehe sich als Wissenschaftstheoretiker, von sich gewiesen.3 chen; allein, dies würde die Tatsache verdecken, dass auch jede ,sekundäre‘, jede Meta-Intentionalität wiederum zum Gegenstand geisteswissenschaftlicher Untersuchungen werden kann. Unser Terminus soll durch nichts anderes definiert sein als durch das jeweilige Erkenntnisverhältnis, er nimmt dadurch, dass er die solche Objekt-Intentionalität vollziehenden bzw. erzeugenden Subjekte selbst zu Objekten empirischer Forschung macht, diesen Subjekten in keiner Weise ihre Subjektfunktion und schon gar nicht ihre Würde. Denn diese Vergegenständlichung findet schon darin ihre Grenze, dass, genau gesprochen, nur vergangene, sei es auch gerade erst vergangene, Intentionalität und Subjektivität zum Gegenstand der Forschung werden kann; aber das ist noch ein ,weites Feld‘, auf das wir erst später bei der Behandlung des Freiheitsproblems einen Blick werfen können (s. u. S. 312 ff.). 2 Wir beginnen mit der Konzeption Gadamers, nicht nur weil sie der Gegenwart nähersteht und wir in der Folge noch weiter bis zur Kantischen Transzendentalphilosophie zurückgehen wollen, sondern weil die bei Webers Konzeption zu behandelnden Probleme in einem bestimmten Sinne umfassender sind und ihre Lösung deshalb auf der Klärung einiger Aspekt der Hermeneutik aufbauen kann.

B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

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Gleichwohl können uns die Positionen gerade dieser beiden Autoren sehr gut als Ausgangspunkte für die Diskussion zentraler wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Probleme der Geisteswissenschaften dienen, die mit der Einnahme oder der Verfehlung der durch Meta-Intentionalität und Empirizität definierten geisteswissenschaftlichen Einstellung verknüpft sind. Wir werden bei der zuvor erforderlichen Klärung dieser Einstellung einen ,funktionalen‘ Begriff des Bewusstseins benutzen, der eine lange Tradition hat, aber seit Beginn des 19. Jahrhunderts, insbesondere seit den Bemühungen der Phänomenologie, durch einen ganz anderen Bewusstseinsbegriff überlagert worden ist, welcher insbesondere mancherlei Polemik von sprachphilosophisch argumentierenden Philosophen auf sich gezogen hat.4 Der für uns allein relevante, bei Descartes sich andeutende, bei Leibniz ausdrücklich thematisierte und schließlich für Kant zentrale funktionale Begriff des Bewusstseins (apperceptio – in vorläufiger Umschreibung: der reflexive Bezug auf jederlei perceptiones) nämlich ist nicht zu verwechseln mit dem erst Anfang des 19. Jahrhunderts aufgekommenen ,materialen‘ Begriff des Bewusstseins, der so etwas wie einen psychischen Innenraum meint, „in“ dem es Vorstellungen und psychische Prozesse gibt und der seitdem oft einfach als Ersatzbegriff für die Seele (oder den ,Geist‘ – mens, mind) gebraucht wird.5 Zur genaueren Differenzierung sollten wir darauf aufmerksam machen, dass Leibniz diesen funktionalen Begriff des Bewusstseins herausarbeitet, indem er, eine mangelnde Differenzierung bei den Cartesianern kritisierend, von dem Begriff der gegenstandsbezogenen Vorstellung („Perception, qui est l’état interieur de la Monade représentant les choses externes“) den des reflexiven Selbstbezugs unterscheidet („Apperception, qui est la Conscience, ou la connoissance réflexive de cet état interieur“6); aber schon bei Christian Wolff, der in seinen 3 Vgl. für Gadamer die Einleitung zu seinem Hauptwerk, „Wahrheit und Methode“, H I, S. 1; für Webers Selbstverständnis vgl. etwa die Relativierung der Funktion methodologischer Reflexion zu Beginn der „Auseinandersetzung mit Eduard Meyer“ in: Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (WL 215–290), S. 217; zu der Frage, ob man die in WL gesammelten Aufsätze im eigentlichen Sinne als die „Grundlegung einer Methodologie lesen“ dürfe, vgl. etwa die Vorbehalte von Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung, in: Zs. f. Politik, 29, 1982, S. 241–281, insbes. 246; dagegen Guy Oakes, Die Grenzen der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1982, Frankfurt a. M. 1990, S. 152. 4 Vgl. etwa die Rede von der „Bewusstseinsphilosophie und Erkenntniskritik der Neuzeit von Descartes bis E. Husserl“ (die in ihrem Rang als philosophia prima im 20. Jahrhundert von Sprachkritik und Sprachanalyse abgelöst worden sei) bei KarlOtto Apel, Sprechakttheorie und transzendentale Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen, in dem von ihm hrsg. Band „Sprachpragmatik und Philosophie“, Frankfurt a. M. 1976, (S. 10–273); vgl. auch Ernst Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt a. M. 1976, S. 41 ff. 5 Vgl. dazu A. Diemers Artikel „Bewußtsein“ im HWP, Bd. 1, Sp. 888–896. 6 Vgl. Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace, fondés en raison. Philosophische Schriften, hrsg. v. C. I. Gerhardt, Bd. VI, S. 600.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

deutschen Werken für conscientia und apperceptio ,Bewusstsein‘ setzt, ist eine Nivellierung zu beobachten, wenn er etwa zu Anfang seiner deutschen Metaphysik den reflexiven Charakter des Bewusstseins (die apperception bei Leibniz) durch dasjenige erweitert, was bei Leibniz im Unterschied dazu gerade perception heißt: „Wir sind uns unser und anderer Dinge bewußt, daran kann niemand zweifeln.“.7 Damit geht der spezifische funktionale Sinn des Terminus verloren. Während diese nivellierende Erweiterung bei Kant so gut wie keine Rolle spielt8, heißt es in Hegels Propädeutik § 2: „Das Bewußtsein überhaupt ist die Beziehung des Ich auf einen Gegenstand, es sei ein innerer oder äußerer.“9 Diese Erweiterung bestimmt auch heute den von Brentano und der Phänomenologie beeinflussten Wortgebrauch, wenn etwa erklärt wird, Bewusstsein sei immer ein Bewusstsein von etwas, ohne dass dieses „etwas“ näher spezifiziert wird – so dass der Begriff des Bewusstseins beinahe äquivalent wird mit dem der Intention (in dem früher angedeuteten phänomenologischen Sinne) und nur grammatisch anders konstruiert wird.10 Die nach der Proklamation der sog. „sprachphilosophischen Wende“ kritisierte ,Bewusstseinsphilosophie‘ ist schließlich, indem sie mit dem intentional nivellierten zugleich den ,materialen‘ Bewusstseins-Begriff des 19. Jahrhunderts voraussetzt und auch noch mit einem Cartesianischen Dualismus vermengt wird, bezogen auf die Philosophie des 18. Jahrhunderts weitgehend eine Erfindung 7 Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1720), I § 1, zitiert nach A. Diemer, Bewußtsein, Sp. 891. 8 Soweit ich sehe, nur in Vorlesungsnachschriften, vgl. etwa die Metaphysik-Nachschrift Pölitz, AA XXVIII, S. 226 f. – Ganz eindeutig ist im Kantischen Werk der Befund im Hinblick auf den alleinigen Gebrauch des ,funktionalen‘ und die Abwesenheit des ,materialen‘ Bewusstseinsbegriffs: Lässt man sich auf der Suche nach dem materialen Bewusstseinsbegriff von einer digital bereitgestellten Kant-Ausgabe die Stellen anzeigen, in denen die Fügung „im Bewußtsein“ (und „in dem Bewußtsein“) vorkommt, so stellt man fest, dass diese Fügung immer der Ergänzung durch einen Genitiv oder einen Infinitiv-Satz bedarf, welche angibt, ,wessen sich jemand bewusst‘ ist, etwa: seiner selbst, seines Daseins, seiner Würde, seines Unvermögens oder etwas getan zu haben (vgl. KrV A 365; B 429; B 431; IV 334; IV 411; V 38; V 98; V 112; V 113; V 127; V 161; VI 52; VI 74–75; VI 477; VI 485; VII 86–87; VII 123; VII 143; VII 399; VII 299; VIII 268; VIII 335; VIII 335; VIII 395–396; IX 35; ein ,dass‘Satz, wie er nach der Fügung „mit dem Bewußtsein“ belegt ist [VI 83; VI 115; VI 224], wäre ebenso möglich, kommt nach „in dem Bewußtsein“ wohl nur faktisch nicht vor). Das, was da ,Bewusstsein‘ heißt, hat also eine Art von Bezugs-Objekt, wie es der funktionale Bewusstseinsbegriff verlangt, das Bewusstsein birgt nicht in der Weise eines inneren ,Raumes‘ in sich einen ,Inhalt‘. 9 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden, Frankfurt a. M. 1970, Bd. 4, S. 204. 10 Vgl. dazu etwa Edmund Husserls Versuch, den Bewusstseinsbegriff zu klären, indem er zunächst „Bewußtsein als phänomenologischer Bestand des Ich und Bewußtsein als innere Wahrnehmung“ und schließlich „Bewußtsein als intentionales Erlebnis“ unterscheidet, vgl.: Logischen Untersuchungen, V. Unters., 1. u. 2. Kap., Husserliana [im Folgenden: Hua] XIX/1, S. 355–440.

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eben dieser Verkünder der „sprachphilosophischen Wende“. Denn der funktionale Begriff des Bewusstseins setzt keinerlei Theorie über eine seiende Innerlichkeit voraus (wie er sie auch nicht ausschließt), sondern meint eine Sinndimension unserer Intentionalität, die übrigens ebenso in der von der neueren Sprachphilosophie (etwa bei Austin11 und Searle12 oder auch bei Habermas13) so genannten ,pragmatischen Dimension der Sprache‘ vorausgesetzt wird: jene Dimension, die bestimmt, wie der Gegenstandsbezug, den die anderen, inhaltlichen Sinnmomente spezifizieren, gemeint ist, was durch die Aktualisierung der gegenstandsbezogenen Sinnmomente eines sprachlichen Satzes (des propositionalen Gehalts) vollzogen wird, bzw. was mit dessen Artikulation ,getan‘ wird (z. B. ob eine Frage gestellt oder eine Behauptung aufgestellt wird, ob durch eine Mitteilung eine Warnung ausgesprochen wird . . .).14 – Insofern ist es durchaus merkwürdig, dass gerade dort, wo man sich auf Austins Entdeckung dieser Sinndimension (mithin auf die durchaus verdienstliche Wiederentdeckung eines Stücks der neuzeitlichen Erkenntnis- und Subjektsphilosophie in einem sprachphilosophischen Rahmen) beruft, die Überwindung der „Bewusstseinsphilosophie“ propagiert wird.15 Man setzt offenbar voraus, Philosophen wie Kant hätten gemeint, unser Denken finde vorsprachlich, „im Bewusstsein“, statt; aber der für eine solche Meinung erforderliche Bewusstseins-Begriff war dem Autor der „Kritik der reinen Vernunft“ gänzlich unbekannt.16

I. Empirisches und transzendentales Bewusstsein Das Problem der Empirizität der Geisteswissenschaften haben wir bisher nur gleichsam an der Oberfläche ins Auge gefasst. Um seine ,Tiefendimension‘ auszuloten, empfiehlt es sich, das Ergebnis unserer Abgrenzung der empirischen Geisteswissenschaften von solchen Wissenschaften, welche Intentionalität in nicht-empirischer Weise thematisieren, noch ein wenig genauer zu fassen, indem wir die eigentümliche Veränderung unserer Einstellung zu einem intentionalen Phänomen analysieren, welche stattfindet, wenn wir es (statt es zu voll11 John Langshaw Austin, How to do things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955, Ed. J. O. Urmson, Oxford 1962. 12 John Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of language, Cambridge 1969. 13 Vgl. etwa in dem o. a., von K.-O. Apel hrsg. Band „Sprachpragmatik und Philosophie“ den Beitrag von Jürgen Habermas, Was heißt Universalpragmatik? (S. 174– 272). 14 Wir werde in unseren späteren Kapiteln Gelegenheit haben, auf diese Sinndimension näher einzugehen (s. u. S. 81 und 104 ff.). 15 Vgl. in dem Band „Sprachpragmatik und Philosophie“ den schon erwähnten Beitrag von Apel selbst und den von Habermas. 16 Urteile ohne Wörter zu denken, ist für Kant unmöglich, vgl. AA XXIV 934; vgl. dazu auch unsere näheren Ausführungen u. S. 215.

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ziehen) zum Gegenstand empirischer Wissenschaft machen. Diese Einstellungsänderung ist durchaus schon im vorwissenschaftlichen Alltag möglich. – Es wird sich dabei als aufschlussreich erweisen, wenn wir diese Einstellungsänderung zunächst beim Verhältnis zu unserer eignen Intentionalität in den Blick nehmen. Gehen wir von dem Fall aus, wir dächten (überzeugter Weise), dass der Politiker A ein vertrauenswürdiger Mann sei. Wir können dann unsere implizite Einstellung zu dem, was wir da denken, durch drei Momente spezifizieren: a) wir fassen diesen Gedanken als unseren eigenen auf, b) wir fassen ihn als Gehalt eines Aktes auf, den wir selbst vollziehen, c) wir fassen den Gedanken als gültigen, wahren Satz17 auf. Wir könnten diesen Gedanken, sozusagen im Selbstgespräch, auch zum Ausdruck bringen (,A ist ein vertrauenswürdiger Mann‘); wir könnten aber auch diese Einstellung selbst zum Ausdruck bringen (,ich meine‘ – oder in der klassischen Formulierung: ,ich denke, dass A ein vertrauenswürdiger Mann ist‘). – Dieselbe Einstellung hätten wir, wenn wir auf die Frage eines anderen hin behaupteten, dass A ein vertrauenswürdiger Mann sei. Wir könnten dabei wiederum zusätzlich unsere Einstellung zum Ausdruck bringen (,ich denke, dass [. . .]‘) oder gar zum Ausdruck bringen, was wir tun, wenn wir uns dem anderen gegenüber so äußern (,ich behaupte, dass [. . .]‘). Auch diese ,Performationsausdrücke‘ bringen mit dem sog. ,Handlungswissen‘ zugleich meine Einstellung zu dem Satz zum Ausdruck. Wir können daher auch sagen: der Sprechakt schließt (wenn er ehrlich ist) ein bestimmtes Bewusstsein ein, wobei der Terminus ,Bewusstsein‘ – hier in seiner ursprünglichen, funktionalen Bedeutung gebraucht – nicht irgend ein inneres ,Geschehen‘ oder gar eine Art von innerem Raum meint, sondern eben diese selbstbezügliche Einstellung, die Kant mit der Formulierung umschrieben hat: „Ich nenne sie [die Vorstellung: Ich denke] die reine Apperception, um sie von der empirischen zu unterscheiden, oder auch die ursprüngliche Apperception, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was, indem es die Vorstellung: Ich denke, hervorbringt, die alle andere muß begleiten können und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiter begleitet werden kann.“18 17 Den Ausdruck „Satz“ (das als gültig Gesetzte) benutze ich hier und im Folgenden als Bezeichnung für eine logische, nicht eine sprachliche Einheit, die im Bereich der Theorie sonst auch ,Proposition‘ genannt wird; aber es gibt auch praktische Sätze (z. B. Sollens-Sätze, für die gewöhnlich weder der Ausdruck ,Proposition‘ noch der Ausdruck ,Urteil‘ benutzt wird). Der Grund meiner Wortwahl ist einerseits, dass sie durchaus einem klassischen Sprachgebrauch entspricht (vgl. etwa Kant, AA VIII 193 f., Anm.), andererseits, dass es im Deutschen zur Bezeichnung dieses Gattungsbegriffs so recht keinen Ersatz gibt. 18 Vgl. KrV, B 132 AA III 108 f. – Kant hat bei seiner Formulierung mit der Schwierigkeit zu kämpfen, etwas zu bezeichnen, was – auch in der ,inneren‘ (schweigenden) Artikulation unseres Denkens – keineswegs selbst artikuliert wird, sondern nur artikuliert werden kann, genauer (vgl. unser Zitat): eine Artikulation hervorbringen kann. Deshalb sollte man sich auch nicht daran stören, dass er bei dem, was wir

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Unsere Einstellung enthält nach dem Gesagten a) ein ursprüngliches Selbstbewusstsein (Ich-Bezug), b) ein Vollzugs- und Erzeugungsbewusstsein (Bezug auf den Akt), c) ein Geltungsbewusstsein (Bezug auf den propositionalen Gehalt, den Urteilsgehalt, der im elementaren Falle des theoretischen Bewusstsein die Verknüpfung eines Subjektsbegriffs mit einem Prädikatsbegriff durch den Gegenstandsbezug enthält); und durch diese drei Momente übernehmen wir in bestimmtem Sinne die Verantwortung für diesen Gedanken bzw. diese Behauptung.19 Den Bewusstseinsmomenten entsprechen in den entsprechenden Äußerungsakten gewisse Sinnmomente, welche die neuere Sprechakttheorie unter dem Titel „illokutionäre Funktion einer Äußerung“ thematisiert: jene Funktion, die auch durch einen performativen Ich-Ausdruck artikuliert werden kann (in diesem Falle: ,ich behaupte, dass [. . .]‘). Wir nennen das durch diese drei Momente ausgezeichnete ursprüngliche Bewusstsein, den Kantischen Ausdruck aufnehmend, das ,transzendentale Bewusstsein‘.20 Unterscheiden wir nun von dieser Einstellung eine ganz andere Einstellung zu einem Gedanken bzw. einer Behauptung, durchaus zu unserem eigenen Gedanken, unserer eigenen Behauptung, an die wir uns lediglich erinnern. Wir könnten in diesem Falle etwa formulieren: „ich dachte, dass [. . .]“; und es bliebe dabei vielleicht offen, ob das, was wir damals gedacht haben, heute immer noch unsere Meinung sei.21 – Wir können das Bewusstsein unserer eigenen Denkakte und Gedanken in diesem Falle ein empirisches Bewusstsein nennen; hier, sozusagen vorsichtshalber, „Einstellung“ genannt haben, auch bedenkenlos von einer ,Vorstellung‘ spricht; das Wort ,Vorstellung‘ ist im 18. Jahrhundert ein Allerwelts-Hilfsterminus für jederlei intentionale Funktion. – Wir werden sogleich auf das Verhältnis dieses ursprünglichen Bewusstseins zum empirischen Bewusstsein zu sprechen kommen. 19 Das erste der genannten Momente nennt Kant die „analytische Einheit“ des Selbstbewusstseins, das dritte Moment die „synthetische Einheit“ des Bewusstseins vgl. KrV B 133 f.; AA III 109; dem zweiten von uns aufgezählten Moment entspricht in der Kantischen Analyse die Charakterisierung dieses Bewusstseins als „Actus der Spontaneität“ (vgl. KrV B 132; AA III 108). 20 Für Kenner der Husserlschen Phänomenologie dürfte klar sein, dass dieser an Kantischen Überlegungen orientierte Begriff nicht dasselbe besagt wie der Husserlsche Begriff des transzendentalen Bewusstseins, der ganz anders gebildet ist, nämlich – im Ausgang von dem Begriff des ,Bewusstseins als intentionalen Erlebnisses‘ (vgl. die in der obigen Fußnote 10, S. 37 erwähnten Klärungsversuche der V. Logischen Untersuchung) – durch die ,transzendental-phänomenologische Reduktion‘. Unser an Kant orientierter Begriff meint, wenn wir eine Reihe von Problemen bei der Vergleichung der Ansätze Kants und Husserls beiseite lassen, etwas, was eher mit dem zu verbinden wäre, was in Husserls ,Logischen Untersuchungen‘ ,Qualität‘, im ersten Buch seiner ,Ideen‘ ,thetischer Charakter‘ (Ideen I, §§ 114 u. 129, Hua III/1, S. 258– 262 u. 297 ff.) genannt wird (im Unterschied zur ,Materie‘, bzw. dem in den ,Ideen‘ sogen. ,noematischen Kern‘ – vgl. Ideen I, §§ 129–131, Hua III/1, S. 297–304). Es ist also dasjenige, was im ,empirischen Bewusstsein‘ (im Sinne unserer Unterscheidung) ,neutralisiert‘ wird. 21 Dass sich in der Formulierung schon eine gewisse Distanzierung verrät, mindestens eine Unsicherheit, lassen wir zunächst auf sich beruhen.

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es bezieht sich auf ein Faktum, das von unserem jetzigen Denken unabhängig ist, ein Faktum, mit dem wir uns neuerdings „identifizieren“ können, aber nicht müssen. – Jedes empirische Bewusstsein von einem solchen Faktum setzt nun zweierlei voraus: Einerseits ein (implizit ,begleitendes‘) transzendentales Bewusstsein; wir können nicht denken „ich dachte (tatsächlich), dass . . .“, ohne implizit zu denken: „ich denke (jetzt überzeugter Weise), dass ich dachte, dass . . .“ (spezieller und ,realistischer‘ formuliert: „ich dachte, wie ich mich jetzt erinnere, dass [. . .]“). Denken heißt: in präsentischer Form ein „ich denke (jetzt), dass . . .“ vollziehen.22 Das zeigt sich noch deutlicher, wenn wir uns fragen, wie denn die performative Artikulation einer entsprechenden Behauptung lautete. Die Performation einer Behauptung liegt nicht etwa in dem Ausdruck „ich behauptete, dass ich dachte“, sondern erst in einem „ich behaupte (jetzt), dass ich (damals) dachte, dass [. . .]“ vor. Andererseits: damit ich ein empirisches Bewusstsein von meinen eigenen Gedanken habe, muss mir über das hinaus, was ich jetzt tue (oder vollziehe), noch etwas ,gegeben‘ sein (ein ,Datum‘ – durch so etwas wie Gedächtnis, Erinnerung, eventuell durch Aufzeichnungen). Klammern wir die schwierigeren Fälle von Gedächtnis bzw. Erinnerung zunächst aus. Im Falle der schriftlichen Aufzeichnung ist offenbar das, was uns da gegeben ist, zunächst nichts als eine äußere sprachliche Form, die wir erst ,verstehen‘ müssen, damit wir das ehemals Gedachte wiederum denken können; aber wir können es entweder denken als bloßes Faktum eines früheren Gedankens (empirisches Bewusstsein), oder wir können es als unseren eigenen gegenwärtigen Gedanken denken (transzendentales Bewusstsein), für den die empirischen Daten lediglich ein Anlass sind. Es mag uns dabei nicht selten so gehen, dass wir zwischen den beiden Einstellungen, dem empirischen Bewusstsein früherer Gedanken und der transzendentalen ,Wiederholung‘ (dem Wieder-in-das-Vollzugsbewusstsein-Holen) derselben Gedanken, hin und her gehen, insbesondere, wenn wir bei der Lektüre auf ein uns jetzt nicht mehr Einsichtiges stoßen, wenn uns das ehemals (etwa vor langer Zeit) Gedachte ,fremd geworden‘ ist oder wenn uns gar das, was wir ehemals gedacht haben mögen, aus der Aufzeichnung nicht mehr eindeutig hervorzuge22 Wir können den Begriff des Transzendentalen zunächst durchaus in Anknüpfung an den vorkantischen Wortgebrauch erläutern: das transzendentale Bewusstsein ,übersteigt‘ (transscendit) in seiner allgemeinen Funktion jeden besonderen Bewusstseins,Inhalt‘ (jede gedankliche Bestimmung – so wie die scholastischen ,Transzendentalien‘ (das Eine, das Wahre, das Gute) alle besonderen Seinsbestimmungen übersteigen. – An den Kantischen Wortgebrauch anknüpfend können wir dann präzisieren: Weil das transzendentale Bewusstsein formale Bedingung alles besonderen Bewusstseinsgehalts (insbes. der Erfahrung) ist, lassen sich aus seiner Analyse schon ,vor‘ (unabhängig von) aller Erfahrung „Erkenntnisse a priori“ gewinnen: solche (Erkenntnis a priori ermöglichenden) Bedingungen heißen nach der berühmten Definition ,transzendental‘ (vgl. KrV B 25; AA III 43).

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hen scheint. – Wir alle kennen wohl Fälle des bloß noch empirischen Bewusstseins unserer ehemaligen Gedanken23 und andere Fälle, in denen unsere unveränderte Überzeugung ,wachgerufen‘ wird, unser transzendentales Bewusstsein den ehemaligen Gedanken wieder integriert. In jedem Falle aber ist das damalige transzendentale Bewusstsein von dem jetzigen unterschieden, als solches nicht mehr ,zugänglich‘ (falls das eine sinnvolle Ausdrucksweise ist), auch wenn wir uns noch so genau an die damaligen Überlegungen, an die Gründe, an den Vollzug von Schlüssen und Beweisen erinnern. Transzendental ist nur der jetzige, neue, spontane Vollzug. In einem noch zu klärenden Sinne zur ,Anschauung‘ bringen können wir uns den Gehalt unserer damaligen Denkakte und allenfalls deren Zeitverlauf inmitten der bemerkten äußeren und vielleicht inneren Umstände; unser damaliges transzendentales Vollzugbewusstsein ist eine notwendig vorauszusetzende Bedingung, Gegenstand unseres jetzigen Denkens, nicht einer irgendwie ,anschaulichen‘ Gegebenheit. Dieselbe Unterscheidung zwischen einem empirischen und einem transzendentalen Bewusstsein können wir nun auch auf unsere Einstellung gegenüber den Gedanken anderer anwenden. Da deren Vollzug bzw. Erzeugung24, deren ursprüngliches Bewusstsein, die Sache der anderen ist, können diese Gedanken uns nur aufgrund eines ,Datums‘ bewusst werden, im gewöhnlichen Fall aufgrund einer sprachlichen Äußerung oder (schriftlichen, technisch-akustischen) Aufzeichnung. Wir können sie nun einerseits als Faktum zur Kenntnis nehmen (So denkt also A), wir können sie aber auch als Belehrung, ,Information‘, aufschlussreiche Mitteilung in unser eigenes, transzendentales Bewusstsein integrieren. Lesen wir etwa ein Sachbuch, so wird der gewöhnliche Fall der sein, dass wir zwar eine Art von empirischem Hintergrundbewusstsein davon haben, dass es sich um Gedanken des Autors A handelt, aber unser Interesse ist doch ganz bei der ,Sache‘, über die dieser Autor schreibt; ja schon diese präsentischen Formulierungen drängen den eigentlichen empirischen Sachverhalt, dass der Autor nämlich zu einem bereits vergangenen Zeitpunkt diese Gedanken niedergeschrieben und vertreten hat, schon in den Hintergrund. Ganz ähnlich sind wir im lebendigen Gespräch zumeist nicht auf die Tatsache konzentriert, dass der Gesprächspartner dies oder jenes denkt und äußert, sondern darauf, was er uns sagt, das heißt: wir denken wie der andere an die Sache. Dies hat seinen Grund darin, dass unser Bewusstsein zuallererst Geltungsbewusstsein ist und in kognitiven Akten nicht bloß subjektive Geltung (für mich), sondern objektive 23 Das empirische Wissen wäre dann ,begleitet‘ von dem transzendentalen Bewusstsein dieses empirischen Wissens, wir könnten demnach den Ausdruck des propositionalen Gehalts, des empirischen Wissens und des transzendentalen Bewusstseins unterscheiden: ,ich dachteemp., wie ich jetzt meinem Tagebuch entnehmetr., dass ich ein guter Pianist werden könnteprop.‘. 24 Der Ausdruck „Gedanke“ kann umgangssprachlich nicht nur (wie meistens in der philosophischen Terminologie) das wiederholbare gedankliche Produkt (Noema), sondern auch den gedanklichen Vollzugsakt (Noesis) bezeichnen.

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und mithin intersubjektive Geltung beansprucht, seiner Funktion nach also eine gemeinschaftliche Sphäre der Intentionalität konstituiert. Erst wenn etwa das, was der andere denkt und sagt, dem widerspricht, was wir schon zu wissen glauben, treten das transzendentale Bewusstsein unserer eigenen Überzeugung und das empirische Bewusstsein von dem, was der andere über die Sache denkt, auseinander und der Gedanke des anderen (dass p) erhält in unserem transzendentalen Bewusstsein eine ,Vorzeichenänderung‘: ,ich denke (anders als A) dass nicht p‘, wobei der Ausdruck in der Klammer unser empirisches Bewusstsein des Gedankens von A andeuten mag. Diese Art von Prävalenz des transzendentalen Bewusstseins in unserer Begegnung mit den Gedanken anderer, bei der Lektüre oder bei Gesprächen, darf uns freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl unser zustimmendes als auch unser ablehnendes Bewusstsein dieser Gedanken ein, wenn auch noch so sehr im Hintergrund bleibendes, richtiges, begründetes empirisches Bewusstsein dieser Gedanken voraussetzen. Andernfalls haben wir nicht den anderen und seine Gedanken verstanden, sondern uns seine Gedanken sozusagen erfunden. – Hier liegt denn auch einer der wichtigsten Gründe dafür, von der naiven Kenntnisnahme der Gedanken anderer und der (sei es auch gelehrten) Auseinandersetzung mit ihnen zu einer empirisch-wissenschaftlichen Untersuchung überzugehen. Das heißt, dass wir gerade dort, wo wir an der Auseinandersetzung mit diesen Gedanken und also an der von ihnen thematisierten Sache interessiert sind, dieses Interesse zunächst einmal hintanstellen und statt dessen die auf die Sache bezogene fremde Intentionalität zum Gegenstand unserer Untersuchung machen. Fremde Intentionalität kennen wir nur aufgrund gegebener Äußerungen; und keineswegs jede Äußerung ist uns ,selbstverständlich‘. Empirische Geisteswissenschaften werden eben deshalb notwendig, weil es ,Nicht-Selbstverständliches‘ in der Welt intentionaler Phänomene gibt – und deshalb sind diese Wissenschaften wohl auch entstanden. Worauf aber beruht ein richtiges, begründetes empirisches Bewusstsein? – Beim empirischen Bewusstsein eigener Gedanken, selbst wenn sie nicht geäußert und aufgezeichnet worden sind, werden wir uns zunächst (einerseits) häufig recht sicher sein über das, was wir in einer bestimmten Situation (an die wir uns noch erinnern) gedacht haben – wie (andererseits) doch die Frage, was alles und was genau wir in der damaligen Situation gedacht haben, schwer zu beantworten sein wird. Das mag damit zusammenhängen, dass wir uns häufig eher der anschaulichen, insbesondere visuellen Momente einer erlebten Situation ganz gut erinnern mögen, an die sich dann (im jetzigen Erinnerungsakt) die Gedanken assoziieren. Aber wir werden nicht leicht Sicherheit darüber erlangen können, wie weit die so assoziierten Gedanken sich exakt mit den damaligen decken und ob sich in das Assoziierte nicht auch erst jetzt erzeugte Gedanken gemischt haben; noch skeptischer formuliert: ob wir uns unsere gedankliche Vergangenheit zurechtgebogen und erdichtet haben. Letzteres können wir sogar

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dann kaum ausschließen, wenn wir uns durchaus eines Gegensatzes zwischen unserer damaligen Meinung und unserer jetzigen Überzeugung bewusst sind: Was haben wir zur Identifikation des damals Gedachten zur Verfügung? Ohnehin scheint unsere gegenwärtige Überzeugung kein vorfindbares Faktum zu sein, sondern das, was wir sozusagen auf Befragung (durch uns oder andere) gerade jetzt erzeugen – in unserem transzendentalen Bewusstsein; zumindest scheint die eigene (schon früher erworbene) Überzeugung uns selbst nicht anders zugänglich zu sein.25 Äußern wir sie, dann allerdings wird das Geäußerte für uns – wie für andere – ein Gegenstand empirischen Bewusstseins, zu dem unser transzendentales Bewusstsein je wieder Stellung beziehen kann, von dem es sich distanzieren kann. – Wenn also empirische Geisteswissenschaften sich auf Selbstbeobachtung und Selbsterfahrung stützen wollten, wäre die Problematik der Vermischung von empirischem und transzendentalen Bewusstsein jedenfalls im Auge zu behalten. In dieser Hinsicht weniger problematisch scheint dagegen unser empirisches Bewusstsein fremder Gedanken zu sein. Nicht nur sind uns die Gedanken anderer ohnehin nur als geäußerte zugänglich, die lebendige Erinnerung anderer, das Reich ihrer Imagination, ist uns gänzlich verschlossen, kann uns also auch nicht zu gedanklichen Erdichtungen verleiten.26 An den fremden Äußerungen haben wir einen festen Halt. Allerdings droht nun das umgekehrte Problem: Worin genau bestehen eigentlich die fremden Gedanken, da es doch nicht einfach diejenigen sein können, die uns zu den bereffenden Äußerungen faktisch ,einfallen‘, die wir mit ihnen assoziieren? Und schlimmer noch: was soll es eigentlich heißen, dass uns zu gewissen Äußerungen ,Gedanken einfallen‘. Was sind das für Gedanken, wenn wir von den Äußerungen, die wir wahrnehmen, zu ihnen, die wir offenbar nicht wahrnehmen, übergehen; was kann das überhaupt für ein ,Übergehen‘ sein; und angenommen selbst, wir wüssten auf solche Fragen eine Antwort: sind die Gedanken, zu denen wir da übergingen, nicht (jedenfalls zunächst nur:) unsere Gedanken? Wir können doch nicht einfach davon ausgehen, dass die von anderen ausgedrückten Gedanken und die von uns mit dem Ausdruck assoziierten Gedanken dieselben sind. 25 Jede Zeugenbefragung vor Gericht, in der nach dem Situationsverständnis eines Zeugen zu einem früheren Zeitpunkt gefragt wird, könnte uns das Problem verdeutlichen. 26 Eher schon könnten uns die geäußerten Gedanken anderer zur Imagination der von ihnen erlebten Situationen in ihrer anschaulichen Fülle anregen; die Möglichkeit der Dichtung beruht weitgehend auf diesem Prinzip. Aber unsere Imagination, das können wir uns leicht klarlegen, ist nicht das, was der Autor geschaffen hat, das, was wir lesen, sondern das, was die Lektüre seines Textes in uns bewirkt (und vielleicht bei dem einen diese und bei dem anderen eine ganz andere Gestalt annimmt). Das schließt nicht aus, dass wir in dem, was wir lesen, Gründe finden, eine bestimmte Wirkung als die vom Autor beabsichtigte zu erschließen (und eine andere für eher unangemessen zu halten); aber in dem, was wir lesen, finden wir eben nur diese Gründe; wir finden dort nicht das, was aus ihnen allererst zu erschließen ist.

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Machen wir uns das Grundproblem des Erfassens von fremden Gedanken zunächst an einem Beispiel klar, in dem die Unterscheidung der eigenen und der fremden Gedanken besonders fraglich ist: Prähistoriker finden in der Wüste kleine Steine, die sie für Feuersteine halten. Feuersteine sind steinzeitliche Werkzeuge zur Erzeugung von Funken und Entzündung von Feuer. Sie haben physikalische Eigenschaften, die für sich genommen ein Gegenstand der Naturwissenschaft sind. Der Gedanke der Prähistoriker, diese Steine seien als Werkzeuge zur Erzeugung von Funken und Entzündung von Feuer brauchbar, macht die Steine, auch wenn der Gedanke völlig richtig ist, nicht zu Feuersteinen – in dem Sinne, in dem der Begriff von den Prähistorikern gemeint ist. Er macht sie überhaupt noch nicht zu einem geisteswissenschaftlichen Thema (sondern allenfalls zum Thema einer Technologie). Ein geisteswissenschaftliches Thema werden sie nur dadurch und insofern, als sie für Zeugnisse der Intentionalität ihrer Produzenten und Benutzer gehalten werden: Sie sind (gemäß dieser Annahme) von diesen als Feuersteine hergestellt und benutzt worden, was voraussetzt, dass diese Menschen sie als Feuersteine vorweg konzipiert und bei der Benutzung begriffen haben. Nicht um die Subjekt-Intentionalität der Wissenschaftler also, sondern die Objekt-Intentionalität der Steinzeitmenschen geht es. Aber woher wollen wir, wollen die Prähistoriker etwas von dieser Intentionalität wissen, zumal, wenn die Fundstücke isoliert, ohne andere Kulturzeugnisse, vorkommen? Gewiss, die Feuersteine haben eine ganz bestimmte, charakteristische Form; aus der Tatsache, dass Versuche, diese Form durch Zufallstechnik (Einfüllung von Steinbrocken in Beton-Mischmaschinen usw.) entstehen zu lassen, regelmäßig misslingen, mithin aus der statistischen Unwahrscheinlichkeit der Entstehung dieser Steinform, schließt man indirekt auf den Gebrauch als Feuerstein und auf die intentionalen Voraussetzungen dieses Gebrauchs. Diese Schlüsse erscheinen uns grundsätzlich als berechtigt, weil wir aus steinzeitlichen Kulturen eine Vielzahl anderer Zeugnisse besitzen, die auf die Intentionalität jener Menschen verweisen (Werkzeuge, Gefäße, Höhlenzeichnungen usw.) und die oft Ähnlichkeit mit späteren und sogar mit unseren Kulturgegenständen aufweisen, für die eine intentionalitätsbestimmte Kausalität bezeugt ist. Bei alledem aber beschränkt sich unsere Wahrnehmung – wenn wir von den Höhlenzeichnungen zunächst noch absehen – auf etwas, was ,an sich‘ bloß Naturgegenstand ist, der intentionale Gehalt selbst ist nicht sichtbar, er ist von uns, den Wissenschaftlern ,hinzugedacht‘. Wir müssen jedoch genau darauf achten, in welchem Sinne er ,hinzugedacht‘ ist: Es geht ja nicht einfach darum, dass wir den Stein als Feuerstein erkennen, gar ihn für ein zum Feueranzünden geeignetes Objekt halten und etwa bei Gelegenheit eines ,Überlebenstrainings‘ als solches benutzen. Es geht darum, dass wir den Gegenstand als etwas begreifen (Subjektintentionalität der Forscher), das andere, die steinzeitlichen Menschen, als Feuerstein begriffen haben, wir ihn also als Beleg für intentionale Akte auffassen, deren logischer Gehalt den Begriff des Feuersteins implizierte (Objekt-

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intentionalität, Intentionalität der erforschten Subjekte). Unser meta-intentionaler Begriff des Von-jemandem-als-ein-x-Begriffenen ist ein anderer als der primäre Begriff eines x. Unser Wissen über das steinzeitliche Geistesleben kann nicht sehr differenziert sein. Es liegt auf der Hand, dass die empirische Basis der Geisteswissenschaften eine kümmerliche wäre, wenn wir durchgehend auf solcherlei Rekonstruktion angewiesen wären. Der Verdacht, dass wir als Geisteswissenschaftler letztlich nur von unserer eigene Intentionalität ausgingen und unser angebliches Wissen aufs bloße Vermuten, mithin auf die bloße, durch nichts gerechtfertigte, Unterstellung fremder Intentionalität hinauslaufe, wäre nur schwer auszuräumen. – Nur wenn wir anderweitige Erfahrungen von der Intentionalität von Menschen haben, können geisteswissenschaftliche Forschungen mehr als bloße Vermutungen sein. Nur wenn wir in der Lage sind, Intentionalität nicht bloß indirekt zu rekonstruieren, sondern sie in bestimmter Weise, genauer: in einer in sich bestimmten Weise, zu rezipieren, können wir etwas Bestimmtes über intentionale Vorkommnisse in der Welt sagen. Nicht zufällig unterscheiden Historiker die Historie im engeren Sinne von der Prähistorie durch das Merkmal der schriftlichen Zeugnisse, also der differenzierten und konkreten Belege von Intentionalität. – In den Höhlenmalereien mögen wir in einem bestimmten Sinne ein Zwischenglied sehen, das Intentionalität zwar nicht begrifflich artikuliert, aber doch ,objektiviert‘, insofern da, für uns ,unverkennbar‘, anschauliche Analoga gegenständlicher Wirklichkeit nicht mechanisch ,entstanden‘ sind (wie Abdrücke von Lebewesen), sondern als zum (physischen) Objekt gewordene Produkte einer diese Wirklichkeit darstellenden Intentionalität aufzufassen sind. Nur drängt sich sogleich die Frage auf: was liegt uns da wirklich vor, wenn wir Intentionales vor uns zu haben meinen, und was rezipieren wir da wirklich, sei es im Falle anschaulicher Darstellungen, sei es im Falle schriftlicher Zeugnisse, sei es gar im Falle lebendiger sprachlicher Äußerungen? – Rezipieren wir nicht in Wahrheit bloß anschauliche Gegebenheiten, die für sich selbst keineswegs intentional sind? Ist es mithin nicht so, dass wir, die Rezipienten, auch in solchen Fällen alles Intentionale erst hinzu-denken, hinzu-assoziieren? – Ist die so „erschlossene“ Fremdintentionalität nicht wiederum eine bloße Subjektleistung, eine Art von Subjektintentionalität? Intentionalität auf Seiten des Objekts muss von der Intentionalität auf Seiten des Subjekts unterschieden und unterscheidbar sein, hatten wir oben gesagt. Wie also unterscheidet sich die (doch durch eine Subjektleistung erst ,hinzugedachte‘) Objekt-Intentionalität von der diese Intentionalität zum Gegenstand machenden Subjekt-Intentionalität selbst? Eines ist sicher: Objektivität kann wie in den Naturwissenschaften so auch in den Geisteswissenschaften keine Leistung des Objekts sein, nur das Subjekt kann Objektivität hervorbringen. Irritierend allerdings scheint die Tatsache zu

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sein, dass selbst das, was uns von fremder Intentionalität gegeben ist, seinem intentionalen Gehalt nach erst noch von uns gemacht werden muss. Freilich erinnern wir uns vielleicht, dass auch die moderne (in der Hauptsache empiristische) Theorie der Naturwissenschaften ein Basis-Problem kannte, bei dem die ,positive‘ Gegebenheit des Objekts immer mehr verschwand; und dass schon Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ zu zeigen versuchte, dass selbst Wahrnehmung mehr impliziert als Rezeptivität, dass erst die ,spontane‘ Synthesis des Verstandes eine ,Erscheinung‘ des Objekts hervorzubringen vermag, die zum Material des wissenschaftlichen Begreifens taugt. Was aber wäre eine ,Erscheinung‘ fremder Intentionalität? – Vor allen skeptischen Anwandlungen liegt es nahe, auf die Frage nach der Gegebenheit von fremder Intentionalität zu antworten: Mögen wir vielfach über fremde Intentionalität nur Vermutungen anstellen können, in sprachlichen Äußerungen jedenfalls ist uns fremde Intentionalität ,gegeben‘; wir rezipieren sie, wenn wir sie ,verstehen‘. Gewiss müssen wir dafür die betreffende Sprache beherrschen. Und mitunter stoßen wir auf Zweideutigkeiten. Da muss man notfalls nachfragen. Das ist bei Anwesenheit des Sprechers kein grundsätzliches Problem, denn im Allgemeinen kennen wir doch die Bedeutung oder den Sinn der Wörter und Sätze. Solcher Sinn, solche Bedeutungen sind das Material, die ,eigentlichen‘, nämlich selbst intentionalen Phänomene der Geisteswissenschaften. Allerdings, die Skepsis meldet sich wieder, sobald wir genauer wissen wollen, was das ist: ,Sinn‘, ,Bedeutung‘? – Bevor wir in der Richtung dieser Frage weiterüberlegen, halten wir fest, was wir aus der Erörterung der verschiedenen Bewusstseinseinstellungen entnehmen können: Wir können jetzt nämlich auch die Differenz zwischen den (empirischen) Geisteswissenschaften und den drei zuvor ,ausgeschlossenen‘ Disziplinen, Philosophie, Theologie und Jurisprudenz, genauer und prinzipieller bestimmen: In diesen drei Disziplinen ist die eigentümliche, immanente wissenschaftliche Aufgabe wesentlich mit der Integration der thematisierten Sinnphänomene (der philosophischen Theoreme, der biblischen und theologischen Aussagen, der juridischen Gesetze) in das eigene, transzendentale Geltungsbewusstsein verbunden (was gerade deshalb auch eine kritische Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Sinnphänomenen, zumal in der Philosophie, keineswegs ausschließt). Empirische Geisteswissenschaften dagegen untersuchen intentionale Phänomene als Fakten, mögen diese intentionalen Phänomene auch Geltungsansprüche theoretischer, praktischer, ästhetischer Art enthalten und mögen sie auch gerade daraufhin zu untersuchen sein, wie diese Geltungsansprüche in ihnen etabliert und begründet werden. Auch diese Geltungsansprüche sind Momente der Faktizität dieser Phänomene; und die Ansprüche gehören gleichermaßen zu den (für uns) offensichtlich gültigen wie zu den (für uns) offensichtlich ungültigen Phänomenen. Denn Geltungsansprüche besagen noch nichts über die Geltung der betreffenden Phä-

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nomene.27 Mag der Endzweck empirischer Geisteswissenschaften auch dies sein, durch Historie und Sozialforschung politisch-praktisch belehrt zu werden, durch Kunst- und Literaturwissenschaft den Weg zu neuem und besserem ästhetischen Genuss zu beschreiten, durch die Wissenschaftsgeschichte in der eigenen wissenschaftlichen Forschung einen neuen Ansatz oder einen sichereren Gang zu finden; der immanente Zweck dieser Wissenschaften ist es nach den bisherigen Überlegungen, uns zu sagen, was faktisch geschah und in der Gesellschaft geschieht, was in einem Kunstwerk wirklich vorliegt und welche Wege, seien es auch Irrwege, die Wissenschaft tatsächlich eingeschlagen hat. Diese (und sicherlich weitere) empirischen Fragen müssen beantwortet werden, gerade damit wir den Endzweck unserer Beschäftigung mit jenen geistigen Phänomenen, das für uns Bedeutsame in ihnen auszuschöpfen, verfolgen können – statt uns mit Gebilden unserer eigenen Phantasie zu beschäftigen. All dies und die alledem zugrundeliegende Voraussetzung, dass es in den Geisteswissenschaften um Wissen, mithin um Objektivität gehe, ist keineswegs selbstverständlich. Daran mag uns schon die eben bei der Erläuterung des Rezeptivitätsproblems gestellte Frage, was denn mit ,Sinn‘ und ,Bedeutung‘ gemeint sei, erinnern. Wir wollen uns diese Problematik zunächst im Hinblick auf die sogenannten hermeneutischen Wissenschaften, die in erster Linie auf Werke bezogen sind, verdeutlichen und dabei einen Blick auf eine der unseren offensichtlich entgegengesetzte Position werfen.

II. Hermeneutik als Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung?28 Befinden wir uns mit unserem ganzen Ansatz einer geisteswissenschaftlichen Empirie und der Frage nach deren Objektivität nicht in einer Sackgasse? Jagen 27 Über die Geltung philosophischer Aussagen aber kann (wenn überhaupt etwas) nur eine originär philosophische, über die Geltung theologischer Aussagen kann (wenn überhaupt etwas) nur die originär theologische Untersuchung entscheiden, nicht die empirisch forschende Historie der betreffenden Ideen, so wie über die Geltung von Rechtsgesetzen und Rechtsentscheidungen wissenschaftlich nur in einer rechtsdogmatischen, nicht in rechtsgeschichtlichen Untersuchungen entschieden wird. – Wir können hier auf die Frage, in welchem Verhältnis genau die wissenschaftlichen Untersuchungen in Theologie und Jurisprudenz zu den lebensweltlichen Institutionen (der Religionsgemeinschaften und Rechtsgemeinschaften) stehen, nicht näher eingehen; die Philosophie hat hier den Vorteil, nur mit der Vernunft (eines jeden), d.h. mit sich selbst, zu ,konkurrieren‘: woraus sich ihr Naturzweck eines „fortwährenden Belebungsmittels zum Endzweck der Menschheit“, nämlich die mit dem ewigen Frieden durchaus vereinbare, „streitbare Verfassung“ der Philosophie ergibt (vgl. Immanuel Kant, Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie, AA VIII 411–422, S. 417). 28 Wir benutzen im Folgenden einige Gedankengänge aus unserem Aufsatz „Der Erfahrungsbegriff der dialektischen Hermeneutik H.-G. Gadamers und die Möglichkeit der Geisteswissenschaften“, in: Logos, Neue Folge, Bd. 1, 1993/94, S. 152–183.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

wir nicht einem längst verabschiedeten Ideal nach? Verlangt ,hermeneutische Erfahrung‘ nicht etwas ganz anderes als wissenschaftliche Objektivität? Dies jedenfalls scheint eine weit verbreitete Meinung zu sein, seit Hans-Georg Gadamer sein Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ veröffentlichte hat, in dem u. a. der Begriff einer ,hermeneutischen Erfahrung‘ eine zentrale Rolle spielt, ein Begriff, der so gar nicht zu passen scheint zu dem von uns ins Spiel gebrachten, an der Idee einer empirischen Wissenschaft orientierten Begriff der Erfahrung. Verdeutlichen wir uns die prinzipielle Schwierigkeit, die der Gegenstand hermeneutischer Bemühungen einer wie immer zu konzipierenden ,Erfahrung‘ bietet, durch eine ontologische Überlegung: Soll etwas ein Gegenstand der Erfahrung sein, so muss es in der Erfahrungswelt existieren. – Existiert Homers ,Ilias‘, existieren die ,Elemente‘ Euklids? Was da realiter existiert und erfahrbar ist (etwa die Druckerschwärze der Zeichenfolgen), ist, so scheint es, nichts Geistiges; was ,daran‘ Geist ist (die Sinngehalte), das existiert nicht. Wie sollte es erfahrbar sein? – Eine paradoxe Erfahrung! Zweifellos haben einmal gewisse geistige Prozesse stattgefunden, in denen die ,Elemente‘ und die ,Ilias‘ entstanden sind, zweifellos haben Personen (oder eine Reihe von Personen) existiert, die sie abgefasst haben. Aber ganze Forschungsrichtungen, wenn nicht ganze geisteswissenschaftliche Disziplinen, wollen eben nicht diese Prozesse und Personen der Vergangenheit erforschen, sondern die Werke selbst; und sie betrachten jene auf die vergangene Wirklichkeit gerichteten Forschungen allenfalls als die Aufgabe von Hilfsdisziplinen. Die Werke aber haben (ihrem Sinngehalt nach) eine ,bloß mögliche‘ Existenz29, sie 29 Das ,bloß Mögliche‘ ist dasjenige, was zum einen nicht unmöglich, zum anderen aber weder wirklich noch notwendig ist. Bloß möglichen Sachverhalten fehlt eine Bedingung, die sie zu wirklichen Sachverhalten machen würde. Erkenntnistheoretisch relevant ist dieser Modus, wenn die Wirklichkeitsbedingung einer (notwendigen) Bestimmung des Objekts unvermeidlich von der Willkür des Erfahrungssubjekts abhängt. – Kant hat im modaltheoretischen 4. Hauptstück der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ (der „Phänomenologie“) gezeigt, dass die geradlinige Bewegung (im Rahmen der newtonschen Physik) als eine bloß mögliche aufgefasst werden muss, insofern das Urteil, ob der betreffende Körper bewegt sei oder nicht, vom gedachten Standpunkt des Beobachters (d.h. dem nicht nach objektiven Kriterien, sondern willkürlich zu wählenden Bezugssystem) abhängt (vgl. Kant, AA IV 555 u. B. Grünewald, Modalität und empirisches Denken. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Kantischen Modaltheorie, Hamburg 1986, S. 26 ff. und S. S. 70–77; vgl. auch ders., Modale Gegenstandsbestimmung und modale Reflexion bei Kant. Versuch einer Korrektur, mit Hinweisen auf modaltheoretische Überlegungen Fichtes, in: Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806, hrsg. v. A. Mues, Hamburg 1989, S. 41–57; wir drucken unten im Anhang einen Abschnitt aus diesen Aufsatz ab). – In analoger Weise können wir von der Existenz geistiger Produkte sagen, sie hänge von dem willkürlichen Entschluss der Rezipienten ab, sie verstehend zu verwirklichen. – Wir werden weiter unten zu zeigen versuchen, dass der Modalbegriff der bloßen Möglichkeit in mehreren Hinsichten als Schlüssel zum Verständnis der ,geistigen Welt‘ dienen kann.

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hängen in ihrem Dasein ab von dem willkürlichen Entschluss eines Erfahrungssubjekts, sie ,lebendig‘ werden zu lassen – im Verstehen.30 – Recht zweifelhafte Erfahrungsobjekte scheinen dies zu sein, auf die sich da ganze geisteswissenschaftliche Disziplinen beziehen. – Wie lässt sich bei solcher Erfahrung zwischen dem Erfahrungs-Objekt, insofern es um dessen Sinngehalt geht, und der Erfahrung des Subjekts, insofern darin zwar eine Wirkung des Objekts enthalten sein mag, aber der Sinngehalt des Objekts doch erst erzeugt werden muss, unterscheiden? Spätestens seit Hans-Georg Gadamers Buch „Wahrheit und Methode“ scheint sich in der Hermeneutik eine Tendenz immer mehr zu verstärken, die Grenze zwischen dem Werk und seiner Wirkung auf uns für illusorisch zu halten. Was wäre denn schon das Werk, so etwa fragt man, wenn es sich nicht in unserem Verstehen realisierte und also allein in seiner Wirkung auf uns lebendig würde, als Vermittlung zwischen uns und der ,Überlieferung‘ (wie die Gegenstandsseite des Verstehens mit Vorliebe genannt wird31). Wenn dies so ist, wenn das Werk und seine Wirkung auf uns nicht unterscheidbar sind, dann scheint die Aufgabe des Verstehens und der Interpretation keine Erkenntnisaufgabe sein zu können, und dann kann die Aufgabe der Hermeneutik, als der Lehre von Verstehen und Interpretation, nicht eine erkenntnisoder gar wissenschaftstheoretische sein. Hermeneutik hat vielmehr uns in der

30 Genau dies scheint Erwin Panofsky zu meinen, wenn er vom geisteswissenschaftlichen Verstehen sagt: „Der Geisteswissenschaftler, der auf seine Art mit menschlichen Handlungen und Schöpfungen umgeht, muß sich auf einen geistigen Prozeß synthetischer und subjektiver Natur einlassen: Er hat im Geist die Handlungen nachzuvollziehen und die Schöpfungen nachzuschaffen. In der Tat treten die wirklichen Gegenstände der Geisteswissenschaften durch eben dieses Verfahren ins Dasein. Denn es ist offenkundig, daß Philosophie- oder Skulpturhistoriker sich nicht insofern mit Büchern und Skulpturen befassen, als diese Bücher und Skulpturen materiell existieren, sondern insofern, als sie eine Bedeutung haben. Und gleicherweise offenkundig ist, daß sich diese Bedeutung nur dadurch erfassen läßt, daß man diejenigen Gedanken reproduziert und dadurch ganz buchstäblich ,realisiert‘, die in den Büchern ausgedrückt sind, und ebenso die künstlerischen Konzeptionen, die sich in den Statuen manifestieren.“ – Wenig später formuliert Panofsky dann das sich daraus ergebende Problem der Kunsthistorie: „Wie ist es also möglich, Kunstgeschichte als eine respektable wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, wenn schon ihre Gegenstände durch einen irrationalen und subjektiven Prozeß ins Dasein treten?“ (Panofsky, Kunstgeschichte als geisteswissenschaftliche Disziplin, in: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst [Meaning in the Visual Arts], Köln 1978, S. 19) – Der weitere Text des Aufsatzes zeigt dann, dass die ,Irrationalität‘ und ,Subjektivität‘ des Verstehensprozesses durch eine (wie Panofsky formuliert) „archäologische Forschung“ aufzuheben ist (ebda. S. 22). 31 Das Wort bezeichnet in dieser Redeweise also nicht den Prozess der Vermittlung, sondern in pauschaler Weise das zu Vermittelnde selbst, dessen Bedeutung auf diese Weise zum einen zwischen einem konkreten Werk und der umfassenden geistigen Welt der Vergangenheit hin und her schwankt und zum anderen (in Analogie zu einem in der Theologie üblichen Wortgebrauch – in der katholischen Variante auch als ,Tradition‘) einen Anstrich von Autorität erhält.

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rechten Weise in ein Vermittlungsgeschehen hineinzuführen, ein Geschehen, das gern durch die Metapher vom ,hermeneutischen Zirkel‘ charakterisiert wird. Wenn jedoch Gadamer die „phänomenologische Forschung“ seines Lehrers Heidegger als „Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung“ rühmt,32 kann man vermuten, das der Abwendung der Hermeneutik von der Frage nach der Erkenntnis eines vom Interpreten unabhängigen Objekts ein der philologischen Hermeneutik noch vorausliegendes theoretisches Konzept zugrunde liegt. Um diesen Hintergrund ein wenig aufzuhellen, wollen wir zunächst nachsehen, welche Bedeutung die Rede vom ,hermeneutischen Zirkel‘ in Heideggers philosophischer Hermeneutik, der „Hermeneutik des Daseins“33 einnimmt. 1. Zu Heideggers Rede vom ,hermeneutischen Zirkel‘ Die Rede vom ,hermeneutischen Zirkel‘ zielt, sehr allgemein gesprochen, auf ein Wechselverhältnis zwischen dem Verstehen eines Phänomens und dem Verstehen eines anderen, vorzugsweise eines umfassenderen Phänomens. Wir erinnern zur Verdeutlichung des Problems zunächst daran, dass Schleiermacher, auf den die Rede vom hermeneutischen Zirkel zurückgeht, nicht ohne Grund nur von einem ,scheinbaren Zirkel‘ gesprochen hat.34 An sich ist es nicht weiter erstaunlich und keine Besonderheit einer Hermeneutik, wenn das Wissen von einem Ganzen, das kein bloßes Aggregat, sondern eine funktionale Einheit darstellt, nur in wechselseitig sich ergänzenden Schritten, die von der Untersuchung des Einzelnen zur Untersuchung des Ganzen und umgekehrt voranschreiten, erfolgt. Es ist deshalb nicht erstaunlich und mitnichten ein Zirkel, weil bei jedem Schritt zwar der nächste Schritt formal schon ,vorgesehen‘ und in An32 Vgl. die Überschrift von Abschnitt I 3. des Zweiten Teils von „Wahrheit und Methode“: „Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung durch die phänomenologische Forschung“, H I 246. 33 Über das Verhältnis der Begriffe von Philosophie, Phänomenologie, Ontologie und Hermeneutik sagt Heidegger: „Philosophie ist universale phänomenologische Ontologie, ausgehend von der Hermeneutik des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen [1927] 101963, S. 38 (im Folgenden zitiert als: SuZ). 34 Vgl. F. D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hrsg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1977, S. 95: „Überall ist das vollkommene Wissen in diesem scheinbaren Kreise, dass jedes Besondere nur aus dem Allgemeinen, dessen Teil es ist, verstanden werden kann und umgekehrt. Und jedes Wissen ist nur wissenschaftlich, wenn es so gebildet ist.“ – S. 97: „Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden, und es muß deshalb eine kursorische Lesung, um einen Überblick über das Ganze zu erhalten, der genaueren Auslegung vorangehen. – 1. Dies scheint ein Zirkel, allein zu diesem vorläufigen Verstehen reicht diejenige Kenntnis des Einzelnen hin, die aus der allgemeinen Kenntnis der Sprache hervorgeht.“

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schlag gebracht wird (da das Einzelne von vornherein als Einzelnes eines Ganzen und das Ganze als Ganzes von Einzelheiten gedacht wird), aber der nächste Schritt dabei keineswegs inhaltlich vorweggenommen wird. Die Erforschung von Organismen wäre völlig unmöglich, wenn sie nicht in diesem ,Hin-undHer‘ voranschreiten würde (das nur mit einiger Großzügigkeit auch als ,Zirkel‘ umschrieben werden kann; andere Autoren haben das treffendere Bild einer Spirale gebraucht). Schon in Kants „Kritik der Urteilskraft“ kann man viel Instruktives über den Grund dieses Sachverhalts erfahren.35 Nun handelt es sich bei den Relationen, die Schleiermacher mit der Rede vom ,scheinbaren Zirkel‘ ins Auge fasst, um solche zwischen Aspekten auf der Gegenstandsseite der Interpretation sprachlicher Werke: etwa um Relationen zwischen der Sprache einer Zeit oder eines Sprachgebiets und der Sprache eines bestimmten Autors, oder zwischen einem einzelnen Textelement und dem Ganzen des Werkes, zwischen einer bestimmten Äußerung eines Autors und seiner gesamten Persönlichkeit usw. Zu beachten ist auch: wo Schleiermacher von einem ,subjektiven‘ oder gar von einem ,psychologischen‘ Aspekt spricht, wird immer der Autor des zum Gegenstand der Interpretation gemachten Werkes zum Thema gemacht, nicht dessen Interpret. – Gewiss, der Interpret soll sich nach Schleiermacher dem Autor ,gleichstellen‘, indem er dessen Wissen erwirbt, dessen Sprache beherrscht, aber vom Zirkel ist in diesem Zusammenhang bei Schleiermacher nicht die Rede. Heideggers Hermeneutik des Daseins dagegen ist nicht eine Theorie empirischen Verstehens, welches sich auf einen gegebenen hermeneutischen Gegenstand, z. B. ein Werk oder auch eine ganze bestimmte Kultur, bezöge. Sie begreift sich vielmehr als eine phänomenologische Selbstauslegung der konkreten Subjektivität überhaupt, deren Begriff jedoch durch den des ,Daseins‘ ersetzt wird, um nicht nur die neuzeitliche Entgegensetzung von Subjekt und Objekt zu überwinden36, sondern auch jeder Gleichsetzung dieses besonderen Seienden mit beliebigem anderen Seienden vorzubeugen. Das Dasein ist nämlich nach Heideggers Analyse „dadurch ontisch ausgezeichnet, dass es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“ und dass es „zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat“, was besage, dass es sich „in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein“ verstehe. „Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist.“37 Was heißt da ,verstehen‘ und was Hermeneutik, wenn vom Verstehen des eigenen Seins gesprochen wird? In dieser Hermeneutik geht es nicht mehr um ein Verhältnis zwischen einem umfassenden Ganzen und seinen funktionalen Mo35 36 37

Vgl. insbes. die §§ 64–66 der „Kritik der Urteilskraft“, AA V 369–377. Vgl. SuZ 59. SuZ 12.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

menten auf der Seite des empirisch gegebenen Verstehens-Gegenstandes, auch nicht um das Verhältnis eines umfassenden Bedingungszusammenhanges zu einer einzelnen Konkretisierung in einem empirisch gegebenen Produkt, sondern um die Existenz des ,Daseins‘ (damit zugleich auch des phänomenologisch reflektierenden Subjekts) selbst, und zwar in einer prinzipiellen, philosophischen Analyse, die als „phänomenologische Auslegung“ bezeichnet wird, und damit zugleich, gemäß dem Anspruch des Autors, als ein Stück transzendentaler Theorie.38 Das ,Dasein‘ erweist sich dabei nach Heideggers Analyse als ,In-derWelt-Sein‘, das heißt, es ist seinem Wesen nach auf eine Welt als ,Bewandtnisganzheit‘ bezogen, und diese ,Bewandtnisganzheit‘ ist nichts anders als das Bezugskorrelat der Existenz des ,Daseins‘. „Das dem Dasein zugehörige Seinsverständnis betrifft daher gleichursprünglich das Verstehen von so etwas wie ,Welt‘ und Verstehen des Seins des Seienden, das innerhalb der Welt zugänglich wird.“ Daher hängt einerseits „die Möglichkeit einer Durchführung der Analytik des Daseins an der vorgängigen Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt“, andererseits hat das Dasein neben dem ontischen und ontologischen Vorrang einen „dritten Vorrang als ontisch-ontologische Bedingung der Möglichkeit aller Ontologien“.39 – Wie immer es letztlich um die Hinlänglichkeit dieser Hermeneutik des Daseins als transzendentaler Theorie, die ihrem Anspruch nach auch zu einer Grundlegung alles Wissens und Erkennens taugen sollte, stehen mag, so ist es doch von vornherein klar, dass in dieser Hermeneutik Subjekt (Dasein) und Objekt (Sein, Welt, Bewandtnisganzheit) nicht unabhängig voneinander analysierbar sind – wenn wir denn von ,Subjekt‘ und ,Objekt‘ überhaupt sprechen können. Die Welt und das innerweltlich Seiende (als Zuhandenes40 samt dessen Grenzfällen) sind von vornherein als Träger von ,Bedeutsamkeit‘ gefasst, die – wie das eigene Seinkönnen des ,Daseins‘ – Gegenstand einer Auslegung, nicht 38 Vgl. insbes. SuZ 3 u. 13; zu dem transzendentalphilosophischen Anspruch des Heideggerschen Unternehmens vgl. die ersten beiden Kapitel von SuZ, insbes. S. 38; dieser Anspruch setzt zwar mit der Anknüpfung an phänomenologische Überlegungen den Husserlschen (und indirekt den Kantischen) Gebrauch dieses Ausdrucks voraus, zielt aber letztlich auf einen Begriff des Seins, insofern dieses das Sein bloßer Objekte (in Heideggers Terminologie: ,nicht-daseinsmäßiges Seiendes‘) und das Sein des Subjekts (des ,Daseins‘) noch ,transzendiere‘; Heideggers Gebrauch des Ausdrucks ,transzendental‘ greift damit vor allem auf den scholastischen Gedanken von den die Differenz zwischen Gott und Welt ,übersteigenden‘ Seinsbestimmungen (transscendentalia) zurück und ist eng verbunden mit seinem Gebrauch der Ausdrücke ,Ontologie‘ (für eine Theorie spezieller Seins-,Regionen‘) und ,Fundamentalontologie‘ (für die ,Analytik des Daseins‘, der in besonderer Weise der im Husserlschen und Kantischen Sinne ,transzendentale‘ Begründungsanspruch zugedacht wird). 39 SuZ 13. 40 ,Zuhanden‘ und nicht bloß ,vorhanden‘ sind in Heideggers Ausdrucksweise die Dinge der Welt, insofern sie von uns als zu einem bestimmten Gebrauch geeignet angesehen werden (oder allgemeiner: insofern wir mit ihnen einen bestimmten Umgang pflegen).

II. Hermeneutik als Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung?

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bloß der Beobachtung und begrifflichen Bestimmung eines von Intentionalität (außerhalb der Beobachtung und Bestimmung) unbetroffenen Objekts, sein können. Die ,Bedeutsamkeit‘ von etwas ist also nichts anderes als ein diesem ,Etwas‘ dank einer bestimmten pragmatischen Intentionalität zugedachtes Reflexionsprädikat, nicht ein Prädikat dieses ,Etwas‘ selbst. „Die Auslegung ist [. . .] die Ausarbeitung der im Verstehen entworfenen Möglichkeiten“ – sowohl für die Möglichkeiten des ,Daseins‘ als auch für die des ,zuhandenen‘ innerweltlich Seienden. Auch vom einzelnen innerweltlich Seienden heißt es daher: „Das innerweltlich Seiende überhaupt ist auf Welt hin entworfen, das heißt auf ein Ganzes von Bedeutsamkeit, in deren Verweisungsbezügen das Besorgen als In-der-Welt-Sein sich im vorhinein festgemacht hat. Wenn innerweltlich Seiendes mit dem Sein des Daseins entdeckt, das heißt zu Verständnis gekommen ist, sagen wir, es hat Sinn.“41 Hier ,hat‘ also nicht etwa ein Satz, ein Ausdruck oder ein Zeichen einen ,Sinn‘, sondern dasjenige, worüber ein Satz sprechen könnte, worauf jemand mit einem Ausdruck Bezug nehmen könnte. Wenn Heidegger dann fortfährt: „Verstanden aber ist, streng genommen, nicht der Sinn, sondern das Seiende, bzw. das Sein. Sinn ist das, worin sich Verständlichkeit von etwas hält.“, so schließt dieser Gebrauch der Ausdrücke ,Verstehen‘ und ,Sein‘ von vornherein die Möglichkeit aus, eine Differenz zwischen dem intentionalen Bezug auf den Gegenstand und dem reflexiv-verstehenden Bezug auf diesen Bezug begrifflich zu fassen.42 Auch da, wo die Analyse zur Spezifikation und Exemplifikation der allgemeinen Strukturen übergeht und die Fälle bedenkt, dass ,fremde‘, noch nicht mit einer Bedeutsamkeit belegte, Weltstücke in den Horizont des Subjekts eintreten, läuft die Analyse darauf hinaus, dass die Objekte von vornherein unter dem „Vorgriff“ der allgemeinen Strukturen (der möglichen Brauchbarkeit, Gefährlichkeit usw.) begegnen; und selbst eine vermutete Unbrauchbarkeit, das Reduziertsein auf die bloße ,Vorhandenheit‘, integriert sie (kraft dieser GrenzfallAuffassung) in den ,Bewandtniszusammenhang‘ des ,Daseins‘, in seine Welt. Wir befinden uns in einem geschlossenen subjektiven ,Kreis‘, in dem kein Moment unabhängig vom anderen, insbesondere die Welt nicht unabhängig vom 41

SuZ 151. Man kann darin eine Tendenz zur Verdrängung des Geltungsproblems sehen, die schon in den Schwierigkeiten der Husserlschen Phänomenologie, den Sinn ihres transzendentalen Idealismus auf den Begriff zu bringen, erkennbar ist und wohl auf den unzureichenden Versuch von Husserls ,Logischen Untersuchungen‘, das Verhältnis zwischen den Begriffen der Wahrheit und des Seins zu bestimmen, zurückweist; vgl. dazu B. Grünewald, Der phänomenologische Ursprung des Logischen. Eine kritische Analyse der phänomenologischen Grundlegung der Logik in Edmund Husserls „Logischen Untersuchungen“, Kastellaun 1977, S. 64–106; für das Verhältnis zwischen Husserls und Heideggers Wahrheitskonzeptionen vgl. Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967. 42

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

Weltentwurf des Subjekts, begriffen werden kann; denn woher sonst käme der begriffliche ,Sinn‘ dieses Begreifens als aus dem ,Vorgriff‘ des Subjekts selbst: „Sinn ist das durch Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff strukturierte Woraufhin des Entwurfs, aus dem etwas als etwas verständlich wird.“ 43 „Verständlich“ wird hier also nicht der Sinn, sondern das Weltstück (das ,Zuhandene‘), indem es „als etwas“ erfasst wird; und dieses Erfassen (wie wir, einen neutralen Ausdruck suchend, formulieren) ist ein Begreifen, das sich auf die naive In-BezugSetzung alles Gegebenen auf das eigene Interesse beschränkt. Das ,Verständnis‘ des innerweltlichen Seienden und der ,Welt‘ ist also kein Verstehen einer vorgegebenen Intentionalität, kein empirisches Bewusstsein von Sinn, sondern nichts als das transzendentale Bewusstsein eines pragmatisch beschränkten Begreifens. Heidegger exemplifiziert seine Reduktion der objektivierenden (und deshalb ,abkünftig‘ genannten) Aussagen auf das ursprüngliche Weltverständnis am „Beispiel ,der Hammer ist schwer‘“, das er auf die normalerweise gar nicht artikulierten Sätze wie „,Der Hammer ist zu schwer‘ oder eher noch: ,zu schwer‘, ,den anderen Hammer!‘“ zurückführt. Heidegger fährt fort: „Der ursprüngliche Vollzug der Auslegung liegt nicht in einem theoretischen Aussagesatz, sondern im umsichtig-besorgenden Weglegen bzw. Wechseln des ungeeigneten Werkzeuges, ,ohne dabei ein Wort zu verlieren‘. Aus dem Fehlen der Worte darf nicht auf das Fehlen der Auslegung geschlossen werden.“44 So wie schon der Begriff des ,Verständnisses‘ nicht zwischen Gegenstand und Bezug auf den Gegenstand unterscheiden lässt, so macht Heidegger nun auch durch seinen Auslegungsbegriff keinen Unterschied zwischen naivem Verstehen und reflektierter Bestimmung eines Sinnes. Die Hermeneutik des Daseins beschreibt den unreflektierten Umgang des Menschen mit seiner durch sein pragmatisches Interesse ,definierten‘ Welt. Auch das Subjekt der Auslegung ist von vorneherein ein Moment dieser ,Lebenswelt‘45. Der ,hermeneutische Zirkel‘ umschließt die Welt und die Existenz des ,Daseins‘. Wir müssen hier nicht die Frage beantworten, wie brauchbar diese ,Hermeneutik des Daseins‘ als transzendentalphilosophische Theorie sein kann.46 Nun 43

SuZ 151. SuZ 157. 45 So der Titel, den Edmund Husserl dem durch reduzierende Abstraktion zu gewinnenden Sinnhorizont menschlichen Bewusstseins gab, der ihm freilich nur als Durchgangsstufe zu einer wahrhaft transzendentalen Reduktion galt; vgl. vor allem Edmund Husserl: Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Den Haag 1954 (Husserliana Bd. VI), insbes. Teil III, Hua VI 105–193. – Zu den in diesem Konzept neben plausiblen Klärungen des Verhältnisses von Wissenschaft und Lebenswelt auch angelegten Zweideutigkeiten vgl. Hans Wagner, Husserls zweideutige Wissenschaftsphilosophie, in: ders., Kritische Philosophie, Würzburg 1980, S. 397–408 (zuvor engl. als: Husserl’s Ambiguous Philosophy of Science, in: The Southwestern Journal of Philosophy. Vol. V, 1974, p. 169–185). 46 Es ist zu befürchten, dass eine phänomenologische Theorie des Daseins, der bloßen Faktizität des Subjekts, wenn sie sich zur Transzendentalphilosophie aufwirft, ei44

II. Hermeneutik als Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung?

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hat aber schon Heidegger in „Sein und Zeit“ an einigen Stellen so getan, als ließe sich jenes in seiner Hermeneutik des Daseins dargestellte Zirkel-Verhältnis ohne weiteres auch in der philologischen und historischen Interpretation wiederfinden, ja als seien letztere nur ,abgeleitete Weisen von Verstehen und Auslegung‘, ein empirischer Anwendungsfall des fundamentalen Zirkels in der Hermeneutik des Daseins: „In jedem Verstehen von Welt ist Existenz mitverstanden und umgekehrt. Alle Auslegung bewegt sich ferner in der gekennzeichneten Vor-struktur. Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muß schon das Auszulegende verstanden haben. Man hat diese Tatsache immer schon bemerkt, wenn auch nur im Gebiet der abgeleiteten Weisen von Verstehen und Auslegung, in der philologischen Interpretation.“47

Die Aufgabe einer transzendentalen Selbstauslegung, in der die Bedeutsamkeit der eigenen ,Welt‘ zum einen selbstverständlich auf die eigene Existenz und das in ihr enthaltene eigene Vorverständnis des auslegenden Subjekts zurückweist, zum anderen auch von vornherein auf die allgemeinen Strukturen menschlicher Existenz bezogen ist, wird von Heidegger also mit der Aufgabe des Verstehens und der Auslegung eines empirisch gegebenen Werkes parallelisiert. Dass im letzteren Falle der Autor und seine ,Welt‘ gerade nicht die ,Welt‘ des um Verständnis bemühten Interpreten ist und jene Welt des Autors deshalb keineswegs auf das Vorverständnis des Interpreten zurückweist, wird dabei unterschlagen und daher die Differenz zwischen dem transzendentalen Bewusstsein des im Weltbezug selbst erzeugten Sinngehalts und dem empirischen Bewusstsein vorgegebenen Sinnes eingeebnet. Bei dem Übergang vom einen zum anderen geht daher auch die eigentlich Pointe des Schleiermacherschen Zirkel-Gedankens verloren. Diese besteht ja gerade in der Einsicht, dass da ein Wechselverhältnis auf Seiten des auszulegenden Gegenstandes, sei es innerhalb des Werkes, sei es in dessen Relation zu seiner ,Welt‘ oder auch zur Persönlichkeit des Autors vorauszusetzen ist, an dem der Interpret als solcher noch keinen Anteil hat, das er sich eben deshalb erst als ein Fremdes aneignen muss, immer auf der Hut, nicht seine eigenen, anderweitig erworbenen Vorstellungen mit diesem fremden ,Bewandtniszusammenhang‘ zu verwechseln. Gerade wenn er sich durch Erforschung der fremden Welt dem Autor ,gleichstellt‘, darf die fremde Welt nicht aufhören in ihrer Andersheit identifizierbar und unterscheidbar zu sein; das Sich-Gleichstellen muss

nen zureichenden Begriff der Erkenntnis und den eines Gegenstandes, der von der Konkretion der Existenz dieses Daseins unabhängig wäre, nicht mehr denken kann. Zum systematischen Ort einer Philosophie der Faktizität des Subjekts innerhalb einer transzendentalen Reflexion vgl. Hans Wagner, Philosophie und Reflexion, München/ Basel (1959) 31980, §§ 29–31. 47 SuZ 152.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

auch ein Moment der Abblendung oder Einklammerung der eigenen Welt enthalten. Heideggers Übertragung des den Auslegenden einbeziehenden Zirkelverhältnisses auf die empirische Hermeneutik ist eine metábasis eis állo génos. Gadamer hat diesen Schritt Heideggers mitvollzogen48 und die sich daraus ergebenden Zweideutigkeiten zu einer eigenen Theorie der „hermeneutischen Erfahrung“ ausgebaut, die wir nun etwas genauer betrachten werden. 2. Gadamers Anknüpfung an Heideggers ,hermeneutische Phänomenologie‘ So wie Heidegger uns ganz allgemein davon überzeugen will, dass Erkennen und Urteilen unter dem Prinzip der Objektivität nur abkünftige Modi eines durch „Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff“ strukturierten Welt-Verstehens und -Auslegens seien, so möchte Gadamer uns im Anschluss an Heidegger von der ,Vorstruktur des Verstehens‘ von Texten und Werken überzeugen. a) Die Perspektive des lebensweltlichen Verstehens Machen wir uns zunächst die Perspektive klar, aus der eine solche Einstellung ganz plausibel erscheint. Wenn wir uns in einem alltäglichen Verstehensprozess befinden, etwa bei der Lektüre eines Buches oder in einem Gespräch, interessiert uns zumeist nicht der gelesene Text, der gehörte Wortlaut, auch nicht der Sinngehalt des Textes beziehungsweise des Wortlauts, sondern das, wovon die Rede ist, der Gegenstand, über den, oder das Problem, von dem gesprochen wird. Der Text, der Wortlaut ebenso wie deren Sinn sind sozusagen die Werkzeuge, mit denen wir uns etwa durch ein Sachbuch belehren lassen oder in einem Gespräch etwas (eine Neuigkeit) mitteilen, zu einer Veranstaltung einladen oder zu einer gemeinsamen Aktion auffordern lassen. Wir bedienen uns der Werkzeuge so selbstverständlich, weil die Sachen, von denen sie handeln, die Menschen, mit denen wir darüber kommunizieren und wir selbst zu einer gemeinsamen Lebenswelt gehören. Man kann aus dieser Perspektive gut ,verstehen‘49, dass unser lebensweltliches Verstehen durch eine bestimmte Vorstruktur bestimmt ist: Wir geraten in den Prozess des Verstehens unter dem Vorzeichen eines bestimmten Interesses, einer ,Vorhabe‘ (in Heideggers Sprechweise), wir stehen unter ganz bestimmten Erwartungen, einer ,Vorsicht‘, z. B. dass das, was ein anderer sagt oder wir jetzt 48

Vgl. SuZ § 32 u. 63 und Gadamers Bezugnahme in H I 270. Wir setzen die Anführungszeichen hier, weil die besondere, über die bloße Rezeption hinausweisende Bedeutung, welche das Wort hier annimmt, gerade die ist, die Gadamer bevorzugt, wie sich im Folgenden zeigen wird. 49

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lesen werden, unserer ,Vorhabe‘ irgendwie entsprechen werde, und wir machen auf das, was nun kommt, schon sozusagen einen ,Vorgriff‘, dass nämlich der Kommunikationspartner bzw. der Autor (da er wie wir unsere Sprache beherrscht) das, was er sagen will, auch richtig ausdrücken werde. Ja, wenn wir unseren Autor oder unseren Gesprächspartner schätzen, wenn wir darauf Wert legen, uns mit unserem Gesprächspartner zu verständigen, werden wir vorab erwarten, dass er etwas Sinnvolles, gar etwas Richtiges, Wahres sagen wird. – So geschieht faktisch erfolgreiches Verstehen und erfolgreiche Verständigung. Man kann durchaus sagen, dass die vor allem in dem letzten Punkt sich ausdrückende sympathetische Haltung auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Texten eine gewisse Bedeutung besitzt. Warum sollte es nicht förderlich für unser Verständnis sein, wenn wir an der im Text verhandelten Sache interessiert sind? Wie könnte es anders sein, als dass wir mit bestimmten Erwartungen und bestimmten Kenntnissen etwa bezüglich der Sprache des Textes an den Text herangehen? Wie sollten wir einen Text verstehen, wenn sozusagen unsere erste Hypothese nicht die wäre, dass der Text etwas Sinnvolles auf verständliche Weise sage. Gerade bei schwierigen Texten, wenn wir beim Verstehen zunächst ,nicht mehr weiter kommen‘, bewährt sich sicher häufig die alte hermeneutische Regel, dass wir nach einer sinnvollen, plausiblen Interpretation suchen sollen, eine Regel, die auch principium caritatis (principle of charity) genannt wird, und die Gadamer den Vorgriff auf Vollkommenheit nennt.50 Wir sehen also: der Interpret selbst kann bei der Beschreibung dieses Prozesses nicht vernachlässigt werden. Denn das Urteil, welche Interpretation etwas Wahres oder auch nur etwas Sinnvolles zutage fördert, fällt der Interpret auf der Grundlage seines Vorwissens. b) Abgrenzung gegen Schleiermacher und Dilthey Bemerkenswert ist nun aber, wie Gadamer sein von Heidegger inspiriertes Verständnis des hermeneutischen Zirkels gegen das von Schleiermacher und Dilthey tradierte Verständnis abgrenzt. Die ,subjektive‘ Seite des Schleiermacherschen Zirkels (wonach der Text als „Manifestation eines schöpferischen Augenblicks in das ganze des Seelenlebens seines Autors“ gehöre) dürfe „wohl ganz beiseite gesetzt werden“. Gadamers Hinweis, es gehe nicht darum, sich „in die seelische Verfassung des Autors“ zu versetzen, sondern „in einer Dimension des Sinnhaften“ sich „in die Perspektive, unter der der andere seine Meinung gewonnen“ habe, zu versetzen, enthält eine auf den ersten Blick ganz 50 Vgl. H I 299; Oliver R. Scholz hat u. a. auch die Geschichte dieser Interpretationsregel in ihren verschiedenen Ausformungen umfassend nachgezeichnet in: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen der Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 22001; dort (S. 134–141) auch ein Abschnitt über Gadamers Hermeneutik und speziell den „Vorgriff auf Vollkommenheit“.

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einsichtige Klarstellung.51 Auch der Erläuterung, dies heiße, „das sachliche Recht dessen, was der andere sagt, gelten zu lassen suchen“52, mag man nicht sogleich widersprechen. Wenn Gadamer dann hinzusetzt: „Wir werden sogar, wenn wir verstehen wollen, seine Argumente noch zu verstärken trachten. So geschieht es schon im Gespräch.“, erinnern wir uns vielleicht an unsere eigenen Versuche, philosophische Autoren zu verstehen. Allerdings kann uns dabei auch der Gedanke kommen, dass solche mit-philosophierenden Versuche leicht in Gefahr geraten, den Autor „besser zu verstehen als er sich selbst verstand“ und eher die Philosophie des Interpreten selbst als die des zu interpretierenden Textes darzulegen. Die Philosophiegeschichte ist voll von Beispielen, mögen die dem Fortschreiten der Philosophie auch nicht immer geschadet haben.53 Nur ist das Fortschreiten der Philosophie nicht dasselbe wie der Fortschritt im Verständnis eines Textes, es kann durchaus, auch bei einem philosophischen Text, von dessen Verständnis wegführen (wobei auch wohl mehr verloren als gewonnen sein kann). Überhaupt können einem Bedenken kommen, ob die Orientierung an der Situation des Gesprächs, die Gadamer im Folgenden noch stärker herausarbeitet, der Problematik des Textverstehens angemessen sei. Dabei wird die Tatsache vernachlässigt, dass nicht ein Text, sondern nur dessen Autor ein Gesprächspartner sein könnte, so wie (in unseren früheren Beispielen) etwa ein Naturwissenschaftler die Ausführungen eines Fachkollegen versteht, zu ihnen Stellung nimmt und auf diese Weise schriftlich oder auch mündlich mit ihm ins Gespräch kommt. Mit dem Fachkollegen sich in der Sache ,verstehen‘ heißt aber eher, mit ihm einer Meinung sein oder werden, als seine Überlegungen oder gar Sätze verstehen. Letzteres ist zwar im Normalfall mitgemeint, aber in der Alltagskommunikation mag man sich sogar in der Sache verstehen, ohne dass viele Worte gefallen sind. Wichtiger aber ist: Wir sind bei dem „Sich-in-derSache-Verstehen“ in jener Bewusstseins-Einstellung gegenüber dem Sinn des Textes, die wir als ,transzendentales Bewusstsein‘ des Sinnes (in der intentio recta auf die ,Sache‘) herausgearbeitet haben. Diese Einstellung ist diejenige, die einer Wissenschaft von den betreffenden Sachen zugrunde liegt, aber sie setzt schon voraus, dass wir den betreffenden Text verstanden haben; deshalb ist sie noch keineswegs für eine Wissenschaft von der intentionalen Bezugnahme auf diese Sachen zureichend.

51 Dieser Klarstellung hätte vielleicht auch Schleiermachers und Diltheys Zustimmung gefunden. 52 Vgl. H I 297. 53 Vgl. die Stelle unseres berühmten Zitats in der „Kritik der reinen Vernunft“ B 370; AA III 246, wo Kant seiner ,Neuinterpretation‘ des Platonischen Ideenbegriffs freilich ausdrücklich die Klausel voranschickt: „Ich will mich hier in keine litterarische Untersuchung einlassen, um den Sinn auszumachen, den der erhabene Philosoph mit seinem Ausdrucke verband.“

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Auch in einem Gespräch müssen wir zwar immer schon etwas verstehen; aber wenn wir missverstehen, lässt sich das bei gutem Willen der Gesprächspartner durch zusätzliche Erläuterungen korrigieren; der jeweilige Sprecher wie der Hörer können durch Nachfragen das Verständnis des jeweils anderen kontrollieren. Der Sprecher selbst kann sogar das, was er gesagt hat, jederzeit ergänzen, korrigieren, präzisieren, damit der Hörer nicht nur versteht, was er gesagt hat, sondern was er sagen wollte und mehr noch, was er sagen will. Und der Hörer kann durch Kontrollfragen (oder auch durch ein beiläufig zum Ausdruck gebrachtes Missverständnis) den Sprecher jederzeit zu solch zusätzlicher Hilfe herausfordern. – All diese Vorteile kann der Rezipient abgeschlossener Werke nicht genießen, obwohl gerade diese ihm keineswegs immer ,selbstverständlich‘ sind. Eben dies ist ja der Grund, warum die Menschen vom lebensweltlichen Gebrauch der Texte zu ihrer wissenschaftlichen Erschließung übergegangen sind. Schließlich ist zu bedenken: das Werk ist fertig, der Autor hat es abgeschlossen und er ist, selbst wenn er noch lebt, in gewissem Sinne ein Interpret wie jeder andere.54 – Entscheidend aber ist vor allem, dass der Sinn und Zweck des Gesprächs gerade darin liegt, dass beide Partner ihre Gedanken einander mitteilen, wozu auch die Möglichkeit gehört, dass jeder der beiden den anderen in seinen Gedanken beeinflusst oder aber sich dessen Gedanken ,zu eigen macht‘, und zwar schon in dem, was er sagt; es kommt unter Umständen, weil es um eine gemeinsame Sache geht, gar nicht so sehr darauf an, wer was ins Gespräch ,eingebracht‘ hat. Übertragen wir aber den Sinn und Zweck des Gesprächs auf unseren Umgang mit abgeschlossenen Werken, dann muss es völlig unausgemacht bleiben, ob das, was wir da ,verstehen‘, nicht das Produkt unserer (sei es auch genialen) Phantasie ist.55 Die Orientierung an der Situation des Gesprächs zeigt sich noch deutlicher, wenn Gadamer auch Schleiermachers Darstellung des Zirkels von Ganzem und Teil kritisiert („Auch die objektive Seite dieses Zirkels, wie sie Schleiermacher beschreibt, trifft nicht den Kern der Sache.“) und dafür als Grund angibt: „Das Ziel aller Verständigung und alles Verstehens ist das Einverständnis in der Sa54 Dies betont Gadamer selbst, wenn er gegen den Gedanken polemisiert, die Intention des Autors sei ein Maßstab für die Interpretation – und statt dessen den Sinn des Textes durch die „geschichtliche Situation des Interpreten mitbestimmt“ sein lassen will (vgl. H I 301 f.). – Wir kommen auf diese Wendung zurück (s. u. S. 70). 55 Auch wenn man Gadamer einräumt, dass wir vor aller geisteswissenschaftlichen Einstellung, bei der Lektüre etwa eines theoretischen Werkes, zunächst eine ,gesprächs-analoge‘ Einstellung gegenüber dem Werk bzw. seinem Autor einnehmen, so können wir doch schon dabei nicht die technischen Vorzüge der echten Gesprächssituation in Anspruch nehmen. Gadamer verwechselt zwar nicht das Verstehen von Texten mit dem Verstehen in einem natürlichen Gespräch, aber er scheint die prinzipiellen Differenzen zwischen beiden Arten des Verstehens zu unterschätzen; diese Differenzen hat in einer minutiösen Analyse Thomas M. Seebohm herausgearbeitet; vgl.: Zur Kritik der Hermeneutischen Vernunft, Bonn 1972, insbes. das 3. Kapitel: „Objektives Verstehen in Dialogen und objektives Verstehen von Texten“, S. 85 ff.

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che.“ Die Hermeneutik habe „von jeher die Aufgabe, ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis herzustellen“.56 Die „Vorstruktur des Verstehens“ nach dem Vorbild des Gesprächs läuft also zum einen darauf hinaus, dass wir bei der Interpretation die intentio recta auf die Sache des Textes beibehalten, die empirisch-reflektierende Einstellung mithin vermeiden, zum anderen verbindet sich damit eine Art Engführung des Verstehens auf Verständigung und Einverständnis, so als gebe es nicht auch Texte, bei denen das gar nicht in Frage kommt (Mit wem oder was könnten wir bei einem Roman einverstanden sein? – Gibt es nicht auch genügend Texte mit Thesen, mit denen wir aus inhaltlichen Gründen gar nicht einverstanden sein können?). Gadamer beruft sich dabei zunächst auf den theologischen Umgang des Augustinus und der frühen Reformatoren mit der Bibel, schließlich auch noch auf Schleiermachers Vorläufer, Friedrich Ast.57 Schleiermacher dagegen habe mit dem Streben nach einer „Hermeneutik von formaler Allgemeinheit“, die nicht mehr auf das inhaltliche Einverständnis in einer „Versöhnung von Antike und Christentum“ zielte, zwar „den Einklang mit dem Objektivitätsideal der Naturwissenschaften herzustellen“ vermocht, „aber nur dadurch, daß sie [Schleiermacher und seine Nachfolger] darauf verzichten, die Konkretion des historischen Bewußstseins in der hermeneutischen Theorie zur Geltung zu bringen“.58 Die „Konkretion des historischen Bewußtseins zur Geltung zu bringen“, das scheint für Gadamer etwas mit jenem Einverständnis in der Sache zu tun zu haben. Jedenfalls läuft der Vorwurf an Schleiermacher darauf hinaus, dass er den Zirkel nur „im Rahmen einer Relation von Einzelnem und Ganzem bzw. dessen subjektiven Reflex, der ahnenden Vorwegnahme des Ganzen und seiner nachfolgenden Explikation im einzelnen“ ins Auge gefasst habe, so dass die Theorie in der „Lehre von dem divinatorischen Akt“ gipfele, „durch den man sich ganz in den Verfasser versetzt und von da aus alles Fremde und Befremdende des Textes zur Auflösung bringt“.59 Nun ist dies eine zweideutige Formulierung, insofern unklar bleibt, worin die „Auflösung“ des Fremden und Befremdenden besteht: in dessen genauer Erkenntnis (wie Schleiermacher wohl meint) oder in einer die Fremdheit verdeckenden und „geheimnisvollen Kommunion der Seelen“ (wie Gadamer es zuvor Schleiermacher unterstellt hat60). Jedenfalls stellt Gadamer dem nun Heideggers Beschreibung des Zirkels gegenüber, dass nämlich

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Vgl. H I 297. Vgl. ebda.; als Beispiel nennt Gadamer die christliche Interpretation des „Alten Testaments“; die historische Interpretation der Bibel in der Aufklärung gilt ihm dagegen schon als Abkehr von seinem Ideal. 58 H I 298. 59 H I 298. 60 Vgl. H I 297. 57

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„das Verständnis des Textes von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft bestimmt bleibt. Der Zirkel von Ganzem und Teil wird im vollendeten Verstehen nicht zur Auflösung gebracht, sondern im Gegenteil am eigentlichsten vollzogen.“61

Dies klingt nun zumindest nicht weniger ,geheimnisvoll‘ als die angebliche ,Kommunion der Seelen‘. Die weiteren Darlegungen Gadamers zeigen jedoch deutlicher, worum es ihm wiederum geht: um die „Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet“. Der Zirkel im Sinne Heideggers beschreibe „das Verstehen als das Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des Interpreten.“ Die entsubjektivierende Metapher von den ,Bewegungen‘ zweier Instanzen, in denen es offenbar gar nicht mehr um einen bestimmten Text, sondern um „die Überlieferung“ geht, verschärft Gadamer noch durch den Hinweis, der das Verständnis leitenden Vorgriff (die Antizipation) sei „nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet“.62 Zuvor hatte er schon das Verstehen als Ganzes ein Stück aus der Kompetenz der Subjektivität herausgerückt: „Das Verstehen ist nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.“63

Dieser hermeneutische Traditionalismus scheint die hermeneutische Aufgabe noch mehr zu verengen, denn er wäre wohl für das Verständnis fremder Kulturen oder gar für das Verständnis von Texten, mit denen wir prinzipiell nicht einverstanden sein können, denkbar schlecht gerüstet. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn Gadamer sein Konzept des ,Vorgriffs der Vollkommenheit‘ (nun auch als „Vorurteil der Vollkommenheit“) im Sinne eines inhaltlich bestimmten Vorgriffs genauer erläutert: „Das Vorurteil der Vollkommenheit enthält also nicht nur dies Formale, daß ein Text seine Meinung vollkommen aussprechen soll, sondern auch, daß das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit ist. Auch hier bewährt sich, daß Verstehen primär heißt, sich in der Sache verstehen, und erst sekundär, die Meinung des anderen als solche abheben und verstehen.“64

Nach der Orientierung an dem Vorbild des Gesprächs, der Festlegung auf die intentio recta auf die Sache, der Entsubjektivierung des Verstehens und der traditionalistischen Verengung könnte der affirmative Gebrauch des Ausdrucks 61

H I 298. Ebda.; dass Verstehen immer durch eine Gemeinsamkeit (z. B. der Sprache) bedingt ist, wird man selbstverständlich nicht bestreiten; die Frage ist nur, worin genau die Gemeinsamkeit besteht, in welcher Weise man sie sich gegebenenfalls aneignen muss und vor allem, ob es um bloß formale oder auch inhaltliche Gemeinsamkeiten geht. 63 H I 295. 64 H I 299. 62

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„Vorurteil“ nun doch überraschen. Aber Gadamer hat zuvor schon versucht, die „Diskreditierung des Vorurteils durch die Aufklärung“ rückgängig zu machen, die „Vorurteile als Bedingung des Verstehens“ zu erweisen und eine „Rehabilitierung von Autorität und Tradition“ durchzuführen.65 Der Gedankengang ist an dieser Stelle von einer auffälligen Zweideutigkeit, insofern einerseits zunächst auf einige unbestreitbare Momente der „Vorstruktur des Verstehens“ hingewiesen wird, dass nämlich jedes Verstehen eines Textes zwar mit Vorerwartungen beginnt, die durch den eigenen Sprachgebrauch und die eigenen Kenntnisse der Sache, von der der Text handelt, bestimmt sind, dass dieser Erwartungen aber sowohl hinsichtlich des Sprachgebrauchs als auch hinsichtlich der inhaltlichen Vormeinungen im Verlauf des Lesens enttäuscht werden können und es daher die Aufgabe des Interpreten sei, die eigenen Vormeinungen in der Ausarbeitung des Verständnisses nach Maßgabe des Textes zu berichtigen, wobei es darauf ankomme, sich die eigenen „undurchschauten Vorurteile“ bewusst zu machen.66 All das ist sozusagen hermeneutischer common sense, und man fragt sich, ob man dafür den ,Vorgriff‘ in ein ,Vorurteil‘ umbenennen muss. Andererseits erläutert Gadamer dann aber die ,wesenhafte Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens‘, die es anzuerkennen gelte67, durch eine merkwürdige Polemik gegen die Aufklärung (und den Historismus68), wonach das „grundlegende Vorurteil der Aufklärung [. . .] das Vorurteil gegen die Vorurteile und damit die Entmachtung der Überlieferung“ sei.69 Merkwürdig ist diese Polemik nicht deshalb, weil sich hier ein wohlbekannter intellektueller Konservativismus artikuliert, sondern weil nun – unter Verweis auf die aufklärerische Beschäftigung mit den biblischen Texten – gar nicht mehr (jedenfalls nicht vordringlich) vom Problem des Verstehens der Texte die Rede ist, sondern vom Problem der rationalistischen Kritik der biblischen Aussagen (und der daraus abgeleiteten Dogmen), nicht mehr von den (auszuschaltenden, weil falschen) Vorurteilen des Interpreten, sondern von den (möglicherweise wahren und daher zu bewahrenden) Vorurteilen, die in den Texten selbst enthalten seien.70 Worin nun das Kriterium der 65

Wir zitieren hier Überschriften aus dem betreffenden Kapitel, S. 270, 276 u. 281. Vgl. H I 272–274. 67 H I. 274. 68 Das mit der aufklärungskritischen Romantik aufkommende historische Bewusstsein stellt nach Gadamer „eine Radikalisierung der Aufklärung“ dar, die „alles in den Sog des Historismus hineinzieht“: „Ein durch die Vernunft allgemein zugänglicher Sinn wird so wenig geglaubt, daß die gesamte Vergangenheit, ja, am Ende sogar alles Denken der Zeitgenossen schließlich nur noch ,historisch‘ verstanden wird.“ (vgl. H I S. 280). Im Weiteren zeigt sich, dass Gadamer seinerseits keine Bedenken hat, im Zuge der Rehabilitierung der Vorurteile die Vernunft selbst ,historisch‘ zu verstehen. 69 H I 275. 70 Mit einem Rückblick auf die terminologische Geschichte von ,praeiudicium‘ und ,préjudice‘/,préjugé‘ möchte Gadamer zeigen: „,Vorurteil‘ heißt also durchaus nicht notwendig falsches Urteil. [. . .] Es gibt auch préjugés légitimes.“ (H I 275) Gadamer erläutert nicht, an welchen (wohl französischen) Vorbildern er sich hier orientiert. Die 66

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,wahren‘ gegen über den ,falschen‘ Vorurteilen liegt, wird noch nicht klar; der Aufklärung jedenfalls kreidet Gadamer die Einstellung an: „Die Begründung, die methodische Sicherung erst (und nicht das sachliche Zutreffen als solches), gibt dem Urteil seine Dignität.“ Es sei ein echter Schluss (soll heißen: Fehlschluss) der Aufklärung, aus dem Fehlen der Begründung darauf zu schließen, dass „das Urteil keinen in der Sache liegenden Grund“ habe.71 Wenn man den Begriff der Begründung eng genug fasst, ist diese Kritik an der rationalistischen Aufklärung vielleicht nicht von der Hand zu weisen. Denn Erfahrung jedenfalls beruht letztlich auf Wahrheiten, die ihrem empirischen Gehalt nach nicht mehr durch andere Urteile begründbar sind. Daher kann Gadamer auf Kants Einschränkung der „Ansprüche des Rationalismus auf das apriorische Moment in der Naturerkenntnis“ und also die Angewiesenheit der (Begründungen, rationes, liefernden) ratio auf Gegebenes, mithin Gründe, die keine (begrifflichen) Begründungen sind72, verweisen. Dies gelte, so behauptet Wendung hat jedenfalls im Theologenstreit zwischen Jansenisten und Calvinisten eine Rolle gespielt. Pierre Nicole veröffentlichte 1671 die „Préjugés légitimes contre les calvinistes“ (eine Verteidigung der katholischen Abendmahls-Auffassung). – Der französische Schriftsteller Abraham Joseph de Chaumeix polemisierte ab 1758 in acht Bänden seiner „Préjugés légitimes contre l’Encyclopédie“ gegen die Aufklärer, worauf Voltaire mit seiner Satire „Pauvre Diable“ (1760) antwortete. 71 Gadamer führt die Unterscheidung zwischen ,wahren‘ und ,falschen‘ Vorurteilen später auf die Differenz zurück zwischen blindem Autoritätsglauben und dem „Akt der Anerkennung und Erkenntnis [. . .], daß der andere einem an Urteil und Einsicht überlegen ist“ (H I 284). Diese Anerkennung sei „immer mit dem Gedanken verbunden, daß das, was die Autorität sagt [. . .], im Prinzip eingesehen werden kann“, so dass die von der Autorität eingepflanzten Vorurteile zu „sachlichen Vorurteilen“ werden, weil sie eine „Eingenommenheit für eine Sache“ bewirken, die auch „auf andere Weise, z. B. durch gute Gründe, die die Vernunft geltend macht, zustande kommen kann“ (H I 285). Eben deshalb bestehe „zwischen Tradition und Vernunft kein unbedingter Gegensatz“ (H I 286), denn Tradition sei eine namenlos gewordene „Form der Autorität“ (H I 285). – Man fragt sich, warum in diesem Zusammenhang überhaupt von ,Vorurteilen‘ gesprochen werden muss. Dass wir Meinungen zunächst unbefragt übernehmen, ist ein triviales Faktum jeder intellektuellen Entwicklung. Dass wir bei der Unabsehbarkeit heutigen Wissens (welcher Form und Dignität auch immer) notgedrungen nicht alle von ,Fachleuten‘ übernommenen Meinungen selbst prüfen können, ebenfalls. Müssen wir deshalb unsere Meinungen (die ,Vorurteile‘) oder nicht eher unser Wissen erweitern? Sollen wir einfach der Autorität und der Tradition folgen oder sie eher, so viel wir können, überprüfen? 72 Dass auch Kant jedem kategorischen Urteil einen („logischen“) Grund zudenkt, der dennoch keine Begründung im Sinne anderer Sätze ist, zeigen zwei Bemerkungen, die eine in der Streitschrift gegen Eberhard („Über eine Entdeckung, . . .“), die andere in dem Brief an Reinhold, deren Zweck die Abwehr der Eberhardschen Verwechslung von logischem und realem Grund ist. In der Streitschrift heißt es, offenbar im Hinblick auf ein analytisches Urteil: „Von einem Satze kann ich wohl sagen, er habe den Grund (den logischen) seiner Wahrheit in sich selbst, weil der Begriff des Subjects etwas anderes, als der des Prädicats ist und von diesem den Grund enthalten kann . . .“ (AA VIII 198). Im Brief geht es um den „Erfahrungssatz“ „Die Luft bewegt sich nach Osten“, der als seinen (logischen) Grund „noch eine andere Vorstellung als den Begrif von Luft und den von einer Bewegung nach Osten“ haben müsse, „und zwar in der

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er sodann, „viel entschiedener für das geschichtliche Bewußtsein und die Möglichkeit geschichtlicher Erkenntnis“. Worin aber besteht hier die ,viel entschiedenere‘ Einschränkung des Rationalismus? Die Antwort auf diese Frage gibt Gadamer mit einem halben Zugeständnis an Dilthey und einer Kritik an ihm nach einem überraschenden Wiederaufgreifen der ,erkenntnistheoretische Frage‘: diese Frage nämlich sei „hier von Grund auf anders zu stellen“. Das habe Dilthey wohl gesehen, „aber seine Befangenheit in die traditionelle Erkenntnistheorie nicht zu überwinden vermocht“, indem er ,Innesein‘ und ,Erlebnisse‘, Selbstbesinnung und Autobiographie zum Ausgangspunkt genommen und „die Geschichte reprivatisiert“ habe. Wie also wird ,hier‘ (in der geschichtlichen Erkenntnis) die erkenntnistheoretische Frage anders gestellt und was hat Dilthey schon richtig gesehen? Der Schlüssel zu Gadamers Konzeption ist ein Erfahrungsbegriff, welcher sich von dem der Naturerkenntnis (und dem entsprechenden Kantischen Begriff) grundsätzlich unterscheidet. In seiner ausführlichen Dilthey-Darstellung hatte Gadamer schon in einem früheren Abschnitt herausgearbeitet, die Basis der „geschichtlichen Welt“, deren „Aufbau“ nach Dilthey in den Geisteswissenschaften geleistet werde, sei „die innere Geschichtlichkeit, die der Erfahrung selbst eignet“. Sie habe „ihren Modellfall nicht im Feststellen von Tatsachen, sondern in jener eigentümlichen Verschmelzung von Erinnerung und Erwartung zu einem Ganzen, die wir Erfahrung nennen und die man erwirbt, indem man Erfahrung macht“.73 – Mit der Formulierung vom Machen einer Erfahrung und dem Rückbezug auf die Akte der Erinnerung und Erwartung verschiebt Gadamer den Akzent vom objektiven Gehalt der Erfahrung auf das subjektive Erfahrungs-Geschehen. Dilthey hatte schon in seinen „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“ (1894) betont, dass das Gegebene in einer geisteswissenschaftlichen, ,beschreibenden‘ Psychologie nicht eine Menge von Einzelphänomenen darstelle, aus denen nur mithilfe von Hypothesen ein Zusammenhang zu konstruieren sei, sondern dass uns da als Realität und nicht als bloßes Phänomen „ein lebendiger Zusammenhang“ gegeben ist, der zu uns selbst gehört.74 Demgemäß kommt es für Dilthey darauf an, im Verstehen den in der eigenen Innerlichkeit erlebten ,Strukturzusammenhang‘ zum Modell auch für das VerErfahrung als einer Erkentnis durch verknüpfte Wahrnehmungen“ (vgl. AA XI 44). In Entgegensetzung dieses logischen Grundes zum Realgrund (der Ursache) betont Kant hier, dass dieser Grund, obwohl er kein begrifflicher Grund sei, „mit dem, was in demselben Satze gesagt wird, identisch“ sei (vgl. XI 44). Das, was in dem Satz „gesagt wird“, ist nicht ein Teil des Satzes, sondern der wahrgenommene Sachverhalt. 73 H I 225 f. 74 Vgl. dazu Wilhelm Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), Ges. Schr. V, insbes. S. 143; wir werden in einem anderen Zusammenhang weiter unten (S. 181 f.) ausführlich auf diese Stelle eingehen.

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ständnis von Texten und gesellschaftlichen Institutionen zu machen. Doch indem Dilthey mit der romantischen Hermeneutik voraussetzte, dass „der Gegenstand des Verstehens der zu entziffernde und in seinem Sinn zu erfassende Text“ sei und so am Begriff der Objektivität festhielt, um „die Erkenntnisweise der Geisteswissenschaften mit den methodischen Maßstäben der Naturwissenschaften in Einklang zu setzen“, hat er nach Gadamer die „wesenhafte Geschichtlichkeit der Geisteswissenschaften [. . .] vernachlässigen“ müssen.75 Darin zeigt sich seine „Befangenheit in die traditionelle Erkenntnistheorie“. Gadamer folgt Dilthey offenbar darin, dass die erkenntnistheoretische Frage nach dem Gegebenen in den Geisteswissenschaften letztlich die nach einem zu uns (den Interpreten) Gehörigen sei. Für ihn jedoch ist dieses zu uns Gehörende von vornherein nicht das in der Selbstbesinnung Zugängliche, sondern das in Familie, Gesellschaft und Staat selbstverständlich entwickelte Selbstverständnis.76 Daher heißt es nun: „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns in selbstverständlicher Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.“77

Gadamers Schritt über Dilthey hinaus besteht also zum einen in der Aufgabe des Begriffs der Objektivität und zum anderen in einer Art von Kommunitarisierung jenes Selbstverständnisses, aus dem das Verstehen der historischen Gegenstände ermöglicht wird. Die erkenntnistheoretische Frage wird durch einen Erfahrungsbegriff beantwortet, demgemäß wir eine ,Erfahrung machen‘, in welcher „Erinnerung und Erwartung“, nun aber einer ganzen Familie, einer Gesellschaft, eines Staates zu einem Ganzen verschmelzen und in welcher zum ,Gegebenen‘ – auch und vor allem – unsere Vorurteile gehören, die aus dem „Stromkreis des geschichtlichen Lebens“, also der ,Überlieferung‘ stammen und uns mit ihr verbinden. Dann aber scheint der Gegenstand des Verstehens in dieser Hermeneutik ein merkwürdig undefinierbarer zu sein. Wir beginnen zu verstehen, warum Gadamer schon bisher statt von konkreten Werken meist so vage von „der Überlieferung“ gesprochen hat. Nun geht es ihm ausdrücklich, um die

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Vgl. H I 244. Man wird nicht fehlgehen, wenn man als Vorbild für diese Einschätzung Diltheys Heideggers Dilthey-Kritik in „Sein und Zeit“ (vgl. SuZ S. 46) vermutet, die ganz offensichtlich auf die von uns gerade zitierte Stelle in den „Ideen . . .“ anspielt, sowie die in kritischer Absicht ausführlich wiedergegebenen Zitate aus den Briefen des Grafen Yorck an Dilthey im § 77 von SuZ, S. 397–404. 77 H I 281. 76

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„Vorurteile als Bedingungen des Verstehens“ zu erweisen, um „Die Rehabilitierung von Autorität und Tradition“.78 c) Hermeneutische Erfahrung als Folge eines Angesprochenseins Das Moment der Tradition müsse, so legt uns Gadamer nahe, in der Hermeneutik „grundsätzlich zu seinem Recht gebracht werden“, indem wir bedächten, dass wir ständig in Überlieferung stünden. An Stelle des ,vergegenständlichenden Verhaltens‘ des „herrschenden Methodologismus“ müsse „am Anfang aller historischen Hermeneutik [. . .] die Auflösung des abstrakten Gegensatzes zwischen Tradition und Historie, zwischen Geschichte und Wissen von ihr stehen“. Den Grund dafür sieht Gadamer in einer gemeinsamen Voraussetzung, die sowohl dem Verstehen in den Geisteswissenschaften als auch dem Fortleben von Tradition zugunde liege: das eine teile mit dem anderen „eine grundlegende Voraussetzung, nämlich, sich von der Überlieferung angesprochen zu sehen“.79 Denn nur aufgrund des Sich-Angesprochen-Sehens sei die Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Forschungsgegenstände erfahrbar. Dem subjektiv akzentuierten Erfahrungsbegriff entspricht auf Seiten des Erfahrungskorrelats ein Begriff der Bedeutung, der ebenfalls eher einen Bezug auf das Subjekt der Interpretation als ein Moment des Objekts selbst zu intendieren scheint. Wenn von der Bedeutung eines Forschungsgegenstandes die Rede ist, dann ist etwas anderes gemeint als die Bedeutung eines Wortes oder Satzes, selbst wenn der Forschungsgegenstand zufällig ein Wort oder Satz sein sollte. Denn die Bedeutung eines Gegenstandes ist immer die Bedeutung von etwas für jemanden oder etwas, für einen anderen ,Gegenstand‘, für ein Ereignis oder Geschehen, für eine Person oder eine Gemeinschaft – eine Bedeutung, die man deutlicher auch die ,Bedeutsamkeit‘ des Gegenstandes nennen kann. Dieser ,Beutungs‘-Begriff ist kein semantischer Begriff, sondern ein funktionaler Bewertungsbegriff.80 Die Bedeutsamkeit eines Forschungsgegenstandes wie Goethes Faust oder Newtons Principia zu erfahren, ist daher etwas anderes, als den Text des Faust oder der Principia schlicht zu verstehen (die Bedeutung der Sätze und Satzzusammenhänge zu erfassen). Es scheint aber auch etwas anderes zu sein als so etwas wie den Gesamtsinn oder die zentrale Idee, die ihm zugrunde liegen mag, zu erkennen, denn damit würde man wieder am Begriff der Objektivi78 Vgl. die Überschriften S. 281; zu Gadamers Rehabilitierung der Autorität vgl. o. unsere Fußnote 71, S. 63. 79 H I 287. 80 Der hier benutzte Begriff der Bewertung soll lediglich besagen, dass die Funktion des einen für das andere als größer oder geringer eingeschätzt werden kann, so dass wir auch die bloße kausale Funktion des einen für das andere als Bedeutsamkeit bezeichnen können.

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tät festhalten, dann wäre wieder „der Gegenstand des Verstehens der zu entziffernde und in seinem Sinn zu erfassende Text“. Die Relationalität jenes Bedeutungsbegriffs ermöglicht eine Variabilität der Bezugsgrößen und impliziert zugleich eine Relativität des Bedeutsamkeits-Gehalts. Denn die Bedeutsamkeit eines Geschehens (der Französischen Revolution) für ein anderes Geschehen (die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches) wird kaum je dieselbe sein wie die Bedeutsamkeit des ersteren für ein drittes Geschehen (die Entwicklung Spaniens und Portugals); die Bedeutsamkeit eines Werkes (des Faust) für ein anderes Werk (Gounods Faust) wird kaum je dieselbe sein wie die Bedeutsamkeit des ersteren für ein drittes Werk (Thomas Manns Dr. Faustus). Erst recht gilt diese Relativität der Bedeutsamkeit eines Forschungsgegenstandes für verschiedene Personen, Gemeinschaften oder Kulturen. Zweifellos kann man solche Bedeutsamkeiten, wenn man die beiden Glieder kennt, sie im Falle der Werke verstanden und möglichst schon für sich genommen analysiert hat, auch erkennen. Die Erfahrung der Bedeutsamkeit von X für mich (oder uns) ist jedoch nicht die Erkenntnis dieses X. Vielmehr ist sie, wenn nicht einfach das Erleben einer Wirkung auf mich (eine Erfahrung machen, eine Wirkung erfahren) gemeint ist, die Erkenntnis jener Relation zwischen dem Forschungsgegenstand und mir bzw. uns, wobei wir offen lassen können, ob es sich um eine ideelle Relation handelt (die wir erst aufgrund ihrer Erkenntnis in unsere Wirklichkeit integrieren) oder um eine reale (die unsere Wirklichkeit schon bestimmt hat). Es würde wohl ein wenig merkwürdig klingen, wenn wir von einem Literaturwissenschaftler, der die ,Bedeutung‘ des Faust für den Dr. Faustus in seiner Abhandlung erkannt hätte, sagen würden, er habe diese ,Bedeutung‘ erfahren. Sprechen wir nun aber davon, dass jemand die ,Bedeutung‘ des Faust erfahren habe, dann sprechen wir vermutlich von einem Geschehen, das eher als ein Bildungsgeschehen denn als ein Erkenntnisgeschehen zu bezeichnen wäre. Gewiss kann jemand, dem solches widerfahren ist, auf diese Erfahrung reflektieren, sie womöglich auch erkennen, aber dann stellt diese seine ,Erfahrung‘ der Bedeutung des Faust den Gegenstand seiner Erkenntnis dar, nicht einfach der Faust. Dass Gadamers ganze Argumentation auf die Bedeutsamkeit des Forschungsgegenstandes für uns, die Interpreten, zielt, legt schon das bisher Referierte nahe und es wird sich im Folgenden bestätigen. Die mit dem Vorbild des Gesprächs verbundene Einstellung der intentio recta auf die Sache, die Entsubjektivierung des Verstehens durch die Formel vom Verstehen als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, die Präferenz für die aus der Überlieferung übernommenen Vorurteile, all diese Gedankenmotive laufen auf einen Erfahrungsbegriff hinaus, der nicht nur mit dem Kantischen Begriff der Erfahrung als dem Begreifen des in der Wahrnehmung Gegebenen nichts zu tun hat, sondern der es auch nicht gestattet, das für die Geisteswissenschaften angemessene Analogon

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

des Wahrnehmungsbegriffs einfach in einem Begriff des sprachlichen Verstehens zu suchen und darin das Fundament eines bestimmenden Begreifens zu sehen. Gadamers Begriff der Erfahrung, die man macht, ist vielmehr, wie ein eigener Abschnitt über den „Begriff der Erfahrung und das Wesen der hermeneutischen Erfahrung“81 zeigt, gar nicht an dem Begriff der Erkenntnis eines gegebenen Gegenstandes, sondern an dem Hegelschen Begriff der Selbstbildung des Subjekts orientiert.82 Zwar kann Gadamer Hegels Anwendung der Dialektik der Erfahrung auf die Geschichte, wonach diese „im absoluten Wissen begriffen“ sei und also „mit der Überwindung aller Erfahrung“ ende, nicht mitmachen. Aber zwei Momente des Hegelschen Begriffs bleiben auch für Gadamer bestimmend: das Moment der Negation des eigenen, naiven Fürwahrhaltens und die Hervorhebung der Selbstveränderung des erfahrenden Subjekts: Es geht nicht so sehr, jedenfalls nicht allein, um das durch die Erfahrung erworbene positive Wissen vom Gegenstand, sondern für Gadamer entscheidend darum, dass der Erfahrende zum ,Erfahrenen‘ (durch Erfahrung Gebildeten) werde, was sich vor allem darin zeige, dass er radikal undogmatisch und für neue Erfahrung offen sei.83 Wieder läuft auch hier die Argumentation auf das Modell des Gesprächs mit der Überlieferung hinaus. Sie sei nicht ein Geschehen, das es zu erkennen und zu beherrschen gelte (letzteres denkt er offenbar der Naturwissenschaft als vorzüglichen Zweck zu). Sie sei vielmehr Sprache, eine Feststellung, die durch die Behauptung erläutert wird: „d. h. sie spricht von sich aus so wie ein Du. Ein Du ist nicht Gegenstand, sondern verhält sich zu einem.“.84 Lassen wir die Vereinnahmung des konkreten Forschungsgegenstandes durch die pauschalen Begriffe der Überlieferung und der Sprache einmal auf sich beruhen, so könnte die Gleichsetzung – nicht etwa des Autors, sondern – des textförmigen Forschungsgegenstandes mit einem Gesprächspartner doch allzu sehr die Gefahr von allerlei Paralogismen befürchten lassen. Aus dieser Du-These jedenfalls entwickelt Gadamer eine neuerliche Kritik der sozialwissenschaftlichen Methodik und der traditionellen Hermeneutik von Schleiermacher bis Dilthey, indem er der hermeneutischen Erfahrung wie der Du-Erfahrung einen moralischen Charakter zuspricht, welcher sowohl von der Methode der Sozialwissenschaft als auch vom Objektivitäts-Ideal des Historismus, dem auch Dilthey noch verfallen sei, verfehlt werde.

81

H I 352–368. Vgl. H I 360 mit Verweis auf Hegels Phänomenologie des Geistes (vgl. Ges. WW., Hamburg 1968 ff., Bd. 9, S. 60). 83 Vgl. H I 361. 84 Vgl. H I 363 f. 82

II. Hermeneutik als Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung?

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Die sozialwissenschaftliche Einstellung wird dabei mit einem defizienten Modus der Du-Erfahrung in Analogie gesetzt, in welchem das Du einer typisierenden und berechnenden Menschenkenntnis unterworfen werde85; dem Historismus wiederum entspricht nach Gadamer ein ,Reflexions-Verhältnis‘ zum Du, in dem das erfahrende Subjekt sich als das dem erfahrenen Du überlegene Bewusstsein auffasse, das allein wisse, was es mit dem Du auf sich habe. Das historische Bewusstsein suche sich aus dem Lebensverhältnis zur Überlieferung herauszureflektieren und zerstöre damit den wahren Sinn der Überlieferung.86 Der dritte und eigentlich Modus der Du-Erfahrung ist dagegen nach Gadamer das echte Gespräch. In ihm gehe es nicht darum, das Du nur als Fremdes zu erfassen, sondern darum, dessen Anspruch nicht zu überhören, sich also etwas von ihm sagen zu lassen. Dem entspreche nun die echte, „die höchste Weise hermeneutischer Erfahrung: die Offenheit für die Überlieferung, die das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein besitzt“.87 d) Hermeneutik und Applikation Die geisteswissenschaftliche Hermeneutik soll sich nach Gadamers Konzeption eher an ,lebensweltlichen‘, auf die Anwendung der Texte im Leben zielenden, Modellen des Umgangs mit Sprache orientieren als an der Idee der wissenschaftlicher Objektivität. Dies zeigt sich in der Orientierung am Modell des Gesprächs ebenso wie in der Forderung nach Beibehaltung der intentio recta auf die ,Sache des Textes‘. Es zeigt sich auch in dem wiederholten Rekurs auf den Begriff der Applikation.88 Den entscheidenden Gedanken von der applicatio findet Gadamer zunächst in der theologischen Hermeneutik der Pietisten89, möchte aber nicht bloß wie diese die „Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten“ als einen dritten Schritt nach Verstehen (subtilitas intelligendi) und Auslegung (subtilitas explicandi) ansehen, sondern als „ein[en] ebenso integrierende[n] Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs wie Verstehen und Auslegen“.90 Modelle dieser lebensweltlichen Einstellung zu tradierten Texten findet Gadamer charakteristischer Weise in der applikations85 Vgl. H I 364 – Gadamer bemüht sogar die Zweckformel des kategorischen Imperativs, um diese Form des Verhaltens zu anderen Menschen als der moralischen Bestimmung des Menschen widerstreitend zu denunzieren. Dabei wird freilich Kants Unterscheidung zwischen einer Behandlung anderer „bloß als Mittel“ und der harmlosen Inanspruchnahme der Dienste anderer, bei der sie selbstverständlich Mittel zu unseren Zwecken sind (ohne dabei an der Verfolgung ihrer eigenen Zwecke gehindert zu sein), unterschlagen. 86 Vgl. H I 366. 87 Vgl. H I 367. 88 Vgl. etwa H I 35 f., 188, 312 ff., 320 ff., 335–339 ff., 344 f., 407. 89 Vgl. H I 35. 90 Vgl. H I 313.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

orientierten Auslegungspraxis von Theologie und Jurisprudenz und in der entsprechenden theologischen und juristischen Hermeneutik.91 Die theologische Auslegung, insbesondere in der Verkündigung, ist wie die juristische eher an der Anwendung und Anwendbarkeit der auszulegenden Texte interessiert als an dem Wissen, was der Text ursprünglich bedeutet hat. Für den Rechtsdogmatiker mag, wie wir früher schon festgestellt haben, gar nicht der Wille des ursprünglichen, sondern der des gegenwärtigen Souveräns (unter vielleicht einer gänzlich anderen Verfassung) die entscheidende Autorität sein. So mag denn auch ein Dramaturg die Shakespeare-Tragödie vor allem daraufhin ansehen, wie er sie seinem gegenwärtigen Publikum nahebringen kann, und sich zu mancher Verfremdung oder Aktualisierung berechtigt glauben. 3. Konsequenzen und Widersinn der Orientierung an Gespräch und Applikation Die Konsequenz nun, die Gadamer selbst aus der Orientierung an Gespräch und Applikation zieht, ist eine Absage an das Prinzip der Objektivität. Das historische Objekt sei, so werden wir belehrt, ein Phantom92, und die Hermeneutik sei durch Heideggers Ansatz von den ontologischen Hemmungen des Objektivitätsbegriffs der Wissenschaft befreit worden93. Demgemäß wird die Meinung des Verfassers als Interpretationsmaßstab abgelehnt, weil sie wie das Verständnis des ursprünglichen Lesers eine „leere Stelle“ sei, die sich von Gelegenheit zu Gelegenheit des Verstehens ausfülle94. Schließlich heißt es: „Der wirkliche Sinn eines Textes, wie er den Interpreten anspricht, hängt eben nicht von dem Okkasionellen ab, das der Verfasser und sein ursprüngliches Publikum darstellen. Er geht zumindest nicht darin auf. Denn er ist immer auch durch die geschichtliche Situation des Interpreten mitbestimmt“.95

91

Vgl. H I 330–346. Vgl. H I 305. – Es wirkt schon beinahe abenteuerlich, wenn Gadamer aus der beherzigenswerten Maxime, „ein wirklich historisches Denken“ müsse „die eigene Geschichtlichkeit mitdenken“, die in sich schon logisch bedenkliche Folgerung zieht: „Der wahre historische Gegenstand ist kein Gegenstand, sondern die Einheit dieses Einen und Anderen, ein Verhältnis, in dem die Wirklichkeit der Geschichte ebenso wie die Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens besteht.“ (H I 305). – Wenn in der Neuausgabe 1990 eine Fußnote zu diesem Satz feststellt: „Hier droht beständig die Gefahr, das Andere im Verstehen ,anzueignen‘ und damit in seiner Andersheit zu verkennen.“, ist dem allemal zuzustimmen. Der Leser wüsste aber gern, wie und wodurch, wenn nicht durch das Streben nach Objektivität und also nach dem Gegenteil des im Haupttext Propagierten, der Gefahr zu begegnen ist. 93 Vgl. H I 270. 94 Vgl. H I 399. 95 H I 301. 92

II. Hermeneutik als Überwindung der erkenntnistheoretischen Fragestellung?

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Es gehe letztlich nicht um die Individualität des Autors und dessen Meinung (wie die romantische Hermeneutik Schleiermachers fälschlich gemeint habe), sondern um die sachliche Wahrheit der Texte.96 Dass mit der der Abhängigkeit vom Interpreten nicht nur der Sinn des Textes, sondern auch diese sachliche Wahrheit notwendiger Weise von Interpret zu Interpret variabel wird, scheint Gadamer nicht zu stören.97 Dass die meisten Texte nicht dazu geschaffen wurden, wissenschaftlich untersucht zu werden, bestreitet niemand; sie sollen alle ihre Funktion ,im Leben‘ erfüllen, sollen im Leben ,angewandt‘ werden. Theoretische Texte sollen uns von etwas überzeugen; Tragödien sind zur Aufführung und zum Kunstgenuss eines Publikums da; biblische Texte zur Verkündigung eines Glaubens, Gesetzestexte zur dogmatisch gesicherten Applikation in Rechtssachen. – Aber heißt dies, dass wir uns schon bei der Auslegung allein an den Bedürfnissen gegenwärtiger Applikation orientieren müssten, wie dies einmal vor der Entwicklung hermeneutischer Wissenschaften der Fall gewesen sein mag? – Weshalb eigentlich sind hermeneutische Wissenschaften entstanden? Weshalb etablierten sich neben den Predigern eigens die Exegeten, neben den Rechtsdogmatikern und Richtern die Rechtshistoriker, neben den Dramaturgen und Regisseuren die Literaturwissenschaftler? Können die empirischen Forscher einfach dieselbe Einstellung wie die ,Anwender‘ einnehmen? Hermeneutische Wissenschaften haben sich entwickelt, weil man die Zweckwidrigkeit der umstandslosen Anwendung des (vermeintlich) Verstandenen auf die eigene Lebenswelt erkannt hatte: Wird der Exeget zum Prediger, geschieht es leicht, dass er den Gläubigen die historische Quelle ihres Glaubens verdeckt, statt sie zu erschließen. – Wird der Rechtshistoriker zum auf das gegenwärtige Recht bezogenen Rechtsdogmatiker oder gar Richter, so verdeckt er gerade auch dem gegenwärtigen Staatsbürger, dem gegenwärtigen Gesetzgeber, ja auch dem Rechtsdogmatiker dasjenige, was sie durch ihn kennen lernen möchten: die Quelle für ein besseres Verständnis der Geschichte gegenwärtig gültiger, aber vielleicht befremdlicher Gesetzesformulierungen und -systematisierungen; ein Verständnis, das auch etwa zur kritischen Beurteilung gegenwärtiger RechtsAuffassungen notwendig sein mag. Wird der Literaturwissenschaftler bei der Auslegung eines Dramas zum Dramaturgen oder Regisseur, so verdeckt er gerade auch den Theaterschaffenden 96

Vgl. H I 302. E. D. Hirsch hat in seiner Rezension von „Wahrheit und Methode“ (Truth and Method in Interpretation, The Review of Metaphysics 18, 1965, p. 488–507) die destruktiven Implikationen der Gadamerschen Konzeption scharf und u. E. in der Hauptsache treffend kritisiert; vgl. auch das systematische Werk des Autors: Validity in Interpretation, New Haven 1967 (dt.: Prinzipien der Interpretation, übers. v. A. A. Späth, München 1972; darin auch, als Anhang II: Gadamers Theorie der Interpretation, eine Übersetzung der Rezension); vgl. auch unseren Hinweis unten, S. 89, Fußnote 124. 97

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

und ihrem Publikum die Quelle ihrer spezifischen Gestaltungs- bzw. Rezeptionsmöglichkeiten, verdeckt vielleicht gerade diejenigen Momente des Werkes, welche sie gern zum Leben erwecken möchten und auf deren Explikation sie ihm gegenüber eine Art von Anspruch haben. Mag es also auch mit vollem Recht in all diesen Fällen letztlich – dem ,Endzweck‘ nach – um Applikation gehen: eine solche Applikation ist ihrerseits auf ein angemessenes Verständnis angewiesen, und das heißt häufig genug: auf eine vorgängige, das Werk selbst und als solches erschließende Interpretation und Hermeneutik. Gespräch und Applikation haben gewiss ein unmittelbares Interesse an der vom Text oder Werk thematisierten Sache, nicht eigentlich Interesse am Text oder Werk als solchen: nicht das Werk ist (im Falle eines theoretischen Werkes) die Sache, über die wir in Gespräch und Applikation die Wahrheit suchen, sondern die dem Werk bzw. seinem Autor und dem Rezipienten gemeinsame Sache. Aber solange wir allein auf diese Sache gerichtet sind, solange uns nicht der Text bzw. das Werk selbst zum Problem wird, können wir mit dem Werk bzw. Autor nur unter der unbefragten Voraussetzung ,ins Gespräch kommen‘, dass wir problemlos und vollständig verstehen, was uns das Werk zu sagen hat. Eben dies aber, dass wir nicht ohne weiteres wissen, wie ein Werk zu verstehen ist und was seinen Gehalt ausmacht, hat hermeneutische Wissenschaften notwendig gemacht. Gerade wenn ich mir vom Werk und dessen Autor etwas sagen lassen möchte (wie Gadamer es fordert), muss mein prinzipiell erstes Interesse die objektive Erfassung des Werkes selbst sein. Die Preisgabe des Prinzips der Objektivität in einer Gesprächshermeneutik ist ein Widersinn. Eine Einstellung, die sich die Erfassung des Werkes selbst zum Ziel setzt (statt sie als schon gelungen vorauszusetzen), ist nun freilich keine natürliche Einstellung – so wenig Wissenschaft, und gar noch Wissenschaft von geistigen Produkten, überhaupt ein ,natürliches‘ Unternehmen ist. Gadamers Konzeption der Hermeneutik verkennt, dass die hermeneutische Wissenschaft eine Umwendung unseres Bewusstseins erfordert: von der primär thematisierten Sache zum empirischen Bewusstsein ihrer Thematisierung im Werk, eine Umwendung vom naiven Vollzug von Sinn zur Vergegenständlichung von Sinn, die wir empirische Meta-Intentionalität genannt haben.98 Gadamer nennt dasjenige, was seine Konzeption der Hermeneutik ermöglichen soll, ,hermeneutische Erfahrung‘.99 Diese Konzeption krankt daran, dass sie über den durchaus zu Recht angemahnten wissenschaftstranszendenten Endzweck der Geisteswissenschaften deren immanenten Zweck, Wissen über den hermeneutischen Gegenstand zu erzeugen, vernachlässigt. Was Gadamer ,her-

98 99

s. o. S. 22 f. Vgl. H I 352–368.

III. Die erkenntnistheoretische Fragestellung in der Hermeneutik

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meneutische Erfahrung‘ nennt, ist in Wahrheit die (vom Autor, aber wohl auch vom Rezipienten) erwünschte subjektive Wirkung des Werkes auf den Rezipienten, vor allem dessen Selbstbildung in der Auseinandersetzung mit dem Werk. Wenn man das ,Erfahrung‘ nennen will, dann ist es jedenfalls eine gänzlich subjektive, eine subjektiv-hermeneutische Erfahrung.100 Wissenschaftliche Erfahrung dagegen verlangt Objektivität; nach deren Prinzipien wäre in einem Werk mit dem Titel „Wahrheit und Methode“ zu fragen gewesen. Wir werden im Folgenden nach den Prinzipien der Objektivität der hermeneutischen Wissenschaften fragen und nicht nur zu zeigen versuchen, wodurch genau sich objektiv-hermeneutische Erfahrung von einer subjektiv-hermeneutischen Erfahrung unterscheidet, sondern auch, inwiefern subjektiv-hermeneutische Erfahrung gerade auf objektiv-hermeneutische Erfahrung angewiesen sein kann.

III. Die erkenntnistheoretische Fragestellung in den hermeneutischen Werkwissenschaften Geisteswissenschaften sind empirische Wissenschaften. Empirische Wissenschaft setzt empirisch Gegebenes und Rezeption dieses Gegebenen voraus. Aber Rezeption ist noch nicht empirisches Wissen, d. h. Erfahrung im erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Sinne. Aus der Rezeption wird Erfahrung erst, wenn das Rezipierte in Urteilen begriffen wird, begriffen als von unserem zufälligen Rezipieren Unterschiedenes, als etwas in sich Bestimmtes und als etwas, das in Zusammenhängen steht, die von dem Zusammenhang unseres Rezipierens unabhängig sind. Darin liegt die Objektivität der Erfahrung. 1. Objektivität und Rezeptivität Das fundamentale Prinzip der Werk-Erkenntnis, erst recht einer Werk-Wissenschaft, ist das Prinzip hermeneutischer Objektivität, mithin das Prinzip der Auffassung und Bestimmung des Werkes als eines Gegenstandes. Der Begriff des Gegenstandes ist der Begriff eines all seiner Bestimmtheit nach von unserem Zugriff Unabhängigen. Freilich ist der Werkbegriff der Begriff von einem seiner Existenz nach dennoch von uns Abhängigen; denn nur durch unser Verstehen und in unserem Verstehen gewinnt das Werk seine volle Existenz, ist es auch das, was es (im Beispiel des Sprachwerks) über die Drucktypen und die Druckerschwärze hinaus noch ist. All das ist außerhalb unseres Verstehens ein

100 Wir werden weiter unten auf das Verhältnis dieses Erfahrungsbegriffs zum erkenntnistheoretischen Erfahrungsbegriff, speziell zum Begriff der (geistes)wissenschaftlichen Erfahrung, zurückkommen (s. u. S. 83 ff.)

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

bloß Mögliches, nichts wirklich Existierendes. Hier also liegt das spezielle Problem von Verstehen und verstehenden Wissenschaften: in der von uns (in seinem Gehalt) unabhängigen Bestimmtheit eines in seiner Existenz gleichwohl von unserer Leistung abhängigen (nicht-physischen) Sinngebildes. – Die prinzipielle Determinante seiner von uns unabhängigen Bestimmtheit aber ist die Abhängigkeit dieser Bestimmtheit von einem anderen Subjekt, vom Autor als dem Grund und der Quelle des Werkes. Nur dadurch wird das Werk auch seinem nicht-physischen Bestand, seinem Sinngehalt nach zu einem Gegenstand, zu etwas, ,was dawider ist, dass unser Verständnis und unsere Interpretationen nicht aufs Geratewohl und beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt sind‘101. Jede Vernachlässigung dieser bestimmten Beziehung liefert das Verstehen an die Beliebigkeit unserer subjektiven Assoziationen und Einfälle aus (und seien sie noch so intelligent und noch so sehr durch anderweitige Bildung angereichert). Zum Werk als Produkt gehört der Autor als Produzent. Als solcher ist er Grund und Quelle des Werkes. Was in ihm nicht seinen Ursprung haben kann (Ideen, die etwa nachweisbar erst spätere Autoren konzipieren konnten), gehört nicht zum Werk (mag es auch, nach unserem Urteil, ohne Schaden oder gar in geglückter Weise von späteren Bearbeitern oder Darstellern damit verbunden werden).102 – Damit stellt sich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Objektivität in den hermeneutischen Werkwissenschaften. Empirische Geisteswissenschaften zeichnen sich durch ein empirisches Bewusstsein intentionaler Phänomene aus, das seine Begründung in entscheidender Hinsicht einem empirischen Fundament verdankt, das in bestimmter Weise (trotz der bloss möglichen Existenz der Sinngehalte) nicht durch den Wissenschaftler erzeugt ist, sondern ,gefunden‘, besser und allgemeiner: rezipiert wird. Dies kann in den empirischen Geisteswissenschaften nicht anders als sein als in den naturwissenschaftlichen Disziplinen. – Und auch dies, dass es mit dem Rezipieren nicht sein Bewenden haben kann, wird in diesen Wissenschaften nicht anders sein: erst im Begreifen des Rezipierten ist Wissen erreicht. Vor allem aber sind die beiden Momente geisteswissenschaftlicher Erkenntnisleistung, das Rezipieren und das Begreifen des Rezipierten, zu unterscheiden. Die fundamentale und eigentümliche Rezeptionsleistung der Geisteswissenschaften nennen wir das elementare Verstehen.103

101

Vgl. KrV A 104; AA IV 80. Wenn wir hier vom ,Autor‘ sprechen, so wollen wir natürlich nicht den komplizierteren Fall einer Autorengemeinschaft oder einer durch eine Reihe von Autoren bestimmten Textgeschichte (etwa biblischer Texte) ausschließen. Solche Phänomene (und die dadurch u. U. in Anschlag zu bringenden Vieldeutigkeiten, die sich ebenso wie jede Eindeutigkeit der Seite der Autoren – nicht der Interpreten – verdanken) sind in einer einzelwissenschaftlichen Methodologie zu klären. 103 Es ist eine der Schwächen auch der sonst für die Geisteswissenschaften lehrreichen Kritik an den hermeneutischen Konzeptionen von Seiten der analytischen Wis102

III. Die erkenntnistheoretische Fragestellung in der Hermeneutik

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Rezipieren heißt noch nicht Wissen; schon deshalb nicht, weil wir weder in der Naturerfahrung noch in der Erfahrung von geistigen Phänomenen durch bloße Rezeption wissen können, was sich beim Rezipieren dem rezeptiv zugänglichen Objekt und was sich den Zufällen unserer ,Perspektive‘, unserer Aufmerksamkeit, unseren Assoziationen verdankt. Im Beispiel des Textverstehens: Wenn wir die Chance haben wollen, zwischen dem, was wahrhaft der Text ,uns zu sagen hat‘, und dem, was uns beim Lesen alles einfällt, zu unterscheiden, müssen wir das Bewusstsein der ,Fremdheit‘ des Textursprungs haben. Darin besteht das empirische Bewusstsein des Textes, das noch unbestimmt sein kann und auch die Möglichkeit eines Ursprungs in der eigenen Vergangenheit des Lesers mit umschließt. Schon jedoch das bestimmte Bewusstsein der ,Fremdheit‘ eines Gedankens, seines Ursprungs in einem fremden Subjekt oder auch seines Ursprungs in unserer eigenen Vergangenheit ist mehr als ein bloßes Rezipieren, es ist Bestimmung des Rezipierten, sein Begreifen als Erzeugnis eines bestimmten Autors und, als intentionalitätsbezogenes Begreifen, mögliches Element geisteswissenschaftlichen Wissens. Selbst wenn der Autor uns gänzlich unbekannt ist, müssen wir ihn als einen von uns unterschiedenen Anderen begreifen, damit wir ,uns etwas sagen lassen‘ können. Konzentrieren wir uns zunächst auf Sprachwerke. Damit uns etwas gesagt werden kann, müssen wir zuerst etwas ,aufnehmen‘, rezipieren: Dafür muss uns das Werk gegeben sein, und diese Gegebenheit muss mehr sein als eine Gegebenheit physischer Zeichen-Phänomene. Damit uns mehr als diese physischen Phänomene gegeben ist, müssen wir selbst schon etwas leisten, nämlich die Objektivationen (sprachliche Zeichen, in anderen Fällen aber auch bildliche Darstellungen) in einem ganz elementaren Sinne ,verstehen‘. – Wieso aber haben wir es beim Verstehen gleichwohl mit einem Akt der Rezeptivität zu tun, wenn doch a) uns in der Wahrnehmung nur physische Daten gegeben sein können und es b) in der Hauptsache104 schon begriffliche (also aus Spontaneität erwachsenschaftstheorie, dass sie diese Differenz zumeist nicht erkennt, etwa indem sie das Verstehen bei einer Spielart des Beschreibens einordnet, wie dies z. B. Wolfgang Stegmüller tut; vgl.: Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie, Bd. I, Berlin 1969, S. 362. Dies hängt wohl auch mit den Problemen zusammen, welche die analytische Wissenschaftstheorie als Erbin des logischen Positivismus generell mit der sog. Basis, der Wahrnehmung und der Empfindung hatte. – Bei aller Nähe zur analytischen Wissenschaftstheorie trifft Hans Albert die Funktion des elementaren Verstehens als einer Art „Sonderfall der Wahrnehmung“ wesentlich besser; vgl. etwa den schon oben erwähnten Aufsatz „Hermeneutik und Sozialwissenschaft“, in: Sozialtheorie und soziale Praxis. Eduard Baumgarten zum 70. Geburtstag, hrsg. v. H. Albert, Meisenheim 1971, S. 42–77 (wieder abgedr. in: H. Albert, Plädoyer für einen kritischen Rationalismus, München 1971, S. 106–149; eine überarbeitete Fassung auch als III. Kapitel in: H. Albert, Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens, Tübingen 1994, S. 78–112, insbes. S. 103). 104 Selbst Eigennamen implizieren ja im weitesten Sinne kategoriale Begriffe wie die einer Person, eines Ortes usw.; auf die begrifflichen Implikationen des Bildverstehens kommen wir weiter unten (S. 78 f.) zurück.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

sene) Strukturen sind, mit denen wir durch sie konfrontiert werden? Sind wir damit nicht schon im Bereich des spontanen Denkens und also dessen, was letztlich wir, die Verstehens-Subjekte, allein verantworten müssen? Nein, wir sind noch nicht im Bereich der Spontaneität des Rezipienten. Denn im gelingenden elementaren Verstehen etwa der Sprachzeichen bringen wir keineswegs die wahrgenommenen (physischen) Zeichen unter (von uns erzeugte) Begriffe, sondern mittels der Zeichenrezeption aktualisieren wir genau die Begriffe (und komplexeren Sinnstrukturen), die der Autor durch die Zeichen in ihrer ganzen Gliederung objektiviert und also uns vorgegeben hat. Gewiss ist dies keine sinnliche Wahrnehmung, gewiss ist es eine Form des ,Denkens‘, aber es ist ein aufnehmendes Denken, das begriffliche Strukturen mit dem Wahrgenommenen „appräsentiert“ (vergegenwärtigt), statt sie darauf anzuwenden.105 Das elementare Verstehen überhaupt gehört in den Bereich der Rezeptivität, insofern wir gerade, wenn das Verstehen gelingt, nicht die Zeichen als Zeichen von dieser oder jener Art begreifen, sondern mittels ihrer einen durch sie ausgedrückten Sinn rezipieren.106 Die Fremdursprünglichkeit eines sprachlichen Werkes und ganz allgemein eines Textes, den wir begreifen wollen, stellt nun an uns gerade im Hinblick auf das Rezeptionsmoment hermeneutischer Erfahrung eine prinzipielle Anforderung: Damit wir den Text verstehen können, müssen wir bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Nach der Lektüre von Gadamers „Wahrheit und Methode“ könnte es nahe liegen, an diesem Punkt der Überlegung auf den Heidegger-/Gadamerschen Gedanken des Vorverständnisses (bzw. des ,Vorurteils‘) zurückzugreifen. Aber zum einen kann ein Vorverständnis ebenso gut (wir hoffen: nicht ebenso häufig) ein Missverständnis enthalten wie ein Verständnis. Der Begriff des Vorverständnisses begreift (wie übrigens die meisten der zentralen Gadamerschen Begriffe) ein bloßes Faktum; durch ihn beschreiben wir ein geltungsdifferentes (gültiges oder ungültiges) Konkretum; was wir jedoch benötigen, ist der Grund, ein Prinzip

105 Zum Begriff der Appräsentation vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen, §§ 50 ff., Hua I, S. 138 ff., wo der Begriff hauptsächlich auf die Wahrnehmung der lebendigen Einheit von Leib und Geist bezogen ist, in Verbindung mit § 56 h] des II. Bandes der ,Ideen‘, Hua IV, S. 236 ff., wo zwar noch nicht der Terminus verwendet wird, aber unter der Bezeichnung ,Komprehension‘ derselbe Begriff auch auf die ,anschauliche‘ Einheit von Ausdruck und ausgedrücktem Sinn [wobei ,ich komprehendierend im Sinn lebe‘] bezogen wird). 106 Im übrigen ändern auch – eventuell gar beabsichtigte – Mehrdeutigkeiten und Vagheiten nichts an der prinzipiellen Rezeptivität: Mehrdeutigkeiten und Vagheiten zu verstehen heißt eben den gesamten Komplex der gemeinten Bedeutungsvarianten bzw. den ganzen ,Hof‘ von Bedeutungen und Sinnstrukturen appräsentieren, der da objektiviert ist – was das eine Mal rein assoziativ (,intuitiv‘), das andere Mal erst nach allerlei Mühen gelingen mag.

III. Die erkenntnistheoretische Fragestellung in der Hermeneutik

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gültiger Rezeption. Wir haben also nach dem Prinzip zu fragen, das gleicherweise gültigem Verständnis wie gültigem Vorverständnis zu Grunde liegt. Zum anderen ist die Rede von ,Vorverständnis‘ und ,Vorurteil‘ gerade unter den Voraussetzungen der Heideggerschen Hermeneutik-Konzeption zweideutig: Ist da der Autor bzw. sein Werk ,vorab verstanden‘ oder die Sache, von der in dem Werk die Rede ist – und ,von der‘ wir zumeist auch ,etwas verstehen‘ (oder, wie Heidegger die Sache gern wendet: ,auf die‘ wir ,uns verstehen‘)? Die Rede vom ,Vorverständnis‘, noch mehr vielleicht die vom ,Vorurteil‘,107 verdeckt gerade diese Differenz, sie schwankt zwischen empirischem und transzendentalem Bewusstsein der thematisierten Sinngebilde und verhindert eine klare Auseinandersetzung mit dem Problem der Rezeptivität. Es mag ein triviales Faktum sein, dass unser Vorwissen von der Sache unwillkürlich mit dem in hermeneutischer Erfahrung Gegebenen interferiert, und das heißt: es erhellen oder aber verdunkeln und stören kann. Die Frage ist jedoch, was den Grund dafür abgeben kann, dass wir Verdunklung und Störung fernhalten bzw. überwinden und Erhellendes spezifizieren können. Dazu müssen wir die einzelnen Momente (nicht etwa Phasen) hermeneutischer Erfahrung auf die Prinzipien ihrer Geltung zurückführen. Nicht ein Vorverständnis von der Sache, von welcher der Text spricht, ist die Bedingung des Verstehens (so hilfreich ein richtiges Vorverständnis sein mag), sondern es muss uns, in vorläufiger Annäherung formuliert, die Sprache und die Begrifflichkeit, in der von der Sache gesprochen wird, zur Verfügung stehen. Deshalb wurde die pure Rezeption des Sinngehaltes der jeweiligen Sätze in der hermeneutischen Tradition, etwa bei Ast und Schleiermacher, auch ,grammatisches Verstehen‘ genannt. Wir wollen hier als umfassenderen Terminus den Ausdruck ,elementares Verstehen‘ benutzen, um einen auch auf das Verstehen von nichtsprachlichen Werken anwendbaren Terminus zur Verfügung zu haben. Elementares Verstehen besteht, seiner Geltung nach, in nichts anderem als in der Identifikation der im Werk objektivierten Sinngehalte. Wie diese Identifikation im einzelnen stattfindet, wieviel protentional-vage Vorwegnahme des SinnGanzen die Identifikation der einzelnen Sinnmomente erfordert (obwohl das bestimmte Sinnganze erst aus den bestimmten Einzelmomenten sich aufbaut), wie viel Imagination der in den Sinngehalten gedachten Gegenstände schließlich dazugehört, das ist teils eine Frage der (Sprach-)Psychologie, teils wohl nach Art der Sinngehalte (ihrer Anschauungsnähe oder -ferne) recht verschieden. Aber da wir Sinngehalte, Bedeutungen von Wörtern, niemals anders angeben können als 107 Zur Widersprüchlichkeit der Gadamerschen ,Rehabilitierung des Vorurteils‘ vgl. auch: Andreas Dorschel, Nachdenken über Vorurteile, Hamburg 2001, Kap. III und IV („Über die hermeneutische Verteidigung des Vorurteils, und warum sie nicht gelingt“ und „Über die Paradoxie im Empfehlen von Vorurteilen, und wie sie zu umgehen ist“), S. 69–128.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

durch Verweis auf andere Wörter und also deren Sinngehalte, setzt die Identität der Sinngehalte ein Sinn-System voraus. Mithin setzt die Identifikation der Sinngehalte eines Werkes voraus, dass wir über genau dasjenige System möglicher Sinngehalte verfügen, das auch dem Werk und seiner Produktion zugrunde liegt bzw. zugrundegelegen hat. Das Geltungs-Prinzip der hermeneutischen Rezeptivität ist das System der im Werk prinzipiell vorausgesetzten Sinneinheiten und Sinnstrukturen (mit einem der Phänomenologie entlehnten Terminus): das in ihm vorausgesetzte ,noematische System‘108 samt seinen mehr oder weniger eindeutigen Relationen zu sprachlichen und sonstigen, z. B. bildlichen, Ausdrucksmitteln. – Unsere These lautet also: Das Werk muss uns, damit es wahrhaft Gegenstand werden kann, im elementaren Verstehen als Sinngegenständlichkeit gegeben sein, und zwar aufgrund eines noematischen Systems, das die Identifikation von Sinneinheiten erlaubt, weil einerseits dieses System dem Werk selbst zugrundeliegt und andererseits wir über es vorab verfügen oder es uns im Prozess der Rezeption erarbeitet haben. Ein wenig anders scheint die Situation bei der Rezeption von nichtsprachlichen Kunstwerken zu sein: Müssen wir nicht bei der Betrachtung eines Gemäldes etwa den Begriff des Menschen auf ein anschaulich Gegebenes anwenden, um einen dargestellten Menschen als Menschen zu erkennen? Doch das, was wir da wahrnehmen, ist keineswegs ein Mensch und daher auch nicht durch Anwendung unseres Begriffs des Menschen in Erfahrungs-Erkenntnis überführbar. Vielmehr gehorcht unsere (durchaus begrifflich regulierte) Imagination, wenn wir die Darstellung (in einem elementaren, ikonographischen, Sinne109) verste108 Wir werden den Begriff des Noema, der vor allem helfen soll, die beim Terminus Sinn nahe liegende Einschränkung auf die Bedeutung sprachlicher Einheiten zu vermeiden, und ebenso den Begriff des noematischen Systems weiter unten noch ausführlich behandeln (s. u. S. 227–263). – Der Terminus „noematisches System“ ist auch in der Sprachwissenschaft etwa von Georg Friedrich Meier (Semantische Analyse und Noematik, in: Zeitschrift für Phonetik 17, 1964, S. 581–595) und insbes. von Klaus Heger, verwendet worden, um für den Sprachen-Vergleich ein von Einzelsprachen unabhängiges tertium comparationis zu bezeichnen, vgl. K. Heger, Monem, Wort, Satz, Text, Tübingen 1976 u. ders., Zum Verhältnis von Semantik und Noematik, in: H. Stimm/W. Raible (Hrsg.) (1983), Zur Semantik des Französischen, Wiesbaden, S. 40– 44. – Inwieweit ein solches System in der von Heger konzipierten Weise sprachwissenschaftlich brauchbar ist oder auch in theoretisch verbesserter Form brauchbar werden könnte, haben wir in unserem Zusammenhang, bei dem es um einen nicht auf die sprachwissenschaftliche Methodik eingeschränktes theoretisches Problem geht, nicht zu entscheiden; vgl. auch den kritischen Überblick bei Daniel Jakob, Die Hegersche Noematik, in: Language Typology and Language Universals / Sprachtypologie und sprachliche Universalien / La typologie des langues et les universaux linguistiques. Hrsg. v. M. Haspelmath/E. König/W. Oesterreicher/W. Raible, 1. Halbband, Berlin 2001, S. 293–306. 109 Ikonographie nennt man in der Kunstwissenschaft die beschreibende Deutung eines Kunstwerks im Hinblick auf das ,Sujet‘ (die dargestellten Gegenstände) im Gegensatz zur Ikonologie, die das Kunstwerk unter Begriffe fasst, die etwa seine kultu-

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hen, sozusagen genau jenen Anweisungen, die der Künstler ihr durch seine (wiederum begrifflich regulierte) Darstellungstechnik geben wollte.110 2. Objektivität und begriffliche Bestimmung – Das Werk als zu begreifender Gegenstand, Kategorien empirischer Werkbestimmung a) Propositionaler Gehalt Bei genauerer Überlegung zeigt sich freilich, dass die bisherige Fassung des Prinzips gültiger und daher gelingender Rezeption im Rahmen einer Reflexion auf wissenschaftliche Erfahrung uns eher ein Problem als eine Lösung darbietet, insofern wir die ,natürliche‘ Voraussetzung unseres alltäglichen Rezipierens, dass nämlich unser Sinnsystem mit dem des rezipierten Textes identisch sei, sogleich in Frage stellen müssen. Denn schon aus unserem alltäglichen Rezipieren kennen wir Fälle des Missverstehens und der Nicht-Verstehens. Nicht nur begegnen uns, selbst in unserer eigenen Sprache, bisher unbekannte oder wenig vertraute Ausdrücke (die wir nur ,übersetzen‘ müssten), sondern mit ihnen (oder gar mit in anderer Bedeutung bekannten Ausdrücken) neue Begriffe und Sinnzusammenhänge, die wir (im einfachsten Fall über Definitionen durch uns bekannte Begriffe) an unser eigenes Sinn-System anschließen müssen. Das führt uns nun über die bloße Rezeption hinaus: das Prinzip ihrer Geltung, das noematische System möglicher Sinnelemente und Strukturen, ist nicht gegeben, sondern aufgegeben als regulative Zielidee einer Methode, deren elementare Operation in der Ergänzung des uns verfügbaren Sinnsystems durch neue Sinnelemente und neue Relationen zwischen Sinnelementen besteht. Die Aufgabe besteht generell in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem fremden und unserem noematischen System, soweit wir dieser Bestimmung

relle oder historische Bedeutsamkeit betreffen, von welcher der Künstler im Allgemeinen kaum etwas gewusst haben mag (vgl. dazu etwa Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance, in: ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts), Köln 1978, S. 36–67). 110 Vgl. dazu des näheren wiederum E. Panofsky, Kunstgeschichte als geisteswissenschaftliche Disziplin, in: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (Meaning in the Visual Arts), Köln 1978, S. 7–35. – Doch den Darstellungsgehalt in dieser (also auch Begriffe assoziierenden) Weise verstehen, heißt noch keineswegs: empirische (näherhin kunstwissenschaftliche) Begriffe auf die Darstellung selbst (sei es in ihren anschaulich-technischen, sei es in ihren indirekt objektivierten begrifflich-regulierenden Momenten) anwenden. Ein Bild etwa als Darstellung einer Geburtsszene, näherhin auch der Geburt Jesu, verstehen heißt noch nicht sie als spätmittelalterliches Gemälde, als Zeugnis der Frömmigkeit, als unter dem Einfluss einer Florentiner Schule stehend zu begreifen. Solche Eigentümlichkeiten sind nicht dargestellt, können daher nicht (in einem mehr oder weniger weiten Sinne) rezipiert werden, ihre begriffliche Bestimmung muss durch den Interpreten erzeugt werden.

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zu einem kritischen Verständnis des Werkes bedürfen. Damit aber sind wir über die bloße (sozusagen naive) Rezeption grundsätzlich zur begrifflichen Bestimmung des Werkes und seiner Eigenbestimmtheit fortgeschritten. Dabei appräsentieren wir nämlich keineswegs bloß die im Werk selbst benutzten Sach-Begriffe so, dass wir (,geradehin‘, intentione recta) auf dieselbe ,Sache‘ wie der Autor gerichtet sind, sondern wir reflektieren auf jene Sachbegriffe und begreifen die Identitäts-, Überschneidungs-, Inklusions- und Exklusionsrelationen der Sachbegriffe untereinander und mit unseren Sachbegriffen, benutzen also auch reflektierende Begriffe von Relationen und strukturellen Größen und in empirischer Besonderung: Begriffe, die Sinnsysteme und Sinn-Teilsysteme sowie deren sprachliche Objektivation näher bestimmen (etwa als eine umgangssprachliche, aus unserer Perspektive altertümliche, eine wissenschaftlich-technische, eine diplomatische, juristische . . . Begrifflichkeit und Redeweise). Wenn wir uns auf sprachliche Werke beschränken, handelt es sich bei dieser Bestimmungsaufgabe um logische, semantische und syntaktische Klärungen, die ihrerseits der Idee nach eine Beschreibung des sprachlichen Gesamtsystems voraussetzen. Wir sollten aber bedenken, dass sich bei nicht-sprachlichen Werken (etwa der bildenden Kunst) ganz ähnliche Aufgaben ergeben, bezogen auf spezielle Darstellungs- und Symbol-Systeme und entsprechende Begriffsnetze. – Dabei haben wir noch eine weitere Sinn-,Dimension‘ hervorzuheben, die zu jedem Werk gehört:

b) Poiematischer Gehalt Bei genauerer Überlegung, die uns zu einer weiteren Bestimmungsaufgabe führt, kann von einem wirklichen Verstehen und – im Falle von sprachlichen Werken – von begrifflicher Bestimmung des Text-Sinns noch nicht die Rede sein, wenn wir lediglich die uns vorliegenden Wörter und Sätze genau verstehen und bestimmen. Wir könnten uns dem, was da im rezeptiven Verstehen und begrifflichen Bestimmen noch fehlt, im Anschluss an unsere Überlegungen zum Begriff des transzendentalen Bewusstseins nähern; denn der Autor hat ja, zumindest wenn es sich um ein sprachliches Werk handelt, bei der Abfassung des Texts intentionale Akte mit einem gewissen Geltungsbewusstsein vollzogen. Zwar wollen wir in den hermeneutischen Werkwissenschaften nicht eigentlich etwas über den Autor, sondern über das Werk erfahren, nicht was der Autor gedacht hat, sondern was er geschaffen hat, ist unser Thema. Das Werk hat kein Bewusstsein. Aber der Autor hat ihm (gewiss in einem bestimmten Bewusstsein von diesem zu schaffenden oder geschaffenen Werk) einen bestimmten Geltungssinn gegeben: es soll etwa wissenschaftliche Aussagen enthalten oder aber poetische Schilderungen.

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Nähern wir uns diesem Geltungssinn von einer anderen Seite, durch einen kurzen Seitenblick auf die neuere Sprechakttheorie111 und dasjenige, was man die ,pragmatische‘ Dimension der Sprache nennt. Die Äußerung des Satzes „Morgen regnet es.“ verstehen wir nach dieser Theorie nur wahrhaft, wenn wir wissen, ob sie als Absage eines gemeinsam ins Auge gefassten Ausflugs – oder aber als tröstliche Information an einen Gartenfreund während einer Dürreperiode ,zu verstehen‘ ist.112 Dieser ,Handlungssinn‘ des Satzes (hier seine ,illokutionäre‘ Funktion) wird vom Sprecher zumeist nicht objektiviert, aber der Sprecher kann ihn, insbesondere wo ihm die Situation nicht ,eindeutig‘ genug zu sein scheint, direkt oder andeutungsweise in den ,performativen‘ Ausdruck heben: „Ich kann dich trösten: morgen regnet es.“. Oder etwa: „Ich muss dich enttäuschen, morgen regnet es.“ In Analogie dazu würden wir auch den Satz „Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang [. . .]“ nicht wirklich verstehen, wenn wir ihn als Stück einer astronomischen Theorie auffassten. Hier geht es nicht um den Handlungssinn einer Äußerung, sondern um den spezifischen Produkt-Sinn des jeweiligen Werkes (und seiner eventuell unterschiedlichen Teile), den wir, in Analogie zum pragmatischen Sinn, den ,poiematischen Sinn‘ nennen können.113 Auch er kann mehr oder weniger deutlich artikuliert sein: Wer bei unserem letzten Beispiel unsicher wäre, könnte sich an den Untertitel des betreffenden Werkes halten: „Eine Tragödie“ heißt das Werk; und auch, dass der Satz zu einem „Prolog im Himmel“ gehört, wird den Leser auf den – nun ,innerdramatischen‘ – Handlungssinn des Satzes als Teils eines hymnischen Sprechens führen und ihn davor bewahren, ihn als astronomische Behauptung auch nur einer dramatis persona aufzufassen. – Wir bewegen uns bei derartigem Verstehen also prinzipiell noch im Bereich möglicher Rezeption von Sinn, auch wenn wir zumeist schon vieles ,von uns aus‘ ergänzen, was der Autor uns nicht eigens darzubieten für nötig halten mag (wie wir ja auch in der physischen Erfahrung manches faktisch nicht Wahrgenommene – die Rückseite eines Hauses etwa – 111 Vgl. etwa die oben (S. 37, Fußnoten 11 u. 12) angeführten Werke von J. L. Austin und J. Searle. 112 Zwei weitere Beispiele: „Morgen wird der ,Tannhäuser‘ gegeben.“ verstehen wir nur wahrhaft, wenn wir wissen, ob er als Vorschlag für einen Opernbesuch oder als abwehrende Bitte um Schonung (weil man sich so etwas doch nicht antun könne) ,zu verstehen‘ ist. – „Ich habe ein Buch darüber zu Hause.“ als bloßer Hinweis auf eine eigene Informationsquelle oder etwa als Angebot, es dem Gesprächspartner auszuleihen. – „Ich bin morgen zwischen 10 und 12 im Seminar.“ als entschuldigende Absage gegenüber einem Vorschlag für ein Treffen – oder im Gegenteil als Versprechen, zu einem Treffen im Seminar zu kommen. 113 Gemäß der aristotelischen Unterscheidung von ,Praxis‘ und ,Poiesis‘ vom ,poetischen Sinn‘ eines Werkes zu sprechen, würde zwar der griechischen Wortbedeutung angemessen sein, leider aber im Deutschen viel zu eng aufgefasst werden; immerhin hat das Wort ,poiematisch‘ den Vorzug, genau analog zur Rede von der ,pragmatischen‘ Dimension der Sprache gebildet zu sein.

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ergänzen). Dennoch ist das, was wir da Produktsinn und Handlungssinn genannt haben, von besonderer Bedeutung und anderer Funktion als der dem elementaren Verstehen oft allein ausdrücklich dargebotene Satzsinn. In der Regel aber sind die Begriffe, die wir zur Bestimmung dieses poiematischen Sinn-Moments benutzen, andere als die im Werk selbst benutzten und im elementaren Verstehen rezipierbaren Begriffe. Nur ist auch der Autor ein der begrifflichen Reflexion fähiges Subjekt; und so kann es sein, dass er uns, indem er sein Werk etwa im Untertitel ausdrücklich als ,Roman‘ oder ,Theorie‘ bezeichnet, schon ein Stück begrifflicher Mühe abnimmt.114 Freilich kann es auch gerade zum Charakter und ,Witz‘ dieses poiematischen (wie des pragmatischen) Sinnes gehören, dass er unartikuliert bleibt: eine Metapher oder ein ironischer Satz würden in der Regel um alle Wirkung gebracht, würden sie als solche angekündigt. – Gleichwohl ist der poiematische Sinn ein Gegenstand unseres hermeneutischen Begreifens, das in der hermeneutischen Wissenschaft zumal dort explizit zu machen ist, wo wir nicht schon sicher sein können, dieses Moment des Gesamtsinns implizit richtig verstanden zu haben. Dessen Bedeutung und Funktion liegen zum einen in einem je spezifischen Geltungsanspruch, die Art und Weise, wie der Text gemeint und also zu verstehen ist: als sachliche Darlegung, als fiktionale ästhetische Schilderung, als religiöse Predigt, ein einzelner Ausdruck innerhalb eines Werkes als Metapher usw. Die Arten des Geltungsanspruchs (im Geltungsbewusstsein des Autors wie des Rezipienten) unterscheiden sich durch unterschiedliche Auffassungen des Verhältnisses, in dem der bloß propositionale Sinngehalt zu dem gemeinten Gegenstand steht. Zum Verstehen in einem nicht mehr ganz elementaren Sinne gehört somit auch das Erfassen des Geltungsanspruchs eines Textes. Demgemäß wäre der in der Rezeption gegebene Sinn unterbestimmt, solange wir nicht den Geltungsanspruch, mit dem er hervorgebracht wurde, als poiematisches Moment des gesamten Werk-Sinnes und gegebenenfalls des einzelnen propositionalen Ausdrucks auf den Begriff bringen. Auch nicht-sprachliche Werke enthalten ein poiematisches Sinnmoment, zumindest bei darstellenden Werken ist dies leicht zu zeigen: Die Darstellung einer mythologischen oder biblischen Szene ist in anderer Weise „gemeint“ als die Skizze einer realen Landschaft, und die letztere kann eine solche sein, die einen ästhetischen Anspruch macht, oder eine solche, die etwa nur über die Lage von Bergen, Straßen oder Häusern ,informieren‘ soll oder schließlich als 114 Die Reflexions-Fähigkeit des Autors betrifft letztlich alle Ebenen möglicher wissenschaftlichen Bestimmung, wovon nicht nur nachträgliche Rechenschaftsberichte von Autoren (etwa Thomas Manns „Die Entstehung des Doktor Faustus“) zeugen, sondern auch die für viele Romane der Weltliteratur charakteristischen, oft ironischen, reflektierenden Passagen der Erzähler-Figur. – Diese (poetologisch hochinteressanten) Komplikationsmöglichkeiten müssen wir bei unseren Überlegungen im Interesse einer grundsätzlichen Klärung beiseite lassen.

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Entwurf innerhalb einer Landschaftsplanung zu verstehen ist. Entsprechend verstehen wir die Darstellungen mit verschiedenen Bewusstseinseinstellungen – und können sie auch missverstehen, wenn wir etwa ein Bild von C. D. Friedrich, das Landschaftselemente aus verschiedenen Regionen kombiniert, für die Darstellung einer realen Landschaft halten. Bedeutung und Funktion des ,poiematischen Sinnes‘ liegen zum anderen in einer mit dem Geltungsanspruch verbundenen, wesentlich zum Werk gehörigen Wirkungsintention.115 Wir müssen verstehen, was der Autor mit dem Text beabsichtigt und in welcher Hinsicht er auf uns wirken soll. Astronomische Theorien bzw. Werke erheben einen theoretischen, näherhin naturwissenschaftlichen Geltungsanspruch und sie ,wollen‘ den Rezipienten überzeugen, eventuell auch spezieller belehren, ihm bisher unerklärte Phänomene erklären usw. Tragödien wollen dies alles nicht, schon gar nicht in demselben Sinne, mögen sie im übrigen auch (freilich weniger in einzelnen Sätzen der handelnden Personen als in der Gesamtheit des dargestellten Geschehens) eine Art von Wahrheit (etwa über die conditio humana überhaupt) enthalten, die über das, was eine Wissenschaft über das menschliche Leben ermitteln könnte, weit hinausgehen kann.116 c) Subjektiv-hermeneutische und objektiv-hermeneutische Erfahrung Dies führt uns nun auf ein entscheidendes Moment der Gadamerschen Konzeption von „hermeneutischer Erfahrung“: Wie viel Anstrengung wir auch aufwenden mögen, um im Sinne des bisher Gesagten genau zu wissen, was der Text meint und was er ,will‘, wir verhalten uns doch noch keineswegs so, wie es der Text von uns ,will‘, wenn wir nicht weiter gehen, als eben dies zu erfassen. Statt es nur zu erfassen können wir nämlich darüber hinaus auch genau das, was der Text von uns zu tun verlangt, tatsächlich tun (und es mag durchaus der gewöhnliche Fall sein, dass wir es tun): uns von einem Argument überzeugen lassen (oder dessen Geltung doch wenigstens ernsthaft erwägen), uns von Euklids ,Elementen‘ über die mathematischen Gegenstände belehren lassen 115 Wiederum an die Sprechakttheorie anknüpfend, könnten wir den Geltungsanspruch mit der illokutionären Funktion einer Äußerung, die Wirkungsintention mit der perlokutionären Funktion in Beziehung setzen (vgl. John L. Austin, How to do Things with Words, Oxford 1962). 116 Diese Art von Wahrheit gegen eine ästhetizistische Verharmlosung der Kunst herauszustellen, ist eines der Hauptanliegen des Ersten Teils von Gadamers „Wahrheit und Methode“. Aber ähnliche Gedanken finden sich schon in der Aristotelischen ,Poetik‘ (wonach die Dichtung etwas Philosophischeres und Bedeutsameres sei als die Geschichtsschreibung, da sie nicht bloß auf das zufällige Wirkliche, sondern auf das Mögliche gehe und so dem Allgemeinen und Notwendigen der Philosophie näherstehe [1451 b5 f.]). Auch und gerade die von Gadamer gescholtene ,subjektive Wendung‘ der Kantischen Ästhetik besteht in Wirklichkeit in dem Aufweis, dass die Wirkung des ästhetischen Objekts auf das Subjekt auf einer tieferen Wahrheit über die sinnliche Vernunftnatur des Menschen beruht.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

(oder doch wenigstens die Konstruktion nachzuvollziehen versuchen), das dargestellte Schicksal auf uns wirken und uns erschüttern (bzw. erheitern) lassen usw. Doch was ,tun‘ wir da eigentlich, wenn wir dergleichen mit uns ,geschehen lassen‘? Verhalten wir uns immer noch rezeptiv, wie unsere Rede vom ,Lassen‘ nahelegt, oder schon spontan, wie die Rede vom ,Tun‘ zu besagen scheint? – Tatsächlich liegt in unserem Tun beides, Rezeptivität und Spontaneität. Und wenn wir uns klarmachen, wie beides zueinander im Verhältnis steht, können wir genauer erkennen, was der Gadamersche Begriff der hermeneutischen Erfahrung besagt – und was er nicht besagt. Machen wir uns das zunächst am Beispiel der Euklidschen ,Elemente‘ deutlich: Einerseits haben wir, statt einen Sinn bloß zu rezipieren, sozusagen ,ihm folgend‘, uns so auf den Gegenstand des Textes einzustellen, dass wir selbst, gleichsam auf eigene Verantwortung, diesen Gegenstand, etwa ein rechtwinkliges Dreieck und das Verhältnis seiner Seiten, denken und konstruieren. Nur aufgrund dieses selbstverantworteten Bewusstseins vom Gegenstand (das unter anderen Geltungsbedingungen steht als die bloße Rezeption des Textes117) können wir den Geltungsanspruch des Textes wirklich ernstnehmen, ihn erwägen, akzeptieren, bezweifeln, kurz: zu ihm Stellung nehmen. Wenn wir selbständig die in den ,Elementen‘ behandelten geometrischen Objekte denken, (nach)konstruieren, die Beweise und Lehrsätze einsehen, dann tun wir mehr, als nur den betreffenden Sinn (die Begriffe und Lehrsätze von Dreiecken u. dgl.) zu rezipieren, wir begreifen und erkennen (nicht jenen Sinn, sondern) die geometrischen Gegenstände (die Dreiecke, das Verhältnis ihrer Seiten und Seiten-Quadrate usw.). Korrelativ dazu integrieren wir jenen auf die geometrischen Gegenstände bezogenen Sinn in unser Geltungsbewusstsein, wir haben von ihm, wie wir nach unseren früheren Überlegungen sagen können, ein transzendentales Bewusstsein. Auch Erfahrung im Sinne des für uns maßgeblichen erkenntnistheoretischen Begriffs, Erfahrung als empirische Erkenntnis, besteht in mehr als in bloßer Rezeption; sie muss darüber hinaus ein Begreifen leisten. Nun ist das Begreifen geometrischer Verhältnisse aber kein Begreifen von empirisch Gegebenem, sondern ein ,reines‘, auf nicht-empirische Konstrukte bezogenes Denken. Wir haben ja nicht etwa die uns im Verstehen des Textes empirisch gegebenen Sinngehalte unter neue Begriffe (von dergleichen Sinngehalten) gebracht, sondern das in diesen Sinngehalten resultierende (nicht-empirische) Begreifen selbständig (und eventuell kritisch) nachvollzogen. Wenn damit ,hermeneutische Erfahrung‘ (als eine Art von empirischer Erkenntnis) geleistet wäre, dann würde in dieser ,Erfahrung‘ etwas erkannt und begriffen (geometrische Figuren), was gar nicht 117 Die bloße Rezeption des Textes könnte ja auch richtig sein, wenn der Text erkennbar falsche Behauptungen enthielte und ich daher den Gegenstand (etwa das Verhältnis der Dreieckseiten) anders dächte.

III. Die erkenntnistheoretische Fragestellung in der Hermeneutik

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empirisch gegeben, und etwas gegeben (die Sinngehalte), was gar nicht seinerseits unter Begriffe gebracht würde: das wäre eine merkwürdige Erfahrung – und Mathematik statt Geisteswissenschaft. Bei Texten, die (wie die mathematischen) Nichtempirisches zum Gegenstand haben, wird die Differenz zwischen der empirischen Erkenntnis des Werkes und der Erkenntnis seiner Gegenstände besonders deutlich, weil die letztere eben keine empirische Erkenntnis ist. Aber das Problem ist bei anderen theoretischen Texten dasselbe: Indem ich auf den Geltungsanspruch, den der Text erhebt, eingehe, vollziehe ich selbst dessen (z. B. naturwissenschaftliches) Begreifen mit, aber ich wende noch keineswegs Begriffe (etwa wissenschaftstheoretische oder auch wissenschaftsgeschichtliche) auf dieses im Text artikulierte Begreifen und auf den mir im Verstehen gegebenen Sinngehalt des Werkes an. In abgewandelter Form liegt bei den nicht-theoretischen Texten etwas Ähnliches vor. Nicht weniger unpassend nämlich wäre der erkenntnistheoretische Begriff der Erfahrung für das, was ein künstlerisch gestaltetes Werk, etwa eine Tragödie, von uns zu tun verlangt. Nicht begrifflich bestimmen sollen wir den beim Lesen oder Zuschauen rezipierten (also verstandenen) Sinngehalt, sondern ihn möglichst intensiv imaginativ aktualisieren (mithin auf die in ihm gemeinten und evozierten Gegenstände beziehen), sei es in der Weise naiver ,Illusion‘, sei es in der Weise distanzierter Betrachtung des (eventuell verfremdet) Dargestellten118. Nun wird das Wort „Erfahrung“ freilich in der Alltagssprache nicht nur im Sinne etwa der wissenschaftlichen Erfahrung, also für den erkenntnistheoretischen Begriff der Erfahrung gebraucht. Man spricht auch davon, dass man eine gute Behandlung durch jemanden oder die Wirkung eines Medikaments „erfahren“ habe. Da heißt „erfahren“ offenbar so etwas wie „eine Wirkung empfangen“. – Wir sprachen oben davon, dass wir, wenn wir ,tun‘, was der Textsinn von uns ,will‘, zugleich etwas mit uns geschehen ,lassen‘. Das ist besonders deutlich bei unseren emotionalen Reaktionen auf künstlerische Werke: Zwar sind auch diese Reaktionen (in einem weiten Sinne) unsere Stellungnahmen, aber sie sind dennoch in einem bestimmten Maße eine Art von Wirkung des verstandenen Werkes: Die ,Antigone‘, der ,Faust‘ haben uns erschüttert, betroffen, nachdenklich gemacht; und so ist auch unsere geometrische Einsicht (vielleicht in einem sehr anderen Sinne und in einem anderen Maße) eine ,Wirkung‘ des verstandenen geometrischen Werkes: Die ,Elemente‘ des Euklid haben uns, so sagen wir, von gewissen Theoremen überzeugt, eventuell gar: uns geometrisch denken gelehrt, uns mathematisch gebildet.

118 Auch die Reflexion des Zuschauers, die etwa die Brecht’sche Theater-Konzeption als Wirkung der Stücke vorsieht, ist ja eine Reflexion auf das dargestellte Geschehen, nicht eine Reflexion auf das Werk als solches.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

In dieser Wirkung der Werke liegt nun durchaus etwas, das wir ,Erfahrung‘ nennen können: Gewiss haben wir nicht die geometrischen Figuren, auch nicht etwa die Wahrheit der Beweise ,erfahren‘, aber doch jene Wirkung der klaren Gedankenführung der Euklidschen ,Elemente‘, so wie wir die Wirkung der vielschichtigen Komik von Kleists „Zerbrochenem Krug“ ,erfahren‘. Nicht die vom Autor und von uns bloß imaginierten, durch den Text und gegebenenfalls auf der Bühne dargestellten Schicksale erfahren wir, aber die Wirkung ihrer Darstellung. Was heißt da ,erfahren‘? – Offenbar keineswegs: das, was uns im Verstehen gegeben ist, auf Begriffe bringen. ,Eine Wirkung erfahren‘ heißt hier so viel wie: ,eine Wirkung spüren‘ oder ,erleben‘. Dieses ,Erfahren‘ ist insoweit wiederum ein rein passives, rezeptives Moment, freilich ein solches, wodurch ein spontanes Bewusstsein – nicht gerade erzeugt wird (das würde alle Eigenverantwortung des Verstehenden aufheben), aber doch – seinem Inhalt nach ermöglicht und bestimmt wird. Denn alle Wirklichkeit des Verstehens und so auch dessen emotionale oder intellektuelle Folgen beruhen auf der Bemühung des Rezipienten, der (,bloß mögliche‘) Inhalt aber entstammt (wenn wir wahrhaft verstehen) dem Werk und mittelbar der Arbeit des Autors. Auf das Verhältnis des Werkes zu unserem Bewusstsein von der ,Sache‘ können wir dann reflektieren und urteilen: das Werk hat mich ,überzeugt‘, ,beeindruckt‘ usw. Solche Begriffe besagen: das, was wir da ,erfahren‘, ist nicht einfach das Werk (jene bloß mögliche und daher keiner Wirkung fähige Entität), sondern eine wirkliche Beziehung des im Verstehen seinem Sinngehalt nach wiederverwirklichten Werkes zu uns. Wir erfahren eine Wirkung, die alle Wirklichkeit nur dem Verstehen, alle Bestimmtheit aber dem Werk verdankt.119 Das Resultat derartiger Wirkungen auf uns ist dasjenige, was der Gadamersche Ausdruck ,wirkungsgeschichtliches Bewusstsein‘ in seiner ersten, fundamentalen Bedeutung meint.120 Diese Wirkung geschieht ganz generell und großenteils unabsichtlich in dem, was wir ,Bildung‘ (der Individuen) nennen, teils 119 Die Größe dieser Wirkung, so ist zu vermuten, hängt von beiden Seiten ab, von dem Gehalt des Werkes und der Prädisposition des Rezipienten. Sie wird jedoch auf ganz verschiedene Weise zu schätzen sein, je nachdem, ob wir nach einer emotionalen, einer theoretisch-intellektuellen oder gar einer moralisch praktischen Wirkung fragen. 120 Gadamer selbst hat hiervon eine zweite Bedeutung unterschieden: die des Bewusstseins von dieser Wirkung auf unser Bewusstsein, vgl. das Vorwort zur 2. Aufl. von „Wahrheit und Methode“, H II 444, wo es über den Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins (gemeint ist offenbar der betreffende Terminus) heißt: „Die Zweideutigkeit desselben besteht darin, daß damit einerseits das im Gang der Geschichte erwirkte und durch die Geschichte bestimmte Bewußtsein, und andererseits ein Bewußtsein dieses Erwirkt- und Bestimmtseins selber gemeint ist“. – Wir werden auch auf diese Bedeutung noch eingehen. – Wir können hier zunächst offenlassen, in welchem genauen Verhältnis der Begriff einer solchen ,Wirkung‘ auf unser Bewusstsein zu dem einer Kausalität der Natur steht (vgl. jedoch den Abschnitt „Kausalität –

III. Die erkenntnistheoretische Fragestellung in der Hermeneutik

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aber auch in dem absichtlichen Bestreben, das seit alters ,Studium‘121 genannt wird. Es ist leicht zu sehen, dass jedes Weiterschreiten in diesem Bildungsgeschehen, etwa durch das Studium eines bedeutsamen Werkes, nicht nur durch den schon erworbenen Bildungshorizont bedingt ist, sondern auch das früher schon irgendwie zur Kenntnis Genommene, ja schließlich sogar all das, was die eigene Subjektivität ausmacht, tiefer und differenzierter zu verstehen und zu begreifen erlaubt, weil jeder weitere Schritt dem bisherigen Fremd- und Selbstverständnis eine umfassendere Einheit zum Grunde zu legen erlaubt. Vor allem wohl diese Tatsache hat Denker wie Heidegger und Gadamer dazu verleitet, den bei Schleiermacher noch als bloßen Schein begriffenen ,Zirkel des Verstehens‘ für einen wahrhaften und einen Subjekt und Objekt des Verstehens notwendiger Weise umspannenden ,hermeneutischen Zirkel‘ zu halten.122 Aber da die so beschriebenen Verhältnisse ganz und gar abhängig sind von dem jeweiligen Bildungsstand des Subjekts, sind sie keineswegs für jedes Verstehen notwendig. Wenn und soweit der Bildungsstand des verstehenden Subjekts an den des Autors heranreicht, bleibt von den vermeinten Zirkelverhältnissen nichts anderes übrig als das, was schon Schleiermacher herausgearbeitet hat: ein scheinbarer Zirkel, der unmissverständlicher mit dem Bild der Spirale beschrieben werden kann.123 Wollten wir beim ,wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein‘, bei der Bildung und beim Studium wie Gadamer von ,hermeneutischer Erfahrung‘ sprechen, so müssten wir genauer sagen: subjektiv-hermeneutische Erfahrung. Sie ist dasjenige, was Gadamer an vielen Stellen seiner Überlegungen einfach mit ,hermeneutischer Erfahrung‘ meint. Mit einem erkenntnistheoretischen Erfahrungsbegriff hat diese Erfahrung so wenig zu tun wie mit einem Methodenbegriff von Hermeneutik. Sie hat nichts Sinn – Geltung“, u. S. 121 ff., und unsere Hinweise auf die „relative noetische Unabhängigkeit“ von Personen, u. S. 306 und S. 309). 121 Dass dieses ,Studium‘ (etwa der literarischen Werke) nicht dasselbe ist wie das ,Studium‘ der betreffenden Literaturwissenschaften (sondern das Studium der Werke ein Bestandteil des Studiums der Werkwissenschaften und dieses letztere zugleich in gewissem Sinne eine Anleitung zu ersterem), macht die Differenz zwischen der akademischen Behandlung der Werke vor und nach der Entstehung der Geisteswissenschaften aus. Diese Differenz beruht auf derjenigen zwischen dem immanenten Zweck und dem Endzweck der Geisteswissenschaften. 122 Vgl. dazu nochmals H I 270–281 und Heidegger, SuZ § 32, S. 148–153. 123 Die Heideggersche (und Gadamersche) Beschreibung verdeckt die Bestimmtheitsdifferenz zwischen den aufeinander folgenden Phasen des Verstehens (und führt mitunter gar dazu, dass man den Zirkel ausdrücklich für einen logischen ausgibt, ohne ihn bedenklich zu finden; beides scheint R. E. Palmer miteinander für vereinbar zu halten, wenn er schreibt: „Of course the concept of the hermeneutical circle involves a logical contradiction.“ (Richard E. Palmer, Hermeneutics. Interpretation Theory in Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, and Gadamer, Evanston 1969, p. 87); zur systematische Klärung vgl. auch H. Wagner, Philosophie und Reflexion, S. 384 ff., insbes. S. 391–394.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

mit dem immanenten Zweck hermeneutischer Wissenschaft, aber viel mit deren Endzweck zu tun. Erfahrung im erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Sinne ist begriffliche Bestimmung des Rezipierten. Speziell in der geisteswissenschaftlichen Erfahrung geht es um begriffliche Bestimmung von rezeptiv verstandenem Sinn; nennen wir sie, um sie von der Zielsetzung der ,dialektischen Hermeneutik‘ zu unterscheiden, objektiv-hermeneutische Erfahrung. Objektiv-hermeneutische Erfahrung hat die Funktion, den propositionalen ebenso wie den poiematischen Sinn des Werkes und seiner Elemente begrifflich zu bestimmen, und sie hat diese Funktion, weil und insoweit das Werk nicht ,selbstverständlich‘ ist. Die Bestimmung des poiematischen Sinns schließt auch und unter Umständen besonders die der Wirkungsabsicht eines Werkes ein. Sowohl die prinzipiellen, ,philosophischen‘ Versuche zur Ästhetik, etwa zur Theorie der Tragödie, als auch die empirischen Interpretationen einzelner Werke sind auf dem Felde literarischer Werke ein Beleg für die Notwendigkeit solcher Untersuchungen. Subjektiv-hermeneutische Erfahrung, sei sie noch so intensiv, kann diese Arbeit nicht ersetzen; wohl aber kann auch subjektiv-hermeneutische Erfahrung, das tatsächliche Erleben einer Wirkung, zum Gegenstand geisteswissenschaftlicher Untersuchungen gemacht werden. Nur ist die Untersuchung der WirkungsIntention des Werkes etwas anderes als die Untersuchung der subjektiv-hermeneutischen Erfahrung, also der tatsächlichen Wirkung auf die Rezipienten, und erst recht etwas anderes als die Untersuchung der ,Wirkung‘ auf die Interpreten, allgemein: als die Untersuchung der Wirkungsgeschichte. Zweifellos haben die Werke gewisser Autoren Wirkungen auf Rezipienten, auf Interpreten und auch auf andere Autoren und deren Werke gehabt. Wir könnten, zweideutig genug, davon sprechen, dass diese Werke insofern eine ,Bedeutung‘ bekommen haben, die sich nicht den Verfassern verdanke (und dass dafür die Meinung des Verfassers irrelevant sei). Aber das deutsche Wort ,Bedeutung‘ ist vieldeutig, und was wir deutlicher ,Bedeutsamkeit‘ (engl. significance) eines Werkes – nämlich für uns oder auch andere Rezipienten und Interpreten – nennen könnten, ist etwas ganz anderes als das, was das Werk seinem Sinngehalt nach selbst ausmacht und was für jeden Rezipienten und Interpreten identisch ist, sofern die Rezeption und Interpretation gültige Rezeption und Interpretation ist. Die Bedeutsamkeit eines Werkes kann durchaus für den Autor selbst veränderlich sein, ja der mitunter gegen die Identität des Werksinns vorgebrachte Hinweis auf die Meinungsänderungen von Autoren nach der Publikation ihres Werkes setzt gerade voraus, dass da etwas Identisches vorliegt, von dem sie sich distanzieren.124 – Dass Interpretationen (übrigens sogar Selbstin124 E. D. Hirsch hat in seiner Rezension von Gadamers „Wahrheit und Methode“ und in seinem systematischen Werk „Validity in Interpretation“ die Konfundierung von ,meaning‘ (Sinn) und ,significance‘ (Bedeutsamkeit) eines Werkes als den Grund-

III. Die erkenntnistheoretische Fragestellung in der Hermeneutik

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terpretationen eines Autors) keineswegs immer gültige Interpretationen sind und dass das Werk, wie alle singulären Gegenstände in der Welt, für die Erkenntnis eine unendliche Aufgabe darstellt, die deshalb nur die gemeinsame Aufgabe vieler sein kann, steht zur Identität des Werksinnes nicht im Widerspruch. Hermeneutische Erfahrung, an die ein wissenschaftlicher Geltungsanspruch zu stellen ist, kann nur objektiv-hermeneutische Erfahrung sein. Subjektiv-hermeneutisch Erfahrung ist ein Faktum, das durch den Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnis befördert (und wir hoffen: verbessert) werden kann, aber ein Faktum außerhalb der Wissenschaft. Objektivität ist weder in den Natur- noch in den Geisteswissenschaften etwas, das durch die Objekte geleistet wird, aber sie wird auch nicht durch eine anonyme Wirkungsgeschichte geleistet, sondern durch wissenschaftliche Subjekte. Der „Fokus der Subjektivität“, als Fokus geisteswissenschaftlicher Subjektivität, enthält Objektivität als methodisches Prinzip und ist dann kein „Zerrspiegel“125, sondern der einzig mögliche Fokus gültiger Rezeption und Interpretation. Wir haben bisher die begriffliche Bestimmung des Werkes nur insoweit ins Auge gefasst, als sie Bestimmung der Struktur des rezeptiv Gegebenen ist und das Gegebene durch solche Sinnmomente ergänzt, die prinzipiell ebenfalls rezeptiv gegeben sein könnten (durch die poiematischen Sinnmomente). Schon in der grundsätzlichen Überlegung zum Objektivitätsprinzip haben wir vom Autor als dem Grund und der Quelle des Werkes und als prinzipiellem Index der von fehler der Gadamerschen Hermeneutik herausgearbeitet (vgl. Hirsch, Validity, S. 254 ff.); zu Hirschs Unterscheidung vgl. dort S. 8: „Meaning is that which is represented by a text; it is what the author meant by his use of a particular sign sequence; it is what the signs represent. Significance, on the other hand, names a relationship between that meaning and a person, or a conception, or a situation, or indeed anything imaginable. Authors, who like everyone else change their attitudes, feelings, opinions, and value criteria in the course of time, will obviously in the course of time tend to view their own work in different contexts. Clearly what changes for them is not the meaning of the work, but rather their relationship to that meaning. Significance always implies a relationship, and one constant, unchanging pole of that relationship is what the text means. Failure to consider this simple and essential distinction has been the source of enormous confusion in hermeneutic theory.“; vgl. auch Validity, S. 39; 140 ff.; 216). – Ungeschickter Weise gibt die deutsche Übersetzung von Hirschs Buch (Prinzipien der Interpretation, übers. v. A. A. Späth, München 1972) die Gegenüberstellung durch das Wortpaar ,Sinn‘ und ,Bedeutung‘ wieder; das Wort ,Bedeutung‘ ist aber im Deutschen gerade in diesem Kontext doppeldeutig, und Hirsch selbst gebraucht ,meaning‘ an entscheidenden Stellen, an denen er sich auf Husserls „Logische Untersuchungen“ beruft, ganz zu Recht wiederum als Übersetzung von Husserls Terminus ,Bedeutung‘ – vgl. Validity in Interpretation, S. 217 ff. Für Gadamers Wortgebrauch ist es andererseits gerade desaströs, dass er das Wort ,Sinn‘ (das jene Doppeldeutigkeit nicht besitzt) benutzt, wenn er den „wirklichen Sinn eines Textes [. . .] auch durch die geschichtliche Situation des Interpreten mitbestimmt“ sieht – vgl. Wahrheit und Methode, H I 301). 125 Vgl. nochmals das oben, S. 65, angeführte Zitat aus Gadamers „Wahrheit und Methode“, H I 281.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

unserem Belieben unabhängigen Bestimmtheit des Werkes gesprochen und als eine erste Folge dieses Verhältnisses zwischen Werk und Autor die Bedingtheit gültiger Rezeption durch die Sprache und das Sinnsystem des Autors genannt. Es ist selbstverständlich, dass diese Abhängigkeit bezogen ist allein auf den Autor als Autor dieses Werkes und die Sprache und das Sinnsystem, das der Autor zur Abfassung dieses Werkes benutzt hat. So sehr also diese Sprache und dieses Sinnsystem ein Element der psychischen Bestimmtheit des Autors sein mag, für unser Verständnis und für unsere Interpretation ist nur diejenige Sprache und dasjenige Sinnsystem von Belang, das sich im Werk auch ,niedergeschlagen‘ hat. – Diese Präzisierung gilt nun in analoger Weise für die weiteren Bestimmungen des Verhältnisses von Autor und Werk.

d) Das Werk als Produkt und die zugrundeliegende ,Konzeption‘ Das Werk würde nicht existieren, weder als physischer Gegenstand noch als dessen (für sich genommen ,bloß möglicher‘) Sinngehalt, wenn es nicht von einem Autor in einem realen Produktionsprozess geschaffen worden wäre. An sich brauchten wir, um das Werk zu verstehen und zu begreifen, was es uns zu sagen hat, weder über die Eigentümlichkeiten des Autors noch über diese Produktionsprozesse etwas zu wissen. Aber diese Produktionsprozesse sind durch etwas bestimmt, was dauerhaft zum Werk gehört und das wir durchaus kennen oder ermitteln müssen, um das Werk zu begreifen: dasjenige, was dem Werk seine Einheit gibt: nennen wir es die ,Konzeption‘ des Werkes, dasjenige, was dafür ,verantwortlich‘ ist, dass der Autor, in einem über eine Zeit sich erstreckenden, u. U. längeren und durch Pausen unterbrochenen Prozess das Werk als ein Werk geschaffen hat – und wir es als ein Werk rezipieren. Natürlich geht es hier um eine qualitative, nicht eine quantitative Einheit, deren Grund wiederum eine Art Sinngebilde (die Konzeption) ist, aber dieses Sinngebilde ist, jedenfalls gewöhnlich, kein Gegenstand unserer Rezeption; wir müssen diese Konzeption selbst produktiv denken, sie konstruieren oder besser: nach-denken und rekonstruieren. Denn sie ist etwas, das wir der produktiven Intentionalität des Autors als deren Grund zudenken, als einen in irgendeinem Sinne realen, in seinem Denken einst gegenwärtigen Grund, als einen seiner Produktion zugrundeliegenden Entwurf, durch den er seinerseits vorweg begriffen (konzipiert) hat, was er da schaffen wollte, und zwar nicht nur der Gattung (Roman, Lehrbuch, Skulptur, Haus [. . .]) nach, sondern der inhaltlichen, wenn auch zunächst noch allgemeinen, Bestimmtheit nach. Konkretion und Singularität erhält das Werk durch den Schaffensprozess, das heißt in der Auseinandersetzung mit dem verfügbaren Material (einer Sprache, in der bildenden Kunst: eines Naturobjekts); die Konzeption gibt dem Prozess und dem Werk Einheit, aber das muss nicht heißen, dass sie selbst während des Produktionsprozesses, vom ersten Vor-Entwurf bis zum letzten Schaffensakt, identisch geblieben sein muss. Das Werk entwickelt

III. Die erkenntnistheoretische Fragestellung in der Hermeneutik

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,sich‘ im Produktionsprozess, und mit ihm mag die Konzeption seiner Einheit sich aus mancherlei Gründen (förderliche oder hinderliche Beschaffenheiten des Materials, neue Einfälle des Autors, Einsichten in fehlerhafte Annahmen [. . .]) weiterentwickeln. Ein gelungenes126 Werk, so können wir vermuten, wird aus einer Konzeption begreiflich, die schließlich dem ganzen Werk seine Einheit gibt, auch denen seiner Teile, die noch unter einer anderen Konzeption entstanden sind. Es ist möglich, dass wir auch die Entwicklung der Konzeption rekonstruieren können, aber unmittelbar zum Verständnis des Werkes trägt (in dem von uns als günstig vermuteten Fall) nur die Erkenntnis der endgültigen Konzeption bei, es sei denn wir stellen einen ,Bruch‘ in der Konzeption fest und die als endgültig erkennbare Konzeption bestimmt in Wirklichkeit nicht das ganze Werk. Mit dem Begriff der Werk-Konzeption haben wir wiederum nur ein Problem benannt, denn die Werk-Konzeption ist ja im Normalfall nichts, was wir in concreto, das heißt als geäußertes Sinngebilde, irgendwo finden könnten. Sie bildet vielmehr den zu erschließenden Terminus a quo dessen, was die hermeneutische Tradition die „höhere Interpretation“ genannt hat, die uns nicht bloß erfassen lässt, welches der Sinn eines einzelnen objektivierten Werk-Elementes, z. B. einer Textstelle, ist, sondern begreifen lässt, warum dieses Element zum Werk gehört, welche Funktion es im Ganzen hat und was es zur Bedeutung des Ganzen beiträgt. – Selbstverständlich ist die Konzeption als Einheitsgrund des Werkes nicht etwa eine ungegliederte Einheit; sie hat ihre Teile, Momente, Aspekte, die wir auf Begriffe bringen müssen, und zwar auf Begriffe, die grundsätzlich andere sind als die Begriffe, die, wenn es sich um einen Text handelt, im Werk selbst vorkommen mögen: Sie sind Begriffe unserer reflektierenden Meta-Intentionalität, die freilich den Begriffen, die der Autor selbst zum Entwurf seines Werkes benutzt hat, mehr oder weniger entsprechen mögen. Denn auch der Autor ist ein Subjekt, das auf sein Produzieren und seine Produktion vorweg und während der Produktion reflektiert (wie wir auch als Handelnde auf unsere Handlungen, deren Zwecke und Mittel, reflektieren). Unsere Begriffe von der Einheit des Werkes entsprechen nicht notwendiger Weise den betreffenden Begriffen des Autors, die Übereinstimmung mit ihnen ist kein Geltungskriterium unserer Erkenntnis des Werkes. Dies ergibt sich daraus, dass der konzipierende Vorgriff des Autors notwendiger Weise von einer Allgemeinheit und bezüglich der Ausführung von einer Vagheit ist, die erst durch die Produktion selbst in die Konkretion des Werkes bzw. Werk-Momentes übergehen. Die Konkretion hängt nicht allein vom Entwurf ab, sondern auch vom Material, von der aktuellen Imagination des Autors, seiner Gestimmtheit usw., also von vielerlei gegen126 Um die Gefahr einer in diesem Zusammenhang nicht ausreichenden Begründung ästhetischer Beurteilungsprinzipien zu vermeiden, sollten wir den Ausdruck ,gelungen‘ hier als Bezeichnung eines rein deskriptiven Charakters, definiert durch jene qualitative Einheit, auffassen.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

über dem Vorgriff Neuem und gegenüber dem Autor in gewisser Weise Fremdem. Ja, auch der Begriff, den sich der Autor rückblickend von seinem vollendeten Werk machen mag, muss nicht in jeder Hinsicht das erfassen, was das Werk und was der Grund seiner Einheit ist – wie man sich denken kann, um so weniger, wenn das Werk selbst keinen theoretischen, sondern etwa einen ästhetischen Geltungsanspruch erhebt. Vor allem aber ist auch die begrifflich gefasste Konzeption, sei es diejenige des Autors, sei es diejenige eines Interpreten, selbst wenn sie das Werk trifft, immer der weiteren Differenzierung und der weiteren Pointierung fähig. Mit dem Begriff der einheitsstiftenden Konzeption drängt sich nun aber ein theoretisches Problem auf, das wir bisher umgangen haben: Wenn schon das Werk, seinem Sinngehalt nach, nichts Wirkliches, sondern etwas bloß Mögliches ist, was ist dieser angebliche Einheitsgrund, die Werk-Konzeption? Ist sie nicht vollends ein Phantasiegebilde? Wir müssen, auch weil uns dies im Zusammenhang mit den auf Handlungen bezogenen Geisteswissenschaften wiederum beschäftigen wird, das Problem des Verhältnisses zwischen den intentionalen Akten oder Prozessen von Subjekten und dem dabei fungierenden Sinngehalt ein wenig näher beleuchten, wobei wir dieser Relation sogleich ein Glied hinzufügen können: Intentionale Akte finden in der Zeit statt, in ihnen wird etwas (im weitesten Sinne) gedacht, das nicht mit dem Gegenstand, auf den sich die Akte richten mögen, identisch ist. Wir haben dies den Sinngehalt genannt (und beiläufig schon einmal den Terminus ,Noema‘ darauf angewendet). Insofern wir selbst dieses selbe Noema (etwa ein Urteil oder eine Proposition) nicht nur wiederholt denken können, sondern, wenn wir es äußern und die Äußerung bzw. ihr Sinngehalt verstanden127 wird, es auch von anderen gedacht werden kann, ist dieser Sinngehalt, für sich genommen, nichts Wirkliches, denn Wirkliches, wie der Akt des Denkens, ist (von allen anderen Bedingungen abgesehen) jedenfalls an eine bestimmte Zeit gebunden, die vorübergeht. – Nun würde aber der wirkliche intentionale Akt seine Funktion, vielleicht sogar seinen Sinn verlieren, wenn er sozusagen ein punktuelles Ereignis wäre, das einen Sinngehalt konstituierte, ohne dass davon etwas bliebe – und zwar ,im‘ Subjekt des Aktes, nicht bloß bei Gelegenheit einer Äußerung und ihrer Aufzeichnung. Dabei meinen wir nicht die bloße Verfügbarkeit im Gedächtnis, so dass wir uns erinnern können, was wir gedacht haben. Was wir etwa eingesehen haben (den Satz des Pythagoras), das bleibt uns als unsere Überzeugung. Wozu wir uns entschieden haben, das bleibt uns als unsere Entschiedenheit, das heißt: als etwas, wodurch wir dauerhaft bestimmt sind. Personen, statt bloßer Subjekte von Augenblicks-Akten, sind wir, 127 Das Wort ,verstehen‘ ist in diesem Zusammenhang in unschädlicher Weise doppeldeutig, insofern „ein Wort verstehen“ durch „den Sinn (die Bedeutung) eines Wortes verstehen“ expliziert werden kann.

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weil wir nicht durch eine bloße Folge von ,Erlebnissen‘, die wir ,durchlaufen‘, sondern vor allem durch die dabei ,gewonnenen‘ Überzeugungen und Entschiedenheiten bestimmt sind. Überzeugungen und Entschiedenheiten sind offenbar einerseits etwas, was wir in Sätzen artikulieren und ausdrücken können, also so etwas wie Sinngebilde (und tatsächlich gebrauchen wir den Ausdruck „eine Überzeugung“ oft so, als handle es sich um nichts als ein Sinngebilde, das wir anderen ,mitteilen‘ und ,mit‘ anderen ,teilen‘ können). Andererseits sind Überzeugungen wirkliche Eigenheiten bestimmter Personen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnen und u. U. zu einem späteren Zeitpunkt enden (gewöhnlich, indem wir eine gegenteilige Überzeugung gewinnen). Husserl sprach von diesen Bestimmtheiten als „Habitualitäten“ 128, in der analytischen Philosophie hat sich der Ausdruck „propositional attitude“129 eingebürgert. Deren Wirklichkeit zeigt sich darin, dass sie andere intentionale Akte (z. B. Handlungen, Erklärungen, Folgerungen) bedingen, die also ohne sie nicht hätten stattfinden können, andere dagegen verhindern. Über diese Habitualitäten werden wir noch öfters sprechen müssen; hier soll uns der Begriff dazu dienen, das Verhältnis zwischen dem, was wir ,Konzeption‘ eines Werkes genannt haben, und dem Werk als Ganzem mit all seinen Elementen und Momenten aufzuhellen. Denn – wie immer das logische Verhältnis zwischen Konzeption, als einem komplexen Sinngehalt der entwerfenden Akte, und dem Werk sein mag – die Konzeption kann die Ausführung oder Er128 Vgl. z. B. Edmund Husserl, Ideen II zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hrsg. v. Marly Biemel, Den Haag 1952 (Hua IV), § 29 (mit Bezug auf das reine, transzendentale Ich); Husserl zeigt im folgenden Paragraphen 30 allgemein, dass die Struktur des reinen Ich sich in der empirischen Einstellung auf das „Subjekt als Substrat von Eigenschaften“ überträgt, auch wenn er dies nicht sehr deutlich speziell für die habituellen intentionalen Eigenschaften ausführt. In einer späteren Notiz bezeichnet Husserl die Darstellung als noch ,unreif‘ (vgl. Hua IV, Beilage II, S. 310 f.), in den „Cartesianischen Meditationen“ findet sich dann eine kurze, aber verbesserte Darstellung, dem Ziel dieses Werkes entsprechend wiederum mit Bezug auf das reine Ich (nun integriert in die Lehre von der transzendentalen Genesis): vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. v. Stephan Strasser, 1950 (Hua I), § 32, S. 100 f. (vgl. auch die entsprechende Stelle in den „Pariser Vorträgen“, Hua I, S. 26). 129 Vgl. etwa Herbert Paul Grice, Meaning, in: Philosophical Review 66 (1957), S. 377–388; John Searle, Intentionality. An essay in the philosophy of mind, Cambridge 1983 und die Sammlung: N. Salmon/S. Soames (Eds.), Propositions and Attitudes, Oxford 1988; freilich werden propositional attitudes, indem sie, undeutlich genug, als eine Art Intentional mental states begriffen werden (die sich dadurch auszeichnen, dass sie ganze propositions zum Gehalt haben), etwa bei Searle kaum von (aktuellen) intentionalen Akten unterschieden (sondern nur von speech acts); auch die Differenz zwischen Intentional states und conscious states trifft das Problem nicht, weil auch bei dem letzteren Begriff kaum an das Vollzugsmoment intentionaler Akte gedacht ist.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

zeugung des Werkes ja nur als etwas bestimmen, das während oder in der Erzeugung ,gegenwärtig‘ ist, und zwar unter Umständen über eine lange Zeit hinweg. Gegenwärtig sein kann dieser (für sich genommen irreale) Sinngehalt nur dann, wenn er als eine reale Bestimmtheit des Autors, als so etwas wie eine ,Überzeugung‘, zur wirklichen (und wirkenden) Produktionsbedingung des Werks wird. Nur die Voraussetzung eines solchen realen Verhältnisses zwischen Konzeption und Werk berechtigt uns als Interpreten, in unserem Konstrukt einer dem Werk zugrundeliegenden Konzeption mehr zu sehen als unser Phantasiegebilde (das bei dem einen Interpreten so, bei dem anderen so ausfällt). Zwar bleibt die in der Interpretation herausgestellte Konzeption (im Normalfall, wenn es nicht zufällig entsprechende Äußerungen des Autors gibt) ein Konstrukt; aber sie versteht sich als eine Rekonstruktion, die deshalb auch dem Kriterium genügen muss, dass sie das Werk als Produkt ,erklären‘, d.h. begreiflich machen kann, warum das Werk (in allen seinen Elementen und Momenten) so ist, wie es ist. Sie kann dies begreiflich machen, weil diese Rekonstruktion zugleich die wirkliche Produktion ihrer Intentionalität nach und ihrem Sinngehalt nach erklärt, indem sie die Korrelation zwischen produzierender Intentionalität und Sinngehalt des Werkes auf die Korrelation zwischen habitueller Bestimmtheit des Produzenten und ihrem Sinngehalt, der Konzeption, zurückführt. Damit erfüllt sie das Erfordernis, der ,bloßen Möglichkeit‘ des Werk-Sinnes die empirische Bestimmtheit durch den Autor als Grund und Quelle des Werkes zu verleihen. Es ist im übrigen selbstverständlich, dass die Rekonstruktion einer einheitsstiftenden Werk-Konzeption, so sehr sie irgendwelche Kausalrelationen zwischen aktuellen Produktionsprozessen und schon vorab bestehenden habituellen Einstellungen voraussetzt, nicht die Aufgabe hat, psychologische Abläufe zu ermitteln, sondern lediglich Tiefenstrukturen einer Textoberfläche freilegen will, die im Hinblick auf die vorausgesetzte Produktionsgeschichte zu der Textoberfläche in einem Verhältnis ,adäquater Effektivität‘ stehen.130 Die vorauszusetzenden Kausalrelationen sind in den hermeneutischen Werkwissenschaften (anders als etwa in den Sozialwissenschaften) nicht das Erkenntnisziel, sondern nur das in adäquater Hypothesis zu denkende Mittel einer Bestimmung des Werkes selbst, die wir im Unterschied zur Kausalerklärung ,konzeptionelle Erklärung‘ nennen können. 130 Es geht also, zumindest, wo wir nicht etwa einen (verlässlichen) Produktionsbericht des Autors zur Verfügung haben, sozusagen um eine Umkehrung des Max-Weberschen Gedankens der adäquaten Verursachung, wonach in der historischen Kausalanalyse bestimmte Phänomene (etwa der religiösen Kultur) für bestimmte andere Phänomene (etwa der Wirtschaftsentwicklung) als kausal bedeutsam herausgearbeitet werden können, ohne dass doch eine ganz bestimmte kausale Kette nachgewiesen werden könnte (vgl. etwa die Hinweise Max Webers in: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, WL 289 f.).

Zwischenbetrachtung

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Die konzeptionelle Erklärung von Werken ist, so sehr sie sich auf das jeweilige Werk bezieht, keineswegs eine Erklärung, die allein von dem Material des Werkes selbst Gebrauch macht. Es lässt sich leicht denken, dass gerade die konzeptionelle Erklärung durch die Rekonstruktion des dem Werk zugrundeliegenden Konzepts in inhaltlicher und formaler Hinsicht um so präziser und reichhaltiger ausfällt, je mehr sie durch den Vergleich mit anderen, gleichzeitigen, früheren und späteren Werken und durch den Nachweis von Einflüssen und Abwandlungen von Konzepten gestützt werden kann. Diese Tatsache macht eine Geschichte von Werken (etwa eine Literaturgeschichte, eine Kunstgeschichte) sowohl möglich als auch notwendig. Zwischenbetrachtung Die Meta-Intentionalität der empirischen Geisteswissenschaften vollendet sich erst im urteilenden Begreifen eines gegebenen intentionalen Phänomens. Auch dieses Begreifen impliziert (wie schon das Rezipieren) ein empirisches Bewusstsein des Text-Sinnes.131 Durch dieses empirische Bewusstsein mit dem Ziel der Erkenntnis des Sinnes unterscheidet sich die intentionale Einstellung der empirischen Geisteswissenschaften von einem wissenschaftlichen Gebrauch der Werke, der darauf zielt, in einem transzendentalen Bewusstsein des Text-Sinnes den in den Texten behandelten Gegenstand, die ,Sache‘ des Textes, zu begreifen, wie dies etwa beim Studium von Lehrbüchern, von Veröffentlichung wissenschaftlicher Kollegen der Fall ist. Gerade auf der Ebene des Begreifens haben wir die verschiedenen Einstellungen zu unterscheiden. Sie ist die eigentlich wissenschaftsdeterminierende Ebene, die darüber entscheidet, ob ein gegebener Text als empirischer Gegenstand oder als Vermittler, als ,Medium‘ eines Gegenstandsbezugs ,jenseits‘ des Textes fungiert. Jede Art von wissenschaftlicher Einstellung zu einem Text, auch eine philosophische, theologische oder juristisch-dogmatische setzt ja ein Moment (oder, temporal gesprochen, eine Phase) der Rezeption in einem empirischen Bewusstsein voraus und an dieses Moment mag sich, anders als im außerwissenschaftlichen Vollzugsbewusstsein und Gebrauch des Textes, sogar zumeist (dann nämlich, wenn der Sinn des Textes nicht gänzlich ,selbstverständ131 Zur Verdeutlichung dieser Feststellung weisen wir nochmals darauf hin, dass der Begriff des Bewusstseins hier immer die reflexive Beziehung auf ein Sinngebilde meint und dass jedes empirische Bewusstsein von einem Sinngebilde ein transzendentales Bewusstsein von dieser empirischen Beziehung (sei sie bloße Rezeption, sei sie urteilendes Begreifen) voraussetzt. Worauf es ankommt, ist also (um es für den Fall des in einem Werk vorgefundenen Urteils in ausreichender Vollständigkeit zu formulieren) der Unterschied zwischen dem transzendentalen Bewusstsein des vom Interpreten gefällten empirischen Urteils über den Sinngehalt des Werkes und dem transzendentalen Bewusstsein des (ursprünglich vom Autor vollzogenen, aber auch von einem Leser mit-vollziehbaren) Urteils über den Gegenstand dieses Sinngehalts.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

lich‘ ist) auch in der Philosophie, Theologie oder Jurisprudenz zunächst eine empirische (historische) Analyse anschließen; nur, dass diese in diesen nichtempirischen Disziplinen noch nicht das eigentliche Ziel, sondern nur ein Mittel darstellt, um etwa in die eigene philosophische Auseinandersetzung mit den ,fremden‘ Überlegungen einzutreten132 oder um die normative Applikation auf die Glaubens- oder Handlungswirklichkeit der betreffenden Gemeinschaft zu leisten. Auf eine Kurzformel gebracht, geht es also in diesen Wissenschaften, soweit sie sich auf Texte beziehen, nicht um den bloßen Sinn eines Textes, sondern um seine Bedeutsamkeit für ,uns‘ (die philosophisch Reflektierenden bzw. die betreffende Rechts- oder Glaubens-Gemeinschaft) – eine für unsere weiteren Überlegungen grundlegende Unterscheidung, die, wie wir sahen, häufig durch das unscheinbare, aber zweideutige Wort ,Bedeutung‘ unkenntlich gemacht wird. Auch weil diese Unterscheidung aufs engste verknüpft ist mit der Unterscheidung zwischen dem, was unserer Rezeption fremder Intentionalität zugänglich sein kann, und dem, was allein Sache des Begreifens sein kann, ist die grundlegende Aufgabe einer Theorie der Geisteswissenschaften die Unterscheidung der Probleme geisteswissenschaftlicher Rezeptivität und geisteswissenschaftlichen Begreifens, eine Aufgabe, die auch die Aufgabe der positiven Beziehung des einen auf das andere nach sich zieht. Unter den wenig gegeneinander abgegrenzten Titeln ,Verstehen‘ und ,Interpretation‘ wird allzu leicht Sinn und Bedeutsamkeit miteinander vermischt. Die positive Beziehung von rezeptivem Verstehen und begrifflicher Bestimmung kann der Form nach nur darin bestehen, dass die Rezeptivität das zu bestimmende Phänomen bereitstellt, die begreifende Erkenntnis die bestimmenden Begriffe enthält. Das zu bestimmende Phänomen muss die Bedingungen der Bestimmbarkeit erfüllen, d.h. es muss als ein in sich bestimmtes Phänomen von anderen, gleichartigen, Phänomenen unterscheidbar und als dieses Phänomen identifizierbar sein. Nun ist die geisteswissenschaftliche Rezeptivität zwar eine sinn-rezipierende Rezeptivität, insofern sie mit den physischen Zeichen zugleich artikulierten Sinn ,zu verstehen gibt‘, aber sie steht gleichwohl unter einem Vorbehalt geltungsdifferenter Sinnidentifikation und damit unter einem Interpretationsvorbehalt. Erst durch ein klares Bewusstsein der von der Rezeption unterschiedenen Aufgaben begrifflicher Be132 Wir stellen mit dieser Formulierung natürlich nicht in Abrede, dass der gewöhnlichere Fall auch bei Philosophen der des Text-Studiums ist, d.h. dass wir, im Beispiel gesprochen, von Platon erst einmal lernen müssen, was es heißt, die Frage nach dem, was ein jedes ist, zu stellen. Die Phase der empirisch-wissenschaftlichen Untersuchung des Textes setzt erst ein, wenn wir merken, dass unsere schlichte, ,naive‘ Lektüre an eine Verstehens-Grenze stößt. Eine pointierte Auseinandersetzung mit der Gadamerschen Position im Hinblick auf die (von uns hier nicht thematisierte) Interpretation philosophischer Werke findet sich unter diesem Titel in einer von Reinhard Brandt veröffentlichten „Einführung in das Studium antiker und neuzeitlicher Philosophie“, Stuttgart-Bad Cannstatt 1984, insbes. S. 11–62.

IV. Gnoseologische Implikationen von Webers Kategorienlehre

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stimmung können wir die sinndeterminierende Funktion des Rückgangs auf den Autor und seine Welt, insbesondere sein noematisches System, angemessen zur Geltung bringen und so auch erst den Sinn der Werke gegen deren Bedeutsamkeit für uns abgrenzen. Wir werden daher schließlich zwei Hauptfragen zu beantworten haben: 1. Welches sind die Bedingungen geisteswissenschaftlicher Rezeptivität, d.h. unter welchen Bedingungen können wir wissen, was genau uns als geistiges Phänomen gegeben ist und dann von uns zu bestimmen ist? 2. Durch welche grundsätzlichen, speziell geisteswissenschaftlichen Begriffe müssen diese Phänomene bestimmt werden, damit wir ihre Besonderheit, Unterschiedenheit, Veränderlichkeit und ihre Verhältnisse untereinander und zu anderen Phänomen in der Welt begreifen können? Nun haben wir durch unsere bisherigen Überlegungen uns das Gesamtproblem insofern vereinfacht, als wir in der Hauptsache von Werken, insbesondere sprachlichen Produkten bzw. den darin objektivierten Sinngebilden als geistigen Phänomenen und im übrigen nur vage von Intentionalität gesprochen haben. Dabei sind Probleme der Geschichts- und Sozialwissenschaften, in denen es um Handlungen und geistiges Leben geht, bisher allzu sehr im Hintergrund geblieben. Wir werden jedoch sehen, dass wir durchaus einige der bisherigen Klärungen bei der Reflexion auf diese Handlungswissenschaften nutzen können. Dass auch in den Grundlagendiskussionen dieser Wissenschaften sich die Fragen nach der ,Bedeutung‘ oder dem ,Sinn‘ und der ,Bedeutsamkeit‘ von Phänomenen auf eine schwer zu entwirrende Weise verschränken, kann uns leicht ein Stichwort wie „Werturteilsstreit“ in Erinnerung rufen. Wir werden im Folgenden einige prinzipielle Voraussetzungen der damit assoziierten Problematik zu klären versuchen, die historisch in dem zwischen verschiedenen Ansätzen in der Theorie der Geistes- und Sozialwissenschaften (oder, wie man lieber sagte: Kulturwissenschaften) vermittelnden Werk von Max Weber besonders deutlich wird.

IV. Gnoseologische Implikationen von Webers Kategorienlehre der verstehenden Soziologie Unser Hauptziel bei der Auseinandersetzung mit Webers wissenschaftstheoretischen Überlegungen ist es, die ihnen zugrundeliegenden, von Weber nicht immer vollständig auf den Begriff gebrachten, aber doch einer Analyse zugänglichen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Sozialwissenschaften deutlich zu machen.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

Weber knüpft einerseits an Windelbands133 Unterscheidung zwischen ,nomothetischen‘ und ,idiographischen‘ Wissenschaften und an Rickerts134 Weiterführung dieser Überlegungen durch die Herausstellung des Wertbezugs als Charakteristikum der ,Kulturwissenschaften‘ an. Der Terminus ,Kulturwissenschaften‘ war von Rickert ausdrücklich in polemischer Entgegensetzung zu Diltheys Bezeichnung ,Geisteswissenschaften‘ geprägt worden, wogegen Weber (andererseits) freilich von vornherein, wohl auch im Hinblick auf die Sozialwissenschaften, an deren Grundlegung er selbst mehr interessiert ist als an der von Rickert meist in den Blick genommenen politischen Historie, anmerkt: „Andererseits bleibt auch bei grundsätzlicher Annahme des Rickertschen Standpunktes zweifellos und von Rickert selbst natürlich nicht bestritten, daß der methodische Gegensatz, auf den er seine Betrachtungen zuspitzt, nicht der einzige und für manche Wissenschaften nicht einmal der wesentliche ist. Mag man insbesondere seine These, daß die Objekte der ,äußeren‘ und ,inneren‘ Erfahrung uns grundsätzlich in gleicher Art ,gegeben‘ seien, annehmen, so bleibt doch, gegenüber der von Rickert stark betonten ,prinzipiellen Unzugänglichkeit fremden Seelenlebens‘, bestehen, daß der Ablauf menschlichen Handelns und menschlicher Äußerungen jeder Art einer sinnvollen Deutung zugänglich ist, welche für andere Objekte nur auf dem Boden der Metaphysik ein Analogon finden würde [. . .]. Die Möglichkeit dieses Schrittes über das ,Gegebene‘ hinaus, den jene Deutung darstellt, ist dasjenige Spezifikum, welches trotz Rickerts Bedenken es rechtfertigt, diejenigen Wissenschaften, die solche Deutungen methodisch verwenden, als eine Sondergruppe (Geisteswissenschaften) zusammenzufassen.“135

Lassen wir es zunächst dahingestellt, welchen Wert wir der Rickertschen Wertbezugs-Theorie zubilligen können. Wir werden diese Frage leichter behandeln können, wenn wir eine von Weber sogleich, von Rickert selbst aber erst spät bemerkte Lücke in der Rickertschen Konzeption verdeutlichen. Weber arbeitet, wie die Rede von der „sinnvollen Deutung“ erkennen lässt, von vornherein mit dem Begriff des Sinnes, dem Rickert überhaupt erst seit der 3. Auflage seines einschlägigen Hauptwerkes136 wirklich Beachtung schenkt. Vorab machen wir jedoch auf eine methodologische Unschärfe aufmerksam, die sich 133 Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (Straßburger Rektoratsrede. 1894), in: ders., Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, 3., vermehrte Aufl. Tübingen 1907, S. 355–379. 134 Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen 51929 (1. Aufl., die Weber an der betr. Stelle allein kennt, 1902; 2. Aufl. 1913; 3./4. Aufl. 1921. Erst ab der 3./4. Auflage spielt der Begriff des Sinnes, durch ein neu hinzugekommenes Kapitel hervorgehoben, in Rickerts Überlegungen eine größere Rolle; vgl. insbes. Kap. 4, Abschn. IX; vgl. auch das „Vorwort zur dritten und vierten Auflage“, S. XIV). 135 Max Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (zunächst in Schmollers Jahrbuch 27., 29., 30. Jg., 1903–1906 erschienen), in: WL S. 1–145, S. 12 f. Anm. – Das ,metaphysische Analogon‘ der kulturwissenschaftlichen Deutung wäre die Deutung von Naturobjekten etwa unter Verweis auf eine göttliche Zwecksetzung und Planung.

IV. Gnoseologische Implikationen von Webers Kategorienlehre

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auch noch bei Webers Zugeständnis an die Diltheysche Konzeption eingeschlichen hat. Wenn Weber nämlich einräumt, „daß der Ablauf menschlichen Handelns und menschlicher Äußerungen jeder Art einer sinnvollen Deutung zugänglich ist, welche für andere Objekte nur auf dem Boden der Metaphysik ein Analogon finden würde“, dann erweckt das den Eindruck, als sei Sinnverstehen auch bei menschlichen Äußerungen generell bloß Sache einer aktiven Deutung, die sich von einer ,Deutung auf dem Boden der Metaphysik‘ nur durch ihre empirische Seriosität unterschiede. – Die Erinnerung an unsere Überlegungen zur Rezeptivität im Rahmen des Werk-Verstehens kann uns aber darauf aufmerksam machen, dass dieser Eindruck etwas verdeckt: dass nämlich in Fällen jedenfalls von sprachlichen Äußerungen etwas rezipiert wird, was zwar nicht schlicht (nämlich sinnlich) gegeben ist, aber dennoch nicht von uns in jeder Hinsicht erzeugt wird (wie unsere wissenschaftlichen Begriffe von uns erzeugt werden). Insofern ist auch die Charakterisierung der ,Deutung‘ als eines ,Schrittes über das Gegebene hinaus‘ eine allzu grobe Vereinfachung. Es ist wahr, dass das, was da (jedenfalls in günstigen Fällen des Verstehens) rezipiert wird, begrifflicher Natur ist – so wie auch die wissenschaftlichen Begriffe und Urteile einer aktiven (spontanen) ,Deutung‘ begrifflicher Natur sind. Aber die rezipierten Begriffe und Sätze stellen, wie wir uns klargemacht haben, einen Sinngehalt dar, der uns durch die sprachlichen Zeichen in seiner eigenen Gliederung vorgegeben ist. Dies hat eine weitreichende Bedeutung für die Geistes- oder Kulturwissenschaften insgesamt. Wir werden im Folgenden zeigen, dass auch menschliche Handlungen, die das eigentümliche Gebiet der allgemeinen Historie und der Sozialwissenschaften ausmachen, in einem durchaus wesentlichen Sinne etwas mit solch rezipierbarem Sinngehalt zu tun haben, auch da, wo der Sinngehalt faktisch nicht rezipiert werden kann. – Machen wir uns dies nun im Ausgang von einem zentralen Weberschen Text klar, der die ,Kategorien der verstehenden Soziologie‘ im Bezug auf eben solche Sinngehalte herausarbeitet. Er bietet den Vorteil, dass er uns nicht nur die Differenz zwischen rezeptiv verstandenem Sinngehalt und wissenschaftlicher Deutung, sondern auch die unabdingbare Bezogenheit der sozialwissenschaftlichen Begriffe auf verstehbaren Sinn begreifen lässt. 1. Kulturwissenschaftliche und soziologische Kategorien als Grundbegriffe und ihre korrelativen wissenschaftlichen Aufgaben (Deutung und Erklärung)137 Beginnen wir, um das Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Begriffen einerseits und dem durch sie begriffenen Sinn andererseits zu verdeutlichen, mit 136 Heinrich Rickert, Grenzen, Kap. 4, Abschn. IX; vgl. auch das „Vorwort zur dritten und vierten Auflage“, S. XIV.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

der Aufzählung einiger Grundbegriffe, die Weber im I. Kapitel von „Wirtschaft und Gesellschaft“138 und vorher schon in dem Aufsatz „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“139 exponiert: Handeln, Handlungsträger (handelnde Person), Handlungsmotiv, Handlungsorientierung, soziales Handeln, soziale Beziehung, Macht, Herrschaft, legitime Ordnung, Kampf, Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung, Verband, Betrieb, Anstalt. Hier sind einige Beispiele von Weberschen Definitionen solcher Grundbegriffe: „,Handeln‘ soll [. . .] ein menschliches Verhalten [. . .] heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ,Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“140 „,Motiv‘ heißt ein Sinnzusammenhang, welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter ,Grund‘ eines Verhaltens erscheint.“141 Ein Handelnder ist nach Weber der „verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln“.142 „Soziale ,Beziehung‘ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen.“143 „Kampf soll eine soziale Beziehung insoweit heißen, als das Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eignen Willens gegen Widerstand des oder der Partner orientiert ist.“144 „,Vergesellschaftung‘ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht.“145

137 Ich mache im Folgenden von einigen Überlegungen Gebrauch, die ich auf dem XVI. Deutschen Kongress für Philosophie in Berlin vorgetragen habe, vgl. B. Grünewald, Verstehen und Begreifen. Über das Verhältnis von Theorie und Realität in den Sozialwissenschaften, in: Neue Realitäten. Herausforderung der Philosophie. XVI. Deutscher Kongreß für Philosophie, Sektionsbeiträge, hrsg. v. der Allg. Gesellsch. f. Philos. in Deutschland, Berlin 1993, Band II, S. 893–900. 138 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5., revid. Aufl., bes. v. G. Winckelmann, Tübingen 1972 (= WuG). 139 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (ursprünglich in: Logos IV 1913, S. 253 ff., wiederabgedruckt in WL , S. 427–474. 140 WuG 1; im ,Kategorien‘-Aufsatz definiert Weber: Handeln ist „ein verständliches, und das heißt ein durch irgendeinen [. . .] subjektiv ,gehabten‘ oder ,gemeinten‘ Sinn spezifiziertes Sichverhalten zu ,Objekten‘“ (WL 429). 141 WuG 5. 142 WuG 6 (diese Formulierung ist nicht ausdrücklich als Definition gekennzeichnet). 143 WuG 13. 144 WuG 20. 145 WuG 21.

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„Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat.“146

Neben solchen definitorischen Aussagen oder Festsetzungen finden wir auch grundsätzliche inhaltliche, synthetische Aussagen. Als Beispiel mag hier eine besonders pointierte genügen: „Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eigenen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen.“147

Nach diesem Grundsatz kann etwa ein Begriff der Klasse als eines Handlungssubjekts ebenso wenig ,objektive Realität‘ haben wie der des Volksgeistes.148 2. Beispiele von Spezifikationen fundamentalerer Kategorien und Grundsätze Es ist nun offensichtlich, dass in diesen Grundbegriffen und Definitionen eine ganze Reihe fundamentalerer Kategorien149 implizit und explizit enthalten sind: Handeln und, allgemeiner, Verhalten ist offensichtlich eine spezielle Art von Geschehen (Zustandsveränderung), das eine Wirkung ausübt; Motiv ist eine spezielle Art von Ursachen oder zumindest von Ursachenmomenten. Die Person oder der Handlungsträger steht zu seinen Handlungen im Verhältnis von Subsistenz und Inhärenz; soziale Beziehungen implizieren offenbar gewisse Wechselwirkungen der Personen untereinander. Schließlich ist es schwer, hinter dem Grundsatz von den Einzelpersonen als Handlungsträgern nicht eine spezielle und merkwürdige Abwandlung des Substanzgrundsatzes (Kantisch: der ,Ersten Analogie der Erfahrung‘150) zu sehen. – 146

WuG 26. WuG 6; das ,für uns‘ heißt hier: für den verstehenden Soziologen, der sich durch einen solchen Satz (freilich ausdrücklich nur aus ,Nützlichkeits‘-Erwägungen) einerseits etwa vom Physiologen (der das Individuum noch in Zellen u. ä. aufspalten mag) und andererseits vom Juristen abgrenzt (welcher juristische Personen wie den Staat, eine Genossenschaft etc. als Handlungsträger ansehen mag) – vgl. WuG 6 f. 148 Vgl. auch Webers Kritik an dem Gebrauch des Volksgeist-Begriffs in der Savigny-Schule, WL 9 ff. 149 Dies wären, wenn man strenge, Kantische Maßstäbe anlegte, Kategorien im eigentlichen Sinne. 150 Er lautet (in der Formulierung der 1. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“): „Grundsatz der Beharrlichkeit. Alle Erscheinungen enthalten das Beharrliche (Substanz) als den Gegenstand selbst und das Wandelbare als dessen bloße Bestimmung, d. i. eine Art, wie der Gegenstand existirt.“ (A 182). – Die drei „Analogien der Erfahrung“ erklären insgesamt, dass Erfahrung „nur durch die Vorstellung einer nothwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich“ sei. Die erste Analogie besagt, dass 147

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Um das damit verknüpfte Problem anzudeuten, können wir sagen: So wie wir etwa in der Physik darauf angewiesen sind, genau unterscheiden zu können zwischen Veränderungen bei unseren Beobachtungen, die verschiedene Zustände eines Objekts darstellen, und solchen, die nur auf einem subjektiven Wechsel unserer Beobachtungsaktivität beruhen, so müssen wir uns auch davor hüten, Veränderungen der Persönlichkeit eines Menschen oder auch der gemeinsamen Überzeugung einer abgrenzbaren, identischen Menschengruppe, die auf deren Akt- und Handlungssequenzen beruhen, in derselben Weise zu begreifen wie Veränderungen in dem, was man „Geist eines Volkes“ nennen könnte und zunächst einmal dadurch in den Blick kommt, dass man Äußerungen sehr verschiedener und oft zeitlich sehr weit voneinander entfernter Personen miteinander vergleicht, so als seien diese Veränderungen auf Handlung oder Handlungssequenzen von der Art eines Bildungsganges etwa eines ,Subjekts‘ namens „Geist des deutschen Volkes“ zurückzuführen. 3. Der Sinnbegriff als differentia specifica kulturwissenschaftlicher Begriffe und der Korrelatbegriff des Verstehens Diese generellen Momente in Webers „Kategorien der verstehenden Soziologie“ scheinen mithin so etwas wie ein Art-Gattungs-Verhältnis zwischen den Gegenständen der Soziologie (evtl. der Kulturwissenschaften überhaupt) und den Gegenständen der Erfahrung, wie sie in Kants „Kritik der reinen Vernunft“ thematisiert werden, nahezulegen, und sie fordern die Frage heraus, was denn die differentia specifica kulturwissenschaftlicher und soziologischer Grundbegriffe sei. Der zentrale Begriff dieser differentia specifica ist offenbar der des Sinnes. – Der Begriff des Sinnes wird näher bestimmt als der

bei jedem Geschehen, das wir wahrnehmen, dasjenige, was als Neues sich ergibt, nicht etwa als ein neuer Gegenstand gedacht werden darf, sondern bloß als neuer Zustand eines und desselben Gegenstandes, weil wir sonst nicht ein Geschehen wahrnehmen würden, sondern statt dessen nur unser Wahrnehmen von einem zu einem anderen Gegenstand gewandert wäre, wir also eine subjektive Veränderung mit einer objektiven Veränderung verwechseln würden. Das Beharrliche wird dabei im Anschluss an eine traditionelle Redeweise „Substanz“ genannt, sollte aber nach dem Gehalt der Kantischen Überlegungen keineswegs schon mit einer „letzten“, absolut unveränderlichen Substanz verwechselt werden. Der oben zitierte Webersche Satz, so könnten wir nun sagen, gibt für einen speziellen Bereich der Erfahrung, nämlich der Erfahrung des menschlichen Handlungsgeschehens, an, welches das hier zugrundzulegende Unveränderte sei. Was immer etwa in der Physik eine Substanz sein mag: es ist selbstverständlich, dass das Unveränderte hier in den Sozialwissenschaften, so gewiss es ein Lebewesen ist, keine absolute, sondern nur eine relative Substanz sein kann. – Wir werden weiter unten noch auf das Problem des Kategoriengebrauchs in den Sozialwissenschaften zurückkommen (s. u. S. 121 ff. und 146 ff.).

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„von dem oder den [. . .] Handelnden subjektiv gemeinte Sinn. Nicht etwa irgendein objektiv ,richtiger‘ oder ein metaphysisch ergründeter ,wahrer‘ Sinn.“151

In Korrelation zu diesem Begriff des Sinnes steht der Begriff des Verstehens, welcher der ,verstehenden Soziologie‘ ihren Namen gibt und denjenigen Akt auf Seiten der Forschersubjekte bezeichnet, welcher Sinn zum unmittelbaren Gegenstand hat. „,Verstehen‘ heißt [. . .]: deutende Erfassung [. . .] des [. . .] Sinnes oder Sinnzusammenhangs.“152

Wir haben schon angedeutet, dass die Rede von der ,deutenden Erfassung‘ als allgemeine Charakterisierung des Verstehens nicht frei von einer gewissen Zweideutigkeit ist, so sehr sie auch speziell dem Fall des Handlungsverstehens angemessen erscheint. Denn einerseits ist es nicht ganz leicht, auf Anhieb anzugeben, welches denn der bei einer Handlung ,subjektiv gemeinte Sinn‘ sei. Andererseits enthält die Webersche Worterklärung des Verstehens eine Unklarheit, die sich sogleich zeigt, wenn man die Beispiele, die Weber selbst gibt, ein wenig näher anschaut. Verstehen kann, als wissenschaftlich gerechtfertigter Akt, nicht ein phantasievolles, gar willkürliches Erraten des subjektiven Sinnes sein, weil der subjektive Sinn ja nicht als ein vom Wissenschaftler erzeugtes, sondern als ein in den Handlungen selbst liegendes Moment begriffen ist. – Was kann ,Verstehen‘ im Rahmen der handlungsbezogenen Kulturwissenschaften heißen, wenn es als geltungskonstitutives Methodenmoment fungieren soll? – Die Klärung dieser Frage soll die Hauptaufgabe unserer folgenden Überlegungen sein. Machen wir uns dabei die Korrelation zwischen Sinn und Verstehen zunutze, wobei wir ,aktuelles Verstehen‘ einerseits und ,erklärendes Verstehen‘ andererseits153 zu unterscheiden haben: a) Aktuelles Verstehen Weber erläutert den Begriff des aktuellen Verstehen zunächst folgendermaßen: „1. das aktuelle Verstehen des gemeinten Sinnes einer Handlung (einschließlich: einer Äußerung). Wir ,verstehen‘ z. B. aktuell den Sinn des Satzes 2  2 = 4, den wir hören oder lesen[,] (rationales aktuelles Verstehen von Gedanken) oder einen Zornesausbruch, der sich in Gesichtsausdruck, Interjektion, irrationalen Bewegungen manifestiert (irrationales aktuelles Verstehen von Affekten), oder das Verhalten eines Holzhackers oder jemandes, der nach der Klinke greift, um die Tür zu schlie151

WuG 1. WuG 6. 153 Zum erklärenden Verstehen (auch „motivationsmäßiges Verstehen“ genannt) s. u. S. 112. 152

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ßen, oder auf ein Tier mit dem Gewehr anlegt (rationales aktuelles Verstehen von Handlungen).“154

Bei der Exemplifizierung des aktuellen Verstehens fällt die Weite des hier benutzten Begriffs der Handlung auf (so dass auch eine sprachliche Äußerung oder ein Zornesausbruch darunter fallen); und es fällt auf, dass die Beispiele zwar unter den einheitlichen Gesichtspunkt der Aktualität des Verstehens fallen, der mit den Handlungen verbundene gemeinte Sinn jedoch in äußerst verschiedenen Relationen zu den jeweiligen ,Handlungen‘ steht. Wer die Unterscheidungen der neueren Sprechakttheorie bei der Lektüre im Kopf hat, wird sogleich bemerken, dass Weber beim aktuellen Verstehen von Gedanken eben nicht an den Sinn der Äußerungshandlung als solcher denkt, sondern allein an ihren geäußerten Gehalt (den propositionalen Gehalt), an eine Art von Sinngehalt mithin, von der nun aber beim Verstehen des Holzhackens oder des Türschließens für gewöhnlich nicht die Rede sein kann. Dennoch können wir uns leicht klarmachen, dass wir es beim Verstehen des Satzsinnes gewissermaßen mit Sinn und Verstehen par excellence zu tun haben, und dies wird gerade deutlich, wenn wir in unsere Überlegungen einige elementare Feststellungen der Sprechakttheorie mit einbeziehen. – Wenn Verstehen, wie Weber feststellt, die deutende Erfassung eines Sinnes ist, dann können wir sagen: Der subjektive Sinn ist im Falle des Satzverstehens durch das erforschte Subjekt selbst schon ,objektiviert‘. Vorausgesetzt, der Sozialwissenschaftler beherrscht die betreffende Sprache und wir müssen nicht mit Unklarheiten oder Zweideutigkeiten rechnen, so besteht seine ,Deutungsaufgabe‘ (wenn wir denn hier überhaupt von ,Deutung‘ sprechen wollen) nicht darin, einen Sinn von sich aus ,hinzu-zudenken‘, sondern darin, eben genau diesen, ihm durch die Objektivation vor-gegebenen Sinn zu denken. Das methodologische Symptom dafür ist, dass der Forscher (jedenfalls im günstigen Normalfall155), um den subjektiven Sinn anzugeben (für gleichermaßen sprachkompetente Wissenschaftler in concreto darzustellen), jenen den Sinn objektivierenden Ausdruck lediglich zu reproduzieren hat. Schon hier weisen wir darauf hin, dass wir mit diesen (und den weiteren) Erläuterungen noch keine methodologischen Probleme lösen (etwa, wie wir denn feststellen können, ob die Objektivation wirklich den vorgegebenen Sinn für den Forscher eindeutig vorgibt). Wir haben lediglich verdeutlicht, was wir meinen, wenn wir sagen, wir hätten das Gesagte verstanden. Wir haben damit das Ziel, nicht die Mittel einer entsprechenden Methode angegeben. – Immer154

WuG 3 f. Dass wir hier überall von günstigen Normalfällen ausgehen, soll nicht besagen, dass die Wissenschaft es in der Hauptsache mit solchen Fällen zu tun habe und andere Fälle leicht zu bearbeiten seien, sondern dass die Aufklärung der Bedingungen für die günstigen Fälle die Abwesenheit dieser Bedingungen leichter erkennen und so die Gründe für das Auftreten von Problemen begreifen lässt. 155

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hin können wir aber darauf hinweisen, dass die bloße Reproduktion eines Ausdrucks (p) auch in gewissen Kontrollschritten (etwa bei der Frage an den zu Verstehenden, ob man ihn richtig verstanden habe, wenn man annehme, er meine „p“) als Prüf-Instrument fungiert, und bei Verdacht auf Mehrdeutigkeit oder Unklarheit allenfalls durch eine äquivalente Paraphrase ersetzt werden kann, aber nicht etwa durch ein auf diesen Ausdruck bezogenes Urteil, eine ihn zum Gegenstand machende Prädikation. Von den bisherigen Überlegungen her muss Webers Subsumtion des Verstehens von Ausdrücken unter das Verstehen von Handlungen unangemessen erscheinen, denn Äußerungen als Handlungen verstehen ist offenbar noch etwas anderes als eine Äußerung verstehen (d. h. verstehen, was in ihr geäußert wird). Die von Austin und Searle entwickelte Sprechakttheorie kann uns auch hier helfen, klarer zu sehen und zugleich die hervorragende Rolle des Satzverstehens auch für das Verstehen von Handlungen zu erahnen. Unser nächster Schritt besteht nämlich in dem Hinweis darauf, dass der Handlungs-Sinn der Äußerung eines solchen Satzes (ob er als Mitteilung, Drohung, Warnung usw. zu verstehen ist) zwar zumeist nicht artikuliert und objektiviert wird, gleichwohl aber artikuliert und objektiviert werden kann, wenn nämlich etwa jemand sagt: ,Ich stelle die These auf, dass 2  2 = 4‘ oder, statt nur zu äußern: „Dort ist ein Hund“ (was als Warnung oder aber als Verkaufs-Angebot eines Tierhändlers zu verstehen sein könnte), ausdrücklich sagt: „Ich warne dich: dort ist ein Hund.“ – Nennen wir das reflexive Begreifen dessen, was wir selbst tun, unser Handlungs-Bewusstsein (oder praktisches Bewusstsein), dann können wir auch sagen: Der Sprecher drückt dann zusätzlich zu einem gewissen propositionalen Gehalt sein Handlungs-Bewusstsein aus.156 Wenn er dies nun, wie gewöhnlich, nicht tut, dann müssen wir (als sein Handeln beobachtende und erforschende Wissenschaftler), um die Äußerung des bloßen elementaren Satzes als Ausdruckshandlung zu verstehen, durchaus noch etwas zu dem durch die Objektivation vor-gegebenen Sinn deutend ,hinzu-denken‘. Und um den Handlungssinn anzugeben, können wir uns nicht auf die bloße Re-produktion der Äußerung beschränken, sondern müssen von uns aus einen zusätzlichen Begriff, den Begriff der Warnung, des Verkaufsangebotes oder Ähnliches in die Darstellung einführen. Die Anwendung solcher nicht zu rezipierender und reproduzierender, sondern vom Wissenschaftler zu erzeugender Begriffe kann nun mit größerem Recht als das elementare Verstehen eines Satzes (seinem propositionalen Gehalt nach) eine ,Deutung‘ der Äußerung genannt werden. Die ,Mühe‘ der Deutung können wir uns freilich bei der performativen Äußerung „Ich warne dich: dort ist ein Hund.“ sozusagen

156 Genauer analysierend müssten wir den vollständigen Handlungssinn in dem Beispiel wohl so artikulieren „ich warne dich, indem ich dir mitteile“.

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sparen: die Äußerung bedarf keiner ,Deutung‘ in dem angedeuteten, engeren Sinne. Um den Handlungssinn einer Äußerung zu bestimmen, können wir also entweder auf eine performative Äußerung des Sprechers zurückgreifen (und dessen verbale Ich-Äußerung in die ,dritte Person‘ umwandeln bzw. nominalisieren) oder wir müssen selbst einen deutenden Handlungsbegriff finden oder erzeugen, von dem wir nun sagen können, er müsse so gewählt sein, dass er der performativen Äußerung, die der Sprecher selbst hätte tun können, ohne den Sinn seines Sprechaktes zu verfälschen, entspricht.157 Damit ist schon methodologisch angegeben, worin die Differenz zwischen dem ,originären‘ Bewusstsein des (sprachlich) Handelnden und dem ,bloß‘ verstehenden ,Denken‘ des Forschers besteht, das wir als ,Erfassen des Sinnes‘ bezeichneten: Das erstere artikuliert sich in der Ich-Form und denkt sich selbst den gegenstandsbezogenen Sinngehalt als gültig zu (der Performationsausdruck „ich warne dich [indem ich dir mitteile]“ artikuliert ein transzendentales Bewusstsein des gegenstandbezogenen propositionalen Gehalts); das letztere begreift den gegenstandsbezogenen propositionalen Gehalt (in einem empirisches Bewusstsein dieses propositionalen Gehalts) als Sinngehalt des Bewusstseins eines anderen, das vom Forscher in der Form der Dritten Person begriffenen wird.158 Wenn die wissenschaftliche Darstellung der perfomativen Äußerung lautet: „X spricht die Warnung aus: ,dort ist ein Hund‘“, so ist jedenfalls die dabei aufgewendete Mühe (der Nominalisierung des verbalen Performationsausdrucks) zunächst kaum der Rede Wert: Wir vergegenständlichen in unserem empirischen Bewusstsein dasjenige, was der Sprecher als sein transzendentales 157 Wiederum müssen wir zunächst den ,günstigsten‘ Fall konstruieren, um erklären zu können, was wir meinen, wenn wir von einem Sprechakt sagen, er sei z. B. eine Warnung. 158 Das erfahrende (insbes.: wissenschaftlich-erfahrende) Verstehen hat aufgrund dieser strikten Trennung von Gültigkeitsbewusstsein des verstehenden und Gültigkeitsbewusstsein des verstandenen Subjekts (damit auch zwischen dem empirischen Bewusstsein der verstandenen Äußerung und dem transzendentalen Bewusstsein dieser Äußerung) natürlich einen ganz anderen Charakter als das alltägliche, kommunikative Verstehen mitsamt seinen ,einseitigen‘ Abwandlungen, dem theoretisch-studierenden oder dem ästhetisch-rezipierenden Verstehen. In der alltäglichen Situation der Warnung vor einem Hund versteht der Angesprochene (zumindest wenn er dem Sprecher nicht etwa eine Täuschungsabsicht unterstellt) ja das Gesagte so, dass er es sich ohne weiteres ,zu eigen macht‘, also den propositionalen Gehalt in sein eigenes transzendentales Bewusstsein integriert, sogar dann, wenn er nur das Mitteilungsmoment der Sprechhandlung ,akzeptiert‘, das Warnungsmoment aber zwar seiner illokutionären Absicht nach versteht, seinem perlokutionären Ziel nach aber ins Leere laufen lässt (vor Hunden habe ich keine Angst). Das transzendentale Bewusstsein des Sprechers ,spiegelt‘ sich im Verständnis des Angesprochenen in der Form der zweiten Person (du warnst mich / teilst mir mit), es wird nicht in der Form der dritten Person ,vergegenständlicht‘.

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Bewusstsein geäußert hat – eine Einstellungsmodifikation, die sich bei dem betreffenden propositionalen Gehalt in den Anführungszeichen niederschlägt. Tauchen Verständnisprobleme bei sprachlichen Äußerungen auf oder benutzt unsere Darstellung eine andere Sprache als der zu verstehende Sprecher, geben wir eine Übersetzung in unsere Sprache an oder eine erläuternde Paraphrase. Tun wir nun einen weiteren Schritt, bei dem sich die herausragende Stellung des Satzverstehens für das Verstehen von Handlungen überhaupt erweisen wird. Was eigentlich kann der subjektive Sinn einer Handlung sein, die gar keine Sprech-Handlung ist? Insofern ein Handelnder mit seinem Verhalten einen subjektiven Sinn verbindet, sind wir nun offenbar in einer ganz ähnlichen Lage wie beim performativen Sinn einer sprachlichen Äußerung. Mag der subjektive Sinn einer Handlung nur in den seltensten Fällen vom Handelnden selbst artikuliert und geäußert werden, so ist es doch nicht unmöglich, dass etwa jemand, der sich zum Holzhacken anschickt, sagt: ,ich werde (will) jetzt holzhacken‘ und jemand, der die Tür schließt, sagt, ,ich schließe jetzt die Tür‘ – wobei wir offen lassen können, warum zusätzlich zur Handlung diese performative Äußerung erfolgt. Setzen wir wiederum einen günstigen Fall voraus (dass wir z. B. keine Zweifel an der Ehrlichkeit der Äußerung haben müssen), so hätte ein wissenschaftlicher Beobachter, um den Handlungssinn des Verhaltens anzugeben, wiederum nichts anderes zu tun, als den handlungseinleitenden oder handlungsbegleitenden Performationsausdruck des Handelnden in der dritten Person zu reproduzieren oder zu nominalisieren bzw. in entsprechender Form zu übersetzen. Wir können dann sagen: Wir dokumentieren unser Verständnis einer Handlung, auch wenn sie nicht von einem Performationsausdruck eingeleitet oder begleitet wird, indem wir bei der Darstellung genau die Handlungs-Begriffe, evtl. in einer nominalisierten Form, benutzen, welche der Handelnde selbst in einer performativen Äußerung (in der verbalen Ich-Form) hätte benutzen können, ohne den Sinn seiner Handlung zu verfälschen. An dieser Stelle ist es nützlich, sich die Bedeutung der Weberschen Bezeichnung „subjektiver Sinn einer Handlung“ zu verdeutlichen, indem man zweierlei mögliche Bedeutungen des Ausdrucks „objektiver Sinn“ davon unterscheidet: Einerseits könnte ein Handelnder durch den subjektiven Sinn seiner Handlung einen objektiv ,richtigen‘ Sinn verfehlen, dessen ,Richtigkeit‘ oder ,Gültigkeit‘ durch das Recht, die Moral oder eine Religion sei es begründet, sei es behauptet oder festgesetzt wäre; oder er könnte, etwa bei einem Geldgeschäft, den mittelbaren Zweck seines Handelns verfehlen, indem er einen Preis für etwas bezahlte, was ihm tatsächlich nur Verluste einbrächte. Ein Beobachter, der es besser wüsste oder zu wissen meinte, könnte dann sagen, das betreffende Handeln habe „keinen Sinn“ oder er, der Beobachter, sehe „keinen Sinn darin“. Damit wäre nicht nur der subjektive Sinn der Handlung auf das Teilmoment des

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Zweck-Sinnes verkürzt, sondern vor allem die Intentionalität des Handelnden mit der (möglichen) Intentionalität und den Maßstäben eines Beobachters vertauscht. Dies schließt Weber in seiner Definition des (subjektiven) Sinnes zu Anfang von Wirtschaft und Gesellschaft aus, wenn er hinzusetzt „Nicht etwa irgendein objektiv ,richtiger‘ oder ein metaphysisch ergründeter ,wahrer‘ Sinn.“ Die Soziologie und die Geschichte als empirische Wissenschaften, erklärt Weber, unterscheiden sich eben darin von allen „dogmatischen“ Wissenschaften: „Jurisprudenz, Logik, Ethik, Ästhetik, welche an ihren Objekten den ,richtigen‘, ,gültigen‘, Sinn erforschen wollen.“159 Andererseits könnten wir etwa bei einem sozialen Handeln (z. B. dem wortlos getätigten Kauf einer Ware im Supermarkt) von einem ,objektiven‘ Sinn sprechen, der dem Handeln beider Partnern sozusagen als Standard-Sinn zugrunde liegt, was immer sie sonst noch ,subjektiv‘ bei diesem Akt denken, insbesondere welche Absichten und Motive sie dabei leiten mögen.160 Max Weber würde hier wohl eher von ,durchschnittlichem Sinn‘ sprechen.161 Selbstverständlich setzt der ,objektive‘ Sinn in beiden Bedeutungen den subjektiven logisch voraus. Weniger leicht als die Explikation des Sinnes von sprachlichen Ausdrücken und von Handlungen erscheint diejenige des ,irrationalen aktuellen Verstehens von Affekten‘. – Droht hier nicht der Sinn-Begriff in indefinitum ausgeweitet zu werden und ebenso der Terminus ,Verstehen‘ eine Bedeutung zu bekommen, die wenig mit der speziellen Aufgabe der Kulturwissenschaften zu tun hat (wie wenn wir vom ,Verstehen‘ des Blutkreislaufs, einer Maschine oder Ähnlichem reden)? 159 WL S. 1; vgl. auch die erste Fußnote zum Kategorien-Aufsatz: „Die pedantische Umständlichkeit der Formulierung entspricht dem Wunsch, den subjektiv gemeinten Sinn von dem objektiv gültigen scharf zu scheiden (darin teilweise abweichend von Simmels Methode).“ (WL 427) 160 Alfred Schütz hat in ähnlicher Weise dasjenige, was ein deutender Kommunikationspartner oder auch wissenschaftlicher Beobachter als Sinn einer Handlung, aber auch etwa eines sprachlichen Ausdrucks auffasst, den ,objektiven Sinn‘ von Handlungen bzw. Ausdrücken genannt, wogegen der ,subjektive Sinn‘ nur im Bewusstsein des Handelnden selbst präsent sei (vgl. Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie [1932], Frankfurt a. M. 1974, S. 36 ff., 42–49, schließlich 186–193); diese Terminologie knüpft wohl an Überlegungen von Hans Kelsen an (die freilich die normative, nicht empirisch-soziologische Begrifflichkeit betreffen); vgl. Aufbau, S. 345 ff., wo Schütz auf Kelsen verweist, ohne die methodische Differenz zwischen Normwissenschaft und Empirie näher zu erläutern. – Hier deutet sich die Notwendigkeit an, den individualistischen Bezugsrahmen der verstehenden Soziologie durch eine Art von ,Systemtheorie‘, wie sie dann Talcott Parsons und Niklas Luhmann entwickelt haben, zu ergänzen (vgl. z. B. Talcott Parsons, The System of modern Societies, New Jersey 1971, dt. als: Das System moderner Gesellschaften, mit e. Vorwort v. D. Claessens, Weinheim/München 52000; Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, hrsg. v. D. Baecker, Heidelberg 42008). 161 Vgl. etwa im ,Kategorien‘-Aufsatz, WL S. 445; vgl. auch die komplizierte Formel vom „subjektiv durchschnittlich als gemeint vorausgesetzten Sinngehalt“ WL 448 sowie WuG S. 13 f.).

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Man muss zugestehen, dass Webers Überlegungen zu dieser Problematik immer ein wenig vage sind.162 Im Anschluss an die um die Jahrhundertwende bei Autoren wie Theodor Lipps163 übliche Redeweise spricht Weber hier von ,Nacherleben‘ und ,Einfühlung‘, die „für die Evidenz des Verstehens wichtig, nicht aber absolute Bedingung der Sinndeutung“ sei.164 Denn er besteht darauf, dass die kulturwissenschaftliche Verstehensaufgabe nicht etwa mit der naturwissenschaftlich-psychologischen Erkenntnisaufgabe zu verwechseln sei.165 Und dieser Unterschied wird von ihm durch die Möglichkeit des Nachvollzugs von Sinn gekennzeichnet. – Was aber kann es genau heißen, dass wir Affekte als Sinnvorkommnisse ,nachvollziehen‘, dass es sich bei diesem ,Nachvollzug‘ aber, wie Weber mehrfach betont, nicht darum handeln kann, als Forscher durch diese Affekte selbst betroffen zu werden (vgl. etwa WL 100)? Versuchen wir zur Beantwortung der Frage nach dem subjektiven Sinn von (etwa mimischen oder gestischen) Gefühlsäußerungen oder, generell, der Frage nach Affekten als Sinnvorkommnissen wiederum das schon ,eingeübte‘ Verfahren zu nutzen, also wieder die Möglichkeiten der Selbstexplikation der Handlungssubjekte zu erwägen. Gehen wir vom Verstehen eines in Mimik und Gestik sich ausdrückenden Zornesausbruchs aus, so nehmen wir ja als Beobachter ohne weiteres an: der Zorn beziehe sich auf irgendeinen Sachverhalt, dessen der Zornige gewahr wurde. Zorn ist immer Zorn über etwas, enthält also schon Intentionalität (im phänomenologischen Sinne). Seinem emotionalen Bezug aber zu diesem Sachverhalt kann die Person in verschiedener Form sprachlichen Ausdruck verleihen (grundsätzlich jedenfalls, mag es ihm auch im Augenblick ,die Sprache verschlagen‘ haben): – Dabei können wir unterscheiden: • den sprachlichen Ausdruck eines gegenstandsbezogenen Sinnes, der aber schon in sich eine emotionale Wertung darstellt („[Das ist eine] Unverschämtheit!“ – „[Das ist] wunderbar!“) • den sprachlichen Ausdruck der Emotion selbst: („Ich bin empört!“ – „Ich fühle mich erleichtert.“) • den sprachlichen Ausdruck der Wertung bzw. Emotion mitsamt dem gemeinten Bezugssachverhalt („Ich bin empört, dass Müller so unverschämt war, mich einen Schuft zu nennen!“ – „Ich fühle mich erleichtert, dass meine Dummheit nichts allzu Schlimmes angerichtet hat.“)

162 Vgl. etwa in der Abhandlung zu Roscher und Knies, WL S. 100 ff.; im Kategorien-Aufsatz S. 428. 163 Vgl. WL S. 106 ff. 164 WG S. 2; auf Webers Begriff der Evidenz kommen wir bei der Behandlung des erklärenden Verstehens zurück (s. u. S. 114 ff.). 165 Vgl. etwa WG S. 9.

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In all diesen Ausdrücken kommt ein mehr oder weniger deutliches emotionales Selbstverständnis oder Selbst-Bewusstsein der beobachteten Person zum Ausdruck; und wir können nun sagen: Wir verstehen einen Emotions- oder Affekt-Ausdruck, wenn wir die uns verständlichen sprachlichen Ausdrücke genau angeben können, welche die beobachtete Person selbst zur Mitteilung ihrer Affekte und/oder ihrer diesen zugrundeliegenden (kognitiven und wertenden) Sachverhaltseinschätzungen gebrauchen könnte. Wir setzen bei dieser methodologischen Auskunft voraus, dass die beobachtete Person in der Tat ein emotionales Selbstbewusstsein habe, d. h. also grundsätzlich in der Lage ist, ihre Gefühle auf Begriffe zu bringen, auch wenn es ihr an einer ausreichend differenzierten Begrifflichkeit für diese Gefühle mangelt oder sie an der Verdeutlichung und Artikulation dieses Selbstbewusstseins augenblicklich noch durch die Stärke des Affektes gehindert sein mag. – Emotionen überhaupt sind Empfindungen des Betroffenseins durch Sachverhalte unserer Umgebung oder unseres eigenen Zustands, insofern diese in einem zuträglichen oder abträglichen Verhältnis zu unserem Wohlbefinden, unseren Wünschen und Zielsetzungen stehen. Wie bei der Wahrnehmung unserer Sinne ist auch hier der Übergang von den bloßen, kaum recht eingeordneten und begriffenen Empfindungen bis zu dem vollen begrifflichen Bewusstsein vermutlich fließend. Jedenfalls wird zumeist schwer zu entscheiden sein, wann eine emotionale Regung die Qualität deutlichen Selbstbewusstseins erreicht. Für das Verständnis eines umfassenden Handlungszusammenhangs ist dies aber zumeist zweitrangig, weil dieser als Handlungszusammenhang zumindest durch eine kognitive Situationseinschätzung und einen intentionalen Vorgriff auf ein Ziel bestimmt ist, woraus zumindest das aktuelle Fundament des emotionalen Situations-Einschätzung resultiert.166 Entscheidend ist, dass die Person sich ihrer dabei mitspielenden Gefühle bewusst werden kann; dadurch wird ihr Verhalten auch in dieser Hinsicht zu einem Gegenstand der Kulturwissenschaften. – Sinnhaft verstehbar und damit Thema der Kultur- oder Geisteswissenschaften sind jedenfalls nur solche Äußerungs-Phänomene an Personen, in denen eine Art von Selbstbewusstsein der Personen zum Ausdruck kommt. Diese Voraussetzung scheint uns unumgänglich, wenn wir kulturwissenschaftliches (wie übrigens unser alltägliches kommunikatives) Verstehen von der bloßen, naturwissenschaftlichen Erschließung innerer Zustände aus äußeren Symptomen unterscheiden wollen.167 166 Die Psychologie wird wohl vielerlei aktuell nicht Bewusstes und mehr oder weniger unzugängliches Unbewusstes als Fundament emotionaler Zustände in Anschlag bringen, das durch Befragungstechniken, speziell etwa durch psychoanalytische Techniken, ans ,Licht‘ des Bewusstseins gebracht werden könne. 167 Man vergleiche die hier vorgeschlagene Exposition des Verstehens von Gefühlen etwa mit dem Ansatz bei Droysen, der – als Exemplifizierung des Verstehens überhaupt verstanden – auch den Begriff des Verstehens in ein zweifelhaftes Licht setzt: „Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir die Angst des Schreienden usw.“

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Eine kurze Bemerkung noch zu der Grenzfrage des ,Verstehens‘ höherer Tiere: Gehen wir davon aus, dass solche Tiere zwar kein begriffliches Selbstbewusstsein, aber doch ein anschauliches (retentional-protentional strukturiertes) Imaginationsvermögen besitzen, so könnten wir dasjenige, was wir bei ihnen zu ,verstehen‘ glauben, mit einer Sequenz von anschaulichen Imaginationen (etwa von protentional vergegenwärtigten Aggressionshandlungen, aber auch von unangenehmem und angenehmem Körperempfinden) identifizieren. Wir glauben dieselben oder ähnliche anschaulichen Sequenzen imaginieren zu können wie das betreffende Tier, wenn wir ein entsprechendes Ausdrucksverhalten bei ihm wahrnehmen. Dies ergibt freilich einen deutlich anderen Begriff des Verstehens als den nach unseren Überlegungen im kulturwissenschaftlichen Zusammenhang zu benutzenden, insbesondere haben wir prinzipiell nicht die Möglichkeit, das von uns Imaginierte durch eine Art von Befragung des Tieres als zutreffendes Analogon seiner Imaginationen zu prüfen. Gewiss sprechen wir alltagssprachlich auch mit Bezug auf die Gefühlsäußerungen von Tieren von ,Verstehen‘, ohne ihnen deshalb schon eine Selbstauffassung zuzudenken. Aber wir sprechen auch vom ,Verstehen‘ eines Krankheitssymptoms, und es wäre im höchsten Grade unvorsichtig, hier überall denselben Begriff des Verstehens vorauszusetzen, wie wenn wir vom Verstehen menschlicher Gefühlsäußerungen sprechen. Wir tun daher gut daran, das kulturwissenschaftliche Verstehen durch eben diese Differenz zwischen der Erfassung eines selbst schon begrifflich strukturierten (Ich-)Bewusstseins (dessen eigene Begrifflichkeit wir also rekonstruieren können) auf der einen Seite und der erst von uns geleisteten begrifflichen Bestimmung eines selbst nicht begrifflichen, nur anschaulich-imaginativen ,Bewusstseins‘ auf der anderen Seite zu verdeutlichen.168 Das methodologische (Johann Gustav Droysen, Grundriß der Historik, hrsg. v. E. Rothacker, Halle/Saale 1925, S. 10). Solche Identifikation mag häufig genug vorkommen, jedenfalls im täglichen Leben, wo es ja auch seine praktische Relevanz hat; nur hat es weniger mit der erkennenden Erfassung der Angst als mit einer ,Sympatheia‘ (dem Mit-Leiden) im wörtlichen Sinne zu tun. Nicht Nach-Empfindung von Gefühlen, sondern deutende Erfassung der emotionalen Selbstauffassung der sich ausdrückenden Handlungssubjekte (etwa von der Form: ,ich habe Angst‘) ist die Aufgabe des geisteswissenschaftlichen Verstehens. 168 Diese Grenze wird von Weber nicht immer in derselben Deutlichkeit gezogen, vgl. einerseits die Kritik an der „romantisch-naturalistische[n] Wendung des ,Persönlichkeits‘gedankens, die [. . .] in dem dumpfen, ungeschiedenen vegetativen ,Untergrund‘ des persönlichen Lebens, d.h. in derjenigen, auf der Verschlingung einer Unendlichkeit psycho-physischer Bedingungen der Temperaments- und Stimmungsentwickelung beruhenden ,Irrationalität‘, welche die ,Person‘ ja doch mit dem Tier durchaus teilt, das eigentliche Heiligtum des Persönlichen sucht“ (WL 132), andererseits etwa die bis zur teleologischen Deutung gehende Erweiterung des sonst kulturwissenschaftlichen Deutungsbegriffs mit dem kritischen Hinweis auf Münsterbergs Rede von der Anerkennung der Tiere als ,stellungnehmender Subjekte‘, WL S. 91, oder die vorsichtigeren Bemerkungen WuG S. 7, die aber doch mit der Formulierung „irgendwie bewußt sinnhaft und erfahrungsorientiert“ die Ausdrücke ,bewusst‘, ,sinnhaft‘ und ,Erfahrung‘ in einer zwar umgangssprachlich gängigen, begrifflich jedoch höchst unge-

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Korrelat dieser Differenz ist der Unterschied zwischen dem Verständnis, das sich u. a. dadurch kontrollieren lässt, dass dem zu verstehenden Subjekt die Artikulation des verstandenen Sinnes zur Prüfung vorgelegt werden kann169, und einem Verständnis, bei dem das prinzipiell ausgeschlossen ist. b) Erklärendes Verstehen Bisher haben wir nur vom aktuellen Verstehen gesprochen. Aus Gründen, die bald deutlich werden, gibt es für Weber kein wissenschaftlich kontrollierbares aktuelles Verstehen ohne das zugehörige erklärende Verstehen. Weber nennt es auch ,motivationsmäßiges‘ Verstehen: „Wir ,verstehen‘ motivationsmäßig, welchen Sinn derjenige, der den Satz 2  2 = 4 ausspricht, oder niedergeschrieben hat, damit verband, daß er dies gerade jetzt und in diesem Zusammenhang tat, wenn wir ihn mit einer kaufmännischen Kalkulation, einer wissenschaftlichen Demonstration, einer technischen Berechnung oder einer anderen Handlung befaßt sehen, in deren Zusammenhang nach ihrem uns verständlichen Sinn dieser Satz ,hineingehört‘, das heißt: einen uns verständlichen Sinnzusammenhang gewinnt (rationales Motivationsverstehen). [. . .] ,Erklären‘ bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befaßte Wissenschaft soviel wie: Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört.“170

Der subjektive Sinn einer Handlung erschöpft sich also nach Weber nicht in dem, was Gegenstand des aktuellen Verstehens sein kann; er schließt, so könnten wir zunächst formulieren, dasjenige ein, was der Handelnde als Sinnhorizont seiner Handlung ,versteht‘ (den Motivationshorizont im weiteren Sinn). Insoweit können wir wieder unsere schon eingeübte Methode der Sinndarstellung anwenden: Da ein Handelnder solche motivierenden Sinnzusammenhänge zwar in den allermeisten Fällen nicht selbst artikuliert und äußert, dazu jedoch in günstigen Fällen in der Lage ist, können wir sagen: Wir dokumentieren unser Verständnis solcher motivierenden Sinnzusammenhänge, wenn wir sie durch genau die Sätze (bzw. deren Übersetzungen) darstellen, welche der Handelnde zur objektivierenden Äußerung seiner theoretischen und praktischen Überzeugun-

klärten Weise benutzen. Gegen solche Unklarheiten hilft nur die begriffliche Differenzierung dessen, was da Gegenstand der ,Deutung‘ sein soll; im Falle etwa der teleologischen Deutung wird man darüber hinaus nicht ohne die Differenz von bestimmender und reflektierender ,Deutung‘ auskommen (vgl. hierzu B. Grünewald, Teleonomie und reflektierende Urteilskraft, in: Wahrheit und Geltung. Fs. f. W. Flach, hrsg. v. R. Hiltscher u. A. Riebel, Würzburg 1996, S. 63–84 sowie unten S. 160). 169 Selbstverständlich setzen wir hier nicht voraus, dass diese Art der Befragung schon in jeder Hinsicht oder gar in allen Fällen zur Sicherung des Verständnisses zureicht. 170 WuG 4.

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gen, Zielsetzungen, Erwartungen usw. hätte benutzen können, ohne diesen Motivationshorizont zu verfälschen. Wir haben damit bis zu einem gewissen Grade geklärt, inwiefern aktuelles und in gewissen Fällen sogar motivationsmäßiges Verstehen sich auf die Rezeption der faktischen Indikation eines bestimmten Sinnes berufen kann und nicht etwa auf eine vage oder irgendwie ,genialische‘ Einfühlung angewiesen ist. Aber natürlich steckt in jener abschließenden „ohne [. . .] zu“-Klausel wiederum ein ganzer Schwarm methodologischer Probleme, und hier, beim erklärenden Verstehen, noch mehr als beim ,aktuellen Verstehen‘. Denn während wir nach alltäglicher Lebenserfahrung kaum damit rechnen müssen, dass jemand, der Holz hackt, nicht weiß, dass er Holz hackt, sind Selbsttäuschungen mit Bezug auf die Motive seines Handelns notorisch. Immerhin gehört zum Sinnhorizont auch eine Reihe von intentionalen Momenten, etwa das Wissen um die unmittelbare Handlungs-Situation und das Bewusstsein des unmittelbaren Handlungszwecks, die wir in sehr vielen Fällen voraussetzen können, und die uns zunächst als der Zielpunkt unseres erklärenden Verstehens gelten können. Für sie jedenfalls können wir unsere Sinnexplikation, der auf der ,Objekt‘-Seite die Beantwortung einer entsprechenden Befragung entspricht, einsetzen. Ja, selbst eine psychoanalytische Theorie über verborgenste Motive müsste, um einen Gegenstand zu haben, voraussetzen, dass eine – wie immer anzulegende – Befragung eine entsprechende Sinnartikulation zu Tage fördern würde. Damit stellt sich nun aber eine Reihe von grundsätzlichen Fragen: Was soll dieser ,subjektive Sinn‘ eigentlich sein, wenn er nicht einmal sprachlich objektiviert ist: Sinngehalt einer bloß möglichen Antwort, wo doch schon der Sinn einer wirklichen Antwort für den Rezipierenden nicht unmittelbar (anschaulich) ,gegeben‘ ist, sondern für ihn eine bloß mögliche Existenz hat, welcher er selbst im Verstehen allererst Wirklichkeit verleihen muss? Was kann ein ,Motiv‘ sein und wie kann es existieren, wenn es nicht bewusst, vielleicht nicht einmal gewusst ist? Und was hieße es denn, dass es zwar grundsätzlich vom Handelnden gewusst, also durch ihn angebbar sei, aber nicht aktuell bewusst? Spätestens hier also müssen wir uns, nachdem wir bisher immer, selbst beim erklärenden Verstehen, auf die Möglichkeit aufnehmenden Verstehens, d. h. des Rezipierens von Sinn zurückgegangen sind, auch da, wo die Rezeption erst durch eine Befragung ermöglicht wird, dem Problem des aktiven Begreifens stellen. Denn schon der allgemeine Begriff des Sinnes, den wir hier immer benutzt haben, ist im Unterschied zum jeweiligen Sinn, dem Sinn in concreto, nichts, was wir in den angedeuteten Fällen rezipieren. Dieser Begriff muss mit anderen Begriffen, den Begriffen des Motivs, gar des ,verborgenen‘ Motivs, des Wissens und des Unbewussten, in Beziehung gesetzt werden, wenn wir begreifen wollen, was Verstehen, erst recht aber, was erklärendes Verstehen ist.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

4. Die Evidenz verstehender Deutung und die Gültigkeit der Erklärung An dieser Stelle wird nun eine genauere Explikation des Begriffs der verstehenden Deutung und seines Verhältnisses zu dem der Erklärung notwendig, die letztlich auch unseren Begriff des aktuellen Verstehens nicht unberührt lässt. Deutung und Erklärung zeichnen sich nach Weber durch verschiedene ,Qualitätsstandards‘ aus. Eine Deutung qualifiziert sich durch ihre ,Evidenz‘. Bekanntlich schwankt die Bedeutung des Terminus ,Evidenz‘ von dem Begriff einer unmittelbaren Einsicht in die Geltung eines Urteil (etwa eines Axioms) bis zu dem einer „Einsicht in die Gründe eines Urteils“.171 Je nach erkenntnistheoretischer Position kann damit zugleich der Gedanke einer nicht bloß subjektiven Geltungsgewissheit verbunden sein. Davon kann bei Weber keine Rede sein. Er gebrauche, sagt Weber in einer Fußnote zum Roscher/ Knies-Aufsatz, den Ausdruck ,Evidenz‘ „statt ,innere Anschaulichkeit der Bewusstseinsvorgänge‘ [. . .], um die Vieldeutigkeit des Ausdrucks ,anschaulich‘ zu vermeiden, welche sich ja auch auf das logisch unbearbeitete Erlebnis bezieht“.172 Die Aktualisierung dieser inneren Anschaulichkeit wird auch mit den Ausdrücken ,Nacherleben‘ und, im Falle emotionaler und wertender Erlebnisgehalte, mit ,Einfühlung‘ bezeichnet – Formulierungen, die alles andere als begrifflich eindeutig sind, die wir aber in diesem Zusammenhang vielleicht so erläutern dürfen, dass wir in einer Art von Gedankenexperiment unter den vorausgesetzten motivierenden Bedingungen imaginativ die entsprechenden Entscheidungen oder Reaktionen vollziehen können. Präziser lässt sich die spezielle Evidenz der zweckrationalen Deutung bestimmen: „Das Höchstmaß an ,Evidenz‘ besitzt nun die zweckrationale Deutung. Zweckrationales Sichverhalten soll ein solches heißen, welches ausschließlich orientiert ist an (subjektiv) als adäquat vorgestellten Mitteln für (subjektiv) eindeutig erfaßte Zwecke.“173

171 In einer Fußnote des Roscher/Knies-Aufsatzes zur Einführung des Terminus in seine Überlegungen (WL 115) erwähnt Weber zwar diese letztere Bedeutung, nicht jedoch die erstere, die beide, wie wir bedenken sollten, im Moment der Geltungsgewissheit übereinkommen. 172 WL 115. – „Ich weiß sehr wohl, daß der Ausdruck sonst von den Logikern nicht in diesem Sinn, sondern im Sinn der Einsicht in die Gründe eines Urteils gebraucht wird.“, fährt Weber in der zitierten Fußnote fort. – Dies ist die Position, die Husserl von den ,Logischen Untersuchungen‘ an mit unterschiedlichen Differenzierungen vertreten hat; vgl. insbes. die VI. Log. Unters., Husserliana Bd. XIX/2, § 39 Evidenz und Wahrheit, S. 651–656; dazu kritisch B. Grünewald, Der phänomenologische Ursprung des Logischen. Eine kritische Analyse der phänomenologischen Grundlegung der Logik in Edmund Husserls „Logischen Untersuchungen“, Kastellaun 1977. 173 WL 428 [404].

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Der Grund für diesen Vorzug der Zweckrationalität liegt offenbar in einer ,Nacherlebbarkeit‘, die sich im Nachvollzug des entsprechenden praktischen Schlusses erweist. Weil es sich dabei aber nur um vorausgesetzte Bedingungen handelt, kann der Ausdruck ,Evidenz‘ in Webers Überlegungen nicht einmal eine bloß subjektive Gewissheit bezeichnen. Er zielt auf den theoretischen Wert einer formal korrekten und angesichts der Daten plausiblen Hypothese (im Falle einer Erklärung) oder eines „idealtypischen“ Gedankengebildes (im Falle der Begriffsbildung), der ausdrücklich von der empirischen Geltung der Erklärung bzw. des Gedankengebildes unterschieden wird. Denn die „,Evidenz‘ des ,verständlich‘ Gedeuteten enthält nach der logischen Seite lediglich die Denkmöglichkeit und nach der sachlichen lediglich die objektive Möglichkeit der ,deutend‘ erfassbaren Zusammenhänge als Voraussetzung in sich.“174 Daher kann Weber im Einleitungskapitel zu „Wirtschaft und Gesellschaft“ auch sagen: „Aber eine sinnhaft noch so evidente Deutung kann als solche und um dieses Evidenzcharakters willen noch nicht beanspruchen: auch die kausal gültige Deutung zu sein. Sie ist stets an sich nur eine besonders evidente kausale Hypothese.“175

Nicht nur können äußerlich gleichen Vorgängen des Handelns „höchst verschiedene Sinnzusammenhänge bei dem oder den Handelnden zugrundeliegen“ (was also schon das aktuelle Verstehen von Handlungen mit einem hypothetischen Einschlag belastet), sondern die Handelnden sind zum einen „gegebenen Situationen gegenüber sehr oft gegensätzlichen, miteinander kämpfenden Antrieben ausgesetzt, die wir sämtlich ,verstehen‘,“

zum anderen „verhüllen vorgeschobene ,Motive‘ und ,Verdrängungen‘ [. . .] oft genug gerade dem Handelnden selbst den wirklichen Zusammenhang der Ausrichtung seines Handelns derart, daß auch subjektiv aufrichtige Selbstzeugnisse nur relativen Wert haben“.176

Das wirft die Frage auf, wie denn die Gültigkeit einer Erklärung, die ja durchaus erklärende Deutung sein soll, zu sichern sei. Die Antwort liegt, wie die zitierte Rede von der ,kausalen Hypothese‘ schon andeutet, darin, dass die erklärende Deutung nach Weber eine durchaus kausale Bedeutung hat, welche die subjektive ,Evidenz‘ einer Deutung am Gesamtverhalten des ,Objekts‘ (des Handelnden) zu kontrollieren gestattet.177 Im alltäglichen Beispiel: deute ich die Tatsache, dass eine Person ein Glas mit Wasser füllt, durch deren motivierenden Zweck, ihren Durst zu löschen, beobachte aber dann, dass sie damit eine Zimmerpflanze begießt, so erweist sich meine erste Deutung als falsch (wenn es 174 175 176 177

WL 115. WuG 4. Vgl. WuG 4. Vgl. WuG 2 u. 4.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

nicht Anlass für eine Hilfshypothese gibt, wonach die handelnde Person ihre Zwecksetzung kurzfristig geändert habe). Das heißt, dass für Weber eine Entgegensetzung von geisteswissenschaftlichem Verstehen und naturwissenschaftlichem Erklären im Sinne des üblichen Dilthey-Verständnisses („Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“178) an der Aufgabe der Kulturwissenschaften vorbeiginge. Weber schließt sich in dieser Hinsicht ausdrücklich an die Ebbinghaus’sche Kritik der Diltheyschen Vorstellungen an.179 Jede Deutungshypothese ist daher durch die Rekonstruktion kausaler Relationen zu empirisch Gegebenem zu kontrollieren, etwa die verstehende Deutung von Motiven durch ihren „Ausschlag im tatsächlichen Verlauf“, in den seltenen Fällen, wo dies möglich ist, durch psychologische Experimente, durch Vergleichung mit ähnlichen Vorkommnissen, im Falle von Massenerscheinungen durch Statistik usw. Schließlich aber muss nun auch, wie oben angedeutet, der Begriff des aktuellen Verstehens, das wir bisher als fragloses Rezipieren behandelt haben, zum Problem, damit aber auch zum theoretisch analysierbaren Methodenelement, werden. Schon unser alltägliches Verstehen in der Verständigung mit anderen und in der Rezeption von sprachlichen Aufzeichnungen ist ja nach gängiger Erfahrung nicht jederzeit ,problemlos‘, es ist durchsetzt von Missverständnissen und Bemühungen um Verbesserung und Korrektur des zunächst ,Verstandenen‘. Jedes Verständnis, so sehr es Rezeption sein mag, ist, schon insofern es als Rezeption eines Vorgegebenen begriffen, das Verstandene also unter den Begriff eines unserer Willkür (und unserer zufälligen Phantasie) entzogenen Gegen-

178 Wilhelm Dilthey, Ideen über beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894), in: Ges. Schriften Bd. V S. 139–240, bes. S. 144. – Mit Webers begrifflichem Instrumentarium wäre freilich das, was Dilthey an der betreffenden Stelle, unbeholfen genug argumentierend, eigentlich meint, eher „erklärendes Verstehen“ zu nennen, was die übliche Dilthey-Rezeption übersieht. Denn Dilthey beruft sich gerade auf das in dem oben angedeuteten Sinne mögliche Nacherleben; nur dass er dabei die Möglichkeit eines (imaginativen) Vollzugs, wie den Vollzug intentionaler Akte und Sinnverknüpfungen überhaupt, mit der empirischen Gegebenheit des seelischen Kausalzusammenhangs gleichsetzt (vgl. dazu auch insbesondere die Deutung des Schließens als Gegebenheit eines inneren Kausalverhältnisses, Dilthey, Ideen S. 170 f.). – Dilthey fehlt die Differenzierung zwischen dem transzendentalen und dem empirischen Bewusstsein. Dies ist u. E. der Grund für seinen immer wieder die wissenschaftstheoretische Reflexion störenden Psychologismus (vgl. dazu auch die Darstellung bei Hans Ineichen, Erkenntnistheorie und geschichtlich-gesellschaftliche Welt. Diltheys Logik der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1975). 179 Vgl. WL S. 91 f. (Fußnote 2). – Vgl. die Rez. von Hermann Ebbinghaus (Zs. f. Psychol. u. Physiol. der Sinnesorgane Bd. 9, 1896, S. 161–205) wiederabgedruckt in: Materialien zur Philos. W. Diltheys, hrsg. v. F. Rodi u. H.-U. Lessing, Frankfurt 1984, S. 45–87. – Wir werden weiter unten auf die keineswegs auf der Hand liegende Bedeutung dieser Diltheyschen Formel zurückkommen (s. S. 181 f.).

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stands subsumiert wird, eine Art von impliziter Hypothese. Als Hypothese muss es sich bewähren. Bevor wir nun klären, worin diese Bewährung besteht und worauf sie prinzipiell beruht, merken wir, ganz im Sinne dessen, was Weber wieder und wieder betont180, nur an, dass die Situation in den Sozialwissenschaften (wie in den Kultur- oder Geisteswissenschaften überhaupt) in dieser Hinsicht keineswegs anders ist als etwa in den Naturwissenschaften: Was wir ,sehen‘, mit den Sinnen überhaupt aufnehmen, bedarf der kritischen Prüfung auch des allem Anschein nach ,Gegebenen‘: Nicht nur Sinnestäuschungen, sondern schon die von uns ganz selbstverständlich urteilend korrigierten perspektivischen ,Verzerrungen‘ etwa des Gesichtsfeldes sind die allbekannten Zeugnisse für diesen Sachverhalt. So ist auch das, was wir ,verstehen‘, daraufhin zu prüfen, ob und wie weit es dem (Vor-)Gegebenen entspricht. In welchem Verhältnis sind aber nun Sinn einerseits und tatsächlicher Verlauf einer Handlung bzw. eines Handlungszusammenhangs andererseits zu denken? Was berechtigt uns überhaupt, Sinndeutung und empirisch Gegebenes in eine empirisch relevante Beziehung zu setzen? – Hier müssen wir wieder ein wenig über das von Weber Ausgeführte hinausgehen. Sollen wir dem subjektiven Sinnzusammenhang einer Handlung eine Kausalität für die Handlung zudenken? – Bisher haben wir diesen Sinn ja nur als Bedeutung möglicher sprachlicher Äußerungen, welche von einem Wissenschaftler verstanden werden könnten, eingeführt, als eine für Sprecher und Rezipienten identische und identifizierbare Funktion möglicher Äußerungen. Worin sollte ihre Wirklichkeit und also Wirkmacht (Kausalität) bestehen, wenn sie (die Äußerungen, erst recht aber deren Bedeutung) doch bloße Möglichkeiten sind? Wir müssen ihnen eine Wirklichkeit über diese bloße Möglichkeit hinaus zudenken. Oder besser: die möglichen Antworten eines Handelnden (auf die Frage, was er da tue und warum) müssen als mögliche Artikulation eines unabhängig davon bestehenden Wirklichen zu begreifen sein, und zwar in zwei unterschiedlichen Modi: im Modus der Wirklichkeit aktueller Überlegungs- und Entscheidungsprozesse und im Modus dauernder, aus solchen Prozessen (oder zumindest auch aus solchen Prozessen) hervorgegangener, Bestimmtheiten der Handelnden (als ,intentionale Habitualitäten‘ wie kognitive Überzeugungen und praktische Entschiedenheiten). Letzteres ist schon deshalb notwendig, weil Handlungen, auf die sich die aktuellen Überlegungs- und Entscheidungsprozesse beziehen, im Allgemeinen nicht mit diesen Prozessen gleichzeitig stattfinden. 180 Vgl. etwa WL 114, Anm. 1, wo Weber gegen Simmel und Eduard Meyer hervorhebt, dass die Kausalerklärung individuell aufgefasster Ereignisse (als Retrodiktion) in der Naturwissenschaft wie in den verstehend-deutenden Kulturwissenschaften gleichermaßen hypothetisch sei und nur durch den faktischen Verlauf des Gesamtgeschehens kontrollierbar sei, weshalb in keiner Weise auf eine „spezifische ,Subjektivität‘ [. . .] der [. . .] historischen Erkenntnis“ geschlossen werden dürfe.

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Wir können hier auf unsere Überlegungen zu den Existenzvoraussetzungen der hermeneutischen Gegenstände zurückgreifen: diese Gegenstände hätten nicht als einheitliche (und einheitlich verstehbare) Gebilde erzeugt werden können, wenn den Produktionsprozessen nicht eine in entwerfenden Akten gebildete und habitualisierte Konzeption des Werkes zugrundegelegen hätte. – So ist im Falle der Handlungszusammenhänge die fundamentale Kausalität zwischen aktuellen intentionalen Prozessen und den daraus resultierenden habituellen Bestimmtheiten der Subjekte die Bedingung dafür, dass die Handlungen über eine zeitliche Dauer hinweg eine zielgerichtete Einheit bilden können; dank dieser Habitualitäten sind die Akteure nicht sozusagen abstrakte Subjekts-Pole, sondern konkrete Personen mit einer verstehbaren ,Persönlichkeit‘ (der Gesamtheit solcher Habitualitäten). Die logische Identität nun der betreffenden Sinngebilde in beiden Wirklichkeitsmodi (dem aktuellen und dem habituellen Modus) lässt schließlich auch die Identität mit dem Sinngehalt der entsprechenden Äußerungen und des korrelativen (als gelingend zu denkenden) Verstehens denkbar sein: Denn die Äußerung (die Antwort des Handelnden auf die Frage, was er tue und warum er es tue) kann als eine Sprechhandlung begriffen werden, welche durch genau die Habitualitäten kausal bestimmt ist, die auch die Handlung selbst bestimmt haben (unter der Voraussetzung freilich, dass der Sprecher sich selbst ,durchschaut‘ und ,nach bestem Wissen und Gewissen‘ antwortet). Nicht der Sinngehalt also ist die kausale Bedingung der Handlungen, denn der ist ja als eine zu verschiedenen Zeiten identische, mithin als eine nicht-reale Größe definiert, sondern seine zeitlich bestimmbare ,Realisierung‘ in Akten und Habitualitäten des Handelnden. Damit klärt sich auch zumindest ein Aspekt der vielberedeten Differenz zwischen Ursachen (causes) und Gründen (reasons). Nur reale Prozesse und Dauerbestimmtheiten können ganz generell kausale Bedingungen des Verhaltens der Handlungssubjekte sein; und nur weil wir speziell intentionale Akte und Habitualitäten selbst als durch Sinngehalte strukturierte Elemente kausaler Prozesse und als kausal wirksame Steuerungsbedingungen des menschlichen Verhaltens begreifen, kann die Evidenz der Deutung durch Verhaltensbeobachtung kontrolliert werden. Ja, es kann schon die Verlässlichkeit der Selbstaussagen von Personen über ihre Motive, schließlich sogar über ihr Tun, also die Verlässlichkeit ihrer performativen Äußerungen, auf ihre Korrektheit nur deshalb überprüft werden (im Sinne des Ausschlusses von Selbsttäuschung und Unwahrhaftigkeit), weil die betreffenden Sinngehalte Strukturen von kausalen Zusammenhängen darstellen. Hier zeigt sich ein Vorzug des Weberschen Ansatzes, wonach sprachliche Äußerungen als Handlungen zu begreifen sind: Auf diese Weise können wir uns klarmachen, dass wir es etwa im Falle performativer Handlungsausdrücke (,ich schließe das Fenster‘) mit zwei prinzipiell verschiedenen Erfahrungs-Arten zu tun haben, die aufeinander beziehbar sind, gerade insofern sich der Gegenstand der einen Erfahrung (die praktische Intention des Handelnden) intentional auf

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den Gegenstand der anderen (das physische Verhalten des Handelnden) bezieht und in kausaler Wechselwirkung181 (Steuerungsverhältnis) mit ihm steht. Prinzipiell verschieden sind diese Erfahrungen, insofern sie zwar beide in sinnlichen Daten fundiert sind, die eine aber sinnliche Daten zur Rezeption von Sinngebilden, die andere jedoch (gewisse andere) sinnliche Daten zur Rezeption raumzeitlicher Gestaltungen gebraucht. Wir begreifen dabei auf der einen Seite (unter bestimmten Voraussetzungen182) intentionale Prozesse und Dauerbestimmtheiten von Handlungssubjekten, auf der anderen das Verhalten von Körpern, darunter solches, worauf sich gewisse intentionale Prozesse durch solche Sinngebilde intentional und kausal beziehen. Dabei ist schon das Begreifen dieser intentionalen Prozesse und Bestimmtheiten für sich genommen an ein Verhalten, nämlich an ein Ausdrucksverhalten, dieses selben Körpers (welcher sich im engeren Sinne handelnd verhält) zurückgebunden, insofern nur dasjenige, was durch ihn (denselben Körper) ausgedrückt wird, als intentionaler Prozess oder intentionale Bestimmtheit des Handelnden aufgefasst werden kann. Nur die begriffliche Verknüpfung von Ausdruck und ausgedrückter Intentionalität im Begriff des (menschlichen) Handlungssubjekts konstituiert einen erfahrbaren Gegenstand der Sozialwissenschaften. Schon innerhalb der einen der beiden Erfahrungsarten, innerhalb der Erfahrung von Intentionalität, ist die kausale Struktur des Erfahrenen von entscheidender Bedeutung. Intentionale Prozesse können nur dann als praktische oder auch kognitive Entscheidungen aufgefasst werden, wenn sie bewirken, dass das Handlungssubjekt hinfort entsprechend entschieden ist; also dürfen dieser Entschiedenheit die Selbstaussagen des Handelnden hinfort nicht entgegenstehen (es sei denn, wir können eine zwischenzeitliche Revision von Entscheidungen nachweisen oder zumindest annehmen). Darüber hinaus sind nicht nur Sinndeutungen der Forscher, sondern auch praktische und kognitive Selbstaussagen der Handelnden nur dann mehr als (günstigenfalls) Artikulationen evidenter Sinnzusammenhänge, nur dann Artikulationen realer intentionaler Bestimmtheiten der Handelnden als Handelnden, wenn diese Sinnzusammenhänge sich in dem (weiteren) Verhalten des Handelnden bewähren. Das schränkt zum einen die empirische Kontrollierbarkeit von Deutungen auf verhaltensrelevante Sinnzusammenhänge ein, wobei freilich auch bloße (ggf. weitere) Ausdruckshandlungen (zumal wo es etwa nur um die 181 Es könnte befremden, dass hier nicht einfach von Kausalität, sondern von Wechselwirkung die Rede ist. Ohne Rückwirkung der regulierten Instanz auf die regulierende jedoch wäre bekanntlich zwar ein Einfluss der letzteren auf die erste, aber keine Steuerung möglich. 182 Zu diesen Voraussetzungen gehört die öfters schon erwähnte Verlässlichkeit der Selbstaussagen, ja schon dies, dass die Aussagen als einschlägige Selbstaussagen gemeint sind; ein Gegenbeispiel wären gleichlautende Sätze eines Schauspielers.

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Erforschung der Überzeugungen von Menschen geht) zu dem eine empirische Kontrolle ermöglichenden Verhalten gehören. Zum anderen ist immer mit der Möglichkeit zu rechnen, dass auch ein ,ehrlicher‘ Ausdruck von Überzeugungen, Absichten, Maximen noch nicht garantiert, dass das tatsächliche Verhalten durch sie oder gar allein durch sie gesteuert wird. Die Äußerung von Absichten etwa, so sehr sie beobachtbares Verhalten ist, ist noch keine Ausführung der geäußerten Absicht; Reden und Tun sind schon nach alltäglicher Erfahrung zweierlei. So wird es z. B. manche Maxime oder Absicht geben, deren Verfolgung in Handlungen erst noch der Einübung, sei es in physischer oder psychischer Geschicklichkeit, sei es im Widerstand gegen widerstreitende Motive, bedarf. Davon abgesehen ermöglicht die Tatsache, dass auch Sprechhandlungen beobachtbare Phänomene sind, für die Erforschung gegenwärtiger Handlungssubjekte eine durchaus experimentelle Praxis, die (wie die physische Experimentierpraxis) in der alltäglichen Lebenswelt ihr ,Vorbild‘ hat, aber methodisch gezielt zu einer wissenschaftlichen Forschungspraxis entwickelt worden ist: die Praxis der Befragung. Sie provoziert durch gezielte kommunikative ,Eingriffe‘ in die Lebenswelt von einzelnen Handlungssubjekten (oder ganzen gesellschaftlichen Gruppen oder Bevölkerungssegmenten) Selbstaussagen, die durch gezielte weitere Befragungen einerseits und durch davon unabhängige Verhaltensbeobachtungen andererseits empirisch auf ihre Aussagekraft über diese Personen und Personengruppen kontrollierbar sind. Methodische Vorkehrungen sollen dabei nach Möglichkeit verhindern, dass die kommunikativen Eingriffe eine andere Wirkung haben, als schon bestehende Überzeugungen in die Ausdrücklichkeit zu heben – also verhindern, dass sie die Überzeugungen des Handelnden beeinflussen. Für die motivationale Erklärung geschehener Handlungen (also generell in der Historie) sind wir auf die Rekonstruktion früherer Äußerungen der Handlungssubjekte oder sich indirekt im Verhalten offenbarender intentionaler Habitualitäten aus Aufzeichnungen oder anderen Zeugnissen angewiesen. Die Geltung einer solchen Erklärung wird im Allgemeinen immer nur bis zu einem gewissen Grade zu sichern sein, aber zu sichern ist sie überhaupt nur unter der Voraussetzung der angedeuteten kausalen Zusammenhänge. Immerhin aber beweisen geschehene (beobachtete oder dokumentierte) Handlungen ,durch die Tat‘, dass die physischen und psychischen Voraussetzungen etwa der Geschicklichkeit vorhanden waren, so dass die Forschung diesen kausalen ,Untergrund‘ der Intentionalität weitgehend vernachlässigt.

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5. Kausalität – Sinn – Geltung a) Das Verhältnis von Kausalität und Geltungsgründen – die Funktion der Rationalität Verdeutlichen wir uns zunächst noch ein wenig die Funktion des Kausalitätsbegriffs für die Geltung der Erklärung: Er ist die Bedingung dafür, dass wir die objektiv gültige Erklärung noch als von einer nur subjektiv plausiblen Erklärung unterschieden denken können. Subjektiv plausible Erklärungen der Motivation ergeben sich einerseits durch explizierende Deutung gewisser Sinnrelationen in unserem Verständnis der Handlung, andererseits aber auch als Erklärungen der Motivation durch Selbstexplikation der Handelnden. Weder die eine noch die andere Erklärung muss die tatsächliche Motivation der Handlung treffen. Wir kennen die Täuschungsmöglichkeiten aus der Kriminalistik: Was sich in unserer Deutung des Handlungssinns ergibt, kann in logischer Hinsicht plausible Gründe einer Handlung benennen (die Eifersucht des mutmaßlichen Mörders) und uns doch das wahre Motiv verdecken (die Absicht der Beseitigung von Zeugen einer anderen Straftat). Die Selbstexplikation des Handelnden kann auch die Angabe von erst nachträglich für den Handelnden ,geklärten‘ Rechtfertigungs-Gründen sein (so dass ein Diebstahl zu einem die Zustimmung des Eigentümers nur vorwegnehmenden Ausleih-Akt umgedeutet wird). Obwohl das habituelle Überzeugtsein von logischen oder rechtfertigenden Gründen bzw. deren Aktualisierung (bis zum Zeitpunkt der Handlung) durchaus eine Ursache darstellt, sind rechtfertigende und überhaupt logische Gründe (reasons) etwas anderes als faktische Motive (Beweggründe, also Realgründe, causes). Realgründe (Ursachen) unterscheiden sich von logischen Gründen vor allem durch ihr zeitliches Bestimmtsein und (in Handlungszusammenhängen) durch ihre Bindung an die Intentionalität eines bestimmten Handlungssubjekts. Die logischen Gründe als solche dagegen sind nichts Reales und nicht an eine bestimmte Zeit gebunden, sie sind für die geisteswissenschaftliche Erfahrung zunächst als Bedeutungsfunktionen von sprachlichen Ausdrücken und dann als Strukturen intentionaler Prozesse und habitueller Bestimmtheiten definiert. Sie können daher auch vom Handelnden nachträglich oder erst durch den Forscher bloß ,erdacht‘, d. h. logisch rekonstruiert (und insofern ,evident‘), sein. – Wir können das Verhältnis der beiden Arten von Gründen auch so charakterisieren: durch die Angabe logischer Gründe, überhaupt durch die Angabe eines subjektiven Sinnes, benennen (und u. U. begreifen) wir eine gewisse mögliche Struktur eines Handlungsgeschehens, aber wir begreifen und erklären damit noch nichts von dessen Dynamik, d. h. von den Realgründen seines Stattfindens (oder auch Nicht-Stattfindens). Freilich können logische Gründe auch indirekt für Handlungen durchaus kausal relevant sein, weil sie zu den Überzeugungen anderer Personen gehören, die auf den Handelnden in anderer, nicht durch diese Gründe bestimmte Weise,

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Einfluss nehmen (etwa durch schlichten Befehl, durch Vorgeben von Gründen, für die sie den Handelnden – sei es auch nur ,ästhetisch‘ – empfänglich denken . . .). Dies überträgt sich mutatis mutandis auf jene Sinnzusammenhänge, die als übergreifende Regelsysteme gesellschaftlichen Verhaltens, etwa als Rechtssystem, kausale Bedingungen individuellen Handelns sein können (z. B. als Erfolgsbedingungen eines Vertragsschlusses oder durch die Androhung von Strafe), ohne doch selbst ihrem eigentlichen Sinn nach zu den Überzeugungen, Zielsetzungen und Maximen des Handelnden zu gehören oder ihm auch nur im Detail bekannt sein zu müssen.183 Der Begriff der Kausalität gehört zu den Bedingungen der objektiven Gültigkeit empirischer Wissenschaft; und dass auf der Objektseite der Forschung Sinnrelationen, also in gewissem Sinne logische Relationen vorkommen, ist damit durchaus verträglich, insofern intentionale Prozesse, also reale Vorkommnisse im Leben von Handlungssubjekten, durch Sinngehalte und ihre Zusammenhänge bestimmt sind. Aber die ,in gewissem Sinne logischen‘ Relationen sind keineswegs eo ipso logisch gültige Relationen, wie auch einzelne Sinngehalte etwa von kognitiven Prozessen oder Überzeugungen nicht eo ipso gültige Sinngehalte sind. Nur gehört es freilich zur Funktion zumindest gewisser (jedenfalls der kognitiven) Sinngehalte, dass sie dem Selbstbewusstsein der Subjekte nach als gültige aufgefasst sind. Ohne dieses Geltungsbewusstsein (das wir oben in unserer Reflexion auf die Möglichkeit empirischer Geisteswissenschaften auch ,transzendentales Bewusstsein‘ genannt haben) würde etwa ein kognitiver Sinngehalt nicht jene kausale Wirkung entfalten, die das Subjekt zu einer hinfort entsprechend überzeugten Person machte und sein Handeln demgemäß bestimmte. Dieses transzendentale Bewusstsein ist freilich nicht selbst, sondern nur in seiner Bekundung durch performative Aussagen der Handelnden ein Gegenstand der Erfahrung. Wir setzen es also nur voraus, es ist ja seinem Begriff nach nicht einmal dem Handelnden selbst als empirisches Faktum gegeben, sondern nur vollziehbar.184 Die berechtigte Frage, wieso die empirische Wissenschaft denn dergleichen voraussetzen dürfe, ist zunächst nur in dem Sinne zu beantworten, dass jede 183 Es lässt sich leicht denken, dass in dieser relativen Unabhängigkeit der logischen Sinnzusammenhänge vom individuellen psychischen und durchaus auch geistigen (intentionalen) Geschehen der Ansatzpunkt für jederlei systemtheoretische Erklärung sozialer Prozesse liegt. 184 Mit der Feststellung, dass wir den Vollzug von intentionalen Akten mit einem transzendentalen Bewusstsein ihrer Sinngehalte als Voraussetzung kausaler Effektivität ansehen müssen, ist natürlich noch nichts über das Verhältnis von Kausalität und Freiheit des Vollzugs gesagt, zumal der Begriff der Freiheit für unsere bisherigen Überlegungen alles andere als selbstverständlich ist. Nur dass Freiheit kein Gegenstand von Erfahrungswissenschaften sein kann, weil Erfahrung weder die Nichtexistenz von etwas (einer determinierenden Ursache) noch die Geltung von Prinzipien (den logisch bestimmenden Gründen) erweisen kann, dürfte selbstverständlich sein.

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Nachfrage sozusagen experimentell den erfahrbaren Ausdruck der Überzeugung von der Geltung des vorher Gesagten (in einer mehr oder weniger ,elaborierten‘ Sprache) zu Tage fördern kann. Nur die nicht-empirische, philosophische Analyse kann nachweisen, dass Intentionalität überhaupt, sofern in ihr begrifflich strukturierter Sinn fungiert, in kognitiver Hinsicht das (transzendentale) Bewusstsein einer Geltungsdifferenz impliziert.185 Hier stößt die geistes- und sozialwissenschaftliche Erfahrung an die Grenzen ihrer Methode. Der Begriff der (andauernden) Überzeugung und des darin enthaltenen Geltungsbewusstseins ist vollständig nur rekonstruierbar durch Rückbindung an den Begriff jenes transzendentalen Vollzugs, der sich der objektivierenden Erfahrung ebenso entzieht, wie er freilich für das Selbstbewusstsein des Wissenschaftlers und sein praktisches (moralisches) Verhältnis zu den ,Objekten‘ seiner Forschung, insofern er sie als Subjekte, mithin als seinesgleichen begreifen muss, unabdingbar ist.186 Dagegen haben wir als empirische Wissenschaftler von verstandenen Sinngehalten ,zunächst‘, sozusagen von Berufs wegen, nur ein empirisches Bewusstsein, dem nur gewissermaßen zufällig (weil unsere eigenen Sachüberzeugungen damit übereinstimmen) ein transzendentales Bewusstsein derselben Sinngehalte, methodisch vom empirischen Bewusstsein wohlunterschieden, an die Seite treten kann.187 Für uns, die Wissenschaftler, sind für uns ungültige Sinngehalte nicht weniger Gegenstand unseres empirischen Bewusstseins als für uns gültige Sinngehalte. Dies schließt wiederum nicht aus, dass wir diese Sinngehalte als geltungsdifferent, als gültig oder ungültig, aufzufassen haben, insofern, wie wir oben sahen, dies ja auch mitunter für den Verlauf der Handlungen und ihren Erfolg äußerst wichtig ist. Allerdings gilt es hier genau zu unterscheiden: das Gelingen von Handlungen hängt nicht eigentlich von der Geltung etwa der dabei fungierenden Überzeugungen ab, sondern von der (mitunter eventuell ,zufälligen‘) Zieladäquatheit der daraus entwickelten Handlungsentwürfe (mögen die mitspielenden Überzeugungen auch noch so abwegig oder phantastisch 185 Wie solche Analyse möglich ist, muss an dieser Stelle nicht ausführlich erörtert werden; sie ist eine geltungstheoretische Analyse von Bedingungen empirisch nachweisbarer Geltungsansprüche, die im übrigen auch von den empirischen Wissenschaften selbst erhoben werden. 186 An dieser Stelle zeigt sich der gute Sinn des Diltheyschen Gedankens von der exemplarischen Funktion des Selbstbewusstseins für das Verstehen des Anderen, ein Gedanke, der freilich bei Dilthey selbst empirisch missverstanden wird; denn schon, dass wir uns selbst als Subjekt gültiger intentionaler Vollzüge denken, ist keine SelbstErfahrung; erst recht ist dies, dass wir einen Kommunikationspartner als ein solches Subjekt denken, keine Erfahrung, sondern ein notwendiges (transzendentales) Implikat des Denkens wie der Kommunikation. – Wissenschaftstheoretisch heißt das auch, dass die Theorie der Geisteswissenschaften der Anknüpfung an die Begriffe der philosophischen Subjektstheorie bedarf: Begriffe, die sie dann freilich auf das empirisch zu Bearbeitende einschränkt. 187 Faktisch kann das, was ,zunächst‘ die Aufgabe des empirischen Wissenschaftlers ist, natürlich durchaus ein Resultat erst der nachkommenden methodischen Bemühung sein.

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sein). Auch insofern bleibt der Gedanke eines objektive Geltung voraussetzenden transzendentalen Bewusstseins aus dem empirischen Begriff der Kulturwissenschaften von ihrem Objekt ausgeschlossen. Handlungen werden nicht bloß durch kognitive Prozesse und Überzeugungen bestimmt, sondern in erster Linie durch praktische Intentionen, Zielsetzungen. Sofern Handlungen durch eine gemäß den Überzeugungen der Handelnden geeignete Wahl der Mittel zu einem gegebenen Zweck gesteuert sind, also durch einen Sinnzusammenhang, den man in der Form eines praktischen Schlusses wiedergeben kann, nennt Weber diese Handlungen ,subjektiv zweckrational‘. Es ist leicht zu sehen, dass dieser rein formale Charakter der Handlung wenig über die ,Rationalität‘ der Prämissen des betreffenden Schlusses besagt, am wenigsten über eine Rationalität der Zwecke selbst (so wenig, dass wir noch den ,Wunsch‘, einen Affekt auszuleben, nach der Analogie eines praktischen Schlusses in das Schema der Zweckrationalität einfügen könnten188). Die ,technische‘ Logik der Zweckrationalität hat für Weber den Vorzug der leichteren Konstruierbarkeit und sie dient, abgesehen von ihrer wohl durchaus häufigen Realisierung im (unproblematischen) Alltagshandeln, als Idealtypus, d. h. als eine Art Maßstab, den man zur Schätzung von Abweichungen, die dann das Erklärungsproblem darstellen, benutzt. Typische ,irrationale‘ Abweichungen sind einerseits das ,traditionale‘, andererseits das ,affektuelle‘ und emotionale Handeln, das erstere allein durch gesellschaftlich eingelebte Gewohnheit bestimmt, das andere durch gefühlte Bedürfnisse.189 Diese ,idealtypischen‘ Unterscheidungen stellen jedoch keine strikten Alternativen dar; schon die Ausführung einer traditionalen oder affektuellen Handlung beinhaltet ja häufig zweckvolle Einzelschritte. Daher ist die Unterscheidung zwischen Rationalität und Irrationalität immer nur relativ auf die jeweils in Betracht gezogene Entscheidungs-Reichweite möglich: Auch die irrationalste Lebensentscheidung schließt nicht aus, dass die Schritte zu Verwirklichung unter einer kognitiv rationalen Prämisse, in klarer Erkenntnis der Situationsvoraussetzungen, unternommen werden. Insofern würde die Abwesenheit jeglicher Rationalität auch besagen, dass wir es gar nicht mehr mit einem Handeln in dem durch subjektiven Sinn definierten Sinne zu tun hätten. Allerdings kann man sich leicht denken, dass bei einer Erklärung mithilfe der Zweck-Mittel-Relation zwar eine weitere Erklärung von Zwecken als Mittel zu darüber hinausliegenden Zwecken denkbar ist, dass die Reihe der Begründungen aber nicht zu einem regressus in infinitum führen kann. Eine wirklich überlegte 188 Auf diese Weise könnten wir auch Webers Bemerkung „Keineswegs nur zweckrationales Handeln ist uns verständlich: wir ,verstehen‘ auch den typischen Ablauf der Affekte und ihre typischen Konsequenzen für das Verhalten.“ (WL 428) eine über die imaginative ,Einfühlung‘ hinausgehenden Sinn unterlegen. 189 Vgl. dazu WL 542 ff. und WG 2 f.

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Entscheidung würde auf diese Weise unmöglich gemacht190 – und ebenso eine zureichende zweckrationale Erklärung. Daher stellt Weber die Alternative eines ,Abschlusses‘ dieser Reihe so dar, dass sie entweder durch Einordnung subjektiver Bedürfnisse „in eine Skala ihrer [. . .] bewusst abgewogenen Dringlichkeit“ gebracht werde oder die „Entscheidung zwischen konkurrierenden und kollidierenden Zwecken und Folgen [. . .] ihrerseits wertrational orientiert sein“ könne.191 Sind auch die Zwecksetzungen geltungsdifferent, also richtig oder falsch? Auch wenn wir davon ausgehen, dass es für die Handelnden Kriterien moralischer Richtigkeit gibt – sei es nach deren eigener Überzeugung oder der Überzeugung ihrer gesellschaftlichen Umgebung, sei es im Bewusstsein der beobachtenden Forscher, so ist doch nicht ohne weiteres zu sehen, dass jede Handlung und Handlungsintention für sie unter ein solches Kriterium fallen sollte. Gewiss, Handlungen können gelingen oder misslingen, und entsprechend könnten wir die praktischen Intentionen als ,richtig‘ oder ,falsch‘ bezeichnen; aber dafür scheinen wieder eher kognitive Voraussetzungen der Handlung verantwortlich zu sein, sei es über die Vereinbarkeit mit anderen Zwecken oder die zweckmäßigen Mittel, sei es bezüglich dessen, was sich der Handelnde an Beherrschung der einschlägigen Techniken zutrauen oder bezüglich der Verfügbarkeit von Mitteln erwarten konnte. Insofern ist die Differenz zwischen ,subjektiver‘ Zweckrationalität (Richtigkeit im Bewusstsein der Handelnden) und ,objektiver‘ Zweckrationalität (Richtigkeitsrationalität vom Standpunkt eines ,wissenden‘ Beobachters aus) eine theoretische, keine praktische Frage. – Dass die Zwecksetzungen selbst generell einer praktischen Richtigkeitsbeurteilung (im Bewusstsein der Handelnden) unterliegen, ist dagegen nicht von vornherein selbstverständlich: Sich Zwecke zu setzen, scheint weitgehend eine Entscheidung der Willkür zu sein. Aber einen Zweck zu setzen, scheint zu implizieren, dass der Handelnde den Zweck als (für sich) ,wertvoll‘ ansieht. Dann kann man nicht nur fragen, ob der Zweck ,wirklich‘ wertvoll (und wie wertvoll er) sei, sondern auch, in welcher Hinsicht er wertvoll sei, d. h. im Sinne welches ,Wertes‘ er wertvoll sei; schließlich welcher ,Wert‘ und welche ,Werte‘ das Handeln dieser oder jener Menschen bestimmen. – Damit, insbesondere mit der Pluralform ,Werte‘, ist jener merkwürdige Begriff genannt, der neben dem der Geltung das philosophische Denken seit Mitte des 19. Jahrhunderts in vielfältiger Weise bestimmt hat und für Webers (wie Rickerts) wissenschaftstheoretische Überlegungen eine weitreichende und komplizierte Bedeutung bekommen hat.

190 Dies ist der Grund, warum schon Aristoteles zu Anfang der „Nikomachischen Ethik“ die Notwendigkeit eines ,höchsten Gutes‘ postuliert. 191 WuG 13.

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Menschliches Handeln ist wertbestimmt; das sagt nicht viel mehr, als dass wir handeln, weil wir dasjenige, was wir erreichen wollen, für etwas Gutes halten, also nicht viel mehr als der Satz, mit dem die Nikomachische Ethik des Aristoteles beginnt: „Jede Kunst und jede Lehre, desgleichen jede Handlung und jeder Entschluß, scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt.“192 – Nichts spricht auch dagegen, dasjenige, wonach Handelnde streben, durch die Gesichtspunkte zu unterscheiden, welche das jeweilige ,Gut‘ als gut und daher erstrebenswert erscheinen lassen, und diese Gesichtspunkte ,Werte‘ zu nennen. – Zur Not kann man selbst Geltungsgesichtspunkte (theoretische Gültigkeit, formale Richtigkeit und Wahrheit193; aber auch moralische Gültigkeit von Handlungsregeln) unter den Titel ,Wert‘ stellen, wenn das auch den Sprachgebrauch etwas überdehnt.194 Jedenfalls verfährt Weber (in Übereinstimmung mit Rickert) so, wenn er neben den Handlungstypus der Zweckrationalität den der Wertrationalität stellt, der dadurch charakterisiert wird, dass die Handlung „durch bewußten Glauben an den – ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden – unbe-

192 Aristoteles, Nikomachische Ethik 1094a (wir zitieren hier: Aristoteles, Nikomachische Ethik, auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hrsg. v. G. Bien, Hamburg 1985, S. 1; unsere Hervorhebung). 193 Man sollte sich nicht dadurch täuschen lassen, dass auch die Logiker vom ,Wahrheitswert‘ und der ,Zweiwertigkeit‘ von Aussagen reden; da wird ein ganz anderer, aus der Mathematik hergenommener Wert-Begriff benutzt, der trotz der Unterscheidung von negativem und positivem ,Wert‘ doch zunächst dasjenige meint, was in die Variable einer Formel einzusetzen ist. Der Wert, den die wahre Aussage für die Erkenntnis und Wissenschaft oder auch für unser Handeln haben mag, ist damit nicht gemeint. 194 Das Wort ,Geltung‘ (im Sinne der objektiven Geltung, nicht des bloß faktischen Anerkannt-Seins) setzt bestimmte grammatische Relationen voraus: Ein Satz gilt von gewissen Objekten und für gewisse Subjekte, im Falle theoretischer Geltung (formaler Richtigkeit, inhaltlicher Wahrheit) für alle Subjekte, im Falle praktischer Geltung von gewissen Handlungen (oder auch ,für‘ sie), für ein Individuum, für eine Gemeinschaft oder auch für jedes praktische Subjekt; ,Objektivität‘ der Geltung besagt dabei, dass die Geltung für jemanden nicht von der Anerkennung durch dieses Subjekt abhängt. – Das Wort ,Wert‘ setzt ganz andere Relationen voraus: Auch Sätze mögen einen Wert haben, aber von einem Gegenstandsbezug kann dabei keine Rede sein, und der Wert, den sie für Subjekte haben mögen, ist jedenfalls etwas anderes als ihre Geltung. Handlungen selbst (im Unterschied zu praktischen Sätzen) bezeichnet man kaum als gültig, aber als ,richtig‘. Sie mögen als richtige auch einen Wert haben, aber dann fragt sich, worauf denn der Wert beruhe (wenn nicht bloß in der Nützlichkeit der Handlung für etwas anderes). – Man könnte den deontologischen (etwa Kantischen) Ansatz in der Moralphilosophie dadurch charakterisieren, dass in ihm der ,Wert‘ einer Handlung auf ihre Richtigkeit (Gesetzmäßigkeit und Gesetzesmotiviertheit) zurückgeführt werde; während ein teleologischer Ansatz die Richtigkeit auf einen ,Wert‘ zurückführe. – Damit würde freilich die Frage aufgeworfen, warum Neukantianer wie Rickert den Wertbegriff so sehr in den Vordergrund gestellt haben (vgl. hierzu die sehr gründliche Analyse von Christian Krijnen, Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Rickerts, Würzburg 2001).

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dingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg“ bestimmt sei.195 b) Wertrationalität und Irrationalität Ein gewisses Problem liegt in Webers theoretischer Fassung der Wertrationalität. So, wie er den Begriff gebraucht, scheint Wertrationalität zwar ein terminus ad quem der Begründung, also des rationalen Verhaltens und des rationalen Motivationsverstehens zu sein, aber kein terminus a quo, von dem aus man noch einmal auf einen Grund zurückgehen könnte. Das ist unter der Voraussetzung, dass überhaupt nur ein Wert (zumindest für den betreffenden Handlungszusammenhang) in Frage kommt, so weit plausibel. Problematisch ist jedoch Webers Verknüpfung des Begriffs der Wertrationalität mit dem der Irrationalität: „Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus aber ist Wertrationalität immer, und zwar je mehr sie den Wert, an dem das Handeln orientiert wird, zum absoluten Wert steigert, desto mehr: irrational, weil sie ja um so weniger auf die Folgen des Handelns reflektiert, je unbedingter allein dessen Eigenwert (reine Gesinnung, Schönheit, absolute Güte, absolute Pflichtmäßigkeit) für sie in Betracht kommt.“196

Die Zuspitzung auf die Steigerung zum absoluten Wert lässt die Frage unbeantwortet, worauf die relativen Werte denn relativ sein könnten und wie rational oder irrational die Orientierung an nicht-absoluten Werten wäre. Die Begründung sodann für die These der Irrationalität unbedingter Wertrationalität, dass letztere, je unbedingter, desto weniger auf die Folgen des Handelns reflektiere, setzt genau das voraus, was zu begründen wäre, dass nämlich Werte mit den Folgen des Handelns nichts zu tun hätten. Das aber scheint an dem Gehalt zumindest mancher ,Wert‘-Konzeption vorbeizugehen. Exkurs zu einschlägigen moralphilosophischen Fragen Man gestatte mir zur Aufklärung einiger durch Weber und Weber-Interpreten nahegelegter Missverständnisse einen kurzen Ausflug in die Moralphilosophie: Abgesehen davon, dass z. B. der Utilitarismus eine ganz auf die Handlungsfolgen eingeschränkte Werttheorie vertritt und gerade diese Beschränkung auf die Folgen nicht weiter rational begründet wird, wäre ebenso eine maximenkritische (oder prinzipientheoretische) Ethik im Sinne Kants missverstanden, wenn sie auf eine Vernachlässigung der Handlungsfolgen festgelegt würde. Es ist wahr, dass dort etwa die für den Handelnden (und in gewisser Hinsicht auch für andere) ungünstigen Handlungsfolgen nach Prüfung der Maxime keine Rolle mehr spielen dürfen; aber in der Prüfung der Maximen auf ihre Gesetzesfähigkeit 195 196

WuG 2. WuG 13.

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spielen die Folgen (nicht bloß einer Handlung, sondern einer entsprechenden Gesetzgebung) für andere und auch für den Handelnden eine durchaus unerlässliche Rolle, schon weil die Maxime, fremdes Wohl und die eigene Vervollkommnung zu vernachlässigen, nicht zum Gesetz gemacht werden kann. Aber die Reinheit der moralischen Gesinnung (Motivation durch das Kriterium der Gesetzesfähigkeit seiner Maximen) ist als Grund des unbedingten Wertes einer Handlung zwar auch als anzustrebender Zweck (den ich in meine Maxime aufnehmen soll) geboten, aber nicht etwa in irgendeinem Ausschlussverhältnis zu anderen gebotenen Zwecken und Pflichten (vielmehr nur als deren ,subjektive‘ Ergänzung). Die ,Reinheit‘ der Gesinnung ist für Kant mitnichten selbst ein Kriterium, durch das eine Handlungsmaxime geprüft werden könnte, sondern eine Qualität der Handlungsmotivation, welche inhaltlich schon eine geprüfte Maxime voraussetzt. Schon deshalb kann die moralische Gesinnung kein Entlastungsgrund für die Vernachlässigung irgendeiner Verantwortung sein. – Auch wenn Weber selbst die Kantische Ethik niemals mit der in seinem Vortrag Politik als Beruf 197 charakterisierten ,Gesinnungsethik‘ identifiziert hat, sie an anderer Stelle sogar ausdrücklich von ihr unterscheidet, ahnt man vielleicht nach den obigen Hinweisen, wie wenig durchdacht die im Hinblick auf die Syndikalisten und die rätedemokratischen Bestrebungen entwickelte Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist, die im öffentlichen Diskurs bis heute für Verwirrung sorgt. (Dass Weber selbst im übrigen keineswegs gemeint hat, sein Typus des Gesinnungsethikers enthalte die Position der Kantischen Ethik, zeigt die einschlägige Passage in dem Aufsatz Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften von 1917: Die Maximen der beiden ,Typen‘ werden als „von streng formalem Charakter, darin ähnlich den bekannten Axiomen der ,Kritik der praktischen Vernunft‘“ bezeichnet, also jedenfalls beide gleichermaßen vom kategorischen Imperativ unterschieden – wie immer es mit deren ,formalem‘ Charakter in Wirklichkeit stehen mag. – Dann folgt eine etwas verschrobene Erläuterung der durchaus ,inhaltlichen‘ Konsequenzen des sog. Formalismus der Kantischen Ethik, die jedenfalls mit den beiden ,Idealtypen‘ gar nichts mehr zu tun hat198). ———— Da Handeln immer Zwecke verfolgt, ist nicht recht zu sehen, wieso ein ,Eigenwert‘ des Handelns dazu nötigen sollte, die zu erwartenden Folgen, zu denen außer den Nebenfolgen auch die erwünschten Zwecke gehören, zu vernachlässi197 Max Weber, Politik als Beruf, in: Max Weber, Wissenschaft als Beruf. 1917/ 1919. Politik als Beruf. 1919 (Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 17), hrsg. v. W. J. Mommsen u. W. Schluchter, Tübingen 1992, S. 157–252. 198 Vgl. Max Weber, Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: WL 505 ff.

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gen. Es könnte ja sein, dass der Eigenwert des Handelns gerade durch Prinzipien konstituiert würde, die auch Zwecke nicht nur zu beurteilen erlaubten, sondern sie determinierten, gar solche, welche die Vereinbarkeit anderer Zwecke allererst ermöglichten. Dann aber würden sich eine Orientierung am Eigenwert des Handelns und die Reflexion auf die Folgen des Handelns keineswegs gegenseitig ausschließen. An diesem Punkt kommt offenbar eine Theorie der empirischen Wissenschaften an ihre Grenzen. Es ist gewiss nicht die Aufgabe einer empirischen Wissenschaft, a priori darüber zu entscheiden, ob die Wahl zwischen verschiedenen Wertgesichtspunkten, die Präferenz eines Wertgesichtspunktes vor einem anderen, rational sein könne. Denn die Rationalität einer solchen Wahl ließe sich nur mit der Durchführung einer nicht-empirischen, hier also philosophischen Argumentation für die Prävalenz eines bestimmten Wertgesichtspunktes erweisen. Die empirische Wissenschaft könnte gegebenenfalls nur auf die faktische Existenz solcher Argumentationsversuche verweisen. Mit der Behauptung ihrer Unmöglichkeit aber, ja schon mit der Behauptung der Ungültigkeit eines vorliegenden Versuchs überschreitet Erfahrungswissenschaft ihre Kompetenz und die Wissenschaftstheorie die Grenze zwischen sich als theoretischer Disziplin und der praktischen Philosophie als normativer Disziplin.199 Wir haben daher allen Grund, Webers Verknüpfung von Wertrationalität und Irrationalität, auch wenn sie unter die etwas unklare Voraussetzung eines „Standpunktes der Zweckrationalität“ gestellt wird, skeptisch zu betrachten. Darüber hinaus sollte man sich auch davor hüten, über die Weberschen Klassifizierungen etwa des sozialen Handelns in zweckrationales, wertrationales, affektuelles und traditionales zu vergessen, dass Rationalität ein Charakteristikum nicht nur spezieller Handlungstypen darstellt. Weil Intentionalität überhaupt kognitives Geltungsbewusstsein impliziert, ist zu bedenken: Rationalität als umfassende Systematisierung der Lebensgestaltung und insbesondere des Wirtschaftens ist zwar ein spezielles und sich historisch entwickelndes Phänomen, aber für die einzelne Handlung ist sie in elementarem Sinne die Bedingung dafür, überhaupt als Handlung auffassbar zu sein, zumindest insofern der Handelnde selbst seine Handlung als ,richtig‘ auffasst. Wenn wir den Begriff des Zweckes weiter fassen, als Weber dies zumeist tut, so dass der Begriff (im Sinne der Aristotelischen Handlungstheorie) auch die in Handlungen selbst enthaltenen ,Ziele‘ mit einschließt, dann ist eine Handlung per definitionem ein Verhalten, 199 Es ist natürlich Webers unbestrittenes Recht, seiner Überzeugung von der Unmöglichkeit einer rationalen Entscheidung letzter Wert- und Geltungsfragen Ausdruck zu verleihen. Nur sollte man daran denken, dass solche Passagen (etwa in dem Vortrag von 1919 „Wissenschaft als Beruf“, in WL 582–613, insbes. WL 604 f.) die Grenzen sowohl der Wissenschaftstheorie als auch der empirischen Sozialwissenschaften überschreiten (und Weber nirgendwo den Versuch macht oder den Anspruch erhebt, sich philosophisch mit dem Problem auseinanderzusetzen).

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das vom Handelnden als zur Erreichung eines Zweckes geeignet (im Grenzfalle des ,Versuchs‘ als möglicherweise geeignet) aufgefasst wird.200 Das Handlungsbewusstsein impliziert insoweit ein (sei es auch noch so vages) theoretisches Geltungsbewusstsein des Bedingungsverhältnisses. Insoweit ist Rationalität ein Implikat praktischer Intentionalität, so wie Widerspruchslosigkeit Implikat des einheitlichen Sinnes von Sätzen, also auch Bewusstseins-Implikat entsprechender Behauptungen und Überzeugungen ist.201 Daher ist Rationalität wie Geltung überhaupt (zumindest theoretische Geltung) auch nicht ursprünglich ein erst noch zu verfolgendes Ziel oder ein Gegenstand der Wertschätzung, den man anderen Wertgesichtspunkten alternativ an die Seite stellen könnte, sondern eine fundamentale Bedingung aller Zwecksetzung und Wertschätzung, weil alle Wertschätzung – logisch noch vor der Anwendung eines Wertgesichtpunktes oder ,Wertes‘ – voraussetzt, dass das zu Bewertende kognitiv richtig erfasst ist. Wir urteilen, dass ein Tisch weiß sei, dass wir einen Zug verpasst haben oder dass die Winkelsumme im Dreieck 180 Grad betrage, nicht deswegen, weil wir diesen Sätzen einen Wert zubilligen oder überhaupt zu ihnen Stellung nehmen, sondern weil wir in unserem intentionalen Leben kognitive Akte vollziehen, die geltungsdifferente Sinngehalte zum Resultat haben, und uns dabei nach gewissen elementaren Kriterien der Geltung zu richten gelernt haben. Dies macht die Unterordnung der Wahrheit unter den Begriff des Wertes zu einer irreführenden Konzeption, die in den elementaren Vollzug von Intentionalität einen Reflexionsbegriff hineinmengt, der allenfalls zu ganz speziellen Unternehmungen, wie dem Betreiben einer Wissenschaft, gehört. Freilich unterliegt die Einschätzung dessen, was als Erkenntnis und Wissen zu gelten habe, einer Entwicklung. Es ist die Entwicklung der Rationalität als derjenigen des Bewusstseins von den zureichenden Gründen des Fürwahrhaltens. Das Fürwahrhalten selbst und damit das Bewusstsein der Differenz von Wahr und Falsch aber liegt der Intentionalität überhaupt als notwendige Bedingung zugrunde. Nicht um eines Wertes willen etwa werden Vormeinungen korrigiert, sondern weil dasjenige misslingt, was auch für Handlungsentscheidungen unerlässlich ist: der Versuch, das, was den Entscheidungen als kognitive Voraussetzung zugrunde liegt, mit gegenwärtigen Phänomenen und neuen Erkenntnissen, die der Handelnde zu gewinnen meint, in Übereinstimmung zu bringen, also in

200 Beispiele von Handlungen, die ihren Zweck in sich selbst haben können, wären: Spazierengehen, Musizieren, bei Aristoteles natürlich Philosophieren; dabei könnte man, um die Unterscheidung zwischen Mittel und Zweck aufrecht zu erhalten, allenfalls die einzelnen Phasen des Verhaltens als Mittel zu Erreichung des ,Gesamtzwecks‘ ansehen. 201 Dass das (transzendentale) Bewusstsein einer Behauptung das Bewusstsein der Widerspruchslosigkeit des Behaupteten impliziert, bedeutet natürlich so wenig, dass es keine Widersprüche in Behauptungen gäbe, wie das zu Behauptungen gehörige Geltungsbewusstsein überhaupt die Geltung des Behaupteten impliziert.

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einem Geltungsbewusstsein zu vereinigen. Das Widerspruchsprinzip ist kein Wert, sondern eine Bedingung von Intentionalität überhaupt. Eine damit verwandte Überlegung betrifft das praktische Geltungsbewusstsein bei moralisch relevanten Entscheidungen. Nicht nur der Fokus der Zweckrationalität, sondern auch die Rede von ,Werten‘ scheint uns davon abzulenken, dass jemand, der eine Handlungsalternative auf das moralisch Gebotene oder Erlaubte hin prüft, sich an Prinzipien moralischer Beurteilung orientiert und dies keineswegs tun muss, weil er ,einen Wert verwirklichen‘ möchte (sozusagen im Sinne einer ,höheren‘ Zweckrationalität der Wertverwirklichung). Gewiss kann man (mit den Neukantianern) moralische Richtigkeit, Gebotenheit, Erlaubtheit und Verbotenheit auch unter einen (weiten) Begriff des Wertes subsumieren, aber diese Redeweise entspringt einer nachträglichen Reflexion und hat mit dem Vollzugsbewusstsein der Handelnden wenig zu tun.202 c) Gesetzlichkeit, Individualität und Geschichtlichkeit Recht weit entfernt von den eigentlichen Problemen der sozialwissenschaftlichen und historischen Forschung ist die (in manchen Diskussionen über den Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geistes- oder Kulturwissenschaften beliebte) Frage nach der Rolle, welche die Gesetze in den betreffenden Wissenschaften spielen. Wir werden weiter unten noch auf die neukantianische Herausstellung der Wertbeziehung im Zusammenhang dieser Problematik eingehen; zuvor bedarf jedoch ein anderer Aspekt einer genaueren Analyse, weil zwei voneinander gänzlich unabhängige Arten der Allgemeinheit, u. a. auch von gesetzlicher Allgemeinheit, dabei leicht miteinander verwechselt werden: die Allgemeinheit der Sinngehalte von Habitualitäten (Überzeugungen, praktischen Entschiedenheiten) der erforschten Personen oder Personengruppen auf der einen und die Allgemeinheit der wissenschaftlichen Aussagen über diese Personen und ihre Habitualitäten auf er anderen Seite. Der Vollzug von kognitiven Akten, ebenso aber das Fällen einer praktischen Entscheidung, so haben wir uns oben klargemacht, übt eine Wirkung aus auf 202 Die methodologische Folge davon ist, dass solche Entscheidungen nicht durch die Zweckrationalität artikulierende material-praktische, sondern durch formal-praktische Schlüsse darzustellen sind, in denen ein Geltungsprinzip den Obersatz und die Beurteilung der Handlung bzw. der ihr zugrundeliegenden Maxime den Untersatz bilden, (etwa von der Form: Die Maximen meiner Handlungen sollen nach meinem Willen dem Geltungs-Kriterium K genügen; die Maxime M [den Zweck Z zu vernachlässigen] genügt dem Kriterium K nicht; also will ich Z befördern). – Weil die Rede von den Werten in der Moralphilosophie dazu verleitet, alle praktischen Entscheidungen auf material-praktische Schlüsse zu reduzieren, verunklärt sie jedenfalls die Frage, ob „der Begriff des Guten und Bösen [. . .] vor dem moralischen Gesetze“ oder „nur [. . .] nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“ (vgl. dazu Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V 62 f.).

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die dauernde intentionale ,Eigentümlichkeit‘ der Person; diese verändert ihre Persönlichkeit, und zwar in einer Weise, die ,normalerweise‘ nicht ohne weiteres rückgängig gemacht wird, so dass wir nicht bloß von Veränderung, sondern von einer Entwicklung sprechen können. Die Realität dieser Entwicklung und der dabei gewonnenen intentionalen Habitualitäten erweist sich darin, dass diese in der Folge gewisse intentionale Prozesse und Handlungen zulassen, andere ausschließen, wieder andere unter geeigneten Bedingungen notwendig machen, d. h. dass sie als prozessdeterminierende ,Kräfte‘ fungieren.203 Unter diesen kognitiven und praktischen Habitualitäten gibt es solche, deren Sinngehalt allgemeine Regeln, Gesetze und Prinzipien sind. Nur ist der ,generelle‘ Charakter dieser Habitualitäten eine intentionale Generalität ihres gegenstands- und handlungsbezogenen Sinngehaltes,204 ihre Existenz und ihre Genesis dagegen ist kein Gesetz, sondern ein individuelles Faktum. Die Habitualitäten selbst, als Bestimmtheiten von Personen, sind individuelle, veränderliche und sich entwickelnde Tatbestände, etwas also, das man nur als Variante in die Variablen eines Gesetzes (von der Form, dass jemand, der die Überzeugung u habe und das Ziel z, sich so und so verhalten werde) einsetzen könnte, und dies auch dann, wenn sie vielen Handelnden gemeinsam sind. – Wollte man für solche Prozessdetermination Gesetze aufstellen, so wären das wohl ziemlich unspektakuläre Gesetze. Weber hat mitunter darauf hingewiesen, dass das Handlungsgeschehen selbstverständlich, wie jedes Geschehen, Gesetzen unterliege, dass diese Gesetze aber von enttäuschender Trivialität seien für jeden, der davon irgendwelche Aufschlüsse über geschichtliche Tatbestände erwarte. Dies gilt nicht nur für die Motivation von Handlungen und die Kausalität zwischenmenschlicher Beziehungen205, sondern erst recht für die Entwicklung der Überzeugungen und praktischen Einstellungen. Deswegen sind nicht die uns allen aus der Lebenswelt ziemlich vertrauten ,Gesetze‘ das, was die historische oder soziologische Forschung aufdecken will, sondern das, was in sie (als Variante) ,einzusetzen‘ 203 Wir könnten diese prozessdeterminierende Funktion der Habitualitäten als ,Schema‘ der empirischen Persönlichkeit bezeichnen (s. u. S. 147 und 290 ff.). 204 Die intentionale Generalität eines Satzes ist keine Generalität, unter der die Intentionalität oder die Handlungen des Subjekts per se stünden, sondern eine solche, unter die das Subjekt seine Intentionalität und sein Handeln zu stellen oder gestellt zu haben meint. Dies gilt grundsätzlich auch für praktische Habitualitäten (Maximen): sie sind Prinzipien, die das Subjekt sich selbst zudenkt, worin es sich aber durchaus täuschen kann. Vor allem aber sind Maximen, wie alle übrigen Habitualitäten, selbst wenn sich das Subjekt wahrhaft unter sie stellt (sich nach ihnen richtet und durch sie motiviert ist), erworben und veränderlich, also zeitlich individuierte Größen. 205 In der Roscher/Knies-Abhandlung macht Weber darauf aufmerksam, dass wir „infolge unserer an der eignen Alltagserkenntnis geschulten Phantasie“ es aus wissenschafts-ökonomischen Gründen unterlassen, bei der Deutung menschlichen Handelns den Erfahrungsgehalt dieser Alltagserkenntnis in Regeln zu formulieren. Die „Trivialität der überwältigenden Mehrzahl der so zu gewinnenden Erfahrungssätze“ exemplifiziert er durch Verweis auf die Sentenzen in Wilhelm Buschs humoristischen Versen von der Art: „Wer sich freut, wenn wer betrübt, macht sich meistens unbeliebt“.

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ist: die Überzeugungen, Zielsetzungen, deren Entstehungsbedingungen, Veränderungsanlässe, die Situationsbedingungen ihrer ,Anwendung‘ in Handlungen. Nur eine weitere Komplikation dieser Verhältnisse ist es, dass freilich eine dem Sinngehalt nach allgemeine Überzeugung oder Zielsetzung, solange sie bei jemandem und soweit sie bei einer Personengruppe ,in Kraft‘ ist (und ihre Wirksamkeit nicht behindert wird), relativ allgemeine (auf die Zeit und die personelle Verbreitung ihres In-Kraft-Seins beschränkte) Allgemeinaussagen über Handlungs-Motivationen ermöglichen. Hinzu kommt, dass es ziemlich viele solcher dem Sinngehalt nach allgemeiner Überzeugungen gibt, die unter den Natur-Bedingungen, in denen Menschen leben, zumal auf einer gewissen Stufe der Menschheitsentwicklung, sehr nahe liegen und deshalb relativ weit verbreitet sind – was aber ihren logischen Status als zeitlich und personell variabler singulärer, in diesem Sinne geschichtlicher Merkmale nicht grundsätzlich in Frage stellt. Damit beantwortet sich schon weitgehend die Frage nach den „General Laws in History“206. In der Tatsache, dass auch die dem Sinngehalt nach allgemeinsten (und intersubjektiv verbreitetesten) Überzeugungen und praktischen Einstellungen entstandene und in der Zeit veränderliche Habitualitäten sind, liegt die Erklärung dafür, dass nicht nur die Historie kaum nach Gesetzen fragt, sondern die Kulturwissenschaften überhaupt, auch die systematischen Kulturwissenschaften wie die Soziologie, eher ,individuelle‘ Zusammenhänge, seien es auch Massenerscheinungen, untersucht und aus statistischen Erhebungen allenfalls Wahrscheinlichkeits-Regeln, Regeln ,adäquater Verursachung‘207 entnimmt: Nicht von der Entdeckung allgemeiner Gesetze, sondern von der Erforschung konkreter Bedingungskonstellationen erwarten sich die Kulturwissenschaften Antworten auf die Frage nach den relevanten, entscheidenden Ursachen eines Ereignisses oder eines eingetretenen Zustandes. Weil wissenschaftliche 206 Vgl. den Titel des vielzitierten Aufsatzes von Carl Gustav Hempel, The Function of General Laws in History, in: The Journal of Philosophy 39 (1942), S. 35–48; zu der betreffenden logischen Problematik vgl. den aufschlussreichen Beitrag von Thomas M. Seebohm, Historische Kausalerklärung, in: G. Posch (Hrsg.), Kausalität. Neue Texte, Stuttgart 1981, S. 260–288. 207 Mit dem Begriff der adäquaten Verursachung bezeichnet Weber das Konstrukt einer kausalen Relation zwischen einem gedachten oder aus dem Wissen um ein Geschehen abstrahierten Bedingungskomplex und seinem nach der Erfahrung zu erwartenden Erfolg. Der Gegenbegriff ist derjenige der ,zufälligen Verursachung‘, welcher besagt, dass nicht aus dem betrachteten oder bekannten Bedingungskomplex, sondern nur aus einem diesem Komplex äußerlichen Moment die tatsächliche Folge erklärbar ist. Die Unterscheidung (die auch eine Graduierung der Adäquanz zulässt) dient als Instrument zur näheren Charakterisierung der kausalen Relevanz von Geschehensbedingungen. Sie erlaubt insbesondere auch die Gewichtung der durch Intentionalität bestimmten Handlungsfaktoren des Geschehens gegenüber intentionalitätsfremden Einflussgrößen (vgl. dazu den II. Teil der „Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“: „Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung“, WL 266–290, insbes. 286 f.).

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Methoden ein Mittel zur Lösung von Wissens-Problemen sind und in den Geistes- oder Kulturwissenschaften das Wissen um die Ursachen und Zusammenhänge von Ereignissen und Zuständen, weniger um die ,Gesetze‘, das Unbekannte oder nur lückenhaft Bekannte, das Erkenntnis-Problem ist, sind die Kulturwissenschaften ,individualisierende‘ Wissenschaften. Obwohl dieser sozusagen problemanalytische Gedanke bei Weber an vielen Stellen präsent ist, wird er an vielen anderen Stellen von einem gänzlich anderen, auf Rickert und Windelband zurückgehenden theoretischen Ansatz in der Begründung der Historizität der Kulturwissenschaften überdeckt, der unter dem Titel ,Wertbeziehung‘ steht. – Bevor wir auf ihn näher eingehen, weisen wir noch auf einen speziellen Aspekt der individuellen und kollektiven Entwicklung von Handlungssubjekten hin, der für die Beurteilung gerade dieses anderen Ansatzes von Bedeutung sein wird.

d) Geschichtlichkeit und geschichtliches Bewusstsein der Handelnden Die Entwicklung von Habitualitäten ist über das bisher Dargestellte hinaus ein Prozess, dessen sich die Personen grundsätzlich bewusst sind, den sie bis zu einem gewissen Grade überblicken, in der Erinnerung rekapitulieren, über den sie sich Rechenschaft geben können und den sie in der Erinnerung in eine Abfolge von Ereignissen und Handlungen einordnen. Kurz, die handelnden Personen selbst sind zumindest in einem rudimentären Sinne, auch ohne jede wissenschaftliche Bildung und Zielsetzung, durch eine ,Geschichtlichkeit‘ ausgezeichnet, die selbstverständlich von vornherein intersubjektiv und kommunikativ mit der Geschichtlichkeit ihrer Lebenswelt verflochten ist. Das empirische Symptom dieser Geschichtlichkeit sind Phänomene wie die autobiographische ,Erzählung‘, Berichte, Chroniken etc. Wir können dabei dreierlei festhalten: erstens haben wir es bei diesen Phänomenen mit lebensweltlichen Vorformen wissenschaftlicher Historie zu tun, zweitens kann diese geschehensimmanente ,Protohistorie‘ so wenig wie die wissenschaftliche Historie eine lückenlose ,Aufzeichnung‘ des Geschehens sein, sie wählt notwendigerweise aus, was dem Berichtenden als erzählens- oder berichtenswert, mithin als bedeutsam erscheint, drittens kann die Bedeutsamkeit sehr verschiedene Gründe haben, sie mag sich etwa einem bloßen Unterhaltungszweck verdanken, sie kann aber auch durch die Frage nach den Ursachen von Tatbeständen motiviert sein, auf die das eigene Handeln bezogen ist, seien diese Tatbestände unveränderliche Bedingungen des Handelns, seien sie durch eigenes Handeln veränderbar. In jedem Falle ist mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die Darstellung das weitere Geschehen, das wirkliche oder vermeintliche Wissen der Rezipienten (vielleicht auch das des Berichtenden selbst) und, zumal durch die Bedeutsam-

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keit, die dem ausgewählten Geschehen erteilt wird, das Wollen und Handeln des rezipierenden Personenkreises, vielleicht einer ganzen Gesellschaft, beeinflusst. Genauer überlegt, wird man Entsprechendes schon für die individuellen Erinnerungsprozesse, die Erinnerungs-,Arbeit‘, von der die Psychologen sprechen, in Anschlag bringen müssen. Selbstverständlich verbirgt sich hinter diesem reflexiven Geschehensmoment immer schon eine Werthaltung, Wertvorstellungen, die man ebenso analysieren kann wie die unmittelbar handlungsbestimmenden Wertvorstellungen. Der wissenschaftliche Historiker muss diese Wertvorstellungen nicht teilen, aber er muss nicht nur, wenn er für die Erforschung eines bestimmten Geschehens eine Quelle benutzt, deren Werthaltung in der Auswahl und Darstellung ihrer Gegenstände berücksichtigen, er muss die im darzustellenden Geschehen selbst enthaltenen Geschehens-Auffassungen mit ihren Bedeutsamkeitszuschreibungen und dem darin liegenden Wertbezug in Anschlag bringen. Die Werthaltung der Quellen (soweit sie als Quellen, nicht als Determinanten weiteren Geschehens betrachtet werden) mag ein Gegenstand der kritischen Prüfung sein (inwieweit sie etwa bedeutsame Tatbestände verdecken), der Wertbezug innerhalb des Geschehens jedoch und die durch ihn bestimmten Bedeutsamkeits-Zuschreibungen sind konstitutive Bestandteile des historischen und überhaupt kulturwissenschaftlichen Gegenstandes. Auch ein Streik oder eine Börsenpanik wird durch dasjenige mitbestimmt, was die Teilnehmer des Geschehens über seine ,Vorgeschichte‘ zu wissen glauben und berichten – oder in den Medien lesen, und zwar, indem es Teil der habitualisierten Überzeugungen der Handelnden wird. e) ,Subjektivität‘ und ,Objektivität‘ der Wertbeziehung Allerdings stellt sich nun die Frage: Für wen sind die Tatbestände bedeutsam? Gibt es eine ,objektive‘ Bedeutsamkeit? Die Frage nach der Bedeutsamkeit muss, insofern eine Historie keine vollständige ,Aufzeichnung‘ der Vergangenheit sein kann (und selbst ein endloser Film immer nur gewisse Aspekte des Geschehens darbieten könnte), schließlich zu einer Frage nach den Kriterien der Gegenstandsauswahl des Historikers und den darin fungierenden Wertvorstellungen werden. Die Werte – oder sagen wir vorsichtiger: die Wertvorstellungen – sind nicht nur ein direkt oder auch indirekt (über gesellschaftliche Einflüsse) bestimmendes Sinnelement des Handlungsgeschehens selbst (zum ,subjektiven‘ Sinn der Handlungen gehörig, insofern aber Vorkommnisse auf der Objektseite der Wissenschaft). Auch die Forscher auf der Subjektseite der Wissenschaft sind ja Handlungssubjekte, ihre Forschung stellt eine spezielle Form des Handelns dar, das durch Wertvorstellungen bestimmt ist. Und wie sie sich, zumindest in vielen Fällen, ein Urteil über die Gültigkeit bestimmter Überzeugungen ihrer Forschungsobjekte zutrauen, so werden sie sich häufig auch über den Wert der in

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den erforschten Handlungsprozessen verfolgten Zwecke und schließlich über die darin sich konkretisierenden Wertvorstellungen ein Urteil zutrauen – naturgemäß aufgrund ihrer eigenen Wertvorstellungen. Insbesondere werden diese Wertvorstellungen zu den Bestimmungsgründen gehören, die einen Menschen und eine Gesellschaft überhaupt dazu bringen, eine bestimmte Kulturwissenschaft zu betreiben und speziell einen bestimmten ,Gegenstand‘ zu erforschen. Über all dies besteht innerhalb der Diskussionen, an denen Weber beteiligt war, und noch in derjenigen, die Jahrzehnte später unter dem Schlagwort „Werturteilsstreit“ stattgefunden haben208, Einigkeit. Keine Einigkeit besteht über die Frage, ob die Wissenschaft, insbesondere die Sozialwissenschaft als solche, mithin der Wissenschaftler als empirischer Wissenschaftler, Werturteile fällen könne oder dürfe. Mit dieser Frage müssen wir uns nicht sehr lange beschäftigen: zumindest, wenn es um die empirischen Wissenschaften geht und wenn wir von der bei Weber und Rickert anzutreffenden Subsumtion der theoretischen Geltung (Wahrheit und logische Richtigkeit) unter den Wertbegriff absehen, ist die Antwort sowohl Webers als auch Rickerts eindeutig negativ. „Die kausale Analyse liefert absolut keine Werturteile“, heißt es etwa in Webers Auseinandersetzung mit Eduard Meyer.209 Empirische Wissenschaft ist nicht in der Lage, Werte zu begründen oder zu rechtfertigen, daher kann und darf sie als solche keine Wertungen vornehmen. – Das muss natürlich keinen Wissenschaftler daran hindern, in anderer Funktion, insbesondere als politischer Mensch, zu werten und dabei auch seine wissenschaftliche Sachkenntnis zu gebrauchen, welche etwa über die Eignung von Mitteln zu vorgegebenen Zwecken, über die Vereinbarkeit von Zwecken und über die bestimmten Zwecken zugrundeliegenden subjektiven oder gesellschaftlich verbreiteten Wertideen vielerlei für politische Entscheidungen Nützliches zu sagen haben mag. Auch dies wird, abgesehen von der Neigung mancher Forscher, bei entsprechender Beratungstätigkeit ihre Sachkompetenz schon als praktische Bewertungskompetenz erscheinen zu lassen, nicht mehr sehr strittig sein, wenn es auch viele Stimmen gab (und vielleicht heute noch gibt), die der Überzeugung waren, dass zumindest Sozialwissenschaft ohne Wertung nicht denkbar sei.210 208 Vgl. z. B. H. Albert/E. Topitsch (Hrsg.): Werturteilsstreit (1971), Darmstadt 1979 (2., um e. Bibliographie erw. Aufl.); Th. Adorno/H. Albert/R. Dahrendorf/J. Habermas/H. Pilot/K. Popper, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt 1969. 209 WL 225. 210 Vgl. etwa Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Mit einem Nachwort, Frankfurt a. M. 1973, wo das zu der 1968 erschienen Erstfassung 1973 hinzugefügte Nachwort schon um mancherlei Richtigstellungen bemüht ist (vgl. als prinzipielle gnoseologische Kritik der Habermas’schen Überlegungen in diesem Werk die Bemerkungen von Werner Flach, Grundzüge der Erkenntnislehre. Erkenntniskritik, Logik, Methodologie, Würzburg 1994, S. 19–22); speziell unser oben charakterisiertes Problem betreffen aber auch die Thesen in Habermas’ späterer „Theorie des kommunikativen Handelns“ (Frankfurt 31984), Bd. I 160, 169 ff.; dort heißt es etwa: „Die Beschrei-

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Weber jedenfalls hat viel Mühe darauf verwandt, die Notwendigkeit und den Sinn der Wertfreiheit der sozialwissenschaftlichen Forschung darzulegen. Zugleich aber hat er, im Anschluss an Rickert, auf die grundlegende Funktion der Wertbeziehung für die Kulturwissenschaften hingewiesen. Das Problem, um das es Weber und Rickert geht, besteht in der Frage nach einer positiven Bestimmung des von Windelband ins Spiel gebrachten ,idiographischen‘ Verfahrens, in Rickerts Weiterführung: der ,individualisierenden Begriffsbildung‘ im Unterschied zu der Nomothetik der Naturwissenschaften.211 Zum einen geht es dabei um die Auswahl der wissenschaftlich bedeutsamen Tatbestände, zum anderen um die Frage, warum die Kulturwissenschaften überhaupt auf die Erkenntnis individueller Tatsachen statt auf Gesetzeserkenntnis aus sind. Die Kulturwissenschaften haben die Darstellung individueller Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge zum Ziel. Rickert wie Windelband hatten sich dabei zunächst auf die Historie bezogen. Weber, dessen ausführlichste Stellungnahme zu der Problematik ebenfalls, in der Auseinandersetzung mit Eduard Meyer, die Historie in den Blick nimmt, sah sich für die Soziologie aber vor mehr oder weniger dasselbe Problem gestellt: Auch sie hat zum Forschungsziel kaum embung von Gründen verlangt eo ipso eine Bewertung [. . .]“ (S. 169); „Deshalb kann ein Interpret Äußerungen, die über kritisierbare Geltungsansprüche mit einem Potential an Gründen verknüpft sind, nicht deuten, ohne zu ihnen Stellung zu nehmen, [. . .] ohne eigene Standards der Beurteilung anzulegen [. . .]“ S. 170). Dies ist kaum bloß als eine Art von psychologischer Feststellung eines Beobachters sozialwissenschaftlichen Tuns gemeint, wonach der Interpret ,als Mensch‘ oder als politisch denkender Bürger ein eigenes Stellungnehmen kaum vermeiden könne. – In der Laudatio dagegen, die Habermas 1997 auf den wegen seines Buches über den Holocaust umstrittenen Politologen und Historiker Daniel Goldhagen gehalten hat, findet sich folgender, zu früheren Äußerungen von Habermas in deutlichem Kontrast stehender Absatz: „Die moderne Geschichtsschreibung hat zwei Adressaten, die Zunft der Historiker und das allgemeine Publikum. Eine gute zeithistorische Darstellung soll gleichzeitig den kritischen Maßstäben der Wissenschaft und den Erwartungen einer interessierten Leserschaft gerecht werden. Vom Interesse dieser Leser, die Aufklärung über den eigenen historischen Standort heischen, darf sich freilich der Blick des Historikers nicht dirigieren lassen. Sobald die Sicht des analysierenden Beobachters mit der Perspektive verschmilzt, die die Teilnehmer an Selbstverständigungsdiskursen einnehmen, degeneriert Geschichtswissenschaft zu Geschichtspolitik. Das Bündnis von Historismus und Nationalismus hat sich einst dieser Konfusion verdankt; eine ähnliche Konfusion spiegelt sich heute noch in Tendenzen, den Kalten Krieg mit historiographischen Mitteln fortzusetzen. Es versteht sich von selbst, daß nur integre Wissenschaftler, die in dieser Hinsicht auf der Differenz von Beobachter- und Teilnehmerperspektive beharren, zuverlässige Experten sein können.“ (Jürgen Habermas, Warum ein „Demokratiepreis“ für Daniel J. Goldhagen? Eine Laudatio, abgedruckt in: DIE ZEIT, Nr. 12 vom 14.03. 1997.) 211 Bei aller Differenz zwischen Windelband und Rickert, auf die wir noch zurückkommen, liegt hier doch eine Gemeinsamkeit der beiden Neukantianer; es sei darauf hingewiesen, dass das Wort ,idiographisch‘ von dem griechischen tÎ èdion (das Einzelne, Eigentümliche) abgeleitet ist, mithin eben das bezeichnet, was Rickert ,individualisierende Begriffsbildung‘ nennt, also nichts etwa mit ,Ideen‘ zu tun hat (vgl. auch WL S. 177).

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pirische Gesetze (selbst wenn solche formulierbar sein sollten), sondern ,individuelle‘ Zusammenhänge, die Sozialwissenschaft will „die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens [. . .] in ihrer Eigenart verstehen“.212 Die Masse der singulären Tatsachen ist unendlich, es wäre ein lächerliches Unterfangen, etwa über möglichst viele davon ein Wissen anzustreben. Die Wissenschaft sucht bedeutsame Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge, sie will „den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits“ verstehen.213 „Wir erstreben eben die Erkenntnis einer historischen, d.h. einer in ihrer Eigenart bedeutungsvollen, Erscheinung. Und das entscheidende dabei ist: nur durch die Voraussetzung, daß ein endlicher Teil der unendlichen Fülle der Erscheinungen allein bedeutungsvoll sei, wird der Gedanke einer Erkenntnis individueller Erscheinungen überhaupt logisch sinnvoll. Wir ständen, selbst mit der denkbar umfassendsten Kenntnis aller ,Gesetze‘ des Geschehens, ratlos vor der Frage: wie ist kausale Erklärung einer individuellen Tatsache überhaupt möglich?, – da schon eine Beschreibung selbst des kleinsten Ausschnittes der Wirklichkeit ja niemals erschöpfend denkbar ist? Die Zahl und Art der Ursachen, die irgend ein individuelles Ereignis bestimmt haben, ist ja stets unendlich, und es gibt keinerlei in den Dingen selbst liegendes Merkmal, einen Teil von ihnen als allein in Betracht kommend auszusondern. Ein Chaos von ,Existentialurteilen‘ über unzählige einzelne Wahrnehmungen wäre das einzige, was der Versuch eines ernstlich ,voraussetzungslosen‘ Erkennens der Wirklichkeit erzielen würde. Und selbst dieses Ergebnis wäre nur scheinbar möglich, denn die Wirklichkeit jeder einzelnen Wahrnehmung zeigt bei näherem Zusehen ja stets unendlich viele einzelne Bestandteile, die nie erschöpfend in Wahrnehmungsurteilen ausgesprochen werden können.“214

Weber bestreitet gegen Eduard Meyer, dass diese Bedeutsamkeit sich auf kausale Wirksamkeit reduzieren lasse. Bedeutsam sind (dies wird ausdrücklich hervorgehoben): für uns bedeutsame Zusammenhänge, und die Bedeutsamkeit für uns erhalten sie durch unsere Bewertung. Freilich darf unsere ,praktische‘ Bewertung, als subjektive Stellungnahme, nicht als solche in die Wissenschaft eingehen, sie muss sozusagen neutralisiert werden: nicht der Wert, den wir den Dingen zubilligen, ist das Entscheidende, sondern dies, dass wir sie überhaupt mit einem bestimmten Wertgesichtpunkt in Verbindung bringen. Mag ein anderer die von uns positiv bewertete Sache auch negativ bewerten, sie ist jedenfalls auf einen bestimmten Wert bezogen. Die so definierte ,theoretische‘ Wert-Beziehung einer Sache macht ihre Bedeutsamkeit aus – immer aber ist das ihre Bedeutsamkeit für uns.215 212

Vgl. WL 170. Vgl. WL 170 f. 214 WL 177. 215 Im Dienst „objektivierender“ Erkenntnis“ trete „an Stelle der ,Wertung‘ die theoretische Wertbeziehung, an Stelle der ,Stellungnahme‘ des erlebenden Subjekts das 213

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Man kann diesen Überlegungen eine gewisse Plausibilität nicht absprechen. In der Tat wären wir in den Kulturwissenschaften ja hoffnungslos im Meer der zugänglichen Tatsachen verloren, wenn wir nicht wüssten, welche davon eher wichtig, welche eher unwichtig seien. Dennoch meldet sich sogleich ein Bedenken, dass da nämlich ein subjektives Werturteil des Forschers über (s)einen Gegenstand den leitenden Gesichtspunkt der Objektivität beanspruchenden Erkenntnis abgeben soll. Gewiss ist das primäre Werturteil durch das Wertbezugsurteil oder Bedeutsamkeitsurteil ,neutralisiert‘. Der primäre Wertmaßstab des Forschers ist kein Urteilsprinzip mehr. Aber an seine Stelle ist mit dem Bedeutsamkeitsurteil eine Art sekundäres Werturteil getreten, das nach den zitierten Formulierungen an nichts als das subjektive Werturteil zurückgebunden ist. Seine Subjektivität ist durch die Neutralisierung nicht aufgehoben. Selbstverständlich wäre die ganze Diskussion des Wertbezugs und der Bedeutsamkeit völlig unproblematisch, wenn es um die triviale Feststellung ginge, dass ein Kulturwissenschaftler im Allgemeinen nur das erforschen wird, was ihm wichtig erscheint und was ihn deshalb interessiert.216 Aber Weber scheint durchaus mehr behaupten zu wollen. Insbesondere in der Abwehr der Vorstellung, die Kulturbedeutung lasse sich in irgendeiner Weise aus einem „System von Gesetzesbegriffen“ entnehmen, weist er der Beziehung der Gegebenheiten auf unsere Wertideen eine sozusagen konstitutive217 Bedeutung für die Kulturwissenschaften zu. „Die empirische Wirklichkeit ist für uns ,Kultur‘, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfaßt diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden, und nur diese. Ein winziger Teil der jeweils betrachteten individuellen Wirklichkeit wird von unserm durch jene Wertideen bedingten Interesse gefärbt, er allein hat Bedeutung für uns, er hat sie, weil er Beziehungen aufweist, die für uns infolge ihrer Verknüpfung mit Wertideen wichtig sind; nur weil und soweit dies der Fall [ist], ist er in seiner individuellen Eigenart für uns wissenswert. Was aber für uns Bedeutung hat, das ist natürlich durch keine ,voraussetzungslose‘ Untersuchung des empirisch Gegebenen zu er-

kausale ,Verstehen‘ des deutenden Historikers“, heißt es in der ,Roscher/Knies‘-Abhandlung (vgl. WL 91). 216 So stellt Guy Oakes einmal in Bezug auf Rickert die Frage, ob es ihm „nur um die mehr oder weniger banale Tatsache“ gehe, „daß (Kultur-)Wissenschaftler mit Vorliebe solche Probleme erforschen, für die sie sich interessieren“ (vgl. Guy Oakes, Die Grenzen der Kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung, S. 123). 217 Wir gebrauchen das Wort, das G. Oakes auf Webers Wertbeziehungs-Problematik („Konstitutionsproblematik“) im Unterschied zu der auf den subjektiven Sinn bezogenen „Abgrenzungsproblematik“ angewandt hat, mit einem gewissen Vorbehalt, weil die auf die Forschersubjektivität zurückgehende Wertbeziehung zwar als konstitutiv für die Kulturwissenschaften und für das Zum-Gegenstand-Werden ihrer Gegenstände, aber natürlich nicht für die Existenz und das In-sich-Bestimmt-Sein der Gegenstände sein kann. Die mitunter sozusagen ,idealistische‘ Rhetorik Webers (und Rickerts) lässt das manchmal übersehen.

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schließen, sondern seine Feststellung ist Voraussetzung dafür, daß etwas Gegenstand der Untersuchung wird.“218

Nun ist es ja nichts Ungewöhnliches, dass Erkenntnis und auch Wissenschaft von Subjektivem ausgeht, von Eindrücken, Assoziationen, Deutungseinfällen – warum nicht auch von Wert- und Bedeutsamkeits-Urteilen? Die Frage ist, ob diese subjektiven Phänomene in objektive Erkenntnismomente überführbar, ob sie kontrollierbar sind. Der Weg über eine Sicherung der objektiven Gültigkeit von Werten scheidet für die empirischen Kulturwissenschaften aus, weil ihnen dazu jedes methodische Mittel fehlt. Dies gesteht sogar Rickert ein, obwohl er (anders wohl als Weber) in der philosophischen Reflexion solche Mittel zur Verfügung zu haben glaubt. Schwerer verständlich ist die Entschiedenheit, mit der Weber es ablehnt, in der Analyse des Gegenstandes ein objektives Korrelat und Korrektiv der subjektiven Bedeutsamkeits-Gewichtung zu suchen. In der Schlusspassage des Objektivitäts-Aufsatzes verbindet Weber die Abwehr der Meinung, Wertideen ließen sich empirisch begründen, mit dem Verweis auf die „unausgesetzte Wandelbarkeit“ eben jener Wertgesichtpunkte, „unter denen die empirische Wirklichkeit Bedeutung erhält“. Diese Wandelbarkeit sei geradezu ein Implikat der Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis.219 Die betreffenden Gesichtspunkte aber sind die Wertideen der Forschersubjekte: „Die ,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis hängt vielmehr davon ab, daß das empirisch Gegebene zwar stets auf jene Wertideen, die ihr allein Erkenntniswert verleihen, ausgerichtet, in ihrer Bedeutung aus ihnen verstanden, dennoch aber niemals zum Piedestal für den empirisch unmöglichen Nachweis ihrer Geltung gemacht wird. Und der uns allen in irgendeiner Form innewohnende Glaube an die überempirische Geltung letzter und höchster Wertideen, an denen wir den Sinn unseres Daseins verankern, schließt die unausgesetzte Wandelbarkeit der konkreten Gesichtspunkte, unter denen die empirische Wirklichkeit Bedeutung erhält, nicht etwa aus, sondern ein: das Leben in seiner irrationalen Wirklichkeit und sein Gehalt an möglichen Bedeutungen sind unausschöpfbar, die konkrete Gestaltung der Wertbeziehung bleibt daher fließend, dem Wandel unterworfen in die dunkle Zukunft der menschlichen Kultur hinein. Das Licht, welches jene höchsten Wertideen spenden, fällt jeweilig auf einen stets wechselnden endlichen Teil des ungeheuren chaotischen Stromes von Geschehnissen, der sich durch die Zeit dahinwälzt.“220

Wenn wir uns an unsere Kritik der Gadamerschen Hermeneutik zurückerinnern, so fällt uns eine merkwürdige Übereinstimmung dieser WandelbarkeitsThese mit Gadamers Thesen zum ,wirkungsgeschichtlichen Bewusstsein‘ auf. Nur dass hier bei Weber die Wandelbarkeit der Bedeutsamkeit (auch wo letztere 218

WL 175 f. Die Argumentation Webers ist hier nicht eben klar; am verständlichsten wäre noch ein bloß negativer Sinn der Implikation: Objektiv kann die empirische Sozialwissenschaft nur sein, wenn sie auf die Begründung der Bedeutsamkeit verleihenden Wertideen der Forschersubjekte verzichtet und deren Wandelbarkeit anerkennt. 220 WL 213 f. 219

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unter dem Namen ,Bedeutung‘ firmiert) kaum mit der Wandelbarkeit der deskriptiv zu ermittelnden Gegenstandsbestimmtheiten (und darin des ,subjektiven‘ Sinnes von Handlungszusammenhängen und des Sinnes von geistigen Produkten) verwechselt wird; nur deshalb kann Weber überhaupt die Wandelbarkeit der Bedeutsamkeit als Implikat der Objektivität auffassen. Als gemeinsam aber bleibt doch dies festzuhalten, dass die Bedeutsamkeit des Gegenstandes ,für uns‘ zu einem entscheidenden Bestimmungsstück der Gegenstandskonstitution gemacht zu werden scheint. Wir müssen uns fragen, ob hier nicht (beide Male) die subjektive und die objektive Seite der Wissenschaft allzu schnell miteinander vertauscht werden. Die subjektive Seite der Wissenschaft, dass diese nämlich eine praktische Unternehmung von menschlichen Subjekten ist, die in einem geschichtlich bestimmten Lebenszusammenhang stehen, diese Unternehmung unter einem ganz bestimmten Zwecksinn betreiben und sich bestimmten Erwartungen ihrer Gesellschaft gegenübersehen, die sie mehr oder weniger gut erfüllen können – all dies macht ja keine unwichtige Bestimmtheit der Wissenschaft aus. Aber es ist etwas anderes als dasjenige, was die Wissenschaft zu einem objektiv gültigen Unternehmen macht. Ein Wissenschaftler mag Unwichtiges zu Tage fördern und damit seine kostbare Lebenszeit verschwenden; er mag dadurch sogar seine Pflicht vernachlässigen, Dinge ans Licht zu bringen, zu deren Erkenntnis nur er die Gelegenheit hätte; aber das, was er uns darbietet, ist deshalb nicht falsch. – Ob es eine wichtige Erkenntnis ist, ist freilich eine sinnvolle Frage: aber sie ist vieldeutig. Wichtig kann der zu Tage geförderte Tatbestand, aber auch das Wissen um ihn für unseren Lebenszusammenhang sein (für unser politisches, moralisches, ästhetisches Leben); wichtig kann die Erkenntnis aber auch für die Wissenschaft selbst sein (was vom Erkenntnis- und Problemstand der Wissenschaft abhängt). Nur dies letztere kann ein für den immanenten Zweck der Wissenschaft entscheidendes Problem sein, auch dann, wenn der Endzweck der Wissenschaft (das, was zu befördern die Gesellschaft vom Wissenschaftler erwartet, das, was er selbst von sich verlangt) weit darüber hinausgeht. Die Beförderung des Endzwecks der Wissenschaft ist ein durchaus gewichtiges Thema einer praktischen und pragmatischen Theorie wissenschaftlicher Tätigkeit.221 Um all dies geht es in den betreffenden Überlegungen Webers aber nicht. Wie aber steht es nun mit der These, die Weber von Rickert übernimmt, dass „eine historische Erkenntnis individueller Zusammenhänge ohne Wertbeziehung nicht sinnvoll möglich ist“, wenn diese Wertbeziehung eine aus den Wertungen des Forschers abgeleitete Bedingung der ,individualisierenden Begriffsbildung‘

221 Wir verweisen an dieser Stelle auf die in vielen Hinsichten lehrreiche Untersuchung von Rudolf Lüthe, Wissenschaftliche Methode und historische Bedeutung. Philosophische Untersuchungen zu Problemen der Geschichtserfahrung, Freiburg/ München 1987; vgl. insbes. den Teil B der Arbeit: „Zur Pragmatik der Historie“, S. 259–417.

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sein soll?222 – Nach allem, was wir uns über die im historischen Geschehen selbst wirksamen Wertvorstellungen klargemacht haben, nach unseren Feststellungen über die auch durch diese Wertvorstellungen geprägte, ihrerseits handlungsbestimmende Erinnerung, schließlich über die in das Geschehen verflochtene berichtende und erzählende Kommunikation der Handelnden, nach alledem müssen wir uns fragen: Kommt die ,Wertbeziehung‘ des Forschers nicht sozusagen zu spät, um für eine ,individualisierende Begriffsbildung‘ konstitutiv zu sein? Bedeutsamkeit baut sich ja, abgesehen von der rein kausalen Reichweite von Ereignissen und Handlungen, im Bewusstsein der Handelnden von ihren Entscheidungen, Handlungen und Tätigkeiten auf; sie baut sich bei den von Ereignissen und Handlungen Betroffenen im Bewusstsein ihres Reagierens auf, bei den Rezipienten von Kunstwerken, bei Betrachtern, Mäzenen und Käufern im Bewusstsein ihrer ästhetischen Bewertung. Daher kann es nicht ausbleiben, dass auch das dem Forscher zur Verfügung stehende Quellenmaterial schon durch diese Zuschreibung von Bedeutsamkeit bestimmt ist. Gewiss wird der Forscher dieses Material auch in dieser Hinsicht kritisch benutzen; er wird dazu verschiedene geschehensimmanente Bedeutsamkeits-,Bewertungen‘ gegeneinander abwägen, er wird die Selbstüberschätzung etwa eines später jämmerlich gescheiterten Herrschers an dem weiteren Geschichtsverlauf, vielleicht sogar bis in die eigene Gegenwart hinein, messen. Aber inwiefern ist dabei die „historische Erkenntnis individueller Zusammenhänge“ erst durch die aus den Wertungen des Forschers abgeleitete Wertbeziehung bedingt? Gewiss wird jemand nur Literarhistoriker, wenn er Literatur zu schätzen weiß, und gewiss wählt er unter den Epochen und Werken nach eigenem Ermessen aus, was er für so bedeutsam hält, dass er es untersuchen möchte. Aber muss er wirklich seine eigene Wertbeziehung bemühen, um Goethes Recherchen zu einem literarischen Stoff für bedeutsamer zu halten als seinen Auftrag zur Anfertigung eines Stubenschlüssels?223 Der Gegenstand selbst, die literarischen Werke Goethes, das Leben und Schaffen des Autors, das Verhältnis des zeitgenössischen und späteren Publikums zu diesem Werk, all diese möglichen Gegenstände der Literaturgeschichte enthalten schon jene Wertbeziehung. Diese objektseitige Wertbeziehung hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Kulturwissenschaft, als undifferenziertes Ganzes betrachtet, ein Quellenmaterial vorgefunden hat, das sich als ,Literaturgeschichte‘ (im Sinne des literarischen Geschehens) der Forschung darbot. Dass es keine Literaturgeschichte (im Sinne der Erforschung des Geschehens) gäbe, wenn die literarisch Interessierten ausgestorben wären, scheint so trivial zu sein, wie dass es keine Physik gäbe, wenn sich niemand für physikalische Tatbestände interessierte. Und selbst bei so innovativen Forschungsvorhaben wie Webers Untersuchung des Zusammenhanges 222

Vgl. WL S. 92, Anm. Vgl. die Anführung des Beispiels bei Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, S. 372 f. 223

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zwischen Religionen und Wirtschaftssystemen wäre der Ertrag ja gleich null, wenn die Untersuchung nicht eben jene Wertbeziehungen aus den Quellen und somit als etwas von der Forschung Unabhängiges nachweisen würde. Das aber heißt: Diejenige Wertbeziehung, die dem Wertungshorizont des Forschers entstammt, fließt wie alle Begrifflichkeit, die er von sich aus an das Material heranträgt, und wie alle Vorkenntnisse, die er etwa einer berichtenden Quelle entnimmt, in Hypothesen ein, die in der Untersuchung des Gegenstandes sich als ihm angemessen bewähren müssen. Diese Angemessenheit erweist sich in dem Aufweis der auf der Gegenstandsseite vorfindlichen Wertbeziehung. 6. Erkenntnistheoretisches Resümee der Auseinandersetzung mit Webers Kategorienlehre Fassen wir die Ergebnisse unserer Auseinandersetzung mit Webers Kategorienlehre zusammen: Wir sahen, dass Weber eine Reihe von Grundbegriffen (und Grundsätzen) für eine verstehende Soziologie exponiert hat, die sich einerseits als Spezifikationen allgemeinerer Gegenstandskategorien zu erkennen gaben, die andererseits als differentia specifica Formen dessen enthielten, was Weber als subjektiven Sinn bezeichnet hat. a) Sponaneität und Rezeptivität der Wissenschaft – erzeugte und verstandene Begriffe Wir haben den Gehalt des dabei benutzten Sinnbegriffs dadurch zu klären versucht, dass wir ihn deutlicher, als dies zumeist bei Weber geschieht, als mögliches Korrelat der speziellen intentionalen Rezeptivität, des elementaren Verstehens, damit aber auch in einer prinzipielle Korrelation zu möglichen sprachlichen Ausdrücken begriffen haben. Diese durch den Modus der Möglichkeit qualifizierten Korrelationen bewahren den benutzten Sinnbegriff davor, mit einer teleologischen Bedeutung des Wortes „Sinn“ (wie in ,Sinn des Leben‘) und überhaupt mit dem spezielleren Zweckbegriff oder gar durch von ,außen‘ herangetragene Normen belastet zu werden; sie lassen es aber durch die Möglichkeits-Qualifizierung gleichwohl zu, auch das ohne (,innere‘ oder ,äußere‘) sprachliche Artikulation stattfindende Handeln durch den Sinnbegriff zu spezifizieren. Vor allem aber erlaubt es der Sinnbegriff, jeden Begriff von einer Handlung durch eine differenzierte Darstellung zu konkretisieren. Wir haben es also mit gewissen kategorialen Grundbegriffen auf der einen Seite und mit dem Begriff des Sinnes auf der anderen Seite zu tun. Beidemal aber ist von Begriffen die Rede, und zwar von Begriffen des Kulturwissenschaftlers. Begriffe nun sind nicht dasselbe wie dasjenige, was wir durch sie begreifen. So steht etwa den naturwissenschaftlichen Begriffen etwas gegenüber, was we-

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der Begriff noch Begreifen ist, sondern etwas ganz anderes: raumzeitlich strukturierte Gegenstände, Prozesse usw. Auf diese können sich unsere Begriffe (wenn wir einmal die Überlegungen der Kantischen Erfahrungstheorie zugrundelegen) nur wahrhaft beziehen, insofern (a) ihre raumzeitlichen Strukturen, vor allem Begreifen, rezeptiv gegeben sein können und (b) soweit wir über Regeln der Zuordnung von raumzeitlichen Strukturen und Begriffen (d. i. über Schemata) verfügen. Es macht nun eine besondere Schwierigkeit in der Grundlegung der Geistesoder Kulturwissenschaften aus, dass die Verhältnisse hier nicht ganz so einfach sind: Nicht nur auf der Seite des Kulturwissenschaftlers, sondern auch auf der Seite seines Objektes, also auf Seiten der zu erforschenden handelnden Personen finden wir Begriffe und Begreifen. Das hat sich in unseren vorangehenden Analysen ja auch schon gezeigt. Der Begriff der Handlung, der Begriff der handelnden Person, der Begriff der Motivation, des sozialen Handelns, des sozialen Verbandes usw. – all dies sind Begriffe des Kulturwissenschaftlers, Funktionen seiner wissenschaftlichen Aktivität oder Spontaneität, Instrumente seines Begreifens. Nicht viel anders steht es (zunächst) mit demjenigen Begriff, durch den all diese anderen Begriffe zu speziell kulturwissenschaftlichen Begriffen werden: mit dem Begriff des Sinnes, ja sogar mit dessen begrifflichen Differenzierungen (dem Begriff des Handlungssinnes, des Satzsinnes, des Sinnzusammenhanges usw.). Das Entscheidende ist nun aber: der kulturwissenschaftliche Begriff des Sinnes und seiner verschiedenen Arten ist prinzipiell etwas anderes als der jeweilige Sinn selbst. Dasjenige, was der Begriff des Sinnes jeweils begreifen soll, der jeweilige Sinn selbst, der Sinn in concreto, ist ursprünglich gerade nicht Produkt des kulturwissenschaftlichen Forschers, Funktion seiner Spontaneität, sondern etwas seiner Spontaneität Vorgegebenes, und dies, obwohl es selbst begriffliche Struktur hat. Sinn in concreto ist etwas, was der Kulturwissenschaftler ursprünglich nicht zum Zwecke seines Begreifens zu erzeugen hat, sondern etwas, das er in einem bestimmten Sinne zu rezipieren hat, auch wenn dieses Rezipieren ein gewisses Nacherzeugen von ihm verlangt.224

224 Bei aller Differenz kulturwissenschaftlicher Rezeption gegenüber der Rezeptionsaufgabe der Naturerfahrung sollte man im übrigen bedenken: Auch in der bloß sinnlichen Wahrnehmung sind wir (wie Kant in der transzendentalen Deduktion der Kategorien gezeigt hat) wegen der Zeitlichkeit unserer Erfahrung schon zu einer aktiven Aufnehmung und Nacherzeugung des rezipierten Materials genötigt (der Synthesis der Apprehension und der Reproduktion in der Einbildungskraft), letztlich sogar, wenn Wahrnehmung wahrhaft Gegenstandswahrnehmung sein soll, zu einer elementaren (kategorialen) Rekognition im Begriff (eines Gegenstandes überhaupt): „Folglich steht alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter Kategorien [. . .]“

IV. Gnoseologische Implikationen von Webers Kategorienlehre

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Dies zeigte sich für uns besonders deutlich bei der Analyse des (gelingenden225) Verstehens sprachlicher Ausdrücke, weil dort durch das wahrnehmungsmäßig gegebene Phänomen der Ausdrücke nicht bloß das Verstehen als ein ,Deutungsprozess‘ ausgelöst wird, sondern (mehr oder weniger, je nach Eindeutigkeit des Ausdrucks) in seiner ganzen Gliederung und seinem Inhalt, in seiner ganzen Konkretion determiniert wird. So anstrengend immer das Zuhören und das Verstehen von Ausdrücken sein mag, wir verhalten uns bei diesem elementaren Verstehen, soweit die Gliederung und Eindeutigkeit des Ausdrucks reicht, rezeptiv. Spontan ,denken‘ wir allenfalls den entsprechenden Performationsbegriff (dass das Ausgedrückte eine Behauptung, eine Warnung o. dgl. sei) ,hinzu‘. Aber auch dieser Performationssinn, wie jeder Handlungssinn, kann als Konkretisierung des Selbstbewusstseins des Handelnden in den Ausdruck gehoben werden und so nicht nur an und für sich unserer wissenschaftlichen Spontaneität vorgegeben sein, sondern unserer Rezeptivität, unserem elementare Verstehen, dargeboten werden. Sinn, genauer: Sinn in concreto ist das Prinzip der Rezeptivität in den Kulturoder Geisteswissenschaften, und diese Rezeptivität ist nichts anderes als das elementare, paradigmatisch in der sinnlichen Gegebenheit von sprachlichen Ausdrücken fundierte226, Verstehen. Erkenntnis freilich ist mehr als Rezeption von Gegebenem, sie will, als empirische Erkenntnis, Gegebenes begreifen. Die erkenntnistheoretische Grundlegung eines besonderen Erfahrungsbereichs hat daher die Bedingungen der Verknüpfung von spezieller Rezeptivität und begrifflicher Spontaneität zu ermitteln; für die Geistes- oder Kulturwissenschaften heißt das also: der Verknüpfung von elementarem Verstehen227 und Begreifen. (KrV B 161; III 125) – noch bevor der ,unbestimmte Gegenstand der empirischen Anschauung‘ durch besondere und empirische Begriffe bestimmt wird. 225 Dass in diesem Begriff des Gelingens ein keineswegs harmloses Problem steckt, wird weiter unten auf der Grundlage phänomenologischer Begriffe herauszuarbeiten sein (s. u. S. 243 ff. und 256 ff.). 226 Wenn wir hier die Fundierung in sprachlichen Ausdrücken nicht als einzige, sondern nur als die ,paradigmatische‘ Form der Fundierung bezeichnen, so berücksichtigen wir, dass es Formen der Artikulation und der Objektivation von Sinngehalten und Selbstbewusstsein gibt, deren Hauptzweck geradezu darin liegt, einen durch solche Sinngehalte entworfenen wahrnehmbaren ,Gegenstand‘ zu produzieren: Man denke etwa an die ,bildende Kunst‘, die Musik, den Tanz, aber auch an jeden bewussten mimischen und gestischen Ausdruck. 227 Dass der gebräuchliche Verstehensbegriff, auch wenn er von vorneherein auf Kulturwissenschaftliches beschränkt wird, immer schon – wenn auch in kaum bewusster Weise – Momente der begreifenden Deutung umfasst, ist der Grund für eine unabsehbare Menge von methodologischen Unklarheiten. Selbstverständlich ist unsere Entscheidung, den Terminus ,Verstehen‘, wenn nicht anders deklariert, immer für das elementare, auf den vorgegebenen Sinn bezogene, der Möglichkeit nach elementare

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

b) Die Schematisierung der Kategorien durch die Differenzierung des Sinns Nun haben wir gesehen, dass wir als Kulturwissenschaftler keineswegs immer in der günstigen Lage sind, den vorgegebenen Sinn einfach nur rezipieren zu müssen. Wir müssen ihn weitgehend rekonstruieren. Die Diskussion der einschlägigen, z. T. hochkomplexen Methoden gehört nicht in die erkenntnistheoretische Grundlegung, sondern in die spezielle Methodologie der einzelnen Kulturwissenschaften, weil die verschiedenen Wissenschaften, etwa die Historie und die Soziologie, da höchst unterschiedliches Daten- und Quellenmaterial zu verarbeiten haben. Es ist jedoch nützlich, sich allgemein klarzumachen, dass diese Situation etwa in den Naturwissenschaften keineswegs eine prinzipiell andere ist als in den Kulturwissenschaften. Auch dort steht der wissenschaftlichen Spontaneität unserer Kategorien und Begriffe unsere Rezeptivität mit ihren Strukturen, nämlich den anschaulichen Raum-Zeit-Strukturen, gegenüber. Und auch dort ist keineswegs alles, was raum-zeitlich strukturiert ist, unmittelbar unserer Rezeptivität gegeben. Husserl hat für seine Analyse der Wahrnehmung den Terminus ,Abschattung‘ eingeführt: zur Bezeichnung des aktuell allein wirklich Erscheinenden, insofern es auf aktuell nicht Erscheinendes, die Rückseiten, Innenaspekte usw. verweist.228 Ohnehin ist insbesondere die neuere Naturwissenschaft auf weite Strecken (auf der Makro-Ebene der Astronomie wie auf der Mikro-Ebene des Subatomaren) nur Rekonstruktion solcher Strukturen. Formulieren wir nun die erkenntnistheoretische Aufgabe für eine Grundlegung der Kulturwissenschaften. – Die allgemeine Frage lautet: Wie erhalten wissenschaftliche Begriffe und insbesondere Grundbegriffe empirischer Wissenschaften objektive Gültigkeit? – Die Antwort ist: Objektive Gültigkeit erhalten solche wissenschaftlichen Begriffe dadurch, dass wir ihnen nicht nur ein irgendwie rezeptiv Gegebenes gegenüberstellen, sondern über präzise Zuordnungsregeln zwischen rezeptiv Gegebenem und wissenschaftlichen Begriffen verfügen. Speziell den Grundbegriffen der Kulturwissenschaften ihre objektive Gültigkeit nachzuweisen, heißt: jene durch sie begriffenen formalen Sinnstrukturen aufzuweisen, welche uns im Verstehen von Sinn gegeben sein können und die wir im günstigen Falle von Seiten einer Person, dank ihrer Äußerungen, verstehend rezipieren können, und so Zuordnungsregeln (Schemata) für die Verknüpfung von Begriffen und Gegebenheitsstrukturen zu exponieren. Wo der günstige Fall des Gegebenseins nicht vorliegt, müssen uns die aufgewiesenen formalen Sinnstrukturen erlauben, die konkrete Sinnstruktur des ,GeVerstehen zu benutzen, eine gegenüber dem Sprachgebrauch willkürliche; wollte man ein Fremdwort benutzen, so wäre von ,noetischer Apprehension‘ zu sprechen. 228 Vgl. z. B. Logische Untersuchungen, VI. Us. §§ 14 und 29, Hua XIX/2, S. 586– 592 und 627–631; Ideen I, § 41; Hua III/1, 85 f.

IV. Gnoseologische Implikationen von Webers Kategorienlehre

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genstandes‘ zu rekonstruieren und in exemplarischen Fällen zu verifizieren (z. B. durch die experimentelle Sprechhandlung der Befragung). Wir könnten nun die Weberschen Grundbegriffe, etwa die früher aufgezählten, einzeln durchgehen und in ihnen jeweils das Schema für die betreffenden Sinnstrukturen aufdecken, etwa für den Begriff der Handlung (ein menschliches Verhalten [. . .], wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden) die Sinnstruktur ,Ich tue h‘,

wobei das „ich tue“ für den formalen Performationssinn und „h“ als Variable für einen verbalen Verhaltensbegriff 229 steht. Für den Begriff der sozialen Beziehung („ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer“) die Sinnstruktur wechselseitig bezogenen Wissens und Erwartens (,Ich weiß um die Person y und sie evtl. um mich, erwarte von ihr, dass [. . .], und sie erwartet evtl. von mir, dass [. . .]);

für den hochkomplexen Begriff des Verbandes neben vielem anderen die Sinnstruktur einer gemeinsamen Ordnung (Satzung) mit Handlungsregeln, Repräsentationsregeln usw. – gemäß der von Weber gegebenen Definition: „Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat“.230

Gewisse fundamentale Schemata haben wir vorher ja schon dadurch umrissen, dass wir angaben, welche Art von Sinngehalt jeweils dem unmittelbaren Verstehen gegeben sein muss bzw. in der mittelbaren Deutung zu rekonstruieren ist, damit wir es mit einer Handlung, einer Handlungsmotivation durch habituelle Zwecksetzungen und Überzeugungen, einem emotionalen Selbstbewusstsein usw. zu tun haben. Bei alledem ist es erkenntnistheoretisch entscheidend, dass die Arten der Sinngehalte, die formalen Sinnstrukturen nicht nur die wissenschaftlichen Begriffe (der Handlung, der sozialen Beziehung, des Verbandes usw.) spezifizieren, sondern als Variablen oder Variablen-Komplexe selbst konkretisierbar sind 229 Wir formulieren ,Verhaltensbegriff‘, statt ,Handlungsbegriff‘, weil dasjenige, was die Handlung vom bloßen Verhalten unterscheidet, ja schon im formalen Performations-Ausdruck benannt ist; allerdings stellen schon die Verhaltensbegriffe Begriffe des Umgangs mit Dingen der Lebens-Umwelt dar, nicht Begriffe von physikalisch beschreibbaren Körperbewegungen. 230 WG 26.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

durch ihre Varianten231, den Sinn in concreto. Diese Konkretisierungsfunktion macht auch den entscheidenden Vorzug des Sinnbegriffs gegenüber dem kulturwissenschaftlichen Begriff des Wertes aus, wenn es darum geht, die Sozialwissenschaften mitsamt der anderen Kultur- oder Geisteswissenschaften innerhalb der Gesamtheit der empirischen Wissenschaften auszuzeichnen. Denn jene Werte sind abstrakte Geltungsgesichtspunkte konkreten Sinnes. Sie setzen den Begriff des Sinnes voraus. Sinn in concreto setzt dagegen den Reflexionsbegriff des Wertes noch nicht voraus. Bei alledem wäre es gewiss sehr lohnend, nach den wahrhaft fundamentalen Grundbegriffen der Kulturwissenschaften zu fragen: Es ist ja leicht zu sehen, dass die Weberschen Ausführungen nicht mehr darbieten können und wohl auch nicht mehr darbieten wollen als ein pragmatisch aufgebautes Gerüst von mehr oder weniger fundamentalen Begriffen. Der eigentliche Wert solcher Schemata würde sich natürlich auch hier in den Regeln der Verknüpfung zwischen den jeweiligen Konkretionen zeigen: Dass wir schon im alltäglichen Verstehen nicht Beliebiges als Handlungsmotivation ,gelten‘ lassen, heißt nichts anderes, als dass wir ein bestimmtes Schema für die Verknüpfung zwischen einer konkreten Handlung (etwa dem Holzhacken) und ihrem Motivationszusammenhang (etwa nach dem Modell eines praktischen Schlusses) voraussetzen. Wir messen also eine gegebene Motivationshypothese an einer – wie auch immer – vor unserer empirischen Forschung schon konstruierbaren Motivationsstruktur. Hier läge die Aufgabe einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Kulturwissenschaften, nicht bloß Schemata für Begriffe, sondern auf solche Schemata bezogene Grundsätze zu exponieren von der Art des schon zitierten Satzes, dass es Handeln nur gebe „als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen“. Weil der Gegenstand der Handlungswissenschaften nicht ein bloßer Sinnzusammenhang, sondern ein Sinnzusammenhang ist, insofern er ,verhaltenssteuernde‘ Effektivität beweist, hat Weber der ,Evidenz‘ der erklärenden Deutung die Kontrolle der Gültigkeit der Erklärung durch den Nachweis beobachtbaren Verhaltens und seiner Resultate gegenübergestellt. Dies heißt für die erkenntnistheoretische Analyse, dass die intentionalen Schemata auf Verhaltensschemata bezogen sein müssen, wodurch die Begriffe, die den subjektiven Sinn des Handelns bestimmen, mit den Begriffen, die der Forscher von dem Verhalten zu bilden in der Lage ist, in Beziehung gesetzt werden. Dabei wird keine Identität der Begriffe vorausgesetzt werden müssen, schon weil die Handelnden in ihre Verhaltensbegriffe zumeist einen offenen Umfang von Objektveränderungen in231 Wir könnten diese Varianten auch als die in jene Schemata einzusetzenden ,Werte‘ bezeichnen, so wie die in mathematische oder physikalische Formeln einzusetzende Größenvarianten ,Werte‘ genannt werden, nur würden wir dann natürlich einen ganz anderen Wertbegriff benutzen als den Kulturwissenschaften üblichen.

V. Die Frage nach Prinzipien geisteswissenschaftlicher Erfahrung

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tegrieren: „ich schließe das Fenster“ etwa impliziert das ,unmittelbarere‘ Verhalten „ich klappe den Fensterflügel zu und drehe den Hebel um“ sowie den Zweck „um das Fenster zu schließen“. Aber die Beobachtungs-Begriffe des Forschers müssen Begriffe sein, auf die auch der Handelnde seine Begriffe in einigen Schritten zurückführen könnte.232 Die Tatsache, dass wir es nicht nur auf Seiten der Wissenschaft, sondern auch auf Seiten des Gegenstandes mit (erkennenden und handelnden) Subjekten und also mit deren Begriffen und Urteilen oder Sätzen zu tun haben, hat auch zur Folge, dass nicht nur auf der Seite der Wissenschaft, sondern auch auf der Seite ihres Gegenstandes von Gültigkeit die Rede sein kann: von der Gültigkeit von Urteilen, Begriffen, Wertungen, Forderungen usw. Webers oftmals wiederholte Warnung, die Gültigkeit der zu erforschenden Sinnmomente wie die Geltungsansprüche der handelnden Personen auf der einen Seite nicht zu verwechseln mit der Gültigkeit der wissenschaftlichen Behauptungen und den Geltungsansprüchen der kulturwissenschaftlichen Forscher auf der anderen Seite, hat in der soeben herausgestellten Differenz zwischen wissenschaftlicher Spontaneität und wissenschaftlicher Rezeptivität, zwischen Begreifen und elementarem Verstehen, zwischen dem Begriff des Sinnes und dem Sinn in concreto ihren sachlichen Grund. Ungültiger Sinn ist dem Verstehen nicht weniger vorgegeben als gültiger Sinn; und er ist in der erforschten Realität nicht weniger wirksam. Freilich hat dabei etwa der Irrtum über Regelmäßigkeiten des Geschehensablaufs eine (hinsichtlich der verfolgten Ziele) ganz besondere kausale Wirkung (zumeist das Fehlschlagen der Absichten).

V. Die Frage nach Prinzipien geisteswissenschaftlicher Erfahrung und ihrem transzendentalphilosophischen Fundament Wir haben in unseren Analysen und Ergänzungen der Weberschen Überlegungen mehr oder weniger offen von mancherlei Kantischen Gedanken Gebrauch gemacht. Dies ist schon deshalb nicht verwunderlich, weil Weber, wie wir sahen, sich selbst zu wiederholten Malen zur Abhängigkeit seiner Überlegungen von denen des Neukantianers Heinrich Rickert bekannt hat. Allerdings haben wir gerade solche Ansätze Webers hervorgehoben, die bei Rickert eher weniger betont werden, die Rickert, wenn überhaupt, eher spät in sein Konzept der Kulturwissenschaften integriert hat: Ansätze, die durch die Begriffe des Verstehens, des Sinnes und der Kategorien einer durch Verstehen und Sinn ausgezeichneten Wissenschaft charakterisiert sind. Es sind Ansätze, die Weber eher bei Theoreti232 Im Prinzip verbleiben die Beobachtungsbegriffe also in der Begrifflichkeit einer ,lebensweltlichen‘ Sprache, und nur in Zweifelsfällen, die wohl auch in der lebensweltlichen Kommunikation vorkommen, wird man bei der Verhaltensbeschreibung auf mehr oder weniger physikalische Begriffe zurückgreifen müssen.

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B. Empirisches Bewusstsein, Rezeptivität und begriffliche Bestimmung

kern wie Dilthey finden konnte, gegen dessen Konzeption der ,Geisteswissenschaften‘ die südwestdeutschen Neukantianer Windelband und Rickert ihr Konzept der ,Kulturwissenschaften‘ entwickelten. Aber auch aus Diltheys Konzeption mit ihren auch in der späten Theoriefassung nie ganz überwundenen psychologistischen Naivitäten und ihrer Entgegensetzung von Verstehen und Erklären konnte Weber nur einige Bruchstücke gebrauchen. Dass wir in den Geisteswissenschaften, weil wir den kausalen Zusammenhang zwischen Motiven und Handlungen bei uns selbst ,unmittelbar‘ erlebten, keiner Erklärung bedürften, war für Weber ebenso wenig akzeptabel wie für den Rezensenten jener Diltheyschen ,Programmschrift‘, Hermann Ebbinghaus233; die Differenzierung zwischen der Evidenz verstehender Deutung und der Gültigkeit einer Erklärung ist das Resultat der Auseinandersetzung Webers mit solchen Naivitäten. Blicken wir auf unsere Überlegungen zur Hermeneutik zurück, so waren sogar dort unsere kritischen Gesichtspunkte wie die erkenntnistheoretischen Prinzipien unserer weiterführenden Andeutungen von Rückgriffen auf kantische, genauer an der „Kritik der reinen Vernunft“ orientierte, Grundgedanken geprägt: von dem Begriff des Gegenstandes als desjenigen, ,was dawider ist, dass unser Verständnis und unsere Interpretationen nicht aufs Geratewohl und beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt sind‘, von den Kategorien der Kausalität und des Subsistenz-Inhärenz-Verhältnisses und schließlich von der kantianisierenden aber offensichtlich unkantischen Überzeugung, dass der Rezeptivität geisteswissenschaftlicher Erfahrung in den hermeneutischen wie in den handlungsbezogenen Geisteswissenschaften ein eigenes Rezeptivitätsprinzip zugrundeliegen müsse, das sozusagen in Konkurrenz zu den Kantischen Anschauungsprinzipien des Raumes und der Zeit tritt: das von uns so genannte ,noematische System‘. Solchen Gedanken steht nicht nur ein guter Teil der geisteswissenschaftlichen Tradition entgegen, sie vertragen sich, wie man schon einigen unserer Verweise auf Rickert entnehmen kann, auch kaum mit der Tradition des Neukantianismus, gerade soweit er sich mit den Kulturwissenschaften beschäftigt hat. Darüber hinaus könnte man auf eine merkwürdige Lücke hinweisen, die in unseren bisherigen Überlegungen geblieben ist: Warum blieb dabei eine Wissenschaft beinahe völlig außerhalb des Blickfeldes, die in gewisser Weise immer vorausgesetzt wurde: die Psychologie? Müssen wir nicht in einer verstehenden Sozialwissenschaft und in der Historie, wenn sie objektiv gültige Aussagen machen sollen, immer voraussetzen, dass wir grundsätzlich das Sinnen und Trachten der Menschen irgendwie erfassen und erklären können? Ist nicht, wenn auch dabei der Begriff des Sinnes wieder zentral werden muss, des Näheren auch die Frage zu klären, ob und wie wir denn unser eigenes psychisches Geschehen erfassen können, schon um das, was wir anderen Menschen als ihr Eigenes zudenken, 233

s. o. die Fußnote 179, S. 116.

V. Die Frage nach Prinzipien geisteswissenschaftlicher Erfahrung

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von unserem Eigenen, insbesondere von unserem bloßen ,Zudenken‘, gar unserem In-die-Anderen-Hineinlegen unterscheiden zu können? Gibt es so etwas wie (objektiv gültige) ,Selbsterfahrung‘, d.h. Wissen um die eigene Person? Schließlich: wenn es denn überhaupt einen Anknüpfungspunkt für so etwas wie eine Theorie der Geisteswissenschaften bei Kant geben sollte, dann müsste man sie doch dort erwarten, wo Kant aus der Sicht der „Kritik der reinen Vernunft“ allein eine solche spezielle Erfahrungstheorie ansetzen würde: bei der inneren Erfahrung, die eine Sache der (empirischen) Psychologie ist. Aber kennt man nicht das Kantische Verdikt, die empirische Psychologie könne niemals den Rang einer (Natur-)Wissenschaft234 erreichen? Solche Fragen müssen uns veranlassen, genauer hinzuschauen, ob und was wir dem Werk Kants, seiner Transzendentalphilosophie und seiner Wissenschaftsphilosophie für die Geistes- und Sozialwissenschaften einschließlich der Psychologie entnehmen können.

234 Es wird sich im nächsten Kapitel zeigen, dass dieses Verdikt durchaus ein wenig anders und differenzierter zu verstehen ist, als eine lange Tradition flüchtiger Kantlektüre es zu nehmen geneigt war, und dass insbesondere die Begriffe der Wissenschaft und der Natur ganz andere sind als die, welche wir heute gebrauchen.

C. Rückgang auf die Kantische Transzendentalphilosophie und die Husserlsche Phänomenologie Blicken wir noch einmal auf unsere kritischen Analysen der Gadamerschen Hermeneutik und der Weberschen Ansätze in der Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften zurück, so ging es uns dabei immer um die Frage, wie die durch den Begriff des empirischen Wissens geforderte Objektivität als Leistung der wissenschaftlichen Subjektivität gedacht werden könne. Wir haben schon in unserem Vorwort angedeutet, dass das Problem der spezifischen Objektivität der Geisteswissenschaften nur durch eine Besinnung auf gewisse Grundgedanken der Kantischen Transzendentalphilosophie gelöst werden könne, und wir haben dies schon durch gelegentliche Rückgriffe auf Kantische Begriffe konkretisiert. Freilich kann die Lösung der Probleme nur durch eine kritische Weiterentwicklung Kantischer Gedanken erfolgen, die über eine Anknüpfung an Kant, wie sie etwa im Neukantianismus stattgefunden hat, grundsätzlich hinausgeht und der Tendenz dieser Rückgriffe größtenteils sogar widerspricht. Es wird sich schließlich zeigen, dass die im Rückgang auf die Kantische Transzendentalphilosophie zu sichernde Objektivität des Begreifens geisteswissenschaftlicher Gegenstände durch die Sicherung der in Korrelation zur spezifischen Rezeption stehenden spezifischen Natur der begriffenen Gegenstände zu ergänzen ist, für die wir – mit dem schon öfters genannten Stichwort Intentionalität – auf die Husserlsche Phänomenologie verwiesen sind. Wir werden daher zunächst die bisherige Einschätzung des Verhältnisses zwischen der Philosophie Kants und den Geistes-, Kultur- und Sozial-Wissenschaften kritisch beleuchten, sodann versuchen, an einem zentralen Punkt der Kantischen Erfahrungstheorie, sofern sie spezielle Arten der Erfahrung und Wissenschaft in den Blick nimmt, nämlich bei Kants Behandlung der (empirischen) Psychologie, ein Problem herausarbeiten, das der Nutzung der Kantischen Transzendentalphilosophie für die Grundlegung der uns interessierenden Wissenschaften bisher im Wege steht, um eine Strategie zur Lösung dieses Problems entwerfen zu können. Dabei werden wir neben Ansatzpunkten, welche die Kantische Philosophie selbst bietet, vor allem auf Edmund Husserls phänomenologische Begriffe der Intentionalität und des Noema zurückgreifen.

I. Bisherige Einschätzungen der Philosophie Kants

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I. Bisherige Einschätzungen der Philosophie Kants in der Theorie der Geisteswissenschaften 1. Die übliche negative Einschätzung der Bedeutung der „Kritik der reinen Vernunft“ für die Geisteswissenschaften Kants Transzendentalphilosophie – im engeren Sinne der in der „Kritik der reinen Vernunft“ entworfenen theoretischen Philosophie – hat auf den ersten Blick wenig Beziehung auf jene Disziplinen, die wir heute ,Geisteswissenschaften‘ nennen.1 So ist denn auch die übliche Einschätzung der Bedeutung der „Kritik der reinen Vernunft“ für diese Wissenschaften allgemein negativ. Die „Kritik der reinen Vernunft“ gilt in ihrem erfahrungstheoretischen Teil weithin als eine Grundlegung der ,Naturwissenschaften‘, wenn nicht gar der Physik – oder noch enger: der Newtonschen Physik (und ist dann wie diese durch die neuere Physik ,überwunden‘).2 Weil nach diesem Verständnis für Kant Wissenschaft überhaupt oder doch zumindest empirische Wissenschaft nichts anderes als Naturwissenschaft bzw. – noch enger – Physik sein kann, glaubt man seit Dilthey der „Kritik der reinen Vernunft“ eine von Kant versäumte „Kritik der historischen Vernunft“ an die Seite stellen zu müssen – wobei zumeist unklar bleibt, welche Instanz denn da, nach welchen Kriterien, Kritik übt, von der Frage, was denn unter einer ,historischen Vernunft‘ zu verstehen sei, ganz abge1 Vgl. insbes. die Hinweise der 2. Aufl. der „Kritik der reinen Vernunft“ auf die Unentbehrlichkeit der physikalischen Beispiele für die Transzendentalphilosophie, etwa KrV B 291 ff.; III 200 f. 2 Schon Dilthey (s. u.) und die Neukantianer hatten dieser Verengung des Themas der „Kritik der reinen Vernunft“ nichts entgegenzusetzen; vgl. z. B. Heinrich Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur, Tübingen 1924, S. 169 („Diese theoretischen Gesetze gelten lediglich für die ,Natur‘, d. h. für die Erfahrungswelt, wie sie in der Naturwissenschaft erkannt wird.“) und 184 f.; wir kommen auf die daraus sich ergebenden Probleme zurück. Als Beispiel aus der wissenschaftstheoretischen Literatur vgl. z. B. Karl R. Popper, Conjectures and Refutations, London 1963, S. 47 f.; 93–96; 177–181; 184–193 (in dieselbe Richtung weist schon Poppers Verwechslung des Kausalprinzips mit einem „Induktionsprinzip“ in der „Logik der Forschung“, Tübingen 5 1973, S. 5); dagegen Hans Wagner, Poppers Deutung von Kants Kritik der reinen Vernunft, in: Kant-Studien 67, 1976, S. 425–441 (wieder abgedruckt in: ders., Kritische Philosophie, hrsg. v. K. Bärthlein u. W. Flach, Würzburg 1980). – Eine instruktive Darstellung der verschiedenen Ebenen von (Natur-)Gesetzlichkeit in der Kantischen Philosophie bietet auch Gerd Buchdahl, Der Begriff der Gesetzmäßigkeit in Kants Philosophie der Naturwissenschaft, in: Zur Kantforschung der Gegenwart, hrsg. v. Heintel u. Nagl 1983, S. 90–121; vgl. insbes. S. 93–95, wo sich Buchdahl auch mit den Missverständnissen bei E. F. Apelt, Die Theorie der Induktion, Leipzig 1854, dort S. 163, Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding, Tübingen 1962, dort S. 98 ff., Peter Strawson, The Bounds of Sense 1966, dort S. 137, und Jonathan Bennett, Kant’s Analytic, Cambridge 1966, dort S. 229, auseinandersetzt; vgl. auch G. Buchdahl, Zum Verhältnis von allgemeiner Metaphysik der Natur und besonderer metaphysischer Naturwissenschaft, in: Probleme der „Kritik der reinen Vernunft“. Kant-Tagung Marburg 1981, hrsg. v. Tuschling, Berlin/New York 1984, S. 97–142.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

sehen.3 – In einem der Diltheyschen Einschätzung ähnlichen Sinne, wenn auch mit ,modernerer‘ Zielsetzung glaubte in jüngerer Zeit K.-O. Apel die Erfahrungstheorie Kants kritisieren zu müssen: „Aus der ,Kritik der reinen Vernunft‘ . . . konnte – und kann – man nur wissenschaftstheoretische Konsequenzen im Sinne eines radikalen Szientismus ziehen, d. h. Konsequenzen im Sinne der Einschränkung der Idee der Erkenntnis auf neuzeitliche Naturwissenschaft (science) . . .“.4 2. Die positivere Einschätzung der Bedeutung der zweiten und dritten ,Kritik‘ für die Geisteswissenschaften – und die Problematik dieser Einschätzung Ein wenig sinnvoller erscheinen demgegenüber die ebenfalls bis zu Dilthey und den Neukantianern zurückreichenden Versuche, aus der zweiten und dritten Kantischen ,Kritik‘ und den auf ihnen fußenden Abhandlungen etwas für die Begründung der Geisteswissenschaften zu entnehmen. Zwar gegen die Tendenz vor allem einer empirischen Sozialforschung, aber offensichtlich im Interesse einer kritischen und (wie Kant sagen würde) weltbürgerlichen Einstellung zu den historischen und sozialen Gegebenheiten, hat man Moralität und Freiheit, Prinzipien also, deren ,objektive Realität‘ nach Kant nur in der praktischen Philosophie erwiesen werden kann, zu Grundlagen der Geisteswissenschaften machen wollen.5 – Daneben finden sich verschiedenartige Verweise auf die ,Kritik der Urteilskraft‘ in ihrem ästhetischen oder teleologischen Teil, wozu einerseits die ästhetische Funktion der Gegenstände vor allem der kunst- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen, andererseits Kants eigene geschichtsteleologische Überlegungen in der ,Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft‘ zu berechtigen scheinen.6 Erst recht leuchtet schließlich die Anknüpfung an die eigentlich 3 Vgl. die schiefe Entgegensetzung von ,rein‘ und ,historisch‘, die Diltheys Ausdruck ,Kritik der historischen Vernunft‘ voraussetzt; vgl. z. B. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, (11910) in: GS Bd. VII, Stuttgart (1926) 51968, S. 191. – Zu Dilthey vgl. B. Grünewald, Phänomenologie statt Lebensphilosophie. Was hätte Husserl zu Diltheys Begründung der Geisteswissenschaften beitragen können? in: „Tradition und Innovation“. XIII. Deutscher Kongreß für Philosophie, Bonn 24.–29. Sept. 1984, hrsg. v. W. Kluxen, Hamburg 1988, S. 178– 186. 4 Karl-Otto Apel, Die Erklären:Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht, Frankfurt 1979, S. 61 f. 5 Vgl. wiederum Apel, Die Erklären:Verstehen-Kontroverse, S. 62, wo die „Freiheit des Willens“ erfahrbar genannt wird – in einem Sinne, gegen den Kant womöglich gar nichts einzuwenden hätte, wenn der Autor sich nicht hoffnungslos in den Kantischen Argumentationen verirrte und wenn es ihm gelänge, deutlich zu machen, welchen der von Kant erwogenen Freiheitsbegriffe er kritisieren wolle (s. u.). 6 Vgl. z. B. Manfred Riedel, Teleologische Erklärung und praktische Begründung, in: Theorie-Diskussion. Neue Versuche über Erklären und Verstehen, hrsg. v. K.-O. Apel/J. Manninen/R. Tuomela, Frankfurt a. M. 1978, S. 7–29 (zu den dort vertretenen Thesen s. u. S. 163).

I. Bisherige Einschätzungen der Philosophie Kants

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geschichtsphilosophischen Abhandlungen Kants ein. Von ihnen führt historisch offenbar ein unmittelbarer Weg über den späteren deutschen Idealismus zu den Theoretikern der Geisteswissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts.7 Die Problematik all dieser an der „Kritik der reinen Vernunft“ bewusst vorbeigehenden Rückgriffe auf Kantische Theoreme beginnt man vielleicht zu erahnen, wenn andererseits gewisse, in der „Kritik der reinen Vernunft“ und der „Kritik der Urteilskraft“ entwickelte Grundpositionen neuerdings einer Kritik unterzogen werden, welche – ihrer Intention nach – gegenüber der Kantischen Fixierung auf die Naturwissenschaften die Möglichkeit der Geisteswissenschaften allererst freilegen soll: Der Unterscheidung zwischen den konstitutiven Prinzipien des Verstandes („Kritik der reinen Vernunft“) und dem bloß regulativen Prinzip der teleologischen Urteilskraft („Kritik der Urteilskraft“) entnimmt K.O. Apel, dass Kant „noch einmal die galileische Elimination des ,von innen Verstehens‘ aus dem Begriff des Gegenstands wissenschaftlicher Erfahrung“ bestätige; dies aber bedeutet nach seinem Verständnis, daß ein für die „Humanwissenschaften . . . empirisch gegebenes Grundphänomen wie das der intentionalen Handlung (im Unterschied zum Naturereignis) – nicht zu reden von dem Grundphänomen einer Sprechhandlung oder eines Textes – bei Kant nicht als Thema im Sinne der Konstitution der Erfahrungswelt anerkannt war“.8

Diese Einschätzung der Kantischen Erfahrungstheorie beruht erstens darauf, dass sie nicht zwischen dem Gebrauch, den die Urteilskraft in der ,Naturwissenschaft‘ von teleologischen Prinzipien macht, auf der einen und der Verwendung des Zweckbegriffs in der Analyse des menschlichen Handelns auf der anderen Seite unterscheidet (als hätten wir es beide Male mit der reflektierenden Urteilskraft zu tun).9 Zweitens identifiziert diese Einschätzung den Begriff des Vermögens, nach Zwecken zu handeln, schon mit dem (strengen) Kantischen Begriff der Freiheit und meint dann feststellen zu können, dass der transzendentale Idealismus jenes Vermögen aus dem Bereich der „erkennbaren Welt der objektivierbaren und aus Kausalgesetzen erklärbaren Naturphänomene“ ausschließe und es von einer ,nichterkennbaren‘ „außer- oder hinterweltlichen intel-

7 Apel fasst die Bemühungen Rankes, Meineckes, Rickerts, Diltheys und Max Webers in der Formulierung zusammen: „Für die Begründer einer Philosophie der Geisteswissenschaften“ habe sich die Frage ergeben, „in welcher rational noch thematisierbaren Form der von Kant behauptete ,Primat der praktischen Vernunft‘ als Apriori aller historisch-hermeneutischen Rekonstruktions- und Interpretationsperspektiven zur Geltung zu bringen sei“ (Apel, Die Erklären:Verstehen-Kontroverse, S. 70 f.). 8 Apel, Die Erklären:Verstehen-Kontroverse, S. 62. – Der in dem Zitat gebrauchte Begriff des Intentionalität ist nicht der von uns schon des öfteren erwähnte phänomenologische Intentionalitäts-Begriff, sondern der bildungssprachlich üblichere der Absichtlichkeit, der, wie wir zeigen werden, für Kant selbstverständlich ein Erfahrungsbegriff ist. 9 Vgl. Apel, Die Erklären:Verstehen-Kontroverse, S. 61 f.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

ligiblen Willens-Ursache“ (einem ,Ding an sich‘) herleite.10 – Vollends unannehmbar aber muß der transzendentale Idealismus („als ontologisch-metaphysische Restposition des kartesianischen Dualismus“) einer solchen Interpretation werden, wenn nach ihm, wie gewisse Zitate aus der „Kritik der reinen Vernunft“ belegen sollen, von der Freiheit „einerseits unterstellt werden muß, daß sie ,einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben schlechthin anzufangen‘ vermag, andererseits aber auch, daß sie in der Erscheinungswelt nichts zu verändern vermag, da sonst alles ,verwirrt und unzusammenhängend‘ und somit Natur als Gegenstand der kausalen Erklärung unmöglich sein würde“.11

3. Der generelle Begriff der Natur und der spezielle der denkenden Natur Nun ist all dies nicht die Meinung Kants. – Um mit dem gröbsten (und alle praktische Philosophie ad absurdum führenden) Missverständnis12 zu beginnen: 10 Vgl. Apel, Die Erklären:Verstehen-Kontroverse, S. 106 und 108. – Auch Kant kennt ja in der ,Methodenlehre‘ der „Kritik der reinen Vernunft“ einen (negativen) Begriff der „Freiheit nur im praktischen Verstande“, welcher nicht mit dem positiven, moralisch-praktischen Freiheitsbegriff der „Kritik der praktischen Vernunft“ verwechselt werden darf und (im Gegensatz zu dem durch den positiven Begriff ,realisierten‘ Freiheitsbegriff „in transscendentaler Bedeutung“) „als ein Erklärungsgrund der Erscheinungen empirisch vorausgesetzt werden kann“. (KrV B 829 f.; III 521, 3–6). Diese „praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden“ (B 830; III 521, 14 f.), und zwar „als eine von den Naturursachen, nämlich eine Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens“ (B 831; III 521, 34 f.). Dabei geht es um die für uns erfahrbaren Motive unseres Handelns, während es durch Erfahrung unausgemacht bleibt, „ob . . . die Vernunft selbst in diesen Handlungen, dadurch sie Gesetze vorschreibt, nicht wiederum durch anderweitige Einflüsse bestimmt sei, und das, was in Absicht auf sinnliche Antriebe Freiheit heißt, in Ansehung höherer und entfernterer wirkenden Ursachen nicht wiederum Natur sein möge“ (B 831; III 521, 26–30). 11 Apel, Die Erklären:Verstehen-Kontroverse, S. 108; die Fußnote zu dieser Stelle lautet: „Vgl. Kant, Kr. d. r. V., Anmerkung zur Thesis und zur Antithesis der dritten Antinomie (B 476 ff.).“ – Tatsächlich zitiert wird jedoch aus dem „Beweis“ und aus der „Anmerkung“ zur Antithesis: B 473; III 309, 9–10 und B 479; III 313, 21. 12 Vgl. hierzu Apel, Die Erklären:Verstehen-Kontroverse, S. 63, Anm. 39, wo Kant die merkwürdige Position unterstellt wird, er kenne „auch in der Ethik nur die Freiheit und Verantwortung der innerlichen Handlungsintentionen (des guten oder bösen Willens), nicht aber die Verantwortung für die Realisierung der Freiheit durch Handlungserfolge“. Aus welchem Text Apel dies entnehmen zu können meint, sagt er nicht. Auch wenn wir damit den Rahmen einer Theorie der empirischen Geisteswissenschaften verlassen, sei hier ein Hinweis erlaubt, um solche Unterstellungen zurechtzurücken: Dass der gute Wille nach Kant das einzige Kriterium der Moralität einer Handlung ist, besagt selbstverständlich nicht, dass wir für unsere Handlungserfolge (soweit es auf uns ankommt) nicht verantwortlich wären. Der gute Wille ist per Definitionem „nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind“ (AA IV 394) zu verstehen. Nur ist deshalb der Erfolg der Handlung noch kein Kriterium ihres moralischen Gutseins, wie auch der Misserfolg kein Kriterium ihres moralischen Schlechtseins ist – aus dem einfachen Grunde,

I. Bisherige Einschätzungen der Philosophie Kants

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Apel referiert in dem zuletzt zitierten Textstück einen Gedanken aus der dritten Antinomie, und zwar (nach seinem ,andererseits‘) die Folgerung des Opponenten (a), die sich Kant keineswegs zu eigen macht und der nicht nur die Folgerung des Proponenten (b) entgegensteht, sondern der auch Kant selbst, in seiner eigenen „Auflösung“ der dritten Antinomie (c), entschieden widerspricht13: Nach diesem Kantischen Lösungs-Gedanken ist es vielmehr denkbar (aber freilich erst in der praktischen Philosophie und „zum Behuf des nothwendigen praktischen Gebrauchs meiner Vernunft“ erweisbar14), dass jede ,willkürliche Handlung‘ unter zwei prinzipiell verschiedenen Arten von Bedingungen steht, einerseits, als Gegenstand der Erfahrung, unter Zeitbedingungen in der Reihe der ,Erscheinungen‘ und insofern unter empirischen Gesetzen der Kausalität, andererseits, als Gegenstand eines zurechnenden (moralischen) Urteils unter intelligiblen (d. i. Geltungs-)Bedingungen der (reinen) praktischen Vernunft und insofern unter nichtempirischen Gesetzen einer ,Kausalität durch Freiheit‘.15 Für unseren Problemzusammenhang ist dabei zweierlei entscheidend: erstens, dass diese Doppelbestimmtheit nicht etwa als ein Konkurrenzverhältnis zweier antagonistischer und deshalb erst zusammen vollständiger Bedingungsfaktoren aufzufassen ist (dann handelte es sich nicht um prinzipiell verschiedene Bedin-

weil Erfolg und Misserfolg von mancherlei in der Welt abhängen, was nicht in unserer Macht steht. – Selbstverständlich kann deshalb aber keine Rede davon sein, dass es ,auf den Erfolg nicht ankomme‘; käme es uns darauf nicht an, würden wir nicht handeln. Aber nicht alles, ,worauf es ankommt‘, ist auch Kriterium der Moralität. 13 Vgl. schon KrV B 558; III 361, 35–362, 6, wo Kant ausdrücklich feststellt, dass die Struktur der ,dynamischen‘ Relationen, zu denen die der Kausalität gehört, es zulasse, dass das Unbedingte als eine ungleichartige Bedingung noch „den Erscheinungen vorgesetzt“ werde, „ohne die Reihe der letzteren, als jederzeit bedingt, dadurch zu verwirren und den Verstandesgrundsätzen zuwider abzubrechen“. 14 Vgl. KrV B XXX und KpV AA V 3: Mit dem reinen Vermögen der praktischen Vernunft „steht auch die transscendentale Freiheit nunmehr fest“. 15 Vgl. KrV B 580 ff.; III 374, 15–377, 31; reine praktische Vernunft und die durch sie bestimmte Freiheit können, abgesehen von der logischen Unmöglichkeit, die Nichtexistenz einer weiter zurückliegenden Ursache zu beweisen, auch deshalb kein Gegenstand der Erfahrung sein, weil Erfahrung nicht den Unterschied zwischen praktisch gültigen und praktisch ungültigen Handlungen erkennen kann (sondern allenfalls die Tatsache, dass Menschen merkwürdiger Weise diesen Unterschied machen). Kant zeigt im übrigen durch seine Beispiele (vgl. etwa B 582 f.; III 375, 13–376, 8), dass die ,gemeine Menschenvernunft‘ mit dem Wechsel zwischen empirischer Ursachenforschung und zurechnender Beurteilung sehr leicht zurechtkommt. Was den Philosophen bei der Kantischen Analyse des Freiheitsproblems Schwierigkeiten macht, ist u. E. allein die Bezeichnung der intelligiblen Seite des Verhältnisses durch den ungeliebten Ausdruck ,Ding an sich‘, mit dem sie eine ,Hinterwelt‘ verbinden zu müssen meinen. Im übrigen unterscheidet sich die moralisch-praktische Kritik von der ästhetischen und teleologischen Beurteilung der reflektierenden Urteilskraft vor allem dadurch, dass die erstere ihrem ,Gegenstand‘ schon ein moralisch-praktisches Selbstbewusstsein zudenkt, welches nicht nur seinerseits über eigene und fremde Handlungen urteilt, sondern die eigenen Handlungsentwürfe praktisch bestimmt und daher ,Kausalität durch Freiheit‘ zu nennen ist.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

gungsarten), sondern als eine in beiden Hinsichten vollständige Bestimmtheit16; zweitens, dass dieselbe erscheinende Handlung (und nicht etwa einmal sie selbst und einmal ihr ,hinterweltlicher‘ Doppelgänger) in der einen Hinsicht als Wirkung einer empirischen Ursache und in der anderen Hinsicht als Wirkung der Vernunft zu betrachten ist.17 Hinter dieser leicht zu durchschauenden Fehleinschätzung steht nun aber eine prinzipiellere und weiter verbreitete, die den Sinn der gesamten „Kritik der reinen Vernunft“ betrifft und insbesondere in den bisherigen Theorien der Geisteswissenschaft jeden positiven und jeden negativen Rückbezug auf Kant belastet. Es betrifft den Umfang der Phänomene, die unter den Kantischen Begriff der Natur fallen. Die „Kritik der reinen Vernunft“ spricht in ihrer ersten Hälfte von den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt und ihrer Gegenstände (der Erscheinungen); und sie nennt den Inbegriff aller Erscheinungen ,Natur (überhaupt)‘ („natura materialiter spectata“). Mit demselben Ausdruck wird auch die „Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit“ bezeichnet („natura formaliter spectata“: die ,Natur‘ dieser Gegenstände).18 Das bedeutet: Die „Kritik der reinen Vernunft“ thematisiert in dieser Hinsicht nicht den (heute) üblichen (und, wie auch Kant weiß, gewöhnlicheren) Begriff von Natur, sondern einen Gattungsbegriff zu diesem üblichen und gewöhnlichen, auch in unserem Begriff von Naturwissenschaft enthaltenen, Naturbegriff. Die Begriffe und Grundsätze, welche in der „Kritik der reinen Vernunft“ als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gerechtfertigt werden und nach einer Formulierung der ,Prolegomena‘ zu „einer allgemeinen Naturwissenschaft in strenger Bedeutung“ gehören, bringen „die Natur überhaupt, sie mag den Gegenstand äußerer Sinne oder den des inneren Sinnes (den Gegenstand der Physik sowohl als Psychologie) betreffen, unter allgemeine Gesetze“.19 Ihre Gesetze gehen daher jeder besonderen Naturlehre voran, welche eine „zwiefache“ ist, „die Körperlehre und Seelenlehre . . ., wovon die erste die ausgedehnte, die zweite die denkende Natur in Erwägung zieht“.20 Es läßt sich leicht denken, in welche Verständnisschwierigkeiten man bei der Lektüre der „Kritik der reinen Vernunft“ gerät, wenn man ihr den heute allein gebräuchlichen Begriff der Natur unterstellt und dann erfährt, dass Kant die erfahrbaren menschlichen Handlungen als vollständig durch ,Natur‘-Gesetze der Kausalität bestimmt betrachtet: Man muss dann annehmen, Kant habe unter diesen Gesetzen physikalische oder spezieller (im Sinne des heutigen Wortgebrauchs) ,physiologische‘ Gesetze verstanden. Wir werden daher im Folgenden 16 17 18 19 20

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

KrV B 583; III 375, 27 f. und 376, 1–8. KrV B 581 f.; III 374, 31–375, 12. KrV B 163 ff.; AA III 126, 19–21 und 127, 13–24. AA IV 295, 11–16. AA IV 467, 15–17.

I. Bisherige Einschätzungen der Philosophie Kants

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immer dort, wo wir (außerhalb von Zitaten) den Kantischen Begriff der ,Natur überhaupt‘ (d. i. in genere) benutzen, den Leser durch die Schreibung in Kapitälchen (NATUR) an die Kantische Bedeutung erinnern. (Demgemäß schreiben wir auch z. B. ,physische NATUR‘, weil das spezifizierende Attribut, wenn es nicht tautologisch sein soll, ja den Gattungs-Begriff voraussetzt21.) – Die Kantische Position bezüglich des Verhältnisses von Kausalität und Freiheit (eine Position, die, wie wir sahen, ja eine erfahrbare „Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens“22 voraussetzt), ist völlig unverständlich, wenn nicht bedacht wird, dass es dabei um ein Verhältnis von NATUR-Kausalität und Freiheit (oder NATUR-Kausalität und ,Kausalität durch Freiheit‘) geht und niemals um ein Verhältnis von Naturkausalität (im Sinne der physischen Kausalität) und Freiheit. So wie der Gattungsbegriff der NATUR überhaupt sowohl die ,ausgedehnte‘ (körperliche, physische) als auch die ,denkende‘ (seelische, psychische) NATUR umfasst, so umfasst der Gattungsbegriff der NATUR-Kausalität den der physischen und den der psychischen Kausalität. Auch der letztere Ausdruck jedoch ist für den heutigen Leser, der von einer ,naturwissenschaftlichen‘ Psychologie gehört hat, äußerst missverständlich. Er wird einer nach NATUR-Ursachen fragenden Psychologie die Erforschung von gewissen neurophysiologischen Prozessen, vielleicht auch noch die Analyse von allerlei unter- und unbewussten Motiven zutrauen, aber nicht etwa das erklärende Verstehen von nach ,praktischen Schlüssen‘ erfolgenden Handlungsentscheidungen.23 Die spezifische 21 Dass der Ausdruck ,physisch‘ (wie auch ,Physik‘) gegenüber dem Terminus ,NATUR‘ von Kant spezifizierend gebraucht wird, obwohl der letztere nur die Übersetzung des ersteren darstellt, ist freilich rein linguistisch betrachtet eine Inkonsequenz; vgl. demgegenüber Kants allgemeineren Gebrauch des Terminus ,Physiologie‘, der auf die gesamte NATUR, ja mitunter noch über die erfahrbaren Gegenstände hinaus auch auf transzendentes Seiendes bezogen wird, etwa KrV B 873 f.; III 646, 16–35 (eingeschränkt auf den „Inbegriff der Gegenstände der Sinne“ dagegen z. B. in den „Vorlesungen über die Metaphysik“ [hrsg. v. Pölitz, Erfurt 1821], AA XXVIII, 1 S. 221). 22 KrV B 831; III 521. 23 Es ist ein in der analytischen Wissenschaftstheorie verbreiteter Irrtum zu meinen, den Aristotelischen Begriff des praktischen Syllogismus habe die Philosophie vergessen bis ihn G. E. M. Anscombe wiederentdeckt habe (vgl. G. E. M. Anscombe, Intention, Oxford 1958, insbes. S. 57 ff. und G. H. von Wright, Handlung, Norm und Intention. Untersuchungen zur deontischen Logik, hrsg. und eingel. von H. Poser, Berlin/ New York 1977, S. 61 ff., wo freilich schon auf eine Hegel-Stelle hingewiesen wird). M. Riedel hat auf diesen Mangel an historischer Belehrtheit hingewiesen (Riedel, Teleologische Erklärung und praktische Begründung, S. 17 ff.). – Natürlich hat etwa die Kantische Rede von Maximen nur einen Sinn mit Bezug auf eben jene praktischen Syllogismen, was eine Textstelle aus Kants „Vorlesungen über Metaphysik“ (Nachschrift Dohna) verdeutlichen mag: „Actio voluntaria in so fern sie nach Maximen entspringt (maxime – Maximen, principia practice subjectiva weil sie propositio major in practischen Syllogismen seyn würden). involuntaria – nicht mit Willen, nicht nach seiner Maxime. Dies ist eine sehr subtile Materie – als freihandelndes Wesen kann der Mensch eigentlich nichts nicht mit Willen thuen – immer handelt er nach Maximen wenn auch nicht universaliter.“ (AA XXVIII/2.1, S. 678, 21–27).

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

NATUR-Ursache der ,denkenden NATUR‘ ist aber nach Kant nichts anderes als das Vermögen eben solcher Handlungsentscheidungen, in Kantischer Ausdrucksweise: das Begehrungsvermögen nach Begriffen: „Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt . . .“.24

4. Bestimmende und reflektierende Urteilskraft Demgemäß ist es keineswegs ein Akt der reflektierenden, sondern der „bestimmende[n] Urteilskraft unter allgemeinen transzendentalen Gesetzen“25, die Akte menschlicher Zwecksetzung (als zeitliche Vorgänge) unter dem Begriff der (NATUR-)Kausalität zu denken. Denn da dieses Vermögen – im Unterschied zu einem Zweck in der (äußeren, insbes. organischen) Natur – ein erfahrbarer Gegenstand ist, so hat die Urteilskraft hier ebenso wie beim Mechanismus der (physischen) Natur lediglich zu subsumieren: „das Gesetz ist ihr a priori vorgezeichnet, und sie hat also nicht nöthig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können“.26

Und im Unterschied zum Begriff „einer Causalität der Natur nach der Regel der Zwecke“ (wobei ,Natur‘ in der heute üblichen Bedeutung zu verstehen ist) hat „der Begriff einer Causalität durch Zwecke (der Kunst) . . . allerdings objective Realität, der einer Causalität nach dem Mechanism der Natur eben sowohl“.27 Der Konzessivsatz am Schluss des Zitats schränkt nicht etwa die These vom Handeln nach Maximen überhaupt ein, sondern negiert die Universalität der einzelnen Maximen, da sie veränderlich sind. 24 AA V 172, 4–6. – Wir werden auf den Zusammenhang dieser Stelle aus der Einleitung zur KdU noch zurückkommen müssen, weil er ein für unsere Überlegungen wichtiges und zugleich kompliziertes Problem enthält (s. unten S. 202). Schon hier können wir aber darauf hinweisen, dass der Gebrauch von Begriffen in Akten des (praktischen) Schließens als ein zeitlicher Vorgang etwas anderes ist als die (praktischen) Schlüsse selbst als gültige (oder auch ungültige) gedankliche Gehalte. 25 Vgl. AA V 179, 27 f. (unsere Hervorhebung). 26 AA V 179, 28–31. Das Zitat mag auch daran erinnern, dass die für die KdU grundlegende Differenzierung der Urteilskraft dort allein für die Anwendung der in der „Kritik der reinen Vernunft“ erarbeiteten Kategorien und Grundsätze a priori auf gegebene Phänomene erwogen wird. Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, zu meinen, dass Kant etwa die Erforschung empirischer Gesetze in der Physik der bestimmenden Urteilskraft zuordnen würde. In Wahrheit gehört natürlich alle Induktion, alle Analogie und alle empirische Hypothesenbildung zur reflektierenden Urteilskraft – in der Physik ebenso sehr wie in irgendeiner heutigen ,Geisteswissenschaft‘, falls es dort solche Operationen gibt (vgl. etwa die §§ 81–84 des Logik-Handbuches, AA IX 131, 28–133, 27, sowie über den Zusammenhang zwischen Hypothesenbildung und Induktion AA IX 84, 26–86, 8). 27 AA V 397, 13–15; der hier benutzte Begriff der ,Kunst‘ (ars, techne) ist der ganz weite einer „Causalität nach Ideen“ (vgl. V 390, 28 f.), welcher „von der Natur, wie

I. Bisherige Einschätzungen der Philosophie Kants

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Nur weil es im übrigen einen konstitutiven Gebrauch des Zweckbegriffs, nämlich im Bereich des menschlichen Handelns (des ,Tuns‘) gibt, nur deshalb konnte überhaupt der bloß regulativ zu gebrauchende Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur nach einer Analogie mit der „praktischen Zweckmäßigkeit (der Kunst und der Sitten) . . . gedacht“ werden.28 Die Zwecksetzung des menschlichen Handelns ist der terminus a quo, nicht etwa ein Fall des terminus ad quem dieser Analogie. Der Begriff der menschlichen Zwecksetzung hat also einen völlig anderen theoretischen Stellenwert als die Zweck-Begriffe der teleologischen Reflexion auf ein organisches Naturstück oder gar auf die Gesamtnatur und schließlich auf die gesamte ,NATUR‘. – In die Reflexion auf diese gesamte NATUR lässt sich freilich auch eine (von der empirischen Bestimmung menschlicher Zwecksetzungen wohl zu unterscheidende) ,teleologische Beurteilung‘ ,geistiger‘ Sachverhalte einordnen: So könnte man fragen, „warum in unsere Natur der Hang zu mit Bewußtsein leeren Begehrungen gelegt worden“ (also ein Hang zu ,Wunschträumen‘); diese Frage – und nicht etwa die auf ,subjektive Zwecke‘ zielende Frage, warum jemand dies oder jenes begehrt, „ist eine anthropologisch-teleologische Frage“, die in den Horizont der ,Kritik der Urteilskraft‘ fällt.29 Die menschliche Zwecksetzung selbst fällt nicht unter den Kantischen und wohl überhaupt traditionellen Begriff der Teleologie – so sehr die Etymologie und die Aristotelische Behandlung des Problems einen anderen Wortgebrauch nahelegen mögen.30 Die Differenz zwischen der Zwecksetzung in unserer Praxis und der teleologischen Reflexion ist nun insbesondere auch für die Fragestellungen der Historie zu beachten. Nicht die empirische Erforschung menschlicher Zwecksetzungen in der Geschichte, sondern die Reflexion auf einen der Geschichte (und dem gesamten Weltlauf) unabhängig von menschlichen Zwecksetzungen zugrundeliegenden ,Endzweck‘ (der dann auch ,Naturabsicht‘ genannt wird) gehört zur Teleologie, näherhin zur ,moralischen Teleologie‘ (da die Beurteilungsgesichtspunkte nicht von der Idee einer ,Technik der Natur‘, sondern aus der praktischen Philosophie entnommen werden).31 – Kant hat zu einer solchen GeThun (facere) vom Handeln oder Wirken überhaupt (agere) [. . .] unterschieden wird“ (vgl. V 303, 7–10 – man beachte, dass ,Handeln‘ hierbei gleichbedeutend mit ,Wirken überhaupt‘ ist, also den alten ontologischen Begriff des agere meint und noch nichts vom speziellen Begriff der menschlichen Handlung enthält). 28 Vgl. AA V 181, 3–11 in Verbindung mit AA V 197, 5–8. 29 Vgl. AA V 178, 32–34. 30 Der Terminus selbst ist erst von Christian Wolff (Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata [1728] Frankfurt/Leipzig 31740, Disc. Praelim. c. III, § 85, p. 38) geprägt worden, vgl. den instruktiven Artikel „Teleologie“ von H. Busche im HWP, Bd. 10, Sp. 970–977. 31 Vgl. etwa die §§ 82–84 der KdU, AA V 425–436 und AA VIII 17 f. sowie AA XX 307 f.

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schichtsbetrachtung in rechtsphilosophischer (,weltbürgerlicher‘) Absicht Bedeutendes beigetragen; aber er hat sich in der dieser Frage gewidmeten Abhandlung ausdrücklich gegen die Verwechslung einer solchen Geschichts-Philosophie mit der empirischen Geschichtsschreibung verwahrt: „Daß ich mit dieser Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat, die Bearbeitung der eigentlichen bloß empirisch abgefaßten Historie verdrängen wollte: wäre Mißdeutung meiner Absicht; es ist nur ein Gedanke von dem, was ein philosophischer Kopf (der übrigens sehr geschichtskundig sein müßte) noch aus einem anderen Standpunkte versuchen könnte.“32

Natürlich ist durch diese Differenz nicht ausgeschlossen, dass die ,weltbürgerliche Absicht‘ auch die Auswahl der Forschungs- und Darstellungsgegenstände der empirisch abgefassten Historie leitet – was nach Kants ironischer Bemerkung schon die „sonst rühmliche Umständlichkeit, mit der man jetzt die Geschichte seiner Zeit abfaßt“, den „späten Nachkommen“ nahelegen wird, wenn sie „die Last von Geschichte“ noch fassen können wollen.33 Fritz Medicus, der sich 1901 in Halle über Kants Geschichtsphilosophie34 habilitiert hatte, schrieb 1903 eine Abhandlung über Kant und Ranke35, worin er entschieden zwischen der Aufgabe der empirischen Geschichtswissenschaft und der wertenden Geschichtsphilosophie unterscheidet36, aber nun Kant unterstellt, „den Prinzipien der historischen Erfahrung und mithin den historischen Erfahrungsurteilen nur regulativen Erkenntniswert zuzugestehen. Das Ungenügen dieser Theorie kam ihm aber nie zum Bewusstsein, weil er – seine geschichtsphilosophischen Arbeiten beweisen das – stets solche Beispiele in Betracht zog, bei denen sich sein Interesse alsbald auf die Wertung konzentrierte, zu der sie Anlass gab. Geschichtsphilosophie und Kulturphilosophie sind ihm ohne weiteres identisch. Die Bedingungen der Möglichkeit historischer Erfahrung werden darum einfach identifiziert mit den Bedingungen der Möglichkeit allgemeingültiger Werturteile über das, was Men-

32

AA VIII 30, 29–34. Vgl. AA VIII 30, 34–31, 5. 34 Fritz Medicus, Kants Philosophie der Geschichte, in: Kantstudien 7, 1902, S. 1– 22 u. 171–229, sowie als Separatdruck, Berlin 1902. 35 Fritz Medicus, Kant und Ranke, in: Kantstudien 8, 1903, S. 129–192. – Medicus setzt sich in dieser Abhandlung weniger zum Ziel, über Kant und Ranke als vielmehr darüber zu reflektieren, wie man (die beiden Namen im Titel als die von „Typen“ ansehend) im Geiste Kants der Geschichtsforschung, für die Ranke als Klassiker steht, eine Grundlage verschaffen könne (vgl. S. 129 f.). 36 So auch schon in der Einleitung zu der geschichtsphilosophischen Abhandlung, vgl. Medicus, Kants Philosophie der Geschichte, S. 3 f.: „. . . es wäre unrichtig, Kants Geschichtsphilosophie als eine Erörterung der Methodenfrage der Geschichtsforschung aufzufassen. Diese Dinge liegen noch weit außerhalb des Kantischen Blickfeldes.“ Zum Beleg zitiert Medicus dann Kant selbst mit unserer eben angeführte Stelle vom Schluss der ,Idee‘-Abhandlung, zu der nun freilich die kritischen Unterstellungen der späteren Abhandlung von Medicus nicht recht zu passen scheinen. 33

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schen mit Freiheit getan haben. Werturteile aber können nun wohl allgemeingiltig sein, nie aber sind sie von gegenständlicher Bedeutung.“37

Statt sich mit der Feststellung zu begnügen, eine Theorie der Geschichtsforschung habe „noch weit außerhalb des Kantischen Blickfeldes“ gelegen38, verbindet der Autor hier eine durchaus treffende Unterscheidung mit der kaum belegbaren Behauptung, dass Kant sie übersehen habe und „Bedingungen der Möglichkeit historischer Erfahrung“ mit denen „allgemeingültiger Werturteile“ über menschliche Taten identifiziere. Dass es Kant überhaupt nur um Werturteile gehe, ist darüber hinaus zumindest eine Verkürzung der Kantischen Problemstellung und ihrer „weltbürgerlichen Absicht“. Immerhin weiß Medicus in seinen eigenen Überlegungen sehr überzeugend die Erforschung der konstitutiven Kausalität des historischen Geschehens mit der regulativen „Kategorie“ der „teleologischen Dependenz“ (der ursächlichen Momente des Explanans von dem zeitlich späteren Explanandum) ebenso zu verbinden wie die Willensbestimmtheit der spezifisch historischen Tatsachen mit der Ungewolltheit der Geschehensresultate.39 In jüngster Zeit jedoch hat man verschiedentlich versucht, der „Kritik der Urteilskraft“ und den geschichtsphilosophischen Abhandlungen Kants eine positivere Bedeutung für die Grundlegung der Geisteswissenschaften zuzudenken. Auf der Suche nach einer Vorgeschichte des Verstehensbegriffs hat Manfred Riedel versucht, ebenfalls die „Kritik der Urteilskraft“ für die hermeneutischen und historischen Wissenschaften in Anspruch zu nehmen.40 Zwar stellt Riedel gegenüber der unhistorischen Verzerrung des Teleologiebegriffs in der neueren analytischen Wissenschaftstheorie überzeugend klar, dass die Teleologie der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ im Gegensatz zu derjenigen bei Aristoteles und Hegel unter den Vorzeichen der reflektierenden Urteilskraft ein ganz anderes, kritischeres, weil nur regulatives Prinzip darstellt. Aber auch er glaubt, Kant habe mit der Theorie der reflektierenden Urteilskraft nicht nur für die Erforschung der organisierten Natur, sondern allgemein „im Hinblick auf die Lebens- und Kulturwissenschaften (Ästhetik, Biologie, Anthropologie, Geschichte)“ eine „methodische Alternative zum subsumtionstheoretischen Gesetzesmodell . . . entwickelt, deren Begriffsbildung dem Modell teleologischen ,Verstehens‘ nach den Grundtermini von ,Zweck‘ und ,Mittel‘ folgt“. Riedel geht so weit zu behaupten: „Das Verfahren der reflektierenden Urteilskraft“ sei 37

Medicus, Kant und Ranke, S. 147 f. So hatte Medicus noch in seiner früheren Abhandlung geurteilt (s. o. unsere Fußnote Nr. 36). 39 Vgl. bes. Medicus, Kant und Ranke, S. 172 f.; bei der Erläuterung der Willensbestimmtheit des historischen Geschehens beruft sich Medicus auf Hugo Münsterbergs Grundzüge der Psychologie, Leipzig 1890, Bd. I, S. 115 u. 126. 40 Vgl. Riedel, Teleologische Erklärung und praktische Begründung, S. 22 ff. 38

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„eine Weise des ,Erklärens‘, das seine ,besonderen‘, weder allein deduktiven (nomologischen) noch induktiven, Prinzipien hat und als eine Vorform des erst später so genannten ,Verstehens‘ aufgefaßt werden darf“.41 Die nähere Erläuterung dieser These zeigt, dass Riedel sich dabei einerseits von vornherein auf die Überlegungen Kants beruft, in denen dieser vom ,Verständlich-Machen‘ derjenigen Zweckmäßigkeiten spricht, die nicht auf menschliche Zwecksetzung zurückzuführen sind42, andererseits durch die gewagte Gleichsetzung des Kantischen Begriffs der „Exposition“43 mit dem einer „erörternde(n) Deutung oder ,Interpretation‘“ den Anschein erweckt, als sei die Rückführung der „Vereinigung des Princips des allgemeinen Mechanismus der Materie mit dem teleologischen in der Technik der Natur“ auf einen transzendenten Grund in irgend einem Sinne mit der ,Interpretation‘ der hermeneutischen Wissenschaften gleichartig. – Das ist schlicht irreführend. Wenn ,Verstehen‘, ,Deutung‘ und ,Interpretation‘ nicht jene alltagssprachliche Trivialbedeutung haben soll, deren sich auch ein Naturwissenschaftler ohne weiteres bedienen kann44, sondern eine spezifische, auf Texte und Handlungen, eine auf deren Sinn bezogene Wortbedeutung haben sollen, wie dies in den Kultur- oder Geisteswissenschaften (aber keineswegs bei der teleologischen Beurteilung der Natur) der Fall ist, dann geht es nicht um Rückführung auf einen transzendenten Grund und auch nicht um die prinzipientheoretische Erklärung einer besonderen Art von Urteilen. 5. Kants Geschichtsphilosophie als ,Empiriologie‘? Mit einer ungleich differenzierteren Argumentation und höherem Anspruch hat Werner Flach sich in mehreren Aufsätzen45 auf die Kantischen Abhandlun41

Vgl. Riedel, Teleologische Erklärung und praktische Begründung, S. 23. Riedel verweist in der Fußnote auf die Einleitung V der „Kritik der Urteilskraft“ („Das Princip der formalen Zweckmäßigkeit der Natur ist ein transscendentales Princip der Urtheilskraft“) sowie auf die §§ 61 („Von der objectiven Zweckmäßigkeit der Natur“), 64 („Von dem eigenthümlichen Charakter der Dinge als Naturzwecke“) und 78 („Von der Vereinigung des Princips des allgemeinen Mechanismus der Materie mit dem teleologischen in der Technik der Natur“). 43 Kant formuliert im angegebenen § 78 „Erörterung (Exposition)“, der Begriff wird demjenigen der „Erklärung (Explicatio)“ entgegengesetzt, die nur in der „Beurtheilung der Natur nach empirischen Gesetzen“ möglich sei (vgl. AA V 412). – Sonst wird der Terminus ,Exposition‘ in der „Kritik der Urteilskraft“ auch zur Bezeichnung der kritischen Erklärung der ästhetischen Urteile durch Definition der ästhetischen Prädikate des Schönen und des Erhabenen benutzt – im Gegensatz zu deren Rechtfertigung (Deduktion), die nur mit Bezug auf das Schöne notwendig sei, weil es nur dort um „ein Wohlgefallen oder Mißfallen an der Form des Objects“ gehe, während beim Erhabenen Exposition und Deduktion zusammenfielen (vgl. AA V 267 u. 280). – An der Unterschiedlichkeit solcher Überlegungen kann man schon ermessen, wie verfehlt die Einmengung oder gar Gleichsetzung der Kantischen Begriffe mit dem modernen Wortgebrauch in den Kultur- oder Geisteswissenschaften ist. 44 So kann man ja alltagssprachlich durchaus vom ,Verstehen‘ eines Naturphänomens, einer Explosion oder eines Krankheitsausbruchs sprechen. 42

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gen zur Geschichtsphilosophie und die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ bezogen; er attestiert ihnen im Zuge einer sehr detaillierten Analyse eine „empiriologische Orientierung“46, ja er hält sie nicht nur für eine „Grundlegung der Theorie der Kultur“, sondern auch für eine „Metaphysik der historischen Wissenschaften“ und den Argumentations-Kern der ungeschriebenen „Metaphysischen Anfangsgründe der Kulturwissenschaften“.47 Der Ausgangspunkt dieser Interpretation ist die Feststellung, dass „die empirische Verankerung“ der „Idee einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher, d. i. ,vollendet vernünftiger‘ Absicht“ Kant „sehr angelegen“ sei.48 Tatsächlich legt Kant, wenn er im ,Achten Satz‘ seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte . . .“ behauptet, man könne „die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen“, Wert darauf, dass dieser „Chiliasmus [. . .] nichts weniger als schwärmerisch ist. Es kommt nur darauf an, ob die Erfahrung etwas von einem solchen Gange der Naturabsicht entdecke.“ Dieses Etwas – Kant präzisiert: „etwas Weniges“ – wird verglichen mit den „bisherigen Himmelsbeobachtungen“, aus denen man „den Lauf, den unsere Sonne sammt dem ganzen Heere ihrer Trabanten im großen Fixsternensystem nimmt“, bestimmen könne; ebenso könne man aus den Fortschritten des Menschengeschlechts im Einzelnen (etwa in Sachen Religionsfreiheit und Aufklärung) auf den Plan der Natur im Ganzen schließen.49 Schon zu Anfang des Ideen-Aufsatzes hat Kant an die Berechnung der Planetenbahnen durch Kepler und Newtons Erklärung ihrer „Gesetze aus einer allgemeinen Naturursache“ (gemeint ist wohl die Anziehungskraft) erinnert. So liegt denn auch der Gedanke nahe, Kant habe im Feld der Geschichte eine ähnliche Extrapolation von beobachtbaren Ereignissen auf den Plan des Ganzen, der Geschichte der Menschheit vornehmen wollen, um so von den geschichtlichen Einzelphänomenen zur Geschichte als Wissenschaft zu gelangen. – Nur wäre dies freilich etwas ganz anderes als eine Art von metaphysischen Anfangsgründen 45 Werner Flach, Zu Kants Kultur- und Geschichtsphilosophie, in: Perspektiven der Transzendentalphilosophie im Anschluss an die Philosophie Kants, hrsg. v. R. Hiltscher u. A. Georgi, Freiburg/München 2002, S. 105–115; ders., Zu Kants geschichtsphilosophischem „Chiliasmus“, in: Phänomenologische Forschungen 2005, S. 167– 174; ders., Erreichung und Errichtung. Über die empiriologische Orientierung der Kantischen Geschichtsphilosophie, in: Die Vollendung der Transzendentalphilosophie in Kants „Kritik der Urteilskraft“, hrsg. v. R. Hiltscher, St. Klingner u. D. Süß, Berlin 2006, S. 183–189; ders., Kants Begriff der Kultur und das Selbstverständnis des Neukantianismus als Kulturphilosophie, in: Kant im Neukantianismus. Fortschritt oder Rückschritt, hrsg. v. M. Heinz u. Chr. Krijnen, Würzburg 2007, S. 9–24. 46 Vgl. den Untertitel des Aufsatzes „Erreichung und Errichtung“: „Über die empiriologische Orientierung der Kantischen Geschichtsphilosophie“. 47 Flach, Kants Begriff der Kultur, S. 10 u. 13. 48 Vgl. ebda. S. 16 sowie Flach, Zu Kants geschichtsphilosophischem „Chiliasmus“, S. 173. 49 Vgl. AA VIII 27.

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der Geschichtswissenschaft. Denn letztere hätten, wenn die Analogie zu dem Titel der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ nicht in die Irre führen soll, nicht unter Zuhilfenahme einer Idee a priori Extrapolationen aus empirischen Beobachtungen zu erzeugen, sondern den bloßen empirischen Begriff der menschlichen Geschichte (oder der menschlichen Kultur überhaupt) gemäß dem „Schema [. . .] zur Vollständigkeit eines metaphysischen Systems“, nämlich der „Tafel der Kategorien“, zu exponieren.50 Von einer solchen kategorialen Exposition ist aber in den betreffenden Aufsätzen und in den auf Kultur und Geschichte bezogenen Passagen der „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ nicht einmal andeutungsweise die Rede. Gleichwohl kann Flach überzeugend nachweisen, dass Kant in seiner teleologischen Reflexion auf die Geschichte der Menschheit alles daran setzt, zu zeigen, dass „innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung“ sich die Zweckmäßigkeit der naturalen Ursache-Wirkungsverhältnisse mit der Zweckbestimmung des Menschen selbst als zusammenstimmend erweist, die teleologische Reflexion also eine die empirische Fundierung vorweisen kann, welche die Entwicklung hin zu einer Rechtsgesellschaft mit einschließt.51 Die Frage ist jedoch, ob aus dieser empirischen Fundierung schon auf den „empiriologischen Charakter der Kantischen Geschichtsphilosophie“52 geschlossen werden darf, wenn unter „Empiriologie [. . .] die Wissenschaftstheorie der Geschichte“53 zu verstehen ist. Das Interpretationsproblem scheint mir dadurch verursacht zu sein, dass Kant in seiner teleologischen Reflexion einen Begriff, besser: mehrere Begriffe von Natur benutzt, die uns aus vielen Gründen irritieren. Zunächst einmal erinnern wir daran, dass Kant ohnehin unseren Gegensatz von ,Natur‘ und ,Geist‘, so wie er uns geläufig ist, nicht kennt, so dass er, wie oben berichtet, unter dem generellen Begriff der NATUR (1) nicht nur von der physischen NATUR (1a), sondern ohne weiteres auch von der ,denkenden NATUR‘ (1b) sprechen kann. Was unter diesen allgemeinen NATUR-Begriff fällt, unterliegt selbstverständlich der Gesetzlichkeit der NATUR, das heißt auch: seine Beurteilung obliegt der bestimmenden Urteilskraft. Dies gilt auch für jene Gegenstände, welche darüber hinaus eine Beurteilung durch die reflektierende Urteilskraft notwendig machen, weil an ihnen eine organisierte Selbsterhaltung festgestellt werden kann, die den teleologischen Grundsatz einer inneren Zweckmäßigkeit des Ganzen und seiner Teile (worin „alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist“) als Leitfaden für ihre Beobachtung erforderlich macht.54 Es wäre also nicht falsch, den betreffenden 50 Vgl. die entsprechenden methodologische Argumentation Kants in der Vorrede der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘, AA IV 473 ff. 51 Vgl. Flach, Erreichung und Errichtung, S. 186 f. 52 Vgl. Flach, Erreichung und Errichtung, S. 184. 53 So Flachs eigene Definition in: Flach, Zu Kants geschichtsphilosophischem „Chiliasmus“, S. 169, Fußnote. 54 Vgl. AA V 376.

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teleologischen Grundsatz eine empiriologische Maxime zu nennen. Wenn wir nun etwa sagen, dass Pflanzen ,Naturprodukte‘ seien, dann benutzen wir einen Begriff von Natur (2a), den wir weder mit dem ganz allgemeinen der NATUR (1) noch mit dem der schon speziellen, aber die zweckmäßige Organisation weder voraussetzenden noch ausschließenden der physischen oder Körper-NATUR (1a) verwechseln dürfen, weil der Begriff der Natur im Fall der Naturprodukte ein zusätzliches Prinzip, nämlich ein teleologisches der reflektierenden Urteilskraft, impliziert. Gleichwohl führt der Organismus, „die Materie, sofern sie organisirt ist [. . .] den Begriff von ihr als einem Naturzwecke nothwendig bei sich“, notwendig nämlich, weil dessen Organisation Produkt der Natur (nicht eines zwecksetzenden Subjekts) ist55 und ohne das zugehörige Prinzip, „daß nichts in einem solchen Geschöpf umsonst sei“, „kein Leitfaden für die Beobachtung“ dieser „Art von Naturdingen [. . .] übrig bleiben würde“.56 Diese durch das Erfordernis eines Leitfadens für die empirische Beobachtung begründete Notwendigkeit des Zweckbegriffs und der teleologischen Reflexion enthält noch nicht die Notwendigkeit einer teleologischen Reflexion auf die gesamte Natur (2b). Kant sagt zwar zunächst (mit mäßiger Vorsicht), der Begriff des Naturzwecks „führt nun nothwendig auf die Idee der gesammten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanism der Natur nach Principien der Vernunft (wenigstens um daran die Naturerscheinung zu versuchen) untergeordnet werden muß.“57

Dass die ,Notwendigkeit‘ dieses Schrittes jedoch nicht mit der Notwendigkeit der teleologischen Beurteilung des einzelnen Naturprodukts gleichgesetzt werden darf, zeigt der Schluss des betreffenden § 67: In diesem Paragraphen soll nämlich nichts anderes gesagt sein, als dass wir auch Dinge und ihre Relationen „welche [. . .] es eben nicht nothwendig machen, über den Mechanism der blind wirkenden Ursachen hinaus ein ander Princip für ihre Möglichkeit aufzusuchen, dennoch zu einem System der Zwecke gehörig beurteilen dürfen.“58

Die Notwendigkeit, dass uns der Begriff des Naturzwecks auf die teleologische Idee der Natur als System der Zwecke „führt“, ist eine zunächst gänzlich subjektive, eine Notwendigkeit bloß der ,Berechtigung‘ zu einer ,Erwartung‘ und einer Befugnis, „daran die Naturerscheinung zu versuchen“.59 Was uns zu einem solchen Versuch motivieren oder gar nötigen könnte, bleibt insoweit, d. h. 55

Vgl. AA V 378. Vgl. AA V 376. 57 AA V 378 f.; damit werden sowohl die Beziehungen zwischen den Organismen als auch die anorganischen Dinge (Flüsse und Berge) in die Teleologie mit einbezogen. 58 AA V 380 f. 59 Vgl. AA V 379. 56

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soweit es uns um Erkenntnis und Wissenschaft geht, zunächst dahingestellt. Demgemäß ist von der Natur als System auch im folgenden Paragraphen über „das Prinzip der Teleologie als inneres Princip der Naturwissenschaft“ nicht mehr die Rede. Es ist kein ,empiriologisches‘ Prinzip, sondern Prinzip einer in der Erfahrung erlaubten Reflexion, auf das erst wieder die Dialektik der teleologischen Urteilskraft als auf ein (heuristisch) ,nützliches aber nicht unentbehrliches‘ Prinzip verweist.60 Der Naturbegriff (2b) ist eine für die empirische Erkenntnis nützliche, aber nicht unentbehrliche Erweiterung des Naturbegriffs (2a). Nützlich ist auch die nächste Erweiterung, aber nicht eigentlich mehr für die Erfahrung. Wir haben schon gesehen, dass die Teleologie ein Prinzip nur der reflektierenden, nicht der bestimmenden Urteilskraft eben deshalb ist, weil es den Begriff des Zwecks, der einen Gegenstand der (inneren) Erfahrung (das Begehrungsvermögens nach Begriffen) durch die bestimmende Urteilskraft erklärt, nur nach einer Analogie auf Gegenstände überträgt, in denen Zwecke kein Gegenstand der Erfahrung sind. Die Zwecksetzungskausalität der ,denkenden NATUR‘ (1b), als das durch die bestimmende Urteilskraft zu beurteilende ,Urbild‘ der Analogie bedarf zu ihrer Erforschung keiner teleologischen Reflexion, weil die Zwecke durch sie selbst gesetzt, durch Begriffsausdrücke angebbar und erfahrbar sind. Erst die Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft integriert nun die menschliche Geschichte, insofern sie nicht nur durch die Zwecksetzung der Menschen bestimmt ist, in die Teleologie einer Natur (2c). Deren Begriff kann nun aber nicht mehr als eine ,nützliche aber nicht unentbehrliche‘ Erweiterung des auf die Organismen bezogenen Naturbegriffs angesehen werden, sie stellt formaliter ein ,System‘ oder besser eine ,Macht‘ dar, welche Kant als ,Vorsehung‘ der materialiter gedachten Natur als der ,Schöpfung‘ gegenüberzustellen nicht immer vermeiden kann.61 Die Frage ist dann, wodurch Kant den Übergang zu einer die Menschheit und deren Geschichte umfassenden Teleologie rechtfertigt. Der Übergang wird durch die Frage veranlasst, welches Ding in der Welt ein Endzweck (ein Zweck der nicht zugleich notwendig als Mittel anzusehen ist) genannt zu werden verdiene.62 Die Antwort bei der Durchmusterung der Stufenleiter der Organismen ist zunächst die naheliegende: Der Mensch

60 Vgl. AA V 398; nützlich ist es, weil sich nach der betreffenden Maxime „noch manche Gesetze derselben dürften auffinden lassen“ (ebda.) – eine Einschätzung, die vielleicht gerade heute durch die Aufdeckung ökologischer Zusammenhänge ihre Bestätigung findet. 61 Zu ,Vorsehung‘ vgl. z. B. in der „Idee zu einer Geschichte . . .“ AA VIII 30: „Natur – oder besser der Vorsehung“; im „Ewigen Frieden“ AA VIII 361; 362; 380; im „Streit der Fakultäten“ AA VII 64; 83; 93. 62 Vgl. AA V 425 f.

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„ist der letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden, weil er das einzige Wesen auf derselben ist, welches sich einen Begriff von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmäßig gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen kann.“63

Allerdings ist das Prinzip dieser Mittel-Zweck-Reihung ein völlig relatives und wir würden die Reihe nur „dem Scheine nach“ umkehren, wenn wir den Menschen als bloßes Mittel zur Aufrechterhaltung des ökologischen ,Gleichgewichts‘ aller übrigen Naturprodukte betrachteten.64 Nachdem Kant noch eine durch die Erfahrung der Rücksichtslosigkeit des Naturmechanismus nahegelegte relativistische Antwort erwogen hat, führt erst die Erinnerung an die kritische Auflösung der Antinomie zwischen Mechanismus und Teleologie zu der Auskunft, dass die teleologische Reflexion als bloß „subjective Bedingung unseres Vernunftgebrauchs [. . .] die Beurtheilung der Gegenstände nicht bloß als Erscheinungen angestellt wissen will, sondern diese Erscheinungen selbst sammt ihren Principien auf das übersinnliche Substrat zu beziehen verlangt, um gewisse Gesetze der Einheit derselben möglich zu finden, die sie sich nicht anders als durch Zwecke (wovon die Vernunft auch solche hat, die übersinnlich sind) vorstellig machen kann“.65

Dieser Verweis auf das „übersinnliche Substrat“ der Erscheinungen und die übersinnlichen Zwecke der Vernunft ist ein Vorgriff auf den übernächsten § 84 „Von dem Endzwecke des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst“, worin die Reflexion auf das „höchste Gut“ einsetzt. Aber er gestattet es Kant sozusagen stillschweigend, zuvor im § 83 „Von dem letzten Zwecke der Natur als eines teleologischen Systems“ festzustellen: „Wir haben im vorigen gezeigt, daß wir den Menschen nicht bloß wie alle organisirte Wesen als Naturzweck, sondern auch hier auf Erden als den letzten Zweck der Natur, in Beziehung auf welchen alle übrige Naturdinge ein System von Zwecken ausmachen, nach Grundsätzen der Vernunft zwar nicht für die bestimmende, doch für die reflectirende Urtheilskraft zu beurtheilen hinreichende Ursache haben.“66

Nun ist der Weg frei für die Frage nach dem Ziel im Menschen, das ein letzter Zweck der Natur sein kann, es wird nicht die Glückseligkeit, sondern die 63

AA V 426. Vgl. AA V 427; die Zwecksetzungsfähigkeit des Menschen, führe sie auch zu einem Zweck-System, schließt ja keineswegs aus, dass all dies nur Mittel für einen solchen Dienst an der Natur sei (was mancher Naturliebhaber heute gern unterschreiben würde); schon im § 67 hatte Kant bemerkt, dass man bei der Reflexion auf die äußere Zweckmäßigkeit nicht sehe, „warum es denn nöthig sei, daß Menschen existiren“, weil dazu „die Erkenntniß des Endzwecks (scopus) der Natur“ nötig sei, „welches eine Beziehung derselben auf etwas Übersinnliches bedarf, die alle unsere teleologische Naturerkenntniß weit übersteigt; denn der Zweck der Existenz der Natur selbst muß über die Natur hinaus gesucht werden“. (AA V 378). 65 AA V 429. 66 AA V 429. 64

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Kultur sein, näherhin nicht die Kultur der bloßen Geschicklichkeit, sondern die „Cultur der Zucht (Disciplin)“, welche schließlich nur in einer die gesetzmäßige Freiheit sichernden bürgerlichen Gesellschaft möglich sei und „noch ein weltbürgerliches Ganze [. . .] erforderlich“ mache. All diese Kulturtatsachen sind gewiss mögliche Gegenstände der Erfahrung, aber dass sie im Sinne des teleologischen Begriffs (2c) Zwecke der Natur seien, ist weder eine Erfahrungsgegebenheit noch ein Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung solcher Gegenstände. Auch ein notwendiger Leitfaden der Beobachtung kultureller Tatbestände oder Entwicklungen ist diese Teleologie nicht (wie dies bei der inneren Zweckmäßigkeit der Organismen der Fall war). Kulturelle Tatsachen sind Gegenstände einer systematischen Beobachtung, weil auch die Zweckbegriffe, die sie implizieren, sich nicht bloß der Reflexion des wissenschaftlichen Beobachters verdanken, sondern von den beobachteten Akteuren erzeugt, benutzt und zum Ausdruck gebracht werden. – Schon eher ist die geschichtsphilosophische Teleologie ein Leitfaden für unser Praxis, aber sie geht, wegen der mehr oder weniger ausdrücklichen Verankerung in dem Gedanken einer übersinnlichen Macht, Vorsehung genannt, auch ein Stück über die praktische Philosophie im engeren Sinne hinaus. Man muss die Texte nicht unbedingt so interpretieren, dass die von uns mit „2a“, „2b“ und „2c“ gekennzeichneten Ausdrücke verschiedene, voneinander unabhängige Begriffe von Natur bezeichneten; man kann im Rückblick auch sagen, es handle sich der Sache nach immer um denselben Begriff, dessen Momente aber schrittweise expliziert und gerechtfertigt würden. Aber dann ist dieser Gesamtbegriff von vornherein kein empiriologischer, sondern ein in praktischer Absicht gebildeter Begriff, der auf die Idee eines transzendenten Grundes der Natur verweist. Im Ersten Zusatz zu den Definitivartikeln im „Ewigen Frieden“ reflektiert Kant ausdrücklich auf das Problem der Benennung jener Macht und bezeichnet den „Gebrauch des Wortes Natur“ als „schicklicher“ und „bescheidener“ als den des Ausdrucks „einer für uns erkennbaren Vorsehung“. Dass Kant dies damit begründet, dass es „hier“ (im Ersten Zusatz) bloß um Theorie „innerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung“ zu tun sei, nimmt Flach schon als Beleg für den empiriologischen Charakter der Kantischen Geschichtsphilosophie.67 Aber der Schluss dieses ,Zusatzes‘ zeigt, dass es bei dem Hinweis auf „die große Künstlerin Natur (natura daedala rerum), aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet“, nur darum geht, aus dem erfahrbaren Fortschritt in der Geschichte eine „in praktischer Absicht“ zulängliche „Garantie“ für die Möglichkeit des ewigen Friedens zu entnehmen, die „es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten“.68 67 68

Flach, Erreichung und Errichtung, S. 187; vgl. AA VIII 362. Vgl. AA VIII 360 u. 368.

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Letztlich kehrt Flachs Unterstellung einer impliziten „Metaphysik der historischen Wissenschaften“ in den einschlägigen Schriften Kants das Fundierungsverhältnis der Kantischen Systematik um. Denn die Kantische Geschichtsphilosophie deckt ja gar nicht die kategorialen und überhaupt prinzipiellen Bedingungen der historischen Wissenschaften auf, sondern setzt die „bloß empirisch abgefasste Historie“ und ihre Ergebnisse schon als gültige voraus, um einen Gedanken „von dem, was ein philosophischer Kopf (der übrigens sehr geschichtskundig sein müßte) noch aus einem anderen Standpunkte versuchen könnte“, vorzutragen.69 Die Rede von einem Versuch aus einem anderen Standpunkt als dem der empirischen Historie passt denn auch nicht gut zum Gedanken einer Begründung der letzteren. Die „philosophische Geschichte“ ist keine Grundlegung der empirischen Historie, sondern eine auf die letztere reflektierende Betrachtung. Diese Reflexion hat selbst einen teleologischen Leitfaden a priori, aber sie verleiht diesen Leitfaden nicht etwa der empirisch abzufassenden Historie als Bedingung ihrer Möglichkeit. Wenn man sich daher fragt, was Kant mit der Idee der „philosophischen Geschichte“ im Auge gehabt habe, wenn nicht die Fundierung der empirischen Historie, dann sollte man nach der Antwort im Kantischen Text selbst suchen und mit dem „neunten Satz“ und seiner Erläuterung antworten: „Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plane der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung in der Menschengattung abziele, zu bearbeiten, muß als möglich und selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden.“70

Es geht also um die Beförderung der „Naturabsicht“, die sich schließlich als Absicht der „Vorsehung“ herausstellen wird. Es geht letztlich um ein praktisches, moralisch-rechtliches Motiv. Was mit der philosophischen Geschichte gewonnen ist, sagt der Schluss des Absatzes: „Eine [. . .] Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung“, deren wir bedürfen, damit „die Geschichte des menschlichen Geschlechts“ uns nicht an einem Sinn der Geschichte verzweifeln lässt und uns dahin bringt, „eine vollendete vernünftige Absicht [. . .] nur in einer andern Welt zu hoffen“.71 Nochmals sei betont, dass all dies keinen empirisch forschenden Historiker daran hindert, seine Forschungsgegenstände unter dem Gesichtspunkt des Kulturfortschritts und der weltbürgerlichen Gesellschaft auszuwählen oder zu organisieren. Der Rückgriff auf die Kantische Geschichtsphilosophie und die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ in einer Grundlegung der Geisteswissenschaften ist 69 70 71

Vgl. nochmals den Schlussabsatz des ,Idee‘-Aufsatzes, AA VIII 30 f. AA VIII 29. Vgl. AA VIII 30.

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also ein ebenso schief ansetzendes Unternehmen wie ein Rekurs auf die praktische Philosophie – so sinnvoll und notwendig eine auf den empirischen Geisteswissenschaften aufbauende ,kritische Geschichtsdeutung‘ unter moralisch-rechtlichen Gesichtspunkten sein mag. Diese letztere würde jedoch ihre eigenen Voraussetzungen schwankend machen, wenn sie die konstitutiven Begriffe der empirischen Historie mit den regulativen der kritischen Deutung konfundieren würde. 6. Rickerts werttheoretische Projektion des Irrationalen in die „Kritik der Urteilskraft“ In einer Art Formalisierung jenes schon von Kant ironisch ins Spiel gebrachten pragmatischen Gesichtpunkts der Unendlichkeit geschichtlicher Tatsachen (aber unter Vermeidung jedes Anflugs von Ironie) haben die südwestdeutschen Neukantianer Windelband und Rickert, wie im vorigen Kapitel angedeutet, versucht, die Geschichtswissenschaft (und dann die Kulturwissenschaften überhaupt) als ,idiographische‘ (auf Singuläres oder, wie man lieber sagte, Individuelles bezogene) Wissenschaft durch einen die Auswahl der Gegenstände leitenden Wertbezug konstituiert sein zu lassen, der vor allem mit der ,Einzigartigkeit‘ der historischen Gegenstände verknüpft wird.72 Genauer müsste man sagen, dass Windelband eigentlich nur den Gedanken der Idiographik zum methodischen Prinzip erhebt, wonach „die Mehrzahl derjenigen empirischen Disziplinen, die man wohl sonst als Geisteswissenschaften bezeichnet, entschieden darauf gerichtet [ist], ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes Geschehen von einmaliger, in der Zeit begrenzter Wirklichkeit zu voller und erschöpfender Darstellung zu bringen“.73 Zwar betont schon Windelband, dass aller Wert der Dinge an ihrer Einzigartigkeit hänge74, aber erst Rickert75 macht, indem er den Terminus ,Kulturwissenschaften‘ prägt, den an 72 Es ist eigentlich erstaunlich, wie Philosophen, die sich in die Kantische Tradition stellten, glauben konnten, eine prinzipielle Einteilung der Wissenschaften auf dem gänzlich formallogischen Unterschied zwischen generellen und singulären Aussagen aufbauen zu sollen. – Edmund Husserl, der gewiss kein orthodoxer Kantianer war, hat in seinen letzten Vorlesungen zu „Natur und Geist“ darauf hingewiesen, dass bei dieser Wissenschaftsphilosophie gänzlich der für Kant zentrale erkenntnistheoretische Gesichtspunkt der Sicherung der Objektivität unserer Erfahrungsurteile und damit die Zielsetzung der transzendentalen Deduktion, in den Hintergrund trete; vgl. Edmund Husserl, Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927, hrsg. v. M. Weiler, Dordrecht 2001 (Hua XXXII), insbes. §§ 15 u. 16, S. 78–102. 73 Wilhelm Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft (Straßburger Rektoratsrede 1894), in: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, 3., vermehrte Aufl. Tübingen 1907, S. 363. 74 Vgl. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, S. 374. 75 Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen (1898) 6/7 1926; ders., Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine Logi-

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der Einzigartigkeit hängenden Wertbezug zum konstitutiven Charakter dieser Wissenschaften.76 Für unseren gegenwärtigen Zusammenhang ist es interessant, dass Rickert seine Konzeption, die er zunächst in der kleineren Abhandlung „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft“ darlegt und dann in dem größeren und mehrfach erweiterten Werk „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ entfaltet, in seinem Kantbuch77 sozusagen in die „Kritik der Urteilskraft“ zurückprojiziert, ja dass er die „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ geradezu „als eine Abhandlung über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ bezeichnet. In einer merkwürdigen Deutung der Kantischen Zielsetzung auch in der „Einleitung“ der dritten Kritik stellt Rickert dem „naturalistischen Rationalismus“ und ,Intellektualismus‘, an dem noch die „Kritik der reinen Vernunft“ orientiert gewesen sei, den neuen Kantischen „Ansatzpunkt für die Gedanken, die eine im besten Sinne moderne Philosophie der Wissenschaften braucht, um der ganzen Fülle und Differenziertheit des wissenschaftlichen Lebens bis auf den heutigen Tag gerecht zu werden“78, gegenüber – das aber heißt: für eine „Wissenschaftslehre, in welcher die modernsten Wissenschaften Platz finden“. Unter den ,modernsten‘ Wissenschaften sind offenbar die Kulturwissenschaften, insbesondere die Geschichtswissenschaft, zu verstehen, wobei Rickert, wie überhaupt bei seinem Rückgriff auf die „Kritik der Urteilskraft“, dort in erster Linie Platz sieht „für eine Behandlung des Irrationalitätsproblems“.79 Dieses Problem besteht für Rickert darin, „daß die leitenden Grundwerte, in deren Dienst die Ratio steht, kein rationales Gepräge zeigen, sondern selbständige Eigenwerte sind“, wie Rickert kurz zuvor schon in seiner den ,Rationalismus‘ Kants mehr entschuldigenden als verteidigenden Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik und Rechtsphilosophie erklärt hat.80 Als vorzüglichstes Beispiel für die Lösung des Irrationalitätsproblems in der „Kritik der Urteilskraft“ gilt Rickert Kants „Lehre vom Genie“, der eine über die Ästhetik und die Wissenschaftslehre hinausgehende Bedeutung zugedacht wird: „Sie enthält Gedanken, mit denen die

sche Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen 51929 (1. Aufl. 1902; 2. Aufl. 1913; 3./4. Aufl. 1921). 76 Charakteristisch für Rickerts Problemstellung ist der Ausgangspunkt seiner wissenschaftstheoretischen Überlegungen bei der Frage nach der Überwindung der ,Unübersehbarkeit‘ der Wirklichkeit, welche dann durch den Wertbezug ,übersehbar‘ gemacht werden soll – so als gehe es in der Wissenschaft weniger um die Objektivität unserer Aussagen als um das Fertigwerden mit einer übergroßen Datenmenge (vgl. etwa den Beginn des ersten Kapitels der Grenzen, S. 31–45). 77 Heinrich Rickert, Kant als Philosoph der modernen Kultur. Ein geschichtsphilosophischer Versuch, Tübingen 1924. 78 Rickert, Kant als Philosoph, S. 184. 79 Vgl. Rickert, Kant als Philosoph, S. 181 u. 185. 80 Rickert, Kant als Philosoph, S. 177 – Im ,tätigen Leben‘, wo christliche Liebe sich geltend mache, heißt es später, seien „völlig irrationale, aus dem Christentum stammende Momente . . . unter Umständen geradezu entscheidend“ (ebda. S 178).

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Bedeutung der irrationalen Individualität der Persönlichkeit überhaupt theoretisch zu verstehen ist.“81 Hier glaubt er, anders als in der Kantischen Ethik, „die Person, insofern sie etwas durch ihre Einmaligkeit ,originelles‘ und im Kantischen Sinne ,exemplarisches‘ ist“, zu finden, die er für eine (wie er immer wieder betont) ,moderne‘ Philosophie der Kultur und der Kulturwissenschaften zu brauchen meint. Denn es gebe „nicht nur in der Kunst, sondern auch auf anderen Gebieten der Kultur ,Genies‘, welche als Individuen dem Leben überindividuelle Regeln geben, ohne daß diese Regeln sich in allgemeinen Begriffen ausdrücken, also rationalisieren lassen“.82

Wir können hier Rickerts merkwürdige Präferenz für das Irrationale ebenso auf sich beruhen lassen wie die Verzerrung, welche diese Präferenz in das Verständnis der „Kritik der Urteilskraft“ hineinträgt. Auch wenn Rickert die Rationalität der Kantischen Ethik höher geschätzt hätte, auch wenn er die rationalen Prinzipien der teleologischen Reflexion sowohl in der Naturteleologie wie in der moralischen Teleologie beachtet, auch wenn er bemerkt hätte, dass Kants Fortschreiten von der vorkritischen zu seiner kritischen Ästhetik auch darin bestand, das ästhetische Gefühl des Schönen wie das des Erhabenen in einem bestimmten Sinne auf rationale Gründe, auf das Bestimmtsein des Menschen durch Verstand und Vernunft zurückgeführt zu haben, ja dass in dieser Konzeption selbst das Genie der Verbindung von Einbildungskraft und Verstand bedarf – auch dann ginge Rickerts Rückgriff auf die „Kritik der Urteilskraft“ bei der Begründung der Kulturwissenschaften an Kants ausdrücklichen Überlegungen vorbei. 7. Die Problematik eines Rückgriffs auf die ästhetisch-reflektierende Urteilskraft Prinzipiell die gleichen Probleme aber würde eine (unmittelbare) Rückführung bestimmter Geisteswissenschaften auf Prinzipien der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ (die bei Rickert, durch den Verweis auf den Geniebegriff und bei Riedel durch den Hinweis auf die Ästhetik mehr angedeutet als durchgeführt ist) mit sich bringen, wie Kants Diskussion der Ausdrücke „Wissenschaft des Schönen“ und „schöne Wissenschaft“ im § 44 der ,Kritik der Urteilskraft‘ zeigt. Danach gibt es als empirische Wissenschaft weder die eine noch die andere: „Denn was die erstere betrifft, so würde in ihr wissenschaftlich, d. i. durch Beweisgründe, ausgemacht werden sollen, ob etwas für schön zu halten sei oder nicht; das Urtheil über Schönheit würde also, wenn es zur Wissenschaft gehörte, kein Geschmacksurtheil sein. Was das zweite anlangt, so ist eine Wissenschaft, die als sol81 82

Rickert, Kant als Philosoph, S. 185. Ebda.

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che schön sein soll, ein Unding. Denn wenn man in ihr als Wissenschaft nach Gründen und Beweisen fragte, so würde man durch geschmackvolle Aussprüche (Bonmots) abgefertigt.“83

Es gibt daher nur „schöne Kunst“ und, als (empirische) Reflexion auf sie, ,Kritik des Geschmacks‘.84 – Kants Erklärung des Anlasses für „den gewöhnlichen Ausdruck schöne Wissenschaft“ ist nun mittelbar auch für unsere, mehr eine präsumtive „Wissenschaft des Schönen“ betreffende, Problematik von Interesse: Nach Kants Analyse hat man nämlich „ganz richtig bemerkt . . ., es werde zur schönen Kunst in ihrer ganzen Vollkommenheit viel Wissenschaft, als z. B. Kenntniß alter Sprachen, Belesenheit der Autoren, die für Klassiker gelten, Geschichte, Kenntniß der Alterthümer u.s.w., erfordert, und deshalb diese historischen Wissenschaften, weil sie zur schönen Kunst die nothwendige Vorbereitung und Grundlage ausmachen, zum Theil auch, weil darunter selbst die Kenntniß der Producte der schönen Kunst (Beredsamkeit und Dichtkunst) begriffen worden, durch eine Wortverwechselung selbst schöne Wissenschaften genannt“.85

Spricht man in unserer Zeit auch kaum noch von ,schönen Wissenschaften‘, so ist doch die Frage, ob etwa die Kunst- und Literaturwissenschaften unter den Geisteswissenschaften ,Wissenschaften des Schönen‘ (oder, wenn man lieber mag, ,auf ästhetische Qualität bezogene Wissenschaften‘) seien und daher in der ,Kritik der ästhetischen Urteilskraft‘ ihr wissenschaftstheoretisches Fundament finden könnten, auch heute eine sinnvolle Frage. – Unterscheiden wir jedoch wie Kant zwischen dem, was ,durch Beweisgründe ausgemacht werden‘ kann, und dem Geschmacksurteil, dass „etwas für schön zu halten sei“ (für ,ästhetisch wertvoll‘), so werden wir die Frage zunächst ebenso negativ beantworten müssen, wie die nach der konstitutiven Funktion der teleologischen und praktischen Reflexion für die historischen Wissenschaften. Das schließt wiederum zweierlei Relevanz ästhetischer Prinzipien für diese Wissenschaften nicht aus: Es schließt erstens nicht aus, dass jene Geisteswis83

AA V 304 f. Vgl. AA V 304,28 f. Von der empirischen (auf ,Beispiele‘ bezogenen) Kunstkritik ist natürlich die auf die ästhetischen Prinzipien bezogene philosophische Kritik (die Kritik der ästhetischen Urteilskraft) zu unterscheiden. Die letztere ist durchaus Wissenschaft (ihre Urteile auf Beweisgründe stützend). Die erstere dagegen ist, in Kantischer Ausdrucksweise, eine „Kunst“ (freilich nicht wiederum eine ,schöne‘ Kunst), nämlich die Kunst, über die „Geschäfte“ der Erkenntnisvermögen in den ästhetischen Urteilen „Nachforschung zu thun“ und die „wechselseitige subjective Zweckmäßigkeit“ dieser Vermögen, deren Form die Schönheit des Gegenstandes darstellt, „in Beispielen aus einander zu setzen“ (vgl. AA V 286, 3–28. – Wir werden auf diese Kritik als ,Kunst‘ noch zurückkommen müssen (s. u. S. 179 ff.). Hier sei lediglich darauf hingewiesen, dass eine Unterscheidung zwischen Geisteswissenschaft und ästhetischer Kritik natürlich ebenso wenig wie die zwischen Historie und praktischer Kritik ausschließt, dass die Personen, welche sich der betreffenden Geisteswissenschaft widmen, auch ausgezeichnete Kritiker sein können. 85 Vgl. AA V 305, 6–16. 84

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senschaften zumeist aus keinem anderen als dem ästhetischen Interesse betrieben werden, weil sie nämlich nicht nur zur künstlerischen Produktion, sondern auch zu einem entwickelteren ästhetischen Urteil ,die notwendige Vorbereitung und Grundlage ausmachen‘ (deren wir insbesondere bei der Beurteilung von kulturell und historisch entfernteren Werken bedürfen). Dies ist der eine Aspekt, er betrifft zunächst den früher schon angedeuteten (wissenschaftsexternen) Endzweck der auf künstlerische Werke bezogenen Wissenschaften. Der andere Aspekt aber betrifft durchaus den immanenten Zweck der Wissenschaften: Wie wir nämlich in der Historie die Handlungen der Menschen kaum begreifen können, wenn wir nicht ihre moralischen und rechtlichen Ideen als Tatsachen in Anschlag bringen, so können wir natürlich auch Kunstwerke nicht begreifen, wenn wir uns nicht die von ihren Urhebern in ihnen objektivierten ästhetischen Ideen verdeutlichen (wozu uns auch eine philosophische Reflexion von der Art der „Kritik der Urteilskraft“ das Rüstzeug liefern mag86). Aber die Feststellung und Erschließung der im Kunstwerk objektivierten ästhetischen Ideen ist etwas anderes als unser ästhetisches Urteil oder gar unser ästhetisches Vergnügen (der zuvor genannte Endzweck der wissenschaftlichen Beschäftigung mit literarischen oder anderen Werken der Kunst): Die erstgenannten Akte erfordern ,Beweisgründe‘ und sind, als theoretische, „durch die Beschaffenheit des Objects bestimmt“.87 Die letzteren dagegen sind keines Beweises fähig und haben zumindest den ihnen eigentümlichen Grund in etwas ganz anderem, nämlich in unserem, wohl auch durch unsere Ideen bestimmten, Gefühl.88 Das ästhetische Urteil „gründet sich gar nicht auf Begriffe“ vom Objekt (darum heißt es ,ästhetisch‘) „und ist überall nicht Erkenntniß“.89 Deshalb auch „ist die Kritik des Geschmacks selbst nur subjektiv in Ansehung der Vorstellung, wodurch uns ein Object gegeben wird“.90 – Wiederum schließt diese Unterscheidung nicht aus, dass der wissenschaftlichen Untersuchung eines literarischen oder 86 Hier ist die Situation nicht anders als in der politischen Historie: Wo moralische und rechtliche wie eben auch ästhetische Prinzipien-Ideen der Menschen das Geschehen bzw. die Werke bestimmt haben, da kann unsere eigene Prinzipienreflexion – mehr aber noch unsere Kenntnis der zeitgenössischen Prinzipienreflexion – das empirisch begreifende Verständnis gegebener Geschehens-, Handlungs- und ProduktionsZusammenhänge befördern. Nur müssen wir achtgeben, dass wir dasjenige, was das Geschehen und die Werke selbst bestimmt hat, nicht mit dessen Bedeutsamkeit für uns, nach Prinzipien, die unser Urteil und unser Gefühl bestimmen, verwechseln. 87 Vgl. die Charakterisierung des theoretischen Vernunftgebrauchs in der Anmerkung zu § 1 der KdpV AA V 19, 25–20, 1. 88 Vgl. etwa § 35 der KdU, AA V 286 f. 89 Vgl. AA V 282, 17–20. 90 Vgl. AA V 286, 17 f. – Zur Erläuterung und Bestätigung der Kantischen Unterscheidungen könnte man heute die (freilich sprachanalytisch restringierten) Überlegungen von Autoren wie Frank Sibley und die kritischen Bemerkungen dazu bei Ted Cohen heranziehen: vgl. die beiden Aufsätze von Frank Sibley, Ästhetische Begriffe und Ästhetisch und nicht-ästhetisch, in R. Bittner u. P. Pfaff (Hrsg.), Das ästhetische Urteil. Beiträge zur sprachanalytischen Ästhetik, Köln 1977, S. 87–110 u. S. 134–155,

I. Bisherige Einschätzungen der Philosophie Kants

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bildnerischen Werkes eine ästhetische Kritik folgt, welche um so mehr auf Beistimmung anderer rechnen kann, als der wissenschaftliche Autor zuvor den Gehalt und die Form des Werkes analysiert und auf die zugrundeliegenden Ideen zurückgeführt hat. Die beiden Aspekte der Relevanz ästhetischer Prinzipien sind freilich in concreto nicht ganz so leicht von einander zu sondern, wie wir dies begrifflich, in abstracto tun können. Das liegt einfach daran, dass nicht nur wir (als Rezipienten, Wissenschaftler, Kritiker) ein ästhetisches Gefühl haben und ein ästhetisches Urteil fällen, sondern das Werk sich schon dem ästhetischen Gefühl und dem ästhetischen Urteil des Autors und Künstlers verdankt, in ihm schon ästhetische Ideen objektiviert sind, die also, wie gesagt, schon Gegenstand der wissenschaftlichen Erkennens sein müssen. Sogar dies kann Gegenstand wissenschaftlicher Analyse sein, ob die ästhetischen Ideen, welche der Autor ausweislich gewisser Indikatoren objektiveren wollte, auch tatsächlich objektiviert sind, ob das Werk in diesem Sinne ,gelungen‘ ist. Mit unserem ästhetischen Urteil ist eine solche Feststellung nicht identisch, wie man sich an dem Fall eines in anderer Hinsicht misslungenen Werkes, dass wir etwa als ,Kitsch‘ beurteilen würden, klar machen kann. Es ist also durchaus ein wissenschaftstheoretischen Problem, wie der Schnitt zwischen Literatur- und Kunstwissenschaft auf der einen und Literatur- und Kunstkritik auf der anderen Seite zu ziehen ist. – W. Flach scheint in einem in vielen Hinsichten instruktiven Aufsatz „Zum wissenschaftstheoretischen Profil der Literaturwissenschaft“91 den Schnitt ein wenig anders gezogen zu haben als wir. Auch er unterscheidet im Sinne der Kantischen Überlegung zwischen dem, was durch wissenschaftliche, linguistische und philologische, deskriptive und erklärende Interpretation („positiv“, wie er sagt) ermittelt werden kann, und dem, was Gegenstand nur einer reflektierenden, kritischen Beurteilung ist.92 Zwischen beidem müsse, auch darin ist ihm zuzustimmen, ein Brückenschlag möglich sein.93 Nun orientiert sich Flach bei der Erläuterung der kritischen Aufgabe an dem § 59 „Von der Schönheit als dem Symbol der Sittlichkeit“ in Kants „Kritik der Urteilskraft“. Die These ist als Argument in der Auflösung der Antinomie des Geschmacks zu verstehen, sie lädt nicht etwa dem Ästhetischen einen Dienst an der Moralität auf, sondern löst das Problem, warum das ästhetische Urteil Ansowie Ted Cohen, Ästhetisch/nicht-ästhetisch und der Begriff des Geschmacks: Eine Kritik an Sibleys Position, ebda. S. 174–205. 91 Werner Flach, Zum wissenschaftstheoretischen Profil der Literaturwissenschaft, in: Der Grund, die Not und die Freude des Bewusstseins. Beiträge zum Internationalen Symposion in Venedig zu Ehren von Wolfgang Marx, hrsg. v. M. Asiáin, A. Eckl u. a., Würzburg 2002, S. 137–156. 92 Vgl. Flach, Zum wissenschaftstheoretischen Profil, S. 141 und 152 f. 93 Vgl. Flach, Zum wissenschaftstheoretischen Profil, S. 141.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

spruch auf allgemeine Beistimmung machen kann. Um die Hauptthese vorzubereiten, erklärt Kant den Begriff des Symbols, indem er ihn unter dem Begriff der Hypotypose (der anschaulichen Darstellung, expositio) vom Schema unterscheidet und vor allem den gar nicht darstellenden, arbiträren Zeichen (Charakterismen) entgegenstellt. Ein Symbol stellt einen Begriff, der direkt gar nicht zu veranschaulichen ist, durch Analogie mit einem anschaulichen Gegenstand, also indirekt dar, wozu die Urteilskraft auf das Verhältnis zwischen beiden reflektieren muss. Weil das Schöne unmittelbar und ohne alles Interesse gefalle, die Freiheit der Einbildungskraft und Gesetzmäßigkeit des Verstandes miteinander in Einstimmigkeit bringe und das „subjective Princip der Beurtheilung des Schönen [. . .] als allgemein, d. i. für jedermann gültig“ angesehen werde, sei es „das Symbol des Sittlich-Guten“. Flach entnimmt nun diesen Überlegungen Kants, dass es der symbolische Sinn eines Werkes sei, dessen Rekonstruktion „in und bei ihrer linguistischen und philologischen Positivität auf die ästhetische Reflexion führt“. Indem die ästhetische Beurteilung es mit dem Werksinn „ausschließlich als symbolischem Sinn zu tun hat, bestimmt sie diesen nicht mehr positiv, sondern reflektierend, kritisch“, nämlich „bezüglich seines Anspruchs, als Symbol eines Gedankens oder von Gedanken zu gelten“.94 Die weiteren Erläuterungen präzisieren dies dahingehend, dass die symbolisierten Gedanken nicht irgendwelche, sondern ,reine Gedanken‘, genauer ,reine Vernunftbegriffe‘ oder ,Ideen‘ im Kantischen Sinne sein müssen. Nicht ganz deutlich wird in Flachs Darlegungen, dass der symbolische Sinn im Prinzip durchaus etwas im Werk, sei es auch indirekt, Aufweisbares, in der Terminologie Flachs ,positiv‘ Aufweisbares, ist, denn er gehört ja zur Werk-Konzeption als eine Art von einheitgebendem und regulierendem Grund der Einzelmomente, der rekonstruiert werden kann.95 Damit ist aber auch schon ein ästhetischer Geltungs-Anspruch verbunden. Erst die Frage, ob diesem Anspruch und seinen prinzipiellen Voraussetzungen Genüge getan ist und ob der in der Objektivation symbolisierte Sinn nicht noch ein ganz anderer sei als der evtl. direkt indizierte, ist dann ein über das wissenschaftlich Aufweisbare hinausliegendes Problem. Hier scheint uns jedoch in abstracto keine scharfe Grenze angebbar zu sein, zumal zumindest ein sprachliches Werk auch in ausdrücklicher Weise beliebig viel ästhetische Selbstreflexion enthalten kann. 94 Flach, Zum wissenschaftstheoretischen Profil, S. 153; den positiv zu bestimmenden Sinn nennt Flach (in recht freier Anlehnung an die Kantische Unterscheidung zwischen Symbolen und Charakterismen) ,charakterisierenden Sinn‘ (vgl. ebda. S. 152). Da die Charakterismen im Kantischen Wortgebrauch nichts anderes sind als die (arbiträren, z. B. sprachlichen) Zeichen, wäre eher von ,charakterisiertem Sinn‘ zu sprechen, denn auch der ,symbolische Sinn‘ ist ja keine symbolisierender, sondern der symbolisierte Sinn. 95 s. o. S. 90.

I. Bisherige Einschätzungen der Philosophie Kants

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Solche Fragen liegen Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ sicherlich fern. Kant selbst hat, wie man aus der an den zitierten Paragraphen anschließenden „Methodenlehre des Geschmacks“ schließen kann, die von ihm als ,Kunst‘ begriffene „Kritik des Geschmacks“ eher als Grundlage der praktischen Bildung des Geschmacks (nicht nur des Publikums, sondern vor allem auch des Künstlers96) angesehen. Die Flach’sche Zeichnung des ,wissenschaftstheoretischen Profils‘ der Literaturwissenschaft mag im übrigen dem, was man sich in der Nachfolge Kants unter einer solchen Disziplin denken könnte, durchaus zu entsprechen. Ob man bei Anerkenntnis der „Kantischen Einsicht, daß es keine positive Wissenschaft von der Kunst gibt und geben kann“, wie Flach dies tut, „die ästhetische Beurteilung der Literatur“ zwar „Literaturkritik“ nennen, aber dennoch, neben der linguistischen und der philologischen Analyse als dritte Teildisziplin unter den Begriff der Literaturwissenschaft fassen sollte, ist vielleicht eine eher wissenschaftspragmatische Frage. Im Sinne unserer anfänglichen Definition der Geisteswissenschaften würden wir diese Subsumtion jedoch vermeiden.97 In jedem Falle kann die Literaturkritik nicht ohne vorangehende wissenschaftliche Analyse und Rekonstruktion eine ernsthaftes Unternehmen sein. Uns geht es daher zunächst um die Bedingungen der Erkenntnis in den Geisteswissenschaften. Fragen wir nach der Möglichkeit der Geisteswissenschaften als methodischer Bemühungen um Erkenntnisse, so können wir weder in der „Kritik der praktischen Vernunft“ noch in der „Kritik der Urteilskraft“ die Prinzipien ihrer objektiven Gültigkeit zu finden hoffen. Objektivität von Erkenntnissen beruht weder auf praktischen Prinzipien (des Handelns und seiner normativen Kritik) noch auf Prinzipien reflektierender Beurteilung. Umgekehrt sind dagegen die für unser Leben eminent wichtige praktische Kritik wie die teleologisch und die ästhetisch reflektierende Beurteilung empirischer Gegebenheiten, wenn sie mehr als Gelegenheitsurteile zu sein beanspruchen, unter Umständen gar sehr auf eine Fundierung in wissenschaftlichen Erkenntnissen angewiesen. Der Rückgriff bisheriger Theorien der Geisteswissenschaften auf die zweite und die dritte Kantische ,Kritik‘ tut also zumindest einen möglichen zweiten vor dem notwendigen ersten Schritt: einen die objektive Gültigkeit geisteswissenschaft-

96 Das zeigt sich auch daran, dass Kant, wenn er auf „das Wissenschaftliche in jeder Kunst“ zu sprechen kommt, er – wie selbstverständlich noch die Auffassung von der Kunst als Darstellung der Natur voraussetzend – an die „Wahrheit in der Darstellung ihres Objects“ als „unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) der schönen Kunst“ denkt (vgl. AA V 355). Eine (der Kritik vorangehende) bloß theoretische Wissenschaft von der Literatur und der Kunst ist offenbar noch gar nicht in Kants gedanklichem Horizont. 97 Den Lehr- und Forschungsbetrieb müsste es ja nicht stören, wenn die Benennung einer Professur oder Abteilung pragmatisch zwar die Ausdrücke ,Literaturwissenschaft‘ und ,Literaturkritik‘ verknüpfte, aber damit zugleich begrifflich unterschiede.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

licher Erfahrung schon voraussetzenden Schritt vor demjenigen, welcher die objektive Gültigkeit ihrer Erkenntnisse allererst zu sichern hätte.

II. Die empirische Psychologie und die ,NATUR‘ des Geistes 1. Die Einschätzungen der Psychologie bei Dilthey und den Neukantianern Wir haben bisher kaum die Probleme einer Wissenschaft berührt, deren Stellung in dem Spannungsfeld von Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaften alles andere als eindeutig zu sein scheint: Ist die Psychologie nicht einerseits jene Wissenschaft, die wir nach Weber nur dann bemühen, wenn unser Verstehen an seine Grenzen stößt und wir ,bloß naturale‘ Bestimmungsgründe vermuten? – Ist sie nicht andererseits jene Disziplin, die nach Dilthey gerade die Grundlage aller ,anderen‘ Geisteswissenschaften sein sollte? Und in welchem Verhältnis stehen diese gegensätzlichen Einschätzungen eigentlich zu Kants Theorie der Erfahrung – und in welchem Verhältnis zu unseren eigenen bisherigen Überlegungen? Immerhin gibt es doch all das, was wir bisher als Gegenstände der Geistes- oder Kulturwissenschaften ins Auge gefasst haben, nur aufgrund von intentionalen Akten, Entscheidungen, Handlungen von Menschen, letztlich einzelner Menschen (wie wir Webers Hinweis entnehmen können). Wie sollten dies nicht auch, da es nicht (jedenfalls nicht allein) um physische Tatbestände geht, Gegenstände der Psychologie sein und in einem ,elementaren‘ Sinne sogar zunächst Gegenstände der Psychologie? Sowohl Dilthey als auch die südwestdeutschen Neukantianer waren sich in einem Punkte einig: die „Kritik der reinen Vernunft“ enthielt nichts als eine Begründung der Naturwissenschaften. Aber während Dilthey – im Kampf gegen die Mill’sche ,Logik der Geisteswissenschaften‘ (moral sciences) und die ihr entsprechenden Versuche einer erklärenden Psychologie – die ,beschreibende und analysierende Psychologie‘ noch als eine von der Naturerfahrung gänzlich unterschiedene Erfahrungsart zur Grundlage der Geisteswissenschaften machen wollte, galt Windelband und Rickert die Psychologie in methodischer Hinsicht beinahe selbstverständlich als Naturwissenschaft, die jedoch mit den historischen Wissenschaften nichts gemein habe.98 Diltheys Überzeugung war dabei vor allem durch eine der Kantischen Transzendentalphilosophie diametral entgegengesetzte These von der Unmittelbarkeit und Nicht-Phänomenalität der inneren Erfahrung bestimmt, welche er mit der bloß hypothetisch „konstruierenden“ Erfahrung der Natur kontrastierte:

98 Vgl. insbes. etwa Rickerts Behauptung, Kant habe das Kausalitätsproblem nur „im Zusammenhang mit der speziellen Frage behandelt . . ., wie Naturwissenschaft ,möglich‘ sei“ (Rickert, Grenzen, S. 374).

II. Die empirische Psychologie und die ,NATUR‘ des Geistes

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„Nun unterscheiden sich zunächst von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, daß jene zu ihrem Gegenstande Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten. Hieraus ergibt sich für die Naturwissenschaften, daß in ihnen nur durch ergänzende Schlüsse, vermittels einer Verbindung von Hypothesen, ein Zusammenhang der Natur gegeben ist. Für die Geisteswissenschaften folgt dagegen, daß in ihnen der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglich gegebener überall zugrunde liegt. Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. Denn in der inneren Erfahrung sind auch die Vorgänge des Erwirkens, die Verbindungen der Funktionen als einzelner Glieder des Seelenlebens zu einem Ganzen gegeben. Der erlebte Zusammenhang ist hier das erste, das Distinguieren der einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende.“99

Die wichtigste Voraussetzung dieses Gedankenganges ist der vom Kantischen unterschiedene ,materiale‘ Bewusstseinsbegriff 100, wonach das Bewusstsein(1) als eine Art von Innenraum gilt, in dem es allerlei (hier ,Tatsachen‘) gibt. Dieser Begriff legt schon nahe, dass man sich um die Zugänglichkeit solcher ,Tatsachen‘ für ein Bewusstsein(2) keine großen Sorgen machen muss. Denn weil es von vornherein selbstverständlich scheint, dass das Subjekt dieses Bewusstseins(2) ebenfalls ,in‘ jenem Bewusstsein(1) ist (wenn nicht gar mit ihm zumindest teil-identisch), fällt es kaum noch auf, dass mit diesem(2) etwas ganz anderes als das material verstandene Bewusstsein(1), nämlich Bewusstsein(2) als reflexive Funktion, gemeint sein müsste, wenn über die Unmittelbarkeit des Zugangs zu den betreffenden ,Tatsachen‘ gesprochen werden soll. Die Geisteswissenschaften genießen nach der aus diesem zweideutigen Bewusstseinsbegriff sich ergebenden Konzeption (a) den Vorzug, dass ihnen ihre Tatsachen nicht von außen, sondern „von innen“ gegeben sind, (b) den entscheidenden Vorzug, dass diese Tatsachen im Bewusstsein nicht bloß als Phänomene, sondern „als Realität“, mithin als sie selbst, auftreten – und zwar (c) nicht als Einzeltatsachen, deren Zusammenhang mühsam in Hypothesen rekonstruiert werden müsste, sondern „als lebendiger Zusammenhang“, nämlich als erlebter Zusammenhang von Erlebnissen, zu denen untrennbar auch das Erleben der Motivation des einen durch das andere Erlebnis gehört (etwa das „Erwirken“, das „von Prämissen zu einem Schlusssatz, von einem Unlustgefühl zu einem Streben führt“ und „regelmäßig von dem Innewerden der Notwendigkeit begleitet ist“101). Unser obiges Zitat lässt erkennen, welches der Angelpunkt der Diltheyschen Entgegensetzung von Verstehen und Erklären ursprünglich war: die Bestreitung 99 Wilhelm Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Ges. Schriften Bd. V, S. 139–240, S. 143 f. 100 Vgl. unsere Unterscheidungen oben S. 33 ff. 101 Vgl. Dilthey, Ideen, S. 192.

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der Phänomenalität des innerlich Wahrgenommenen, also die Negation des kantischen ,Paradoxons‘, dass der ,innere Sinn‘ „sogar uns selbst, nur wie wir uns erscheinen, nicht wie wir an uns selbst sind, dem Bewußtsein darstelle, weil wir nämlich uns nur anschauen, wie wir innerlich afficirt werden“102. Wir werden auf die Kantische Theorie der Selbstaffektion (und seine Exemplifikation des Zeitbewusstseins durch das Ziehen einer Linie) weiter unten noch zurückkommen; hier wollen wir nur die Problematik einer Konzeption der inneren Wahrnehmung als unmittelbarer Gegebenheit verdeutlichen, indem wir vorgreifend an ein Stück aus der Husserlschen Theorie des Zeitbewusstseins erinnern, auf die wir ebenfalls noch einmal, in anderem Zusammenhang, ausführlicher zurückkommen werden. Exkurs zur Struktur des Zeitbewusstsein Husserl hat u. E. in seinen Vorlesungen über das innere Zeitbewusstsein, ohne ausdrückliche Bezugnahme auf Kant, unter dem Begriff der Retention einen Aspekt dieser transzendentalen Selbstaffektion in ein sehr fassliches Bild gebracht, indem er die Darstellung der Zeit (etwa im Hören der Melodie b – a – c – h) in einer horizontalen Verlaufslinie durch die Abbildung der jeweils ,retinierten‘ Töne (b’, a’, c’, h’) auf den (eigentlich in jedem Punkt der Linie) abwärts entspringenden senkrechten Strecken ergänzte.103

Retention

Gerade die Tatsache, dass das Zeitbewusstsein, wie diese Darstellung zeigt, unmöglich wäre, wenn wir nicht in jedem Zeitpunkt mehr ,gegenwärtig machten‘, als gegenwärtig ist, lässt die Kantische These von der Subjektivität oder 102 Vgl. KrV B 152 f.; III 120; vgl. auch die §§ 6 und 8 in der transzendentalen Ästhetik.; zu Diltheys Ablehnung der Kantischen Auffassung vgl. etwa Wilhelm Dilthey, Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (ca. 1870–1895), hrsg. von H. Johach u. F. Rodi (Gesammelte Schriften, Bd. XIX), Göttingen 21997, S. 215 f. 103 Vgl. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893– 1917), hrsg. von Rudolf Boehm, Haag 1966 (Husserliana, Bd. X), insbes. etwa die Darstellung S. 93.

II. Die empirische Psychologie und die ,NATUR‘ des Geistes

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,Idealität‘ der Zeitform verständlich werden.104 Sich eines in der Zeit erstreckten Verlaufs bewusst zu sein, in Husserls Beispiel einer Melodie, heißt: wir ,setzen‘ (nach Kants Ausdrucksweise105) den einzelnen Ton zu jedem gegenwärtigen Zeitpunkt in eine keineswegs gegenwärtige Reihe von Vorkommnissen (etwa eine Melodie). Die Reihe der vergangenen Töne ist nicht gegenwärtig, sondern wird von uns sukzessiv vergegenwärtigt oder, wie Husserl sagt, ,retiniert‘, und zwar als eine Reihe. Durch dieses In-eine-Reihe-Setzen (das Retinieren) machen wir zu jedem Zeitpunkt, (mathematisch gesprochen) eine gegenwärtige ,Abbildung‘ der vergangenen Zeitpunkte.106 Noch genauer müssten wir sagen, dass auch der gegenwärtige Zeitpunkt nur dank der Einordnung in diese Reihe zu einem Zeitpunkt wird. Zu der Einordnung der gegenwärtigen Zeitpunkte in eine umfassende Zeitstruktur gehört dann auch der Erwartungs- oder auch Entwurfs-Horizont (Protention) der unmittelbaren Zukunft.107 Dasjenige, dessen wir uns unmittelbar zu jedem Zeitpunkt als Zeitstruktur bewusst sind, ist also die zu jedem Zeit-Punkt schon vorgegebene Struktur eines Retentions- und Protentions-Horizonts, im Sinne der Kantischen Redeweise eine bloße Vorstellung, nicht eine Zeitstruktur ,an sich‘. Die Struktur des Retentions- und Protentions-Horizonts ist, so können wir mit Kant sagen, eine subjektive Bedingung unserer Rezeptivität.108 Auch Husserl hatte noch in den ,Logischen Untersuchungen‘ (1901) eine Theorie von der inneren Wahrnehmung als einer absolut adäquaten Anschauung vertreten. Nach der Entwicklung der Theorie des Zeitbewusstseins hat er immer deutlicher von dieser Konzeption Abstand genommen. Denn diese Analyse des Zeitbewusstseins besagt ja nichts anderes als: Was immer uns ,gegeben‘ sein

104 Kant nennt „das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“ Einbildungskraft (vgl. KrV B 151; III 119 f.). 105 Vgl. KrV B 67 f. 106 Vgl. das hier eingefügte Schema zum Hören der Melodie ,b-a-c-h‘: die senkrechten Linien unterhalb der horizontalen stellen vereinfachend das – eigentlich zu jedem Zeitpunkt, auch innerhalb eines Tones – sich erweiternde Retentionskontinuum nach dem jeweiligen Verklingen der Töne dar. 107 Im Melodie-Beispiel denke man etwa daran, dass man die Melodie nicht (bloß) hört, sondern selbst singt oder spielt – was ja nur denkbar ist, wenn man vorab eine Art von Vorstellung von ihr hat; unsere Graphik wäre also in dem Feld über der horizontalen Linie durch senkrechte ,Abbildungen‘ der Protention zu ergänzen. Wir werden auf die besondere Bedeutung gerade der Protention für das Verständnis der Konkretion unseres Denkens im Rahmen des nächsten Kapitels zurückkommen (s. u. S. 240 ff.). 108 Kant zeigt in der transzendentalen Deduktion der Kategorien, dass erst durch die Anwendung der Kategorien, in der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, diese subjektive Bedingung zur objektiven Bedingung der Erfahrungsgegenstände („Erscheinungen“) wird (vgl. insbes. den § 24 der zweiten Aufl. der „Kritik der reinen Vernunft“ B 150–156; III 119–122).

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

mag, müssen wir durch eine Art von Tun, die Retention, nicht nur irgendwie aufbewahren, sondern in ein bestimmtes Verhältnis setzen; erst dadurch ist es uns in einer Art von Wahrnehmung verfügbar, die aber mit größerem Recht ,Imagination‘ genannt werden sollte. ———— Die Vernachlässigung des imaginativen Charakters dessen, was man innere Wahrnehmung genannt hat, liegt bei dem Bewusstsein der eigentlichen Denkakte wohl noch näher als bei dem der sinnlichen Akte. Denn was könnte unmittelbarer gegeben sein, als das, was wir aktiv vollziehen. Daher zieht Dilthey auch Akte des Schließens als Beleg dafür heran, dass wir eine unmittelbare Erfahrung von der psychischen Kausalität hätten. Aber auch hier (abgesehen von der umstandslosen Parallelisierung von logischen und kausalen Relationen) übersieht Dilthey die Differenz zwischen dem Vollzug und seiner retentionalen Gegebenheit. Dilthey übersieht damit auch die Differenz zwischen transzendentalem und empirischen Bewusstsein. So wird ihm das empirische Bewusstsein einer inneren Wahrnehmung zur Gegebenheit der Sache selbst oder, wie er (mit einem erst im 19. Jh. aufkommenden Wortgebrauch, der Wahrnehmung und Wahrgenommenes ununterscheidbar macht) gern formuliert, zum Erlebnis des inneren Geschehens. Er erkennt nicht, dass alles empirische Bewusstsein eines zeitlichen Verlaufs, sei er auch derjenige der eigenen ,Erlebnisse‘, die Einordnung der Elemente dieses Verlaufs in ein Ordnungssystem voraussetzt, das Kant deshalb im Unterschied zu den Elementen, also zum anschaulichen Material, als subjektive Form der Anschauung begreift. Empirisches Bewusstsein impliziert deshalb für Kant selbst dann ein ,subjektives‘, vom ,An-Sich-Sein‘ des Gegenstandes zu unterscheidendes Geformt-Sein oder Imaginiert-Sein, wenn dieser Gegenstand eine Tatsache des eigenen Erlebnisverlaufs ist. Dass für Dilthey sogar der kausale Zusammenhang, anders als man seit Hume meinte, ,als er selbst‘ gegeben sein kann, so dass Erklärung durch Hypothesen sich erübrigt, ist die Folge seines Unverständnisses für die ,Subjektivität‘ der Zeitordnung. Der emphatische Erkenntnisanspruch auf eine Gegebenheit, ein ,Erlebnis‘ der Sache selbst, bildet in Diltheys Überlegungen auch dann noch den Sicherheit gewährenden Hintergrund, wenn ihm später zunehmend deutlich wird, dass die Geisteswissenschaften insgesamt „im Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen fundiert“ sind, mithin sogar die über den Augenblick hinausgehende Selbsterkenntnis keine unmittelbare ist, sondern auf das Verstehen von Ausdrücken des eigenen Erlebens angewiesen ist.109 109 Vgl. Dilthey, Aufbau der geschichtlichen Welt, GS Bd. VII S. 86 f. – Wenn Dilthey dort von den „engen Grenzen der introspektiven Methode“ spricht, sobald es gilt,

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Aus dieser Perspektive muss dagegen die Tendenz der südwestdeutschen Neukantianer, die Psychologie wegen Ihres Absehens auf allgemeine Aussagen in die Nähe der Naturwissenschaften zu rücken, ja sie, wenn nicht „dem Gegenstand nach“ (oder sachlich), so doch methodologisch (oder formal) den Naturwissenschaften zuzuzählen, befremdlich wirken. Dilthey nimmt immerhin die von Kant zum Ausgangsproblem aller Erfahrungsbegründung gemachte Frage nach der anschaulichen Gegebenheit des Gegenstandes ernst; die südwestdeutschen Neukantianer sehen von jeder Frage nach der rezeptiven Erfahrungsgrundlage ab und sehen die Aufgabe der Wissenschaftsphilosophie allein in der methodologischen Charakterisierung der Begriffsbildung. Nach Windelband „zeigt sich die Inkongruenz des sachlichen und des formalen Einteilungsprinzips darin, dass zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft eine empirische Disziplin von solcher Bedeutsamkeit wie die Psychologie nicht unterzubringen ist: ihrem Gegenstand nach ist sie nur als Geisteswissenschaft und in gewissem Sinne als die Grundlage aller übrigen zu charakterisiren; ihr ganzes Verfahren aber, ihr methodisches Gebahren ist vom Anfang bis zum Ende dasjenige der Naturwissenschaften. Daher sie denn es sich hat gefallen lassen müssen, gelegentlich als die ,Naturwissenschaft des inneren Sinnes‘ oder gar als ,geistige Naturwissenschaft‘ bezeichnet zu werden.“110

Vermutlich bezieht sich Windelband mit diesen Ausdrücken unmittelbar auf einen zeitgenössischen Autor, aber der Sache nach spiegelt sich in ihnen eine theoretische Konzeption, die wesentlich älter ist und die den meisten von uns heute so fremd sein wird, dass sie ihre Quelle kaum erraten würden. Es ist die Kantische Wissenschaftskonzeption.111 Allerdings bleibt der Grund dieser Konzeption, zumal unter den Bedingungen der zu Windelbands Zeit herrschenden Psychologie-Auffassung, recht unklar. – Bevor wir auf diese Konzeption näher eingehen, halten wir fest, dass Windelband auch noch deutlicher als später Rickert mit großer Selbstverständlichkeit davon ausgeht, dass die ,idiographischen Wissenschaften‘ in ihren Kausalerklärungen auf die nomothetischen Wissenschaften, insbesondere die Naturgesetze des „seelischen Geschehens“ zurückgehen müssen:

die eigenen „Zustände festzuhalten und zu erfassen“ (S. 87), dann bleibt es doch dabei, dass „die Menschheit als Gegenstand der Geisteswissenschaften“ zunächst entsteht, „sofern menschliche Zustände erlebt werden“, sofern die psychophysische Lebenseinheit „ihrer selbst in der Gegenwart inne [wird]“ und „sich in der Erinnerung als ein Vergangenes wieder[findet]“ (S. 86 f.). Nur der Terminus ,Verstehen‘ wird nun, anders als in der früheren Abhandlung, vorzugsweise für das durch den Ausdruck vermittelte Erfassen des Inneren gebraucht. 110 Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, S. 362. 111 Bei Kant heißt es in der Vorrede zu den ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘: „Naturlehre des inneren Sinnes“ (AA IV 471). – Wir werden darauf zurückkommen; wir müssen hier offen lassen, ob Windelband vielleicht doch Kant zitieren wollte und den, wie wir sehen werden, entscheidenden Unterschied zwischen ,Naturlehre‘ und ,Naturwissenschaft‘ vernachlässigte.

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„Andererseits bedürfen nun aber die idiographischen Wissenschaften auf Schritt und Tritt der allgemeinen Sätze, welche sie in völlig korrekter Begründung nur den nomothetischen Disziplinen entlehnen können. Jede Kausalerklärung irgend eines geschichtlichen Vorganges setzt allgemeine Vorstellungen vom Verlauf der Dinge überhaupt voraus, und wenn man historische Beweise auf ihre rein logische Form bringen will, so erhalten sie stets als oberste Prämissen Naturgesetze des Geschehens, insbesondere des seelischen Geschehens. Wer keine Ahnung davon hätte, wie Menschen überhaupt denken, fühlen und wollen, der würde nicht erst bei der Zusammenfassung der einzelnen Ereignisse zur Erkenntnis von Begebenheiten – er würde schon bei der kritischen Feststellung der Tatsachen scheitern.“112

Diltheys Einschätzung der Rolle der Psychologie für die uns interessierenden Wissenschaften und die Einschätzung der südwestdeutschen Neukantianer, jener Theoretiker der ,Geisteswissenschaften‘ auf der einen und der ,Kulturwissenschaften‘ auf der anderen Seite, sind schwer miteinander zu vereinbaren und haben doch einen gemeinsamen Bezugspunkt: die Kantische Transzendentalphilosophie und die aus ihr von Kant selbst gezogenen Folgerungen für die Grundlegung der empirischen Wissenschaften einschließlich der Psychologie. Dies lässt es geraten sein, den gemeinsamen Bezugspunkt näher ins Auge zu fassen. Wir werden dabei einen verfremdenden Blick auf die Geisteswissenschaften werfen – aus einer historischen Perspektive, für die das Wort „Geisteswissenschaften“ noch nicht existierte und für die auch der Begriff der Naturwissenschaft noch nicht hinter einer Fassade vermeintlicher Selbstverständlichkeiten vor der Reflexion auf seinen Gehalt geschützt war. – Zu diesem Zweck wenden wir uns zunächst den wissenschaftstheoretischen Überlegungen in Kants Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zu.

112 Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, S. 375 f. – Man vergleiche damit Rickerts oft wiederholten Hinweis, für die historischen Wissenschaften sei eine spezifische ,individuelle Kausalität‘ anzusetzen. (Rickert, Grenzen, S. 376, 383, 388 ff., 436). Irritierend dabei ist, dass nicht immer klar ist, warum Rickert die Selbstverständlichkeit, dass kausale Beziehungen, auch wenn sie unter Gesetzen stehen, selbst singuläre Beziehungen zwischen Fällen sind, so herausstreichen zu müssen glaubt. Da man schwerlich einen Philosophen finden wird, der unter Kausalität etwas anderes als eine Relation zwischen singulären Sachverhalten verstünde (wie dies auch Rickert selbst betont – vgl. Grenzen, S. 376), bleibt einigermaßen unklar, was der Begriff der individuellen Kausalität über die Trivialität hinaus, dass Historie zu treiben eben nach individuellen Bedingungszusammenhängen zu suchen bedeutet, besagen soll. – Mitunter finden sich freilich auch Formulierungen, welche die andere Selbstverständlichkeit, dass alles Singuläre unter Gesetzen stehe, in Frage zu stellen scheinen, so wenn es in den „Grenzen“ heißt: „Mag man auch sagen, daß nach Kant nur das gesetzmäßig Bestimmte Realität hat, so braucht man dies darum noch nicht für richtig zu halten, selbst wenn man anerkennt, daß lediglich das kausal Bestimmte als real bezeichnet werden darf, denn es fällt eben der Begriff des kausal Bestimmten mit dem des gesetzmäßig Bestimmten durchaus nicht zusammen.“ (Grenzen, S. 377).

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2. Kants Frage nach einer Wissenschaft von der denkenden NATUR und das Problem der Konstruktion in der reinen Anschauung Kants Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft hat für unsere Fragestellung mehrere Vorzüge: • In ihr werden die Begriffe der NATUR, der Wissenschaft, und speziell der NATURwissenschaft ausdrücklich problematisiert und entwickelt. • In ihr finden wir in einem gewissen, auf die Seelenlehre (Psychologie) eingeschränkten Sinne eine ausdrückliche Reflexion auf die Möglichkeit einer Geistes-Wissenschaft, ja auf die Möglichkeit einer „NATURwissenschaft des Geistes“, im Originalwortlaut113: auf die Möglichkeit einer „Wissenschaft von der denkenden NATUR“; und dies in einer Weise, dass es über eine ganze Strecke des Gedankengangs noch so aussieht, als sei nichts natürlicher, als dass es dergleichen gäbe. • Schließlich finden wir (wie wir uns wohl leicht denken können) eine aufschlußreiche Ablehnung dieser Möglichkeit – aber aus Gründen, die wir uns nicht so leicht denken können. Im übrigen hat die Tatsache dieser Ablehnung in der Kantrezeption zu gravierenden Missverständnissen der Kantischen Erfahrungstheorie geführt, weil man sich nämlich die Gründe und den Sinn dieser Ablehnung kaum je klargelegt – wenn überhaupt zur Kenntnis genommen – hat. Und sie ist darüber hinaus eine Voraussetzung jener schiefen Diskussion, die seit Diltheys unglücklicher Dichotomie von Verstehen und Erklären die Einschätzung des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft belastet. Bei alledem ist freilich die wissenschaftsgeschichtliche Distanz zwischen Kant und uns nicht zu übersehen: Wir können nicht davon ausgehen, dass der Wissenschaftsbegriff, den wir für die Geistes- und Sozialwissenschaften heute, nach gut zwei Jahrhunderten Geschichte von Philosophie und Wissenschaften in Anspruch zu nehmen auch nur erwägen könnten, derselbe sei wie der Kantische Begriff. Selbst wenn wir diesen Kantischen Begriff nur in seiner spezifischen Beziehung auf die empirischen Wissenschaften in Erwägung ziehen, zielen nicht nur die Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern auch die heute sich als Naturwissenschaften verstehenden Disziplinen keineswegs auf dieselben Erkenntnisleistungen, wie sie die Konzeption der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ voraussetzt.

113 Das Wort „Geist“ gebraucht Kant noch allein für „reine“ – körperlose – Geister (vgl. z. B. AA XX, S. 309), wenn man von ästhetischen und kulturkritischen Zusammenhängen („Geist“ eines Künstlers oder der Gesetze) absieht (vgl. dazu etwa AA VII 246).

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Gleichwohl wird man zugestehen müssen, dass auf Seiten der Naturwissenschaften seit Kant eine Entwicklung stattgefunden hat, die bei allen Neuerungen und Brüchen eine unverkennbare Kontinuität aufweist. Diese Kontinuität beruht vor allem in dem auch für Kants Konzeption zentralen Bezug dieser empirischen Wissenschaften zur Mathematik, durch welche die Aussagen der Naturwissenschaften eine Bestimmtheit beanspruchen können, die für gewöhnlich ,Exaktheit‘ genannt wird. Niemand käme wohl auf den Gedanken, den Geisteswissenschaften dieselbe ,Exaktheit‘ abzuverlangen; aber damit ist keineswegs geklärt, was eigentlich der Grund dieser ,Bescheidenheit‘ ist und ob mit dem Ausdruck ,Bescheidenheit‘ eigentlich ein angemessenes Selbstverständnis dieser Wissenschaften bezeichnet ist – ein angemesseneres etwa als jener gönnerhafte Hochmut, mit dem die Adepten des „Jargons der Eigentlichkeit“ auf die Naturwissenschaften als eine „Abart des Verstehens“ herabblicken. Deshalb könnte uns die Reflexion auf die Kantische Bestreitung der zunächst doch – keineswegs zufällig – von ihm ins Auge gefassten Möglichkeit einer „Wissenschaft von der denkenden NATUR“ zumindest veranlassen, danach zu fragen, ob eigentlich Kant in dieser Vorrede alle Möglichkeiten, die sein eigenes Denken für eine positivere Behandlung des Problems hätte bereitstellen können, genutzt hat. Zu klären bleibt darüber hinaus eine Merkwürdigkeit in der Argumentation der Vorrede: Kant erwähnt im Zusammenhang der Frage nach der empirischen Psychologie mit keinem Wort die rationale Psychologie, welche Thema des Paralogismenkapitels in der „Kritik der reinen Vernunft“ ist. Dies kann leicht zu einer falschen Einschätzung des Verhältnisses zwischen Kants Begriffen der empirischen und der rationalen Psychologie führen und das eigentliche Problem seiner Überlegungen zur empirischen Psychologie verdecken. Bevor wir die betreffenden Passagen der Vorrede zu den „Metaphysischen Anfangsgründen“ im einzelnen analysieren, wollen wir noch einmal, auch durch die Schreibung, darauf aufmerksam machen, dass der von Kant dort (wie an den meisten anderen Stellen) gebrauchte NATUR-Begriff, anders als der unsere, ein allumfassender ist. In materialer Hinsicht betrifft er die Gesamtheit der Gegenstände der Erfahrung, in formaler Hinsicht deren Gesetzlichkeit, die „NATUR“ dieser Gegenstände.114 Das ist jener umfassende NATUR-Begriff, um den es schon in der „Kritik der reinen Vernunft“ ging; er umfasst die äußere wie die innere NATUR, weil die Bedingungen der Erfahrung überhaupt eben für die äußere wie die innere Erfahrung gelten.

114 NATUR ist im Unterschied zum bloßen Wesen (das auch bloß gedachten Gegenständen, etwa geometrischen Figuren zugrundeliegt) das Prinzip der Gesetze des Daseins von Sachverhalten (vgl. AA IV 467 u. Fußnote).

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Die „Kritik der reinen Vernunft“ hat also – anders als man häufig glaubt und als es dem heutigen Leser auch von Kant selbst durch mitunter angeführte Beispiele nahegelegt wird – mit der Grundlegung einer Physik von Newtonscher Art speziell noch gar nichts zu tun; eben dies ist erst die Aufgabe der „Metaphysischen Anfangsgründe“. – Nur deshalb kann auch in unserer „Vorrede“ die Frage nach einer Wissenschaft von der „denkenden“ NATUR gestellt werden. Freilich, schon der Titel der Schrift „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ kann uns ahnen lassen, dass Kant nur „Metaphysische Anfangsgründe“ der einen, uns bekannten, NATURwissenschaft, der Physik, für denkbar hält (die Chemie ist damals noch nicht so weit) und die Möglichkeit einer „Metaphysik der denkenden NATUR“ verneinen wird. – Das mag uns von vornherein plausibel erscheinen; aber diese Plausibilität führt in die Irre, wenn wir dabei unseren Begriff von Naturwissenschaft unterschieben. – Die Gründe für Kants These sind andere und möglicherweise fundamentalere, als wir zu denken geneigt sind. Zählen wir die Gründe kurz auf: Zunächst der Hauptgrund: Er beruht auf der noch zu erläuternden Voraussetzung, „daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist“.115 Die Anwendung der Mathematik auf Erfahrungsgegenstände setzt die Konstruierbarkeit der betreffenden Gegenstandsbegriffe in der Anschauung voraus, was bei der Körpernatur keine Schwierigkeiten macht, da Raum und Zeit als reine Anschauungsformen für die Konstruktion zur Verfügung stehen. – Phänomene nun der denkenden NATUR sind Phänomene des inneren Sinnes, die Anschauungsform des inneren Sinnes ist die Zeit, sie aber hat nur eine Dimension; und damit ist mathematisch – abgesehen vom „Gesetz der Stetigkeit in dem Abflusse der inneren Veränderungen“116 – nicht sehr viel anzufangen. Kant nennt noch zwei weitere Gründe für die wissenschaftstheoretische Unzulänglichkeit der Seelenlehre (die durchaus mit der eindimensionalen Zeitstruktur des inneren Sinnes zusammenhängen mögen, ohne dass Kant dies näher ausführt): a) Zum einen könne die empirische Psychologie „nicht einmal als systematische Zergliederungskunst oder Experimentallehre . . . der Chemie jemals nahe kommen, weil sich in ihr das Mannigfaltige der inneren Beobachtung nur durch bloße Gedankentheilung von einander absondern, nicht aber abgesondert aufbehalten und beliebig wiederum verknüpfen“ lasse.117 – Die Begriffe der Zergliederung (speziell der chemischen ,Analyse‘), der Absonderung, des Aufbehaltens 115 116 117

AA IV 470, 13–15. AA IV 471, 15. AA IV 471, 21–26.

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und des Verknüpfens müssen wir offenbar auf die in der Chemie verfügbare und in der Seelenlehre fehlende Anschauungsform zurückbeziehen, welche eine gleichzeitige und beharrliche Mannigfaltigkeit möglich macht. Nur eine solche Mannigfaltigkeit nämlich lässt sich experimentell, mithin realiter, zergliedern. Eine nur nacheinander wirkliche Mannigfaltigkeit dagegen lässt nur eine Zergliederung in den darauf reflektierenden Gedanken, nicht in den Sachen selbst, zu (eine gedankliche Unterscheidung also, keine reale Trennung der Elemente).118 b) Dazu kommt, zum anderen, dass „noch weniger aber ein anderes denkendes Subject sich unseren Versuchen der Absicht angemessen von uns unterwerfen läßt, und selbst die Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes alterirt und verstellt“.119 Diese beiden mehr methodologischen Mängel hindern die Seelenlehre also daran, auch nur als „systematische Zergliederungskunst oder Experimentallehre“ der damaligen Chemie nahe zu kommen. „Sie kann daher niemals etwas mehr als eine historische und, als solche, so viel möglich systematische Naturlehre des inneren Sinnes, d. i. eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht Seelenwissenschaft [. . .] werden“.120 Um die These Kants und ihre Begründung zu verstehen, muß man sich vor allem die begriffliche Verflechtung verdeutlichen, die für Kant zwischen dem Begriff der NATUR und dem der Wissenschaft besteht.

118 Ein Blick auf die heutige Psychologie würde wohl zeigen, dass diese zusätzlichen Probleme nicht ganz so unüberwindbar sind, wie sie Kant noch scheinen konnten; dazu zwei Gedanken, die diese Schwierigkeit entschärfen könnten: a) In gewissen Bereichen lassen sich äußere und innere Situationsbedingungen durchaus in „Spielen“ simulieren; b) sobald wir uns nicht mehr auf Selbstbeobachtung beschränken, bietet die Variationsbreite einer größeren Zahl von „Probanden“ durchaus einen gewissen Ersatz für das undurchführbare psychologische Experiment. 119 AA IV 471, 26–29; in den Vorlesungen über Metaphysik (K 2, nach den Auszügen von Heinze) hat Kant offenbar das Argument von der zweckwidrigen, aber unvermeidlichen ,Alterierung‘ des seelischen Zustandes auch gegen die Möglichkeit einer Selbstobservierung und eines Experiments mit sich selbst, und damit gegen jede methodische Selbsterfahrung, vorgetragen: die Selbst-Observierung etwa von Affektzuständen sei ausgeschlossen, weil man als Observierender in Ruhe und nicht im Affekt sein müsse, man dann aber als Observierter auch nicht im Affekt sein könne. „Mit sich Experimente anstellen, sei aber gar etwas Tolles. Das Experiment, welches ich machen wolle, ändere ja meinen Gemüthszustand, ich habe ja aber den unveränderten und nicht diesen veränderten experimentieren wollen.“ (AA XXVIII 2,1 S. 750, 8–15). – Systematisch überlegt, liegt dem Problem auch hier wiederum die Eindimensionalität der Zeit zugrunde, welche es nicht zulässt, dass ,wir‘ in beobachtenden Akten ,neben‘ unsere seelischen Zustände treten. – Auch hier ein Gedanke zur Entschärfung der Schwierigkeit: zu den psychologischen und soziologischen Methoden gehören an hervorragender Stelle inzwischen solche zur Vermeidung jener „Alterierung“ und „Verstellung“. 120 AA IV 471, 29–32.

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a) Zunächst einmal ist klar, dass Kant hier einen sehr strengen und „traditionellen“ (noch auf Aristoteles zurückweisenden) Wissenschaftsbegriff gebraucht, nach dem von vornherein auch ausgeschlossen wäre, dass so etwas wie Zoologie, Naturgeschichte oder auch physische Geographie als Wissenschaft zu bezeichnen wäre: Das sind „historische Naturlehren“, weil sie auf faktische Vorkommnisse an bestimmten Zeiten und Örtern gehen („Naturgeschichte“) oder allenfalls auf Klassen von solchen Vorkommnissen („Naturbeschreibung“). Historische Naturlehren enthalten zwar systematisch geordnete Erkenntnisse von der Natur (der „Natur“ im materialen Sinne), aber sie sind keine Wissenschaften von der Natur, weil sie nämlich nicht deren „NATUR“ (im formalen Sinne) ergründen: Sie leiten ihre Phänomene (das „mannigfaltige zum Dasein der Dinge Gehörige“), nicht aus einem „ersten inneren Prinzip“ dieser Dinge ab, d. h. aus deren NATUR.121 b) Wissenschaft von der NATUR muß Wissen von NATURgesetzen enthalten. Wie die heutige Wissenschaftstheorie so weiß auch Kant längst, dass empirische Gesetzesforschung bloß hypothetisches Wissen erreicht.122 Anders als die Heutigen aber verlangt er, dass der empirischen Forschung, wenn sie wahrhaft NATURwissenschaft sein will, eine „reine“ NATURwissenschaft vorangehen müsse: ein „reiner Teil“123, denn Wissenschaft will ja nicht bloß (mit Glück) Voraussagen über Tatsachen machen, sondern deren „NATUR“ auf den Grund gehen, und das heißt für Kant notwendige Bestimmungen völlig a priori erkennen. – Ein erstes Stück dieses „reinen Teils“ der NATURwissenschaft kennen wir aus der „Kritik der reinen Vernunft“: diese enthält in ihrer ersten Hälfte den Kern eines „transzendentalen Teils der reinen NATUR-Wissenschaft“. – Weil in diesem transzendentalen Teil noch ganz generell von den Bedingungen der Erfahrung und der Erfahrungsgegenstände überhaupt und noch nicht von besonderen Gegenständen die Rede ist, können wir die betreffenden Gesetze aus dem 121 Vgl. AA IV 467, 2–468, 16. – Dementsprechend wäre natürlich auch die politische oder die Kultur-Geschichte keine Wissenschaft, was weder in diesen noch in den naturgeschichtlichen Fällen die Seriosität der betreffenden Forschungen in Frage stellen würde. Diese Kantische Unterscheidung entspricht in etwa der (etwas vageren) Unterscheidung Windelbands von „nomothetischen“ und „idiographischen“ Wissenschaften; sie soll im Folgenden für unser Problem keine Rolle spielen, weil die historische Erklärung einer naturgeschichtlichen Tatsache doch auf eine naturwissenschaftliche Gesetzeswissenschaft zurückgreifen würde und insoweit durchaus „wissenschaftlich“ genannt werden könnte (ob dergleichen auch in der politischen Historie denkbar ist, müssen wir hier noch nicht entscheiden). – Dass man sich dabei im übrigen nicht durch die von Kant in einem Aufsatz vorgeschlagene „philosophische Geschichtsschreibung“ beirren lassen sollte, haben wir oben (S. 161 ff.) schon deutlich gemacht – vgl. dazu nochmals den Schluss des Aufsatzes „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, AA VIII 30. 122 Vgl. die Methodenlehre der „Kritik der reinen Vernunft“, B 797; AA III 502 und insbesondere B 802; AA III 504 f. sowie „Jäsche-Logik“, Einleitung X, AA X 84–86. 123 Vgl. AA IV 469, 2.

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Begriff einer NATUR im Allgemeinen (als eines Gegenstandes der Erfahrung) erkennen.124 c) Die „Metaphysischen Anfangsgründe“ dagegen sollen Wissenschaft von der NATUR besonderer, hier der äußeren, Gegenstände sein: um deren NATUR zu begreifen, reicht der allgemeine Begriff eines Gegenstandes überhaupt nicht aus, weil es da nicht um Erfahrung überhaupt und die Regeln der Synthesis empirischer Anschauungen überhaupt, sondern um eine Spezifikation solcher Anschauungen geht. Der Begriff von einer besonderen Art von Erfahrungsgegenständen kann nur empirisch gegeben sein – also durch empirische, sinnliche Anschauungen. Aber wie soll dann eine Wissenschaft in jenem strengen Sinne möglich sein? Ist es nicht paradox, Notwendigkeit a priori bei etwas empirisch Gegebenem zu suchen? Nun wäre das ein hoffnungsloses Unterfangen, wenn die besagte empirische Anschauung nichts als das empirische Material enthielte. Aber die empirische Anschauung, so hat uns schon die „Kritik der reinen Vernunft“ belehrt, enthält neben solchem Material auch reine Formen (der Anschauung), welche Mathematik möglich machen. Mathematik nämlich ist diejenige „Vernunfterkenntnis“, „welche nur auf der Construction der Begriffe vermittelst Darstellung des Gegenstandes in einer Anschauung a priori ihr Erkenntniß gründet“125, wie Kant zuvor definiert hat. Die Kantische Antwort auf die Paradoxie der Erkenntnis a priori eines empirisch Gegebenen lautet also: der betreffende Begriff muss sich mathematisch konstruieren lassen; und die „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft“ haben keine andere Funktion, als (vor dem eigentlich mathematischen Geschäft) die Möglichkeit solcher Konstruktion für den Begriff der Materie darzulegen. Es ist leicht zu erklären, was diesen Nachweis für Kant prinzipiell möglich macht: Mit der Anschauungsform des Raumes steht in der Physik ein Mannigfaltigkeitssystem zur Verfügung, welches schon (vor aller Physik) eine mathematische Konstruktion von Begriffen (in der Geometrie) zulässt. Die Kombination des Raumes mit der Zeit erlaubt darüber hinaus, den Begriff der Bewegung und damit jene Grundbestimmung der Materie zu konstruieren, die es begreiflich macht, dass es äußere Gegenstände nicht nur gibt, sondern dass sie erfahr124 Transzendentale „Erkenntnisse aus bloßen Begriffen“ sind nicht zu verwechseln mit analytischen Urteilen (die nur das explizieren, was schon im [Subjekts-]Begriff enthalten ist); die ersteren gehen nach Kant durchaus über den Subjektsbegriff hinaus, allgemein gesprochen: über den des Gegenstandes der Erfahrung überhaupt hinaus zu der „Regel der Synthesis desjenigen, was in einer Wahrnehmung a posteriori gegeben werden mag“ (vgl. B 748; AA III 473, 15 f.), im Einzelbeispiel des Kausalprinzips über den des Geschehens hinaus zu den „Zeitbedingungen überhaupt, die in der Erfahrung dem Begriffe der Ursache gemäß gefunden werden möchten“ (vgl. B 750; AA III 474, 32 ff.). 125 Vgl. AA IV 469, 22–25.

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bar sind: Weil nämlich das Dasein des Subjekts in seiner äußeren Sinnlichkeit und das Dasein des Gegenstands außer ihm, also das subjektive „Hier“ und das objektive „Dort“, durch Bewegung vermittelt werden können, so dass das Subjekt durch den Gegenstand affiziert wird.126 d) Doch damit ist leider ebenso leicht plausibel zu machen, warum es für Kant nur diese eine Naturwissenschaft gibt und wir uns wenig Hoffnung auf eine Wissenschaft von der denkenden NATUR machen können (wir kennen die Gründe schon): Die „denkende“ NATUR hat mit dem Raum nichts „im Sinn“; sie ist Gegenstand des inneren Sinnes, dessen Form allein die Zeit ist, welche nur eine Dimension hat und deshalb denkbar ungeeignet ist für ausreichend gehaltvolle mathematische Konstruktion. Wenn Kant deshalb mit dem Verweis auf die Erklärung der empirischen Psychologie als bloßer ,NATUR-Beschreibung der Seele‘127 begründet, dass er sich im Titel der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ zur Bezeichnung der Wissenschaft von der Körper-NATUR „dem gewöhnlichen Gebrauch gemäß des allgemeinen Namens der Naturwissenschaft bedient“128 habe, so liegt darin wissenschaftstheoretisch zugleich eine grundsätzliche Einschränkung dessen, was eine empirische Psychologie leisten kann. – Freilich sollte man daraus keine vorschnellen Schlüsse über Kants erkenntnistheoretische Einschätzung der Verhältnisse zwischen den Disziplinen ziehen: Erstens kennt und benutzt Kant mitunter durchaus einen weiteren Wissenschaftsbegriff, zweitens ist es nur dem weiten (und, wie das letzte Zitat zeigt, auch für Kant schon ,ungewöhnlichen‘) NATUR-Begriff zu verdanken, dass der Wissenschaftsbegriff hier auf den der Gesetzeswissenschaft eingeengt wird, drittens sind die Gesetze, die eine NATUR-Lehre in der Kantischen Konzeption zur NATUR-Wissenschaft adeln, gerade nicht diejenigen, die durch empirische Forschung (eine ,bloße‘ Experimentallehre wie die damalige Chemie) ermittelt werden, sondern zu allererst genau jene transzendentalen Grundsätze, von denen in der „Kritik der reinen Vernunft“ die Rede war. Diese erhalten zwar in den ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ ihre (die mathematische Konstruktion und damit auch die empirische Forschung ermöglichende) Exemplifizierung a priori, 126 Dies scheint uns der Sinn des Kantischen Satzes zu sein „Die Grundbestimmung eines etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll, mußte Bewegung sein; denn dadurch allein können diese Sinne afficirt werden.“ (IV 476, 9–12). 127 Vgl. IV 471, 29–32: „Sie kann daher niemals etwas mehr als eine historische und, als solche, so viel möglich systematische Naturlehre des inneren Sinnes, d.i. eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht Seelenwissenschaft, ja nicht einmal psychologische Experimentallehre werden“. – ,Historisch‘ heißt hier, gemäß dem früher Referierten, noch nicht ,geschichtlich‘ (auf systematisch geordnete Fakta in verschiedenen Zeiten und Örtern bezogen), sondern bezeichnet den Gattungsbegriff zur NATURgeschichtlichen Darstellung und zu der (ein Klassensystem der Fakten aufbauenden) NATUR-Beschreibung (vgl. nochmals IV 468, 7–12). 128 Vgl. IV 471, 32–37.

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aber der Begriff der NATUR-Beschreibung besagt für die Lehre von der ,denkenden NATUR‘ immer noch, dass diese unter jenen NATUR-Gesetzen aus der „Kritik der reinen Vernunft“ steht, und er besagt selbstverständlich, dass sie ein „nach Principien geordnetes Ganze der Erkenntniß“129 sei, mithin durchaus dasjenige, was nach heute (jedenfalls im deutschen Sprachraum) üblichem Wortgebrauch ,Wissenschaft‘ heißt. Ohne darüber hinaus schon allzu viel über die Frage nach dem wissenschaftlichen Status der Historie vorwegzunehmen, sollten wir nochmals anmerken, dass für Kants hier benutzten strengen Wortgebrauch der Begriff der ,historischen‘ (auf raum-zeitlich vereinzelte Fakta gehenden) Erkenntnis einfach den Gegenbegriff zum Begriff der (auf gesetzliche Allgemeinheit gehenden) Wissenschaft darstellt, ohne deshalb im mindesten den Charakter gültiger Erkenntnis auszuschließen, ja ohne auch nur in Frage zu stellen, dass die vereinzelten Fakta unter Gesetzen stünden – welche auch immer dies sein könnten und wie auch immer diese erkennbar sein möchten. 3. Kategoriengebrauch und innere Erfahrung Gleichwohl werden wir uns zu fragen haben, ob es mit der die reine Anschauung betreffenden Mangelanzeige für uns sein Bewenden haben kann. – Zuvor müssen wir uns freilich einen zweiten, mit diesem Mangel verknüpften Problemkomplex vergegenwärtigen: Auch wenn die Phänomene der denkenden NATUR unter den Gesetzen der NATUR überhaupt stehen, erleidet der Gebrauch der Kategorien bei ihnen doch eine Modifikation, aus der sich eine bestimmte Art von Unselbständigkeit der inneren Erfahrung und ihrer Gegenstände ergibt. Schon die Vorrede der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ trifft die Feststellung, welche dann in der ,Allgemeinen Anmerkung zum System der Grundsätze‘ in der 2. Aufl. der „Kritik der reinen Vernunft“ weiter ausgeführt wird, dass die allgemeine Metaphysik der NATUR ,merkwürdiger‘ Weise „in allen Fällen, wo sie Beispiele (Anschauungen) bedarf, um ihren reinen Verstandesbegriffen Bedeutung zu verschaffen, diese jederzeit aus der allgemeinen Körperlehre, mithin von der Form und den Principien der äußeren Anschauung hernehmen müsse und, wenn diese nicht vollendet darliegen, unter lauter sinnleeren Begriffen unstät und schwankend herumtappe“.130

Die Bezugnahme auf die ,Form und die Prinzipien der äußeren Anschauung‘ sowie die Forderung nach dem vollendeten Bereitliegen der Prinzipien macht deutlich, dass Kant hier unter ,Beispielen‘ nicht so sehr irgendwelche unter die reinen Begriffe subsumierbaren (empirischen) Fälle meint, sondern eben jene 129 130

Vgl. IV 467, 18 f. Vgl. IV 478, 3–9.

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mathematische Konstruktionen ermöglichenden metaphysischen Prinzipien, welche in den MAdN entfaltet werden und aus den dargelegten Gründen in der ,NATUR-Beschreibung der Seele‘ nicht zur Verfügung stehen. Liegt da aber nicht doch die Vermutung nahe, dass Kant damit auch den vielleicht zunächst vertretenen Standpunkt aufgegeben habe, die empirische Psychologie sei eine Lehre von der denkenden NATUR im Sinne des allgemeinen NATURbegriffs der „Kritik der reinen Vernunft“? – Tatsächlich hatte Kant offenbar noch 1785 die Absicht, den schon ,fertiggemachten‘ ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ einen Anhang über die ,Metaphysischen Anfangsgründe der Seelenlehre‘ beizugeben131, eine Absicht, die er dann jedoch nicht realisiert hat. M. C. Washburn hat aufgrund dieser Tatsache versucht, eine ,Geschichte‘ dieser Kantischen Bemühungen zu rekonstruieren.132 Danach hätte Kant bis 1785 noch Metaphysische Anfangsgründe der Seelenlehre, also eine nicht-dialektische Grundlegung a priori für die Psychologie für möglich gehalten und wäre bei dem Versuch, sie auszuarbeiten, gescheitert: „Kant must have attempted to execute the metaphysical and mathematical constructions of the concepts of the empirical self only to find that neither is possible.“133 Mit dieser Position unzufrieden, hätte Kant (nach dieser Rekonstruktion) die 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ in erster Linie geschrieben, um das Gebiet des inneren Sinnes wieder irgendwie in den ,Pferch‘ des kritischen Systems zurückzubringen.134 Die (noch zu behandelnde) Lehre vom Primat der äußeren Sinne und von der mittelbaren Anwendung der Kategorien wäre dann das Ergebnis dieser Bemühungen, und die Abschlussbemerkung der ,Allgemeinen Anmerkung‘ über die „Bestimmung unserer Natur ohne Beihülfe äußerer empirischen Anschauungen“135 wäre zurückzubeziehen auf Kants eigene Versuche zu einer Metaphysik der denkenden NATUR.136 Dies ist jedoch eine ganz und gar unwahrscheinliche ,Geschichte der Kantischen Seelenlehre‘. Jene Abschlussbemerkung, um mit dem letztgenannten Interpretationsmoment anzufangen, deutet in Wirklichkeit auf das Paralogismenkapitel voraus (daher das Futur in der Formulierung „wenn vom Selbsterkenntnisse aus dem bloßen inneren Bewusstsein und der Bestimmung unserer Natur ohne Beihülfe äußerer empirischer Anschauungen die Rede sein wird“.137 Dass 131

Vgl. den Brief an Schütz v. 13.9.1785, AA X 406 f. Vgl. Michael C. Washburn, Did Kant Have a Theory of Self-Knowledge? In: Archiv für Geschichte der Philosophie, 58, 1976, S. 40–56. 133 Washburn, S. 52 f. 134 Washburn, S. 54. 135 Vgl. B 293 f.; III 201, 30–35. 136 Washburn, S. 56. 137 Vgl. nochmals B 293 f.; III 201, 30–35. 132

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die denkende NATUR nicht unter die Prinzipien der NATUR überhaupt fiele, behauptet die ,Vorrede‘, wie wir gesehen haben, keineswegs, und es wäre ein offener Widerspruch. Schließlich steht Kants Einschätzung der Möglichkeit von Erkenntnissen a priori in der Seelenlehre schon seit der (von Washburn offenbar nicht berücksichtigten) Paralogismenlehre der 1. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ fest.138 Als einziger Anhaltspunkt für ein ,Scheitern‘ Kants in der Seelenlehre bleibt daher die Briefstelle, die von ,metaphysischen Anfangsgründen der Seelenlehre‘ spricht, die im Anhang der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ abgehandelt werden sollten. Bedenkt man jedoch einerseits, welche prinzipiellen Schwierigkeiten einer wirklichen Ausführung dieser Wissenschaft in Kants Augen entgegenstehen, und andererseits, dass all diese prinzipiellen Schwierigkeiten Kant schon während der Abfassung der 1. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ bekannt waren (und ihn schon zu derselben negativen Stellungnahme bestimmt haben), so kann der geplante Anhang keinesfalls als eine wirkliche Durchführung solcher ,Anfangsgründe‘, sondern allenfalls als ausführlichere Behandlung des Problems gedacht gewesen sein. Gewiss können wir nicht ausschließen, dass Kant auf den Anhang verzichtete, weil er selbst dabei auf größere Schwierigkeiten stieß als erwartet, aber dann müssen wir diese Schwierigkeiten auf dem Erkenntnisstand ansiedeln, den Kant spätestens seit der Ausarbeitung der 1. Auflage des Paralogismenkapitels erreicht hat: dem Bewusstsein einer in der Seelenlehre für die Möglichkeit anschaulicher Konstruktion und die Begründung synthetischer Sätze a priori neben der Anschauung der Zeit fehlenden Anschauung a priori.139 Die Schwierigkeiten, die Kant 1785 bewogen haben mögen, den Anhang zu den MAdN nicht auszuarbeiten, könnten daher von vornherein nur solche einer empirischen Psychologie sein (vgl. ebda. Z. 27–32). Und in der Tat liegt ja auch dort genau das Problem, mit dem sich die auf die innere Erfahrung bezogenen neuen Texte der 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ allein beschäftigen und das sie mit der Lehre von der Mittelbarkeit der inneren Erfahrung zu lösen versuchen. Jedenfalls wird man sich einem solchen Anhang, wäre er geschrieben worden, nicht grundsätzlich anders vorstellen dürfen, als es die Feststellungen des Paralogismenkapitels der 1. Auflage, der Widerlegung des Idealismus und der „Allgemeinen Anmerkung“ der 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ und die Vorrede der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ zulassen – und inhaltlich nicht viel anders als die Kapitel über empirische Psychologie in Kants Metaphysikvorlesungen. Es kann daher keine Rede davon sein, dass die Vorrede der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ behaupte (gar noch im Gegensatz zur früheren Meinung Kants), ,die Verstandesbegriffe fänden nur in der äußeren Ge138 139

Vgl. A 381 f.; IV 238, 35–239, 32. Vgl. nochmals B 382; III 239, 18–22.

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genständlichkeit ihre Anwendung‘, ,die Gegenständlichkeit des inneren Sinnes entspräche nicht den Bedingungen a priori des Verstandes‘ und ,die Hälfte der NATUR (die dem inneren Sinn gegebene) falle aus dem Erklärungsvermögen des kritischen Systems heraus‘.140 Die Position der ,Vorrede‘ ist in dieser Hinsicht keine andere als die (frühere) des Paralogismenkapitels der 1. Auflage und die (spätere) der ,Widerlegung des Idealismus‘ und der ,Allgemeinen Anmerkung zum System der Grundsätze‘ in der 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“: Unsere innere Erfahrung ist an die äußere Erfahrung zurückgebunden, daher können die Kategorien nicht auf isolierte Phänomene der denkende NATUR bezogen werden, sondern nur auf Phänomene einer an die Phänomene der Körper-NATUR gebundenen denkenden NATUR. Dass z. B. die Kategorie der Substanz keine unmittelbare und isolierte Anwendung auf die denkende NATUR erfahren kann, hat Kant schon im Paralogismenkapitel der 1. Auflage „Kritik der reinen Vernunft“ nachgewiesen. Die abschließende „Betrachtung über die Summe der reinen Seelenlehre . . .“ präzisiert das Problem noch dadurch, dass sie die unterschiedliche Funktion des Raumes auf der einen und der Zeit auf der anderen Seite ins Spiel bringt: Die Zeit ,habe‘ (für sich genommen) nichts Bleibendes und gebe „mithin nur den Wechsel der Bestimmungen, nicht aber den bestimmbaren Gegenstand zu erkennen“, während „die Erscheinung vor dem äußeren Sinne etwas Stehendes und Bleibendes“ habe, „welches ein den wandelbaren Bestimmungen zugrundeliegendes Substratum und mithin einen synthetischen Begriff, nämlich den vom Raume und einer Erscheinung in demselben, an die Hand“ gebe.141 Und nun erläutert Kant das Problem der ,fehlenden‘ Anschauungsdimensionen, indem er einerseits die Verbindung zum dialektischen Hauptproblem des Paralogismenkapitels, dem des Verhältnisses von Einfachheit und Substanzialität des Ich, herstellt: in der Seele sei lediglich das Ich etwas Bleibendes, aber eben als eine völlig inhaltsleere und nur deshalb so einfache Vorstellung (welche der rationalistischen Metaphysik „ein einfaches Object vorzustellen oder, besser gesagt, zu bezeichnen“ scheine142), und andererseits, indem er eine Art von ,irrealer Alternative‘ zur Unanschaulichkeit des Ich ins Auge fasst: „Dieses Ich müßte eine Anschauung sein, welche, da sie beim Denken überhaupt (vor aller Erfahrung) vorausgesetzt würde, als Anschauung a priori synthetische Sätze lieferte, wenn es möglich sein sollte, eine reine Vernunfterkenntnis von der Natur eines denkenden Wesens zu Stande zu bringen.“143 140

Vgl. Washburn, S. 53 f. Vgl. A 381; IV 239, 6–13; der zuletzt zitierte Teilsatz wäre wohl leichter verständlich, wenn dem grammatischen Objekt ,Substrat‘ ein eigenes Verbum (etwa: ,darstellt‘) folgte oder aber durch ,Substratbegriff‘ ersetzt würde. Jedenfalls wäre damit wohl das von Kant Gemeinte deutlicher bezeichnet. 142 Vgl. A 381; IV 239, 13–18. 143 A 382; IV 239, 18–22. 141

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Verdeutlichen wir uns diesen Irrealis ein wenig: Die Rede von der Anschauung a priori zeigt uns wiederum, dass es (zunächst) nicht um den empirischen Inhalt geht, sondern um eine ,reine‘, mathematische Konstruktion ermöglichende, Mannigfaltigkeit, die entweder im Ich ,enthalten‘ wäre oder deren (einfacher oder schon zusammengesetzter) Teil das Ich wäre und die der empirischen Gegebenheit des Ich zugrundeläge. – Aber das aller Erfahrung zugrundeliegende Ich, auf dessen Einfachheit sich die ,rationale Psychologie‘ beruft, ist, wie Kant in seiner Kritik wiederholt dargelegt hat, „so wenig Anschauung als Begriff von irgend einem Gegenstande, sondern die bloße Form des Bewußtseins, welche beiderlei Vorstellungen begleiten und sie dadurch zu Erkenntnissen erheben kann, sofern nämlich dazu noch irgend etwas anders in der Anschauung gegeben wird, welches zu einer Vorstellung von einem Gegenstande Stoff darreicht“.144

Für unsere späteren Überlegungen wird alles darauf ankommen, bei der Folgerung, die Kant aus dieser Sachlage zieht, nicht zu vergessen, worin genau diese Sachlage besteht: in der Unanschaulichkeit und daher Ungegenständlichkeit jenes absolut identisch bleibenden Ich (das alle meine Vorstellungen muß begleiten können), und nicht etwa in einer bestimmten Struktur dessen, was in der denkenden NATUR als wechselnde Bestimmtheit zu denken ist, ja nicht einmal in der Struktur dessen, was wir als empirische, sich verändernde, insbesondere sich entwickelnde (und insofern auch relativ bleibende) Person, als empirisches Ich, zu denken haben. Die Folgerung verweist uns denn auch zwar weg von der ,rationalen‘, auf die einfache Substanzialität und Unsterblichkeit der Seele zielenden, Psychologie auf die empirische Psychologie: „Also fällt die ganze rationale Psychologie als eine alle Kräfte der menschlichen Vernunft übersteigende Wissenschaft, und es bleibt uns nichts übrig, als unsere Seele an dem Leitfaden der Erfahrung zu studiren und uns in den Schranken der Fragen zu halten, die nicht weiter gehen, als mögliche innere Erfahrung ihren Inhalt darlegen kann.“145

Keineswegs aber ,fällt‘ deshalb etwa die Notwendigkeit, auch in der inneren Erfahrung die Kategorien zu gebrauchen. Auch wenn das bloße Ich nicht als Substanz gelten kann, müssen wir bedenken, dass die erste Relationskategorie nicht einfach ,Substanz‘ heißt, sondern eine Relation darstellt, nämlich die von „Inhärenz und Subsistenz (substantia et accidens)“.146 Und weit gefehlt, dass diese Relation keine Bedeutung für die innere Erfahrung hätte, verlangt gerade 144

Vgl. A 382; IV 239, 22–27. A 382; IV 239, 27–31. – Wir werden weiter unten sehen, dass der Mangel an einer Beharrlichkeit ermöglichenden Anschauung nicht nur die Möglichkeit einer rationalen Psychologie aufhebt, sondern auch die empirische Psychologie in eine Abhängigkeit von der äußeren Erfahrung bringt (vgl. unten S. 280 f.). 146 Vgl. die Titelangabe in der Kategorientafel, B 106; III 93, 9 f. (man beachte die Hervorhebung des Originals!). 145

II. Die empirische Psychologie und die ,NATUR‘ des Geistes

199

diese ihre Bedeutung die Beziehung der dem Ich inhärierenden (und wechselnden) Zustände nicht nur auf das bloße Ich (auf die „bloß intellectuelle Vorstellung der Selbstthätigkeit eines denkenden Subjects“147), sondern (zumindest mittelbar) auf irgendein in der Anschauung Beharrliches. Dieses Korrelat der Beharrlichkeit müssen wir nach Kant dort suchen, wo wir es der Struktur unserer Sinnlichkeit gemäß allein finden können: in der Körpernatur. Daher ist „ohne Beihülfe der äußeren empirischen Anschauung“ keine Erkenntnis der denkenden NATUR möglich.148 So wenig aber selbst in der äußeren Erfahrung ein absolut Beharrliches schlicht vorfindbar ist – und statt dessen immer nur anschauliche Symptome für Prädikate, die als qualitative ,Korrelate‘ der Beharrlichkeit aufzufassen sind, so wenig dürfen wir aus der Unanschaulichkeit des Ich in der inneren Erfahrung schließen, seinen wechselnden Zuständen liege keine beharrende Substanz zugrunde. Wir müssen eine solche vielmehr mit derselben Notwendigkeit voraussetzen, mit der wir eine beharrende Substanz der materiellen Zustände voraussetzen müssen. Nur können wir nicht wissen, ob den wechselnden Zuständen der denkenden NATUR ,an sich‘ (abgesehen von aller Erfahrung) dasselbe Substrat zugrundeliegt oder ein anderes als den – anschauliche ,Korrelate‘ der Beharrlichkeit darbietenden – Zuständen der Körpernatur.149 Müssen wir also um eines (relativ) Beharrlichen willen immer die äußere Anschauung zur Hilfe nehmen, wenn wir die Inhärenz der ,inneren‘ Zustände denken wollen, so bedeutet das gerade nicht, dass die Inhärenzrelation auf die letzteren nicht anwendbar wäre, sondern lediglich, dass es keine von der äußeren isolierte und unabhängige innere Erfahrung geben kann. Die Erfahrung hat sich daher an den (u. a. auch durch die Ich-Funktion definierten) Menschen (und mittelbar an dessen Leibkörper) statt an eine unerfahrbare Seelensubstanz als Substrat der dem Ich inhärierenden Zustände zu halten.150

147

Vgl. B 278; III 193, 6–8. Vgl. die unmittelbar gegen die ,rationale Psychologie‘ gerichtete Bemerkung in B 293 f.; III 201, 32–35, die aber auf jeden Versuch zu beziehen wäre, empirische Erkenntnis der denkenden Natur ohne die Beihilfe äußerer Erfahrung zu leisten. 149 Vgl. A 358 ff.; IV 225, 30–227, 4, wo Kant diese Denkbarkeit anführt, sie aber ausdrücklich als bloße Denkbarkeit kennzeichnet („Aber ohne dergleichen Hypothesen zu erlauben . . .“). – Aus dem theoretischen Gesichtspunkt des Kantischen Kritizismus können wir dagegen wissen, dass weder das der physischen Natur noch das der denkenden Natur zugrundeliegende Substrat ,an sich‘ räumlich ausgedehnt ist (vgl. A 379 f.; IV 238, 10–17). 150 Vgl. A 359 f.; IV 226, 29–32, wo die ,gewöhnliche‘ Ausdrucksweise der Empirie auf die obengenannte metaphysische Denkbarkeit eines einzigen Substrats übertragen wird: „Dadurch würde der Ausdruck wegfallen, daß nur Seelen (als besondere Arten von Substanzen) denken; es würde vielmehr wie gewöhnlich heißen, daß Menschen denken . . .“. 148

200

C. Rückgang auf Kant und Husserl

Zum einen ist also die innere Erfahrung für Kant eine unselbständige Erfahrung und zum anderen ist ihr Gegenstand, die denkende NATUR, ein insofern151 unselbständiger Gegenstand. Für unsere Erfahrung sind die Phänomene der denkenden NATUR auf ein physisches Substrat, d. i. einen Menschen als Lebewesen zu beziehen, weshalb Kant die empirische Seelenlehre auch als „Anthropologie des inneren Sinnes, d. i. Kenntniß unseres denkenden Selbst im Leben“ bezeichnen kann.152 – Was aber folgt daraus für das Problem der eigentümlichen Struktur der betreffenden Phänomene? 4. Die Frage nach Struktur und ,Grundbestimmung‘ der Phänomene der denkenden NATUR – Innere Erfahrung und die Differenz zwischen empirischem und transzendentalem Bewusstsein des Denkens a) Anschauliche und begriffliche Vorstellungen Denken wir für einen Augenblick an die methodologischen Implikationen der Sozialwissenschaften zurück: um zu erfahren, was jemand tut, mithin auch, welchen ,subjektiven Sinn‘ seine Handlungen haben, erst recht aber, welche Motive ihn leiten, sind wir letztlich darauf angewiesen, ihn zu befragen. Das besagt keineswegs, dass wir die Antworten unkritisch ,für bare Münze nehmen‘ müssten, aber wenn solche Rückgriffe auf die Selbstauskünfte von handelnden Personen niemals möglich wären, müssten unsere entsprechenden Behauptungen als reine Spekulationen gelten. – Das setzt aber nun voraus, dass solche Selbstauskünfte ein wie immer zu kontrollierendes Wissen wiedergeben. Die Kenntnis des eigenen ,Inneren‘ muss für uns Menschen also grundsätzlich echtes Wissen sein können. Wie erlangen wir die Kenntnis unseres denkenden Selbst, und was genau ist es, was wir da zur Kenntnis nehmen? Wenn wir denn das Lebewesen Mensch als das beharrliche Substrat dieses Selbst auffassen können: was genau sind seine wechselnden Bestimmtheiten? Dass sie nach den referierten Überlegungen 151 Die Einschränkung dieser Aussage auf die mögliche Erfahrung (die für unseren wissenschaftstheoretischen Zusammenhang selbstverständlich ist) darf natürlich im Hinblick auf die Kantische Behandlung der Seelenmetaphysik nicht unterschlagen werden: So wenig eine Seelensubstanz beweisbar ist, so wenig kann nach Kant ihre Nichtexistenz bewiesen werden (vgl. die folgende Fußnote und etwa B 424 ff.; III 276, 12– 277, 36 und zur logischen Struktur der ,kritischen Einwürfe‘ gegen die rationale Psychologie A 388 f.; IV 243, 1–23). 152 Vgl. V 460, 37–461, 6: Insofern es keine Erfahrung von einer selbständigen Seelensubstanz geben kann, könne „die rationale Psychologie niemals Pneumatologie als erweiternde Wissenschaft werden . . ., so wie sie andererseits auch gesichert ist, in keinen Materialism zu verfallen“. – Der ,anthropologische‘ Charakter der empirischen Psychologie kommt in der ,gewöhnlichen‘ Redeweise, „daß Menschen denken“, zum Ausdruck (vgl. A 359 f.; IV 226, 29–34 und unten S. 199).

II. Die empirische Psychologie und die ,NATUR‘ des Geistes

201

der ,Vorrede‘ durch die Anschauungsform der Zeit bestimmt sind und nach dem transzendentalen Grundsatz der Quantitäts-Kategorien eine extensive Größe in der Zeit haben, unterscheidet sie noch nicht von den physischen Phänomenen. Denn mag die Zeit auch primär die Form des inneren Sinnes sein, sie geht doch als solche auch in die ,Grundbestimmung‘ der Phänomene äußerer Sinne, in den Begriff der Bewegung ein. Welches ist die eigentümliche Struktur und welches könnte die ,Grundbestimmung‘ der Phänomene der denkenden NATUR sein? Eine von Kants transzendentalphilosophischen Überlegungen her vielleicht naheliegende Antwort würde darauf hinauslaufen, dass der innere Sinn eben erfüllt sei mit ,Vorstellungen‘; und diese Antwort wäre, die Weite dieses Begriffs gemäß dem Kantischen Wortgebrauch vorausgesetzt, sicherlich nicht falsch. Aber was wäre damit über eine ,denkende NATUR‘ gesagt, da unter diesen Begriff ,intellektuelle‘ Vorstellungen ebenso wie anschauliche, sinnliche und sogar dunkle und unbewusste Vorstellungen fallen?153 Sinnliche Vorstellungen, aktuelle Sinneseindrücke, imaginative Vorstellungen, sofern sie nicht überhaupt nur Zuständlichkeiten unseres Gefühls sind, sind in irgendeinem Sinne ,Bilder‘, die in einem Verhältnis der ,analogen Repräsentation‘ zu den physischen Phänomenen stehen und die wir auch mehr oder weniger genau in wiederum physischen ,Darstellungen‘, Zeichnungen u. dgl., auf einem Blatt Papier ,objektivieren‘ können. – Analoge Repräsentation raum-zeitlicher Phänomene scheint aber allenfalls eine subjektive Modifikation raum-zeitlicher Strukturen hervorzubringen – vielleicht in einer Art von perspektivischer Verzerrung. Dazu scheinen, nach allem, was wir zu wissen glauben, auch Tiere, die etwa über einen Gesichtssinn verfügen, in der Lage zu sein. Was daran wäre ,denkende NATUR‘?154 Johann Friedrich Herbart hat zu Anfang des 19. Jahrhunderts das durch die Mängelanzeige der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ gestellte Problem gesehen und durch eine ,mathematische Konstruktion‘ von Intensität und Dauer sinnlicher Vorstellungen lösen wollen.155 Damit steht sein 153 Vgl. etwa Kants „Stufenleiter“ der Vorstellungen in B 376 f.: „Die Gattung ist Vorstellung überhaupt (repraesentatio). Unter ihr steht die Vorstellung mit Bewußtsein (perceptio). Eine Perception, die sich lediglich auf das Subject als die Modification seines Zustandes bezieht, ist Empfindung (sensatio), eine objective Perception ist Erkenntniß (cognitio). Diese ist entweder Anschauung oder Begriff (intuitus vel conceptus). Jene bezieht sich unmittelbar auf den Gegenstand und ist einzeln, dieser mittelbar, vermittelst eines Merkmals, was mehreren Dingen gemein sein kann. Der Begriff ist entweder ein empirischer oder reiner Begriff, und der reine Begriff, so fern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat (nicht im reinen Bilde der Sinnlichkeit), heißt Notio. Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee oder der Vernunftbegriff.“ 154 Die Frage bleibt natürlich bestehen, auch wenn wir vermuten, dass auch gewisse Tiere ,denken‘. 155 Vgl. Herbarts Aufsatz: Über die Möglichkeit und Notwendigkeit, Mathematik auf die Psychologie anzuwenden [1822], in: Sämtliche Werke, hg. von Karl Kehrbach, Langensalza 1887–1912, Bd. V, S. 91–122.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Konzept am Anfang einer langen Reihe von Versuchen einer quasi-mechanischen Rekonstruktion des Psychischen (bis zur neuesten Debatte über die Hirnphysiologie), die zwar mitunter interessante Ergebnisse, aber leider gar nichts über das eigentümlich Psychische ergeben hat, von dem, was wir ,Geistiges‘ und was Kant ,denkende NATUR‘ nennt, ganz zu schweigen. Genauer überlegt, haben die anschaulichen Vorstellungen, wie uns die Kantische Transzendentalphilosophie gelehrt hat, für uns eine Repräsentationsfunktion überhaupt erst aufgrund einer Leistung des Verstandes, also einer begrifflichen Leistung, die sich gerade nicht in einem Abbildungsverhältnis zu den physischen Phänomenen erschöpft, sondern erst wahrhaft ,Denken‘ genannt werden kann, weil sie die sinnlichen Vorstellungen erst zu gegenstands-indizierenden Momenten macht. Daher entspräche es, so müssen wir schließen, auch nicht eigentlich der Kantischen Auffassung, den Verweis der ,Metaphysischen Anfangsgründe‘ auf den inneren Sinn und seine Form, die Zeit, für eine erschöpfende Auskunft über die Struktur der Phänomene der denkenden NATUR zu halten. Wir müssen uns nur an die (o. S. 160) schon zitierte Bemerkung aus der Einleitung zur „Kritik der Urteilskraft“ über die Kausalität der denkenden NATUR erinnern, die zumindest in eine andere Richtung weist: „Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt . . .“.156

Die Strukturen, die der Handlungs-Kausalität von Geschehnissen der denkenden NATUR zugrunde liegen, müssen also begriffliche Strukturen sein (darunter etwa Begriffe von Zwecken); dies könnte uns auch ein Stück näher an die gesuchte Grundbestimmung der Phänomene der denkenden NATUR heranführen. Allerdings: wie können begriffliche Strukturen, wie kann das Denken, das Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ transzendentalphilosophisch, d. h. seinen geltungskonstitutiven Prinzipien nach, untersucht hat, erfahrbar sein, wenn es doch per definitionem nichts Anschauliches ist? – Kant hat zu dieser Frage nicht eben viel gesagt. b) Logische und empirische Erforschung des Subjekts: ,Reflexion‘ und Apprehension Mitunter scheint Kant nun die Meinung zu vertreten, als beziehe sich alle innere Erfahrung nur auf jene (letztlich aus der äußeren Wahrnehmung stammenden) sinnlichen Gegebenheiten, so etwa, wenn er von der inneren Anschauung bemerkt, „daß darin die Vorstellungen äußerer Sinne den eigentlichen Stoff ausmachen, womit wir unser Gemüth besetzen“157; und es scheint dann, als sei 156 AA V 172, 4–6; vgl. auch (im Zusammenhang der praktischen Philosophie, aber noch bei der Exposition der anthropologischen Vorbegriffe) VI 213, 14–17.

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die einzige Möglichkeit, unser begrifflich explizites Denken zu thematisieren, die logische Erforschung unserer Gedanken. So heißt es in einer Fußnote der ,Anthropologie‘:158 „In der Psychologie erforschen wir uns selbst nach unseren Vorstellungen des inneren Sinnes; in der Logik aber nach dem, was das intellectuelle Bewußtsein an die Hand giebt.“159

Müssen wir die hier vorgenommene Unterscheidung so interpretieren, dass die Psychologie (a) nur sinnliche und erst die Logik intellektuelle Vorstellungen thematisiere, oder (b) so, dass die Psychologie durchaus jederlei Vorstellungen, aber nach ihrer Einordnung in die Zeitfolge gemäß der Form des inneren Sinnes und also als tatsächliche psychologische Vorkommnisse, zum Gegenstand mache? – Bevor wir zur Beantwortung dieser Frage den unmittelbar vorangehenden Text der Fußnote heranziehen, müssen wir zum besseren Verständnis an einen für unsere heutige Sprache ungewöhnlichen Gebrauch des Terminus ,Reflexion‘ erinnern, wonach „die Handlung (Spontaneität), wodurch ein Begriff (ein Gedanke) möglich wird, die Reflexion“ genannt wird (einen Wortgebrauch, der auf die logische Form jedes Begriffs als ,reflektierter Vorstellung‘ Bezug nimmt und demnach von dem gewöhnlichen Gebrauch des Terminus, der ganz allgemein die Thematisierung von Subjektivem meint, wohl zu unterscheiden ist).160 – Nun also der Fußnotentext bis zu der fraglichen Unterscheidung: „Wenn wir uns die innere Handlung (Spontaneität), wodurch ein Begriff (ein Gedanke) möglich wird, die Reflexion, die Empfänglichkeit (Receptivität), wodurch eine Wahrnehmung (perceptio), d. i. empirische Anschauung, möglich wird, die Apprehension, beide Acte aber mit Bewußtsein vorstellen, so kann das Bewußtsein seiner selbst (apperceptio) in das der Reflexion und das der Apprehension eingeteilt werden. Das erstere ist ein Bewußtsein des Verstandes, das zweite der innere Sinn; jenes die reine, dieses die empirische Apperception, da dann jene fälschlich der innere Sinn genannt wird. – In der Psychologie erforschen wir uns selbst nach unseren Vorstellungen des inneren Sinnes; in der Logik aber nach dem, was das intellectuelle Bewußtsein an die Hand giebt.“161

Die terminologischen Parallelen zwischen Wahrnehmung und Begriff, Apprehension und ,Reflexion‘, empirischer und reiner Apperzeption könnten die oben 157 Vgl. „Kritik der reinen Vernunft“, B 67; III 70, 4–6. – Wir werden uns mit dieser Bemerkung weiter unten (s. S. 245 f.) noch auseinanderzusetzen haben. 158 Vgl. AA VII 134, 14–29. 159 Ebda. Z. 21–23. 160 Vgl. AA VII 134, 14 f. und XI 91, 7–10. – Dieser Kantische Wortgebrauch muss auf dem Hintergrund der Begriffslehre in der Logik verstanden werden, wonach der ,logische Ursprung der Begriffe‘ in den Akten der ,Komparation‘, ,Reflexion‘ und ,Abstraktion‘ liegt; dabei ist Reflexion „die Überlegung, wie verschiedene Vorstellungen in Einem Bewußtsein begriffen sein können“ (vgl. AA IX 93, 28–34 u. 94, 21– 27). Dies ist die ,analytische Einheit des Bewusstseins‘, von der die Fußnote zur transzendentalen Deduktion, KrV B 134; III 109, 26 ff., spricht. 161 AA VII 134, 14–23.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

genannte Interpretation (a) nahelegen. Entspricht diesen terminologischen Parallelen eine parallele Struktur des einen und des anderen Selbstbewusstseins, so dass sich das empirische Selbstbewusstsein lediglich auf sinnliche, und nur das intellektuelle, das einige Seiten später auch ,diskursives‘ und ,logisches Bewusstsein‘ genannt wird162, auf begriffliche Vorstellungen bezöge? Wer so interpretieren würde, missverstünde schon den Kantischen Begriff des Bewusstseins, so als beinhalte er (wie der heutige alltagssprachliche und von der Phänomenologie beeinflusste Wortgebrauch) den Bezug auf ein ErkenntnisObjekt (das nur zufällig hier ein Subjekt wäre).163 Der Kantische Wortgebrauch lässt dies jedoch kaum zu. Wir können hier an unsere früheren Klarstellungen zum Begriff des Bewusstseins, der Differenz zwischen dem im 19. Jahrhundert aufgekommenen ,materialen‘ und dem Kantischen ,funktionalen‘ Begriff des Bewusstseins, anknüpfen.164 Der funktionale Begriff des Bewusstseins meint immer den reflexiven Rückbezug auf das Subjekt des jeweiligen Aktes und dessen Momente, die ,Vorstellungen‘. Bewusstsein ist ja in beiden von Kant genannten Fällen eine Funktion, die das Material zur thematischen Erforschung (Vergegenständlichung) des Subjektiven (in Psychologie und Logik) lediglich ,an die Hand gibt‘, es ist eben noch nicht dasjenige, was als solches diese Thematisierung leistet, nicht also das, was man heute zumeist ,Reflexion‘ nennt.165 162

Vgl. AA VII 141, 25–27 und 142, 20–24. In dieser phänomenologischen Redeweise wird der Ausdruck „Bewusstsein“ ganz analog zum Ausdruck „Vorstellung“ gebraucht, so dass die grundsätzliche Versicherung, Bewusstsein sei immer Bewusstsein von etwas, auch durch die Redeweise erläutert werden kann, die Wahrnehmung eines Hauses sei eine Art des Bewusstseins von einem Haus – für Kants Sprachgebrauch eine ganz ungewöhnliche Ausdrucksverbindung; ,Gegenstand‘ des Bewusstseins ist bei Kant außer dem vorstellenden Ich nicht das Haus, sondern die Vorstellung des Hauses, wobei die Beziehung der Vorstellung auf das Haus allererst durch die transzendentale Einheit des Bewusstseins möglich gemacht wird. 164 s. o. S. 33 ff. 165 Wenn Kant etwa in der „Widerlegung des Idealismus“ vom „unmittelbaren Bewußtsein des Daseins äußerer Dinge“ spricht (B 276, Fußnote; III 192,28), so ist klar, dass dies eine Nominalisierung des Verbalausdrucks ,ich bin mir bewusst, dass äußere Dinge da sind‘ darstellt, also von dem Bewusstsein eines Gedankens handelt. – Auch sonst mag dann in verkürzender Redeweise schon einmal davon die Rede sein, dass wir uns ,eines Gegenstandes bewusst‘ seien, wenn das Bewusstsein einer Vorstellung, einer Wahrnehmung o. dgl. von Gegenständen gemeint ist, wie das etwa in der Metaphysik Pölitz dokumentiert ist (wobei freilich offen bleiben muss, ob der Text der Mitschrift den exakten Wortlaut des von Kant Vorgetragenen wiedergibt); vgl. etwa AA XXVIII 201: „Wir können uns also des Gegenstandes nicht anders bewußt seyn, als durch das Exponiren des Gegenstandes.“; ebda. 226 f.: „Ich bin mir zweifacher Gegenstände bewußt: 1) meines Subjects und meines Zustandes; 2) der Dinge außer mir. – Meine Vorstellung wird entweder auf Gegenstände gerichtet, oder auf mich selbst. Im ersten Falle bin ich mir anderer Erkenntnisse bewußt; im zweiten Falle meines Subjects.“; ebda. 331: „indem sich Gott dieses Rathschlusses bewußt ist, so ist er sich auch aller Gegenstände bewusst“. Die zweite der hier zitierten Textstellen lässt erkennen, dass das ,Bewusstsein der Dinge außer mir‘ wohl eine Verkürzung der Rede von 163

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Bewusstsein im Kantischen Wortgebrauch ist noch keineswegs ein ,Sichselbst-zum-Objekt-Machen‘. Zwar impliziert es einen Rückbezug auf sich selbst, aber dieser ist im Falle des reinen Bewusstseins der Rückbezug auf ein Ich (der ,Reflexion‘ – im Kantischen, uns ungewohnten Sinne), das „kein Mannigfaltiges in sich“ enthält und in allen Urtheilen immer dasselbe“ ist, „weil es blos dies Förmliche des Bewußtseins“ enthält.166 Dieses reine Selbstbewusstsein ist also kein anderes als dasjenige, was die transzendentale Deduktion der Kategorien als ,transzendentale Apperzeption‘ herausgearbeitet hat. Es ist dasjenige Bewusstsein, das noch nicht einen Gegenstandbezug vergegenständlicht, sondern gerade in jedem Gegenstandsbezug enthalten ist und ihn möglich macht, indem es die in ihm verknüpften und (wie wir in der ,Anthropologie‘ belehrt werden) durch ,Reflexion‘ auf den Begriff gebrachten Vorstellungen als vom Objekt gültig auffasst. Das ,Bewusstsein der Reflexion‘ ist also kein Bewusstsein von einer Reflexion – welche Vorstellungen auf den Begriff von einem inneren Objekt brächte – (genitivus objectivus), sondern ein Rückbezug der Vorstellungen auf die geltungsfunktionale Autorität des Ich – näherhin: ein solcher, der im (reflektierten) Begreifen des primären Objekts enthalten ist, selbst ein reflektierter, d. i. begrifflicher Rückbezug, wodurch die Vorstellungen Geltungsfunktion erhalten. Das Thema ist dabei noch der Gegenstand, es sind noch nicht die Gedanken. – Erst der Logiker macht die Mannigfaltigkeit der vorher nur implizit als gültig bewussten Gedanken zum thematischen Gegenstand. Die Erforschung der Gedanken in der Logik hat nun zwar die Mannigfaltigkeit von Gedanken zu bearbeiten, aber eben nicht, insofern sie einer Mannigfaltigkeit von faktischen Zuständen des Ich in der Zeit zugrundeliegen, sondern insofern sie nach jenem reinen begrifflichen Bewusstsein der objektiven Gültigkeit von Vorstellungen, also logisch, in einem Bewusstsein zu vereinigen sind. Was mithin dieses Selbstbewusstsein dem Logiker ,an die Hand gibt‘, ist nicht bloß ein begriffliches ,Material‘ (die ,reflektierten‘ analytischen Einheiten), sondern zugleich und vor allem der in ihm (dem reinen Bewusstsein) liegende Geltungsanspruch der Urteils-Synthesis (der bloßen Form nach in der allgemeinen Logik, dem Gegenstandsbezug nach in der transzendentalen Logik zu bearbeiten) – all dies jedoch nicht als zu beobachtende tatsächliche Gegebenheit, sondern als nach dem Prinzip gültigen Denkens und Erkennens notwendige Struktur. Wenden wir uns nun dem ,empirischen Selbstbewusstsein‘, dem ,Selbstbewusstsein der Apprehension‘ zu, das an der schon herangezogenen späteren Stelle des Haupttextes auch als ,intuitives Bewusstsein‘ dem ,diskursiven‘ gegenübergestellt wird: Zunächst haben wir uns klarzumachen, dass auch dieses dem ,Bewusstsein der Erkenntnisse von Dingen außer mir‘ darstellt. – In den Schriften Kants wird man aber eine solche Ausdrucksweise vergebens suchen. 166 Vgl. AA VII 141, 27–30.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Selbstbewusstsein unmöglich ein Bewusstsein von der Apprehension (und dann nur von ihr) sein kann, weil eine solche Interpretation nicht erklären könnte, wieso die Disjunktion zwischen Bewusstsein der Apperzeption und Bewusstsein der Apprehension eine (wohl als vollständig gedachte) ,Einteilung‘ sein sollte und warum etwa unsere innere Erfahrung nicht wenigstens auch auf das Bewusstsein von bloßen Gefühlen, Phantasien und dergleichen sinnlichen Vorkommnissen zurückgreifen können sollte. Auch das ,Selbstbewusstsein der Apprehension‘ muß daher als ein in der Apprehension enthaltener Rückbezug auf das Subjekt zu verstehen sein. Nur hat dieser Rückbezug nicht die Funktion, den Vorstellungen die vom Ich verantwortete Geltungsfunktionalität zu verleihen, sondern sie als faktisch geschehend zu beobachten und daher dem Ich zu einem bestimmten Zeitpunkt zugehörige aufzufassen. Daher kann Kant in der zitierten Fußnote nun sagen: „Hier scheint uns nun das Ich doppelt zu sein (welches widersprechend wäre): 1) das Ich als Subject des Denkens (in der Logik), welches die reine Apperception bedeutet (das blos reflectirende Ich), und von welchem gar nichts weiter zu sagen, sondern das eine ganz einfache Vorstellung ist; 2) das Ich als das Object der Wahrnehmung, mithin des inneren Sinnes, was eine Mannigfaltigkeit von Bestimmungen enthält, die eine innere Erfahrung möglich machen.“167

Eine ganz analoge Einteilung der Begriffe findet sich in dem posthum von Rink 1804 herausgegebenen Manuskript Kants zur „Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik“168, wo in Anknüpfung an den Satz „Ich bin mir meiner selbst bewußt“ ein „zweifaches Ich“ unterschieden wird: „das Ich als Subject, und das Ich als Object“; das „Ich in der erstern Bedeutung“ wird „als Vorstellung a priori“ auch „Subject der Apperception“ und ,logisches Ich‘ und schließlich ,intellektuelles Ich‘ genannt, das „Ich in der zweyten Bedeutung“ wird als „Subject der Perception“, ,psychologisches Ich‘, ,empirisches Bewusstsein‘ und schließlich ,sinnliches Ich‘ bezeichnet. Auch hier ist es deutlich, dass die Ausdrücke ,Ich‘, ,Bewusstsein‘ und ,Subject‘ im zweiten Fall nicht davon ablenken dürfen, dass es sich da, grammatisch gesprochen, immer um das Genitiv-Objekt des Satzes „Ich bin mir meiner selbst bewusst“ handelt, jenes „Ich als Object“. Mithin ist das „Subject der Perception“ (das wir wohl mit dem Ich der Apprehension der ,Anthropologie‘ gleichsetzen dürfen) nicht etwa das perzipierende (das immer das transzendentale Subjekt der Apperzeption bleibt), sondern das perzipierte Ich; und es darf daher auch nicht etwa geschlossen werden, das „Subject der Perception“ enthalte nur perzeptive, sinnliche Vorstellungen. Vielmehr ,enthält‘ dieses ,Subjekt‘ alle Vorstellungen, sofern ich sie – und nur insofern ich dieses ,Subjekt‘ oder ,Ich‘, das eben die Totalität dieser Vorstellungen ist – perzipiere. So wird denn auch im weiteren Textverlauf ausdrücklich 167 168

AA VII 134. AA XX 253–332.

II. Die empirische Psychologie und die ,NATUR‘ des Geistes

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festgehalten: „Gedanken, als factische Bestimmungen des Vorstellungsvermögens, gehören auch mit zur empirischen Vorstellung unsers Zustandes“.169 Die Apprehension, um die es in dem Ausdruck ,Bewusstsein der Apprehension‘ geht, ist von vornherein die innere Apprehension: diejenige Wahrnehmung, welche schon die Zugehörigkeit von Vorstellungen (welcher Art auch immer) zu den ,Modifikationen meines Gemütes‘ (als desjenigen eines empirischen Ich) thematisiert und deren Anschauungsform allein die Zeit ist. In ihr liegt (wie wir der – o. S. 203 – zitierten Fußnote aus der Anthropologie-Vorlesung entnehmen können), als ,empirischer Apperzeption‘, der Rückbezug auf ein empirisches Ich, ein Substrat, welches durch die zeitlich geordneten Zustände bestimmt wird. Diese Deutung kann allerdings nicht völlig plausibel machen, dass ein solcher Rückbezug nichts anderes sei als der ,innere Sinn‘. Denn der innere Sinn selbst enthält, für sich genommen, ebenso wenig schon eine Beziehung der zeitlichen Mannigfaltigkeit auf ein personales Substrat, wie der äußere Sinn schon eine solche auf ein materielles Substrat enthält. – Dies ist wohl eine Schwierigkeit, die aus der Tatsache erwächst, dass Kant die in der zeitgenössischen Psychologie übliche Identifikation von Apperzeption und innerem Sinn zwar dadurch bekämpft, dass er scharf zwischen reiner und empirischer Apperzeption unterscheidet, dabei aber mitunter die Identifikation der letzteren mit dem inneren Sinn in Kauf nimmt, so dass sein sonst viel begrenzterer, allein durch die innere Rezeptivität und ihre anschauliche Form, die Zeit, definierter Begriff des inneren Sinnes durch ein Moment erweitert wird, welches die innere Apprehension eigentlich nicht der Rezeptivität, sondern der Spontaneität verdankt: dem kategorialen Begriff des Erfahrungsgegenstandes (insbesondere als eines Substrats inhärierender Bestimmtheiten), der hier auf einen speziellen Gegenstand, das empirische Ich170, angewandt wird. Die Identifikation wäre also nach unserer Auffassung nur eine solche ,cum grano salis‘, ein Zugeständnis Kants an den zeitgenössischen Wortgebrauch, das vor allem in der (von ihm nicht mehr selbst redigierten) ,Anthropologie‘ mit ihrer populären Zielsetzung nicht sehr erstaunlich wäre. Der innere Sinn nimmt alle Vorstellungen (aufgrund der Selbstaffektion durch das Denken) als Zustandsveränderungen in der Anschauungsform der Zeit in 169

Vgl. AA XX 270 f. Vgl. AA VII 142, 3–10, wo Kant noch einmal die Phänomenalität des erfahrenen Ich herausarbeitet, weist er darauf hin, dass das reine Ich natürlich mit dem empirischen Ich als identisch zu denken ist, wenn es auch nicht als solches erfahrbar ist. Genauer müssten wir ja von einem empirischen und einem transzendentalen Begriff des Ich sprechen, der im empirischen und im transzendentalen Selbst-Bewusstsein fungiere. – Wenn wir oben vom empirischen Ich als einem ,Substrat der Bestimmtheiten‘ sprechen, so ist damit natürlich nicht gesagt, dieses Ich sei ein letztes Substrat, mithin eine Substanz. 170

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

sich auf und bietet insofern (dieser anschaulichen Form nach) die Grundlage für die Erforschung des Subjekts in der Psychologie, deren Forschung, ja schon deren (das Subjekt eigens thematisierende) Wahrnehmung und Beobachtung freilich über den inneren Sinn hinaus des Kategoriengebrauchs, und das heißt auch: eines neuen Aktes des reinen Bewusstseins, bedarf.171 Was können wir nun daraus für unsere Ausgangsfrage nach dem ,Gegenstandsbereich‘ des Bewusstseins der Apprehension folgern? – Wenn der Ausdruck, wie wir dargelegt haben, im Sinne eines genitivus subjectivus zu verstehen ist, dann ist keineswegs ausgeschlossen, dass auch begriffliche Vorstellungen, genauer: die Erzeugung und der Gebrauch begrifflicher Vorstellungen als Modifikationen unseres Zustandes apprehendiert und mithin zum Gegenstand empirischer Forschung werden. Der Eindruck, Kant habe in dieser Fußnote die begrifflichen Vorstellungen der Logik vorbehalten wollen, das empirische Bewusstsein dagegen auf die Anschauungen beschränken wollen, kann nur entstehen, wenn aufgrund des Mißverständnisses jener Genitive die ,Einteilung‘ der Apperzeption selbst in einen begrifflichen und einen anschaulichen Selbstbezug nicht verstanden wird. Der zweite Absatz derselben Fußnote läßt denn auch keinen Zweifel darüber, dass der Mensch sich nicht nur der Veränderungen seiner äußeren Wahrnehmungen als „Veränderungen des Gemüths“ (empirisch) bewusst sein kann, sondern auch der Veränderungen „seines Gedächtnisses oder der von ihm angenommenen Grundsätze“.172 Wenn er sich aber sogar solcher grundsätzlicher, durch den Gebrauch von Begriffen charakterisierter, Veränderungen (seiner habituellen Bestimmtheiten) empirisch bewusst sein kann, so erst recht jener Veränderungen seines bloßen Zustandes, die etwa in der zeitlichen Aktualisierung eines einzigen Grundsatzes oder in einer aktuellen Erkenntnisleistung bestehen. c) Die Erfahrbarkeit des Denkens: empirische und transzendentale Selbstaffektion Dies macht Kant an einer anderen Stelle, an der es ihm ebenfalls in erster Linie um die Unterscheidung von reinem, transzendentalem Bewusstsein und ,empirischem Bewusstsein‘ geht, noch deutlicher: in einem kleinen Aufsatz für seinen ehemaligen Schüler Kiesewetter mit dem Titel: „Beantwortung der Frage, ist es eine Erfahrung, daß wir denken?“.173 171 Auch aus diesem Grunde bleibt der Ausdruck ,Bewusstsein‘ in den Synonymen für den inneren Sinn irreführend: Er lädt, gerade wenn wir vom ,empirischen Bewusstsein‘ sprechen, zur Verwechslung mit dem jeder Erfahrung, auch der inneren, zugrundeliegenden reinen Bewusstsein ein (dem ,Bewusstsein, eine Erfahrung anzustellen‘ – vgl. AA XVIII 319, 33; vgl. dazu unten S. 211 f.). 172 Vgl. AA VII 134, 30 f. 173 AA XVIII 318, 18–320, 8.

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Wer in dem Aufsätzchen eine einfache Antwort auf eine einfache Frage zu finden hofft, wird es mit dem Verständnis schwer haben. Die Frage erhält (a) eine doppelte Antwort, weil die Rede von dem ,Bewusstsein, dass wir denken‘ zweierlei bedeuten kann – je nach dem, ob wir von dem Subjektsbezug des in jedem Denken enthaltenen reinen Bewusstsein sprechen oder von dem dadurch allererst ermöglichten ,Bewusstsein der Bestimmung meines Zustandes in der Zeit durch das Denken‘. Darüber hinaus setzt Kants Auskunft (b) offenbar voraus, dass die Titelfrage schon syntaktisch nicht ganz eindeutig ist, insofern der ,dass‘-Satz ein nachgestellter Subjekt-Satz sein könnte (die Frage, ob unser Denken selbst eine Erfahrung sei), oder aber ein Objekt-Satz (die Frage, ob unser Denken Gegenstand einer Erfahrung sei). – Der Aufsatz hat nur vier Absätze (und eine mit dem Hauptgedanken lose verbundene ,Anmerkung‘174), ist aber einerseits so lehrreich wie andererseits in einigen Formulierungen doch so schwer zu verstehen, dass wir ihn hier Satz für Satz analysieren wollen. – Entscheidend für die Auflösung der Schwierigkeiten scheint uns die Erfassung der vier, durch die Absätze markierten, Gedanken-Schritte zu sein. Der erste Absatz definiert in der schon aus der ersten Auflage der ,transzendentalen Deduktion‘ bekannten Weise die Begriffe der Wahrnehmung, der empirischen Erkenntnis und der Erfahrung ganz allgemein: „Eine empirische Vorstellung, deren ich mir bewußt bin, ist Wahrnehmung; das, was ich zur Vorstellung der Einbildungskraft vermittels der Auffassung und Zusammenfassung (comprehensio aesthetica) des Mannigfaltigen der Wahrnehmung denke, ist die empirische Erkenntniß des Objects, und das Urtheil, welches eine empirische Erkenntniß ausdrückt, ist Erfahrung.“175

Ein wenig verwundern könnte hier lediglich die Differenzierung von empirischer Erkenntnis und Erfahrung durch die ,Ausdrücklichkeit‘ des Urteils; vermutlich ist damit aber nicht ein Verhältnis von Nichtsprachlichem und Sprachlichem gemeint, sondern ein Verhältnis von bloß implizit und explizit Gedachtem.176 Doch spielt diese Differenz bei der Beantwortung der Frage weiter keine Rolle. Die folgenden Absätze diskutieren nun auf der Grundlage der allgemeinen Erklärungen des ersten Absatzes verschiedene Fälle und Interpretationen der

174 Die Begriffe dieser für unseren gegenwärtigen Zusammenhang weniger wichtigen ,Anmerkung‘ werden wir erst später zu weiterführenden Fragen nutzen können. 175 AA XVIII 318, 20–25. 176 Man vergleiche Kants Einführung der Differenz von analytischen und synthetischen Urteilen in den ,Prolegomena‘, wonach die ersteren „zum Inhalte der Erkenntniß nichts hinzuthun“, aber etwas in ihr schon Wirkliches ,ausdrücklich‘ machen: „Wenn ich sage: alle Körper sind ausgedehnt, so habe ich meinen Begriff vom Körper nicht im mindesten erweitert, sondern ihn nur aufgelöset, indem die Ausdehnung von jenem Begriffe schon vor dem Urtheile, obgleich nicht ausdrücklich gesagt, dennoch wirklich gedacht war; das Urtheil ist also analytisch.“ (AA IV 266, 20–30).

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Titelfrage. Der zweite Absatz behandelt mathematisches, genauer: geometrisches Denken, und zwar so, als sei schlicht danach gefragt, ob dieses Denken selbst (und nicht irgend eine Art von Rückbezug darauf) Erfahrung sei (Interpretation des ,dass‘-Satzes als Subjekt-Satzes). Die Antwort ist negativ, soweit an die eigentlich mathematische Operation (,a priori‘) gedacht wird, und positiv mit Bezug auf die Erkenntnis einer in der Wirklichkeit gezeichneten Figur: „Wenn ich mir a priori ein Quadrat denke, so kann ich nicht sagen, dieser Gedanke sey Erfahrung, wohl aber kann dieses gesagt werden, wenn ich eine schon gezeichnete Figur in der Wahrnehmung auffasse, und die Zusammenfassung des Mannigfaltigen derselben vermittelst der Einbildungskraft unter dem Begriff eines Quadrats denke. In der Erfahrung und durch dieselbe werde ich vermittelst der Sinne belehrt; allein wenn ich ein Object der Sinne mir blos willkührlich denke, so werde ich von demselben nicht belehrt und hänge bei meiner Vorstellung in nichts vom Objecte ab, sondern bin gänzlich Urheber derselben.“177

Der nächste Absatz behandelt noch einmal (und zwar bis zum Ende des Absatzes) den eigentlich mathematischen Fall, nun aber, indem er den ,dass‘-Satz der Titelfrage als Objekt-Satz178 interpretiert, so dass in irgendeinem Sinne nach einem Bewusstsein von jenem mathematischen Gedanken (sei es der Akte oder der Gehalte, dies wird hier wohl nicht unterschieden) gefragt wäre. Die Antwort greift dabei auf die uns nun schon bekannte Unterscheidung zwischen reinem (transzendentalem) und empirischem Bewusstsein zurück und besteht deshalb auch aus zwei entgegengesetzten Auskünften: „Aber auch das Bewußtseyn, einen solchen Gedanken zu haben, ist keine Erfahrung; eben darum, weil der Gedanke keine Erfahrung, Bewußtseyn aber an sich nichts Empirisches ist. Gleichwohl aber bringt dieser Gedanke einen Gegenstand der Erfahrung hervor oder eine Bestimmung des Gemüths, die beobachtet werden kann, sofern es nämlich durch das Denkungsvermögen afficirt wird; ich kann daher sagen, ich habe erfahren, was dazu gehört, um eine Figur von vier gleichen Seiten und rechten Winkeln so in Gedanken zu fassen, daß ich davon die Eigenschaften demonstriren kann. Dies ist das empirische Bewußtseyn der Bestimmung meines Zustandes in der Zeit durch das Denken; das Denken selbst, ob es gleich auch in der Zeit geschieht, nimmt auf die Zeit gar nicht Rücksicht, wenn die Eigenschaften einer Figur gedacht werden sollen. Aber Erfahrung ist, ohne Zeitbestimmung damit zu verbinden, unmöglich, weil ich dabei passiv bin und mich nach der formalen Bedingung des innern Sinnes afficirt fühle.“179

Wenn Kant am Schluß des Absatzes (nach dem Semikolon) noch einmal auf das (geometrische) „Denken selbst“ zurückkommt, so sieht man, dass sein Interesse wohl viel stärker dem nicht-empirischen Denken (und, wie sich noch beim nächsten Absatz zeigen wird, dem reinen Bewusstsein) gehört. – Dennoch müs177

AA XVIII 318, 26–319, 8. Dies allerdings nur beinahe bis zum Ende des Absatzes, wo ab dem Semikolon noch einmal vom ,Denken selbst‘ als vermeintlicher Erfahrung die Rede ist. 179 AA XVIII 319, 9–23. 178

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sen wir festhalten, dass Kant die Frage, ob wir von unserem einmal geschehenen Denken, auch wenn es reines Denken ist, eine Erfahrung haben können, bejaht, und zwar ohne zu zögern.180 Für uns von Interesse ist jedoch auch die nähere Darstellung dieser Erfahrung, insofern sie das ,empirische Bewusstsein‘ nicht mehr (vereinfachend) mit dem inneren Sinn gleichsetzt: Die „Bestimmung des Gemüths . . ., sofern es . . . durch das Denkungsvermögen afficirt wird“, ist eine Bestimmung des inneren Sinnes (als der inneren Rezeptivität des Gemüts) und als solche ein „Gegenstand der Erfahrung“; aber weder das bloße Affiziertwerden noch gar der innere Sinn (als die Fähigkeit dazu) ist schon empirisches Bewusstseins, erst dies, dass ich „sagen [kann], ich habe erfahren, was dazu gehört . . .“, „ist das empirische Bewußtseyn der Bestimmung meines Zustandes in der Zeit durch das Denken“. Empirisches Bewusstsein ist nicht der innere Sinn, sondern beruht auf ihm; darin, in dieser Fundiertheit durch den inneren Sinn liegt sein erster und von Kant eigentlich gemeinter Unterschied zum reinen Bewusstsein.181 – Ein weiteres Ergebnis verdient festgehalten zu werden: Wenn Kant hier von einer beobachtbaren „Bestimmung des Gemüts . . ., sofern es durch das Denkungsvermögen affiziert wird“, spricht, so können wir sicherlich von einer ,Selbstaffektion‘ sprechen, aber diese, wie wir sagen wollen, ,empirische Selbstaffektion‘ ist nicht dieselbe wie diejenige transzendentale Selbstaffektion, durch welche sich das Denken zur zeitlichen Schematisierung der Kategorien (ganz prinzipiell und in der jeweiligen Kategorien-Anwendung) bestimmt und von der in der ,transzendentalen Deduktion‘ und andeutungsweise schon im § 8 der ,transzendentalen Ästhetik‘ die Rede ist182 und auf die wir im Zusammenhang mit dem folgenden Absatz zurückkommen müssen. Denn solche Schematisierung findet in dem hier betrachteten Fall des geometrischen Denkens ja allenfalls in einer sehr reduzierten, auf die Kategorien der Quantität begrenzten, Form statt.183 – Das schließt freilich nicht aus, dass auch der empirischen Selbstaffektion eine transzendentale zugrundeliegt. Der Gedankenschritt des vierten Absatzes bleibt noch bei der Interpretation des ,dass‘-Satzes der Titelfrage als eines Objektsatzes, nun aber angewandt auf den Fall des empirischen Denkens, dessen ,Ausdruck‘ in Form eines Urteils ja 180 Vgl. dagegen die Interpretation dieses Textes von Georg Mohr, Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewußtsein bei Kant, Würzburg 1991, S. 164 Fußnote 13: „Im Kiesewetter-Aufsatz . . . fällt die Antwort, allerdings umständlich und zögernd, negativ aus. Andere zahlreiche Erläuterungen Kants jedoch machen eine bejahende Antwort praktisch zwingend.“ 181 Wir werden sogleich noch einen zweiten Gesichtspunkt herausarbeiten, der auf einer positiven Beziehung zwischen beiden Bewusstseinsbegriffen beruhen wird. 182 Vgl. KrV B 152 ff.; III 120, 22–122, 32 und B 67 ff.; III 70, 11–71, 2 (III 120, 23 wird irrtümlich auf § 6 statt auf § 8 verwiesen). 183 Auch dies stellt der zweitletzte Satz unseres Absatzes ja ausdrücklich fest: „. . . das Denken selbst, ob es gleich auch in der Zeit geschieht, nimmt auf die Zeit gar nicht Rücksicht, wenn die Eigenschaften einer Figur gedacht werden sollen“ (AA XVIII 319, 18–20).

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nach dem ersten Absatz ,Erfahrung‘ heißt: Nachdem der vorangehende Absatz gezeigt hat, dass ,das Bewusstsein, einen rein-geometrischen Gedanken zu haben‘, keine Erfahrung ist, soll nun gezeigt werden, dass (jederlei) Erfahrung in sich immer auch ein reines Bewusstsein enthält, das ebensowenig eine Erfahrung ist: eben jenes in der ,transzendentalen Deduktion‘ dargestellte ,transzendentale Bewusstsein‘, welches Erfahrung ermöglicht und zu diesem Zwecke den im urteilenden Denken benutzten Kategorien durch transzendentale Zeitbestimmungen Sinn und Bedeutung gibt. Leicht verwirren könnte den Leser nur, dass von diesem nicht-empirischen Bewusstsein (das also nicht Erfahrung ist) als „Bewußtseyn, wenn ich eine Erfahrung anstelle“ oder auch als „Bewußtseyn . . ., eine Erfahrung anzustellen“ gesprochen wird. – Dass gewiß auch jeder Erfahrungsgedanke, wenn schon jeder mathematische Gedanke dies tut, wiederum einen möglichen ,Gegenstand der inneren Erfahrung hervorbringt‘ und also ein empirisches Bewusstsein davon veranlassen kann, versteht sich von selbst und wird eben deshalb nicht mehr eigens thematisiert; man würde sich daher das Verständnis des Absatzes verbauen, wenn man darin nach einer erneuten Stellungnahme zu diesem Problem suchte. Verzwickterweise sind nun aber auch die transzendentalen Zeitbestimmungen der Erfahrungsgegenstände nur in einer jeweils bestimmten Korrelation zur ,Vorstellung meines Daseins, sofern es empirisch, d. h. in der Zeit, bestimmt ist‘, zu denken, weil es ja Erscheinungen, also meine Vorstellungen sind, die da auf ein Objekt bezogen werden sollen. Das heißt nichts anderes, als dass der Gebrauch der transzendentalen Zeitbestimmungen eine ganz besondere, transzendentale Affektion unseres inneren Sinnes impliziert (eine Affektion, die „unter der Benennung einer transscendentalen Synthesis der Einbildungskraft“ steht184 und die von der im vorangehenden Textabsatz erwähnten empirischen Selbstaffektion durch das bloße Faktum irgendeines, auch etwa eines mathematischen oder logiktheoretischen, Denkens noch zu unterscheiden ist – sei die transzendentale Selbstaffektion nun als ein eigener ,Akt‘ oder als eine bloße Modifizierung der jederzeit stattfindenden, empirischen Selbstaffektion zu denken). – Nach diesen Vorklärungen sind wir nun leichter imstande, den vierten Absatz zu verstehen, worin es hauptsächlich um das Verhältnis des reinen, transzendentalen, Zeit konstituierenden Bewusstseins zu seinem ,Objekt‘, dem empirischen, konstituierten Zeitverlauf, geht: „Das Bewußtseyn, wenn ich eine Erfahrung anstelle, ist Vorstellung meines Daseyns, sofern es empirisch bestimmt ist, d. h. in der Zeit. Wäre nun dieses Bewußtseyn wiederum selbst empirisch, so würde dieselbe Zeitbestimmung wiederum, als unter den Bedingungen der Zeitbestimmung meines Zustandes enthalten, müssen vorgestellt werden. Es müßte also noch eine andere Zeit gedacht werden, unter der (nicht in der) die Zeit, welche die formale Bedingung meiner innern Erfahrung aus184 Vgl. den § 24 der transzendentalen Deduktion in der 2. Auflage, insbes. B 153 f.; III 121, 9–12.

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macht, enthalten wäre. Also gäbe es eine Zeit, in welcher und mit welcher zugleich eine gegebene Zeit verflösse, welches ungereimt ist. Das Bewußtseyn aber, eine Erfahrung anzustellen, oder auch überhaupt zu denken, ist ein transscendentales Bewußtseyn, nicht Erfahrung.“185

Das hier vorgetragene Argument beruht auf einer reductio ad absurdum: Das transzendentale, die Zeit als ,formale Anschauung‘ erzeugende Bewusstsein ist in Bezug auf mich selbst nur ,Vorstellung‘ meines – absolut gegenwärtigen186 – Daseins, nicht meiner mannigfaltigen Zustände187, vielmehr werden durch transzendentale Selbstaffektion die mannigfaltigen Zustände des Objekts zu ihm als ,Bestimmungen‘ in Beziehung gesetzt. Wenn wir nun dieses erfahrungsermöglichende Bewusstsein als ein sich selbst schon erfahrendes Bewusstsein auffassen würden, so müssten wir voraussetzen, dass dasjenige, was es allererst zu leisten hat, die ursprüngliche zeitliche ,Lokalisierung‘ von Gegebenheiten, schon vor und unabhängig von dieser Leistung geschehen wäre, nämlich als Zeitbestimmung meines eigenen Zustandes.188 Die Beziehung der Objekt-Vorstellungen auf mein jetziges Dasein (welche selbst nicht eine zeitliche Relation zwischen Objektzuständen, sondern ein im Jetzt-Zeitpunkt denkend hervorgebrachter, also gedanklicher Bezug auf andere Zeitpunkte ist) würde also als eine zeitliche Beziehung zwischen meinen Zuständen aufgefasst, was die Regreßfrage herausfordern müsste, durch welche (transzendentale) Beziehungsstiftung denn diese (fälschlich unterstellten) Zeitbeziehungen als zeitdifferent konstituiert würden. Die objektiv gegebene (konstituierte) Zeit müßte in einer subjektiv gegebenen, konstituierten Zeit verfließen – eine Verdopplung nicht nur der Zeit, sondern auch der Zeitkonstitution – und dies regressiv ad infinitum.189 185

Vgl. XVIII 318, 36–319, 1; 319, 9–11 und 32–35. Als dieser Zeit-Bezugspunkt muß mein Dasein durchaus gedacht werden, wenn denn einerseits auch das Denken „in der Zeit geschieht“ (wie Kant im vorangehenden Absatz festgestellt hat), andererseits durch Bezugnahme auf diesen Bezugspunkt die Zeitstruktur der Objekte gedacht werden können soll. 187 Vgl. den § 25 der transzendentalen Deduktion, B 157 f.; III 123 f., insbes. 123, 2–5: „Dagegen bin ich mir meiner selbst in der transscendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperception bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin.“ – ,Dasein‘ bedeutet ja nichts anderes als den ,Gegenstand‘ des nominalisierten Satzes, ,dass x ist‘. 188 „Habe ich nun nicht noch eine andere Selbstanschauung, die das Bestimmende in mir, dessen Spontaneität ich mir bewußt bin, ebenso vor dem Actus des Bestimmens giebt, wie die Zeit das Bestimmbare, so kann ich mein Dasein als eines selbstthätigen Wesens nicht bestimmen . . .“ heißt es in der Fußnote zum § 25 der transzendentalen Deduktion (B 158; III 123, 32–35). Dort soll also zum Erweis des Erscheinungscharakters des erkennbaren Ich der Ansatz einer intellektuellen (nichtzeitlichen) Anschauung ad absurdum geführt werden, hier der Ansatz einer ,zweiten‘ Zeitanschauung. 189 Natürlich ist dann zu klären, wie denn die Zeit der eigenen Innerlichkeit konstituiert wird. Der ,Widerlegung des Idealismus‘ können wir entnehmen: nur unter Rückbezug auf eine schon konstituierte objektive Zeit ist dies möglich, weil für die (zur Erfahrung notwendige) objektive Bestimmung der Zeitverhältnisse die Vorstellung ma186

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Auch der Kiesewetter-Aufsatz zeigt, dass Kants Hauptinteresse immer wieder der reinlichen Scheidung zwischen transzendentalem und empirischem Bewusstsein gilt, weniger der näheren Explikation des empirischen Bewusstseins und einer darauf aufzubauenden Selbsterfahrung. Gleichwohl können wir festhalten, dass Kant zweifellos ein empirisches Bewusstsein auch begrifflich bestimmter Prozesse ansetzt und dass wir um seiner Denkbarkeit willen zwischen einer transzendentalen und einer empirischen Selbstaffektion zu unterscheiden haben. Das Denken bringt einen spezifischen ,Gegenstand der Erfahrung‘ hervor, dergestalt, dass wir beobachten und erfahren können, ,was zu einer solchen Tätigkeit des Denkens gehört‘. Es blieb lediglich bisher weitgehend unbestimmt, wie eine darauf gegründete Erfahrung des näheren zu denken sei. Kant sagt uns nicht, welche Art oder welche Arten von beobachtbaren Daten uns da eigentlich gegeben sind. Dass es sich jedoch keinesfalls etwa nur um die räumlichen Imaginationen handelt, geht daraus hervor, dass Kant nicht von der bloßen (anschaulichen) Konstruktion, sondern von der Demonstration, also dem auf die anschauliche Konstruktion bezogenen Beweis der Eigenschaften des Quadrats190, spricht. Wir könnten beim abschließenden „. . ., was zu beweisen war“ nicht wissen, dass wir überhaupt etwas bewiesen haben, erst recht nicht, was wir durch welche Beweisschritte bewiesen haben, wenn wir bloß die vage Wahrnehmung einer verflossenen Zeit hätten. Erstaunlicher Weise ,wissen‘ wir das aber; und dieses nachträgliche ,Wissen‘ ist noch etwas anderes als die vorangehende aktuelle Einsicht in die einzelnen Beweisschritte. Was immer dafür, außer der jeweiligen Einsicht, verantwortlich sein mag, die aktuellen Einsichten müssen etwas in unserem ,Gemüte‘ erzeugt haben, was in gewisser Weise geblieben ist, was darüber hinaus nicht nur in einem ,retentionszeitlichen‘ (und ,mit der Zeit‘ verblassenden) Verhältnis geblieben ist, sondern als in anderen als zeitlichen Verhältnissen stehend geblieben ist. So gewiss nun im Falle des geometrischen Beweises auch Figuren in einem imaginativen geometrischen Raum erzeugt worden sind, so sind doch keineswegs – so wenig diese Figuren schon ein Beweis sind – die betreffenden Imaginationsakte, in denen diese Figuren erzeugt werden, schon Beweisschritte. Beweisschritte können sich ja auch auf ganz andere (und evtl. unanschauliche) Gegenstände beziehen (etwa auf ein Rechtsproblem, das nur in vermittelter Weise auf Anschauliches, eine ,Welt‘ von Menschen, äußeren Handlungen und Dingen, bezogen ist). Die Abfolge der aktuellen Einsichten muss in uns etwas erzeugt haben, das Begriffe und begriffliche Verhältterieller Bewegung vorausgesetzt werden muß (vgl. B 276; III 192). – Das schließt die Konstitution eines ,inneren Zeitbewusstseins‘ als Fundament der objektiven Zeit, wie dies Husserl vorschwebte (und wie er es sich nur durch die abstraktive Imagination akustischer Phänomene, die noch nicht zeitlich bestimmt werden müssen, zurechtlegen konnte), definitiv aus. 190 Zum Begriff der Demonstration vgl. B 762 f.; III 481, 15–482, 2.

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nisse enthält und uns als solches verfügbar geblieben ist, so dass wir es jederzeit wieder aufgreifen können und etwa zu jemandem sagen können: ,wir hatten doch zunächst bewiesen, dass . . ., und dann unter der Voraussetzung x geschlossen, dass . . .‘. Wohl gemerkt: es geht hier nicht etwa (und schon gar nicht allein) darum, dass wir den Beweis ,beherrschen‘ und also wieder führen können, sondern dass wir empirisch wissen, dass wir die Schritte eben faktisch vollzogen haben. Im Vorgriff auf spätere notwendige Differenzierungen fügen wir hinzu, dass es hier auch nicht darauf ankommt, ob wir den Beweis einsichtig vollziehen oder nur seine Schritte (die etwa ein anderer vorträgt) mit einigem Verständnis erwägen; wir mögen also vielleicht keinerlei bleibende Überzeugung gewinnen (etwa weil der Beweisversuch gerade misslingt) – gleichwohl ,wissen‘ wir, was wir (mehr oder weniger einsichtsvoll) gedacht haben. Was aber hat der Vollzug der Beweisschritte in uns erzeugt, dass wir von ihnen wissen können? d) Denken als Reden mit sich selbst: Die Selbstobjektivation des Denkens durch die Sprache und das Verstehen Eine erste Antwort auf diese Frage liegt für Kant näher als gewisse Vorurteile über eine vermeintlich vorsprachlich konzipierte ,Bewusstseinsphilosophie‘ Kants191 vermuten lassen: „Denken ist Reden mit sich selbst“ heißt es in Kants Anthropologie. Wenn aber schon der Vollzug des Denkens sprachliche Artikulation impliziert, dann, so ist zu vermuten, ist erst recht das empirische Bewusstsein dessen, was wir gedacht haben, durch die sprachliche Bezeichnung der Gedanken vermittelt. Der Text-Zusammenhang des zitierten Satzes bestätigt diese Vermutung: 191 Vgl. dazu den Hinweis von Reinhard Brandt, der (in „Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft A 67–76; B 92–201“, Hamburg 1991, S. 42) von der „nicht bezweifelten Prämisse, daß alles Denken Sprechen ist“ ausgeht und in einer Fußnote anmerkt: „Die sprachorientierte Transzendentalpragmatik hat Kants sprachorientierte Position nicht zur Kenntnis genommen; vgl. die unzutreffende Kritik von Apel [KarlOtto, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt] 1988, 97, an der transzendentalen Synthesis der Apperzeption als einem vorsprachlichen Postulat der Erkenntnistheorie.“ – Mit Brandt können wir auf eine ganze Reihe von Stellen, in denen diese sprachphilosophische Prämisse Kants deutlich wird, verweisen: neben der oben analysierten Anthropologie-Stelle vgl. auch in derselben Schrift die Rede von „der Natur des Denkens, als eines Sprechens zu und von sich selbst“ (VII 167) oder die Anmerkung in der Streitschrift gegen Eberhard, in der Kant seinen (modallogisch begründeten) Gebrauch der Ausdrücke ,Urteil‘ und ,Satz‘ erläutert, wonach der Satz ein assertorisches Urteil ist, und die zeitgenössische Mode, „einen Satz durch ein mit Worten ausgedrücktes Urtheil [zu] definiren“, mit dem Hinweis ad absurdum führt: „. . . denn wir müssen uns auch zu Urtheilen, die wir nicht für Sätze ausgeben, in Gedanken der Worte bedienen“ (VIII 194); derselbe Gedanke lautet in der Fomulierung der Logik-Wien: „Wenn aber die Logici sagen: ein Urtheil ist ein Satz in Worte eingekleidet: so heißt das nichts, und diese definition taugt gar nichts. Denn wie werden sie Urtheile denken können ohne Wörter?“ (XXIV 934).

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

„Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken, und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, dieses größte Mittel, sich selbst und andere zu verstehen. Denken ist Reden mit sich selbst (die Indianer auf Otaheite [Tahiti – B.G.] nennen das Denken: die Sprache im Bauch), folglich sich auch innerlich (durch reproductive Einbildungskraft) Hören.“192

Das Entscheidende für uns ist zunächst der Hinweis auf die Art, wie Phänomene der denkenden NATUR – „Gedanken“ heißen sie hier – als solche rezipiert werden: nicht einfach durch den inneren Sinn (so unentbehrlich er sein mag), sondern durch ein Verstehen; des weiteren die Feststellung, dass sich selbst zu verstehen impliziert, dass das Denken die Gedanken „bezeichnet“ hat, so dass sie identifizierbar sind. Das ,Sich-selbst-Verstehen‘ wird mit dem Verstehen anderer parallelisiert. Freilich geht daraus auch hervor, dass das Denken selbst und die Bezeichnung der Gedanken unterschieden sind, die Bezeichnung durch Sprache ist nur das vorzüglichste Mittel der Gedankenbezeichnung und „das größte Mittel, sich selbst und andere zu verstehen“. Bezeichnung der Gedanken durch Sprache – aber vielleicht nicht nur durch Sprache (im gewöhnlichen, engeren Sinne) – ist, so könnten wir nun vermuten, diejenige (oder zumindest eine) „Affektion des Gemütes durch das Denken“, welche jenes „empirische Bewußtseyn der Bestimmung meines Zustandes in der Zeit durch das Denken“ ermöglicht – in der Weise, dass wir nachher auch „wissen“ können, was wir gedacht haben. Diese Affektion des Gemüts ist eine innere Objektivation.193 Nennen wir diese Selbstaffektion, um sie von der generellen und transzendentalen Selbstaffektion zu unterscheiden, Selbstobjektivation des Denkens, und speziell in den Fällen, die wir zunächst ins Auge fassen, die semiotische Selbstobjektivation. Sie ist dasjenige, was Kant halb metaphorisch „Reden mit sich selbst“ nennt. Aber, so müssen wir gleich hinzusetzen: Reden ist das eine, das andere ist das „Sich-selbst-Hören“, wozu über die pure Rezeptivität hinaus schon reproduktive Einbildungskraft (Husserl würde sagen: „Retention“) gehört. Dieses „Hören“ wäre freilich als Reproduktion oder (in der differenzierteren Husserlschen Terminologie) besser: Retention der bloßen Bezeichnung immer noch keine Rezeption von Gedanken, von Phänomenen der denkenden NATUR, erst das Verstehen der Bezeichnung rezipiert den zuvor gedachten Gedanken. Hier kann uns noch einmal mit zusätzlichen Gründen deutlich werden, wie sehr wir auch uns selbst nur erkennen können, wie wir uns erscheinen, nicht wie wir ,an uns selbst‘ sind: Nur durch die Rezeption einer inneren Objektivation, vor allem durch das Verstehen der semiotischen Selbst192

AA VII 192, 29–34. Dabei soll der Ausdruck „Objektivation“ nicht bedeuten, dass wir etwas zum Objekt (der Erkenntnis, des Wissens) machen, sondern dass wir in einem bestimmten Sinne ein Objekt produzieren. – Zu den Begriffen der inneren und äußeren Objektivation vgl. Hariolf Oberer, Vom Problem des objektivierten Geistes. Ein Beitrag zur Theorie der konkreten Subjektivität im Ausgang von Nicolai Hartmann, Köln 1965 (Kantstud. Ergänzungsh. Bd. 90), insbes. S. 152 f. 193

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objektivation können wir unsere eigenen Gedanken zu einem Gegenstand der Erfahrung machen. Wir erinnern beim Begriff des Verstehens noch einmal an die Klärungen der früheren Kapitel: das Verstehen rezipiert diesen Gedanken, es subsumiert nicht etwa die Bezeichnung oder gar den Gedanken selbst unter neue Begriffe (etwa den Begriff des Zeichens, des Satzes, der Behauptung, des Beweises u. dgl.). Rezeption und Rezipiertes haben dieselbe Struktur, besser: das gedankliche Resultat der Rezeption hat dieselbe Struktur wie das zu rezipierende gedankliche Produkt. e) Die Struktur des zu Verstehenden, der bezeichneten Gedanken Aber nun müssen wir nochmals fragen: welche Struktur ist dies? Wenn es um das Rezipieren der Gedanken geht, kann es ja nicht die Struktur der Bezeichnungen selbst sein, nicht die der physischen Zeichen, nicht die ihrer anschaulichen Imaginationen, insofern also keine anschauliche Struktur. Es muss die Struktur der Bedeutung dieser Zeichen sein, welche auf der elementaren Ebene aus Begriffen besteht.194 Zur Klärung des Begriffs des Begriffs und der Strukturen, in denen Begriffe stehen, können wir vermutlich mit Gewinn auf die „Kritik der reinen Vernunft“ zurückgreifen. Aber wir müssen uns dabei einerseits der Tatsache bewusst bleiben, dass wir hier, anders als in dem Theoriezusammenhang der „Kritik der reinen Vernunft“, nicht nach der Geltungsfunktion von Begriffen in einer Erkenntnis fragen, sondern nach ihrer Funktion und Struktur in faktisch stattfindenden Denkprozessen, seien diese nun gültig oder ungültig, seien sie theoretischer oder praktischer oder auch ästhetisch-emotionaler Natur. Andererseits soll es uns gerade nicht um dasjenige gehen, was die Begriffe selbst sozusagen von Haus aus (in unserem transzendentalen Bewusstsein) sind, sondern darum, wie sie ,erscheinen‘, d.h. wie sie in unserem empirischen Bewusstsein sich ,bemerkbar‘ machen. Der Blick in die „Kritik der reinen Vernunft“ kann daher für unser Vorhaben nur ein Umweg sein. Versuchen wir also, der „Kritik der reinen Vernunft“ einiges über die Struktur von Begriffen zu entnehmen. Wir stehen mit unseren Überlegungen gerade auch an dem Punkt, an dem die „Analytik der Begriffe“ bei der Erklärung des „logischen Verstandesgebrauchs überhaupt“ einsetzt: Wir haben das Begriffsvermö194 Es ist selbstverständlich und muss uns hier nicht beunruhigen, dass das gewöhnliche Verstehen, wie der gewöhnliche Wortgebrauch überhaupt, häufig mit sehr unvollkommen bestimmten Begriffen operiert; daher bedarf etwa die Kommunikation des öfteren der Nachfrage und der Präzisierung – d. h. sie sucht den Begriff, wo nur ein Feld von Begriffen angedeutet war. Aber auch ein Feld kann man umgrenzen, etwa durch Ausschließung dessen, was nicht dazugehört.

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gen, den Verstand, bisher „bloß negativ erklärt“, und zwar als ein nicht-anschauliches Vermögen. Kant spricht zunächst vom ,nicht-sinnlichen Vermögen‘, was für uns Menschen aber jede Anschaulichkeit (unmittelbare Repräsentation eines Gegenstands als einzelnen und ganzen) ausschließt.195 Der menschliche Verstand ist (anders als der intuitive, schöpferische Verstand Gottes) auf das sinnlich gegebene Material angewiesen, wiewohl auch er, als Begriffsvermögen (wie man schon der Wortherkunft vom Verbum ,begreifen‘ entnehmen könnte), als ein handelndes, selbsttätiges (statt Einflüsse hinnehmendes) Vermögen definiert ist.196 Kant benutzt zur näheren Charakterisierung dieser Selbsttätigkeit den Begriff der Funktion: „Alle Anschauungen als sinnlich beruhen auf Affectionen, die Begriffe also auf Functionen. Ich verstehe aber unter Function die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen. Begriffe gründen sich also auf der Spontaneität des Denkens, wie sinnliche Anschauungen auf der Receptivität der Eindrücke.“197

Die Funktion der Begriffe besteht also in einer Einheit stiftenden Tätigkeit gegenüber dem vorgegebenen (zumindest letztlich sinnlichen) Material. – Wenn wir uns fragen, wie denn diese Tätigkeit in concreto vonstatten gehe, liegt der Gedanke nahe, auf die oben (S. 203, Fußnote) schon erwähnte (traditionelle und auch von Kant übernommene) Lehre von der Begriffs-Bildung zurückzugreifen: die Lehre von der Komparation, Reflexion und Abstraktion.198 Allerdings erscheint es sogleich wenig plausibel, dass wir bei der Benutzung etwa des Begriffs eines Tieres in dem Urteil, dass Tiere in der Wüste wenig Nahrung fänden, uns mit der Vergleichung zwischen allerlei einzelnen Tieren oder Tierarten, der Reflexion auf ihre gemeinsamen Merkmale und der Abstraktion von ihren Unterschieden abgäben (sei es auch nur ,unbewusst‘ – was immer das dann heißen möchte). Der Gebrauch der Begriffe ist offenbar etwas anderes als die Begriffsbildung. Im Gebrauch der Begriffe geht es nicht um die Einheit des Begriffs selbst, sondern um eine Einheit, die mithilfe der Begriffe erzeugt wird:

195

Vgl. B 92 f.; III 85. Vgl. B 92; III 85. – Wir betonen im Folgenden nicht jeweils erneut, dass es uns immer um jederlei Verstandesgebrauch, nicht nur den im Erkennen, geht, so dass wir etwa dort, wo vom Urteil die Rede ist, immer auch an praktische Sätze denken müssen. 197 B 93; AA III 85. 198 Jäsche-Logik, AA IX 94: „Die logischen Verstandes-Actus, wodurch Begriffe ihrer Form nach erzeugt werden, sind: 1. die Comparation, d.i. die Vergleichung der Vorstellungen unter einander im Verhältnisse zur Einheit des Bewußtseins; 2. die Reflexion, d.i. die Überlegung, wie verschiedene Vorstellungen in Einem Bewußtsein begriffen sein können; und endlich 3. Die Abstraction oder die Absonderung alles Übrigen, worin die gegebenen Vorstellungen sich unterscheiden.“ 196

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„Von diesen Begriffen kann nun der Verstand keinen andern Gebrauch machen, als daß er dadurch urtheilt. Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht, als bloß die Anschauung, so wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittelbar, sondern auf irgend eine andre Vorstellung von demselben (sie sei Anschauung oder selbst schon Begriff) bezogen.“199

Der Gebrauch von Begriffen hat Urteilsstruktur und darin werden Begriffe auf anschauliche oder selbst schon begriffliche Vorstellungen und durch sie auf Gegenstände bezogen. Die Gegenstandsbezogenheit der Begriffe, Intentionalität, ist also immer eine mittelbare. – Die erste Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ erläutert die beiden Seiten der Begriffs-Funktion durch den Begriff der Regel und den der synthetischen Einheit: „Alles Erkenntniß erfordert einen Begriff, dieser mag nun so unvollkommen oder so dunkel sein, wie er wolle; dieser aber ist seiner Form nach jederzeit etwas Allgemeines, und was zur Regel dient. So dient der Begriff vom Körper nach der Einheit des Mannigfaltigen, welches durch ihn gedacht wird, unserer Erkenntniß äußerer Erscheinungen zur Regel. Eine Regel der Anschauungen kann er aber nur dadurch sein, daß er bei gegebenen Erscheinungen die nothwendige Reproduction des Mannigfaltigen derselben, mithin die synthetische Einheit in ihrem Bewußtsein vorstellt. So macht der Begriff des Körpers bei der Wahrnehmung von Etwas außer uns die Vorstellung der Ausdehnung und mit ihr die der Undurchdringlichkeit, der Gestalt etc. nothwendig.“200

Zur Regel kann der Begriff mithin deshalb dienen, weil er nicht eine für sich bestehende absolute Einheit ist, sondern bestimmte ,Forderungen‘ an die Gegebenheit des Gegenstandes, auf den er im Urteil anwendbar sein soll, stellt. Diese Forderungen sind einerseits selbst wiederum Begriffe (Teilbegriffe, Merkmale, im einfachsten Fall also die Definitionsstücke des Begriffs). Andererseits sind sie eben Forderungen an etwas anderes, als sie selbst sind, im Falle der empirischen Gegenstände (in Kants Terminologie: Erscheinungen) Forderungen (letztlich) an die anschauliche Gegebenheit der Gegenstände, auf die sie im Urteil bezogen werden. Weil jeder Begriff als eine allgemeine Regel aber nur Momente fordert, die der Gegenstand mit anderen gemein hat, enthält nun aber die anschauliche Gegebenheit mehr als diejenigen Momente, welche die Forderungen des jeweiligen Begriffs ,erfüllen‘. Die Begriffe stehen daher nicht nur zu ihren inneren Merkmalen, den Teilbegriffen, in Beziehung, sondern zugleich in notwendigen Beziehungen zu Begriffen anderer Gegenstandsmomente. In der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ macht Kant den funktionalen Zusammenhang zwischen begrifflicher Regel und Regelanwendung im Urteil noch deutlicher, indem er das, wodurch die Regel aus vielen (komplexeren, anschaulichen, u. U. aber selbst schon begrifflichen) Vorstellungen als gemeinschaftliches Merkmal ,herausgelöst‘ wird, als ,analytische Einheit des 199 200

B 93; AA III 85. A 106; IV 81, 3–13.

220

C. Rückgang auf Kant und Husserl

Bewusstseins‘ bezeichnet und der ,synthetischen Einheit des Bewusstseins‘, welche das Merkmal auf einen Gegenstand bezieht, als ihrer Funktionsbedingung gegenüberstellt. Die Funktionalität des Begriffs besteht also in dem Bewusstsein einer zweifachen Einheit: „Die analytische Einheit des Bewußtseins hängt allen gemeinsamen Begriffen als solchen an; z. B. wenn ich mir roth überhaupt denke, so stelle ich mir dadurch eine Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgend woran angetroffen, oder mit anderen Vorstellungen verbunden sein kann; also nur vermöge einer vorausgedachten möglichen synthetischen Einheit kann ich mir die analytische vorstellen. Eine Vorstellung, die als verschiedenen gemein gedacht werden soll, wird als zu solchen gehörig angesehen, die außer ihr noch etwas Verschiedenes an sich haben; folglich muß sie in synthetischer Einheit mit anderen (wenn gleich nur möglichen Vorstellungen) vorher gedacht werden, ehe ich die analytische Einheit des Bewußtseins, welche sie zum conceptus communis macht, an ihr denken kann.“201

Die der analytischen Einheit vorausgedachte synthetische Einheit impliziert kategoriale Relationen zwischen den Begriffen: den Begriff der Farbe kann es nur geben, weil er als akzidenteller Begriff in notwendiger Inhärenz-Beziehung steht zum Begriff eines physischen Körpers, mithin einer Art von Substanz; der Begriff einer Bewegung ist nur denkbar als der eines Zustandes eines Körpers usw. Wenn wir uns nach diesem Rückgriff auf die Begriffslehre der „Kritik der reinen Vernunft“ nun fragen, in welchen Relationen die gedanklichen Strukturen stehen, so haben wir dreierlei Beziehungen zu unterscheiden: zum einen stehen Begriffe als analytische Einheiten in Beziehung sowohl zu den sie ,definierenden‘202 Teilbegriffen als auch zu den sie differenzierenden spezifischeren Begriffen; zum zweiten stehen sie aufgrund ihrer Funktion als Prädikate synthetischer Einheiten in Beziehung zu kategorialen Begriffen (der Größe, der Kraft, der Kausalität usw.) sowie in Beziehung zu Begriffen, die andere Kategorien spezifizieren; zum dritten stehen sie, aufgrund ihres Regelcharakters, ihres (letztlich) anschauliche Gegebenheiten fordernden Gehalts, in Beziehungen zu diesen Anschauungen. Gemäß den ersten beiden Gesichtspunkten haben wir es also mit einem Netzwerk von Begriffen zu tun, zu dem auch die in Sätzen fungierenden logischen Beziehungen zwischen den Begriffen gehören. Identifizierbar sind die Elemente und Relationen dieses Netzwerkes durch die sprachlichen Objektivationen; unter

201

B 133 f.; AA III 109, 26–35. Wir setzen das Wort in Anführungszeichen, weil es hier in weitester Bedeutung zu nehmen ist: nicht alle Begriffe lassen sich in der klassischen Form (durch genus proximum und differentia specifica) definieren, nicht z. B. Prinzipienbegriffe oder Grundbegriffe eines axiomatischen Systems; empirische Begriffe werden durch Erfahrung gebildet und weiterentwickelt, so dass sich die Bedeutung der betreffenden Ausdrücke verändert. 202

II. Die empirische Psychologie und die ,NATUR‘ des Geistes

221

einer bestimmten Voraussetzung sind sie aufgrund solcher sprachlichen Objektivationen auch erfahrbar: Wir wissen, was wir (und andere) gedacht haben, unter einer bestimmten Voraussetzung aufgrund der Retention und Erinnerung an eigene und fremde sprachliche Objektivationen. Aber diese „bestimmte Voraussetzung“ müssen wir nun aufklären; denn wir wissen ja auch, dass jemand auch ohne jedes Verständnis eine sprachliche Äußerung tun kann, wir einen Satz ohne jedes Verständnis lesen, uns sogar an einen solchen erinnern können, so dass von einem ,entsprechenden‘ Denken keine Rede sein kann. Was unterscheidet denkenden Vollzug der Sätze von verständnisloser Artikulation? Dies, so können wir vermuten, wird mit dem Bezug der Begriffe zu den Anschauungen zu tun haben. Aber da Anschauungen etwas Singuläres, die Begriffe aber etwas Allgemeines sind, kann die Realität des Denkens nicht einfach in einer Art von Assoziation der begriffsidentifizierenden Wörter mit den jeweiligen Gegenstandsanschauungen bestehen. Sogleich aber stellt sich eine weitere Frage ein: So wichtig die sprachliche Artikulation zur Identifizierung der Begriffe und Gedanken sein mag: Denken wir nicht auch, wenn wir nichts artikulieren? Bewegen wir uns nicht weitgehend wortlos durch die Welt und wissen doch ständig, was uns umgibt und was wir tun, ohne dass wir ständig irgendwelche Wörter auch nur imaginativ murmeln würden – so jedoch, dass wir bei Bedarf genauestens darüber Auskunft geben können, was wir tun und womit wir es gerade zu tun haben? Wiederum ist zu vermuten, dass der Bezug der Begriffe zu den Anschauungen eine bisher von uns noch nicht recht aufgeklärte Realität hat, die sich nicht darin erschöpft, dass die allgemeinen Begriffe mittels der sie identifizierenden Wörter auf eine Vielzahl einzelner Anschauungen (der Begriff des Tisches auf Anschauungen von Tischen) verweisen. f) Einbildungskraft und Schematismus Diese zwischen den Begriffen des Verstandes und der Anschauung vermittelnde Realität heißt ,Einbildungskraft‘ (Imagination). Wir haben von diesem „Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“203 schon mehrfach gesprochen. Es ist durch die Synthesis der Einbildungskraft u. a. der Grund jener Leistung, die Husserl ,Retention‘ genannt hat, also der Grund dafür, das wir uns eines zeitlichen Verlaufs bewusst sein können.204 Insofern diese Synthesis nicht bloß die gerade verflossenen Augenblicke festhält, sondern sie als sukzessive Momente eines objektiven Geschehens auffasst, wird sie durch eine implizite Urteilsstruktur (der Ton dauert – und nicht bloß: ich höre eine Zeitlang) determiniert und wird von Kant „trans203 204

Vgl. nochmals die Definition in B 151; III 119 f. s. o. S. 182 und 212.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

zendentale Synthesis der Einbildungskraft“ genannt, denn sie macht auf diese Weise eine Erfahrung von Gegenständen erst möglich. Die verschiedenen Formen, in Urteilen synthetische Einheit von Vorstellungen durch deren Beziehung auf ein Objekt zu denken, nennt Kant, an die Aristotelische Bezeichnung anknüpfend, Kategorien. Damit diese Kategorien, als zunächst bloß logische Funktionen „Sinn und Bedeutung“, d. h. Beziehung auf Erfahrungs-Gegenstände, erhalten, müssen sie auf Anschauungen bezogen werden. Die Zeit aber liegt allen unseren Anschauungen als bloße Form zugrunde. Daher können die Kategorien durch ihre Anwendung auf die bloße Zeitform „Sinn und Bedeutung“ erhalten, indem ihnen Schemata als transzendentale Zeitbestimmungen zugeordnet werden.205 Mit diesen Schemata verfügen wir über vermittelnde Glieder zwischen den bloßen Begriffen und den Anschauungen. So sagt Kant etwa: „Das reine Schema der Größe [. . .] (quantitatis) als eines Begriffs des Verstandes ist die Zahl, welche eine Vorstellung ist, die die successive Addition von Einem zu Einem (gleichartigen) zusammenbefaßt.“206

Ein Schema ist, wie wir diesem Beispiel entnehmen können, kein anschauliches Bild, sondern „die Vorstellung einer Methode“, die Vorstellung „von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen“. Am leichtesten ist diese Methode bei mathematischen Begriffen zu erläutern: Was die Zahl 1000 bedeutet, weiß ich, weil ich das Verfahren kenne und beherrsche, eintausend Dinge, Punkte oder Striche usw. zu zählen oder zusammenzustellen, und dies, obwohl ich noch niemals dieses Verfahren von der Zahl 1 bis zur Zahl 1000 durchgeführt habe; was der Begriff eines Dreiecks besagt, weiß ich, weil ich das Verfahren beherrsche, ein Dreieck zu zeichnen (ein Verfahren, das ich im übrigen auch durch eine Konstruktionsanweisung beschreiben kann207). Dieses Verfahren ist nicht identisch mit der Definition (eine ebene geschlossene Figur, die durch drei gerade Seiten, von denen keine parallel zu einer anderen liegt, begrenzt wird), die betreffende Konstruktionsanweisung gibt vielmehr an, wie wir die definitorischen Bedingungen durch die 205 Es kann uns hier nicht darauf ankommen, ob diese von Kant als Bedingungen gültiger Erfahrungskenntnis herausgestellten transzendentalen Schemata alles faktische Denken von Menschen bestimmen (das wäre ganz und gar unwahrscheinlich: Es ist ein Grundfehler der sog. „evolutionären Erkenntnistheorie“ zu meinen, Kant habe von der faktischen – und daher selbstverständlich erst in einem späten Entwicklungsstadium der Gattung homo sapiens erreichten – intellektuellen Ausstattung des Menschen reden wollen.). Verstehen können wir ja durchaus auch Gedanken, die gegen mancherlei Erfahrungsgesetze verstoßen, und wir mögen solche mitunter selbst produzieren, Gedanken, die in Phantasiewelten und metaphysische Spekulationen hinausgreifen. 206 B 182; III 137, 4–7. 207 In einer weiteren Formulierung nennt Kant auch die Regel des Verfahrens das Schema: „Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existiren und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft in Ansehung reiner Gestalten im Raume.“ (B 180; III 136, 6–9)

II. Die empirische Psychologie und die ,NATUR‘ des Geistes

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Handlung des Zeichnens (die Erzeugung eines Bildes) erfüllen können.208 – Eine knappe Andeutung verweist darüber hinaus auch auf die Schemata empirischer Begriffe: „Noch viel weniger erreicht ein Gegenstand der Erfahrung oder Bild desselben jemals den empirischen Begriff, sondern dieser bezieht sich jederzeit unmittelbar auf das Schema der Einbildungskraft als eine Regel der Bestimmung unserer Anschauung gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe. Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Thieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein.“209.

Hier bleibt ein wenig dunkel, wie eine solche Regel (die wir ja merkwürdiger Weise alle beherrschen) eigentlich zu formulieren wäre. Wir werden dieser Frage in unserem nächsten Abschnitt ein wenig nachgehen können. Halten wir nur zunächst fest, dass Kant das Verhältnis zwischen dem Begriff und der ,Regel der Einbildungskraft‘ durch den Ausdruck ,bedeuten‘ charakterisiert und dieses Bedeuten auf eine imaginative Aktivität des Subjekts, hier ,verzeichnen‘ genannt, verweist; der Verweis auf dieses ,Verzeichnen‘ wäre demnach letztlich die ,Bedeutung‘, welche der Begriff dem sprachlichen Ausdruck verleiht. Schemata sind eine Art von operationalen Regeln, die angeben, wie die determinierenden Definitions-Bedingungen eines Begriffs nicht bloß immer weitere Regeln determinieren und so letztlich ins Leere laufen, sondern wie diese Bedingungen (zumindest zuletzt) durch Anschauungen erfüllt werden können. So wenig Kant nähere Angaben über die Art macht, wie eine Schema-Regel für empirische Begriffe zu formulieren wäre, so skeptisch scheint er die Möglichkeit zu beurteilen, das psychische Fungieren dieser Regel näher zu analysieren: „Dieser Schematismus unseres Verstandes in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abrathen und sie unverdeckt vor Augen legen werden.“210

208 Joseph Moreau, Berkeley et le schématisme, in: Kant-Studien 79, 1988, S. 286– 292, hat hierzu sehr Erhellendes gesagt („Le schème et distinct du concept autant que de la figure, de l’ìmage tracée dans l’espace, mais il est une règle pour la construction du concept“, S. 288), dabei allerdings das Schema zu sehr mit der Definition identifiziert („c’est dans cette fonction régulatrice que la définition peut être appelée un schème“, ebda), wohl weil er die Tatsache, dass die ,Konstruktion eines Begriffs‘ in Kantischer Redeweise eben (nach der heute üblichen Redeweise) die Konstruktion der dem Begriff entsprechenden Figur bedeutet, zwar ausdrücklich erwähnt, aber nicht ausreichend bedacht hat. 209 B 180; III 136, 9–17. 210 B 180 f.; III 136, 18–21.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Wenn da überhaupt etwas zu ermitteln ist, dann, so könnten wir befürchten, wäre dies eine Aufgabe der empirischen Psychologie; eine Aufgabe, die wohl derjenigen verwandt wäre, zu erklären, wie wir bestimmte (äußere) Handlungsabläufe beherrschen, ja schon im voraus wissen können, dass wir eine Handlung, zu der wir uns entschließen, ausführen werden können. – Aber mit dieser Aufgabe würden wir wohl die Funktion schon der kategorialen Schemata für die empirischen Begriffe unterschätzen. Der Begriff des Hundes gibt ja in Wahrheit nicht bloß Regeln etwa für visuelle Eindrücke, die wir von einem solchen Tier zu bekommen erwarten könnten, sondern er fungiert von vornherein als Regel für einen veränderlichen, beweglichen und lebendigen Gegenstand, dem unterschiedliche Verhaltensweisen, also Zustände zugeordnet werden können, mithin als ein, wenn auch sehr spezieller, Fall der kategorialen Relation Inhärenz – Subsistenz. Das aber besagt nach der Kantischen Analyse: wir imaginieren ein solches Wesen jedenfalls nach dem Schema der „Beharrlichkeit des Realen in der Zeit“, das heißt: nach der „Vorstellung desselben als eines Substratum der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also bleibt, indem alles andre wechselt“.211 Das aber bedeutet: die Begriffe und ihre Schemata stehen in einer systematischen Ordnung zueinander. g) Das Verfügen über ein System von Sinnbeziehungen als Bedingung des Denkens und seiner Erfahrung Von dieser systematischen Ordnung können wir uns nun einen ersten Begriff machen. Definitionen von Begriffen sind nichts anderes als der Versuch, die Relationen dieser Ordnung darzustellen, darunter auch kategoriale Funktionen der Begriffe (etwa in der Form „. . . ist eine Eigenschaft von . . .“). Damit das System der Begriffe kein System von durch Wörter bezeichneten Leerstellen ist, muss das System der Begriffe zugleich ein System für durch kategoriale Schemata organisierte empirische Schemata sein. Das System erhält erst dadurch dasjenige, was Kant im Rahmen seiner Kategoriendeduktion und im Schematismus-Kapitel „Sinn und Bedeutung“ von Begriffen nennt.212 Da es bei Kant um „Sinn und Bedeutung“ von Begriffen geht, dürfen wir das in der Kantische Formel Gemeinte nicht ohne weiteres mit dem gleichsetzen, was wir alltagssprachlich (wie auch in unseren früheren Überlegungen) als ,Sinn‘ oder auch ,Bedeutung‘ von Wörtern bezeichnen. Wörter haben für uns eine Bedeutung oder einen Sinn (d.h. wir verstehen sie), wenn wir mit ihnen einen Begriff verbinden. Ein Begriff wird durch seine Relationen innerhalb des Systems der Begriffe zu einem bestimmten Begriff. Nicht jeder in dieser Weise bestimmte Begriff hat deshalb schon „Sinn und Bedeutung“, z. B. nicht der Be211 212

Vgl. B 183; III 137. Vgl. B 149; III 118, B 195; III 145; vgl. auch AA IV 478; VIII 133.

II. Die empirische Psychologie und die ,NATUR‘ des Geistes

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griff eines absolut notwendigen Wesens und derjenige der Unsterblichkeit (die wir verstehen, wenn wir ihre Teilbegriffe verstehen). Denn wir verstehen solche Begriffe deshalb, weil sie durch die Negation jener Bedingungen gebildet sind, die ihnen „Sinn und Bedeutung“ (Beziehung auf Erfahrung) verleihen könnten. Wir wissen, was bedingt notwendige Wesen sind und deshalb verstehen wir, was unter einem unbedingt notwendigen Wesen „zu verstehen“ ist, auch wenn wir uns „nichts darunter vorstellen“ können. Der Begriff der Unsterblichkeit hat für uns einen Sinn, weil wir nicht nur aus Erfahrungen wissen, was Sterblichkeit ist, sondern auch, was Leben ist, und daher auch mit dem Gedanken eines immer weiter andauernden Lebens keine Schwierigkeiten haben. Ohne jeden Rückbezug auf sinnliche Anschauungen könnten wir auch nicht wissen, was unter solchen negativen Bezeichnungen zu verstehen sei. Mit der sprachlichen Bezeichnung der Gedanken verschafft sich das Denken ein Mittel, um die begrifflichen Regel selbst identifizierbar und rezipierbar zu machen – sowohl gegenüber der determinierenden Reihe ihrer Definitionsbedingungen und Schemata (operationalen Regeln) als auch gegenüber der zu determinierenden Mannigfaltigkeit ihrer anschaulichen Konkretisierungen. Aber nun stehen wir vor einer Schwierigkeit, wenn wir die Möglichkeit des Wissens – und zuvor schon der Gegebenheit – von dem, was wir oder was andere gedacht haben, erklären wollen: Der Gebrauch der sprachlichen Bezeichnung kann ja nicht einfach aus dem Imaginieren oder Aussprechen der Wörter (der Phonemfolge) bestehen; indem wir die sprachliche Bezeichnung gebrauchen, ,tun‘ wir etwas ganz anderes: nämlich auf jene Relationen (der Regelbedingungen und der Anschauungsmannigfaltigkeit) Bezug nehmen; aber auf welche Weise tun wir das? Es scheint doch sehr zweifelhaft zu sein, dass wir diese Bezüge, zumal beim schnellen Sprechen (oder auch Hören), wahrhaft und gar ausführlich, in unserer Imagination aktualisierten. Mögen wir etwa bei relativ ,anschauungsnahen‘ Themen noch, wenn auch sporadisch, einzelne anschauliche Vorstellungen bilden; die anschaulichen Vorstellungen sind nicht der Sinn der Sätze; und die begrifflichen Relationen, durch welche die verwendeten Begriffe definiert sind, werden wir kaum durch imaginative Assoziation der zur Definition notwendigen (und zur Definition der definierenden Begriffe – usw. – notwendigen) Wörter aktualisieren. Gehen wir davon aus, dass wir etwas, nämlich die Verknüpfung gewisser Begriffe durch Sätze, sprachlich artikuliert haben. – Müssen wir nicht sagen: Die Begriffe sind Regeln für die Bildung von Anschauungen, die wir doch nicht bilden, und die Bedingungen dieser Regeln sind bestimmt durch weitere Regeln (explizierbar etwa in Definitionen), die wir doch nicht denkend explizieren. Gleichwohl ,wissen‘ wir, welche Anschauungen unter die Regeln fallen, denn wir können solche Anschauungen imaginativ erzeugen (und variantenreich beschreiben); wir können solche Definitionen explizieren. – Aber was tun wir,

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

wenn wir dies beides nicht tun und doch denken, mit solchen (sprachlich artikulierten) Begriffen ein Urteil fällen, eine Frage stellen, eine Entscheidung treffen? Sollen wir sagen: lauter potentielle Anschauungsvariationen, lauter potentielle Definitionen und Konstruktionsanweisungen vollziehen? – Aber was vollziehen wir in einem allem Anschein nach bloß potentiellen Vollzug, wenn doch die wirkliche Produktion der Phoneme oder Grapheme für sich genommen keineswegs schon ein Denken ist? Und vor allem: wie soll dieses Tun und Vollziehen erfahrbar sein? Genauer müssten wir sagen: die begrifflichen Regeln stehen, weil ihre definierenden Bedingungen wiederum nichts anderes sind als begriffliche Regeln, untereinander in Beziehungen; und indem wir auf eine davon durch ein Wort Bezug nehmen, nehmen wir auf ein Element, eine Art von ,Knotenpunkt‘ in diesem Beziehungsnetz, Bezug, und also auf dieses Netz. Und jedes Element dieses Netzes, das dank ,kategorialer‘ Relationen etwa zwischen Eigenschaftsund Substratbegriffen durchaus mehrdimensional zu denken wäre, steht nicht etwa in isolierter Beziehung zu der Menge ,seiner‘ möglichen Anschauungen und gegenständlicher Momente; vielmehr ist – mehr oder weniger – das ganze Netz für die Determination dieser Anschauungs- und Gegenstandsmöglichkeiten verantwortlich. Darüber hinaus sind auch die unter einem Begriff möglichen Anschauungen durch (wie auch immer zu formulierende) Schema-Regeln bestimmt, die ihrerseits konkretisierende Begriffe enthalten, mithin wiederum in einem System von Begriffen verankert sein müssen. Daher impliziert, wie immer die imaginative Realisierung der unter dem Begriff möglichen Anschauungen sich gestalten mag, jedes Verstehen einer Bezeichnung notwendigerweise das (mehr oder weniger präzise) Bewusstsein der ,Stelle‘ des bezeichneten Begriffs in einem Geflecht anderer Begriffe, Definitionen, Schemata – einem System von Sinnbeziehungen. Wäre also das Verfügen über ein solches System von Sinnbeziehungen die Bedingung für das Verstehen dessen, was wir und andere gedacht haben? Aber welche Realität können wir einem solchen System zudenken? Es kann ja noch weniger eine aktuell irgendwie ,bewusste‘ oder ,imaginierte‘ Realität sein als die einzelnen Sinnbeziehungen etwa eines Begriffs zu seinen Definitionsstücken. Freilich ist dies so wenig ein Argument gegen seine Realität, wie die Tatsache, dass mir nicht alle meine Überzeugungen in diesem Augenblick bewusst sind, ein Argument gegen die Realität meiner Überzeugungen in diesem Augenblick ist. Wir haben schon im Vorgriff auf diese Überlegungen im vorigen Kapitel den Begriff des noematischen Systems ins Spiel gebracht. Wir werden diesen Begriff im folgenden Kapitel noch von seiner philosophischen Herkunft her zu präzisieren versuchen. – Bevor wir zu diesem Zweck die Husserlsche Phänomenologie, die als ,transzendentale Phänomenologie‘ wie die Kantische Transzendentalphi-

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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losophie die Bedingungen der Geltung unseres Denkens und Erkennens ermitteln will, daraufhin überprüfen, ob sie für unsere Probleme brauchbare Ansätze enthält, sollten wir uns allerdings noch einmal bewusst machen, dass wir hier, anders als in einer Transzendentalphilosophie, vom Denken und der ,denkenden NATUR‘ als dem Objekt einer speziellen Art von Erfahrung sprechen. Auch wenn wir annehmen, dass die Beziehungen zwischen Begriffen und komplexeren Gedanken so etwas wie logische Strukturen darstellen, so müssen wir uns klar machen, dass es dabei nicht eigentlich um Geltungsbeziehungen geht, sondern allenfalls um als Geltungsbeziehungen aufgefasste Beziehungen, die in mancherlei Hinsicht von objektiv Gültigem abweichen können, ohne deshalb weniger verstehbare, erfahrbare Beziehungen zu sein. Schon früher hatten wir uns ja klargemacht: Gerade für den Fall, dass es uns letztlich (als Endzweck geisteswissenschaftlicher Bemühungen) auf die Gültigkeit und die Kritik faktischen (fremden oder eigenem) Denkens ankäme, wäre zuvor ja wahrhaftes empirisches Verstehen des möglicherweise Richtigen und möglicherweise Falschen gefordert und die Feststellung des realen Verhältnisses des Verstandenen zu realen Personen, ihren Überzeugungen und Handlungen. Die von diesen Personen als Geltungsstrukturen aufgefassten Strukturen sind für die empirische Feststellung Strukturen faktischer, seiender Vorkommnisse, zu deren Eigenart zwar auch jene Auffassung, aber wiederum eben als Faktum, gehört. Ungültige Strukturen, Strukturen, die auf ungültigen Prinzipien (oder Ungültigkeitsprinzipien) wie einer quaternio terminorum beruhen, sind selbst dann nicht weniger faktisch (und wirksam) als gültige Strukturen, wenn sie und ihre Prinzipien (etwa in sektiererischen Wahngebilden) für „der Weisheit letzten Schluss“ gehalten werden. – Geltungsprinzipien aufzudecken, ist gewiss unser Ziel. Aber unsere Fragestellung zielt auf die Geltungsprinzipien der Geisteswissenschaften, nicht, so lange wir jedenfalls den immanenten Zweck der Geisteswissenschaften im Auge behalten, auf die Geltungsprinzipien ihrer Gegenstände.

III. Der phänomenologische Begriff des Noema und der Begriff des noematischen Systems Schon der Ausgangsbegriff für unsere Bestimmung des Begriffs der Geisteswissenschaften war ein phänomenologischer: derjenige der Intentionalität. Und bei den Überlegungen zur Klärung des Verstehensbegriffs hatten wir, noch ohne genauere Klärungen, die Begriffe des Noema und des noematischen Systems benutzt. Diese Begriffe gilt es nun in einen umfassenden systematischen Zusammenhang zu stellen, um zum einen den Begriff der Intentionalität zu präzisieren und die Leistungsfähigkeit des Noema-Begriffs im Vergleich zu den traditionellen logischen Begriffen herauszuarbeiten, und um zum anderen den Begriff des noematischen Systems genauer zu entfalten. Wir hoffen dadurch auch eine Antwort auf die noch offenen Fragen zu finden, (a) welche Realität wir dem noe-

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

matischen System zudenken sollen und (b) in welchem Sinn dasjenige erfahrbar sein kann, was wir tun, wenn wir, gemäß unseren obigen213 Überlegungen, urteilend die Anschauungen, für welche die im Urteil oder in verstandenen Sätzen verwendeten Begriffe Regeln sind, gar nicht bilden und jene die Begriffe definierenden weiteren Regeln gar nicht explizieren. Diese letztere Frage führt das Problem des Kiesewetter-Aufsatzes („Ist es eine Erfahrung, dass wir denken?“) ein Stück weiter und präzisiert es. An die ersten beiden Fragen schließen sich weitere an: Wir leben handelnd und wahrnehmend in der Welt, weitgehend ohne explizite Urteile zu fällen. Selbst wenn wir, sozusagen krankhaft, was wir tun und bemerken, laufend kommentieren wollten, ist das ,Leben‘ offenbar reichhaltiger als das, was wir da in Worte fassen könnten. Ein aufmerksamer und schweigender Beobachter kann u. U. stundenlang über etwas berichten, was er in fünf Minuten ,erlebt‘ hat; und es ist ganz und gar unwahrscheinlich, dass er dabei erst während seines Berichtes bloß anschaulich gespeicherte ,Daten‘ auf den Begriff bringen würde. Es ist also (c) zu fragen, an was wir uns eigentlich erinnern, wenn wir genau wissen und explizieren können, was wir erlebt haben, auch wenn wir in der erlebten Situation wenig oder nichts artikuliert haben. Das aber impliziert (d) die Frage, von welcher Struktur denn dasjenige ist, was außer der anschaulichen Rezeption (sei sie auch keineswegs bloße Datenaufnahme, sondern gestalthaft strukturiert) in der ursprünglichen Situation stattgefunden hat. Und eine analoge Frage (e) gilt unserem nur selten von ,munteren Reden‘ begleiteten Handeln. In unserer an Webers verstehender Soziologie anschließenden Analyse der Erfahrbarkeit von Handlungs-Sinn haben wir (sozusagen großzügiger Weise) diesen Sinn als etwas ins Auge gefasst, was der Handlende artikulieren könnte. Bezeichnet jedoch dieses ,könnte‘ nichts als eine logische Möglichkeit, dann hat die Erklärung des Handlungssinnes kein wirkliches Fundament. Denn der Handelnde könnte natürlich – im Sinne einer logischen Möglichkeit – auch mancherlei anderes tun: sich über sein Handeln täuschen, uns belügen, eine ,automatisch‘ ausgeführte Handlung kaum bemerkt haben usw. Das ,könnte‘ muss statt einer bloß logischen Möglichkeit einen wahrhaften ,Potentialis‘ ausdrücken, womit wir sagen wollen: es muss ihm eine Aktualität entsprechen, ohne die die Handlung als solche nicht stattfinden könnte. Worin also besteht diese Aktualität? Wir haben somit folgende Fragen zu klären und erhoffen uns dabei Hilfe von Husserls Phänomenologie: (a) Welche Realität sollen wir dem noematischen System zudenken? (b) Worin besteht die über die Realität der sprachlichen Zeichen hinausgehende, erfahrbare Realität der Aktualisierung von Begriffen beim Urteilen und beim Verstehen von Sätzen? 213

s. o. S. 225.

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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(c) Was findet in der ursprünglichen Wahrnehmungssituation außer der anschaulichen Rezeption statt? (d) An was erinnern wir uns eigentlich, wenn wir genau wissen und explizieren können, was wir wahrgenommen haben, obwohl wir in der erlebten Situation wenig oder nichts artikuliert haben? (e) Worin besteht die aktuale Realität des Handlungssinnes? 1. Einige Bemerkungen zu Husserls Verhältnis zu Kant Auch wenn Husserl aufgrund seiner ,Lehrzeit‘ bei Brentano aus einer dezidiert anti-kantischen Tradition kam214, war doch seine anschließende Entwicklung von den ,Logischen Untersuchungen‘ über die ,Ideen‘ zur ,Formalen und transzendentalen Logik‘ und den ,Cartesianischen Meditationen‘215 durch eine immer fortschreitende Bemühung gekennzeichnet, die bestimmenden Ideen der theoretischen Philosophie Kants einzuholen und ihre Ausarbeitung womöglich auf eine seines Erachtens tragfähigere Basis zu stellen.216 – Die Husserlschen Überlegungen haben denn auch ihre systematische Funktion, ähnlich wie die Kantischen in der „Kritik der reinen Vernunft“, zunächst in einem Theoriezusammenhang, der als allgemeine Theorie des Denkens und Erkennens konzipiert ist und daher in Husserls reiferen Darstellungen (von den ,Ideen‘217 an) als Transzendentalphilosophie begriffen wird. Daher müssen wir uns von vornherein der systematischen Abwandlung bewusst sein, welche die ,transzendentalphänomenologische‘ Reflexion Husserls erfährt, wenn ihre Ergebnisse als Material für eine spezielle Theorie der Geisteswissenschaften genutzt werden und also für eine Theorie jener Wissenschaften, die Intentionalität und Noemata nicht als (,konstituierende‘) Bedingungen gültigen Denkens und Erkennens, sondern als (,konstituierte‘) Momente von empirisch vorfindbaren Vorkommnissen 214 „Die Phänomenologie entstand nicht aus der Fortsetzung der Kantischen Tradition im neunzehnten Jahrhundert, sondern aus dem durch Trendelenburg und Brentano vermittelten Aristotelismus und der durch Bolzano und Frege entwickelten Philosophie der Mathematik.“ (Daniel O. Dahlstrom, Kant und die gegenwärtige Phänomenologie, in: D. H. Heidemann/K. Engelhard (Hrsg.), Warum Kant heute? Systematische Bedeutung und Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart, Berlin 2004, S. 100–125, S. 100). 215 Wir zitieren Husserls Schriften nach Möglichkeit nach der Husserliana-Ausgabe mit Band- und Seitenzahl bzw. Kapiteleinteilung. 216 Vgl. hierzu Iso Kern, Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus, Den Haag 1964; zum Verhältnis der gegenwärtigen Phänomenologen zu Kant vgl. die aufschlussreiche zitierte Untersuchung von D. Dahlstrom. 217 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Neue, auf Grund der handschriftlichen Zusätze des Verfassers erweiterte Auflage, hrsg. von Walter Biemel (1. Aufl. 1913), Haag 1950 (Ideen I = Hua III).

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

in der Welt thematisieren. Diese Abwandlung entspricht zumindest im Ergebnis derjenigen, die wir vornehmen, wenn wir die allgemeinen, transzendentalphilosophischen Überlegungen Kants aus der „Kritik der reinen Vernunft“, etwa über Begriffe und Urteile, dazu benutzen, Feststellungen über die ,denkende NATUR‘ – als eine spezielle, durch den Gebrauch von Begriffen und Urteilen zu charakterisierende Art von Erfahrungsgegenständlichkeit – zu treffen.218 Die erkenntnistheoretische Reflexion stößt bei der Spezifikation der Erfahrung auf einen Bereich, der (in einem bestimmten Sinne) genau die Strukturen auf der Gegenstandsseite vorauszusetzen scheint, die sie in ihrem generellen Teil auf der Subjektseite herausgearbeitet hat. Allerdings, um genauer zu reden, haben wir es mit Erfahrungsgegenständen zu tun, die gültiges Denken und Erkennen (wie auch richtiges Handeln) zwar unvermeidlich als Zielidee faktisch enthalten mögen, aber ebenso das faktische Verfehlen solcher Ideen und Maßstäbe, ja in großem Maße wohl auch verfehlte Ideen und Maßstäbe der Geltung und Richtigkeit. Darüber hinaus können wir nicht ohne weiteres voraussetzen, dass die in der erkenntnistheoretischen Reflexion auf der Subjektseite durch transzendentale Analyse herausgearbeiteten Strukturen auch durch Erfahrung zugänglich sind. Allerdings scheint eine methodologische Eigentümlichkeit der Husserlschen Phänomenologie für unsere Fragestellung besonders nützlich zu sein. Husserls Fragestellung zielt auch in seiner transzendentalen Phänomenologie (anders als die klassische Transzendentalphilosophie) nicht so sehr auf die Prinzipien der Möglichkeit im Sinne von Grundbegriffen und Grundsätzen, deren Geltung für die Möglichkeit von Erkenntnis vorauszusetzen ist, sondern eher auf die Eigenart von Akten und deren Sinngehaltsmomenten, die („wesensmäßig“) notwendig sind, damit (gültige) Erkenntnis zustande kommt. Es geht ihm also durchaus um Geltungsbedingungen, aber dies sind Bedingungen der Konkretisierung der Geltungsprinzipien – oder, wie Husserl sagt, Konstitutionsbedingungen. Husserl besteht von Beginn seiner theoretischen Laufbahn an darauf, dass er nichts tue, als zu beschreiben, was wir in innerer Anschauung ,sehen‘ können. Ja er spricht mitunter, insbesondere in den ,Cartesianischen Meditationen‘, sogar von einer ,transzendentalen Erfahrung‘, welche die faktischen Konkretisierungen für die wissenschaftliche Deskription der phänomenologischen Wesens-Zusammenhänge, für die eidetische Phänomenologie, bietet.219 Dies mag im Rahmen einer 218 Die Tatsache, dass wir von beiden transzendentalphilosophischen Konzeptionen in dieser abgewandelten Weise Gebrauch machen, bedeutet selbstverständlich nicht, dass wir beide Konzeptionen als transzendentalphilosophische Konzeptionen in jeder Hinsicht für gültig und zureichend hielten. Dies ist auch schon durch die Differenz der beiden Ansätze ausgeschlossen. Nicht ausgeschlossen, und gewiss durch unser Vorgehen nahegelegt ist jedoch, dass beide Theorien Gewichtiges zu Lösung transzendentalphilosophischer Probleme beigetragen haben. 219 Vgl. dazu insbesondere den § 34 der ,Cartesianischen Meditationen‘, der die zuvor als Beschreibung der ,transzendentalen Selbsterfahrung‘ eingeführte Phänomenolo-

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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transzendentalphilosophischen Zielsetzung durchaus problematisch sein. Aber in unserem Zusammenhang, für die Beantwortung der Frage nach der spezifisch geisteswissenschaftlichen Erfahrung und dem spezifisch geisteswissenschaftlichen Erfahrungsgegenstand muss jedenfalls die Konzentration auf die Konkretionen durchaus willkommen sein. Denn die Konkretionen von Erkenntnisprinzipien sind zugleich etwas, was Gegenstand der Erfahrung werden kann. Gewiss, auch dann, wenn Gültigkeit faktisch nicht erreicht wird, wenn gar irreführende Prinzipien angesetzt werden, wollen wir diese geistigen Fakten erfahren können. Und auch nicht-kognitive geistige Leistungen implizieren kognitive Strukturen, seien sie gültig oder ungültig.220 Für die Empirie sind die Abweichungen von einem Maßstab und von den Geltungsprinzipien abweichende Maßstäbe nicht weniger interessant als die korrekten Konkretisierungen (die u. U. die Rolle von ,Idealtypen‘ übernehmen). Gleichwohl können wir durchaus hoffen, in der Phänomenologie sozusagen exemplarische Antworten auf unsere Frage nach der Erfahrbarkeit des Denkens und der denkenden NATUR zu erhalten.221

gie allererst auf die Stufe der eidetischen Phänomenologie überführt, dabei allerdings die vorangehenden Deskriptionen auch als bloße „Zurückübersetzungen aus der ursprünglichen eidetischen Gestalt in die empirische Typik“ erklärt (Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hrsg. v. S. Strasser, Haag 21963 Hua I, 105). 220 Zwar ist die Gültigkeit von Konkretionen keine Bedingung ihrer Erfahrbarkeit, aber wenn die Gültigkeit geistiger Leistungen nicht durchwegs das Ergebnis des bloßen Zufalls (wie beim Raten oder Würfeln) sein sollte, dann werden sich aus der Analyse der Konstitution gültiger Leistungen wohl auch wichtige Differenzierungen für die empirische Erkenntnis gültiger wie ungültiger Leistungen ergeben. Und schliesslich gilt, was Husserl einmal so formuliert hat: „[. . .] selbst jeder Unsinn ist ein Modus des Sinnes und hat seine Unsinnigkeit in der Einsehbarkeit.“ (Pariser Vorträge, Hua I 33). Die Analyse der Konstitution von geistigen Leistungen expliziert genau dasjenige, was bei der Rezeption von geistigen Leistungen, beim Verstehen, zwar nicht expliziert, aber in gewisser Weise verlebendigt oder nachvollzogen werden muss. 221 An dieser Stelle schon verweisen wir auf die für unsere gegenwärtigen Zwecke in vielen Hinsichten hilfreiche Arbeit von Dieter Lohmar, Phänomenologie der schwachen Phantasie. Untersuchungen der Psychologie, Cognitive Science, Neurologie und Phänomenologie zur Funktion der Phantasie in der Wahrnehmung, Dordrecht 2008. Nicht nur trifft sich Lohmars Versuch, Husserls und Kants Untersuchungen gleichermaßen für eine Theorie der erfahrbaren Subjektivität zu nutzen, mit unseren Absichten; der merkwürdige Titel seiner Arbeit lässt auch einen interdisziplinären Ansatz erwarten, der als eine sehr sinnvolle Ergänzung unserer durch die wissenschaftstheoretische Zielsetzung begrenzten Überlegungen betrachtet werden kann. – Hinweisen müssen wir freilich auf die (für unseren Zusammenhang weniger ins Gewicht fallende) Tatsache, dass Lohmar (entgegen Kants ausdrücklicher Klarstellung in KrV B 167) glaubt, Kant vertrete – anders als Husserl – bezüglich der Prinzipien a priori, „ebenso wie Leibniz und der späte Descartes, eine Präformationstheorie derjenigen Begriffe, die im älteren Rationalismus noch als eingeborene Ideen verstanden wurden“ (Lohmar, Phänomenologie der schwachen Phantasie, S. 120).

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

2. Husserls phänomenologische Analyse der Intentionalität in den ,Logischen Untersuchungen‘222 Das Ausgangs-Stichwort der phänomenologischen Analyse heißt ,Intentionalität‘. Franz Brentano hat den Begriff (unter Rückgriff auf spätscholastische Überlegungen) in die neuere Philosophie eingeführt, um (wie er formulierte) physische und psychische Phänomene zu unterscheiden.223 Psychische Phänomene zeichnen sich nach Brentano dadurch aus, dass sie sich auf etwas anderes beziehen, einen Gegenstandsbezug haben: Vorstellungen kann man nicht haben, ohne etwas vorzustellen, wünschen kann man nicht, ohne etwas zu wünschen, glauben nicht, ohne etwas zu glauben usw. – Husserl war mit Brentanos Einteilung nicht recht zufrieden, weil das, was Brentano (irritierender Weise) „physische Phänomene“ nannte, nämlich die Sinnesempfindungen, zwar für sich genommen keine intentionalen Phänomene sind, aber für bestimmte intentionale Phänomene (die Wahrnehmungen) gerade eine unerlässliche Funktion ausüben: indem sie nämlich dank einer intentionalen „Auffassung“ oder „Apperzeption“224 als ,Repräsentanten‘ von Gegenständen aufgefasst werden.225 Husserls Phänomenologie befasst sich daher ausdrücklich mit allen ,Phänomenen‘, die (nach seiner Überzeugung) Gegenstand einer reflektierenden, der sog. ,inneren‘ Wahrnehmung werden können. Noch an einer ganz anderen Stelle der Phänomenologie von Husserls ,Logischen Untersuchungen‘ taucht der Begriff des Repräsentanten auf: sprachliche Ausdrücke sind Repräsentanten von Bedeutungen oder von Sinn. Im Unterschied zu den „intuitiven Repräsentanten“ der Gegenstände sind das „signitive Repräsentanten“ – nicht des Gegenstandes, sondern des gegenstandsbezogenen Sinnes. 222 Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. Text der 1. und der 2. Auflage (Husserliana: Bd. 18), hrsg. v. E. Holenstein, The Hague 1975; Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. In zwei Bänden. (Hua XIX), hrsg. v. Panzer, U. The Hague 1984. – Die erste Auflage erschien 1900/1901, die im 2. Band z. T. stark umgearbeitete 2. Auflage 1913. – Zur kritischen Neuausgabe in den Husserliana und zum Verhältnis der Ausgaben zueinander vgl. auch meine Rezension des 2. Bandes der Neuausgabe in: ZphF 40 (1986) S. 297–300. 223 Vgl. etwa Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, I. Bd. hrsg. v. O. Kraus, Hamburg 1973, S. 136 f. 224 Der Husserlsche Begriff der Apperzeption, welcher wohl der in der BrentanoSchule (vielleicht überhaupt in der Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts) übliche war, ist keinesfalls zu verwechseln mit dem bei Leibniz und Kant gebrauchten, auf den wir im Zusammenhang der Erläuterung unseres Bewusstseins-Begriffs hingewiesen haben (s. o. S. 35). 225 Vgl. auch Husserls Kritik an Brentanos Unterscheidung in der (für die 2. Aufl. stark veränderten) Beilage zu den ,Logischen Untersuchungen‘, Hua XIX, S. 751 f., und meine Analyse in: Grünewald, Der phänomenologische Ursprung, S. 40 ff.; vgl. auch Ideen I, § 85, insbes. Hua III,1, S. 194 f.

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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Für unseren Zusammenhang interessant ist nun aber, dass dieser Begriff des signitiven Repräsentanten auch in der Analyse des Wahrnehmungsbewusstseins selbst eine Rolle spielt. Wir haben uns schon klar gemacht, dass Wahrnehmung sich nicht in sinnlichen Empfindungen erschöpfen kann. Erst durch die Auffassung wird das sinnliche Material zum repräsentierenden Inhalt einer Wahrnehmung; wir nehmen ja etwas wahr, Wahrnehmung ist ein intentionaler Akt, und zwar ein auf einen Komplex von Sinnesempfindungen gestützter Akt. – Nun weist Husserl aber darauf hin, dass es zum Wesen der (äußeren) Wahrnehmung gehört, dass sie immer nur partielle Anschauung eines Gegenstandes sein kann. Das heißt, dass der intuitive Repräsentant nur einen Aspekt, eine ,Abschattung‘ des Gegenstandes, darbietet, andere Aspekte dagegen sind ,verschattet‘ oder gar verdeckt. Gleichwohl repräsentiert der intuitive Repräsentant dank der Auffassung den ganzen Gegenstand (die Amsel, den Baum, das Haus gegenüber) und also auch seine anderen Aspekte – nun aber nicht in intuitiver Weise, sondern in signitiver Weise: Der intuitive Repräsentant hat zugleich immer signitive Repräsentationsfunktionen. Husserl spricht hier des näheren von ,signitiver Repräsentation durch Kontiguität‘.226 Zwar wissen wir bei einem erstmals erblickten Haus nicht (jedenfalls nicht genau), wie die Rückseite aussieht, aber wir sind sicher, dass es eine Rückseite hat und dass sie irgendwie zur Vorderseite passen muss (selbst wenn unsere Erwartungen so sehr enttäuscht würden wie bei einer Filmkulisse). Würde der intuitive Repräsentant nur die Vorderseite repräsentieren, dann könnten wir jedenfalls nicht behaupten, wir sähen ein Haus. Dank der Auffassung weist also der intuitive Repräsentant „über sich hinaus“, insofern er mehr repräsentiert als er anschaulich „darstellt“. Das „mehr“, so könnten wir allerdings schon hinzufügen, mag im Verhältnis der Kontiguität zum anschaulich Dargestellten stehen, aber das ist wohl zu unbestimmt gesagt: auch ein Baum könnte ja die Hauswand ,zufällig‘ berühren, die anderen Seiten des Hauses aber assoziieren wir nicht bloß zufällig mit der sichtbaren Seite. Bevor wir dem nachgehen und weitere Folgerungen aus dem Konzept einer wahrnehmungsimmanenten signitiven Repräsentation ziehen, wenden wir uns der signitiven Repräsentationsfunktion von Ausdrücken zu und Husserls Versuchen, den Begriff der Bedeutung und des Sinnes zu klären. Die Überschrift der ,I. Logischen Untersuchung‘ lautet „Ausdruck und Bedeutung“. Zunächst scheint sich der Begriff der Bedeutung oder, wie es gleich226 Vgl. Hua XIX/2, S. 594 u. 620. – Man erkennt an Begriffen wie dem der Kontiguität, dass Husserl auch an die empiristische Tradition, hier Hume, anknüpft; vgl. etwa David Hume, A Treatise of Human Nature, Being an Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning into moral subjects, ed. by D. G. C. Macnabb, London 1962, b. I, s. IV, „Of the Connexion or Association of Ideas“; ders., An Enquiry Concerning Human Understanding, in: Enquiries concerning human understanding an concerning the principles of morals, ed. by L. A. Selby-Bigge, third ed. by P. H. Nidditch, Oxford 1975, s. III, „Of the Association of Ideas“.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

bedeutend heißt, des Sinnes problemlos aus der Bedeutungsfunktion sprachlicher Ausdrücke zu ergeben. Insoweit ist die Antwort auf die Frage nach der Erfahrbarkeit von Intentionalität noch traditionell: Der sprachliche Ausdruck ist ja äußerlich wahrnehmbar oder imaginiert gegeben, und indem wir ihn bzw. seine Bedeutung „verstehen“, erfassen wir die fremde oder eigene Intentionalität. Aber knüpfen wir an unsere früher, im Zusammenhang der Kantischen Rede von „Sinn und Bedeutung“ schon gestellten Fragen227 an: Was kann „Verstehen“ heißen und was kann die Bedeutung selbst eigentlich sein, wenn sie doch gewiss nicht identisch mit dem Ausdruck (der Zeichengestalt) ist? Die Zeichengestalt ist nur der „signitive Repräsentant“ der Bedeutung. Die Bedeutung selbst muss etwas sein, das sich nicht dem bloßen Ausdrucksakt verdankt, sondern einem darüber hinausgehenden Denken, einem intentionalen Akt. Aber der Akt ist ein singuläres Vorkommnis, die Bedeutung jedoch kann in zeitlich verschiedenen Akten, ja im Falle des kommunikativen Verstehens sogar in den Akten mehrerer Personen, dieselbe sein. Bei der Erklärung dieser Identität behilft sich Husserl in den ,Logischen Untersuchungen‘ mit einer Art von platonischer Konzeption, die er später verworfen hat: die Bedeutungen seien Ideen der bedeutungsverleihenden Akte, so wie die Röte überhaupt die generelle Idee des singulären Rotmomentes sei. Die Probleme, die sich Husserl nun aber mit jener Erklärung einhandelt, sind verschiedentlich dargestellt worden.228 227

s. o. S. 222 ff. Vgl. z. B. Theodorus de Boer, Das Verhältnis zwischen dem ersten und dem zweiten Teil der ,Logischen Untersuchungen‘ Edmund Husserls, Torino 1967, insbes. S. 16, Anm. 44; S. 20, Anm. 50; S. 23–27 sowie: ders., De ontwikkelingsgang in het denken van Husserl. Die Entwicklung im Denken Husserls, Van Gorcum, Assen 1966; vgl. auch B. Grünewald, Der phänomenologische Ursprung des Logischen, S. 49. – Husserl selbst hat sich erst spät, nachdem er den Begriff des Aktes in specie längst durch den des Noema ersetzt hatte, kritisch zu seiner früheren Begriffsbildung geäußert, nur andeutend etwa in der „Formalen und transzendentalen Logik“, Hua XVII 163, Anm. 1, und etwas deutlicher in: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, redigiert u. hrsg. v. L. Landgrebe, Hamburg 41972, S. 314 ff. – Zunächst passt diese Erklärung schon nicht recht zu der die logischen Einheiten auszeichnenden und von Husserl gleichzeitig benutzten Rede vom ,Gehalt‘ oder ,Inhalt‘ der Akte; denn dass ein roter Papierstreifen die allgemeine Röte in specie oder die ,Idee‘ der Röte zum ,Inhalt‘ habe, wird man nicht sagen wollen. Vor allem aber ist der Gedanke, dass etwa der einzelne Urteils-Akt ein Fall des Urteils (im Sinne der Proposition) sei, der Sachlage in keiner Weise angemessen. Denn im Urteils-Akt ,fällen‘ wir ein Urteil, d. h. im Urteils-Akt ist das Urteil in irgendeinem Sinne ,bewusst‘, zwar nicht schon in dem Sinne, in dem es in einem nachkommenden Reflexionsakt zum Gegenstand werden kann, sondern im Sinne desjenigen, was wir für richtig halten und ,verantworten‘ – in dem Sinne also, den wir bei unserem an Kant orientierten Bewusstseinsbegriff zu Anfang unseres II. Kapitels eingeführt haben (s. o. S. 33 ff.). Zumal beim ausdrücklichen Urteil sind wir uns seiner als desjenigen bewusst, was wir ,zum Ausdruck bringen‘ und was wir eben deshalb unmittelbar anschließend zum Gegenstand der Reflexion, der Kritik oder der Verteidigung machen können. 228

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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Jedenfalls scheint die Ideationstheorie der Bedeutungen der Grund dafür zu sein, dass Husserl den „phänomenologischen Ursprung“ der logischen Einheiten zunächst im Rückgang von den durch die Zeichen bloß repräsentierten Bedeutungen zu den bedeutungsverleihenden Akten sucht. Zur vollen Aufklärung dieses Ursprungs jedoch bedarf es nach Husserl eines weiteren Schrittes, denn die bedeutungsverleihenden Akte sind, wie Husserl sagt, ,bloße Intentionen‘, ihnen fehlt dasjenige, was sie erst zu einem ,eigentlichen‘ Denken macht, zu ,erfüllten Intentionen‘. Erfüllt sind die Intentionen, wenn der Gegenstand oder Sachverhalt in ihnen nicht nur intendiert (gemeint, vermeint), sondern auch gegeben ist, angeschaut ist. Wir können „bloß denken“ (und stillschweigend oder laut sagen), draußen auf dem Baum sitze eine Amsel, und wir können statt dessen (oder zusätzlich) sehen oder wahrnehmen, dass da eine Amsel sitzt. Wenn wir etwa sagen: Da steht ein Haus, dann hat der Ausdruck eine Bedeutung oder einen Sinn, den auch jemand versteht, der das Haus nicht sieht. Und falls der andere mich nicht für einen Lügner oder Phantasten hält, dann denkt er „dasselbe“ wie ich, realisiert denselben Sinn. Aber wenn er das nicht nur denkt und glaubt, sondern selbst ans Fenster tritt und sieht, dass da ein Haus steht, dann deckt sich in irgendeiner Weise das, was er vorher nur dachte (die bloße Intention und ihr Sinngehalt), mit dem wahrgenommenen Sachverhalt – oder, wie Husserl sagt: die bloße Intention mit der erfüllten Intention, der bloß intendierte Sinngehalt mit dem Sinngehalt der erfüllten Intention, dem erfüllten Sinn.229 Das heißt nun aber: auch die Wahrnehmung hat ihren Sinn – „ihre Bedeutung“ wird man vielleicht nicht sagen wollen, weil wir nicht ohne weiteres einen Bedeutungs-Träger erkennen. Aber einen Ersatz-Kandidaten für den Bedeutungsträger hätten wir schon: den intuitiven Repräsentanten, der ohnehin immer auch eine signitive Funktion hat und an den sich nun der schon gehörte und verstandene Satz mit seiner Bedeutung sozusagen anhängt.230 – Müssen wir nicht sogar sagen: auch wenn ein solcher Satz gar nicht gefallen ist und wir mit offenen Augen ans Fenster treten, bemerken wir, ,dass da ein Haus steht‘; gehört also ein solcher Sinn nicht schon in jedem Falle zu dem, was wir wahrneh229 Die so beschreibbare und von der signitiven zur intuitiven Intention übergehende Deckungssynthesis hält Husserl im Hauptgedankengang der VI. ,Logischen Untersuchungen‘ (ab § 8) für einen Akt der Erkenntnis (vgl. etwa Hua XIX/2, S. 566 ff.). Dabei vergisst er jedoch den (u. E. zutreffenden) Erkenntnisbegriff, den er noch zu Anfang der VI. Untersuchung (bis § 7) exponiert hat: die Synthesis, die von der Wahrnehmung ausgehend zum expliziten Urteil führt (vgl. Hua XIX/2, S. 562). In Wahrheit ist der andere, vermeintliche Erkenntnisbegriff nur der Begriff einer Bestätigung. 230 Ich gehe hier nicht näher auf die problematische Husserlsche Theorie ein, wonach die Erkenntnis in dem Übergang vom „bloßen Denken“ zur anschaulichen Gegebenheit des Sachverhalts, genauer in der ,Erfüllungssynthesis‘ zwischen dem einen und dem anderen besteht (vgl. dazu B. Grünewald, Der phänomenologische Ursprung des Logischen, S. 67 ff.).

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

men? Jedenfalls später, in der Erinnerung, könnten wir ohne weiteres erzählen, was wir gesehen haben, obwohl wir damals nicht einmal im Stillen irgendwelche Sätze formuliert hatten. Wir müssen also die erinnerten sinnlichen Gestalten nicht erst umständlich auf den Begriff bringen: offenbar haben wir schon damals implizit und wortlos begriffen, was wir wahrgenommen haben. Wenn diese Überlegung richtig ist (und sie kann sich jedenfalls weitgehend auf das stützen, was Husserl in der VI. ,Logischen Untersuchung‘ unter dem Titel „Erfüllungs-Synthesis“ ausführt), dann können wir daraus weitere Folgerungen für die Frage nach der Erfahrbarkeit von Intentionalität – auch ohne allen sprachlichen Ausdruck – ziehen: So wie bei sprachlichen Äußerungen (und Erinnerungen an sie) die Ausdrücke als Repräsentanten von Bedeutungen fungieren und deshalb verstanden werden können, so scheinen die sinnlichen Momente (Gestalten) gerade dadurch intuitive Repräsentanten von Gegenständen und Gegenstandsmerkmalen zu sein, dass sie zugleich als signitive Repräsentanten von Gegenstands- und Sachverhalts-Intentionen und ihrem impliziten (aber explizierbaren) Sinngehalt fungieren. Ja, die signitive Repräsentation gegenständlicher Momente durch Kontiguität setzt schon eine signitive Repräsentation von Sinn voraus. Die sie aktualisierende Erinnerung ist daher zugleich (wenn nicht gar vor allem) eine Aktualisierung dieses Sinngehalts, insofern wir die reproduzierten sinnlichen Gestaltmomente ,deuten‘ und also den Sinn der früheren Wahrnehmung „verstehen“. Das könnte uns ein wenig näher an einen zureichenden Begriff des Verstehens führen: Verstehen ist Rezeption von Sinn aufgrund der Rezeption von Sinn-Repräsentationen.231 Wenn schon die alltägliche Wahrnehmung eine (näherhin produktive) Repräsentation von Sinn durch anschauliche Gestalten impliziert, dann impliziert die Wahrnehmungserinnerung mit der reproduktiven Rezeption früherer Anschauungen eine reproduktive Rezeption von Sinn, ist also ein Verstehen noch vor allem sprachlichen Verstehen. In ähnlicher Weise hatten wir schon früher beim Verstehen von bildlichen Darstellungen von Sinn-Verstehen gesprochen, insofern die Rezeption der anschaulichen Gestalt einen vorgegebenen Sinn reproduziert.232

231 Wir sehen hier noch von der Frage ab, wodurch genau sich der Sinn einer Wahrnehmung vom Sinn eines „entsprechenden“ Urteils unterscheidet, weil die Antwort eine Diskussion der Husserlschen Theorie der „kategorialen Anschauung“ und darin insbesondere des problematischen Begriffs eines kategorialen Repräsentanten voraussetzen würde; vgl. dazu B. Grünewald, Der phänomenologische Ursprung des Logischen, S. 101 ff. 232 s. o. S. 78.

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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3. Husserls transzendentale Phänomenologie und die Einführung des Noema-Begriffs Um so dringlicher wird nun die Frage, was das denn sei, was da als identischer Sinn unserer intentionalen Akte, nicht nur der ausdrücklichen, sondern auch der bloßen Wahrnehmungserlebnisse, erhalten bleiben und reproduziert werden kann. Zwölf Jahre nach den ,Logischen Untersuchungen‘, im ersten Band der „Ideen“, stellt Husserl seine Konzeption der Akt-Gehalte auf einen neuen Boden, den der „transzendentalen Reduktion“. Diese Reduktion ist eine künstliche Reflexionsmethode, in welcher die „Generalthesis der natürlicher Einstellung“, dass es nämlich eine Welt und Gegenstände darin gebe, die wir erfahren, ,eingeklammert‘ wird, mit Bezug auf die Existenz der Welt Urteilsenthaltung (,epoché‘) geübt wird.233 Durch diese Reduktion, die unsere Argumentation234 auf das ,Feld des reinen Bewusstseins‘ begrenzt, entdecken wir nach Husserl das im jeweiligen Akt ,Gedachte als solches‘: das ,Noema‘ als ,Korrelat‘ des intentionalen Aktes, der nun verdeutlichend ,Noesis‘ heißt. Ausdrücklich erklärt Husserl das Noema als eine „Verallgemeinerung der Idee der Bedeutung auf das Gesamtgebiet der Akte“235, wobei vor allem an die Einbeziehung der Wahrnehmungsakte in die ,Bedeutungs‘-Analyse zu denken ist.236 Auch die Wahrnehmung ist eine Noesis und hat ihren ,Wahrnehmungssinn‘, ihr Noema. Das Noema ist das in einem intentionalen Akt Gemeinte als solches, und zwar so, wie es gemeint ist: in seinem „Kern“ enthält es den Bezug auf den „Gegenstand schlechthin“ im Sinne eines zu bestimmenden „puren X“ in Einheit mit seinen ihm zugedachten Bestimmtheiten, die im Falle der Wahrnehmung zwar noch keine begriffliche Explizitheit besitzen (Kant würde sagen noch keine Reflektiertheit), aber deshalb keineswegs identisch sind mit dem sinnlichen Eindruck. Das sinnliche Material ist nach der Terminologie der ,Lo233 Vgl. vor allem die „Phänomenologische Fundamentalbetrachtung“ der ,Ideen‘, Hua III, 1, S. 56–134. 234 Wenn man die Reduktion als Begrenzung der zulässigen Argumentation begreift, statt (sozusagen psychologisierend) von ,Glaubensenthaltung‘ zu sprechen, nimmt man dem Verfahren den (u. E. durchaus irreführenden) Anschein einer geistigen ,Verrenkung‘ und kann sie als methodische Maßnahme ernstnehmen. – Auch die Polemik der an der vor-transzendentalen Phänomenologie festhaltenden und der späteren Phänomenologen gegen die transzendentale Reduktion beruht u. E. auf einer Art ,existentialpsychologischem‘ Missverständnis dessen, was eine transzendentalphilosophische Methode ist. 235 Vgl. Hua V 89; erste Andeutungen zur Entwicklung des Begriffs finden sich aber schon in Husserls „Vorlesungen über Bedeutungslehre“ von 1907, inzwischen herausgegeben im Band XXVI der Husserliana, s. dort S. 35. 236 Der zunächst gleichbedeutend mit dem Terminus ,Bedeutung‘ gebrauchte Ausdruck ,Sinn‘ wird nun in einer eingeschränkteren Bedeutung, für ein Teilmoment des Noema, gebraucht (s. Schema).

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

gischen Untersuchungen‘ vielmehr nur Repräsentant einer gegenständlichen Bestimmtheit, dieser gibt dem Auffassungs-Sinn lediglich – wie es nun in den ,Ideen‘ heißt – seinen „Modus der Fülle“.237 Mit der vageren Rede vom Modus der Fülle berücksichtigt Husserl einerseits, dass nicht alle Sinngehalte unmittelbar und ohne weiteres auf Anschauungen bezogen sind (wie ist etwa eine große Koalition erfahrbar?), andererseits hat er wohl von dem Gedanken der ,Logischen Untersuchungen‘, dass auch die kategorialen Sinnmomente eines Satzes durch Repräsentanten sozusagen bezeugt werden könnten, Abstand genommen.238 Der Sinn (als noematischer Kern) enthält, auch im Falle der Wahrnehmung, schon eine implizit synthetische Struktur (Gegenstand – Bestimmtheit).239 Er macht mit dem Modus der Fülle zusammen den „vollen noematischen Kern“ aus, der wiederum durch einen bestimmten Setzungscharakter (thetischen Charakter) zum „vollen Noema“ ergänzt wird. Die Terminologie der Intentionalanalyse von den ,Ideen‘ (1913) an (A) VOLLES NOEMA /ERFÜLLTER SATZ (Id. I, § 146) hSATZ2i* (B) SATZh1i [im rein logischen Sinne] (Id. I, § 133) hSinn1i (C) VOLLER NOEMATISCHER KERN (Id. I, § 132; 133) Sinn im Modus der Fülle – speziell bei der Wahrnehmung: ,Erscheinung‘ a) THETISCHER CHARAKTER (Id. I, §§ 114; 129) speziell: ,Seinscharakter‘, ,Wertcharakter‘ usw.

b) SINNh2i (Id. I, §§ 129–131) noemat. Kern, noemat. Gegenstand im Wie seiner Bestimmtheiten (a) noemat. Gegenstand schlechthin, (pures X)

c) MODUS DER FÜLLE (Id. I, §§ 132; 130; 136) Beil. XXIV) (Weise, wie der Gegenstand bewusst ist)

(b) seine Bestimmtheiten

* Ausdrücke in spitzen Klammern u. hochgestellte Index-Ziffern beziehen sich auf die Urteilsanalyse in der ,Formalen und transzendentalen Logik‘ § 89 und in ,Erfahrung und Urteil‘ § 69.

Die Zugehörigkeit des „Modus der Fülle“ zum Noema ist, wenn man zunächst an die Bedeutung ausdrücklicher Sätze denkt, nicht unproblematisch. 237

Vgl. Ideen I § 132, Hua III, 1 S. 304 f. Vgl. dazu nochmals B. Grünewald, Der phänomenologische Ursprung des Logischen, S. 103. 239 Dies mag uns an Kants These erinnern, dass auch Wahrnehmung nicht ohne Kategorien möglich ist (was Husserl in den ,Logischen Untersuchungen‘ – deutlicher in der 1. als in der 2. Auflage – noch bestreitet, vgl. Hua XIX S. 709). 238

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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Unterscheidet sich das im Modus des Wahrnehmungszeugnisses oder der Einsicht Gedachte von dem schlicht im Modus des Fürwahrhaltens Gedachten? – Wenn wir annehmen, dass etwa für den sehend Urteilenden und Behauptenden (den am Fenster die Amsel Beobachtenden) eben dies, dass er sieht, durchaus zum Sinn seiner Behauptung und Mitteilung an die nicht am Fenster Stehenden gehört, dann ist die Frage wohl zu bejahen. Die Einführung des Noema-Begriffs und die damit einhergehende Orientierung an dem „intentionalen Gegenstand“ hat zur Folge, dass die Anknüpfung der phänomenologischen Reflexion an die Sprache, die schon in den ,Logischen Untersuchungen‘ eher ein Ausgangspunkt (vor allem der I. Untersuchung) als eine durchgängig bestimmende Methode war, in den Ideen noch mehr in den Hintergrund gedrängt wird. – Das birgt zwar die Gefahr einer Unterschätzung der Relevanz sprachlicher Funktionen, die u. a. auch zur Entfremdung zwischen der Phänomenologie und der an Frege anknüpfenden sprachphilosophischen und analytischen Richtung geführt hat. Aber es hatte auch den Vorteil, dass nun, durchaus realistischer Weise, Bereiche unseres Denkens und unseres gesamten geistigen Lebens einer Analyse zugänglich wurden, die bei der bloßen Orientierung an der Sprache ebenso unbeachtet bleiben wie zumeist in der traditionellen logisch-erkenntnistheoretischen Reflexion. Husserls Analysen des Wahrnehmungsbewusstseins gehen nun weit über die schlichten Zusammenhänge, die er in den ,Logischen Untersuchungen‘ darstellt, hinaus. Es geht Husserl nicht mehr nur um die Analyse einzelner Akte, sondern um die Analyse jener Leistung unseres Bewusstseins, durch die wir unser Bewusstsein von der Welt aufbauen: die Konstitution der Wirklichkeit. Das wahrgenommene Haus hat ja nicht nur neben den gesehenen noch ungesehene Aspekte. Es steht nicht nur faktisch in einer wahrnehmbaren Umgebung, die wahrnehmbare Umgebung ist nur ein Ausschnitt, der über sich hinausweist, der einen verschiebbaren Horizont hat (wir müssen nur ein paar Schritte weitergehen . . .).240 Wir wissen zugleich, dass wir andere Aspekte des Hauses unter ganz bestimmten Bedingungen in bestimmter Weise wahrnehmen können. Diese Bedingungen sind einerseits objektive Bedingungen wie die Lichtverhältnisse, die das Haus so oder so erscheinen lassen, andererseits subjektive, durch unser Verhalten bestimmte Bedingungen: Wir können um das Haus herumgehen, unter Umständen aus dem Fenster eines höheren Hauses auf sein Dach schauen. Das Haus erscheint uns also ganz selbstverständlich in einem Rahmen oder einem Horizont von Konditionalitäten, deren Bestätigung oder Enttäuschung darüber entscheidet, ob es sich um ein echtes Haus (oder vielleicht doch nur eine Filmkulisse?) handelt.241 Handlichere Objekte können wir umwenden, Papier falten, 240 Vgl. Ideen I, §§ 81–82; Hua III/1 S. 180–185 und Cartesianische Meditationen § 19; Hua I 81–83. 241 Vgl. Ideen II, § 18 c); Hua IV 65–75.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Billardkugeln stoßen. Die Konditionalität des eigenen Verhaltens verknüpft sich aufgrund elementarer Erfahrungen mit der Kausalität objektseitiger Veränderung.242 Mit der Wahrnehmung solcher Objekte verknüpft sich also nicht bloß ein die aktuelle Erscheinung des Objekts betreffender Sinn-Kern, sondern eine Art von Regel für das, was unter der einen oder anderen – subjektiven oder objektiven – Veränderung zu erwarten ist. Wir könnten nicht sagen, wir nähmen ein Haus wahr, wenn wir nicht zugleich das Bewusstsein hätten, um es (oder den Häuserblock) herumgehen zu können und dabei Wahrnehmungen ganz bestimmter Art erwarten zu müssen. Vielleicht müssten wir sogar sagen: der SinnKern ist nichts anderes als die Regel für alle subjektiven und objektiven Variations-Möglichkeiten eines anschaulichen Komplexes. 4. Die Analyse des Zeitbewusstseins Wenn wir nun fragen, wie jener Sinn-Überschuss über die Apprehension des sinnlichen Materials hinaus möglich ist, müssen wir jenes Lehrstück Husserls einbeziehen, das wir schon oben, bei unserer Dilthey-Kritik, zur Erläuterung der Phänomenalität des innerlich Wahrgenommenen herangezogen hatten: Husserls Analyse des inneren Zeitbewusstseins.243 Dieses Lehrstück greift wohl, ohne dass Husserl dies immer sehr deutlich macht, auf Kantische Überlegungen in der „Kritik der reinen Vernunft“ zurück (insbes. auf die Passage von der „dreifachen Synthesis“ in der transzendentalen Deduktion der 1. Auflage244) und scheint uns für das Begreifen dessen, was ein intentionaler Akt sei, sehr hilfreich zu sein. Husserl verdeutlicht das Problem des Zeitbewusstseins, wie oben schon erwähnt, am Beispiel des Melodie-Hörens.245 Eine ganz schlichte Frage macht schlagartig das Problem klar: Wann eigentlich hören wir eine Melodie? Nehmen wir etwa das berühmte Thema b-a-c-h: während b erklingt hören wir b, aber nicht a, auch nicht c oder h. Während a erklingt, hören wir a, aber nicht mehr b und noch nicht c oder h . . . Die Melodie hören wir weder am Anfang noch in der Mitte noch am Ende. Hören im Sinne des Melodie-Hörens muss etwas anderes sein als „eine Ton-Empfindung haben“. Die Zeit ist ja nur ein eindimen-

242

Vgl. Ideen II, § 18 d)–h); Hua IV S. 75–90. s. o. S. 182 ff. 244 Vgl. A 98–110; AA IV 76–83; vgl. jedoch Husserls Bemerkung in Hua XI 125 f.: „Schon Kant hat in einer fast überwältigenden Genialität (überwältigend gerade weil er über die phänomenologische Problematik und Methode nicht verfügte) in der transzendentalen Deduktion der ersten Auflage der Kritik ein erstes System transzendentaler Synthesen entworfen.“ 245 Vgl. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893– 1917), hrsg. von Rudolf Boehm, Haag 1966 (Husserliana, Bd. X), insbes. etwa die Darstellung S. 93. 243

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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Retention

sionales Kontinuum (darstellbar als eine gerichtete Linie), in dem kein Zeit,Punkt‘ einen anderen in sich enthält. Husserl skizziert seinen Lösungsansatz mithilfe von zweidimensionalen Graphiken von dem hier gezeigten Typus. Das Zeitbewusstsein, so zeigt diese Graphik, ist ein zweidimensional darzustellender Bewusstseins-Prozess, der mehr oder weniger gegliedert sein kann, der aus einem Ursprungs-Jetzt (auf der Zeitlinie) auf dem Wege eines „Herabsinkens“ (b nach b’, a nach a’ usw.) kontinuierlich eine Retention entspringen lässt und zu jedem Zeitpunkt seine Vergangenheit, mehr oder minder weit zurückreichend und mehr oder minder gegliedert, als geordneten Verlauf in einem „Phasenkontinuum“ bewusst hält (retiniert). Die erste Graphik zeigt nur die halbe Wahrheit. – Wir sind ja nicht bei jedem neuen Ton erschrocken, sondern haben schon so etwas erwartet: da wird wohl noch ein Ton kommen. Und wenn wir die „Kunst der Fuge“ schon kennen (oder Regers op. 46 über das Thema), dann erwarten wir nach b-a- noch c und h. Erst recht muss der Organist ja vorher schon das Ganze, und zwar in gehöriger Reihenfolge, „im Kopf haben“.

Protention

Retention

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Zur Retention gesellt sich also von vornherein die Protention.246 Die Melodie b-a-c-h ist im Bewusstsein des Organisten schon vorab protentional präsent (hier auf der Vertikalen als b*-a*-c*-h* nur für die Ausgangsphase dargestellt). Es ist klar, dass gerade die Protention von enormer Relevanz für alles Handeln, ja schon für jedes Denken ist: Kein Urteil könnten wir fällen, keinen Satz könnten wir produzieren, wenn wir nicht jetzt irgendwie wüssten, wie der Satz im nächsten Augenblick weitergeht. – Aber was heißt da „wissen“? Die Protention scheint eine ganz eigenartige Funktion unseres intentionalen Lebens zu sein, nicht zu verwechseln mit einem Plan, den wir jetzt entwerfen, damit wir morgen wissen, was wir dann tun oder sagen sollen. Ebenso ist die Retention nicht zu verwechseln mit der Erinnerung (der Reproduktion) früher Erlebnisse oder Gedanken. Denn innerhalb der Erinnerung (wie innerhalb des Planens) ist ja dieselbe retentional-protentionale Struktur vorauszusetzen wie in dem damaligen, erinnerten Erlebnis und in der späteren Ausführung des Plans.247 Fassen wir die Differenz noch etwas genauer und greifen wir unsere von Kants Begrifflichkeit bestimmte Unterscheidung zwischen empirischem und transzendentalem (reinen) Bewusstsein wieder auf: Die Erinnerung an frühere Erlebnisse, insofern sie sich reflexiv auf das eigene Erleben bezieht, ist ein empirisches Bewusstsein dieser Erlebnisse, sie kann das damals Gedachte distanziert oder gar kritisch betrachten oder aber ,wiederholen‘, in das gegenwärtige Denken re-integrieren. Sie ordnet die Erlebnisse mit ihrem Sinngehalt in einen faktischen Verlauf ein, der als objektive Zustandsfolge der eigenen Person zugehört aber von dem aktuellen Zeitbewusstsein des Erinnerungsaktes gänzlich unabhängig ist (so dass die Erinnerung wohl kaum jemals den Zeitverlauf des erinnerten Erlebnisses lückenlos ,nachvollzieht‘). – Das aktuelle Zeitbewusstsein dagegen mit seinem retentionalen und protentionalen Horizont ordnet keineswegs die eigenen Erlebnisse als Zustandsfolge der eignen Person in einen objektiven Verlauf ein, es ist ja auf etwas ganz anderes, in obigen Beispiel auf die Folge der Töne, gerichtet. Den Tönen wird nun zwar ein objektiver Verlauf zugedacht, von ihnen – nicht von unserem Hören (und dem damit verbundenen Denken) – haben wir ein empirisches Bewusstsein. Von unserem Hören und Denken dagegen haben wir ein transzendentales Bewusstsein; Retention und Protention also sind Momente, näherhin imaginative Momente, unseres trans246 Rudolf Boehm hat, wenn ich mich recht erinnere, in einem Vortrag die These vertreten, der Übergang von Husserl zu Heidegger sei der Übergang von der Analyse der Retention zur Analyse der Protention; das ist, was die Gewichtung angeht, nicht ganz falsch, aber der Begriff der Protention stammt durchaus noch von Husserl, wie der Text schon der von Heidegger und in den Husserliana von R. Boehm herausgegebenen ,Vorlesung‘ beweist (vgl. Hua X, S. 52 f.), erst recht aber der von R. Bernet u. D. Lohmar hrsg. Band: Die ,Bernauer Manuskripte‘ über das Zeitbewußtsein (1917/ 18) (Hua XXXIII), Dordrecht 2001, der durchaus neue Einsichten bezüglich der Protention in ihrer Verflechtung mit der Retention enthält. 247 Vgl. dazu Hua X S. 45 ff.

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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zendentalen Bewusstseins. Deutlich wird uns das sogleich, wenn wir an das Kantische Beispiel des geometrischen Beweises aus dem Kiesewetter-Aufsatz zurückdenken: Auch das Beweisen ist auf Retention und Protention des (von Husserl so genannten) ,inneren‘ Zeitbewusstseins angewiesen, aber von den geometrischen Gegenständen haben wir so wenig ein empirisches Bewusstsein einer zeitlichen Veränderung oder Dauer, wie von unseren Beweissätzen – und im Vollzug eines Beweisschrittes ebenso wenig von diesem Vollzug. Freilich „bringt dieser Gedanke einen Gegenstand der Erfahrung hervor oder eine Bestimmung des Gemüths, die beobachtet werden kann, sofern es nämlich durch das Denkungsvermögen afficirt wird“.248 Und so kann ich sogar während meiner Beweisbemühungen, mich erinnernd, zurückblicken und sagen: „Eben habe ich schon bewiesen, dass . . .“, und planend vorausblicken: „nun werde ich noch zeigen, dass . . .“. – Darin liegt dann ein empirisches Bewusstsein der vergangenen und künftigen Beweis-Schritte, auf frühere und spätere Fakten bezogen – all dies natürlich nicht ohne ein transzendentales Bewusstsein des jetzigen Erinnerns und Planens, samt retentionalem und protentionalem Jetzt-Horizont. 5. Zeitbewusstsein, Regelbewusstsein, Verstehen Versuchen wir nun, aus der Analyse des Zeitbewusstseins einige Folgerungen für die zeitliche Konkretion der Sinngehalte in Wahrnehmung und ausdrücklichem Denken zu ziehen. Mit der Struktur des Zeitbewusstseins ist noch nicht das Bewusstsein der Zeitinhalte erklärt, aber diese Struktur verhilft uns zu einem besseren Verständnis der zuvor erläuterten phänomenologischen Analysen. Sie macht nämlich auf der elementaren Ebene der Sinnlichkeit deutlich, dass Bewusstsein überhaupt nicht sozusagen positivistisch mit einer Abfolge von Daten, gar noch von Empfindungsdaten, erklärt werden kann. Was zunächst als sinnliche Empfindung oder Empfindungsinhalt bezeichnet worden ist, entpuppt sich – kantisch gesprochen – als ein Produkt der Einbildungskraft. Husserls Verdienst ist es zumindest, die Struktur der Einbildungskraft in einigen Hinsichten genauer beschrieben zu haben. Jede Gegebenheit des Bewusstseins hat jedenfalls in jeder Jetztphase einen retentionalen und protentionalen Horizont. Dieser Horizont ist nun aber, zumal in protentionaler Hinsicht, nicht beliebig, sondern durch gewisse, von der Retention und vom sinnlichen Material indizierte, Regeln bestimmt.249 Der Horizont ist zumeist keine fixe Sequenz weiterer Wahrnehmungen (wie beim Hören einer bekannten Melodie), sondern ein Schema für Möglichkeiten der Variation. In Husserls späteren Werken, zumal in den ,Cartesianischen Meditationen‘, erweist sich dieser schematische Horizont immer mehr als bestimmt durch ein ganzes System von Regeln. Diese Regeln 248

Wir zitieren nochmals Kant, AA XVIII 318; vgl. oben S. 210. Vgl. dazu Hua XXXIII, S. 38 und D. Lohmar, Phänomenologie der schwachen Phantasie, S. 96 f. 249

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

schließlich machen den über das sinnliche Material hinausgehenden Sinn der Wahrnehmungen aus, die Noemata. Dem Kantischen Begriff des Schemas, der als Regel der Veranschaulichung von Begriffen konzipiert ist, entspricht in gewisser Weise der Husserlsche Begriff des Typus, der u. E. aus der umgekehrten Perspektive gebildet ist: als so etwas wie eine Direktive für die Variabilität einer Anschauung gemäß dem Schema eines Begriffs.250 Wenn wir diese ,Sinndimension‘ zu unserer Darstellung des Zeitbewusstseins in Beziehung setzen sollten, müssten wir in jedem Zeitpunkt so etwas wie eine dritte Koordinate hinzudenken. Die Regeln sind in der Wahrnehmung nicht explizit gegeben, aber wirksam und darüber hinaus in einer jeweils gewählten Hinsicht explizierbar: durch sprachliche Ausdrücke. Im Akt des Ausdrucks, den wir semiotische Selbstobjektivation genannt haben, identifizieren und objektivieren wir durch sprachliche Bezeichnungen die zu einem protentionalen Variationsschema gehörige Regel, den Begriff. – Wenn wir uns jetzt fragen, worin die ,Realität‘ des Begriffs, was nichts anderes heißt als: die über die intuitiven oder signitiven Repräsentanten hinausgehende Realität des Sinnes, besteht, dann müssen wir sagen: Sie besteht in einem Bewusstsein eines Schemas von Möglichkeiten, die jederzeit imaginativ realisierbar sind. Durch die Begriffe (etwa in einem Urteil) begreifen wir Gegenständliches, in der Erinnerung an seine Artikulation ist uns unser Begreifen gegeben und kann dann selbst zu einem Gegenstand begreifender Bestimmung werden. Aber schon die Wahrnehmung enthält implizit begriffliche Regeln, die sich in den protentionalen ,Mehrmeinungen‘ konkretisieren, in der imaginativen Protention von anschaulichen Merkmalen. Die in der Wahrnehmung fungierende kategoriale Selbstaffektion, die Kant in der transzendentalen Deduktion der Kategorien herausgearbeitet und im Schematismuskapitel differenziert hat, wird demnach materialiter durch eine Selbstaffektion konkretisiert, die wir mit D. Lohmar „phantasmatische Selbstaffektion“ nennen können.251 Dank dieser Selbstaffektion fungieren die intuitiv repräsentierenden Gegebenheiten nicht bloß als signitive Repräsentanten der (noch) nicht gegebenen Merkmale, sondern, weil diese signitive Repräsentation kategorialen und inhaltlich-begrifflichen Regeln folgt, für eine darauf gerichtet Reflexion auch als innere Objektivation impliziter Gedanken. Diese innere Objektivation von Gedanken ermöglicht nun aber auch, dass uns in der Erinnerung an Wahrnehmungen, auch ohne dass wir in der damaligen Situation irgendwelche Gedanken geäußert hätten, unser in den Wahrnehmungen impliziertes Begreifen gegeben ist. Mag die Abgrenzung des250 Vgl. D. Lohmar, Phänomenologie der schwachen Phantasie, S. 109 und das äußerst aufschlussreiche 6. Kapitel dieser Arbeit („Husserls Typen und Kants Schemata“); dazu auch den früheren Aufsatz: Dieter Lohmar, Husserl’s Types and Kant’s Schemata, in: The New Husserl: A Critical Reader, ed. by D. Welton, Indiana 2003, 93–124. 251 Vgl. D. Lohmar, Phänomenologie der schwachen Phantasie, S. 66 ff.

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sen, was wir da als implizite Gedanken erinnern, von dem, was wir als uns Erinnernde reflektierend hinzufügen, auch schwierig sein; dass wir in weitem Maße anschauliche Gestalten nicht erst noch auf den Begriff bringen müssen, sondern uns ihrer als schon begriffener Gestalten erinnern, scheint schon in der normalen Rede von der Erinnerung an ein Geschehen zu liegen. Fassen wir nun die Möglichkeit der geisteswissenschaftlichen Reflexion, der begreifenden Bestimmung unseres Begreifens ins Auge, so zeigt sich, dass uns für dieses geisteswissenschaftliche Begreifen an rezeptiv gegebenem gedanklichem Material weit mehr zu Verfügung steht als dasjenige, was uns als semiotische Objektivation vorliegt. Wenn Kant mithin von der inneren Anschauung sagt, „daß darin die Vorstellungen äußerer Sinne den eigentlichen Stoff ausmachen, womit wir unser Gemüth besetzen“252, so müssen wir, wenn das eine erschöpfende Auskunft sein sollte, nicht bloß hinzusetzen, dass zu diesen „Vorstellungen äußerer Sinne“ auch sprachliche Zeichen gerechnet werden müssten. Wir müssen vielmehr auch hinzusetzen, dass die im gewöhnlichen Sinne so genannten Vorstellungen äußerer Sinne (die anschaulichen Gestalten) neben ihrer primären Funktion, äußere Gegenstände (und dabei auch deren nur signitiv repräsentierten Merkmale) zu repräsentieren, für die Reflexion eine sekundäre Funktion übernehmen können, nämlich den Sinngehalt unseres impliziten Begreifens der äußeren Gegenstände zu repräsentieren: Wir aktualisieren in der Erinnerung nicht nur intentione recta die äußere Erfahrung, das Begreifen der äußeren Gegenstände, sondern in entsprechend reflektierender Blickwendung verstehen wir, imaginativ die anschaulichen Gestalten wachrufend, den damals mit diesen anschaulichen Gestalten verbundenen Sinn. Mit den erinnerten anschaulichen Gestalten kann also der (sei es auch vage) Sinn unseres impliziten Begreifens („Da sitzt ein Vogel“) rezipiert werden und – in einem weiteren Schritt – kann dieser Sinn und unser damaliges Begreifen zum Gegenstand begreifenden Erkennens werden (in dem etwa das Erblicken des Vogels als kausale Bedingung für mein längeres Verweilen am Fenster und mein Verpassen eines Zuges erkannt würde). Eine ähnliche Verknüpfung zwischen anschaulicher Gegebenheit und gedanklichem Gehalt wie bei der Erinnerung scheint bei der Betrachtung bildlicher Darstellungen stattzufinden, nur dass hier zum einen das anschaulich Gegebene ein äußerer Gegenstand ist und zum anderen seine Darstellungsfunktion auf den (begrifflich regulierten) willkürlichen Produktionsakt eines (anderen) Subjekts zurückgeht. Aus diesen Überlegungen können wir nun auch eine Antwort auf die Frage erschließen, worin denn das ausdrückliche Urteilen und das Verstehen von Ausdrücken eigentlich bestehe. Der Verweis auf die Explikation der Regeln, etwa in 252

Vgl. nochmals KrV B 67; III 70, 4–6.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Definitionen, würde unsere Frage noch nicht beantworten. Auch wenn die Regeln expliziert werden, sind ja nicht sie, sondern ihre Identifikatoren, die sprachlichen Bezeichnungen gegeben. Aber die urteilende Erzeugung der Bezeichnungen und das Verstehen der Ausdrücke impliziert das protentionale Bewusstsein eines Schemas für mögliche Erfüllungsvarianten der ausgedrückten signitiven Intentionen. Das Bewusstsein eines solchen Schemas erweist sich im Zweifelsfall empirisch an unserer Fähigkeit, jederzeit zur Imagination solcher Varianten und schließlich zu ihrer Beschreibung überzugehen. Die Empirizität der noematischen, d. h. der Sinn-Dimension besteht also in einer latenten Protention von Möglichkeiten. Natürlich besteht nicht jede Erfüllung von Intentionen in der Imagination schlichter Wahrnehmungen. Was eine „Große Koalition“ sei, ,veranschaulichen‘ wir schon (und zwar in uneigentlicher Weise), wenn wir uns etwa eine Graphik der Sitzverteilung im Parlament und die Vereinigung der beiden größten Segmente oder aber den Händedruck der beiden Parteiführer vorstellen. Beides gehört zu den möglichen Veranschaulichungen, in diesem Falle den Veranschaulichungen einer Veranschaulichung, die ihrerseits wieder nur einen intuitiven Repräsentations-Splitter mit größtenteils signitiver Repräsentationsfunktion darstellt. „Eigentlich“ konkretisiert und veranschaulicht sich eine Große Koalition in gewissen (evtl. schriftlich fixierten) Verhaltensregeln für die Koalitionäre sowie der Einhaltung dieser Regeln etwa bei Parlamentsabstimmungen. Das Bewusstsein des Begriffs einer großen Koalition und das Verstehen des Ausdrucks kann sich an vielerlei imaginativen Repräsentanten veranschaulichen, eigentlich vollzogen ist es in einer Art von protentionaler „Bereitschaft“, ein Schema für solche Veranschaulichungen zu skizzieren. Hinzusetzen müssen wir dabei, dass in vollständigen Sätzen die Variationsbreite der Konkretisierung und Veranschaulichung der Sinnelemente zumeist schon mehr oder weniger eingeschränkt ist, weil die Korrelate der synthetischen Verknüpfungen von Begriffen zu Urteilen, die Sachverhalte (dass etwa die Große Koalition den Gesetzentwurf x im Parlament eingebracht habe), gegenüber den ,ungebundenen‘ Begriffen selbst schon Konkretisierungen darstellen. Verstehen im elementaren geisteswissenschaftlichen Sinne ist die Rezeption von Sinn. Aber der Sinn selbst ist niemals unmittelbar, also anschaulich gegeben, sondern nur anschaulich repräsentiert und wird – im Verstehen – als Bewusstsein von Erfüllungsmöglichkeiten aktualisiert. – Die Regeln dieser Erfüllungsmöglichkeiten selbst sind nicht gegeben und doch wirksam; das heißt, dass sie eine Wirklichkeit haben, die funktional zum Bewusstsein gehört, obwohl sie keineswegs anschaulich bewusst ist. Vielleicht sollten wir sagen: die Regeln sind nicht bewusst, sondern sie sind das Bewusstsein – nämlich des unter sie fallenden, durch sie ,regulierten‘ Materials. Damit würden wir eine terminologische Brücke schlagen zwischen dem Husserlschen und dem Kantischen Begriff der Apperzeption, müssen dann freilich auch vom transzendentalen Bewusstsein im Kantischen Sinne (der transzendentalen Apperzeption) sprechen, also einem

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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prinzipiellen Bewusstsein, das die konkreten Sinnelemente kategorial strukturiert und als Synthesis der Einbildungskraft die anschaulichen Erfüllungen reguliert. Damit eilen wir dem, was wir bei Husserl bisher finden konnten, auf der Suche nach dem Grund all der Fähigkeiten, die wir uns da zuschreiben, ein Stück voraus. – Jedenfalls wären hier noch mancherlei Differenzierungen zu machen: Retention und Protention, sofern sie die Struktur nur des (von Husserl vorzugsweise behandelten) inneren (auf den eigenen ,Erlebnisstrom‘ bezogenen) Zeitbewusstseins betreffen, sind zu unterscheiden von der Konstitution der objektiven Zeit, die wir den physischen Ereignissen zudenken, aber keineswegs den Sinneinheiten von Sätzen, die wir sozusagen ,durchlaufen‘ und die wir zu logisch-synthetischen Einheiten verknüpfen. Aber gleichwohl scheint dieselbe Fähigkeit des Bewusstseins, die während der Produktion oder Rezeption von Sinneinheiten den Anfang etwa eines Satzes gegenwärtig hält und sein Ende schon ,ins Auge fasst‘, eben auch dies vollbringen zu müssen, dass etwa Subjekt und Prädikat nicht als zeitlicher Verlauf, sondern als logische Bestimmungseinheit ,vergegenwärtigt‘ werden. Auch wenn hier die Rede von der ,Vergegenwärtigung‘ nicht als eine Verzeitlichung missverstanden werden darf, scheint, mit einem Blick auf unserer zweidimensionale Graphik gesprochen, auf den senkrechten Phasen-Linien mehr angeordnet werden zu müssen als die retentional-protentionale Imagination des Zeitverlaufs. Wenn wir nicht befürchten müssten, einem der Sache unangemessenen Hang zur Verbildlichung zu erliegen, könnten wir zu jedem Zeit-Punkt noch eine dritte Dimension zur Darstellung des jeweils aktuellen logischen Bewusstseins einzeichnen. Nach Kantischen Begriffen wäre diese Dimension, diejenige letztlich des urteilenden Verstandes, der letzte Grund auch der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft, also des Zeitbewusstsein. Von hier aus wird Kants These von der Nicht-Empirizität und Nicht-Zeitlichkeit des ,Bewusstseins, eine Erfahrung anzustellen‘ in dem oben (211 f.) zitierten Kiesewetter-Aufsatz noch einmal verständlicher. – Für die empirischen Geisteswissenschaften ist daher das transzendentale Bewusstsein selbst kein gegebenes Datum, sondern eine theoretische Voraussetzung, die, aufgrund der semiotischen Selbstaffektion, nur in ihren empirischen Folgen, den intuitiven und signitiven Repräsentanten, erfahrbar ist. – Mit solchen Überlegungen markieren wir eine Grenze zwischen der Grundlegung einer empirischen Wissenschaft des Geistes und der Transzendentalphilosophie. 6. Konstitutionssysteme und noematische Systeme Wir wiesen schon darauf hin, dass Husserl sich im Lauf seiner Entwicklung immer mehr darum bemühte, die bestimmenden Ideen der theoretischen Philosophie Kants einzuholen und ihre Ausarbeitung womöglich auf eine seines Er-

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

achtens tragfähigere Basis zu stellen. So hat Husserl in seinen Vorlesungen auch eine transzendentale Deduktion der Kategorien leisten wollen, aber eine Deduktion „von unten“ (von den Konkretionen her), und sie der Kantischen Deduktion „von oben“ (von den formalen Gesetzen und Prinzipien her) entgegensetzt.253 – Die Konstitution der Gegenstandswelt insgesamt geschieht nach Husserl nicht regellos, sondern in wesensmäßig notwendigen Schichten und Stufen.254 In den „Cartesianischen Meditationen“ zeigt Husserl, dass die Konstitution der Wirklichkeit in unserem Bewusstsein einer festen Typik folgt. Der „formale Gesamttypus“ der Konstitution des Gegenstands überhaupt „sondert sich . . . in eine Reihe scharf unterschiedener noetisch-noematischer Sondertypen“, bei denen wir auf der einen Seite noetische Typen wie „Wahrnehmung, Retention, Wiedererinnerung, Vorerwartung, Signifikation, analogisierende Veranschaulichung“ und auf der anderen ,formal-logische‘ und ,material-ontologische‘ Abwandlungen des Gegenstands-Noema zu differenzieren haben. Für die letzteren gebraucht Husserl den Begriff der Gegenstands-Region und unterscheidet „z. B. (bloßes) Raumding, animalisches Wesen usw.“.255 Seine transzendentale Phänomenologie begreift er als 253 Vgl. hierzu Iso Kern, Husserl und Kant, § 15 (S. 150–178), inbes. S. 161 f. und Hua XXXII 103–123. – Wir müssen es hier dahingestellt sein lassen, inwieweit Husserl die Kantische Idee einer transzendentalen Deduktion der Kategorien wirklich verstanden hat. Man kann den Verdacht hegen, dass Husserl bei seinen Deskriptionen und Analysen genau die Prinzipien, die er nicht wie Kant ,deduzieren‘, sondern in der ,Anschauung‘ aufweisen will, immer schon in Anspruch nimmt, etwa wenn der „intentionale Gegenstand“ (und also die Bedingungen der Möglichkeit von Gegenständlichkeit im Unterschied von bloßer Subjektivität) als „transzendentaler Leitfaden“ seiner Analyse fungiert (vgl. etwa die Überschrift des § 21 der „Cartesianischen Meditationen“, Hua I, S. 87). So scheint uns die phänomenologische Analyse der Wahrnehmungsverläufe, in denen sich ein kausaler Zusammenhang (sei es auch vorläufig und hypothetisch) ,erweist‘, immer schon – von Hume’schen Zweifeln gänzlich unberührt – vorauszusetzen, dass das Prinzip der Kausalität gültig sei. Statt einer Rechtfertigung der Prinzipien sucht Husserl immer nach deren Konkretisierung in den Prinzipiaten. Der Rückgang von den Prinzipien auf die Prinzipiate heißt dann Rückgang auf den transzendental-phänomenologischen Ursprung der Prinzipien (vgl. etwa Hua VII, S. 382). – Freilich beruht die Verkennung des Kantischen Deduktionsprogramms wohl mehr auf Husserl Studium neukantischer Schriften als auf dem der „Kritik der reinen Vernunft“. – Immerhin lässt sich beim Vergleich der früheren Versuche in den Vorlesungen von 1910/11 (vgl. Kern, S. 155–158 und Hua XXX S. 6– 69) mit den späteren in den Vorlesungen von 1927 (Kern S. 16–162; Hua XXXII S. 103–123) eine größere Annäherung an die Kantische Problemstellung feststellen. Dies mag auch mit Husserls kritischer Auseinandersetzung mit Rickerts „formalistische[r] Veräußerlichung“ der „kantischen Gedanken einer transzendentalen Deduktion“ (vgl. Hua XXXII 121 und 93–102) zu tun haben: Es gehe bei der Begründung wissenschaftlicher Erfahrung nicht, wie Rickert meine, um die Überwindung der Unendlichkeiten der Welt durch Gesetze bzw. durch Werte, sondern, wie Kant erkannt habe, um die Überwindung der Erfahrungssinnlichkeit durch das Denken (vgl. Hua XXXII 95 u. 100). 254 Husserl spricht einmal vom „ABC der Konstitution“; zu den „fünf Stufen der Konstitution“ vgl. des näheren auch D. Lohmar, Phänomenologie der schwachen Phantasie, S. 85 f.

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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„die Aufgabe, in der Einheit einer systematischen und allumspannenden Ordnung am beweglichen Leitfaden eines stufenweise herauszuarbeitenden Systems aller Gegenstände möglichen Bewußtseins, und darin des Systems ihrer formalen und materialen Kategorien, alle phänomenologischen Untersuchungen als entsprechende konstitutive durchzuführen, also streng systematisch aufeinander gebaut, miteinander verknüpft.“256

Was „streng systematisch aufeinander gebaut, miteinander verknüpft“ ist, ist ein System. Die Husserlsche Rede von dem System der ,Gegenstände möglichen Bewusstseins‘ verdeckt, zumal wenn man dabei die vorausgesetzte transzendentale Reduktion vergisst, allzu leicht den noematischen Status dieses Systems und lässt zudem die synthetische Struktur der Noemata übersehen. Da Husserl dazu neigt, den Ausdruck ,Begriff‘ nur für die Elemente ausdrücklicher Urteile zu gebrauchen, bleibt auch die begriffliche Allgemeinheit der Systemelemente zu sehr im Hintergrund. Aber das „System aller Gegenstände möglichen Bewußtseins“ ist, wie schon die Einschließung der „formalen und materialen Kategorien“ zeigt, kein System von Gegenständen als Elementen der realen Welt, sondern ein System von Noemata257, strukturiert durch ein System von „Kategorien“, in Korrelation zum System der entsprechenden Noesen. Beide Systeme bezeichnet Husserl als „regulative Ideen“.258 In diesen Zusammenhang gehört auch die Rede von der transzendentalen Genesis, die sich empirisch konkretisiert in einer personalen Genesis. Sie weist einerseits auf die Geschichte der Konstitution von aufeinander aufbauenden Erkenntnissen, andererseits jedoch auf den systematischen Zusammenhang der Konstitution von Noemata, insofern sie durchaus notwendiger Weise einer Ordnung von elementaren und höherstufigen Sinnbildungen folgt. Insbesondere setzt die wissenschaftliche Weltkonstitution ein Fundament in der „Lebenswelt“ voraus. Mir dem lebensweltlichen Fundament der Wissenschaften ist auch der pragmatische Aspekt der Intentionalität verbunden. Zum konstitutiven Sinn etwa der 255 Cartesianische Meditationen, Hua I 88; eine detaillierte Analyse der ,regionalen‘ Konstitution, gegliedert in die Regionen Natur, Seele, Geist hat Husserl in dem postum herausgegebenen zweiten Band der ,Ideen‘ (Hua IV) in Angriff genommen. 256 Cartesianische Meditationen, § 22, Hua I 90. 257 Husserl unterscheidet, freilich nicht immer deutlich, zwischen den durch Begriffe und Urteile aufgebauten Noemata als den durch die Akte konstituierten Korrelaten und deren ,gegenständlichen‘ Entsprechungen, den allgemeinen ,Wesen‘ und ,Wesensverhalten‘, vgl. insbes. den § 16 des Dritten Buches der ,Ideen‘, Hua V 85–89. Eine auch im heutigen Diskussionszusammenhang mit der analytischen Philosophie hilfreiche Klärung der Verhältnisse bietet der Beitrag von Rochus Sowa, Wesen und Wesensgesetze in der deskriptiven Eidetik Edmund Husserls, in: Phänomenol. Forschungen 2007, S. 5–37. – Wir werden weiter unten vorschlagen, den Begriff des Wesens mit dem Kantischen des Schemas in den uns interessierenden Zusammenhängen gleichzusetzen (s. u. S. 256). 258 CM § 22, Hua I 90 f.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Kugelwahrnehmung gehört für den, der auch nur minimale Erfahrungen mit solchen Objekten gemacht hat, dass die Möglichkeiten des Anstoßens und des Rollens im Bewusstseins-„Horizont“ erscheinen. Von hier aus ist es nicht mehr weit zu der pragmatistischen Umformung der Phänomenologie in Heideggers „Sein und Zeit“, die unter einem genetischen Gesichtpunkt sicherlich eine wichtige Ergänzung des Husserlschen Ansatzes darstellt. Der Gegenstandsbezug (auf Vorhandenes) stellt sich bei Heidegger als sekundäres („abkünftiges“) Resultat der Sorgestruktur und ihrer Beziehung auf „Zuhandenes“, das „Zeug“ dar.259 Ob der von Heidegger beanspruchte Primat der Sorgestruktur transzendentalphilosophisch (geltungstheoretisch) gerechtfertigt ist, muss man wohl bezweifeln. Aber für eine Theorie empirischer Geisteswissenschaften sind natürlich gerade genetische Gesichtspunkte durchaus bedeutsam. Denn für unseren Zusammenhang mindestens ebenso wichtig wie die Fragen nach den Strukturen des wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen (lebensweltlichen) Erkennens (sei dieses nun wahrhaftes oder nur vermeintliches Erkennen) sind die Fragen nach der Struktur unseres praktischen Lebens, die mehr als bei Husserl etwa von Heidegger und Sartre260 behandelt worden sind. Die zentralen Sinnmomente sind dabei die Entwurfs-Noemata, insbesondere von Zwecken und zugehörigen Handlungsschemata, welche die Handlungssteuerung regulieren. Diese Handlungsschemata in der alltäglichen ,Lebenswelt‘ sind als aufs engste verknüpft zu denken mit der Wahrnehmung von Gegenständen, insbesondere von Gebrauchsgegenständen. Es wird wohl durchaus so sein, dass die ,Welt‘ ,zunächst und zumeist‘ für uns nicht eine Welt des ,Vorhandenen‘, sondern des ,Zuhandenen‘ ist und die Gegenstände zunächst von uns mit dem Sinngehalt „etwas zum X-Tun“ aufgefasst werden. Man mag, wie Heidegger, diese praktisch-pragmatischen Sinnstrukturen für ,fundamentaler‘ halten als die theoretischen – wenn ,fundamentaler‘ dies genannt wird, was ,zunächst und zumeist‘ da ist (und, wie man aus Helmut Plessners anthropologischen Überlegungen entnehmen könnte, tief ins animalische Weltverhältnis zurückreicht 261). Wie immer man dies in dramatisierender Redeweise mit der ,Sorgestruktur‘ des ,Daseins‘ verknüpfen mag, die Hauptsache der Husserlschen Phänomenologie wird dadurch eher erweitert als widerlegt.262 259

Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, §§ 15–18, S. 66–89. Jean-Paul Sartre, L’Être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, (11943) Paris 1976. 261 Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin/New York 31975, S. 271 f.; 275 f. 262 Vor allem aber bleibt die transzendentale Reduktion als grundlegende Methode der transzendentalen Phänomenologie von zentraler Bedeutung, insofern sie das Gedachte als solches, die ,Welt‘ der Noemata, abgrenzt von dem, was Gegenstand der Noemata ist. Dass Husserl den rein methodologischen Sinn seines transzendentalen Idealismus, auch gegenüber vielen seiner Schüler, nie unmissverständlich genug gegen 260

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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7. Habitualitäten und konkretes Subjekt Der Begriff der Genesis verweist in Husserls transzendentalen Analysen schon auf das konkrete Subjekt, das nicht nur Sinngebilde in einer wesensmäßig vorgezeichneten Folgeordnung konstituiert, sondern sich selbst durch solche Sinngebilde als eine empirisch bestimmte Person konstituiert. Husserl führt dazu den Begriff der intentionalen Habitualität ein: Jeder intentionale Akt ist nicht bloß ein Vorkommnis im Bewusstseinsstrom, der in der Erinnerung u. U. wieder auftauchen und zum Gegenstand der Reflexion werden kann, sondern, sofern in ihm ein Sinngehalt als gültig gesetzt worden ist, bleibt dieser für das Subjekt als ihm geltender, als bleibender „Erwerb“, erhalten. Das Subjekt ist hinfort, sofern es keinen Anlass zur Korrektur findet, ein Subjekt mit einer entsprechenden Überzeugung. Durch die Genesis solcher Überzeugungen wird das Subjekt zu einer konkreten Person, mit einer bestimmten, wie wir nun sagen können, „Persönlichkeit“. Eine Person mit bestimmten Überzeugungen kann also nicht mehr beliebige Akte vollziehen, beliebige Noemata konstituieren, sondern nur solche, die sich in seine bisherigen Habitualitäten einordnen, und vorzugsweise solche, die durch seine bisherigen Habitualitäten motiviert sind. Allerdings ist die empirische Wirklichkeit der Personen komplizierter, als die Alternative von Vereinbarkeit und Unvereinbarkeit mit persönlichen Überzeugungen andeutet: Nicht jede Überzeugung ist eine volle, auf unerschütterliche Einsichten gegründete persönliche Überzeugung, viele Überzeugungen sind nur schwache Meinungen, viele verdanken sich einer situativ und sozial bedingten Funktion oder Rolle und können in anderen Situationen ihre Kraft einbüßen – ein Feld für die empirische Forschung. Aber vor aller Empirie hilft uns der Begriff der Habitualität, zu erklären, warum bei unseren Wahrnehmungen und Handlungen, bei unserem Umgang mit den Dingen unser Welt jene Regeln bereitstehen, die dem Anblick etwa eines Hauses bestimmte Erwartungshorizonte vorschreiben. Erst recht kann der Begriff der Habitualität auch dazu dienen, den Übergang vom bloßen Fungieren dieser Regeln in der Wahrnehmung zu ihrer Artikulation in sprachlichen Ausdrücken zu erklären – und umgekehrt das Verstehen von Ausdrücken als Übergang von der Bezeichnung der Regeln zu ihrem Fungieren in der Protention von imaginativer Erfüllung der Intentionen. Nur wenn wir habituell über ein System einen Bewusstseinsmonismus und (wie Roman Ingarden unterstellte) ,BewusstseinsKreationismus‘ abgrenzen konnte, mag an seiner Berührungs-Ängstlichkeit gegenüber der Kantischen Rede von „Dingen an sich“ gelegen haben, aber wohl auch an seiner Unfähigkeit, sein eigenes „Prinzip aller Prinzipien“ (das der Evidenz), welches die Anerkennung des An-Sich-Seins qua Prinzip verhinderte, als das zu erkennen, was es wahrhaft ist: der Titel nur eines Prinzipiats. (Zu Roman Ingardens Einschätzung der Husserlschen Position vgl. z. B. Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt. II/2. Formalontologie, 2. Teil, Tübingen 1965, S. 393 und Gregor Haefliger, Ingarden und Husserls transzendentaler Idealismus, in: Husserl Studies, 7, 1990, S. 103–121.)

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

von Regeln für anschauliche Vorstellungen (Anschauungen und Imaginationen, intuitive Repräsentanten) verfügen, können wir bei Anschauungen „etwas denken“ und umgekehrt bei Begriffsausdrücken (signitiven Repräsentanten) uns „etwas vorstellen“. 8. Der Begriff eines noematischen Systems und die Idee des absoluten noematischen Systems a) Das noematische System als formale Habitualität von Personen und Gemeinschaften Genauer überlegt, müssen wir inhaltliche Habitualitäten, kognitive und praktische Überzeugungen, unterscheiden von rein formalen Habitualitäten, durch welche Sinneinheiten allererst ihre Bestimmtheit erhalten: vereinfacht gesprochen: die Habitualisierung eines Systems von Begriffen und Verknüpfungsformen, das wir schon öfters ein „noematisches System“ genannt haben. Mit dem Begriff eines von einer Person habitualisierten noematischen Systems führen wir nun einen Begriff ein, für den wir bei Husserl viele Anhaltspunkte finden können, insbesondere in seinem Spätwerk (der Formalen und transzendentalen Logik263 und den Cartesianischen Meditationen), dessen Definition wir aber ganz auf unsere Rechnung nehmen müssen. Denn Husserl zielt, bei aller Berufung auf eine ,transzendentale Erfahrung‘, doch auf die zur Gegenstandskonstitution notwendigen Strukturen; unser Begriff dagegen bezieht sich, zumal durch seine Verknüpfung mit dem der Habitualität, zunächst auf das faktisch benutzte Sinnsystem einer Person und dann, unter geeigneten Modifikationen, das Sinnsystem einer kommunikativen Gemeinschaft. Das habitualisierte noematische System umfasst einerseits alle empirischen Sinn-Spezifikationen der Person oder der Gemeinschaft, andererseits doch, bei aller Offenheit, über die noch zu sprechen sein wird, zunächst nicht mehr als diejenigen Systemelemente, über welche die Person oder die Gemeinschaft verfügen. In der Sprachwissenschaft hat man unter einem noematischen System ein tertium comparationis für den Vergleich von Einzelsprachen verstanden, das ein theoretisches Konstrukt auf der Basis ausgewählter, empirisch vorfindlicher Sprachen darstellt. Ein solches System bezieht sich von vornherein auf Einzelsprachen als abstrakte, einer Sprachgemeinschaft zugehörige Systeme (,langues‘ im Sinne de Saussures), kann aber auch als ausgeführtes Konstrukt, im Verhältnis zu ganzen Einzelsprachen, immer nur ein Teilsystem sein.264 – Demgegen263 Vgl. vor allem die Beilage I mit der Unterscheidung zwischen syntaktischen Stoffen und Formen, schließlich von Kernstoffen und Kernformen, Hua XVII, S. 299– 313. 264 Zu dem in dieser Weise von Klaus Heger entwickelten Begriff der Noematik und des noematischen Systems vgl. die o. S. 78 in der Fußnote genannte Literatur. –

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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über nimmt unser Begriff des noematischen Systems auf jederlei tatsächlich gemeinten Sinn Bezug und begreift ihn als bestimmt durch die Relationen zu beliebigen anderen Sinneinheiten, die eine Person konstituiert hat und konstituieren kann. Wir sprechen also zunächst von dem noematischen System einer Person, weil jede Person ein solches System allererst Stück für Stück erwerben muss, indem es zu übernommenen Begriffen die Schemata ihres Gebrauchs und die Typen anschaulicher Variabilität als Fundament für selbst zu konzipierende Begriffe ausbildet.265 So sehr davon auszugehen ist, dass dergleichen Akte nicht ohne eine Sprache und ihr Systemangebot realisiert werden können, so wenig soll doch unser Begriff des noematischen Systems (wie schon der Husserlsche Begriff des Noema) vom Begriff einer (Einzel-)Sprache abhängig sein. Denn gerade gewisse Phänomene der sprachlichen Realität, z. B. gewisse Missverständnisse zwischen Kommunikationspartnern, lassen sich nicht zureichend beschreiben, ohne dass wir Sinneinheiten voraussetzen, die zwar im jeweiligen intentionalen Akt einer Person durch ein habitualisiertes Sinnsystem determiniert sind, aber nicht (oder nicht ausreichend) durch die in der Kommunikation benutzte gemeinsame Sprache (so dass zusätzliche sprachliche Differenzierungen und evtl. Festsetzungen erforderlich werden). Darüber hinaus soll der Begriff des noematischen Systems, wie angedeutet, auch die Möglichkeit erklären, in Wahrnehmungs- und Handlungszusammenhängen implizit Sinn zu konstituierten, ohne ihn schon zu artikulieren und auszudrücken. Es ist selbstverständlich, dass dieses System nur als ein offenes System zu konzipieren ist, jederzeit erweiterbar in der Kommunikation oder durch einseitige Rezeption ,fremden‘ Sinns sowie durch Klärung seines Verhältnisses zu den schon habitualisierten Systemelementen, schließlich auch durch ,kreative‘ Begriffsbildung. Die Anwendung des Begriffs nun auf kommunikative Gemeinschaften impliziert natürlicher Weise eine empirische Unschärfe in der Bestimmtheit des Systemumfangs, wie sie auch für Sprachen unvermeidlich ist: Es gibt weder in synchroner noch in diachroner Betrachtung eine Personengruppe, die über alle Elemente des noematischen Systems (wie auch einer Sprache) verfügen würde, Wir können hier nicht auf die Einzelheiten dieser Konzeption eingehen, merken aber noch an, dass in dieser Konzeption die kleinsten Elemente des Systems selbst (begriffliche ,Primitiva‘) ,Noeme‘ genannt werden, die sich deshalb immer nur auf Klassen als ,Referenten‘ beziehen, während ,Noemata‘ in unserer Redeweise konkrete gedankliche Einheiten sind, seien sie elementar und unselbständig oder von beliebiger Komplexität und selbständig auf bestimmte Gegenstände bzw. Sachverhalte bezogen. – Die sprachwissenschaftliche Noematik, so könnten wir gleichwohl sagen, wäre ein denkbares Instrumentarium, um wichtige Aspekte eines noematisches System in unserem Sinne (realistischer: Teile davon) zur Darstellung zu bringen. 265 D. Lohmar hat in seiner Ausarbeitung der Husserlschen Lehre von den Typen herausgestellt, dass das jeweilige erfahrende Subjekt die Verbindung von Gegenständen zu Ähnlichkeitsgruppen zu leisten, auf Dauer aufrecht zu halten und gemäß weiteren Erfahrungen zu modifizieren hat (vgl. D. Lohmar, Phänomenologie der schwachen Phantasie, S. 124).

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

über die beliebige andere Personen oder Personengruppen verfügen. Schon aus pragmatischen Gründen wird man daher den Begriff vorzugsweise so verwenden, dass sämtliche in einer zweckmäßig abgegrenzten Kommunikationsgemeinschaft (sei es eine Sprachgemeinschaft, eine kulturell oder fachwissenschaftlich abgrenzbare Gemeinschaft) empirisch vorfindlichen Sinn-Elemente als jeweils in Betracht zu ziehende Elemente des Systems gelten. Der Begriff soll also in unseren Überlegungen zur Grundlegung der empirischen Geisteswissenschaften die Gesamtheit möglicher Sinneinheiten und Verknüpfungsformen umfassen, die eine Person oder eine kommunikative Gemeinschaft habituell zur Verfügung hat, um eine bestimmte Sinneinheit zu generieren, sei es nur implizit in Wahrnehmungsakten oder Handlungen, sei es explizit in sprachlichen Äußerungen. b) Die beiden ,Dimensionen‘ des noematischen Systems Noemata besitzen eine Bestimmtheit nur durch ein System von begrifflichen Regeln, die auf verschiede Weise miteinander verknüpft sind. Die Verknüpfung dieser Regeln untereinander ist diejenige ,Dimension‘ des Systems, die es möglich macht, eine durch ein sprachliches Zeichen identifizierbare Regel als „analytische Einheit“266 durch die Angabe ihrer Relationen zu anderen sprachlich identifizierbaren Regeln zu bestimmen. Aber diese ,Dimension‘ des noematischen Systems kann nur einen Gehalt haben, wenn die Regeln sich dank der „synthetischen Einheit“ möglicher gegenstandsbezogener Sätze letztlich auf etwas anderes als auf solche Regeln beziehen, nämlich auf Anschauliches. Kants Feststellung „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriff sind blind.“267 betrifft auch diesen Doppelaspekt des noematischen Systems. Die älteste und bekannteste Art der Beziehung zwischen den begrifflichen Elementen des Systems ist die von Begriffen und den sie definierenden Teilbegriffen, die auch zu Darstellungen wie der arbor porphyriana genutzt worden ist. Schon die Platonischen Dialoge machen diesen ,trivialen‘ Beziehungen gegenüber auf ,dialektische‘ Querstrukturen aufmerksam: Der Begriff des Seins kann nicht ohne den des Werdens, der des Verschiedenen nicht ohne den des Nichtseins bestimmt werden usw.268 Aristoteles hat im Rückgriff auf gewisse Frage- und (darauf ,antwortende‘) Aussageformen gewisse kategoriale Begriffe herausgearbeitet, Kant hat diese auf ein Prinzip (der synthetischen Einheit des Bewusstseins von Gegenständen überhaupt) zurückgeführt und gezeigt, dass sie über Schemata mit Anschauungsformen (zunächst der Zeit) zu verknüpfen sind.

266 267 268

Vgl. oben S. 220. KrV B 75; AA III 75. Vgl. dazu vor allem Platons Dialog „Parmenides“.

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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Damit sind die Grundstrukturen der anderen Dimension des noematischen Systems exponiert, die der Konkretion der Begriffe durch Anschauungen. Nicht um einzelne Anschauungen geht es hier, sondern um die Schemata ihrer Erzeugung, Exemplifizierung und Anwendbarkeit. Schon Kant hatte, wie wir oben sahen, nicht nur die Notwendigkeit kategorialer Schemata erkannt, sondern auch Schemata für empirische Begriffe ins Auge gefasst.269 Husserls Analysen der Wahrnehmung mit der signitiven Repräsentationsfunktion der einzelnen ,Abschattungen‘ für nicht gesehene Seiten einerseits und ihren KonditionalitätsHorizonten (wenn ich um den Gegenstand herumgehe, werde ich etwa Folgendes sehen . . .) andererseits lassen die Schemata empirischer Begriffe weitaus konkreter fassen, und in diesem Falle offenbar so, dass die Schemata von Gegenstandsbegriffen und Schemata von Handlungsbegriffen aufeinander bezogen sind. Die Schemata sind allgemeine Regeln für den imaginativen Entwurf von begriffsadäquaten Anschauungen, welche im Falle der empirischen Begriffe zwar eine Begriffsbildung aus der Erfahrung voraussetzen, aber uns danach zur spontanen Erzeugung von Imaginationen dienen, so dass wir „uns etwas vorstellen können“, wenn wir Begriffsausdrücke und sprachliche geäußerte Sätze verstehen. Der Reflexionsbegriff des Wesens oder Eidos270, durch den Husserl das gegenständliche Korrelat oder Pendant eines allgemeinen Begriffs theoretisch zu fassen sucht, spielt bei näherem Hinsehen in Husserls Phänomenologie eine ähnliche Rolle wie der des Schemas in unseren Überlegungen, insofern er zwischen dem Begriff und dem Begriffenen vermittelt. Dies zeigt sich vor allem auch in der reiferen Fassung der Husserlschen Eidetik, wenn die zunächst mitunter als „Wesensschau“ oder „Wesenserschauung“ konzipierte Methode als freie Variation anschaulicher Beispiele in der Phantasie dargestellt wird.271 Nur scheint uns in dem Begriff des Wesens im Verein mit dem intuitionistischen Begriff der (Rezeptivität nahelegenden) Wesenserschauung zu sehr eine Vergegenständlichung, wenn nicht gar Hypostasierung, einer in Wahrheit spontanen Funktion des Denkens zu liegen, wie dies auch in Husserls (nicht nur von transzendental orientierten Phänomenologen aufgegriffenem272) Versuch, mithilfe des Wesensbegriffs eine Ontologie zu inaugurieren, nahegelegt wird. Das Wesen er-

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KrV B 180, s. o. S. 223 f. Vgl. etwa den Ersten Abschnitt der Ideen I, Hua III/1, S. 10–55; R. Sowa definiert in seiner die Husserlsche Eidetik systematisch verdeutlichenden Abhandlung das Eidos als die zur Urteilsfunktion (zum Prädikatsbegriff) korrelative Sachverhaltfunktion, vgl. R. Sowa, Wesen und Wesensgesetze, S. 13 f. 271 Vgl. etwa den III Abschnitt des von L. Landgrebe redigierten Husserlschen Werkes: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, redigiert u. hrsg. v. L. Landgrebe (11939), Hamburg 1972. 272 Man denke etwa an die auf unterschiedliche Weise eine ontologische Philosophie propagierenden Konzeptionen Martin Heideggers und Nicolai Hartmanns. 270

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scheint so widersinniger Weise leicht als Grund des Begriffs und in der Folge das Sein als Grund aller Geltung. Wir schlagen daher vor, in der Analyse des Verhältnisses von Begriffen und Anschauungen an die Stelle des Wesens- oder Eidos-Begriffs den Begriff des Schemas zu setzen. Dabei scheint uns insbesondere die Unterscheidung zwischen empirischem und ,reinem‘ Wesen, zwischen dem gegenständlichen Korrelat eines an die Erfahrung der wirklichen Welt gebundenen Begriffs und dem Korrelat eines ebenso gut auf bloße Phantsiegegebenheiten bezogenen Begriffs273, eine auch für eine Theorie der Schemata wichtige, ja unentbehrliche Diferenz zu enthalten, insofern nur durch sie begreiflich zu machen ist, warum wir etwa den mit unseren Erfahrungen oder wissenschaftlichen Meinungen unvereinbaren Gehalt von Texten oder Zeugnisse fremder Kulturen oder auch fiktionale Kulturwerke verstehen können. c) Intersubjektivität der Sprache als Bedingung der Erfahrbarkeit von Gedanken und die Idee eines absoluten noematischen Systems Die beiden ,Dimensionen‘ des noematischen Systems sind jedoch, wie wir längst wissen, nichts, jedenfalls nichts Erfahrbares, ohne die Sprache. Nicht nur, dass wir die begriffliche Regel nicht ohne eine Bezeichnung identifizieren und durch eine Art von Definition oder Umschreibung als ,Stelle‘ im System bestimmen können. Auch die andere Dimension, diejenige der Schemata, welche die Bedingungen anschaulicher Erfüllung der Regel explizieren, können wir wiederum nur durch sprachliche Objektivation artikulieren. Bildliche Darstellungen, seien sie noch so ,schematisch‘, können immer nur singuläre Fälle der anschaulichen Erfüllung skizzieren, das Bewusstsein ihrer schematische Funktion setzt schon ein Wissen voraus, das nur durch sprachliche Sätze artikuliert werden kann. Semiotische Selbstaffektion ist also, trotz der vorprädikativen Realität von Sinn in Wahrnehmungen und Handlungen, das einzige Mittel zur Identifikation der Gedanken. – Damit bleibt aber noch ein Problem übrig: Wenn wir denn einmal eine begriffliche Regel und ihre Regel-Implikate für die zu erwartenden weiteren Anschauungen durch sprachliche Bezeichnung identifizieren, wie können wir später, wenn wir uns daran erinnern oder etwa eine Aufzeichnung unserer sprachlichen Artikulation finden, wissen, welche Regeln genau wir mit diesen Bezeichnungen verbunden haben bzw. ob wir genau die Regel damit verbunden haben, die wir jetzt damit verknüpfen? Die Worte mögen, wie wir früher festgestellt haben, der Identifikation unserer Gedanken dienen, aber der durch ein Wort bestimmte Sinn liegt bekanntlich 273

Vgl. das II. Kap. d. III. Abschnitts von „Erfahrung und Urteil“, S. 409–443.

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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nicht in der ,Natur‘ der Wörter; das Verhältnis der Wörter zu ihrem Sinn ist, wie die Sprachwissenschaft immer schon lehrt, arbiträr. Hieße das jedoch, dass jeder von uns sich seine Wortbedeutungen einfach zurechtlegte, wäre es uns nicht möglich, die Identität der Wortbedeutungen zu kontrollieren. Niemand kann für sich allein einer Regel folgen.274 Diese Erkenntnis Ludwig Wittgensteins ist die Konsequenz eines Prinzips, das man schon in Kants Widerlegung des Idealismus und in Husserls Überlegungen zur Möglichkeit objektivierender Auffassung der eigenen Innerlichkeit 275 enthalten sehen kann: Die objektive Bestimmung unserer ,privaten‘ Innerlichkeit bedarf eines Rückgriffs auf die äußere Erfahrung.276 Die Bestimmung der Bedeutung unserer Worte, und damit die Identifikation unserer Gedanken, braucht ähnlich wie die Zeitbestimmung unseres Denkens einen in bestimmtem Sinne ,äußeren‘ Maßstab. Ein äußerer muss dieser Maßstab in dem Sinne sein, dass er sich in der äußeren Erfahrung manifestieren lässt. Die Manifestation des Maßstabs sprachlicher Bedeutungen liegt in der erfahrbaren kommunikativen Verwendung der sprachlichen Zeichen, sofern und soweit diese Verwendung einer (relativ) festen, in der Kommunikation kontrollierbaren 274 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1977, § 202: „. . . der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel ,privatim‘ folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.“; vgl. § 243 ff.; § 258: „Man möchte hier sagen: richtig ist, was immer als richtig erscheinen wird. Und das heißt nur, dass hier von ,richtig‘ nicht geredet werden kann.“; vgl auch: Wittgenstein’s Notes for lectures on ,private experience‘ and ,sense data‘, in: Philos. Review 77, 1968, p. 271–320, insbes. 300. 275 Im zweiten Buch der ,Ideen‘ analysiert Husserl die „Bedeutung der Einfühlung für die Konstitution der Realität ,Ich-Mensch‘“ (Überschrift des § 46, Hua IV, S. 167). Er legt zunächst dar, dass mir in einer solipsistisch gedachten Selbsterfahrung zwar manches aus meinem seelischen Leben bekannt sein könnte, aber es würde mir „gar nicht einfallen können, all mein Psychisches, mein Ich, meine Akte, auch meine Erscheinungen mit ihren Empfindungsdaten etc. ernstlich in meinen Leib hineinzustecken, zu ,introjizieren‘. Auch ist wohl keine Rede davon, dass ich in der solipsistischen Selbsterfahrung all mein Subjektives mit meinem wahrnehmungsmäßig gegebenen Leib als eine Realität vorfinde, nämlich in Form einer Wahrnehmung, obwohl mein Leib so vielfältige Einheit hat mit Subjektivem. Erst mit der Einfühlung und mit der beständigen Richtung der Erfahrungsbetrachtung auf das mit dem fremden Leib appräsentierte und beständig zusammen mit dem Leib objektiv genommene Seelenleben konstituiert sich die abgeschlossene Einheit Mensch, und diese übertrage ich im weiteren auf mich selbst.“ Die Erfahrung meiner selbst als Menschen mit leiblichen und seelischen Attributen setzt demnach die Erfahrung einer solchen leiblich-seelischen Einheit als ,Gegenüber‘ (Objekt), als etwas, dessen seelische und geistige Attribute nur durch ihren leiblichen Ausdruck gegeben sind, voraus. 276 Vgl. den mit einer ironischen Metathese überschriebenen Aufsatz von Leslie Stevenson, Wittgenstein’s transcendental deduction and Kant’s privat language argument, in: Kant-Studien, Bd. 73, 1982, S. 321–337; Rolf Zimmermann, Der ,Skandal der Philosophie‘ und die Semantik. Kritische und systematische Untersuchungen zur analytischen Ontologie und Erfahrungstheorie, Freiburg 1981.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Regel folgt. Das schließt nicht die Einführung neuer Verwendungsregeln oder gar Zeichen durch einzelne Personen aus, aber diese Einführung ist zurückgebunden an und geschieht durch Rückgriff auf schon erfahrene Zeichenverwendung, die auf einer elementarsten Stufe wohl auf die Manifestation des Gegenstandsbezugs durch die Variation von Zeige- und anderen Handlungen angewiesen ist, wodurch etwa die bekannten Begriffsbildungs-Akte der Komparation, Reflexion und Abstraktion stimuliert werden. Glücklicherweise müssen wir also, um unsere Gedanken zu identifizieren, nicht eine Sprache erfinden, wir lernen eine schon im Gebrauch befindliche Sprache und Sprachen durch Kommunikation mit anderen Personen (oder die Simulation der Kommunikation, notfalls über sekundäre, z. B. graphische, Zeichensysteme). In dieser Kommunikation spielen grundsätzlich zwei Dimensionen der Sprachverwendung eine Rolle, die zwei Dimensionen der begrifflichen Regeln entsprechen und sie dazustellen erlauben: die synthetische Einheit des Gegenstandsbezugs der Begriffe und die analytische Einheit der begrifflichen Momente selbst. Die synthetische Einheit des Gegenstandbezugs exemplifiziert sich im anschauungsbezogenen Gebrauch, hilfsweise auch in der die Anschauung ersetzenden Beschreibung; die analytische Einheit expliziert sich in der Erklärung, im methodischen Musterfall in der Definition von Begriffen. In diesen beiden Dimensionen der Sprachverwendung lernen wir nicht bloß die Bedeutung von Einzelausdrücken, wir lernen ein sprachliches System kennen und zu gebrauchen. So notwendig die intersubjektive Kommunikation für die Kontrollierbarkeit der Bedeutungen ist, so wenig ist das Ergebnis dieser ihrerseits ungeregelten Kontrolle perfekt. Da die gewohnheitsmäßig sich bildenden Verwendungsregeln gleichwohl unscharf und fließend sind, hat man, um festere Anhaltspunkte zu haben, Wörterbücher und ähnliche Hilfsmittel erfunden. Eine Sprache enthält, wie wir täglich erfahren und in jedem Wörterbuch vor Augen geführt bekommen, für beinahe jedes Wort gewisse Vieldeutigkeiten. Zwar gibt es auch dies, dass wir mit solchen Vieldeutigkeiten ,spielen‘, Sätze äußern, deren ,Witz‘ gerade darin besteht, dass zwei verschiedene Bedeutungen eines Ausdrucks zueinander in Spannung treten. Aber Zweideutigkeit setzt eben zwei einzelne Bedeutungen, Vieldeutigkeit, setzt viele einzelne Bedeutungen voraus, und selbst eine vage Bedeutung setzt ein Art ,Bedeutungsbereich‘ voraus, innerhalb dessen das Gemeinte liegt, ohne dass entschieden wäre, wo ,dort‘ genau. Bedeutungen, Sinngehalte, Noemata müssen jedoch, damit Vieldeutigkeit gedacht werden kann, als zueinander in festen Relationen stehend gedacht werden. Gerade auch das ,Schwanken‘ der Bedeutung eines Ausdrucks zwischen verschiedenen Verwendungen durch dieselbe oder durch verschiedene Personen setzt diese fest zu denkenden (und wohl häufig genug von den Verwendern nicht durchschauten) Relationen voraus, Relationen nicht zwischen den Wör-

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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tern, sondern zwischen deren möglichen Bedeutungen, den Noemata. Die Noemata selbst bilden ein – zunächst keineswegs ,offensichtliches‘, sondern, sofern es verborgen ist, erst aufzudeckendes System. Nur unter Voraussetzung eines solchen Systems und mitunter nur durch Aufklärung und Explikation dieses Systems lassen sich Bedeutungen konkreter Äußerungen bestimmen. Jede Kommunikation setzt einerseits, auf Seiten eines jeden Kommunikationspartner, jeweils ein habitualisiertes noematisches System voraus; aber sie setzt andererseits zugleich, als Bedingung des Verstehens, die Idee einer Vereinigung beider Systeme in einem umfassenderen System voraus. Sprachliche Kommunikation ist die Bedingung der Identifikation von Sinn. Die Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation aber ist letztlich ein noematisches System, das über jede Habitualisierung von Sinnelementen hinausliegt und als absolutes System jedes andere System umfasst. Auch einer Sprache liegt ein (begrenztes) noematisches System, sozusagen als ,Tiefenstruktur‘ zugrunde, so dass an der ,Oberfläche‘ verschiedene sprachliche Ausdrücke, auch verschiedene sprachliche Strukturen, für dieselben noematischen Momente bzw. Noemata stehen können und wiederum dieselben sprachlichen Ausdrücke und Strukturen für verschiedene noematischen Momente und Noemata. In den günstigen Fällen des Verstehens sind die entsprechenden Alternativen durch den (verbalen oder situativen) ,Kontext‘ für den Rezipienten eindeutig determiniert, in ungünstigen Fällen sind für die Entscheidung erst noch methodische Bestimmungsleistungen zu erbringen (und natürlich gibt es die ganz und gar ungünstigen Fälle, in denen wir erfolglos bleiben). Zu behaupten, jemand habe etwas Bestimmtes gedacht, heißt demnach, er habe ganz bestimmte Elemente des noematischen Systems miteinander verknüpft. Solange er dies, was er gedacht haben mag, nicht durch Ausdrücke (für sich selbst oder für andere) identifiziert und objektiviert hat, ist das, was er gedacht haben mag, nicht nichts (wie unsere Überlegungen zur Wahrnehmung und zum Handeln gezeigt haben), aber nicht ausreichend empirisch bestimmbar. Es ist aber in einem vagen Sinne bestimmbar, wenn es für ihn selbst oder andere im Rahmen von Wahrnehmungen, Handlungen oder imaginativen Vorstellungen eine Stütze in gewissen, habituell mit bestimmten begrifflichen Regeln (für Anschauungen) verknüpften, anschaulichen Gestalten hat. Vage bleibt diese Bestimmbarkeit, weil Wahrnehmungen und Handlungen grundsätzlich einen offenen Horizont begrifflicher Differenzierungen (etwa vom physischen Ding bis zum vierstöckigen Jugendstil-Stadthaus, vom Umlegen eines Fensterhebels bis zum Öffnen des Fensters) und von mitgemeinten Aspekten haben, die vermutlich von Phase zu Phase veränderlich sind. Zu behaupten, jemand habe eine bestimmte Handlung vollzogen, bedeutet demnach, er habe sein Verhalten mit bestimmten handlungsbestimmenden begrifflichen Elementen des noematischen Systems verknüpft, und zwar so, dass er

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

diese Verknüpfung nicht als eine Folge dessen, was er als eine Tatsache erfährt, auffasst, sondern umgekehrt die Verknüpfung als Realgrund einer Tatsache. Dass eine Person dasjenige, was eine andere denkt oder gedacht hat, versteht, besagt, dass beide Personen mit Bezug auf denselben Gegenstand dieselben Elemente eines noematischen Systems miteinander verknüpfen. Sofern das Verstehen nicht ein glückliches Erraten, sondern nachprüfbar sein soll, ist das Verstehen ein sprachlich vermitteltes Verstehen. – Allerdings ist in gemeinsam erlebten Situationen das ,glückliche Erraten‘ dessen, was andere denken, in gewissen Grenzen keineswegs gering zu veranschlagen, in bestimmtem Sinne sogar konstitutiv für das, was man eine ,gemeinsame Situation‘ nennen könnte. So wird man das, was andere, wenn auch in einer abgewandelten Perspektive, ebenso wahrnehmen und also als ,etwas ebenso Bestimmtes‘ auffassen wie man selbst, zumeist relativ sicher ,einschätzen‘ können, weil einzelne anschauliche Merkmale als signitive Stellvertreter für Begriffe fungieren und für uns gleichermaßen sozusagen mit sprachlichen Repräsentanten von Begriffen äquivalent geworden sind. Man kann davon überzeugt sein, weil die alltägliche ,Lebenserfahrung‘ ausreichend Gelegenheit zur kommunikativen Kontrolle dieser Übereinstimmungen bietet. Insbesondere wird man weite Bereiche des täglichen Handelns so einschätzen können, dass wir unser Handeln wechselseitig verstehen, also genau wissen, was der andere tut und zu tun sich bewusst ist, weil wir in unserem Leben ausreichende Gelegenheit zur Kommunikation über elementare und alltägliche Handlungen gehabt haben. – Es ist selbstverständlich, dass neben all diesen relativen „Sicherheiten“ ein weiter Spielraum für Unsicherheiten und Missverständnisse, zumal in der interkulturellen Kommunikation, bleibt. Aber selbst der Begriff dieser Unsicherheiten und Missverständnisse setzt die Idee eines allumfassenden („absoluten“) noematischen Systems voraus, in dem jeder Sinngehalt seine Stelle hat, insofern seine Relation zu anderen Elementen des Systems in sich bestimmt ist und nur deshalb auch verfehlt werden kann. Die Idee des absoluten noematischen Systems ist die Voraussetzung für das Postulat der universalen Übersetzbarkeit (das selbstverständlich keine Behauptung über das Gelingen einer bestimmten Übersetzung impliziert, sondern eine unendliche Aufgabe entwirft). In der Linguistik sind Konzepte entwickelt worden, die bei der Präzisierung dieser Idee hilfreich sein könnten, etwa in der „Generativen Transformationsgrammatik“277 oder in der „Noematik“ des Linguisten Klaus Heger.278 277 Vgl. Noam Chomsky, Aspects of the Theory of Syntax, Cambridge (Mass.) 1965; dt.: Aspekte der Syntax-Theorie, übers. v. E. Lang u. a., Frankfurt a. M. 1969; ders., Sprache und Geist. Mit einem Anhang: Linguistik und Politik, übers. v. S. Kanngießer, G. Lingrün u. U. Schwartz, Frankfurt a. M. 1970; vgl. dazu auch die wichtigen methodologischen Klärungen bei: Werner Flach, Die generative linguistische Theorie und die Prinzipienlehre des Denkens, in: Aspekte der Sprachphilosophie, hrsg. v. J. Simon, Freiburg/München 1974, S. 69–102.

III. Der phänomenologische Begriff des Noema

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Wir können nun die fünf zu Anfang des Kapitels an die Phänomenologie gestellten Fragen beantworten: (a) Die Realität des noematischen Systems besteht zunächst in der Gesamtheit der von einer Person erworbenen formalen Habitualitäten, die jedem geistigen Prozess und jedem geistigen Produkt seine Bestimmtheit verleihen und beständig durch Kommunikation und Erfahrung erweiterbar und korrigierbar sind. Jede Kommunikation und jede Rezeption von Sinn impliziert darüber hinaus das Postulat eines (mindestens teilweise) gemeinsamen noematischen Systems; dieses System ist eine Idee, deren ,Realität‘ sich nur im Gelingen der Kommunikation und Rezeption erweist (für welches Gelingen die empirischen Geisteswissenschaften Kriterien und Methoden der Kontrolle zu entwickeln haben). Diese Idee hat ihre Existenz nirgendwo anders als im Bewusstsein und in den Habitualitäten der einzelnen Kommunikationsteilnehmer und Rezipienten. – Von inhaltlichen Überzeugungen und Entschiedenheiten (der Individuen und Kommunikationsgemeinschaften) ist das habitualisierte noematische System zu unterscheiden, insofern Elemente des noematischen Systems die Bedingung sowohl für die Bejahung als auch für die Verneinung inhaltlicher Überzeugungen und Entscheidungen darstellen.279 (b) Die über die Realität der sprachlichen Zeichen hinausgehende, erfahrbare Realität der Aktualisierung von Begriffen beim Urteilen und beim Verstehen von Sätzen besteht in dem protentionalen Bewusstsein möglicher Konkretisierungen und gegebenenfalls Veranschaulichungen der jeweiligen begrifflichen Verknüpfungen und ihrer synthetischen Einheit in Sachverhalten. Diese Protention können wir als Aktualisierung des Schemas der Begriffe bezeichnen. Sie erweist sich empirisch in der Fähigkeit der betreffenden Person, mögliche Erfüllungen zu imaginieren und zu beschreiben. (c) Wahrnehmung ist mehr als die Rezeption sinnlicher Eindrücke, aber auch mehr als die Rezeption anschaulicher Gestalten. Schon die transzendentale De278

s. o. S. 78 und 252. Insofern widerspricht die Erfahrungsabhängigkeit von Elementen des noematischen Systems auch nicht ihrer formalen Funktion: Die empirisch begründete Negation des Merkmals Weiß in der Erklärung des Begriffs eines Schwans erzeugt einen Begriff, der weiter ist als der eines weißen Schwans, so dass der letztere sich nun als nicht tautologisch erweist. – Die Entdeckung der Säugetier-Eigenschaft der Delphine reichert entweder einen bisher noch ärmeren, nur an der anschaulichen Gestalt orientierten Begriff an, oder sie verbannt den Begriff eines Delphin-Fisches in das Reich unbrauchbarer Weltvorstellungen (den man zum Verständnis alter Berichte gegebenenfalls noch braucht – so wie den freilich phantastischeren des Einhorns) und generiert einen neuen, brauchbaren Begriff. Dass weiterhin gewisse Personen etwa nur über den ärmeren Begriff verfügen, behindert sie beim Verständnis ,modernerer‘ Äußerungen und Texte. Aber zu bemerken, dass ein Autor den ,modernen‘ Begriff gebraucht, ist etwas anderes, als zu lernen, dass Delphine Säugetiere sind (und der besagte Autor also etwas Richtiges sagt oder voraussetzt). Diese Differenz ist im übrigen die Voraussetzung für die kritische Lektüre wissenschaftlicher Texte. 279

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

duktion der Kategorien in Kants „Kritik der reinen Vernunft“ weist nach, dass Wahrnehmung von Gegenständen nicht ohne Kategorien möglich ist, insofern die Kategorien es sind, welche die synthetische Einheit des Mannigfaltigen denkbar machen. Husserls Phänomenologie tut sich zwar zunächst schwer, die kategoriale Struktur der Wahrnehmung anzuerkennen, zeigt aber von Anfang an, wie sehr jede Wahrnehmung durch ihren Wahrnehmungssinn über das aktuell Gegebene hinausgeht, und deckt in ihrer späteren Weiterentwicklung die typenbestimmten Regelungen auf. Erst die Typen und die korrelativen ,Schemata‘ von Begriffen lassen uns erklären, warum Wahrnehmungen ihren ,Ausdruck‘ in Begriffen und Urteilen finden und warum Urteile bzw. Sätze in Wahrnehmungen ihre ,Erfüllung‘ finden können. Wahrnehmung impliziert, aufgrund phantasmatischer Selbstaffektion, immer schon Denken. – Zu beachten ist in unserem Zusammenhang jedoch, dass die ,kategorialen‘ Begriffe hier als empirische Fakten zu begreifen sind, die im faktischen noematischen System von Personen und gesellschaftlichen Gruppen aufgrund von Äußerungen nachweisbar sind. Sie sind also keineswegs Bedingungen der Möglichkeit im Sinne von Geltungsprinzipien. Geltungsprinzipien mögen im Laufe der Entwicklung einer Kultur mehr oder weniger die Wahrnehmung von Personen und Gruppen bestimmen. Aber selbst eine philosophisch und sonstwie wissenschaftlich ,aufgeklärte‘ Persönlichkeit mag in ihrer alltäglichen, lebensweltlichen Wahrnehmung ganz selbstverständlich Konzeptionen (von Dingen und ihren Eigenschaften) benutzen, die sie in einer wissenschaftlichen Reflexion oder Diskussion niemals verteidigen würde. (d) Die Erinnerung an Situationen, in denen wir wenig oder nichts artikuliert haben, ist deshalb keine Erinnerung an bloß anschauliche Gestalten, sondern an denkende Erfassung von Gegenständen und Sachverhalten, weil alle Wahrnehmung schon Denken impliziert. Der Sinn von Erinnerungen ist daher in fundamentaler Weise kategorial und in mehr oder weniger vager Weise, die wohl von dem Grad und Fokus der Aufmerksamkeit abhängt, durch empirische Begriffe bestimmt. (e) Die aktuale Realität des Handlungssinnes besteht, auch ohne dass er während der Handlung artikuliert würde, in dem durch den Wahrnehmungssinn fundierten protentionalen Bewusstsein der Handlungsschemata und Handlungsziele, welche die Handlungssteuerung regulieren. Zu erklären ist dieses protentionale Bewusstsein durch zu dem betreffenden Zeitpunkt aktualisierte praktische und kognitive Habitualitäten. Diese Habitualitäten bestehen zum einen aus grundsätzlichen praktischen und kognitiven Einstellungen, die je nach Situation etwa auch durch sozial definierte Rollen selegiert sind. Zum anderen bestehen sie aus situationsabhängigen Entschiedenheiten, die der Entwicklung der Situation und dem Fortschreiten des Handlungszusammenhangs angepasst werden. Unser Rückgang auf die Husserlsche Phänomenologie hat uns vor allem die größere Leistungsfähigkeit des Noema-Begriffs im Vergleich zu den traditionel-

IV. Anschauungsformen und Mannigfaltigkeitsordnungen

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len logischen Begriffen vor Augen geführt, insofern sich gezeigt hat, dass die logischen Strukturen, die wir von Beginn an ins Auge gefasst hatten, nicht etwas von den anschaulichen Strukturen unseres Vorstellungslebens bloß Unterschiedenes oder gar Getrenntes sind, sondern dass und in welchem Maße beides zusammen gehört. Begriffe sind nicht bloß Regeln für Anschauungen; sondern Anschauungen, zumal in der Form der Imagination, fungieren ihrerseits in unserem Bewusstseinsleben auf vielfältige Weise durch phantasmatische Selbstaffektion als Repräsentanten für begriffliche Strukturen. Im Prinzip ist eine solche Feststellung nichts anderes als dasjenige, was Kant in seiner Theorie der Einbildungskraft für die kategorialen Begriffe und ihren Schematismus herausgearbeitet hat. Die Husserlsche Phänomenologie hat es uns nur erleichtert, diese Erkenntnis auch für die empirischen Begriffe zu konkretisieren und so die „verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abrathen und sie unverdeckt vor Augen legen werden“280, doch noch ein wenig mehr ins Licht zu setzen. Damit hat sich auch die Bedeutung des noematischen Systems sowohl für unser Denken und Handeln, unser geistiges Leben, als auch für dessen empirische Erforschung verdeutlicht. Wir können daher nun die Frage wieder aufgreifen, ob wir der Kantischen Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer Wissenschaft von der denkenden NATUR etwas entgegensetzen können, einer Skepsis, die nicht zuletzt auf der Annahme beruhte, dass die Phänomene der denkenden NATUR lediglich durch die eindimensionale Zeit strukturiert seien.

IV. Anschauungsformen und Mannigfaltigkeitsordnungen Unserem Rückgang auf die Kantische Transzendentalphilosophie und die Husserlsche Phänomenologie lag die Frage zurunde, ob wir aus den theoretischen Ansätzen dieser beiden Philosophen Prinzipien der Objektivität der Geisteswissenschaften gewinnen könnten und damit Prinzipien, die den Wissenschafts-Charakter der Geisteswissenschaften begründen könnten. Unsere Suche nach solchen Prinzipien spitzte sich angesichts der Kantischen These, dass „daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen“ sei, auf die Frage zu, ob Kants Mangelanzeige für die Phänomene der denkenden NATUR nicht zu kurz greife, indem sie diesen Phänomenen jede über die eindimensional-zeitliche Struktur hinausgehende Struktur abspreche. Einer der Gründe für die Kantische Skepsis ist sicherlich die – von der transzendentalphilosophisch fundamentalen Unterscheidung von Anschauung und Begriff her verständliche – Vernachlässigung der Rezeption von begrifflich

280

KrV B 180 f.; III 136.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

strukturierten Phänomenen. Die Rezeption von begrifflich strukturierten Phänomenen haben wir als elementares Verstehen bezeichnet.281 Dessen Vernachlässigung bei Kant hat auch die mangelhafte Aufklärung dessen zur Folge, was Selbst- und Fremd-Erfahrung von subjektiven, geistigen Phänomenen heißen könnte. Die Dunkelheit, in der die Erfahrung des Subjektiven daher verbleibt, wird, so weit wir sehen, von Kant nur in dem Kiesewetter-Aufsatz282 und in den Bemerkungen über die Sprache als Mittel des Selbst- und Fremdverstehens in der Anthropologie283 jeweils ein wenig aufgehellt. Ein anderer Grund für Kants Skepsis mag ein Begriff der Mathematik sein, der auf der Grundlage der transzendentalen Ästhetik zu sehr an der Geometrie orientiert ist, obwohl die Methodenlehre der „Kritik der reinen Vernunft“ auch mit Bezug auf Arithmetik und Algebra treffende Hinweise enthält. Nicht nur der Begriff der Zahl aber, sondern auch die Zahlen selbst sind Begriffe – und können doch Gegenstand einer Konstruktion sein; oder in Kantischer Redeweise: der Begriff der Zahl lässt sich konstruieren, obwohl die Gegenstände, welche bei dieser Konstruktion erzeugt werden, etwas Unanschauliches, nämlich wiederum Begriffe sind. – Könnte uns das nicht ein Hinweis darauf sein, dass Noemata überhaupt, obwohl sie Begriffe enthalten, als Gegenstände mathematischer Konstruktion behandelbar sind? Und ist dann die Kantische Argumentation gegen die Möglichkeit einer Wissenschaft von den Phänomenen der denkenden NATUR noch so selbstverständlich, wie sie uns bei dem üblichen Verständnis des Begriffs einer Naturwissenschaft zunächst erscheint? Der Umfang jener Disziplinen, die unter dem Namen ,Mathematik‘ zusammengefasst werden, ist sicherlich heute größer als zu Kants Zeiten; und so wird wohl auch der Begriff der Mathematik heute nicht mehr ganz derselbe sein wie zu Kants Zeiten, und erst recht nicht derselbe Begriff wie speziell in Kants Überlegungen. Der Begriff der Größe, den Kant noch, mitsamt der Differenzierung in Quanta und Quantitas, der Mathematik zugrundelegt, scheint von dem umfassenderen der Struktur abgelöst worden zu sein. Bevor wir der Frage nach der Möglichkeit einer mathematischen Behandlung von Noemata und des noematischen Systems näher treten, wollen wir uns jedoch die Kantische Mathematik-Theorie und vor allem seine Theorie der Arithmetik und Algebra ein wenig genauer anschauen.

281 282 283

s. o. S. 74 f. AA XVIII 318, 18–320, 8; s. o. S. 208 ff. AA VII 192, 29–34; s. o. S. 216 ff.

IV. Anschauungsformen und Mannigfaltigkeitsordnungen

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1. Anschauungsformen und Mannigfaltigkeitsordnungen in Kants Theorie der Mathematik Kants Argumentation in der Vorrede der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ legt ebenso wie schon die Argumentation der ,transzendentalen Ästhetik‘ den Gedanken nahe, dass die Möglichkeit der Mathematik, und das heißt: der mathematischen Konstruktion, allein auf den Anschauungsformen des Raumes und der Zeit beruhe. Bei näherem Hinsehen bedarf dieser Gedanke aber zumindest der Differenzierung. Der Begriff der Mathematik, insofern sie sich von der Philosophie unterscheidet, ist nach Kant weniger durch die Art ihrer Gegenstände als durch die Form oder Methode der Wissenschaft bestimmt. Diese Form, so betont er in der Methodenlehre der „Kritik der reinen Vernunft“, sei der Grund dafür, dass sich die Mathematik lediglich auf Quanta und niemals auf Qualitäten beziehe; und er tadelt diejenigen, welche den Unterschied zwischen Philosophie und Mathematik darin setzten, „dass sie von jener sagten, sie habe bloß die Qualität, diese aber nur die Qantität zum Objekt“, und so „die Wirkung für die Ursache genommen“ hätten (vgl. B 742). Worin aber besteht die ,Form‘ oder Methode der Mathematik im Unterschied zur Philosophie? „Die philosophische Erkenntniß ist die Vernunfterkenntniß aus Begriffen, die mathematische aus der Construction der Begriffe. Einen Begriff aber construiren, heißt: die ihm correspondirende Anschauung a priori darstellen. Zur Construction eines Begriffs wird also eine nichtempirische Anschauung erfordert, die folglich, als Anschauung, ein einzelnes Object ist, aber nichts destoweniger als die Construction eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung) Allgemeingültigkeit für alle mögliche Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muß.“284

Wer hier den Begriff der „Anschauung a priori“ ohne weiteres mit dem der beiden Anschauungsformen Raum und Zeit identifizierte, könnte dies vielleicht noch mit Kants Erläuterungen des ersten Beispiels einer mathematischen Disziplin, der Geometrie, vereinbaren, aber schon die Identifikation der in Rede stehenden ,nichtempirischen Anschauung‘ mit einem ,einzelnen Objekt‘ als Konstruktion des jeweiligen Begriffs weist darauf hin, dass Kant in unserem Zitat nicht von der ,Form der Anschauung‘, sondern von einer formalen Anschauung spricht, gemäß dem Unterschied, auf den er in der transzendentalen Deduktion aufmerksam macht: „Der Raum, als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf), enthält mehr als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des mannigfaltigen nach der Form der Sinnlichkeit Gegebenen in eine anschauliche Vorstellung, so daß die Form der Anschauung bloß Mannigfaltiges, die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung giebt.“285 284

B 741; III 469, 8–16. B 160 Fußnote; III 125, 25–29; die Unterscheidung wird in der „Kritik der reinen Vernunft“ auch terminologisch nicht überall festgehalten, wie man etwa im Am285

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Erst in dem gegenständlichen Raum, der durch den (Einheit erzeugenden) Verstand mitkonstituiert ist, sind auch Konstruktionen der geometrischen Begriffe möglich. Im Falle der Geometrie allerdings ist die Differenz zwischen (gegenständlicher) formaler Anschauung und Anschauungsform nicht so auffällig; sie scheint nur so etwas wie eine konsequent zu Ende gedachte ,Rekonstruktion‘ unserer räumlichen Anschauungsform (des unvermeidlichen Außerund Nebeneinander unserer äußeren Wahrnehmungsgegebenheiten) zu sein. Die geometrische Konstruktion ist daher auch nach Kant eine „ostensive Konstruktion“, die im empirischen Raum unserer äußeren Wahrnehmung Bilder (unvollkommene Analoga) der reinen geometrischen Gegenstände zeichnen (oder ,aufzeigen‘, ostendere) kann. Von der ,ostensiven Konstruktion‘ räumlicher Größen (quanta) in der Geometrie unterscheidet Kant jedoch die ,symbolische Konstruktion‘ der ,bloßen Größe‘ (quantitas) in Arithmetik und Algebra („Buchstabenrechnung“).286 Die Konstruktionen dieser mathematischen Disziplinen sind nicht mit einer Anschauungsform in ein analoges Verhältnis zu setzen. Die (willkürliche) Wahl von Bezeichnungen für Operationen und Größen und die Darstellung aller „Behandlung, durch die die Größe erzeugt und verändert wird, nach gewissen allgemeinen Regeln in der Anschauung“, machen es möglich, dass die Algebra „vermittelst einer symbolischen Construction eben so gut, wie die Geometrie nach einer ostensiven oder geometrischen (der Gegenstände selbst) dahin“ gelangt, „wohin die discursive Erkenntniß vermittelst bloßer Begriffe niemals gelangen könnte“.287 – Die Anschaulichkeit der Algebra ist also (in der Terminologie des zitierten Textes) eine ,symbolische‘. – Aber könnten wir deshalb auch sagen, die Anschauungsform der arithmetischen oder algebraischen Gegenstände sei eine symbolische‘? Dies widerspräche nicht nur Kants ausdrücklicher These, dass uns keine anderen Anschauungsformen als Raum und Zeit gegeben seien288, es würde auch die Funktion dieser ,Symbole‘ verfälschen, wie uns sogleich deutlich wird, wenn wir Kants differenziertere Terminologie im § 59 der „Kritik der Urteilskraft“ berücksichtigen: Dort unterscheidet Kant, anders als in der Methodenlehre der „Kritik der reinen Vernunft“, genauer zwischen Symbolen und bloßen „Charakphibolie-Kapitel (B 324; III 219, 16) feststellen kann und wie Kant selbst an der oben zitierten Stelle (B 160; III 125, 29–36) mit Verweis auf die transzendentale Ästhetik einräumt. 286 Unmittelbar bezieht sich Kant an der zitierten Stelle mit dem Ausdruck „Buchstabenrechnung“ wohl nur auf die Algebra, dem Sinn nach ist aber zumindest jede über die elementare Zahlen-Erzeugung im Zählen hinausgehende Operation, jedes Operieren mit Ziffern, erst recht jedes algorithmische Rechnen, als symbolische Konstruktion zu betrachten (vgl. dazu auch II 278, 16–26). Auf die elementare Konstruktion der Zahlen kommen wir weiter unten zurück. 287 Vgl. III 471, 17–28. 288 Vgl. z. B. B 748; III 473, 5–6.

IV. Anschauungsformen und Mannigfaltigkeitsordnungen

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terismen, d. i. Bezeichnungen der Begriffe durch begleitende sinnliche Zeichen“.289 Von der symbolischen Anschauung verlangt er eine gewisse Analogie zur Schematisierung eines Begriffs, so dass die Urteilskraft dem Begriff zwar nicht wie im Schema eine „correspondirende Anschauung a priori“ gibt, aber ihm doch eine solche Anschauung unterlegt, bei der das Verfahren der Veranschaulichung seiner Regel nach mit dem Verfahren des Schematisierens übereinkommt.290 Nur eigentlich das Schema und das Symbol sind ,Hypotyposen‘, ,Darstellungen‘; anders dagegen die Characterismen: Sie enthalten „gar nichts zu der Anschauung des Objects Gehöriges“291, sondern dienen nur „in subjectiver Absicht zum Mittel der Reproduction . . .; dergleichen sind entweder Worte, oder sichtbare (algebraische, selbst mimische) Zeichen, als bloße Ausdrücke für Begriffe“.292 Mit dem schon früher von uns gebrauchten Terminus können wir nun also genauer sagen: Die Anschaulichkeit der arithmetischen und algebraischen Zeichen ist eine semiotische; semiotische Anschauungen aber sind im präzisierten Sinne weder ,Darstellungen‘ (Hypotyposen) der von ihnen bezeichneten Objekte noch ,Darstellungen‘ von deren Relationen untereinander. Letztere werden vielmehr ebenfalls durch arbiträre (gegenüber der Form des Objekts willkürlich zu wählende) Zeichen repräsentiert: durch Operatoren wie das Plus- oder Minus-Zeichen, das Größer-als-Zeichen usw. Während die (euklidische) Geometrie der Anschauungsform des Raumes durch die synthetische Einheit der Verstandesbegriffe eine gegenständliche Bedeutung gibt, ist die Arithmetik eine Wissenschaft, die zwar der Veranschaulichung durch Beispiele in Raum und Zeit bedarf (durch die 10 Finger, durch Punkte . . .; vgl. Kants Beispiele etwa in der Einleitung zur „Kritik der reinen Vernunft“293), aber diese Veranschaulichung der zu zählenden Quanta lässt deren anschauliche Relationen und Strukturen gerade völlig unberücksichtigt, so sehr, dass auch gänzlich Unanschauliches – wie die logischen Prinzipien oder mathematische Axiome – zählbar ist (wir können fragen: liegen der Theorie zwei oder drei oder noch mehr Prinzipien zugrunde?), wenn wir nur die Elemente durch Bezeichnungen (gewiss wiederum in Raum oder Zeit) voneinander unterscheidbar gemacht haben.294

289

Vgl. V 352, 2–3. Vgl. V 351, 23–31. 291 Vgl. V 352, 3–4. 292 Vgl. V 352, 5–7. 293 B 15; 37, 16–20. 294 Insofern bleibt es auch in diesen Fällen bei der Kantischen These, dass die Mathematik sich nur auf Sinnesgegenstände erstrecke: „So fern aber doch Größen (quanta) darnach zu bestimmen seyn, so müssen sie uns so gegeben werden, daß wir ihre Anschauung successiv auffassen können und also diese Auffassung der Zeitbedingung unterworfen seyn, so, daß wir denn doch keinen Gegenstand, als den der möglichen sinnlichen Anschauung, unserer Größenschätzung durch Zahlen unterwerfen 290

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Der Zeit allerdings weist Kant in den ,Prolegomena‘ eine wesentliche Funktion für die Arithmetik zu: „Arithmetik bringt selbst ihre Zahlbegriffe durch successive Hinzusetzung der Einheiten in der Zeit zu Stande“.295 Nach dem Schematismuskapitel der „Kritik der reinen Vernunft“ ist die Zahl als das „reine Schema der Größe aber (quantitatis) [. . .] nichts anders als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt, dadurch daß ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge.“296

Aber die (in der Zeit stattfindende) Synthesis selbst ist nicht die begriffliche Einheit der Synthesis. Und aus der Konstitutivität der Zeit für die Arithmetik folgt keineswegs eine konstitutive Funktion der Zeit für die arithmetischen Gegenstände, die Zahlen. Dies bestätigt Kant denn auch in einem Brief an Johann Schulz: „Die zeit hat [. . .] keinen Einflus auf die Eigenschaften der Zahlen (als reiner Größenbestimmungen), so wie etwa auf die Eigenschaft einer jeden Veränderung (als eines Qvanti), die selbst nur relativ auf eine specifische Beschaffenheit des inneren Sinnes und dessen Form (die Zeit) möglich ist, und die Zahlwissenschaft ist, unerachtet der Succession, welche jede Construction der Größe erfordert, eine reine intellectuelle Synthesis, die wir uns in Gedanken vorstellen.“297

Während also die Eigenschaften gewisser quanta (wie die einer Veränderung, insbesondere einer Bewegung) selbst durch die Zeit (also sinnlich) bestimmt sind, denken wir den Zahlen, welche die quantitas begrifflich (,intellektuell‘) bestimmen, keine zeitliche Erstreckung zu.298 Die Hervorbringung der Zahlbegriffe impliziert die Sukzession des Zählens, doch „die Zahlwissenschaft ist, unerachtet der Succession, welche jede Construction der Größe erfo[r]dert, eine reine intellectuelle Synthesis, die wir uns in Gedanken vorstellen“ (AA X 557). Wir können sogar hinzusetzen: eine solche ,subjektive‘ Sukzession ist nicht nur für „jede Construction der Größe“ im Sinne der Quantitas, sondern auch für die Konstruktion jeder Größe im Sinne eines Quantums erforderlich, also auch für die Konstruktion geometrischer Gegenstände. Denn die geometrische Konstruktion erfordert die im § 24 der transzendentalen Deduktion herausgestellte „figürliche Synthesis“: „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Cirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raums gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht auf einander zu setzen . . .“.299 können und es also ein Grundsatz ohne Ausnahme bleibt, daß die Mathematik sich nur auf sensibilia erstrecke.“ (AA X 557). 295 IV 283, 18–20. 296 B 182; III 137, 5–10. 297 AA X 556 f. 298 Zur Unterscheidung zwischen quantitas und quantum vgl. den Abschnitt über die „Axiome der Anschauung“ in der „Kritik der reinen Vernunft“, insbes. B 204 f.; III 150 f.

IV. Anschauungsformen und Mannigfaltigkeitsordnungen

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Diese zeitlich verlaufende imaginative „Bewegung als Handlung des Subjekts“ darf wiederum nicht mit einer zeitlichen „Bestimmung eines Objekts“300 verwechselt werden, wie sie erst in den ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ als gegenständliche Bewegung konstruiert werden kann. Die Lehre von der Subjektivität von Raum und Zeit, wie sie in der transzendentalen Ästhetik vorgetragen wird, lässt zum einen den Unterschied zwischen den Formen der Anschauung und den formalen Anschauungen leicht übersehen. Aber die zitierte Stelle aus der transzendentalen Deduktion lässt ihrerseits noch einen weiteren Unterschied übersehen, insofern das dort herausgestellte Beispiel der Geometrie sowohl den einen Raum der Geometrie als auch die speziellen geometrischen Figuren und Teilräume unter den Begriff der formalen Anschauung, mithin das Ordnungssystem insgesamt und seine möglichen Teile und Elemente unter denselben Begriff subsumiert. Daher bleibt die Frage undiskutiert, ob der Grund für die Relationen der jeweiligen Elemente zueinander in der Form der Anschauung oder erst in dem durch den Verstand mitkonstituierten einen Raum (der formalen Anschauung als Ordnungsystem) liegt. Bei dieser Unentschiedenheit können wir es jedoch bei den Gegenständen der Arithmetik und Algebra nicht belassen. Die sinnlichen Anschauungen, mit denen wir dort umgehen, sind bloße ,Symbole‘ bzw. Zeichen für die arithmetischen Gegenstände und auch deren Verknüpfung wird nur (durch Plus-, Minus-, Multiplikations-, Größer-als-Zeichen usw.) bezeichnet. Dass wir die Zeichen – oder auch ihre Exemplifikationen durch Punkte, Finger usw. – wie formale Anschauungen behandeln können, hat seinen Grund weder in ihrer räumlichen Form und ihrem räumlichen Zusammenhang an der Tafel, auf dem Papier usw., noch in der Zeit als der zu ihrer Erzeugung notwendigen Anschauungsform, sondern in einem durch die formalen Anschauungen bloß symbolisierbaren Ordnungszusammenhang, der keine Anschauungsform im von Kant definierten Sinne darstellt. In Kants Unterscheidung zwischen Formen der Anschauung und den formalen Anschauungen bleibt also, wie wir nun mit Bezug auf die Zeit und die Arithmetik feststellen müssen, die mögliche Differenz zwischen jeweiliger formaler Anschauung und Form oder Ordnung der apprehendierten oder konstruierten Mannigfaltigkeit selbst noch unbedacht.301 Sprechen wir von der letzteren der Deutlichkeit halber im Folgenden als der Mannigfaltigkeitsordnung. Nicht die Anschauungsform, sondern die durch den Verstand zumindest mitkonstituierte Mannigfaltigkeitsordnung macht die formale Anschauung zu einer rei299

B 154; III 121, 23–27. Vgl. B 154 f.; III 121, 32. 301 Diese Unterscheidung liegt übrigens schon der Problemstellung zugrunde, auf die der Beweis für das Kausalprinzip in der zweiten Analogie der Erfahrung antwortet (vgl. KrV B 232 ff. III 166 ff.). 300

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

nen Anschauung, die der Konstruktion a priori fähig ist. Mag es nun auch Objekte (Raum-Punkte und ihre Relationen, evtl. auch Zeitpunkte und ihre Relationen) geben, deren Mannigfaltigkeitsordnung die Struktur einer Anschauungsform (als Form der Apprehension und Konstruktion) ,abbildet‘; das System der Zahlen ist eine Mannigfaltigkeitsordnung, die weder mit der Zeit noch mit dem Raum identisch ist und generell von den Ordnungsverhältnissen der zu zählenden Objekte gänzlich unabhängig ist.302 Dass mathematische Konstruktion auf sinnliche, raum-zeitliche Anschauungen angewiesen ist, sei es im Sinne der Veranschaulichung der zu zählenden Elemente durch Beispiele (10 Finger oder Punkte), sei es auch im Sinne der graphischen Bezeichnungen für die Zahlbegriffe (Ziffern oder, im Falle der Algebra, Buchstaben), heißt keineswegs, dass die betreffenden mathematischen Konstruktionen auf den raum-zeitlichen Strukturen beruhen müssen, in denen die zu zählenden Gegenstände stehen oder in denen die Ziffern oder Buchstaben (zufällig) realisiert werden. Weder die empirisch gegebenen, zu zählenden Elemente noch die graphischen Bezeichnungen können für den zu einer mathematischen Konstruktion erforderlichen Charakter einer reinen Anschauung aufkommen. Wenn wir nach einem Prinzip suchen, das diesen Charakter für die arithmetische Konstruktion garantieren könnte, erinnern wir uns daran, dass die Zahlen zwar Begriffe sind, die Zahl überhaupt aber nach dem Schematismuskapitel ein Schema a priori ist. Reine Schemata nun sind nichts anderes als Konstruktionsanweisungen. Das System der Zahlen ist demnach eine Mannigfaltigkeitsordnung, deren Struktur durch bestimmte Konstruktionsanweisungen, vereinfacht gesagt durch diejenige der „successive[n] Addition von Einem zu Einem (gleichartigen)“303, bestimmt ist. Die „reine Anschauungen“ enthaltende Mannigfaltigkeitsordnung der Arithmetik ist ihrem Fundament nach eine bloß durch ein formales (durch die Kategorie der Größe bestimmtes) Schema a priori festgelegte Reihe der Resultate von Zählakten. Anschauungen sind diese Resultate insofern, als sie einzelne Elemente der Reihe (als des umfassenderen – unendlichen – Ganzen) sind, obwohl sie in anderer Funktion, als Prädikate von Sätzen über die Anzahl der gezählten Gegenstände, als allgemeine Begriffe fungieren.

302 Man könnte einwenden, dass die zu zählenden Quanta einer räumlichen oder auch zeitlichen Instanziierung bedürften. Doch auch dies trifft nicht in dem Sinne zu, dass die räumliche oder zeitliche Ordnung irgend eine Relevanz für die Arithmetik hätte. Prinzipien, Ideen und Begriffe lassen sich ebenso zählen wie Steine oder Kreidestriche. Allerdings bedarf dergleichen wenigstens einer sprachlichen Artikulation, also zeitlicher oder räumlicher Gliederung, um zählbar zu sein. Aber schon die Alternative zwischen der lautsprachlich-zeitlichen und der schriftlich-räumlichen Gliederung zeigt, dass die Strukturen von Raum und Zeit der Zählbarkeit der Elemente wie den Zahlen selbst völlig äußerlich ist. Was die räumlich oder zeitliche Instanziierung den arithmetischen Objekten verleiht, ist allein die Singularität. Sie ist das mathematisch relevante Moment im Begriff einer Anschauung. 303 Vgl. B 182; III 137, 4–7.

IV. Anschauungsformen und Mannigfaltigkeitsordnungen

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Bevor wir diese Überlegungen auf unsere Frage nach dem Status des noematischen Systems anwenden, wird es nützlich sein, die Kantische Auffassung von der konstruierenden Methode der Arithmetik noch ein wenig genauer zu betrachten. Sie hängt aufs engste mit der These zusammen, dass nicht nur die Geometrie, sondern auch Arithmetik und Algebra synthetische Urteile a priori enthalten. Arithmetische Gleichungen von der Form ,7 + 5 = 12‘ sind nach Kant keine analytischen Sätze: „Denn ich denke weder in der Vorstellung von 7 noch von 5, noch in der Vorstellung von der Zusammensetzung beider die Zahl 12 [. . .]“.304 Der entscheidende Gedanke Kants ist es dabei, dass bei solchen Sätzen zwischen den ,objektiven‘ und ,subjektiven‘ Verhältnissen unterschieden werden müsse. Natürlich bestreitet Kant nicht, dass bei einer Gleichung beide Seiten denselben Zahlen-,Wert‘ haben. Aber dies ist nur das ,objektive‘ Verhältnis. ,Objektiv betrachtet‘ ist das Urteil 3 + 4 = 7 ein theoretisches Urteil, und die Begriffe auf beiden Seiten sind (ganz wie es in der Logik auch „die Definition erfo[r]dert“) „durchaus conceptus reciproci und objectiv totaliter identisch“. ,Subjektiv betrachtet‘ aber sind solche Urteile „Postulate, d. i. unmittelbar gewisse practische Urtheile“305 und die Begriffe auf beiden Seiten sind „nach der Art der Zusammensetzung, die ich denke, um zu jenem Begriffe zu gelangen, sehr verschieden [. . .], so, daß das Urtheil über den Begrif, den ich von der Synthesis habe, allerdings hinaus geht, indem es eine andere Art derselben (welche einfacher und der Construction angemessener ist) an die Stelle der ersteren setzt, die gleichwohl immer das Object auf eben dieselbe Art bestimmt“.306

Der praktische und synthetische Charakter der arithmetischen Gleichung beruht demnach darauf, dass „3 + 4 für den Ausdruck eines Problems“ anzusehen ist und das Additionszeichen mir eine Konstruktionsaufgabe stellt, nämlich zu einer Größe die einfachste Synthesis zu finden. Der Charakter der unmittelbare Gewissheit dieser praktischen Urteile, der sie zu Postulaten macht, ist dabei nicht zu verwechseln mit irgendeinem Gefühl, sondern er beruht darauf, dass die Auflösung dieser Aufgabe, anders als etwa bei einem geometrischen Konstruktionsbeweis, schon durch die Konstruktion selbst, und zwar „durch die einfachste Handlung, die keine besondere Vorschrift der Resolution bedarf, nämlich durch die successive addition[,] die die Zahl 4 hervorbringt, nur als Fortsetzung des Zählens der Zahl 3 angestellt“ wird.307 304

B 205, III 150, 22–25. Vgl. AA X 556. 306 AA X 555. 307 AA X 556; zur Differenz zwischen der arithmetischen und der geometrischen Konstruktion vgl.: Jaakko Hintikka, Kant on the Mathematical Method, in: Beck (Ed.), 1969 (S. 117–140), S. 130 f.; danach entsprechen ,Problemstellung‘ und ,Auflösung‘ genau den Konstruktionsschritten der ækqesiò (expositio, Darstellung) und der kataskeuÞ (praeparatio) in den Euklidischen Propositionen, während deren eigentlichem Beweisschritt, der ˜püdeiciò, in der Arithmetik nichts mehr entspricht: dies ist der Sinn der Rede von der ,Unbeweisbarkeit‘ arithmetischer Gleichungen. 305

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

Die Synthetizität der arithmetischen Gleichungs-Urteile beruht also darauf, dass die Erkenntnisgründe dieser Urteile durch die Konstruktion bereitgestellt werden: Wir können nicht den die Aufgabe stellenden Subjektsbegriff (in der Gleichungs-Darstellung: bei der linken Seite) bloß analysieren, sondern müssen zu seinem durch Konstruktion erzeugten Objekt wechseln, so wie das Kant auch in der „Kritik der reinen Vernunft“ mehrfach beschrieben hat.308 Damit erst können wir voll verstehen, warum Kant in dem oben angeführten Zitat aus der „Kritik der reinen Vernunft“ behaupten konnte, dass die Zahl 12 nicht einmal „in der Vorstellung von der Zusammensetzung“ von 7 + 5 gedacht werde. Ein Satz aus dem Brief an Schultz macht dies besonders deutlich und wendet zugleich auf die arithmetische Konstruktionshandlung (die „einzelne Aufzählung“) den Begriff einer „Anschauung a priori“ an: „Die Zahl 7 also muß wohl nicht aus dem Begriffe der Aufgabe, 3 + 4 in eine Zahl zusammen zu fassen, durch Zergliederung desselben, sondern durch Construction, d. i. synthetisch, entsprungen seyn, welche [. . .] den Begrif der Zusammensetzung zweyer Zahlen in einer Anschauung a priori [,] nämlich eine einzelne Aufzählung [,] darstellt.“.309

Mit dem Terminus „Anschauung a priori“ ist offensichtlich nicht die Form der Anschauung, sondern eine ,formale Anschauung‘ (bzw. deren subjektives Korrelat) im Sinne der schon zitierten Unterscheidung in der Anmerkung zur transzendentalen Deduktion310 gemeint. Das entscheidende Merkmal einer solchen Anschauung als Anschauung aber ist dies, dass sie ein „einzelnes Object“ ist.311 Demgemäß charakterisiert, wie schon gesagt, Kant in der transzendenta308 Vgl. B 73; III 73, 10: „über den gegebenen Begriff hinausgehen“; vgl. B 193 III 143, 30: „aus dem gegebenen Begriff hinausgehen“. 309 X 556; das „die“, welches an der Stelle unserer Auslassungspunkte im Text steht, halten wir für einen Schreibfehler; darüber hinaus scheint die Apposition „nämlich eine einzelne Aufzählung“ nachlässig konstruiert zu sein, da sie sich sinngemäß nur auf den Dativ „einer Anschauung a priori“ zurückbeziehen kann, denn der gesamte Relativsatz spricht, wie uns durch das Folgende noch klarer werden wird, von der ,Darstellung eines Begriffs in einer Anschauung a priori‘ durch Konstruktion, so dass das „darstellt“ keinesfalls im Sinne einer Kopula und „eine einzelne Aufzählung“ nicht als Apposition zu „den Begrif“ aufgefasst werden kann. 310 Vgl. B 160 f.; III 125, 25–36. 311 Die Bedeutung dieses Sachverhalts für die Kantische Mathematik-Theorie hat J. Hintikka eindringlich herausgearbeitet; vgl. J. Hintikka, Kant on the Mathematical Method, S. 117–140, insbes. S. 120: „Intuitivity means simply individuality.“ – vgl. dort auch die weiteren Belege. – Dass Existenzannahmen und Synthetizität von Sätzen aufs engste zusammenhängen, hat Michael Wolff in seinem Beitrag „Enthält die Arithmetik synthetische Urteile a priori?“ (in: Societas Rationis, hrsg. von D. Hüning, G. Stiering & U. Vogel, Berlin 2002, S. 383–392) gezeigt: „Aber müssen nicht alle Sätze, die unabhängig von jeder Erfahrung sind, analytisch sein? Anscheinend nicht. Denn es ist immer möglich, eine Existenzquantifikation ohne Widerspruch zu verneinen. Aus diesem Grunde kann man nicht sagen, es handele sich bei allgemeingültigen Existenzquantifikationen um analytische Wahrheiten. Vielmehr ist grundsätzlich jede Existenzannahme eben deshalb synthetisch, weil ihre Verneinung keinen Widerspruch

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len Methodenlehre die mathematische Erkenntnis ganz allgemein im Gegensatz zur philosophischen: „Die philosophische Erkenntnis ist die Vernunfterkenntnis aus Begriffen, die mathematische aus der Construction der Begriffe. Einen Begriff aber construiren, heißt: die ihm correspondirende Anschauung a priori darstellen. Zur Construction eines Begriffs wird also eine nichtempirische Anschauung erfordert, die folglich, als Anschauung, ein einzelnes Object ist, aber nichts destoweniger als die Construction eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung) Allgemeingültigkeit für alle mögliche Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muß.“312

Während die Geometrie ihre Begriffe, etwa den des Dreiecks, konstruiert, indem sie „den diesem Begriffe entsprechenden Gegenstand entweder durch bloße Einbildung in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier in der empirischen Anschauung, beidemal aber völlig a priori“ darstellt, stellt die Arithmetik in der additiven Konstruktion „den Begriff der Zusammensetzung zweier Zahlen in einer Anschauung a priori“ dar, indem sie die in beiden Zahlen enthaltenen Einheiten nacheinander ,aufzählt‘. Die ,Anschauung a priori‘ ist hier die einzelne Aufzählung; und das System aller möglichen Aufzählungen ist weder eine Form der Anschauung noch die Darstellung einer anschaulichen Struktur (eines Außer- und Nebeneinander oder eines Nacheinander), sondern eine von den Anschauungsformen unterschiedene Mannigfaltigkeitsordnung: das System der Zahlen. 2. Folgerungen für das Problem der mathematischen Behandlung von Noemata und die Möglichkeit einer Wissenschaft von der denkenden NATUR Erinnern wir uns nun noch einmal an Kants Begründung für die Unmöglichkeit einer Wissenschaft von der denkenden NATUR: Mathematik sei, so hieß es in der Vorrede zu den ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘, „auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar [. . .]. Denn die reine innere Anschauung, in welcher die Seelen-Erscheinungen construirt werden sollen, ist die Zeit, die nur eine Dimension hat.“313 Was immer das Verhältnis zwischen einer reinen Zeitlehre und dem „Gesetz der Stetigkeit in dem Abflusse der inneren Erscheinungen“ sein mag, von dem Kant kurz zuvor als einer allzu schmalen mathematischen Basis für eine „eigentlich so zu

enthält.“ (S. 389; vgl. in der Fußnote dort auch die Klarstellungen bezüglich des Kantischen Analytizitätsbegriffs und dessen Verkennung bei Quine sowie die kritische Analyse von Freges Versuch, gegen Kant die Analytizität der Arithmetik zu beweisen, S. 390 ff.). 312 KrV B 741; III 469, 8–16. 313 IV 471, 13–21.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

nennende Naturwissenschaft“ spricht314: wenn dasjenige, worin etwas konstruiert wird, nicht notwendigerweise eine der beiden Anschauungsformen sein muss, reicht die zentrale Begründung für den Ausschluss der denkenden NATUR aus dem Bereich eigentlicher Wissenschaft nicht wirklich aus. Kants Begründung für die Unmöglichkeit einer Wissenschaft von der denkenden NATUR beruht auf einer Voraussetzung, die keineswegs selbstverständlich ist: der Voraussetzung nämlich, dass neben dem Raum überhaupt nur die Zeit als konstruktive Mannigfaltigkeitsordnung in Frage komme. Können wir das noematische System, gedacht als ein offenes, jedes mögliche gedankliche Element und dessen Verknüpfungen umfassendes System, als eine Mannigfaltigkeitsordnung betrachten, welche (1.) die mathematische Konstruktion von Begriffen solcher Elemente, ihres Zusammenhangs und ihrer Verknüpfung ermöglichte und auf diesem Fundament (2.) die Konstruktion jener Begriffe ermöglichte, die dem Begriff der denkenden NATUR einen kategorial differenzierten Inhalt und damit objektive Realität verschaffte? Das Problem besteht selbstverständlich nicht bloß darin, noematischen Zusammenhängen ein ,mathematisches‘ Erscheinungsbild zu geben, indem man etwa sprachliche Ausdrücke durch eine Art ,algebraischer‘ Buchstaben ersetzt. Dergleichen hat es ja in der logischen Tradition immer gegeben, schon die Aristotelischen Analytiken arbeiten damit. Der Buchstabengebrauch ist eine Technik, die sich von dem Gebrauch der sprachlichen Ausdrücke, sofern sie nur präzise definiert werden, im Prinzip nur durch die Abstraktion von allen für die logische Operation nicht relevanten Ausdruckselementen und durch ihre leichtere Handhabbarkeit unterscheidet. So unterscheidet sich ja auch die Algebra von der Arithmetik nur dadurch, dass sie von den für die betreffenden Rechenoperationen nicht relevanten primären Konstruktionen der Zahlen abstrahiert. Daher besagt auch der Verweis auf die moderne, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte „mathematische Logik“ noch nicht, dass eine mathematische Behandlung von Gedanken möglich sei, solange man nicht geklärt hat, was an ihr eigentlich mathematisch ist.315 Immerhin scheint es – ganz im Sinne der Kantischen Überlegungen – so zu sein, dass auch die moderne „mathematische Logik“ sich nicht strikt auf den Bereich allgemeiner Begriffe beschränkt,

314 Vgl. den Kommentar von K. Pollok zu unserer Stelle (Konstantin Pollok, Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“. Ein kritischer Kommentar, Hamburg 2001, S. 97–100): Pollok meint, man könne den Zusammenhang fast „kryptisch“ nennen, der Begriff der Zeitlehre bleibe bei Kant vollkommen unbestimmt (vgl. Pollok, S. 99). 315 Diese Frage scheint uns seit Michael Wolffs grundlegender „Abhandlung über die Prinzipien der Logik“ (Frankfurt a. M. 2004), geklärt zu sein; vgl. auch die Darstellung in: Michael Wolff, Einführung in die Logik, München 2006, dort insbes. §§ 106 u. 107, S. 163–167.

IV. Anschauungsformen und Mannigfaltigkeitsordnungen

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sondern auf singuläre Gegenstände Bezug nimmt, indem sie „inhaltlich bestimmte Begriffsausdrücke enthält“.316 Sicherlich lassen sich jedoch aus Kants Überlegungen Gründe anführen, die den Gedanken einer mathematischen Behandlung von Noemata als absurd erscheinen lassen. Das noematische System ist ein System von Begriffen. Erinnern wir uns an das zentrale Argument der transzendentalen Ästhetik zur Unterscheidung von Anschauungen und Begriffen: Begriffe enthalten nicht, wie die Anschauungsformen bzw. die formalen Anschauungen, die wir Mannigfaltigkeitsordnung genannt haben, ihre Gegenstände als Teile und Elemente in sich, sondern unter sich. Sie sind allgemeine Regeln, nicht einzelne Objekte. Der „große Unterschied zwischen dem discursiven Vernunftgebrauch nach Begriffen und dem intuitiven durch die Construction der Begriffe“317 ist für Kant die entscheidende Grundlage seiner Unterscheidung zwischen Philosophie und Mathematik. All diese Gründe, die wir durch viele weitere Zitate belegen und anreichern könnten, träfen unser Vorhaben, wenn es uns darum ginge, durch die in Rede stehenden Begriffe und die zur Konstruktion benutzten noematischen Elemente überhaupt Erkenntnisse über Objekte zu gewinnen, auf die sich diese Begriffe als Prädikate (1. Stufe) beziehen könnten. Die Noemata werden jedoch von uns statt dessen als Strukturbestimmtheiten möglicher singulärer Vorkommnisse, der noetischen Prozesse, betrachtet. Zwar gehört es in vielen Fällen zur ,Natur‘ dieser Prozesse, ihre noematischen Korrelate als gültige, speziell wahre Sätze aufzufassen (oder zu ,vermeinen‘, wie Husserl sich gern ausdrückte); aber nicht die Möglichkeit ihrer Gültigkeit mit Bezug auf Gegenstände, sondern die Möglichkeit ihre ,Vermeintheit‘ in bestimmten, singulären noetischen Prozessen macht sie zu Elementen jener Mannigfaltigkeitsordnung, die wir (universelles) ,noematisches System‘ genannt haben. Verdeutlichen wir uns nun ein wenig den Gebrauch, den wir in einer Prinzipientheorie der Geisteswissenschaften vom Begriff des noematischen Systems machen wollen: Die Begriffe, die (gemäß der Kantischen Redeweise) konstruiert werden sollen, sind zunächst noematologische Begriffe, d. h. Begriffe 2. Stufe, insofern sie sich auf Noemata beziehen, welche Begriffe 1. Stufe enthalten. Eine daraus sich ergebende ,Noematologie‘ wäre ein Analogon zu anderen mathematischen Disziplinen wie der Geometrie oder der Algebra. Die noematologischen Begriffe sind Begriffe von Noemata als den Sinngehalten noetischer Prozesse. Damit die noematologischen Begriffe konstruiert werden können, müssen solche Sinngehalte in einer symbolischen Anschauung in concreto darstellbar, zueinander in Beziehungen der Äquivalenz, also der Ersetzbarkeit, oder der Nicht-Äqui-

316 317

Vgl. M. Wolff, Einführung in die Logik, S. 163. B 747, 26–28.

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

valenz, der Teil-Äquivalenz usw. gesetzt werden können. Insofern die Noemata und die in ihnen fungierenden Begriffe ausschließlich als ,Vermeintheiten‘, also als Strukturbestimmtheiten singulärer noetischer Prozesse (nicht als wahre oder falsche Sätze über Gegenstände) betrachtet werden, dürfen die Operationen mit ihnen nicht mit logischen Operationen verwechselt werden, selbst wenn sie formale Ähnlichkeit mit ihnen haben. Es geht uns beispielsweise um den noematologischen Begriff der Proposition (des Satzes), ihrer Varianten, ihrer Teile, ihrer möglichen Komplikationen, und zwar, sofern ein gedankliches Element mit der Verknüpfung anderer Elemente gleichwertig und also durch sie ersetzbar ist. Den Begriff des Satzes konstruieren heißt dann: den diesem Begriff entsprechenden Gegenstand (einen Satz) seinen Elementen und deren Verknüpfungen nach in einer symbolischen Anschauung darstellen, im einfachsten Falle der Eindeutigkeit durch einen Ausdruck einer natürlichen Sprache. Wir können aufgrund unserer Kenntnis des zugehörigen noematischen Systems diesen Satz mit anderen Sätzen (etwa durch einen ,und‘-Operator) kombinieren und von dieser Kombination als äquivalent mit einem anderen Satz sprechen oder auch den anderen Satz nur als Implikat der besagten Kombination ,erschließen‘; aber wir dürfen diese Operationen nicht eigentlich als Schlüsse von der Gültigkeit des einen auf die Gültigkeit des anderen Ausdrucks auffassen, denn diese Ausdrücke sind als Darstellung der Struktur singulärer noetischer Prozesse zu verstehen, nicht als logische Einheiten. Daher sind die ,noematologischen‘ Sätze, in denen solche Operationen als ,gültig‘ behauptet werden, keine logischen Sätze. Im übrigen geht es selbstverständlich nicht nur um Sinngehalte kognitiver Prozesse, sondern vor allem auch um die von praktischen Prozessen und entsprechend um praktische Sätze. In welchem Sinne können wir nun gemäß der Kantischen Auffassung von mathematischer Konstruktion davon sprechen, dass die noematologischen Sätze synthetische Sätze seien? Wenn wir uns an Kants Auskünfte über die Synthetizität arithmetischer Sätze erinnern, können wir sagen: Betrachteten wir die betreffenden Sätze ,objektiv‘, d. h. als Urteile über die Gegenstände der darin verwendeten Begriffe, dann wären sie ,theoretische Urteile‘; und im Falle der Behauptung einer Äquivalenz etwa zwischen einem Begriff und seinen Definitionsstücken wären sie Definitionen und mithin vollkommen ,analytische Urteile durch Begriffe‘. Subjektiv betrachtet aber, d. h. als Sätze, durch die etwa ein Begriff allererst durch die Kombination seiner Definitionsstücke zu erzeugen ist und einem bisher nur die Definitionsstücke enthaltenden noematischen System angefügt wird, sind diese Sätze ,praktische Sätze‘ oder ,Postulate‘ in dem von Kant erläuterten Sinne und damit synthetische Sätze. Denn um einen Begriff in das System einzuführen, müssen wir auf die betreffenden singulären noetischen Prozesse zurückgehen, in denen wir die Schemata der betreffenden Teilbegriffe in einem Schema vereinigen.

IV. Anschauungsformen und Mannigfaltigkeitsordnungen

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Wie das Ziel der Kantischen Überlegungen zur Konstruktion von Begriffen nicht in der bloßen Mathematik liegt, so liegt das Ziel unserer Überlegungen schließlich, wie zuvor gesagt, nicht in der mathematischen Konstruktion der noematologischen Begriffe von bloßen Elementen des noematischen Systems selbst und ihrer Verknüpfungen, sondern in der Konstruktion jener Begriffe, die dem Begriff der denkenden NATUR einen kategorial differenzierten Inhalt und damit objektive Realität verschaffen sollen. Die Bindung an einen singulären noetischen Prozess ist nun zugleich eine Bindung an ein singuläres noetisches Subjekt, das (nur) über einen bestimmten Ausschnitt des universalen noematischen Systems verfügt. Damit ist einerseits eine gewisse faktische Begrenzung des möglichen (,meinbaren‘) Sinngehalts gegeben, andererseits müssen wir einem singulären noetischen Subjekt freilich auch eine Art von ,Freiheit‘ zudenken, neue Sinngehalte mithilfe der alten zu erzeugen, auch eine sozusagen ,dichterische Freiheit‘ in der Erzeugung von Sinngehalten und Sinnbereichen, die durch das, was etwa in wissenschaftlichem oder im üblichen Sinne ,rational‘ zu nennen wäre, keineswegs eingeschränkt ist. Aber das heißt auch, dass eine zunächst bestehende Begrenzung jederzeit durch gewisse noetische Prozesse, die den synthetisch-noematologischen Sätzen entsprechen, überwindbar ist, so dass das noetische Subjekt sich in seinem habituellen noematischen System verändert. Demgegenüber könnten reine Verstehensprozesse (sofern sie nämlich nicht mit einer Veränderung der Überzeugungen des Subjekts verbunden wären) strukturell als Analoga analytischnoematologischer Sätze betrachtet werden, für die sozusagen bloß das habitualisierte noematische System ,verantwortlich‘ wäre. Damit hätten wir einen Ansatz für die noematologische Konstruktion des geisteswissenschaftlichen Begriffs des Verstehens gewonnen. Nehmen wir als ein Beispiel für einen weiteren zu konstruierenden geisteswissenschaftlichen Begriff den einer habituellen Überzeugung, der sich auf eine Art von faktischen personalen Eigenschaften zu einer bestimmten Zeit bezieht, worin jene Elemente des noematischen Systems eine Rolle spielen, die einer Überzeugung einen bestimmten Gehalt geben. Dieser Gehalt muss eine bestimmte noematische Form haben. Er kann einen größeren oder geringeren Umfang haben, er muss bei größerem Umfang und komplexerer Struktur Elemente in sich vereinigen, die zueinander ,passen‘, er kann verbunden sein mit anderen Überzeugungen, deren Gehalt von der Person als Bestätigung oder als Begründung der erstgenannten Überzeugung angesehen wird. Eine ,wirkliche‘ Überzeugung (nicht bloß eine Erinnerung an einen zufälligen Einfall) ist er, wenn er die Person davor bewahrt, einen entgegengesetzen Einfall oder Vorschlag als gültig zu akzeptieren, wenn er also ganz bestimmte noetische Prozesse verhindert, andere hingegen ermöglicht. Er wird als mehr oder weniger stark einzuschätzen sein, je nachdem, wie sehr er in der Gesamtheit der Überzeugungen der Person verankert ist und wie sehr die Überzeugungen der Person miteinan-

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C. Rückgang auf Kant und Husserl

der durch Bestätigungs- und Begründungs-Überzeugungen miteinander verflochten sind. Der Begriff der habituellen Überzeugung wird also seinem Gehalt nach konstruiert, indem die Form angegeben wird, welche der Gehalt einer solchen Überzeugung haben muss, wodurch sie etwa als eine stärkere oder eine schwächere Überzeugung einzuschätzen ist.

D. Theoretische Prinzipien der Geisteswissenschaft 1. Zielsetzung Diese theoretischen Prinzipien der Geisteswissenschaften sollen zeigen, dass und wie empirische Geisteswissenschaften den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung genügen können, und zwar auf eine spezifische, durch eine eigentümliche Art der Rezeptivität und deren Prinzip, das noematische System, charakterisierte Weise. Wenn wir in diesem Kapitel den Versuch machen, so etwas wie ,Metaphysische Anfangsgründe einer Wissenschaft von der denkenden NATUR‘ zu formulieren, und dies in möglichst weitgehender Analogie zu Kants ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ tun, dann setzen wir selbstverständlich nicht voraus, dass die letzteren eine heute noch zureichende Grundlage der Naturwissenschaften abgeben könnten. Nicht nur haben sich die Naturwissenschaften seit Kants Zeiten in entscheidenden Hinsichten weiterentwickelt. Auch im Verhältnis zum damaligen Stand des Wissens ist Kant die Durchführung des Programms wohl nicht in allen Punkten gelungen, was sich insbesondere in dem zweiten, die Grundkräfte exponierenden Hauptstück, der ,Dynamik‘ zeigt.1 Unser Ziel bei der Formulierung des geisteswissenschaftlichen Analogons konnte nicht die Anlehnung an eine in vielem mit Sicherheit überholte Theorie sein, sondern vielmehr der Nachweis, dass auch die elementaren Grundlagen der Erforschung geistiger Phänomene den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, wie Kant sie in der „Kritik der reinen Vernunft“ entwickelt hat, „Sinn und Bedeutung“ zu geben2 vermögen. Die Analogie zu den ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ diente uns lediglich dazu, möglichst keinen kategorialen Gesichtspunkt, den Kant bei dessen Anwendung auf die Naturwissenschaft im Auge hatte, zu vernachlässigen. Sollte der Nachweis gelingen, so wäre gezeigt, dass die im deutschen Sprachraum ,Geisteswissenschaften‘ genannten Disziplinen als empirische Wissenschaften möglich sind. Sofern wir bereit sind, auch historischen, auf singuläre Tatsachen bezogenen Diszipli-

1 Neben der Attraktion die Repulsion als eine Grundkraft anzusetzen, war schon damals eine etwas gewagte These, die nicht wirklich durchführbar ist. Vgl. zu den dabei stattfindenden „confusions kantiennes“: Jules Vuillemin, Physique et métaphysique kantiennes, Paris 1955, S. 190–194. 2 Vgl. hierzu die entsprechende Formulierung in der Vorrede der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘, V 478, 15–20.

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D. Theoretische Prinzipien der Geisteswissenschaft

nen den Titel einer Wissenschaft zuzugestehen, würde dies nicht nur die systematischen, sondern auch die historischen Disziplinen betreffen. Wir können an dieser Stelle nun nicht in die Prüfung der Voraussetzung eintreten, dass die in Kants „Kritik der reinen Vernunft“ entwickelten Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung im Großen und Ganzen gültige Prinzipien sind. Zum einen scheinen uns in neuerer Zeit genügend Untersuchungen erschienen zu sein, die sich diesem Problem auf vorbildliche Weise widmen.3 Zum anderen versteht sich von selbst, dass man auch bei Anerkennung der grundsätzlichen Gültigkeit der allgemeinen Kantischen Erfahrungstheorie nicht unkritisch mit deren Ausführung im einzelnen umgehen muss, und der Verfasser hat dies am Beispiel der Kantischen Modaltheorie zu zeigen versucht.4 Im übrigen verweisen wir noch einmal auf unsere Bemerkungen zum Verständnis und (üblichen, die ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ vernachlässigenden) Missverständnis des Verhältnisses zwischen der „Kritik der reinen Vernunft“ und der klassischen Physik.5 2. Anthropologische Vorbemerkungen: Die denkende NATUR und die NATUR des Menschen Bevor wir auf der Grundlage unseres Begriffs vom noematischen System so etwas wie ,Metaphysische Anfangsgründe einer Wissenschaft von der denkenden NATUR‘ formulieren, müssen wir einige anthropologische Vorbemerkungen machen, welche gravierende Unterschiede zwischen der Kantischen und unserer Unternehmung betreffen. Anthropologischer Vorbemerkungen bedürfen diese Prinzipen der Geisteswissenschaften, weil der Gegenstand, von dem sie handeln, die geistige Subjektivität, die „denkende NATUR“, nur als ein unter eigentümlichen Prinzipen stehendes Attribut eines physischen, genauer lebenden Organismus, eines Lebewesens der Gattung Mensch existiert. Geistige Subjektivität existiert nicht als selbständiger empirischer Gegenstand. Darin unterscheiden sich diese Prinzipien von den Prinzipien der physischen NATUR, wie diese in der klassischen Physik aufgefasst und wie sie auch in Kants ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘, die unserem Versuch als Folie dienen, vorausgesetzt wurde. Den kategorialen Status eines bloßen Attributs teilt die hier zum Gegenstand gemachte Subjektivität mit dem Leben von Organismen, 3 Wir verweisen exemplarisch, da sich viele Bedenken in den letzten hundert Jahren vorzüglich auf die Kantische Logik-Konzeption konzentrierten, wiederum auf die beiden Untersuchungen Michael Wolffs zu der von Kant vorausgesetzten Logik: Abhandlung über die Prinzipien der Logik, insbes. S. 284–288, sowie ders., Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, Frankfurt a. M., 1995. 4 B. Grünewald, Modalität und empirisches Denken. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Kantischen Modaltheorie, Hamburg 1986. 5 s. o. den Abschnitt C. I. 3., S. 156 ff.

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denn Organismen sind nur Systeme von materiellen Substanzen und sogar, wie wir uns – vielleicht irritiert – klarmachen können, von wechselnden Substanzen. Nicht alle Organismen eignen sich, nach allem was uns die empirische Wissenschaft erklärt, als Fundament jener ,denkenden NATUR‘, um die es uns geht. Sie müssen offensichtlich eine besondere Organisation besitzen, in der ein Zentralorgan, ein Gehirn, eine weitgehende Steuerungsfunktion ausübt und ein weiteres Attribut ermöglicht, das wir „bloße Psychizität“ nennen können, worunter wir die Fähigkeit verstehen, nicht nur ,Empfindungen‘ zu haben und darauf zu reagieren, sondern sich durch Wahrnehmungen eine Art von ,Bild‘ von ihrer Umwelt zu machen und imaginativ „behalten“ zu können (Retention, Gestalt-Gedächtnis und Situations-Erinnerung). Die denkende NATUR eines Subjekts scheint also das Attribut eines Attributs zu sein, das wiederum nur Attribut ist – ob schließlich von einer unveränderlichen ,Substanz‘, mögen wir, ausreichend verunsichert von den neuesten und mitunter nicht unbestrittenen Meldungen aus der theoretischen Physik, bezweifeln. Es würde unsere Untersuchung sprengen, wollten wir für all die hier angedeuteten Begriffe hinreichende Erklärungen liefern wollen. Unser Ziel ist keine Ontologie, die erklärt, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, sondern eine spezielle Erfahrungstheorie auf transzendentalphilosophischer Grundlage, die erklären kann, inwiefern die Geisteswissenschaften Anspruch auf Wissenschaftlichkeit machen können. Auch eine umfassende Anthropologie, in welche eine Theorie der „denkenden NATUR“ eingebettet werden könnte und vielleicht sogar müsste, würde den Rahmen unseres Vorhabens sprengen. Nur weil wir gewisse, durch den Status des bloßen Attributs gezogene Grenzen einer Theorie der denkenden NATUR verständlich machen wollen, greifen wir hier, bevor wir die Theorie selbst formulieren, auf den u. E. brauchbarsten Versuch einer philosophischen Anthropologie zurück, den Helmut Plessner 1928 in seinem Werk „Die Stufen des Organischen und der Mensch“6 vorgelegt hat. Nach Plessner unterscheiden sich Organismen unter allen physischen Gegenständen äußerlich dadurch, dass sie von sich aus (aufgrund von in ihnen stattfindenden Prozessen) eine Grenze realisieren. Damit wird ein divergentes In-Beziehung-gesetzt-Sein zu ihrem Grundprinzip; ein Organismus ist nämlich einerseits zum Organismus selbst, andererseits (in ganz anderer Weise) zu seiner Umgebung, dem Anderen seiner selbst in Beziehung gesetzt. Mit dieser Beziehungsstruktur ist eine Minimalbedingung ausgezeichnet, die keiner Ergänzung durch ,teleologische‘ Begriffe bedarf; denn wenn dasjenige, was die Grenze von außen durchdringt, durch die inneren Prozesse nicht so integriert oder wieder ausgeschieden werden kann, dass die Grenze erhalten bleibt, kann der Körper kein Organismus (mehr) sein. Die Beziehungsstruktur nun, die den lebendigen 6 Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin/New York 31975.

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Körper als grenzrealisierenden vor dem bloß-physischen Körper auszeichnet, nennt Plessner ,Positionalität‘.7 Sie ist es, die sich in den verschiedenen Stufen des Organischen, im pflanzlichen, tierischen und schließlich im menschlichen Sein abwandelt.8 Die Theorie dieser Beziehungsstruktur erinnert wohl nicht zufällig an den phänomenologischen Begriff der Intentionalität. Natürlich will Plessner nicht jedem Organismus schon das zudenken, was Husserl Intentionalität genannt hat. Aber es wäre wohl nicht abwegig, Intentionalität als eine Spezifikation dieser Beziehungsstruktur zu begreifen. Wir können die Plessnersche Stufentheorie noch ein wenig schärfer konturieren, wenn wir nur die Korrelation der jeweils auf dem aktiven und auf dem passiven Aspekt des positionalen Welt- und Selbstverhältnisses aufbauenden Funktionen herausarbeiten.9 Bezeichnen wir die allgemeine Form der positionalen Beziehungsstrukturen als (einen Selbstbezug implizierende) ,Referenz‘ eines Substrats auf seine Umwelt, so können wir in Anlehnung an Plessners Differenzierungen vier aufeinander aufbauende Referenz-Stufen unterscheiden, wobei die jeweils höhere Stufe ihre Referenzfunktionen nur mittelbar erfüllt, dadurch nämlich, dass sie sich nicht unmittelbar auf die Umwelt, sondern auf die jeweils niedere Stufe zurückbezieht. Die fundamentale Referenz auf die Umwelt, welche in der ,Positionalität der offenen Form‘ realisiert wird, vollzieht sich in einem durch genetische Selbst-Repräsentation determinierten und grenzrealisierenden Stoff- und Energie-Austausch, mit dem ,passiven‘ Aspekt der Assimilation und dem ,aktiven‘ der Dissimilation. – Die Referenz 2. Ordnung, die der dezentral-geschlossenen Form der niederen Tiere, bezieht sich unmittelbar schon auf die Referenz 1. Ordnung zurück, insofern Sensorik (Passivität) und Motorik (Aktivität) aufgrund nervöser Prozesse und Impulse dem fundamentalen Assimilations- und Dissimilationsprozessen dienen und sie überformen. – Die zentral-geschlossene Organisationsform ermöglicht die imaginative, retentionale und protentionale Verfügbarkeit unmittelbarer Außenwelt-Repräsentation und Eigenbewegung, so dass in der Referenz 3. Ordnung das passive Umweltverhältnis zur Gestaltwahrnehmung und das aktive zur begehrenden Vorwegnahme der eigenen Aktivität fähig wird. – Schließlich 7

Vgl. Plessner, Die Stufen des Organischen, S. 181. Die Metapher von den Stufen könnte nicht nur eine scharfe Unterscheidbarkeit, sondern auch eine Diskontinuität von Typen nahelegen, die mit dem, was uns die empirische Forschung über die Evolution der Arten und die Entwicklung der Individuen lehrt, kaum vereinbar wäre. Für Plessner ist es jedoch von vornherein klar, dass die Stufung keineswegs Zwischenstufen und Überschneidungen ausschließt (vgl. etwa Plessner, Stufen, S. 219 f.). 9 Wir greifen hier in freierer Weise auch auf gewisse bei Plessner nicht in den Vordergrund gestellte phänomenologische, erkenntnis- und handlungstheoretische Begriffe zurück, um die Fruchtbarkeit des Plessnerschen Ansatzes um so deutlicher werden zu lassen; vgl. dazu den Schluss unseres Beitrags: B. Grünewald, Positionalität und die Grundlegung einer philosophischen Anthropologie bei Helmut Plessner, in: Realität und Begriff. Fs. für J. Barion, hrsg. v. P. Baumanns, Würzburg 1993, S. 271–300. 8

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wird in der ,exzentrischen‘ Positionalität des Menschen in noetischen Prozessen durch die Allgemeinheit der Begriffe und die gegenstandskonstituierende Synthesis das imaginativ Verfügbare und Vorwegnehmbare begriffen (Referenz 4. Ordnung), damit aber auch das eigene Welt- und Selbstverhältnis selbst, insofern es sich durch semiotische Selbstaffektion objektiviert, zum Gegenstand der Stellungnahme, der Bejahung, Verneinung und Veränderung, mithin das Lebewesen endgültig zum Subjekt seines Welt- und Selbstbezugs. Subjekt zu sein heißt hier vor allem: zu sich selbst in eine Distanz treten zu können, die ein Bewusstsein seiner selbst, der Differenz zwischen sich und anderem, zwischen seinen Repräsentationen von anderem und dem anderen selbst, also zwischen sich und seinen Objekten ermöglicht. Diese Distanz zu sich selbst ist es, die Plessner mit dem Begriff der Exzentrizität zu fassen versucht. Das ,Organ‘, durch das solche Exzentrizität möglich wird, so könnte man in Anspielung auf Bühlers Organonmodell10 sagen, ist die Sprache, also etwas, das uns erlaubt, „uns zu äußern“, also in bestimmtem Sinne aus uns (dem ,Zentrum‘) ,herauszutreten‘ – zunächst wohl für andere, aber dann auch für uns selbst. Exzentrizität setzt Expressivität voraus, über die schon viele Tiergattungen verfügen, um Betroffenheit durch die und Ansprüche an die Umwelt zu signalisieren. Die Sprache erlaubt darüber hinaus, in performativen und propositionalen Redeteilen die Differenz zwischen eigenem Begreifen und begriffener Welt zu formulieren und dabei die Relation zwischen Bestimmungssubstrat und Bestimmungsbegriff zu artikulieren. Aus der damit eingenommenen exzentrischen Position können wir auf dasjenige, was wir sind oder zu sein meinen, was wir wissen oder zu wissen meinen, was wir wünschen und wollen oder zu wünschen und zu wollen meinen, reflektieren, uns damit identifizieren oder auch davon distanzieren. Die Sprache ist es somit auch, welche jene Referenz vierter Ordnung, die noetische Intentionalität, im Verstehen von Ausdrücken auf eine von der äußeren Sinnenrezeption unterschiedene Weise vorzüglich rezipierbar und zu einem Gegenstand der Erfahrung macht, im Selbstverständnis eines Subjekts sogar dort, wo noetische Intentionalität nur implizit, in anschaulichen Erinnerungen, gegeben, aber jederzeit sprachlich artikulierbar ist. Die semiotische Selbstaffektion und die dadurch möglich werdende eigentümliche Rezipierbarkeit der noetischen Intentionalität ist es, die eine von den Naturwissenschaften prinzipiell unterschiedene Art von Wissenschaften, die Geisteswissenschaften, möglich macht. In der spezifischen Rezeptivität nämlich liegt der Grund dafür, dass wir es bei dem Geisteswissenschaften mit einer gegenüber den anderen empirischen Wissenschaften prinzipiell anderen Art von Erfahrung zu tun haben.

10 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Mit einem Geleitwort von Friedrich Kainz, Stuttgart 21982, insbes. S. 24–33.

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Die empirischen Geisteswissenschaften beschäftigen sich nicht mit ,reinen Geistern‘, sondern mit dem menschlichen Geist. Plessners Theorie der exzentrischen Positionalität lässt begreifen, inwiefern der menschliche Geist für sich genommen thematisierbar ist und dabei doch der ganze Mensch in den Blick genommen werden kann. Denn die physische Realität des Menschen wie der Welt insgesamt wird in den Geisteswissenschaften nicht ausgeblendet, sondern immer sowohl als reales Fundament wie als Korrelat jener hochstufigen Referenz, welche die exzentrische Position ermöglicht, eingeblendet. Auch dort, wo die Geisteswissenschaften, etwa in der archäologischen Feldforschung, unmittelbar nur physische Objekte entdecken, erforschen sie diese als reale Zeugnisse der noetischen Intentionalität ihrer Produzenten oder Benutzer. Auch dort, wo die Historie ein massives physisches Geschehen wie die Zerstörung von Städten, sei es durch Erdbeben, sei es durch Kriege, untersucht, erforscht sie das physische Geschehen als ein für die handlungsbestimmende Intentionalität der Menschen bedeutsames Geschehen. Selbst dort, wo die Akteure unter irrigen Vorstellungen von ihrer Welt handeln, ist nicht die Untersuchung der von jeder Intentionalität unabhängigen ,wirklichen Welt‘ die Aufgabe der Geisteswissenschaften, sondern die Untersuchung der Folgen, welche die irrtümlichen Annahmen und daraus fließenden Entscheidungen für das weitere Handeln und Denken der Akteure selbst und anderer Menschen hatten. Das reale physische Fundament wird nicht vergessen, sondern vorausgesetzt: als Fundament und als Bezugskorrelat. Aber die spezifische Aufgabe der Geisteswissenschaften, die ihre eigenen Geltungsprinzipien und ihre eigenen, auf diesen Prinzipien gegründeten Methoden hat, ist die Erforschung der noetischen Prozesse und ihrer Resultate. Wir haben zu zeigen versucht, dass die eigentümlichen Prinzipien der Geisteswissenschaften auf jener Abwandlung der Erfahrungsbedingungen beruhen, die durch die eigentümlich Weise der Rezeptivität geistiger Phänomene, das Verstehen, charakterisiert ist. So wie die generellen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung in den Naturwissenschaften auf äußere Wahrnehmungen und damit raum-zeitliche Phänomene angewandt werden, so werden dieselben Bedingungen auf noematisch-zeitliche Phänomene, die freilich immer in raum-zeitlichen Phänomenen fundiert sind, angewandt. Der nun folgende Versuch, so etwas wie ,metaphysische Anfangsgründe der Geisteswissenschaften‘ zu formulieren, thematisiert die Prinzipien allein der spezifisch geistigen Prozesse und Resultate. An einigen wenigen Stellen werden wir dabei auch die Fundierung der geistigen Phänomene in den physischen Phänomenen andeuten. Diese Fundierung detaillierter auszuarbeiten, wäre eine reizvolle Aufgabe, sie kann jedoch erst in Angriff genommen werden, wenn die Prinzipien des Fundierten begriffen sind. Nur so kann verhindert werden, dass das Fundierende mit dem Fundierten verwechselt wird – wie das nicht selten in den Berichten über die wirklich erstaunlichen – und erfreulichen – Fortschritte der Hirnforschung geschieht.

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Was vor solcher Verwechslung bewahrt, ist zuallererst die Erkenntnis, dass es innerhalb unserer gesamten Erfahrung zwei prinzipiell unterschiedene, aber aufeinander aufbauende Arten der Rezeptivität und damit auch zwei aufeinander aufbauende Arten der Erfahrung gibt, die trotz dieser Fundierung nicht aufeinander reduziert werden können. Der Grund ihrer Nicht-Reduzierbarkeit ist, vereinfacht gesagt, der, dass Begriffe von und Urteile über Gegenstände (also die Korrelate verstehender Rezeption) nicht auf die Gegenstände reduzierbar sind.11 Da nun die Erfahrungsarten nicht aufeinander reduzierbar sind, sind es auch nicht deren Gegenstände und ihre NATUR. Denn Gegenstände der Erfahrung werden durch nichts anderes als durch Erfahrung und deren Möglichkeitsbedingungen konstituiert. Ein Theoretisieren über empirische Gegenstände, das diese Korrelation missachtet, ist ein Rückfall in eine vorkritische Ontologie oder Metaphysik. Schon an dieser Stelle weisen wir auf unser kurzes abschließendes Kapitel über den Begriff der Freiheit hin, das gewiss nicht das uralte Problem auf knapp bemessenem Raum und sozusagen nebenbei lösen wird. Dieser Abschluss soll lediglich, ganz im Sinne der Kantischen Wegweisung für die Lösung des Problems12, die Bedenken zerstreuen, die für unser sicheres Bewusstsein der Freiheit und moralischen Verantwortung durch die in dieser Arbeit verdeutlichte Kantische Überzeugung entstehen mögen, dass empirische Wissenschaften (wie ihre Grundlegung) nicht anders können, als durchgängige Kausalität vorauszusetzen und – freilich immer nur stückweise – zu erforschen. Ein Wort noch zur Form der nun vorzustellenden Theorie. Sie folgt, wie Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“, in ihrer Anlage den Gepflogenheiten des alten mos geometricus und sie folgt dabei auch inhaltlich in vielen Hinsichten der durch das Kantische Kategoriensystem vorgegebenen Architektonik. Daher sind die Definitionen (,Erklärungen‘) und Lehrsätze in den meisten Fällen auch in weitgehender Analogie zu den entsprechenden Sätzen der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ formuliert.13 Unser allgemeines Ziel ist dabei der Nachweis, dass sich die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung auch für die Erfahrung geistiger Phänomene, mit 11 Dies gilt insbesondere auch dort, wo die zunächst begriffenen Gegenstände Teile oder Strukturen des menschlichen Gehirns sind und wir dann (statt von der Chemie zur Chemie-Historie – s. o. S. 19 ff.) von der Gehirnforschung zum Verstehen der Arbeit des Gehirnforschers und zur Geschichte der Gehirnforschung übergehen. – Die Vereinfachung der obigen Bemerkung liegt darin, dass es bei den geistigen Phänomenen nicht bloß um logische Strukturen, sondern um das sich Bestimmen durch logische Strukturen geht. 12 s. o. S. 153 f. 13 Da die Sätze häufig eine sehr gedrängte Zusammenfassung der in den vorangehenden Kapiteln entwickelten Gedanken darstellen, mag ein Vergleich mit den entsprechenden Sätzen der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ dem Leser mitunter das Verständnis der komplizierten begrifflichen Strukturen erleichtern.

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denen in erster Linie es die Geisteswissenschaften zu tun haben, spezifizieren lassen. Es versteht sich von selbst, dass die Perfektion, die der mos geometricus verlangt, kaum erreichbar ist und unser Entwurf mit mindestens so vielen Einwänden rechnen muss wie sein naturwissenschaftliches ,Vorbild‘. Schon Kant räumt gegen Ende seiner Vorrede ein, er habe „die mathematische Methode [. . .] nicht mit aller Strenge befolgt“, und nur nachgeahmt. Sein Motiv dabei sei es nicht, seiner Abhandlung „durch ein Gepränge von Gründlichkeit besseren Eingang zu verschaffen“ (in heutigem Deutsch: Eindruck zu schinden), sondern weil er „glaube, daß ein solches System deren [der Gründlichkeit – BG] wohl fähig sei und diese Vollkommenheit auch mit der Zeit von geschickterer Hand wohl erlangen könne“. – Wir wollen vorsichtiger sein und lediglich der Hoffnung Ausdruck geben, dass unser Versuch gründlicherer Bearbeitung fähig sei, und zwar, ganz analog zu Kants Andeutungen, durch Forscher, die in größerem Maße als wir selbst mit den mathematischen Grundlagen etwa der neueren Sprachforschung vertraut sind. Denn bei allen Vorbehalten, die wir gegenüber einer Mode haben, alle geistigen Phänomene oder gar alle philosophischen Probleme auf linguistische zurückführen zu wollen, gilt doch der Satz, dass nur durch sprachliche Artikulation geistige Phänomene in Bestimmtheit erfahrbar werden. Der Vorteil aber, den wir uns durch die ,Nachahmung‘ des mos geometricus erhoffen, liegt vor allem in einer Art von systematischer Vollständigkeit, welche die Tatsache, dass zu jedem Lehrsatz eigentlich noch eine ganze Abhandlung voller Differenzierungen und Folgerungen gehören würde, insofern verschmerzen lässt, als mit dem System von Definitionen und Lehrsätzen ein Orientierungsrahmen für weitere Forschungs-Aufgaben gesetzt ist – und nicht zuletzt eine Übersichtlichkeit gegeben ist, welche ganz im Sinne von Karl R. Popper, die Prüfbarkeit und Falsifizierbarkeit der Theorie erleichtert.

I. Erstes Hauptstück: Formale Noetik Erklärung 1 Subjektivität ist das Vermögen eines Lebewesens zum Vollzug von Noesen oder zur Konstitution von Noemata. Ein Subjekt konstituiert ein Noema, wenn es sein Zeitbewusstsein durch ein transzendentales Bewusstsein der synthetischen Einheit imaginativer Gegenstandsbezüge gemäß einem noematischen System affiziert. Das noematische System, welches durch seine konstitutiven Relationen selbst den Grund der Bestimmtheit der durch ein Subjekt konstituierten Noemata – und mithin auch ihrer möglichen Explikation – ausmacht, ohne selbst Gegenstandsgeltung zu beanspruchen, ist das von diesem Subjekt habitualisierte oder auf seine Subjektivität relative noematische System. Dasjenige noematische System, durch das ein jedes relative noematische System seine Bestimmtheit erhält, nennen wir das universelle oder absolute noematische System.

I. Erstes Hauptstück: Formale Noetik

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Anmerkung Das noematische System muss als ein Grund von explikativen Noemata gedacht werden; diese dürfen nicht schon selbst Gegenstandsgeltung beanspruchen, weil wir sonst z. B. – um nur den unstrittigsten Fall zu erwähnen – keine Phantasieerzählungen mit willkürlich erfundenen Begriffen verstehen könnten. Erklärung 2 Eine Noesis ist der Akt eines in der Form des „ich denke, dass p“ artikulierbaren transzendentalen Bewusstseins eines noematischen Gehalts, in dem ein Gegenstand durch eine im noematischen System des Subjekts habitualisierte Regel für Gegenstandsbezüge als bestimmt gedacht wird – entweder so, dass sich das Subjekt eine noematische Bestimmung des Objekts durch ein Prädikat gemäß der Beschaffenheit des Objekts als gültiges Noema zueignet (doxische14 Noesis, etwa in der Form „ich meine, dass . . .“), oder so, dass es sich durch die noematische Bestimmung eines Objekts den Entwurf eines Sachverhalts als Zweck oder einer Handlung Mittel der Herbeiführung eines Zwecks zueignet (praktische Noesis, z. B. in der Form „ich will z erreichen“ bzw. „ich will h tun“). Das unmittelbare Bewusstsein der Herbeiführung eines Sachverhalts durch das Subjekt selbst in der Form „ich tue h mit dem Ziel z“ heißt Handlungsbewusstsein. Erklärung 3 Noetische Neutralität ist derjenige Zustand des noetischen Bewusstseins eines Subjekts, in dem das Subjekt sein empirisches Bewusstsein durch ein Noema affiziert, ohne sich durch transzendentales Bewusstsein dieses Noema als gültiges zuzueignen.

14 Wir haben bei der Wahl unserer Terminologie lange geschwankt zwischen dem griechisch-stämmigen Wortpaar „doxisch“ und „praktisch“ einerseits dem lateinischstämmigen „kognitiv“ und „projektiv“ andererseits. Wir haben uns schließlich für das griechische Wortpaar entschieden, das besser zu der Korrelation von „Noesis“ und „Noema“ passt; „doxisch“ lässt darüber hinaus sinnvoller Weise den objektiven Geltungsstatus eher offen als „kognitiv“; „praktisch“ scheint eher sowohl mit dem unmittelbaren Handlungsbezug als auch mit dem zukünftigen Handlungshorizont verbindbar zu sein als das nur auf den letzteren bezogene „projektiv“.

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Anmerkung Das der noetischen Neutralität entsprechende transzendentale Bewusstsein pflegt man durch eine Formel wie „ich stelle mir vor, dass p“ (statt durch „ich meine, dass p“) auszudrücken. Wir können auch sagen: die Gegenstandsgeltung der synthetischen Einheit der Begriffe wird lediglich (in der Form des „als ob“) imaginiert. Erklärung 4 Den Begriff einer zusammengesetzten Noesis konstruieren heißt, eine Noesis, sofern sie aus Akten der Konstitution von zwei oder mehreren Noemata entspringt, a priori in sprachlich artikulierter Objektivation darstellen.15 Grundsatz Eine Noesis kann entweder als ein explizit artikuliertes, das Zeitbewusstsein semiotisch affizierendes und so das Noema objektivierendes Bewusstsein stattfinden oder als ein die imaginativen Gegebenheiten mit Elementen des noematischen Systems nur implizite verknüpfendes Bewusstsein. Gegenstände einer möglichen Erfahrung sind Noesen nur durch (innere oder äußere) Objektivationen der in den Noesen konstituierten Noemata, vorzugsweise (nämlich in empirischer Bestimmtheit) nur aufgrund sprachlich artikulierter Objektivationen.16 Erklärung 5 Die konstruktive Zusammensetzung einer Noesis ist die Darstellung der Konstitution eines Noema als einerlei mit zwei oder mehreren Akten der Konstitution von Noemata zusammen verbunden. Lehrsatz Die Zusammensetzung einer Noesis, in welcher ein Subjektsbegriff (S) durch das Prädikat (P) bestimmt wird, aus zwei Noesen desselben noetischen Subjekts kann nur dadurch gedacht werden, dass in ihr zwei Konstitutionsakte als vereinigt vorgestellt werden, deren einer die explizite Konstitution der synthetischen 15 Zum Begriff der Konstruktion und Darstellung in concreto (expositio) vgl. die Erläuterung zu den Implikationen von Kants Begriff der Mathematik, o. S. 265 f. 16 Vgl. unsere Überlegungen zur Erinnerung an artikulationslos gebliebene Erlebnisse, die gleichwohl noetische Akte impliziert haben müssen (s. o. S. 244 f.).

I. Erstes Hauptstück: Formale Noetik

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Einheit des Subjektsbegriffs S mit den Konstituentien (Q/R) des Prädikatsbegriffs durch das transzendentale Bewusstsein aufgrund eines diese Begriffe, aber nicht P, enthaltenden noematischen Systems darstellt, deren anderer die implizite, noch keine Gegenstandsgeltung beanspruchende Konstitution eines Noema darstellt, welches aus den genannten Konstituentien (Q/R) den Prädikatsbegriff (P) und so ein umfassenderes noematisches System erzeugt, aufgrund dessen beide Noesen vereinigt gedacht werden können. Anmerkung Der Lehrsatz soll zeigen, inwiefern eine Noesis in einer Synthesis eine durch Konstruktion in concreto darstellbare bestimmte Größe haben kann. Beweis Die Erzeugung eines solchen Noema kann zwar auch als eine Schlussfolgerung aus zwei Prämissen dargestellt werden, aber eine Schlussfolgerung ist ein noetischer Prozess, der aus mehreren zu verschiedenen Zeiten stattfindenden Synthesen besteht. Die Frage aber, welche Größe eine Noesis in einer Synthesis habe, muss wiederum an jede einzelne dieser noetischen Synthesen gestellt werden können – insbesondere aber an die Konstitution der Konklusion, inwiefern sie denn den konstitutiven Gehalt der Prämissen noch mitenthalten könne; und sie kann nicht etwa damit beantwortet werden, dass der Begriff P bekanntermaßen eben diesen oder jenen Inhalt, diese oder jene Konstituentien impliziere. Denn wir fragen nicht, wie ein Subjekt ein bestimmtes Noema explizieren könne, sondern wie es das Noema seinen Konstituentien nach in einer Synthesis konstituieren könne. Dies aber ist bei der Konstitution eines Noema mit dem Subjektsbegriff S und dem Prädikatsbegriff P nicht anders möglich als so, dass wir die Synthesis als zusammengesetzt denken aus der expliziten, das Zeitbewusstsein affizierenden Konstitution der synthetischen Einheit des Subjektsbegriffs (S) mit den Konstituentien Q/R des Prädikatsbegriffs aufgrund eines noch eingeschränkten noematischen Systems und der impliziten Konstitution des Prädikatsbegriffs, mithin einer Erweiterung des noematische Systems zu einem umfassenderen System. Anmerkung Die Konstruktion kann auch als ein Dialog zwischen zwei Subjekten dargestellt werden, in welchem das eine in seiner Kenntnis des mit S bezeichneten Gegenstandes hinreichende Gründe für die Prädikation der Konstituentien (Q/R) findet, das andere Subjekt die Konstituentien als Gründe eines neuen Begriffs gebraucht und so ein umfassenderes noematisches System als gemeinsamen

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Systemhorizont erzeugt. – Verständigung zwischen Subjekten mit unterschiedlichen noematischen Systemen kann dann umgekehrt als der Versuch dargestellt werden, die eigenen, dem anderen Subjekt unbekannten Begriffe durch bestimmte, dem anderen bekannte und dessen eigenem System entnommene Begriffe zu erklären. Erklärung 6 Elementares noetisches Verstehen ist die Rezeption eines durch Objektivation vorgegebenen Noema durch die Konstitution der synthetischen Einheit der objektivierten noematischer Elemente ohne die Apperzeption seiner Gültigkeit oder in noetischer Neutralität. Einverständliches oder vorbehaltlos nachvollziehendes Verstehen ist die entsprechende Konstitution eines rezipierten Noema als eines gültigen, wodurch sich das verstehende Subjekt das Noema zueignet.

II. Zweites Hauptstück: Noetische Dynamik Erklärung 1 Subjektivität ist das Vermögen zum Vollzug von Noesen, sofern es doxisch in Bezug auf bestimmte Noemata entschieden ist oder durch eine Überzeugung (doxische Habitualität) bestimmt ist. Doxisch in Bezug auf ein bestimmtes Noema entschieden sein heißt, der Konstitution eines jeden zur Erwägung kommenden Noema widerstehen, das jenes bestimmte Noema aufheben würde. Lehrsatz 1 Die Subjektivität eines Menschen ist in Bezug auf bestimmte Noemata doxisch entschieden (durch eine doxische Habitualität bestimmt) – nicht durch deren bloße Verfügbarkeit und Reproduzierbarkeit (Gedächtnis), auch nicht durch die Fähigkeit, sich an die Situation ihrer ursprünglichen Konstitution zu erinnern, sondern durch eine besondere, doxische Noesen entgegengesetzten Gehalts verhindernde und die Negation des letzteren motivierende, selbstaffizierende Kraft. Beweis Die Konstitution eines doxischen Noema ist eine Noesis. Von ihrem Anfangsaugenblick bis zu ihrer Entscheidung ist diese Noesis die bloße Erwägung einer solchen Konstitution (sei es als Versuch, ein doxisches Problem des Subjekts selbst zu lösen, sei es als Versuch, ein rezipiertes Noema als für das Subjekt gültiges zu konstituieren). Der Widerstand gegen den Vollzug dieser Noesis ist

II. Zweites Hauptstück: Noetische Dynamik

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die Ursache der Problematisierung (Infragestellung) oder auch der Veränderung der noetischen Synthesis zur Negation des betreffenden Noema. Nun kann mit keiner Noesis etwas, was ihre noetische Synthesis aufhebt oder einschränkt, verbunden werden außer einer anderen Noesis desselben Subjekts von mindesten partiell qualitativ entgegengesetztem noematischem Gehalt. Also ist der Widerstand, den ein Subjekt im Falle einer doxischen Entschiedenheit allen die Aufhebung der letzteren implizierenden Noesen leistet, die Ursache einer Noesis in qualitativ der Aufhebung entgegengesetzter Entscheidungsrichtung. Die Ursache einer Noesis aber ist eine noetisch motivierende und – da es sich hier um die Affektion der Apperzeption des Subjekts durch die noetische Entschiedenheit des Subjekts selbst handelt – selbstaffizierende Kraft. Also ist die Subjektivität in Bezug auf eine noematische Alternative doxisch entschieden durch eine selbstaffizierende Kraft und nicht durch die bloße Erinnerung an die frühere Konstitution oder durch die Speicherung noematischer Gehalte im Gedächtnis und deren Reproduktion. Anmerkung Weder die rezipierende Selbstaffektion durch das Gedächtnis (das Wissen um früher ,Gelerntes‘) noch die durch Erinnerung (mit indexikalischem Rückbezug auf die Situation der ursprünglichen Konstitution) sind notwendige Bedingungen einer Überzeugung. So werden wir insbesondere in der Kindheit vieles in unsere Überzeugung aufgenommen haben, ohne dass wir uns dessen bewusst sind – bis uns etwa die dem betreffenden noematischen Gehalt entgegengesetzte Äußerung eines Gesprächspartners unsere Überzeugung allererst bewusst macht (und erst dann in manchen Fällen auch an den Kindheitseinfluss erinnert). Im übrigen sind natürlich mit den uns wohlbekannten eigenen Überzeugungen viele andere implizit als deren selbstverständliche Voraussetzungen verbunden, die uns erst bei einer geeigneten Gelegenheit voll bewusst werden. Erklärung 2 Praktische Habitualität ist diejenige noetisch motivierende Kraft, wodurch ein Subjekt mit Bezug auf Noemata entschieden ist, durch die eigenes Handeln des Subjekts entworfen und reguliert wird (Maximen) sowie künftige, durch Handeln herbeizuführende Sachverhalte entworfen werden. Doxische Habitualität ist diejenige noetisch motivierende Kraft, wodurch ein Subjekt Ursache von Noesen unter dem Prinzip der Wahrheit oder der Objektivität, d. i. dem Prinzip der Selbstbestimmung des Subjekts (in der Konstitution seiner Noemata) gemäß der Bestimmtheit des Objekts, sein kann (oder, welches einerlei ist, wodurch es der Konstitution eines als nicht objektiv aufgefassten Noema widersteht).

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Praktische Habitualität dagegen ist die Ursache der Konstitution von Noemata unter dem Prinzip der Praxis, d. i. dem Prinzip der Bestimmung seiner selbst und des Objekts gemäß einem Entwurf, d. i. gemäß einer noematischen Konzeption des Subjekts von eigenem Handeln sowie von dadurch herbeizuführenden Sachverhalten. Lehrsatz 2 Die Subjektivität bestimmt sich durch den Vollzug von Noesen zur Habitualisierung der betreffenden Noemata und zu einem reflexiven Wissen um die eigenen Erlebnisse (Komplexionen von Noesen und Empfindungen . . .). Beweis (a) Der Vollzug einer Noesis impliziert das Bewusstsein der Gültigkeit des betreffenden Noema in einem bestimmten Modus (der Möglichkeit, Wirklichkeit oder Notwenigkeit) und die Selbstzuschreibung des so konstituierten Noema als Bestimmung des Subjekts selbst (in der Form des ,ich denke, dass p‘). Diese Selbstzuschreibung der Gültigkeit eines Noema kann nur dadurch die Selbstzuschreibung eines Subjekts sein, dass sich das Subjekt dabei als in verschiedenen Zeitpunkten und in dabei vollzogenen Noesen identisches Subjekt auffasst (analytische Einheit des Selbstbewusstseins), das die ihm als von ihm vollzogen bewussten Noemata als seine Noemata zugleich in Geltung hält, wenn es sie nicht zwischenzeitlich aufgehoben hat. Auch kann ein Subjekt nicht alle bisher konstituierten Noemata wieder aufheben, weil ihm sonst die Motive für die Konstitution neuer Noemata, insbesondere aber der Boden für eine einheitliche Erfahrung fehlen würden. (b) Die Aktualisierung eines habitualisierten Noema setzt zwar nicht jederzeit das empirische Wissen um dessen ursprüngliche Konstitution voraus, aber das für die Einheit der Erfahrung notwendige Wissen von einer zumindest relativen Konstanz und Regelmäßigkeit der Erfahrungswelt setzt ein unmittelbares empirisches Bewusstsein (Retention) des eigenen Erfahrens und aktualisierbares Wissen um frühere Erfahrungserlebnisse voraus. Anmerkung Dieser Lehrsatz besagt nichts darüber, wie lange die Habitualisierung von Noemata andauert, zum einen, weil die Dauer empirisch abhängig ist von der in jedem Falle endlichen Dauer bestimmter körperlicher Zustände, welche die Voraussetzung für die Verfügbarkeit der Habitualitäten ist, zum anderen, weil es möglich ist, dass das Subjekt noetische Prozesse durchläuft, in denen Gründe für die Aufhebung einer Habitualität konstituiert werden.

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Erklärung 3 Eine doxische Überzeugung wird aufgehoben, wenn das Subjekt eine Noesis mit einem der Überzeugung entgegengesetzten Gehalt vollzieht. Lehrsatz 3 Die Möglichkeit der Subjektivität erfordert eine praktische Kraft (praktische Habitualitäten) als zweite wesentliche Grundkraft des Subjekts.17 Beweis Wir lassen alle Gründe beiseite, die schon im Hinblick auf die animalische Psychizität des Subjekts für die Notwendigkeit einer praktischen Grundkraft sprechen. – Erfahrung, d. h. die Erlangung von Wissen über gegebene Gegenstände, als Fundament aller weiteren doxischen Habitualitäten, setzt (schon im vorwissenschaftlichen Sinne) nicht bloß die Rezeption von sinnlichen Gegebenheiten, sondern gezielte Beobachtung und aktive Veränderung der Beobachtungsbedingungen (sei es auch nur durch Bewegung der eigenen Sinnesorgane und des gesamten Leibes) sowie die Sicherung der Objektivität eigener Beobachtungsresultate durch intersubjektive Kommunikation voraus. Erfahrung als Erlangung von Wissen also ist eine besondere Art zu handeln, und zwar mit einem begrifflich bestimmten Verhältnis von Zwecksetzung und zweckmäßigen Mitteln, das selbst habituell werden muss, wenn das erworbene Wissen einen hinreichenden Zusammenhang haben soll. Habituelle Zwecksetzungen und das Wissen um ihr Verhältnis zu angemessenen Mitteln aber sind praktische Habitualitäten. Lehrsatz 4 Praktische Habitualitäten setzen doxische Habitualitäten voraus.18 Beweis Praktische Habitualitäten sind habitualisierte Zweck- und Handlungs-Entwürfe, die als Entwürfe von erfahrbaren Sachverhalten und Sachverhaltsveränderungen Kenntnisse zwar nicht von genau diesen Sachverhalten, aber von den

17 Dieser Lehrsatz ist analog zum Lehrsatz 5 der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ formuliert. 18 Dieser Lehrsatz ist analog zum Lehrsatz 6 der ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ formuliert.

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Materialgegenständen dieser Sachverhalte und den Möglichkeiten des Eingreifens in den Zustand der letzteren voraussetzen. Diese Kenntnisse werden zwar u. U. wie die Entwürfe beim eingreifenden Handelnden verändert und weiterentwickelt, aber schon der erste Entwurf eines Zweckes und seiner Verwirklichung setzt habituelles Erfahrungs-Wissen von den Materialgegenständen und den eigenen Handlungsmöglichkeiten voraus und also doxische Habitualitäten. Allgemeine Anmerkung zur noetischen Dynamik I. Grundkräfte kann und darf man nicht, wie Kant immer wieder betont, „a priori erdenken“19. Sie sind auch nicht durch Ableitung aus anderen Kräften zu begreifen, deshalb heißen sie ,Grundkräfte‘.20 Nur die Erfahrung kann uns „dazu berechtigen, sie anzunehmen“21, indem wir die beobachtbaren Verhältnisse eines Gegenstandes zu seinen Zuständen, d. h. die Kräfte, „auf die kleinstmögliche Zahl zurück [. . .] führen und die dazu gehörige Grundkraft [. . .] suchen“.22 Grundkräfte werden also hypothetisch angesetzt, um „systematische Einheit“ in die Erfahrungserkenntnisse zu bringen.23 Ihre Begriffe sind daher auch in besonderer Weise vom Umfang und Stand der empirischen Forschung abhängig. Es ist daher kein Zufall, dass der Kantische Versuch, die physischen Phänomene auf die Grundkräfte Repulsion und Attraktion zurückzuführen, durch die spätere Entwicklung der Physik überholt worden ist.24 Demgemäß können wir auch für unseren Versuch, doxische und praktische Habitualitäten als Grundkräfte anzusetzen, nicht mehr erwarten, als dass er für wert gefunden werde, ihn zu verbessern. Es ist für uns heute auch ohne genauere Kenntnis der Hirnvorgänge selbstverständlich, dass wir etwa eine bestimmte Überzeugung nicht haben könnten, wenn nicht irgend ein physiologischer Prozess und irgendein Zustand des Gehirns dafür ,sorgen‘ würde, dass wir sie gewinnen und behalten könnten. Dennoch würden wir es kaum akzeptieren, wenn 19 Vgl. AA VIII 180; dies ist die Erkenntnis, die seit den „Träumen eines Geistersehers“ (1766) Kants Denken und insbesondere sein Verhältnis zur Metaphysik bestimmt (vgl. AA II 371). 20 Vgl. die Anmerkung zum Beweis von Lehrsatz 7 der „Dynamik“ in den MAdN, AA IV 513. 21 Vgl. AA V 47. 22 Vgl. AA VIII 181 (Fußnote zu VIII 180). 23 Vgl. B 677; AA III 430 f. 24 Vgl. nochmals die schon angeführte Untersuchung Jules Vuillemins, Physique et métaphysique kantiennes, Paris 1955, S. 190–194; Vuillemin zeigt u. a., dass von den beiden angesetzten Grundkräften nur die Anziehung eine Kraft im eigentlichen Sinne sein kann; zur Entwicklung des Begriffspaars bei Newton vgl. etwa Juichi Matsuyama, Spekulation und Erfahrung in der Naturphilosophie Newtons nebst ihrem Zusammenhang mit der deutschen Naturphilosophie, in: Form, Zahl, Ordnung. Studien zur Wissenschafts- und Technikgeschichte, hrsg. v. R. Seising/M. Folkerts/U. Hashagen, Stuttgart 2004, S. 513–532.

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jemand behaupten würde, wir hätten die Überzeugung U gewonnen und dann so und so gehandelt, weil unser Gehirn in dem und dem Zustand gewesen sei. Jedenfalls würde ein Historiker nur Kopfschütteln erwarten können, wenn er erklärte, Bismarck habe diese und jene Entscheidung (etwa die „Emser Depesche“ abzuschicken) getroffen, weil sein Gehirn in einem so und so zu beschreibenden Zustand gewesen sei. Wir sind der Überzeugung, dass Menschen sich durch bestimmte Überzeugungen und praktische Einstellungen auszeichnen und voneinander unterscheiden und dass dies der Realgrund ihrer Entscheidungen ist. Solche Realgründe sind keine logischen Gründe, weil das ,Haben‘ und Gebrauchen von logischen Gründen kein logischer Grund ist, denn das ,Haben‘ und Gebrauchen von logischen Gründen findet zu einer bestimmten Zeit statt, logische Gründe finden überhaupt nicht statt. Solche Realgründe sind in einem bestimmten Sinne Ursachen (causes), nicht Gründe (reasons) im logischen Sinne, vergleichbar mit physischen Kräften und deren Wirksamkeit in einem aktuellen Prozess. Freilich sind Überzeugungen und praktische Einstellungen, anders als physische Kräfte, keine selbständige Realität, sondern auf sie fundierende Realitäten, auf eine imaginative Psychizität, auf einen hochkomplexen Organismus und mit ihm auf physische Kräfte angewiesen. Die Berechtigung dafür, diese Grundkräfte anzusetzen, liegt zunächst einfach darin, dass wir zum einen in unserer Erfahrung mit unseren Mitmenschen und mit uns selbst Überzeugungen und praktische Einstellungen antreffen können (wenn wir an andere und uns selbst entsprechende Fragen stellen) und dass zum anderen unterschiedliche Antworten verschiedener Menschen auf diese Fragen eine Erklärung dafür liefern können, dass sie auf unterschiedliche Weise bestimmte andere Fragen oder Aufforderungen beantworten und vor allem unterschiedliche Handlungsentscheidungen treffen. Wir stützen uns bei der Unterscheidung auf die logische Form der betreffenden Antworten, die entweder Aussagen oder praktische Sätze sein können, wobei insbesondere letztere bekanntlich grammatisch stark variieren und etwa als futurische Sätze (ich werde x tun) durchaus wie Aussagen erscheinen können. Andererseits sind auch wertende Sätze Aussagen, wiewohl ihre Genese auf praktische Entscheidungen und Einstellungen zurückweisen mag. Daher hielten wir es für überflüssig, eine eigene Klasse von axiotischen Habitualitäten (Werthaltungen) einzuführen. Axiotische Habitualitäten ergeben sich jedenfalls aus Urteilen über die Angemessenheit eines Sachverhalte an im weitesten Sinne praktische Zwecke, wobei auch der Gebrauch der Erkenntnisvermögen als eine Praxis angesehen werden kann. Wir fassen sie als eine Unterklasse der doxischen Habitualitäten auf, insofern sie trotz eventueller ,Herkunft‘ aus praktischen Zusammenhängen für sich genommen nur eine Art von Meinung, noch keine Zielsetzung und noch keinen Handlungsgrundsatz beinhalten. Nur wo Wertungen als Bestimmungsstücke in Handlungsmaximen und Zwecksetzungen aufgenommen werden, haben sie indirekt eine praktische Funktion.

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II. Kant hat an verschiedenen Stellen seines Werkes von Grundkräften der Seele gesprochen, ohne dem Leser den Eindruck zu vermitteln, dass er sich dabei eine abschließende Meinung gebildet hat. In den ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ fasst er (nicht in der Dynamik, sondern in der Mechanik) „das Bewußtsein, mithin die Klarheit der Vorstellungen meiner Seele“ als Grundkraft ins Auge, aber in einem Zusammenhang, in dem er nur die Frage diskutiert, ob eine Substanz, die nicht Materie wäre und nicht aus Teilen bestünde, entstehen oder vergehen könne.25 Der Gedanke knüpft an die „Widerlegung des Mendelssohnschen Beweises der Beharrlichkeit der Seele“ an, wo freilich, in Übereinstimmung mit der Ersten Analogie der Erfahrung, das Aufhören der Seelenexistenz gerade nicht als das Verschwinden einer Substanz gedacht wird.26 Der ganze Gedanke ist für unsere Überlegungen wenig brauchbar, weil die „Klarheit der Vorstellungen“ zwar eine intensive Größe sein mag, aber (wie schon der Wechsel zwischen Schlaf und Wachen zeigt) gerade nichts über eine dauerhafte Motivation zu Entscheidungen und Handlungen besagt. In dem Aufsatz „Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“ heißt es dagegen „Verstand und Wille sind bei uns Grundkräfte, deren der letztere, so fern er durch den erstern bestimmt wird, ein Vermögen ist, Etwas gemäß einer Idee, die Zweck genannt wird, hervorzubringen.“27

Dies scheint uns durchaus im Sinne unseres Vorschlags einer doxischen und einer praktischen Grundkraft interpretierbar zu sein, wenn man nämlich Verstand und Wille nicht bloß als bei allen Menschen überhaupt vorhandene und allenfalls unterschiedlich geübte Vermögen (wie etwa das Sehvermögen) auffasst, sondern eben als inhaltlich bestimmte Vermögen, mit einem bestimmten ,Schatz‘ an Wissen und Überzeugungen und einem bestimmten Gehalt von Maximen und Zielsetzungen. Freilich weist nichts darauf hin, dass Kant selbst die Begriffe so aufgefasst hat. In der Fußnote zu demselben Absatz hat Kant auch Einbildungskraft als eine Grundkraft des „Gemüts“ bezeichnet. Wir halten die Einbildungskraft für eine Fähigkeit, die zwar allen geistigen Prozessen zugrunde liegt, aber schon zur vornoetischen, bloß psychischen Ausstattung ,höherer‘ Animalien gehört, in Termini der Plessnerschen Anthropologie: zur Stufe der zentral-geschlossenen Organisationsform. Als Fähigkeit dieser Stufe wäre bei ihr, in Analogie zu unserem Ansatz in der noetischen Dynamik, wohl ein passiv-reproduktiver und ein aktivprojektiver Aspekt zu unterscheiden, die ihrerseits wieder als materiale Fundamente der noetischen, doxischen und praktischen Habitualitäten anzusehen sind. 25 26 27

Vgl. AA IV 542, 18–543, 14. Vgl. B 413 ff.; III 270–275. AA VIII 181.

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In den Metaphysik-Vorlesungen geht es Kant bei dem Verweis auf die Einbildungskraft und die Erkenntniskraft als Grundkräfte hauptsächlich um die Abweisung der Wolffschen These von der Seele als Grundkraft („anima est vis“, genauer: „vis repraesentativa universi“), wodurch nach Kant die Substanzialität der Seele von vornherein ausgeschlossen ist. Dagegen setzt Kant den ontologischen Status einer Grundkraft als „respectus der Substanz zum Accidens, so fern in derselben der Grund der wirklichen Vorstellungen enthalten ist“28. Auch in diesem Text wird nicht ganz deutlich, ob Einbildungskraft, Verstand und Vernunft, schließlich auch die Sinne als eigene Grundkräfte gewertet werden, oder ob schließlich der Satz als letztes Wort gelten soll: „Demnach sind das Erkenntnißvermögen, das Vermögen der Lust und Unlust, und das Begehrungs-Vermögen, Grundkräfte.“29 Diese letztere Trias entspricht genau der Dreigliedrigkeit der „Seelenvermögen oder Fähigkeiten“ in der Einleitung zur „Kritik der Urteilskraft“30, wo allerdings der Ausdruck Grundkraft nicht benutzt wird. Während aber die Wahl von Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen ebenso wie die von Verstand und Wille im Sinne unseres Ansatzes zumindest interpretiert werden könnte, begreifen wir das Gefühl oder Vermögen der Lust und Unlust als ein Resultat der Wechselwirkung zwischen den Aktualisierungen der beiden Grundkräfte. Allen Kantischen Ansätzen fehlt zumindest die deutliche Rücksicht auf eben dies Spezielle, was u. E. der Begriff einer noetischen Grundkraft zu leisten hat: nämlich die Angabe struktureller Größen zu ermöglichen, die als Realgründe dafür angesehen werden können, dass angesichts derselben äußeren Bedingungen eine Person diese, eine andere Person jene noetischen Akte vollzieht. III. Wir haben in diesem Kapitel nur die noetischen Grundkräfte in ihrer auf die individuellen Subjekte bezogenen Form dargestellt. Schon die Frage der Genesis von Habitualitäten würde uns sogleich zur intersubjektiven Dimension der Habitualitäten führen. Es ist eine triviale Erfahrung, dass unsere Überzeugungen, Zielsetzungen und Verhaltensregeln, zumal am Anfang unserer geistigen Entwicklung, in weitem Maße auf der Übernahme der Überzeugungen, Zielsetzungen und Verhaltensregeln anderer Menschen beruhen und auch deren Überzeugungen ihrerseits eine lange intersubjektive Geschichte haben. Wichtiger aber noch ist die Tatsache, dass viele dieser Habitualitäten gerade deshalb in Geltung gehalten werden, weil wir – zu Recht oder zu Unrecht – davon überzeugt sind, dass andere sie haben und von uns glauben und erwarten, dass wir sie haben. Entsprechend ,flexibel‘ sind diese Habitualitäten, sobald diese sie bedingenden Meta-Überzeugungen sich als unbegründet erweisen oder wir in andere ,kulturelle‘ Umgebungen versetzt werden. 28 29 30

Vgl. AA XXXVIII/1, S. 161 f. Ebenda S. 162. Vgl. AA V 177.

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Für unsere Zielsetzungen und Verhaltensregeln gilt noch in besonderem Maße, dass sie durch intersubjektive und institutionelle Bedingungen bestimmt sind. Diese sind nicht nur veränderlich, sondern oftmals auch in der Weise situationsabhängig, dass uns sehr unterschiedliche, mitunter gegensätzlich erscheinende, Ziele und Verhaltensregeln zur gleichen Zeit bestimmen, je nachdem in welcher Situation oder in welchem institutionellen Rahmen wir uns befinden. Ein Beispiel solcher Überschneidungen wird durch den Begriff der Rolle erfasst, der mit seiner Herkunft aus dem Bereich des Theaterspiels schon das Fehlen jener Unbedingtheit andeutet, die wir für manche unserer persönlichen Zielsetzungen, Verhaltensregeln und Überzeugungen in Anspruch nehmen. Der Begriff der Rolle enthält, wiederum in gewisser Analogie zum Theater, immer den Bezug zu anderen Rollen desselben „Stücks“, häufig zu korrelativen Rollen (etwa beim Lehrer-Schüler-Verhältnis). – Hier, bei den Habitualitäten, wäre auch der Ansatzpunkt für jene hochabstrakten sozialwissenschaftlichen Theorien, die mit dem Begriff des Systems arbeiten, mitunter aber vergessen lassen, von welcher empirischen Basis sie bei ihren Abstraktionen ausgehen müssen. Die meisten dieser Determinanten unseres Denkens, Wollens und Handelns sind keine bloß-individuellen Bestimmtheiten, sie sind nicht ohne intersubjektive Beziehungen und intersubjektive Kommunikation denkbar. Viele dieser Determinanten können nur deshalb so wirksam sein, weil sie eine sozusagen objektive, von den Individuen abgelöste Existenz haben: als schriftlich fixierte Satzungen, Verordnungen, Gesetze oder auch nur als mündlich tradierte Formeln. Insofern ist der von Dilthey31 in vager Anlehnung an Hegel noch unscharf eingeführte und von N. Hartmann32 präzisierte Begriff des objektiven Geistes durchaus brauchbar, um die das Individuum von außen bestimmende geistige Macht solcher ,Institutionen‘ (ein mindestens ebenso vieldeutiges Wort) zu bestimmen. Gleichwohl müssen wir uns bei der Frage nach der Realität all dieser Determinanten klar machen, dass sie diese Realität von nirgendwo anders erhalten können als aus den Habitualitäten der Individuen, selbst dann, wenn das einzelne Individuum etwa den genauen Gehalt einer Satzung gar nicht 31 Vgl. Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, (11910) in: GS Bd. VII, Stuttgart (1926) 51968, insbes. S. 146–152; Dilthey benutzt neben dem Ausdruck „objektiver Geist“ den Ausdruck „Objektivation des Lebens“, was schon darauf hinweist, dass er nicht scharf unterscheidet zwischen den zu äußeren Objekten gewordenen Erscheinungen, dem, „worin der Geist sich objektiviert hat“ (S. 148) auf der einen Seite und den intersubjektiven ,Gemeinsamkeiten‘, die sich in diesen „Objektivationen“ zeigen, auf der anderen Seite: „Jede einzelne Lebensäußerung repräsentiert im Reich des objektiven Geistes ein Gemeinsames.“ 32 Vgl. Nicolai Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften, Berlin/Leipzig 1933, insbes. den 2. Teil „Der Objektive Geist“ (S. 151–347); Hartmann unterscheidet strikt zwischen dem objektiven Geist als dem einer Kultur oder Gesellschaft Gemeinsamen und dem „objektivierten Geist“ als der Gesamtheit der geistigen Produkte (Dritter Teil des Werkes, S. 348–482).

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kennt (sondern etwa im Einzelfall in einem Handbuch nachschlagen, bei einem Fachmann oder Amtsinhaber nachfragen muss oder sich einfach nach dem richtet, was es bei anderen beobachtet): Es genügt, wenn der Einzelne nach der Maxime handelt, sich – sei es auch nur aus Furcht vor Sanktionen oder aus Bequemlichkeitsgründen – an die Satzung oder das nach seiner Beobachtung Übliche zu halten. Ohne eine solche Maxime des Einzelnen hätte auch die im übrigen bekannteste Verhaltensregel keine die Wirklichkeit bestimmende Kraft. Bei der Rede von ,intersubjektiven‘ Habitualitäten darf nicht vergessen werden, dass sie auf einer idealisierenden Abstraktion beruht, ähnlich wie die rechtstheoretische Rede von einer „juristischen Person“ und ihren Rechtakten. Realiter gibt es keine kollektiven Subjekte mithin auch keine Habitualitäten solcher Subjekte, weil es kein kollektives Bewusstsein gibt und also auch keine Noesen solcher Subjekte. Institutionen denken nicht, sie werden gedacht, sie sind noematische Konstrukte, deren objektive Realität auf ihrer ,Geltung‘ für die Individuen beruht. Die Geltung mag nach moralisch-rechtlichen Begriffen eine unbedingte sein, nach empirischen Begriffen ist sie eine durch das Faktum ihrer Verankerung in den Individuen bedingte. Ein besonderes Kapitel könnte man der Analyse jener Habitualitäten widmen, die der Produktion von Werken, etwa der Kunst, zugrunde liegen, und dabei insbesondere dem Werkentwurf selbst, der keineswegs unverändert, aber häufig doch seiner Grundidee nach stabil u. U. über eine lange Schaffensperiode hin das Denken und Handeln des Autors bestimmt.33 Auch hier liegen den singulären Entwürfen intersubjektive und tradierte Gemeinsamkeiten inhaltlicher Ideen, des Stils, der Technik, der Sprache usw. zugrunde. Aber auch hier ist es nicht ein über den Köpfen der Beteiligten schwebender „Geist der Zeit“, sondern die in Kommunikation und Rezeption stattfindende Habitualisierung der verschiedenen Merkmale dieses ,Geistes‘ durch die Autoren und Künstler, welche die Wirklichkeit der Werke ermöglicht. Eine ausgeführte Theorie der Habitualitäten hätte vor allem auch die internen Beziehungen zwischen den Habitualitäten zu thematisieren. Hier ist es für den spezifischen Charakter des Geistes im Sinne der von Plessner exponierten „exzentrischen Positionalität“ entscheidend, dass Habitualitäten ausgebildet werden können (und ansatzweise wohl von jedem Subjekt ausgebildet werden), die als Kriterien zur Beurteilung von doxischen wie praktischen Noemata und daher auch von Habitualitäten dienen. Inwieweit solche kriteriellen Habitualitäten ein durch die natürliche Entwicklung von Individuen ausgebildetes ,Über-Ich‘ darstellen, inwieweit sie statt dessen oder darüber hinaus prinzipientheoretisch notwendig sind, müssen wir hier dahingestellt sein lassen. Inwiefern sich aus einem zureichenden Verständnis solcher Kriterien ein Weg auch zum Begreifen des Verhältnisses zwischen empirischer Kausalforschung und Bewusstsein der Frei33

s. o. S. 90 ff.

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heit des Menschen ergibt, werden wir andeutungsweise in unserem Abschlusskapitel fragen.

III. Drittes Hauptstück: noetische Praktik Erklärung 1 Subjektivität ist das Vermögen zum Vollzug von Noesen, sofern dieses durch seine Noesen eine noetisch sich selbst motivierende Kraft hat. Erklärung 2 Die Stärke der Subjektivität ist der Inbegriff (die Menge) ihrer doxisch- und praktisch-habituellen Entschiedenheiten mit Bezug auf entsprechende noematische Alternativen. Das Subjekt, sofern alle seine erworbenen habituellen Momente – soweit sie für die zu entscheidende noematische Alternative relevant sind – als zugleich wirkend (noetisch motivierend) betrachtet werden, heißt Person; und wir sagen, ein Subjekt wirke als Person34, wenn in einem noetischen Entscheidungs-Prozess alle für die Entscheidung inhaltlich relevanten Habitualitäten eines Subjekts zusammenwirken. Demgemäß nennen wir die apperzeptiven Funktionen eines Subjekts (seine doxische und seine praktische Funktion), sofern mit ihnen alle zugehörigen Habitualitäten in einer Entscheidung zugleich ihre motivierende Kraft ausüben, personale Funktionen des Subjekts. Die Stärke einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt heißt Persönlichkeit. Die Stärke des noetischen Prozesses (praxeologisch bestimmt) ist diejenige, die durch die Persönlichkeit des in einem noetischen Prozeß begriffenen Subjekts und die noetische Synthesis eines noetischen Prozesses zugleich geschätzt wird, und heißt noetisches Potential dieses Prozesses; formal-noetisch besteht sie bloß in der noetischen Synthesis. Lehrsatz 1 Die Stärke der Subjektivität einer Person im Vergleich zu jeder anderen Person zu einem bestimmten Zeitpunkt (die Persönlichkeit des Subjekts) kann nur 34 Zur Vermeidung von Missverständnissen weisen wir darauf hin, dass hier nicht von rechtlichen und überhaupt moralischen Begriffen, sondern von Begriffen der Erfahrungsgrundlegung die Rede ist. – Sollte es moralphilosophische oder speziell rechtsphilosophische Gründe geben, auch Wesen, die (nach aller Erfahrung) keine oder noch keine noetischen Prozesse vollziehen und daher auch noch keine noetischen Habitualitäten ausgebildet haben, als Personen zu begreifen, so ist damit zugleich gesagt, dass Erfahrung allein keine zureichende Grundlage für rechtliche und überhaupt moralische Grenzziehungen zwischen ,Personen‘ und ,Sachen‘ sein kann (vgl. unsere Auseinandersetzung mit P. Singer: B. Grünewald, Peter Singers Objektivismus und seine versteckte Subjektstheorie, in: Jahrbuch für Recht und Ethik – Annual Review of Law and Ethics, Bd. 3, 1995, S. 403–414).

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durch die Stärke der noetischen Prozesse, d. i. ihr noetisches Potential, aufgrund gegebener Entscheidungen zwischen noematischen Alternativen, geschätzt werden. Beweis Die Persönlichkeit eines Subjekts kennen wir nur aufgrund der Objektivation ihrer Noesen in Äußerungen. Nun könnten wir annehmen, dass gleichlautende (semiotische) und gleichartige (noetische Prozesse erschließbar machende) Äußerungen auch auf eine gleiche Stärke der Person, die gleiche Persönlichkeit schließen ließen. Dies würde jedoch voraussetzen, dass die Äußerungen bei allen Personen unter denselben inneren und äußeren Bedingungen gegeben worden wären. Daher sind nicht nur die in einer Äußerung zum Ausdruck kommenden noetischen Akte, sondern darüber hinaus, bei gleichen äußeren Bedingungen, die inneren habitualisierten Bedingungen, welche eine Aufhebung der in Frage stehenden Überzeugung verhindern, in die Einschätzung der Stärke der Persönlichkeit mit Bezug auf diese Überzeugung heranzuziehen. Anmerkung In Äußerungen können Ausdrücke der Stufe des Fürwahrhaltens in der Form „Ich meine / glaube / weiß, dass . . .“ die Selbsteinschätzung des Sprechers mit Bezug auf die habitualisierten Gründe und mithin die Bedingungen, unter denen die geäußerten Überzeugungen aufhebbar oder (in subjektiver Einschätzung) unaufhebbar wären, indizieren. Da das Meinen keine zureichenden Gründe, das Glauben subjektiv zureichende Gründe, das Wissen aber objektiv zureichende Gründe voraussetzt, kann auch eine empirische Einschätzung der Stärke der Überzeugungen nach diesen Gesichtspunkten gestuft werden.35 Bei bloßen Meinungen reicht schon die Einsicht in zusätzliche Gründe für die Annahme der gegenteiligen Meinung, ohne dass deshalb die bisherigen Gründe für die bisherige Meinung aufgehoben werden müssten (wie wenn jemand etwa eine Meinung aufgrund der Behauptung eines anderen angenommen hätte und diese Meinung auf die Behauptung eines dritten hin, der ihm mindestens ebenso kompetent erschien und dazu durch seine Anwesenheit beeindruckte, aufgegeben hätte). Bei (pragmatischem) Glauben müsste der für den Handlungszusammenhang zureichende Grund durch einen gegenteiligen in Frage gestellt werden, beim Wissen müsste sich der als objektiv zureichende Grund des Fürwahrhal35 Vgl. hierzu den Abschnitt „Vom Meinen, Wissen und Glauben“ in der Methodenlehre der KrV, B 848–859; III 531–538; die von Kant auch einmal als „Modi des Fürwahrhaltens“ bezeichneten Einstellungen sind nicht mit den Modi der Urteile (als noematischer Gehalte) zu verwechseln; vgl. dazu auch B. Grünewald, Modalität und empirisches Denken, S. 92–97.

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tens für das Subjekt als unzureichend erweisen (der wahrgenommene Sachverhalt als Sinnestäuschung, die Berechnung als fehlerhaft, das Argument als unzureichend oder gar falsch). Bei alledem ist jedoch zu beachten, dass die Differenzierung der Stufen des eigenen Fürwahrhaltens einerseits eine fortgeschrittene Reflektiertheit und Übung voraussetzt und also für den empirischen Forscher einen Gegenstand kritischer Überprüfung darstellt, dass andererseits die Differenz zwischen den Stufen keine völlig scharf zu bestimmende sein kann, weil sowohl für die Selbsteinschätzung als auch für die kritische Fremdbeurteilung das Zureichen von Gründen für ein Urteil immer nur relativ auf einen „Hintergrund“ von als unbezweifelbar angesehenem theoretischen und empirischen Rahmen bestimmbar ist. Lehrsatz 2 Bei allen Veränderungen des Bewusstseins erweist sich ein noetisches Subjekt reflexiv als mit sich selbst identisch bleibende Person (personales Ich) nicht aufgrund der Erhaltung irgendeiner Substanz, sondern durch Selbstzuschreibung (transzendentales Bewusstsein) vergangener Erlebnisse und darin der früheren Meinungen, Entscheidungen und Handlungen (empirisches – nicht notwendig auch transzendentales – Bewusstsein der betreffenden noematischen Gehalte); auch im Falle aktueller Kritik an diesen Meinungen und Handlungen aktualisiert eine Person durch diese Selbstzuschreibung einen reflexiven Kern eigener Überzeugungen (jene Erlebnisse gehabt zu haben), zu denen auch die kausale Zurechnung der eigenen Handlungen gehört. Diese durch Selbstzuschreibung erfahrbare Identität der Person, damit auch die Aktualisierung und Objektivierung der eigenen noetischen Persönlichkeit, hat einen die leibliche und psychische Entwicklung voraussetzenden Anfang und ein durch leibliche und psychische Destruktion bedingtes Ende. Beweis Noetische Subjektivität ist erfahrbar nur als besonderes, sich in einer Genesis von Habitualitäten entwickelndes, Vermögen eines mit imaginativer Psychizität ausgestatteten Lebewesens. Inwieweit in diesem Lebewesen sich irgendeine materielle Substanz im Lauf seines Lebens sich identisch erhält, kann a priori nicht erkannt werden und wäre, selbst wenn sich eine solche Substanz empirisch nachweisen ließe, für die Identität der Person irrelevant. Denn gesetzt selbst, ein Lebewesen enthielte eine solche Substanz und durchliefe noetische Prozesse aber nur mit einem Selbstbewusstsein, das nicht über den retentional-protentionalen Zeithorizont einzelner Noesen hinausreichte und alle vergangenen Erlebnisse, Einsichten und Handlungen dem Vergessen anheimgäbe, so würde dieses Lebewesen doch niemals von sich, sei es (innerlich) zu sich selbst, sei es zu

III. Drittes Hauptstück: noetische Praktik

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möglichen Kommunikationspartnern, sagen können, es habe dies oder jenes erlebt oder gedacht oder getan oder nicht erlebt oder gedacht oder getan. Ein solches Subjekt aber wäre keine Person, denn es könnte für seine noetischen Prozesse keine Motive der Entscheidung einer noematischen Alternative, weder sich selbst noch seinen Kommunikationspartnern gegenüber, haben und artikulieren, sich also nicht noetisch entscheiden, mithin keine inhaltlichen Noesen vollziehen. Ein solches Subjekt wäre also keine Person. Anmerkung Dieser Beweis greift in gewisser Hinsicht auf einen von Kant sozusagen in Parenthese gemachten Hinweis in den ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ zurück, in welchem dem dort behandelten Gegenstand der äußeren Sinnlichkeit der „Gegenstand des inneren Sinnes“ gegenübergestellt wird, wobei allerdings – anders als in unserem Versuch – vom Bewusstsein als einer Grundkraft die Rede ist. Wir setzen das Textstück dennoch, gleichsam als ein Stück Kantischer ,Metaphysik der denkenden NATUR‘, zur Unterrichtung des Lesers hierher: „Dagegen kann das, was als Gegenstand des inneren Sinnes betrachtet wird, als Substanz eine Größe haben, die nicht aus Theilen außerhalb einander besteht, deren Theile also auch nicht Substanzen sind, deren Entstehen oder Vergehen folglich auch nicht ein Entstehen oder Vergehen einer Substanz sein darf [= muss BG], deren Vermehrung oder Verminderung daher dem Grundsatze von der Beharrlichkeit der Substanz unbeschadet möglich ist. So hat nämlich das Bewußtsein, mithin die Klarheit der Vorstellungen meiner Seele und derselben zu Folge auch das Vermögen des Bewußtseins, die Apperception, mit diesem aber selbst die Substanz der Seele einen Grad, der größer oder kleiner werden kann, ohne daß irgend eine Substanz zu diesem Behuf entstehen oder vergehen dürfte [= müsste BG]. Weil aber bei allmähliger Verminderung dieses Vermögens der Apperception endlich ein gänzliches Verschwinden derselben erfolgen müßte, so würde doch selbst die Substanz der Seele einem allmähligen Vergehen unterworfen sein, ob sie schon einfacher Natur wäre, weil dieses Verschwinden ihrer Grundkraft nicht durch Zertheilung (Absonderung der Substanz von einem Zusammengesetzten), sondern gleichsam durch Erlöschen und auch dieses nicht in einem Augenblicke, sondern durch allmählige Nachlassung des Grades derselben, es sei, aus welcher Ursache es wolle, erfolgen könnte. Das Ich, das allgemeine Correlat der Apperception und selbst blos ein Gedanke, bezeichnet als ein bloßes Vorwort ein Ding von unbestimmter Bedeutung, nämlich das Subject aller Prädicate, ohne irgend eine Bedingung, die diese Vorstellung des Subjects von dem eines Etwas überhaupt unterschiede, also Substanz, von der man, was sie sei, durch diesen Ausdruck keinen Begriff hat.“36

36 AA IV 542, 18–543, 1; in den eckigen Klammern hinter den Modalverben Übersetzungen in den heutigen Wortgebrauch.

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Erklärung 3 Personales Handeln ist das Verhalten einer Person, sofern es durch eine Apperzeption von der Form „Ich tue h“ reguliert ist. Innere Handlungen sind Veränderungen der Habitualitäten (Entschiedenheiten) einer Person oder noetische Entscheidungen (in denen eine Person sich entscheidet). Davon zu unterscheiden sind äußere Entscheidungen, z. B. über eine rechtliche Alternative, die eine noetische Entscheidung implizieren, aber zugleich äußere Handlungen sind. Äußere Handlungen sind Einwirkungen einer Person auf Gegenstände im Raum (einschließlich der Veränderungen der Verhältnisse des eigenen Körpers zum Raum), sofern sie durch eine Apperzeption von der Form „Ich tue h“ reguliert sind. Lehrsatz 3 Noetische Entscheidungen (innere Handlungen) einer Person haben eine innere Ursache (Motivation) in den gewisse Kriterien für die Zueignung von Noemata implizierenden Maximen der Persönlichkeit. Beweis Noetische Entscheidungen sind Geschehnisse (Veränderungen der Entschiedenheit der Person) zu einer bestimmten Zeit, die gemäß dem Prinzip der Kausalität nach dem Gesetz der Verknüpfung der Ursache und Wirkung erfolgen. Zu diesen Ursachen gehören selbstverständlich auch subnoetische (bloß-psychische und physiologische Bedingungen); ohne einen durch die bisherigen Habitualitäten ermöglichten noetischen Prozess wäre diese Veränderung jedoch keine noetische Veränderung der Persönlichkeit, mithin keine noetische Entscheidung. Noetische Prozesse sind Abfolgen von Akten der Konstitution von Noemata zu einer bestimmten Zeit und der Aktualisierung schon habitualisierter Noemata. Noetische Prozesse dürfen jedoch nicht mit ihren in keiner Weise zeitlich bestimmten Noemata gleichgesetzt werden. Daher sind sie auch nicht Gründe (im Sinne der Logik) und bei der Erklärung von Entscheidungen als Geschehnissen nicht mit Geltungsgründen zu verwechseln. Für das Stattfinden von Entscheidungen und seine Erklärung kommt es nicht auf Geltung der Noemata, sondern allein darauf an, welche Noemata und welche Folgerungen von Noemata auf Noemata nach von der Person habitualisierten Regeln von der jeweiligen Person für gültig gehalten werden. Also haben noetische Entscheidungen einer Person eine innere Ursache (Motivation) in den gewisse Kriterien für die Zueignung von Noemata implizierenden Maximen der Persönlichkeit.

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Anmerkung Da der Begriff der Freiheit im strengen Kantischen Sinne ein Prinzip der Gültigkeit für jederlei Praxis, das eine bestimmte Maxime zu haben vorschreibt, voraussetzt, kann im Rahmen einer Theorie der Erfahrung von Handlungen und noetischen Prozessen überhaupt nicht von Freiheit die Rede sein. Denn eine solche Theorie spricht nicht von der unbedingten (moralischen) Geltung von Maximen, sondern von deren faktischem Gebrauch.37 Erklärung 4 Die innere Wirkung (Empfindung) der Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung einer Sachverhalts-Wahrnehmung oder -Beurteilung auf die praktische Habitualität einer Person nennen wir noetisches Gefühl. In der inneren noetischen Wechselwirkung indiziert das noetische Gefühl die Zweckmäßigkeit und Zweckwidrigkeit aktuell oder imaginativ präsenter Sachverhalte. Lehrsatz 4 Äußeres Handeln einer Person, als unter dem Bewusstsein „ich tue h“ stattfindende Wechselwirkung des Verhaltens der Person mit ihrer Umwelt, impliziert eine innere Wechselwirkung zwischen dem Potential von praktischer und doxischer Persönlichkeitsfunktion. Beweis Äußeres Handeln ist seiner äußeren Erfahrbarkeit nach eine physische Wechselwirkung des äußeren Verhaltens der Person mit ihrer Umwelt. Diese Wechselwirkung kann nur als Handeln der Person, mithin unter einer Apperzeption von der Form „Ich tue h“ stattfinden, wenn das Verhalten eine bewusste und gewollte Einwirkung auf die Umwelt nach Begriffen von Zwecken, gegenwärtigen Zuständen und Mitteln der Verwirklichung der Zwecke darstellt, mithin sich die Person sich selbst durch ihre doxischen und praktischen Noesen als Urheber ihres Verhaltens begreift. Dies ist im Falle einer schon vollzogenen und damit auch habitualisierten Zielsetzung nur dadurch möglich, dass einerseits das Potential dieser Zielsetzung die doxische Persönlichkeitsfunktion zu einem noetischen Prozess der Mittelwahl für einen Handlungsentwurf motiviert und andererseits eine doxische Situationsbeurteilung die praktische Persönlichkeitsfunktion zur Aktualisierung und situationsbestimmten Präzisierung ihrer habituellen Zielsetzungen motiviert. 37

s. dazu unser Abschluss-Kapitel, u. S. 312 ff.

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Im Falle einer in praktischer Hinsicht noch nicht beeinflussten Situationsbeobachtung kann auch die Assoziation möglicher Handlungsschemata allererst zu einer durch die habituellen Präferenzen bestimmten Zielsetzung führen, welche dann ihrerseits die zielgerechte Präzisierung der Mittelwahl motiviert. In jedem Falle aber gehört zur Durchführung einer Handlung die (ggf. kontinuierliche) Beobachtung der Handlungsresultate und ihre praktische Rückkopplung an die (unter Umständen auch veränderbare) Zielsetzung. Wiewohl zur Möglichkeit einer Handlung keine innerlich oder äußerlich artikulierte Objektivation ihres Sinngehalts notwendig ist und die Angemessenheit des Sinngehalts der einen Funktion an den Sinngehalt der anderen durch ein bloßes noetisches Gefühl erfasst werden kann, lassen sich die Sinngehalte des die Handlung bestimmenden Potentials der praktischen und doxischen Persönlichkeitsfunktion idealtypisch in der Form eines praktischen Schlusses oder auch Polysyllogismus darstellen. Denn keine praktische Entscheidung kann in eine Handlung (als Realisierung des entworfenen Zwecks) einfließen, ohne dass ein technisches Wissen um die Eignung der Handlung für den entworfenen Zweck die Handlung bestimmt hat; und kein technisches Wissen um die Eignung einer Handlung zu einem Zweck kann die Handlung bestimmen, ohne dass der Zweck durch die praktische Apperzeption gewählt wurde. Also impliziert äußeres Handeln eine innere Wechselwirkung zwischen dem Potential von praktischer und doxischer Persönlichkeitsfunktion. Anmerkung zur Wechselwirkung zwischen Personen Es mag überraschen, dass in den Lehrsätzen der noetischen Praktik von einer noetischen Wechselwirkung zwischen Personen nicht die Rede ist. Wenn aber die Wechselwirkung zwischen einer Person und ihrer Umwelt durch eine innere, die noetischen Habitualitäten als Steuerungsbedingungen einbeziehende, Wechselwirkung vermittelt ist, dann gibt es auch keine unmittelbare noetische Wechselwirkung zwischen Personen, sondern nur eine durch die eigenen Habitualitäten und deren innere Wechselwirkung vermittelte Wechselwirkung zwischen Personen. Vereinfacht ausgedrückt: Die Behauptung einer Person kann eine andere Person nur selbst einsehen oder glauben, sogar dem Befehl der einen kann die andere nur selbst Folge leisten, denn nicht einmal das Verstehen einer Behauptung oder eines Befehls erzeugt schon Glauben oder gar Einsicht bzw. die Bereitschaft, den Befehl zu befolgen. Insofern ist der Einfluss einer Person auf eine andere immer mittelbar, d. h. durch die Habitualitäten der letzteren vermittelt. Dies schließt bekanntlich nicht aus, dass eine Person oder Personengruppe die Macht hat, andere Personen auch unter ,Umgehung‘ der sachlich einschlägigen Habitualitäten zu beeinflussen, wenn nämlich die eine der anderen einen Sachverhalt glaubhaft macht, welcher der anderen gemäß ihren Habitualitäten als Motiv dienen kann, dem Einfluss nachzugeben, wie dies etwa bei Verspre-

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chen oder Drohung der Fall ist. – Den Grund für diese (relative) Unabhängigkeit der Personen von Personen wird das letzte Hauptstück in seinem ersten Lehrsatz aufklären.38 Anmerkung zur Komplikation von Handlungen Man mag annehmen, dass es ,einfache‘ Handlungen gibt, die auf einen Entschluss hin, insbesondere wenn es um längst eingeübte Handhabungen geht, sozusagen ,automatisch‘ ablaufen und daher keiner weiteren Entschlüsse der Person bedürfen, um an ihr Ziel zu kommen. Aber auch in solchen Fällen muss die Person erkennen können, dass die Handlung (d. h. derjenige Teil des beabsichtigten Veränderungsprozesses, den die Person selbst in der Form des „Ich tue h“ auffasst), abgeschlossen ist und keine weiteren Eingriffe in das Geschehen notwendig oder auch möglich sind. In komplexeren Handlungszusammenhängen setzt an diesem Punkt die auf der neuen Situationswahrnehmung und einer neuen durch den Zweck bestimmte Wahl einer weiteren (Teil-)Handlung beruhende praktische Entscheidung ein. Den wechselseitigen Einfluss der doxischen auf die praktische und der praktischen auf die doxische Persönlichkeitsfunktion im gesamten Handlungszusammenhang können wir daher als eine Abfolge von Vollzügen praktischer Schlüsse (praktischer Polysyllogismen) rekonstruieren, die sich je nach Komplikation des Handelns im Handeln selbst für einzelne Handlungsschritte noch weiter entfalten. Anmerkung zur Wechselwirkung bei inneren Handlungen (Entscheidungen) Jede Änderung der praktischen Habitualitäten durch eine Entscheidung stellt der doxischen Persönlichkeitsfunktion die Aufgabe der Ermittlung von Bedingungen der Verwirklichung der betreffenden Zwecke oder Maximen. Jede Änderung der doxischen Habitualitäten, welche jene Verwirklichungsbedingungen tangiert, stellt der praktischen Persönlichkeitsfunktion die Aufgabe der Angleichung der praktischen Habitualitäten an die doxisch ermittelten Bedingungen. In beiden Fällen kann die Aufgabe auch zurückgewiesen werden und der ,auftraggebenden‘ Funktion die Suche nach Alternativen aufgetragen werden, dann nämlich, wenn der Auftrag als mit den Habitualitäten der ,ausführenden‘ Funktion nicht vereinbar erscheint (etwa in dem Bewusstsein, dass es für einen Zweck oder eine Maxime – unter jetzigen Bedingungen oder generell – keine Realisierungsmöglichkeiten gebe oder weil eine Angleichung der praktischen Habitualitäten an neue doxische Überzeugungen übergeordneten praktischen Habitualitäten widerstreite, so dass auf weitere technische Lösungsmöglichkeiten zu sinnen sei). 38

s. u. S. 308 f., Lehrsatz 1 der noetischen Phänomenologie und Beweis.

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IV. Viertes Hauptstück: Noetische Phänomenologie39 Erklärung 1 Subjektivität ist das Vermögen zum Vollzug von Noesen, sofern es als ein solches ein Gegenstand der (noetische Phänomene bestimmenden) Erfahrung sein kann. Lehrsatz 1 Objektivationen des noematischen Gehalts noetischer Akte sind bloß mögliche Gegenstände noetischer Erfahrung, nämlich nur insofern und solange das erfahrende Subjekt die Objektivationen aufgrund eines noematischen Systems versteht, welches das noematische System des Urhebers der Objektivationen in allen relevanten Beziehungen in sich enthält. Verstehensakte als empirische Phänomene der Selbsterfahrung einer Person sind bloß mögliche innere noetische Handlungen einer Person.40 Beweis a) Objektivationen eines noematischen Gehalts sind selbst in sprachlich artikulierter Form für sich selbst nichts als physische Phänomene. Nur ein der noetischen Deutung fähiges Wesen, das über das betreffende noematische System verfügt und zudem die speziellen Systeme sprachlicher Zeichen, Symbole oder der Konventionen anschaulicher Darstellung beherrscht, kann durch sein Verstehen diese Objektivationen zu einem Gegenstand noetischer Erfahrung machen und sie nach Belieben in sich sozusagen „zum Leben erwecken“. b) In einem Verstehensakt denkt die verstehende Person ein Noema zwar als Bestimmung eines Gegenstandes durch eine in ihrem noematischen System habitualisierte Regel für Gegenstandsbezüge, aber nicht notwendig so, dass sie durch ein transzendentales Bewusstsein dieses Noema sich selbst dieses Noema als gültige Bestimmung eines Gegenstandes zueignet. Denn sie versteht die Ob39 Die Überschrift dieses Hauptstücks verwendet jenen Begriff der Phänomenologie, den auch Kant an der analogen Stelle seiner ,Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft‘ benutzt: den der ,Erscheinungslehre‘, in welcher dasjenige, „was durch Sinne vorgestellt wird“ (was für das Subjekt erscheint) in die prädikative Bestimmung eines Objekts überführt wird und somit eine „Verwandlung [. . .] der Erscheinung in Erfahrung“ geleistet wird (vgl. AA V 554 f.). – Es wäre u. E. müßig, auf einen über den etymologischen hinausreichenden sachlichen Zusammenhang zwischen dem Kantischen und dem Husserlschen Begriff der Phänomenologie zu sinnen. 40 Zur Sicherung des richtigen Verständnisses weisen wir darauf hin, dass es in diesem Lehrsatz um die Verstehensakte als Gegenstände geisteswissenschaftlicher Erfahrung geht, nicht als konstitutive Momente solcher Erfahrung selbst.

IV. Viertes Hauptstück: Noetische Phänomenologie

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jektivationen schon dadurch, dass sie die noematischen Elemente und deren Verknüpfungen aufgrund ihres (das noematische System des Urhebers implizierenden) noematischen Systems identifiziert und deren Gegenstandsgeltung bloß imaginiert. Mithin bleibt es durch den Akt des Verstehens noch unbestimmt und ins Belieben der Person gestellt, ob sie die verstandenen Noemata (oder deren Gegenteil) sich selbst durch ein transzendentales Bewusstsein als gültige zueignet oder aber durch ein bloß empirisches Bewusstsein dieser Noemata und bloße durch das noematische System ermöglichte Imagination ihrer Gegenstandsgeltung in neutraler Einstellung verharrt.41 Nun ist die Beschreibung eines Gegenstandes durch eines von zwei Prädikaten, die in Bezug auf das Objekt gleichermaßen gültig sind und sich nur relativ auf das den Gegenstand erfahrende Subjekt voneinander unterscheiden, nicht Sache einer Bestimmung nach einer disjunktiven, sondern bloß der Wahl nach einer alternativen Entscheidungsregel, mithin objektiv unentschieden und insofern bloß möglich.42 Also sind a) die Objektivationen des noematischen Gehalts noetischer Akte bloß mögliche Gegenstände noetischer Erfahrung und b) die Verstehensakte als empirische Phänomene der Selbsterfahrung einer Person bloß mögliche noetische Handlungen einer Person. Anmerkung In dem Charakter der Verstehensakte, bloß mögliche innere noetische Handlungen zu sein, liegt der Grund der relativen noetischen Unabhängigkeit einer 41 Die neutrale Einstellung gegenüber der Gegenstandsgeltung eines verstandenen Noema schließt selbstverständlich keineswegs das transzendentale Bewusstsein aus, die faktische Äußerung dieses Noemas durch einen Gesprächspartner und damit ggf. dessen Meinung oder etwa die schriftliche Objektivation der Meinung eines Autors zu erfahren. – Das entsprechende empirische Noema „A behauptet, dass p“ (mit der performativen Formel des transzendentalen Bewusstseins: „Ich erfahre gerade, dass A behauptet, dass p“) ist eben ein ganz anderes als das Noema „p“ bzw. „Ich behaupte (denke, meine . . .), dass p“. 42 Die Anwendung dieser logischen Struktur in Kants Phänomenologie zielt auf das Phänomen der geradlinigen Bewegung, welche je nach dem (vom Beobachter zu wählenden) Bezugssystem als Bewegung oder aber als Ruhe begriffen werden kann. – Die Kantische Unterscheidung der Urteile nach der Modalität und die Anwendung dieser Urteilsformen auf Gegenstände (eine Anwendung, die u. E. erst in den ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ konsequent durchgeführt ist) war der Gegenstand der Untersuchung in unserer Abhandlung „Modalität und empirisches Denken“; vgl. dort insbes. S. 59–70; die wichtigsten Überlegungen daraus sind in einem kürzeren Beitrag zusammengefasst: B. Grünewald, Modale Gegenstandsbestimmung und modale Reflexion bei Kant. Versuch einer Korrektur, mit Hinweisen auf modaltheoretische Überlegungen Fichtes, in: Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806, hrsg. v. A. Mues, Hamburg 1989, S. 41–57; wir drucken daraus einen für das Verständnis des gegenwärtigen Zusammenhangs hilfreichen Abschnitt zu den modallogischen Verhältnissen zusammen mit einer Tafel aus dem genannten Buch im Anhang ab (s. u. 316 ff.).

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Person von anderen Personen und von deren (aktuellen oder dauerhaft objektivierten) Äußerungen, eine Unabhängigkeit, die eine Realbedingung ihrer Freiheit genannt werden kann. Lehrsatz 2 Noetische Entscheidungen sind wirkliche noetische Handlungen einer Person. Beweis Noetische Entscheidungen sind Akte, in denen sich die Person ein durch ihr noematisches System Bestimmtheit erhaltendes Noema als gültiges zueignet und dauerhaft ihren Habitualitäten einfügt. Sie sind also Veränderungen der Entschiedenheit einer Person und nach dem Gesetz der Motivation durch noetische Akte motiviert, die in den – gewisse Kriterien für die Zueignung von Noemata enthaltenden – Maximen der Person ihre Ursache haben. Die Person beweist daher durch ihren Vollzug nicht bloß ihr durch das noematische System ermöglichtes Verständnis des betreffenden noematischen Gehalts, sondern eine ihr inneres Handeln motivierende Kraft ihrer Persönlichkeit. Folglich ist das Urteil, dass hier entweder eine bloß dem noematischen System verdankte neutrale Imagination eines Noema stattfinde oder eine Zueignung durch ein transzendentales Bewusstsein des Noema, ein disjunktives, durch welches, wenn das eine Glied, die noetische Handlung der Person, gesetzt ist, das andere, nämlich die bloß durch das noematische System ermöglichte Imagination ihrer Gegenstandsgeltung, ausgeschlossen wird. Folglich sind noetische Entscheidungen im Unterschied zu bloßen Verstehensakten wirkliche noetische Handlungen einer Person. Lehrsatz 3 Die den Sinn äußerer Handlungen einer Person konstituierenden praktischen und doxischen Akte sind notwendige noetische Handlungen dieser Person. Beweis Nach dem Lehrsatz 4 der noetischen Praktik impliziert äußeres Handeln einer Person, als unter dem Bewusstsein „ich tue h“ stattfindende Wechselwirkung des Verhaltens der Person mit ihrer Umwelt, eine innere Wechselwirkung zwischen dem Potential von praktischer und doxischer Persönlichkeitsfunktion. Die noetischen Akte beider Persönlichkeitsfunktionen sind also wirkliche inneren Handlungen. Da aber die Wirklichkeit dieser Akte nicht (wie im zweiten Lehrsatz) auf dem kontingenten Faktum der doxischen oder praktischen Habitualitä-

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ten der Person beruht, sondern aus dem Begriffe der äußeren Handlung als bewusster und gewollter Einwirkung auf die Umwelt nach Begriffen von Zwecken, gegenwärtigen Zuständen und Mitteln der Verwirklichung der Zwecke unvermeidlich und unmittelbar folgt, so ist die Wirklichkeit beider inneren noetischen Handlungen notwendig.

E. Freiheit zum Abschluss – Jenseits der Empirie Dieses Abschlusskapitel handelt nicht von den Grundlagen der (empirischen) Geisteswissenschaften, nicht von dem Gegenstand und nicht von dem immanenten Zweck der Geisteswissenschaften, sondern von dem, was deren Grundlagen vorausliegt, was über deren Gegenstand hinausgeht und was deren Endzweck betrifft und zudem jeder Wissenschaft als Bedingung zugrunde liegt: von der Freiheit. Es ist eines, geistige Phänomene, geistige Prozesse und Produkte als Fakten zu betrachten, zu verstehen und zu bestimmen, zu analysieren und zu erklären; es ist etwas ganz anderes, sich mit ihnen, nachdem man sie verstanden hat, auseinanderzusetzen, ihre Argumente einzusehen, zu diskutieren oder zu bestreiten, ihre Bedeutsamkeit für uns zu erfassen und darzulegen, ihre ästhetische Qualität zu genießen und kritisch herauszuarbeiten. Die empirischen Geisteswissenschaften haben sich entwickelt, weil wir sehr viele geistige Phänomene nicht in der selbstverständlichen Weise verstehen und begreifen wie (hoffentlich) die meisten Sätze unserer alltäglichen Kommunikation und die meisten Geschehnisse unseres Zusammenlebens. Denn schon wirkliches Verstehen verlangt, je komplexer die Phänomene sind, umso mehr nach begrifflicher Bestimmung, Analyse und Erklärung des zu Verstehenden, damit wirklich das zu Verstehende und nicht etwas anderes (eine Vorstellung dessen, der verstehen will) verstanden werden kann. Diese wissenschaftlichen Bemühungen und ihr immanenter Zweck haben jedoch gegenüber dem Endzweck des Verstehens nur eine dienende Funktion, weil die betreffenden Gegenstände, ihrem Ursprung und ihrem Endzweck nach, mehr sind als dasjenige, was empirische Wissenschaften feststellen und erklären können. Es sind Gegenstände, die bei aller Faktizität noch in einem anderen Zusammenhang stehen als dem Zusammenhang der Fakten: in dem der Geltung. Sie sind in der einen oder anderen Hinsicht (in theoretischer, in moralisch-praktischer, in ästhetischer Hinsicht) gültig oder ungültig. Weil sie in diesem anderen Zusammenhang stehen, können wir uns mit ihnen auseinandersetzen, und zwar so, dass nicht eigentlich die Faktizität ihrer Entstehungsursachen, sondern die Gründe ihrer Geltung uns letztlich interessieren und jedenfalls nur die letzteren in dieser Auseinandersetzung den Grund unseres kritischen Urteils ausmachen können.

E. Freiheit zum Abschluss – Jenseits der Empirie

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Auch unsere Auseinandersetzung mit diesen Gegenständen (wie übrigens die empirischen Wissenschaften selbst und die Auseinandersetzung mit ihnen) sind Tatsachen in der Welt, die ihre Ursachen haben; aber sie stehen ebenso (und in der Auseinandersetzung vor allem) in jenem ganz anderen Zusammenhang, dem Zusammenhang der Geltungsgründe. Wir denken uns notwendiger Weise (trotz aller Ursachen unseres Tuns) in unserem Urteil als durch Gründe bestimmt; und es gibt keinerlei Grund, dies nicht auch den Autoren und Akteuren zuzudenken, die wir in den empirischen Geisteswissenschaften untersuchen. Gleichwohl wissen wir, dass wir nur durch solche Gründe bestimmt sein können, die wir faktisch, zu einer bestimmten Zeit, gekannt oder erdacht haben. Das Kennen und Erdenken von Gründen steht in einer zeitlichen Ordnung, in der es ein Vorher und Nachher gibt und in der das Nachher nicht der Realgrund (die Ursache) des Vorher sein kann. Daher können wir, wenn wir auch nur wissen wollen, welche Gründe uns selbst in einer früheren Situation bestimmt haben, etwas Bestimmtes zu denken oder zu tun, auch nicht einfach danach fragen, welches der Geltungsgrund für unseren Gedanken oder unsere Tat ist. Ja, es wäre schon irreführend zu fragen, welches der Geltungsgrund war; vielmehr können wir nur fragen, welches nach unserer damaligen faktischen Überzeugung der Geltungsgrund war. Denn so gewiss jene Überzeugung wie der Vollzug des Gedankens und der Tat uns (unser transzendentales Bewusstsein, unser Geltungsbewusstsein) damals in eine Ordnung, einen Zusammenhang der Gründe setzte, worin wir uns von Gründen leiten ließen, so gewiss hatte die Tatsache, dass gerade diese Gründe – und nicht andere, die wir etwa erst heute kennengelernt oder erarbeitet haben – uns damals bestimmten, ihre Ursachen. Aber die Kausalität dieser Ordnung der Fakten schließt in keiner Weise dies aus, dass wir nach Gründen urteilen und entscheiden, nicht „nach Ursachen“, und also freie Subjekte sind – so wie die Autoren und Akteure, die wir in den Geisteswissenschaften untersuchen. Nur können wir ganz verschiedene Fragen an uns wie an diese Autoren und Akteure stellen, Fragen, die auf gänzlich verschiedene und doch wesentlich miteinander verknüpfte Zusammenhänge zielen. Ein mit dieser Unterscheidung zwischen Gründen und Ursachen noch nicht gelöstes Problem ist die Frage nach der Art der Verknüpfung zwischen den beiden Zusammenhängen. Es liegt nahe, nicht nur eine Art der der Verknüpfung in Erwägung zu ziehen. Eine Art der Verknüpfung haben wir schon angedeutet: Nichts kann uns in Gedanken kommen, was wir nicht entweder kennen gelernt haben (durch Kommunikation mit anderen und Rezeption ihrer Gedanken) oder zu einem bestimmten Zeitpunkt aus einem Material, das uns zur Verfügung stand, erarbeitet haben. Dies ist eine Abfolge von Tatsachen, und auch die gedanklichen Gehalte sind dabei nichts als die (mathematisch behandelbaren) Strukturen möglicher Tatsachen, deren Realisierung den Gesetzen für solche Arten von Tatsachen gehorcht. Dergleichen lässt sich in günstigen Fällen verfolgen oder rekonstruieren. Dass uns etwas in diesem Tatsachen-Zusammenhang in

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E. Freiheit zum Abschluss – Jenseits der Empirie

Gedanken kommt, ist nun aber die natürlich-kausale Bedingung dafür, dass wir Gedanken haben, die gemäß unserem transzendentalen Bewusstsein in jenem anderen Zusammenhang der Geltung von Gedanken, Entscheidungen und Handlungen stehen. Der Zusammenhang der Geltung ist kein Tatsachenzusammenhang, er folgt daher auch nicht den Gesetzen irgendeiner Art von Tatsachen, auch nicht dem der geistigen Tatsachen. Er ist jedoch keineswegs gesetzlos. Weil er ebenfalls unter Gesetzen, nämlich denen der Geltung, steht, ist er mitsamt seinen Gesetzen für das transzendentale Bewusstsein unserer Gedanken (d. h. für uns, insofern diese Gedanken den Gehalt eines „Ich denke, dass . . .“ ausmachen) der determinierende Grund unseres Denkens, Entscheidens und Handelns, insofern wir uns dabei nach gewissen Kriterien richten. Der Unterschied der beiden Seiten und der Unterschied der beiden Richtungen wechselseitiger Determination ist nur von unserem transzendentalen Bewusstsein her zu begreifen. In unserem transzendentalen Bewusstsein unterscheiden wir nämlich notwendiger Weise zwischen dem, was wir tatsächlich gedacht haben, indem wir denken, dass wir es zuvor gedacht haben, und dem, was wir denken, indem wir es (in der Form des „Ich denke dass . . .“) denken. Das erste ist ein feststehendes (mehr oder weniger feststellbares) Faktum, das zweite ist nicht feststehend, nicht feststellbar, grundsätzlich nicht vorhersehbar, sondern nur vollziehbar und, da es sich nach einer Ordnung richtet, deren Gesetze Kriterien sind, jederzeit durch neue Einsicht korrigierbar. Daher hat das transzendentale Bewusstsein unserer Gedanken keinen eigentlichen Zeitindex. Obwohl wir mitunter auch formulieren können: „Ich denke jetzt, dass . . .“, wäre es doch ein Missverständnis, zu meinen, unser Geltungsbewusstsein könne sich auf einen Zeitpunkt beziehen. Die Jetzt-Formulierung kann nur eine missverständliche Abgrenzung gegen frühere Meinungen und eine Betonung der transzendentalen Selbstzurechnung sein – falls sie nicht etwa schon distanzierend die Veränderlichkeit eines bisher faktisch erreichten Meinungsstandes einräumen soll, wäre dann aber korrekter formuliert in der Form: „Ich weiß, dass ich jetzt zwar zu der Meinung neige, dass . . ., aber . . .“.1 Das transzendentale Bewusstsein ist die Bedingung auch des empirischen Bewusstseins, damit aber auch Bedingung des Begriffs einer naturalen Kausalität, welche wir bei der Konzeption der geistigen Phänomene, der Phänomene der denkenden NATUR, als Gegenstände des empirischen Bewusstseins vorausgesetzt haben. Denn gerade wenn wir die Kausalität alles Geschehens voraussetzen und sowohl bei den physischen als auch bei den geistigen Phänomenen nach den 1 Im letzteren Fall drückt das „Ich weiß, dass . . .“ ein transzendentales Bewusstsein des nachfolgenden Satzgehalts aus, während der Ausdruck „dass ich jetzt zu der Meinung neige, dass . . .“ ein empirisches Bewusstsein des dann folgenden Gehalts artikuliert. – Ähnlich ,integriert‘ ja auch der Ausdruck „Ich erinnere mich, dass ich meinte, dass . . .“ ein empirisches Bewusstsein (ich meinte, dass . . .) in ein transzendentales (Ich erinnere mich, dass . . .).

E. Freiheit zum Abschluss – Jenseits der Empirie

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Ursachen forschen, müssen wir voraussetzen, dass unser theoretisches Tun, unsere Forschungen und ihre Ergebnisse durch Gründe determiniert sind. Unser Wissen ist auf unsere Freiheit angewiesen. Zwar würde das noch nicht ausschließen, dass all unser Tun, auch das theoretische, selbst durch nichts als natürliche Ursachen (ein natürliches Streben etwa nach Anerkennung, Macht und Herrschaft über die Welt) bedingt sei, unsere Freiheit also nur ein Instrument der Naturkausalität sei. Aber diese Möglichkeit kann uns nicht davon ablenken, dass wir uns bewusst sind, in unserem Tun gewissen prinzipiellen Verpflichtungen zu unterliegen, die durch eine naturale Kausalität nicht erklärbar sind – etwa, nicht nur in unserem theoretischen Tun, der Wahrhaftigkeit einen unbedingten Vorrang vor irgendwelchen persönlichen Vorteilen zu geben. Merkwürdiger Weise würde auch der überzeugteste Determinist sich vor seinen Kollegen lächerlich machen, wollte er für sich in Anspruch nehmen, in wissenschaftlichen Aussagen die Unwahrheit sagen zu dürfen. Wir seien „Bürger zweier Welten“, so könnten wir mit einer alten Formel sagen, wenn diese Formel nicht dazu verführen würde, hinter einer Sorte von Fakten, hinter einer Welt von seienden Gegenständen noch eine andere Sorte von Fakten, eine andere Welt seiender Gegenstände zu suchen. Aber es gibt offenbar eine Art von Tatsachen in der Welt, die wir nur verstehen können, wenn wir so etwas wie den Begriff des Bewusstseins einer anderen als der kausalen Ordnung gebrauchen, den Begriff des Bewusstseins von Geltung. Dieses Bewusstsein ist notwendiger Weise ein Freiheitsbewusstsein. Wir konnten an dieser Stelle nicht die Probleme der Kantischen Freiheitslehre, auf die wir in den Bemerkungen dieses Abschlusskapitels zurückgegriffen haben, ausführlich entfalten. Wir haben nur darauf hinweisen wollen, dass wir Kants Ansatz des Freiheitsproblems, seinen eigentümlichen „Kompatibilismus“ der Phaenomena und Noumena, der keinesfalls mit einer Variante des heute verbreiteten ontologischen Kompatibilismus oder gar Dualismus verwechselt werden darf, für eine bedenkenswerte, mit einer Theorie der Erfahrung, speziell auch der Erfahrung von geistigen Phänomenen, vereinbare Lösung der Frage nach der menschlichen Freiheit halten.2

2 Glücklicher Weise können wir hilfsweise auf eine vorzügliche, jüngst erschienene Untersuchung verweisen, die ziemlich genau das Verständnis der Kantischen Freiheitslehre entfaltet, das wir bei unseren Überlegungen vorausgesetzt haben: Chong-Fuk Lau, Spontaneity and the Noumenal Perspective, in: Kant-Studien 99, 2008, S. 312– 338. Lau arbeitet ein Verständnis der noumenalen Perspektive heraus, das sowohl einen Dualismus von Erfahrungswelt und Welt der Dinge an sich als auch eine bloße Unterscheidung von ontologisch verstandenen Perspektiven (des Beobachters und des Akteurs) überwindet. Er zeigt darüber hinaus, wie sehr schon eine zureichende Theorie der Erfahrung die noumenale Perspektiven notwendig macht.

Anhang Die speziellen modaltheoretischen Lehrsätze der MAdN1 Phänomenologie, im Kantischen Sprachgebrauch, ist die Lehre von den subjektiven (Bewegungs-)Erscheinungen, insofern sie durch objektiv gültige Urteile in Erfahrung zu überführen sind (vgl. IV S. 555,6 f.). Worin besteht die Überführung der Erscheinung in Erfahrung? – Wir kennen alle das Erlebnis, wenn wir in einem Zugabteil sitzen und unser Zug auf dem Bahnhof hält: Wir ,sehen‘, dass ein Zug auf dem benachbarten Gleis abfährt. Nach einigen Sekunden jedoch spüren wir gewisse Erschütterungen unseres eigenen Waggons und schließen daraus: Es war gar nicht so, dass der Zug drüben abgefahren ist, wir sind abgefahren. Das besagt: eine Bewegungserscheinung ist zwar nicht in jeder Hinsicht bloßer Schein, aber sie entscheidet doch noch nicht darüber, ob ,eigentlich‘ das erscheinende Objekt oder ob etwa der Zuschauer mitsamt ,seinem‘ (ihm als ruhend erscheinenden) Raum bewegt ist. Diese objektive Bestimmung der Bewegungserscheinungen erfolgt in der Kantischen ,Phänomenologie‘ (die natürlich im Rahmen der newtonschen Himmelsmechanik verbleibt) durch eine in drei verschiedenen Formen vorkommende Entscheidung zwischen den Prädikaten ,ist bewegt‘ und ,ist nicht bewegt (in Ruhe)‘, genauer: Der prädikatslogisch geltenden schlichten Disjunktion zwischen dem Bewegtsein und dem Nicht-Bewegtsein eines beweglichen Substrats entsprechen ,in der Erfahrung‘ (als objektiver Bestimmung) je nach dem für das Bewegungsphänomen zu konstruierenden Bewegungsbegriff (der Bewegungsbahn) drei verschiedene Entscheidungssituationen, die Kant als ,alternativen‘, ,disjunktiven‘ und ,distributiven Gebrauch‘ der (prädikatslogischen) Disjunktion bezeichnet (vgl. IV S. 554, 15–22 und die Fußnote S. 559 f.), und die wir durch drei Entscheidungsregeln charakterisieren können:2 Wir können (1.), nach einer ,alternativen‘ Entscheidungsregel, (,nach einem alternativen Urteil‘, sagt Kant wörtlich), die freie Wahl haben, nach Belieben einen Körper (oder aber den korrelativen Raum) als bewegt (bzw. in Ruhe) zu bestimmen (ich symbolisiere das von Kant hier benutzte alternative ,oder‘ durch das Zeichen hi hi):

1 Entnommen aus: B. Grünewald, Modale Gegenstandsbestimmung und modale Reflexion bei Kant, S. 47–50 (s. o. S. 309). 2 Vgl. Grünewald, Modalität und empirisches Denken, S. 59 ff.

Anhang …1†

317

a hi hi b

wir können (2.), nach einer ,disjunktiven‘ Entscheidungsregel (im Sinne einer ausschließenden und vollständigen Disjunktion), auf einen Entscheidungsgrund in der Erscheinung des Objekts stoßen, ihn (statt des korrelativen Raumes) durch eines der Prädikate zu bestimmen: (2)

a ›—‹ b

und wir können schließlich, nach einer ,distributiven‘ Entscheidungsregel, vor der Situation stehen, dass die prädikative Disjunktion schon durch den zu konstruierenden Bewegungsbegriff vorentschieden ist, so dass alle zur Diskussion stehenden Bewegungssubstrate als bewegt aufzufassen sind: (3)

a ‹—› b

Wir ahnen schon: aus diesen drei Entscheidungsregeln ergibt sich die Anwendung je eines der drei Modi des Modalgefälles, Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit, auf den erfahrenen Gegenstand (Ma, Wa und Na). Doch machen wir uns das im einzelnen ein wenig klar: Das erstere ist bei der geradlinigen Bewegung der Fall, weil es vom willkürlich gewählten Bezugssystem des Betrachters abhängt, ob er dabei den als bewegt erscheinenden Körper (k) oder den umgebenden relativen Raum (r) als bewegt betrachten möchte. Es gibt keinen absoluten Raum (daher die GalileiTransformationen). – »Nun ist dasjenige, was in Ansehung zweier einander entgegengesetzter Prädicate an sich unbestimmt ist, so fern blos möglich.«, sagt Kant (IV S. 556, 13 f.). Die geradlinige Bewegung selbst ist eine bloß mögliche Bestimmtheit (vgl. IV S. 555, 15–17), das entsprechende Urteil lautet ,Es ist bloß möglich, dass der Körper bewegt ist.‘ – dies ist der Kernmodus des problematischen Urteils, der gegenüber allen anderen Modi disjunkt ist (also nicht das Wirkliche und das Notwendige mitumfasst – formal symbolisiert durch »Ma«). Konkretisiert habe ich die Alternativ-Regel und das entsprechende problematische Urteil in den Zeilen 4–6 (wobei ,B‘ das Bewegungsprädikat, ,k‘ den Körper und ,r‘ den relativen Raum bezeichnet): …4†

‰B…k† ^ B…r†Šhi hi‰B…k† ^ B…r†Š

Dem entspricht als Resultat der (willkürlichen) Entscheidung: …5†

M‰B…k† ^ B…r†Š

bzw.: …6†

M‰B…k†Š

318

Anhang

Die zweite (disjunktive) Entscheidungsregel wendet Kant auf die Kreisbewegung an, weil ein Körper, wie sich Kant ausdrückt, ,in der Kreisbewegung‘, als einer Veränderung eines Bewegungszustandes, ,durch seine Bewegung eine bewegende Kraft beweist‘ (vgl. IV S. 557, 5–16). Dagegen wäre eine Bewegung des umgebenden Raumes eine bloß mathematisch (phoronomisch) konstruierte und nicht durch eine Kraft zu verursachende Bewegung (vgl. ebda. Z. 16–26). Deshalb ist die Disjunktion aufgrund der erscheinenden Bahn objektiv entscheidbar und das resultierende Urteil hat die Form Wa: Es ist wirklich so, dass der Körper bewegt ist: (7)

‰B…k† ^ B…r†Š ›—‹ ‰B…k† ^ B…r†Š

…8†

W ‰B…k† ^ B…r†Š

Die Kreisbewegung selbst (natürlich auch jede Deformation der Kreisbewegung) ist eine durch die Kategorie der Wirklichkeit bestimmte, eine ,wirkliche Bewegung‘ (vgl. IV S. 556, 20–22). Die distributive Entscheidungsregel schließlich ist auf den Fall der Bewegungsmitteilung zwischen zwei Körpern anzuwenden, weil hier nicht erst die Bewegungserscheinung, sondern schon der zu konstruierende Bewegungsbegriff (u. zw. wegen der Relativität eines jeden Bezugsraumes) eine größengleiche (impulsgleiche) Bewegung beider Körper verlangt, und zwar auch gegen den Anschein des Bewegungsphänomens, schon im Augenblick etwa des Stoßes (vgl. IV S. 558, 12–20 und 544, 31 ff.): Der als ruhend erscheinende Körper ist mitsamt dem relativen Raum als bewegt zu bestimmen. Seine Bewegung ist gesetzlich notwendig (vgl. IV S. 558, 8–10); genauer müssten wir wohl sagen: die Größengleichheit, die Relation beider Bewegungen ist notwendig, das betreffende Urteil ist ein apodiktisches (Na). (Die Zeilen 9 und 10 konkretisieren die Entscheidungsregel und das resultierende apodiktische Urteil: (9)

B…k1 † ‹—› B…k2 ; r†

…10†

N‰B…k1 † ^ B…k2 ; r†Š

(wobei unter B eine Bewegung von bestimmtem Impuls zu verstehen ist). Nach diesem Bericht über Kants Anwendung der modalen Urteilsfunktionen auf die anschauliche Struktur der äußeren Erscheinungen (im Rahmen der klassische Mechanik) möchte ich einige Bemerkungen über das Verhältnis der Modalbegriff bzw. modalen Urteilsfunktionen untereinander machen: Vor allem das Verhältnis des hier benutzten Möglichkeitsmodus (Ma) zu den beiden übrigen Modi ist offenbar ein völlig anderes als das des in der üblichen (vorkantischen

Anhang

319

und auch heutigen) Modallogik allein benutzten Möglichkeitsbegriffs (den wir durch »M00 a« bezeichnen). Der letztere umfasst als weitester Begriff der ,Möglichkeit überhaupt‘ alle anderen Modi außer dem der Unmöglichkeit. Das in den MAdN benutzte Modalsystem dagegen zeichnet sich dadurch aus, dass es drei gegeneinander disjunkte Modi enthält. Ihr Verhältnis zueinander ist durch den zugrundeliegenden Begriff der modalen Urteilsfunktion bestimmt: Modalität ist dasjenige Moment am Urteil, das seine ,Verbindung mit dem Verstand‘ als die Funktion der Urteilsentscheidung betrifft. Dabei sind drei gegeneinander disjunkte Fälle denkbar: die (objektive) Nicht-Entschiedenheit, welche mir eine subjektive Wahl läßt oder, wie Kant sich ausdrückt, die Freiheit einer ,bloß willkürlichen Aufnehmung in den Verstand‘ (B 101; III S. 90,15 f. – wir sagen: ,bloße Möglichkeit‘ (Ma), Problematizität), die schlichte (kontingente) Entschiedenheit ,nach‘ den Gesetzen des Verstandes (ebda. Z. 19 f.), aber durch eine dem Verstande selbst (und den von ihm im Urteil benutzten Begriffen) äußerliche Bedingung (Wa, Wirklichkeit, das bloß assertorische Urteil), schließlich die Vorentschiedenheit durch die Gesetze des Verstandes selbst (ebda. Z. 21), seien sie nun solche des Verhältnisses zwischen Begriffen oder solche des Verhältnisses der Begriffe zur anschaulichen Struktur des im Urteil gedachten Sachverhalts (Na, Notwendigkeit oder Apodiktizität). Der Begriff der bloßen Möglichkeit (Ma) (der übrigens mit Ma¯ äquivalent ist) stellt einen Modalbegriff dar, der keinen anderen Modus umfasst, während der Begriff der Möglichkeit überhaupt (M00 a), wie gesagt, alle anderen außer dem der Unmöglichkeit (M00 a = Na¯) umfasst (mithin in ihnen impliziert ist). Die Möglichkeit überhaupt (M00 a) ist demnach kein ,selbständiger‘ (im Sinne eines gegen die beiden anderen disjunkten) Modus. Natürlich kennt und benutzt auch Kant häufig genug diesen weitesten Möglichkeitsbegriff, z. B. auf der Ebenen der reflektierenden Kritik; nur war er sich bewusst, dass dieser auch jenen engsten Möglichkeitsbegriff (als seinen ,Kern‘) unter sich befasste. Jedenfalls, wenn gegenständliche Bestimmtheiten als nach drei Modalbestimmungen unterschieden gedacht werden sollen (also durch Modalkategorien), brauchen wir die drei disjunkten Modi, d. i. die elementaren oder ,Kernmodi‘ (Ma, Wa, Na).3

3 Zu den intermodalen Relationen vgl. Grünewald, Modalität und empirisches Denken, S. 70 ff. mit der Tafel auf S. 75, die wir hier auf der folgenden Seite abdrucken.

320

Anhang

Schematische Darstellung der Umfangsrelationen der Modalbegriffe

Die erste Zeile enthält die Grundmodi einschließlich der qualitativen Oppositionen. Bei den ,doppelseitigen‘ Modi führen wir die Äquivalenz mit den jeweiligen qualitativen Opposita (z. B. Ma = Ma¯) nicht eigens in der Tafel auf; sie gibt sich bei unserer Anordnung schon durch die symmetrische Verteilung in der jeweiligen Zeile zu erkennen. Im übrigen folgen auf die Grundzeile dreimal je zwei Zeilen mit ,einseitigen‘ Modi, deren qualitative Opposita konträr zueinander stehen, und eine sie sozusagen zusammenfassende Zeile der zugehörigen doppelseitigen Modi. Bei der ersten dieser Zeilengruppen haben wir um der Übersichtlichkeit willen nicht auch noch zum Ausdruck gebracht, dass die ersten beiden Zeilen, die das traditionelle ,Modalquadrat‘ bilden, sich nicht nur durch N- und M00 -Begriffe, sondern ebensogut mit Hilfe des weitesten Kontin0 genzbegriffs (K0 a) formulieren lassen, da dessen modales Oppositum (K a) mit 0 00 Na und dessen qualitatives Oppositum (K a¯) mit M a äquivalent ist. – Der aufmerksame Betrachter wird an diesem Schema schon ablesen können, dass nicht

Anhang

321

nur die N- (bzw. M00 -)Begriffe, sondern ebenso die W0- und W-Begriffe ,Modalquadrate‘ bilden, und zwar mit denselben Verhältnissen der Kontradiktion, Kontrarietät, Subkontrarietät und Subalternation, wie sie im ,Quadrat‘ der N-Begriffe und im qualitativ-quantitativen Urteilsquadrat vorliegen. Eine etwas merkwürdige Stellung nimmt in dieser Hinsicht (M0 ) ein: Das aus ihm gebildete ,Quadrat‘ enthält zwar wiederum die beiden modalen Kontradiktionsverhältnisse, im übrigen jedoch immer nur Überschneidungsverhältnisse. Eine Folge davon ist das Fehlen entsprechender ,doppelseitiger‘ Modi. Tafel aus: Bernward Grünewald, Modalität und empirisches Denken. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Kantischen Modaltheorie, Hamburg 1986, S. 75 (hier mit einer Korrektur des ersten Ausdrucks in der zweitletzten Zeile)

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= Akademie-Ausgabe der Gesammelten Schriften Immanuel Kants. Kants Schriften werden nach der Ausgabe der Königlich Preußischen (Deutschen, Göttinger) Akademie der Wissenschaften (Berlin 1900 ff.) zitiert, die Bandzahl ist in römischen, die Seiten- und ggf. nach einem Komma die Zeilenzahl in arabischen Ziffern angegeben. Bei der „Kritik der reinen Vernunft“ geben wir zusätzlich, wie üblich, die Originalpaginierung der Auflagen von 1781 (A) und 1787 (B) an. KrV = Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. KpV = Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. MadN = Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Hua = Husserliana (Edmund Husserl, Gesammelte Werke, Den Haag, (später Dordrecht/Boston/London; zu den Einzelbänden s. unter ,Husserl‘). H 1/H 2 = Hermeneutik 1/Hermeneutik 2 (Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, s. unter ,Gadamer‘). SuZ = Martin Heidegger, Sein und Zeit (s. unter ,Heidegger‘). WL = Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, s. unter ,Weber‘. WuG = Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, s. unter ,Weber‘. HWP = Historisches Wörterbuch der Philosophie.

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Personenverzeichnis Albert, Hans 5, 8, 75, 136 Anscombe, G. E. M. 159 Apel, Karl-Otto 35, 37, 154–157, 215 Apelt, E. F. 153 Aristoteles 26, 30, 125 f., 130, 163, 191, 254 Austin, John Langshaw 37, 81, 83, 105 Bennett, Jonathan 153 Betti, Emilio 5, 32 Brandt, Reinhard 96, 215 Brentano, Franz 36 Buchdahl, Gerd 153 Bühler, Karl 283 Busche, Hubertus 161 Chomsky, Noam 260 Dahlstrom, Daniel O. 229 Danto, Arthur C. 5 de Boer, Theodorus 234 Diemer, Alwin 36 Dilthey, Wilhelm 5, 11, 13, 18, 57, 64 f., 68, 87, 116, 123, 150, 153 f., 180–182, 184 f., 240, 298 Dorschel, Andreas 77 Droysen, Johann Gustav 5, 110 f. Ebbinghaus, Hermann 116, 150 Flach, Werner 112, 136, 153, 164–166, 170, 177–179, 260 Gadamer, Hans-Georg 5 f., 34 f., 48, 50, 56–66, 68–72, 76 f., 83 f., 86 f., 89, 96, 140, 152 Gethmann, Carl Friedrich 18 Grice, Herbert Paul 93

Grünewald, Bernward 5, 48, 53, 99, 112, 114, 154, 232, 234–236, 238, 280, 282, 300 f., 309, 316, 319, 321 Habermas, Jürgen 5, 37, 136 f. Haefliger, Gregor 251 Hartmann, Nicolai 216, 298 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 36, 159, 163, 298 Heger, Klaus 78, 252, 260 Heidegger, Martin 50, 52–57, 76 f., 87, 153, 242, 250 Hempel, Carl Gustav 133 Hennis, Wilhelm 35 Herbart, Johann Friedrich 201 Herberger, Maximilian 32 Hintikka, Jaakko 271 f. Hirsch, Eric Donald 5, 71, 88 f. Hume, David 32, 184, 233, 248 Husserl, Edmund 7 f., 12, 21, 35, 39, 52–54, 76, 93, 114, 146, 152, 154, 172, 182 f., 214, 216, 221, 226, 229– 244, 246–253, 255, 257, 262 f., 275, 282, 308 Ineichen, Hans 116 Ingarden, Roman 251 Jakob, Daniel 78 Kant, Immanuel 6–8, 12 f., 21, 32, 34– 40, 46–48, 52, 58, 63 f., 67, 83, 101 f., 126, 128, 131, 144, 149–208, 210–219, 221–224, 226, 229, 231 f., 234, 237, 240, 243–249, 251, 254 f., 257, 263–269, 271–277, 279 f., 285 f., 294, 296 f., 301, 303, 305, 308 f., 315–319, 321 Kelsen, Hans 32, 108

336

Personenverzeichnis

Kern, Iso 229, 248 Krijnen, Christian 126, 164 Langewiesche, Dieter 18 Leibniz, Gottfried Wilhelm 35 f., 231 f. Lohmar, Dieter 231, 242–244, 248, 253 Luhmann, Niklas 5, 108 Lüthe, Rudolf 141 Matsuyama, Juichi 294 Meier, Georg Friedrich 78 Mittelstraß, Jürgen 18 Mohr, Georg 211 Moreau, Joseph 223 Oakes, Guy 35, 139 Oberer, Hariolf 216 Palmer, Richard E. 87 Pannenberg, Wolfhart 30 Panofsky, Erwin 49, 79 Parsons, Talcott 5, 108 Platon 26, 96, 254 Plessner, Helmuth 250, 281–283, 299 Popper, Karl R. 136, 153, 286 Rahner, Karl 29 Reich, Klaus 43, 261, 298 Rickert, Heinrich 5, 98, 126, 134, 136 f., 139–141, 149 f., 153, 172–174, 180, 185 f., 248 Riedel, Manfred 154, 159, 163 f., 174 Rothacker, Erich 111 Salmon, N. 93 Sartre, Jean-Paul 250 Savigny, Eike von 101

Schelkle, Karl Hermann 30 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 5, 11, 50 f., 57, 59 f., 68, 77, 87 Scholz, Oliver R. 57 Schrey, H.-H. 30 Schütz, Alfred 5, 108, 195 Schwöbel, Christoph 30 Searle, John R. 21, 37, 81, 93, 105 Seebohm, Thomas M. 5, 59, 133 Simon, Dieter 18, 260 Soames, S. 93 Söhngen, Gottlieb 29 f. Sowa, Rochus 249, 255 Stegmüller, Wolfgang 75 Stevenson, Leslie 257 Stock, Günter 18 Strawson, Peter F. 153 Tugendhat, Ernst 21, 35, 53 Vuillemin, Jules 279, 294 Wagner, Hans 54 f., 87, 153 Washburn, Michael C. 195–197 Weber, Max 5, 32, 34 f., 97–100, 103 f., 108 f., 111 f., 114–117, 124–129, 132–134, 136–141, 143, 147–150, 180 Wiedenhofer, Siegfried 30 Windelband, Wilhelm 5, 98, 134, 137, 142, 150, 172, 180, 185 f. Wittgenstein, Ludwig 257 Wolff, Christian 32, 35 f., 161 Wolff, Michael 272, 274 f. Wright, Georg Henrik von 159 Zimmermann, Rolf 257

Sachwortverzeichnis Abschattung 146, 233, 255 affektuelles Handeln 124, 129 Algebra 264, 266, 269–271, 274, 275 allgemeine Naturwissenschaft 158 analytische Einheit (des Bewusstseins bzw. des Begriffs) 39, 203, 205, 219, 220, 254, 258, 292 Anschauungsform 184, 189, 190, 192, 201, 207, 254, 263, 265–267, 269 f., 272, 273–275 Anthropologie, anthropologisch 161, 163, 200, 202 f., 205–207, 215, 250, 264, 280–282, 296 Apperzeption (Husserl) 232, 246 Apperzeption (Leibniz, Kant) 21, 35 f., 38, 203, 205–208, 215, 246, 290 f., 304–306 apperzeptive Funktion 300 Applikation 30, 32, 69–72, 96 Appräsentation, appräsentieren 76, 80 Apprehension 144, 202 f., 205–208, 240, 268, 270 Apprehension, noetische (elementares Verstehen als n. A.) 145 Arithmetik 264, 266–274 Ästhetik, ästhetisch 46, 47, 82 f., 88, 91 f., 106, 108, 122, 126, 141 f., 154, 157, 163 f., 173–179, 182, 187, 217, 312 Ästhetik, transzendentale 211, 264–266, 269, 275 Bedeutsamkeit (vs. Bedeutung) 52 f., 55, 66 f., 79, 88, 96 f., 134 f., 138–142, 176, 312 Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung 158, 279 f., 284 f. Befragung 43, 111–113, 120, 147

Begehrungsvermögen nach Begriffen 160, 168 Begreifen, begriffliche Bestimmung (vs. Rezipieren, rezipierendes Verstehen) 8, 33, 46, 67 f., 74 f., 79 f., 82, 84 f., 88 f., 95 f., 99, 105, 113, 119, 144 f., 149, 152, 244 f., 312 Beharrlichkeit 101, 198, 199, 224, 296, 303 bestimmende Urteilskraft 160, 166, 168 Bewandtnisganzes, Bewandtniszusammenhang 53, 55 Bewusstsein 11 f., 21, 33, 35–43, 54, 58, 60, 62, 64, 69, 72, 74, 80, 84, 86, 95 f., 105–108, 110 f., 113, 122 f., 125, 130, 134, 142, 161 f., 177, 181 f., 184, 195 f., 198, 201, 203–214, 218– 220, 226, 232, 237, 239–244, 246– 251, 254, 256, 261 f., 283, 285, 287 f., 292, 296, 299, 302 f., 305, 307, 309 f., 314 f. Bewusstsein, empirisches 38–43, 46 f., 54 f., 72, 74, 95, 106, 116, 123, 184, 206, 208, 210–212, 214 f., 217, 242 f., 287, 292, 309, 314 Bewusstsein, transzendentales 37, 39, 40–43, 46 f., 54 f., 58, 77, 80, 84, 95, 106, 122–124, 200, 208, 212 f., 217, 242 f., 246 f., 286, 287–289, 302, 308–310, 313 f. Bewusstseins-Begriff 35–37 Bewusstseinsphilosophie 35–37, 215 bloß Mögliches (als Modalbegriff) 48, 86, 90, 113, 117, 308 f., 317 Charakterismen 178, 266 Darstellung (in concreto – s. auch: Konstruktion) 104, 265, 267, 288

338

Sachwortverzeichnis

Deutung 26, 49, 78 f., 98 f., 104–106, 111 f., 114–116, 118 f., 121, 132, 145, 147 f., 150, 153, 164, 172 f., 207, 308 Dualismus 22, 36, 156, 315 Effektivität 94, 122, 148 Eidos (s. auch: Wesen) 255 f. Einbildungskraft (s. auch ,Imagination‘) 144, 174, 178, 183, 209 f., 212, 216, 221–223, 243, 247, 263, 296 f. emotionales Handeln 124 Empiriologie, empiriologisch 164–168, 170 Empirizität 24, 34 f., 37, 246, 247 Endzweck (vs. immanenter Zweck) der Geisteswissenschaften 47, 72, 87 f., 141, 176, 227, 312 Entscheidung (als Gegenstand der Geisteswissenschaften) 114, 119, 125, 129– 131, 136, 142, 180, 226, 261, 284, 290, 295 f., 300–304, 306 f., 310, 314 Erfahrung 7 f., 11–13, 40, 48 f., 63–69, 73 f., 77, 79, 81, 84–89, 98, 101 f., 111, 116, 118–123, 133, 144, 149 f., 152, 155–158, 162 f., 165 f., 168–170, 180, 184, 188, 191 f., 196–201, 208– 214, 217, 220–225, 227 f., 230 f., 234, 238, 243, 245, 247 f., 252–257, 261, 264, 269, 272, 283, 285, 288, 292–297, 300, 305, 308 f., 315 f. Erfahrung, hermeneutische 48, 56, 68 f., 72 f., 76 f., 83 f., 87 f. Erfahrung, innere 151, 180 f., 188, 194, 196–200, 202, 206, 212 Erfahrung, objektiv-hermeneutische 73, 83, 88 f. Erfahrung, subjektiv-hermeneutische 73, 87, 88 Erinnerung 40, 43, 64 f., 97, 99, 134, 142, 169, 185, 221, 236, 242, 244 f., 251, 262, 277, 281, 288, 291 Erkenntnistheorie, erkenntnistheoretisch 6, 7, 35, 47, 50, 64 f., 73, 84 f., 87, 97, 114, 116, 145–148, 150, 172, 193, 215, 222, 230, 239

Erklärung (i. S. einer Kausalerklärung) 95, 99, 114 f., 120–122, 124 f., 133, 138, 148, 150, 154, 156, 159, 163– 165, 184, 228, 312 Evidenz 109, 114 f., 118, 148, 150, 251 Exzentrizität, exzentrische Position 283, 284, 299 Faktizität 46, 312 formale Anschauung 213, 265 f., 269, 272, 275 Freiheit 122, 154–157, 159, 163, 170, 178, 277, 285, 299, 305, 310, 312, 315, 319 Fürwahrhalten 130, 239, 301, 302 Gefühl 174, 176 f., 271, 297, 305 f. Gegenstandskonstitution 141, 252 Gehirn 281, 285, 294 f. Geist, objektiver 298 Geist, objektivierter 216, 298 Geisteswissenschaften (Begriff der G.) 5, 6, 17–25 Geltung (objektive G.) 24, 30, 33, 41 f., 46 f., 77, 79, 83, 114 f., 120–126, 130, 136, 140, 227, 230, 256, Geltung (subjektive G. bei best. Personen) 292, 297, 299, 304 f., Geltung (Zusammenhang der Geltung vs. Zusammenhang der Fakten) 312, 314 f. Geltungsanspruch 29, 31, 82–85, 89, 92, 205 Geltungsbedingung 84, 230 Geltungsbewusstsein (s. auch: transzendentales B.) 39, 41, 46, 80, 82, 84, 122 f., 129–131, 313 f. Genesis (von Habitualitäten, personale G.) 132, 249, 251, 297, 302 Geschichtlichkeit 64 f., 70, 131, 134 Geschichtsphilosophie 162, 164–166, 170 f., 298 Geschichtswissenschaft, Historie 22, 25, 34, 45, 47, 66, 98 f., 120, 133–135,

Sachwortverzeichnis 137, 141, 146, 150, 161 f., 166, 171– 173, 175 f., 186, 191, 194, 284 f. Gesetze (in den Geisteswissenschaften) 131–134, 138, 160, 193 f., 273, 313 Gesinnungsethik (vs. Verantwortungsethik) 128 Gespräch 26 f., 41, 56, 58–61, 67–70, 72 Größe (Begriff der G.) 264 Gründe vs. Ursachen 118, 121 ff., 295, 313 Grundkraft 279, 293–297, 303 Habitualisierung 252, 259, 292, 299 Habitualität, habituelle Bestimmtheit 93, 117 f., 120, 131–134, 251 f., 261 f., 290–300, 302, 304–307, 310 Handlung, innere 203 f., 307, 310 Handlungsbewusstsein 105, 130, 287 Handlungssinn 81 f., 105–107, 121, 144 f., 228 f., 262 Hermeneutik 6, 8, 27, 30, 34, 47, 49– 52, 54–57, 60, 65 f., 68–72, 75, 77, 87–89, 140, 150, 152 Hermeneutik des Daseins 50–52, 54 f. Hermeneutik, philosophische 6, 26, 50 hermeneutische Wissenschaften 5, 47, 71–74, 80, 87, 94, 164 hermeneutischer Zirkel 50, 54, 57, 87 Historie, Geschichtswissenschaft 22 f., 34, 45, 47, 66, 98 f., 120, 133–135, 137, 141, 146, 150, 161 f., 166, 171– 173, 175 f., 186, 191, 194, 284 f. Horizont, Horizontbewusstsein 53, 161, 179, 183, 239, 242 f., 250, 259 Hypotypose 178, 267 Idealtypus 124 Idiographik, idiographisch 98, 137, 172, 185 f., 191 Ikonographie 78 f. Ikonologie 78 f. Imagination, imaginativ (s. auch ,Einbildungskraft‘) 43, 77 f., 85, 91, 111,

339

114, 116, 124, 184, 201, 214, 221, 223, 225 f., 242, 244–247, 251, 255, 259, 263, 269, 281–283, 286, 288, 295, 302, 305, 309 f. individualisierende Begriffsbildung 137, 141 f. innerer Sinn 158, 182, 185, 189 f., 193, 195, 197, 200–203, 206–208, 211 f., 216, 268, 273, 303 intentio recta 58, 60 f., 67, 69, 80, 245 Intentionalanalyse 238 intentionale Generalität 132 Intentionalität 21–24, 26–29, 33 f., 37 f., 42 f., 45 f., 53 f., 90, 94, 96, 97, 108 f., 119, 120 f., 123, 129, 130–133, 152, 155, 219, 227, 229, 232, 234, 236, 249, 282–284 Interpretationsvorbehalt geisteswissenschaftlicher Rezeptivität 96 Intersubjektivität, intersubjektiv 42, 133 f., 256, 258, 293, 297– 299 Irrationalität, irrational 49, 103, 108, 111, 124, 127, 129, 140, 173 f. Kategorie 11 f., 79, 99–102, 108 f., 144, 146, 149, 150, 160, 163, 166, 183, 194, 195, 197 f., 201, 205, 211 f., 220, 222, 238, 244, 248 f., 262, 270, 285, 318 Kategorienlehre 97, 143 Kausalerklärung 94, 117, 133, 185 f. Kausalität durch Freiheit 157, 159 Kausalität, kausal (s. auch ,Ursache‘) 25, 44, 66, 86, 94, 115–122, 132 f., 136, 138 f., 142, 149 f., 156–160, 163, 184, 186, 202, 220, 240, 245, 248, 285, 302, 304, 313–315 Kompatibilismus 315 Konditionalität 239 f. Konstitution 93, 155, 214, 231, 239, 247–249, 257, 286, 288–292, 304 Konstitutionsbedingung 230 konstitutiv 29, 135, 139, 142, 155, 161, 163, 172 f., 175, 249, 260, 268, 286, 289, 308

340

Sachwortverzeichnis

Konstruktion 23, 84, 187, 189, 192 f., 196, 198, 201, 214, 223, 264–266, 268, 270–277, 288 f. Konstruktion, ostensive 266 Konstruktion, symbolische 266 Konstruktionsanweisung 222, 226, 270 konzeptionelle Erklärung 94 f. Körpernatur (Körper-NATUR) 167, 189, 193, 197, 199 Kritik des Geschmacks, ästhetische Kritik 175, 176, 177, 179 Kulturbedeutung 138 f. Kulturwissenschaft 5, 97–99, 102 f., 108, 110, 116 f., 124, 131, 133 f., 136 f., 139 f., 142, 144–146, 148–150, 163, 165, 172–174, 180, 186 Lebenswelt, lebensweltlich 47, 54, 56, 59, 69, 71, 120, 132, 134, 149, 249, 250, 262 Literaturwissenschaft, Literaturwissenschaftler 47, 67, 71, 177, 179 Mannigfaltigkeitsordnung, Mannigfaltigkeitssystem 192, 263, 265, 269 f., 273–275 Mathematik, mathematisch 18, 33, 83, 85, 126, 148, 183, 188 f., 192 f., 195, 198, 201, 210, 212, 222, 229, 263–268, 270, 272–277, 286, 288, 313, 318 Maxime 70, 120, 122, 127 f., 131 f., 159, 167 f., 291, 296, 299, 304 f., 307, 310 Meta-Intentionalität 18, 22–24, 33 f., 72, 91, 95 Modaltheorie, modaltheoretisch 48, 280, 309, 316, 321 Modus der Fülle 238 mos geometricus 8, 285, 286 Motiv, Motivation 29, 100 f., 108, 113, 115, 118, 120 f., 128, 132, 144, 156, 171, 181, 200, 286, 292, 296, 303 f., 306, 310 motivierende Kraft 291, 300, 310

NATUR, denkende 7, 13 f., 156, 158, 160, 166, 168, 187–189, 193–202, 216, 227, 230 f., 263 f., 273 f., 277, 279, 280 f., 303, 314 Natur überhaupt (NATUR) 158 f., 194, 196 Naturabsicht 161, 165, 171 Natur-Begriff 158, 166, 168, 188, 193, 195 Naturbeschreibung 190 f., 193, 194 f. Naturgesetz 185 f., 194 Naturlehre, historische 191 Naturwissenschaft 6–8, 18–23, 28, 33, 44–46, 48, 60, 65, 68, 98, 117, 131, 137, 142, 146, 153–155, 158, 166, 168, 172 f., 180 f., 185–189, 191–196, 201, 264 f., 269, 273 f., 279 f., 283– 285, 293, 296, 303, 308 f. Neukantianismus, Neukantianer 126, 137, 149 f., 152 f., 164, 172, 180, 185 f., 229 Noema 13 f., 21, 41, 78, 92, 152, 227, 229, 234, 237–239, 244, 248–251, 253 f., 258 f., 262, 264, 273, 275 f., 286–292, 304, 308–310 Noema, doxisches 290 Noema, praktisches 299 noematischer Kern 39, 238 noematisches System 8, 13 f., 78 f., 97, 150, 226–228, 247, 252–256, 259–264, 271, 274–277, 279 f., 286–290, 308– 310 noematisches System, absolutes (universelles) 286 noematisches System, relatives 286 Noematologie 275–277 Noesis 21, 41, 237, 249, 286–293, 299– 303, 305, 308 Noesis, praktische 287 noetisch 86, 145, 248, 275–277, 283 f., 287–292, 294, 296 f., 300–311 noetisches Potential 137, 300 f., 305 f., 310 Nomothetik, nomothetisch 98, 137, 185 f., 191

Sachwortverzeichnis Objekt-Intentionalität 33, 44 f. Objektivation 80, 104 f., 145, 178, 216, 244 f., 256, 288, 290, 298, 301, 306, 309 Objektivation, innere 216, 244 objektiver Sinn 107 f. Objektivität 6, 11 f., 33, 45, 47 f., 56, 65 f., 69 f., 72–74, 79, 89, 126, 135, 139–141, 152, 172 f., 179, 263, 291, 293 Ontologie, ontologisch 6, 22, 48, 50–52, 70, 156, 161, 248, 255, 257, 281, 285, 297, 315 Paralogismenkapitel 188, 195–197 Performationsausdruck, performative Äußerung 39, 40, 81, 105–107, 118, 122, 283, 309 Performationssinn 145, 147 Persönlichkeit 51, 55, 102, 118, 132, 174, 251, 262, 300–302, 304, 310 Phänomenologie, phänomenologisch 6– 8, 11–14, 20 f., 35 f., 39, 48, 50–56, 68, 78, 93, 109, 114, 145, 152, 154 f., 182, 204, 226–232, 234–240, 243 f., 248–250, 253, 255, 261–263, 282, 307–309, 316 Philosophie (Differenz zu den empirischen Geisteswissenschaften) 17 f., 26–30, 33, 46 f., 96, poiematischer Sinn 81–83, 88 f. Positionalität 282 f. praktischer Schluss (praktischer Syllogismus) 115, 124, 131, 148, 159, 306, 307 principium caritatis 57 propositionaler Gehalt 37, 39, 41, 104– 107 Protention 77, 111, 183, 242–244, 246 f., 251, 261 f., 282, 302 Psychizität 281, 293, 295, 302 Psychologie 7, 110, 150–152, 158 f., 180 f., 185–190, 193, 195 f., 198–201, 203 f., 207 f., 224, Psychologie, rationale 188, 198–200

341

Realgrund (s. auch: Ursache) 64, 121, 260, 295, 297, 313 Rechtfertigung 27, 164, 171, 248 Rechtsdogmatik, Rechtsdogmatiker 31 f., 70 f. Rechtshistorie, Rechtshistoriker 71 Rechtssystem 31, 122 Rechtswissenschaft, Jurisprudenz 17 f., 31 f., 46 f., 70, 96, 108 reflektierende Beurteilung 179 reflektierende Urteilskraft 112, 155, 157, 160, 163, 166 f., 174 Reflexion, empirische vs. geltungskritische 19 f.; 24, 27 f. Reflexionsstruktur der Geisteswissenschaften 18 ff. regulativ 29, 79, 155, 161–163, 172, 249 Repräsentation, intuitive 246 Repräsentation, signitive 233 f., 236, 238, 244, 246 f., 252 Retention 111, 182, 184, 216, 221, 241– 243, 247 f., 281 f., 292, 302 Rezeptivität, Rezeption 6–8, 11 f., 33 f., 46, 56, 73–82, 84, 88–90, 95–97, 99, 113, 116, 119, 143–146, 149 f., 152, 183, 203, 207, 211, 216–218, 228 f., 231, 236, 246 f., 253, 255, 261, 263 f., 279, 283–285, 290, 293, 299, 313 Schema 124, 132, 144, 146–148, 166, 178, 183, 222–226, 237, 243 f., 246, 249, 253–256, 261 f., 267, 268, 270, 276, 320 Schematisierung 146, 211, 267 Seelenlehre 158, 187, 189, 190, 195, 196, 197, 200 Selbstaffektion 182, 207 f., 211–214, 216, 244, 256, 291 Selbstaffektion, phantasmatische 244, 262, 263 Selbstaffektion, semiotische 247, 283 Selbstbewusstsein 30, 39, 110 f., 122 f., 145, 147, 157, 204–206, 292, 302 Selbstexplikation 109, 121

342

Sachwortverzeichnis

Selbstobjektivation, semiotische 216, 244 semiotische Anschauung 267 Sinn in concreto 113, 144 f., 148, 149 Sinn und Bedeutung 212, 222, 224 f., 234, 279 Sorgestruktur 250 Sozialwissenschaften 5–8, 17 f., 34, 94, 97–99, 102, 117, 119, 129, 148, 151 f., 187, 200 Spontaneität 39, 75 f., 84, 144–146, 149, 203, 207, 213, 218 Sprache 13 f., 37, 46, 50 f., 57, 61, 68 f., 77, 79, 81, 90, 104, 107, 109, 123, 149, 203, 215 f., 239, 253, 256, 258–260, 264, 276, 283, 299 Sprechakttheorie 35, 39, 81, 83, 104 f. Steuerung, Handlungssteuerung 118 f., 281, 250, 262, 306 strukturelle Größe 80, 276 f., 297 Subjekt-Intentionalität 33 f., 44 f. subjektiver Sinn (einer Handlung) 100, 103 f., 107–109, 112 f., 117, 121, 124, 139, 143, 147 f., 200 Substanz 101 f., 197–199, 207, 220, 281, 296 f., 302 f. Symbol 80, 177 f., 266 f., 269, 308 synthetische Einheit 21, 39, 219 f., 222, 247, 254, 258, 261 f., 267, 286, 288– 290 Teleologie, teleologisch 111 f., 126, 143, 154 f., 157, 161, 163–171, 173– 175, 179, 281, 296 thetischer Charakter 238 Tiere 104, 111, 201, 218, 224, 282 Tradition (s. auch: Überlieferung) 7, 30, 35, 49, 62 f., 66, 77, 91, 150 f., 154, 172, 229, 233, 274 transzendentale Ästhetik 211, 264–266, 269, 275 Transzendentalphilosophie, transzendentalphilosophisch 5 f., 8, 52, 54, 149, 201 f., 230 f., 237, 250, 263, 281 Typik 231, 248 Typus 128, 241, 244

Überlieferung (s. auch: Tradition) 49, 61 f., 65–69 Überzeugung (als empirischer Gegenstand – s. auch: Habitualitäten) 21, 41–43, 92–94, 102, 112, 117, 120– 125, 129–133, 135 f. 147, 150, 180, 215, 226 f., 251 f., 261, 277 f., 290 f., 293–298, 301 f., 307, 313 Ursache (s. auch: Kausalität, kausal) 9, 19, 64, 101, 118, 121 f., 133 f., 138, 156–160, 166 f., 169, 192, 265, 291 f., 295, 303 f., 310, 313, 315 Ursachen vs. Gründe 118, 121, 295, 313 Verantwortungsethik (vs. Gesinnungsethik) 128 Verstehen und Erklären 150, 181, 187 Verstehen von Affekten 103 Verstehen, aktuelles 103 f., 108, 112– 116 Verstehen, elementares 74–78, 82, 105, 143, 145, 149, 264 Verstehen, erklärendes 103, 109, 112 f., 116, 159 verstehende Soziologie 97, 99, 100, 102 f., 108, 143, 228 Verstehensakte 308 f. Vieldeutigkeit 6, 114, 258 Vorgriff 53 f., 56 f., 61 f., 91 f., 110, 169, 215, 226 Vorsehung 168, 170 f. Vorurteil 27, 61–63, 65–67, 76 f., 215 Vorverständnis 55, 61, 76, 77 Wahrnehmungsbewusstsein 233, 239 Wechselwirkung 101, 119, 297, 305– 307, 310 Wechselwirkung, innere 305 f., 310 Werk-Konzeption 91 f., 94, 178 Werkwissenschaften 5, 23, 73 f., 80, 87, 94 Wert (Werte) 125–131, 135 f., 138, 140, 148, 172 Wertbeziehung, Wertbezug 98, 131, 134 f., 137–143, 172 f.

Sachwortverzeichnis Wertrationalität 125–127, 129 Werturteil 136, 139, 162 f. Wertvorstellung 135 f., 142 Wesen (oder Eidos, als phänomenolog. Terminus) 230, 233, 249, 255 f. Wesensgesetze 249, 255 Wirkungsgeschichte, wirkungsgeschichtliches Bewusstsein 86–89, 140

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Wirkungsintention 83, 88 Wissenschaftsgeschichte 19–22, 28, 47 Zeitbewusstsein 182 f., 214, 240–244, 247, 286, 288 f. Zirkel, hermeneutischer 50, 54, 57, 87 Zweckrationalität 114, 124 f., 129